Ti Tonisa Lama
Das Felsenkloster Eine wahre Begebenheit aus dem alten Tibet
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Ti Tonisa Lama
Das Felsenkloster Eine wahre Begebenheit aus dem alten Tibet
scanned by unknown corrected by ab Ein spannender und informativer Roman, der im antiken Tibet handelt. ISBN 3-924161-92-5 Aus dem Englischen von Christiane Sautter Erstausgabe © by ch. falk Verlag, Seeon 1994 Umschlaggestaltung nach dem Gemälde Himalaya von Nicholas Roerich mit freundlicher Genehmigung der Roerich Gesellschaft e.V., Pfronstetten
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt Vorwort..............................................................................................................3 Einleitung...........................................................................................................7 Kapitel l ............................................................................................................25 Kapitel 2 ...........................................................................................................47 Kapitel 3 ...........................................................................................................63 Kapitel 4 ...........................................................................................................80 Kapitel 5 ........................................................................................................ 105 Kapitel 6 ........................................................................................................ 122 Kapitel 7 ........................................................................................................ 141 Kapitel 8 ........................................................................................................ 162 Kapitel 9 ........................................................................................................ 180 Kapitel 10...................................................................................................... 200 Kapitel 11...................................................................................................... 220 Kapitel 12...................................................................................................... 241 Kapitel 13...................................................................................................... 257 Kapitel 14...................................................................................................... 274 Kapitel 15...................................................................................................... 296 Kapitel 16...................................................................................................... 318 Kapitel 17...................................................................................................... 340 Kapitel 18...................................................................................................... 361 Nachwort....................................................................................................... 383
Vorwort
„Sei stark wie der Felsen, auf dem unser Kloster steht, denn auf Felsen soll Er bauen, der einst kommen wird… ” Aus dem verlorenen Hohenpriesterin
Text
„Geheiligte
Wasser"
der
Obwohl die Handlung dieser seltsamen wahren Geschichte, die ich den fernen europäischen Angehörigen meiner Bruderschaft im Zustand vom Pow diktierte, in Tibet, 800 Jahre vor Christi Geburt stattfand, verwandte ich nicht ausnahmslos die alten tibetischen Worte oder Namen, da ich damit etymologische Fragen aufgeworfen hätte, die in einer Geschichte fehl am Platz sind. Um der Geschichte jedoch die nötige Farbe und Atmosphäre zu geben und um geographischen Verwechslungen vorzubeugen, verwandte ich oft moderne tibetische Worte und Namen zu dem Zweck, dem Leser das Umfeld der Handlung und die Hauptpersonen näherzubringen. Doch einige wichtige Namen und Worte ließ ich unberührt, da meine historischen und linguistischen Forschungen mich zu dem Glauben veranlassen, daß sie in jener frühen Zeitperiode in dieser Weise gebraucht wurden. So verwandte ich zum Beispiel nicht die modernen Namen für den Hohenpriester und die Hohepriesterin - Ta-Lama und Dorje Chagmo oder Wang Chagma sondern beließ die alten Worte Ichkitsu und Ichka. Tibetische Linguisten mag interessieren, daß die alte Wortwurzel, die im modernen Tibetisch nicht mehr existiert, immer noch in einer lebenden Sprache gefunden werden kann, nämlich im mongolischen Sprachraum im Dialekt der -3-
Kalmücken. Dort bedeuten die Worte Tchike und Echigo Vater. Sie mögen mit unserem Wort chig verwandt sein, was „der Eine" bedeutet. Ich beließ das alte Wort für Kloster, chitannyen, statt das moderne tibetische Wort gompa zu verwenden. Mein Name und die Namen von Lhalu, Santemi und Gonisa sind phonetisch so wiedergegeben, wie sie im alten Bod-Yul klangen. Die Namen der wichtigen Klöster und die der Berge des Himalaja Kanchenjunga, Mount Everest usw. - tauchen deshalb in ihrer modernen tibetischen Form auf- Kangchendsona, Jomolungma, Jomokankar - damit kein geographisches Durcheinander entsteht. Der Berg, auf dem das Felsenkloster stand, hieß zu jener Zeit Kindonichin und der Berg des Nonnenklosters Pulimhaditsu. Abschließend sei gesagt, daß das Nonnenkloster von Samding, das sich in jener fernen Vergangenheit nahe der Westgrenze Tibets in der Nähe des Heiligen Berges Tise befand, später nach Osten verlegt wurde, in die Nähe des Sees, der heute Yamdro genannt wird, wo Dorje-Chagmo, Tibets einzige Priesterin, heute lebt. Die Siedlung Tampol-Bo-Ri, nach der in dieser Geschichte das Land und das Dorf nahe dem Felsenkloster genannt wurde, kann man entweder nahe dem Tambar-Fluß oder dem „Paß der Sicherheit" finden - in modernem Tibetisch dem „Tanpo- LubRi". Heute verwendet man den Begriff pow gewö hnlich für den Vorgang der Bewußtseinsübertragung. Wir Eingeweihten verstanden damals darunter jedoch eher die Aussendung des Bewußtseins, den „Bewußtseinsflug". Statt pow beließ ich den alten Begriff phoimonda. Viele andere esoterische Begriffe wie zum Beispiel bardo, tumo, lungom usw. verwandte ich in ihrer heutigen Form, weil diese den alten Worten gleicht. Was die tibetische Schreibweise betrifft, habe ich versucht, die schwierige Rechtschreibung meines Heimatlandes zu umgehen, indem ich die Worte phonetisch wiedergebe. Die Ideogramme, die ab und zu im Buch auftauchen, und der Name -4-
des Felsenklosters auf der ersten Seite sind in alten tibetischen Schriftzeichen geschrieben, die im Jahre achthundert vor Christus in Bod-Yul gebräuchlich waren. Ich las in einigen im Westen geschriebenen Büchern über Tibet, daß das Land keine ordentlichen Schriftzeichen kannte und die Chronik der fernen Vergangenheit mit Hilfe von „geknoteten Schnüren" festgehalten werden mußte, bis im siebten Jahrhundert nach Christus eine vereinfachte Form des indischen DevanagariAlphabets eingeführt wurde. Das entspricht nicht den Tatsachen. Die alte tibetische Schrift, von der man Proben in diesem Buch finden kann, entstammt dem Vermächtnis von Atlantis, der verlorenen Welt, und ihrer hohen Zivilisation, deren Überlebende ihr Wissen und ihre Magie an die tibetischen Priester weitergaben. Man nennt Tibet nicht umsonst das Dach der Welt oder die Wiege der Menschheit. Die uralten Schriftzeichen, die westliche Philologen und Forscher bei den Kretern, Phöniziern und in dem Grab Hirams in Biblos in Syrien fanden, sind den alten tibetischen Buchstaben bemerkenswert ähnlich. Das Buch handelt nicht nur vom Leben Lhalus, des Hohenpriesters und großen Lamas von Bod-Yul in jener fernen Zeit. In den Handlungsablauf der Geschichte sind außerdem die alten zeremoniellen Riten eingeflochten, die lange verloren und bis zu diesem Zeitpunkt der Menschheit unbekannt waren. Doch jetzt will ich im Namen von Bod-Yul den drei fernen Angehörigen unserer alten tibetischen Bruderschaft danken, ohne deren psychische Fähigkeiten und ohne deren Mitarbeit dieses Buch den Westen nie erreicht hätte. Die Welt befindet sich im Aufruhr. Furchtbare Schrecken liegen in der Luft, und die Grenzen vieler Länder sind geschlossen. Doch der Geist kennt keine Grenze, und jene, die miteinander verbunden und von der Kraft des alten Tibet erfüllt sind, konnten die Aufgabe erfüllen, die ihnen der Allerhöchste auferlegt hatte. So will ich diese Arbeit in die Hände meiner Schwester und -5-
meiner Brüder im Westen legen, denn durch sie kam das Buch in die westliche Welt und durch sie, das glaube ich, wird der Westen es erhalten, wenn das große Gericht vorüber ist. Alle drei tragen fremde Namen, und doch - nach Auffassung der Menschen des Westens muß Magie im Spiel sein - klingen ihre Namen tibetisch und haben in dieser Sprache eine tiefe Bedeutung. Lhalu heißt heute Gonisa .
, Santemi . Alle drei leben in
und in
Ich lasse dieses Buch also in den Händen derer, die im Westen diese Namen tragen, denn sie sind die Fackelträger einer besseren Welt und die wahren Boten Shambhallas, des rätselhaften Shangri- La der westlichen Liebesgeschichte. Ägypten, 15.März 1949
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T.L
Einleitung
„Folge dem Rad des Lebens… für dein Volk, deine Verwandten, deine Freunde oder deine Feinde folge dem Rad der Pflicht… ” Aus dem tibetischen Buch der Goldenen Regeln Ich, Ti- Tonisa Lama, den die Welt nicht unter diesem Namen kennt, sende dem Meister und Lehrer, den ich vor mehr als zweitausend Jahren verlor, glückliche Grüße aus dem Felsengrab bei Abu-Simbel. Heil sei dem Meister und Hohenpriester im Namen der heiligen Weisheit und Bod-Yuls! Und Santemi, der Hohenpriesterin und Heiligen Inspirierten, die ich an seiner Seite fand - Heil, Friede und Ehre sei euch, an diesem Tage wie in alten Zeiten. La gyalo de thamche pham… So grüße ich euch mit den alten Worten. Jawohl, Gott hat gesiegt! Gesegnet sei in alle Ewigkeiten sein heiliger Name, ganz gleich, mit welchem Namen ihn die Menschen preisen, denn siehe, der Dämon liegt vor ihm im Staube. Seit das Licht im Kloster Tampol- Bo-Ri verblaßte und die beiden hellsten Sterne des alten Tibet erloschen, suchte mein Geist jahrhundertelang im Himmel und auf Erden nach dir. Doch jetzt, im Dämmerlicht der letzten Tage, berührte göttliche Gnade meine Seele, und ich erfuhr, daß du wieder auf der Erde lebst. Ich wußte, wenn diese Zeit kommen würde, geschähen ungewöhnliche Dinge auf der Erde, und auch uns. Doch das Ungewöhnlichste war die Art und Weise, wie die Hohen Mächte -7-
mir zu Hilfe eilten, so daß ich - über Berg und Tal und Meer wieder mit dir zusammentreffen konnte. Durch den Willen Gottes, dessen Name ewig heilig sei, habe ich dir vieles mitzuteilen. Du magst es schon in deinem Herz der Herzen spüren, obwohl der Körper, dies enge Le hmgefängnis deines neuen Erdenlebens, das alte Wissen, daß einst dir gehörte, trübt. Wie schon die alte Prophezeiung sagte, können wir erst zueinanderfinden, wenn die Zeit unserer letzten Sühne naht. Du mußt der Welt zuerst das Buch der heiligen Riten und das Buch der Heilung zurückgeben, das die Hohepriesterin und Gonisa einst zerstörten, denn so erfüllst du dein Karma. Jawohl, das ist das Werk, das es jetzt zu erfüllen gilt: der Welt den Inhalt der heiligen Rollen aus Papyrus zurückzugeben, die du einst zu Asche verbranntest, auf daß die Menschheit die geistigen Geheimnisse des alten Tibet kennenlernt, das wahre Wissen, welches unser Volk und die gewaltigen Felsmassive von BodYul für die Nachwelt aufbewahrten, seit Attalan, der fruchtbare Kontinent, in den Wellen versank. Gesegnet sei die erhabene Weisheit, der allmächtige Schöpfer, der all dies bewirkte. Doch jetzt noch etwas anderes, bevor meine Zeit um ist, denn meine tiefe Trance dauert nur begrenzt. Das verlorene Wissen, welches du damals bei deinem Sturze selbst vernichtetest, hätte niemals von einem von uns beiden allein der Welt zurückgegeben werden können. Alles was ich tun konnte, geleitet von den alten lückenhaften Schriftrollen, auf die du deine Anweisungen geschrieben hattest, war, den Spuren deines lang vergangenen Lebens in den Klöstern Tibets nachzugehen, Spuren, welche auf das achte Jahrhundert vor der Verkörperung Gottes auf der Welt deuteten. Aus den Anmerkungen der Priesterin, die ebenfalls aus dieser Zeit datierten, erfuhr ich, daß deine letzte Verkörperung gleich der meinen in dieses Jahrhundert fallen würde, obwohl in einem anderen Land, in einem anderen Kontinent, und daß ich dich dann kennen würde. -8-
Doch du, mein Meister, und du, Santemi, wie hättet ihr das niederschreiben können, was ihr in eurem neuen Leben nicht mehr wußtet, das Wissen, das ihr einst zu Asche verbranntet? „Die Macht stieg in die Himmel auf, das Wissen verließ die Menschen und kehrte in die Sphären zurück, denn sie waren seiner nicht mehr würdig…" Erinnerst du dich? Dies war dein Gebet bei deiner Weihe zum Hohenpriester. Als ob es uns alle hätte warnen sollen: Wie leicht wird man auf den höchsten Gipfeln vom Schwindel ergriffen und verläßt den engen Pfad, um auf breiten Straßen fortzuschreiten! Und wir taumelten tatsächlich auf dem hohen Gipfel und verloren unser Gleichgewicht und das alte Wissen, doch nicht in einem solchen Ausmaß, daß die Erinnerung an unseren einstigen Glanz im Himmel und an die tugendhafte Frömmigkeit im alten Felsenkloster für immer aus unserer innersten Seele gewichen wären. Und jetzt sind wir wieder auf der Erde. Ich in Ägypten, wohin ich aus Tibet geflohen bin - wie einst die Priester des verlorenen Kontinents, welche durch göttliche Eingebung vor der großen Katastrophe veranlaßt wurden, nach Osten zu wandern, um ihr Wissen zu retten - und du im Herzen Europas, wo du auf die Rückkehr des Wissens wartest, das mit Gewißheit verloren schien. Rein körperlich sind wir uns nicht bekannt noch hast du je von mir gehört, doch die Zeit der Erfüllung des Karmas, in der jene Adepten, die einst fehlten, die Gnade Gottes wiedererlangen, kommt wirklich näher. „Allmächtige Weisheit", seufzte ich verzweifelt an dem Tage, als sich mein Exil in den Felsen von Abu Simbel zum ersten Male jährte. „Du, die du weißt, wie unwürdig der Mensch deiner Fürsorge ist, nicht wert, daß du ihn aufhebst und deine göttliche Macht mit ihm teilst, im Gedenken an unser altes, unverdorbenes Leben flehe ich dich dennoch um ein Wunder an. Laß Gerechtigkeit walten! Der Hohepriester und die Hohepriesterin leben wieder in der Welt der Illusionen wie auch -9-
ich, dein unwürdiger Diener, den du ausgesandt hast, ihnen zu helfen. Was soll ich tun? Ich kenne sie nicht! Das Schicksal hat uns über die Erde verstreut. Sie leben in einem anderen Kontinent und wissen nichts von meiner Existenz. Ich selbst habe meine Heimat verlassen, denn es gibt große Schwierigkeiten in Bod-Yul, der wahre Glaube geht dahin, und der Zerstörer nähert sich den Grenzen. So kam ich zu meinen ägyptischen Brüdern, den Nachkommen der alten Adepten, und lebe mit ihnen in einem kleinen versteckten koptischen Kloster am Rande der Wüste, mitten in den königlichen Gräbern von Abu Simbel. Hier bleibe ich, bis dein Zorn, mit dem du diese Erde läuterst, verraucht ist. Doch was soll ich tun? Wie kann ich sie finden? Und selbst wenn ich sie finde, wie kann ich ihnen das alte Wissen zukommen lassen, das ich selbst nicht mehr kenne und das sie in ferner Vergangenheit verloren? Ich weiß, daß das Karma erfüllt werden muß, denn hast du ihnen nicht in alter Zeit versprochen, daß du sie dann, ,wenn der Schüler die Botschaft seines Hohenpriesters liest', wieder erheben und deinem Hohenpriester das Szepter zurückgeben würdest? Doch wie kann ich helfen, ich, der Sterbliche mit dem begrenzten Geist? Wie kann ich einen Zustand ändern, der mich bei weitem übertrifft? Und was mag deine Botschaft bedeuten, daß alles wieder in Ordnung komme, wenn der Schüler die Botschaft des Hohenpriesters erhält?' Du allein, heilige Weisheit, kannst ein Wunder bewirken durch deine göttliche Gnade und durch meinen Glauben…" Meinen Glauben… Als ich diese Worte flüsterte, schien sich die Welt plötzlich zu verändern. Ich wurde ganz ruhig. Angst und Verzweiflung waren verschwunden, und Friede erfüllte mein gequältes Herz. Die seltsame, doch angenehme Schläfrigkeit, die Benommenheit, die ich immer während meiner Gebete und tiefen Meditationen bei Sonnenaufgang spüre, ergriff mich. Doch diesmal stand die Sonne hoch über dem Horizont, und obwohl ich mein morgendliches Ritual schon -10-
ausgeführt hatte, fühlte ich ein inneres Drängen, in meine Zelle einen Teil der Grabkammer der königlichen Gräber zurückzukehren, dem ich nicht widerstehen konnte. Ich kniete nicht zum Gebet nieder, obwohl ich das Bedürfnis dazu spürte, sondern blickte ruhelos umher. Plötzlich fiel mein Blick auf den leeren irdenen Krug, in dem ich Wasser aus der Wüstenquelle zu holen pflegte. Es war noch früh am Morgen, die Zeit des Wasserholens war noch nicht gekommen, doch ich bückte mich nach dem Gefäß und ging mit schlafwandlerischen Schritten der Wüstenquelle entgegen. Damit du das Wunder, was mir dort widerfuhr, verstehen kannst, muß ich etwas weiter ausholen. Ich frage mich, ob du dich noch daran erinnerst - vielleicht in deinen Träumen - daß ich in jenem lang vergangenen Leben dein bester Schüler war. Ich gewann deine Freundschaft und dein Vertrauen durch meine Fähigkeit, das Bewußtsein auszusenden, eine Disziplin, die wir Novizen vor der Einweihung täglich unter deiner Aufsicht übten. Meinem Geist gelang es bei diesen transzendentalen Übungen, am längsten außerhalb des Körpers zu verweilen, und er kehrte unversehrt von seinen Flügen im Raum zurück. Ich erhielt wahrlich viel Lob für diese Fähigkeit von dir und der Priesterin, du rietest gar den anderen Novizen, die diese Übung nicht so gut beherrschten, sich an mir ein Beispiel zu nehmen. Ich erinnere mich ebenfalls daran, daß ich am genauesten über meine Erfahrungen auf der geistigen Ebene berichten und die Anweisungen unserer geistigen Führer, der unsichtbaren Gurus, wörtlich wiedergeben konnte. Ihre Ratschläge und die anderen Eindrücke kamen mir blitzschnell in den Sinn, sobald ich aus der Trance erwachte. Diese Fähigkeit, die ich mir im Laufe vieler vergangener Leben erarbeitete, hat mich seither nie verlassen. Lehr test du mich nicht, daß weder das Gute noch das Böse jemals aus der Seele getilgt werden kann und daß einmal erworbene Erfahrungen für immer zum geistigen Erbe gehörten? Auch in -11-
meinem heutigen Leben im Kloster Chang-La-Tse hatte mir YeShes diese Gnade nicht entzogen. Ehre und Ruhm seinem Namen und der ewigen Weisheit! Doch es gab viele geheime Neider, manch einen Lama, der mir grollte. Dies gehörte zu den Gründen, warum ich Tibet so überstürzt verlassen mußte. Denn Bod-Yul ist nicht mehr der Ort, der er in unserer Zeit zu sein pflegte, oh, Lhalu! Dort regiert jetzt der Glaube an Dogmen, wie einst in Israel vor der Geburt des Sohnes Gottes oder bei der Christenheit in unseren Tagen. Als die reine Lehre des Glaubens der alten Zeit in Hexerei und schwarzer Magie versank, sandte die göttliche Führung König Srong-Tsen-Gempo nach Tibet, um die alten Schläuche mit dem neuen Wein von Buddhas Lehren aufzufüllen. Doch die rissigen Häute erwiesen sich als stärker, und tausendzweihundert Jahre nach der großen religiösen Erneuerung wurde selbst der Wein des Shakyamuni schal. Das hohe Bod, das Dach der Welt, das in grauer Vorzeit das Höchste Wissen der Erde beherbergte, achtete den alten Bon nicht länger, verehrte auch Sangye (Buddha) nicht mehr im priesterlichen Sinne, sondern versank im Dogma und wartet auf die Ankunft eines neuen und viel zu weltlichen Retters. Dieser Retter steht schon dicht vor Tibets Grenzen und hätte es vernichten können, wenn der Gott Shambhallas es nicht beschützte. Ich konnte nicht in meinem Kloster bleiben, denn ich sah dies alles voraus und berichtete dem Kushog über meine Sorgen. Niemand, nicht einmal er, ahnte, daß ich ein demütiger Diener des heiligen und sagenumwobenen Klosters De Yoong in Shambhalla bin, denn der Weg dorthin ist noch immer allen Sterblichen verborgen. Der Herr Shambhallas hatte mich in die Außenwelt gesandt, damit ich als Lama dienen und den Verlauf der Ereignisse in Tibet verfolgen konnte. Doch, wie ich schon sagte, wußte niemand in meinem Gompa, meinem Kloster, von diesem Auftrag. Ich ging überall, selbst in der Religion, völlig neue Wege, denn war ich nicht einst dein Schüler? Eines Tages -12-
wagte ich vor dem Abt des Klosters Drepung die Behauptung, daß Ye-Shes, der. Gott der höchsten Weisheit, den wir zusammen mit anderen Gottheiten verehren, in Wirklichkeit den Jesus der Christenheit darstellt und daß dieser Jesus die höchste Verkörperung der Gottheit auf Erden war - und nicht Buddha. Dies war in seinen Augen natürlich eine ebenso große Lästerung, als wenn man mit einem christlichen Bischof über die Notwendigkeit wiederholter Verkörperungen auf der Erde sprechen wollte. Ist diese Welt nicht merkwürdig? Der Osten und der Westen verkünden zwei Seiten der ewigen, unteilbaren Wahrheit: Der eine spricht von der Nabe des Rades, der andere von den Speichen. Der eine schwört allein auf die Nabe, der andere allein auf die Speichen. Doch das macht gar nichts! Das heilige Rad wird sich in seiner Einheit auch ohne diese beiden Seiten weiter drehen und das Schicksal der Menschen durch immer neue Inkarnationen auf seinen Speichen weitertragen. Einige wird es tief nach unten stürzen, wo sie erdgebunden im Schlamm vergehen, andere wird es aus dem Staub in schwindelnde Höhen erheben, wo sie sich von der Materie lösen und gleich den unzähligen funkelnden Quarzkristallen mit den Flügeln des Windes ihrem ewigen Heim, dem schneebedeckten Gipfel über den Wolken, entgegenfliegen können. So warf mich das Rad der Pflicht, dem ich meinem Volk, meinen Freunden und Feinden zuliebe mein ganzes Leben lang getreulich folgte, in große Höhen, wo ich die Nähe Gottes zu spüren vermochte. Auch dies trug dazu bei, daß ich meine Heimat verlassen mußte. Zu jener Zeit begannen mich meine Priesterbrüder wegen meiner seltsamen Ansichten und der sich erfüllenden Vorhersagen mißtrauisch zu beobachten. Man entfernte mich tatsächlich aus dem Kloster, indem man mich dazu bestimmte, eine vierköpfige Karawane zu leiten, mit welcher ich die befestigten Klöster an der Grenze eines nach dem anderen zu inspizieren hatte. Bei dieser Gelegenheit traf ich mit einer großen Anzahl von Lamas in den Provinzen -13-
zusammen, und mir kam zu Ohren, daß vielen von ihnen die leeren Rituale des dogmatischen Lamaismus nicht genügten. Auf der Suche nach der hohen Transzendenz der atlantischen Religion und der alten ägyptischen Mystik versuchten diese wenigen Auserwählten, die reine Lehre des Glaubens der Vorfahren mit den großen Wahrheiten des Buddha und den erhabenen Lehren des Christus in Übereinstimmung zu bringen. Ja, diese inspirierten Lamas freuten sich alle auf die Wiederkunft des Wasserträgers. Denn der Tag des neuen Zeitalters war angebrochen. Es würde der Welt Frieden und große religiöse Verbundenheit bringen, dies wußten und fühlten wir alle. Und all jene, die in Körper und Seele nicht reif waren für dieses neue Zeitalter, würden beim großen Weltenbrand vergehen… Wenn es mir nicht möglich war, mit meinen Lamafreunden zu sprechen - denn oft vergingen sieben Monate, bis ich das entfernteste Kloster auf meinen Inspektionsreisen erreichte und trotzdem wichtige Botschaften oder Visionen weitergeben wollte, verfuhr ich so: Ich versetzte mich in dem Kloster, in dem ich gerade die Nacht verbrachte, nach den Regeln der alten Religion in tiefe Trance, sandte mein Bewußtsein aus und besuchte sie einen nach dem anderen in ihren Träumen. Ich übermittelte ihnen während dieser Flüge alles, was mir von Bedeutung schien, und bat sie, mir Briefe in mein Kloster zu senden, worin sie den Erhalt der Botschaft bestätigten. So erwarteten mich, wenn ich nach Hause zurückkehrte, viele Briefe. All dies bereitete mir große Freude und gab mir immer neue Beweise für meine seltsame psychische Gabe. Eines Nachts hatte ich eine Vision. Der Hohepriester Shambhallas erschien vor mir und sagte, daß die Zeit gekommen sei, in der die sieben Brüder - wie wir unsere geheime Vereinigung nannten - das Land verlassen müßten, um sich in die verborgenen Klöster Ägyptens, Chinas und Indiens zu begeben, wo unsere Adeptenbrüder unser Kommen bereits erwarteten. -14-
Wir sollten uns dort gemeinsam mit ihnen auf die große Aufgabe vorbereiten, den praktischen Teil unseres Wissens an westliche Adepten weiterzugeben, welche unter der Inspiration der dritten Offenbarung des Heiligen Geistes arbeiteten. Jawohl, wir wußten damals bereits, daß die Zeit unserer Zusammenarbeit gekommen war und daß wir Tibet bald verlassen mußten. Damals befolgte ich die Anweisungen, die du mir vor deiner erneuten Verkörperung auf der Erde gegeben hattest, und fand die Spuren unseres alten Lebens in einer halbversunkenen unterirdischen Höhle in den Ruinen des Klosters Tampol-Bo-Ri. So erhielt ich Kenntnis über die Zerstörung der heiligen Bücher und die Erfüllung deines zukünftigen Karmas. Wie viele schlaflose Nächte verbrachte ich nicht in hingebungsvollem Gebet und Meditation, um unseren Gott geneigt zu stimmen und seine Hilfe zu erflehen! Ich wußte bereits, daß es mein Schicksal war, dich, o Meister, zu finden und daß diese Suche tatsächlich die Mission meines Erdenlebens zu sein schien! Ich hatte jedoch keine Ahnung, wo ich nach dir schauen sollte oder wie ich mit meinen begrenzten Mitteln die Erfüllung dessen vorantreiben sollte, was dir in der letzten Zeit vorbestimmt war. Vor dreißig Jahren sorgte ich mich besonders schwer, denn auch die Priesterin erschien in einem Traum und teilte mir den genauen Zeitpunkt ihrer bevorstehenden Verkörperung mit. Seit jener Zeit verlor ich die Verbindung zu euch beiden, und obwohl ich mich aus vollem Herzen freute, wieder gemeinsam mit euch auf der Erde zu leben, war mir andererseits ganz weh ums Herz bei dem Gedanken, es könnte alles vergebens sein. Wir hatten uns in zwei weit entfernten Ländern inkarniert, und keiner wußte von des anderen Existenz. Während jener Monate betete ich sehr viel und flehte zum Himmel. Ich bat die höchste Weisheit inständig darum, meinen Geist zu erleuchten und die dunkle Nacht meiner Zweifel mit einem Hoffnungsschimmer zu erhellen, sei er auch noch so schwach. Ich beschwor sie, mir dabei zu helfen, eure Spur zu -15-
finden. Umsonst! Meine Vision verblaßte, ich sah nichts mehr in meinen Träumen, und wenn ich meine vertrauten Bewußtseinsflüge unternahm, erhielt ich von den hohen Mächten nur Anweisungen für meine bevorstehende große Reise. Doch selbst dies geschah in einer Weise, daß ich mich, wenn ich in meinen Körper zurückgekehrt war, nicht mehr daran erinnern konnte, wer gesprochen hatte und was mir darüber hinaus vermittelt worden war. Selbst wenn ich den Ort gekannt hätte, an dem du lebtest, was hätte ich für dich tun können? Wie hätte ich dir bei der Erfüllung deines Karmas helfen können? Du hattest keine Erinnerung an die Vergangenheit und schon gar nicht an das alte Wissen, und auch ich konnte mich nicht daran erinnern, da du damals selbst die heiligen Bücher zerstört hattest. All das, was die Naljorpas des heutigen Tibet über die hohe Magie wissen, ist - selbst wenn es in den Augen des Westens viel zu sein scheint - nichts, verglichen mit der wahren Zauberei der alten Zeiten. Wie sollte sich daher die alte Prophezeiung deines Karmas erfüllen, die ich unter den Ruinen des Klosters Tampol-Bo-Ri in Stein gegraben fand: daß die Bücher des Wissens, die zerstört worden waren, der Welt durch den Hohenpriester und die Priesterin mit Hilfe des Schülers zurückgegeben werden sollte? So sorgte ich mich zahllose Nächte lang, ohne daß von oben Antwort kam. Und doch geschah etwas - etwas, das mein Schicksal von Grund auf veränderte. Die Briefe, die mir meine Lamabrüder geschrieben hatten, um die Botschaften meiner Bewußtseinsflüge zu „bestätigen", fielen in die Hände des Abtes meines Klosters, während ich auf Reisen war. Er las sie und sandte augenblicklich einen Bericht nach Tashi- Lunpo. Vielleicht zog der Fall die Aufmerksamkeit seiner Hoheit Gyelva-Rinpoche auf sich, das werde ich nie erfahren. Tatsächlich wurde wegen dieses Vorfalls die geplante Reise der sieben Brüder viel früher als erwartet in die Tat umgesetzt. Eines Nachts erhielt ich - wie meine anderen sechs Freunde eine -16-
telepathische Botschaft aus Shambhalla, in der wir ermahnt wurden, Tibet besser zu verlassen. So geschah es, daß ich nach Ägypten kam. Das verborgene koptische Kloster meiner Brüder, der wahren ägyptischen Adepten, die mein Kommen bereits erwarteten, gewährte mir Unterschlupf. Ich hatte bereits einige Jahre in Ägypten verbracht und angestrengt über deine Lage meditiert, als ich zur Zeit des Zweiten Weltkrieges mit einem gefangenen europäischen Soldaten in der Wüste zusammentraf. Er arbeitete mit seinem Arbeitskommando in den Feldern nahe der Bewässerungsgräben, nicht weit von unserem Kloster entfernt. Eines Tages wurde er krank, und da ich gerade vorbeikam, bot ich der Wache meine Hilfe an. Der Soldat wurde bald wieder gesund und zeigte sich äußerst dankbar. Er wartete jeden Tag an der Stelle auf mich, wo der Pfad zu den Königsgräbern abbog, denn natürlich konnte ich niemandem die Lage unseres Klosters verraten. Die friedlichen Bauern des Landes hielten mich für einen ,heiligen Mann' und störten mich nie. Tatsächlich betrachteten sie mich mit einer gewissen abergläubischen Ehrfurcht. Als wir uns eines Morgens wieder einmal trafen, berichtete mir der Gefangene, der ein sehr intelligenter Mann zu sein schien, von der alten ägyptischen Weisheit und den berühmten alten Astrologen. Er vertraute mir an, daß ihn die okkulten Dinge schon immer angezogen hätten und daß er daran glaube. Ich sah mit einem Blick, daß er zum Wassermanntypus gehörte. Ich betrachtete die Handfläche seiner rechten Hand, studierte die Falten in seiner Stirn und die Iris seiner Augen. Dann berichtete ich ihm über seine Vergangenheit. Ich glaube, ich muß nicht erwähnen, wie erstaunt er war, jedoch nicht in dem Sinne, wie ich annahm. „Ya, Sich!" rief er und wurde blaß. Er sprach gebrochen Arabisch. „Ich bin sprachlos. Was Sie mir gerade gesagt haben, stimmt genau mit der Auswertung eines seltsamen Grapho logen überein, die ich erhielt, als wir in einem kleinen Land im Herzen Europas stationiert waren. Seitdem muß ich dieses Papier immer -17-
mit mir herumtragen. Wo ist es nur?" Nervös blätterte er in seinem zerfledderten Notizbuch und brachte bald ein sauber ge faltetes grünes Blatt Papier hervor. Darauf sah ich seltsam ausgeprägte Buchstaben in einer mir unbekannten europäischen Sprache. Der Soldat las den Text laut vor, wobei er bei der Übersetzung mit seinem unvollkommenen Arabisch zu kämpfen hatte, doch als er geendet hatte, war es an mir, vollständig verblüfft zu sein. Mit unheimlicher Genauigkeit war seine Vergangenheit dort beschrieben, und das fast mit meinen Worten! Ich erkannte gleich unsere alte Vorgehensweise im Hellsehen, die nur wenige Menschen in Europa in so hohem Maß beherrschen können. Denn diese besondere Gabe der Vorhersage wurde von den Magi des Ostens an ihre Schüler weitergegeben, und die Magi hatten ihre Kenntnisse aus der Weisheit der verlorenen Welt. Ich nahm das Papier in die Hand und starrte es an. Die darauf geschriebenen Buchstaben unterschieden sich vollständig vom europäischen Schreibstil, obwohl es unzweifelhaft europäische Schriftzeichen waren. Und doch verrieten die merkwürdig geschwungenen Lettern den orientalischen Ursprung. Ich drehte das Blatt um und warf einen letzten Blick darauf, um es dem Soldaten zurückzugeben. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Die Mittagssonne schien durch das Papier, und im Schatten meiner Hand boten die Buchstaben von hinten gesehen ein völlig anderes Bild. Vor meinen staunenden Augen entstanden ausgeprägte tibetische Schriftzeichen - und ich erkannte deine Handschrift! Ein warmer Schauer rann durch meinen Körper, und mein altes Herz machte einen Sprung, so daß mir der Brief aus den zitternden Händen fiel. „Wenn der Schüler die Botschaft seines Hohenpriesters lesen wird…". Mein Geist war wie gelähmt, doch die Worte der alten Prophezeiung schossen mir durch den Kopf, und ich wußte sofort, daß die Himmel endlich Mitleid mit mir hatten und die Zeit gekommen war, in der, als Belohnung für meinen Glauben, eine ganze Reihe Wunder geschehen -18-
würden. Ich bat den Gefangenen um den Brief. Er sah meine Bewegung, hielt sie jedoch für das natürliche Erstaunen über die Ähnlichkeit der beiden Voraussagen, schenkte mir den Brief und bat mich, ihn in guter Erinnerung zu halten. Als ich am nächsten Tag bei der Quelle erschien, fand ich ihn nicht mehr. Er mußte mit seinem Arbeitsregiment an einen anderen Ort abkommandiert worden sein. Ich sah ihn nie wieder. In dieser Nacht zog ich mich in die Einsamkeit meiner Felsenzelle zurück, betete viele Stunden lang und dankte dem Höchsten dafür, mit diesem Wunder meinen Glauben gestärkt zu haben. Ich wußte bereits, daß du lebtest. Ich wußte jetzt ebenfalls, daß sich deine Seele auch in ihrem jetzigen Leben einen Edelstein des alten Wissens bewahrt hatte, womit bewiesen war, daß du dem Weg Gottes wieder folgtest und dich für den, wie wir in Tibet sagten, „pfeilschnellen Pfad" entschieden hattest. Mein Glück war so groß, daß ich im Gebet vollständig in der Liebe zu Gott und meinen Mitmenschen aufging. Ich spürte, daß ich jenen geistigen Zustand erreichte, in dem das stille Gebet in tiefe Meditation übergeht und zu dem wurde, was im Westen „Ekstase" genannt wird, was wir Orientalen jedoch „Vorbereitung für die Aussendung des Bewußtseins" oder „Bewußtseinsflug" nennen. Die beiden Zustände, Ekstase und phowa, sind ähnlich, jedoch nicht dasselbe, weil wir pow durch gezielte, vertiefte Meditation erreichen und uns darauf konzentrieren, uns nach dem Erwachen an alles zu erinnern. Bei solchen Gelegenheiten brauchen wir absolute Ruhe, denn die kleinste Störung kann den Tod bewirken. Was ich an jenem besonderen Abend erlebte, war mir nur einmal zuvor geschehen: Der Zustand der Verzückung kam von selbst und nicht durch meinen Willen über mich. Ich kämpfte gegen die Benommenheit an, denn ich hatte keine Vorbereitungen für einen Bewußtseinsflug getroffen. Und außerdem war pow in den Abendstunden wegen der sich -19-
ändernden kosmischen Strahlung gefährlich. Ich kämpfte mit meiner gesamten Willenskraft gegen den geistigen Zwang an und versuchte, mich in einem Zustand ruhiger Meditation zu entspannen. Ich saß mit gekreuzten Beinen auf dem Steinboden meiner Zelle und schloß die Augen. „Warte…", hörte ich eine Stimme in meinem Inneren, „warte noch, begib dich heute abend früh zu Bett, doch verzichte auf Nahrung. Du wirst Antworten auf alle Fragen in einem Traum erhalten. Dann tu, wie dir geheißen wird." Plötzlich schreckte ich auf aus meiner Träumerei, und die Stimme, die zu mir gesprochen hatte, schwieg. Der Klang des Gongs, der zum Essen rief, brachte mich zu Sinnen. Ich stand auf und begab mich zu den anderen. Ich entschuldigte mich dafür, nicht am Abendmahl teilzunehmen, und bat sie, mich am morgigen Tag nicht zu stören, da mir wahrscheinlich bestimmt sei, das Kloster zu verlassen. Ich ging an diesem Abend früh zu Bett - eine Felsplatte aus den Königsgräbern und beschloß vor dem Einschlafen, meinen Traum zu verstehen. Ich bat meinen geistigen Führer außerdem, mir den Traum nach dem Erwachen zu erklären. Danach tat ich nach dem alten Ritual sieben langsame, tiefe, beherrschte Atemzüge, drehte mich auf die rechte Seite und legte sanft den Daumen meiner rechten Hand auf die Hauptschlagader meines Halses. Ich träumte, daß mir mein Schutzguru erschien. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, denn es war - wie in den beiden vorausgegangenen Träumen - mit einem leuchtenden Schleier bedeckt. Neben seiner großen Gestalt standen zwei weiße Lamas, die in die Gewänder tibetischer Priester gehüllt waren. Dann sprach der Führer zu mir, und es war, als ob seine Worte in meinem eigenen Herzen widerhallten: „Deine Zeit ist gekommen. Mache dich bereit, denn groß und ungewöhnlich ist die göttliche Gnade, die dir gilt. Begib dich drei Stunden nach Sonnenaufgang zurück in deine Zelle und bereite dich auf den längsten Bewußtseinsflug deines Lebens -20-
vor. Die Arbeit, für die dich Gott bestimmt hat, kann nur in einem Zustand außerhalb des Körpers vollbracht werden. Drei Wochen lang mußt du in diesem Zustand bleiben. Wirst du gestört, bedeutet das dein Ende, und die Aufgabe bleibt unerfüllt, wofür du die Verantwortung erhältst. Höre mir zu, vernimm die Aufgabe und die Gnade, die keinem Sterblichen seit undenkbaren Zeiten zuteil geworden ist. Denn wahrlich, du kennst die Wahrheit! Der Hohepriester lebt zusammen mit der Priesterin und mit Gonisa in einem fernen Land. In diesem ihrem Erdenleben sind die Bande ihrer Freundschaft wirklich stark, denn sie trugen in früheren Verkörperungen viel von dem gemeinsamen Karma ab. Auch im Westen gehören sie zu den Fackelträgern des geistigen Lichtes und der Gerechtigkeit. Seit langem stehen sie mit uns, ihren geistigen Führern, in Verbindung. Trotzdem muß das Karma erfüllt werden. Sie müssen der Welt die heiligen Bücher, die sie in ihrem tibetischen Leben einst verbrannten, zurückgeben. Schwache Menschen, die sie sind, wäre ihnen diese Aufgabe unmöglich, noch könntest du die Tat allein vollbringen. Selbst wenn wir dir erlaubten, körperlich zu ihnen zu reisen, was würdest du ihnen nutzen? Deine Anwesenheit würde sie nicht überzeugen, und außerdem kennst auch du die alte Weisheit längst nicht mehr. Doch die Gnade des Höchsten ist mit dir, denn er hat dich erwählt und wird ein Wunder für dich tun, welches der menschliche Geist nicht erfassen kann, ein Wunder, durch welches du deine Mission zu erfüllen vermagst. Das wahre Wissen, so ist es bestimmt, kann nur durch dich zu ihnen zurückgelangen. Wir werden deshalb deine Seele nehmen und sie über Berg und Tal und Meer dorthin bringen, wo der Hohepriester lebt. Dein einstiger Meister ist ein außergewöhnliches Instrument für den Empfang spiritueller Eingebungen. In diesen Tagen bemüht sich die Priesterin, die oft in unmittelbarer Verbindung mit uns steht, ihn zu einem Versuch mit dem automatischen Schreiben zu bewegen. Wenn -21-
du dich mit uns auf der geistigen Ebene befindest, werden wir das alte Wissen neu beleben. Wir werden genaue Kopien der alten zerstörten Bücher aus der Akasha Chronik ziehen, der ewigen sphärischen Chronik, in der alles verzeichnet steht. Und du, Ti- Tonisa Lama sollst dich mit unserer Hilfe vor ihnen manifestieren und sollst deinem Meister, solange er sich in Trance befindet, das Buch der heiligen Rituale und das Buch der Heilung diktieren, die er vor me hr als zweitausend Jahren verbrannte. So werden sie dank Gottes Gnade ihr Karma erfüllen und die Geschichte ihres vergangenen Lebens erfahren, in dem sie Gott sehr nahe standen. Warum geschieht das in solch außergewöhnlicher Weise, und warum steht der Gott des Karmas ihnen bei? Frage nicht. Die Gnade des Höchsten ist mit dir. Nach dem großen Gericht sollst du alles wissen, und dann wirst du dich vor der Größe Gottes niederwerfen. Und jetzt bereite dich auf deine lange Reise vor, Ti-Tonisa Lama!" Dies war mein Traum, und als ich erwachte, schrieb ich jedes Wort nieder. Augenblicklich war mein Herz voll tiefen Friedens, denn ich weilte in der Nähe Gottes. Ich hob meine Arme gen Himmel und warf mich auf die Steine meines Zellenbodens. Vor mir vergoldete die aufgehende Sonne die mächtigen Ruinenkolosse des Königsgrabs von Abu Simbel. Eine sanfte Brise erhob sich vom Nil und wirbelte den goldenen Sand auf. Ein winzigkleiner funkelnder Quarzkristall senkte sich auf mein Fensterbrett, erhob sich dann mit den Flügeln des Windes und flog in den Himmel. „Das Rad des Lebens", flüsterte ich, „siehe, die Gnade Gottes erhebt auch mich in den Himmel…" Ich vermochte mich meines Traumes und jeden Wortes meines Führers so deutlich zu entsinnen, daß ich nach dem Erwachen auf die Übung des Erinnerns verzichtete. Ich setzte mich an meinen kleinen hölzernen Tisch, schrieb diese Botschaft an dich nieder und schloß mit den Worten meines Führers, die ich im Traum vernommen hatte. Damit war alles getan, damit ich mich vor dir manifestieren konnte. Eine niemals -22-
gekannte Freude erfüllte mein Herz. Ich spürte, daß die Gnade des Herrn wirklich mit uns ist. Wer bin ich, ich schwacher, demütiger Diener, daß das höchste Wesen mir eine so erhabene Aufgabe zuteilt? Durch einen Menschen gibt Er das Wissen, das der Welt verlorenging, den Menschen wieder. Die Welt des Jenseits kommt drei Menschen zu Hilfe, um ihnen bei der Erfüllung ihres Karmas zu helfen - „Das Wissen verließ die Menschen und kehrte in die Sphären zurück, denn sie waren seiner nicht mehr würdig" - und siehe, jetzt gabst du es deinem Hohenpriester auf eine Weise zurück, die den menschlichen Verstand überstieg! Oh, reinige deinen Diener von Angst und Schwäche! Gib ihm die Stärke, daß sein schwacher Körper vom Feuer des Heiligen Geistes durchdrungen wird, damit sein Geist sich gleich dem Adler in die Lüfte schwingt und über Wüsten und Meere fliegt, um deinen Auftrag auszuführen. Sei gesegnet! Die Stunde ist gekommen. Drei Stunden nach Sonnenaufgang habe ich meinen Freund und Schüler Mahmud El- Barrani zu mir bestellt und ihn gebeten, mir zu helfen, meinen Bewußtseinsflug zu beginnen. Ich weiß nicht, ob ich zurückkehren werde. Obwohl ich die Technik des Pow gut beherrsche, habe ich bis jetzt nur die astralen Reiche besucht, denn die höheren Sphären blieben mir verschlossen. Das, was jetzt geschehen würde, war selbst in unseren Tagen selten, oh Lhalu! Mein altes Herz hüpft bei dem Gedanken, daß ich dich nach so langer Zeit wiedersehen werde. Doch jetzt muß ich mich beruhigen… Ich muß ruhig werden… Ich lege diese Botschaft auf meine Brust und falte meine Hände über ihr. Durch die körperliche Berührung werde ich die Kraft der Erinnerung bewahren, wenn ich durch die Hilfe meines Führers zu dir sprechen werde. Mahmud steht neben mir und bereitet mich auf die große Reise vor. Er wird über meinen leblosen Körper wachen, bis ich mit Gottes Hilfe in ihn zurückkehre. Mögen die Himmel mir genügend Kraft verleihen, meine Aufgabe zu erfüllen und dir, -23-
mein Meister, die Geschichte unseres vergangenen Lebens und das verlorene Wissen wahrhaft zu übermitteln. Laß uns beten… „Höre meine letzten Worte, Bruder, und lege mich nieder. Und wenn der Tag meines Erwachens naht, dann sprich mir zu dieser Stunde das Gebet der Vorbereitung ins Ohr… Heilige Weisheit, und ihr, höchste Führer! Öffnet die Kanäle der geistigen Ströme in meinem Bewußtsein. Gebt mir die Fähigkeit, alles, was sichtbar ist und existiert, in seinem göttlichen Ursprung zu erfassen. Jedes Atom meines ruhenden Körpers und meiner fliegenden Seele sei von eurer Stärke voll. Laßt mich wachsam sein, damit mich verführerische, verzaubernde Visionen nicht überwältigen… Meine Verstandeskraft verwandle sich in reinstes Licht. All meine Kraß möge mit der Kraft der Heiligen Drei verschmelzen. Gebt, daß mein Geist den Körper leicht verläßt und euer Gebot treu erfüllt! Mahmud… ich werde schwächer… bedecke mich mit meinem Mantel…"
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Kapitel l Der himmelsstürmende Gipfel Jomo-Lun-Gams hüllte sich in gelbschwarze Wolken, welche gespenstische Schatten über die tiefen Schluchten und Abgründe warfen. Die weite Hochebene leuchtete in düsterem Zwielicht. Obwohl die Sonne hoch genug stand, vermochten ihre kalten Strahlen das dichte Wolkengewebe nicht auseinanderzureißen, welches die riesigen Berge wie mit dem Mantel von Bod-Yuls Gott verhüllte. Ein Sturm kündigte sich an. Die Schafhirten der Berge sicherten die Stangen ihrer Zelte und warfen Torf über das Feuer. Die Flamme schoß zischend in die Höhe, und das Innere des Zeltes füllte sich mit beißendem Qualm. Das Licht, welches ich ab und zu in der Ferne aus den Belüftungsöffnungen blitzen sah, spornte mich zu noch größerer Eile an. Ich wollte mein Heimatdorf erreichen, bevor das Wetter losbrach. Nebenbei bemerkt, war ich so aufgeregt, daß ich die Kälte kaum spürte. Heute war ein großer Tag, ein Tag, an den ich immer würde denken müssen. Ich spürte, daß mein Leben einen Wendepunkt erreicht hatte und daß mich das Rad des Schicksals entweder ganz hoch hinauftragen würde, oder ich würde mein langweiliges Leben in unserem gottverlassenen kleinen Dorf weiterführen müssen und die Karawanen meines Vaters ins ferne Tazik-Yul oder in das Land der Horpas begleiten. Und ich wollte ganz bestimmt kein Händler werden. Ich hatte nicht die geringste Absicht, diesem Beruf zu folgen. „Da ist doch noch mein jüngerer Bruder. Mache aus ihm einen Chongo", hatte ich meinem Vater vor genau einem Jahr gesagt, als er gerade seine Packmaultiere gürtete. „Ich will Lama werden und dem Wege Gottes folgen. Ich weiß, daß dies meine wahre Bestimmung ist." Diese gewichtige Aussage, die ich, obschon sie mir schon lange auf der Zunge lag, immer -25-
heruntergeschluckt hatte, erschreckte mich selbst so sehr, daß ich in eine Ecke des Raumes rannte und mir dort an den eingefetteten Packriemen zu schaffen machte. Als ich endlich wagte, den Kopf zu heben und meinen Vater anzuschauen, sah ich zu meinem Erstaunen, daß er auf den Boden starrte und Tränen in seinen Augen glitzerten. „Vater!" rief ich erschrocken, eilte zu ihm und verbeugte mich tief. „Sei mir nicht böse. Ich wollte dich nicht beleidigen. Doch weißt du, ich habe mich in den drei Jahren unserer letzten Reise so ungeschickt benommen. Ich kann einfach nicht rechnen. Vor kurzem hat mich ein Händler aus Gyanak um zehn Dri-Häute betrogen. Und du warst so großzügig, daß du vorgabst, nichts bemerkt zu haben. Doch ich habe die ganze Zeit über gespürt, daß dich dieser Vorfall ärgerte. Du dachtest sicher, daß dein erstgeborener Sohn es nicht verdiene, dein Brot zu essen! Deshalb schlage ich meinen Bruder Drag-Pa vor. Er ist so ein kluger Junge! Er wird dir von viel größerem Nutzen sein als ich… Yab! Sei mir nicht böse, du weißt, daß ich schon immer ein merkwürdiges Wesen hatte. Ich habe Visionen und kann Träume deuten. Erinnerst du dich an den heiligen Lama, dem wir auf dem Zla ri-La-Paß begegneten? Er schaute mich an, legte mir die Hände auf den Kopf und sagte: ,Du wirst dennoch ein Priester, mein Sohn, und du wirst der Heiligen Weisheit dienen!' Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, daß du mit mir darüber sprichst, doch du hast geschwiegen. So erkannte ich, daß du mich zu einem Händler machen wolltest, und ich versuchte, mich damit zufriedenzugeben. Gestern hatte ich jedoch wieder einen Traum. Ich war in einem großen Kloster und trug die Kleider eines Priesters. Ich stand unter den anderen Novizen, und wir alle berührten das prächtige Gewand des Hohenpriesters…" Vater hob die Hand, und ich verstummte. Er sah mich ein Weile schweigend an. „Sag mir, mein Sohn, ist dies dein fester Wille?" fragte er endlich. „Hast du dir alles gründlich überlegt? Willst du deine Eltern für immer verlassen? Du weißt, daß wir reich -26-
sind. Im nächsten Jahr werde ich eine Karawane in das ferne Gyagar senden. Das große Kloster dort zahlt in Silber und Gold für die feine Seide und die Stoffe aus dem Süden, die sich so gut für ihre verzierten Gewänder eignen. Du bist sechzehn Jahre alt und wirst bald ein Mann sein. Wem soll ich mein blühendes Geschäft hinterlassen, wenn nicht dir? Selbst wenn wir bescheiden in diesem kleinen Bergdorf leben, sind wir nicht arm! Wir leben nur deshalb hier, weil man in diesem Tal vor Steinschlag sicher ist. Wenn ich wollte, könnten wir nach Süden ziehen und ein bequemeres Leben führen. Doch hier geht es uns viel besser. Willst du uns verlassen?" Ich sah immer noch sein trauriges Gesicht und seine brennenden Augen vor mir, als ich jetzt an diesem trüben, stürmischen Morgen nach Hause eilte. Es hatte mich so tief berührt, daß ich schon fast beschloß, mich in mein Schicksal zu fügen. Doch in diesem Augenblick - auch heute noch hatte ic h die Szene deutlich vor Augen - trat meine Mutter ein, gesegnet sei ihr Angedenken, und wandte sich an Vater. „Hast du gehört, was wir gesprochen haben?" fragte dieser. „Ti-Tonisa möchte uns verlassen. Er sehnt sich nach dem Kloster. Er ist unzufrieden mit den erdgebundenen Karawanen seines Vaters, die über gefahrvolle Bergpfade ziehen. Er will den pfeilschnellen Pfad erklimmen." Mutter sah mich lächelnd an, als ob sie alles wüßte. Immerhin hatte ich ihr von meinem großen Traum erzählt. „Stimmt das, mein Sohn? Würdest du wirklich gern ein Lama sein? Und was sagt dein Vater dazu? Will er dich vielleicht nicht gehen lassen?" Mutter hatte die Angewohnheit, sich in Form von Fragen auszudrücken, womit sie einen in Verlegenheit brachte, da sie nie auf eine Antwort wartete. Vor allem Vater wurde durch diese Art stets in die Enge getrieben. „Warum läßt du meinen Sohn nicht gehen, Yab? Bist du vielleicht ein armer Mann? Kannst du dir die Geschenke für das Kloster etwa nicht leisten? Oder glaubst du, daß ich ihn gerne -27-
ziehen lasse? Hat ihn nicht mein Leib geboren? Ist er nicht mein Fleisch und Blut? Doch was soll ich tun, wenn die Götter selbst ihn berufen? Und hat nicht der heilige Mopa vom Zlari-La-Paß alles so vorausgesehen? Komm her, mein Sohn!" Ich ging zu ihr, und sie nahm mein Gesicht in beide Hände. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß Vaters Gesicht sich zu einem breiten Lächeln aufhellte. Er kratzte sich an der Stirn. „Was soll ich tun, Cham, wenn du es dir in den Kopf gesetzt hast? Habe ich dir jemals widersprochen? Ye-Shes Wille soll geschehen und der deine…" Mutter lachte und blickte mich liebevoll an, obwohl mir die Trauer in ihren Augen nicht entging. An diese Unterhaltung mußte ich denken, als ich den Bergpfad entlanghastete, um dem Sturm zu entgehen. Wieviel war seitdem geschehen! Vaters Widerstand brach an diesem Tag vollständig in sich zusammen. Er beschloß, meinen Wunsch zu erfüllen. Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich war. Nur ein Hindernis stand der Erfüllung meines Traums im Wege, in dem großen Kloster, zwölf Tagereisen von unserem Dorf entfernt, zugelassen zu werden. Die Klöster nahmen niemanden auf, nicht einmal einen Novizen, der keine gründliche Unterweisung in den Grundlagen der Religion nachweisen konnte. Diese Ausbildung war aber keineswegs leicht zu erhalten, da die Lamas alle in Klöstern lebten, welche man als Fremder nicht betreten durfte, während die reisenden Lamas, an die sich solche Schüler hätten wenden können - gesetzt der Fall, die Lamas hatten überhaupt Lust oder Geduld dazu - nur sehr selten und vereinzelt vorüberzogen. Jedoch hatte ich das Glück, daß ein Vierteltagesweg von unserem Dorf entfernt ein alter Einsiedler lebte. In Wirklichkeit handelte es sich nicht um einen Weg, sondern um einen steilen Aufstieg. Die benachbarten Bergbewohner hielten den alten Mann für heilig und gingen, wenn sie Rat brauchten, lieber zu ihm als zu den Ngaspas oder Zauberern. Er hieß Ram-Chen Lama und wurde von allen als Priester verehrt, denn das war er in seinen jungen Jahren -28-
gewesen, doch mit vierzig Jahren hatte er gelobt, dem Kloster den Rücken zu kehren und der Welt zu entsagen, um den Rest seines Lebens der stillen Meditation zu widmen. Zu ihm schickten mich meine Eltern ein Jahr lang in die Lehre, und seitdem war ich Tag für Tag zu seiner Fels höhle geklettert. Als Dank für seine Lehren schickte ihm mein Vater Nahrungsmittel und Decken, doch die Decken nahm er nie an und sagte, daß jene, auf der er sitze, ihm genüge. Wie ich mich in diesem Jahr veränderte! Wie viele eiskalte Tage verbrachte ich nicht in seiner ärmlichen Klause, ohne die Kälte überhaupt zu spüren! Eine neue, eine bessere Welt begann sich mir langsam zu eröffnen, und ich war immer noch überglücklich, mich für diesen Weg entschieden zu haben. Als ich ihn das zweite Mal besuchte und der Unterricht begann, untersuchte er meinen Körper vom Kopf bis zu den Zehen und befühlte meine Beine mit seinen dünnen, knochigen Händen. „Wenn deine Beine nicht hart sind wie Stein, wirst du niemals ein Lama werden, mein Kind", sagte er kopfschüttelnd, während ich überlegte, was um Himmels willen meine Beine mit priesterlichem Wissen zu tun haben könnten! Wie ungebildet und tölpelhaft ich damals war! Doch später dämmerte mir unter qualvollen Schmerzen, daß dies alles ebenso wie die anderen körperlichen Übungen und Ausbildungsmethoden sehr wichtig für einen zukünftigen Lama war. Ohne sie würde ein Mann auf dem steilen, engen Pfad des geistigen Weges bald in die Knie sinken. Er begann seinen Unterricht, indem er mir gebot, mich mit gekreuzten Beinen vor ihm auf den Felsboden zu setzen, welcher nur mit einer dünnen Schicht Blätter bedeckt war. Jetzt bleibe so, mein Sohn", fügte er freundlich hinzu, „sitze ruhig, bewege dich nicht und zapple nicht herum. Paß auf, was ich dir zu sagen haben, ohne zu blinzeln. Kümmere dich nie darum, wie unbequem diese Haltung ist. Bleibe ruhig, sitze gerade und vor allem, blinzle nicht! -29-
Bevor du nicht gelernt hast, dich zu zügeln, würde ich nur meinen Atem verschwenden, wenn ich zu dir spräche, denn das ist die Grundlage der Selbstbeherrschung und der geistigen Entwicklung." Nur unter großen Schwierigkeiten konnte ich meine Beine in die geforderte Stellung biegen. Zu meinem Glück waren sie durch das Bergsteigen ziemlich hart. So richtete ich meine Augen auf Vater Ram-Chen und lauschte andächtig seinen Worten. Trotz seines Alters saß er kerzengerade vor mir und sprach leise, fast flüsternd, als ob er zu sich selbst spräche. „Die Menschen, mein Sohn, blinzeln viel zu häufig. Die zweite menschliche Schwäche ist das ständige Fuchteln mit den Händen. Aus diesem Grund mußt du zuerst lernen, deinen Körper zu beherrschen. Durch die Augen und die Finger strahlt die mächtigste geistige Kraft, der Magnetismus. Mit dieser Kraft heilen wir, und mit ihr können wir andere beeinflussen. Derjenige, der viel und nervös zwinkert, unterbricht dauernd den magnetischen Kraftstrom, der aus seinen Augen strömt, und wird deshalb keine Wirkung auf andere Menschen haben. Er kann nicht überzeugend reden noch kann er sich in höherer geistiger Konzentration üben. Ein Mensch, der mit seinen Händen fuchtelt, zerstreut die wertvollen Ströme seines Körpers. Bleibe deshalb immer ruhig und lege deine Hände mit nach oben gerichteten Handflächen auf die Oberschenkel. Wenn du stehst oder gehst, dann falte die Hände über den Daumen, die nach innen gerichtet sein sollten, als ob sie schliefen. Nur Dummköpfe werfen ihre Kraft und ihren Samen weg!" Meine Augen schwammen inzwischen vor Anstrengung in Tränen, doch ich wagte nicht zu blinzeln und blickte meinen Meister fast weinend an. Plötzlich riß er seine Augen weit auf und starrte mich an. Mir war, als schösse eine heiße Flamme aus seinen Augen und durchführe meinen Körper von Kopf bis Fuß. Der Drang zu blinzeln verschwand vollständig, und meine Augen wurden wieder trocken. „So geht das! Das hast du gut gemacht", murmelte er zufrieden, als ob dies alles mein Verdienst gewesen -30-
wäre. „Paß gut auf, was ich dir sage, denn ich habe nicht die Gewohnheit, mich zu wiederholen. Ich warne dich ausdrücklich davor, nicht gerade zu sitzen. Und jetzt wollen wir sehen, was du über den Geist und die Seele weißt. Aus wie vielen Teilen besteht der Mensch?" „Aus zwei", antwortete ich glücklich, „aus Seele und aus Geist." Mein Meister schaute mich ein Weile gedankenverloren an, als ob er herauszufinden versuchte, ob es der Mühe wert sei, seine Zeit an so einen Dummkopf zu verschwenden. „Nein, mein Sohn, aus drei - denn wenn ich vier sagen würde, ginge das über deinen Horizont. Deshalb laß uns sagen, daß der Mensch aus drei Teilen besteht, aus Körper, Seele und Geist. Vergiß das nicht, denn ich werde es nie wieder erwähnen, obwohl sich das Verständnis der verschiedenen geistigen Ebenen der anderen Welt allein darauf gründet. Dinge, die so klar sind wie die Luft, die du atmest, werde ich nicht wiederho len. Und jetzt beantworte mir folgende Frage: Was im Menschen denkt?" Ich stand unter Hochspannung, denn ich hatte mir vorgenommen, sein Wohlwollen gleich in der ersten Stunde zu gewinnen. Deshalb platzte ich mit meiner Antwort heraus, da ich mich freute, daß er nach etwas fragte, was ich wußte. „Die Seele!" „Nein, Sohn, der Geist denkt - dein wahres Selbst. Die Seele, die deinen Geist bekleidet, kann nur fühlen. Wenn du das verstanden hast, habe ich nichts dagegen, wenn wir der Einfachheit halber nur noch von Seele und Körper sprechen… Und jetzt sage mir, welcher Teil in dir sehnt sich nach Vergnügen und Freude?" „Mein Körper", antwortete ich. „Sehr gut. Und welcher Teil fühlt Kälte und Müdigkeit?" „Der Körper!" erwiderte ich stolz. -31-
„Gut gesagt, mein Kind, gut gesagt! Und welcher Teil in dir fühlt Freude, Sorgen und Ärger?" „Die Seele!" „Jawohl, die Seele. Und welcher Teil spürt Durst und Hunger?" „Der Körper!" antwortete ich. „Nein, Sohn, die Seele. Die Seele wurde von der Heiligen Weisheit rein erschaffen, doch sie fiel. Und seitdem hungert und dürstet es sie nach Wahrheit." So erhielt ich meinen ersten Unterricht in der Felshöhle, und diesen Tag werde ich nie vergessen. Bevor ich mich auf den Heimweg machte, da sich die Abenddämmerung bereits herabsenkte, stellte mir mein Meister noch eine Frage. Er schien mit den Körperübungen zufrieden zu sein. „Kannst du mir sagen, durch wie viele Seinszustände die Seele nach dem Tod des Körpers geht?" fragte er. „Ja, Vater", antwortete ich ohne zu denken, und als ich diese Worte - immer noch auf dem kalten Felsboden hockend - gesagt hatte, ergriff mich eine seltsame Benommenheit. Ich starrte vor mich hin, durch Ram-Chen Lama hindurch, ja sogar durch die Felswand. Und als ich sprach und meine Stimme hörte, erkannte ich sie nicht. „Ja, Vater… die menschliche Seele kennt zwei solcher Zustände… den chikai bardo und den chonyid bardo. Der erste Zustand folgt direkt auf den Tod, wo die betäubte Seele im ersten blendenden Lichtblitz der Göttlichkeit erkennen muß, daß sie tot ist und nicht länger sterblich. Danach schafft sich die menschliche Seele ihr eigenes Schicksal. Wenn sie sich vor dem Licht fürchtet, geht sie verloren und muß leidend durch die tieferen Ebenen wandern, bis sie auf Erden wiedergeboren wird… Der andere Zustand wird der Weg der Wahrnehmung genannt, der, nachdem die richtige Entscheidung getroffen wurde, zu einer großen Belohnung führt: dem Erscheinen des geistigen Führers…" -32-
Mein Lehrer schaute überrascht, trat plötzlich zu mir, legte seine Hände auf meinen Kopf und blickte mir tief in die Augen. Ich sah wieder alles klar, meine seltsame Benommenheit war verschwunden. Vater Ram-Chen hob die Hände. „Das Licht der Weisheit fiel auf ihn", flüsterte er voller Ehrfurcht. „Mein Sohn, ich bin froh, daß ich dich als Schüler angenommen habe. Die Stimme deines Führers sprach durch dich, es war seine Eingebung, die du gerade empfingst. Gepriesen sei die Heilige Weisheit, die dir solch eine psychische Gabe verlieh! Du wirst einst ein großer Mann sein, ein wirklich heiliger Lama." Er lehnte sich an die Felswand und richtete seinen Blick auf mich. Die merkwürdige Welle der Unbewußtheit, die mich vor einer Weile überwältigt hatte, hatte sich vollständig aufgelöst. Ich ertappte mich dabei, wie ich versuchte, die Frage nach den beiden Seinszuständen nach dem Tod zu beantworten. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich tatsächlich eine Antwort gab. Mein Meister hob die Arme und sprach ein Gebet: „Preis sei dir, Große Weisheit. Durch dich durfte dein Priester die ersten Schritte tun, um dein Diener zu werden. Siehe, in deiner großen Macht und deiner großen Weisheit gibst du mir die Möglichkeit, dir selbst hier in dieser Abgeschiedenheit zu dienen." Dann wandte er sich an mich und legte mir beide Hände auf den Kopf. „Und du, Tonisa, beginne den pfeilschnellen Pfad in Frieden, Glauben und Vertrauen, denn er ist steil, weil er zum Himmel führt. Schau weder nach rechts noch nach links. Wenn du vor einem Abgrund stehst und einer deiner Füße keinen Boden mehr fühlt, dann blicke nur nach oben. Er, der stets zum Himmel schaut, wird niemals wanken. Halte dich an die geistige Kraft deines Führers, dann wirst du den Abgrund überfliegen. Gehe jetzt, mein Sohn, und der Himmel möge deinen Weg beschützen. Morgen erwarte ich dich um dieselbe Zeit." So verging der erste Tag meiner ,vorbereitenden Unterweisungen' in der Felshöhle des Einsiedlers Ram-Chen. Sein Andenken sei gesegnet und der Name der Heiligen -33-
Weisheit für immer und ewig gepriesen, da sie mein Schicksal in so gute Hände legte! Sie hielten mich fest, diese Hände, und lenkten sanft meine stolpernden Schritte. Ein ganzes Jahr war seitdem vergangen. Ich hatte ihn jeden Morgen besucht, obwohl ich von der Morgendämmerung bis zum Mittag klettern mußte, um seine Felshöhle zu erreichen. Der Pfad war wegen der herausragenden Gesteinsbrocken viel zu gefährlich für ein Reittier. Tatsächlich mußte ich mich oft unter Lebensgefahr an die steilen Felsen klammern, bis meine Füße einen sicheren Halt gefunden hatten. Außerdem hatte mir Vater Ram-Chen die strikte Anweisung gegeben, ausschließlich zu Fuß zu ihm zu gehen. Ja, er behandelte mich sehr liebevoll, doch gleichzeitig mit Strenge. Besonders meinem Körper machten die ungewöhnlichen Entbehrungen zu schaffen. Der lange Weg und die Kletterei in den Felsen ermüdeten mich, doch darum kümmerte er sich nie. „Ob es Tag oder Nacht ist, kalt oder warm, ob er auf Steinen oder in seinem Bett liegt, ob er leidet oder glücklich ist, alles ist dem Menschen gleich, der mit Gott geht", tröstete er mich, wenn er merkte, daß ich fast zusammenbrach. Und diesen Satz wiederholte er ganz im Gegensatz zu seiner Gewohnheit ziemlich oft. Ich stehe auch jetzt noch tief in seiner Schuld. Ohne seine weise, strenge und doch hingebungsvolle Führung hätte ich die Prüfungen im Großen Kloster nicht bestanden. Tatsächlich versagten viele meiner reichen Novizenbrüder, mit denen ich zusammen begonnen hatte, später am ersten Tag der Prüfungen. Die strengen Übungen, denen mich Vater Ram-Chen unterzog, stärkten dagegen Körper und Geist. Außer der Gnade Gottes, die mich mit seltsamen psychischen Geschenken bedachte, damit ich Ihm in diesem Leben und danach ein würdiger Diener sei, beeinflußten mich die Lehren des alten Einsiedlers bis zum Tage meines Todes und wappneten mich auf dem harten Wege den steilen Pfad empor. Nun waren knapp zwölf Monde vergangen, und ich hatte wirklich mehr gelernt als andere Menschen in der -34-
doppelten Zeit. Wir übten fast jeden Tag Gedankenübertragung. Dabei wurde mir beigebracht, wie ich meine Gedanken übermitteln und meinen Geist von überflüssigem Inhalt befreien konnte. Laut Ram-Chen Lama war das Leermachen des Geistes die Grundlage für jede Gedankenübertragung. Doch das war tatsächlich das Schwierigste. Wir saßen nebeneinander in der Dunkelheit und konzentrierten unsere Aufmerksamkeit auf eine glänzende Metallkugel, die an einer Schnur von der Decke der Höhle hing. Nach einer gewissen Zeit mußte ich ihm sagen, welche Gedanken mir im Zusammenhang mit der Kugel in den Sinn gekommen und welche Bilder mir dazu eingefallen waren. Er verglich sie mit seinen eigenen Gedanken und Bildern und stellte fest, in welchem Ausmaß sie mit den seinen übereinstimmten. Als die Übungen später schwieriger wurden, mußte ich mich still auf den Boden hocken, ohne irgend etwas zu betrachten. Ich mußte meinen Geist nach innen auf sich selbst richten und die Gedanken und Bilder betrachten, die ohne mein Zutun durch mein Bewußtsein wanderten. Nach einer gewissen Zeit mußte ich meinem Meister davon berichten, und er fand heraus, ob es seine Ideen und Vorstellungen gewesen waren, die mir in Wirklichkeit in den Sinn gekommen waren. Als er feststellte, daß ich seine Gedankenbotschaften gut empfangen konnte, vergrößerte er allmählich die Distanz zwischen uns. Ich blieb in der Höhle, während er sich draußen auf einen weiter entfernten Felsen setzte. Von dort gab er mir Anweisungen. Zu Anfang führten wir diese Übung nur bei Neumond oder Vollmond aus, einige Monate später jedoch an allen Tagen des abnehmenden Mondes. Er war sehr zufrieden mit mir, da ich ein halbes Mondjahr später seine Botschaften sogar zu Hause empfangen konnte und genau zu der Zeit bei der Höhle auftauchte, die er mir durchgegeben hatte. Doch all dies erfüllte mich nicht mit Stolz. Meinem Meister gelang es, mir auch die kleinsten Überreste menschlicher Eitelkeit so gründlich auszutreiben, daß sich meine Eltern -35-
täglich mehr über mein sanftes Wesen wunderten. Vater schüttelte zustimmend den Kopf und belud mich mit drei Decken, die ich dem heiligen Mann noch zusätzlich dafür geben sollte, daß er eine n so feinen Mann aus seinem Sohn gemacht hatte. Diese Kiang-Decken waren sehr wertvoll, und ich protestierte umsonst, daß Ram-Chen Lama sie nicht annehmen würde. Vater bestand darauf, daß ich sie trotzdem mitnehmen und sie dem Meister, falls er sie ablehnte, heimlich in die Höhle legen sollte. So schleppte ich die schweren Decken und trottete erschöpft den Bergpfad entlang, während ich mir das Gehirn zermarterte, wie ich meinen Meister dazu bringen konnte, die Decken anzunehmen. Die kalten Wintertage kamen näher und damit auch das Ende meiner Lehrzeit bei ihm, doch er trug immer noch nichts außer der Yakchuba auf der nackten Haut. Seine dünnen Arme bedeckte er nie, und doch beklagte er sich nie über die Kälte. Er vertrieb sie mit Hilfe einer alten Technik aus seinem Körper, indem er durch Atemübungen und Gebete das innere Feuer entfachte. Einmal gab er auch mir eine kurze Unterweisung in dieser Technik, doch ich war wohl noch nicht reif genug, denn ich fror immer noch, worüber er leise kicherte. So saß er selbst in der bittersten Kälte in seiner Einsiedelei unterhalb des Gangri- La-Passes. Oft sah ich ihn mit gekreuzten Beinen auf dem steilen Weg vor seiner Hütte sitzen, vollkommen bewegungslos, die Augen auf die höchsten Gipfel der gegenüberliegenden Felsen gerichtet. Seine nackten Arme, seine Beine und sein Hals waren bei solchen Gelegenheiten so heiß, daß er es immer schaffte, den hinter ihm liegenden Schnee zu schmelzen. Einmal kam ich etwas früher bei seiner Höhle an und berührte ihn, worauf er aus seiner Meditation erwachte. „Vater! Was tust du hier draußen in der bitteren Kälte?" rief ich entsetzt. „Ich dachte, du seist erfroren, weil du dich nicht regtest!" Er betrachtete mich mit schelmischem Lächeln und sagte: „Ich wärme mich selbst, mein Sohn. Doch störe mich in Zukunft -36-
nicht noch einmal, wenn du mich in solch einem Zustand antriffst, denn das könnte meinen alten Knochen gefährlich werden. Wenn du den Strom des heiligen Feuers unterbrichst, könnte ich wirklich vor Kälte erstarren." Als ich zu meiner letzten Stunde mit den Decken bei seiner Höhle ankam, wußte ich, daß alles umsonst war. Dennoch lud ich meine Last schüchtern vom Rücken und breitete sie vor ihm aus. „Vater schickt sie dir", erklärte ich, „und bittet dich, sie als Zeichen seiner demütigen Dankbarkeit anzunehmen, weil du einen Mann aus mir gemacht hast." Ram-Chen Lama schüttelte langsam den Kopf und antwortete: „So, so, Ti- Tonisa, du bist so oft hierhergekommen und kennst mich immer noch nicht? Doch wir wollen deine Eltern nicht verletzen." Er hob zwei von den kostbaren Decken auf und winkte mir, ihm zu folgen. Ich sah, daß auf dem breiten Felssims neben unserem Pfad eine wilde Ziege graste. Sie hörte das Geräusch unserer Schritte, stellte scheu die Ohren und setzte gerade zur Flucht an, als der Einsiedler rief: „Tsong! Tsong, komm herauf!" Der Ziegenbock drehte sich um, blickte den alten Mann mit fast menschlichem Gesichtsausdruck an, meckerte fröhlich und hüpfte den steilen Abhang empor. „Und was ist mit deinem Weibchen?" fragte Vater Ram-Chen. Die Ziege - du hast mein Wort - eilte augenblicklich den Abhang hinab und kehrte, bevor ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, in steilen Sprüngen zusammen mit seinem Weibchen zu uns zurück. Ram-Chen legte den beiden die Decken über und band sie mit Gurten fest. „So, wenigstens müßt ihr jetzt in den Wintermonaten nicht frieren, meine armen Kleinen. Und du", wandte er sich an mich, der ich völlig verblüfft dastand, „du denkst besser daran, Sohn, daß das wilde Tier genauso eine Kreatur des Höchsten ist wie wir. Der einzige Unterschied zwischen uns besteht darin, daß die göttliche Gnade seine Seele noch nicht berührt hat, weshalb es unbewußt ist. Aus diesem Grunde ist es unserer Pflege und Obhut anvertraut. Liebe -37-
die Tiere, Ti- Tonisa. Sie sind deine jüngeren, hilflosen Brüder. Beschütze sie dein ganzes Leben lang vor den Quälereien schlechter Menschen. Dann wird dir der steile Aufstieg den pfeilschnellen Pfad hinauf leichter fallen. Versprichst du das, mein Kind?" Ich starrte ihn an und brauchte lange, bis ich antworten konnte, denn in meiner Kehle steckte ein Kloß. „Ja, ja, Vater", stammelte ich zuletzt. „Dann nimm diese dritte Decke und behalte sie dein Leben lang. Du wirst sie kaum benutzen, da du sie nicht brauchen wirst. Doch wenn du an einem frierenden Menschen oder Tier vorbeikommst, dann hülle diese in die Decke und denke an mich. Heute werden wir nicht lernen, Sohn, denn heute kommst du zum letzten Mal. Bald wirst du in das große Kloster reisen, wo du höchstwahrscheinlich aufgenommen wirst. Ich bitte dich nur darum, vergiß deinen alten Meister nicht. Wenn du in die Mysterien der Aussendung des Bewußtseins eingeweiht sein wirst, dann besuche mich ab und zu und erzähl mir von deinem Leben. Als letzte Anweisung für deine große Reise laß mich dir jetzt eine Geschichte erzählen. Als die Menschen gefallen waren und deshalb auf der Erde umherwanderten, erhielt jeder von ihnen vom Höchsten Geist eine Schatztruhe. Doch sie sanken immer tiefer in die Materie hinab, und die Truhe, ihr unveräußerbares Eigentum, wurde unter ihren Händen immer schäbiger und rostiger. Schließlich hielten sie die Truhe für wertloses Gerumpel und warfen sie in die Ecke. Jetzt kannst du dir deinen Schatz, dein rechtmäßiges Erbe, nur durch den Glauben wiederbeschaffen. Du mußt glauben, daß in der alten Truhe, die du gar nicht mehr zu öffnen wünschst, der größte Schatz auf Erden liegt. Diesen Glauben kannst du nur erlangen, wenn du deine Nachbarn liebst und dich selbst gering achtest. Sollte dich irgend jemand angreifen, dann stehe vor ihm tief beschämt mit gesenktem Kopf und denke daran, daß die Kerze, die verkehrt herum gehalten wird, die Hand desjenigen verbrennt, der sie hält. Und wenn du das Licht deiner Seele, -38-
deine einzige Waffe, vor ihm leuchten läßt, wird er als grausamer Krieger von der Leuchtkraft und der Größe des angreifenden Schwertes besiegt werden. Liebe also alle Menschen und mach dir niemanden zum Feind." Ich stand mit gesenktem Kopf vor ihm und war tief berührt von dem Gedanken, ihn niemals wiederzusehen. „Und jetzt vernimm meine letzte Warnung. Du kannst den Weg des Priesters nur dann gehen, wenn du dem Weg der Wahrheit folgst. Die Wahrheit ist die Heilige Weisheit, und wer die Wahrheit ehrt, ehrt gleichzeitig Gott. Untersuche also all deine Taten und Gedanken, ob sie der Wahrheit genügen. Tätige Wahrheit steht im umgekehrten Verhältnis zu tätigem Arva, dem Gesetz des Schicksals. Wenn du dem Weg der Wahrheit folgst, wirst du von Akhor, dem zwingenden Kreislauf der Wiedergeburten, verschont. Wenn du dem Weg der Wahr heit folgst, fällst du nicht unter das Gesetz, denn die Wahrheit wird dich beschützen. " „Wie beschützt sie mich, Vater?" fragte ich. „Sie steht wie ein schützender Schild bei jedem deiner Schritte vor dir. Wenn du einen Schritt zur Seite tust, bleibt der Schild schwebend in der Luft über dem Weg hängen, nur du befindest dich nicht länger hinter seiner schützenden Mauer. Binde diesen Schild deshalb fest an deinen Arm und ziehe deine Hand niemals auch nur für einen Augenblick aus seinen schützenden Gurten, sonst wirst du von deinen Begierden in die Irre geleitet. Und merk dir dies! Es ist sehr schwierig, den schwebenden Schild in der Dunkelheit dieser Welt wiederzufinden. Deshalb halte ihn fest, dann wirst du erfahren, wie er sich von allein vor dir herbewegt und dich in eine bestimmte Richtung zieht. Wenn du dieser Richtung folgst, wird er dich vor den Angriffen der Lüge schützen. Tonisa, kannst du mir jetzt sagen, wie der Schild der Wahrheit mit anderem Namen heißt?" „Glaube!" antwortete ich ohne nachzudenken und sank vor -39-
ihm auf die Knie. „Dann glaube!" sagte er zum erstenmal mit lauter Stimme, denn die Unterrichtsstunden hatte er stets leise sprechend gehalten, und legte mir beide Hände auf den Kopf. „Glaube, liebe deine Nachbarn und kämpfe für die Wahrheit. Diese drei Gebote sind im Grunde eins. Möge das glanzvollste Licht, die Heilige Weisheit dich segnen und jeden deiner Schritte behüten! Gehe, mein Sohn!" Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich aus der Höhle herausgekommen bin, denn eine große Traurigkeit umklammerte mein Herz. Ich liebte den alten Ram-Chen Lama, vielleicht sogar mehr als meinen Vater, und der Gedanke, ihn nie wiederzusehen, war mir unerträglich. Stolpernd eilte ich so schnell ich konnte den steilen Pfad hinab und wagte nicht zurückzuschauen. Erst am Steilhang hielt ich inne und warf einen letzten Blick zurück. Er stand oben auf dem Weg, und die Mittagssonne über ihm trübte sich. Am Himmel sammelten sich Sturmwolken, und als sie die Sonne verdeckten, schien sein grauer Kopf von einem seltsamen Heiligenschein umgeben. Er streckte mir beide Arme entgegen und stand so unbeweglich wie eine Statue. Mich überfielen böse Vorahnungen. Ich drehte mich keuchend nach ihm um, warf mich zu Boden und sprach ein Gebet für ihn. Als ich aufstand, war seine heilige Gestalt verschwunden. Den ganzen Nachmittag über lief ich den gewohnten Weg zurück. Mein Herz war von tiefem Schmerz erfüllt. Ich konnte nicht glauben, daß ich sein freundliches Gesicht nie wieder sehen, nie wieder seinen Lehren lauschen sollte. Ich hatte die Hälfte der Wegstrecke nach Hause zurückgelegt, als sich der Himmel über Jomo-Lun-Gam verdunkelte und sich ein seltsames Zwielicht über die Landschaft senkte. Der große Wind würde bald durch das Tal fegen, und ich würde in Schwierigkeiten geraten, wenn ich bis dahin nicht den schmalen Pfad nach Hause erreicht hatte. Ich war froh, in der Ferne die -40-
Zeltfeuer der Schafhirten zu erspähen, was mich zu noch größerer Eile antrieb. Plötzlich fühlte ich mich irgendwie leichter. Als ich merkte, daß ich keinen Schmerz mehr spürte, schämte ich mich. Wie intensiv ich auch an Ram-Chen Lama dachte, die Trennung von ihm tat mir kaum mehr weh. Ich habe eine seltsame Angewohnheit, und ich überlege zuweilen, ob andere Menschen ähnlich empfinden: Ganz gleich, wie traurig ich mein Heim verlasse und wie oft ich mich verabschieden muß - der Schmerz lastet nur eine halbe Wegstrecke auf mir. Danach zieht mich das ferne Ziel meines Schicksals an, und der Zauber unbekannter Landschaften hält mich in seinem Bann. So war es auch jetzt. Ich dachte an das große Kloster, zu welchem ich bald reisen würde. Mein Vater hatte mir versprochen, er werde, wenn mich mein Lehrer in Ehren entlassen habe, so früh mit seiner Karawane aufbrechen, daß er am Kloster Tampol-Bo-Ri vorbeiziehen konnte. Dort würde er die Gebühr für meine Ausbildung zahlen und mir für lange Zeit Lebewohl sagen. Erst spät am Abend erreichte ich mein Zuhause und war so müde, daß ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Ich wußte, meine Mutter würde, wie gewöhnlich, in unserem großen Hof auf mich warten. Ich malte mir aus, wie aufgeregt sie sein würde, denn sie wußte, daß dies der Tag war, an dem Ram-Chen Lama entschied, ob ich des großen Klosters würdig sei. Als ich durch das steinerne Tor trat, schweifte mein Blick über den vertrauten Hof. Der Mond schoß gerade aus den Sturmwolken heraus. An drei Seiten des Hofes standen die Scheunen, die Vorratsschuppen, die Ställe und die Hütten der Diener. Über dem Tor befand sich zweckmäßig unser Wohnhaus. Die Scheunen am hinteren Ende des Hofs lehnten sich an eine gewaltige zerklüftete Felswand, die hoch oben in der Dunkelheit verschwand. Wir konnten ihren Gipfel noch nicht einmal bei Tage sehen. Wilde Ziegen und Kiangs sprangen manchmal im großen Bogen über den Hof, um ihren halsbrecherischen Weg auf dem gegenüberliegenden Abhang fortzusetzen. Wie oft hatte -41-
ich ihre todesmutigen Sprünge bewundert, den wundervollen Schwung, mit dem sie über unseren dreißig Meter breiten Hof flogen, ihre starre Haltung, in der sie gleich flügellosen Adlern bewegungslos durch die Luft schwebten. Auch als ich jetzt durch das Tor trat, sprangen zwei Kiangs über meinen Kopf hinweg. Sie flüchteten vor dem Sturm und suchten Schutz zwischen den Felsen des Tals. Mit scharfem Knall trafen ihre eisenharten Hufe weiter unten auf den Stein, worauf sie in großen Sätzen weitersprangen, als hätten sie nur über einen Wasserlauf gesetzt. Wann würde ich das vertraute Klappern ihrer Hufe wieder hören, wenn ich mein Heim verlassen hatte? Und wann würde ich mein Zuhaus e wieder sehen? Wie eine Antwort auf diese Frage ging mir die Rede meines alten Lehrers durch den Sinn: „Mein Sohn, wir sind Wanderer auf dieser Erde. Unsere wirkliche Heimat ist der Himmel, aus dessen Höhe wir uns einst wie die Kiangs in den tiefen Abgrund stürzten. Selbst wenn wir uns in den Tiefen auf die Füße kämpften, wer weiß, wann wir wieder in die sonnenhellen Höhen zu klettern vermögen? Unsere Heimat ist der Himmel und nicht die Erde. Wohin immer du gehst, was immer du tust, fühle dich als heimatloser, ausgestoßener Wanderer. Denn wahrlich, der Mann hat gut entschieden, der seine Liebsten und seine Heimat verläßt, um ohne Freund, Frau oder Kind zu leben." „Tonisa, bist du's? " hörte ich Mutters Ruf aus der Dunkelheit. „Gott sei Dank, daß du endlich da bist! Bald bricht der Sturm los, und ich habe mich um dich gesorgt. Komm herein, mein Sohn!" Die ganze Familie war versammelt. Feierlich saßen sie neben dem Kang, unserer herdähnlichen Feuerstelle, und jeder hatte sein Festgewand angezogen. Vater hockte vor dem Feuer. Seine Hände ruhten auf den Knien. Beim Geräusch unserer Schritte blickte er gespannt auf. Drag-Po, mein jüngerer Bruder verzierte seine Yaklederstiefel mit farbigen Schleifen aus Gyagar, und seine immerwährende Fröhlichkeit sorgte dafür, daß sich seine -42-
mandelförmigen Augen auch jetzt zu schmalen Schlitzen verengten. Sein zahmer Bharal lag zu seinen Füßen, und meine Katze hatte sich an den Hals der wilden Ziege gedrückt. „Tonisa hat die Prüfung bestanden!" rief Mutter aufgeregt, als wir eintraten, denn ich hatte ihr auf dem Hof schon das Wichtigste erzählt. „Hab ich es dir nicht gesagt, Yab? Hatte ich nicht recht? Selbst die Götter haben ihn zum Priester bestimmt! Hast du vielleicht immer noch Zweifel? Glaubst du jetzt endlich, was der Lama vo m Zlari La geweissagt hat? Tonisa muß nicht mehr zur Höhle des Einsiedlers. Der heilige Mann hält ihn für würdig, dem großen Kloster beizutreten. Er segnete ihn und sagte, daß er ein großer Lama werden würde, da er seltene Gaben habe. Selbst der Geist wird aus seinem Mund sprechen! Das hat er doch gesagt, mein Sohn?" Drag-Po starrte mich mit glitzernden Augen verwundert an, und das ständige Lächeln auf seinem kindlichen Gesicht gefror. Ich glaube, er hielt mich bereits für einen vollständig ausgebildeten La ma. „Natürlich nicht, Mutter", antwortete ich, wobei ich meinen Vater mit einer tiefen Verbeugung begrüßte. „Er sagte nur, daß die Himmel mir seltene Gaben verliehen hätten. Als er mir die entscheidende Frage stellte, merkte ich, daß ich sie nicht beantworten konnte. Doch dann überfiel mich eine merkwürdige Benommenheit, und als ich wieder bei Sinnen war, hatte ich die richtige Antwort bereits gegeben. Dies geschah mir sehr häufig, und meine Prüfung bestand nur aus Wiederholung all der Antworten, die ich schon gegeben hatte." Mutter und ich ließen uns auf dem dicken Yakfell nieder. Mein Bruder rutschte näher an mich heran und folgte ehrfurchtsvoll meinen Bewegungen. „War der heilige Mann mit den Decken zufrieden?" fragte Vater. „Ja- a, war er..", antwortete ich und schluckte, während ich -43-
daran dachte, daß Tsong, die wilde Ziege, nie mehr frieren mußte. Zum Glück hatte ich die dritte Decke im Hausgang abgelegt. Vater stand auf und nahm den irdenen Teetopf von der Feuerstelle. Er schnitt einen Brocken Tee von dem harten Block und warf ihn ins kochende Wasser, dann warf er eine Handvoll gemahlener Gerste und ein Stück Butter hinterher und rührte alles mit einem Quirl um. Drag-Po starrte mich immer noch an, doch ich schaute ins Feuer und lauschte in der plötzliche n Stille dem Knistern des Torfes. Es war mir, als ob ich in den Flammen den grauen Kopf und die große Gestalt von Vater Ram-Chen sähe, als er am oberen Ende des Pfades stand und mir die Arme entgegenstreckte. „Sag mal, Tonisa", wandte sich mein Bruder an mich, „verstehst du dich auch auf die Kunst des Raschen Laufens? Gestern habe ich einen Lungom Lama im Tal gesehen. Ich hatte so fürchterliche Angst vor ihm, daß ich mich in einer Höhle versteckte. Er rannte so schnell, daß seine Füße kaum den Boden berührten! Ich warf mich hin und wagte nur unter meinem Ellenbogen hindurchzuspähen. Doch da war er schon verschwunden. Sag mal, hat dir der Einsiedler auch so was beigebracht? Den langen, fliegenden Gang?" „Halt den Mund, du Dummkopf", schalt meine Mutter und goß Tee ein. „Du denkst doch hoffentlich nicht, daß er schon alles gelernt hat? Was soll er denn all die Jahre im Kloster noch machen? Tonisa, trink schnell deinen Tee. Es ist draußen sehr kalt, und du bist immer noch schweißbedeckt. Warum hast du dich so beeilt?" Ich nahm den heißen Becher in beide Hände und antwortete nicht. Vaters Schweigen machte mir Sorgen. Ich hatte erwartet, daß er sich darüber freuen würde, daß ich meine Prüfung nach einem Jahr harter Studien geschafft hatte. In diesem Augenblick sah ich meine Mutter an und verstand plötzlich alles. Vater -44-
verriet seine Gefühle nie. „Wann reisen wir ab, Sohn?" fragte er und hob den Kopf, doch sein ausdrucksloses Gesicht verriet nicht, ob er sich freute oder ob er traurig war. „Wann du willst, Vater. Ich danke dir, daß du mich bei meiner Ausbildung unterstützt hast. Ohne dein liebevolles Herz hätte ich den Traum meines Lebens nicht erfüllen können. Ich verspreche dir, daß ich ein viel besserer Priester sein werde, als ich ein Händler gewesen wäre." Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. „Sag nicht solche Dinge, mein Sohn. Du wärst ein sehr guter Karawanenführer geworden. Niemand kannte die Bergpässe besser als du. Doch Drag-Po tritt jetzt in deine Fußstapfen. Ich habe Glück, denn er ist ein heller Junge und fähig, sein Leben zu meistern." Simo, meine Katze, kletterte mir auf den Schoß, rieb ihren Kopf an meiner Hand und schnurrte. Zwischendurch miaute sie ein paarmal verzweifelt auf, als ob sie fühlte, daß wir nicht mehr lange Zusammensein würden. Mußte ich denn alle verlassen, die ich liebte? „Der Mann ist wirklich glücklich, der seine Liebsten verläßt und ein abgeschiedenes, einsames Leben führt", vernahm ich im Innern die Stimme meines Meisters. „Die Liebe der Geschöpfe Gottes behindert dich. Du mußt lernen, die Fesseln dieser Liebe abzuwerfen, damit du alle Wesen lieben kannst!" „Triff deine Vorbereitungen für die Reise", sagte Vater. „Du hast noch eine Woche Zeit. Bis dahin werde ich die Gaben zusammengesucht haben, die ich dem Kloster zu geben gedenke. Du hast Glück, daß wir nicht arm sind. Du wirst dich deiner Eltern nicht schämen müssen. Die Klöster brauchen Unterstützung. Die heiligen Lamas beten hoch oben in den Bergen für uns und heilen uns, wenn wir krank sind. Doch niemand lebt vom Beten allein. Ich gebe willig, was ich geben kann, denn ich vertraue meinen Erstgeborenen ihrer Obhut an. -45-
Ich hoffe, daß ich mich auch deiner nicht schämen muß, mein Sohn", fügte er mit freundlichem Lächeln hinzu. „Aus unserer Familie ist noch nie ein Priester hervorgegangen, doch wir sind aus gutem Holz geschnitzt. Die hohen Berge stärkten unsere Körper und die Nähe zu Gott unsere Seelen. Du wirst alle Prüfungen bestehen, denn du bist stark. An deiner Seele hat sich Vater Ram-Chen zu schaffen gemacht. Deshalb kannst du mit leichtem Sinn und starkem Herzen fortschreiten. Gehe mutig den Weg der Götter, denn er wird dich immer höher hinaus führen. Und wenn du einst durch das enge Tor geschritten bist, dann vergiß deine alten Eltern nicht." Draußen heulte der Stur m auf und rüttelte an den Fensterläden, als ob Tausende wilder Dämonen von der Spitze Jomo-Lun-Gams aufgebrochen wären und unter wildem Geschrei und Gekreisch am Dach zerrten. Nur wir saßen schweigend auf dem Yakfell und blickten ins Feuer.
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Kapitel 2 Eine Woche später brachen wir nach Tampol- Bo-Ri auf. Die letzten Tage vergingen wie im Flug. Vater belud eine Karawane von zehn Maultieren und drei zahmen Eseln mit schweren Packtaschen und nahm meinen Bruder und drei Diener mit auf die Reise. Die meisten Ballen enthielten Arzneikräuter aus BodYul, die im großen östlichen Reich hoch geschätzt wurden, und Dri-Häute. Er hatte die Route so geplant, daß er mich zuerst zum großen Kloster bringen würde, um dann zu den Grenzstädten von Gyanak, dem himmlischen Königreich, zu ziehen, wo die flachnasigen Menschen lebten. Einmal hatte auch ich diese Reise mitgemacht: Monatelang hatten wir uns bei Regen und Kälte dahingeschleppt, hatten den Gefahren der Gebirgspässe getrotzt und uns fast bis zum Umfallen erschöpft. Doch von solchen Reisen kehrte Vater immer noch reicher zurück, denn er brachte vor allem Seide mit, die nur die blassen schlitzäugigen Gyanakpas herstellen konnten. In unserem Land herrschte der Brauch, daß die jungen Lamaanwärter auf ihrem Weg zum Kloster von der ganzen Familie begleitet wurden. Doch wir hatten keine Verwandten, deshalb machten wir uns allein auf den Weg. Nur Mutter blieb mit ihren Dienerinnen zu Hause, um das Anwesen zu versorgen. Der Abschied war schlimm genug; ich weiß nicht, wie es mir gelang, mich schließlich von ihr loszureißen. Ihre Augen verfolgten mich noch lange, als ob sie durch ein unsichtbares Band mit mir verbunden wären. Dies unsichtbare Band würde unsere Herzen, das spürte ich, bis zum Tage meines Todes verbinden und auch danach nicht abreißen. Wir zogen durch eine wunderbare, wilde, malerische Landschaft, die ich zuerst fast nicht wahrnahm. Traurig trottete ich voran und führte mein Maultier am Halfter über die engen, -47-
gefährlichen Pfade. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen, während mein Geist zu Hause weilte. Doch selbst jetzt geschah das, was mir so oft schon geschehen war. Nach der halben Wegstrecke fühlte ich mich plötzlich erleichtert, und die Trennung tat mir nicht mehr so weh. Unter dem Bann zukünftiger Erlebnisse blickte ich nach vorn und nicht zurück. Wir kletterten zwischen himmelsstürmenden Gipfeln der Ausläufer des Jomo-Lun-Gam höher und höher, immer nach Norden. Ich hatte mich auf den Karawanenreisen so sehr an die hohen Berge meiner Heimat gewöhnt, daß sie mich nicht mehr sonderlich interessierten, doch diese Landschaft war ganz anders. So hohe Berge, hörte ich von meinem Vater, könne man nur noch westlich unseres Landstriches finden, wo ich noch nie gewesen war. Der Kangchen-Dso-Na und der Jomo-Kang-Kar waren noch höher, ganz zu schweigen vom Tise im Nordwesten. Der südliche Gebirgskamm der Weißen Schneekönigin im Lande der Monpas in Khache-Yul war nahezu unbewohnt, weshalb sich dort viele Klöster befanden. Wir waren auf dem Weg zum Kangchen-Dso-Na, und das Be rgland, durch das wir zogen, machte wirklich einen sehr bedrohlichen Eindruck. Nicht umsonst war das Felsenkloster, das größte in Bod-Yul, in die südöstlichen Berge gebaut worden: Sie waren unzugänglich, und nur wenigen konnte man sich nähern. Wir kletterten bereits sechs Tage lang immer höher auf beinahe unpassierbaren Gebirgspfaden, die oft so schmal waren, daß wir hintereinander hergehen mußten und die Tiere zwischen uns nahmen. Der vorausgehende Mann hielt das Tier beim Halfter, der Mann, der dem Tier folgte, hielt es am Schwanz. Auf so einem Thurlam, der sich etwa dreißig Meter in die Tiefe wand, blieb mein Maultier zitternd mit geweiteten Nüstern stehen und ging erst weiter, als ich es mit dem Stock antrieb. Vater stürzte zweimal, und nur das rasch geworfene Seil des Karawanenführers rettete sein Leben. Wir schleppten uns bergauf über enge Felsvorsprünge und schroffe, steile Abhänge, -48-
dann wieder bergab in das Dunkel tiefer Schluchten und durch die reißenden Fluten gefährlicher Flüsse. Felsen verloren sich im Nebel, hoch türmten sich die Wolken, während uns zu unserer Linken ein tiefer Gletscher schwindelig machte, der fast den gesamten Weg lang unter uns lag. Wir mußten unsere ganze Willenskraft aufbieten um uns nicht von den ungeheuer anziehenden Kräften der Schlucht in die Tiefe reißen zu lassen. So zogen wir unter größten Schwierigkeiten immer höher hinauf und folgten dem kurvigen Pfad über die felsigen Abhänge. Am Morgen des vierzehnten Tages schloß sich das Tal vor uns, und wir erblickten einen noch mächtigeren Berg, der es anscheinend sogar mit unserem Jomo-Lun-Gam aufzunehmen vermochte. Unter uns eine Schlucht, himmelhohe Felswände zu beiden Seiten, und vor uns - der Alte der Berge. So nannte ihn jedenfalls Dsong-Se, unser Karawanenführer, der diesen Landstrich bereits besucht hatte und der Meinung war, ein solch hoher Berge könne unmöglich ein zweites Mal auf der Erde existieren. Es hielt zweimal am Tage an und häufte kleine Hügel - Thoyors - aus Steinen auf, um die Berggeister und Wassermänner zu ehren, von denen es - davon war er überzeugt - in diesem Lande nur so wimmelte. Nur mit äußerster Vorsicht und mit heiligen Gedanken konnte ein Mann hier wandern, sagte er, denn die Mepas und Srinpos schauten in das Herz eines schlechten Menschen und stießen diesen, wenn er ihnen nicht gefiel, in den Abgrund hinab. Doch heilige Lamas, so wie ich einer sein würde, rührten sie nicht an, denn diese lebten hoch und dem Himmel nahe. Dsong-Se betrachtete mich voller Ehrfurcht, seit er wußte, daß ich in das größte Kloster von BodYul eintreten wollte. Die Tatsache, daß wir im südöstlichen Teil des Landes wohnten und ich gar keine andere Wahl hatte, als in Tampol- Bo-Ri um Aufnahme zu bitten, schien die Höchste Weisheit so gefügt zu haben. Natürlich war es am allerschwierigsten, im größten Kloster des Landes aufgenommen zu werden, doch da ich keine andere Wahl hatte, -49-
mußte ich mich den Gegebenheiten fügen. Wir starrten oft so lange auf den wolkenverhangenen Gipfel vor uns, daß uns die Augen schmerzten, doch erst am nächsten Nachmittag kamen wir ihm näher. Von unserem Felssims aus wand sich nach einer Kurve ein neuer steiler Pfad wie eine natürliche Brücke zum hinteren Kangchen-Dso-Na. Wir erreichten beim Licht des Vollmondes spät in der Nacht einen niedrigen Paß, doch hier war die Luft so dünn und das Gehen auf den vereisten und verschneiten Wegen voller Khachar so schwierig, daß wir gezwungen waren, ein Zelt für das Nachtlager aufzuschlagen. Am Morgen des dritten Tages klarte das Wetter endlich auf, und im strahlenden Sonnenlicht glänzte der Bergriese Tampol-Bo-Ri in all seiner Herrlichkeit. Um seinen höchsten Gipfel herum, den Ribog, schmiegte sich das Kloster. Keuchend hielten wir inne und genossen den wunderbaren Anblick. Etwa dreihundert Meter über uns klebte das große Felsenkloster mit seinen schimmernden weißen Mauern wie ein Vogelnest auf den breiten Felssimsen des zweiten Passes. Selbst aus der Ferne erstaunten uns seine gewaltigen Ausmaße. Hunderte von hochragenden Bastionen, Terrassen, viereckigen Türmen und unterschiedlichsten Bauwerken drängten sich im schimmernden Morgenlicht wie eine Burg um den niedrigeren Gipfel. Die mächtige Steinmauer, die das Ganze umgab, endete auf einer kleineren Hochebene, zu welcher auch unser Pfad führte. Unsere Karawanenmänner warfen sich zu Boden und berührten diesen mit der Stirn. Als Vater sah, daß ich mich niederkniete, tat er es mir gleich. Der von weißen Wolken umkränzte Gipfel mit den gewaltigen leuchtenden Mauern der Klosterburg darunter bot einen überwältigenden Anblick, der den Wanderer unweigerlich mit einem Gefühl der Hochachtung und Ehrfurcht erfüllte. Wir zogen auf dem sich stets verbreiternden Pfad weiter und erreichten eine Wegkreuzung. Erstaunt machten wir zwei weitere Karawanen aus, die aus der gegenüberliegenden -50-
Schlucht nahten. Die erste Karawane hatte die schmale Ebene unmittelbar vor dem Kloster, auf der wir uns gerade aufhielten, fast erreicht. Sie bestand aus nur wenigen bepackten Yaks. Die andere Karawane befand sich noch auf dem steilen Weg hinab in den Lartsa. Ich zählte fast fünfzig beladene Tiere nebst einer ganzen Begleitmannschaft. Wir waren sehr erstaunt, denn selbst auf seinen Handelsreisen hatte mein Vater eine so große Karawane noch nie gesehen. Es berührte uns seltsam, denn wochenlang waren wir keine r Seele begegnet, doch jetzt schien das Land lebendig zu werden. Es blieb uns jedoch keine Zeit zum Nachsinnen, denn wir standen bereits vor dem breiten steinernen Tor des großen Klosters. Es wurde nicht umsonst Felsenberg genannt, denn seine gewaltigen Mauern schienen aus dem Berg herauszuwachsen. Doch als wir die Köpfe in den Nacken legten und nach oben schauten, sahen wir, daß der Gipfel weit über das Kloster hinausragte. Wir führten unsere Tiere durch das große geöffnete Tor und gelangten auf einen weiten, halbmondförmigen Hof, der von allen Seiten umbaut war und, wie ich später herausfand, in eine Höhle im Berg führte. An einem Ende war der Hof überdacht und mit Gebäuden bebaut, das andere war unbebaut und lag im vollen Sonnenlicht. Es befanden sich mindestens hundert Menschen verschiedenster Ränge auf dem Hof. Einige entluden ihre Maultiere vor den Ställen am Ende des großen Halbrundes, andere hockten auf Fellen oder Decken auf dem Boden, verzehrten eilig ihr Morgenmahl oder kochten Tee. Wie wir später erfuhren, durften die Menschen nur noch in die große Eingangshalle, die sich dem Hof anschloß. Es gab keine Ausnahme von dieser Regel: Selbst die Reichen und Edlen erhielten bestenfalls leere ebenerdige Zellen, die kleinen in den Stein gehauenen Höhlen ähnelten. Wenn sie länger bleiben wollten, konnten sie sich diese Steinzellen mit ihrer persönlichen Habe wohnlich machen. Auch wir entluden unsere -51-
Maultiere in einer ruhigen Ecke nahe dem Tor und blickten uns hilflos um. „Hier sind wir, Sohn", sagte Vater ruhig, „doch was sollen wir jetzt tun? Ich weiß noch nicht einmal, wo der Eingang ist oder an wen man sich an diesem heiligen Ort wenden muß." Ich selbst war so aufgeregt, daß ich kein Wort herausbrachte. Das Wissen, endlich am Ziel zu sein, und das gewaltige Kloster, das all meine Erwartungen übertraf, machten mich sprachlos und raubten mir die letzten Kräfte. Ich sah mich verwirrt um. Einige Menschen gingen, begleitet von zwei Lamas in rotbraunen Gewändern, zu einem anderen Tor. Dieses Tor befand sich am weiter entfernt liegenden Ende des Hofes. Vater wandte sich an einen Mann, der wie ein Händler aussah, und fragte ihn, ob er uns den Weg zeigen könne. Auf diese Frage antwortete der Mann, daß er bereits zum drittenmal hier sei und Kräuter an das Kloster verkaufe. Die Mehrzahl der Besucher wolle sich von den diensthabenden Lamas die Zukunft voraussagen oder sich von den verschiedensten Krankheiten heilen lassen. Das gegenüberliegende Tor, sagte er, führe in die Eingangshalle, in deren zahlreichen Zellen die Mopas, die wahrsagenden Lamas, säßen, während sich in den Räumen zur linken die magnetisierenden Heiler befänden. Als er unser Anliegen hörte, blickte er mich mit so großem Respekt an, daß ich mein Gesicht vor Scham am liebsten hinter meinem Maultier verborgen hätte. „Dann gehört ihr nicht zu den Pilgern und wollt euch auch nicht wahrsagen lassen?" fragte er höflich. „Sie alle sind nur Neskorpas, doch ihr habt euren Sohn zu den Todpas gebracht! Das ist wahrlich eine große Sache!" Der gute Mann war so bewegt, daß er später kaum mit uns zu sprechen wagte. So viele Menschen drängten sich am Tor der Eingangshalle, daß wir nicht den Mut aufbrachten, auch dorthin zu gehen. In diesem Augenblick erklang von den höheren Terrassen her eine Muscheltrompete, worauf die Menge praktisch erstarrte. Die -52-
Menschen blickten nach rechts, nach links und in die Schlucht hinab und überlegten, was dieses Zeichen wohl bedeute. Plötzlich erschien am hinteren Ende des Hofes eine Gruppe kriegerischer Lamakrieger, spitze Fellhüte auf den Köpfen und Kianghäute über die Schultern geworfen. Sie marschierten zwischen den Pilgern und den Besuchern hindurch, die respektvoll vor ihnen zurückwichen. Die Lamakrieger stellten sich vor dem Tor auf. Jeder schaute nun in diese Richtung, verwundert, was dies alles wohl zu bedeuten habe. Bald sahen wir, daß die prächtige Karawane, die wir von dem niedrigen Paß aus erspäht hatten, gerade den Kharlam erreicht hatte, die breite Straße, die um das Kloster herumführte. Die Lamakrieger geleiteten sie in den Hof, und der schrille Klang der Muscheltrompeten zerriß erneut die Morgenluft. Die Lamas gingen an der Spitze, gefolgt von der bewaffneten Eskorte der fremden Karawane, gelbhäutige Krieger mit langen, hängenden Schnurrbärten, die hölzerne Rüstungen trugen und mit Bogen und Lanzen bewaffnet waren. Danach folgten viele bepackte Maultiere und Karawanenmänner. Die Menge geriet in Bewegung und wich zurück. Der Händler sagte leise: „Wir scheinen einen glücklichen Tag erwischt zu haben. Es gibt etwas zu sehen! Es kommt ein großer Herr aus Gyanak-Yul!" „Aus dem himmlischen Königreich?" fragte Vater. „Es scheinen tatsächlich Flachnasen zu sein. Ich kenne sie. Nicht nur einmal bin ich auf meinen Handelsreisen in ihr Land gekommen. Doch selten reist ein großer Herr in einer Sänfte bis hierher. Ein solches Schauspiel bekommt man eigentlich nur in ihrem Lande zu Gesicht. Ich muß schon sagen, es wird den Dienern nicht leicht gefallen sein, ihn auf Lagyn-Art die Berge hochzutragen." Die Menge begann aufgeregt zu murmeln und drängte nach vorn, doch beim Anblick der kühn blickenden fremden Soldaten wich sie wieder zurück. Ich stand eher vorn, da ich mein -53-
Maultier noch nicht im Stall angebunden hatte, hielt es am Halfter fest und betrachtete die prächtige Prozession. So etwas hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen! Auf einer großen viereckigen Holzplatte stand ein kleiner Thron, und auf diesem saß der Fremde auf wunderschönen, farbigen Teppichen. Vier Stangen ragten aus der Platte, und jede lag auf der Schulter eines Dieners. Ein verzierter Seidenschirm schützte den hohen Herrn vor dem Schnee, denn die Sonne hatte er in unserem Land wohl nicht oft gesehen. Das Oberhaupt der Lamakrieger ging neben der Sänfte her und tauschte mit dem Gyanak-Po Höflichkeiten aus. „Kommen solche feinen Leute oft hierher?" flüsterte Vater. „Soviel ich weiß, oft genug", antwortete der Händler, „obwohl ich eine so prächtige Karawane erst einmal vor zwei Jahren gesehen habe, als der Abgesandte des sonnigen Königreichs, welches jenseits des großen Wassers liegt, hier beim Kloster ankam." „Was für ein Königreich ist das?" fragte Vater. „Ich habe noch nie davon gehört!" „Es liegt weit entfernt, jenseits des großen Wassers, ganz im Süden dieser Welt. Man nennt das Land „Khem", wenn ich mich richtig erinnere, und sein Regent ist der „Phe-Rao", der von seinem Volk als Gott verehrt wird. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, daß es dem Abgesandten sehr kalt war, obwohl er unsere Pelzchuba trug. Sein Gesicht war blaugefroren. Kein Wunder, denn sie sind unsere rauhe n Berge nicht gewohnt!" Als ich von diesem geheimnisvollen südlichen Land hörte, vergaß ich den Edlen aus Gyanak, der so steif auf seiner Sänfte saß, als habe er ein Schwert verschluckt. Mich ergriff eine merkwürdige Erregung, als habe ich gewußt, daß mir jemand von diesem Land erzählen würde. Einen Augenblick lang ergriff mich die seltsame Benommenheit, welche Vater Ram-Chen ein Geschenk der Götter zu nennen pflegte. Bei solchen -54-
Gelegenheiten vergaß ich, wo ich mich befand; alles verschwand vor meinen Auge n, ich schaute durch die Dinge hindurch, und meine Augen starrten ins Nichts. In jenen schläfrigen Zustand verfiel ich auch hier - der Hof und das Kloster rückten in weite Ferne, als ob eine unsichtbare Hand sie weggeschoben hätte. Statt unseres trüben Wetter schien eine strahlende Sonne vom Himmel auf mich nieder, eine Sonne, so leuchtend, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Ich stand auf den Treppen eines riesigen Tempels mit Marmorsäulen unter seltsamen Menschen, die trotz ihrer nackten Beine farbige, glitzernde Gewänder trugen. Am fernen Ende der großen weißen Halle, die sich vor mir ausdehnte, saß der Regent prächtig gekleidet auf einem funkelnden Thron. Ihn umgaben feingekleidete Edelmänner, und ein riesiger Sklave fächelte ihm mit einer großen Feder Luft zu. In der Ferne sah ich auf einer weiten gelben Ebene einen seltsamen Steinhügel, der wie eine Pyramide aussah, und noch weiter entfernt ein Wesen, welches halb Löwin und halb Frau zu sein schien. Vor mir wandelte zusammen mit sieben anderen ein gutaussehender Lama in feinen Gewändern. Wie kamen diese Lamas in jene seltsame Welt, überlegte ich, und was tat ich dort? Ich wollte mit meinen Landsleuten sprechen und öffnete gerade den Mund, als mein Körper zu zittern begann und ich wieder zu Bewußtsein kam. Ich sah wieder den Hof mit der aufgeregten Menge, die marschierenden Soldaten aus Gyanak, und hörte das leise Summen der Stimmen. Vater stand mit dem Händler wenige Schritte von mir entfernt. Er hatte meinen seltsamen Zustand nicht bemerkt. Ich stand noch so sehr unter dem Bann der Vision, daß ich mich nicht bewegen konnte und vor mich hinstarrte. Erstaunt bemerkte ich, daß ich mit dem rechten Fuß vorgetreten war und immer noch in der Position stand, in der ich den Lama in meiner Vision hatte ansprechen wollen. Und dann geschah etwas Schreckliches. Die Karawane des hohen Herrn war bereits an mir vorübergezogen und hinter dem -55-
kleinen Tor zur Empfangshalle verschwunden. Doch ein Gyanak-Soldat, der die Nachhut führte, stolperte über mein ausgestrecktes Bein und fiel zu Boden. Ich war sprachlos vor Schreck und stand starr wie eine Statue. Ich vergaß sogar, das Bein zurückzuziehen. So standen wir, das heißt, ich stand, denn der Soldat lag in seiner ganzen Länge am Boden und war gerade dabei, sich unter wilden Flüchen hochzurappeln. Die Leute neben mir schienen mit dem Boden verwurzelt und starrten mich an, genau wie Vater und der Händler. „Himmel", schrie Vater, „was hast du getan, mein Sohn?" Der Händler brachte kein Wort heraus und rollte verzweifelt die Augen. Dies war meine erste Tat jenseits der Schwelle des Felsenberges. Der bedauernswerte Held des himmlischen Königreichs sprang schließlich wieder auf die Füße, und für mich wäre es besser gewesen, wenn mich die Erde augenblicklich verschluckt hätte. Er bedachte mich in seinem singenden Kauderwelsch mit einem solchen Schwall an Flüchen, daß ich mich glücklich schätzen konnte, nichts zu verstehen. Ich versuchte mich unbeholfen zu entschuldigen und verbeugte mich mehrere Male vor ihm, wobei ich mich an die Worte meines Meisters erinnerte, dem angreifenden Feinde die strahlende Rüstung meiner Sanftheit zu zeigen. Doch beim ersten Versuch schien die Theorie der Praxis nicht standzuhalten. Der Soldat zog seinen Säbel und sprang auf mich zu. Ich wußte nicht, wie ich mich nach den Lehren des alten Bon richtig verhalten sollte. Sollte ich darauf warten, als sanftes Opfer abgeschlachtet zu werden, oder sollte ich um mein Leben kämpfen? Ich warf einen kurzen Blick auf Vater und sah seine Verzweiflung. Ich sah ebenfalls, daß er so weit von mir entfernt stand, daß er mir nicht helfen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Ich war allerdings ein kräftiger junger Mann, und die Bergpässe hatten meine Beine so hart wie Stein gemacht. Durch die Übungen in der Höhle des Einsiedlers waren meine Arme -56-
ebenso hart. Außerdem war ich noch kein Priester, ich hatte noch keine bindenden Gelübde abgelegt. All dies ging mir in Blitzesschnelle durch den Kopf, und dann entschied ich, mich nicht töten zu lassen. Wie sollte sich sonst die Prophezeiung des Lamas vom Zlari- La Paß und Vater Ram-Chens über meine große Zukunft erfüllen? Da ich keinen Säbel besaß, sprang ich nach vorn und schlug mit der Handkante vor den Arm des Soldaten. In dieser Technik war ich geübt, da ich in dieser Art zu Hause stets die Schafe betäubt hatte, bevor sie von den Dienern geschlachtet wurden. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie leiden mußten. Davon war die Kante meiner rechten Hand so hart und schwielig geworden, daß der Krieger aus Gyanak seinen Säbel fallen lassen mußte, welcher laut klirrend zu Boden fiel. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß mich alle anstarrten. Ich sah aber auch, daß zwei flachnasige Soldaten, die alles beobachtet hatten, auf mich zurannten, um ihrem Kameraden zu Hilfe zu eilen. Mein Angreifer brabbelte immer noch in seiner unverständlichen Sprache, befühlte sein Handgelenk und rief seinen Kameraden etwas zu. Dann griff er mit der linken Hand nach dem Säbel auf dem Boden und sprang erneut auf mich zu. Im selben Augenblick trafen auc h die beiden anderen ein, der eine von rechts, der andere von links. Vater versuchte, mir zu Hilfe zu eilen, doch der zweite Soldat schlug ihn so fest vor die Brust, daß er gegen eine Säule stürzte. Der Händler hingegen hatte sich so gut versteckt, daß er nirgends zu sehen war. Ich beschloß, dem Manne, der Vater geschlagen hatte, die Kehle zuzudrücken, wenn ich denn schon sterben mußte. Doch da ertönte hinter uns ein scharfer Schrei, so schrill und schneidend, daß wir uns alle gleichzeitig umdrehten. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, daß sich sogar die Soldaten umgedreht hatten. Ein stämmiger, breitschultriger Lama kam durch das große Klostertor direkt auf uns zu und hielt ein paar Schritte vor uns an. Noch nie hatte ich ein solches Gesicht -57-
gesehen. Es war heller als die unsrigen, doch genauso knochig und hager. Doch seine Augen! Aus ihnen strahlte eine solche Kraft, daß ich nichts dagegen gehabt hätte, wenn die Soldaten mich in diesem Augenblick getötet hätten, denn ich starrte ihn an, als habe mich eine Schlange verzaubert. Er hatte keine dunklen Augen wie die meisten Lamas von Bod-Yul, nein, sie glitzerten und blitzten in blaugrüner Farbe. „Oi!" rief er wieder, „was ist hier los?" Als hätten seine Worte den Bann gebrochen, deuteten die drei Soldaten unter wilden Flüchen mit den Fingern auf mich und hoben wieder ihre Säbel. Ich hätte am liebsten die Augen geschlossen, denn der Wille zu kämpfen hatte mich verlassen. Doch ich konnte meinen Blick nicht von dem jungen Lama wenden, der jetzt auf uns zukam und unmittelbar vor uns stehenblieb. Immer noch blitzten die Säbel im Sonnenlicht. Ich dachte an Mutter und beschloß, diesem ehrenhaften Priester zu zeigen, wie der Sohn eines Edelmannes aus Bod-Yul zu sterben vermochte. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Der Lama hob den rechten Arm und deutete mit den ausgestreckten Fingern seiner flachen Hand auf die Soldaten. Seine blauen Augen flackerten in einem seltsamen Feuer und weiteten sich unnatürlich. „Rada", flüsterte er, und nur ich verstand, daß er jemanden um Hilfe anrief. Im nächsten Augenblick erstarb das Feuer in seinen Augen, und er beschrieb mit dem ausgestreckten Arm einen großen Bogen nach unten. Bei dieser Bewegung stürzten die drei Soldaten wie vom Blitz getroffen zu Boden und blieben dort bewegungslos liegen. Die Menge, die sich näher herangedrängt hatte, wich plötzlich zurück. „Jachen!" wisperten die Leute, „ein Wunder, ein Wunder!" Mir gelang es schließlich, mich aus meiner Erstarrung zu lösen, worauf ich mich tief vor meinem Retter verbeugte. Vater stand neben mir und drückte meinen Arm, als ob er noch nicht -58-
glauben konnte, daß ich mit heiler Haut davongekommen war. Der Lama stand dicht neben mir und fragte lächelnd: „Was ist geschehen, mein Sohn?" Als ich die Augen hob, um ihm zu antworten, schrie ich fast auf vor Erstaunen. Woher kannte ich diese blaugrünen Augen und die breite Stirn? Und dann erinnerte ich mich plötzlich: aus meiner Vision in dem seltsamen, sonnenhellen Land. „Zwischen den weißen Säulen", flüsterte ich, und der Priester mit dem freundlichen Gesicht sah mich verwundert an. „Wovon sprichst du, mein Kind? Ich fragte dich, was geschehen ist, daß diese fremden Soldaten es wagten, dich im heiligen Vorhof des Klosters anzugreifen?" Ich brachte immer noch kein Wort heraus, so daß Vater an meiner Stelle antwortete. „Wir standen hier auf dem Hof, o höchst ehrenwerter Herr, und warteten auf die Erlaubnis, eintreten zu dürfen. Ich bin Mirgon, Händler aus Zondok, ein Edelmann. Ich habe meinen Sohn zum großen Kloster gebracht und bitte um seine Aufnahme bei euch, den besten Dienern des Höchsten. Denn ich will, daß er dem Weg des Geistes folgt. Doch dann zog der Herr aus Gyanak mit seinem Gefolge über den Hof. Der letzte Soldat stolperte über das Bein meines gaffenden Sohnes und verzeiht, daß ich es so ausdrücke, Vater - fiel platt wie ein Frosch in den Dreck." „Ja, wie ein Frosch", echote der Händler, der, weiß Gott woher, plötzlich aufgetaucht war. „Und dann, Herr, griff der nach seinem Säbel und fiel über diesen tapferen Jungen her. Doch nicht, daß er aufgegeben hätte, Herr! Er wehrte den Schlag mit der Hand ab…" „Genau so ist es passiert, Herr", unterbrach Vater. „Der Soldat zog den Säbel, worauf ihm seine beiden Kameraden zur Hilfe eilten. Wenn ihr nicht genau in diesem Augenblick aufgetaucht wäret, hätte ich meinen Ältesten verloren. Bitte, nehmt meinen -59-
tiefen, herzlichen Dank dafür an, und möge Gott euch für eure Tat segnen!" Der blauäugige Lama hatte mich die ganze Zeit über angeschaut, als höre er überhaupt nicht zu. „So", sagte er mit seiner tiefen, klingenden Stimme, die das Innerste zu streicheln schien, so daß ich ihm tagelang hätte zuhören können, „du willst also Lama werden? Eine gute Sache und eine löbliche Entscheidung. Wie heißt du?" „Man nennt mich Ti- Tonisa", antwortete ich verlegen und senkte meine Augen, doch ich konnte meinen Blick nicht fixieren. Er schoß hin und her und blieb schließlich an den drei Soldaten hängen. Plötzlich schaute ich den Lama an. „Danke, daß ihr mein Leben gerettet habt, Vater, doch jetzt bitte ich euch, seht nach den hilflosen Kriegern. Vielleicht sind sie nicht tot, und wir können ihnen helfen. Ich bin ein Nichts, doch sie gehören zum Gefolge eines großen Herrn, der uns zur Rechenschaft ziehen könnte." Der Lama blickte mir ins Gesicht. Dann huschte ein Läche ln über sein Gesicht. „Ich sehe, daß du ein freundliches Herz besitzt, Ti- Tonisa. Sorge dich nicht. Es ist nichts Schlimmes geschehen." Mit diesen Worten ging er zu den drei unbeweglichen Gestalten und beugte sich über sie. Die versammelten Pilger und Händler, die die Szene von der Mauer aus beobachtet hatten, wagten nicht näherzukommen. Mein Retter streckte die rechte Hand mit leicht zusammengepreßten Fingern aus und strich dem Soldaten, der vor ihm lag, von der Stirn bis zu den Lenden über den Körper. Diese seltsame magische Bewegung führte er auch bei den beiden anderen aus. Im gleichen Augenblick setzten sich die Krieger aus Gyanak auf, als habe man sie an Schnüren hochgezogen, rieben sich die Schläfen und sahen sich mit blödem Gesichtsausdruck um. Wir standen wie gebannt, gefesselt von der Szene. Als der -60-
Blick der Soldaten auf den eindrucksvollen Priester fiel, griffen sie nach ihren Waffen und salutierten. Der Lama fragte sie etwas in fließendem Gyanak, worauf die Soldaten ihn verwirrt anschauten und wieder ihre Köpfe rieben. Zuletzt sagte der Größte der Flachnasen etwas in kläglichem Ton. „Der Lama hat sie gefragt", übersetzte der Händler, der die Sprache des himmlischen Königreichs verstand, „warum sie hier im Hof herumlägen. Die Soldaten antworteten unter vielen Entschuldigungen, daß die dünne Bergluft sie schwindelig gemacht hätte." Der Lama winkte mit der Hand, worauf die drei GyanakHelden unter tiefen Verbeugungen stolpernd zum Eingang der Empfangshalle rannten, wo das Gefolge schon lange verschwunden war. Er hob die Augen und schaute sich freundlich um. Man konnte die Erleichterungsseufzer der aufgeregten Menge fast hören, und im Handumdrehen kehrte das Leben in sie zurück. Menschen und Tiere regten sich wieder und machten da weiter, wo sie vor dem Vorfall aufgehört hatten. Der Priester in dem braunen Gewand sah mich an. „Ich muß jetzt gehen, Tonisa, doch bald werde ich dir einen Bruder schicken. Er wird nach dir sehen und dir den Chintanyin zeigen. Sage deinem Vater Lebewohl, denn du wirst ihn lange Zeit nicht sehen. Er kann mit seiner Karawane so lange hierbleiben, wie er will." Er drehte sich um und ging auf das Kloster zu, doch dann drehte er sich plötzlich, als sei ihm etwas eingefallen, wieder um und kam noch einmal zu mir. „Sag mir, Sohn, was hast du da über weiße Säulen geredet, als du mich zum erstenmal sahst?" „Ich weiß nicht, Vater, ob ich so etwas gesagt habe", stammelte ich verlegen. „Bei solchen Gelegenheiten bin ich in einem merkwürdigen Zustand. Ich werde plötzlich steif, dann verschwindet alles vor meinen Augen. Als wir hier auf dem Hof standen, überfiel mich wieder diese seltsame Benommenheit -61-
und ich sah ein strahlendes Gebäude mit weißen Säulen in einem flachen südlichen Land, in dem es keine Berge gibt, aber merkwürdige Leute mit spaßigen Kleidern. Auch ihr wart dort, und ich schrie auf, als ich sah, daß ihr hier auf mich zukamt und mein Leben rettetet." Er legte seine linke Hand auf meinen Kopf, zog mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand sanft meine Augenlider hoch und blickte mir in die Augen. „Seltsam", murmelte er, „wirklich eine seltsame Gabe. Ich werde gut auf dich aufpassen, Arau." Darauf drehte er sich um und ging mit großen Schritten auf die Empfangshalle zu. Ich stand stocksteif, fasziniert von der Kraft, die von diesem edlen Menschen ausging. Über welch übernatürliche Kräfte mußte dieser junge Priester verfügen, wenn Soldaten durch eine Bewegung seiner Hand zu Boden fielen und sich nicht mehr daran erinnerten, was ihnen geschehen war? „Herr", schrie ich instinktiv, brach mir einen Weg durch die Menge, die wieder den ganzen Hof überflutete, und rannte hinter ihm her, als habe ich etwas vergessen, wovon der Segen meines Lebens abhinge. „Herr, wie heißt ihr? Damit ich weiß, wer mich rettete, und in meinen Gebeten eurer gedenken kann!" Er blickte mich freundlich lächelnd an und antwortete mit seiner sanften Stimme, die mir selbst jetzt noch in den Ohren klingt: „Lhalu Lama…"
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Kapitel 3 Als ich zu unseren Maultieren zurückkehrte, sah ich Vater umringt von Pilgern und Kranken, die das Erlebnis aufgeregt besprachen. Sie standen noch immer unter dem Bann des Wunders und behaupteten, der Lama sei die Inkarnation eines göttlichen Geistes, denn so etwas hatte man noch nie in einem Klosterhof erlebt. Vater war glücklich und fing wieder an, meine Arme und Schultern zu drücken. „Sohn, du bist hier am richtigen Ort. Mit gutem Gewissen überantworte ich dich der Fürsorge solcher Weiser und Magier. Sie können dich noch besser beschützen als deine Eltern. Es scheint mir, Ti- Tonisa, als ob die Kräfte der Unterwelt versucht hätten, dein Leben zu zerstören. Wahrscheinlich war es Sadag, der dunkle Herr der Erde, der jene Soldaten auf dich hetzte, damit sie dich erschlügen und du nie ein Lama werden würdest. Doch du wurdest gerettet, mein Sohn, du wurdest von dem Priester mit den übernatürlichen Kräften gerettet, und das ist ein gutes Omen für deine Zukunft. Die bösen Kräfte wurden geschlagen, und du wirst von jetzt an ein Bewohner des Felsenklosters sein." „So einfach ist das nicht, Vater", sagte ich gedankenverloren. „Die Tatsache, daß ich hier bin, macht mich noch nicht zu einem Bewohner des Klosters. Ein Novize muß viele strenge Prüfungen bestehen, bevor er eingeweiht wird. Die Aufnahmeprüfung beginnt, wie ich gehört habe, mit den Fragen des Hohenpriesters, und wer die nicht besteht, wird gleich wieder nach Hause geschickt." „Sorge dich nicht, mein Sohn! Schon unsere Ankunft hier fiel aus dem Rahmen. Und wie ich schon sagte, ich halte dieses Abenteuer mit dem glücklichen Ausgang für ein gutes Zeichen. Der Einsiedler hat dich nicht umsonst ein ganzes Jahr lang -63-
unterrichtet. Es ist ganz unmöglich, daß du versagst! Ich mache mir um dich nicht die geringsten Sorgen, Sohn!" Es berührte mich tief zu hören, wie er mich mit dem ganzen Stolz des väterlichen Herzens lobte und tröstete, und ich schaute ihn dankbar an. Ich versprach ihm, keine Schande auf sein graues Haupt zu laden und meine ganze Kraft darauf zu richten, im Kloster zu bestehen. „Ich werde diese Nacht hier verbringen", sagte er tief in Gedanken, „doch morgen werden wir mit der Karawane weiterziehen. Ich verlasse diesen Ort leichten Herzens, denn ich weiß, daß du hier sicher aufgehoben bist." Er betonte dies so häufig und mußte so oft blinzeln, daß ich erkannte, daß er seine Gefühle zu verbergen und sich selbst damit zu trösten suchte. Wir unterhielten uns noch, als ein großer, hagerer Priester zu uns trat und nach der Begrüßung sagte, er komme von Lhalu Lama. „Zuerst müssen wir eure Tiere unterbringen, mein guter Herr", sagte er zu Vater. „Kommt mit mir, ich zeige euch Ställe und Gästeräume. Dann werden wir uns in den Kang begeben und beten, denn so ist es hier Brauch. Die Novizen müssen mit ihren Familien bis zum Abend andächtig im Gebet verweilen." Wir führten unsere Maulesel in die Ställe, die sich an der rechten Seite des großen Hofes befanden, und banden sie an den Krippen fest, die uns der Lama zuwies. Wie ich später erfuhr, war er der Kharpon, obwohl der Burgvogt, wie ihn hier alle nannten, gewöhnlich nur die Edlen persönlich empfing. „Herr", sagte Vater voller Hochachtung, während er auf die abgeladenen Ballen deutete, „was ist mit den vielen Khurpos? Ich habe sie als Gegenleistung für die Ausbildung meines Sohnes mitgebracht - und auch zum Verkauf. Sie enthalten kostbare Stoffe und seidene Tücher, die sich gut für Kadaks eignen." Der Burgvogt verbeugte sich lächelnd ob dieser -64-
offensichtlichen Großzügigkeit und bat uns, die Geschenke gegen die Wand zu lehnen, wo er sie von den Dienern abholen lassen würde. Er klatschte in die Hände, und sofort erschienen zwei schmutziggekleidete Lamas und begannen, die Packen fortzuschleppen. Wie ich später erfuhr, gehörten sie zur niederen Priesterschaft, welche die Hausarbeit im Kloster verrichteten. „Und jetzt, da ich im Namen unseres Hohenpriesters die Gaben in Empfang nehmen durfte, die ihr unserem Kloster zugedacht habt", sagte der Burgvogt, „erlaubt, daß ich euren Sohn mitnehme, um ihm den Raum zu zeigen, den er in der nächsten Zeit bewohnen wird. Er kann mitnehmen, was ihm gehört." Ich klaubte mein Bünd el vom Boden auf, welches in eine Decke gewickelt war, warf Vater einen traurigen Blick zu und folgte dem Lama. „Ich werde ihn bald zurückbringen", lächelte dieser, „wie ich schon sagte, werdet ihr, wenn ihr euch gewaschen habt, nach den Regeln des Klosters für den neu eingetroffenen Gegnien und seine Familie bis zum Abend zusammen beten." Von der linken Ecke des großen Hofes führte ein langer Gang in das Innere des Berges. Dieser Teil war den Novizen vorbehalten; hier hatten sie bis zu ihrer Einweihung zu bleiben. Von dem Gang zweigten leere Steinzellen ab, die jedoch nicht nebeneinander, sondern weit voneinander entfernt lagen. Der Lama wies mir die meine an und legte mein Bündel auf den Boden. Es war eine einfache Zelle; außer einem niedrigen Bett befand sich nichts darin. Bevor wir eintraten, sah ich, wie zwei Jungen hinter den Türen ihrer Zellen hervorlugten, doch als sie den Burgvogt erblickten, zogen sie schnell die Köpfe ein. Danach gingen wir zurück in den Hof. Der Priester führte Vater und mich wieder zu dem langen Korridor, an dessen Ende sich der Gebetsraum befand. Dieser war ganz schlicht und schmucklos. An zwei Seiten brannten Laternen, und im Hintergrund machte ich die Statue des Gottes der Weisheit aus. -65-
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß wir im alten Bod-Yul Gott allein verehrten. Nur das einfache Volk besiedelte unser Land mit verschiedenen Gottheiten, Teufeln, Dämonen und Kobolden. Die Hierarchie der Priester betete dagegen zu dem einzigen Gott der gesunkenen atlantischen Welt, den sie Wissen oder Weisheit nannten, und der alle Geschöpfe auf Erden gemacht hatte. So lernte ich es von Vater Ram-Chen, so lebt es auch jetzt noch in meiner Seele, und so wird es über meinen Tod hinaus in allen zukünftigen Verkörperungen in mir leben. Vor der heiligen Statue, die den Weltenschöpfer mit dem Szepter in der Hand und der spitzen Kappe des großen Magus auf dem Kopf darstellte, warfen wir uns auf den glatten Steinboden, der im Laufe der Jahrhunderte von den endlosen Pilgerscharen und Novizen so abgewetzt war, daß wir uns praktisch in muldenartige Aushöhlungen legen mußten. Nach einem kurzem gemeinsamen Gebet bedeutete uns der Lama, uns zu erheben, und teilte uns mit, daß wir bis zum Abend hier weiterbeten sollten. Dann würde er wiederkommen, um mich in meine Zelle zu geleiten. Wir legten unsere Hände vor dem Körper zusammen und warfen uns, Seite an Seite, erneut zu Boden. Vater, den ich noch nie hatte beten sehen, lag bewegungslos in tiefer Ehrfurcht. Beide gerieten wir in den Bann des kleinen Tempels. Wer weiß, vielleicht schwebten die unzähligen Gebete, die in seinen stillen Mauern gesprochen worden waren, um uns herum und inspirierten uns. Nach der zweiwöchigen Reise mit der Karawane und den Gefahren, die wir auf dem Klosterhof ausgestanden hatten, war das Gefühl, in völliger Stille auf dem kalten Stein zu liegen, wunderbar beruhigend. Mein Lehrer hatte recht, wenn er sagte, daß dem inbrünstigen Gebet immer die vollkommene Gedankenstille vorausgehen muß, denn man kann den Abgrund zwischen der Erde und der anderen Welt nicht durch das Sprechen eines kleinen Gebetes überbrücken. So beten nur die einfachen Leute und die Lauwarmen. Das Gebet -66-
bedarf immer einer besonderen Vorbereitung und eines bestimmten geistigen Rahmens. Ich lernte von meinem Meister, daß man sich zuerst auf sich besinnen und den Geist nach innen richten muß, womit der Zustand vollkommener Gedankenleere gemeint ist. Erst wenn alle überflüssigen und banalen Gedanken aus dem Gehirn verbannt sind und die Ideen darin nicht länger herumspringen wie eine Horde wilder Affen in den Felsen, kann man beginnen, der inneren Stimme zu lauschen, der Stimme unseres wahren, transzendentalen Seins. Mit dieser Stimme müssen wir zu beten versuchen, denn sonst betet nur der Verstand, und die Bitte wird den Himmel nie erreichen. So lag ich jetzt in stummer Anbetung da und hatte die Handflächen über meinem Kopf zusammengelegt, damit der Strom meines Gebetes - verstärkt durch die magnetische Ausstrahlung meiner Finger - unmittelbar zum Thron der Weisheit aufsteigen konnte. Als ich endlich den Zustand völliger Gedankenleere erreicht hatte, stieg zuerst das Bild meines Vaters in meinem Innersten auf. Sofort verband ich mein unwissendes Gebet mit seinem geistigen Bild und betete, daß Gott ihn und meine Familie vor allem Übel schützen möge, während ich im Kloster lebte. Danach betete ich für Vater Ram-Chen Lama, und schließlich erschien die Gestalt des blauäugigen Lamas vor meinem geistigen Auge. Ich hielt meine wundersame Rettung für ein gutes Zeichen, obwohl sich die böse Vorahnung auf meinem Heimweg kurz vor dem großen Sturm fast in Form des Säbels eines Gyanackriegers erfüllt hatte. Ich bat die Heilige Weisheit, daß sie Lhalu Lama segnen und seine Schritte immer höher in die Sphären führen möge. Denn dieser heilige Lama war wirklich kein gewöhnlicher Mensch: Selbst während meines Gebets flüsterte die leise Stimme meiner Seele, daß er für große Dinge ausersehen sei und ihm sein außergewöhnliches Wissen einen hohen Rang im Leben sichern würde. Ich weiß nicht, wann ich aus meiner langen, tiefen Anbetung wieder zu Bewußtsein kam. Als ich meinen Kopf vom -67-
Steinboden hob, dämmerte es bereits, und der dunkle Tempelraum wurde nur vom flackernden Licht der beiden Opferlampen erhellt, welche tanzende Schatten auf die Wände des Kangs warfen. Sanft berührte ich Vater, der bewegungslos an meiner Seite lag, doch er regte sich nicht. Da merkte ich, daß er schlief und lächelte tief bewegt. Mochten die Himmel den kurzen, erschöpften Schlaf segnen, der ihn beim Gebet übermannt hatte! Ich wünschte, jeder Mensch schliefe beim Beten ein, damit, wenn seine Seele auf die geistige Ebene versetzt wird, sein letzter Gedanke Gott galt. Guter Vater, wieviel hast du in diesem Leben für mich getan! Wie sehr mußten deine schwieligen Hände und deine unermüdlichen Beine arbeiten, um mich aufzuziehen und meine Zukunft zu sichern! Sei gesegnet, und mögest du nie unzufrieden mit deinem Sohne sein! Der Burgvogt kam fast geräuschlos zurück und stand schweigend in der geöffneten Tür des Tempels. Als ich aufstand, stieß ich Vaters Fuß mit meinem ledernen Kirdova an, worauf er zu sich kam und auf die Füße sprang. Ich ging zum Kharpon. „Und jetzt, mein Sohn, sage deinem Vater Lebewohl, denn du wirst ihn lange nicht sehen. Du wirst mit mir in deine Zamkan, deine Meditationszelle, gehen, wo du die Nacht verbringen mußt. Von jetzt an bist du ein Bewohner des Klosters. Ich hoffe, daß du nach deiner Eintragung die Prüfungen bestehen wirst." Mit nach oben geöffneten Handflächen streckte ich Vater beide Hände entge gen und verbeugte mich, nach alter Sitte, dreimal vor ihm. Er trat näher und legte seine Hände auf die meinen. Schweigend sahen wir uns lange an. Dann drehte ich mich schnell um, denn ich brachte kein Wort hervor. Ich ging hinter dem Kharpon auf den langen Gang zu, der aus dem Tempel herausführte. „Mögen die Götter dich segnen, mein Sohn," hörte ich Vaters Stimme hinter mir herrufen, „und bestehe deine Prüfungen mit -68-
Anstand!" Der Burgvogt führte mich in meine Zelle. Außer dem Steinbett gab es keine Möbel. Nur ein zerlumpter brauner Umhang hing von einem Haken in der Wand, und in der Ecke lagen ein Paar Strohschuhe. „Zieh das an", bedeutete der Lama, „du darfst nur dein Hemd behalten. All deine anderen Kleidungsstücke werden den Armen des Klosters in deinem Namen übergeben, wenn du der Einweihung für würdig befunden wirst. Solltest du versagen, erhältst du all dein Gut zurück und bist frei, diesen Ort in Frieden zu verlassen. Dieser abgetragene, zerrissene Umhang ist ein Symbol der Demut, eine der ersten Eigenschaften, die von jedem Novizen dieses Klosters verlangt wird. Heute sollst du nicht essen. Bete und meditiere, bevor du dich zum Schlafen legst. Du darfst nur eine Decke behalten. Morgen werde ich kommen und dich mit den anderen Novizen in den Tempel bringen, damit du zum Zwecke deiner Eintragung den Saum des hohenpriesterlichen Gewandes berühren kannst." Mit diesen Worten ging er und ließ mich allein in der dunklen Zelle zurück. Ich blieb zum erstenmal in meinem Leben allein zwischen vier nackten Wänden. Ich, der ich die Natur und die frische Luft so liebte, begann erst jetzt zu spüren, was Freiheit bedeutete. Doch seltsamerweise verging dieses Gefühl der Einsamkeit und der Angst so schnell, wie es gekommen war. Ich zog mich aus und warf den zerlumpten Umhang über. Dann legte ich mich auf das Bett und dachte aufgeregt an den morgigen Tag. Würde ich die harten Prüfungen, von denen Ram-Chen Lama berichtet hatte, bestehen? Ich wußte nicht, woraus sie bestanden, denn mein Meister hatte mir keine Einzelheiten verraten. „Der Mensch, der körperlich und seelisch bereit ist, die Prüfungen dieses Lebens zu bestehen, muß dies aus dem Augenblick heraus tun. Weiß denn der Soldat, was ihm im Kriege widerfahren wird? Doch der Feuerprobe eines jeden Kriegers gingen lange Übungstage voraus, so daß er keinem -69-
unbekannten Feind begegnet, wenn er in der ersten Linie steht. Er muß nur eines im Blick behalten: Sein Selbstbewußtsein, welches ihm hilft, sich an all die schwierigen Bewegungen zu erinnern, die nötig sind, um einen Angr iff abzuwehren, so wie er es auf dem Drillplatz gelernt hat. Der Unterschied besteht nur darin, daß die Schwerter bei der wirklichen Prüfung scharf sind. Doch was kümmert das den geübten Krieger, der bereits weiß, welche Paraden er ausführen muß, um den gefährlichen Degen beim Fechtkampf abzulenken. Wenn du es genauso machst, mein Sohn, dann wirst du die Erprobung deiner Kräfte nicht nur im Kloster, sondern überhaupt im Leben bestehen." Die langen Meditationen hatten mich ermüdet, doch ich hatte mir vorgeno mmen, wenigstens bis Mitternacht zu beten. Es war kühl, und die Kälte hielt mich wach. Die Decke, die mir Vater Ram-Chen zurückgegeben hatte, lag bei meinen Sachen, doch ich nahm sie nicht. Wer weiß, welch strengen Prüfungen sich mein Körper noch zu unterziehen hatte! Ich mußte mich abhärten und in Übung bleiben, denn hatte ich nicht gehört, daß die Eingeweihten selbst bei Nacht keine Decken benutzten, weil sie lernten, das innere Feuer anzufachen? Doch mir war, wie ich beschämt zugeben mußte, ganz einfach kalt. Deshalb versuchte ich eine ganz einfache Technik: Ich atmete tief, hielt den Atem an und konzentrierte mich auf loderndes Feuer. Dadurch erreichte ich vor allem, daß mein Geist kurze Zeit später leer wurde, und damit verschwand auch die Vorstellung von Kälte. Gleichzeitig schien mich mein letzter Gedanke, das Feuer, tatsächlich zu erwärmen. Unglücklicherweise war ich nur zu dieser primitiven Ebene der Erzeugung innerer Wärme fähig, denn wenn ich eine Pause machte, begann ich stets von neuem zu zittern. Es war schon spät in der Nacht, als ich mich mit dem Gesicht nach unten auf das Steinbett legte und mich in Gebete versenkte. So schlief ich ein, ohne es zu bemerken, denn am Morgen erwachte ich in derselben Haltung. Draußen lag tiefer Schnee. Vielleicht war das Wetter für -70-
meinen Schlaf verantwortlich gewesen und dafür, daß ich nicht gefroren hatte. Ich ging hinaus in den Hof, zog meinen Umhang aus und rieb mich bis zu den Hüften mit frischem Schnee ab. Der große Garba war jetzt leer. Die Pilger hatten in den Schlafräumen und Gästehäusern Schutz gesucht. Nur ein oder zwei Schafhirten, die Dokpas des Hochlandes, hatten draußen übernachtet, denn sie waren an Kälte gewöhnt. Auch Vater war irgendwo drinnen… Ich drehte mich um und ging zurück in meine Zelle, wo der Kharpon schon auf mich wartete. „Komm, mein Kind, die Novizen haben sich schon im Lhakang versammelt. Zu dir bin ich zuletzt gekommen, denn du mußt müde sein von der langen Reise." Wir gingen über den langen, dunklen Gang, doch nicht hinaus zum Hof: Bei einem mit einem Teppich verhängten Tor wandten wir uns nach links. Dieser Gang war noch länger als der vorherige und nur von winzigen Opferlampen erhellt, die ehemalige Novizen im Gedenken an ihre Ausbildung angebracht hatten. Wir kamen am anderen Ende des Klosters in einer sonnenhellen Gebetshalle heraus, die genau so aussah wie der Kang für die Allgemeinheit, wo ich mit Vater gebetet hatte, nur daß diese Halle viel größer war. Sie schien für die Bewohner gebaut worden zu sein. Vor der Heiligen Statue standen sieben Jungen etwa in meinem Alter, die wir bei unserem Eintritt mit einer tiefen Verbeugung begrüßten. Auch ich verbeugte mich vor ihnen und stellte mich auf ein Zeichen des Kharpon an das Ende der Reihe. In der Mitte des Tempels befand sich ein Altar, der mit Gerstenähren und Gebirgsblumen geschmückt war. Dort lag auch das bestickte Gewand des Hohenpriesters. „Siehe, dort ist das Gewand eures Hohenpriesters, des Ichkitsu!" sagte der Lama. „Es liegt seit dem letzten Vollmond auf dem Altar und wartet auf die zukünftigen Meister. Tretet in seine Gegenwart, meine Kinder, und berührt seinen Saum, jeder von euch! Mit diesem Ritual seid ihr in das große Buch des Felsenklosters eingeschrieben. Vergeßt nicht, daß ihr durch -71-
diese körperliche Berührung unmittelbar mit dem Großen Lama, dem höchsten Stellvertreter des Heiligen Wissens, der erhabenen Weisheit von Bod-Yul, verbunden seid. Der Hohepriester sieht alles und weiß alles, selbst wenn er nicht körperlich anwesend ist. Benehmt euch in diesen Mauern deshalb so, als ob seine Augen jeden Augenblick auf euch ruhen würden." Ich trat zum Altar zu dem heiligen Gewand, welches mit seltsamen Blumen bestickt war, und berührte es mit der rechten Hand. Die anderen taten dasselbe. Dann kehrten wir zu der Statue zurück und blickten den Lama erwartungsvoll an. „Und jetzt hört meine Worte", sprach der Kharpon. „Die wichtigste Verhaltensregel in diesem Kloster ist - Demut. Deshalb soll Demut jeden eurer Schritte und jede eurer Taten unter diesem Dache lenken. Ihr wißt vielleicht noch nicht, was wirkliche Demut, wahrer Gehorsam bedeutet. Hört mir deshalb zu. Mit demütigem Geist könnt ihr euch nicht nur eurem Hohenpriester zu jeder Zeit nähern, sondern auch der unsichtbaren Weisheit. Demut erträgt alles und macht euch Gottes besonderer Gnade würdig. Seid deshalb überall und bei allem demütig, besonders aber, wenn ihr an euren himmlischen Vater oder seinen Stellvertreter auf Erden denkt, euren Hohenpriester. Doch merkt euch: Demut ist nicht die Unterwürfigkeit des Dieners, sondern die reine Hochachtung eines Kindes vor seinem Vater, der so mächtig ist und solch unbegreifliche Wunder wirkt. Diese ursprüngliche kindliche Bescheidenheit, dies Vertrauen, diese Hingabe bedeuten wahre Demut. Wenn ihr das stets befolgt, werdet ihr Großes vollbringen können, denn Demut ist nichts anderes als das Gewand des Glaubens. Wenn du dich vor Gott und deinem Hohenpriester demütigst, offenbarst du damit gleichzeitig das erste sichtbare Zeichen deines Glaubens. Denn was ist Demut, meine Kinder? Voller Vertrauen die Dinge erwarten, die noch nicht geschehen sind, sich vollständig in den Willen Gottes -72-
geben, daraus ist das Schleiergewand gewebt, welches der Novize anlegt, bevor er zum Altar seines Herrn tritt, und welches er nie wieder ablegt. Unter diesem glänzenden, durchsichtigen Gewand erstarken Glaube und Hoffnung. Das sanfte Knistern des Gewandes der Demut, welches ihr jetzt tragt, entfacht die schlafenden Funken dieser großen Tugenden in euren Seelen zu lodernden Feuern. Je tiefer eure Demut wird, um so durchscheinender und glänzender wird euer Gewand, bis es mit dem Licht eures Glaubens, eurer Hoffnung und eures Mitgefühls verschmilzt. Siehe, das ist der Weg der Demut, o Brüder!" Wir konnten unsere Blicke nicht von den Lippen des Burgvogts losreißen; jedes Wort, das er sprach, traf uns im Kern. Ich hatte noch niemals so einfache und doch so hohe Worte gehört. „Und was bedeutet Demut in eurem täglichen Leben?" fuhr er leidenschaftlich fort. „Die Antwort solltet ihr bereits in eurem Innersten spüren. Demut im irdischen Sinne ist keinesfalls klägliche Unterwürfigkeit unter andere Menschen, sondern Vertrauen in die Güte des menschlichen Herzens, in eure Mitmenschen. Auch das ist Demut: Wenn ihr einst großes Wissen besitzt, werdet ihr dennoch vom einfachen Volke lernen, ohne diese Menschen eure Überlegenheit auch nur einen Augenblick lang spüren zu lassen. Je mehr ihr lernen werdet, umso mehr werdet ihr erkennen, wie wenig ihr wißt, und auch das ist Demut. Wenn sich euch die Geheimnisse der Heiligen Weisheit offenbaren und eure Kehlen durch die Erkenntnis eurer eigenen Winzigkeit wie zugeschnürt sind, dann ist auch das Demut. Seid also demütig, sanft und freundlich in den Mauern dieses Klosters. Wenn ihr so durchs Leben geht, werden euch die zerklüfteten Felsen Bod-Yuls wie weicher Rasen unter den Füßen scheinen. Ich grüße euch, die zukünftigen Lamas dieses Klosters, im Namen des heiligen Gehorsams und rufe den Segen des Ewigen Wissens auf euch herab." -73-
Er schwieg, hob die Hände und verweilte einen Augenblick in dieser Stellung. Dann sagte er: „Ich werde in der dritten Stunde des Tages, die immer näherrückt, wieder zu euch kommen. Die Prüfung durch den Hohenpriester steht kurz bevor, eure schwerste, geistige Erprobung! Wenn ihr sie besteht, müßt ihr euch den Prüfungen des Körpers unterziehen. Betet bis dahin in aller Demut und erfleht die Hilfe der Heiligen Weisheit." Er verließ uns, und wir blieben allein im Lhakang zurück. Neugierig blickten wir einander an und erzählten, woher wir kamen, wer wir waren und warum wir uns entschieden hatten, hierherzukommen. Die meisten waren Söhne noch reicherer Familien als der meinigen. Zwei stammten aus der fernen südlichen Provinz Lho aus dem Gebiet des schneebedeckten Bogo-La, wo das reiche Gyagar-Reich beginnt. Sie waren einen ganzen Monat unterwegs gewesen, bis sie hier eingetroffen waren. Die anderen fünf waren Bewohner des östlichen KhamYul und hatten sich seit ihrer Kindheit danach gesehnt, Lamas zu werden. Zwei der Jungen hatten Verwandte im Kloster. So schwatzten wir wie ganz normale Jungen eine ganze Weile lang auch über die schweren Prüfungen, die uns bevorstanden. Da ich der Älteste unter ihnen war, sagte ich schließlich, daß es höchste Zeit zum Beten sei. Daraufhin wurden wir alle still, warfen uns vor der Statue der Weisheit nieder und versenkten uns im Gebet. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, denn wir hatten unsere Andacht gerade beendet, als der Kharpon wieder erschien und uns winkte, ihm zu folgen. Er führte uns über den langen Korridor und bog dann in einen mit seidenen Vorhängen abgeteilten Seitengang, welcher ebenfalls durch verzierte Lampen beleuchtet wurde. So gingen wir eine ganze Weile raschen Schrittes, bis wir zum Ende des Ganges gelangten, welcher durch einen schweren Teppich verschlossen war. Der Burgvogt zog diesen beiseite, und wir fanden uns im Eingangstor einer etwa zehn Meter langen Halle wieder. Erstaunt blieben wir stehen und blinzelten im blendendhellen -74-
Sonnenlicht, das durch die östliche Seite hereinströmte. Die Mauer dort öffnete sich zum Tal und war nur durch Papyrusblätter verschlossen, welche das Sonnenlicht ungehindert hindurchließen. Am anderen Ende der Halle erblickten wir einen würdigen alten Lama. Er saß auf einem mit Teppichen bedeckten, behauenen Steinthron. Sein Gesichtsausdruck war ernst, doch seine Augen blickten freundlich und gütig. Den Boden der Halle bedeckte ein riesiger Strohteppich, auf dem viele Lamas im Halbkreis vor dem Thron hockten. Nur ein Mann stand zwischen dem Hohenpriester und den Lamas, und als ich ihn ansah, machte mein Herz einen Sprung. Er was es, mein Retter, und als ich eintrat, begegneten sich unsere Blicke. Ein ermutigendes Lächeln huschte über sein Gesicht, doch dann wandte er sich sofort zum Thron des Großen Lamas. Auf einen Wink des Kharpon hin warfen wir uns alle vor diesem nieder und blieben auf dem Boden liegen. „Willkommen im Felsenkloster, meine Kinder!" hörten wir seine klangvolle Stimme, die sein Alter Lügen strafte. Ich hielt ihn für sechzig oder siebzig Jahre alt, erfuhr jedoch später, daß er über einhundertfünfzig Jahre zählte, ein Alter, das bei den heiligen Weisen auf den Hochebenen keinesfalls eine Ausnahme war. „Steht auf, meine Söhne, erhebt euch! Ihr habt vielleicht gehört, daß ihr verschiedenen Prüfungen unterzogen werdet, damit eure geistigen und körperlichen Fähigkeiten festgestellt werden können. Ich kenne das Leben eines jeden von euch, und ich sehe auch eure zukünftige Laufbahn voraus. Doch damit es auch auf der irdischen Ebene so geschieht, wie es geschehen soll, müßt ihr euch auf schwere Prüfungen vorbereiten. Zuerst möchte ich mich persönlich von euren geistigen Fähigkeiten überzeugen. Danach werden eure Körper auf die Probe gestellt. Achtet genau auf meine Worte und setzt euch jetzt im Halbkreis vor die eingeweihten Priester. Nur der Älteste soll hier stehenbleiben, die anderen sollen zuhören und sich daran erfreuen. Ich werde dem Schüler verschiedene Fragen stellen, -75-
auf die er, ohne nachzudenken, antworten muß. Damit wollen wir eure Fähigkeit prüfen, Gedankenwellen zu spüren und aufzunehmen. Doch mehr werde ich dazu nicht sagen. Macht euren Geist leer, verlaßt euch auf das Wissen, welches ihr bereits gesammelt habt, und überlaßt alles der Eingebung eurer Seele." Er machte eine kurze Pause, hob die Hände gen Himmel und betete: „Allmächtige Weisheit! Du, die du weißt, wie unwürdig der Mensch ist, von dir emporgehoben zu werden und an deiner Kraft teilzuhaben, segne meine jungen Novizen, daß sie einen Funken deines Wissens empfangen und darin vollkommen sein mögen. So wie die Sonne die anderen Sterne mit ihrer Wärme nährt, so nähre auch du sie mit deiner Weisheit, auf daß sie die besten Lamas dieses Landes werden mögen!" Dann winkte er mir, worauf die anderen sich bis ans Ende der Halle zurückzogen und sich vor die dort im Halbkreis hockenden Lamas setzten. Ich blieb in der Mitte stehen und schaute den Hohenpriester erwartungsvoll an. „Tritt vor", sagte dieser freundlich, und ich ging näher heran. „Wie heißt du, mein Kind?" „Ti-Tonisa, mein Vater. Ich bin der Sohn Mirgons, eines Händlers aus Zondok, und komme von den südlichen Hängen der schneeweißen Königin." Jetzt passe gut auf, mein Sohn, und beantworte meine Fragen, ohne zu zögern. Wer gab dir deine Weisheit?" „Die Heilige Weisheit, unser aller Vater." „Wer war dein geistiger Führer? Wer lehrte dich die ersten Grundsätze unserer Religion?" „Ram-Chen Lama, der Einsiedler, der in einer Felsenhöhle am Jomo-Lun-Gam wohnt." Ich sah in den Augen des Großen Lamas, daß er mit mir zufrieden schien. „Was hat dir von seinen Lehren am besten gefallen?" -76-
„Daß wir Wanderer auf Erden sind", sagte ich, denn seltsamerweise kam mir gerade dies in den Sinn. „Unsere Heimat ist der Himmel, aus dem wir einst wie die Kiangs in die Tiefen des Abgrunds sprangen. Doch wir fielen auf unsere Füße; wir stürzten nicht zu Tode. Deshalb müssen wir wieder empor in die sonnenhellen Höhen klettern. Unsere Heimat ist der Himmel, nicht die Erde. Was wir auch tun, wohin wir auch gehen, wir bleiben heimatlose Wanderer. Deshalb hat jener gut gewählt, der seine Liebsten verläßt und ohne Freund, Frau oder Kinder lebt." Der Hohepriester nickte, und mir schien, als ob ein zufriedenes Lächeln über sein bewegungsloses Gesicht huschte. „Jetzt sag mir, Kind, für wen nimmst du dieses Leben voller Opfer auf dich?" „Nicht für einen irdischen Menschen, und doch…" antwortete ich und spürte, daß eine unsichtbare Hand meinen Kopf zu drehen begann. Der blauäugige Lama stand links von mir, die Hände auf dem Rücken gefaltet, doch seine Augen fixierten mich und brannten mit demselben seltsamen Feuer wie gestern, als er mich aus tödlicher Gefahr gerettet hatte. „Die Rettung meiner Seele", fuhr ich fort, als ob ich träumte. Ja, mein höheres Selbst und die Erinnerung an meine einstige Herrlichkeit in den hohen himmlischen Sphären ruft mich zu diesem Leben. Ich muß mich wieder zu den Höhen hinaufarbeiten, aus denen ich einst fiel." In der großen Stille war mir, als hörte ich das leise Murmeln der Lamas. Doch vielleicht war es nur eine Einbildung, denn ich fühlte, wie sich mein Sichtfeld erweiterte: Der Thron des Hohenpriesters schien vor mir zurückzuweichen, und ich wußte, daß mich in wenigen Augenblicken die gewohnte Benommenheit überfallen würde. Ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an, und schaffte es zu meiner großen Erleichterung, auch die nächste Frage des Großen Lamas aufzunehmen. -77-
„Wer brachte dich zu unserem Kloster?" „Mein irdischer Vater führte mich als Zeichen der Gnade meines himmlischen Vaters über immer höhere Pässe, und ich vertraue darauf, daß mich diese Gnade durch die weise Führung eurer Hoheit auch den steilen himmlischen Pfad hinaufführen wird." Der Hohepriester tauschte einen kurzen Blick mit dem blauäugigen Lama und nickte zufrieden, während ich all meine Kraft zusammennahm, um gegen meine zitternde Betäubung anzukämpfen. Einmal schwebte der Thron auf mich zu, dann wieder rückte er in die Ferne, entsprechend meinen wechselnden Zuständen von Bewußtheit und Unbewußtheit. „Noch eine Frage, mein Sohn. Wenn du sie beantworten kannst, darfst du dich zufrieden in deine Zelle zurückziehe n. Was ist das Größte auf der Welt, und wie würdest du es beschreiben?" Ich konnte nicht länger gegen mich ankämpfen, ich geriet in einen verzückten Zustand, doch obwohl ich kaum zu sehen vermochte, konnte ich meine Antwort diesmal hören, als ob sie aus weiter Ferne käme. „Das Größte auf der Welt ist der Glaube. Wenn wir im Glauben leben, werden unsere Tage voller Wunder sein. Der Glaube ist eine lebendige Wirklichkeit, lebendiger als das Leben selbst. Der glaubende Mensch hebt den Schleier vor den Geheimnissen der Schöpfung. Oftmals ist das Eintreten niemals erblickter, unmöglicher Dinge für die Seele so sicher, als seien sie schon geschehen. Je größer der Glaube, umso größer der Segen; und umso eher werden zukünftige Ereignisse, obwohl noch ungeboren und wider alle Hoffnung, Wirklichkeit. Die Flügel des Glaubens entfalten sich durch die Hoffnung, die irdisch ist, die jedoch Vergangenheit und Zukunft wie eine farbige Brücke miteinander verbindet. Deshalb nennen wir den Glauben Ajatsun, Brücke des Regenbogens. Nur wenn wir mit -78-
sicheren Schritten über diesen Regenbogen wandern und der Glaube uns vorwärtstreibt, können wir zu solch himmlischen Höhen gelangen, wo selbst die Zukunft zur Gegenwart wird. Der Glaube ist auch unser Vertrauen in die Führung der Heiligen Weisheit, unsere Gewißheit weiser Fügung. So erschafft der Glaube die Gegenwart aus der Zukunft, und durch die Tugenden der Vergangenheit werden die Fundamente der Gegenwart gelegt. Der höchste Aspekt des Glaubens ist die Liebe. Der Mensch, der sich selbst geringschätzt und alle Geschöpfe liebt, hat keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft, denn er lebt in der ewigen Gegenwart. Und wer in der ewigen Gegenwart lebt, wird von Ewiger Liebe genährt, und so verschmilzt sein Glaube mit den Feuern Ye-Shes, dessen Liebe die ganze Welt erfüllt." Ich öffnete die Augen. Meine letzten Worte klangen mir noch in den Ohren. Mir war, als hörte ich wie durch einen Vorhang die Stimme, die aus mir sprach und die doch nicht ich war. Ich wußte die ganze Zeit über, daß nicht ich sprach, denn solch eine Antwort hätte ich nie geben können. Der blauäugige Lama schaute mich überrascht an, während der Hohepriester den Lama anschaute. Erst später erfuhr ich, wie wichtig diese Prüfung gewesen war, besonders aber die letzte Frage. Auf die Frage des Hohenpriesters hin gab der inspirierende Lama die richtige Antwort, welche der Novize aufnehmen mußte. Der Große Lama lächelte mir kaum wahrnehmbar zu. „Mein Sohn! Mit deiner letzten Antwort hast du nicht nur bewiesen, daß du unsere Gedankenbotschaften empfängst, sondern auch, daß du in Verbindung mit deinem höchsten Führer stehst. Dies ist eine große göttliche Gnade, und du darfst nie aufhören, der Heiligen Weisheit dafür zu danken. Jetzt ziehe dich in deine Zelle zurück. Ich werde dich rufen, wenn ich mit deinen Gefährten fertig bin. Doch den Zeitpunkt mußt du selbst erspüren." -79-
Kapitel 4 Als ich in meine ebenerdige steinerne Zelle zurückkehrte, betete ich lange, und meine Seele war den Hohen Führern tief dankbar, die mir bei meiner ersten Prüfung solchen Beistand hatten zukommen lassen. Dann bat ich Gott um Hilfe für meine Gefährten, daß auch sie dem Hohenpriester die richtigen Antworten würden geben können. Ich sprach keine kurze Bitte, sondern ein langes, meditatives Gebet, welc hes ich erst gegen Mittag beendete. Von Vater Ram-Chen hatte ich gelernt, daß ein kurzes Gebet, abgesandt mit der Antriebskraft eines nach oben abgeschossenen Pfeiles, genügte, wenn ein Mensch sich einer unerwarteten Gefahr gegenübersah. Doch wenn wir uns in einem friedlichen Geisteszustand an die höchste Weisheit wenden, um sie um etwas zu bitten oder um sie zu preisen, versenken wir uns stets in tiefe Gebete. „Du stürzt auch nicht zu deinem irdischen Vater und teilst ihm kurz mit, was du von ihm wünschst", pflegte mein Meister zu sagen. „Du sagst nicht: ,Gib mir dies oder gib mir jenes', sondern vermittelst ihm das Begehren deines Herzens in aller Demut." Die Sonne stand schon hoch über dem Gipfel, als ich mein Gebet beendete. Ich ging eine Weile in meiner Zelle auf und ab und spürte seltsamerweise keinen Hunger, obwohl ich lange nichts mehr gegessen hatte. Ich überdachte die Erlebnisse der letzten Tage. Plötzlich wurden meine Gedanken unterbrochen, als habe eine unsichtbare Hand mein Gehirn leergefegt. Mein Geist wurde ganz still. „Es ist Zeit, daß du vor dem Hohenpriester erscheinst", ging es mir durch den Sinn, „geh sofort!" Diesem inneren Aufruf folgend, verließ ich augenblicklich meine Zelle und lief über den langen Gang, über den mich der Burgvogt geführt hatte. Als ich den letzten Vorhang beiseitegezogen hatte, sah ich erstaunt, daß die große Tempelhalle bis auf den Großen Lama, der auf seinem Thron saß, und Lhalu Lama leer war. Die -80-
übrigen Lamas und meine Gefährten hatten sich zurückgezogen. „Komm her, mein Kind", winkte mir der Hohepriester, als habe er gewußt, daß meine Hand genau in diesem Moment den seidenen Vorhang am Eingang zurückzog. Ich streckte ihm beide Arme entgegen und verbeugte mich feierlich. „Nachdem du deine geistigen Fähigkeiten erfolgreich unter Beweis gestellt hast, werden jetzt deine Stärke und deine Ausdauer geprüft. Doch zuerst werde ich untersuchen, ob du die zukünftigen Proben überhaupt bestehen kannst. Komm näher." Ich trat vor und blickte ihn ehrfurchtsvoll an. Der Hohepriester stieg von seinem Thron herab und schaute mir lange in die Augen. Dann winkte er dem blauäugigen Lama, der mit einer Schilfrohrfeder und einer Papyrusrolle aus Khem in den Händen auf dessen Wort wartete. „Er wurde in einem Lug-Lo-Jahr geboren, als der Mond im Bya stand", wandte sich der Hohepriester an Lhalu Lama, nachdem er mich einige Augenblicke von Kopf bis Fuß gemustert hatte. „Nach unserer alten Zeitrechnung schrieben wir das Jahr 10750 nach der Großen Flut. Im Augenblick seiner Geburt stieg der Stern Bod-Zla im Osten auf. Gemäß seinem Geburtsmonat ist er hartnäckig, ausdauernd und oft stur wie sein Symbol Lug-Lo oder Kiang. Wenn er fällt, steht er wieder auf. Lug-Lo gibt ihm eine magnetische Persönlichkeit. Er wurde zur Priesterschaft geboren. Er wird sich in seinem Leben nie durch Mißerfolg oder Versagen entmutigen lassen, sondern - ohne sich zu beklagen - weiterarbeiten. Er ist ein Mann der Arbeit und der Pflicht, kein Führer. Er verfügt über große Selbstbeherrschung, und sein Gedächtnis ist ausgeze ichnet, doch ist er schweigsam und zurückhaltend. Du mußt bei seiner Ausbildung nicht besonders streng sein, sondern ihn eher durch aufmunternde Worte lenken." Er machte eine kurze Pause, um dem Lama Zeit zu geben, -81-
alles aufzuschreiben, während ich nicht wußte, was ich vor Staunen tun sollte. Wie konnte der Ta-Lama das Jahr und den Monat meiner Geburt wissen? Woher kannte er meinen Charakter so gut? „Der Stern der Zeit, der das Sternbild des Vogels Bya regiert, verursacht große Spannungen in seiner Seele, und Migmar macht ihn zum Krieger. Behandle ihn deshalb sanft, denn dann wirst du ihn wie Wachs formen können. Seine größten arvatischen Fehler sind seine Sturheit und sein Ehrgeiz. Darauf mußt du achten. Sein Geburtsherrscher, sein Sakar, Bod-Zla als Aszendent, bedeutet, daß er ein großer Mystiker werden wird. Das erklärt, warum die göttliche Flamme bald in ihm auflodert und seine Fähigkeit zum Phoimonda-Bewußtseinsflug sich rasch entwickelt, was ihn zu einem unvergleichlichen Werkzeug machen wird. Die Hauptbetonung liegt also auf den Aussendungsübungen. Ihm ist Großes vorbestimmt. Er wird viel für die Gemeinschaft und für die Verbesserung der Lebensumstände des Volkes tun. Außerdem wird er einer derjenigen sein, welcher das Wissen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft an die zukünftigen Generationen weitergeben wird. Er wird ein guter Menschenkenner sein, ein Mann, begabt mit großer Intuition und Voraussicht. Dies ist ganz offensichtlich, denn seine Verbindung zu den anderen Welten ist eng. Gemäß dem Stern der Zeit ist der größte menschliche Fehler seines Arva seine Neigung zur Maßlosigkeit. Deshalb mußt du ihn ständig unter geistiger Kontrolle halten… Bist du immer gesund gewesen, mein Sohn?" „Ja, Vater, ich war noch nie krank." „Doch einmal hast du dein Knie schlimm verletzt, nicht wahr?" „Ja, das, das stimmt…", stotterte ich völlig überrumpelt. „Schreibe, Lhalu… Gemäß dem Jahre Lug-Lo und dem Stern der Zeit neigt er zu Verletzungen seiner unteren Extremitäten -82-
und der Füße, doch auch zu Magen- und nervösen Leiden. Wenn du Lungom-Übungen mit ihm machst, solltest du seine Knie stärken. Sonst hat er eine gute Konstitution." Er kam zu mir, befühlte meine Arme und Beine und meine Brust. Dann strich er mit der Hand über meinen Schädel, trat einen Schritt zur Seite und betrachtete mich länger. „Seine Ohrmuschel ist tief und hat eine breite Höhlung, was nach dem Bod- Zla-Zeichen auf ein lebendiges geistiges und spirituelles Leben hinweist. Sein mittlerer Ohrlappen ist entwickelt und bedeckt fast das ganze Ohr loch. Dies ist ein entwicklungsgeschichtliches Merkmal der voratlantischen Zeit. Zu jener Zeit verschlossen die Menschen beim Schlafen ihre Ohren. Sie hatten keine Angst vor Angriffen der äußeren Welt, denn sie glaubten, daß die Vorsehung selbst im Schlaf über sie wachen würde. Seine Nase deutet auf große Willenskraft und Ausdauer hin, sein Kinn verrät geistige Gewandtheit. Und jetzt zeige mir deine Handflächen, mein Sohn." Ich streckte dem Hohenpriester völlig verzaubert beide Hände entgegen. Er warf nur einen kurzen Blick darauf und sagte dann zu Lhalu Lama: „Ich sehe auf seiner Arva-Linie, einen Fingerbreit unter der Kopflinie, eine tiefe Verbindungslinie mit dem Feld des Krieges. Das bedeutet, daß er im Alter von dreiundzwanzig Jahren in Kriegszeiten in Schwierigkeiten geraten wird, doch durch seine Geistesgegenwart wird er alle Gefahren bestehen. Am Ende seiner Kopflinie befindet sich das Dreieck magnetischer Kraft und auf der Fläche seiner Hand das gebeugte Kreuz der Eingeweihten. Auf dem Zla-Hügel sehe ich eine prophetische Insel und in der Mitte seiner Handfläche ein gut ausgebildetes, ununterbrochenes kleines Dreieck der Weisheit. Seine früheren Inkarnationen sind in seiner linken Hand verzeichnet. Vor zweihundert Jahren lebte er achtzig Jahre lang in Tazik-Yul. Hier fiel er auf dem Schlachtfeld, denn er hatte seine wahre Berufung verfehlt. Vor vierhundert Jahren lebte er -83-
neunzig Jahre lang als Einsiedler in Gyagar. Viel früher lebte er zur Zeit König Kurigalzus hundert Jahre im assyrischen Reich, doch dort verschrieb er sich der schwarzen Magie und fiel… Und jetzt übergebe ich ihn deiner Obhut, Lhalu. Führe ihn zu seiner Zelle und bereite ihn gut auf die schweren Prüfungen vor. Und du, mein Kind, bete und erflehe die Hilfe der Ewigen Weisheit." Ich warf mich vor dem Großen Lama nieder und berührte den Boden mit der Stirn. Seine ungeheure Weisheit betäubte mich, ich hielt ihn beinahe für einen verkörperten Gott. Als er aufstand, legte er mir die hagere Hand auf den Kopf und verließ mich mit einem wohlwollenden Lächeln. Der Lama mit den blauen Augen berührte mich an der Schulter und führte mich aus der Halle. Wir gingen schweigend nebeneinander über den dunklen Gang, der nur schwach vom flackernden Licht der Opferlampen erhellt war. An einer Biegung des Ganges blieb er stehen. „Tonisa, auf Anweisung unseres Hohenpriesters übernehme ich die Verantwortung für deine spirituelle Führung, denn wir sehen, daß dir eine gute Zukunft bevorsteht. Von heute an befindest du dich in meiner Obhut. Befolge deshalb in allen Angelegenheiten den Rat deines älteren Bruders." „Mein Herr", antwortete ich voller Ehrfurcht, „ich ordne mich in allem eurem Willen unter. Habt nicht ihr mich gerettet, als ich so ungeschickt über die Schwelle eures Klosters stolperte?" „Halt ein!" rief er ablehnend und erhob die Hände. „Blicke niemals zurück, Arau, immer nach vorn. Es würde mich sehr treffen, solltest du die Prüfungen morgen nicht bestehen. Die körperlichen Proben sind viel härter als die geistigen. Sei hellwach und nimm all deine geistigen und körperlichen Kräfte zusammen. Befolge diesen Rat: Wie schwer dir eine Aufgabe auch scheinen mag, wähle immer die schwierigere Lösung, jene, die dir am wenigsten gefällt. Dann wird die Stärke deines Geistes die Schwäche deines Körpers überwinden, und du wirst -84-
die Prüfungen der Einweihung erfolgreich bestehen. Ich darf dir nicht sagen, was dich erwartet, so wie auch dein Geistiger Führer dir nie in allen Einzelheiten offenbaren wird, was das Leben noch für dich bereithält. Wenn Gott dies zulassen würde, schräke der Sterbliche vor den Prüfungen zurück oder bereitete sich so sehr auf sie vor, daß er seinen freien Willen, seine ihm eigene Freiheit der Wahl zwischen Gut und Böse, nicht einzusetzen wagte. Betrachte unser Kloster, als sei es die genaue Wiedergabe der Königreiche des Himmels auf der Erde. Wie oben, so unten! Vergiß dies nicht. Alles hier unten ist symbolisch. Der Hohepriester und die Priesterin, die in den höchsten Türmen des Klosters leben, repräsentieren die höchsten himmlischen Führer. Der erste Stock steht für die höheren geistigen Ebenen, auf die der Novize erst nach seiner Einweihung gelangen kann. Das Erdgeschoß steht für die rohe materielle Ebene, unsere Erde, und die Räume und Gänge darunter für die Unterwelt, die Versuchungen und Prüfungen. Bald mußt du dich in jenen dunklen Gewölben der Prüfung des Wassers stellen, und danach, im Stockwerk darüber, der Prüfung der Priesterin. Auf der höchsten Stufe deiner Einweihung folgen dann die Prüfungen des Feuers und des Sarges. Mögen die Himmel dir genug Kraft geben, sie zu bestehen, Arau." Mein blauäugiger Lama nannte mich stets Arau, seinen kleinen Gefährten, obwohl vertraute Anreden im Kloster nicht üblich waren. Ich hörte nie wieder, daß ein Lama einen Novizen in solch offener, inniger Form ansprach. Dieser Unterschied erfreute mich außerordentlich, und ich schrieb ihn den seltsamen Umständen unserer ersten Begegnung und unserer geistigen Verbindung vom ersten Augenblick an zu. Es schien mir, als kenne ich sein freundliches Gesicht seit undenklichen Zeiten… „Ich nehme deinen Rat dankbar an, Aku", antwortete ich, als wir meine Zelle erreichten. „Durch deine freundlichen Worte und durch Gottes Willen werde ich es schon irgendwie schaffen, die Prüfungen zu bestehen, nachdem ich schon so weit -85-
gekommen bin." „Jetzt werde ich dich verlassen, Bruder. Heute abend werden deine Gefährten ihre Prüfungen ebenfalls abgelegt haben, so daß ihr in dem kleinen Speiseraum im Erdgeschoß gemeinsam zu Abend essen könnt. Später wird sich der Kharpon auf Anweisung des Hohenpriesters über eure Familien, eure Abstammung, die Situation eurer Eltern, Brüder und Schwestern und die eurer Anverwandten erkundigen. Ihre Namen werden unter den eurigen - den deinen habe ich schon hineingeschrieben - im Großen Buche des Klosters vermerkt. Vielleicht fandest du es merkwürdig, daß der Hohepriester mir deinen Charakter und die wichtigen Wendepunkte deines Schicksals diktierte, doch auch dies war eine Prüfung. Der Ta- Lama beobachtet jede Bewegung eines Novizen, wenn er ihm schwerwiegende Ereignisse seines späteren Lebens offenbart. Aus dem Gesichtsausdruck des Schülers liest der Hohepriester, ob seine Seele stark genug ist. Und jetzt höre mir zu. Nach dem Abendessen werdet ihr euch alle in eure Zellen zurückziehen und dort zwei Tage lang fasten. Während dieser Zeit darfst du nur beten und meditieren. Es ist dir sogar verboten, das Innere deiner Zelle zu untersuchen. Für ihn, der im Geiste lebt und sich nach innen wendet, darf die Außenwelt nicht mehr existieren. Achte darauf, denn während der Prüfungen wirst du möglicherweise plötzlich gefragt, wie hoch deine Zelle ist und wieviel Meter sie mißt, und wenn du diese Frage gut beantwortest, bist du durchgefallen. In zwei Tagen komme ich wieder." An diesem Abend speiste ich mit meinen Kameraden. Unser einfaches Mahl bestand aus Gerstenbrei, Ziegenkäse und Buttertee. Ich freute mich, daß alle ihre Prüfungen bestanden hatten, obwohl einer von ihnen nur auf Grund seiner körperlichen Stärke weitermachen durfte. Der Kharpon, der mit uns aß, befragte uns nach unseren Familienumständen, damit dies alles unter unseren Namen im dicken Buch des Klosters -86-
verzeichnet werden konnte. Ich verbrachte zwei Nächte und zwei Tage fastend in der Einsamkeit meiner Zelle. Von meinem früheren Meister hatte ich viel über die Nützlichkeit des überwachten Fastens gehört, denn darin zeigt sich die Herrschaft des Geistes über den Körper. Wann immer wir mit den höheren Mächten in Verbindung treten wollen, wird uns das Fasten guttun, da die Unterdrückung der Körperkräfte die Seele des Menschen auf die Astralebene hebt und sie hochempfindlich für Einflüsse der anderen Seite macht. Besonders bei Neumond oder Vollmond kann man nach einem Fastentag das Zweite Gesicht oder die Verbindung mit den Höheren Führern üben, doch stets nur unter der Aufsicht eines Lehrers. Denn das Fasten öffnet besonders dem Einfluß niederer Geister Tür und Tor, weshalb man ständig beten sollte, um den Versuchungen widerstehen zu können, die uns bei solchen Gelegenheiten mit fast unwiderstehlicher Kraft überrollen. Unser langes Fasten diente wahrscheinlich dem Zweck, Körper und Seele für die Prüfungen abzuhärten. Es mag seltsam klingen, wenn ich sage, daß ein bißchen Hunger vor großen körperlichen Anstrengungen gut tut, obwohl der gewöhnliche Mensch zuerst sein Mahl einnimmt, bevor er sich zu einer Tat entschließt. Wie die Soldaten aus Gyanak, wenn sie in den Krieg ziehen. Ich machte jedoch während unserer Karawanenreisen oft die Erfahrung, daß ich die langen Märsche - wenn wir wegen eines Schneesturms gezwungen waren, in den Zelten zu bleiben und uns die Nahrung ausging - nach ein paar Tagen des Fastens besser ertrug. Natürlich kam das Hungergefühl zum Zeitpunkt der Mahlzeit zurück, doch verging es rasch wieder. Das beste Mittel gegen Hunger ist, nicht an seinen Magen zu denken. Mir ging es zu meinem eigenen Erstaunen bei solchen Gelegenheiten so, daß ich viel weiter gehen konnte, als wenn ich meine Portion gegessen hatte. Vater Ram-Chen hatte mir außerdem gesagt, daß Fasten das -87-
Leben eines Menschen verlängert, da es die giftigen Substanzen aus seinem Körper entfernt. Deshalb litt ich nicht an diesen beiden Fastentagen. Meist versenkte ich mich tagsüber in tiefe Gebete, und nachts fiel ich in einen gesunden Schlaf. Am zweiten Tage träumte ich im Morgengrauen, daß ich in der sonnenhellen Tempelhalle stand und der Hohepriester mich gerade einweihte. Ich sah mich als glücklichen jungen Lama, der alle Prüfungen bestanden hatte. Als ich mich von meinem kalten Steinbett erhob, war ich sehr traurig, daß dies alles nur ein Traum gewesen war. Ich war nicht in der Stimmung zu einer ernsthaften Meditation. Deshalb ging ich tief atmend in meiner Zelle auf und ab, denn es war sehr kalt. Als ich mich der Tür näherte, sah ich plötzlich ein steinernes Becken und einen großen, mit Wasser gefüllten Krug nahe der Schwelle. Ich überlegte, wer diese Dinge wohl dorthin gestellt haben mochte, und zu welcher Zeit. Mir fielen nur die Dienstlamas ein. Ich steckte meinen Kopf in das kalte Wasser und fühlte mich augenblicklich so erfrischt, daß ich die Kälte nicht mehr so sehr spürte. In der dritten Stunde des Tages erschien Lhalu Lama in meiner Zellentür. „Mach dich bereit, Bruder! Deine zweite Prüfung naht! Folge mir und sammle Mut." Schweigend warf ich mein Gewand über und lief hinter ihm den dunklen Gang entlang. „Du mußt wachsam sein!" sagte er. „Der Ort, an den wir uns jetzt begeben, symbolisiert die Unterwelt. Ich bringe dich zur Felsenhöhle unterhalb des Klosters, doch dort muß ich dich verlassen. Eines darf ich dir offenbaren. Diesmal mußt du nicht gegen Verführungen, sondern gegen deinen eigenen Körper kämpfen, der alles in seiner Macht Stehende unternehmen wird, um Schmerz und Leid zu vermeiden. Denk dann an meine Worte und wähle immer den schwierigeren Weg. Jetzt gebe ich dir die Regel für diese Einweihung. Sie besteht aus nur fünf Geboten, doch diese werden dir bei allem helfen: Glaube! Sei -88-
weise! Sei mutig! Sei willensstark! Schweige! - Wiederhole das, Arau." „Glaube! Sei weise! Sei mutig! Sei willensstark! Schweige!" flüsterte ich. „Was bedeutet das, Vater?" „Es ist der Weg der Einweihung. Wenn du den pfeilschnellen Pfad wanderst und ein Leben voller Entsagungen führst, um die Geheimnisse des Göttlichen zu ergründen, mußt du zuerst einmal glauben. Nur durch unerschütterlichen Glauben wird dir die Weisheit des Himmels und damit ein greifbarer Beweis geschenkt. Vereint mit Weisheit kann dein Glaube den göttlichen Funken deines Geistes in Brand setzen. Derjenige, der glaubt, läßt sich durch nichts in der Welt schrecken. Denn in ihm lebt das sichere Wissen, daß dieses Schattenleben auf der Erde nur aus einer Reihe von Prüfungen und Anfechtungen besteht. Nichts geschieht gegen Gottes Willen, und das kann nur gut sein für den Menschen. Daher kennt ein Eingeweihter keine Angst und ist mutig. Mut ist andererseits gleichbedeutend mit dem Willen. Wenn du mutig bist, bist du beherzt und verfügst über Willenskraft. Hast du diese Ebene erreicht, dann wirst du denken, daß das letzte Gebot, das Gebot des Schweigens, am einfachsten zu befolgen ist. Doch hier versagen die meisten Eingeweihten." „Warum, Meister?" fragte ich erstaunt. „Ist es denn nicht am leichtesten, still zu sein? " „Das glaubst du nur. Weißt du, was Schweigen bedeutet? Es bedeutet nicht, wie du meinen könntest, Rückzug oder Einsamkeit im irdischen Sinne. Wenn du solche Kräfte besitzt, daß die Menschen dir huldigen würden, und diese vor ihnen verbirgst, wenn du die Botschaften von der anderen Seite und deine wunderbaren spirituellen Erfahrungen für dich behältst, dann bestehst du eine der schwersten Prüfungen dieser Welt, denn so wird dein Ehrgeiz vernichtet. Und wiederum - wenn du dein Wissen verschweigst, wenn du deine inneren Erfahrungen mit niemandem teilst außer deinem geistigen Führer - bist du -89-
dann besser als irgendein armer alter Nachbar aus deinem Dorf? Halte also die Fünf Gebote, dann wirst du dich von manchem Übel befreien." Er öffnete eine schwere Steintür und führte mich in ein dunkles Treppenhaus, welches nur hie und da von schwachen kleinen Lampen erhellt war. Wir stiege n langsam und vorsichtig zwischen tropfnassen Felsen immer tiefer hinab, und immer schwerer ging unser Atem. Die Stufen wanden sich in endlose Tiefen. Wir mußten uns mindestens zwanzig Meter unter dem Kloster befinden. Dieser enge Gang, in dessen zerklüfteten Boden grobe Stufen gehauen waren, schien offensichtlich der Weg zu einer unterirdischen Höhle zu sein. Nach der letzten Kurve verlosch auch noch der letzte Lichtschein, und immer noch kletterten wir einen Tunnel hinab, so niedrig und eng, daß wir gebückt gehen mußten, wobei unsere Schultern in tiefster Dunkelheit immer wieder gegen die Felswände stießen. Ich keuchte und fühlte mich plötzlich schwach, wagte aber nicht, meinen Führer anzusprechen. „Da sind wir", sagte Lhalu Lama, der auf der letzten Stufe unter mir stand. Ich blickte nach oben. Das schwache Licht der Öllampe flimmerte wie ein winziger Stern über mir. Ich hörte ein Quietschen, als ob sich ein Fels in einer Angel drehte, und spürte, daß mein Führer noch tiefer abwärtsstieg. „Ich habe eine Felstür geöffnet," sagte er. „Du wirst hindurchsteigen. Dann schließe ich die Öffnung wieder und gehe zurück. Das bedeutet, daß du nicht denselben Weg zurückgehen kannst. Geh jetzt, Arau, und mögen die Himmel deine Schritte lenken! Glaube! Und vertraue!" Ich tastete mich nach unten, um durch die Öffnung zu klettern. Zuerst stieß ich mir den Kopf an der geöffneten Felstür. Doch dann fand ich den Einstieg, bückte mich und kroch hindurch. Geräuschlos schloß sich die Felswand hinter mir. Das Loch war dunkel wie ein Grab. Ich versuchte, aufrecht zu stehen, stieß mir jedoch den Schädel an der Decke, die etwa -90-
einen Kopf niedriger war als mein Körper. Stolpernd wankte ich über den zerklüfteten Boden, der immer noch abwärts führte. Das Unangenehmste von allem war, daß ich nicht wußte, was mich erwartete. Was, wenn sich der Boden plötzlich vor mir auftat und ich in einen Abgrund stürzte oder einen unterirdischen See? Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, obwohl ich mir in diesem stockdunklen Tunnel eine Wasserprüfung kaum vorstellen konnte, denn hier gab es überhaupt keine Feuchtigkeit. Nicht einmal der Fels war naß! Die Decke wurde immer niedriger, so daß ich schließlich auf allen Vieren kriechen mußte. So zwängte ich mich vorsichtig und unter großen Schmerzen durch den kurvigen Tunnel, der so eng und niedrig wurde, daß es mir schien, als krieche ich in einem langen Sarg vorwärts, der nie ein Ende nehmen würde. Nach wenigen Schritten verengte er sich zu einer Röhre, durch die ich mich Zentimeter um Zentimeter, wie eine Schlange auf dem Bauche liegend, mit den Ellenbogen vorwärtsschob. Ich hatte keine Angst, doch mir schwante Schlimmes. Was, wenn ich den Weg in der Dunkelheit verfehlt hatte und in eine Sackgasse kroch? Nie würde ich es schaffen, rückwärts wieder hinaus zurobben… Jetzt steckte ich fest! Ich kam keinen Millimeter mehr vorwärts. Ich rief den Himmel um Hilfe an, biß die Zähne zusammen und preßte mich durch die enge Öffnung. „Sei mutig!" Lhalu Lamas Worte kamen mir in den Sinn. „Sei mutig und willensstark!" Erleichtert stellte ich fest, daß sich die dunkle Röhre wieder zu weiten schien. Ich konnte auf Händen und Knien kriechen. Plötzlich sah ich vor mir einen schwachen Lichtschein, und meine Kraft kehrte zurück. Der Weg wurde so geräumig, daß ich aufstehen und aufrecht gehen konnte. Ich lief ein paar Schritte vorwärts und atmete vor Freude tief durch. Auf einmal wurde mein Körper stocksteif. Ich erstarrte! Mein rechter Fuß tastete ins Leere. Der unterirdische Weg schien hier zu Ende zu sein… Von oben drang ein schwacher Lichtschein, so daß die Höhle -91-
im Halbdunkel lag. Mit beiden Armen klammerte ich mich an die rauhen Felswände und zog das Bein langsam wieder zurück. Meine Augen gewöhnten sich allmählich an das Licht, und ich sah mich um. Verblüfft erkannte ich, daß der Tunnel, durch den ich bis hierher gekommen war, an diesem Abgrund endete und auf der anderen Seite weiterführte. Rechts und links ragten glatte Felswände auf, nirgendwo war ein schmaler Vorsprung, über den ich hätte auf die andere Seite klettern können. Ich legte mich flach auf den Boden und spähte angestrengt in die Tiefe. Etwa zwei Meter unter mir sah ich glitzerndes Wasser. Ich hob den Kopf. Vielleicht konnte ich über den Abgrund springen? Doch bald erkannte ich, daß diese Hoffnung vergeblich war. Wenigstens vier Meter trennten mich vom gegenüberliegenden Rand. Und selbst wenn es mir gelänge, in das Wasser hinunterzuklettern - obwohl ich nirgends Vorsprünge oder Vertiefungen entdecken konnte wie sollte ich die gegenüberliegende glatte Felswand erklimmen, die sich mindestens zweieinhalb Meter über dem Wasser erhob, um den Weg auf der anderen Seite zu erreichen? Was war zu tun? Wenn ich ins Wasser sprang, mußte ich so lang im Kreis herumschwimmen, bis ich vor Erschöpfung ertrinken würde, denn es gab keine Möglichkeit, wieder herauszuge langen. Ich hatte mit Prüfungen gerechnet, doch dies hier ging über mein Verständnis. Ich spürte, daß ich schnell eine Lösung finden mußte, sonst würde mich die Verzweiflung überwältigen. So zermarterte ich mir voller Sorge das Hirn und wischte mir ab und zu den Schweiß von der Stirn. Plötzlich vernahm ich eine Stimme in mir, als habe ein ferner Schrei die Todesstille durchdrungen: „Vertraue! Vertraue! Sei mutig und handle!" Ich spähte angestrengt in die Dunkelheit, doch im nächsten Augenblick senkte sich die Stille wieder über mich, und meine Gedanken überschlugen sich. Ich hatte Vertrauen und auch genug Mut zum Handeln, doch das bedeutete den sicheren Tod… Was sollte ich tun? Ich versuchte, meinen Geist leer zu -92-
machen, um eine Eingebung zu empfangen. Warum hatte ich nicht schon früher daran gedacht? Schon schoß mir Vater RamChens Anweisung für solche Situationen durch den Kopf: „Wann immer du dich in Lebensgefahr befindest, Sohn, und keinen Ausweg siehst, zieh dich für kurze Zeit in dich selbst zurück. Bringe dich in einen Zustand tiefen Friedens und stiller Ruhe. Bitte Gott mit einem kurzen, starken Gebet um Hilfe, daß Er dir einen Ausweg zeigen möge. Warte eine Weile. Handle dann nach dem ersten Gedanken, der dir in den Sinn kommt." Genau das tat ich. Als ich mich beruhigt hatte, betete ich und wartete. „Zögere nicht, springe!" war mein erster Gedanke, und im nächsten Augenblick warf ich mich in Umhang und Sandalen über den Abgrund. Mit lautem Klatschen stürzte ich ins Wasser, doch dann staunte ich. Meine Füße ertasteten Grund, und als ich mich aufrichtete, reichte mir das Wasser kaum bis zur Brust. Sei mutig! Dies war also die Erprobung meines Mutes! Wie recht hatten doch der blauäugige Lama und Vater Ram-Chen, als sie sagten, daß wir selbst in der gefährlichsten Situation ohne nachzudenken handeln müssen, wenn uns die Pflicht ruft. Meine Angst war größer gewesen als die tatsächliche Gefahr. Ich kämpfte mich so schnell wie möglich durch das kalte Wasser, erreichte die andere Seite - und verlor den Mut. Ich sah keine Vorsprünge in der glatten Felswand, an die ich mich hätte klammern können. Das heißt, ich sah schon welche, doch die befanden sich gut einen Meter über meinem Kopf. So sehr ich mich auch bemühte, schaffte ich es doch nicht, aus dem Wasser heraus so hoch zu springen. Wieder nahten die Gespenster der Verzweiflung, doch ich nahm alle Kraft zusammen, und es gelang mir, sie zu vertreiben. Ich entschloß mich, nicht mehr nachzudenken, sondern den Eingebungen meines Instinktes zu folgen. Langsam tastete ich mich an der steilen Felswand entlang und suchte nach Vorsprüngen. Dreimal hatte ich es vergeblich versucht - da kam mir plötzlich eine Idee: Ich tauchte meinen Arm ins Wasser, befühlte den schlüpfrigen Felsen und -93-
fand augenblicklich eine Vertiefung, die sich in gerader Linie mit den oberen Vorsprüngen befand. Über diese Entdeckung freute ich mich so sehr, daß ich keine Zeit verlor, meinen Fuß in die Vertiefung setzte und mich nach oben schnellte, um den oberen Vorsprung zu erreichen. Ich hatte es jedoch so eilig gehabt, aus dem Wasser herauszukommen, daß meine Hand ins Leere griff und ich mit lautem Klatschen rückwärts ins Wasser stürzte. Wasser spuckend rappelte ich mich wieder auf die Füße, doch alle Kräfte hatten mich verlassen, so daß ich eine kurze Verschnaufpause einlegte. Dann riß ich mich zusammen und versuchte mich ein zweites Mal an der schwierigen Aufgabe. Diesmal gelang es mir sofort. Ich ergriff den Vorsprung mit beiden Händen und zog mich daran hoch. Wenn ich jetzt nicht einen weiteren, höher gelegenen Halt für meine Füße fand, würde ich sicher wieder ins Wasser fallen, denn so stark ich auch war, konnte ich mich unmöglich nur an den Händen hängend weiter hinaufziehen. Da erblickte ich plötzlich einen halben Meter über mir eine weitere Vertiefung im Felsen. In dieser unmöglichen Lage zwischen dem Wasser und dem neuen Tunnel verstand ich plötzlich alles. Ich sah, daß die neue Röhre nicht natürlich, sondern von Menschenhand in den Stein gehauen war. Das Wasser stellte den Mut des Novizen auf die Probe, außerdem die Stärke und Ausdauer seiner Arme. Ein Jugendlicher mit schwächlichem Körper wäre nie so weit gekommen. Ich hing immer noch an der linken Hand, griff mit der Rechten nach oben und krallte mich in die neue Vertiefung. Dann griff ich mit der Linken ebenfalls hinauf und schaffte es leicht, mich ganz hochzuziehen. Für meine Füße fand ich auf den tiefergelegenen Vorsprüngen Halt. Im nächsten Augenblick schob ich mich keuchend über die Kante. Eine Weile ruhte ich aus und dankte dem Himmel für seine Hilfe. Doch lag ich nicht lange untätig auf dem Boden, stand auf und begab mich in den neuen Höhlenweg. Hier herrschte wieder Dunkelheit, doch ich mußte wenigstens nicht kriechen oder -94-
robben, sondern tastete mich aufrecht vorwärts. Nach langer Zeit schien es heller zu werden. Eine letzte Kurve, und ich stand in einer großen Höhle, die von einer Bronzelampe erhellt wurde. Als ob er mich erwartet hätte, trat ein alter Lama auf mich zu. „Ich freue mich, daß du es bis hie rher geschafft hast", sagte er mit tiefer, klangvoller Stimme. „Doch dies war nur der erste Teil der Wasserprüfung. Möchtest du dich ausruhen, oder hast du andere Wünsche?" Ich dachte an das Gebot des Schweigens und schüttelte nur den Kopf. Der Lama winkte mich zu sich. „Lege deine Kleider ab, Gegnien. Die nächste Höhle darfst du nur nackt betreten. Dort erwartet dich die eigentliche Prüfung. Du wirst gleichzeitig schwitzen und frieren. Und denke an meine Worte: Gehe immer in den Teil der Höhle, in dem du dich am unbehaglichsten fühlst, dorthin, wo du leidest. Ich sage dir nicht, was du zu tun hast, denn das mußt du allein herausfinden. Wenn du immer das tust, wogegen sich dein Körper sträubt, und wenn du stets wachsam bist, wirst du die Probe bestehen. Geh jetzt und wappne dich!" Er drückte gegen einen schweren Hebel in der Wand, worauf ein riesiger Felsbrocken, der den Weg versperrt hatte, kreischend zur Seite glitt, und ich ging wieder in die Dunkelheit hinein. Ein kalter Schauder rann mir das Rückgrat hinunter, als ich hörte, wie der Felsbrocken hinter mir mit einem Knall zuschlug. Ich konnte nicht weiter als fünf Schritte vorwärtsgestolpert sein, als meine ausgestreckte Hand gegen eine nachgiebige, weiche und doch harte Wand stieß. Ich befühlte sie mit me inen Fingerspitzen und erkannte bald, daß es sich um einen dicken Ledervorhang handelte. Ich fand die Öffnung, schlüpfte hindurch und traf auf einen weiteren Vorhang. Ich erwartete, ein neues Wasserloch oder einen Abgrund vorzufinden, doch als es mir gelungen war, auch den zweiten Vorhang beiseitezuschieben, schlug mir statt dessen eine fürchterliche Hitze entgegen. Ich stolperte in eine riesige -95-
Höhle, in deren Halbdunkel spiralige Dampfwolken zischten und die Luft mit heißem Qualm erfüllten. Die Ziegel, die den Boden hier bedeckten, brannten auf meinen nackten Fußsohlen. Nach dem schwachen Lichtschein zu urteilen, mußten irgendwo oben ein oder zwei Öllampen stehen, doch diese vermochten den dichten Nebel kaum zu durchdringen. Keuchend tat ich ein paar unsichere Schritte nach vorn. Mir war, als sei ich in der Unterwelt. Der heiße Dampf biß und versengte meine Haut und ich machte unwillkürlich einen Satz nach links, wo die Luft klarer zu sein schien, denn seltsamerweise verteilte sich der Dampf nicht gleichmäßig in der Höhle. Auf der rechten Seite war er undurchdringlich dicht, während er hier, wo ich stand, erträglicher schien. Plötzlich schossen mir die Worte des alten Lamas durch den Sinn, immer das zu tun, was mir nicht gefiel und wogegen sich mein Körper sträubte. Nun gab es nichts, was meinem Körper mehr mißfiel, als sich dem dichten, dampfenden Qualm zu nähern. Doch ich hatte mich schon entschlossen und sprang mit gesenktem Kopf genau dorthin, wo mir der Dampf am undurchdringlichsten schien. Es war wie in der Hölle, dem furchtbarsten Ort der Unterwelt! Der Dampf verbrannte meine Haut so schlimm, daß ich glaubte, bei lebendigem Leibe gekocht zu werden. Ich tanzte von einem Fuß auf den anderen, denn die Ziegel versengten meine Sohlen, und focht einen verzweifelten Kampf gegen meine Fluchtgedanken. Doch wie lange sollte ich ausharren? Das war die Frage! Wie lange mußte ich hier leiden? Das hatte der Lama nicht gesagt. Ich hatte kaltes Wasser erwartet und war ins Feuer geraten, obwohl der Dampf hier natürlich in Wirklichkeit auch Wasser war, nur eben in seinem gasförmigen Zustand. Wie sollte ich hier meinen Geist leer machen und mich konzentrieren? Für solch eine Lage kannte ich keine Regel. Doch plötzlich stieg das Bild meines alten Meisters vor mir auf, und mir fiel eine bestimmte Begebenheit ein. Als er bemerkt hatte, daß ich durch die anstrengenden Sitzübungen fast -96-
zusammengebrochen war, hatte er mich gerügt. Er verlangte von mir, daß ich mit unter mir gekreuzten Beinen oft viele Stunden lang auf dem Felsboden saß, bis meine Knie völlig taub waren. Doch das Schlimmste bei dieser Übung bestand darin, daß ich auf ein bestimmtes Zeichen hin augenblicklich aufspringen mußte. Wenn gekreuzte Beine erst einmal taub geworden sind, dann verursachen sie große Schmerzen, selbst wenn man langsam aufsteht. Doch aufspringen? Nach der ersten Springübung war ich auf dem Boden zusammengebrochen. Daraufhin hatte mir Ram-Chen Lama gesagt: „Wenn du in Schwierigkeiten bist, mein Sohn, und dich die Wellen des Schmerzes zu Boden zwingen, dann kannst du nur eines tun: Beiß die Zähne zusammen und ertrage es oder sterbe lieber, als gegen moralische Regeln zu verstoßen und davonzukommen. Wenn du dich beherrschen kannst und alles erträgst, wird dein Leiden plötzlich abnehmen, und du wirst augenblicklich Erleichterung spüren." Mir blieb gar nichts anderes übrig. Ich biß die Zähne zusammen und richtete mich nach dem Gebot meines einstigen Lehrers und nach dem des alten Lamas, der mir empfohlen hatte, mich stets in dem Teil der Höhle aufzuhalten, in dem es mir am wenigsten gefiel, und so ertrug ich weiterhin die schlimmen Schmerzen. Mein Körper war krebsrot, und ich vermochte kaum zu atmen, und dennoch widerstand ich dem verzweifelten Drang, in die hintere Ecke zu flüchten, in der die Luft klarer war. „Sie können sowieso nicht überprüfen", wisperte ein Teil meiner selbst, „in welchem Teil der Höhle du stehst. Warum sollst du in der Hitze leiden?" Doch ich überwand diese Versuchung, denn blitzartig wurde mir klar, daß ich gegen mein Gewissen hand eln würde, befolgte ich das Gebot nicht ganz genau. „Novize!" ertönte plötzlich eine Stimme hinter dem Qualm. Mit einem Satz sprang ich aus der Hitze in die linke Ecke der Höhle, wo zu meiner großen Überraschung mein Hoherpriester -97-
und der alte Lama auf mich warteten. Beide trugen dünne weiße Gewänder. Der Große Lama stand vor einem großen hölzernen mit Wasser gefüllten Bottich, über den er beide Arme streckte. Als ich zu ihm trat, betete er, ohne mich anzusehen: „Die Macht verließ den Menschen und kehrte in die Himmel zurück, denn er war ihrer nicht mehr würdig. Er kann nicht vom Ertrag seiner Felder leben, wenn das Wasser der Himmel die Pflanzen nicht erfrischt. Dies Wasser benötigt auch die Seele des Menschen. Aus diesem Grunde bitte ich dich, Allmächtige Weisheit, spende uns einen Tropfen deiner selbst und gib, daß dies Wasser, welches ich in deinem Namen heilige, nun auch jenem diene, der zur Prüfung darin untertaucht." Mit diesen Worten blickte er mich an, drehte sich um und verließ die Höhle. Der alte Lama kam zu mir und deutete auf den Bottich. „Siehe, dies ist das Wasser des ewigen Lebens. Tauche darin unter, oh Novize! Dies Wasser ist Symbol für deine Fähigkeit, dich der Erde zu entziehen, denn von nun an darf nicht ein einziges Stäubchen an dir haften. Verlasse dieses Wasser, ohne daß ein Tropfen deine Haut netzt. Dies ist eine Prüfung deiner Willenskraft. Hast du wirklich an der Stelle des heißestens Dampfes ausgehalten? Wenn er nicht in all deine Poren gedrungen ist, wirst du dieses Wasser nicht mit trockener Haut verlassen können. Ich warne dich! In diesem Fall würdest du deine Willenskraft umsonst bemühen, du würdest trotzdem nicht bestehen!" Erst jetzt dämmerte mir die Bedeutung dieser neuen Prüfung. Ich kümmerte mich nicht mehr darum, daß mein Körper von der Hitze nahezu gekocht schien, obwohl mir nicht klar war, wie ich mit trockener Haut aus dem Wasser steigen sollte. Ich kletterte hinein und versank bis zum Hals in Eiseskälte. „Du mußt so lange darin bleiben", sagte der Lama, „bis du das Gebet der Reinigung laut gesprochen hast. Konzentriere dich -98-
danach auf Feuer und leere deinen Geist. Steige daraufhin ganz langsam aus dem Wasser." „Wieder eine Prüfung", dachte ich zitternd. Da wir hier noch keine Gebete gelernt hatten, würde jeder Schüler Scha nde über seinen Meister bringen, wenn er ihn die wichtigsten Gebete nicht gelehrt hatte. Mein Instinkt sagte mir, daß das Geheimnis, mit trockener Haut aus dem Bottich zu steigen, mit der Zeit zusammenhängen mußte, die man für die Rezitation des besagten Gebetes brauchte. Ich mußte mich nicht lange besinnen, schon sprach ich leise die Sätze, die mich Ram-Chen Lama gelehrt hatte: „Heilige Weisheit! Reinige Du meine Seele vom Unrat der Sinne und meinen Körper von allem irdischen Schmutz, der an ihm haften mag. Bade mich im Wasser des ewigen Lebens, auf daß meine schweren, verschmutzten Flügel wieder frei werden und ich mich in himmlische Höhen schwingen kann, wo du auf deinem Thron sitzest. Verlängere meine kurzen Flügel, welche die Vielzahl meiner Sünden stutzten. Lange bin ich wie ein Vogel mit erschlafften Schwingen auf dieser Erde umhergezogen. Ihre herrlichen Farben lockten mich aus schwindelnder Höhe hinab, obwohl ich hätte wissen müssen, daß dies meinem Geiste nicht entspricht! So fiel ich, verwandelte mich vom Zugvogel in den gefallenen Adler, und als der Schmutz der Erde mich festhielt, vermochte ich nicht mehr aufzusteigen und mit meinen Brüdern zu schweben. Herr, hab Mitleid mit mir! Vergib mir meine Sünden, damit ich zu dir fliegen kann. Offenbare mir den glücklichen Weg meiner Brüder, die schon beim Nest der Ahnen angekommen sind, welches ich einst in blinder Betörung verließ. Reinige deinen gefangenen Vogel vom Unrat der Welt, wasche sanft seine Federn und bade seine Schwingen im Wasser des ewigen Lebens, auf daß sie rasch trocknen und er - schnell wie ein Pfeil - in dein himmlisches Reich fliegen kann. Heilige Weisheit, Herr über alle Nester und liebevoller Führer der Zugvögel, -99-
suche deinen verlorenen Adler und mache seine Schwingen wieder leicht und stark. Ich glaube an dich!" Nach den letzten Worten, mit welchen wir jedes Gebet beenden, versuchte ich mich aus dem Wasser zu erheben, doch ich war so schwach, daß ich mich mit beiden Händen am Rande des Bottichs festklammern mußte. Nach den Anweisungen des alten Lamas konzentrierte ich mich auf flammendes Feuer und stellte mir lebhaft vor, daß ich immer noch in den Dampfwolken stünde, aus denen hohe Flammen loderten. Dann machte ich meinen Geist leer und stand langsam auf. Erstaunt sah ich, daß nur ein oder zwei Wassertropfen auf meinen Armen glitzerten. Langsam hiefte ich mich über den Rand und sprang auf die Füße. Ich schüttelte mich, worauf auch die letzten Tropfen zu Boden fielen. All dies nahm ich höchst erstaunt zur Kenntnis. Der Lama trat zu mir und untersuchte mich. Er strich über meine Arme und Beine. Dann lächelte er und bedeutete mir, ihm zu folgen. „Mögen die Himmel dir auch weiterhin beistehen, mein Kind! Ich sehe, daß du einen fähigen Meister hattest und daß du dich auf diese Prüfungen gut vorbereitet hast. Die Kraft des Geistes steht über allem! Vergiß das nie. Du kannst alles erreichen, wenn deine Geisteskraft die Kraft deines Körpers übertrifft. Fühlst du dich schwach?" Ich hätte am liebsten geschrien, daß ich völlig am Ende sei, denn alles um mich drehte sich, doch ich schwieg und schüttelte nur den Kopf. Ich atmete lang und tief, um zu mir zu kommen. „In Ordnung, mein Kind", sagte der Lama und zog die ledernen Bahnen des dicken Vorhanges, welcher den hinteren Teil der Höhle verschloß, beiseite. „Ich sehe, daß du stark bist und das Gebot des Schweigens nicht gebrochen hast. Komm hier herein, dein Führer erwartet dich bereits. Mit ihm kannst du frei reden, denn das Verbot gilt nur bei Fremden. Geh jetzt, Sohn, und bete, daß deine Gefährten so stark wie du sein mögen -100-
und die Wasserprüfung bestehen." Ich schlüpfte durch den schweren Vorhang, der von den Dämpfen ganz glitschig war, und fand mich in einem kleinen viereckigen Vorzimmer. Dort stand Lhalu Lama und kam auf mich zu. Er hatte mein Hemd und meinen braunen Umhang über dem Arm. Als ich eintrat, reichte er mir die Kleidungsstücke. „Wie hat dir der Dampf gefallen, Arau?" fragte er lächelnd. „Ich freue mich, daß du mit dem Wasser zurechtgekommen bist. Setze dich jetzt neben mich auf den Strohteppich und ruhe dich aus. Ich werde dich inzwischen über die praktischen Vorteile der Wasserprüfung aufklären. Wie du vielleicht herausgefunden hast, symbolisiert sie die erste körperliche Erprobung, die ein Sterblicher bestehen muß, wenn er sich entscheidet, dem pfeilschnellen Pfad zu folgen. Denn wisse, mein Freund, daß die Kräfte der Unterwelt sich gegen den sammeln, der die Wege Gottes geht, und ihn während einer gewissen Zeit heftig angreifen. Gleichzeitig wird der Glaube geprüft, denn wenn der Schüler die Mysterien der anderen Welt nur ungenügend kennt, mag sein Glaube erschüttert werden, wenn er erlebt, daß Gott ihm allerlei Leiden auferlegt, die er nicht erwartet, da er doch jetzt dem rechten Weg folgt. Welch Fehler, so zu denken, mein Freund! Gott verletzt niemanden und ganz gewiß nicht seine Diener, die schon ausgezogen sind, um ihm zu begegnen. Wenn der Novize den Versuchern mit starker Willenskraft widersteht, wenn er alle Anfechtungen erträgt und durch seinen Glauben beweist, daß er seinem höchsten Führer vertraut, dann hören die Besuche plötzlich auf, und er wird nie mehr belästigt. Sie hängen sich nur dann an ihn, wenn sein Glaube erschüttert ist und er zu zweifeln beginnt. Der Schüler sieht voll Zuversicht in seine Zukunft, doch plötzlich gela ngt er an ein enges Treppenhaus, das in die Tiefe führt. Er weiß genau, daß er hinunter in die Unterwelt steigen muß, wo harte Prüfungen seiner harren. Doch das Gebot der Einweihung treibt ihn an, und der Schüler weiß, daß Gehorsam die erste Regel ist. Der Gang -101-
wird immer enger, bis er zu einer Röhre wird, durch den sich der Schüler kaum noch zu zwängen vermag. Dies ist ein Symbol für die erste körperliche Erprobung, nachdem sich der Novize auf den mystischen Pfad begeben hat. Wenn es ihm gelingt, sich kraft seines Willens und seiner Ausdauer aus dieser Falle zu befreien, dann erhält er eine kurze Verschnaufpause. Danach folgt die Wasserprobe, die ebenso unerwartet kommt wie die Prüfungen des Lebens, die sie symbolisiert. Der Schüler erwartet im Zusammenhang mit Wasser alle Arten von Überraschungen: Er glaubt immer noch, er müsse ertrinken, unter Wasser tauchen und so weiter. Die unerwartete Prüfung ist der heiße Dampf, der aus Wasser besteht und doch brennt. So bereitet sich der zukünftige Eingeweihte auf die unerwarteten Prüfungen des Lebens vor. Nur selten geschieht das, was wir erwarten, obwohl wir die Art der Gefahr kennen. Doch wenn wir der Stimme unseres Gewissens und den Worten unseres Lehrers folgen und alle Prüfungen demütig ertragen, werden wir ihnen in kürzester Zeit entkommen. Denke an den Nutzen, den dir deine Ausdauer eingebracht hat, stets am heißesten Ort der Höhle zu bleiben! Du hast das Gebot wirklich befolgt und bist nicht geflohen. Nur so konnten die heißen Dämpfe die Poren deiner Haut reinigen und alle Unreinheiten aus deinem Körper ziehen. Und siehe, nur wenige Tropfen netzten deine Haut! Der Dampf und das Wasser symbolisieren zwei Dinge: die Hitze der unerwarteten Prüfungen, welche die sinnliche Schlacke aus unserer Seele lösen. Das Bad, welches Wasser des ewigen Lebens genannt wird, wird dich danach reinigen und deine Flügel leichter machen. Doch all dies hat noch einen guten praktischen Nutzen, den du noch nicht einmal ahnst." „Ich weiß nicht…" „Du siehst den praktischen Vorteil nicht? Obwohl dich der Hohepriester noch nicht eingeweiht hat, sage ich dir, daß sich selbst die Eingeweihten jede Woche einmal der Wasserprüfung unterziehen, da der Dampf, der aus geheimen kochenden -102-
Kräutern gewonnen wird, den Körper abhärtet und jung hält. Zusammen mit Atemübungen und Selbstkontrolle trägt er zum großen Teil dazu bei, daß das Leben eines Lamas doppelt so lang währen kann wie das eines normalen Sterblichen." „Eines verstehe ich noch nicht", sagte ich und wandte mich ihm zu. „Du sagtest, daß die Prüfungen rasch aufhören würden, wenn man dem Drang, ihnen zu entfliehen, nicht nachgibt." „Hier sind große unsichtbare Gesetze im Interesse desjenigen am Werk, der die ganze Last der Prüfung klaglos auf sich nimmt. Denke an deine eigene Erfahrung! Als du die Wasserprüfung demütig auf dich nahmst, erlöste dich da nicht der Ruf deines Lamabruders augenblicklich von den Schmerzen? Dasselbe geschieht auch bei den Prüfungen dieser Erde. Wenn du dich plötzlich einem unüberwindlich hohen Hindernis aus Felsen gegenübersiehst und weder nach links noch nach rechts schaust und dich nicht bemühst, bequem darum herumzukommen, dann bemerkst du plötzlich, daß unsichtbare Hände das Hindernis hinwegzuräumen beginnen. Hast du jetzt begriffen, Arau? Jeder Tag deines Lebens ist eine Prüfung. Die hohen Mächte geben dir kleinere oder größere Aufgaben, und sie alle haben nur ein Ziel: deinen Glauben zu prüfen. Doch jetzt folge mir zurück in deine Zelle, denn du mußt dich hinlegen und ausruhen." Wir stiegen eine steile, rauh in den Fels gehauene Treppe empor, die derjenigen ähnelte, die wir hinuntergestiegen waren; sie war jedoch viel breiter als jene. Als wir zu ebener Erde angekommen waren, führte mich Lhalu Lama in meine Zelle. Er fragte mich, ob ich eine Decke besäße, und als ich diejenige hervorzog, die mir Vater Ram-Chen geschenkt hatte, hieß er mich aufs Bett legen und deckte mich sorgfältig zu. „Ruhe jetzt, Arau! Du solltest heute jedoch nichts essen. Kannst du noch weiter fasten? " „Heute morgen war ich sehr hungrig", gab ich zu, „doch seit -103-
dem Dampfbad fühle ich mich nicht mehr nach Essen. Ich bin einfach sehr schwach." „Denke nicht darüber nach. Liege ruhig, bete und meditiere. Schlafe heute früh, denn du wirst einer weiteren Prüfung unterzogen, welche ich dir aber nicht offenbaren darf noch werde ich dir sagen, wann oder wie du sie bestehen mußt. Sei also wachsam und überlasse alles deiner inneren Eingebung. Verstehst du? Laß dich von deiner inneren Stimme führen! Vergiß das nicht, dann wird dir mein Rat wieder nützen. Und jetzt mögen die Himmel mit dir sein und die ewige Weisheit deinen Geist erleuchten." Mit diesen Worten verließ er mich, und ich streckte meinen gequälten Körper wohlig auf dem harten Lager aus. Seltsamerweise spürte ich kein Brennen mehr. Statt dessen war ich erleichtert und froh, endlich ausruhen zu dürfen. Ich betete und meditierte, doch nicht sehr lange, da mich der Schlaf bald überwältigte. Es war erst früher Nachmittag, doch ich war so erschöpft, daß ich nicht weiß, wann ich in tiefen, traumlosen Schlaf versank.
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Kapitel 5 Ein leises Geräusch weckte mich, doch ich drehte mich auf die andere Seite, da ich glaubte, geträumt zu haben. Doch dann hörte ich dieses Geräusch wieder, diesmal noch deutlicher. Es klang, als schabe jemand mit einem Stein über den Boden. Ich öffnete die Augen und sah mich um. In meiner Zelle war es stockdunkel, nur durch das obere Fenster fiel etwas Mondlicht. In meiner ersten Nacht hier hatte ich den Lauf des Mondes sorgfältig beobachtet, daher wußte ich, daß Mitternacht lange vorüber sein mußte. Ich starrte auf die gegenüberliegende graue Wand, denn von dort war das leise Geräusch gekommen. Im nächsten Augenblick war ich wie vom Donner gerührt! Die glatte Wand begann sich zu bewegen, besser gesagt, sie begann zu zittern, als sei sie aus Stoff, und jemand betrat meine Zelle. Ich setzte mich auf und starrte auf die Erscheinung, die jetzt ins Mondlicht trat. Es war die Gestalt einer großen Frau, viel größer als meine Mutter, deren schönes, statuenhaftes Antlitz ihr Alter nicht verriet. Sie trug einen langen weißen Mantel, ihren Kopf umkränzten Lorbeerzweige, und in ihren Händen hielt sie eine steinerne Tafel. Ich rieb mir die Augen, denn ich glaubte immer noch zu träumen. In diesem Augenblick zog der Mond, der nur den Kopf der erhabenen Frau beschienen hatte, weiter, und die Dunkelheit verbarg mir weitere Einzelheiten. Wer konnte sie sein? Vielleicht die Priesterin? Ich hatte schon eine Menge über diese geheimnisvolle Priesterin, die Itchka, gehört, die den gleichen Rang wie der Hohepriester bekleidete. Doch war es möglich, daß sie zu einem einfachen Novizen ins Zimmer kam? Ich hatte mich kaum von meiner Überraschung erholt, als die Wand wieder zu zittern begann und rechts und links neben der Priesterin die Köpfe zweier Frauen auftauchten. Auc h ihre Gestalten verschmolzen mit dem Dunkel des Hintergrundes. Ich -105-
konnte nur erkennen, daß sie etwas in den Händen hielten, doch war ich so verblüfft und geschwächt, daß ich nichts Genaues zu sehen vermochte. Die Köpfe der drei Frauen tanzten wie Gespens ter vor mir auf und ab, und doch wußte ich, daß das, was ich sah, Wirklichkeit war, denn die beiden waren die schönsten Mädchen, die ich je gesehen hatte. Die linke gefiel mir am besten. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, so daß ich ihre Umrisse erkennen konnte. Ihr schlanker Hals und die Schultern waren nackt, die Brüste von einem goldenen Mantel bedeckt, welcher jedoch so durchsichtig war, daß er die Linien ihres vollkommenen Körpers durchscheinen ließ. Das Ganze war wahrlich merkwürdig. Die anderen beiden Frauen bemerkte ich kaum. Je mehr ich mich auf dieses wunderschöne Mädchen konzentrierte, um so deutlicher sah ich seine verlockende Figur. Es hielt einen rechteckigen Gegenstand in den Händen, so wie seine Begleiterin zur Rechten, die einen bodenlangen schwarzen Mantel trug und mich traurig anblickte. Ein unerklärlicher Reiz ging von ihrem Gesicht aus, doch gleichzeitig schien sie am Boden zerstört zu sein. All dies nahm ich in einem einzigen Moment wahr, denn es konnten nur wenige Augenblicke verstrichen sein, seit sie meine Zelle betreten hatten. Waren sie durch die Wand gegangen? Denn daß sie nicht durch die Tür gekommen waren, dessen war ich mir sicher. „Schüler!" hörte ich die Stimme der Priesterin, die sanft und geheimnisvoll klang. „Als Belohnung für deine bestandenen Prüfungen machen dir die Himmel ein Geschenk. Du darfst zwischen diesen beiden Mädchen wählen. Siehe!" Ihr goldenes Armband glänzte im Mondlicht, als sie auf ihre Begleiterin zur Linken deutete. „Diese ist so schön wie eine anmutige Blume, und, wie du siehst, ist ihr Körper vollkommen. Sie lächelt dir freundlich zu. Die andere, die den schwarzen Mantel trägt, ist ebenso schön, nur daß sie ernster ist. Beide möchten sich -106-
während deines Fastens um dich kümmern, um dich für die erlittenen Schmerzen zu entschädigen. Doch da alle Dinge dieser Welt Symbolcharakter haben, halten beide, genau wie ich, ihre Zeichen in den Händen. Du kannst sie nicht sehen, dazu ist es zu dunkel, doch das sollte dich nicht stören. Verlasse dich ganz auf deine Instinkte, deine Eingebungen. Also, welche von beiden wählst du? Das Mädchen zur Rechten oder das zur Linken?" Ich ließ mich auf mein Bett zurückfallen und fühlte mich plötzlich sehr schwach. Mein Atem ging schwer, denn mein Herz sagte mir, daß hier etwas nicht stimmen konnte. Hatte ich Geschenke zu erwarten, nur weil ich zwei Prüfungen bestanden hatte? Doch warum diese beiden schönen Mädchen? Warum sollten sie sich ausgerechnet um mich, einen Novizen, kümmern? Hatte ich mich nicht für den Weg der Selbstverleugnung und der Entsagung entschieden? Oder war es am Ende doch nicht so? Ich wußte nichts über das Klosterleben. „Und was wäre, wenn ich keine der beiden wählte?" überlegte ich. Doch nein, die Priesterin hatte mir ausdrücklich befohlen, mich zu entscheiden. Diese Prüfung übertraf an Schwierigkeit sogar die Wasserprüfung. Was hatte mir mein Meister für solche Situationen geraten? „Entscheide dich immer für die schwierigere von zwei Möglichkeiten!" Doch wie sollte ich das in diesem Falle wissen, wo ich vor lauter Verwirrung am liebsten gar nicht gewählt hätte? Ich hatte schon bemerkt, daß es sich auch hier um eine Prüfung handelte, wobei mir schien, ich täte am besten, wenn ich gar nicht wählte. Der Befehl hieß mich jedoch merkwürdigerweise, mich für eines der beiden Mädchen zu entscheiden! In meiner Verzweiflung legte ich mich mit dem Gesicht nach unten auf mein Bett und begann flüsternd zu beten: „O, Vater der Weisheit! Ich stehe an einem Wendepunkt meines Lebens. Du zeigst mir zwei Wege, und ich weiß nicht, welcher der richtige ist. Mein Geist ist noch nicht fein und spürsam, und so weiß ich nicht wirklich, ob der göttliche Funke, -107-
dein Denken, welches in meinem Geiste wohnt, die Entscheidung trifft, denn der Unterschied zwischen Gut und Böse ist nicht deutlich. Lehre mich, dem rechten Pfad zu folgen, selbst wenn mein Verstand die Wahl nicht gutheißen mag. Lehre mich, mit dem Herzen zu sehen, mit der Seele zu hören und mit dem Geist zu fühlen, denn dann werde ich nie enttäuscht. Ich glaube an dich!" „Schau mich an, Schüler!" sagte die Priesterin, worauf ich mich rasch zu ihr drehte. „Du hast meine Eingebung gut aufgenommen und den ersten Teil der Prüfung bestanden. Schau!" Damit hielt sie die lange Tafel ins Mondlicht, welche ich völlig verzaubert anstarrte. In den Stein gegraben war der Text des Gebetes um Erleuchtung, das ich in meinem Dilemma gerade gesprochen hatte. „Glücklich ist jener, der vor einer schweren Entscheidung die Heilige Weisheit um Hilfe bittet", rief die Priesterin mit klangvoller Stimme. „Und jetzt, da du erleuchtet bist, wähle!" Ich war vollkommen ruhig. Alle Zweifel waren verschwunden. Ich dachte nicht weiter nach, hob instinktiv die Hand und deutete auf das schwarzgewandete Mädchen zur Rechten. „Warum hast du sie gewählt?" fragte die Priesterin. „Weil mich die Farbe ihres Gewandes an die Dunkelheit des Grabes erinnert", antwortete ich. „Es ist schwarz wie die ewige Nacht im Augenblick des Chikai Bardo, bevor das erste Licht aufflammt. Es erinnert mich an den Tod und nicht an die Freuden dieser Welt. Wenn ich also wählen muß, dann diese!" Die Priesterin machte eine Handbewegung, worauf das Mädchen mit dem traurigen Gesicht seinen Gegenstand ins Licht hielt: Es war ein aus einem Stein gemeißeltes kleines Grab. „Siehe, das Zeic hen von Tod und Wiedergeburt!" sagte die Priesterin. „Du hast das Grab gewählt und nicht die Freuden." -108-
Sie winkte ihrer Begleiterin mit dem lächelnden Gesicht, welche jetzt ihr Zeichen hochhielt: die Statue einer nackten Frau, die ich noch nie zuvor gesehe n hatte. „Siehe das Zeichen der irdischen Freuden und des Lebens", erklärte die Jungfrau. „Du kennst sie nicht noch wirst du sie je kennenlernen. Diese Statue stellt die chaldäische Göttin Ishtar dar. Denn wisse, daß der Mann, der den pfeilschnellen Pfad wählt, die fleischlichen Genüsse meiden muß, da sie nur dem Körper schmeicheln. Da du dich richtig entschieden hast, werde ich dich als Belohnung jene Lektion lehren, die bei der Prüfung der Priesterin erteilt wird. In jedem Manne wohnt eine heilige Schlange, die Sinnlichkeit genannt wird. Die heilige Schlange belebt den Körper. In den ersten Lebensjahren schläft sie, doch je älter der Mann wird, um so leichter wird der Schlaf der Schlange. Ist er erwachsen, erwacht sie, und dann beginnt der Kampf, wer den Mann besitzen wird. Meist ist er sehr kurz, denn der Mann unterwirft sich willig dem Befehl der Schlange. Doch im Falle desjenigen, der bereits dem Wege Gottes folgt, ist der Kampf heftig und hart, denn es gibt keinen verschlageneren und mächtigeren Feind als die heilige Schlange, und selbst der Sieger fällt hundert Male, bevor er den endgültigen Sieg erringt. Trotzdem lohnt es sich zu kämpfen, denn der Lohn des Sieges ist die Versklavung der Schlange und die Inbesitznahme all ihrer Schätze. Dem Manne, der diese Schätze sein eigen nennt, blühen die Blumen auf allen Existenzebenen. Der irdische Horizont verblaßt, und die Führer der himmlischen Ränge öffnen ihm die Tore seiner wahren Heimat. Wirklich glücklich aber ist jener Mann, der die Schlange zwingen kann, sich in den Schwanz zu beißen. Einem solchen Manne öffnen sich die Tore des Wissens, und er entkommt dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt. Wenn du in jungen Jahren damit beginnst, die heilige Schlange zu versklaven, wird sie dir dienen und dir all ihre Schätze übergeben. Nach drei Jahren der Enthaltsamkeit werden sich dir die Gaben der Voraussicht, des Wahrsagens und -109-
des Heilens eröffnen. Doch wehe dem, der erst dann, wenn der Lebenssaft allmählich versiegt, im reifen Alter damit beginnt, die Schlange beherrschen zu wollen! Denn in den letzten zehn Lebensjahren eines Mannes wird die Schlange müde und schläft langsam, wie sie in der Jugend erwachte, wieder ein. Solch ein Mann hat seine Chance vertan, und erst in seinem nächsten Leben hat er wieder die Gelegenheit, sich zu vervollkommnen. Das ist der Weg des Sieges über die heilige Schlange, dein sicherster Halt auf dem steilen pfeilschnellen Pfad. Bleibe immer so stark wie jetzt, junger Mann, dann wirst du in den Mauern dieses Klosters große geistige Schätze sammeln und bis zum Schluß siegreich sein. Bete jetzt und danke der Heiligen Weisheit, daß sie dir geholfen hat, die Prüfung der Priesterin zu bestehen." Im nächsten Augenblick war sie mit ihren beiden Begleiterinnen verschwunden. Nur ein leichtes Beben der Mauer deutete darauf hin, daß sie nicht mehr in meiner Zelle waren. Eine Weile lang starrte ich völlig verblüfft auf die leere Mauer, als hätte ich alles nur geträumt, als seien die Frauen nur eine Vision gewesen! Ich sprang von meinem Bett und wankte stolpernd vor Schwäche zur Wand. Als ich mit der Hand darüber strich, spürte ich, daß der glatte Stein mit einem Tuch derselben Farbe verhängt war, was mir bei Tage entgangen war. Hinter dem Tuch fühlte ich den dünnen Öffnungsspalt einer Steintür. Ich legte mich wieder auf mein Bett und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Dies war die schwerste Prüfung gewesen. Mir war inzwischen klar, daß ich mich nur noch auf meine Willenskraft und meine Inspiration verlassen konnte, nicht aber auf den gesunden Menschenverstand. In Gedanken dankte ich Gott für seine Hilfe. Lange lag ich bewegungslos und fast ohne zu denken, doch dann überwältigte mich das Gefühl der Dankbarkeit, und ich warf mich auf mein Gesicht und versenkte mich in tiefe Gebete. Der Morgen nahte, denn meine Zelle wurde heller. -110-
Nach einer gewissen Zeit drehte ich mich wieder auf den Rücken, denn ich hatte das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Augenblicklich wurde ich starr vor Schreck, denn vor mir stand der Hohepriester. Er trug sein besticktes Gewand, den langen Mantel, der bis an den Boden reichte, und einen halbrunden Brustschild, welcher mit funkelnden, kostbaren Steinen besetzt war. Der Edelstein auf seiner kleinen runden Kappe glitzerte, so daß ich sicher war, nicht zu träumen. Als ich dies festgestellt hatte, überfiel mich die merkwürdige Benommenheit, wenn auch nicht so stark wie sonst. Etwas in der Erscheinung des Hohenpriesters war geheimnisvoll zweideutig und unbestimmt. Die Umrisse seiner Gestalt verschmolzen mit dem morgendlichen Zwielicht. „Ich bin zu dir gekommen, mein Sohn", hörte ich seine Stimme, als klänge sie in mir, „um zu sehen, ob du Gott dafür dankst, daß du die schweren Prüfungen bestanden hast. Ob ich dich wohl im Gebet versunken finden würde? Ich freue mich, daß du dich wie ein Novize verhältst, welcher sich der Einweihung würdig erweist, und daß deine Hingabe nicht geringer ist, wenn du allein bist. Wer die Prüfung der Priesterin bestanden hat, steht kurz vor dem Fest der Einweihung. Bleibe also wachsam, vertraue deinen Eingebungen und bete." Er beugte sich zu mir herab und berührte meine Stirn mit seiner rechten Hand. Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Ich erwachte aus meiner Schläfrigkeit, und meine Benommenheit verging. Ich streckte meine Hände aus, um ihn zu greifen, faßte aber ins Leere. Verblüfft sprang ich aus dem Bett und befühlte die Tür, dann den verborgenen Eingang hinter dem Vorhang, doch beide waren dicht verschlossen. Dies ging über meinen Verstand! Vor kurzem hatte er noch hier vor mir gestanden, und ich hatte die Berührung seiner Hand tatsächlich gespürt! Was war das? Kein Traum, dessen war ich mir sicher. Vater Ram-Chen hatte mir viele unglaubliche Geschichten über die ungeheuren Geisteskräfte der Lamas -111-
erzählt, mit deren Hilfe sie ihren Geist für eine bestimmte Zeit aus dem Körper lösen können, um die Umgebung des Klosters zu überwachen. Doch soweit ich wußte, konnten menschliche Augen solch einen körperlosen Geist nicht sehen! Damals war mir dies alles nicht glaubhafter erschienen als heute. Umsonst hatte ich meinen Meister bedrängt, er teilte mir nichts Genaueres mit. Er sagte nur: „Du wirst das alles im Kloster erfahren. Denn Glaube, mein Sohn, kann Wunder vollbringen." Mein Geist war von den unzähligen seltsamen Eindrücken der ersten Tagen so vo ll, daß ich kaum zu denken vermochte. Ich hatte praktisch noch keine Zeit gehabt, erleichtert zurückzusinken. Wenn ich nicht gerade betete, überraschten mich unerwartete Prüfungen. In diesem Kloster konnte ein Mann keinen einzigen Gedanken für sich denken. Müde und völlig erschöpft sank ich auf mein Bett, zog die Decke bis zum Kinn und beäugte mißtrauisch die Wand, ob sie sich nicht wieder bewegen wollte. Diesmal war es jedoch nicht die Wand, die sich bewegte, sondern die Tür, die quietschte. Aufgeschreckt fuhr ich hoch und erblickte mehrere Lamas, die sich so leise wie Gespenster in meine Zelle drängten. Doch ich wußte ohne den Schatten eines Zweifels, daß es sich hier nicht um eine Sinnestäuschung handelte, denn diese Männer waren aus Fleisch und Blut. Ich spürte sogar den Kältehauch, den sie von draußen mit in meine Zelle brachten. Es waren sechs oder sieben. Alle trugen den rostfarbenen Umhang der Eingeweihten, und alle waren viel älter als ich. Das Merkwürdigste war, daß jeder ein Zeichen in der Hand hie lt. Der erste einen Schild, der zweite einen Speer, ein anderer ein Herz und so fort. Schweigend stellten sie sich in einer Reihe vor meinem Bett auf und füllten damit meine Zelle von einer Wand bis zur anderen. „Ich grüße dich, Bruder", begann der Älteste. „Wir kommen in der Dämmerung deiner Einweihung, um uns, dem Hohenpriester und der Priesterin gleich, von deinem Wissen zu -112-
überzeugen. Sage mir, was ich in der Hand halte." „Einen Schild", antwortete ich schüchtern, während ich versuchte, meine wirbelnden Gedanken zu beruhigen, um meine innere Stimme hören zu können. „Wofür steht der Schild?" „Der Schild der Gerechtigkeit", erwiderte ich und erinnerte mich plötzlich an Ram-Chen Lamas Worte: „Diesen müssen wir immer vor uns hertragen. Wenn wir vom Weg abkommen, wenn wir einen falschen Schritt tun, bleibt dieser Schild schwebend in der Luft zurück, und wir befinden uns nicht mehr unter seinem Schutz. Der Schild der Gerechtigkeit zieht unseren Arm immer in die richtige Richtung und schützt uns somit vor den Angriffen der Lüge." „Gut gesagt, Bruder", nickte der Lama, trat zurück und verließ die Zelle so leise, daß mir nur ein kalter Lufthauch verriet, daß er nicht mehr anwesend war. Darauf war der nächste Lama an der Reihe und trat vor mich hin. „Was bedeutet dieser Speer in meiner Hand?" „Den ewigen Kampf, den wir gegen die versuchenden Geister der Unterwelt führen müssen", sagte ich und spürte, daß vor lauter Schwäche die Benommenheit zurückkehrte, doch war sie auch jetzt kaum wahrnehmbar, nicht stärker als kur z zuvor, als mir der Hohepriester erschienen war. Die Gestalten vor mir versanken nicht im Hintergrund, sondern wurden größer und schienen vor und zurück zu schwanken, als sähe ich sie durch Nebelschwaden. „Der Speer symbolisiert die Waffe unseres Willens. Denn es gibt keinen Versucher in dieser Welt, weder unter noch über der Erde, noch nicht einmal Sadag, den König der Unterwelt, der Macht über uns hätte, wenn wir ihm nicht unseren Willen überließen." Der Lama verbeugte sich vor mir und zog sich zurück. Jetzt trat ein dritter vor und zeigte mir einen stachligen Gürtel. „Sag mir, Bruder, wozu ermahnt dich dieser Gürtel?" -113-
„Er ermahnt mich, jeden Augenblick wachsam zu sein und mich vor kommenden Versuchungen und Prüfungen zu hüten. Wenn wir diesen Gürtel anle gen, sagen uns seine Spitzen bei jeder raschen Handlung: Geh bis hierhin, doch nicht weiter!" Der nächste Lama zeigte mir eine in den Stein gemeißelte Schlange. „Das ist die heilige Schlange", antwortete ich schläfrig, „die in unserer Kindheit schlummert. Dann erwacht sie und versucht, den Mann zu beherrschen. Wenn wir jedoch der Schlange widerstehen und sie dazu zwingen, sich in den Schwanz zu beißen, wird sie zu unserem Diener und gibt uns all ihre Schätze." „Was sind diese Schätze, o Bruder?" „Voraussicht, Wahrsagen und Heilung." „Und was ist die wichtigste Gabe?" „Daß wir von Akhor befreit werden, dem Kreislauf der Wiedergeburt." „Die Heilige Weisheit spricht aus deinem Munde!" sagte der Lama mit der Schlange und verbeugte sich vor mir. Nachdem er sich zurückgezogen hatte, stellte sich ein junger Lama vor mich hin und zeigte mir ein aus rotem Ton geformtes menschliches Herz. „Welche Gedanken kommen dir, wenn du dieses Herz siehst?" Meine Benommenheit nahm ab, und ich fühlte mich nur noch schwach. Jetzt sah ich alles wieder klar. Neben dem jungen Priester mit dem Herzen standen zwei weitere Lamas in der Ecke. Wegen des Dämmerlichtes konnte ich nicht erkennen, ob auch sie Gegenstände in den Händen hielten. „Das Herz ist der Sitz aller Gedanken und Gefühle. Unser Gehirn ist nur ein vermittelndes Organ, welches unseren Gedanken Ausdruck gibt. Wenn wir auf unser inneres Selbst -114-
zeigen oder den Himmel zum Zeugen anrufen, legen wir stets die Hand aufs Herz. Unser Bewußtsein lebt im Herzen; es ist der Sitz unseres wahren göttlichen Seins, unseres Geistes. Der göttliche Funke des Geistes ist ein Samen der himmlischen Liebe. Da er im Herzen wohnt, ist das Herz gleichzeitig ein Symbol unserer Liebe." Als sich dieser Eingeweihte ebenfalls vollkommen zufrieden zurückzog, kam einer der beiden Lamas aus der Ecke hervor und zeigte mir zwei Krüge. Der Krug in seiner linken Hand glänzte wie Gold, der in seiner rechten war aus Silber. Diesen hob er über den goldenen Krug und goß einen dünnen Wasserstrahl hinein. Er stellte keine Frage. Diesmal fiel mir nichts ein. Ich konnte an nichts mehr denken; ich war einfach zu müde. Das lange Fasten, die ständige Wachsamkeit, Konzentration und Gedankenleere hatten mich erschöpft. Was sollte ich antworten? Und durfte ich überhaupt etwas antworten, da er mich nichts gefragt hatte? Plötzlich wurden meine Augen magnetisch von dem Lama in der Ecke angezogen, den ich nur undeutlich wahrnahm. Ich vergaß tatsächlich den Priester, der vor mir stand, und starrte mit einem angenehm gedankenlosen Gefühl in diese Ecke. Und dann stieg ein Bild vor meinem inneren Auge auf, welches mir das Symbol des schweigenden Lamas, der Wasser von einem Krug in den anderen gegossen hatte, erklärte. „Das Ausgießen des Wassers bedeutete die Wiedergeburt", sagte ich. „Es spielt auf die Rückkehr des Geistes zur Erde an. Da du das Wasser von einem silbernen Krug in einen goldenen gießt, bedeutet das, daß die Essenz, der Geist, derselbe bleibt, auch wenn er auf einer niedrigeren Ebene in das Gefäß fließt. Warum in ein Gefäß aus Gold? Weil der Geist bei jeder seiner Verkörperungen immer vollkommener und edler wird. Deshalb besteht auch seine irdische Hülle aus Materie, die immer feiner und feiner wird. Ich sehe, daß du nicht einen Tropfen auf den Boden gegossen hast. Das bedeutet, daß der einzelnen Seele in -115-
den Seinszuständen zwischen den Verkörperungen und bei den Verkörperungen nichts verlorengeht." Ich war über mein natürliches, vernünftiges Gleichnis von den Krügen, das mir irgendwie eingefallen war, höchst erstaunt, denn Vater Ram-Chen hatte mich nichts darüber gelehrt. Ich blickte den vor mir stehenden Lama an, und als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß er jetzt den Krug in seiner linken Hand über den in seiner rechten hielt. Dann kippte er beide und goß das Wasser aus beiden Krügen in feinen Spritzern auf den Boden. Ich hatte keine Ahnung, was das alles bedeuten sollte. Meine Geisteskraft verdorrte, meine Gedanken wurden undeutlich verschwommen und versiegten schließlich. Vollkommen erschöpft sank ich auf mein Bett zurück und begann verzweifelt zu beten. Ich kümmerte mich nicht darum, wer noch mit mir im Raum war. Flüsternd rezitierte ich das Gebet um Erleuchtung. Der siebte Lama trat aus der Dunkelheit, stellte sich neben mein Bett und legte seine warme Hand auf meine Stirn. Ich blickte auf und sah - Lhalu. „Steh auf, Arau", sagte er sanft, „und sorge dich nicht. Du hast diese Prüfung bestanden und meine Erwartungen noch übertroffen. Ich habe dich von Anfang an beobachtet und deinem Geist die Erklärung für das Gleichnis der beiden Krüge eingegeben, übrigens die schwierigste Frage. Doch das zweite Ausgießen des Wassers gehörte nicht wirklich zur Prüfung. Damit wollte ich nur herausfinden, wie du dich verhalten würdest, wenn man dir eine Frage stellte, die über dein Wissen und deine Eingebung hinausgeht. Ich war erfreut, daß du das Richtige tatest: Du batest Gott um Erleuchtung, die Er dir jetzt durch mich gibt." Er hielt inne und deutete auf die Krüge. „Siehe, das Wasser fließt nicht mehr von einem Krug in den anderen, sondern aus beiden Krügen auf den Boden, wo es sich mit dem Ewigen Meer vereint, woher es ursprünglich stammt. Die lange Kette der Verkörperungen ist beendet: Der Geist kehrt -116-
in sein ewiges Heim zurück und muß nicht mehr auf diese Erde zurückkommen. Er kann zu einer Ebene der hohen himmlischen Sphären aufsteigen oder in einem halbmateriellen Körper auf einem edleren Planeten wiedergeboren werden. Wenn du an der Reinheit deines Geistes festhältst und vom Tage deiner Einweihung bis zum Tode keusch bleibst, dann wird dein Krug nicht in ein neues Gefäß geleert werden. Verstehst du, Tonisa? Das ist das Ziel! Und jetzt, Arau, ist dein Fasten beendet. Komm mit mir in den Speiseraum, denn siehe, der Morgen ist angebrochen, und die Sonne scheint. Wir müssen uns beeilen, denn nach der Prüfung der Lamas folgt die Große Feier." Ich stand auf von meinem Bett, konnte jedoch nicht allein gehen. Lhalu legte den Arm um meine Schulter und führte mich aus der Zelle. Wir gingen durch die verzweigten Gänge zum Speiseraum, den ich bereits kannte. Ich hätte sehr gern gefragt, ob die Prüfungen jetzt zu Ende waren, denn in meiner Dummheit glaubte ich, daß auf so viele harte Proben nur die Einweihung folgen konnte. Doch ich wagte nicht zu fragen, denn ich dachte an die Gebote der Demut und des Schweigens. Hätte ich gewußt, was mir noch bevorstand, wäre ich vielleicht zurückgeschreckt. Genauso ist es auch im Leben: Es ist besser, daß der Sterbliche nicht weiß, was ihn erwartet. Ram-Chen Lama sagte mir einmal, es sei eine Gnade des Schicksals, daß wir im Augenblick der Gefahr die Hilfe Gottes gewinnen können. Daher ist es überflüssig und schädlich für die Seele, die kommenden Versuchungen zu kennen, es sei denn, die Seele befindet sich im Zustand der Gnade. „Stell dir vor, mein Sohn", hatte er zu mir gesagt, „du wüßtest, daß du in einem bestimmten Jahr am ersten Tag des Frühlings über einen fünfzehn Meter tiefen Abgrund springen müßtest, unter dir ein brodelnder Fluß und scharfe Felsen, auf denen du zerschmettert würdest. Doch du kannst nicht zurück, denn hinter dir sind deine Feinde. Wenn dein Geistführer dir all dies vorher offenbart hätte, wärest du -117-
außer dir, und dein Glaube wäre erschüttert. Doch wenn du an Gottes Führung glaubst und dich Ihm in dem Augenblick überläßt, wo du am Rande des Abgr unds stehst, wird sich Seine Gnade vor dir manifestieren, und du wirst bestimmt eine lange Planke oder einen umgestürzten Baum finden, den du über den Abgrund schieben kannst, und so wirst du sicher auf die gegenüberliegende Seite gelangen. Solch unerwartete Hilfe Gottes kann kein Mensch und kein Geist vorhersehen, denn so etwas ist in Zeiten der Gefahr die Belohnung für den Glauben, Deshalb ist es besser, daß ein Mensch seine Prüfungen nicht vorher kennt, mein Kind." Wie recht er hatte! Die Bewohner des Felsenklosters mußten sich noch härteren Erprobungen stellen, als das Leben sie bot, und die Novizen konnten erst dann sicher sein, sie alle bestanden zu haben, wenn sie eingeweiht waren. „Sag mir, Tonisa", wandte sich mein Führer nach einer längeren Pause an mich, „hast du in der letzten Nacht nach der Prüfung der Priesterin die Gedanken des Hohenpriesters gespürt?" „Ja, Aku…Ich spürte, daß mich jemand beobachtete, und als ich aufsah, stand er neben meinem Bett. Ich war äußerst erstaunt und überlegte, warum seine Gestalt so seltsam verwischt war." Lhalu blieb stehen und sah mich an. „Was hast du gesagt? Du sahst den Hohenpriester?" ,Ja, ich sah ihn, und ich glaubte zu träumen, bis er meine Stirn berührte. Es stimmt allerdings, daß er danach wie eine Vision verschwand. Er war da - und löste sich im nächsten Moment auf…" „Ich wußte es…" murmelte Lhalu und blickte mir fest in die Augen. „Danke dem Himmel, Arau, ich kann es dir nur immer wieder sagen. Du bist ein Mann mit der Gabe der Voraussicht und äußerst geeignet, Gedankenbotschaften zu empfangen. Du sollst wissen, daß dich unser Hoherpriester mit seinem körperlosen Bewußtsein in deiner Zelle besuchte. Sein Körper -118-
lag bewußtlos in seinem Zimmer, während sein Geist sich auf die Reise machte, um im Verborgenen zu beobachten, wie sich der Novize nach der Prüfung der Priesterin verhielt. Betete er hingebungsvoll oder stand er noch unter dem Eindruck des Erlebnisses? Der körperlose Geist ist jedoch, laut Gesetz, dem menschlichen Auge nicht sichtbar, und doch sahst du ihn! Genau wie ich zu meiner Zeit… Damit hast du einen Großteil der Reise zu deiner höchsten Einweihung zurückgelegt. Du besitzt solch spirituelle und geistige Gaben, daß dein Fortschritt im Felsenkloster schnell wie ein Pfeil sein wird. Zaudere nie auch nur für einen Augenblick, Tonisa, und sei auf der Hut, selbst wenn du sicher bist, zu den Eingeweihten zu gehören." Im Speiseraum sah ich nur Lamas, nicht aber meine Kameraden. Lhalu setzte sich neben mich, und zusammen aßen wir das einfache Mahl, bestehend aus Gerstenbrei, Käse und Tee. Die niederen Lamas, die für die Küche verantwortlich waren, schöpften den Tee aus großen, wunderbar verzierten Messingkesseln. Schüchtern erkundigte ich mich nach meinen Kameraden. Mein Führer sagte, daß sie die ersten Prüfungen im großen und ganzen bestanden hatten, bei der Prüfung der Priesterin jedoch versagten. „Es geschieht sehr selten", sagte er, „daß die nicht eingeweihten Novizen bei allen Prüfungen durchfallen, da der Hohepriester voraussieht, daß sie zum Kloster kommen. In Wirklichkeit ist er es, der sie aus der Entfernung zu sich ruft. Doch bei der Prüfung der Priesterin sind die meisten sehr verwirrt, da sie der Kampf gegen ihre körperlichen Instinkte und die große geistige Anspannung sehr erschöpft. Die Dampfkammer und das Fasten nimmt ihnen fast den Willen, weshalb sie sich nicht entscheiden können. Und so müssen sie hungrig und durstig weiter in ihren Zellen liegen, und die Priesterin versucht sie jede Nacht. Natürlich werden sie körperlich immer schwächer, je länger sie dort bleiben müssen, selbst wenn das Fasten ihren Geist aufnahmefähiger macht. Bete -119-
darum, daß die heilige Weisheit sie erleuchten möge." „Dann können sie nicht mit mir zusammen geprüft werden?" „Sie bleiben eine Weile hinter dir zurück. Das große Fest, welches das Kloster dreimal im Jahr für jene Novizen abhält, die auf dem Weg der Einweihung vorangekommen sind, ist in diesen Mauern ein großes Ereignis. Heute wirst du der einzige sein, für den es gefeiert wird. Sei wach und mutig. Die Prüfungen, die du bis jetzt bestanden hast, zeugen von deinen spirituellen Möglichkeiten. Du hast den Weg zwischen Tod und Wiedergeburt schon zur Hälfte zurückgelegt, und das Schlimmste liegt hinter dir. Denk dir nur, alle Priester versammeln sich in der Halle der Festlichkeiten, um dich zu ehren! Alles hier dient wahrlich zu deinem Besten. Sei gleichzeitig wachsam und demütig. Hab keine Angst, Arau, sondern Vertrauen! Glaube, dann wird sich alles zum Guten wenden. Jakpo chung jag! Vergiß dieses Wort nicht!" Wir erhoben uns von unseren Plätzen, und er führte mich zurück in meine Zelle. Er sagte, er würde mich in der vierten Stunde des Tages holen. Wieder blieb ich allein zurück. Wie viele Schwierigkeiten hatte ich seit dem Tag meiner Einschreibung bestanden, als wir das Gewand des Hohenpriesters berührt hatten! Mit großer Zuneigung dachte ich an Vater Ram-Chen, dessen strenge Disziplin und Lehrmethode mir gutgetan hatten. Trotzdem war ich überzeugt, daß ich einige Male aufgegeben hätte, hätte nicht der freundliche Blick Lhalu Lamas auf mir geruht, der mich nie aus den Augen verlor. Er ermunterte mich und sprach mir von dem Augenblick an, als wir uns im Klosterhof begegneten und er mein Leben rettete, Mut zu. Heute würde ein großer Tag sein! Was würde mich erwarten? War ich der Einweihung nahe, oder würde ich neuen und noch schwereren Prüfungen unterworfen werden? „Glaube!" hatte der blauäugige Lama zu mir gesagt. Glaube, -120-
dann wird alles gut werden."
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Kapitel 6 Ich stand in der kleinen Kapelle neben der Halle der Zeremonien, wohin mich Lhalu geführt hatte. Es verwirrte mich, daß außer mir niemand dort war. Doch dann wurde der Vorhang des Kangs zurückgeschoben, und die beiden schönen Begleiterinnen der Priesterin traten ein. Die Mädchen hatte ich nun ganz und gar nicht erwartet, und unwillkürlich drückte ich mich an die Wand. Doch sie lächelten freundlich und kamen auf mich zu. Beide trugen weiße Kleider und hatten ihr Haar mit silbernen Bändern zurückgebunden. Mißtrauisch sah ich sie an und vergaß darüber das Gewand über meinem rechten Arm, welches mir der Hohepriester durch Lhalu Lama gesandt hatte. „Leg dein zerrissenes Kleid ab, Bruder", sagte das Mädchen, das in meiner Zelle die weibliche Statue gehalten hatte. Das andere nahm schweigend das neue Gewand von meinem Arm und breitete es aus. „Warum soll ich mich ausziehen?" fragte ich errötend und raffte meinen zerrissenen Zen enger um den Leib. „Weil es unsere Pflicht ist, dich vor der großen Zeremonie einzukleiden", erwiderte die ältere Pamo. Später erfuhr ich, daß nur die engsten Begleiterinnen der Priesterin so genannt wurden. Obwohl es mir widerstrebte, zog ich schließlich den Umhang aus und stand in meinem langen Hemd, welches ein Stück Kordel zusammenhielt, vor ihnen. Daraufhin trat die kleinere der beiden Schwestern zu mir und warf mir das neue rostfarbene Gewand über den Kopf, worauf die andere die Falten ordnete und mir einen Gürtel um die Hüften band. „Trage das Gewand als Zeichen deines neuen Selbst in guter Gesundheit, nachdem du die harten Proben erfolgreich bestanden hast." -122-
„Wenn es je verschleißen sollte", sagte ihre Begleiterin, „dann bewahre es sorgfältig auf und laß es einst dein Grabtuch sein." Sie verbeugten sich mit freundlichem Lächeln vor mir und stellten sich, die eine rechts, die andere links, an die Türpfosten. Dann zogen sie mit einem Mal den schweren Vorhang beiseite, und ich hörte den Klang eines tiefen Gongs. Die große Halle, in der ich wenige Tage zuvor die Prüfung des Hohenpriesters abgelegt hatte, lag vor mir. Doch wie anders alles aussah! Die Halle der Zeremonien war voller Lamas. Jetzt saßen sie nicht auf Matten, sondern auf langen, querverlaufenden Bänken, die die Halle begrenzten. In der Mitte des Raumes saßen der Hohepriester und die Priesterin auf einem doppelten Thron, der aus einem einzigen Steinblock gemeißelt war. Beide waren in weiße Gewänder gekleidet, doch trug der Hohepriester noch immer seine mit einem Rubin geschmückte Kappe und die Priesterin den Lorbeerkranz. Ihre Arme waren, gemäß dem Brauch des höheren Lamaordens, unbedeckt. Lhalu stand vor dem Thron des Großen Lama, welcher jetzt herabstieg und auf mich zukam. Bevor ich mich gänzlich niederwerfen konnte, war er bei mir und half mir wieder auf die Füße. „Willkommen, mein Sohn! Du hast den ersten Teil der Prüfungen bestanden, und so erhältst du nach unseren Gesetzen den ersten Grad der Einweihung. Damit bist du zwar noch kein Lama, doch bist du auch kein Novize mehr." Er winkte mit der Hand, worauf Lhalu ein goldenes Gefäß und eine silbernen Öl- Bumpa aus einer Ecke holte und ihm die Gegenstände überreichte. Der Hohepriester tauchte seinen Finger in das heilige Öl und malte damit einen Punkt auf meine Stirn. Danach nahm er eine Prise Salz aus dem goldenen Gefäß und streute dieses über meinen Kopf. „Dieses Salz ist das Zeichen der Bitterkeit, der schweren Pflichten. Indem ich es über deinen Kopf streue, ermahne ich -123-
dich zu Demut und Bescheidenheit." Nun stieg auch die Priesterin von Thron herab. Sie hielt einen Kohlestift in der Hand und schaute den Großen Lama erwartungsvoll an. „Welchen Namen soll der angehende Eingeweihte tragen, Ichkitsu?" „Der göttliche Funke seines Geistes offenbarte sich. Er bewies sein Wissen und seine Ausdauer. Daher soll er zu seinem Namen Ti- Tonisa den neuen Beinamen ,Taga' führen - der Fels." Die Priesterin schrieb meinen neuen Namen auf meine Stirn. Ich war tief bewegt. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle zu Boden geworfen, doch schon standen vier Lamas bei mir. Sie führten mich zum Ende der Halle der Zeremonien gegenüber dem Thron des Hohenpriesters und baten mich, dort auf einer Steinbank Platz zu nehmen. Nach ihren Gewändern zu urteilen, mußten sie niedrigere Lamas oder Trapas sein. Der Hohepriester stieg wieder auf seinen Thron und setzte sich neben die Ichka. Beide sahen mich an. Zwei der Lamas knie ten nieder, der dritte rief laut: „Brüder, wascht die Füße des Sisya mit einer Lösung aus dem Gift der großen Schlange - auf daß er während seiner Priesterschaft immer auf dem rechten Weg gehen möge!" „Auf daß er immer auf dem rechten Weg gehen möge!" wiederholte der Chor der Lamas im Singsang. Die beiden Trapas stellten meine Füße in eine Schüssel und begannen sie langsam und feierlich zu waschen. „Auf daß keine Schlange ihn jemals beiße und ihr Gift ihm nichts anhaben möge!" Die Lamas wiederholten auch diesen Satz. Auf ein Zeichen des Hohenpriesters wandte sich der Führer der Trapas diesem zu und nahm, nachdem er sich niedergeworfen hatte, eine kleine Dose aus dessen Hand. Dann kam er zu mir zurück und streute -124-
den Inhalt der Dose in die Schüssel. „Siehe, die Asche eines toten Lamabruders!" „Auf daß er stets in den Fußstapfen des Verschiedenen wandern möge!" sangen die Lamas. Jedes Wort, jede Bewegung wurde von einem bestimmten Satz oder Gesang begleitet, welche die zweihundert versammelten Lamas wiederholten. Die seltsame mystische Feier hielt mich so in ihrem Bann, daß ich mich benommen an die Wand lehnen mußte. Später erfuhr ich, daß der Hohepriester dem Wasser vor dem Ritual des Füßewaschens Kräuter und Puder beigemischt hatte, die bezeichnend für die Art des Dienstes waren, die er dem Schüler zugedacht hatte. In das Wasser jener, die er zu Soldaten bestimmt hatte, streute er die getrocknete Pflanze des Kriegssterns, welche zwischen den Farnen der niedrigeren Bergketten Bod-Yuls gesammelt wurden. Das bewirkte, daß die Wunden jener Lamas, welche sie sich bei der Verteidigung des Klosters zuziehen mochten, schneller heilten. Wieder erklang der Gong, worauf die Trapas die Schüssel nahmen und mit ihr verschwanden. Noch einmal erfüllte der tiefe Klang den Raum. Der Hohepriester und die Priesterin standen auf und verließen majestätischen Schrittes die Halle. Mir schwante Schlimmes, als ich sah, daß Lhalu ihnen folgte. Beim dritten Klang des Gongs, der so laut war, daß meine Trommelfelle dröhnten, wurde der Vorhang beiseitegezogen, und eine große Menschenmenge drängte unter wildem Schreien und Rufen in die Halle. Doch was für eine Menge! Das waren keine Menschen, sondern Dämonen! Die furchterregenden Masken waren dreimal so groß wie ihre Köpfe. Ihre flatternden bunten Gewänder, ihre teuflische Erscheinung, ihr Kreischen und Brüllen erregten mich zutiefst! „Die Dämonen! Die Dämonen!" riefen die Lamas in der Halle aufgeregt. „Hier naht das Heer der bösen Geister! Vorsicht! -125-
Habt acht!" Die Teufel und Hexen, denn ich sah auch Masken und Gewänder von Frauen, faßten einander bei den Händen und begannen, im Kreis zu tanzen. Einige bliesen auf Messingtrompeten, Kanglins, während andere den Höllenlärm mit Muschelhörnern zu übertönen suchten. Ihre grinsenden, abstoßenden Masken erfüllten mich mit Abscheu. Ich kannte das Fest der Dämonen, welches das gemeine Volk am ersten Tag des Jahres in eben solchen Masken zu feiern pflegt. Ein- oder zweimal hatte ich einen solchen Aufzug gesehen, doch daß man dieser teuflischen Gesellschaft gestattet hatte, das Kloster zu betreten, ging über meinen Verstand. Was sollte das bedeuten? Jetzt stürmten weitere Dämonen in den Saal, wobei sie einen mit Schleifen geschmückten Schlitten voll farbiger Masken hinter sich herzerrten, welche von den tanze nden Gestalten unter den Lamas verteilt wurden. Zu meinem größten Verdruß legten nicht nur die Dienstlamas, sondern auch die Eingeweihten die Masken an, obwohl einige die Halle auf der Stelle verließen. Was ging hier eigentlich vor? Es schien so, als hätten sie mich vollkommen vergessen. Ich saß wie ein Waisenknabe in der Ecke auf einer Steinbank neben dem Eingang und fummelte am Riemen meiner Sandale herum, den ich vor Aufregung nicht zu schließen vermochte. Doch dies war erst der Anfang. Der Führer der Dämonen, dessen weites Gewand am buntesten und dessen Maske am häßlichsten war, sprang zum heiligen Gong und schlug mit voller Kraft darauf. „Siehe, die Freuden des Lebens, ihr weisen und gelehrten Männer! Seid lustig und tanzt! Laßt euch euren Anteil an den guten Dingen nicht entgehen!" „Ihr habt genug gefastet!" schrillte eine Frauenstimme. „Dies ist ein seltenes Fest! Es gibt nur drei solche im Jahr. Nutzt die Gelegenheit!" -126-
Wieder schlug der Anführer auf den Gong, worauf ich etwas mit ansehen mußte, was mir die Schamesröte ins Gesicht trieb. Hilflos klammerte ich mich an die Wand. Drei oder vier Frauen ließen die Kleider fallen und tanzten unter wilden Freudenschreien nackt herum, wobei sie nur die Masken auf ihren Gesichtern behielten. Gleichzeitig warfen mehrere Dämonen die bunten Gewänder ab. Unter Höllenlärm fielen sie übereinander her und klammerten sich, keuchend vor Lust, aneinander. Die Menge wogte wild kreischend hin und her. Ein oder zwei Paare brachen auf dem Boden zusammen und setzten dort ihren Liebeskampf fort. Eine Zeitlang starrte ich auf die abstoßende Szene - dann bedeckte ich mein brennendes Gesicht mit dem Ärmel meines Gewandes. Was ging hier vor? Was für eine Art teuflischer Orgie wurde hier gefeiert? Wie konnte der Hohepriester zulassen, daß das Große Kloster derartig entweiht wurde! Und das alles in der Halle der Zeremonien, in der mich der Große Lama vor nur wenigen Augenblicken gesalbt hatte! Eine ganze Welt brach in mir zusammen, und ich war dabei, meinen Glauben zu verlieren. Nein, es konnte einfach nicht wahr sein! Es war nur ein böser Traum. Waren dies die heiligen Lamas, deren keusches Leben mich so beeindruckt hatte? Hatten sie mich deshalb zu einem Leben der Entsagung ermahnt? Diese furchtbare Szene wurde nur etwas durch die Tatsache gemildert, daß - wie ich wußte, der Hohepriester und die Priesterin nicht anwesend waren. Vielleicht geschah dies alles ohne ihr Wissen? Nein, das konnte nicht sein - denn hatte der Gong nicht mehrere Male getönt? Und außerdem, diese maskierte Orgie mußte gut vorbereitet gewesen sein. Jemand zupfte an meinem Umhang und riß daran. Ärgerlich sah ich auf und erblickte eine weibliche Maske in einem durchsichtigen Kleid. Sie tanzte in kleinen Schritten vor mir herum und wiegte ihre Hüften. Ab und zu zupfte sie an meinem Gewand und flüsterte mir verführerische Worte ins Ohr. -127-
„Verschwinde, Dämon!" schrie ich sie an und riß ihre Hand von meinem Umhang los. „Geh zu deinen furchtbaren Kumpanen und entweihe mit ihnen weiter diesen heiligen Ort!" Ich kehrte der wilden Meute den Rücken. Hinter der Steinbank warf ich mich zu Boden und fing bitterlich an zu weinen. Meine Tränen durchnäßten den Ärmel meines Gewandes, auf dem mein Kopf ruhte. Ich wollte auf der Stelle sterben, um diesen gotteslästerlichen Anblick zu vergessen. Die große Enttäuschung über dieses unerwartete, sündige Zwischenspiel nach meinem schweren und doch so wunderbaren Anfang hier überwältigte mich. So schluchzte ich lange Zeit unbemerkt mit bitterem Herzen. Plötzlich fiel mir auf, daß das Getöse abna hm. Der Krach war fast verstummt, die Musik schwieg, und selbst das Getrappel der tanzenden Füße wurde zu einem leisen Scharren. Nach einer Weile drang der gedämpfte Klang des Gongs an mein Ohr, worauf es ganz still wurde. Ich wagte nicht, den Kopf zu heben. Die plötzliche Stille nach dem großen Lärm verwirrte mich. In meinem großen Schmerz mochte ich sogar für eine Weile eingenickt sein. Eine Hand berührte meine Schulter. „Arau, steh auf!" Beim Klang der wohlbekannten, freundlichen Stimme fuhr ich hoch, setzte mich auf die Steinbank und rieb mir die Augen. Lhalu saß neben mir und lächelte. Erstaunt sah ich, daß die große Halle wieder so aussah wie zuvor: Die Lamas hockten im Halbkreis auf den niedrigen Steinbänken, und auf dem hohen Thron saß der Große Lama mit seiner Priesterin, der Ichka. Sieben Lamas umschritten langsam die Halle: Sie hielten Schalen in den Händen, aus denen der Rauch von Räucherwerk aufstieg, welcher einen süßen Duft verbreitete. Die Lamas in der Runde drehten ihre Gebetsmühlen und beteten flüsternd. „Aku", wisperte ich flehend, „hab ich das alles nur geträumt? Sag mir, daß alles nur ein Traum war! Oder ließest du mich diese Bilder durch deine Geisteskraft schauen? " -128-
„Nein, Ti-Tonisa. Du hast dies alles wirklich gesehen. Doch warum bist du so erschüttert? Du solltest dich darüber freuen, daß du der Versuchung nicht erlegen bist. Habe ich dir nicht geraten zu glauben, dann würde alles gut? Aber nun werde ich, solange die Lamas mit dem Räucherwerk die Runde machen, die Gelegenheit nutzen und dir die Bedeutung dieses seltsamen Rituales zu offenbaren, welches dich so sehr erregt hat! Die maskierten Dämonen sind die niederen Mitglieder der umliegenden Klöster und Konvente. Diese Menschen haben, wie du vielleicht weißt, niemals ein Gelübde abgelegt, denn als sie geprüft wurden, versagten sie. Doch viele mochten nicht nach Hause zurückkehren und blieben. Sie sind nun Dienstlamas und weibliche Trapas, welche unsere kargen Felder und Gärten bestellen, Steine klopfen, Tuch weben, in der Küche die Speisen zubereiten und ähnliche Arbeiten verrichten. Dreimal im Jahr, zu Beginn der Einweihung der Novizen, verfügt der Hohepriester, daß die ernsten Feierlichkeiten vom Tanz der Dämonen unterbrochen werden sollen, um darauf hinzuweisen, daß die Unterwelt selbst in den heiligsten Augenblicken des Lebens wie ein Wirbelwind über unsere Sinne herfallen kann. Derjenige, der den Sturm der Sinne und die Begierde des Fleisches nicht mit eigenen Augen sieht, ist kein wirklich Eingeweihter. Glaubst du, es ist ein großes Verdienst, den weiblichen Verführungen zurückgezogen in einem Kloster zu trotzen, wo nie eine Frau den Fuß hineinsetzt? Deshalb gibt es dreimal im Jahr diese Ausnahmen, damit der Novize alles vor seiner Einweihung unverhüllt zu Gesicht bekommt. Gleichzeitig ist der unheilige Ritus eine Prüfung seines Glaubens und seines Widerstandes gegen Versuchungen. Sorge dich also nicht um die befleckte Ehre der Lamas, mein Freund, oder darum, daß ihre Moral Schaden gelitten hat! In Wahrheit nahmen die älteren Lamas die Masken nur deshalb an, um über ihre schwächeren Kameraden zu wachen. Verstehst du jetzt? Auch die Lamas wurden geprüft. Der Hohepriester überwacht Novizen und -129-
Lamas durch ein Guckloch im Boden seines Raumes über dieser Halle. Sollte sich einer von ihnen im Glauben, wegen der Maske unerkannt zu bleiben, von seinen Sinnen hinreißen lassen, würde er dies schwer bereuen, denn das allsehende Auge des Ichkitsu sieht ihn, und später muß er für seine Tat unter der Peitsche büßen. Natürlich wird ein Lama in solch einem Falle auf den Status des Trapas zurückgestuft. Doch ich kann dir versichern, Freund, daß solche Fälle nur selten vorkommen. Im Felsenkloster ist dies bis jetzt noch nie geschehen. Nur die Trapas nehmen an den Ausschweifungen teil, und selbst sie müssen dafür büßen, wenn sie zu unserem Kloster gehören. Habe ich dich damit beruhigen können, Arau?" Ich blickte meinen Lehrer tief dankbar an, denn seine Worte gaben mir neues Leben. Wer war ich armer kleiner Novize und unbedeutender Anfänger, daß ich es wagte, die Anordnungen des mächtigen Hohenpriesters in Frage zu stellen? Jetzt verstand ich schließlich, welch tiefer Sinn hinter dem Marsch der Dämonen verborgen war, und ich erkannte, daß selbst der heiligste Mann den niedrigsten menschlichen Leidenschaften ins Gesicht blicken und ihnen im Wissen um seine Reinheit keusch widerstehen muß. Die Lamas mit dem Räucherwerk hatten inzwischen die Halle der Zeremonien gereinigt und kehrten an ihre Plätze zurück. „Komm zu mir, Ti- Tonisa, mein Kind", rief mich der Hohepriester von seinem Thron. Auch Lhalu erhob sich, und wir gingen gemeinsam zu seiner Heiligkeit. „Ich sehe, daß du ein Junge mit keuschem Herzen bist. Du bist deiner bisher erreichten Ergebnisse wahrhaft würdig. Die sogenannten Freuden des Lebens, der Sturm menschlicher Leidenschaften, erfüllte dich mit Abscheu. Du kehrtest dem schockierenden Treiben den Rücken und vertieftest dich ins Gebet. Ich habe jedoch bemerkt, daß dein Glaube einen Augenblick lang erschüttert war. Hüte dich, mein Sohn! Derjenige, der dem Weg der Einweihung folgt, darf nicht eine Sekunde lang wanken! Sei -130-
so stark wie die Felsen, auf denen unser Kloster steht, denn nicht auf Fels baut jener Mann, dessen Glaube stark ist wie ein Fels! Glaube also und bleibe nie stehen!" Er streckte den La mas die Arme entgegen, welche als Antwort ein Gebet sangen: „Der Mann, der steht, kann der lautlosen Stimme nicht lauschen." „Der Mann, der steht, kann den schweigenden Sinn nicht erfassen." „Der Mann, der steht, kann der unsichtbaren Spur nicht folgen." „Der Mann, der steht, wird das Siegel des Geistes auf seiner Stirn nicht empfangen." Ich stand bewegungslos mit gebeugtem Kopf vor dem Thron. Die Priesterin blickte mich gütig an und flüsterte dem Großen Lama etwas ins Ohr, worauf dieser die Hand hob. Der summende Chor der Lamas verstummte. Der tiefe Klang des Gongs schwieg. Der Vorhang der Hintertür wurde von unsichtbaren Händen beiseitegeschoben, und eine kleine Gruppe schwarzgekleideter Lamas betrat den Raum. Sie trugen eine Art rechteckiger Steinplatte, die auf einem Brett ruhte. Dieses stellten sie in die Mitte der Halle und zogen sich daraufhin zurück. Ich betrachtete das Ding neugierig und gleichzeitig mißtrauisch. Von einem weißen Tuch bedeckt lag etwas Längliches auf dem Stein, das ungefähr die Konturen eines menschlichen Körpers hatte. Lhalu Lama ging darauf zu und zog das Tuch weg. Vor Überraschung schrie ich fast auf. Auf dem Stein lag eine Leiche. Der Hohepriester gab Lhalu ein Zeichen, und dieser führte mich zu dem Tisch. „Fürchte nichts, Arau", flüsterte er mir ins Ohr. „Du wirst über den Aufbau des menschlichen Körpers sprechen müssen. Wenn du nichts darüber weißt, dann mache deinen Geist einfach -131-
leer und erwarte meine Eingebungen." „Sag mir, Schüler, was liegt hier vor dir?" fragte der Hohepriester und beugte sich von seinem Thron. „Die verlassene Hülle eines meiner Lamabrüder", antwortete ich furchtlos, denn Vater Ram-Chen hatte mir den Aufbau des menschlichen Körpers oft erklärt. „Zeige mir, wo im Körper die Seele wohnt?" Schweigend legte ich die Hand auf das Herz der Leiche. „Sehr gut. Und wo verläßt die Seele im Augenblick des Todes den Körper?" „Durch den Kopf. Sie zieht sich langsam aus den Gliedern nach oben in den Kopf zurück. Zuerst sterben die Beine ab. Am längsten verweilt das Leben im Kopf." „Zähle mir die fünf Sinne auf." „Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren." „Welcher Sinn ist am wichtigsten?" Mir war, als stände Vater Ram-Chen vor mir. Dies war auch seine liebste Frage gewesen. „Keiner, Vater. Unser sechster Sinn, die Voraussicht, die in der Mitte der Stirn, im Hals, im Herzen, in der Magengrube und im Leib wohnt, ist der wichtigste Sinn." Der Hohepriester nickte und bedeutete mir, näher an die Leiche heranzutreten. „Und jetzt wollen wir sehen, ob du die inneren Organe eines menschlichen Körpers kennst. Hast du jemals eine Leiche geöffnet?" „Nein, Vater", antwortete ich schüchtern, und bei dem Gedanken, daß mir der Große Lama befehlen könnte, dies bei dieser Leiche zu tun, wurde ich furchtbar aufgeregt. Ram-Chen Lama hatte mir viel über die Funktion der inneren Organe erzählt, und ich kannte ihren Sitz im Körper, doch gesehen hatte -132-
ich nur die Eingeweide von Lämmern oder Dris. Mein früherer Meister hatte mir am Beispiel einer Ziege, die sich in den Felsen zu Tode gestürzt hatte, gezeigt, wo sich im Organismus das Herz, die Leber, die Nieren und die Gedärme befanden. Doch beim Anblick dieser wächsernen dünnen Leiche ergriff mich blanke Furcht. Ich hatte geglaubt, die Salbung bedeute meine Einweihung und hätte mir nicht träumen lassen, daß noch viele weitere Prüfungen folgen würden. Lhalu blickte mich ermutigend an. „Hab keine Angst", flüsterte er mir zu. „Nimm einfach das Skalpell vom Tisch und achte nicht darauf, was du tust. Schneide dich vor allem nicht in die Finger!" Zitternd ergriff ich das feine Messer und sah den Hohenpriester an. Auf ein Zeichen von Lhalu brachte einer der Lamas eine Schüssel voll mit bräunlicher Flüssigkeit und stellte sie vor uns auf den Boden. Ein andere Lama bat mich, das schwarze Gewand anzulegen, welches er mir entgegenhielt. „Jetzt schneide jenes Organ aus diesem Körper", sagte der Ichkitsu, „welches im materiellen Sinne den Körper von seinen Ablagerungen reinigt, während es auf der spirituellen Ebene Laster und Tugenden filtert. Was sagt die Hymne der Weisheit darüber, mein Sohn?" „Prüfet die Herzen und schaut in die Nieren." „Dann beginne damit, jenes Organ aus diesem Körper zu schneiden, an welches ich denke." Mein Gehirn barst schier vor Ungewißheit. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte keine Ahnung, wie man eine Leiche öffnete, und jetzt ließ mich der Große Lama auch noch im Ungewissen darüber, ob es auch wirklich die Niere war, die ich herausnehmen sollte. „Nimm das Organ heraus, an welches ich denke…" Doch welche Niere? Die rechte oder die linke? Oder ein ganz anderes Organ? Ich war furchtbar aufgeregt und wünschte mich aus ganzem Herzen in die Dampfkammer oder den unterirdischen -133-
See zurück, in den ich rückwärts gefallen war. Doch dann erinnerte ich mich an den Rat, den mir Lhalu gegeben hatte, und beruhigte mich mit mehreren tiefen Atemzügen. Das beherrschte Atmen brachte meine Gedanken rasch dazu, sich aufzulösen, so daß mein Geist völlig leer wurde. Ohne einen einzigen Gedanken starrte ich auf das Messer in meiner Hand. Dann blickte ich zu Lha lu, dessen weit geöffnete, bewegungslose Augen auf mich gerichtet waren. Ich ging zur rechten Seite der Leiche, machte einen etwa zwölf Zentimeter langen Schnitt über der rechten Lende und drückte die Haut mit dem darunter liegenden Fleisch auseinander. Jetzt sah ich die dicken Schichten des Lendenmuskels. Ich schob sie - ohne zu wissen, was ich tat - mit den Fingern beiseite und machte, den Muskel vorsichtig aussparend, einen noch tieferen Schnitt ins Fleisch. Dann steckte ich meine linke Hand durch das Loch und griff nach der Niere. Ich zog sie mit einem Ruck heraus und durchtrennte gleichzeitig mit dem Skalpell die Blutgefäße. Dann warf ich das Messer auf den Tisch und hielt das blutverschmierte Organ hoch. Der Hohepriester nickte zweimal. Er sah die Ichka an, welche lächelte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Beide schauten mich aufmunternd an. „Gut, Sisya, du hast meinen Gedanken erraten und ebenso die Gedanken deines Führers gut aufgenommen. Auch diese Prüfung galt in erster Linie der Gedankenübertragung. Wenn du ein Heilkundiger werden willst, wirst du das Sezieren in jedem Falle hier im Kloster lernen. Ich wollte bei dieser Prüfung vor allem sehen, ob dich der Anblick oder die Berührung der Leiche abschreckte, denn ein Schüler muß alles wagen." Er machte ein Zeichen, worauf mir zwei schwarzgekleidete Lamas eine Schüssel mit dampfendem Wasser und ein Handtuch entgegenhielten. Ich wusch meine Hände gründlich mit Reinigungspuder und heißem Wasser und trocknete sie mehrere Male ab. Jetzt hielt mir der Lama ein Gefäß entgegen, welches -134-
mit einer bläulichen Flüssigkeit gefüllt war. „Tauche beide Hände hinein", sagte Lhalu Lama, „es wird dich desinfizieren. Und ihr, tragt das hinaus!" wandte er sich an die Trapas und deutete mit der Hand auf den Seziertisch. Die Lamas stellten sich sofort um die Steinplatte herum und trugen die Leiche aus dem Raum. Ich stand wieder vor dem zweisitzigen Thron und verbeugte mich tief. Diesmal sprach mich die Priesterin an. „Ich möchte dir zwei Fragen stellen, Ti- Tonisa. Es ist nicht weiter schlimm, wenn du sie nicht beantworten kannst, denn sie gehören nicht zu deiner Prüfung. Du hast jedoch so viel Wissen unter Beweis gestellt - dank deinem alten Meister, dem heiligen Drangsrong - daß du die Antworten möglicherweise kennst. Ich stelle dir zwei Fragen über das alte Tsa-Vahi- Gyut." Vor Aufregung errötete ich, denn Vater Ram-Chen hatte oft über die alte mündlich überlieferte Tradition gesprochen, die allgemein „Die Wurzeln der medizinischen Wissenschaft" genannt wurde. „Sage mir, welche Teile des menschlichen Körpers vom Vater und welche von der Mutter stammen." „Aus dem Samen des Vaters werden das Gehirn gebildet und die Knochen des Skeletts. Aus dem Blut der Mutter bilden sich Fleisch, Blut, Herz, Gewebe und die sechs wichtigsten Arterien und Venen." „Und was sind die drei Hauptursachen für Krankheit?" „Es sind Wollust oder brennende Begierde, Leidenschaft oder Wut, Stumpfheit oder Unwissenheit." Die Priesterin schien zufrieden zu sein. Ich sah an ihrem Gesicht, daß ihr meine raschen Antworten gefallen hatten. „Sehr gut, Schüler, ich bin nicht unzufrieden mit dir. Dein Wissen wird dem Kloster einst gute Dienste erweisen. Schau Lhalu Lama an!" Sie deutete mit dem Finger auf meinen Lehrer, -135-
der sich bei diesen Worten tief verbeugte. „Er war dir in den Zeiten seines Noviziates sehr ähnlich. Obwohl er dich sogar noch übertraf, denn als die Leiche zum Sezieren gebracht wurde, setzte sie sich auf sein Zeichen auf. Du magst noch nie von solchen Dingen gehört haben. Sie gehören zu den geheimsten und heiligsten Riten des Chod, in denen du erst später unterrichtet werden wirst. Du scheinst in jeder Hinsicht in seine Fußstapfen zu treten. Deshalb haben wir ihn dir auch zum Führer durch die Grundlagen unseres Chintanyin gegeben. Eine deiner Gaben steht seinen großen Fähigkeiten allerdings besonders nahe. Auch du bist ein Seher, und dieses große göttliche Geschenk wird sich noch in dir entwickeln. Und jetzt lassen wir dich eine kurze Pause machen." Sie wies mit der Hand zum Ausgang. „Gehe hinüber zum Lhakang und bitte die Heilige Weisheit, daß sie dir genug Kraft für die schwere Prüfung des Sarges schenken möge." Ich warf mich vor dem Ichkitsu und der Ichka nieder und erhob mich erst, als mich Lhalu an der Schulter berührte. Er führte mich aus der Halle in den Kang. Die letzten Worte der Priesterin hatten mir den Rest meines Selbstvertrauens geraubt. Ich hatte fest geglaubt, meine Prüfungen seien vorüber, denn hatte mich der Hohepriester nicht gesalbt? Schon die Öffnung der Leiche hatte mich überrascht. Es war mir einfach nicht in den Sinn gekommen, daß noch schwerere Prüfungen auf mich warteten. Was sollte ich unter „Prüfung des Sarges" verstehen? Ram-Chen Lama hatte mir nichts darüber erzählt! Diese geheimnisvollen Riten schienen nur die Eingeweihten zu kennen. „Hab keine Angst, glaube!" sagte mein Führer, als habe er meine Gedanken erraten. „Ich habe dir schon oft gesagt, daß du im Leben in jedem Augenblick mit unerwarteten Ereignissen rechnen mußt. Und wieviel mehr noch im Felsenkloster, in welchem du die Einweihung erlangen willst! Du hast keinen Grund zur Furcht. Wenn du den Anweisungen des -136-
Hohenpriesters folgst, wirst du, dank deiner Fähigkeiten, auch diese Prüfung leicht bestehen. Wahrscheinlich wirst du eine wunderbare Erfahrung machen. Wir sind im Lhakang. Bete, und wenn du den Gong hörst, dann komm zurück in die Halle der Zeremonien." Das Alleinsein tat mir gut. Ich warf mich vor der Statue der Weisheit nieder und versenkte mich in der Stille der kleinen Kapelle in tiefe Gebete. Nach dem Durcheinander und den wilden Szenen des Dämonenfestes beruhigte die Ruhe meine Nerven. Ich spürte jedoch, daß die nächste Prüfung ganz anders sein würde als die vorausgegangenen. Ich wurde immer aufgeregter, wie wohl alle Menschen, die etwas vollkommen Unbekanntes erwartet. Während ich betete, stiegen aus den Tiefen meiner Seele die vertrauten Bilder der Landschaft meiner Heimat auf. Mir war, als beobachtete ich eine lang vergangene Szene: mein früheres Leben, welches von der Gegenwart durch den doppelten Vorhang von Tod und Wiedergeburt getrennt zu sein schien. Mein Denken wurde immer langsamer, bis ich nichts mehr denken konnte. Und ich, der ich über meinen Vater gelächelt hatte, weil ihn beim Beten der Schlaf übermannt hatte, schlief einfach ein. Der ferne Klang eine s Gongs weckte mich auf. Ich sprang auf die Füße und eilte zurück in die Halle der Zeremonien, wo mich das gewohnte Bild empfing. Der Hohepriester und die Ichka saßen nebeneinander auf dem Thron und die Lamas im Halbkreis auf den Steinbänken. In der Mitte der Halle erblickte ich einen riesigen steinernen Sarg, welcher mit einem weißen Tuch bedeckt war. Im ersten Augenblick schrak ich vor dem Anblick zurück, doch ich riß mich zusammen und ging festen Schrittes zum Thron. „Bevor du die Große Prüfung ablegst", begann der Große Lama, „mußt du uns zeigen, ob du in den Übungen der Großen Askese bewandert bist. Lhalu, weise deinen Schüler ein!" Mein Lehrer ging zu mir und bedeutete mir, mich vor dem Sarg in der Stellung der heiligen Meister hinzusetzen. Ich ließ -137-
mich wie der Blitz mit gekreuzten Beinen nieder, denn so erforderten es die Regeln. Auf Lhalus Anweisung hin mußte ich Atemübungen vorführen, wie zum Beispiel das „neunfache Einatmen" oder das „vierfache gefäßförmige Atmen". Damit war ich seit langem vertraut, und so zeigte ich die Übungen des beherrschten Atmens von den kürzesten Rhythmen bis hin zu den langen Zyklen des angehaltenen Atmens so korrekt wie möglich. Ich wußte, daß ich danach auch den niedrigen Lungom-Sprung ausführen mußte, die wichtigste Übung der Großen Askese. Lhalu wies mich, wie damals auch mein alter Meister, nur mit den Augen und kaum wahrnehmbaren Fingerzeichen an. Als der Zeitpunkt des großen Sprunges näherrückte, fragte er mich, wie hoch ich springen könne. „Einen Meter hoch", antwortete ich ängstlich. „Zu niedrig", murmelte Lhalu. „Du wirst mindestens einen halben Meter höher springen müssen, wenn du den hohen Lungom ausführen mußt. Mach dir jetzt keine Sorgen. Heute wird nur der niedrige Sprung verlangt." Der Gong wurde sanft geschla gen, und mein Führer hob die Hand. Ich preßte die Finger in die Kniekehlen, führte die vorgeschriebene Atmung aus, drehte meine Hüften dreimal nach rechts und dreimal nach links und machte beim siebten Gongschlag springende Bewegungen mit den gekreuzten Beinen. Darauf folgte eine rhythmische Pause, während der ich vollkommen konzentriert auf den richtigen Augenblick warten mußte. Beim achten und lautesten Gongschlag schleuderte ich mich mit großer Kraft und der Aufbietung all meiner Willenskraft nach oben. Als ich zurückfiel, erreichte ich den Boden noch in derselben sitzenden Haltung. Der Ichkitsu erhob sich. „Ich sehe, daß du in den Grundbegriffen der Großen Askese ebenfalls bewandert bist. Daraus und aus den bereits bestandenen Prüfungen erkenne ich, daß du über die notwendige -138-
geistige und körperliche Kraft für die Prüfung des Sarges verfügst. Diese Prüfung wird eines der bedeutendsten Erlebnisse deines Lebens sein, denn wir nennen sie ,Tor zur Einweihung'. Die Prüfung des Sarges erprobt gleichzeitig deinen Glauben und deine Demut. Wir werden dich sieben Tage lang begraben. Deine Seele wird in dieser Zeit von deinem geistigen Führer in der anderen Welt begleitet. Wenn du wieder aufwachst, mußt du uns berichten, wo du warst und was du gesehen hast, außerdem deine gesamte Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Tode. Hast du den Mut, dich dieser Prüfung zu stellen? Du kannst auch ablehnen, mein Sohn." „Ich bin bereit", sagte ich und verbeugte mich. Der Hohepriester winkte, und Lhalu führte mich zum Sarg. „Hab keine Angst, Arau. Schau mich an und folge meinem Rat. Die Priesterin wird von ihrem Thron steigen und dich um deinen Umhang bitten. Dann legst du dich in den Sarg, wir bedecken dich mit dem Mantel, und der Hohepriester wird dich in Schlaf versetzen. Danach wird der Deckel verschlossen und zugenagelt. Der Große Lama versiegelt den Sarg mit seinem Ring und läßt ihn nach oben in ein Zimmer neben dem seinen bringen, damit er dich ohne Unterbrechung überwachen kann. Er ist für deine körperliche Gesundheit verantwortlich, und du kannst dich ihm ohne Bedenken anvertrauen." Die Priesterin trat zu uns, und auf ein Zeichen Lhalus zog ich meinen Umhang aus. Ich gab ihn der Ichka mit einer tiefen Verbeugung und legte mich in den Sarg, wobei ich das weiße Bartuch niederdrückte, das von selbst über mich fiel. Nur mein Kopf blieb unbedeckt, und als ich hochblickte, sah ich den Hohenpriester, der sich über mich beugte. Er öffnete seine Augen sehr weit und starrte mich an. Dann streckte er eine Hand aus und strich mit zwei Fingern über meine Stirn. „Schlafe", flüsterte er mit seiner tiefen Stimme, „schlafe!" Mir war, als bewege sich der Sarg unter mir und woge wie ein -139-
sturmgepeitschtes Meer auf- und ab. Im nächsten Augenblick sank ich in einen bodenlosen Abgrund und verlor das Bewußtsein.
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Kapitel 7 Als ich zu mir kam, wogte ich noch immer auf und ab. Ich war mir sicher, nicht zu träumen, allerdings war ich auch nicht wach. Dieser Zustand lag seltsam dazwischen. Neben mir drehten sich in hoher Geschwindigkeit farbige Kreise, und schleierartige Wolkenfetzen schwebten an mir vorbei. Der Hohepriester stand noch vor mir, doch ich sah weder Lhalu noch die Lamas. Das entferntere Ende der Halle der Zeremonien schien im Nebel zu verschwinden. An der Seite des Großen Lamas erblickte ich die Gestalt eines Mannes, der ein strahlend weißes Gewand trug und mir zulächelte. Allmählich beruhigte sich das Gewoge und glich nun mehr dem sich kräuselnden Wasser eines Sees, wobei konzentrische Ringe von einem Zentrum, dem Kopf der erhabenen Gestalt, auszugehen schienen. „Komm her!" Merkwürdigerweise nahm ich diese Aufforderung eher als Sehen denn als Hören wahr. „Steig heraus!" Mir war, als spalte sich mein Selbst: Ein Teil blieb steif und bewegungslos zurück, der andere stieg körperlos nach oben und schwebte über dem Sarg. Meine fünf Sinne arbeiteten tadellos, viel besser als ich es in meinem verlassenen Körper gewohnt war. Erstaunt bemerkte ich, daß ich von dort oben durch meinen Körper bis auf den Grund des Sarges sehen konnte, als bestände dieser aus Luft, ja, ich schaute durch das Kloster hindurch bis auf die Felsen, auf denen es gebaut war. Selbst der Große Lama war so durchsichtig wie Wasser. Jetzt erblickte ich auch Lhalu. Beide gingen zum Sarg, bedeckten mich mit meinem Umhang, hoben den schweren Deckel an, schoben ihn über die Öffnung und nagelten ihn fest. Dann brachte der Hohepriester Wachs am Öffnungsschlitz an und drückte seinen großen Siegelring hinein. Ich war außer mir vor Staunen. Noch nie hatte ich mich so merkwürdig gefühlt! Dies -141-
war kein Traum, denn ich wußte, daß ich nicht schlief. Es war ein Gefühl hundertfach erhöhter Wachheit! Ich sah, hörte und fühlte alles viel klarer, viel genauer als in meinem Körper. Ich beobachtete, wie die Lamas den Sarg auf ihre Schultern hoben und ihn langsam zur Treppe trugen, gefolgt vom Ichkitsu und Lhalu. Dann hörte oder sah ich diese Stimme wieder, eine kaum zu beschreibende Empfindung. „Ti-Tonisa, erkennst du mich?" „Uparnissur!" rief ich voller Freude, denn im selben Augenblick erkannte ich das Gesicht meines Schutzgeistes. War das nicht merkwürdig? In meinem irdischen Leben war er mir nie begegnet; ich wußte nur, daß er existierte und über mich wachte. Und jetzt war mir, als träfe ich einen alten vertrauten Freund, den ich verloren und wiedergefunden hatte. Ich rannte zu ihm und schlang die Arme um seine Schultern. Wenn ich „rennen" sage, so entspricht dies den Tatsachen, denn es handelte sich nicht um geistiges Gleiten, obwohl mir die Bewegungen so leicht fielen, als triebe mich die Kraft meiner Gedanken an. „Du erkennst mich also. Ich bin dein Geistführer, vom Himmel dazu bestimmt, von deiner Geburt bis zu deinem Tode über dich zu wachen. Erinnerst du dich noch an den chaldäischen Königshof in Assur, an dem wir beide Magier waren, unzertrennliche Busenfreunde? Auch damals wurde ich geboren, um dir durch dein Leben zu helfen. Doch die Nichtigkeiten der Welt ließen dich vom ewigen Ziele abschweifen. Sei nicht traurig, Ti-Tonisa! In diesem Leben hast du allen Versuchungen widerstanden, und deshalb darfst du zu der herrlichen himmlischen Sphäre, deiner Heimat, aufsteigen. Die Einweihungsstufe, die dir jetzt bevorsteht, ist vielleicht das wichtigste Ereignis in deinem Erdenleben. Nach so vielen Jahrhunderten begibt sich dein Bewußtsein zum ersten Male auf die geistige Ebene, und endlich begegnen wir uns wieder. Von -142-
nun an werden wir öfter in dieser Art miteinander sprechen, wenn auch nicht so unmittelbar wie jetzt, und ich werde dich in die Geheimnisse der geistigen Welt einführen, damit du noch auf der Erde in jener Sphäre leben kannst, in welche du eigentlich gehörst. Denn wisse, Freund, daß jener, der dem Weg der Einweihung folgt und den pfeilschnellen Pfad gewählt hat, während eines Erdenlebens mehrere Inkarnationen durchleben muß, um seinen Weg abzukürzen. Deshalb fürchte dich auch dann nicht, wenn dir merkwürdige Dinge zustoßen sollten. Folge stets den Anweisungen deines Hohenpriesters und meinen Eingebungen. Der Hohepriester bedeckte dich mit deinem Mantel und ließ deinen Körper in ein Zimmer neben dem seinen bringen, um dich ständig überwachen zu können. Sein Siegel und die Berührung seiner Hand wird die niedrigen, erdgebundenen Geister fernhalten, die in den unteren Sphären auf der Suche nach Beute umherschweifen und sich von den Sünden und Schwächen der Erdbewohner nähren. Komm, laß uns höher steigen. Sieh dir dein ewiges Zuhause an." Das Kloster und die riesigen Berge waren bereits in der Tiefe verschwunden. Als ich den gähnenden Raum unter mir wahrnahm, erschrak ich und dachte unwillkürlich an meine kleine Zelle. Im nächsten Augenblick sank ich. „Paß auf!" rief mein Führer und schoß blitzschnell hinter mir her. „Du mußt lernen, deine Gedanken zu beherrschen, denn sie sind lebendige Bilder, deren Schöpfer du bist. In der feinen Welt sind sie die treibende Kraft, mit deren Hilfe du dich in die gewünschte Richtung bewegst. Doch sie dich um!" Ich bemerkte erstaunt, daß verschieden große, farbige Formen gleich dem Schweif eines Kometen hinter mir herschwebten. In der Ferne machte ich gespenstische Schatten aus, während noch weiter entfernt ähnliche Geistformen wie mein Führer mit unglaublicher Geschwindigkeit durch den Raum schossen. -143-
„Du kannst deinem Meister dankbar sein, daß er dich gelehrt hat, die Gedanken zu beherrschen. Gedanken sind eine lebendige Realität, mein Freund. Aus diesem Grunde ist es so wichtig, daß ein Mensch sie schon auf Erden sichten lernt, damit seine guten, reinen, edlen Gedanken nach dem Tode seine geistige Entwicklung zu bezeugen vermögen. Sündige Gedankenphantome allerdings verfolgen ihre Erzeuger nach deren körperlichem Tode ohne Erbarmen, klammern sich an sie und lassen nicht zu, daß sie sich über ihre Entwicklungsstufe erheben." „Was sind das für leuchtende Gestalten in der Ferne?" „Geister", antwortete mein Führer. „Und woher weiß ich, ob ich einem Geist oder einer Gedankenform begegne?" „Sprich sie an. Wenn sie dir nicht antworten, sind es bloße Phantome, die sich von der Lebenskraft ihrer Erzeuger nähren." Wir glitten gleichmäßig, doch schwindelerregend rasch aufwärts. Ich fand es merkwürdig, daß es immer noch dunkel war. Außer den Geistern, die gleich leuchtenden Pfeilen einzeln oder in Gruppen am Horizont verschwanden, sah ich nur die strahlende Gestalt meines Führers. „Warum ist es so dunkel hier?" fragte ich, und seine blitzenden Gedankenschwingungen klangen in meiner Seele. „Weil der Ring, durch den wir gerade fliegen, die dunkelste Sphäre der Erde ist. Dort leben die Vater- und Muttermörder, die Triebverbrecher, die Hurer und die Mörder. Wisse, TiTonisa, daß sich das Schicksal eines jeden Menschen entscheidet, wenn nach seinem Tode im Chikai Bardo das heilige Licht aufflammt. In diesem Augenblick beginnt das Gesetz der Eignung zu arbeiten. Jener Mensch, der sich während seines Lebens zum pfeilschnellen Pfad entschloß, erkennt die Führung der Gottheit und reißt sich aus freien Stücken von der Materie los. Es läßt alles, was zur Erde gehört, dort zurück. Sein -144-
Geist fliegt frei wie ein Vogel durch die niederen sphärischen Ringe, weil ihn die Versuchungen jener, die dort leben, nicht anzufechten vermögen. Aus diesem Grunde vermagst du die Leidenden auch nicht zu sehen. Deine Seele schwingt sich augenblicklich so hoch hinauf, wie du es dir in deinem Erdenleben verdient hast." „Ist das die Unterwelt," fragte ich, „dieser dunkle Ort, durch den wir gerade fliegen?" „Ja, und außerdem noch die Schichten unter der Erde. Doch dort sind nur unverbesserliche Sünder in die Kessel unterirdischer Felshöhlen und schäumender Wasser gebannt. Es braucht Ewigkeiten, um von dort erlöst zu werden, obwohl auch diese verdammten Seelen aufsteigen können, denn kein Geist wurde zu ewiger Verdammnis geschaffen. Schau dich um!" Jetzt machte ich in der Dunkelheit verschwommene Umrisse aus. Wir kamen an großen Gebäuden und verwüsteten Plätzen vorbei. Meine Neugierde erwachte, und augenblicklich verlangsamte sich unser rascher Flug. Jetzt gingen wir buchstäblich nebeneinander durch breite gerade Straßen, und mit wachsendem Interesse betrachtete ich die seltsamen Gebäude, die mich an ein lange vergangenes Zeitalter erinnerten. Doch die schönen Paläste und Kunstwerke waren von Efeu überrankt, und Unkraut überwucherte das Straßenpflaster. Ab und zu sah ich, wie sich Menschen mit häßlich verzerrten Gesichtern über die Straße stahlen. Sie trugen dunkle Gewänder und waren abscheulich anzusehen. Als wir um eine Ecke bogen, hörten wir Schreie. Bestürzt beobachtete ich eine Gruppe Soldaten, die zwei bis zum Halse eingegrabene Männer folterten, welche flehend zu ihnen aufblickten. „Wo sind wir hier?" fragte ich entsetzt. „Was ist das für eine schreckliche Stadt?" „Es ist das alte Bild der Hauptstadt Mkah von Atlantis, der verlorenen Welt. Für diese unglücklichen Seelen ist es heute -145-
genauso wirklich wie damals. Es sind jene, die ihr Wissen nicht zur Ehre Gottes, sondern für die Ziele des Bösen einsetzten. Ihre Kenntnisse waren so hoch entwickelt, daß sie die Gesetze der magischen Zahlen willentlich anzuwenden vermochten. Außerdem kannten sie die verborgenen Namen aller Dinge und konnten so den kleinsten Partikeln der Materie gebieten. Getrieben vom wilden Durst nach Rache und der Gier, die Welt zu beherrschen, führten sie Krieg gegen das Volk, welches im Südosten des mittleren Kontinents lebte, doch die Materie geriet außer Kontrolle, und die Welt brach über ihren Köpfen zusammen. Das war die Zeit der Großen Flut, welche das Gesicht der Erde vollständig veränderte. Durch die großen Umwälzungen sind die Berge und Meere heute anders gestaltet als zu jenen Zeiten. Seitdem leben die Seelen der sündigen Atlanter, welche durch die Katastrophe plötzlich hinweggerafft wurden, hier in diesem geistigen Gegenstück ihres Landes und führen noch immer dasselbe schlimme Leben." „Gibt es denn keine Rettung für sie?" fragte ich und drängte mich unwillkürlich näher an Uparnissur heran. „Jeder Mensch kann erlöst werden, mein Freund. Das hängt nur von seiner Reue ab. Wenn diese unglücklichen Seelen Mitleid für ihre einstigen Gegner empfänden und die hohen Kräfte um Hilfe bäten, würden auf der Stelle hilfreiche Geister zu ihnen gesandt, die sie aus Dunkelheit und Leid erretten würden. Komm, laß uns höher hinaufsteigen, denn hier ist die Heimat der Sünde. Ich hielt mich nur deshalb mit dir dort auf, weil es deinem Wunsche entsprach. Habe ich dir nicht bereits gesagt, daß hier ein Wunsch gleichbedeutend ist mit seiner Erfüllung?" „Du hast mir auch gesagt, daß im ersten Ring der ersten Sphäre die Triebtäter leben. Und jetzt sind wir unter den Mördern von Atlantis. Stehen sie denn höher als die Sklaven der Sinne?" „In der Tat, Ti-Tonisa. Die erste Sphäre des ersten Ringes -146-
wird von Seelen bewohnt, die ihren schöpferischen Instinkt dazu benutzten, den Tempel ihres Körpers durch Hurerei zu beschmutzen. Dort leben auch solche, die ihre Eltern töteten. Dann folgen die Mörder, die Räuber, die Selbstmörder, die Gottlosen, diejenigen, die das Gold anbeten und die grausamen, wilden Völker der Wälder. Das traurigste Schicksal von allen erleiden vielleicht jene unglücklichen Geister, die ihr Leben, jenes große Geschenk Gottes, mit eigenen Händen fortwarfen. Die Selbstmörder sind solange an ihr Grab gebunden, bis die ihnen vorbestimmte Lebensspanne abgelaufen ist. Sie erleben jeden Augenblick der Auflösung und des Verfaulens ihres Leibes. Stell dir das so vor: Jeder Ring der feinen Welt über der Erde besteht aus einer kreisförmigen Kette von sieben Sphären oder Ebenen. Die Erde in unserem Sonnensystem verfügt über sieben solcher Ringe. Gerade habe ich dir die sieben Sphären des ersten Ringes genannt. Dort herrschen so dichte Schwingungen, daß sich ein höherer Geist dort so fühlt wie du dich fühlten würdest, wenn du unter Wasser atmen solltest." Während er dies sagte, waren wir bereits über die Ebene der zerstörten Stadt aufgestiegen, die unter uns in der Tiefe schwebte. „Im nächsten Ring werden wir nicht anhalten", sagte me in Führer. „Die niederen drei Ringe und ihre entsprechenden Sphären sind Orte des Leidens und der geistigen Reinigung, wo die Seelen das Gewicht und die Auswirkungen ihrer Sünden siebenmal deutlicher spüren als auf der Erde. Wir fliegen jetzt zum vierten Ring, unserer wahren Heimat, der Halle des Himmels, wo der Kreislauf der Verkörperungen endet. Wenn der Geist rein bleibt, muß er nicht mehr hinabsteigen und ist vom ewigen Kreislauf des Akhor befreit." Zu meinem Staunen wurde es immer heller. Vom Lande der Dunkelheit kamen wir in das Land des Zwielichtes, welches wir blitzschnell durchflogen. In der Ferne konnte ich die Umrisse -147-
von Städten, Dörfern und Bergen erkennen. Schattenhafte Menschen eilten an uns vorbei, als wollten sie ihrer täglichen Arbeit nachgehen. In der Tiefe schwebte die Erde gleich einem großen Ball. Der Mond zu unserer Rechten war so nahe, daß seine Kugel hundertmal größer zu sein schien als am Erdenhimmel. Funkelnde Sterne rasten durch den Raum. Die flüssigen Spuren ihrer farbigen Höfe wehten gleich bunten Schleiern hinter ihnen her. Alles hier war lebendig und in Bewegung, viel lebendiger als auf der Erde. Am wunderbarsten war jedoch das breite Spiralband, welches sich wie die Milchstraße von der Erde aus durch alle Ringe und Sphären in unendliche Höhen zog, wo es sich im goldenen und silbernen Gefunkel ferner Sonnen und Sterne verlor. Erst jetzt fiel mir auf, daß auch wir auf dem Spiralband, dieser wunderbaren Himmelsstraße reisten. Jede ihrer Windungen dehnte sich weiter als der irdische Horizont hätte fassen können. Seltsamerweise schien sie eifrig benutzt zu werden, denn ich sah viele Geistwesen. Eine Hälfte des Weges leuchtete in strahlendem Weiß: Auf dieser Seite befanden sich jene Seelen, die auf ihrer Pilgerfahrt nach oben strebten. Auf der anderen Hälfte, welche im Dunkeln lag, sanken unzählige Gestalten in großer Geschwindigkeit abwärts, wobei sie ab und an im Sternenlicht aufblitzten. Doch nicht jeder Geist wanderte: Einige glitten genauso gleichmäßig rasch nach oben wie wir. „Achtung! Du richtest deine Aufmerksamkeit auf den Weg, und schon stehst du", rief Uparnissur und flog zu mir zurück. „Da ich weiß, was dich neugierig macht, werde ich deine Fragen beantworten, wenn auch nur kurz, denn wir haben nicht viel Zeit. Die irdische Woche, während der dein körperloser Geist in unserer Mitte weilen darf, dauert in der zeitlosen Ewigkeit nicht länger als ein Augenzwinkern. Du wirst schon bald in deinen Körper zurückkehren müssen. Dies hier ist die Himmelsstraße, welche sich vom tiefsten Ring immer höher hinauf bis zum unsterblichen Licht windet. Wie du siehst, wandern die Geister -148-
auf- und abwärts. Diejenigen, die aufwärts streben, bewegen sich sehr langsam, denn in den Sphären der feineren Welt dauert die Sühne wesentlich länger und ist viel mühseliger als auf der Erde. Deshalb können die Seelen nach den in den Sphären bestandenen Prüfungen nur langsam aufsteigen und auch nur begrenzt hoch. Diejenigen, die fallen, rasen dagegen mit Höchstgeschwindigkeit in die Tiefe. Über ihnen kannst du ganze Legionen von Engeln sehen, denen es bestimmt ist, diesen Geistern zu folgen, um ihnen zu helfen. Jene leuchtenden Geister mit den goldenen Helmen und den gezückten, schimmernden Schwertern, die sich über uns in die Tiefen der Unterwelt stürzen, sind die Führungsgeister der Erde, die helfenden Heerscharen. Wo immer das Böse in den niederen Sphären oder auf der Erde so stark wird, daß es die Sühneordnung und die vom göttlichen Gesetz vorgeschriebene Entwicklung stören könnte, erscheinen diese himmlischen Heere und stellen die Ordnung wieder her. Wenn die dunklen Truppen Sadags das magnetische Blitzen der flammenden Schwerter erblicken, flüchten sie Hals über Kopf, da sie nur darauf aus sind, die Sterblichen in die Irre zu führen. Du siehst, daß die helfenden Geister in großer Anzahl zur Erde fliegen, denn dort wird bald ein Krieg ausbrechen. Wisse, daß die Kriege von den weißen und schwarzen Heerscharen zuerst in den Sphären ausgefochten werden. Je nachdem, wie der Kampf hier ausgeht, wird er auf der Erde wiederholt. Die Auswirkungen dieses Krieges wirst auch du spüren, Ti- Tonisa." „Krieg?" fragte ich bitter. „Sag mir, Führer und Freund, warum muß die Menschheit so leiden? Ich bin noch jung, doch mein früherer Meister erzählte mir, daß sich die Geschichte unserer Erde aus einer ganzen Reihe von Kriegen zusammensetzt. Warum morden die Völker einander? Wann wird das Blutvergießen, wann werden die Orgien von Grausamkeit und Rache in der Welt aufhören? Sag mir, warum muß dieser neue Krieg sein?" -149-
„Kriege stehen im Dienst des großen Sühneplans der Heiligen Weisheit. Das werdet ihr Erdbewohner mit eurem beschränkten Bewußtsein nie begreifen! Krieg ist ein übernatürlicher Eingriff in das Leben der Völker, eine Massenbestrafung zur Besserung der Menschheit, eine bittere Medizin, um sie zu heilen. In Zeiten des Krieges werden jene ausgesondert, deren Arva ihren Untergang bestimmt hat. Nach einem Krieg gibt es auf der Erde stets eine Weiterentwicklung. Wisse, mein Freund, wenn Krieg keinen Nutzen bringt und Gott sieht, daß die Menschheit nur soziale und technische Fortschritte macht, in der Moral aber zurückbleibt, dann wird Er sie mit furchtbaren Katastrophen und Umwälzungen erschüttern. So versank der fruchtbare Kontinent Attalan vor Zwölftausend Mondjahren in den Fluten, und viel früher wurde Mu, das Mutterland der Menschheit, vom großen Meer verschlungen. Eine solche Katastrophe erwartet die Erde noch einmal, bevor sie sich wirklich vom Bösen reinigt." Die vielfältigen Eindrücke und die ungewöhnliche Art meiner neuen Erfahrungen überwältigten mich so sehr, daß mir beim Hören dieser erhabenen Geheimnisse plötzlich meine unendliche Kleinheit zum Bewußtsein kam. Mit einem Mal dachte ich an meinen Körper. Wenn ich nun nie wieder aufwachte? Ich wollte noch so viel auf der Erde erledigen! Auch wenn ich mich nach diesem wunderbaren Land hier sehnte, wußte ich, daß ich noch viele Prüfungen bestehen und noch einige edle Taten vollbringen mußte, bevor ich hier wirklich hingehörte. Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, begann ich mit ungeheurer Geschwindigkeit abwärts zu stürzen, wobei ich fast die Besinnung verlor. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in der zerstörten Stadt von Atlantis wieder. Ein dunkelgewandeter Mann beugte sich über mich und drückte mir mit aller Kraft die Kehle zu. In maßlosem Entsetzen erkannte ich, daß ich zu Füßen einer schwarzen Marmorsäule lag, und daß nicht nur eine, sondern zwei dunkle Gestalten an meiner Kehle zerrten. Keuchend schrie ich um Hilfe. Uparnissur -150-
erschien augenblicklich, und meine Angreifer flohen Hals über Kopf. „Du warst schon wieder ungehorsam", tadelte er mich streng, „und deshalb bist du in Schwierigkeiten geraten. Aus Mangel an Glauben sorgtest du dich um deinen verlassenen Körper, weshalb du zu sinken begannst. Doch aus eigener Anstrengung gelangtest du nur bis hierher, wo diese unsauberen Seelen ihr Revier nach Beute absuchten und deinen Untergang beinahe besiegelt hätten. Wäre ich nicht eingeschritten, wäre genau das geschehen, was du vermeiden wolltest. Der Weg zurück in deinen Körper wäre dir versperrt geblieben!" Er strich ein paarmal magnetisierend über meinen Körper und nahm mich unter seinen leuchtenden Umhang. „Ich danke dir, daß du mich gerettet hast", flüsterte ich mit schmerzender Kehle. „Du allein weißt, wie oft ich deine Geduld auf der Erde schon mit meiner Dummheit auf die Probe gestellt habe. Wenn es dir beliebt, dann sage mir bitte, warum ich diesen Geistkörper hier genauso stofflich spüre wie den irdischen, und warum meine Kehle so schlimm schmerzt, als wäre ich in den Bergen des alten Bod-Yul überfallen worden?" „Du bist ein Kind", antwortete mein Führer. „Du weißt, daß der Sitz der Gefühle und Empfindungen die Seele ist, welche aus einer unsichtbaren ätherischen Form von Materie besteht. Die Seele ist die Hülle, das Gewand deines Geistes. Sie ist genau gleich geformt und umgibt den Geist wie eine Gußform. Höre mir jetzt aufmerksam zu: Wenn du dich auf der Erde verkörperst, erhältst du zusätzlich eine dicke Haut, den Körper, der mit der Seele durch ein unsichtbares Organ verbunden ist, durch das Silberband. Dieses Band ist außerordentlich dehnbar, es kann unendlich weit gestreckt werden, und wenn du schläfst oder wenn deine Seele sich, so wie jetzt, außerhalb des Körpers befindet, hält das Silberband die Verbindung zum verlassenen Körper aufrecht. Wenn dieses Band durchtrennt wird, folgt unweigerlich der Tod. Wird ein Mensch auf Erden geboren, -151-
entrollen die weißgekleideten Herren des Schicksals auf dem siebten Ring sein silbernes Band. Wenn er stirbt, nein, kurz bevor er stirbt, beginnen die schwarzgekleideten Engel, die am Tor der Sphären warten, sein Lebensband aufzuwickeln und übergeben es den Herren des Karmas. Dann durchtrennen die Schwarzgekleideten das Lebensband, und der Mensch stirbt, um später im Bardo wieder zu erwachen. Doch um auf deine Frage zurückzukommen: Du wolltest wissen, warum die Seele ihren Körper hier genauso spürt wie auf der Erde. Denk einmal an die Schafhirten im nördlichen Bod-Yul, die im Hochgebirge leben und immer Pelzmantel, Handschuhe und Pelzmütze tragen. Laß diese Kleidung ein Sinnbild für den menschlichen Körper sein. Trotz Pelzmantel, Handschuhe und dicker Stiefel vermagst du zu fühlen. Wenn jedoch die Bewohner eines südlichen Landes solch einen Schafhirten erblickten, würden sie diese Kleidung für seinen eigentlichen Körper halten, da vom Menschen, der all dies trägt, nichts mehr zu sehen ist. Doch wenn dieser Mensch seine Kleidung auszieht, spürt er alles ganz unmittelbar auf der Haut. Genauso solltest du dir die Seele vorstellen. Wenn du den Pelzmantel, deinen irdischen Körper, ablegst, erscheint darunter dein wahrer Körper, die Seele, welche dieselbe Gestalt hat, jedoch viel feiner und spürsamer ist. Und da die Seele die Gefühle und die fünf Sinne beherbergt, ist es nicht weiter erstaunlich, daß sie sich im Jenseits genauso fühlt wie auf der Erde. Deshalb spürst du Hände, Arme und Beine hier ebenso wie unten, wenn du wach bist. Die Gußform enthüllt die unsichtbare Gestalt der Statue, und erst dann fühlt sie wahres Leben! Aus diesem Grunde sind viele sündige, gottlose Menschen, die nie an ein Leben nach dem Tode glaubten, davon überzeugt, gar nicht gestorben zu sein! Sie erwarteten völlige Vernichtung und Unbewußtheit, und plötzlich erwachen sie in einer feineren Welt und fühlen sich siebenmal lebendiger als je zuvor. Daher spürtest du Schmerz, als dich die Hände der Geister ergriffen und würgten. Der einzige Unterschied zum -152-
Leben auf der Erde besteht darin, daß du hier keine dicke Kleidung trägst, sondern nur dein Hemd! Der Mensch setzt sich in erster Linie aus Geist, Seele, Silberband und Körper zusammen, doch dem menschlichen Auge ist nur der Körper sichtbar. Verstehst du, mein Freund?" „Jetzt ist mir alles klar. Doch wie können wir uns vor den Angriffen der niederen Geister schützen? " „Durch bloße Geisteskraft und durch den Willen, dessen Stärke du auf der Erde entwickelst. Ist dein Wille stark und dein Glaube unerschütterlich, werden alle Geister, die unter dir stehen, von dieser Kraft gebannt. Doch der leiseste Zweifel oder ein einziges Aufblitzen von Angst genügen, daß sich solche Geister wieder nähern." „Vergib meinen Ungehorsam", bat ich und beugte den Kopf, „und verfahre mit mir nach deinem Gutdünken, Meister!" „Dann sei stark und sehne dich nach den Höhen. Laß uns aufsteigen, damit wir die verlorenen Zeit wieder aufholen." Er öffnete seinen Mantel und blickte zu der weit entfernten Lichtquelle, welche ab und zu zwischen den Sternen aufblitzte, in deren Flimmern der spiralige Weg der Geister verschwand. Als habe uns eine unsichtbare, magnetische Kraft ergriffen, schossen wir wieder in die Höhe. „Die Gnade Gottes hat dir tatsächlich eine große Gabe verliehen, Ti-Tonisa. Danke unserem Vater, der Ewigen Weisheit, dafür. Glaube nicht, daß dir ein solch erhabenes Erlebnis noch einmal zuteil wird! Nur weil du eingeweiht wirst, darfst du deinem Schutzgeist so unmittelbar begegnen und erhältst Einblicke in die Geheimnisse der anderen Welt. Dies geschieht ein einziges Mal im Leben desjenigen, der den Weg der Askese bis zur Prüfung des Sarges beschritten hat. Als Belohnung für seine Ausdauer wird sein Bewußtsein auf die geistige Ebene versetzt. Du wirst mich auch später auf deinen geistigen Reisen antreffen, doch dieser lange Ausflug in die -153-
Sphären, welcher der Belehrung dient, ist das Vorrecht des ersten Tages der Einweihung. Halte also die Augen offen und beachte alles, und wenn du Fragen hast, dann stelle sie, denn eine solche Möglichkeit erhältst du erst wieder nach deinem Tode." Wir hatten ungefähr dieselbe Höhe erreicht wie zuvor, als mich die plötzliche Sorge um meinen Körper ergriffen hatte und ich abgestürzt war. Immer höher glitten wir die breite Himmelsstraße empor, die der Milchstraße so sehr glich. Inzwischen war es hell geworden, und die Geister wanderten nicht mehr, sondern flogen wie wir. Der Weg leuchtete silbern, selbst die andere Seite war nicht dunkel, sondern schillerte in allen Farben. Unter den absteigenden Geister gab es kaum noch Pilger. Es handelte sich zum größten Teil um Engelheere, die eine Mission auf der Erde zu erfüllen hatten. Das Licht dieser Sphäre leuchte immer weißer, während es von oben immer blendender funkelte. Seltsamerweise dachte ich auch jetzt an meinen Körper, wenngleich ohne Sehnsucht, doch war mir etwas in der ganzen Angelegenheit überhaupt nicht klar. Wieder tönte Uparnissurs Antwort mit der Lautstärke des gesprochenen Wortes in meiner Seele: „Ich weiß, was du fragen willst. Wie kann dein Körper ohne Luft und Nahrung eine Woche lang eingeschlossen in einem Sarg überleben? Es gibt viele Dinge auf der Erde, mein Freund, von denen die Menschen keine Ahnung haben. Deine Meister werden dich alles lehren, deshalb werde ich hier nur die spirituelle Seite des Phänomens ansprechen. So wie die Tiere viele Monate lang mit verlangsamtem Atem und ohne Nahrung in ihren Höhlen Winterschlaf halten, so erträgt es der Körper eines keuschen Mannes, lebendig begraben zu sein. Der Sarg hat keine große Bedeutung; er dient vor allem der Prüfung und der Überwachung des Schülers. Allein die Fertigkeit, die der Novize in der Aus sendung des Bewußtseins hat, spielt eine Rolle. Der -154-
Körper wird mit der Zeit immer tauglicher für geistige Reisen und verzückte Zustände. Bei solchen Gelegenheiten kommen seine Lebensfunktionen nahezu zum Erliegen: Atem und Herz stehen still. Nur äußerst selten kann man das Herz ein- oder zweimal sanft schlagen fühlen. Dieser Zustand gleicht dem Tode mit dem Unterschied, daß das Silberband nicht durchtrennt, sondern nur unendlich weit gedehnt ist. Aus diesem Grunde triffst du so viele uralte Lamas in den Klöstern an. Während der Geist fliegt, arbeitet der Organismus sehr eingeschränkt, ist nicht der Hetze des Tages ausgesetzt, und Herz und Lungen ruhen. Die Zeit steht für den bewegungslosen, scheinbar leblosen Körper still, und so altert er nicht. Ihr, in Bod-Yul, übt diese Technik täglich, und aus diesem Grunde sind Lebensspannen von zweihundert Jahren bei euch nicht selten." Das Strahlen über uns wurde so gleißend, daß ich die Augen schließen mußte. Wir bewegten uns langsamer, und als ich mich an das Licht gewöhnt hatte, bemerkte ich überrascht, daß sich zu beiden Seiten des weißen Weges wunderschöne grüne Hügel und blühende Wiesen ausdehnten. Über uns mischte ein leuchtender Regenbogen, welcher den ganzen Himmel erfüllte, seine Farben mit der von oben einstrahlenden Lichtfülle. Scharen glücklicher Geistwesen mit sonnenbestrahlten Gesichtern wanderten in Gruppen auf ein großes Marmortor zu. „Das verstehe ich nicht!" rief ich entzückt. „Hier gibt es ja viel schönere Landschaften als auf der Erde!" „Diese Landschaft ist das geistige Gegenstück der Substanz, aus welcher sich die irdischen Bäume, Hügel und Bauwerke zusammensetzen. Die Geister der verschiedenen himmlischen Ringe verfeinern und vergeistigen diese strahlende Substanz, indem sie sie mit ihrer eigenen Wesenheit erfüllen. Wie oben, so unten! Merk dir diesen Satz, Ti- Tonisa. Deine Erde ist nur eine Illusion, eine dichte, verzerrte Projektion jener Wirklichkeit, die dich hier erwartet. Wir sind angekommen. Wir haben die drei niederen Erdringe mit ihren einundzwanzig Sphären hinter uns -155-
gelassen. Dies ist das Tor zum vierten Ring, der Heimat deines sphärischen Seins. Wenn du nach einem erfolgreichen Erdenleben hier anlangst, mußt du dich nie wieder auf der Erde verkörpern. Das sich ewig drehende Rad des Akhor wird für dich angehalten. Die Gnade des Höchsten gießt das Wasser aus deinem silbernen und deinem goldenen Krug ins Meer. Von dieser Ebene aus wirst du nur dann wiedergeboren, wenn du eine Mission auf der Erde erfüllen oder zurückgebliebene Mitglieder deiner geistigen Familie führen willst, die nicht allein herauffinden. Der Weg hierher war lang, Ti- Tonisa! Seit du in jenen Tagen im alten assyrischen Reich, wo ich dein Freund war, fielst, hast du das Leid vieler Leben ertragen müssen, bis du endlich in deine Heimat zurückkehren durftest! Der Weg der gefallenen Geister zu den Hallen des Himmels ist weit, in Raum und Zeit ausgedrückt so weit, daß unser Vater, der alles in liebender Fürsorge bedenkt, die Dauer mit einem Schleier zudeckte. Bis ein Erdling die lange Reihe der geistigen Stufen durchwandert hat, um sich von seinen Unvollkommenheiten und Fehlern zu befreien, vergehen zahllose Zeitalter. Doch da Zeit eine Illusion ist, zählt allein, daß der lange Marsch zum Reich der Weisheit beschritten wird. Der Stillstand des Arva, der wiederholten Geburten, ist in den Augen von euch Wanderern auf der Erde das größte Geschenk der Gnade. Um es zu erhalten, müßt ihr nur eines tun: Haltet die Gesetze!" Er schwenkte sein weißes Gewand, und jetzt flogen wir schwungvoll durch das weiße Marmortor. Wir kamen an durchscheinenden, in allen Regenbogenfarben schillernden Gebäuden vorbei, an seltsam glänzenden riesigen Bergen, bis wir nahe dem Gipfel eines solchen Riesen ein Kloster erblickten. „Siehe! Das himmlische Doppel des Felsenberges", rief mein Führer, und ich landete völlig verzaubert neben ihm auf dem Klosterhof. Jeder kommt nach seinem Tode dorthin, wohin er gehört. Dies hier ist das geistige Abbild des unteren Teils eures -156-
Klosters im vierten Ring." Alles war ganz gena uso wie in Tampol-Bo-Ri. Doch die Strahlkraft, die ich hier erlebte, übertraf die menschliche Vorstellungskraft. Das ferne Massiv des Kangchendzuna schillerte in unzähligen Farben, und das himmlische Strahlen noch höherer Sphären brach sich auf seinen schneeweißen Gipfeln. Die durchsichtigen Wände des Klosters schienen aus Kristall- und Glimmerplatten zu bestehen, durch welche das Licht der ewigen Sonne strahlte. Lang verstorbene Lamas, die die gleichen Gewänder trugen wie mein Führer, kamen lächelnd heraus und begrüßten uns freundlich. „Wir sind in der siebten Sphäre des vierten Rings!" sagte Uparnissur und wies mit der Hand in die Runde. „Die oberen Geschosse des Klosters reichen in die erste Sphäre des fünften Rings, in die Heimat der heiligen Lamas. Von dort stammen die meisten Schutzgeister. Gib dir deshalb Mühe, Ti- Tonisa, damit du eines Tages dorthin kommst und Gott dir die Aufgabe gibt, eine menschlich Seele zu führen. Im Augenblick befindet sich dein Heim auf der höchsten Ebene des vierten Rings." Die weißgekleideten Lamas traten zu uns, und ich war glücklich, unter ihnen mehrere alte Freunde wiederzufinden, welche ich im Laufe vieler vergangener Leben verloren hatte. Sie sagten mir, daß dieser Ring der Ort der himmlischen Einweihung sei, die Heimat der lehrenden und heilenden Geister, während der fünfte, sechste und siebte Ring das himmlische Heim der höchsten Schutzgeister und der Herren des Arva sei, die in einer Fülle von Licht lebten, welches die höchste Weisheit über sie ausgoß. Sie führten mich durch die leuchtenden durchscheinenden Gebäude. Alles war hell! Selbst die auf der Erde schwarzen und grauen Felsmassen glänzten hier silbern. Meine Zelle war ein großer Raum. Als ich über die Schwelle trat, sank ich tief berührt auf die Knie. Die Wände dieser Zelle waren mit Bildern geschmückt, welche die besten und menschlichsten Handlungen meiner früheren -157-
Verkörperungen darstellten. Alle guten Taten, die ich je getan hatte, fand ich hier in Form von Bildern, Statuen oder duftenden, nie welkenden Blumen wieder. „Schau an die andere Wand", sagte Uparnissur, „und wappne dich! Hier gibt es keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft. Deshalb findest du dort Bilder, die sowohl deine irdische Vergangenheit wie deine Zukunft darstellen. Betrachte die darauf dargestellten Szenen, und sei durch sie getröstet. Laß dich von dem Leid, das du erblicken wirst, nicht ablenken. Siehe! Das letzte Bild zeigt, wie du als reifer alter Mann stirbst und triumphierend diesen Raum betrittst. Setz dich und betrachte die Bilder der kommenden Jahre, die aus der MkahChronik stammen, in welcher alles verzeichnet steht. Schau sie sorgfältig an und präge sie dir ein, denn du mußt deinem Hohenpriester deine Lebensgeschichte vom Augenblick deiner Geburt bis zu deinem Tode erzählen können, wenn er dich danach fragen wird." Mein Führer und die Lamas verließen die leuchtend weiße Zelle und ließen mich allein zurück. Ich setzte mich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und betrachtet das erste Bild, das mich als Kind darstellte, wie ich das gebrochene Bein eines Kiangs versorgte. Die nächste Szene zeigte mich auf einer Karawanenreise, auf der uns die Nahrungsmittel ausgegangen waren. Ich hatte meinen Anteil den Trägern überlassen, die schwächer waren als ich. So merkwürdige Bilder hingen an der Wand, und jedes von ihnen stellte das jeweilige Ereignis auf das Genaueste dar. Ich sah mich betend in der Einsamkeit meines kleinen Zimmers zu Hause, wo ich zu Gott flehte und Ihn bat, mein Leben Ihm weihen zu dürfen. Ein Bild zeigte, wie ich gerade im Felsenklosters angekommen war, und natürlich fehlte auch nicht die Szene mit meinem Vater, dem pferdeschwänzigen Gyanak-Soldaten und Lhalu Lama, der gerade mein Leben rettete. Ich erkannte, daß jedes Bild ein wichtiges Ereignis meines Lebens darstellte. Das letzte zeigte mich in der großen -158-
Halle der Zeremonien, wo ich in den Sarg gelegt wurde. Jetzt betrachte ich die Bilder an der anderen Wand, und mein Herz machte einen Sprung: Die erste Szene zeigte bereits meine Zukunft. Ich saß als eingeweihter Lama zwischen den anderen Priestern in der großen Halle im ersten Stock. Das darauffolgende Bild verstand ich nicht. Es war so furchtbar, daß ich meinen Blick abwenden mußte. Ich sah mich an Lhalus Seite in einem Bergdorf, wo wir eine Hütte betraten. Das Dorf brannte, und fremde Soldaten rannten mit gezückten Schwertern plündernd durch die Gassen. Wir standen in der offenen Tür und starrten auf das Bild, das sich uns bot: Ein toter Soldat lag dort am Boden und neben ihm ein schönes, , junges Mädchen, dem ein Dolch im Rücken steckte. Sie hatte helles Haar und schien ein Kind unseres Volkes zu sein. Was sollte das bedeuten? Fremde Soldaten in Bod-Yul, dessen himmelsstürmende, schneebedeckten Gebirgszüge bis jetzt alle Eindringlinge abgewehrt hatten? Danach fo lgte ein noch seltsameres Bild: die lange Reihe weißer Säulen in dem sonnenhellen Land, welches ich einst in meiner Vision gesehen hatte. Menschen mit Kopfbedeckungen aus rotweißem Stoff standen mit nackten Füßen vor mir, und neben mir stand Lhalu Lama in vollem Ornat. In der Ferne dehnte sich eine gelbe Wüste aus, auf der sich riesige Pyramiden erhoben. Wieder ein anderes Bild: Wir saßen in der Halle der Zeremonien, doch der Hohepriester und die Priesterin schienen kleiner zu sein als die gegenwärtigen. Be ide trugen prächtige Gewänder, doch ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen, da sie mir die Rücken zuwandten und gerade die Halle verließen. Ich betrachtete die anderen Bilder. Als ich das letzte, das meinen Tod darstellte, in mich aufgenommen hatte, war mein Herz tiefbetrübt. Ich sah alles. Ich verstand alles, doch war es nicht die Szene meines Todes, die mich mit unendlichem Schmerz erfüllte, sondern die beiden Bilder zuvor. Nach all dem Glauben und der Ehre, nach so viel Leid! Ich warf mich nieder und betete zur ewigen Liebe, -159-
daß sie ihn, den ich so sehr liebte und der mir nach meinen Eltern am nächsten stand, beschützen möge. „Erhebe dich, Ti- Tonisa", hörte ich die Stimme meines Führers. Tränenüberströmt blickte ich auf und sah, daß die himmlischen Lamas um mich herumstanden und mich ermutigend, stärkend und tröstend anblickten. „Erhebe dich und sorge dich nicht. Kein Mann soll die weisen Ratschlüsse Gottes bezweifeln! Niemand kann beurteilen, warum ihm das Schicksal dieses oder jenes auferlegt. Du hast deine Zukunft gesehen, doch die traurigen Ereignisse werde ich aus deinem Gedächtnis tilgen und nur das Bild deines Todes belassen. Mach dich bereit, denn wir müssen hinunter. Die Woche ist verstrichen, und im irdischen Felsenberg versammeln sich die Lamas bereits in der Halle der Zeremonien, um deinen Sarg zu öffnen. Siehe, auch der Hohepriester schreitet herbei. Es ist höchste Zeit, daß du deinen Platz im Körper wieder einnimmst." Die weißgekleideten Lamas blickten besorgt und legten mir segnend die Hände auf den Kopf. Ich warf einen letzten Blick in mein herrliches himmlisches Heim und betrachtete die durchsichtigen Kristallfelsen und die regenbogenfarbigen Wände. Würde ich jemals hierher zurückkehren? „Halte dich an meinem Mantel fest", sprach Uparnissur. „Jetzt müssen wir noch schneller fliegen, damit du pünktlich eintriffst. Hab keine Angst, wenn dein Bewußtsein schwindet, denn nur so kannst du in deinen Körper zurückkehren. Und jetzt laß uns aufbrechen!" Im nächsten Augenblick sanken wir so schnell wie ein von einem hohen Berg geworfener Stein in die Tiefe. Das Licht verlosch, wieder war ich von Dunkelheit umgeben, nur die himmlischen Ringe über mir leuchteten. Dann vermischte sich ihr verblassendes Strahlen mit dem Licht der Sterne, bis alles zu einem drehenden Kreis über meinem Kopf verschmolz, immer weiter zurückwich und in der Ferne verschwand. Ein Ring aus Feuer lauerte unter mir, raste auf mich zu, durchdrang meinen -160-
Körper, hielt mitten in meinem Gehirn inne und barst mit einem lauten Knall. Betäubt und ohnmächtig stürzte ich durch den Raum.
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Kapitel 8 Etwas flackerte in der Dunkelheit meiner Besinnungslosigkeit wie ein winziges Binsenlicht. Mir war, als rufe mich jemand aus weiter Ferne. Augenblicklich versank ich im Nichts. Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich mich, als sei ich in einer engen Felshöhle eingezwängt, welche meinen Körper von allen Seiten zusammenpreßte, was mir ungeheure Schmerzen verursachte. Plötzlich vernahm ich den Ruf von Neuem: „Offenbare dich!" Es war die Stimme des Großen Lamas. Ich versuchte, den Mund zu öffnen, um den verlangten Bericht über meine geistige Reise abzulegen, konnte mich jedoch nicht rühren. Mein Körper war vollkommen steif, nur mein Bewußtsein wurde immer klarer. Meine bleischweren Augenlider regten sich nicht. Und dann überkam mich auf der Schwelle zwischen Leben und Tod die vertraute Benommenheit. Meine Lippen öffneten sich, obwohl mir bewußt war, daß nicht ich sie bewegte. So leise und dumpf wie aus einem Grab klangen mir die eigenen Worte in den Ohren. Ich berichtete ausführlich von meiner geistigen Reise, begann bei dem Augenblick, wo ich den Körper verlassen hatte, und endete mit dem Tag meines zukünftigen Todes. Wie auf den Bildern des Vierten Ringes sah ich auch hier Vergangenheit und Zukunft in der Gege nwart. Jetzt tanzten kleine Lichtkreise vor meinen geschlossenen Augen. Der Deckel des Sarges mußte geöffnet worden sein. Jemand zog den Mantel fort. Ich wollte aufstehen, konnte mich jedoch überhaupt nicht bewegen, und als ich mich auf meinen Körper konze ntrierte, stellte ich bestürzt fest, daß ich gar nicht atmete. Es dauerte ziemlich lange, bis sich meine Brust fast unmerklich zu heben begann, wobei mir war, als schnitten hundert Dolche in meine Lungen. Irgend jemand berührte -162-
meinen Kopf und begann, meinen Kiefer langsam und rhythmisch zu bewegen. Eine heiße Welle durchfuhr meine Glieder, und ich atmete regelmäßiger. Schließlich steigerte sich das kaum wahrnehmbare Atmen zu einem lautem Keuchen. Plötzlich öffneten sich meine Augenlider. Ich wußte, mein Bewußtsein war wieder vollkommen klar. Ein mir unbekannter Lama machte sich an meinem Kiefer zu schaffen. Jetzt atmete ich zwar, doch meine Gesichtsmuskeln waren noch immer steif, und auch meine Arme konnte ich nicht bewegen. Bei jedem Atemzug seufzte und pfiff es aus meinen Lungen, doch wenigstens spürte ich so, daß ich lebte. Der Hohepriester trat zu mir und strich mit seinem Finger dreimal über meinen Körper. Nach der dritten Berührung durchrieselte mich wohlige Wärme, und ich streckte mich, als würde ich gerade aus dem Schlaf erwachen. Der Lama ließ meinen Kiefer los und beugte sich zu meinem Ohr. „Paß auf!" flüsterte er. „Auf Befehl des Hohenpriesters mußt du so aus dem Sarg springen, daß beide Füße den Boden gleichzeitig berühren. Damit kannst du beweisen, daß du selbst nach der Rückkehr aus dem Bardo Meister über deinen Körper bist." Ich hob die Arme und spürte, daß das Leben in mich zurückströmte. Mit beiden Händen ergriff ich den Rand des Sarges. „Erhebe dich!" vernahm ich den Befehl des Hohenpriesters. Mit äußerster Willenskraft warf ich mich mit großem Schwung aus meinem engen Gefängnis und sprang vor dem Sarg auf die Füße. Ich schwankte benommen, doch ich brach nicht zusammen. Die letzten Reste meiner Willenskraft hielten mich aufrecht. „Wer aus dem Grab zurückkehrt, kennt sein wahres Zuhause," beteten die Lamas gemeinsam, und ihre Stimmen erfüllten die Halle. -163-
„Wer seinem Führer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, ist würdig, andere zu führen." „Wer niemals schwankt, wird niemals fallen, weder im Himmel noch auf Erden." Der Hohepriester hob die Hand, und in der plötzlichen Stille schallte seine klare Stimme: „Friede demjenigen, der eine Botschaft aus der anderen Welt mitbringt. Siehe! Selbst deine himmlischen Führer halten dich der Einweihung für würdig, denn sie öffneten dir die Tore der sphärischen Heimat. Jetzt, da du zur Erde zurückgekehrt bist, sollst du deine Demut beweisen, damit dir der Glanz der anderen Welt nicht zu Kopfe steigt. Lege dich in Richtung des Pfeils auf den Boden und schließe die Augen." Ich schaute mich um und entdeckte einen großen weißen Pfeil, der als Mosaik in den Steinboden eingelassen war, und dessen Spitze zum Thron zeigte. Ich trug noch immer das weiße Gewand, da mir mein Umhang noch nicht zurückgegeben worden war. So warf ich mich in Richtung des Thrones zu Boden. Aus dem Augenwinkel hatte ich gerade noch gesehen, daß die Ichka mit einer Peitsche in der Hand von ihrem Thron herabstieg. Das ging über meinen Verstand! Sie hatten mich eine Woche lebendig begraben, und ich konnte mich kaum auf den Beinen halten! Ich hoffte sehr, daß sie mir nicht auch noch wehtun würden. Im nächsten Augenblick holte die Priesterin aus, und die Peitsche biß so scharf in meinen Rücken, daß ich zusammenfuhr. Ich zählte sechs Schläge. Beim Siebten war ich so benommen, daß ich den Schmerz kaum noch spürte. „Im Namen der Demut und des Gehorsams, Schüler!" hörte ich die Stimme der Priesterin. „Damit du bereit bist, selbst dann ungerechtes Leid zu ertragen, wenn du mit einer Belohnung gerechnet hast." „Steh auf", sagte der Hohepriester sanft. „Dein Schmerz soll durch brüderliche Gemeinschaft gelindert werden. Siehe, deine -164-
eingeweihten Brüder teilen dein Schicksal aus reiner Freundschaft." Die vier jüngsten Lamas traten vor, nahmen ihre Gewänder ab, und legten sich einer nach dem anderen auf den Pfeil unter die Peitsche der Ichka. Lhalu war inzwischen zu mir gekommen und behandelte meinen blutenden Rücken mit einer duftenden Salbe, die ihm die Ichka gegeben hatte. Der Hohepriester, welcher der Zeremonie des Peitschens beigewohnt hatte, nahm jetzt einen neuen Umhang von der Armlehne seines steinernen Thrones, trat auf mich zu und warf mir das Gewand über die Schultern. „Nimm als Belohnung für deinen Gehorsam den Zen der Einweihung aus den Händen deines Hohenpriesters. Paß gut auf ihn auf und trage ihn in der Stunde deines Todes." Ich zog den warmen Kiang-Haar-Zen zurecht, über den Lhalu den Mantel warf, den ich von den beiden Schwestern erhalten hatte. „Du hast die letzte Stufe der Einweihung erreicht", sagte der Hohepriester, „die Prüfung des Feuers. Wenn das Große Gebet beginnt, komme ich zurück." Er drehte sich um, half der Priesterin vom Thron herab, und ging mit ihr aus der Halle. Mein Lehrer führte mich zu der breiten Steinbank gegenüber dem Thron, auf der ich beim Fest der Dämonen gesessen hatte. „Der Große Lama und die Ichka sind in den kleineren Tempelraum gegangen, um festliche Kleidung anzulegen", sagte er. „Das Große Gebet ist das letzte Ritual der Einweihung. In dessen Verlauf wirst du - nach der Prüfung des Feuers - zu unserer Gemeinschaft gehören. Schon bald trägst du das Lamakleid!" Erst jetzt begriff ich, daß die Erfüllung meines alten Traumes nahe bevorstand. Ich fühlte mich so selig, daß ich die Hände zum Gebet zusammenlegte, doch da erklang der Gong, und ich -165-
sah, daß sich die Lamas zu Boden warfen. Lhalu und ich folgten ihrem Beispiel. So beteten wir lange Zeit. Als der Gong zum zweitenmal ertönte, erhoben wir uns und begaben uns an unsere Plätze. Jetzt betrat der Hohepriester prachtvoll gekleidet die Halle. Statt seiner gewöhnlichen Kleidung trug er ein langes ärmelloses Hemd, welches fast völlig unter seinem Mantel verschwand. Es ließ den rechten Arm unbedeckt, doch wenn er beide Arme hob, rutschte auch der weite Ärmel des linken Armes bis auf die Schulter zurück. Auf der Brust trug er ein dünnes, wattiertes Tuch, welches mit feinen goldenen und silbernen Strahlen bestickt und mit funkelnden Edelsteinen besetzt war. Sein in leuchtenden Farben bestickter Gürtel wurde hinten von zwei Seidentüchern zusammengehalten, die, wie auch sein Mantel, fast bis zum Boden reichten. Auf dem Kopf trug er eine kleine runde Kappe aus Schafleder, auf deren Vorderseite ein großer dreieckiger Edelstein prangte. Das Kleid der Priesterin war noch prunkvoller. Es war mit der Szene ihres eigenen Einzuges bestickt und zeigte den Ichkitsu auf den Stufen des Thrones, während sie auf dem ihren Platz genommen hatte. Sie trug keine einfachen Sandalen wie der Hohepriester, sondern silberne Schuhe, die bis zu den Knöcheln reichten, an den Zehen jedoch offen waren, damit die Novizen ihr als Zeichen des Gehorsams die Füße küssen konnten. Ihr prächtig besticktes Unterkleid glich dem Hemd des Hohenpriesters, doch war es zum Schutz gegen die Kälte mit Lammfell gefüttert. Der Mantel, welcher mit den Abbildern heiliger Vögel verziert war, hatte eine fast vier Meter lange Schleppe. Die Bilder auf den festlichen Kleidern hatten alle geistige Bedeutungen. So stellten zum Beispiel die Vögel auf dem Mantel der Priesterin jene Länder der Welt dar, in denen diese Vögel lebten, und welche die Priesterin auf ihren geistigen Reisen besuchte. Der Kragen, den sie auf der bestickten Tunika trug, lag eng am Halse an, wobei der äußere Rand, welcher mit Spitzenstickerei verziert war, gleich einem Trichter mit breiter -166-
Öffnung nach oben zeigte. Als Kopfbedeckung trug sie einen Kranz aus Olivenzweigen, den ihr die Könige des Südens mitbrachten, wenn sie zum Kloster pilgerten. Je größer ihr Wissen, um so schöner wurde der Kranz, den sie trug. Die Priester, die mit ihnen hereingekommen waren, gingen durch die große Tempelhalle, nur der Ichkitsu und die Ichka blieben an den unteren Stufen ihres Thrones stehen. Beim Klang des Gongs verbeugten wir uns tief. Lhalu Lama flüsterte mir ins Ohr, daß wir sie nicht anschauen dürften, bis sie auf dem Thron Platz genommen hatten. Der Gong ertönte ein letztes Mal und wurde weggetragen. Der Meister der Zeremonien trat vor und brachte zwei große, mit Öl gefüllte Krüge. Das Große Gebet begann. Der Große Lama stand mit ausgestreckten Armen auf und sprach eine kurze Beschwörung. Wir folgten seinem Beispiel und beteten laut. Der Hohepriester setzte sich wieder und wies an, daß einer der Krüge vor ihn, der andere vor die Ichka gestellt werde. „Paß auf!" flüsterte Lhalu. „Gle ich wird er dich rufen, und du wirst ihn um Erlaubnis bitten, dein Wissen und dein Können symbolisch der ganzen Menschheit unter Beweis stellen zu dürfen. Dann springst du den großen Lungom-Sprung. Sammle deine Energien, und laß mich nicht aus den Augen!" Der Hohepriester winkte mich zu sich, und ich trat vor. „Nimm diesen Krug, Schüler, und trinke einen Schluck vom Wasser der spirituellen Weisheit, damit dein harterkämpftes Wissen vollkommen werden möge." Als ich getrunken hatte, gab mir die Priesterin ihren Krug. „Nimm diesen Krug und trinke vom Wasser geistiger Weisheit, damit deine geistigen und seelischen Gaben zur Vollendung gelangen mögen." Als ich ihr den Krug zurückgab, dachte ich an Lhalu Lamas Worte. Ich tat sieben Schritte auf den Hohenpriester zu und erwies ihm meine Ehrerbietung. -167-
„Ich bitte Eure Heiligkeit um die Erlaubnis, mein Wissen nicht nur diesem Kloster, sondern der ganzen Menschheit zu beweisen. Diese Bitte sei der Ausdruck meines ernsthaften Wunsches, nicht nur den heiligen Bewohnern des Felsenklosters, sondern allen Mitmenschen auf der Erde zu dienen." Der Große Lama schaute tief in Gedanken an mir vorbei und betrachtete die betenden Lamas. Nach einer Weile wies er den Zeremonienmeister an, mir mein Lamagewand abzunehmen. Lhalu, der neben mich getreten war, flüsterte, ich möge mich niederkauern und die Hände zum Gebet falten. In dieser schwierigen Stellung mußte ich die Stufen des Thrones emporkriechen, um den Ring des Hohenpriesters und die Füße der Ichka zu küssen. Das anstrengende Kriechen mit erhobenen Händen wurde als Zeichen äußerster Hochachtung gewertet, und da mich Ram-Chen Lama auch in dieser Fertigkeit unterwiesen hatte, gelang es mir, dies in feierlicher Haltung auszuführen. Als meine Lippen den Fuß der Ichka und den Ring des Hohenpriesters berührt hatten, erhob sich der Große Lama und sprach: „Mit diesem Ritual nehme ich dich in meinen Orden auf, TiTonisa Lama! Um die Einweihung vollends zu erhalten, mußt du noch zwei Prüfungen bestehen: die Große Magie und die Prüfung des Feuers, die Krönung deiner Einweihung. Setze dich jetzt auf deinen Platz gegenüber der Statue der heiligen Weisheit und nimm die Haltung der Askese ein." Eine nie zuvor gefühlte Freude erfüllte mein Herz. Der Hohepriester hatte mich Lama genannt! So waren all meine Träume erfüllt, all das, wonach ich mich so viele Jahre lang gesehnt hatte. Der Weg dorthin war weit und die Prüfungen hart gewesen, doch ich bereute nichts. Dieser Tag wog alles auf! Ich wünschte, meine Eltern könnten mich in meinem neuen Zen unter all meinen eingeweihten Brüdern sehen! -168-
Ich kehrte in derselben kauernden Haltung zu meinem Platz zurück und nahm den befohlenen Sitz ein. Diese Stellung wurde nicht umsonst „asketische Haltung" genannt, denn ein Mann brauchte seine gesamte Willenskraft, um dabei nicht zusammenzubrechen. Die Knöchel wurden auf die Oberschenkeln gelegt, dann mußten die Beine so unter den Körper gezogen werden, daß die Oberschenkel rechtwinklig zum Boden zeigten und das ganze Körpergewicht auf den Kniescheiben ruhte. Gleichzeitig mußte ich laut Vorschrift die Arme über der Brust verschränken. So lagerte das Gewicht des Körpers auf der wenig stabilen Basis beider Knie und des verdrehten Ristes beider Füße. Lange betrachtete der Ichkitsu prüfend meine Haltung und sagte schließlich: „Wenn du den Gong hörst, dann führe den schwierigen Sprung der Großen Magie vor. Mach dich bereit!" Wenn ich noch länger in dieser Haltung ausharren mußte, würde ich all meine Errungenschaften verspielen, denn ich spürte, daß ich nicht mehr lange würde aushalten können. Lhalu hatte mir gesagt, daß alle Prüfungen der Einweihung einzeln bewertet würden, und daß erst ganz zuletzt über meine Eignung und mein Können befunden wurde. Ich war heilfroh, als mein Führer zur linken Seite des Thrones schritt und seinen Blick auf mich fixierte. Als der Klang des Gongs endlich die vorbereitenden Übungen ankündigte, ließ ich mich erleichtert in den Lotossitz gleiten. Der Große Lungom-Sprung gehörte eigentlich zur Magie, denn menschliche Muskeln waren kaum in der Lage, so etwas zu vollbringen. Da ich wußte, daß ich höher springen mußte als je zuvor, blickte ich Lhalu flehend an und wartete. Beim nächsten Gongschlag drehte ich mich wie üblich nach rechts und nach links und führte schließlich die hüpfenden Bewegungen mit den Knien aus. Dann raffte ich meine gesamte Willenskraft zusammen, ließ Lhalus gesammelten Blick nicht aus den Augen -169-
und schnellte mich beim nächsten Gongschlag nach oben. Während ich hochschoß, wußte ich bereits, daß der Sprung erfolgreich gewesen war. Eine solche Höhe hatte ich nie zuvor erreicht! Mit lautem Aufprall fiel ich in der Lotosposition zurück auf den Boden und ließ meine Beine auf- und abfedern, um den Schlag abzufangen. Der Große Lama streckte mir beide Arme entgegen. Ich sprang auf die Füße und ging mit schmerzenden Muskeln langsam und schwer atmend zu ihm. Als ich seinen Thron erreicht hatte, stieg er die Stufen hinab und legte mir die Hände auf den Kopf. „Wenn dein Führer am Tage deines Todes zu dir kommt, um dich in deine ewige Heimat zu bringen, dann laß deine Seele in ebensolche Höhen fliegen, Ti- Tonisa." „So wirst du den himmlischen Ring der Lamas mit einem einzigen Sprung erreichen!" wiederholte der Chor der Eingeweihten. „Blicke niemals auf die Versuchungen der tieferen Sphären! Die Große Weisheit soll dir beistehen, jetzt und für alle Zeiten!" „Setz dich hierher zu meinem Thron", sagte der Hohepriester, „und bereite dich auf die letzte Prüfung deiner Einweihung vor." Ich ließ mich klopfenden Herzens mit dem Rücken zu dem steinernen Thron nieder und wartete. Der Zeremonienmeister trat vor und entzündete das Öl in dem großen Bronzekessel, der in der Mitte der Halle stand. Flammen schossen empor, und wieder erfüllte der süße Duft des Räucherwerks die Luft. Lhalu setzte sich neben mich und beugte sich zu mir: „Richte deine Gedanken auf das Feuer und laß sie dann wie einen Vogelschwarm davonfliegen. Alle Brüder werden ins Feuer blicken und dieselbe Vision schauen wie unser Hoherpriester. Sei wachsam, denn du wirst danach befragt werden, und die Ichka wird deine Worte niederschreiben." Es wurde still in der Halle der Zeremonien. Das Feuer brannte -170-
gleichmäßig ohne zu knacken oder zu zischen, und sein Schein spiegelte sich in den glattrasierten, glänzenden Gesichtern der Lamas, die vollkommen gesammelt in die Flammen blickten. Auch ich schaute, wie mich mein Lehrer geheißen hatte, in die Glut. So saßen wir lange, bis ich schließlich tanzende Bilder im Gleißen des Feuers zu sehen glaubte. Der sanfte Klang des Gongs brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Meine Visionen erstarben, nur die Flammen flackerten und warfen gespenstische Schatten an die Wände. „Was hast du gesehen, Ti-Tonisa Lama?" durchbrach die Stimme des Hohenpriesters die Stille. „Steh auf und berichte uns davon." Ich erhob mich und wandte mich zum Thron. „Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll, Vater", flüsterte ich bewegt. „Ich sah schreckliche Dinge. Mein Führer zeigte mir bei der Prüfung des Sarges in meiner himmlischen Zelle ähnliche Bilder. Mir erschienen brennende Häuser in den Flammen. Zuerst verwirrte mich dies, denn ich glaubte, daß der Hintergrund bei solchen Visionen immer aus Feuer bestände. Doch später erblickte ich kleinere Brände in den Flammen. Ich glaubte, brennende Dächer von Häusern oder Klöstern zu sehen. Dann sah ich fremde Soldaten. Einige trieben Priesterinnen vor sich her. Der Klang des Gongs brach den Bann, und die seltsamen, entsetzlichen Bilder verschwanden." Der Große Lama nickte sorgenvoll. „Halte seine Worte fest, Schwester", wandte er sich an die Ichka, „und auch, daß seine Vision vollständig mit der meinen übereinstimmt. Er verfügt über wunderbare Gaben! Daß er eine vielversprechende Zukunft haben wird, beweist auch die Geschichte, die er uns nach der Prüfung des Sarges über sein Leben erzählte. Und ihr, meine wahren Priester", wandte er sich an die versammelten Lamas, „welche Bilder habt ihr gesehen, daß eure Gesichter so lang sind?" -171-
„Wir sahen dasselbe, Vater", erwiderten einige Lamas fast gleichzeitig. „Wir sahen brennende Klöster, fliehende Priester!" „Eine wilde Horde mordete das Volk!" „Überall Blut!" schrie der älteste Lama. „Ihr habt richtig gesehen", sprach der Große Lama und erhob sich. „Auch die Einblicke in die geistige Sphäre zeigen mir seit geraumer Zeit nur diese Schrecken. Eine große Gefahr bedroht dieses Land und seine Klöster. Bis heute hat kein Feind den Boden Bod-Yuls betreten, und doch scheint es so, als wolle das Schicksal unserem Volk einen schweren Schlag zufügen. Ihr alle werdet Zeugen großer Veränderungen werden, doch fürchtet euch nicht. Ich könnte euch noch viel mehr darüber sagen, doch mehr würdet ihr nicht ertragen. So bitte ich euch, der heiligen Weisheit zu vertrauen und sie bei Tag und bei Nacht anzuflehen, daß die Schrecken nur von kurzer Dauer sein mögen." Nach langer Pause setzte sich der Hohepriester wieder auf seinen Thron und winkte Lhalu zu sich heran. „Bereite ihn auf seine letzte Prüfung vor, mit welcher er beweisen kann, daß er Gott wirklich dankbar ist. Er begann mit Wasser, deshalb wird er mit Feuer enden. Die Hitze der heiligen Flamme soll durch seinen Körper fahren. Und sage ihm, daß der Eingeweihte nach sieben Prüfungen die achte ohne Hilfe bestehen muß." Der Zeremonienmeister spannte ein langes Seil über unsere Köpfe und befestigte dessen Ende an einem eisernen Haken. Ein weiterer Lama, der das Seil zuvor durch zwei Ringe geführt hatte, deren Umfang ungefähr eine Elle maß, schob diese Ringe jetzt in die Mitte des gespannten Seiles. Zwei Lamas ergriffen mich und drehten mich auf den Kopf. Sie steckten meine Füße durch die Ringe, so daß Hacken und Riste der Füße das gesamte Gewicht hielten. Daraufhin zog der Zeremonienmeister an einem doppelten Seil, welches von einem Flaschenzug -172-
herunterhing, bis ich unmittelbar über dem heilige Feuer baumelte. All dies geschah so rasch, daß ich keine Zeit gehabt hatte, darauf zu reagieren. So hing ich plötzlich mit dem Kopf nach unten nur etwa anderthalb Meter von der sengenden Hitze der Flammen entfernt. „Der wahre Eingeweihte bewahrt selbst in der schwersten Prüfung Haltung", murmelten die im Halbkreis sitzenden Lamas. „Der wahre Eingeweihte behält unter allen Umständen Würde und Fassung." „Der wahre Eingeweihte betet, wenn er schwer bedroht wird!" „Der wahre Eingeweihte besiegt Wasser und Feuer." Ich drehte mein Gesicht aus der Hitze der Flammen und faltete die Hände über dem Kopf. Ich versuchte, Riste und Knöchel so steif wie möglich zu machen, damit sie nicht aus den Ringen glitten und ich kopfüber im Feuer landete. Mit übermenschlicher Anstrengung verbannte ich die furchtbaren Schmerzen, die mir die beiden Eisenringe verursachten, aus dem Bewußtsein und begann zu beten. Sobald ich die ersten Worte gestammelt hatte, traten zwei Lamas zu mir und zogen mich zusammen mit dem Zeremonienmeister, der wieder den Flaschenzug bediente, aus der Reichweite der Flammen. Die Lamas hoben meine Füße aus den Ringen und stellten mich auf den Boden. „Siehe! Auch die schlimmste Prüfung währt nur kurze Zeit, wenn der Adept genügend geistige Kraft besitzt und Gott um Hilfe bittet", sagte der Hohepriester. „Du hast die Prüfung des Feuers bestanden und bist damit ein Mitglied des Lamaordens. Ich begrüße dich als eingeweihten, ausgebildeten Lama des Felsenklosters. Die Priesterin befindet, daß du alle Prüfungen mit vollem Erfolg bestanden hast, außer der Prüfung des Sarges, denn die Geschichte deines Lebens war nicht vollständig. Manche Abschnitte deiner Zukunft blieben deinem geistigen -173-
Auge verschlossen. Hättest du uns auch darüber Aufschluß geben können, hätten wir dich, wie Lhalu, zum Hohenpriester ausgebildet. Doch den ersten Rang hast du dir trotzdem gesichert: Deine Gefährten werden erst nach Monaten - oder Jahren - dort angekommen sein, wo du dich bereits befindest. Deshalb sollst du zum Orden der Lehrenden gehören, wo dich große, heilige Aufgaben erwarten. Du bist dazu berufen, das Wissen nicht nur an jüngere Generationen weiterzugeben, sondern dasselbe in späteren Leben der Nachwelt zu übermitteln. Dies ist wahrlich eine herrliche und schwere Aufgabe, und sie sei dir von mir auferlegt, weil du ein Seher bist und die Gnade Gottes auf dir ruht. Lhalu, bringe ihn bei Anbruch der Nacht nach oben und zeige ihm seine neue Zelle." Er erhob sich zusammen mit der Priesterin und gab das Zeichen für das Große Gebet, das von allen Zeremonien am längsten dauerte, nämlich von der vierten bis zur achten Stunde des Tages, oder, wie die einfachen Leute Bod-Yuls zu sagen pflegten, von der Stunde des Hasen bis zur Stunde des Schafes. Wir warfen uns vor der Statue der Weisheit nieder und ehrten Sie, gleich den Höchsten Geistern im Himmel, mit unzähligen Gebeten. So ging 10355 Jahre nach dem Versinken Attalans, des fruchtbaren Kontinents, der letzte Tag meiner Einweihung im Felsenkloster zu Ende. Nie hatte ich bereut, mich für diesen Weg entschieden zu haben, denn ich spürte in jedem Augenblick, daß Gott selbst meine Schritte auf dem pfeilschnellen Pfad lenkte, wobei ich nur Seinen Anweisungen folgte. Was wußten meine unglücklichen Mitmenschen, die in den Tälern oder in der größeren Welt - wie mein früherer Lehrer zu sagen pflegte - ein triebhaftes Leben führten, von der wahren Bedeutung des Seins, für welches mir kein Opfer zu groß erschien? Was wußten sie von der Eroberung des eigenen Selbst, welche mit der größten geistigen Erfahrung auf der Erde -174-
belohnt wurde, der Begegnung mit dem eigenen Geistführer? Was wußte der wandernde, der Fleischeslust verfallene Pöbel von der dicht bevölkerten Welt der Sphären, dem Wohnsitz des ewigen Lebens, des Leidens und des Segens, wo alle Wesen ein hundertmal lebendigeres Leben führen als auf der Erde? Wirklich gut hatte nur jener gewählt, der den pfeilschnellen Pfad einschlug und sich nicht über die langen, gefährlichen Bergpfade quälte. Doch ich wußte, die Schläge der doppelten Reinigung würden eine Zeit herbeiführen, in der sich die ganze Welt in ein großes Kloster verwandelte und jeder dem Gipfel zustrebte. Gesegnet war der Name der ewigen Weisheit, dass Sie mich ins Felsenkloster gebracht hatte, damit ich den Weg mit meinen Brüdern vorausgehen und ihn so für die guten Menschen der zukünftigen Zeitalter vorbereiten konnte. Lhalu Lama führte mich in meine Zelle im ersten Stock, wo die älteren Eingeweihten lebten. „Deine Zelle in diesem Stockwerk", sagte er und zeigte mir meinen schönen, geräumigen Zamkan, „ist ein Sinnbild für die höhere Ebene. Dein wahres Heim befindet sich im vierten himmlischen Ring, und dein Zimmer dort wartet nach dem Tode auf dich, weshalb dir diese Zelle im oberen Stockwerk von heute an rechtmäßig zusteht. Doch erst wenn du sieben Jahren älter bist, wird man dir gestatten, dort auch zu leben, denn dann wirst du dich ihrer würdig erwiesen haben. Bis dahin wohnst du mit den anderen jungen Eingeweihten im Erdgeschoß, nicht in deiner alten Zelle, sondern in einem Trakt in der Mitte, der für die jungen Lamas eingerichtet wurde." Die Zelle im oberen Stock war weitaus geräumiger als die im Erdgeschoß. Den Boden bedeckte eine dicke Matte, und ein vorhangähnliches dichtgewebtes Tuch verschloß den Eingang. Zusätzlich zu dem steinernen Bett befanden sich ein niedriger Schreibtisch und ein Ständer für Papyrusrollen in dem Raum. Eine Wand meiner neuen Zelle wies nach Süden, und durch die winzigen Fenster, welche mit kleinen, in Blei gefaßten -175-
Kristallscheiben verglast waren, sah ich die große Schlucht und den Gipfel des Jomo-La Ri. „In dieser Zelle wirst du sterben", sagte mein Führer. „Hier wird deine Leiche drei Tage lang aufgebahrt liegen, während dich der Hohepriester über deinen Zustand in der anderen Welt befragt. Im oberen Stockwerk steht die Seele Gott näher und kehrt nach einem Geistesflug besser in den Körper zurück. Außerdem fällt es ihr in den drei Tagen nach dem Tode hier oben leichter, zum Körper zurückzufinden, um dem Hohenpriester Bericht zu erstatten, als es im Erdgeschoß oder in einer fernen Felshöhle der Fall wäre. Aus diesem Grunde stellen wir die Totenbahre jedes Lamabruders in seine Zelle im oberen Stockwerk, auch wenn er nicht dort gestorben ist. Höher kann ein Lama nicht wohnen, denn darüber gibt es nur noch den Turm." „Wo leben der Hohepriester und die Priesterin?" fragte ich voller Ehrfurcht. „Der Turm ist dem Hohenpriester vorbehalten, sein südlicher Teil der Ichka. Dort verbringen sie viele Nächte und notieren außer den Namen der Bewohner und der Novizen dieses Klosters alles Wissenswerte in Buchrollen, zum Beispiel, was sie in der Nacht der Einweihung am Sternenhimmel beobachten. Diese Aufzeichnungen sind sehr wertvoll, denn auf sie gründen sich die Voraussagen, welche die diensthabenden Lamas im Vorhof des Klosters den Leute geben. Am Tage der Einweihung eines Novizen, also auch heute, werden der Große Lama und die Ichka bis in die frühen Morgenstunden wachen. Schau dir deine Zelle gut an. Heute nacht wirst du hier schlafen, da du dir ein Recht auf diesen Raum, in dem du später leben wirst, erworben hast. Jetzt laß mich dir deinen ständigen Zamkan im unteren Geschoß zeigen, denn von morgen ab wohnst du dort." Meine Zelle im Erdgeschoß befand sich in der Mitte des -176-
breiten Simses, des Kharlam, der das Kloster umgab. Durch das Fenster sah ich die südlichen Berge. Auch diese Zelle ging, wie die Zelle auf der Westseite, in der ich meine ersten Nächte im Felsenkloster verbracht hatte, von einem ringförmigen Gang ab. Mein neues Zimmer maß zwei Meter in der Länge und eineinhalb Meter in der Breite und war damit etwas größer und luftiger als mein vorheriger Aufenthaltsort. Seinen mit dicken Holzplanken belegter Boden bedeckte eine dünne Matte. Außer der großen Steinplatte, welche als Bett oder als Sitzgelegenheit diente, war die Zelle leer. Den Eingang verhängte ein dickes Tuch, das im Nonnenkloster gewebt worden war. Später führte mich Lhalu zum Zakkang, der gleichzeitig als Versammlungs- und als Speisesaal diente. In der Mitte befand sich ein langer, niedriger Tisch, an dem die Lamas bereits ihre Abendmahlzeit einnahmen. Wir hockten uns dazu. Ich konnte mich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten, denn, so seltsam es klingen mag, ich hatte seit einer Woche keinen Bissen zu mir genommen. Trotzdem quälte mich kein Hunger, ich verspürte vielmehr keine Neigung zum Essen. Ich fühlte mich so leicht wie eine Feder, nur hatte mein Herz beim Treppensteigen heftig geklopft. „Nimm nur wenig zu dir", warnte mich mein Führer als wir uns gesetzt hatten, „nur etwas Buttertee und ein wenig JumaWurzel. Morgen kannst du wieder ganz gewöhnlich frühstücken. Danach sollst du den ganzen Tag lang ruhen. Am Nachmittag mußt du dich im Hof zeigen, denn dort versammeln sich viele Menschen, um den neuen Adepten zu sehen. Unser Gesetz erlaubt diesen Brauch, wir müssen nur darauf achten, daß die Neugierigen nicht ins Kloster eindringen. Wie du vielleicht bemerkt hast, ist eine besondere Abordnung losgezogen, um die Wege und jene Menschen zu überwachen, welche die Bergpfade zu uns emporklettern. Tatsächlich steigen einige Brüder in die Täler hinab, um die Pilger zum Kloster zu führen. Und jetzt richte deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes. -177-
Morgen werden auch böse Geister in Gestalt von Hexenmeistern zu uns stoßen. Wir können den Ngaspas der Umgebung nicht verwehren, das Kloster aus diesem Anlaß zu besuchen. Die Lapos, Bamos, Mannos und die anderen erdgebundenen Geister, welche die Hexenmeister bei ihrem bösen Werk anrufen, kleben an jenen und betreten dergestalt unseren chintanyin. Fürchte dich nicht vor ihnen. Nach den acht bestandenen Prüfungen haben sie keine Macht mehr über dich. Beobachte die Hexenmeister in jedem Falle sehr genau, damit du sie bei späteren Ausflügen ins Umland erkennst. In den Unterrichtsstunden wird häufig von ihnen die Rede sein. Wie fühlst du dich eigentlich in deinem neuen Lama-Berchen?" Ich stellte meine Teetasse ab und streichelte mit leuchtenden Augen mein neues Gewand. „Ich bin sehr glücklich, und dies verdanke ich dir, Aku. Ich bete, daß du auch in Zukunft bei mir bleibst und mir erlaubst, immer dein Schüler und Diener sein zu dürfen." „Dummes Geschwätz!" erwiderte er und hob die Hand. „Hier sind wir alle Brüder, Ti- Tonisa, ohne Ausnahme. Doch ich freue mich sehr, daß es dir hier gefällt und daß du an mir hängst. Denn wunderbar und erhaben ist das Leben in diesem Kloster, obzwar ziemlich hart. Manch ein frischgebackener Eingeweihter würde am liebsten wieder austreten, weil ihm das Klosterleben nicht zusagt. Doch so weit kommt es nie. Der Zauber des ewigen Tempelschweigens, die Erinnerung an die Prüfungen und die erhabenen geistigen Erfahrungen halten den Eingeweihten bis zum Tage seines Todes in ihrem Bann. Da wir unser Mahl beendet haben, wollen wir in deine Zelle im ersten Stock zurückkehren, wo du die Nacht verbringen wirst. Wie du weißt, mußt du vom morgigen Tage an wieder nach unten ins Erdgeschoß. Achte heute nacht auf deine Träume. Die erste Nacht eines neuen Lamas im oberen Stockwerk ist immer bedeutungsvoll. Du kannst heute weit in die Zukunft blicken." Er hielt vor dem Eingang meiner Zelle im oberen Stockwerk -178-
inne, legte mir die linke Hand auf die Schulter, die rechte mit abgewinkeltem Ellenbogen auf die Stirn. Dieser Ausdruck der Liebe zwischen uns bewegte mich tief. „Kale yu!" sagte er lächelnd. „Friede dem, der bleibt." „Friede dem, der geht", antwortete ich und legte meine Hand auf seine Stirn. „Kale yu, Lhalu aku."
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Kapitel 9 Am nächsten Morgen wurde ich vom Klang der dreimal geschlagenen großen Trommel geweckt. Ich eilte die Treppe hinab zum Garba, dem großen Klosterhof, um mich im frischen Quellwasser zu wasche n. Unmittelbar danach bezog ich meine Zelle im unteren Geschoß. Nach dem Frühstück legte ich mich auf mein Bett und blieb dort bis zum frühen Nachmittag. Die nun folgenden Stunden waren nicht besonders wichtig für mich, da ich niemanden von den Besuchern kannte, die gekommen waren, um den neuen Eingeweihten zu sehen. Unser Heimatdorf lag zu weit vom Kloster entfernt, als daß meine Mutter mich hätte besuchen können. Die Reise dauerte immerhin zwei Wochen, und außerdem konnte die Neuigkeit von meiner Einweihung noch nicht bis zu ihr durchgedrungen sein. Mir fiel auf, daß die Besucher des Einweihungsfestes aus den Dörfern der umliegenden Täler stammten, wo die Dolva, das einfache Volk, lebte. Sie kamen mit ihren furchtbar aussehenden Zauberen eher aus Aberglauben, denn aus Frömmigkeit zum Kloster, da sie es für ein gutes Omen hielten, wenn der Eingeweihte sie segnete. Bevor die Menschen einer nach dem anderen an mir vorbeischritten, trat ihr Anführer nach vorn und sprach das Gebet des Volkes: „Wir beten nur zu dir, erhabener Schöpfer dieser Welt! Schenke deinem Volke Wissen und erhelle unseren Geist, auf daß wir unsere Felder, unsere Ernte und unsere Tiere mit großem Ertrag verwalten mögen. Dies ist unser sehnlichster Wunsch. Ewig werden wir dich verehren! Wir sind in deiner Hand, deshalb bitten wir Dich um Wissen, damit wir aus unserem irdischen Leben Nutzen ziehen. Erleuchte den Geist deines jungen Lamas, damit er den Menschen weisen Rat spende." So kindlich betete das Volk Bod-Yuls zu jener Zeit. -180-
In dieser Nacht schlief ich bereits in meiner Zelle im Erdgeschoß, und am nächsten Morgen nahm ich zum erstenmal am eigentlichen Klosterleben, den täglichen Zeremonien der Lamas, teil, die ich erst jetzt besuchen durfte. Nach den ersten Wochen fühlte ich mich wie ein Mensch, der nach langer Abwesenheit endlich in sein Elternhaus zurückgekehrt ist. Die Härten des strengen asketischen Lebens machten mir überhaupt nichts aus. Nach den langen Strapazen und der fieberhaften Geschwindigkeit, mit der die Prüfungen der Einweihung aufeinander gefolgt waren, erfüllte ein gewöhnlicher Tag im Kloster meinen Körper und meine Seele mit Frieden. Durch die wunderbaren Lehren, die der Hohepriester, Lhalu und die älteren Lamas uns vermittelten, vertieften sich unsere geistigen Einsichten in hohem Maße. Eine Stunde nach Sonnenaufgang erklang jeden Morgen das Zeichen zum Wecken. Dreimal dröhnten die tiefen Trommeln, die so groß waren wie Gongs, und brachen so die nächtliche Stille. Alle standen auf und gingen in den Klosterhof, um sich am Ende der Garba in der Quelle oder im kleinen Bächlein, welches von ihr gespeist wurde, zu waschen. Dann kehrte jeder in seine Zelle zurück, um eine Stunde lang zu beten. Daraufhin begaben wir uns in den Versammlungsraum, der auch als Speisesaal diente, hockten uns um einen langen, etwa kniehohen Tisch und aßen Gerstenbrei und tranken Buttertee. Jeder mußte sich zur Frühstückszeit hier einfinden, denn es gab, außer für die Kranken, keine Mahlzeiten außer der Reihe. Nach dem Frühstück versammelten wir uns im Tempel, wo uns der Hohepriester begrüßte und seine tägliche Predigt über Moral und Glauben hielt. Wir trugen die warmen Lamamäntel aus Kianghaar über dem Novizen-Zen und hockten uns mit gekreuzten Beinen im Halbrund auf die Steinbänke. In der Mitte der Halle wurde das heilige Feuer entzündet, über dem ich die letzte Prüfung abgelegt hatte. Die Priesterin trat ein und stellte sich in stiller Andacht mit ausgestreckten Armen vor -181-
das Feuer. In solchen Augenblicken war das gesamte Kloster im Bann eines seltsam mystischen Zaubers. Die Sonne schien durch die Kristallfenster und die Gucklöcher, welche mit farbigen, durchsichtigen Papyrusblättern beklebt waren. Das heilige Feuer loderte in einer großen bronzenen Urne, und im Halbdunkel warfen seine Flammen ihren Schein auf unsere Gesichter. Die Ichka streute Räucherwerk in die Glut, damit uns der Geruch des brennenden Öls nicht störte. Danach stand sie vor den Flammen, deren Lichtschein durch ihre Kleidung leuchtete. Sie schien uns wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, und wir betrachteten sie voller Ehrfurcht. Ihr reich bestickter weißer Mantel und der trichterförmig nach oben abstehende Spitzenkragen wirkten wie Flügel, wenn die Flammen durch das Räucherwerk hoch emporloderten und sie in einen leuchtenden Kranz aus Licht hüllten. Die Priesterin wandte uns den Rücken zu und legte ihren weißen Mantel ab, welchen der Zeremonienmeister forttrug. Sie warf getrocknete Früchte der wilden Rose, Stachelbeersamen und Mandelschalen in die Glut. Ein süßer, überwältigender Duft erfüllte die Halle und machte uns benommen und schläfrig. Unsere Sinne wurden gedämpft, was der Entwicklung des mystischen Lebens diente. Dann setzte sich die Priesterin auf ihren Thron und lehnte ihren schweren Kopf an dessen hohe Lehne. Alle schliefen, außer dem Großen Lama. Er war verantwortlich für unsere Gesundheit und wachte darüber, daß uns nichts geschah. Doch nur für den oberflächlichen Beobachter schienen wir zu schlafen, denn in Wahrheit war dieser Zustand eine erhabene Erfahrung. Die Drachenleute versuchen ein ähnliches Gefühl zu erzeugen, indem sie Opium rauchen, was indes Körper und Nervensystem schwer schädigt und die Seele vergiftet. Von einem der lehrenden Lamas, Pro-Trang mit Namen, lernten wir, daß Menschen, die in ihrem irdischen Leben drogenabhängig waren, nach ihrem Tode in den Krankenhäusern der niederen Sphären in einen Zustand vollständiger Teilnahmsloigkeit -182-
verfallen. Oft müssen Jahrhunderte vergehen, bevor sie von den sanften Händen der geistigen Ärzte wieder geweckt werden können. Wenn die vorbestimmte Zeit ihrer erneuten Verkörperung naht, werden diese unglücklichen Seelen auf der Erde wiedergeboren und führen ein neues Leben unter noch schwereren Bedingungen. Der schlafähnliche Zustand, dem wir uns jeden Morgen im großen Chang hingaben, hatte nichts mit den geistigen Reisen zu tun. Es handelte sich dabei vielmehr um eine seltsame Verzückung, welche besonders die jüngeren Eingeweihten brauchten, da ihnen die dabei wahrgenommenen Visionen den ganzen Tag über gegenwärtig blieben. Natürlich empfand jeder diese Benommenheit auf Grund seiner körperlichen und geistigen Verfassung anders. Sie dauerte von der zweiten bis zur dritten Stunde des Tages. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, wenn die Feuerschau zu Ende ging. Mit einer einzigen Bewegung weckte uns der Hohepriester, nur die Priesterin schlief weiter. Dann zogen wir uns alle in unsere Zellen zurück, wo wir uns bis zur vierten Stunde des Tages in tiefer Meditation versenkten. In dieser Zeit sandte der Hohepriester den Geist der Ichka in weite Ferne. Im Kloster herrschte tiefe Stille. Jeder saß in seiner Zelle. In der siebten Stunde, vor dem Sonnenhöchststand, verließen die jungen Eingeweihten den Chintanyin, um auf den Wiesen der Hochebenen und in kleinen Lichtungen nach Heilkräutern zu suchen. Dabei lernten wir die wichtigsten Pflanzen kennen, welche die verschiedensten Krankheiten heilen konnten. Nicht umsonst genossen die Heilkräuter Bod-Yuls ein so hohes Ansehen. Unsere Karawanen trugen sie ballenweise in das Gyanak-Reich im Osten, zu den Drachenleuten, nach Gyagar im Süden, ja, sogar bis in die südlichsten Länder der Welt. Doch konnten wir uns bei solchen Ausflügen keinen Augenblick vergessen oder ausruhen. Wir gingen niemals in Gruppen, sondern verteilten uns im Gelände. Viele von uns legten sich im -183-
Sommer, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, auf die duftenden Grasflecken nieder, was natürlich verboten war. Doch dem Hohenpriester entgingen solche Übertretungen nie, denn er hatte die unübertroffene Fähigkeit, seinen Geist in jedem Augenblick auszusenden, und meist sah und wußte er alles, was er erfahren wollte. Nach den jungen Eingeweihten kamen die Lamas aus ihren Zellen im oberen Stockwerk. Die eingeweihten Novizen blieben bis eine Stunde nach Mittag in den Felsen. Dann folgte der ermüdende Laygyen, der Aufstieg zurück zum Kloster. Sofort nach unserer Ankunft versammelten wir uns zum Mittagsmahl, doch da die dem Essen vorbehaltene Zeit nur kurz war, aßen wir schweigend, wenn wir unsere Teller nicht halbvoll zurücklassen wollten. Kurz nach der zweiten Mahlzeit wurden die neuen Eingeweihten vom Hohenpriester in der Aussendung des Bewußtseins unterwiesen. Diese Kunst war schwierig zu meistern und glich der Prüfung des Sarges, mit der Ausnahme, daß die den Körper verlassende Seele nur ihrem irdischen Führer, dem Ichkitsu, gehorchte, verschiedene Orte auf der Erde besuchte und dort Aufgaben erfüllte, worüber der Eingeweihte nach dem Erwachen genau berichten mußte. In Wahrheit zählte Phoimonda - oder Pho wa, wie es irrtümlicherweise in späteren Jahrhunderten genannt wurde - zu den schwierigsten Praktiken. Eingeweihte, die nach fünfjähriger Übung für eine halbe Stunde ihren Körper verlassen konnten, galten als außerordentlich gut und fortgeschritten. Nur die frischgebackenen Lamas übten sich am frühen Nachmittag in der Kunst des geistigen Reisens. Eigentlich waren die Stunden vor dem Frühstück wesentlich besser dazu geeignet, da sich die Strahlung der Sterne am Nachmittag veränderte. Außerdem waren des öfteren Fälle von Besessenheit aufgetreten. Doch die neuen Eingeweihten mußten die Kunst unter den schwersten Bedingungen meistern, und die spirituelle Kraft des Hohenpriesters stärkte ihre geistigen -184-
Energien. Später übten auch sie Phoimonda am Morgen. Am späten Nachmittag führten uns die älteren Lamas wieder in die Berge. Hier wurden wir in der Kunst der Erzeugung der inneren Hitze - Tumo - unterwiesen. Diese Übungen waren wesentlicher leichter, wenn auch nicht immer von Erfolg gekrönt. Oft streunten böse Geister umher und besetzten die Anfänger. Doch der lehrende Lama bemerkte dies augenblicklich und berichtete dem Hohenpriester und der Priesterin davon, welche die bösen Geister dann mittels eines bestimmten Rituales wieder austrieben. Erst spät am Abend, in der zwanzigsten Stunde des Tages, zogen wir uns in unsere Zellen zurück. Doch selbst dann geschah es häufig, daß uns die Boten der Ichka weckten, um den Gehorsam der neuen Eingeweihten auf die Probe zu stellen. Bei solchen Gelegenheiten mußten wir das Kloster auf der Stelle verlassen, um einen Auftrag zu erledigen, wobei wir jedoch nie weite Strecken zurücklegten, sondern in der Nähe blieben. Um unseren Mut und unsere Geistesgegenwart auch nach der Einweihung immer wieder zu beweisen, mußten wir in der Dunkelheit der Nacht im Mondlicht zu einem nahegelegenen Paß, einem Felsen oder einem Tal gehen. Und immer wieder geschah es, daß solch ein nächtlicher Wanderer unter den Bann des Mondes und der bösen Geister geriet, von den hohen Felsen stürzte und zu Tode kam. Uns wurde nicht gestattet, Rettungsmannschaften für solch einen unglücklichen Lama zu bilden, denn man sagte, daß er die Gemeinschaft der wahren furchtlosen Eingeweihten nicht verdiente. So verlief im Großen und Ganzen der Tag der Eingeweihten im Felsenkloster von Tampol- Bo-Ri. Meine erste Tumo-Lektion werde ich nie vergessen, da es mich immer fasziniert hatte, wie die Lamas so etwas fertigbrachten. Dieser Kunst galt unsere erste praktische Unterweisung, denn im Kampf gegen die immer näherrückende strenge Kälte konnten wir täglich unseren Nutzen daraus ziehen. Mir stand noch lebhaft vor Augen, wie lange -185-
Ram-Chen Lama in seinem dünnen, fadenscheinigen Umhang auf den Felsen unter dem Jomo-Lun-Gam sitzen konnte, ohne die bittere Kälte zu spüren. Dabei wurde er so heiß, daß der Schnee in seiner Umgebung zu schmelzen begann. Die erste Stunde gab uns ein älterer Lama namens Chan-Dug-Sa. Er kletterte auf einen großen Stein und begann seine Lektion mit folgenden Worten: „Wir üben Tumo deshalb in den Bergen, weil ein junger Lama die Natur erst dann hautnah spürt, wenn die Luft seinen Körper ungehindert umstreichen kann. Ihr müßt das Gefühl haben, im freien Raum zu leben, wobei einzig die Elemente eure Gefährten sind. Das konzentrierte Betrachten der Felsen und der kahlen, schneebedeckten Gipfel beeinflußt euch stark, meine Brüder. Ein jeder setze sich jetzt auf eine flache Steinplatte hinter einen Felsen, so daß ihr einander nicht seht und nicht stört. Wir befinden uns hier an einem Ort, wo die Winde von den Gipfeln herabfallen und genau in unsere Gesichter blasen. Das ist notwendig, denn zuerst sollt ihr frieren, damit ihr merkt, daß eure eigene Körperwärme nicht ausreicht. Führt jetzt rhythmisch die gefäßförmige, beherrschte Atmung aus. Allein das Betrachten der Felsen und Steine sollte ein Gefühl der Wärme in euch auslösen. Legt die Hände auf die Knie, sitzt mit gekreuzten Beinen, doch nicht auf den Fersen." Ich fror entsetzlich, da ich durch den ermüdenden Aufstieg noch immer schweißgebadet war. Doch ich hielt mich an die Anweisungen und blickte in tiefer Meditation auf die gegenüberliegende Felswand, worauf das Kältegefühl augenblicklich verschwand. „Hört mir jetzt aufmerksam zu!" tönte die Stimme Chan-DugSa Lamas hinter dem Stein hervor, vor dem ich saß. „Konzentriert euch nicht auf die Erzeugung innerer Hitze, sondern bemüht euch um die Vereinigung mit dem Unendlichen. Die Wärme ist nur ein nebensächlicher Bestandteil der Übung. Die Meditation ist in diesem Falle recht einfach, da die Berge selbst eure Gedanken erheben und empor zum Himmel lenken. -186-
Stellt euch jetzt euer geistiges Vorbild vor, den Hohenpriester. Sehnt euch mit aller Macht nach ihm, sehnt euch danach, ihm gleich zu werden. Strebt ihm mit eurer Seele, mit eurem innersten Selbst, entgegen." Ich strengte mich so sehr an, daß meine Kräfte wuchsen und eine warme Welle durch meinen Körper wogte. Tatsächlich begann ich fast zu schwitzen. Später erfuhren wir, daß man sich bei solchen Übungen natürlich nicht erkälten kann. Wir mußten nur darauf achten, rechtzeitig mit der Erzeugung des Seelenfeuers aufzuhören. Dazu mußten wir die bildliche Vorstellung von den dazugehörigen Gedanken trennen, was bei weitem der schwierigste Teil der Übung war. Aus diesem Grunde brauchten die jungen Anfänger einen Lehrer, der sie überwachte und wußte, wie lange die Übung dauern durfte. Bei der Konzentration auf das Große Ideal stellten wir uns dessen Gestalt nicht einfach nur vor, sondern wir mußten versuchen, diese im Geiste festzuhalten. Da wir auf dem Boden hockten, während das vorgestellte Ideal hoch über uns schwebte, spürten wir, daß wir zu diesem aufsteigen mußten. Das war jedoch unmöglich, da wir an unsere Körper gebunden waren und unser Bewußtsein in der bitteren Kälte auf dem Gipfel nicht von diesem zu lösen vermochten. Diese geistige Anstrengung forderte unsere Nerven außerordentlich. Die dabei fließende Energie verwandelte sich zum größten Teil in das innere Feuer. Unser Lehrer legte großen Wert auf die vorbereitenden Atemübungen. „Ihr müßt den Atem bewußt anhalten", sagte er, „damit eure Seelenkräfte dort bleiben, wo sie hingehören, nämlich im Herzen und in den Nervenzentren. Ihr sollt nicht nur verstehen, warum es zum feinen Feuer der Seele kommt, ihr sollt daraus eine innere Erfahrung machen. Am besten beginnt ihr mit dem neunfachen Einatmen. Atmet dreimal tief durch das rechte Nasloch ein, wobei ihr euren Kopf langsam von rechts nach links bewegt. Nehmt dann drei tiefe Atemzüge durch das linke -187-
Nasloch und dreht dabei den Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Atmet zuletzt durch beide Naslöcher, und ha ltet den Kopf still. Zieht die Luft in jedem Falle gleichmäßig, kaum hörbar ein. Wiederholt diesen Vorgang dreimal. Achtet jedoch darauf, wie lange ihr den Atem anhaltet. Haltet euch dabei an folgenden Rhythmus: acht - zweiunddreißig sechzehn. Ihr sollt jedoch nicht zählen, sondern die Zeitabschnitte spüren, denn Zählen heißt Denken. Jetzt wiederhole ich alles noch einmal: Beginnt mit dem beherrschten Atmen und konzentriert eure Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende Felswand. Stellt euch vor, daß ihr euc h mit ihr und der Unendlichkeit vereint. Ihr werdet bemerken, daß eure Gedanken im Laufe der Atemübungen abnehmen. Beim dritten Atmenzyklus wird euer Gehirn leer sein. Verbleibt in diesem Zustand, und blickt lange auf die gegenüberliegende Felswand, ohne sie tatsächlich zu sehen. Wenn plötzlich das Bild eures Vorbildes auf dem Felsen erscheint, dann beendet die Atemübung und versucht mit aller Kraft, zu ihm aufzusteigen." Wir übten angestrengt viele Monate lang, bis wir das Feuer der Seele so zu entfachen lernten, daß wir die Kälte nicht mehr spürten. Erst als uns das Große Feuer bereits nach den ersten Atemzügen zu wärmen begann, durften wir die Übung in unseren Zellen fortsetzen. Die Lehrer legten nicht umsonst so großen Wert auf die Beherrschung von Tumo, denn hierbei handelte es sich um die „innere Heizung" der Klöster. Wenn wir in unseren Zellen zu frieren begannen, erzeugten wir einfach Tumo und hatten es warm. War ein Lama so weit fortgeschritten, daß er das Innere Feuer in seiner Zelle erzeugen konnte, durfte er sich darin üben, Tumo auch in seinen Gliedern zu entfachen; zuerst in den Händen, dann in den Beinen oder in einem anderen Teil des Körpers. Tumo spielte eine große Rolle bei der Heilung der Kranken. Das Leben der eingeweihten Lamas und ihre Ze remonien taten meinem Geiste wohl und gaben mir spirituelle Ruhe. Die Menschen der Welt, die hochgestellten fremden Prinzen und die -188-
protzig gekleideten Abgesandten, die das Kloster nahezu jedes Jahr besuchten, um die Vorraussagen unseres Hohenpriesters zu hören, dachten wahrscheinlich schaudernd an das langweilige, entsagungsvolle Leben, das wir zwischen den düsteren Steinmauern führen mußten. Sie glaubten, daß unser freudloses Dasein aus dem beständigen Murmeln gleichförmiger Gebete und aus leeren religiösen Ritualen bestände. Wie sehr irrten diese Söhne der Welt! Sie hätten sich die wahre Bedeutung des Lebens in einem der Felsenklöster Bod-Yuls nicht träumen lassen. Sie hatten keine Ahnung, daß wir nicht nur an ein Leben im Jenseits glaubten, sondern daß wir es täglich ganz unmittelbar erfuhren. Was wußten sie schon über die Wunder der Bewußtseinsreisen, wenn unser Geist die irdische Hülle verließ und über Berge, Flüsse und Meere nicht nur durch unser Gebirge streifte, sondern in weit entfernte Länder reiste, während unser Körper bewegungslos in der Zelle ruhte. Denn Bod-Yul war das Dach der Welt, der Speicher geistigen Wissens, und verfügte durch Gedankenübertragung und Bewußtseinsflug über vollendete Möglichkeiten, Botschaften rasch von einem Land zum andren zu senden. Über solche Möglichkeiten wird die sich im Niedergang befindende Menschheit wahrscheinlich nicht einmal in zweitausend Jahren verfügen! Dafür lohnte es sich, in der Dunkelheit kalter, langweiliger Zellen auf Steinbänken zu schlafen. „Alles hä ngt nur davon ab, wie du es betrachtest", pflegten meine Lehrer zu sagen, und wie recht hatten sie damit! Jene, die die Wunder weit entfernter Länder zu sehen vermochten und ihre geistigen Augen an der Schönheit ungewöhnlicher Landschaften labten, spürten kaum die Härte des steinernen Bettes. Und was die Kälte betraf, konnten wir ihr jederzeit durch die Erzeugung des inneren Feuers ein Ende bereiten. Deshalb war jeder Tag meiner Jahre im Felsenkloster wunderbar und erhaben. Für uns, die Eingeweihten des pfe ilschnellen Pfades, waren die Lehren, die uns der Große Lama jeden Morgen und unsere -189-
Lehrer jeden Nachmittag erteilten, keine leeren, abgedroschenen Phrasen, sondern praktische Anweisungen, die unser geistiges Wissen vertieften und unser Seelenorgan entwickelten, damit wir die Verbindung zu den höheren Sphären und zu unseren Schutzgeistern aufrechterhalten konnte. Ich werde die erste Rede nie vergessen, die der Ichkitsu am Morgen nach meiner Einweihung im Chang hielt, nachdem die Leute, die den neuen Eingeweihten hatten sehen wollen, abgereist waren. Er saß auf seinem Thron und sprach: „Meine Brüder! Gestern besuchten die Bewohner der Täler Ti-Tonisa Lama, den jüngsten Eingeweihten, damit er sie nach alter Sitte segne. Dieser Brauch hat eine tiefe Bedeutung. Wie ihr wißt, genießt ein Novize, der alle Prüfungen erfolgreich bestanden hat, die Gnade des Höchsten, und daher erfüllen sich seine Segenswünsche für all jene, auf die er die Gunst Gottes lenkt. Und doch sage ich euch, daß ihr nicht wißt, welche Macht ihr durch die Gnade der Heiligen Weisheit über euch selbst oder über eure Mitmenschen auszuüben vermögt! Denkt einmal darüber nach, wieviele gute Taten für euch auf dem Wege der Enthaltsamkeit und der Selbstbeherrschung, der euch ewige Früchte bescheren wird, bereitliegen. Wenn ihr tief versunken ein Gebet sprecht und die Heilige Weisheit um Erlaubnis bittet, die Schwingungen Ihrer Gnade, die ihr in eurer Seele gespeichert habt, in Form von Segenswünschen an andere weiterzugeben, dann kann man euch wahrlich Söhne der Gnade nennen! Denn solche Wünsche, die man auf der Erde ,Segen' nennt, vermögen viel. Häuft diese Gnade daher in euch an und füllt damit eure Seelen, und wenn ihr genügend lange gefastet und verzichtet habt und fühlt, daß sich eine große Menge der lebensspendenden göttlichen Kraft in euch angesammelt hat, dann streckt eure Arme aus und sendet sie euren Mitmenschen, die blindlings durchs Leben stolpern und nicht wissen, aus welcher Richtung das Licht strahlt. Richtet eure Kraft und Aufmerksamkeit auf jene, die ihr im Namen Gottes zu segnen -190-
wünscht, dann wird Seine unermeßliche Macht die Gnade, die ihr euren Mitmenschen sendet, in Segen verwandeln. Selbstverleugnung und Fasten soll euch nicht schrecken. Der Geist lenkt den Körper und nicht umgekehrt! Wenn ihr eure geistige Feinfühligkeit durch asketische Lebensführung vertieft, dann werdet ihr den anderen immer größere Wellen der Gnade senden können. Gnade und Segen - Segen und Gnade: Diese beiden sind in Wahrheit eins, meine Brüder, denn der Segen der Gottheit bedeutet Gnade, und wenn Sie euch gnädig ist, seid ihr gesegnet. Und auch ich segne euch jetzt aus tiefstem Herzen! Möge euch die Heilige Weisheit stärken, damit ihr ein enthaltsames, keusches Leben zu führen vermögt, und möge Sie euch mit den Strahlen Ihrer unendlichen Gnade umfangen, damit ihr Sie in die Seelen anderer Menschen lenken könnt, wenn ihr euch jubelnd an Ihr gelabt habt." Solche Lehren erteilte uns der Hohepriester jeden Morgen während der Verzückung des Feuers, wie wir die Feuerzeremonie nannten. Lhalu Lama unterrichtete uns nach Sonnenuntergang. Jedes seiner Worte lebt noch immer in meiner Seele. Wir pflegten im Halbkreis in der Versammlungshalle im Erdgeschoß zu sitzen, während er in der Mitte stand und die jüngeren Eingeweihten darin unterwies, wie die Begierden des Körpers zu meistern seien. All dies geschah im ersten Monat nach meiner Einweihung. Das Lehrmaterial wurde immer umfangreicher, und in jedem folgenden Monat kam ein neuer Lama, um uns zu unterweisen. So saßen wir also, wie ich bereits erwähnte, im Halbkreis auf der Matte, und Lhalu Lama richtete das Wort an uns: „Siegt über eure Begierden, Brüder, dann werdet ihr rasch vorankommen. Die Seele spendet euch das Leben, nicht der Körper, denn dieser ist nur eine leere Hülle. Der Kampf zwischen Körper und Seele ist ein Abbild des Kampfes zwischen Gut und Böse. Der sichtbare Körper verlangt nach der Erfüllung seiner Wünsche, und wenn die unsichtbare Seele schwach ist, gibt sie ihm nach. Ihr müßt lernen, reine -191-
Begierden von den Dingen zu unterscheiden, welche der Körper wirklich braucht, um eine würdige Hülle, ein edles Kleid für die Seele zu sein, deren Essenz, der Geist, ewig ist. Das Verlangen des Körpers ist zeitlich begrenzt, weshalb ihr euch nicht darum kümmern solltet. Laßt nicht zu, daß der Körper euch beherrscht! Zügelt ihn, nehmt ihn an die Kandare, überwacht ihn, und laßt ihn nur in jene Richtung gehen, die ihr ihm vorschreibt. So wird er allmählich zu einem braven Maultier, ohne ständig auszukeilen und aufzubegehren. Ihr könnt die Lebenskräfte, welche durch euren siegreichen Willen in höhere Schwingungen verwandelt werden, für edle Ziele einsetzen. Seid daher auf der Hut und wacht über euren Körper, damit ihr ihn rechtzeitig zu zügeln vermögt. In diesem Sinne werdet ihr den Körper meistern, denn er ist der wahre Diener der Seele, wenn auch nicht für lange Zeit. Wer seinen Diener nicht mit eiserner Hand bezwingt, sondern ihm freundlich und ausgeglichen seinen höheren Willen auferlegt, soll wahrhaft Meister des Dieners genannt werden! Handelt bei der Erziehung eures Körpers ausgewogen, und laßt euch nicht von der überflüssigen Leidenschaft hinreißen, ihn zu quälen. Ihr sollt ihn nicht bemitleiden, wenn ihr zu seinem Besten handelt. Hat der Chirurg Mitleid mit dem Patienten, dem er tief ins Fleisch schneidet? Oder weint der Vater mit seinem Kind, wenn er es züchtigt? Bemüht euch, den Körper sanft und weise zu leiten. Ihr sollt ihn nicht verletzen, er soll eurem höheren Willen freiwillig gehorchen. All dies ist im Falle der Heiligen Schlange, von der ihr bereits gehört habt, von besonderer Bedeutung, denn der Schwache läßt sich von den Begierden des Körpers überwältigen. Kein Leid kann einen Mann so schnell besiegen wie sinnliche Leidenschaft, durch welche er sich dem Körper unterwirft. Wenn ihr euch also befreien wollt, dann behandelt ihn abweisend, doch stellt diese Abneigung nicht öffentlich zur Schau, da der Körper dann wieder die Oberhand gewinnt und euch in einem Netz immer grausamerer Leidenschaften -192-
verstrickt. Wendet euc h bei solchen Anwandlungen ab von ihm wie von einem Feind, der des Zweikampfes nicht würdig ist. Lernt, in kürzester Zeit mit ihm fertig zu werden. Denn so und nur so könnt ihr den pfeilschnellen Pfad erklimmen. Tatsächlich werdet ihr erkennen, daß euer Diener, euer Körper euch dann sogar dabei behilflich ist." Solche Belehrungen gehörten zu unserem täglichen Stundenplan. Natürlich erhielten wir auch praktische Unterweisungen in den magischen Wissenschaften, zum Beispiel in Phoimonda, dem Bewußtseinsflug, der von späteren Generationen irrtümlicherweise Pho wa genannt wurde, in Tumo, Lungom und anderen Zweigen der geheimen Kunst wie Sternenkunde, okkulter Geschichte und Medizin. Am Ende des ersten Jahres waren wir in der Kunst, das innere Feuer zu erzeugen und unseren Geist auf die Reise zu schicken, wohl bewandert. Letzteres fand immer unter Aufsicht des Hohenpriesters statt, doch später mußten wir uns auf seinen Befehl hin selbständig in diesen Zustand begeben. Dies geschah folgendermaßen: Nachdem wir zwei Tage in der Woche gefastet hatten, legten wir uns auf unser Steinbett und sprachen das Gebet der Vorbereitung. „Heilige Weisheit, und ihr, höchste Führer! Öffnet die Kanäle der geistigen Ströme in meinem Bewußtsein. Gebt mir die Fähigkeit, alles, was sichtbar ist und existiert, in seinem göttlichen Ursprung zu erfassen. Jedes Atom meines ruhenden Körpers und meiner fliegenden Seele sei von eurer Stärke erfüllt. Laßt mich wachsam sein, damit mich verführerische, verzaubernde Visionen nicht überwältigen… Meine Verstandeskraft verwandle sich in reinstes Licht. -193-
All meine Kraft möge mit der Kraft der Heiligen Drei verschmelzen. Gebt, daß mein Geist den Körper leicht verläßt und euer Gebot treu erfüllt! Danach deckten wir uns mit unseren Mänteln zu und führten eine Reihe von Atemübungen aus. Zuerst atmeten wir abwechselnd durch das linke und das rechte Nasloch, dann durch beide Naslöcher, wobei wir den Atem viermal so lange anhielten wie wir für das Ausatmen brauchten. Danach verlangsamten wir die Atmung, daß sie einem Rhythmus von sechzehn - vierundsechzig - zweiunddreißig - Pulsschlägen entsprach. Inzwischen war der Geist leer, und das Bewußtsein begann zu schwinden. Wie bei der Prüfung des Sarges trennte sich die Seele dann allmählich vom Körper, mit dem Unterschied, daß wir jetzt unter der geistigen Führung des Hohenpriesters standen. Die Priesterin war die Vorhut des Wissens, die Speerspitze der Wissenschaft, das allsehende Auge des Klosters. Oft sandte der Hohepriester ihren Geist durch Phoimonda in weit entfernte Länder, wo sie nach und nach alles Wertvolle aufnahm, was dann im Kloster aufgezeichnet wurde. So wurde Bod-Yul zum Speicherhaus des Wissens und zur wahren Heimat aller irdischen und magischen Wissenschaften. In gleicher Weise erkundete die Priesterin auf ihren geistigen Reisen die politische und militärische Lage fremder Reiche. Aus diesem Grunde begaben sich Könige und Prinzen nach altem Brauch zu den Klöstern und erhielten für eine gewisse Summe Geldes vom Hohenpriester Nachrichten darüber, wo und wann ihr Land vom Feinde angegriffen werden würde. Das Geld verwandte man für die Instandhaltung der Klöster, die außer den Abgaben, welche die Novizen bei ihrem Eintritt leisteten, nur geringe Einnahmen hatten. Mancher König aus einem weitentfernten Reich zahlte ungeheure Summen für solche Mitteilungen. Aus dem gleichen -194-
Anliegen waren auch die Drachenleute gekommen, deren Soldaten mich im Hof des Felsenklosters angegriffen hatten. Wenn die Priesterin keinen solchen Auftrag hatte, sandte der Hohepriester ihren Geist in fremde Klöster, damit sie ihm später von deren Geheimnissen berichten konnte. Außerdem beobachtete sie, ob der Lebenswandel der Bewohner den Gesetzen entsprach. Aus diesem Grunde befand sich über dem Eingangstor eines jeden Klosters die Büste einer Priesterin mit steifem goldenen Kragen und darunter die Gestalt eines Mannes, welcher ihren Kopf mit einer Lanze durchbohrte. Das bedeutete, daß alle fremden Priesterinnen aus dem Kloster gejagt werden würden, wobei man noch nicht einmal ihrem Geist Einlaß gewährte. Unglücklicherweise kämpften die Klöster oft gegeneinander, und diese Mißstimmung war, wie wir später erfuhren, der Grund für die göttliche Züchtigung, welche BodYul verhängnisvoll treffen sollte. Wenn es nicht um das Zusammentragen geistigen Wissens oder das Sammeln von Nachrichten ging, sondern um die Überbringung eines Briefes oder kleineren Päckchens, wenn also der Bewußtseinsflug nicht zum Einsatz kam, sandte der Hohepriester die sogenannten Lungonpas aus. Der Lungom, der Große Gleitende Gang, bedurfte einer besonderen Ausbildung. Aus diesem Grunde fingen wir bereits in der Jugend an, die Lungom-Sprünge zu üben, wobei wir uns aus dem Sitzen heraus bis zu anderthalb Meter hochschnellten. Dies stärkte unsere durch das Bergsteigen sowieso schon eisenharte Beinmuskulatur ungemein, doch für den Raschen Gang genügte es noch lange nicht. Die Lungonpas waren fähig, vier- bis fünfhundert Meilen am Stück zurückzulegen. Während sie liefen, besser gesagt, während sie mit der Geschwindigkeit eines gallopierenden Pferdes dahinglitten, legten sie keine Rast ein. Solche Botengänge machten allerdings nur die höchsten Lamas. Ein Mann, der Lungom beherrschte, genoß, wie Lhalu und zwei andere Lamas unseres Klosters, das volle Vertrauen des -195-
Hohenpriesters. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, daß der Geist des Großen Lama den gleitenden Boten die ganze Zeit über begleitete und ihn dadurch stärkte. Nur so kamen die übernatürlichen Leistungen zustande. Es hätten auch zwei Lamas gleichzeitig loslaufen können, da die Ichka dem anderen hätte folgen können, doch dies verboten die Regeln unseres Klosters. Entweder der Hohepriester oder die Ichka mußten zu Hause bleiben, um das Klosterleben zu überwachen. Deshalb war es meist der Hohepriester, der dem Lungom-Lama geistig folgte, es sei denn, er beauftragte die Priesterin mit dieser Aufgabe. Der gleitende Bote begab sich nie aus eigenem Antrieb auf den Weg, da er die übermenschliche Geschwindigkeit sonst nicht aufgebracht hätte. Vor seiner Abreise versammelten sich alle Einwohner des Klosters zum gemeinsamen Gebet. Danach wählte der Hohepriester denjenigen Lama aus, welchen er für den Auftrag für am besten geeignet hielt. Dieser Lama wurde in der Halle der Zeremonien auf die große Reise vorbereitet. Er legte sich nic ht auf den Boden, sondern schlief im Stehen ein und erinnerte sich nur noch daran, daß die Priesterin seinen Umhang mit einem Lungom-Zen vertauscht hatte, einem Mantel, der nur für diesen Zweck bestimmt und halbrund geschnitten war. Am Hals wurde er mit einer großen Metallschließe zusammengehalten, die der Große Lama zum Zeichen seines Einverständnisses berühren mußte. Danach übermittelte der Große Lama dem Geist des Lamas seine eigenen konzentrierten Gedanken durch Gedankenübertragung, nicht durch Suggestion. Der Lungom-Lama geriet in jenen sonderbaren, halbwachen, halbschlafenden Zustand. Wenn er den Großen Befehl erhalten hatte, durchfuhr ein Schauder seinen Körper. Die Priesterin legte eine Blume in seine Hände. Da auch diese Geste von Bedeutung war, hing es von der Ichka ab, welche Blume sie wählte. Danach wurde der Lama auf den Klosterhof geführt, wo ihn der Hohepriester magnetisierte. -196-
Dabei wandte er den Großen Magnetismus an, den man gewöhnlich für rasche Heilungen oder schnelle hypnotische Gedankenübermittlungen brauchte. Der Lungom- Lama beugte den Kopf und verließ den Kharlam mit langsamen, ruhigen Schritten. Ebenso wanderte er langsam und schlafwandlerisch über die Bergpfade, bis der Hohepriester im Turm eingeschlafen war. Dann erst begann das eigentliche rasche Gleiten. Der gleitende Bote erhielt nie ein bestimmtes Ziel. Er wurde zum Beispiel angewiesen, so lange geradeaus in die angezeigte Richtung zu gehen, bis seine Beine zu ermüden begannen. In der siebten Stunde des Tages sollte er umkehren und den gleichen Weg zurückgehen. Dies geschah, damit die anderen Klöster solch einen Boten nicht abzulenken vermochten. Da er nicht aus eigenem Antrieb, sondern durch den Willen des Hohenpriesters vorwärtseilte, konnten ihn andere Klöster nicht beeinflussen. Der Große Gleitende Gang war also ein unbewußter Zustand, da der Lama nicht wußte, was er tat. Er sah niemanden und eilte mit langen, gleichmäßigen Schritten fast mechanisch vorwärts, wobei er seine starren Augen auf einen Punkt am Horizont oder einen fernen Gipfel heftete. Wenn der Lama von der langen Reise zurückkehrte, weckte ihn der Große Lama aus seiner Teilnahmslosigkeit und brachte ihn zu den großen Felsen auf dem Klosterhof, damit ihn die Luft wieder zu Sinnen brachte. Erst dann spürte er große Müdigkeit. Obwohl der Lungonpa sehr rasch lief, schwebte er nicht durch die Luft, obschon es aus der Ferne so wirkte. Seine Füße berührten jedoch stets den Boden, wenn auch immer mit der ganzen Sohle, wodurch sein Gang seltsam gespenstisch wirkte. Er konnte über weite Abgründe springen, ja, sogar übers Wasser gleiten, doch dabei waren der geistigen Antriebskraft Grenzen gesetzt. Wenn sich das Gelände veränderte, wenn es Flüsse, Abgründe oder andere Hindernisse zu überqueren galt, mußte der Hohepriester den Lama bei jedem Schritt begleiten und ihm von Dorf zu Dorf folgen, bis er an seinem Bestimmungsort -197-
angelangt war. Hier möchte ich einfließen lassen, daß es zwei verschiedene Arten von Bewußtseinsflügen gab. Einmal das normale Phoimonda, wovon ich bereits gesprochen habe und wo sich die Seele ohne den Körper in ihrer unsichtbaren Geistform fortbewegt. Da der Körper zurückbleibt, ist sie für andere nicht sichtbar und kann auch nicht sichtbar gemacht werden, weil es sich um den Geist eines lebenden Menschen handelt. Die andere Art ist sehr selten, denn hierbei nimmt die Seele den Körper mit sich. Ein solcherart begabter Lama mag in seiner Zelle liegen und im nächsten Augenblick spurlos verschwunden sein. Da er seinen Körper mitgenommen hat, kann er Menschen an weit entfernten Orten physisch erscheinen. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn sein Geistführer ihm auf der geistigen Ebene folgt und ihn ständig überwacht. Der Geistführer hilft ihm, den physischen Körper aufzulösen und wieder zusammenzusetzen. Der Gleitende Gang ist weder das eine noch das andere. Hierbei bleiben Körper und Seele immer verbunden, obwohl der Körper für äußere Reize oder Verletzungen unempfindlich wird. Die zweite Art des Bewußtseinsfluges, die körperliche Aussendung, galt als höchst schwierig. In vielen Klöstern war kein Lama dieser Kunst mächtig. Bei solchen Reisen vereinte sich die geistige Kraft des Lamas mit der Kraft des Geistführers. Gemeinsam lösten sie den Körper im Handumdrehen in feinere Teilchen als Materie auf, wobei es dem Lama nicht nur gelang, Körper und Seele auszusenden, sondern durch Wände oder andere feste Gegenstände zu gehen. In Verbindung mit diesem seltsamen Phänomen berichtete uns Chang-Dug-Sa Lama lachend, daß Lhalu der einzige im Felsenkloster sei, der diese Kunst beherrsche. Sein Körper und seine Seele verfügten über außerordentliche Fähigkeiten. Als nach seiner Prüfung des Sarges der steinerne Deckel gehoben wurde, war Lhalu verschwunden, obwohl die Siegel des Hohenpriester unberührt waren. Staunend blickten die Lamas in den leeren Sarg. -198-
Plötzlich hörten sie Schritte und sahen den Eingeweihten, der lächelnd die Treppe herabkam.
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jungen
Kapitel 10 Ich lebte jetzt seit drei Jahren im Felsenkloster, und mein Wissen wurde immer umfangreicher. Schon formte sich in mir ein klares Bild von der Schönheit unserer Religion, die aus dem Samen der verlorenen Welt gesprießt war, welchen die Überlebenden in unserem Lande und im südlichen Reiche Amun Ras, des Gottes des Khem- Volkes, gesät hatten. Wir hatten immer nur an einen Gott ge glaubt, nicht an Götter oder Gottheiten, denn unsere Religion hatte nichts mit dem Glauben der Bauern der damaligen Zeit zu tun. Die Götzendienste in den strahlendweißen Tempeln von Babylon und die vielen hundert Gottheiten Assyriens waren uns fremd. Der Glaube des alten Khem, welches die polytheistischen Hellenen im fernen Süden ,Aiguñtos' nannten, kam unserer Religion am nächsten. Bereits dreitausend Jahre vor unserer Zeit pflegten Menschen in Klöstern zu leben. Nach den gewaltige Umwälzungen, die die Zerstörung des fruchtbaren Landes begleiteten, dauerte es viele tausend Jahre, bis die Menschen das verlorene Wissen dank der Hilfe der himmlischen Führer der Erde allmählich wiedererlangten, abgesehen von den wenigen Eingeweihten, die die Katastrophe überlebt hatten. Am Anfang, dreitausend Jahre vor dem Felsenkloster und achthundert Jahre nach Churud, der großen atlantischen Flut, lebten in versteckten Höhlen nur vier oder fünf Lamas. Später wurden es mehr. Fünftausend Jahre vor unserem Zeitalter waren diese allerersten Lamas wohl eher Zauberer als Priester. Sie stiegen in die Dörfer hinab und heilten die Menschen. Die Technik des Handauflegens war ihnen zwar vertraut, doch behandelten sie die Kranken zumeist mit Zaubertränken. Erst als sich die Priester in einer späteren Periode nicht mehr so sehr um ihren -200-
Lebensunterhalt kümmern mußten, verkündeten sie auch den Glauben an Gott. Sie begannen, ihre Felshöhlen behaglicher einzurichten und nahmen Frauen zu sich. Dies war natürlich nicht sehr weise, denn schon bald kam Unzufriedenheit auf, und die Einheit dieser ursprünglichen Klöster war zerstört. Die Bewohner erkannten schließlich, daß Frauen in einem Kloster nichts zu suchen hatten. Es war jedoch äußerst schwierig, die Frauen aus den Klöstern zu vertreiben, und die Naljorpas, die einfachen Priester und Magier, die ein reines Leben führen wollten, mußten hart darum kämpfen. So entwickelte sich allmählich der Brauch, die Frauen als Priesterinnen für sich in einem Konvent leben zu lassen. Schon in jener fernen Zeit gründete sich die Verehrung der Gottheit auf Wissen. Deshalb wurde Gott später „Ye-Shes" genannt, was Wissen oder Weisheit bedeutet. Seine Statue glich dem Hauptgott des Khemvolkes, doch seine Bekleidung und andere Besonderheiten unterschieden sich von Ra. Noch in späteren Zeitaltern wurden vor seinem Altar Opfer dargebracht, doch dieser Gepflogenheit widmeten sich nur die Bewohner der Täler und der niedrigeren Berge Bod-Yuls, die weit entfernt von den hochentwickelten Klöstern lebten. Und selbst jene verzichteten später auf Blutopfer und brachten dem Allerhöchsten nur noch Früchte oder Blumen dar. Im Laufe der Entwicklung der Klöster über viele hundert Jahre hinweg endstand der Brauch, Gebete zu sprechen, keine gewöhnlichen Gebete, sondern kleine Geschichten. So wurde Bod-Yul das Land der Erde, in dem am meisten gebetet wurde. Damals verfaßten die Mönche in den Klöstern jedes Jahr neue Gebete. Sie meißelten den Text in Stein und verteilten die Tafeln an das Volk, welches den Wortlaut auswendig lernte. So vertraute die Bevölkerung allmählich den Priestern, denn diese standen ihnen bei allen Sorgen zur Seite und wachten über ihre Seelen. Später vereinte ein Priester die Aufgaben des Weisen und des Magus in seiner Person. Als es immer mehr Mönche gab, wählten diese -201-
einen Führer aus ihrer Mitte, den späteren Hohenpriester. Das erste Kloster der Welt wurde in Bod-Yul auf der südlichen Hochebene des großen Schneeberges errichtet. Gott oder Weisheit So lautete sein Name, da die erste Statue Gottes aus Khem stammte und von dem Bildhauer, der sie gemeißelt hatte, Weisheit genannt wurde. Unsere Prophezeiung besagt, daß die Ruinen dieses ersten Klosters noch dreitausend Jahre nach unserer Zeit zu sehen sein werden, wenn unser Land von den Völkern der Welt nicht mehr Bod-Yul, sondern Thobod oder Tibet, das Land der hohen Berge genannt werden wird. Unsere Religion und die Klöster entwickelten sich in den dreitausend Jahren vor dem Felsenkloster. Seit jener Zeit wurde der alte Glaube, der einfach, aber schön und erhebend war, fünfmal erneuert. Die Aufgabe der Frauen in den Klöstern der frühen Zeit bestand nur in Reinigungsarbeiten. Später erhielten sie eine Ausbildung, und einige wurden Priesterinnen. Dieses System hielt sich bis zum Schluß. Am Anfang lebten nur Männer in den Klöstern, führten ein reines Leben der Entsagung und legten Gelübde der Enthaltsamkeit ab. Diese Zeit ging allerdings bald zu Ende, da in der frühen Entwicklungsperiode Bod-Yuls auch Männer, die das leichte Leben schätzten, auf Grund ihres Wissens, welches sie an die Priester weitergeben sollten, in die Klöster aufgenommen wurden. Die zweite Neuordnung der Religion ging mit der Gründung der Nonnenklöster einher. Seit jener Zeit verlief das Leben im Orden nach festen Regeln. Dies erfolgte natürlich nicht ohne Schwierigkeiten, und die Klöster spalteten sich in zwei Lager. Die abtrünnigen Lamas ließen Frauen zu und lebten mit diesen; die anderen zogen sich zurück und sahen außer der Priesterin keine andere Frau. Nach einigen Jahrhunderten vereinten sich die Klöster wieder, da die Mönche -202-
erkannten, daß sie ohne das Wissen und die Weisheit der anderen nicht überleben konnten. Deshalb fand man folgende Lösung: Das Oberhaupt eines jeden Klosters war ein Mann, der Hohepriester, doch außerdem gehörte jedem Kloster eine Frau an, die Priesterin oder Ichka, deren Einfluß groß war. Sie wurde zum geistigen Werkzeug des Großen Lamas, die Vorhut des Wissens, das eigentliche Auge des Klosters. Als Vertreterin des weiblichen Prinzips lebte sie jungfräulich an der Seite des Hohenpriesters und vervollständigte seine Kenntnisse. Nachdem die religiösen Streitigkeiten beigelegt waren, widmete sich die gesamte Priesterschaft Bod-Yuls der Entwicklung von Kultur und Zivilisation. In diesen Gebieten führten die Klöster, und die Mönche trafen sich jedes Jahr, um spezielle Streitpunkte zu klären. Danach wurden Beschlüsse gefaßt und verbreitet. Wie ich schon sagte, ergänzte die Priesterin den Hohenpriester. In unserem Zeitalter konnte man sich einen Hohenpriester ohne die Ichka überhaupt nicht vorstellen. Natürlich war diese Verbindung rein geistig, denn hätte mehr als edle Zuneigung zwischen beiden gestanden, wären sie auf der Stelle getrennt worden. So etwas geschah allerdings recht selten. Am dritten Jahrestag meines Eintritts in das Kloster hielt Lhalu Lama vor meiner Klasse eine Vorlesung über die Entwicklung der Religion. Er sprach über die Geschichte unseres Landes und unserer Religion und behandelte dabei nicht nur den Zeitraum bis zu dem Jahr, in dem wir lebten, sondern er konnte uns dank der Vorhersagen der Seher-Lamas und der geistigen Reisen in die Zukunft die Ereignisse bis in das dreitausendste Jahr nach unserem Zeitalter voraussagen. Er hatte den Vortrag vor einem Monat gehalten, doch alle Einzelheiten waren mir noch immer lebendig gegenwärtig, da er all das zusammengefaßt hatte, was wir bis dorthin über die atlantische Welt und unsere Religion gelernt hatten. Wir saßen alle im großen Chang. „Wie ihr bereits wißt", begann er, „wurde die atlantische Kultur durch das alte Volk -203-
Khem, welches Toth, Osiris und Misur anbetet, gerettet und der neuen Welt überliefert. Die verfallende Religion des heutigen Khem verehrt Osiris, Toth und Misur als Götter, doch einst waren es Hohepriester aus Atlantis, welche die Heilige Weisheit lange vor der großen Katastrophe auserwählte. Sie erhielten den Auftrag, das Land zu verlassen, um ihr Wissen für die Nachwelt zu retten. So bestiegen diese Hohepriester von göttlicher Weisheit Schiffe, segelten nach Khem und legten zu beiden Seiten des Flusses Jetero die Fundamente des alten Reiches. Sie errichteten riesige Bauwerke aus Stein, welche Pir-m- us genannt werden. Diese Pyramiden waren ihre Einweihungshallen, in deren Abmessungen, Winkeln und Gängen sie nicht nur ihr ganzes Wissen, sondern auch die Geschichte von Vergangenheit und Zukunft der Menschheit einbauten. Sie wußten, daß die Menschheit schon bald durch eine große Katastrophe vernichtet werden würde und strebten danach, ihre Weisheit für die Belehrung und Führung der zukünftigen Menschheit zu bewahren. Die große Zerstörung der Welt, die wir Churud oder das Versinken von Atlantis, der fruchtbaren Welt, nennen, fand zehntausenddreihundert Jahre vor unserem Zeitalter statt. Zu jener Zeit lebten noch Flüchtlinge der reinen atlantischen Rasse an den Ufern des Jetero, welche sich nicht mit den Einheimischen vermischt hatten. Diese beschlossen, zu den hohen Bergen im Nordosten zu wandern, da sie sich im Tiefland nicht mehr sicher fühlten. So geschah es, daß sich die Bewohner des alten Khem nach der großen Katastrophe in zwei Teile spalteten. Der reine atlantische Stamm begab sich auf die Wanderschaft und hielt erst an, als er Bod-Yul erreicht hatte. Die Atlanter glaubten, auf Erden keine höheren Berge finden zu können, womit sie recht hatten. So kam das Wissen nach BodYul. Dort lebten bereits Menschen, die nach der großen Umwälzung dorthin geflüchtet waren. Aus der Vermischung dieser unterschiedlichen Stämme entstand die alte Kultur BodYuls. Und jetzt hört mir aufmerksam zu", sagte er und hob die -204-
Hand. „Ich habe euch die Geschichte unseres Landes und unseres Glaubens bis zum heutigen Tag vermittelt. Jetzt werde ich euch auf der Grundlage unserer Vorhersagen auch die Zukunft offenbaren. Unsere Religion wird sich nach der Verkörperung unseres Gottes Ye-Shes in achthundert Jahren zum drittenmal erneuern. Nicht nur für das Volk Bod-Yuls, sondern für die Völker der ganzen Welt wird dies ein Wendepunkt sein. Die Lamas jener Zeit werden nach neuen Lehren suchen, doch sie werden weder die alten noch die neuen welterlösenden Lehren annehmen. In dieser Zeit wird alles vergehen. Sorgt euch nicht, Brüder, denn so steht es in der himmlischen Kah-Chronik geschrieben. Auf jede Blütezeit folgt eine Zeit des Verfalls. Da die Lamas die Lehren des auf Erden lebenden Gottes nicht billigen werden, wird ein Hoherpriester mit Namen Bu-Ta-Kelmon die Mitglieder der Klöster, die bis dahin mehrere Tausend zählen werden, zusammenrufen und ihnen zu verstehen geben, daß sich der Glaube Bod-Yuls verändern werde. Da sie die neue, ewige Lehre zurückweisen werden, wird siebenhundert Jahre nach der Geburt Gottes auf Erden ein Prinz aus Gyagar in unser Land kommen, der SrongTsen-Gampo heißen wird. Und da wir uns nicht reif und würdig für die Ankunft eines fleischgewordenen Gottes erwiesen haben werden, wird dieser Prinz die Lehren eines Heiligen aus Gyagar, Shakyamuni oder Sangye, wie er bei uns genannt werden wird, einführen. Dessen Lehren werden den alten Bon-Glauben in den Hintergrund drängen, und Bod-Yul wird lange Zeit von ihm bestimmt werden. Ein göttlicher Bote aus der Linie des Sakya wird vor dem Ende der Zeit eine Brücke zwischen unseren Religionen schlagen. Diese wird in den letzten Tagen wieder aufleben, und der neue Glaube wird wie neuer, reiner Wein in neuen Schläuchen sein und bis zum Ende der Welt reifen, damit er Osten, Westen, Norden und Süden in einer einzigen großen Religion vereinen kann. Dann werden sich unsere alten Riten und Zeremonien und unsere Mystik wieder aus der Asche -205-
erheben. Bod-Yul, welches ursprünglich die Aufgabe hatte, das Große Wissen weiterzugeben, wird bis zum Ende überdauern und die Schläuche des neuen Glaubens, die durch die Gleichgültigkeit der Menschen steif und rissig geworden sind, mit seinem alten Wein erneuern. All dies wird in 2749 Jahren geschehen, in der Zeit des Großen, Trennenden Gerichtes, welches dann unsere Welt reinigen wird. Und Bod-Yul, das seit undenklichen Zeiten die Saat des reinen Wissens von Atlantis bewahrte, wird wieder sein, was es einst war: das Land der heiligen Priester und der Altar der Welt zur ewigen Ehre des Gottes aller Völker: Ye-Shes." Es war seltsam und wunderbar zugleich, diesen Vorhersagen zu lauschen, die Jahrhunderte, nein Jahrtausende betrafen, welche der Leib der Zeit noch nicht geboren hatte. Wir alle hörten unserem Lehrer tief berührt und verzaubert zu. „Heute jährt sich der Tag, an dem unser Bruder Ti-Tonisa in das Felsenkloster eintrat, zum dritten Male", fuhr er fort. „Nach altem Brauch bitte ich die älteren Mitglieder des Ordens, ihn zu den Grundlagen unseres Glaubens zu befragen. Jeder Eingeweihte muß bei dieser Gelegenheit mit eigenen Worten zusammenfassen, was er bis jetzt gelernt hat. Ich werde als Lehrer für Religion die erste Frage stellen. Der Schreiber soll die Antworten des jungen Lamas notieren, denn die besten Erwiderungen werden für die Nachwelt aufgehoben. Ti-Tonisa, nach allem, was du gelernt hast, sage mir, von wo wir auf diese Erde kommen, warum wir hier sind und wohin wir einst gehen werden?" „Wie sind die lebendigen Gedanken Gottes", antwortete ich. „Einst waren wir leuchtende Geister in hohen himmlischen Rängen. Wir besaßen drei göttliche Eigenschaften: Weisheit, Liebe und Macht. Als wir erkannten, daß wir auch erschaffen konnten, erlagen wir der Verführung unseres hellsten Brudergeistes, der sich von der Heiligen Weisheit, unserem Vater, unabhängig machen wollte. Wir verfielen ihm in großer -206-
Zahl, sanken immer tiefer durch die Sphären, und nicht einmal Gott vermochte uns aufzuhalten, denn wir waren Geister aus seinem Geiste, Teile des ewig Einen, Tropfen des einen Meeres, und so konnte auch er unseren freien Willen nicht lenken. Das Meer kann seinen eigenen Tropfen nicht befehlen: Seid nicht salzig, seid anders! Schwimmt nicht aus der Tiefe an die seichten Strande! Doch es kann die Wassertropfen wohl warnen, nicht zu lange auf dem trockenen Sand oder in Felsspalten zu verweilen, da sie sonst verdunsten und spurlos verschwinden. Es spricht mit dem sanften Plätschern der Wellen oder dem drohenden Gebrüll des Sturmes: Kommt zurück zu mir, klammert euch an die steigende Flut meiner Gnade, die immer wieder über eure kahle Küste spült und euch bittet, der weichenden Ebbe zu folgen. Bleibt nicht in Löchern und Spalten, wo ihr euch verfangt und immer kleiner werdet, bis ihr schließlich verschwindet. Habt acht! Haltet euch an Ebbe und Flut und an eure unzähligen Brüder, damit meine Anziehungskraft und meine Liebe euch zurück an die Vaterbrust ziehen kann! Doch wir hörten nicht auf das Plätschern des ewigen Meeres und folgten unserem Versucher Sadag, dem Prinzen der Unt erwelt, in die Seen der dunklen Wasser auf der Erde. So kamen wir gefallenen Geister, wir aufsässigen Wassertropfen, hinunter auf die Erde, wo wir die in uns verborgenen göttlichen Eigenschaften mit irdischem Staub vermengten und diesen, wie Schlamm, um unsere Seelen schmierten. Damit habe ich die Frage beantwortet, woher wir kommen." Ich sah die glänzenden Augen meines Lehrers und hörte das beifällige Gemurmel der alten Lamas im Chang. „Die Lehre", sagte Lhalu Lama mit lauter Stimme, „dringt wie ein Lichtstrahl in die Seele des Schülers, und jeder Schüler gibt diesen Strahl gemäß seiner eigenen geistigen Eigenschaften weiter. Deshalb ist es wichtig, daß wir das Wissen von der Seele eines Bruders gespiegelt hören. Wir alle sind, wie du sagst, in -207-
der Tat Wassertropfen aus dem ewigen Meer und spiegeln das Licht der Gerechtigkeit jeder auf seine Weise. Doch fahre fort, mein Freund, und beantworte meine zweite Frage, warum wir auf der Erde sind." „Das irdische Meer ist für jene Wassertropfen, welche das Gesetz ha lten, ein Sinnbild für das auf Erden gespiegelte Bild Gottes und für geistigen Zusammenhalt. Wir müssen während unseres Erdenlebens auf den Wellen des göttlichen Meeres schwimmen, dürfen uns hier unten jedoch nie ans Ufer begeben. Nur so rückt der heilige Augenblick näher, der Tag, an dem wir so leicht werden, daß die Wärme der Sonne uns wie Wasserdampf hinaufzieht. Wenn wir uns hier unten so weit gereinigt haben, daß wir in die Höhen des vierten Rings gelangen, werden wir nie wieder dem irdischen Spiegelbild der Heiligen Weisheit verfallen, da wir uns dort oben mit dem alles durchdringenden Meer Ihrer Liebe vereinen. Deshalb haben wir auf der Erde die Aufgabe, die Gesetze der Wassertropfen zu halten, uns miteinander zu verbinden und uns nach dem Vater zu sehnen. Und zu all dem verhilft uns die Kraft der Liebe." Del-Nor-Pa, der älteste Lama, erhob sich und sprach zu der Versammlung der Eingeweihten: „Unser Bruder gibt das Wissen, welches er hier in diesem Kloster gesammelt hat, mit sehr schönen Worten wider. Bevor du die Fragen deines Meister weiter beantwortest, erlaube, daß ich dir im Zusammenhang mit der irdischen Verkörperung eine Frage stelle. Was sagst du zu den klaffenden Unterschieden zwischen den einzelnen Menschen? Warum wird jener als König geboren, ein anderer jedoch als Sklave? Wie kannst du solches mit der Ewigen Wahrheit vereinbaren, mit allbarmherziger Liebe? Gerechtigkeit, Liebe und Weisheit, die verschiedenen Antlitze der Heiligen Weisheit, regieren die Welt. Doch es gibt auf der ganzen Erde keine Eltern, die bereitwillig zustimmten, daß ihr Kind als Krüppel geboren werde! Soll man also einen Vater gerecht nennen, der eines seiner Kinder lahm, -208-
das andere reich und gesund erschafft? Antworte mir auf diese Frage, Ti- Tonisa." „Wenn eine Seele in einem verkrüppelten Körper oder als Bettler geboren wird, hat sie sich dieses Schicksal sicher nicht selbst gewählt. Es ist eine Strafe, denn Arva, das Gesetz des Schicksals, beginnt seine Tätigkeit nicht erst in diesem Leben! Wir alle tragen in der Gegenwart an unserer Vergangenheit, und die Gegenwart birgt den Samen der Zukunft. Wir bringen vom anderen Ufer der früheren Leben viele wertvolle Güter oder wertlose Lasten mit, die uns zum einen als Vorteil gereichen, zum anderen als Nachteil. Der Bettler mag in einer früheren Verkörperung ein Tyrann gewesen sein, der Tausende ausbeutete; das lahme Kind mag seinen größten Schatz, das Leben, mit eigenen Händen fortgeworfen haben. Vor vielen tausend Jahren sprangen wir wie Kiangs von der Höhe in die Tiefe, und jetzt müssen wir wieder zu den sonnenhellen Gipfeln emporklettern. Nach jedem Leben schließen wir unsere müden Augen zu einem erquickenden Schlaf, nur um es bei Anbruch des neuen Tages dort fortzusetzen, wo wir es verlassen haben. Wir speichern die Lebenserfa hrungen, die wir auf dem langen Weg bis dorthin sammelten, in unseren Seelen, doch das Bündel des Arva müssen wir tragen, bis es von unseren Schultern fällt. Der schnellste Weg ist der pfeilschnelle Pfad, das gottgeweihte Leben eines Eingeweihten." Lhalu blickte Dal-Nor-Pa an und nickte stolz. „Vater, er hat unser beider Fragen beantwortet, und ich weiß, daß dich seine Antwort zufriedenstellt." „Wahrlich, Lhalu, du kannst stolz auf deinen Schüler sein. Wir alle lieben und achten ihn, denn ihm ist Großes vorbestimmt." „Gibt es noch jemanden, der ihm eine Frage stellen will?" fragte mein Meister und blickte in die Runde. Der Burgvogt, der uns eine so wunderbare Rede gehalten -209-
hatte, als wir als junge Novizen den ausgebreiteten Mantel des Hohenpriesters berührt hatten, erhob sich und wandte sich lächelnd mir zu: „Wie würdest du dem einfachen Volk mit kurzen Worten das Gesetz des Schicksals erklären?" „Arva ist das Gesetz der Gerechtigkeit, welches die ganze Schöpfung beherrscht. Kein Geschöpf kann es umgehen. Die Schlange beißt denjenigen, der auf sie tritt. Das Feuer verbrennt den, der es berührt. Der Felsblock verletzt den Kopf, der gegen ihn stößt. All dies verursacht Schmerz, und wir erkennen augenblicklich, daß wir die Gesetze der Natur übertreten haben. Doch wer verursacht diese Schmerzen? Die Schlange, das Feuer oder der Felsblock? Keiner von ihnen! Wir erleiden die Auswirkungen unserer Taten, denn wir waren es, die gegen die Gesetze der Natur verstießen. Die Übertretung des Gesetzes wirkt jedoch im geistige n Sinne noch stärker als auf der Erde. Eine einziges Verbrechen als Ursache bewirkt eine ganze Kette von Folgen, welche den Verursacher erst nach langer Zeit treffen mögen. Jeder Mensch muß die Früchte seiner Taten und Gedanken essen. Jedes Übel, was den Menschen im irdischen Sinne betrifft, ist die Folge seiner früheren Sünden. Wenn er der Vergangenheit den Rücken kehrt und dem rechten Weg folgt, beginnt sich sein Schicksal augenblicklich zu wandeln. Leiden ist nichts anderes als selbsttätiges Arva. Wenn die leidende Seele jedoch den Weg der Sünde verläßt und erkennt, warum sie leidet, hört das Leid von selbst auf. Denn durch Leid und Schicksalsschläge wird der Sterbliche auf das Gesetz aufmerksam gemacht. Daher müssen wir uns genauso darauf einstellen, wie sich die Wassertropfen auf das Meer einstellen. Nur nach einem Leben voller Opfer vermögen wir diese Erde bewußt mit reiner Seele zu verlassen, und dann endet für uns Akhor, der Kreislauf der Wiedergeburten." Ich hatte kaum geendet, als der Kharpon mir die Arme entgegenstreckte und sagte: „Der erhabenen Weisheit sei Dank, daß sie einen Priester wie Ti-Tonisa zum Felsenkloster führte! -210-
Wir haben dich schon immer geliebt, mein Sohn, doch jetzt stehst du den Herzen von uns alten Lamas noch näher. Deine Worte faßten die Lehre mit erstaunlicher Klarheit zusammen. Sie sind es wahrlich wert, vom Schreiber festgehalten zu werden. Nicht umsonst gab dir unser Hohepriester die Aufgabe, der Nachwelt unser Wissen zu überliefern. Du hast die große Gabe, erlangte Kenntnisse klar und genau wiederzugeben. Möge dich die Heilige Weisheit leiten, Bruder!" Alle Lamas sammelten sich um mich und wünschten mir zum freudigen Fest meines dritten Jahrestages im Felsenkloster Gesundheit, Glück und Weisheit. „Folge mir jetzt, Arau", sagte Lhalu, „damit du das Geschenk empfangen kannst, das die Gnade des Himmels dir an diesem Tage zugedacht hat." Ich eilte mit klopfendem Herzen hinter ihm den Gang entlang, und als er den letzten Vorhang beiseite zog, fand ich mich in der großen Empfangshalle im Erdgeschoß wieder. Selbst jetzt war sie voller Besucher: Händler, Pilger, Dorfbesucher, die sich das Schicksal lesen lassen wollten, und Reisende aus fernen Ländern drängten sich im Raum. Die meisten kamen wegen der SeherLamas, welche in den angrenzenden Zellen in glänzende Metallkugeln schauten. Lhalu führte mich zu einem kleineren Raum, und als er dessen Vorhang beiseitegeschoben hatte, blieb ich vor Überraschung wie angewurzelt stehen. Meine Eltern und mein Bruder Drag-Po kamen lächelnd auf mich zu, doch ich starrte sie nur an, ohne ein Wort herauszubringen. „Mutter!" keuchte ich endlich, rannte zu ihr und drückte sie an meine Brust. „Wie groß du geworden bist, mein Kleiner", murmelte Mutter aufgeregt, während sie meine Wangen streichelte. Auch Vater stand dicht neben mir und klopfte mir auf den Rücken. Außer mir vor Freude umarmte ich die beiden. Lange hielten wir so einander umfangen, bis Drag-Po, der zu einem großen Jungen -211-
herangewachsen war, das Schweigen mit glitzernden Augen brach: „Sag mal, Ti-Tonisa, beherrschst du jetzt den Großen Gleitenden Gang?" „Dieses Kind! Wieder stellt es so dumme Fragen! O mein Sohn, wir waren so glücklich als wir erfuhren, daß du all deine Prüfungen gut bestanden hattest! Und was für einen schönen Mantel du trägst! Wir wollten dich gleich nach deiner Einweihung besuchen, doch dein Vater befand sich auf einer langen Reise, und ich mußte mich um das Haus kümmern. Wir hätten es kaum ertragen, dich drei lange Jahre nicht zu sehen, wenn der Kharpon uns nicht regelmäßig Nachrichten über dein Wohlergehen gesandt hätte. Diese Reise haben wir seit langem geplant, um dich diesmal ganz sicher besuchen zu können." Drei Tage lang verbrachte ich meine gesamte Freizeit mit meiner Familie, und als sie sich auf den Heimweg machte, durfte ich sie mit Lhalus Erlaubnis eine halbe Tagesreise weit begleiten. Nach den ersten drei Jahren war der Besuch meiner Eltern die erste Unterbrechung meines Klosterlebens, denn ich verbrachte meine Tage mit Lernen und körperlichen wie geistigen Übungen. Es schien, als habe die Ankunft meiner Familie eine ganze Kette von neuen Ereignissen in Gang gesetzt, denn ich spürte, daß mir im neuen Jahr unerwartete Erlebnisse bevorstanden, die auch das Kloster betreffen würden. Meine Gefühle hatten mich bis jetzt noch nie getrogen, und schon bald sollte ich erfahren, wie recht ich mit meinen Vorahnungen gehabt hatte. Einen Monat nach der Abreise meiner Eltern überquerte ich auf dem Weg zur Quelle den Klosterhof, als ich einen Mann im mittleren Alter erblickte, der auf zwei Trapas einredete. Neugierig kam ich näher und erfuhr bald, daß der Fremde ein Händler aus einem entfernten Dorf war. Er war zum Kloster -212-
gekommen, um zu fragen, ob einer der Heiler etwas für seine kranke Tochter tun könnte. Die Trapas wandten ein, daß er zu so früher Stunde niemanden würde sehen können, da sich die Mönche gerade auf ihre Morgenandacht vorbereiteten. „Woher kommst du, mein Freund?" fragte ich, da ich an seiner Kleidung sah, daß ein reicher Dorfbewohner und nicht einer der Dolva vor mir stand. „Ich heiße Horkang und bin ein Händler aus dem ChumbiTal, das etwa zwölf Tagereisen entfernt liegt. Bitte helft mir, guter Herr. Ich sehe, ihr seid ein eingeweihter Priester. Meine einzige Tochter ist schwer erkrankt, und nur ihr weisen Priester dieses Klosters könnt sie heilen. Ich möchte euren besten Heiler mit mir auf die Reise nehmen. Da ich nicht arm bin, würde ich euer Chintanyin reich beschenken." „Auch mein Vater ist Händler", erwiderte ich, und vielleicht faßte ich aus diesem Grunde sofort Zuneigung zu diesem beherzten Mann mit dem offenen Gesicht. „Sein Name ist Mirgon, und wir stammen aus Zondok." „Mirgon? Natürlich kenne ich ihn", antwortete er mit glänzenden Augen. „Ich bin ihm oft auf meinen Karawanenreisen begegnet. Ich hatte jedoch keine Ahnung, daß er schon so große Söhne hat! Mir scheint, als habe euch der Himmel über meinen Weg geschickt. Helft mir, ich flehe euch an, und führt mich zu eurem besten Heiler. Ich bitte euch, übermittelt meine demütige Bitte eurem Hohenpriester, damit er mir erlaubt, einen der kenntnisreichen Lamas mit in mein Dorf zu nehmen. Meine Tochter stirbt, und sie ist mein Augapfel!" Ich bat die beiden Trapas, die Maultiere des Besuchers in den Stall zu führen und sie zu füttern. Dann winkte ich dem Händler, mir zu folgen. „Du hast Glück gehabt, daß du ausgerechnet mir begegnet bist, denn der beste Heiler im Felsenkloster ist mein geistiger Lehrer. Warte dort in der Empfangshalle", ich deutete auf den -213-
Eingang, „ich werde indes nach Lhalu Lama suchen." Ich traf meinen Meister vor dem Speisesaal und erzählte ihm die Begebenheit. Da er mir nie eine Bitte abschlug, folgte er mir gleich in die Empfangshalle. Der Händler verbeugte sich tief vor ihm, während ein glückliches Lächeln über sein Gesicht huschte. „Mein Herr, seid euch dafür, daß ihr meiner Bitte so rasch entsprochen habt, meiner Dankbarkeit gewiß." „Vor euch steht Lhalu Lama, mein Meister und der beste Heiler im Felsenkloster", unterbrach ich ihn. „Faßt eure Bitte kurz, denn bald wird unser Morgengebet beginnen." „Ich habe gehört, daß eure Tochter ernstlich krank ist", sagte Lhalu, „und daß ihr wünscht, daß ich mit euch komme, um sie zu heilen. Wie alt ist sie, und was fehlt ihr?" „Sie ist dreizehn Jahre alt, doch für ihr Alter ist sie sehr reif. Ich sage das nicht, weil sie meine Tochter ist, Herr, denn es ist wirklich so, daß die Himmel sie mit außergewöhnlichen Gaben bedachten. Wir wissen nicht, was ihr fehlt. Als sie eines abends nach Hause kam, fühlte sie sich krank und hatte hohes Fieber. Ich brachte sie sofort zu Bett, doch sie wälzte sich herum und redete wirr in Fieberträumen. Es ist schon vierzehn Tage her, da meine Reise zwölf lange Tage währte. Das Merkwürdigste an dieser Krankheit ist, daß sich mein Kind in den Morgenstunden stets besser fühlt. Nur des nachts bekommt sie Schüttelfrost. Ihr Körper wird dann brennendheiß. Sie ist wirklich in sehr schlechter Verfassung und sieht aus wie ein Geist. Sie ist so schwach, daß sie sich kaum zu bewegen vermag. Helft mir, Vater, und heilt sie, dann werde ich das Kloster reich beschenken." Lhalu hob die Hand. „Das ist unwichtig, mein Freund. Die Hauptsache ist, daß wir eurem Kinde helfen können. Dieser Fall ist wirklich merkwürdig. Ich werde mit euch kommen. Zuvor muß ich -214-
allerdings unseren Hohenpriester um Erlaubnis bitten. Bleibt solange hier in der Halle." Der Große Lama willigte ein. Wann immer einer der Heiler dringend zu einem Kranken gerufen wurde, befreite er den Lama von allen klösterlichen Pflichten. Zu meiner größten Freude hatte Lhalu ihn gebeten, daß ich ihn als sein Schüler begleiten durfte. Wir machten uns am Nachmittag desselben Tages in östlicher Richtung auf den Weg, kletterten den Großen Paß hinab und folgten eine Weile lang demselben Pfad, den Vater und ich nach Tampol- Bo-Ri genommen hatten. Zwei Tage später erreichten wir eine Abzweigung und bogen auf einen schmalen Weg in Richtung der schneebedeckten Gipfel von Sanpo ein. Als wir unser Zelt zum erstenmal für die Nacht aufschlugen, bat Lhalu den Händler, ihm alles über seine Tochter zu erzählen, da ein Arzt die Lebensumstände seines Patienten kennen muß, wenn er ihn erfolgreich behandeln will. Horkangs Miene wirkte so peinlich berührt, als habe mein Führer an eine sehr unerfreuliche Familienangelegenheit gerührt. Er versuchte, die Antwort zu umgehen, doch Lhalu faßte ihn fest ins Auge, worauf er den Blick senkte. „Es ist etwas Geheimnisvolles mit eurer Tochter. Wenn ihr wollt, daß ich ihr helfe, dann sagt mir alles, denn oft drückt der Körper die Erlebnisse der Seele aus." „Vater, ich kämpfe schon länger mit mir, ob ich es euch gestehen soll. Ich kam nicht gleich zum Kloster, sondern habe zuerst einen Zauberer aus der Nachbarschaft gerufen. Sicher straft mich der Himmel für diese Tat! Doch all das, was ich jetzt berichte, beschwert mein Gewissen schon seit vielen Jahren. Tadelt mich nicht, Vater, ich erbitte vielmehr euren Rat!" „Sprich nur." „Wisset, daß meine kleine Tochter selbst in ihrer frühen Kindheit ein ganz ungewöhnliches Geschöpf war. Mit nicht ganz sechs Jahren setzte sie es sich in den Kopf, von zu Hause -215-
fortzugehen. Vielleicht geschah es, weil ihre Mutter vor langer Zeit gestorben war und ich sie allein aufziehen mußte. Ihre seltsamen Gaben zeigten sich bereits im Alter von drei Jahren. Sie sagte Ereignisse voraus, die dann tatsächlich eintrafen." Er hielt inne, als müsse er sich die unerfreulichen Erinnerungen erst wachrufen, und fuhr dann zögernd fort: „Als sie sechs Jahre alt war, packte sie ein kleines Bündel und verließ das Haus. Ich war vollkommen verzweifelt und suchte überall nach ihr, doch erst zwei Monate später fand ich sie in einem Dorf, zwei Tagesreisen von dem unseren entfernt. Sie war als Lehrling in die Dienste eines Zauberers namens Pholba eingetreten. Stellt euch vor, höchst ehrenhafter Vater! Meine Tochter im Hause eines Ngaspa! Weder durch Worte noch durch Drohungen konnte ich sie dazu bewegen, mit mir nach Hause zurückzukehren. Glücklicherweise erwies sich der Zauberer, welcher in der Nachbarschaft großes Ansehen genoß, als Mann guten Willens. Er gab mir den Rat, nichts zu erzwingen und meine Tochter in seinem Hause zu lassen, da sie ihm eine große Hilfe sei. Sie hatte erstaunliche Vorahnungen und konnte die Zukunft recht genau vorhersagen. Sie mußte einen Menschen nur kurz ansehen, um über dessen Gegenwart und Zukunft genauestens Bescheid zu wissen. Ich schäme mich, euch sagen zu müssen, daß er mir sogar Geld bot, wenn ich mein Kind nur bei ihm ließe. Der Ngaspa hatte einen Sohn, doch er sagte, daß sich dieser nicht mit meiner Santemi messen könne." Lhalu hatte ihm die ganze Zeit über ruhig und gedankenversunken zugehört. Zuweilen schüttelte er den Kopf, als habe er Unglaubliches vernommen. „Wie sagtet ihr heißt eure Tochter?" fragte er plötzlich. „Santemi." „Santemi", flüsterte mein Führer, „ein seltsamer Name. Auch die Geschichte, die ihr mir erzählt, ist seltsam. Wie alt ist euer Kind jetzt?" -216-
„Dreizehn Jahre, Vater, und sie ist sehr krank!" Dies wiederholte der unglückliche Mann mehrere Male, als wolle er uns immer wieder daran erinnern. „Solche Willenskraft und Entschlossenheit in einem Kind", flüsterte Lhalu, „so etwas habe ich noch nie gehört! Wie schade, daß sie sich in der Gewalt des Zauberers befindet! Der Platz für solch ein frühreifes und willensstarkes Mädchen ist das Kloster." „Man konnte nicht einmal mit ihr darüber reden, Herr! In drei Jahren meisterte sie die Kunst des Zauberers, und wie ich vor kurzem hörte, tut der alte Mann keinen Schritt mehr ohne sie. Santemi besuchte mich jeden Monat zu Hause und brachte mir bei solchen Gelegenheiten viele Geschenke. Umsonst flehte ich sie an, bei mir zu bleiben, sie hörte mir nicht einmal zu! Sie sagte, sie würde noch ein weiteres Jahr in Pholbas Haus bleiben, weil sie noch nicht alles wüßte. Dann würde sie zurückkommen, um sich selbständig zu machen. Sie sagte, daß es nur wenig Zauberinnen in Bod-Yul gäbe. Was soll man dazu sagen, gute Herren? Ich erfuhr außerdem, daß der Sohn des Ngaspa sie liebgewonnen habe, und daß der alte Mann wünschte, daß er sie zur Frau nähme. Doch Santemi lachte nur darüber und hieß mich unbesorgt zu sein. Sie habe nicht die geringste Neigung, sich zu vermählen." Die Kletterei bergauf und bergab war mühevoll und gefährlich. Wir mußten unsere zitternden Maultiere am Halfter oder am Schwanz führen, damit sie nicht von den engen, gewundenen Pfaden in die Tiefe glitten. Danach verwandelte der schmelzende Schnee die Wege in Todesfallen, da das Tauwasser im Schatten gefror, wodurch sie so glatt wurden, daß es uns größte Mühe und Vorsicht kostete, nicht abzustürzen. So vergingen die Tage, und Horkang wiederholte dieselbe Geschichte immer wieder oder klagte, daß wir nicht rechtzeitig eintreffen würden und seine Tochter bestimmt schon gestorben sei. Trotz ihres Starrsinns liebte er sie und hatte jeden Monat -217-
begierig auf ihren Besuch gewartet. Jetzt würde er sie nie wieder aus dem Hause lassen, selbst wenn er sie gewaltsam würde zurückhalten müssen! Wenn doch die Himmel ihre Gesundheit nur wiedergäben! Nein, er würde sie nie wieder fortlassen. „Dort liegt unser Tal!" rief er eines morgens aufgeregt. „Wir sollten uns beeilen, Vater, damit wir so schnell wie möglich eintreffen." Er geriet unter solche Spannung, daß er sein müdes Maultier am Halfter hinter sich herzerrte, so daß wir Mühe hatten, ihm zu folgen. Unter großen Schwierigkeiten stiegen wir den steilen Pfad ins Tal hinab, wo wir aus der Ferne verstreut liegende Hütten und Häuser ausmachen konnten. „Hier sind wir, Herr!" flüsterte er aufgeregt und deutete auf ein steinernes Haus, welches ansehnlich aussah und meinem Elternhaus glich. „Ich bitte euch, tretet ein und fühlt euch zu Hause. Tsonkan!" rief er nach seinem Schafhirten, der über den Hof rannte. „Bring die Maultiere in die Ställe und füttere und tränke sie. Hier entlang, Herr, hier!" wies er uns den Weg zum Eingang in den inneren Hof. Als wir den Raum betraten, dessen Kang angenehme Wärme ausstrahlte, drang lautes, unzusammenhängendes Reden an unser Ohr. Auf einem niedrigen Bett lag Horkangs kleine Tochter mit geschlossenen Augen in Decken gehüllt. Ihr Haar war ungewöhnlich hell, doch ihr Gesicht glühte fieberrot. Ihre hübschen Züge erregten gleich meine Aufmerksamkeit. Nur das breite, energische Kinn verlieh ihr einen ernsten Ausdruck. Sie warf ihren Kopf auf dem Kissen hin und her, und ihr Körper verkrampfte und löste sich wie eine gespannte und wieder entspannte Bogensehne. Im Fiebertraum redete sie wirre Worte. Ihre Dienerin hockte neben dem Bett und versuchte sie festzuhalten, damit sie nicht zu Boden stürzte. „Wie geht es ihr?" rief Horkang, der hinter uns stand. Die Dienerin sprang auf und verbeugte sich. -218-
„Nicht gut, mein Herr. Sie hat sich die ganze Nacht herumgewälzt und in ihren Träumen geredet." Lhalu sah sie nur kurz an, beugte sich dann über das Bett und legte seine rechte Hand auf die Stirn des Mädchens. Wie durch ein Wunder hörten die schlangenartigen Bewegungen ihres Körpers augenblicklich auf, und sie verstummte. Sie riß die Augen weit auf und starrte ihn an. Außer bei meinem Meister hatte ich noch nie so fesselnde grüne Augen gesehen. Sie schaute mich an, dann ihren Vater, um dann wieder auf meinen Führer zu blicken. „Du bist nicht derjenige, auf den ich warte", sagte sie mit klarer, klangvoller Stimme. „Du bist es nicht, und doch werde ich an deiner Seite leben, Lhalu Lama!" So sprach sie zu unserem größten Erstaunen, dann fiel ihr Kopf zurück, und sie verlor das Bewußtsein.
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Kapitel 11 Ich sah meinem Meister an, wie überrascht er war. Woher kannte dieses kleine Mädchen seinen Namen? Wohl kaum von ihrem Vater, denn der hatte das Zimmer erst nach uns betreten. Doch Lhalu schwieg und traf seine Vorbereitungen für die Heilung des Kindes. Horkang und die Dienerin standen in einer Ecke und schauten ihm besorgt zu. Er nahm die Decke vom Bett und betrachtete den kleinen Körper, dessen Magerkeit auch das lange weiße Unterkleid nicht verbergen konnte. Sie lag so ruhig, als sei sie tot. Ihr Atem war kaum noch zu spüren. Lhalu beugte sich hinunter und legte sein Ohr an ihr Herz. „Dies ist ein besonderer Fall von Besessenheit, der in eine Krankheit entartete", flüsterte er mir zu. „Wir müssen schnell handeln, denn ihr bleibt nicht mehr viel Zeit!" Er wies die anderen an, das Zimmer zu verlassen, ging mit vor die Tür und bat Horkang um heißes Wasser. Nachdem wir uns gründlich gewaschen und Gesicht und Hände abgetrocknet hatten, begannen wir mit der Heilung. Lhalu legte seine Hände unter die Achseln des kranken Mädchens und setzte es auf. „Halte sie so", sagte er, „blicke gesammelt auf ihren Nacken und begib dich in tiefe Meditation. Erzeuge so viel Tumo, daß du ins Schwitzen gerätst." Mit diesen Worten ging er zum Fußende des Bettes und hob die Arme gen Himmel. „Heilige Weisheit", betete er laut, „mit reiner Seele und reinem Geiste wende ich mich zu Dir und erbitte Deine Hilfe, um das gestörte Zusammenspiel der Säfte dieser kranken Schwester wieder ins Gleichgewicht zu bringen und einen unreinen Geist aus einem reinen Körper zu vertreiben. Verleihe meinen Händen Deine Stärke, erfülle mich mit dem heilenden -220-
Magnetismus Deiner Gnade, damit ich selbstlos in Deinem Namen zu helfen vermag und deine Kraft zum Ziele der Gesundung und der Heilung aus meinen Fingerspitzen ströme. Dies geschehe zur Ehre Deines heiligen Namens und zur Belehrung der Menschen, damit sie an Dich glauben und Dich verehren, wenn sie dieses Wunder sehen. Gieße Deine allheilende Kraft in mich aus, auf daß die Striche meiner Hände die Krankheit dieses Körpers heilen mögen. Sollte ein böser Geist dies Leid verursachen, dann verleihe mir die Kraft, ihn durch das Anrufen Deines Namens, durch den Zauber meiner Berührung und meines durch dich ermächtigten Blickes auszutreiben. Heilige Weisheit, ich glaube an dich! Hilf mir, und benutze Deinen Diener als Werkzeug Deiner Heilkraft!" Mit erhobenen Armen trat er neben das Bett. In diesem Augenblick schrie die Kranke auf und begann sich hin und her zu werfen. Ihr Körper spannte sich wie eine Bogensehne, schnellte hoch und wurde so steif wie ein Stück Holz. Lhalu senkte langsam die Arme und strich ihr mit dem Finger von der Stirn bis zu den Füßen, wobei er sie kaum berührte. Augenblicklich beruhigte sich das Mädchen und seufzte erleichtert auf. Er führte zwei ähnliche Striche aus, legte dann die linke Hand unter ihren Nacken und die rechte auf ihre Stirn. So verweilte er etwa siebzig Pulsschläge lang. An seinem Gesicht sah ich, wie stark er sich konzentrierte. Ich wußte, daß er die berühmte Heilkunst Bod-Yuls anwandte, den Großen Magnetismus, der fast alle Krankheiten heilen konnte. Im Kloster war ich häufig bei Heilungen zugegen gewesen, doch selbst hatte ich den Großen Magnetismus noch nicht oft angewendet, da die medizinische Ausbildung erst im vierten Jahr begann. Mein Meister arbeitete genau nach den Vorschriften: Nach siebzig Pulsschlägen hob er die Hände von der Stirn der Patientin und führte sie in großem Bogen hinunter, wobei er langsam mit den Hände an seinem Kianghaarmantel entlangstrich, als wollte er die verdorbenen Säfte abstreifen. -221-
Dann legte er ihr die Hände noch einmal für etwa dreißig Atmenzüge auf Stirn und Nacken. Ich spürte, daß er sich jetzt mit größter Kraft auf die Gesundung konzentrierte. Er wiederholte den Vorgang ein drittes Mal, beugte sich danach über das Mädchen, welches tief schlief, und blies ihr sanft auf den Kopf. So wurde der Große Magnetismus in Bod Yul ausgeführt, und es gab nie und wird nie eine vollkommenere Heilweise in der Welt geben. Als Chang-Dug-Sa Lama einmal über die letzten Tage gesprochen hatte, hatte er erwähnt, daß jener Teil der Menschheit, welcher die Zerstörung der heruntergekommenen Welt überleben werde, wieder in die medizinischen Geheimnisse unseres Landes eingeweiht werden würde. Wie die alten Atlanter würden auch jene Menschen wissen, daß eine wahre Heilung ohne Hilfsmittel geschieht und nur von den Kräften der Seele und vom Glauben abhängt. Als sie Lhalus Atem spürte, öffnete Santemi die Augen, seufzte tief auf und lächelte ihn an. „Wie fühlst du dich, Numo?" fragte er freundlich. „Geht es meiner kleinen Schwester etwas besser?" „Sehr gut!" flüsterte sie. „Der Fieberteufel ist nicht mehr in mir. Ich fühle mich so leicht wie eine Feder." Verschämt zog sie die Decke bis unter die Nasenspitze und legte ihre kleinen Hände zusammen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so winzige Hände gesehen! „Ich danke Dir, daß du mir geholfen hast, und auch euch, Naljorpa, der ihr gekommen seid, um mich zu heilen. Wer seid ihr, heiliger Lama? Nennt mir euren Namen, damit ich für euch beten kann." „Dann kennst du mich nicht? Du hast mich doch in deinem Fiebertraum beim Namen genannt!" Das kleine Mädchen blickte ihn mit ihren erstaunlichen grünen Augen ungläubig an. „Ich sehe euc h zum erstenmal, Vater. Wenn ich euren Namen -222-
in meiner Unbewußtheit gestammelt haben sollte, erinnere ich mich nicht mehr daran. Vielleicht sprach der Geist durch mich. Doch welcher Geist?" fragte sie sich gedankenverloren. „Gralha, der Führer zu meiner Rechten oder Pholha, der Versucher zu meiner Linken? Wie seltsam! Auch der Zauberer heißt Pholha. Bis zu diesem Augenblick war mir das gar nicht aufgefallen." Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und sank zurück in die Kissen. „Du hättest nicht in den Dienst des Zauberers treten dürfen", sagte mein Meister ruhig. „Eine junge Seele kann schweren Schaden nehmen, wenn sie in schlechte Hände gerät. Für dein Alter bist du bereits ein äußerst erwachsenes, kluges Mädchen. Aber auch starrköpfig und neugierig bist du! Aus diesem Grunde gerietest du unter schlechten Einfluß." „Ihr habt recht, Naljorpa", flüsterte Santemi und schaute schuldbewußt an die Decke. „Ihr habt ja recht. Ich bin sehr eigensinnig, und wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann führe ich es unter allen Umständen aus. Doch ich sehnte mich immer nach Wissen. Nicht nach irdischen, banalen Dingen, sondern nach den Geheimnissen des verborgenen Lebens. Wohin hätte ich gehen sollen, wenn nicht zu einem Zauberer? Und doch spüre ich jetzt, da ich sein Wissen gemeistert habe, eine große Unruhe in meinem Inneren. Ich vermutete schon immer, daß ich nicht das Richtige täte, und in ruhigen Augenblicken heftete ich meinen Blick voller Sehnsucht auf die schneebedeckten Berge, wo die Klöster stehen." „Du bist krank, weil du dich mit einem Zauberer eingelassen hast", sagte Lhalu und blickte ihr tief in die Augen. „Einem der bösen Geister, die sich beim Ngaspa aufhalten und ihm helfen, gelang es, dich zu quälen. Nur deiner außergewöhnlichen Willenskraft und deinem reinen Herzen verdankst du es, daß dich der böse Geist nicht vollständig ergriff. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich dich nicht mit so einfachen Methoden heilen können. Danke der Heiligen Weisheit, die über deine Schritte -223-
wacht." Während er sprach, hatte Santemi den Kopf immer höher gehoben und blickte ihn so leidenschaftlich hingebungsvoll an, als sei er einer der heiligen Führer aus den hohen Sphären. „Vater", flüsterte sie, „wenn ich euch doch nur mein ganzes Leben lang dienen könnte, um meine Dankbarkeit für all das, was ihr mir getan habt, zu beweisen! Ihr habt nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Seele geheilt." Sie ergriff Lhalus Hand und drückte sie gegen ihre Stirn. Die unerschütterliche Ruhe meines Meister war allgemein bekannt, doch jetzt verriet sein Gesicht tiefe Rührung. Der dicke Yakhaar-Vorhang wurde beiseitegezogen, und Horkang spähte vorsichtig in den Raum. Hinter ihm sah ich das ängstliche Gesicht der Dienerin. „Ihr könnt eintreten, mein Freund", sagte Lhalu Lama. „Eure Tochter befindet sich auf dem Wege der Besserung." Als der Vater sah, daß seine Tochter mit lächelndem Gesicht im Bett saß, fiel er vor meinem Meister auf die Knie und hob beide Arme. „Herr", stammelte er erstickt, „wie kann ich euch danken? Ihr habt das Leben meiner kleinen Tochter gerettet! Mögen euch die Himmel bis zu eurem Todestage segnen, nein, auch danach in eurem neuen Leben nach dem Akhor. Ich werde eurem heiligen Kloster sieben Maultiere bepackt mit Geschenken senden…" Lhalu hob die Hand. „Die Heilung der Kranken ist ein Werk des Mitgefühls, Horkang. Sprecht mir deshalb nicht von solchen Dingen. Lobt Gott und dankt Ihm, daß er eurer Tochter das Leben ließ und mir die Macht gab, sie zu heilen. Glaubt mir, der Erfolg hängt nicht von meiner Person ab. Hättet ihr nicht mich im Kloster angetroffen, hätte mein Schüler, Ti-Tonisa Lama, sie mit Hilfe der Heiligen Weisheit ebenso geheilt." -224-
Santemi schaute mich an, als habe sie mich zum erstenmal gesehen. Sie schien ihren Vater und die Dienerin nicht zu bemerken, die sie außer sich vor Freude drückten und streichelten. Sie blickte mich mit jenem seltsam verzückten Ausdruck an, der auch meine Augen trübte, wenn mich die vertraute Benommenheit überkam. „Ti-Tonisa Lama?" flüsterte sie. „Ti-Tonisa Lama, du bist noch jung. Einst wirst du alt sein, doch du wirst uns nie vergessen. Möge der Höchste dich segnen. Bleibe selbst nach deinem Tode Sein wahres Werkzeug. Gesegnet sei der Mann, dem bestimmt ist, das Wissen zu übermitteln und seinen Freunden über viele Leben hinweg treu zu bleiben." Im nächsten Augenblick lächelte sie Lhalu zu, dann streichelte sie die Hand ihres Vaters und erklärte plötzlich, sie sei hungrig. „Bringt ihr etwas Milch. Sie darf zehn Tage lang nichts anderes zu sich nehmen", wies mein Führer die Dienerin an, doch seine abwesend klingende Stimme verriet mir, daß er noch immer über das gerade Gehörte nachsann. Was hatte das zu bedeuten? Warum sagte sie, daß ich meinen Freunden über viele Leben hinweg treu bleiben würde? Das verstand ich nicht, und seiner Miene nach zu urteilen wußte auch Lhalu nicht, was er davon halten sollte. Dieses Mädchen besaß wahrlich ungewöhnliche psychische Fähigkeiten. Ihr Vater hatte uns auf dem Herweg ja bereits darauf hingewiesen, daß sie die Menschen oft mit außergewöhnlichen Aussagen überraschte. Ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf, sondern lächelte ihr liebevoll zu und wünschte ihr im Namen Gottes eine baldige Genesung. Mir war schleierhaft, warum ich das seltsame Gefühl hatte, ich müßte trotz ihres zarten Alters voller Hochachtung zu ihr aufsehen, als wäre sie mir weit überlegen. Vielleicht war es der fesselnde, bestimmende Blick ihrer Augen? Ich wußte es nicht. -225-
Nach den Mühen der langen Reise legten wir uns in einem sauberen Gästeraum zu Bett, dessen Einrichtung mich an mein Zimmer in meinem Elternhaus erinnerte. Die Nacht war klar, der Mond schien hell durch das Fenster, und ich hing vor dem Einschlafen meinen Gedanken nach. Irgendwie wußte ich, daß dieser Tag für das Leben von Lhalu, Santemi und mir von schicksalhafter Bedeutung war. Ich spürte so sicher wie ich lebte, daß wir uns nicht zum erstenmal begegnet waren. Irgendwann, irgendwo in der fernen Vergangenheit vor ich weiß nicht wie vielen Jahrhunderten hatten wir einander getroffen, und unsere Schicksale hatten sich miteinander verwoben. Ich fühlte tief in meinem Herz der Herzen, daß wir auch in der fernen Zukunft miteinander zu tun haben würden. Lange konnte ich nicht einschlafen, und als ich mich umwandte, sah ich im Licht des Mondes, daß auch mein Meister mit unter dem Kopf verschränkten Armen zur Decke blickte. Am nächsten Morgen fühlte sich Santemi so gut, daß sie aufstand und, auf die Dienerin gestützt, im Zimmer auf und ab ging. Wir verbrachten noch einen weiteren Tag in Horkangs gastfreundlichem Hause, denn Lhalu wollte erst aufbrechen, wenn er sicher sein konnte, daß Santemi keinen Rückfall zu befürchten hatte. Doch am dritten Tag ging es ihr so gut, daß wir leichten Herzens abreisen konnten. Mein Meister sagte dem Händler, daß wir nicht länger bleiben würden, da wir ohne Verzug zum Kloster zurückkehren müßten. „Ich weiß, daß ihr in Eile seid, Vater, deshalb will ich euch nicht aufhalten. Ich werde meine Männern anweisen, die Maultiere zu satteln. Wenn alles gut geht, werden wir in Tampol- Bo-Ri sein, bevor der Mond wechselt." „Ihr werdet nicht mit uns gehen", entgegnete Lhalu streng. „Euer Platz ist hier bei eurer Tochter! Wollt ihr sie wirklich allein zurücklassen, jetzt, wo sie endlich zu Hause ist und ihr sie dazu bringen könntet, bei euch zu bleiben?" fügte er leise hinzu. „Denkt einmal darüber nach. Solch eine gute Gelegenheit laßt -226-
ihr doch sicher nicht ungenutzt verstreichen!" Horkang schwieg bestürzt, doch dann verstand er, was mein Führer meinte, und lächelte dankbar. „Ihr habt recht, Vater. Ich kann jetzt nicht fort. Doch soll ich euch die lange, gefährliche Reise allein zurücklegen lassen?" fragte er besorgt. „Sorgt euch nicht, guter Mann. Ein Maultier mit einer Nahrungs-Turba auf dem Rücken genügt. Einer eurer Männer soll uns begleiten, um das Tier zurückzubringen." Und so geschah es. Wir machten uns an diesem Morgen mit Horkangs Schafhirten und seinem besten Packtier auf den Weg zum Felsenkloster. Als Santemi unsere Reisevorbereitungen sah, wurde sie sehr traurig. Schon am Abend zuvor war sie Lhalu auf Schritt und Tritt gefolgt und hatte ihm Fragen über die andere Welt und den Tod gestellt. „Ich wünschte, ich würde in einem Kloster leben", sagte sie an diesem letzten Morgen leise, während sie dem Schafhirten half, die Tasche mit den Nahrungsmitteln auf den Rücken des Maultieres zu binden. „Ich weiß, daß dort nicht jede aufgenommen wird. Für mich blieb eben nur der Zauberer übrig. Haltet mich in guter Erinnerung, Herr, selbst wenn wir uns in diesem Leben nie wieder begegnen sollten. Ich weiß, daß mein Traum, in eure Dienste zu treten, vergeblich ist. Lamas brauchen keine Handlangerinnen. Und dennoch, dennoch…", flüsterte sie und preßte ihre kleinen Hände gegen die Brust, „spüre ich hier in meinem Herzen die zwingende Kraft des Arva. Irgendwann werde ich euch dienen, um euch meine Dankbarkeit dafür zu zeigen, daß ihr meinen Körper und meine Seele geheilt habt." „Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, Santemi", entgegnete mein Meister lächelnd. „Ich wünschte, du würdest in ein Kloster aufgenommen, obwo hl ich weiß, daß das sehr schwierig ist. Es wäre schade, wenn du dein Leben weiterhin an einen Zauberer binden würdest, denn eine noch schwerere -227-
Besessenheit als die vorige könnte dich töten. Bleib hier im Hause deines Vaters, denn ein priesterliches Leben kann nur jener führen, der weiß, was Gehorsam ist." Sie gab keine Antwort, sondern riß ihre glänzenden Augen weit auf und starrte ihn an. Der Hirte hielt das Maultier bereits am Halfter. Mein Meister hatte, trotz Horkangs Einwänden, keine weiteren Tiere angenommen. „Ein guter Lama geht zu Fuß", erklärte er, „und belastet sein Tier nicht unnötigerweise." Noch einmal bat Horkang darum, uns wenigstens einen kleinen Teil des Weges begleiten zu dürfen, doch Lhalu erinnerte ihn an sein Versprechen und deutete verstohlen mit dem Finger auf Santemi. Daraufhin verbeugte sich der Händler tief vor uns, versicherte uns seiner Geschenke und rief voller Dankbarkeit den Segen des Himmels auf uns herab. Als wir durch das Tor schritten und auf den Weg traten, schauten wir zurück. Horkang stand noch immer in derselben Haltung vor seinem Haus: tief gebeugt, mit ausgestreckten Armen. Santemi stand kerzengerade und bewegungslos neben ihm. „Kale yu!" riefen wir ihm zu und winkten. „Kale peb!" schallte Horkangs Stimme. „Heil sei dem, der geht!" Wir hatten bereits ein gutes Stück Weges auf dem ansteigenden Pfad zurückgelegt, der nach einer langen Strecke in einer Serpentine viel höher am Berg zum Dorf zurückführte, so daß wir ein zweitesmal an der Ansiedlung vorüberkamen. Die Häuser lagen nun gut dreißig Meter unter uns. Santemi stand in ihrer kurzen Fell-Chuba noch immer auf dem Hof und schaute uns nach. „Kale peb!" hörten wir ihre dünne Stimme. „Nged Lhalu yi yogma yin!" „Was hat sie gerufen?" fragte mein Meister. „Ich habe es nicht verstanden." -228-
„Sie rief ,Ich bin Lhalus Dienerin!'" antwortete ich verwundert, denn ich wußte sicher, daß er genauso gute Ohren hatte wie ich. Plötzlich trat Lhalu an den Rand des Abhanges und hielt seine Arme segnend in die Höhe. Als habe Santemi nur darauf gewartet, verbeugte sie sich tief und blieb in dieser Haltung, bis wir hinter der nächsten Kehre verschwunden waren. Unser Heimweg führte über viele steile Abhänge, doch das Gehen fiel uns leichter, da sich das Wetter mit dem Mond verändert hatte. Statt Eis und getautem Schnee bedeckte eine gleichmäßige Schneeschicht die felsigen Wege. Wir wanderten viele Tage lang. Bei Anbruch der Nacht schlugen wir an geschützten Plätzen unser Zelt auf oder schliefen in Höhlen. Jeden abend errichtete Tsonkan, der Scha fhirte, einen Thoyor, einen kleinen Altar aus Steinen. Bevor er sich zum Schlafen niederlegte, ging er stets hinaus vor das Zelt, warf sich vor den Thoyor und betete lange. „Hör mal", flüsterte Lhalu eines nachts, „zu wem betet er eigentlich?" „Zu Santemi", erwiderte ich, nachdem ich eine Weile angestrengt gelauscht hatte. „Was sagst du dazu, Aku? Jetzt bittet er Ye-Shes, daß der Mächtige Gott Seiner Tochter Santemi Gesundheit geben möge. Nun betet er wieder zu Santemi, daß sie seiner Familie zu drei Milch-Dris verhelfen möge." „Seltsam", murmelte Lhalu, „wirklich seltsam. Jeder scheint dieses kleine Mädchen hoch zu achten, und selbst ich kann sie in gewisser Weise nicht als Kind behandeln." Wir schwiegen und lauschten dem Heulen des Windes. Der Hirte kroch ins Zelt, wickelte sich in seine Pelzdecke und schlief gleich ein. Nach einer Weile brach Lhalu das Schweigen. „Arau, heute vor drei Jahren führte ich dich in deine Zelle im oberen Stockwerk, weil du in der Nacht deiner Einweihung dort schlafen solltest. Ich riet dir, in dieser Nacht besonders auf deine -229-
Träume zu achten, da sie im Leben eines Novizen immer eine bedeutende Rolle spielen. Seit damals habe ich dich nicht danach gefragt, und du hast mir auch nichts erzählt. Sag mir, hattest du in jener Nacht einen Traum, und erinnerst du dich daran?" Ich brachte vor Überraschung eine Weile lang kein Wort hervor. Genau dieser Traum war mir in den Sinn gekommen, und gerade, als er mich danach fragte, wollte ich ihm von diesem Traum berichten. Doch er war mir zuvorgekommen und hatte meinen stillen Wunsch ausgesprochen! „Eben wollte ich dir genau den Traum erzählen, Aku! Wie seltsam, daß wir denselben Gedanken hatten! Ich erinnere mich noch ganz genau daran, doch damals verstand ich ihn nicht." „Was hast du geträumt?" „Ich träumte von unserer jetzigen Reise. Es war ein sehr kurzer Traum. Ich sah uns beide in einem Zimmer, und du beugtest dich über ein krankes Kind. Es war Santemi. Seitdem habe ich mir den Kopf über dieses Mädchen zerbrochen und mich gewundert, woher ich ihr Gesicht kannte. Ich habe es erst jetzt verstanden!" Er gab keine Antwort. Es wurde still im Zelt. Wir hörten nur das Heulen des Windes und die Hufe des Maultieres, das vor dem Zelt scharrte. Ich wollte dem Thema kein Gewicht geben, und da ich sah, daß mein Meister noch nicht schlief, fragte ich nach einer Weile: „Aku, darf ich dir eine Frage stellen?" „Nur zu, Ti-Tonisa, ich bin wach. Ich denke nach." „Kann der Große Magnetismus, mit dem du das Mädchen heiltest, bei jeder Krankheit helfen?" „Im Großen und Ganzen, ja. Besonders wenn du nicht weißt, um welche Krankheit es sich handelt. Der Große Magnetismus wirkt immer, da er in der Hauptsache die Nerven beruhigt. Und -230-
vergiß nicht, oft sind es gestörte Nervenfunktionen, lokale Krämpfe oder verspannte Muskeln, die als Reaktion auf seelisches Leid Krankheiten verursachen." „Doch wenn ein Mensch Schmerzen im Knie, im Rücken oder im Magen hat, so daß wir wissen, wo das Leiden sitzt?" „In solch einem Fall wendest du örtlichen Magnetismus an. Du veranlaßt, daß sich der Patient bequem hinlegt und seinen Gürtel oder die Kleidung in der Taille lockert, ganz gleich, wo er den Schmerz verspürt. Die Taille ist bei jeder Form von Magnetismus höchst wichtig. Wenn du sie magnetisierst, spielt sie dieselbe Rolle wie die Mitte eines Zauberstabes, denn es ist immer die Mitte, auf die du deine Hände zuerst legen mußt. Im Falle einer örtlichen Magnetisierung legst du deine Hände also zuerst sanft auf den Bauch. Hier beginnt der magnetische Strom, und dort spürt der Kranke die Wärme zuerst. Es handelt sich dabei nicht um physische, sondern um geistige Wärme. Die Körpermitte ist deshalb so wichtig, weil die Nabelschnur das Kind bei der Geburt in das neue Leben hinüberbegleitet. Gleichzeitig erfolgt durch die Nabelschnur die Trennung vom Körper der Mutter, damit es ein unabhängiges, freies Wesen werden kann. Meist genügt es bereits, die Hände auf den Bauch zu legen. Du kannst örtliche Schmerzen aber auch magnetisieren, indem du mit dem Finger über den natürlichen Verlauf des Muskels streichst, wobei du die Haut kaum berührst. Später wirst du merken, daß Magnetismus immer hilft, selbst wenn sich keine unmittelbare Wirkung zeigt. Bei bestimmten Menschen dauert es einfach länger, und die Behandlung erfordert einige Geduld." „Was ist das für eine geheimnisvolle Kraft, die so wunderbar wirkt?" „Magnetismus ist Gottes eigener Heilungsstrom, der das ganze Universum erfüllt und jedes Geschöpf belebt, wenn es den Gesetzen der Natur folgt. Wir nennen den Magnetismus Sbags. Er heilt Wunden und läßt viele kranke Menschen -231-
gesunden, ohne daß sie einen Arzt brauchen. Die Kunst des Magnetisierens besteht darin, diesen unsichtbaren Heilungsstrom aus dem Großen Wissen herauszuziehen und ihn auf andere zu lenken. Wie du jedoch weißt, bedarf dies einer reinen Seele und eines reinen Körpers, denn nur ein reines Gefäß kann Gottes heilenden Strom in sich aufnehmen. Dies Geschenk erhält die Menschheit gemäß ihrer geistigen Entwicklung. Noch viele tausend Jahre lang wird es das Vorrecht der Eingeweihten bleiben." „Und wie oft kann der Große Magnetismus gegeben werden?" fragte ich und stützte mich auf meinen Ellenbogen, denn mein Interesse war durch die vollkommene Heilung Santemis stark geweckt. Ich konnte kaum erwarten, endlich Lhalus Vorträge über Medizin zu hören, die schon im nächsten Monat beginnen sollten. „Nur einmal am Tag. Am wirksamsten ist die Behandlung kurz bevor der Patient sich nachts zum Schlafen hinlegt oder morgens, kurz nachdem er erwacht ist. Natürlich ist auch das Wetter wichtig, denn ein feuchter oder regnerischer Tag mindert die Wirkung. Da du mir äußerst wißbegierig zu sein scheinst, werde ich dir im Zusammenhang mit dem Magnetismus noch ein weiteres Geheimnis anvertrauen. Bevor du jemanden magnetisierst, lege deine Hand auf seinen Kopf. Wird deine Hand warm, dann handelt es sich bei dem Patienten um einen Menschen guten Willens, dessen Schwingungen den deinen gleichen. Doch wenn deine Hand kalt bleibt, hat der besagte Mensch keinen beruhigenden Einfluß auf dich. Sei bei solchen Patienten auf der Hut! Wenn es sich um Lügner oder Diebe handelt, dann magnetisiere den Kopf, doch bevor du dich auf die Heilung konzentrierst, sprich folgende Worte: ,Ich will, daß du wahrhaftig und treu bist. Deine Hand soll nichts berühren, was nicht dir gehört, noch sollen deine Lippen Unwahrheiten sprechen. Alles, was du siehst oder hörst, soll bei dir bleiben.' Eines darfst du nie vergessen: Bei einem Mörder oder einem -232-
grausamen Menschen darfst du nie den Kopf magnetisieren, da dies seine Schlechtigkeit nur noch vermehren würde. Lege deine Hand auf seinen Rücken und flüstere dabei folgende Worte: ,Deine Falschheit und deine schlechten Absichten sind Gott wohlbekannt. Ändere dein Leben, denn nur dann kannst du auf Heilung hoffen. Deine Krankheit ist eine Folge deiner Sünden.' Allerdings bemerke ich gerade, daß ich einen Vortrag über Medizin halte, statt mich zu sammeln. Schlaf gut, Arau. Gute Nacht." „Gute Nacht, Meister, und vielen Dank für die Belehrung." Ich drehte mich nach rechts in Richtung des Eingangs, und meine Augen wurden schwer. Aus der Ecke tönte Tsonkans erschöpftes Schnarchen. Bevor ich einschlief, hörte ich Lhalu murmeln: „Eine seltsames Geschöpf, diese Santemi. Ich frage mich, warum das Schicksal uns zu ihr geführt hat." Morgens erhoben wir uns früh und setzten unseren mühseligen Weg fort. Viele Tage lang kletterten wir in nordwestlicher Richtung halsbrecherische Bergpässe hinauf und schlitterten steile Abhänge hinunter. Am zehnten Morgen endlich erblickten wir unseren Berg und das Felsenkloster und machten uns freudig an den letzten Aufstieg. Lamaführer kamen uns entgegen und grüßten uns freundlich. Sie waren mit ihren Packtieren auf dem Weg hinab ins Tal, wo sie fremde Besucher empfangen sollten, deren baldige Ankunft der Hohepriester bei seinen ge istigen Reisen in Erfahrung gebracht hatte. Wie ich bereits erwähnte, lebten in Tampol- Bo-Ri viele verschiedene Lamas. Es gab Führer für fremde Reisende, Feldarbeiter, Soldaten, Ärzte, Lehrer und Schüler, und jeder ging seiner Beschäftigung nach. Zweihundert alte und dreihundert junge Lamas lebten im Kloster. Die Trapas des niederen Ordens wohnten in Hütten beiderseits des Kharlam. Sie kümmerten sich um die Tiere, bestellten die kargen Felder und verrichteten Küchenarbeit. -233-
Die älteren Lamas, zu denen auch ich in drei Jahren gehören würde, verbrachten ihre Tage ähnlich wie wir. Allerdings aßen sie nur eine Mahlzeit am Tage, die Abendmahlzeit. Mit ihren Gebetsmühlen und Gebetsketten zählten sie ihre Gebete und versetzten sich vor dem Feuerzauber oder den Ritua len im Tempel durch diese mechanische Tätigkeit in einen tranceartigen Zustand. Sie konnten ihre Zeit - außer der Mahlzeit und den Versammlungen, die der Große Lama einberief und deren Teilnahme Pflicht war - nach eigenem Gutdünken einteilen. Zum Waschen zogen sie sich zu jeder Jahreszeit nackt aus, doch spürten sie keine Kälte, da sie jederzeit Tumo erzeugen konnten. Auch bei bitterstem Frost spazierten sie unbekleidet über den Hof, als wären sie drinnen. Nach der morgendlichen Wäsche zogen sie sich in ihre Zellen zurück und unternahmen geistige Reisen, die ungefähr fünf Stunden dauerten. Niemand bewachte sie bei ihrem Phoimonda, doch die Priesterin sah alles, und wenn irgend etwas nicht stimmte, unterrichtete sie augenblicklich den Itchkitsu. Wir beneideten die älteren Lamas am meisten um ihre Zellen im oberen Stockwerk, wo Tumo wesentlich leichter zu erzeugen war. Das Wort „beneiden" traf nicht genau - es war eher ein „Sehnen", was wir empfanden. Sie lebten vor allem deswegen im oberen Stockwerk, um auf der erforderlichen Höhe und augenblicklich eins mit den Bergen zu sein, wenn sie aus den Fenstern schauten. Nachts begaben sie sich gleichzeitig mit uns zu Bett, doch um Mitternacht standen sie noch einmal auf, um forschend den Sternenhimmel zu betrachten. Danach legten sie sich endgültig zur Ruhe. Beim Kloster angekommen, führten wir das Maultier in den Stall und den Hirten in die Küche, wo er mit heißem Tee versorgt wurde. Als wir uns von ihm verabschiedeten, rieten wir ihm, die Nacht im Kloster zu verbringen und den Rückweg am frühen Morgen anzutreten. An diesem Abend winkte mich Lhalu zu sich heran und ließ ein kleines Päckchen in meine Hand -234-
gleiten. „Ich bitte dich, geh hinunter in den Schlafraum der Maultiertreiber und übergib Tsonkan, dem Schafhirten, dieses kleine Päckchen. Es enthält ein magnetisiertes Amulett, welches man um den Hals hängen kann. Sage ihm, daß ich seiner Herrin zum Zeichen dafür, daß ich sie nicht vergessen habe, dieses Geschenk machen möchte. Er soll ihr außerdem ausrichten, daß dieser Songdus sie vor bösen Geistern schützen wird, wenn sie ihn trägt." Ich wußte, daß das Schenken eines Amuletts das Versprechen lebenslanger Freundschaft bedeutete! Mir hatte er so etwas noch nicht geschenkt, obwohl ich mich sehr danach sehnte. Ich rannte los, um seinen Auftrag zu erfüllen. Der Schafhirt fiel beim Anblick des Songdus auf die Knie und schwor bei allen Himmeln, daß nichts seiner Herrin und ihm eine so große Freude hätte bereiten können wie dieses Geschenk. „Richte ihr aus, daß auch ich sie grüßen lasse", fügte ich errötend hinzu, „und daß ich voller Zuneigung an sie denke." So eroberte Santemi, Horkangs Tochter, das Herz von Schüler und Meister. Am folgenden Tag begann das normale Klosterleben. Nach der vierwöchigen Abwesenheit bereitete es mir das größte Vergnügen, auf dem harten Stein-Nyalsa in meiner alten Zellen zu schlafen. Tatsächlich wurde mir plötzlich bewußt, wie sehr ich die beruhigende Benommenheit vor dem Feuerzauber vermißt hatte. Der Lama, der für den täglichen Unterricht zuständ ig war, verkündete während unseres morgendlichen Kräutersammelns, daß die Brüder, die ihr drittes Jahr vollendet hatten, in einer Woche an den Übungen für Gedankenübertragung und Fernblick teilnehmen konnten. Die Gedankenübertragung wurde zweimal in der Woche nach Sonnenuntergang im Versammlungsraum von meinem Meister unterrichtet, der Blick in die Ferne anschließend von Namseling Lama. -235-
Dieser Blick in die Ferne, wie wir ihn nannten, hatte meine Vorstellungskraft schon seit jeher angeregt, und ich konnte den Tag, an dem wir in dieser besonderen Kunst des zweiten Gesichtes unterrichtet werden würden, kaum erwarten. Diese Fertigkeit zählte zu den größten Errungenschaften aller Mönche, und selbst die Zauberer in den Tälern taten sich darin hervor. Wenn ein Lama erfahren wollte, wo sich der Mensch, auf den er sich konzentrierte, gerade befand und was er dachte, verfuhr er, nach allem, was ich darüber gehört hatte, folgendermaßen: Im Tempel befand sich eine große, glänzende Metallkugel von etwa dreißig Zentimetern Durchmesser, die auf einem schwarzen Holzständer vor der Statue der Weisheit ruhte. Die Lamas des Klosters konnten zu jeder beliebigen Zeit in die Kugel zu schauen. Man starrte solange hinein, bis eine warme Welle durch den Körper wallte und die Glieder erschlafften. In diesem Zustand unbewußter Entspannung richtete man seine Aufmerksamkeit auf den Menschen, über den man Dinge in Erfahrung bringen wollte, machte deshalb seinen Geist leer und wartete. All dies war nicht weiter schwer. Das Schwierigste bestand darin, sich an all das zu erinnern, was man mit seinem geistigen Auge wahrgenommen hatte. Deshalb wurde eine andere Gruppe von Sehern von einem bestimmten Priester überwacht, der alles niederschrieb, was sie bei den Sitzungen sagten. Der Hohepriester beherrschte neben allen anderen Künsten auch den Blick in die Ferne in höchster Vollendung. Doch gleich nach ihm kam die Priesterin. In diesem tranceartigen Zustand vermochten die beiden jede Frage zu Dingen oder Personen zu beantworten, die sich im Umkreis von zwei- bis dreihundert Meilen um das Kloster herum befanden. Dabei handelte es sich jedoch nur um persönliche Auskünfte über irdische Angelegenheiten, nie um die Dinge der anderen Welt. Die Seher wurden von den Bewohnern der umliegenden Täler und von Fremden aus fernen Ländern sehr häufig aufgesucht. -236-
Der Pförtner führte den Besucher durch die Empfangshalle in eines der Seitenzimmer, in denen kleinere Kugeln lagen, genaue Abbilder der großen Kugel im Tempel. Der Seher berührte den Besucher an der Hand oder Stirn und beantwortete nach einer Weile laut die ihm gestellte Frage. Wenn er zum Beispiel von einer Mutter nach dem Schicksal ihres Sohnes gefragt wurde, der vor einem Monat in die Schlacht gezogen war, beschrieb der Lama zuerst das äußere Erscheinungsbild des Jungen, seine Gesichtszüge und seinen Charakter und berichtete der besorgten Mutter dann, in welchem Zustand sich der Sohn in diesem Augenblick befand, ob er verwundet oder bei guter Gesundheit war, und so fort. Doch sprach ein Seher nie über die Zukunft. Nur die Zauberer sagten den Menschen die Zukunft voraus. Wenn die Eingeweihten Vorahnungen, Voraussagen oder das zweite Gesicht hatten, sprachen sie nur zu ihren Mitbrüdern, doch nie zu Fremden. Und wenn der Besucher unbedingt etwas erfahren wollte, stand es ihm frei, zum Zauberer seines Dorfes zurückzukehren und sich von diesem die Zukunft vorhersagen zu lassen. Dies war jedoch eine undankbare Angelegenheit, denn mehr als einmal geschah dann genau das Gegenteil der Prophezeiung. Für einen eingeweihten Lama stellte der Blick in die Ferne oder das Zweite Gesicht keine Schwierigkeit dar. Er brauchte keine besondere Ausbildung und fühlte danach nicht die geringste geistige oder körperliche Müdigkeit. Wegen ihrer Fähigkeit, in die Kugel zu schauen, wie das Volk es zu nennen pflegte, genossen die Lamas die höchste Achtung und wurden großzügig beschenkt. Besonders in Kriegszeiten brachten viele Menschen Geschenke und warteten in langen Reihen darauf, zu den Seher-Lamas vorgelassen zu werden. Natürlich beteiligten sich weder der Hohepriester noch die Ichka an diesem Geschäft. Sie beschäftigten sich ausschließlich mit dem Schicksal hochrangiger, ausgesuchter Besucher. Die Tage vergingen mir viel zu langsam. Ich konnte unsere -237-
erste Lektion im Fernblick kaum erwarten. Am Abend des nächsten Vollmondes versammelten sich etwa siebzig junge Lamas im Tempel. Außer mir gab es noch drei weitere Anfänger. Namseling Lama, der höchste Seher-Lama, trat vor die Metallkugel: „Unser Bruder Ti- Tonisa und seine Gefährten sind Neulinge, deshalb werde ich euch den Blick in die Ferne noch einmal kurz erklären. Stellt euch hier vor die Kugel und tut genau, was ich euch sage. Wisset, daß der gesamte Vorgang nur durch das Auge möglich wird. Dieses wichtige Organ läßt uns auch jene Dinge sehen, die außer Sichtweite geschehen. Blickt jetzt über die Kugel hinweg in den Hintergrund, als ob ihr dort einen Gegenstand betrachten würdet. So ist es richtig! Jetzt senkt ganz langsam euren Blick. Wenn die Kugel schließlich in eurem Blickfeld erscheint, dann schaut hinein, nein, schaut durch sie hindurch! Der Blick, der aus dem Auge eines erfahrenen Sehers auf die glänzende Oberfläche der Kugel trifft, ist so stark, daß seine Spiegelung an der Wand sichtbar wird. Schaut nicht länger als siebzig Puls schläge in die Kugel, dann wird euer Blick erstarren. Seht weiter durch die Kugel hindurch, ohne zu blinzeln und ohne daß eure Augen tränen. Konzentriert euch jetzt, dann wird euch die Kugel in gelbweißem Licht erscheinen. Danach müßten euch - wie auf einer Bühne - Gestalten oder Ereignisse erscheinen, welche sich dem Sehnerv einprägen. Damit erscheint die Vision, welche die gestellte Frage beantwortet, jenem Teil des Gehirns, der die Bilder dieses Nervs empfängt und weitergibt, als geschaute Wirklichkeit. Versteht ihr mich? Und jetzt stellt euch selbst eine Frage. Denkt an einen Menschen im Umkreis von zweihundert Meilen und fragt euch, was dieser jetzt gerade tun mag. Dann blickt durch die Kugel, so wie ich es euch gelehrt habe. Gebt euch Mühe, denn eure erste Erfahrung entscheidet über den Grad eurer Eignung in dieser Kunst." Zwei meiner Gefährten versuchten sich zuerst am Blick in die -238-
Ferne, weil sie dichter bei der Kugel standen. Als der erste geendet hatte, fragte Namseling Lama, der die Kugel von hinten beobachtete: „Was hast du gesehen, Samtrup?" Mein Gefährte zuckte zusammen. Ich sah ihm an, daß er durch diesen Schreck zurück in die Wirklichkeit geholt worden war. „Ich sah, wie meine Mutter das Abendessen kochte. Welch wunderbares Gefühl! Ich erkannte sie sogleich, obwohl das Bild etwas verschwommen war." „Du hast richtig geschaut, Bruder. Ich warne euch! Sagt nicht mehr, als was ihr wirklich seht, denn ich überprüfe eure Visionen! Ich sehe dasselbe wie ihr." Als mein zweiter Gefährte in die Ferne geblickt hatte, wurde auch er befragt. „Ich fragte mich, wer sich im Augenblick in der Kammer unter mir beim Seher-Lama befände. Ich sah den Waffenschmied aus dem Brugd Tal, doch das Gesicht meines Lamabruders blieb im Dunkeln." „Du hast richtig gesehen", antwortete Namseling Lama, „doch du mußt noch viel lernen. Beachtet jede kleine Einzelheit eurer Vision!" Jetzt stand auch ich vor der Kugel. Weil mir niemand im Umkreis von zweihundert Meilen einfiel, dachte ich an Horkangs Hirten, der am Tag zuvor zum Chumbi Tal aufgebrochen war. Nach den Anweisungen des Lamas leerte ich meinen Geist und nahm nach der kurzen Konzentration wirklich den gelbweißen Blitz in der Kugel wahr. Bald danach erschienen weiße und schwarze Umrisse auf der glänzenden Oberfläche der Kugel. „Was hast du gesehen, Ti-Tonisa?" hörte ich die Stimme von Namseling Lama. „Ich weiß, daß du ein Seher bist, und daß das -239-
Geschenk des Zweiten Gesichtes bei dir selbst im Wachzustand gut entwickelt ist. Warte! Ich werde dir sagen, was du gesehen hast, und dann kannst du dich dazu äußern. Dir erschien ein Hirte auf der Spitze des zweiten nördlichen Passes, der einen Kiang-Fell-Mantel trug. Er warf sich vor einer jungen Frau nieder, einer geistigen Führerin in strahlend weißen Kleidern. Zum Zeichen seiner Verehrung schenkte er ihr sein Amulett. Ist das richtig?" „Ja, Vater", nickte ich verwirrt, denn ich konnte nicht verstehen, warum er, der Meisterseher, Santemis kleine Gestalt auf ihrem Maultier für eine geistige Führerin hatte halten können.
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Kapitel 12 Der folgende Tag war ein großer Tag. Lhalu gab am Morgen bekannt, daß der Große Lama selbst den nachmittäglichen Manyag, die heilige religiöse Unterweisung, geben würde, ein großes Ereignis im Klosterleben! Wir konnten die Stunde kaum erwarten, in der sonst Doring Lama seine Vorträge über Moral hielt. Etwa einhundertfünfzig Mönche versammelten sich ziemlich aufgeregt im großen Chang, denn wir wußten, daß der Hohepriester unsere Aufmerksamkeit mit seinen Gleichnissen stets auf ein bestimmtes Thema lenkte, welches sich uns einprägen und welches wir nie vergessen sollten. Heute wollte er über Arva sprechen, das Gesetz des sich unweigerlich abwickelnden Schicksals. Gleich, nachdem der Gong den Beginn der Unterrichtsstunde angekündigt hatte, schritten der Hohepriester und die Ichka feierlich in den Saal. Als sie auf dem doppelsitzigen Thron Platz genommen hatten, erhoben wir uns und blickten sie aufmerksam an. „Meine Brüder", begann der Hohepriester, „heute halte ich den Unterricht, denn ich möchte eure Gedanken auf ein besonderes Thema lenken. Die Geschichte, die ich euch jetzt erzählen werde, soll euch ein Beispiel geben. Sie geschah heute vor hundert Jahren, am fünfzehnten Tag des Monats Cham." Seine eindrucksvolle, hagere Gestalt und sein magnetischer Blick zogen uns wie immer in ihren Bann. Die Ichka lehnte sich gegen die steinerne Armlehne ihres Thrones, wie sie es auch beim Feuerzauber zu tun pflegte, und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. „Ihr kennt das göttliche Gesetz des Arva, die eisenharte Verkettung von Ursache und Wirkung. Ihr wißt, daß alle guten und schlechten Taten eine ganze Reihe von Wirkungen -241-
auslösen, die in Form von Segen oder Fluch auf das Haupt des Verursachers zurückfallen. Wahrlich, Arva verfolgt den Sterblichen selbst nach seinem Tode! Wir müssen die Früchte unserer Taten essen, die wir vor vielen, vielen Leben säten. Und erst wenn wir diese Früchte alle verdaut haben, können wir Akhor, dem Kreislauf der Wiedergeburt, entkommen. All dies gilt für den gewöhnlichen Sterblichen, doch siebenundsiebzigmal stärker für den Eingeweihten! Um so viel Arva wie möglich aus vergangenen Leben abzutragen, mag die göttliche Gnade ihm während eines Erdenlebens die Möglichkeit geben, sich des gesammelten Arvas von zwei oder drei Leben zu entledigen. Aus diesem Grunde wird der Eingeweihte 'Zweimal Geborener' oder 'Dreimal Geborener' genannt. Doch wehe dem, der einen einzigen Schritt zurückgeht! Der Rücken eines solchen Eingeweihten wird die Peitsche des Arva auf der Stelle spüren und nicht erst Jahre später wie der gewöhnliche Mensch. Dies ist eine der ewigen Lehren, die ich euch heute veranschaulichen will. Die andere ist folgende: Wenn ihr euch 'Zweimal Geborene' nennt, dann schaut stets nach vorn und hütet euch, einen einzigen Blick von jenem Pfad zu werfen, den euch das Gesetz in seiner Strenge vorschreibt. Habt acht, meine Kinder! Es gibt viele Tausend Versuchungen und Fallen, die auf einen Eingeweihten lauern! Ihr meint vielleicht, keine Sünde begangen zu haben, und dennoch mögt ihr eine gefährliche Lawine auslösen. Selbst die geringfügigste Ungehorsamkeit, die zu Anfang ganz unschuldig wirkt, mag sich später als Fehler erweisen. Dies gilt für den jungen Lama wie für den Hohenpriester. Achtet also auf jeden Schritt, und seid stets wachsam. Folgt eurem Weg so geradlinig wie ein abgeschossener Pfeil, und schaut weder nach rechts noch nach links, denn wehe dem Eingeweihten, der, obwohl ,Zweimal Geboren', seinem alten Arva begegnet! Stellt euch das Leben eines Menschen vor, dem die Gnade Gottes gestattete, das gesamte Schicksal mehrerer Leben abzutragen. Er erklimmt -242-
steile Bergpfade, und die Menschen in den Tälern betreffen ihn nicht mehr, da er sich in diesem Erdenleben auf eine höhere Stufe begeben hat. So mag das Geschenk der Gnade ihm altes Arva erla ssen, welches ihn in den Tälern erwartet hätte, wenn er ein Mann der Welt geblieben wäre. Doch wehe dem, der einen Fehltritt tut oder neugierig hinunter in das Tal schaut und seinem alten Arva begegnet." Die Stimme des Großen Lama schwoll zu einem Donnern. Er hob die Arme und ließ seinen Blick über die Zuhörer schweifen. „Vor hundert Jahren trug sich die Geschichte zu, die ich euch jetzt zu eurer Belehrung erzählen werde. Sie begab sich in einem wohlbekannten Kloster, dessen Hoherpriester ein hochgelehrter Mann war. Er besaß soviel Wissen, daß sein Ruhm in allen Landen verbreitet war. Natürlich war ihm die Ichka ebenbürtig. Sie schaute auf ihren geistigen Reisen die Wunder ferner Erdteile und das verschwenderische Leben der südlichen Länder und begann, sich nach weltlichen Dingen zu sehnen. Am liebsten hätte sie das Klosterleben aufgegeben, wenn auch nur für kurze Zeit, um in das reiche Gyagar-Land zu reisen, dessen Lebensweise ihr außerordentlich zusagte. Natürlich verschwieg sie dem Hohenpriester ihre Wünsche. Siehe, dies war der erste Ungehorsam! Wir wissen, daß die Hohen Mächte das Geschick eines geliebten Menschen selbst vor einem hellsichtigen Eingeweihten verbergen können, wenn es ihnen beliebt. Deshalb ahnte der Hohepriester nichts von den geheimen Plänen seiner Ichka. Eines Tages sandte er sie im Trancezustand des Gleitenden Gangs über eine weite Entfernung hinweg. Sie hatte bereits viele hundert Meilen zurückgelegt, als der Hohepriester, der ihr geistig gefolgt war, ihren Wunsch bemerkte. Er versuchte, sie auf der Stelle zurückzurufen, doch es gelang ihm nicht, da sie sich ihm widersetzte. Er erschöpfte sich geistig bei seinen vergeblichen Versuchen in einem solchen Maße, daß er nicht länger imstande war, der Priesterin aufmerksam zu folgen. -243-
Plötzlich sah er erstaunt, daß die Ichka mit gewöhnlichen Schritten in den Straßen einer Stadt in Gyagar umherlief, weit jenseits der hohen schneebedeckten Gebirgszüge Bod-Yuls. Menschen sprachen sie an, doch sie vermochte nicht zu antworten, noch konnte sie sich in irgend einer Weise verständlich machen. Dies war ganz natürlich, denn im Lungom-Zustand ist der Körper hart und gefühllos, besonders, wenn er nicht von seinem geistigen Führer begleitet wird. Den Männern dieser fernen Stadt kam die Sache merkwürdig vor, und sie riefen die Wachleute zu jener seltsamen, fremden Frau, die einen schwarzen, rundgeschnittenen Mantel trug. Diese ergriffen die Priesterin, und weil sie keine Antwort gab, warfen sie sie ins Gefängnis, wo sie viele Monate leiden mußte. Man hielt sie für eine Spionin, doch niemand erfuhr, woher sie kam, warum sie sich in der Stadt befand und wer sie war. Die Wärter behandelten sie unbarmherzig und roh, denn sie war eine schöne Frau. Dies wurde noch deutlicher, als sie vor das Oberhaupt der Stadt geführt wurde, der ihr den Mantel abnehmen ließ. Die Priesterin nahm alles wahr, doch sie konnte ihren Mund nicht öffnen. So lange die Männer sie auch befragten, sie sprach kein Wort. Sie folterten sie mit glühenden Zangen, um sie zum Sprechen zu bringen, doch ohne Erfolg. Sie öffneten ihren Mund gewaltsam, um zu sehen, ob sie eine Zunge habe. Als sie sahen, daß sie über alle Organe und Sinne verfügte, wurden sie der Sache überdrüssig und ließen sie zurück ins Gefängnis bringen. Wieder verbrachte sie dort lange Monate, bis ein junger Soldat, der Gefangene von einer Stadt in die andere bringen mußte, sie erblickte und darum bat, sie mitnehmen zu dürfen. Das Oberhaupt des Gefängnisses stimmte bereitwillig zu, denn so wurde er sie endlich los. Der Soldat nahm die junge Frau zu sich nach Hause, obwohl sie einer lebenden Leiche glich: taub, stumm und irgendwie starr. Wenn er sie hinsetzte, blieb sie stundenlang in derselben Haltung hocken, und legte er sie hin, blieb sie bewegungslos liegen. Der tapfere -244-
Gyagarkrieger hatte sich nicht träumen lassen, daß das Schicksal ihm eine solche Frau ausersehen hatte, und als die Zeit verging, ergriff ihn abergläubische Furcht. Er rief einen Zauberer, der ihm riet, die Frau so schnell wie möglich loszuwerden, andernfalls würde sie ihn verhexen. Am besten sollte er ihr Herz bei Vollmond am Ufer eines Flusses oder an der Meeresküste durchbohren. Der Soldat wurde sehr traurig, denn er liebte die stumme Fremde. Ihm war, als drängten unzählige Erinnerungen aus der Tiefe seines Herzens herauf, die ihm sagten, sein Schicksal sei mit dieser Frau verknüpft. Er wartete eine weitere Woche, doch da die Frau unverändert in ihrem Zustand verharrte, weder aß noch trank und nur steif vor sich hinstarrte, nahm er sie bei der Hand und führte sie beim nächsten Vollmond hinaus zum Strand. Dort setzte er sie auf einen Felsen und durchbohrte ihr Herz mit seinem Dolch. Über seine eigene Tat erschrocken, floh er mit einem gequälten Schrei." Der Ichkitsu machte eine kurze Pause. Wir lauschten so aufmerksam, daß unsere Atemzüge in der Halle kaum zu hören waren. „Die Priesterin saß eine Weile starr auf dem Felsen und fiel dann kopfüber auf den Strand. Doch war sie nicht tot, zumindest nicht in dem Sinne, wie der Soldat glaubte. In dem Augenblick, als der Soldat sie tötete, verließ den Hohenpriester viele hundert Meilen nördlich im Turmzimmer des großen Klosters in BodYul die lähmende Erschöpfung, und er begann zu denken. Ganz mechanisch versuchte er dem Wege der Priesterin zu folgen, doch konnte er sie auf der vorgegebenen Route nicht finden. Plötzlich ahnte er, daß sie sich in Lebensgefahr befand und möglicherweise schon tot war. Da es niemanden gab, der ihn im Kloster ersetzen konnte, war es ihm eigentlich nicht erlaubt, sich aus diesem zu entfernen. Schließlich beschloß er, das Kloster zu verlassen, ohne die Mönche davon zu unterrichten. Wie ein einfacher Lama begab er sich mit zwei Maultieren -245-
auf die Reise. Als er die große, schneebedeckte Gebirgskette überquert hatte und jene Stadt in Gyagar erreichte, in welcher er die Priesterin zuletzt gesehen hatte, verlangsamte er seine Schritte. Die Leute in den Straßen musterten ihn prüfend, doch da er, nach seiner Kleidung zu urteilen, ein heiliger Mann war, tat man ihm nichts. Von seiner Eingebung geleitet, wanderte der Hohepriester den Strand entlang. Als die kleine Stadt hinter ihm lag, zog ihn irgend etwas wie ein Magnet zu einem einsamen, felsigen Abschnitt. Er fand seine Priesterin in einer Bucht. Die Flut stieg, und die Wellen spielten in ihrem offenen Haar. Da er glaubte, daß der Starrkrampf nur auf den ungesetzlichen Lungom zurückzuführen sei, lud er den steifen, leblosen Körper auf den Rücken seines Maultieres und wanderte den langen, beschwerlichen Weg zurück nach Bod-Yul. Die kleine Wunde unter ihrem Herzen hatte er gar nicht bemerkt, da die LungomLäufer gefühllos sind und niemals bluten, wenn sie sich verletzen. Erst als er nach langer, mühevoller Reise im Kloster angekommen war und versuchte, den Bann des außer Kontrolle geratenen Lungoms zu brechen, bemerkte er, daß seine Ichka ermordet worden war. Sein Gram war unendlich. Nach den Riten des heiligen Bardo belebte er die Leiche der Ichka im Turmzimmer für einen kurze Augenblick und befragte sie. Doch erfuhr er nichts weiter als die genauen Umstände des Unfalls. Daraufhin entfernte er sich geistig aus seinem Körper und suchte den Geist der Priesterin. Er fand ihn und erfuhr viele Dinge, die er noch nicht gewußt hatte. Er lernte, daß der Körper nicht verletzt werden kann, wenn sich die Seele von diesem getrennt hat und einem geistigen Befehle gehorcht. Daher konnte der Soldat die Priesterin nicht töten. Die Seele eines LungomLäufers schwebt über dessen Körper, umgibt ihn mit einer schützenden Hülle und heilt augenblicklich alle Wunden, weshalb Verletzungen auch nie bluten. Doch der Körper der Priesterin lag starr vor dem Hohenpriester, und es gelang ihm -246-
nicht, ihn zu beleben. Der Geist der Priesterin wies ihn an, ihr jene Pflanze in den Mund zu legen, welche er ihr vor der Reise gegeben hatte. Außerdem solle er eine Woche beten und fasten, dann würde die tödliche Starre nachlassen, und sie würde wieder zu sich kommen." In diesem Augenblick regte sich die Ichka auf ihrem Thron, öffnete die Augen und setzte sich kerzengerade auf. Sie ließ ihren Blick prüfend über die versammelten Lamas gleiten. Es war, als wolle sie die wiederbelebte Priesterin aus der Geschichte symbolisieren. „So geschah es", fuhr der Große Lama fort, „und die Priesterin kam zu Sinnen. Doch ihr geistiges Gleichgewicht fand sie nicht wieder. Der Große Lama bat die Ichka eines anderen Klosters um Rat. Diese sagte, die Priesterin solle sich erneut in jene Stadt begeben, in der ihr dies alles zugestoßen sei, damit die Leute sie dort sähen. Daraufhin gab der Hohepriester seiner Ichka die Anweisung, sich im Gleitenden Gang noch einmal auf den Weg zu machen. Als die Priesterin die Stadt erreichte, verlangsamte sie ihre Schritte. Der Soldat schlenderte gerade über die Hauptstraße, und als er die Frau erblickte, die er mit eigener Hand umgebracht hatte, fiel er vor Schreck tot um. Die Priesterin kehrte nach den Anweisungen ihres geistigen Meisters im Lungom-Schritt zum Kloster zurück. Als sie dort erfuhr, daß der Soldat, den sie unwissentlich getroffen hatte, in einem früheren Leben ihr geheimer Liebhaber gewesen war und daß sie bei ihrer zweiten Begegnung seinen Tod verursacht hatte, ergriff sie ein solcher Schmerz, daß sie ihr gesamtes priesterliches Wissen verlor. Brüder, so endet die Geschichte. Welche Lektion erteilt uns das Leben der Priesterin Sathi und des Hohenpriesters Bedkar? Daß Gottes höchste Diener die Gesetze genau so strikt befolgen müssen wie seine geringsten. Hätte die Priesterin, eine -247-
Zweimal Geborene, nicht von ihrer hohen geistigen Ebene aus hinab ins Tal geschaut und sich nach der Welt gesehnt, wäre sie ihrem alten Arva nicht begegnet, welches ihr bereits erlassen worden war. Wäre der Hohepriester nicht ausgezogen, um sie zu suchen, wobei er das Kloster unbeaufsichtigt zurückließ, wäre die Priesterin am Strand gestorben. Für ihre Seele wäre solch ein Ende segensreicher gewesen als gewaltsam ins Leben zurückgeholt zu werden und ihr gesamtes Wissen zu verlieren. Seht euch deshalb vor, Brüder! Seid stets gehorsam und befolgt das Gesetz, ganz gleich, wie hoch euch das Schicksal eines Tages erheben mag." Nachdem der Große Lama verstummt war, herrschte lange Zeit tiefes Schweigen. Erst als er sich mit der Priesterin von seinem Thron erhob und die Arme segnend über uns streckte, kamen wir wieder zu uns. Danach vergingen die Tage mit harter Arbeit, Gebeten und Lernen. Ich besuchte jetzt die Vorträge meines Meisters über Medizin, so daß mir nahezu keine freie Zeit blieb. Knapp vier Wochen nach der denkwürdigen „Heilungsreise" zog ich nach dem morgendlichen Wecksignal gerade meinen Mantel an, als Samtrup, einer meiner jungen Brüder, in meine Zelle stürzte und berichtete, daß jemand nach meinem Meister frage. „Wer um alles in der Welt will ihn zu so früher Stunde sprechen?" fragte ich erstaunt. „Um diese Zeit sind doch gewöhnlich kaum Besucher in der Empfa ngshalle." „Irgendein Händler namens Horkan oder Horkang. Er hat mit seiner Karawane eine weite Reise hinter sich und wartet im Hof. Er läßt Lhalu Lama ausrichten, daß er, wenn nötig, gern bis zum Mittag warten will." „Horkang aus dem Chumbi-Tal?" rief ich froh, wobei mir selbst nicht klar war, warum ich mich plötzlich so lebendig fühlte. „Ich bin schon unterwegs! Ich muß meinem Führer auf der Stelle Bescheid geben! Und du, Bruder, geh hinunter und -248-
bring ihn in die Empfangshalle. Bitte die Trapas, seine Maultiere in den Stall zu führen." Mein Meister wollte gerade frühstücken, doch als ich ihm die unerwartete Kunde brachte, stand er auf, und wir eilten gemeinsam in den Hof hinab. Sofort erblickten wir Horkangs große Gestalt. Als er uns bemerkte, verbeugte er sich tief. „Friede den Lamas und der Heiligen Weisheit!" rief er und richtete sich auf. „Ich bin gekommen, Vater, um eurem Kloster meine Dankbarkeit dafür zu beweisen, daß ihr meine Tochter geheilt habt." Er wies auf sieben schwerbepackte Maultiere, welche die Trapas gerade in Empfang nahmen. „Ich habe wertvolle Stoffe und Kiang-Felle für Chubas mitgebracht", fuhr er fröhlich fort, „und ich bitte den Hohenpriester, diese bescheidene Gabe eines armen Händlers frohen Herzens anzunehmen, denn sie ist nicht mit dem Geschenk zu vergleichen, das ich von einem seiner Lamas erhielt!" „Das hättest du nicht tun sollen", antwortete Lhalu streng, doch ich sah, daß sich seine Züge gleich wieder entspannten. „Wo ist deine kleine Tochter, Santemi?" „Sie steht draußen im Kharlam", antwortete Horkang lachend. „Sie wollte um nichts in der Welt mit hinaufkommen und sagte, sie würde am Fuße des Berges auf uns warten. Ich widersprach ihr nicht, da ich ihre Sturheit kenne. Als wir den Paß erreicht hatten, schaute ich zurück. Sie war uns bis hierher gefolgt, doch ich konnte sie nicht dazu bewegen, mit durch das Tor zu gehen. Vielleicht tut sie es, wenn ihr sie darum bittet, gute Herren?" Während der Händler sprach, wurde das Lächeln auf Lhalus Gesicht immer breiter. „Geh, Ti-Tonisa, sprich du mit ihr!" -249-
Ich rannte durch das weit geöffnete Tor, und als ich den engen Kharlam erreicht hatte, schaute ich mich suchend um. Sofort entdeckte ich ihre kleine Gestalt. Sie stand oben auf einem hohen Felsen neben der Klostermauer und spähte von dort in den Hof. „Willkommen, Santemi!" rief ich. „Ich freue mich, daß du gesund und stark genug bist, einen so hohen Felsen hinaufzuklettern! Ich bitte dich, komm herunter, denn Lhalu Lama läßt dich rufen." Sie erschrak wie ein ungezogenes Kind, welches man bei einem Streich erwischt hat, sprang gewandt vom Felsen hinab und verbeugte sich lächelnd vor mir. „Friede, Ti- Tonisa Lama! Ruft mich wirklich euer Meister oder mein Vater?" „Wenn ich es dir doch sage! Komm jetzt, schnell!" Sie trug eine kurze Pelz-Chuba, hübsche hohe Stiefel und Kordovas und hatte sich ein weißes Tuch um den Kopf gebunden. Rasch hüpfte sie an meine Seite und streckte schüchtern den Kopf durch das Tor. „Komm her, du kleine Ausreißerin!" rief ihr Vater. „Jetzt spielst du natürlich das kleine Mädchen, doch zu Hause scheuchst du mich herum und bist klüger als eine Großmutter." Sobald sie meinen Meister erblickte, wurden Santemis Züge ernst. Sie streckte ihre kleinen Hände aus, die Handflächen nach oben geöffnet, und verbeugte sich dreimal. „Heil sei euch im Namen der Heiligen Weisheit, mein Meister. Ich bin gekommen, damit ihr seht, wie gesund ihr mich gemacht habt." Dann verstummte sie, drehte sich schüchtern zur Seite und fingerte am Riemen ihrer Tasche herum. Noch nie hatte ich ein so breites Lächeln auf Lhalus Gesicht gesehen. „Es war nicht nett von dir, daß du unten im Tal bleiben -250-
wolltest, wo du nun schon mal bereits so weit gereist bist. Du warst schon wieder ungehorsam!" Das Mädchen sah ihn verzweifelt an. Lhalu blickte ein Weile vor sich hin und wandte sich dann, als habe er eine plötzliche Eingebung, an die Trapas: „Führt die Maultiere in den Stall und nehmt ihnen ihre Lasten ab, doch schafft die Ballen nicht ins Lagerhaus. Bringt Tee und Schreibmaterial in die kleine Empfangshalle." Die Trapas sahen ihn erstaunt an, doch mein Meister winkte ungeduldig mit der Hand und hieß sie, seine Befehle auszuführen. Dann wandte er sich an Horkang: „Folgt mir, denn ich habe euch etwas zu sagen." Wir überquerten gemeinsam den langen Hof und betraten ein Seitenzimmer der Empfangshalle, welches den besonderen Gästen vorbehalten war. Lhalu bedeutete uns, auf dem dicken Teppich Platz zu nehmen. Die Trapas erschienen mit Teetassen und einem dampfenden Kessel. Sie legten eine Rolle Papyrus und einen Pinsel auf den kleinen Tisch. „Ich muß mit euch reden", begann mein Meister. „Ich habe lange über eure Tochter nachgedacht und freue mich daher, daß ihr gekommen seid. Dies ist kein Zufall! Ihr wißt, daß es so etwas wie Zufall nicht gibt, denn die Hände der Heiligen Weisheit lenken unser Geschick. Es wäre schade, wenn ein mit so seltenen geistigen Gaben bedachtes Mädchen weiterhin in schlechten Händen bliebe. Aus diesem Grunde frage ich dich, Santemi", wandte er sich an das zusammengekauerte Mädchen, „ob du ge willt bist, dein Leben Gott zu weihen und einem Kloster beizutreten?" Diese Worte berührten sie so tief, daß sie ihre Tasse auf den Boden stellte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ja, ja, Vater", stammelte sie, „das ist stets mein heimlicher Wunsch gewesen. Doch ich bin dessen nicht würdig!" -251-
„So ein armes Mädchen erhält keinen Zutritt zum Konvent", stimmte ihr Vater zu. „Ich habe mich bereits erkundigt. Außerdem müssen sich die Anwärterinnen langwierigen Vorbereitungsübungen unterziehen. Wer weiß, welche Reichtümer außerdem notwendig sind! Und meine Santemi hat bis jetzt an der Seite eines Zauberers gearbeitet, was bestimmt keine gute Empfehlung ist!" „Die Empfehlung werde ich ihr schreiben", antwortete Lhalu ruhig, „seid deshalb unbesorgt. Der Frauenkonvent in Samding ist der erste in Bod-Yul. Ich kenne die Priesterin gut, da ich sie einst von einer Krankheit heilte. Deshalb werde ich ihr schreiben. Es ist in der Tat nicht einfach, dort zugelassen zu werden, da nur die Kinder reicher Familien aufgenommen werden und das auch nur nach langen Vorbereitungsübungen. Doch ich bin guten Mutes, daß wir diese Hindernisse überwinden werden." „Mein Herr, ich weiß gar nicht, wie ich euch dafür danken soll, daß ihr euch so um unser Schicksal kümmert!" „Dankt nicht mir, sondern tut alles für das Glück eurer Tochter, indem ihr meinen Anweisungen folgt", antwortete Lhalu und entrolle den Papyrus. „Ich verbat den Trapas, eure Geschenke fortzutragen, weil ihr sie morgen früh mit nach Samding nehmen müßt. Der Konvent liegt sehr weit entfernt. Ihr müßt so lange westwärts ziehen, bis die schneebedeckten Gipfel des Tise vor euch liegen. Schenkt eure Gaben nicht unserem Kloster, sondern dem Konvent von Samding." Horkang begann zu protestieren, doch Lhalu hieß ihn schweigen. „Du bist, im Vergleich zu den reichen Eltern, die ihre Töchter dorthin schicken, nur ein armer Händler. Du kannst deine Geschenke nicht an zwei Orten verteilen. Die Priesterin von Samding wird mir auf alle Fälle mitteilen, ob Santemi aufgenommen wurde. Und ich verspreche dir, auch in Zukunft über das Schicksal deiner Tochter zu wachen. Ruht euch heute in einem der Gästeräume aus, und zieht morgen früh weiter." -252-
Er schwieg, um den Brief zu schreiben. Danach pinselte er den Namen des Klosters von Samding auf die Mitte der Rolle:
Ich weiß nicht, warum sich mir die Schriftzeichen dieses Wortes so tief einprägten, als er sie mit sauberen Strichen aufmalte. Mir war, als hätte mit dem Schreiben dieser Lettern etwas seinen Lauf genommen, was unser Schicksal stark beeinflussen und unsere Seelen in die Klauen des Arva werfen sollte… Als wir uns in der Empfangshalle von ihnen verabschiedeten, wandte sich Lhalu ein letztes Mal an das kleine Mädchen: „Leb wohl, Santemi! Ich weiß, daß du im Konvent angenommen wirst. Sei immer gehorsam, dann wirst du diesen Schritt niemals bereuen. Ich werde aus der Ferne über dich wachen und dein Schicksal lenken." Völlig bewegungslos schaute sie Lhalu an und schwieg. An diesem Morgen bat ich Lhalu nach dem Frühstück, mich über die Frauenklöster zu belehren, denn ich wußte nur, daß solche in Bod-Yul existierten. Er sagte mir, daß die Konvente oder Yamgos, wie sie damals genannt wurden, nie auf demselben Berg wie ein Kloster gebaut würden. Im Großen und Ganzen herrschten dieselben Regeln wie bei uns. Die zukünftigen Priesterinnen wurden in diesen Yamgos ausgebildet. Wenn ein junges Mädchen aufgenommen wurde, wußte sie nichts, ganz im Gegensatz zu den Männern, von denen einiges Wissen erwartet wurde. Die Unterweisung der reichen Töchter Bod-Yuls begann ganz von vorn. Die meisten Mädchen zählten bei ihrem Eintritt kaum vierzehn Jahre. Sie konnten weder schreiben noch lesen und hatten nur unbestimmte Vorstellungen von der Gottheit, doch hatten sie ein seltsames Gefühl, eine Vorahnung oder Eingebung gehabt. Die zu Rate gezogenen Zauberer oder Einsiedler legten -253-
dies als Zeichen des Himmels aus, worauf diese Mädchen in ein Kloster eintraten. Aber auch Frauen, die sich aus irgend einem Grunde von ihren Männern getrennt hatten oder Witwen geworden waren, wurden in den Klöstern zugelassen. Wenn ein Novizin aufgenommen worden war, mußte sie körperlich arbeiten. Es handelte sich dabei jedoch nicht um schwere, ermüdende Arbeit, welche von den bäuerlichen Trapas ausgeführt wurde. Die Frauen trugen einfache Kleider: ein hemdartiges Unterkleid und darüber einen Kiang-Pelzmantel, doch keine wirkliche Unterwäsche, was ihre Körper hart und widerstandsfähig machen sollte. Die Töchter reicher Familien führten in Bod-Yul ein Leben des Müßiggangs und waren oft verweichlicht und dick. Deshalb mußten sie ihre Körper durch alte Atem- und Körperübungen abhärten. Die Männer hatten sich bereits vor dem Eintritt in ein Kloster mit der Beherrschung ihres Körpers vertraut gemacht. Außerdem kümmerten sich die Männer nicht um weltliche Dinge und waren daher geistig weiter entwickelt. Viele Novizinnen wurden nach einem Jahr wieder entlassen. Eine der Hauptbedingungen für das Verbleiben im Kloster war die Reinheit der Seele und des Körpers. Es erwies sich als sehr schwierig, die Mädchen an Reinlichkeit zu gewöhnen, da sie in ihren Elternhäusern sehr schamhaft erzogen worden waren und sich nur widerwillig auszogen. Als wären sie kleine Kinder, wurden sie deshalb täglich von einem alten Lama und zwei Priesterinnen untersucht, ob sie sich gründlich gewaschen hatten. Ein unsauberer Körper, den die Dämpfe der Schwitzkammer nicht gereinigt hatte, war unbeweglich und ungeeignet für die täglichen Übungen. Nach dem ersten Jahr begann mit der sogenannten ersten Klasse der Unterricht, der zuerst die Kunst des Schreibens lehrte. Der Hohepriester, dem zwei Lamas halfen, war der Lehrer. Natürlich bekleidete die Priesterin des Yamgo denselben Rang wie er. Das Lehren fiel hier nicht schwer, da die -254-
Schülerinnen sehr fügsam waren. Die Unterweisungen dauerten drei Jahre. Am Ende des dritten Jahres mußten die Frauen auf der Stufe stehen, auf welcher die männlichen Novizen begannen. Viele Novizinnen wurden während dieser Zeit entlassen. Es mochten wohl dreihundert Frauen die erste Klasse der jährlich stattfindenden Unterrichtsreihe besuchen. Bereits im ersten Jahr wurden gewöhnlich hundert entlassen, während am Ende des dritten Jahres nur noch zwanzig bis fünfundzwanzig Frauen übrigblieben. Häufig waren sie den schwierigen Übungen und der geistigen Anspannung einfach nicht gewachsen. Die Mehrheit der Mädchen war bei ihrem Eintritt eher dicklich und klein. Nach drei Jahren waren sie gewachsen und schlanker, die Haut trocken und nicht fett wie bei ihrer Aufnahme in das Yamgo. Tatsächlich mußten viele Novizinnen im dritten Jahr nur deshalb gehen, weil sie diese Merkmale nicht aufweisen konnten. Danach erst begann das Ritual der Einweihung, welches sich nicht von dem der Lamas unterschied. Die Große Zeremonie wurde vom Hohenpriester durchgeführt, und die Priesterin weihte sie in die Großen Geheimnisse ein. Der einzige Unterschied bestand hier darin, daß die Priesterin sie mit einer alten Methode unfruchtbar machte, was ein völlig schmerzloser Vorgang war. Dies geschah, weil jene, die dem Konvent beitraten, allen weltlichen Freuden entsagen mußten. Sie würden nie heiraten und Kinder gebären, und so gestaltete man das Leben im Konvent einfacher und ruhiger. Gleichzeitig wurden sie von den Männern höher geachtet, und jene würden durch ihre Gegenwart nicht länger beunruhigt. Trotz allem gab es zu unserer Zeit sehr viele Konvente, und zahlreiche Mädchen aus dem ganzen Lande baten um Aufnahme. Erst nach vielen Jahren nahm die Anzahl ab, und in der Zeit des Niedergangs unseres alten Glaubens verschwanden sie vollständig. Alle Yamgos unterstanden einer zentralen Führung und folgten denselben Regeln. Der Hohepriester, die -255-
Ichka, zwei ältere Lamas und ein besonderer Züchtiger gehörten zur Führungsspitze der Yamgos. Am nächsten Morgen trat nach dem Wecksignal ein Trapa in meine Zelle, um mir zu sagen, daß der Händler Horkang seine Karawane zum Aufbruch rüste und gern mit mir gesprochen hätte. Ich warf mir rasch den Umhang über und eilte hinaus. Tsonkan, der Schafhirte, der seinem Herrn auf halbem Wege begegnet war, führte gerade mit zwei anderen von Horkangs Hirten die sieben Maultiere durch das offene Tor. Zwei oder drei Bergbewohner, die in den frühen Morgenstunden eingetroffen sein mußten, trieben ihre Tiere nach dem ermüdenden Aufstieg über den großen Garba, um sie nach der Anstrengung abzukühlen. Auch Horkang beschäftigte sich mit seinen Tieren, nur Santemi bemerkte mich. Sie hatte ihr Gesicht der Empfangshalle zugewandt und betrachtete jeden, der herauskam, mit prüfendem Blick. Mir war augenblicklich klar, daß sie nach mir geschickt hatte und daß ihr Vater überhaupt nichts davon wußte. „Ti-Tonisa Lama!" rief sie aufgeregt. „Ich habe das Alierwichtigste vergessen! Sage deinem Meister, seinen Talisman, ich trage ihn um den Hals. Er ist unter meiner Jacke verborgen. Und sage ihm auch, daß ich ihn dort tragen werde bis zum Tage meines Todes!" Sie streckte ihre kleinen Hände in meine Richtung, und unbeholfen verbeugte sie sich. Ihre Stimme versagte, und weinend lief sie der Karawane nach, die gerade durch das Tor zog.
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Kapitel 13 So wie die Bergbäche von den Hängen des Kangchen stürzen und die Wolken bei Tag und bei Nacht über den Tise ziehen, so verging mir die Zeit im Felsenkloster. Wer weiß, wie oft sich der Mond gedreht hatte, seit ich die hohen weißen Wände des berühmten Klosters vo n Tampol-Bo-Ri in seinem gelblichen Licht zum erstenmal erblickt hatte! Monate und Jahre zogen vorüber, ohne daß mir ihr Verstreichen bewußt wurde. Meine Lehrer sagten, daß die Zeit nicht existiere; es gebe nur eine lange Folge von Ereignissen, die einander überlagerten und ein Ganzes bildeten, welches wir dann mit unserer Vorstellung von Zeit wieder auseinanderrissen, und damit hatten sie recht. Wir stehen auf der Brücke des Lebens und schauen auf den Strom der Vergangenheit hinab, der unter uns hindurchfließt. Jede Welle ist ein Tag, doch wir sehen immer dasselbe Wasser und lauschen seinem Rauschen, ohne zu wissen, woher es kommt und wohin es strömt. So fließen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander. Da er aus Materie besteht, mißt der Körper die Zeit wie eine Wasseruhr, doch außerhalb unseres Körpers, mögen wir der ewigen Gegenwart ohne irdische Einschränkungen und ohne die Illusion von Vergangenheit und Zukunft als Ganzheit begegnen. Geschieht es nicht zuweilen, daß wir in der Spanne einer einzigen Nacht ein ganzes Leben träumen? Meine Tage verflogen wie Träume, und ich hatte noch nicht einmal bemerkt, daß ich seit sechs Jahren im Felsenkloster lebte. Selbst in unserem Körper vermögen wir die Zeit nur solange klar einzuteilen, wie wir auf etwas zurückblicken können, und zwar nicht auf die verstreichende Zeit an sich, sondern auf die unterschiedlichen Geisteszustände, die uns jeweils beherrschten. Wenn wir uns jedoch verändern und geistig entwickeln, so verschmelzen die Erinnerungen des letzten Jahres mit denen vor -257-
fünf oder sechs Jahren, und ein Unterschied von einem oder zwei Jahren spielt in Hinblick auf die sogenannte Vergangenheit überhaupt keine Rolle. Warum ist uns das Gestern so deutlich bewußt? Weil es oft unseren geistigen Zustand von heute spiegelt. Doch jenseits von gestern dehnen sich die Tage und liegen nicht länger sauber geordnet nebeneinander wie Mosaiksteinchen, sondern purzeln kunterbunt in den großen Zauberkorb der Vergangenheit. War es vor einem Jahr, daß ich meine schweren Einweihungsprüfungen bestanden hatte, oder vor sechs Jahren? Schon floß alles ineinander, und ich konnte die Zeitabschnitte nur anhand meiner Gefühle, Empfindungen und Geisteszustände auseinanderhalten. Das Jahr meiner Prüfungen, das Jahr meiner Einweihung, das Jahr meines ersten Geistesfluges, das Jahr von Santemis Heilung - so kann ich sie mir nach den Gefühlen, die sie in mir wecken, wie einzelne Tage ins Gedächtnis zurückrufen. Heute zähle ich einundzwanzig Jahre. Im nächsten Jahr werde ich ein alter Eingeweihter sein, in den ersten Stock ziehen und unter den älteren Lamas leben dürfen. Das Jahr der Erfüllung so werde ich diese Zeit wahrscheinlich in meinen alten Tagen nennen. Nein, das Verstreichen der Zeit war mir nicht bewußt, und doch wurde mir die Vergänglichkeit des Lebens zum erstenmal in all ihrer tödlichen, harten Wirklichkeit vor Augen geführt. Gestern morgen wurden die blutbefleckten Leichen zweier Lamas unseres Klosters auf Maultieren, die man an den Poststationen mieten kann, nach Tampol-Bo-Ri gebracht. Diese unsere Brüder hatten die Aufgabe gehabt, fremde Reisende zu führen und sollten einen Auftrag in den großen Klosterburgen an der Grenze nach Tazik Yul erledigen. Es gab oft Zusammenstöße mit den wilden, kriegerischen Bergstämmen an der Grenze zu den Tazikpas. Seit der Regentschaft des assyrischen Königs Asshurnasirpal und seines Sohnes -258-
Shalmanassur hatten sie sich dem großen Reich des Gottes Marduk ergeben. Doch in diesen Tagen ereigneten sich ungewöhnliche Vorfälle an der Grenze, so berichteten die Lamakrieger aus dem Westen, die die Leichen unserer Brüder nach Hause gebracht hatten. Die Klosterburg von Zhonma, in der sie gewesen waren, war erneut von einem Tazik-Stamm angegriffen worden, doch diesmal nicht nur von plündernden Banden, sondern von wenigstens tausend fremden, schwarzgekleideten Soldaten. Der Kharpon von Zhonma hatte sie erkannt. Es handelte sich um Chaldäer, Kaldis, wie sie sich nannten, deren Reich schon lange von den assyrischen Königen unterworfen worden war. Der große Herrsche r von Babilu schien sie erneut zu Beutezügen ausgesandt zu haben. Obwohl die Lamakrieger tapfer gekämpft hatten, stürmten die Fremden das Kloster und erschlugen alle Bewohner dieses Chintanyin. Da der Burgvogt wußte, daß auch er sterben würde, hatte er zwei seiner Soldaten mit den Leichen unserer gefallenen Brüder in das ferne Tampol-Bo-Ri gesandt. „Sagt dem Hohenpriester des Felsenklosters", waren seine letzten Worte, „daß Bod-Yul in Gefahr ist! Viele Regimenter der assyrischen Krieger sind durch unsere Grenzen gebrochen. Er soll auf seinen geistigen Reisen alle Klöster aufrufen, Lamakrieger, die entbehrlich sind, zur nordwestlichen Grenze zu schicken." Am Nachmittag rief uns der Große Lama zusammen. „Meine Kinder", begann er mit rauher Stimme, „das, was ich befürchtet habe, ist eingetreten. Ein großer, mächtiger Feind ist in unser Land gedrungen, ein Gegner, bekannt für seine Grausamkeit. Seit vielen Jahren berichtet die Priesterin, daß sie auf ihren Geistesflügen ungewöhnliche Unruhe im assyrischen Reich wahrgenommen habe. Seit der neue König, Hadad-Nirari, sein Erbe antrat, veränderte sich dort alles. In den Adern dieses jungen, ehrgeizigen Herrschers fließt von seiner Mutter Seite her chaldäisches Blut, wovon seine assyrischen Soldaten jedoch nichts wissen. Deshalb hat er sich im geheimen eine Leibwache -259-
angeschafft und schickt ganze Regimenter chaldäischer Abstammung auf gefährliche, wilde und blutrünstige Beutezüge, damit das ganze Reich deren Erfolge feiern und er später die chaldäische Herrschaft wieder einsetzen kann. Wir wissen bereits, daß ihm dies nicht gelingen wird, doch wir wissen auch, daß er eines seiner Heere gegen Bod-Yul sandte. Seine Soldaten werden in unser Land einbrechen und Teile verwüsten. Gott züchtigt uns, und viele Brüder werden sterben. Die Assyrer glauben, wir horteten Goldschätze in unseren Klöstern, und außerdem verlocken sie die Geheimnisse Bod-Yuls. Doch die unwegsamen Regionen des Tise und der Gangri-La werden sich als unüberwindliche Barrieren erweisen, und so werden sie mit magerer Beute wieder abziehen. Habt keine Furcht, meine Kinder, denn die Schrecken werden nicht lange dauern, und die Menschen werden sich um so mehr dem Göttlichen zuwenden. Von diesem Tage an werde ich mit meinen eingeweihten Lamas im Geistesfluge alle Klöster Bod-Yuls ersuchen, Soldaten an die Grenze nach Tazik und zum Gebirgszug von Pulimhaditsu zu senden, wo Samding liegt. Bewahrt Haltung und betet für eure Brüder, die heldenhaft in der Klosterburg von Zhonma kämpften. Wir wollen uns alle morgen nachmittag in der Versammlungshalle einfinden, um die sterblichen Überreste unserer tapferen Lamas in ihre Gräber zu geleiten." Wir zerstreuten uns flüsternd und summend wie ein aufgescheuchter Bienenstock und unterhielten uns aufgeregt über die Kriegsnachrichten. Bod-Yul war noch nie von einem ernstzunehmenden Feind angegriffen worden. Die Eroberer aus dem Westen hatten beim Anblick der riesigen, schneebedeckten Berge noch nie Lust verspürt, nach Osten zu marschieren, wenn doch in westlicher Richtung kein Hindernis im Wege stand. In Wirklichkeit hatten wir nie mit solch einem Angriff gerechnet. Lhalu war außerordentlich unruhig. Er sprach kaum mit mir und befand sich stets in Begleitung des Hohenpriesters, um mit ihm die Lage zu besprechen. -260-
Am Nachmittag des folge nden Tages versammelten wir uns im Hof, um an den Bestattungsriten für unsere verstorbenen Brüder teilzunehmen, deren Körper trotz des langen Weges dank des kalten Winterwetters noch nicht verwest waren. Unser Kloster hielt die Körper der Verstorbenen in großer Achtung, tatsächlich verehrte und achtete man sie mehr als die lebenden Menschen. Menschliche Seelen wurden an ihrem Wissen gemessen. Jeder Mensch war den Lamas von Bod-Yul so viel wert, wie er wußte. Durch sein Wissen oder seine Weisheit und durch den heiligen Namen Gottes strebte der Lama danach, seine Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen, um sich die Kräfte der Natur nutzbar zu machen. Ein verstorbener Lama wurde stets in der Felshöhle beigesetzt, die er sich Jahre zuvor selbst erbaut hatte. Genau fünf Jahre vor seinem Tode begann er mit der Arbeit. Ein Lama wußte nie vom Chorten eines Mitbruders. Er erfuhr erst davon, wenn sein Freund starb. Unter den Dingen, die ein Lama seinem Kloster hinterließ, befand sich auch eine grob gezeichnete Skizze, die den Weg zu seinem Grab beschrieb, damit die Eingeweihten wußten, wohin sie den Körper zu bringen hatten. Nie erkundigte sich einer beim anderen nach dessen Grab! Uns war nur ein einziges Grab bekannt, das des Hohenpriesters, doch dieses war ganz anders als die der einfachen Lamas. Er selbst hatte seinen Ruheort nur mit geistigen Augen geschaut, ohne körperlich je dort gewesen zu sein. Es gab viele in Stein gehauene Gräber in den Bergen von Bod-Yul. Diese Chorten waren ungefähr drei Meter lang, einen Meter breit und knapp zwei Meter hoch. In jedem befand sich ein großer Steintisch mit einer Kopfstütze, auf welcher der Kopf des toten Lamas ruhen sollte. Außerdem gab es noch einen Gebetsstuhl, auf dem der Lama während der Bauarbeiten ausruhte und meditierte. Die Tür des Grabes bestand aus einer großen, dicht schließenden Steinplatte, so daß keine Luft eindringen konnte. -261-
Jeder Lama hielt sein Grab sehr sauber und ordentlich. Tatsächlich wirkten die Gräber schöner und behaglicher als die Zellen. Manchmal erhielt ein Lama vom Hohenpriester die Erlaubnis, nachts in seinem Grab zu meditieren, doch dies wurde erst ein Jahr vor dem bevorstehenden Tode gestattet. In die große Steintür wurde der Name des Lamas eingemeißelt. War ein Klosterbewohner verstorben, begann im Chintanyin ein großes Wehklagen. Die alten Lamas wurden durch jedes Begräbnis auf eine harte Probe gestellt, denn bei der Gelegenheit konnten sie sich prüfen, ob Kummer und Tränen von Herzen kamen oder ob sie eine geheime Befriedigung darüber verspürten, daß der freigewordene Platz sie dem Posten des Hohenpriesters näherrückte. Nach dem Tode untersuchte der Hohepriester den Körper des Lamas. Außer der Ichka hatte niemand Erlaubnis, die Zelle des Ichkitsu bei solchen Gelegenheiten zu betreten. Der Hohepriester beschwörte den Geist des Verstorbenen, ein Ritus, der innerhalb von drei Tagen nach der Todesstunde erfolgen mußte. Der Geist kam aus dem Chikai Bardo zurück und teilte dem Hohenpriester den Grund seines Versterbens mit, zudem seinen letzten Willen und Lebenserfahrungen, über die er nie gesprochen hatte, welche er jetzt aber seinem Kloster hinterlassen wollte. All dies notierte die Priesterin in ihre Rollen. Dann stellte der Ichkitsu dem Geist weitere wichtige Fragen. Hatte er zum Beispiel noch moralische Verpflichtungen auf der Erde und wenn, wie konnten diese erfüllt werden? Schließlich fragte er den Verstorbenen, ob sein Geist Ruhe und Frieden in der anderen Welt gefunden habe. Dann bettete er den Nacken des Lamas auf die Kopfstütze und schloß dessen Auge n. Jetzt überreichte die Priesterin dem Ichkitsu einen etwa eine Elle langen Dolch mit einem zweieinhalb Zentimeter dicken goldenen Griff. Damit durchbohrte der Große Lama das Herz des Toten, wobei nie Blut austrat. Dieser seltsame Brauch stammte aus alten Zeiten. -262-
Danach rief der Hohepriester die Lamas zu einem Beerdigungsgebet und Gedenkritual in den Tempel. Drei Tage lang drehten sich die Gebetsmühlen zu Ehren des Verstorbenen. Schließlich bereiteten jene Brüder, die für diese Aufgabe eingeweiht waren, den Körper des Toten auf das Grab vor. Vor dem Begräbnis drängten sich zahlreiche Menschen aus den Tälern im Klosterhof, da bei solchen Gelegenheiten oftmals wunderbare Heilungen geschahen. Die Leiche wurde auf ein rechteckiges Brett gelegt, welches nur diesem Zwecke diente, und in einer langsamen Prozession bis zu dem Ort gebracht, den der Lama vor seinem Tod auf der Karte vermerkt hatte. Nachdem die Gruft gefunden worden war, wurde der Körper auf die Steinplatte gelegt. Die kleine Bronzelampe, die von der Decke herabhing, wurde angezündet, und die Brüder wuschen die Leiche in ihrem glänzenden Schein. Danach wurde der Mantel des Toten zugenäht, so daß es schien, als läge die Leiche in einem Sack, wobei nur der Kopf unbedeckt blieb. Die Lamas wußten stets einige Zeit im voraus, das jemand aus dem Kloster sterben würde, ja, sie wußten sogar, um wen es sich handelte. Die Kunst der Aussendung des Bewußtseins war dem Sterbenden von großem Nutzen, denn oft versenkte er sich Tage vor seinem Tod in den Zustand des Phoimonda. Ein ganzes Jahr lang wurden die Gräber gepflegt. Steine und Unkräuter wurden sorgfältig aus der Umgebung des Chorten entfernt. Dies war schon deshalb notwendig, weil sich der Hohepriester oftmals zur Gruft begab, um den Körper, der mumifizierte und nie verweste, zu untersuchen und um den Toten zu fragen, ob er noch etwas mitzuteilen habe. Die unmittelbare Verständigung mit dem Toten war jedoch nur in den ersten drei Tagen nach dem Tod im Bardo möglich. Danach konnte der Große Lama nur noch auf der geistigen Ebene mittels seiner geistigen Ohren oder durch Visionen mit dem Geist des Toten Kontakt aufnehmen. -263-
Hier stoßen wir auf das große Geheimnis unseres Glaubens! Durch die verstorbenen Brüder rückten wir Gott näher. Als Belohnung für unser heiliges Leben öffnete uns die Weisheit ein kleines Fenster in der unüberwindlichen Mauer, welche die Erde vom Jenseits trennt, wodurch wir viele Dinge aus der feinen Welt erfuhren, die tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Kein Lama fürchtete sich vor dem Tod, da er bis in alle Einzelheiten wußte, was ihn erwartete. Das Begräbnis von Rinchen Lama und Lhokang Lama dauerte drei Tage. In den Amulettbeuteln, die sie um den Hals trugen, fanden wir die Wegbeschreibung zu ihren Gräbern, ein Umstand, der wieder einmal bewies, daß sie bereits vor Jahren, als sie ihre Chorten gebaut hatten, von ihrem heldenhaften Tod gewußt hatten. Der Ichkitsu hatte sie im Bardo nicht befragen können, da sie nicht im Kloster gestorben waren, sondern drei Wochen zuvor in einer fernen Grenzfeste im Westen. Als wir Lhokhang Lama, den wir als ersten beerdigten, in seine Gruft gelegt hatten, hörte ich zum erstenmal, wie der Hohepriester mit einem erhebenden Gebet die Zeremonie beendete. Wir hatten uns im Halbkreis um den Chorten aufgestellt, der Hohepriester und die Priesterin standen in unserer Mitte. Nachdem alle üblichen Gebete gesprochen worden waren, erhob der Hohepriester die Hände und sprach: „Du darfst nicht zulassen, o mächtige Weisheit, daß dein treuer Diener jenen Ort nun für immer verläßt, an dem seine Seele sich schon in diesem Leben von ihrem Körper trennte. Gib ihm die Gnade, daß sein Geist in deiner Welt Frieden finden möge. Erlaube ihm, ab und zu zur Erde zurückzukehren, doch sollte ihn dort Böses anfechten, dann halte es fern von ihm! Da es seiner Seele verwehrt war, am dritten Tage in das Kloster seines Körpers zurückzukehren, gestatte ihm in deiner Gnade, daß sein Geist dennoch zu uns kommen und uns eine möglichst hohe Zahl nennen kann. Verleihe ihm den Gebetszylinder des Jenseits, auf daß er ihn drehe, bis die Zeit gekommen ist, wo er -264-
sein großes Werk vollendet haben wird." Am Nachmittag des Tages nach der Beerdigung studierte ich gerade meine Aufzeichnungen von Lhalu Lamas letztem Vortrag, als mein Führer plötzlich in meine Zelle trat. Ich legte augenblicklich mein Pothi nieder und stand erfreut auf. Mein Meister setzte sich auf die Bettkante und blickte mich eine Weile schweigend an. „Setz dich, Ti- Tonisa", sagte er schließlich mit leiser, müder Stimme, die seine innere Bewegung verriet. „Ich möchte mit dir reden.'' „Ich bereite mich gerade auf deinen Vortrag vor, Aku", antwortete ich und nahm auf dem niedrigen Fußstuhl Platz. „Samding liegt nur wenige Tagereisen von der westlichen Grenze entfernt!" Zuerst war mir nicht klar, was er damit meinte, doch plötzlich verstand ich, und ein dicker Kloß formte sich in meiner Kehle. Die kleine Santemi, der wir beide so sehr verbunden waren, lebte seit vier Jahren im Konvent von Samding. Lhalu hatte sie immer gern gemocht und war von Ferne ihr geistiger Führer geblieben. Seit sie dem Konvent beigetreten war, hatte er jeden ihrer Schritte beobachtet. Er ließ sie nicht mit den anderen Mädchen unterrichten, sondern hatte veranlaßt, daß sie einzeln belehrt wurde, da ihm die Priesterin von Samding berichtet hatte, daß diese kleine Novizin tatsächlich mit außerordentlichen geistigen Gaben bedacht und die erste im Yamgo sei. Erst vor einem Monat hatte mein Meister von ihrer Einweihung erfahren. „Wann immer die Assyrer durch unsere Grenzen gebrochen sind", fuhr Lhalu schleppend fort, „haben sie zuerst die Konvente überfallen. Ich glaube nicht, daß sie sich weiter als ein paar hundert Meilen ins Land wagen werden, denn dort verstellt ihnen eine hoher Gebirgszug den Weg. Doch von Westen her führt eine tiefe Schlucht bis nach Samding." „Aku, was sollen wir tun?" fragte ich, denn der Gedanke, den -265-
er heraufbeschworen hatte, erfüllte mich mit Entsetzen. „Wir können gar nichts tun. Wir müssen warten und beten, daß die Heilige Weisheit diese Gefahr von uns nimmt. Ich habe die gegenwärtige astrologische Position unseres Landes berechnet und mit den Konstellationen am Himmel verglichen. Die Sterne künden von einer großen Gefahr, die jedoch rasch vorüberziehen wird. Gleichzeitig eröffnen sie dem assyrischen Kaldi-Prinzen die Gelegenheit zu einem kurzen Krieg. Doch deswegen bin ich nicht gekommen. Erinnerst du dich noch an das Amulett, das ich Santemi geben ließ?" Und ob ich mich daran erinnerte! Ganz lebendig stand mir die Szene vor Augen, wie ich Tsonkan, dem Schafhirten, den Talisman übergeben hatte. Außerdem dachte ich an meine erste Vision im Kugel-Schauen, wo Namseling Lama Santemi für eine leuchtende Gottheit gehalten hatte, die von einem einfachen Schafhirten ein Geschenk erhielt. Seit damals trug auch ich stolz einen Songdus um den Hals, den mein Meister mir nach dem ersten Unterricht in Medizin überreicht hatte. „Als wir im Chumbi-Tal waren", fuhr er fort, „schrieb ich den Tag von Santemis Geburt auf, um herauszufinden, welchen Glücksstein ich in ihr Amulett fassen sollte. Später machte ich ihr Geburtshoroskop, welches für genau diesen Zeitraum eine starke Gefahr ankündigt. Das heißt, die Himmelskörper sagen eigentlich nur, daß sie in diesem Monat in Gefahr ist, zu verunglücken. Am Tage deiner ersten Feuertrance und auch bei anderen Gelegenheiten hast du seltsame Dinge erblickt. Ich erinnere mich, daß du dem Hohenpriester davon berichtet hast. Was hast du damals genau gesehen?" Ich erinnerte mich tatsächlich daran, bei meinen seltenen Verzückungen merkwürdige Visionen geschaut zu haben. Ich sah brennende Dörfer und rennende Soldaten, doch jetzt, wo er mich so direkt danach fragte, war mein Geist wie abgestorben. Mir fielen keine Einzelheiten ein, so sehr ich mir das Gehirn zermarterte. -266-
„Ich kann mich nicht erinnern", erwiderte ich errötend, „sei mir nicht böse, mein Meister. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, da ich mich doch sonst so genau auf alles besinnen kann!" „Nimm es nicht tragisch", sagte er mit einer beschwichtigenden Handbewegung. „Vielleicht fällt es dir später wieder ein. Es mag der Wille des Himmels sein, daß die Zukunft unbekannt bleibt, damit wir nicht davor erschrecken. Wenn die Heilige Weisheit so befunden hat", fügte er hinzu als spreche er zu sich selbst, „dann soll Ihr Wille geschehen. Dich bitte ich, Ti- Tonisa, daß du in diesen Tagen auf Eingebungen oder bedeutungsvolle Träume achtest. Ich denke, wir müssen noch ein paar Wochen abwarten wie sich die Dinge entwickeln. Komm jetzt mit mir in die große Halle, Arau, denn ich muß meinen Unterricht beginnen." Ich klemmte mir die Papyrusrolle unter den Arm und eilte hinter ihm her. Die Zuhörer hatten sich bereits im Chang versammelt, und ich setzte mich dazu. Den Vortrag, den uns Lhalu damals hielt, werde ich mein Lebtag nie vergessen, und ich glaube, daß es meinen Mitbrüdern ebenso ging, sprach er doch über etwas, was die Menschen dieser Welt am meisten fürchten - den Tod! Er hielt keine gewöhnliche Unterrichtsstunde. Da ich gerade mit ihm zusammengewesen war, wußte ich, daß jedes Wort seinen gegenwärtigen Geisteszustand spiegelte. „Liebe Brüder", begann er, „im Laufe der letzten Jahre habt ihr euch mit dem Aufbau und der Funktion des menschlichen Körpers vertraut gemacht. In unseren Sezierstunden erhieltet ihr Einsicht in die Geheimnisse dieses Meisterwerkes der Großen Weisheit. Ihr habt gelernt, daß die Hauptursachen für Krankheiten in der Seele zu finden sind, denn wenn die Seele unstet ist oder sündigt, wird der Körper krank. Die geistige Behandlung der Seele, der Große Magnetismus, ist ebenso wie die Wissenschaft der Heilung durch Kräuter kein Geheimnis mehr für euch. Deshalb möchte ich heute über etwas sprechen, -267-
wovon ihr bis jetzt noch nichts gehört habt. Ich spreche über den Augenblick des Todes, der in der Vorstellung der meisten Menschen als ewiges, furchtbares Geheimnis lebt. Was geschieht in jenem heiligen Moment, in dem der irdische Körper stirbt und die Seele in einen neuen Zustand hineingeboren wird? Ist das Sterben wirklich so furchtbar wie es oft scheint, und erleidet die menschliche Hülle an der Schwelle des Verfalls wirklich furchtbare Schmerzen und Qualen? Eigentlich wollte ich erst später, am Ende dieses Schuljahres, darüber reden, doch die veränderten Umstände haben mich bewogen, dies jetzt zu tun. Sturmwolken ballen sich am Himmel von Bod-Yul, denn der Feind ist in unser Land eingefallen. Selbst wenn man an ein Leben nach dem Tode glaubt, schreckt man unwillkürlich vor dem Gedanken an denselben zurück, weil man denkt, daß er einer schmerzhaften, schlimmen Operation gleicht. Doch seit Attalan, die fruchtbare Welt versank, erlangten die Eingeweihten nach dem Willen der Heiligen Weisheit die Gnade, unmittelbaren Kontakt mit der Feinen Welt aufnehmen zu können. Die Geister der verstorbenen Lamas kehren aus dem Bardo zurück und berichten dem Hohenpriester alles über die unterschiedlichen Phasen des Todes. Hört deshalb aufmerksam zu und laßt euch durch meine Worte stärken, damit keiner von euch sich ängstigt, wenn das Ende unerbittlich vor der Türe steht." Seine klangvolle Stimme tönte in unseren Ohren wie die Glocken im Chang. Wir vergaßen uns, so aufmerksam lauschten wir seinen Worten. Lhalu war außer dem Hohenpriester der einzige im Kloster, der so flüssig und hinreißend sprach. „Die verstorbenen Lamas berichten, daß der Sterbende seltsame Empfindungen hat, wenn die Seele den Körper verläßt. Kurze Zeit sieht er alles sehr deutlich, doch so klein, als sei es Spielzeug. Er fühlt, daß sich der Körper in großer Aufregung befindet, weil die Seele ihn verlassen will. Dieser Vorgang an sich ruft noch kein Fieber hervor. Fieber entsteht erst durch die -268-
Arzneien, die der Arzt dem Patienten verordnet. Diese Kräuter, Tränke und mineralischen Zubereitungen sind die Feinde der Seele, da sie aus vergänglichen Stoffen bestehen. Da sich die Seele hiervon befreien möchte, erzeugt der Körper Fieber und daher rühren die Schmerzen. Deshalb dürfen wir einem Sterbenden keine schmerzlindernden Substanzen oder Arzneien verabreichen, denn damit verzögern wir das ,Hinaustreten' der Seele und verursachen unnötiges Leid. Das Gehirn, die Antriebskraft der Seele, nimmt, wie ich schon sagte, alles sehr genau wahr. Es erkennt die Menschen am Sterbebett und kann sogar deren Gedanken lesen, ist jedoch nicht fähig, zu antworten. Im Körper spielt sich ein vielschichtiger Prozeß ab. Schmerzen werden nur solange empfunden, bis das Gehirn in einen ruhigen, hellsichtigen Zustand gleitet. Aus diesem Grunde wissen Sterbende immer, was ihnen guttun und was sie heilen könnte. Plötzlich weiten sich die Poren der Haut, um sich gleich wieder zusammenzuziehen. Auch die Füße machen eine merkwürdige Veränderung durch. Ihr wißt, daß Füße und Beine zuerst kalt werden, doch warum? Weil der Geist und seine Hülle, die Seele, sich in das Gehirn zurückziehen. Das bedeutet, daß der Kopf und nicht das Herz - die tierische Wärme am längsten hält. Und im Kopf ist es der verlängerte hinterste Teil des Gehirns, welcher am längsten belebt bleibt. Der Tod ist nicht schmerzhaft, Brüder! Der Körper sinkt in eine letzte Entspannung, und seine krampfartigen Bewegungen sind nur mechanische Symptome. Im Augenblick des Sterbens verliert jeder Mensch das Bewußtsein. Er erinnert sich genauso wenig an diesen Moment wie an den Augenblick seiner Geburt. Es ist möglich, daß viele kranke oder sterbende Menschen länger im Zustand der Gefühllosigkeit verweilen, was jedoch nicht unbedingt gleichbedeutend mit Bewußtlosigkeit ist. Es mag euch so scheinen, doch denkt daran, daß diese Sterbenden denken können und daß ihnen das Handeln nur durch die -269-
dumpfe Betäubung und die Bewegungslosigkeit verwehrt ist. Im Augenblick des Todes ist das Gehirn aus dem einfachen Grunde gedankenleer, weil es bereits bewußtlos ist. Selbst wenn der Körper nach dem unmittelbaren Austritt der Seele krampfartige Bewegungen ausführt, lösen diese keine Empfindungen mehr aus, da sich die Seele bereits entfernt hat. Sie tritt senkrecht durch den Kopf aus - ein Seher würde wahrnehmen, daß das Gehirn dabei leuchtet - und hält dann eine Weile meditierend vor ihrem Körper inne. Sie hat dieselbe Form und dieselbe Farbe wie einst ihr Körper, weshalb der Tote genauso aussieht wie der Sterbende. In dem Augenblick, wo sich die Seele vom Körper trennt, untersteht sie bereits den Gesetzen der geistigen Welt und lebt dementsprechend. Nach ihrer Befreiung vom Körper geht sie, wie ihr wißt, zuerst in den Chikai Bardo und dann in den Chonyid Bardo. Ruft die Seele eines Verstorbenen nie hastig zurück und haltet sie nicht durch Weinen und Klagen auf der Erde fest. Wenn die Hohen Führer zustimmen, kann die Seele den Lebenden erscheinen, um sie zu belehren, doch sie folgt dabei stets den Gesetzen der Feinen Welt. Uns, in Bod-Yul, wurde die Gnade zuteil, mit den Geistern zu sprechen, da wir nie die Rückkehr des Körpers, sondern der Seele begehrten." Er hielt einen Augenblick inne und ließ den Blick über uns schweifen. „Der Körper spürt also nur solange Schmerzen, wie er von der Seele belebt wird. Nicht jeder Körper leidet, obwohl die Seele bei allen Menschen gleich austritt. Das Leid vor dem Tod betrifft vor allem sündige, gottlose Menschen, die nicht an die Unsterblichkeit glauben und sich an den Körper klammern. Bei diesem erbitterten Kampf hat die Seele die größte Mühe, sich von ihrer irdischen Hülle zu befreien, und das verursacht dem Körper Schmerzen. Zuweilen leidet jedoch auch die Seele, wenn sie nicht rein genug und erdgebunden ist. Gott läßt dies Leid nur deshalb zu, weil die Seele dadurch lernt, das Jenseits zu -270-
würdigen. Vielen Menschen erscheinen im Augenblick ihres Todes ihre Khilkors, die unglücklichen Geschöpfe, die sie durch ihre eigenen schlechten Gedanken, durch den dunklen Anteil ihres Selbst schufen. Der Schrecken, den sie dann verspüren, läßt die Seele unsäglich leiden. Doch in diesem Augenblick durchtrennen die weißgekleideten Boten der Herren des Arva sanft die silberne Schnur. Hat die Seele den Körper verlassen, wird sie auf der anderen Seite von alten Freunden und Verwandten begrüßt, mit denen sie einst auf der Erde zusammenlebte. Sie begegnet außerdem den Geistführern der Freunde, die auf der Erde zurückgeblieben sind. Unsere verstorbenen Hohenpriester und Mitbrüder steuern von der Feinen Welt aus zusammen mit unseren Geistführern das Leben der Klöster auf der Erde. Der neugeborene Geist wird augenblicklich in seine Bruderschaft aufgenommen. Jene, die als einfache Lamas in Bod-Yul starben, finden ihre Heimat gewöhnlich im Vierten Ring. Deshalb berichten die Seelen dem Hohenpriester von ihrer Stellung in der Anderen Welt, wenn sie nach drei Tagen des Bardo aus freien Stücken zurückkehren, damit die Priesterin diese notieren kann. Das Zeichen für die Lamas des Vierten Himmlischen Rings ist V4B. ,V' bedeutet, daß sie aus einem Lamakloster stammen, die Zahl den Ring, in dem sich ihre geistige Kraft offenbart, während ,B' bedeutet, daß sie auf der Erde als Meister, Lehrer oder Führer gearbeitet haben. Ich möchte noch etwas anfügen. Nur sehr selten wird die Seele unmittelbar nach ihrem Tode auf der Erde wiedergeboren. Diese irrige Annahme wird von den Bewohnern der Täler, dem einfachen Volke verbreitet, da dieses nicht weiß, daß die Notwendigkeit der Wiedergeburt auf dem Vierten Ring nicht mehr besteht. Von dort inkarniert sich ein Geist nur aus freien Stücken. Selbst auf dem Dritten Ring, der noch unter Akhor fällt, werden die Seelen erst nach zwanzig, fünfzig, hundert oder dreihundert Jahren wiedergeboren, ganz nach ihrem -271-
Entwicklungsstand und ihrem Willen, sich zu bessern. Ich wiederhole: Es geschieht äußerst selten, daß sich eine Seele, die der Reinigung bedarf, gleich wieder auf der Erde verkörpert. Unsere Prophezeiung sagt, daß sich dieser Aberglaube erst in vielen tausend Jahren, in der Zeit des Niedergangs in Bod-Yul verbreiten wird. Denn dann wird es viele Glaubensrichtungen geben, und die Menschen der Welt werden sich dergestalt miteinander vermischt haben, daß niemand mehr in der Lage sein wird zu sagen, welche Religion richtig ist und allein im Dienste des Geistes steht. Deshalb wird Gott den dann lebenden Eingeweihten die Gnade verleihen, mit ihren Schutzgeistern sprechen zu können, deren weiser Rat ihnen bei der Erlösung helfen wird. Vielleicht werden auch wir in jener fernen Zeit wieder auf der Erde weilen", fügte er mit immer leiser werdender Stimme hinzu, als spräche er zu sich selbst. „Heute mögen wir das Zeichen V4B wohl noch verdienen, liebe Brüder. Doch wer weiß, ob wir nicht morgen über eine Kleinigkeit stolpern, worauf uns unser Hohenpriester ja gerade erst hingewiesen hat. Seid deshalb unablässig auf der Hut und setzt eure Schritte sorgsam, doch fürchtet euch nicht vor dem Tod, denn er schmerzt nicht! Fürchtet euch vielmehr vor den Begierden des Körpers, vor der Sünde und vor den Fallen, die Pholha, der Versucher zu eurer Linken euch stellt! Möge der Allerhöchste euch segnen und euch die Stärke geben, nach der höchsten Tugend auf Erden zu leben, welche euch he lfen wird, alle Hindernisse zu überwinden, jener Tugend, die mit den einfachen Worten umschrieben werden kann: Seid gehorsam wie die Kinder!" Lhalu Lama! Dein gesegneter Name klingt noch heute in meinen Ohren. Wie vermochtest du unsere Herzen in jener Nacht zu beruhigen! Von diesem Augenblick an fürchtete ich mich nie mehr vor dem Tod, und als ich an dieser Nacht zu Bett ging, bat ich die Heilige Weisheit, dich immer so stark und fest -272-
zu erhalten wie jene Felsen, auf denen unser Kloster stand, damit dein Geist die höchste Zahl melden kann, wenn er nach deinem Tode zu uns zurückkehrt.
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Kapitel 14 Drei Wochen waren seit der Bestattung von Rinchen und Lhokang Lama vergangen, und der Hohepriester erhielt immer beunruhigendere Nachrichten aus dem nordwestlichen Grenzland. Die chaldäischen Soldaten des assyrischen Herrschers Hadad-Nirari zogen durch das nördliche Gyagar und drangen immer tiefer in Bod-Yul ein. Der Große Lama und Lhalu beobachteten die Ereignisse während ihrer täglichen Geistesflüge, und unser Hoherpriester hatte neben zwei älteren Lamas auch mir befohlen, mich in Phoimonda-Trance zu begeben, womit er mich außerordentlich auszeichnete. Ich hatte mich im Laufe der Jahre im geistigen Reisen derart hervorgetan, daß Lhalu mich den jungen Eingeweihten als Vorbild hinstellte, wofür ich mich noch heute schäme. Lob hat mich nie gefreut. Am liebsten hätte ich mich jedesmal in einer Ecke versteckt, denn ich wußte, daß ich meine raschen Fortschritte nicht eigenen Anstrengungen, sondern meinen angeborenen Fähigkeiten zu verdanken hatte. Trotzdem erfüllte mich die Wahl des Ichkitsu mit Freude, zeigte sie mir doch, daß er mich für würdig hielt, dem Kloster zu dienen. Doch nicht nur durch die geistigen Reisen erhielt der Hohepriester Nachrichten über den Vormarsch der Kaldis. Man konnte die Ereignisse, die uns von den Klöstern zwischen Tampol- Bo-Ri und der Grenze übermittelt wurden, bereits in der Metallkugel im Tempel sehen. Wir erfuhren, daß die assyrischen Soldaten in ihren schwarzen Kettenhemden und die angeworbene n Bogenschützen aus Tazik sechs Klosterfesten entlang der nordwestlichen Grenze verwüstet hatten und daß sie gut zweihundert Meilen nach Bod-Yul eingedrungen waren. Auf ihren Beutezügen brandschatzten sie alle Dörfer und erschlugen die Bewohner. Doch die schrecklichste Nachricht war, daß sie drei Konvente an der westlichen Grenze überfallen und die -274-
Jungfrauen geraubt hatten. Die letzten Gerächte besagten, daß der Feind durch die tiefe Schlucht vor Samding marschierte. Das Klosterleben hatte sich verändert. Wenn wir unsere täglichen Gebete verrichtet hatten, glichen die Mönche einem aufgescheuchten Bienenvolk. Die Lamas versammelten sich in kleinen Gruppen in den Klassenräumen und im Hof und besprachen aufgeregt die Kriegsnachrichten. Die Lamakrieger aus Tampol-Bo-Ri waren mit den von Osten kommenden Truppen schon lange gen Westen abgezogen. Nur eine Kompanie war im Felsenkloster geblieben, damit die Soldaten im Falle einer Gefahr die Schwerter erheben und unser Kloster verteidigen konnten. Für diesen Notfall hatten uns der Hohepriesters bereits jetzt freigestellt. So gingen wir nicht wie gewöhnlich auf Kräutersuche, sondern halfen den Lamakriegern dabei, große Flaschenzüge im Hof aufzustellen, mit deren Hilfe dicke Steine und Felsblöcke vom Berghang emporgewuc htet wurden. Diese Steine banden wir an Seile, welche oben an den Mauern befestigt wurden. Die Krieger meinten, daß jedem die Lust verginge, das Hauptkloster Tampol-Bo-Ri anzugreifen, wenn diese Geschosse von der Mauer herabgeschleudert würden. Gleichzeitig beruhigten sie uns, daß wir nicht ausgehungert werden könnten, da die unüberwindlichen Berge der KangchenGruppe mit ihren schmalen Pfaden verhinderten, daß der Feind seine eigene Ernährung sicherstellte. Unsere Pläne bezogen sich auf den schlimmstmöglichen Fall, da sich das Felsenkloster in einem so versteckten, unwegbaren Teil von Bod-Yul befand, daß der Feind wohl kaum hoffen durfte, so weit vorzudringen. Am nächsten Nachmittag trafen immer neue Truppen aus den östlichen Klöstern im Felsenkloster ein. Ich stand draußen und unterhielt mich mit ihren Anführern, als mein Meister plötzlich aus der Priestertür auf den Hof hinausstürzte und sich auf dem Garba umschaute, als suche er jemanden. Augenblicklich verließ ich die Soldaten und eilte zu ihm. -275-
„Ich habe dich gesucht, Ti-Tonisa!" An seiner Stimme hörte ich, daß irgend etwas Schlimmes oder Unerwartetes geschehen sein mußte. „Gibt es schlechte Nachrichten, Meister?" „Laß uns sofort in deine Zelle gehen! Es ist etwas Schreckliches geschehen!" Seine Schritte klangen schwer und nicht so behende wie sonst, als er neben mir hereilte. Selbst sein Gesicht schien blasser als gewöhnlich. Sobald wir auf meinem Steinbett Platz genommen hatten, begann er: „Was hast du gestern bei deinem Phoimonda gesehen? Unser Hoherpriester läßt dir sagen, daß du mir und nicht ihm darüber Bericht erstatten sollst. Beeil dich, denn die Zeit drängt!" „Auf Befehl des Großen Lama ließ ich meinen Geist so weit nach Westen ziehen, bis ich auf fremde Soldaten stieß. Ich sollte Zeit und Ort der Begegnung festhalten und diese Informationen beim nachmittäglichen Treffen mitteilen." „Und was hast du gesehen, Ti-Tonisa?" drängte er. „Ich ging im Geiste auf der Karawanenroute, das heißt, mein Geist flog darüber hinweg. Zuerst sah ich keine Feinde in Samding, doch als mein Geist weiter nach Westen flog, erspähte ich Rauchsäulen am Horizont und brennende, vom Feind geplünderte Dörfer." „Wie weit sind sie von Samding entfernt?" „Vielleicht zwei Tagereisen", antwortete ich verzagt, denn bei dieser traurigen Botschaft war mir, als träfe mich ein Dolchstoß mitten ins Herz, und ich wußte, daß es Lhalu ebenso erging. „Das ist alles, was ich wissen wollte, Arau. Hör mir jetzt zu! Auch ich habe in der letzten Nacht auf Befehl des Ichkitsu meinen Geist ausgesandt, also einen Tag später als du. Die Kaldis haben ihr Lager bereits unter den Mauern des Klosters aufgeschlagen und bereiten sich auf den Angriff vor. Sie müssen -276-
erfahren haben, daß Samding das beste Yamgo von Bod-Yul ist. und jetzt lechzen sie nach Beute. Vielleicht weißt du, Ti-Tonisa, daß auch mein Vater und mein achtzehn Jahre alter Bruder in diesem Landstrich wohnen. Sie sind Bauern in einem kleinen Dorf namens Magal, ein paar Meilen südlich von Samding." Ich hatte meinen Meister immer hoch geschätzt, doch jetzt bewunderte ich seine erstaunliche Selbstbeherrschung ganz besonders. Jeder andere Mensch hätte sich bei diesen Schreckensmeldungen erregt, seine Stimme jedoch wurde immer ruhiger. „Meister! Was wird mit der kleinen Santemi geschehen?" „Bereite dich auf eine große Reise vor, Ti-Tonisa! Mit Erlaubnis unseres Hohenpriesters werden wir heute nachmittag aufbrechen. Als ich ihm von der Gefahr berichtete, die unseren besten Konvent bedroht, befahl er mir, mich augenblicklich auf den Weg zu machen, um zu retten, was zu retten ist. Und du wirst mich begleiten." Vor Freude und Überraschung fehlten mir eine Weile lang die Worte. Dann dämmerten mir plötzlich die Gefährlichkeit und Hoffnungslosigkeit unseres Unternehmens, und dennoch waren es seltsamerweise Freude und Begeisterung, die überwogen. Selbst der Tod war hundertmal besser, als hier hilflos herumzusitzen und immer neue, beunruhigende Gerüchte zu hören. „Wie viele von uns werden dies gewagte Abenteuer unternehmen? Werden uns Soldaten begleiten?" „Du und ich, das sind zwei, nicht wahr?" antwortete Lhalu zu meinem größten Erstaunen. „In Wahrheit habe ich keine Ahnung, wie wir die Sache angehen sollen und ob wir überhaupt helfen können. Doch müssen wir gehen, und zudem ohne Soldaten, denn wir sind keine Kämpfer, sondern Priester. Deshalb dürfen wir weder Waffen noch Bewaffnete mit uns nehmen, denn das widerspricht unserem Gelübde. Vergiß nicht, -277-
daß wir das Leben unserer Mitmenschen selbst in größter Gefahr schonen müssen. Wir können nur auf die Hilfe der Heiligen Weisheit vertrauen. Mach dich bereit und schütze dich mit Pelzmantel und Pelzmütze vor der Kälte. Die Trapas sollen einen Sack mit Nahrungsmitteln für vier Wochen und ein Zelt auf zwei Maultiere packen und die Tiere am frühen Nachmittag im Garba bereitstellen." An diesem Nachmittag verließen zwei einsame Wanderer mit ihren Maultieren den Hof des Felsenklosters. Lhalu blieb an der Wegkreuzung stehen und sprach das Gebet der Reisenden, welches die Bewohner Bod-Yuls vor gefahrvollen Unternehmungen rezitieren: „Große Weisheit, sei du unser Begleiter und Ratgeber. Gib uns die Fähigkeit, in die Seelen der Fremden zu schauen, damit sie uns nicht schaden. Sollten Gefahren auf dem Wege lauern, laß sie uns im voraus wissen, damit wir sicher an unser Ziel gelange n." Ohne unser Zelt aufzuschlagen, stiegen wir die ganze Nacht hindurch den Berg hinab. Erst im Morgengrauen lag der Aufstieg vor uns, doch wir waren nicht müde. Wir sprachen sehr wenig. Mein Meister äußerte sich nur selten, und auch ich war tief in meine Gedanken versunken. So vergingen die Tage. Wir verbrachten die Nächte in Dörfern oder Höhlen, doch bei Tage wanderten wir ohne Rast. Nach einem zweiwöchigen harten Marsch hatten wir etwa die Hälfte des Weges zwischen TampolBo-Ri und Samding zurückgelegt, als wir auf die ersten Flüchtlinge stießen. Es handelte sich um einfaches Volk, Frauen, Kinder und Bergbewohner, die ihre Maultiere bis zum Zusammenbruch mit ihren dürftigen Habseligkeiten beladen hatten. Ich war noch nie in den nordwestlichen Bergen unterwegs gewesen, doch angesichts der abweisenden, himmelsstürmenden Gipfeln und der fast unpassierbaren gewundenen Pfaden konnte ich mir kaum vorstellen, daß der Feind eine Chance hatte, so weit vorzudringen. Wir kletterten durch eine zwei Meilen lange Schluc ht, in welcher der Weg -278-
kaum eine Elle breit war, weshalb wir uns und die Maultiere mit langen Seilen aneinanderbanden und uns unter Lebensgefahr an der Felswand entlangtasteten. Am folgenden Tage trafen wir erneut auf Flüchtlinge, darunter auf zwei verwund ete Trapas, die aus der Umgebung von Samding stammten. Sie sagten uns, daß die chaldäischen Soldaten das Yamgo bereits seit einer Woche belagerten. Es sei ihnen jedoch noch nicht gelungen, dieses einzunehmen, obwohl die Verteidiger nichts anderes getan hatten, als das Tor des Kharlam mit gewaltigen Steinbrocken zu blockieren. Wenn einige Feinde es schafften, die steilen Wälle hinaufzuklettern, wurden sie von den Lamakriegern einfach wieder hinabgestoßen. Die Trapas berichteten außerdem, daß unglücklicherweise nur wenige Lamakrieger Samding verteidigten. Sollte es den Belagerern gelingen, diese einen nach dem anderen mit ihren Pfeilen zu erschießen, würde sie letztendlich nichts daran hindern können, die Wände zu erklettern und den Konvent zu stürmen. Nach dieser bedrückenden Nachricht trieben wir unsere müden Maultiere zu noch größerer Eile an und schliefen nachts kaum mehr als fünf Stunden. Wir trafen nur noch vereinzelt auf Flüchtlinge, und an den letzten beiden Tagen begegnete uns niemand mehr. Unser Pfad hatte lange steil bergauf geführt, und nach einer großen Biegung sahen wir am Morgen des zwanzigsten Tages die schneebedeckten Gipfel des Tise, unter welchen sich die grauen Mauern des Konvents von Samding erhoben. Der Weg stieg hier wieder sehr steil an und führte fast senkrecht zum Gipfel empor. „Sollte Samding gerettet werden", keuchte Lhalu außer Atem, „wird der Feind nicht weiter vordringen. Diese Pfade sind unpassierbar für eine Armee. In alten Zeiten verliefen sich alle Einfälle von außen weit vor Samding. Wir sollten uns beeilen, Ti-Tonisa, ich habe böse Vorahnungen. Mir gefällt diese Stille nicht, und auch die Landschaft wirkt trostlos." -279-
Meine Lungen arbeiteten schwer, ich rang nach Luft und mußte eine Weile rasten. Ich bewunderte die Zähigkeit meines Führers, der nur dank seines eisernen Willens durchhielt. Wir kletterten bis in die Nacht einen Pfad empor, der sich bis zum Himmel zu heben schien, und legten so an einem Tage zwei Tagesreisen zurück. Schon standen wir auf einem hohen Sockel, und kaum fünfhundert Schritte vor uns ragten die Mauern des Yamgo auf. Da sich der Eingang auf der westlichen Seite befand, mußten wir um den Kharlam herumgehen. Es herrschte eine tödliche Stille. Angespannt spähte ich nach rechts und links, weil ich wußte, daß der Feind nicht fern sein und uns ohne Vorwarnung überfallen konnte. Als wir die westliche Seite des Sockels erreicht hatten, blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich riß so stark am Halfter meines Maultieres, daß das arme Tier entrüstet schnaubte. Lhalu starrte mit weit aufgerissenen Augen um sich. Der breite Sims vor dem großen steinernen Tor war übersät von den Leichen der Lamakrieger. Rechts sah ich einen blutverschmierten Körper ohne Kopf, der zwischen den Leibern zweier assyrischer Soldaten in langen Gewändern lag. Die Barrikade vor dem Tor war zusammengebrochen, und überall verstreut lagen große Felsbrocken umher. Lhalu schaute mich an. „Sei stark", flüsterte er mit brennenden Augen. Er band sein Maultier an einen Pflock neben dem Tor, stieg über die Toten und ging schleppenden Schrittes in den Hof. Ich eilte an seine Seite, doch der Anblick, der mich dort empfing, erregte mich so, daß ich mich an eine Wand lehnen mußte. Niemals zuvor in meinem jungen Leben hatte ich die erbarmungslosen Spuren von Tod und Verfall in ihrer nackten Wirklichkeit gesehen. Ein Brechreiz würgte meine Kehle, und wenn Lhalu nicht dagewesen wäre, wäre ich davongelaufen. Im großen Hof herrschte Stille. Die Feinde waren abgezogen, es gab nur noch Leichen. Fünfzehn bis zwanzig assyrische Krieger lagen erschlagen oder erschossen zu beiden Seiten der -280-
Empfangshalle. In der Mitte des Garba, neben der Quelle, lagen die verstümmelten Leichen von Lamakriegern. Doch der furchtbarste Anblick waren vier unschuldige junge Priesterinnen, die mit unnatürlich verzerrten Gliedern und blutverschmiertem Haar gegen die Mauer lehnten. „Zu spät", flüsterte Lhalu, „zu spät!" In seinen Augen glitzerten Tränen. Er stand mit hängenden Armen mitten auf dem Klosterhof, die aufrechte Gestalt leicht gebeugt. Doch gleich riß er sich wieder hoch. „Wir müssen das Kloster durchsuchen, Arau. Es ist unsere Pflicht, dem Hohenpriester zu berichten, was wir gesehen haben." Die Bilder, die uns in den Innenräumen des Konvents empfingen, glichen einem Alptraum. Da die Soldaten in den kahlen Zellen nichts fanden, hatten sie in ihrer blinden Wut die Einrichtung des Tempels in Stücke geschlagen. Die Priesterin des Konvents und ihr Hoherpriester saßen bewegungslos auf dem Zwillingsthron im großen Chang. Die Priesterin hatte die Augen geschlossen, und ihre Züge waren in einem seligen Lächeln gefroren, während der Große Lama mit streng gerunzelter Stirn dasaß, die Augen in Todesstarre ins Nichts gerichtet. Aus ihren Herzen ragten die Enden gefiederter Pfeile, die man in den Falten ihrer prächtigen Gewänder kaum wahrnehmen konnte. Als alles verloren war, hatten sie sich wohl in die Versammlungshalle zurückgezogen, um auf dem Zwillingsthron majestätisch das unweigerliche Ende zu erwarten. Lhalu erstarrte einen Augenblick, dann warf er sich vor dem Thron zu Boden. Ich fiel auf die Knie und begann zu beten. „Laß uns gehen, Arau", sagte er mit belegter Stimme und stand auf. „Dies ist ein Konvent der Geister. Wir haben hier nichts mehr verloren." Mit müden Schritten gingen wir durch die große Halle. Wir -281-
durchsuchten die Zellen im ersten Stock und im Erdgeschoß, doch wir fanden keine lebende Seele. Als wir den Klosterhof überquerten, hielt mein Meister vor den blutverschmierten Leichen der kleinen Mädchen an, die an der Mauer lehnten. Prüfend blickte er noch einmal in ihre Gesichter, dann seufzte er und sagte: „Sie ist nicht dabei." Ich gab keine Antwort. Was sollte ich sagen? Zum erstenmal in meinem Leben spürte ich, daß die Sorge um das Leben eines geliebten Menschen furchtbarer ist, als eigene geistige oder körperliche Schmerzen. Wir banden unsere Maultiere los, und Lhalu deutete auf einen felsigen Pfad, der nach Süden führte. Jetzt sprach er ihren Namen zum erstenmal aus. „Santemi ist verschleppt worden, genau wie ihre zweihundert Gefährtinnen. Den Spuren nach zu urteilen, haben sich die plündernden Horden nach Magal zurückgezogen, in mein Dorf. Es gefällt der Allmächtigen Weisheit, Ihren treuen Diener Lhalu das Gewicht Ihrer Hand spüren zu lassen. Ihr heiliger Wille soll geschehen. Komm, Ti- Tonisa, wir wollen sehen, welche Art von Kummer das Schicksal noch für uns bereithält." Mit müden Schritten stolperten wir den Pfad entlang, der nach Süden führte. Bis jetzt hatten wir nur Tod und Verwüstung angetroffen, jedoch nicht unsere Feinde. Lhalus Geburtsort lag kaum fünf Meilen von Samding entfernt, und der Weg vom Kloster führte direkt zum Dorf. Nach einer Felswand tauchte das Tal gegen Mittag plötzlich unter uns zwischen den Wolken auf. Ich ging voraus, führte die Maultiere und achtete auf jeden Schritt, um auf dem steilen Weg nicht zu stolpern, doch jetzt blieb ich stehen und schaute meinen Führer besorgt an. Unten im Tal hatte ich einzelne Hütten ausgemacht, doch der Qualm, der in dicken Säulen aufstieg, stammte nicht aus Rauchabzügen. „Das Dorf brennt!" rief Lhalu und blieb stehen. „O Gott, welch andere Prüfungen mögen uns dort erwarten! Beeil dich, -282-
Freund!" In fieberhafter Eile stolperten und rutschten wir den steinigen Pfad hinab, so daß die Maultiere uns kaum zu folgen vermochten. Als wir das Tal erreichten, empfing uns ein wüster Anblick. Die kleine Ansiedlung, in der Bauern und Tierzüchter gelebt hatten, brannte wie ein Heustock. Wir blieben stehen, unfähig weiterzugehen. Die rasche Folge von Schicksalsschlägen schien unsere verbliebene Kraft aufzubrauchen. „Meister!" schrie ich plötzlich. „Sieh doch! Schwarze Schatten zwischen den Flammen! Der Feind ist noch im Dorf!" Lhalu ging wie ein Schlafwandler, ohne meine Worte zu beachten, auf das erste Haus des Dorfes zu, und ich folgte ihm mit klopfendem Herzen. Die Maultiere schnaubten und scheuten vor dem Geruch des Brandes zurück. „Das ist mein Elternhaus", rief Lhalu und deutete auf ein Steingebäude am Rande des Dorfes, auf dessen verkohltem Dach die Balken noch glommen. Felder, Gärten und Ställe lagen verwüstet, die Schafpferche waren geöffnet. Ohne die Gefahr zu beachten, band Lhalu sein Maultier an einen Baum und stürzte ins Haus. Als ich ihm folgte, fand ich ihn auf dem Boden liegend vor der Leiche eines grauhaarigen alten Mannes. Dies war das erstemal, daß ich meinen Meister weinen sah. Plötzlich bewegte sich etwas in der Ecke. Ich drehte mich um, bereit zum Sprung, denn ich hatte mir vorgenommen, das Leben meines Meisters notfalls mit meinem eigenen Leben zu verteidigen. Doch es war nur der zitternde alte Diener. „Herr!" rief er mit bebender Stimme. „Herr!" Er warf sich vor Lhalu auf den Boden und küßte den Saum seines Gewandes. „Changpo!" flüsterte mein Meister, hob sein tränenüberströmtes Gesicht und streichelte den Rücken des alten Mannes. „Changpo! Was ist geschehen? Wie starb mein Vater? -283-
Und wo ist mein Bruder, Gonisa?" „Mein Herr! Dem Himmel sei Dank, daß ihr endlich da seid! Gesegnet sei der Name der Großen Weisheit! Euer Vater wurde von den Assur-pas ermordet. Ich zog den Pfeil aus seiner Brust. Ich wollte ihn verteidigen, doch sie schlugen mich nieder und warfen mich in die Ecke. Euer Bruder Gonisa schlief. Sie überfielen uns früh am Morgen, kurz nach der Dämmerung. Sie bemerkten seinen kräftigen Körper, befühlten Arme und Beine, dann fesselten sie ihn auf Befehl ihres Hauptmanns und führten ihn weg. Er konnte sich nicht wehren, da wir im Schlaf überrascht wurden. Sie trieben viele Gefangene vor sich her, hauptsächlich Frauen. Jetzt sind sie am anderen Ende des Dorfes und plündern dort die Häuser, doch der größte Teil der Truppen hat sich bereits nach Süden zurückgezogen." Er stieß alles in einem einzigen Redeschwall hervor und begann dann zu weinen. Lhalu kniete vor der Leiche seines Vaters und betete, als habe er nicht zugehört. Ich stand noch immer bei der Tür und wollte gerade zu meinem Meister gehen, um ihn zu trösten, als vor mir auf dem Boden ein Schatten auftauchte. Unwillkürlich sprang ich beiseite. Ein wild aussehender Krieger mit schwarzem Bart, einen eisernen Helm auf dem Kopf, erschien in der Tür. Als er bemerkte, daß es Überlebende gab, zückte er den Bogen und zielte auf meinen knienden Meister. Im selben Augenblick schnellte ich den rechten Arm empor und ließ die Kante meiner Hand in hohem Bogen auf seinen Hals niedersausen - genauso wie ich zu Hause die Schafe vor dem Schlachten betäubt hatte. Dem Assyrer blieb noch nicht einmal Zeit für einen Seufzer. Er krachte auf den glatten Lehmboden, und sein Bogen fiel scheppernd neben ihn. Lhalu sprang auf die Füße und starrte ihn an. Dann fiel sein Blick auf mich. Ich stand mit schuldbewußter Miene da und wagte nicht, ihn anzusehen. „Ti-Tonisa! Wie konntest du so etwas tun? Du hast dein Gelübde gebrochen! Habe ich dir nicht gesagt, daß du niemals -284-
die Waffe gegen einen Feind erheben darfst?" „Meister!" antwortete ich, von einem Fuß auf den anderen tretend. „Ich habe doch gar keine Waffe! Ich gab ihm nur mit der Handkante einen Schlag auf den Hals. Sollte ich mit gefalteten Händen zusehen, wie er dich mit einem Pfeil durchbohrt? Außerdem kann er nicht tot sein, er ist nur für ein oder zwei Stunden betäubt." So gestattete mir das Schicksal, das Leben meines Führers zu retten, so wie er an meinem ersten Tag im Felsenkloster mein Leben rettete. Erst jetzt begriff Lhalu, daß er in Lebensgefahr geschwebt hatte. Ein Lächeln erhellte sein trauriges Gesicht. „In Ordnung, Ti-Tonisa! Du bist ein mutiger Junge - und ein wahrer Freund. Doch deine gedankenlose Tat bewirkt nichts, denn was wolltest du tun, frage ich dich, wenn uns eine ganze Kompanie feindlicher Männer begegnete? Behalte Fassung, TiTonisa, denn schon bald werden wir all unsere Stärke brauchen. Vertraue mir. Ich spüre, daß wir mit Gottes Hilfe auch dieser Gefahr entrinnen werden. Du hast mit eigenen Ohren gehört, daß sich der Feind im Rückzug befindet. Die Bergriesen von Samding haben den plündernden Horden einmal mehr den Weg verstellt. Komm, wir wollen weiter ins Dorf vordringen und erkunden, ob wir unseren gefangenen Brüdern zu helfen vermögen." Er war wieder der alte Lhalu, geradlinig wie ein Pfeil, würdevoll, mit eindrucksvollem Blick. Das Feuer, das in seinen Augen brannte, gab seinem Gesicht eine übernatürliche Ausstrahlung. „Begrabe meinen Vater, Changpo, und warte hier mit den Maultieren auf uns. Wir kehren zurück und nehmen dich mit zum Felsenkloster." Wir eilten die lange, kurvige Straße hinab. Hier und dort suchten wir in den Hütten nach Verletzten, doch überall glotzte nur das starre, blutbefleckte Antlitz des Todes zurück. In der -285-
Mitte des Dorfes Magal ertönte plötzlich aus einem großen Steinhaus ein heiserer Schrei, dem unmittelbar darauf ein durchdringendes Kreischen folgte. Ohne nachzudenken sprangen wir durch die offene Tür, doch an der Schwelle blieben wir wie angewurzelt stehen. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, um nicht umzufallen. Gütiger Himmel und Ihr Hohen Führer! Dasselbe Bild, das ich vor Jahren zweimal in meiner Verzückung geschaut hatte, bot sich mir in unbeschreiblicher Genauigkeit dar, doch jetzt waren die Gesichter der Beteiligten nicht verschwommen. In dem verwüsteten Raum lag der Körper eines assyrischen Kriegers, dem ein Dolch aus dem Rücken ragte. Er gab gerade seine Seele auf, denn seine Beine zuckten. Dann regte er sich nicht mehr. Und vor ihm, auf der rechten Seite, den Rücken uns zugewandt, lag zusammengekrümmt Santemi, und Blut rann aus einer Wunde auf den Boden. Neben ihr lag das Beil des Soldaten, das er mit letzter Kraft nach ihr geworfen haben mußte. „Santemi!" rief mein Meister und kniete im nächsten Augenblick an ihrer Seite. „Hilf mir, Ti-Tonisa!" Vorsichtig hoben wir ihren schmächtigen, federleichten Körper hoch und legten ihn mit dem Gesicht nach unten auf eine Rohrliege. Der Anblick der Finger ihrer linken Hand, die immer noch den Talisman umklammerten, den sie um den Hals trug, war mehr als ich ertragen konnte, und ich brach in Tränen aus. „Sei still, Arau! Bring mir sofort Wasser und suche nach sauberen Tüchern. Hab keine Angst, alles wird gut, denn ihr Herz schlägt noch." Noch nie hatte ich sein Gesicht so ruhig gesehen. Es leuchtete wie nicht von dieser Welt. Ich stieg über den toten Assyrer hinweg und eilte in die Küche, wo ich einen Krug Wasser fand. Den trug ich ins Zimmer und öffnete irgendeine Truhe, aus der ich wollene Hemden, Seidentücher und Leinenstoffe zerrte. Aus -286-
der Ferne tönten die Schreie der feiernden Soldaten. Mir war klar, daß sie jeden Augenblick hier auftauchen konnten, da sie ja wußten, daß sich einer der ihren hier mit einer Gefangenen vergnügte. Lhalu hielt seine Finger eine Weile über das Wasser, dann strich er mit den Händen abwärts über seinen Kianghaarmantel. Diesen Vorgang wiederholte er dreimal. Ich wußte, daß er magnetische Ströme durch die Fingerspitzen ins Wasser lenkte, womit er dieses nicht nur entkeimte, sondern ihm große Heilkraft gab. Genauso verfuhr er mit einem Unterhemd, das ich in Streifen gerissen hatte, tauchte die Fetzen ins Wasser und wusch damit die klaffende Wunde. Das Beil hatte eine üble Verletzung gerissen, mindestens eine Hand breit und zwei Hände lang. Sie befand sich knapp unterhalb des siebten Wirbels unter der rechten Schulter. Nachdem Lhalu den übel aussehenden Schnitt mit magnetisiertem Wasser gereinigt hatte, hörte dieser auf zu bluten. Bewegungslos und gesammelt hielt mein Meister seine Hand eine Weile lang über die Wunde. Dann wies er mich an, das Leinen in noch schmalere Streifen zu reißen und ihm diese einen nach dem anderen zu reichen. Nicht umsonst war er der berühmteste Arzt Bod-Yuls, denn er versorgte die Wunde gekonnt und rasch. Dann zog er dem Mädchen die Pelzweste über. Wir setzten Santemi vorsichtig auf. Lhalu legte eine Hand auf ihre Stirn, die andere auf den Nacken und wiederholte diesen Vorgang dreimal. So stärkte er sie mit dem Großen Magnetismus und erfüllte sie mit Lebenskraft. Dann legten wir sie behutsam wieder auf die rechte Seite mit dem Rücken zur Wand. Sie war noch immer bewußtlos, doch sie atmete bereits schwach, und ihre starren, erschöpften Züge hatten sich entspannt. Immer noch preßte sie ihr Amulett an die Brust. In diesem Augenblick drang das Geräusch schwerer Schritte und klappernder Waffen an unser Ohr. Ich hob erschreckt den Kopf, mein Herz machte einen Sprung. Gott, dein Wille -287-
geschehe, dachte ich, während mein Gehirn fieberhaft arbeitete. Ich fühlte einen fast unwiderstehlichen Drang zu Handeln. Sollten wir jene, die wir gefunden hatten und die uns beiden so viel bedeutete, wieder verlieren und zusammen mit ihr sterben? „Uparnissur", seufzte ich und hob meine Augen gen Himmel, „ich rufe dich. Auch du gehörtest einst zu den Assyrern und brachtest ihnen das Licht. Bitte, hilf uns jetzt!" Lhalu schaute mich an und stand auf. Ein Trupp Krieger drängte sich brüllend durch die Tür. Sie sahen wild aus, trugen schwarze, lange Kettenhemden, und ihre Schwerter glänzten bedrohlich im Sonnenlicht. Ich wußte, daß wir sterben mußten, doch seltsamerweise hatte ich keine Angst. „Vertraue!" hörte ich eine Stimme in meinem Innern. „Hab keine Angst, vertraue! Erinnerst du dich an das letzte Bild im himmlischen Felsenkloster, Ti- Tonisa?" „Bei Marduk!" schrie der Hauptmann des Trupps in chaldäischer Sprache. Ich verstand ihn ausgezeichnet, denn außer der Khem-Sprache wurden wir auch in Chaldäisch unterrichtet. „Was ist hier los?" Als er seinen toten Kameraden erblickte, der, seiner Kleidung nach zu urteilen, ein hoher Offizier gewesen sein mußte, brüllte er auf. Seine Männer umringten uns. Ich hatte noch nie einen so häßlichen, abstoßenden Mann gesehen wie diesen Hauptmann. Über seinem linken Auge prangte eine weißliche Narbe und das Augenlid hing schlaff herunter. „Kalu!" rief er. „Was soll das bedeuten, du Priester! Ich verschleppe dich in die finsterste Ecke von Nirgal, wenn du dafür verantwortlich bist!" Lhalus Augen blitzen. Dasselbe seltsame Feuer glomm darin wie damals auf dem Hof des Felsenklosters, als mich die Soldaten aus Gyanak angegriffen hatten. Er richtete sich auf. Obwohl er einen Kopf kleiner war als die assyrischen Krieger, schien er jetzt der Größte im Raum zu sein. -288-
„Seit wann sprechen die Krieger seiner Majestät Hadad-Nirari in einem solchen Ton?" fragte er in fließendem Chaldäisch. „Redet man so mit einem Baru, einem Arzt, der außerdem Priester und Sterndeuter ist wie eure Ashipus?" „Wenn du wirklich ein Baru bist, dann beantworte mir meine Frage, sonst wirst du dank meines Schwertes den sechshundert Göttern der Unterwelt Gesellschaft leisten! Dort kannst du dich bei den Annunakis beschweren, da du unsere Sprache ja so gut beherrschst!" Lhalu stand ganz still, er blinzelte noch nicht einmal. „In deinem Land", sagte er mit ruhiger Stimme, „im Großen Reich zwischen den beiden Flüssen, befindet sich ein großer Ziggurat. Dort erheben sich die himmelsstürmenden Mauern und Terrassen der großen Stadt Babilu an den Ufern von Purattu und Diklat. Letzte Nacht war ich in meinem Traume dort und sprach mit dem Gärtner des königlichen Palastes. Er beschwerte sich, daß sein Sohn Ingidi, der in der fliegenden Marschkolonne seiner Majestät Hadad-Nirari dient, ihn schlecht behandle und ihm nichts von seiner Beute abgebe. Ja, du scheinst zu vergessen, daß sich dein Vater um deine Frau kümmert, die dir übrigens in der letzten Nacht einen Sohn geboren hat." Lhalu starrte vor sich hin und blickte nach innen, während seine unbeweglichen Augen in einem unirdischen Feuer glommen. Es war das erstemal, daß ich Lhalu Lama in der Trance der Seher erlebte, mit der mich Gott ebenfalls zuweilen segnete. Doch was er vollbrachte, übertraf alles, was ich mir auf diesem Gebiet vorzustellen vermochte. „Was? Was hast du gesagt?" rief der Hauptmann, und ich bemerkte, daß er trotz seiner dunklen Gesichtsfarbe erblaßte. „Mein Vater - im Ziggurat… Und meine Frau hat mir einen Sohn geboren? Woher kennst du meinen Namen? Menschenskind! Woher weißt du das alles?" „Glaubst du mir jetzt, daß ich ein Ashipu bin?" fragte Lhalu -289-
Lama. „Ein Sohn! Wurde mir seitdem ein Sohn geboren? He, du Hexenmeister von einem Baru! Wenn das stimmt, dann solltest du dich besser erklären, denn ich könnte Gnade walten lassen. Woher, um Himmels willen, wußtest du meinen Namen?" „Hör mir zu, Hauptmann", sagte Lhalu, ohne seine Frage zu beantworten, „ich kann dir in drei Sätzen berichten, was hier geschehen ist. Mein Schüler und ich suchten nach Verwundeten, und als wir Schreie hörten, schauten wir in dieses Haus. Auf dem Boden lag dieser ermordete Offizier, und auf dem Bett dort die kleine Gefangene. Sie war wahrscheinlich von dem Soldaten belästigt worden, und da sie sich wehrte, warf er sein Beil nach ihr. Dort liegt es, neben dem Bett. Da ich auch Arzt bin, versuchte ich, dem Offizier zu helfen, doch er war schon tot. Dann versuchte ich, das Mädchen zu beleben, doch sie war ebenfalls bereits gestorben. Seht, ihre Kleider sind blutgetränkt! Gibt es noch andere Verwundete im Dorf?" Bei diesen kühnen Worten ergriff mich die Furcht. Was, wenn sie ihm nicht glaubten und Santemi genauer untersuchten? „Du bist also auch ein Ashu?" fragte der Hauptmann erstaunt. „Also, für einen Chirurgen hätten wir wirklich Verwendung." Ein großer Krieger trat vor und untersuchte die Leiche des Offiziers. Dann ging er durch den Raum und blieb vor Santemis Bett stehen. Die Soldaten schienen verwirrt zu sein, und ohne Anweisungen ihres ebenso verwirrten Hauptmanns wagten sie nicht zu handeln. Einer der Krieger, der in der hinteren Reihe stand, erhob die Stimme. „Achtung Herr! Diese Lamas aus Bod-Yul sind alle Hexenmeister. Sie kennen alle möglichen Zaubertricks. Sie reden ja sogar in unserer Zunge! Was, wenn sie unseren Kameraden doch getötet haben?" Die anderen faßten bei diesen Worten Mut, ein Raunen ging durch die Soldaten, und sie umringten uns noch dichter. Der -290-
große Krieger vor Santemis Bett betrachtete das Mädchen eingehend. „Was schaust du?" fragte mein Meister ihn ruhig. „Sieh mit eigenen Augen, wie sich die Krieger Hadad-Niraris in Bod-Yul benehmen. Kommt alle her, und seht sie euch an! Es ist mannhaft, den Feind in der Schlacht zu besiegen, doch gegenüber wehrlosen Frauen gewalttätig zu werden und sie mit gefesselten Händen zu verschleppen, zählt wahrlich nicht zu den Heldentaten der tapferen Kaldi- Armee!" „He, Priester, hüte deine Zunge!" fuhr ihn der große Krieger an, verließ Santemis Bett und kam mit einem tückischen Gesichtsausdruck näher. „Willst du uns lehren, wie wir uns in diesen teuflischen Bergen zu benehmen haben? Hier gibt es nicht einen Schluck Wein, und ein Mann friert sich zu Tode. Und du beschwerst dic h darüber, daß wir uns an Frauen wärmen?" „Du brauchst tatsächlich Wärme", antwortete Lhalu, „besonders, seit du dir in den Sümpfen von Mon-Yul das Fieber zugezogen hast. Heute nacht wirst du einen Anfall erleiden, denn ein solcher befällt dich gewöhnlich alle zwei Wochen. Es ist wieder einmal so weit, das sehe ich an deinem Gesicht. Du brauchst keine Frau, mein Freund, sondern viel heißen Tee und zwei warme Decken." Die anderen brüllten vor Lachen, und der lange Hals des großen Soldaten wurde noch länger, als er verblüfft den Kopf hob. „Ashipu! Ein Hexenmeister!" stöhnte er erblassend, und im nächsten Augenblick schlugen seine Zähne klappernd aufeinander. „Siehst du?" sagte mein Meister und ging auf ihn zu. „Es fängt bereits an. Doch ich werde dich heilen, dann bist du die Krankheit für diesen Sommer los." Er legte seine Hände auf Stirn und Nacken des Soldaten, dann -291-
preßte er sie gegen dessen Rücken unter die Schulterblätter. Dem Soldaten war es, als spüre er ein rotglühendes Eisen. Er wand sich mit klappernden Zähnen unter Lhalus Griff. Doch plötzlich richtete er sich mit breitem Lächeln auf. „Noch nie in meinem Leben fühlte ich so gute Wärme! Ihr seid ein wahrer Zauberer, Herr. Ich hatte heute morgen wirklich das Fieber, und wenn ihr nicht gewesen wäret, hätte ich die ganze Nacht im Zelt gezittert. Statt dessen fühle ich mich wie ein neugeborener Säugling, der seinem engen Gefängnis entronnen ist." Ich bemerkte, daß Lhalu um Fassung rang. Immer öfter blickte er zu Santemis Bett. Die Feinde, ein wilder Haufen tapferer Krieger, glichen jetzt staunenden Kindern. „Laßt die Toten ruhen, Baru", sagte der Hauptmann und klopfte Lhalu auf die Schulter. „Komm mit uns. Solche Priester und Heiler können wir gut gebrauchen. Unser General wird mächtig froh sein, da bin ich sicher!" Lhalu schaute mich besorgt an. Die gespannte Lage lastete schwer auf uns. Santemi jetzt mit ihren schlimmen Verletzungen allein zu lassen, war schlimmer als der Tod! Plötzlich kam mir ein Gedanke, und ich trat vor. „Hauptmann", begann ich, „nichts würden wir lieber tun, als eurem großzügigen Angebot nachzukommen, doch wir müssen noch eine Weile hierbleiben. Dies tote Mädchen", ich deutete auf Santemis Körper, „ist die kleine Schwester meines Meisters, die im Konvent lebte. Ihr könnt euch seinen Gram vorstellen, als wir bei unserem Versuch, Menschen zu heilen, seine sterbende Schwester fanden, die bald darauf in seinen Armen verschied." Die Soldaten blickten uns bewegt an. Trotz ihrer Wildheit schien die Menschlichkeit die Oberhand zu gewinnen, was vor allem Lhalus Weissagungen zuzuschreiben war. Der große Soldat trat wieder an Santemis Bett und blickte sie mitleidig an. Ich betete zu Gott, daß sie sich nicht gerade jetzt -292-
bewegen mochte, denn die freundliche Haltung der Assyrer hätte sich wandeln können, wenn sie sahen, daß sie lebte. „Wir bedauern, daß dies geschehen ist, Baru", sagte der Hauptmann mit der Narbe über dem Auge. „Doch tröste dich. Es mag das Beste für euch sein. Wir haben strenge Anweisungen, alle lebenden und verwundeten Frauen aus Bod-Yul in die Lager zu bringen. Im Westen gibt es zu wenig Frauen, und die euren haben viele Fähigkeiten." „Schaut nur, was für ein hübsches Mädchen sie war. Armes Ding!" sagte der Große, der Santemi noch immer betrachtete. „Wie die Göttin Ninkhurshag oder Ishtar, die Gefährtin des Mondes!" „Ich danke euch für eure herzliche Anteilnahme", antwortete Lhalu angespannt, was sie jedoch glücklicherweise seiner Trauer zuschrieben, „doch jetzt bitte ich euch, mich meinem Gram zu überlassen, damit ich meine kleine Schwester begraben kann. Wenn das getan ist, werden wir euch ins Lager folgen." Der Hauptmann nickte verständnisvoll und wies seine Männer an, ihm zu folgen. Die ganze schlimme Horde drängte sich aus dem Raum, und auch der Hauptmann stand bereits auf der Schwelle, als er sich plötzlich umdrehte. „Ich lasse euch einen meiner Männer hier, Baru. Er wird beim Begräbnis helfen. Diesen kleinen Gefallen müßt ihr als Dank für die Weissagung annehmen, daß mir in der letzten Nacht ein Sohn geboren wurde. Mein Mann wird euch helfen, den gefrorenen Boden aufzugraben. Wir haben ein Sprichwort: ,Es ist leidvoll für jenen der trauert, ein Grab zu graben.'" Umsonst lehnten wir sein Anerbieten ab, der Hauptmann blieb eisern und befahl ausgerechnet Gibil, dem Lanzenträger, bei uns zu bleiben und bei der Beerdigung zu helfen. Als die Soldaten gegangen waren, schauten wir uns an. Lhalu befürchtete, daß jede weitere Verzögerung Santemis Leben gefährdete, und das nicht nur, weil die Behandlung der Wunden unterbrochen -293-
worden war, sondern weil der Soldat herausfinden mochte, daß sie nicht tot war. Der Krieger setzte sich vor das Bett und legte seinen Speer über die Knie. „Laßt euch bei eurer Zeremonie nicht stören, Ashipu. Schert euch nicht um mich, sagt mir nur, wo ich zu graben habe." Mein Meister blickte vor sich hin. Dann wandte er sich plötzlich an den Soldaten: „Wie fühlst du dich, Gibil? Hat dich das Fieber verlassen?" In der Zwischenzeit hatte ich einen Entschluß gefaßt und näherte mich dem Bett, um dem fiebergeplagten Assyrer einen sauberen Schlag gegen den Hals zu versetzen, ganz gleich, was mein Meister dazu sagen mochte. Doch Lhalu hatte mich durchschaut und zog streng eine Augenbraue hoch. „Ich glaube, ja. Ich fühle mich gut. Dank sei Marduk und euren Händen." „Würdest du die Krankheit gern für immer loswerden?" „Wie denn, Baru? Ist das möglich?" „Bleibe wie du bist, doch setze dich aufrecht hin", sagte Lhalu und hockte sich zu meinem größten Erstaunen mit gekreuzten Beinen vor den Soldaten. Jetzt gebe ich dir eine Behandlung, die dich für dein ganzes Leben kurieren wird. Das Fieber wird dich nie wieder plagen. Schau mir in die Augen! So ist es richtig! Atme jetzt langsam und gleichmäßig. Kümmere dich um nichts. Vergiß dein Leiden, vergiß alles. Laß deine Gedanken wie Vögel davonfliegen. So! Atme tiefer und tiefer." Ich sah, daß auch er tief atmete, dann hielt er plötzlich den Atem an, und als der Soldat einatmete, saugte er ihm die Luft mit einem tiefen Atemzug weg und füllte seinen großen Brustkorb bis zum Platzen. Als der Soldat das nächste Mal einatmen wollte, beugte er sich kaum wahrnehmbar vor und blies dem Mann die Luft in den Mund. Gibil, der Speerträger, -294-
schaute ihn verwirrt an, schloß dann die Augen und wiegte seinen Kopf hin und her, als sei er betrunken. Dann lehnte er sich gegen den Bettpfosten und schlief ein. „Sei geheilt, Gibil, und ändere dich!" flüsterte mein Meister in das Ohr des Schlafenden. Im nächsten Augenblick sprang er mit einem Satz zum Bett und hob Santemi, leicht wie eine Feder, auf seine Arme. „Komm, Ti- Tonisa! Wir dürfen keine Zeit verlieren!" So war mein Meister! Gesegnet sei sein Angedenken! Er trug nie Waffen und tötete weder Mensch noch Tier. Seinen Feind wurde er los, indem er ihn heilte.
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Kapitel 15 Als wir zu der Brandruine eilten, die einmal Lhalus Elternhaus gewesen war, beunruhigte mich der Gedanke, ob der assyrische Soldat, den ich betäubt hatte, in der Zwischenzeit das Bewußtsein wiedererlangt haben mochte. Wir hatten ihn vollkommen vergessen. Was, wenn er zu sich gekommen war und seinen Ärger an dem alten Chanpo ausließ? Doch wir hatten Glück. Der treue alte Diener wartete mit unseren Maultieren vor dem Hause. Ich eilte hinein, um nach dem Soldaten zu sehen. Er war noch immer bewußtlos, doch sein Herz schlug regelmäßig. „Wir müssen sofort weg von hier!" drängte mein Meister. „TiTonisa, hilf mir, Santemi auf dem Rücken des Maultieres festzubinden." Als dies geschehen war, machten wir uns auf den Weg. Lhalu lief so neben dem Tier her, daß er das bewußtlose Mädchen an seine Schulter lehnen und festhalten konnte. „Wir können noch nicht zum Felsenkloster zurück", sagte er, als wir den Weg nach Samding hochstiegen, „denn Santemi kann auf keinen Fall drei Wochen lang auf dem Rücken des Tieres über die kaum passierbaren, gefährlichen Pfade reiten. Deshalb bleiben wir solange im Yamgo, bis ihre Wunden verheilt sind." „Im Konvent, wo so viele Leichen sind?" rief ich entsetzt. „Und was ist mit dem Feind?" „Es gibt keine andere Möglichkeit, Arau. Wir können uns unmöglich mit einem schwer verletzten Mädchen auf den Weg machen, noch können wir wegen der Soldaten hier im Dorfe bleiben. Sie haben sich jedoch aus Samding in das dahinterliegende Tal zurückgezogen. Du weißt vielleicht, daß der Feind nie an einen Ort zurückkehrt, den er bereits verwüstet hat. Damit will ich nicht behaupten, daß wir uns im Konvent in -296-
größter Sicherheit befinden, doch für Santemi ist diese Lösung allemal besser, als endlos weite Pfade zu wandern oder hierzubleiben." Mir wurde klar, daß er recht hatte. Mein Verstand sagte auch mir, daß der Feind den Weg zum Konvent wahrscheinlich kein zweitesmal erklimmen würde, und hinter Samding waren wir keinem einzigen Soldaten begegnet. Alle Zeichen deuteten darauf hin, daß sie sich tatsächlich zurückzogen, um Bod-Yul bald zu verlassen. Wir waren froh, daß Santemi bewußtlos war, als wir in den Klosterhof einritten. Ich ging voraus, um die Lage zu erkunden, doch der Anblick der blutbefleckten Leichen ließ mich selbst jetzt noch schaudernd zurückweichen. Wir führten unsere Maultiere in den Stall und fanden für Changpo einen nahezu unversehrten Platz in der Küche, wo sogar noch Nahrungsmittel in den Regalen standen. Es war offensichtlich, daß die Kaldis nicht auf Essen, sondern auf Frauen und reiche Beute ausgewesen waren. Dann machten Lhalu und ich eine Runde durch den Konvent und fanden bald zwei Zellen im oberen Stockwerk, deren Fenster zum Magal- Tal hinausgingen. Sollte sich der Feind doch durch die Schlucht annähern, konnten wir dies von dort aus mühelos erkennen. Lhalu legte Santemi auf ein Bett und untersuchte ihre Wunde. Sie blutete jetzt so stark, daß die weißen Binden blutgetränkt waren und er den Verband erneuern mußte. Er führte mehrere Striche über dem Körper des schlafenden Mädchens aus und berührte dann mit der Hand ihre Stirn. Santemi seufzte, stöhnte und öffnete die Augen. Sie schaute Lhalu lange an, dann erschien der Anflug eines Lächelns auf ihren gequälten Zügen. „Danke, daß du mich gerettet hast", flüsterte sie kaum hörbar, „danke… deinen Songdus habe ich noch immer, siehst du?" Sie hob die Hand mit dem Talisman von ihrer Brust, doch der -297-
schwere Blutverlust hatte sie so entkräftet, daß sie schlaff wieder zurückfiel. Sie schloß die Augen. Mein Meister beugte sich über sie und legte sein Ohr an ihr Herz. „Wenigstens schläft sie jetzt und ist nicht länger bewußtlos", seufzte er froh. So retteten wir mit Hilfe des Allerhöchsten Santemi, die kleine Priesterin, aus den Klauen der assyrischen Horden. „Das Jahr des großen chaldäischen Krieges" oder „das Jahr von Santemis Rettung" werde ich diese Zeit später wohl einmal nennen. Wir blieben eine Woche lang in dem leeren Yamgo, und Santemi hatte sich schon so weit erholt, daß sie umherlief und sogar in den Hof hinunterkam. Das, was ich am meisten befürchtet hatte, trat nicht ein: Die steifen, gefrorenen Leichen machten ihr überhaupt nichts aus. Sie betete lange vor den Körpern ihrer Schwestern und bat Lhalu, sie neben den großen Felsen auf dem Kharlam zu begraben. Wie sehr hatte sie sich verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte! Ihre schlanke, zerbrechliche Gestalt war kaum gewachsen; sie wirkte noch immer so mädchenhaft wie früher, doch ihre Züge waren anders. Sie strahlten Ruhe, Charme, jungfräuliche Zurückhaltung und Weisheit aus. Ja - Weisheit, die man sonst bei Frauen so selten findet! Von Santemi hingegen war jedes Wort, jeder ihrer Sätze so klar und bedeutungsvoll, als hätte einer meiner Lehrer im Felsenkloster gesprochen. In den Abendstunden sprachen wir miteinander ausgiebig über Religion, die Andere Welt und viele andere Themen, und ich mußte erstaunt feststellen, daß ihr Wissen nicht nur das meine, sondern die Kenntnisse vieler alter Eingeweihter übertraf. Lhalus Augen strahlten zufrieden. Dies war seit vielen Jahren seine erste Gelegenheit, mit seinem Schützling zu reden. Ich blickte voller Hochachtung zu ihr auf, als sei sie meine Lehrerin und Herrin und nicht ein viel jüngeres Mädchen. Am zehnten Tag fühlte sie sich so gut, daß wir uns auf den -298-
Weg nach Tampol- Bo-Ri machen konnten. Wir nahmen den alten Changpo mit uns, dem Lha lu die gute Fürsorge der Trapas versprochen hatte. Nach langer mühseliger Wanderung kamen wir schließlich im Felsenkloster an, wo uns gute Nachrichten erwarteten. Die assyrische Armee hatte sich aus dem westlichen Bod-Yul zurückgezogen, weil in einem Teil des Kaldi-Reiches ein Aufruhr ausgebrochen war und König Hadad-Nirari seine plündernden Truppen aus der Ferne zurückrief. Der Große Lama hatte bereits erfahren, daß die jungen Priesterinnen aus Samding verschleppt worden waren und ordnete in ganz Bod-Yul eine dreitägige Trauer an. Im Hinblick auf die außerordentliche Lage erlaubte er Santemi, im Felsenkloster zu bleiben, obwohl solch ein Fall in der Geschichte des Klosters noch nie vorgekommen war. Doch der Krieg bewirkte eine Ausnahme, und nachdem der Hohepriester das erstemal mit Santemi gesprochen hatte, war auch er davon überzeugt, eine Priesterin mit höchst ungewöhnlichen psychischen Fähigkeiten vor sich zu haben. Der Tag, an dem Santemi unserer Priesterin zum erstenmal begegnete, blieb mir unvergeßlich im Gedächtnis haften. Als Lhalu sie vorstellte, stieg die Ichka von ihrem Thron herab und nahm sie in ihre Arme. „Ich habe auf dich gewartet, mein Kind", sagte sie. „Ich wußte, daß du kommen würdest. Du wirst später in Tampol- BoRi eine große Aufgabe zu erfüllen haben, selbst wenn du sie noch nicht kennst." Hier wurde die Ichka plötzlich traurig und blickte mit kummervoller Miene zu Boden. Dann wandte sie sich wieder an das Mädchen und streichelte sanft sein Gesicht. „Santemi, meine Tochter! Vergiß niemals, daß die erste Pflicht einer wahren Priesterin Gehorsam ist. Sie muß ihrem Gefährten und Meister, dem Großen Lama, bis zu ihrem Tode treu und ergeben dienen." Von diesem Tage an übernahm die Priesterin selbst den -299-
Unterricht, den Santemi in ihrem Yamgo erhalten hätte, während Lhalu sie in geistigen Dingen unterwies. Die Zeit eilte dahin wie über den Sand huschende Schatten. Nachdem der Große Krieg vorüber war, lief das Klosterleben allmählich wieder in gewohnten Bahnen. Die Aufregung in den Klöstern legte sich, die Lamakrieger kehrten in ihre Chintanyins zurück, und im Felsenkloster nahmen die Dinge wieder ihren üblichen Lauf. Das Wissen, daß Santemi bei uns war, erfüllte mich - ohne daß ich wußte warum - mit großer Freude, und den anderen Lamas ging nicht anders. Lhalu schien ein anderer Mann geworden zu sein: sein ruhiges, stilles Wesen wich einem fröhlichen, gesprächigen Naturell. Nach fünf Jahren harter Arbeit wußte mein Meister, ja - das gesamte Kloster, daß die junge Priesterin in der Lage war, die Aufgaben der Ichka zu übernehmen. Doch dann geschah etwas wie ein Blitz aus heiterem Himmel - was das Leben des Klosters vollständig veränderte und die Aufmerksamkeit von Santemi abzog. Im fünften Jahr nach dem Kaldi-Krieg rief uns unser Hoherpriester im großen Chang zusammen, um uns eine höchst wichtige Mitteilung zu machen. Wir waren sehr erstaunt, denn er hatte seine Rede erst vor einer Woche gehalten, und die nächste wäre erst in einem Monat fällig gewesen. Wir trafen uns zur Feuertrance, wo er gewöhnlich ein Gebet zu sprechen pflegte. Er wartete, bis die Priesterin das heilige Feuer durch Räucherwerk und Mhyrre angefacht hatte, und, an die Lehne ihres Thrones gestützt, in Trance fiel. Dann erhob er sich. „Meine Kinder", begann er, „ich habe frohe Nachrichten für euch. Außer mir weiß niemand davon, und auch ich darf erst jetzt sprechen, da sich die Zeit erfüllt hat. Morgen werde ich sterben. Meine hohen himmlischen Führer haben mir bereits vor Jahren den genauen Zeitpunkt übermittelt, wann mich die göttliche Gnade aus der Materie befreien würde. Nach einhundertundsechzig irdischen Jahren darf ich in meine wahre -300-
Heimat zurückkehren!" Gebrochene Worte der Trauer und der Verzweiflung stiegen aus unserer Mitte auf, die wir in drei mächtigen Halbkreisen im Rund der Tempelhalle saßen, doch der Große Lama beschwichtigte uns mit einer Handbewegung. „An diesem Tage ist kein Raum für Trauer, meine Kinder! Ihr solltet viel eher frohlocken und feiern, daß euer Hoherpriester endlich nach Hause zurückkehren darf. Ich weiß eine Trennung ist immer schmerzlich, denn der Mensch dieser Welt hängt an seinen Lieblingsstücken und an seinen Freunden. Er hängt an seinen Eltern und an seinem Vater, der für euch zu sein ich mich immer bemühte. Doch hört mir zu: Gestrandet auf einer kle inen Insel lebt eine Anzahl von Menschen unter einfachsten Lebensumständen. Täglich müssen sie gegen die wilden Tiere des Waldes um ihr Überleben kämpfen. Diese Insel ist die Erde. Wenn nun der Bote aus den Himmeln kommt und denjenigen von uns, der endlich frei ist, zu seiner Familie und zu seinen Freunden in die alte Heimat zurückbringt, werden sich die Schiffbrüchigen, die zurückbleiben, nicht für ihn freuen, statt um ihn zu trauern? Wahrlich, Brüder, ihr solltet mich beneiden, denn für mich schlägt die Stunde der Freiheit! Ich sage euch jetzt Lebewohl und wünsche den Segen des Himmels für jeden eurer Schritte. Morgen werde ich nicht mehr anwesend sein, denn dann werde ich schon tot in meiner Turmzelle liegen." Vergeblich hieß er uns froh sein. Seine Worte bekümmerten uns tief, und wir konnten uns von dem Schmerz, den wir bei seiner Ankündigung empfanden, nicht befreien. Würde er uns wirklich für immer verlassen, er, unser väterlicher Führer, der seinen jüngsten Lama genauso freundlich behandelte wie den ältesten? An diesem Tage saßen wir zur Mittagszeit trübsinnig an den niedrigen Tischen. Der nachmittägliche Unterricht fiel aus, denn der Kharpon und Lhalu hatten uns angewiesen, in unseren Zellen für den Hohenpriester zu beten. Am folgenden Tage waren wir schon sehr früh auf, und als -301-
wir uns zur Feuertrance versammelten, schnitt es uns ins Herz, die rechte Hälfte des Zwillingsthrones verwaist und nur die Ichka mit dem Ausdruck namenloser Trauer auf der linken Seite des Thrones zu sehen. „Meine geliebten Lamas", sagte sie mit leiser, gleichförmiger Stimme, die weder Gefühl noch Schmerz verriet, „der Hohepriester Patha, den wir alle so sehr liebten, das Doppel meiner Seele, ist nach Hause in den sechsten himmlischen Ring zurückgekehrt. Betet den ganzen Tag für ihn, und auch für mich…" Am liebsten hätten wir uns vor ihr niedergeworfen und den Saum ihres Mantels geküßt, um sie in ihrer gefaßten Trauer mit all unserer Liebe zu trösten, doch wir wagten es nicht. Wir senkten nur schweigend die Köpfe, drehten unsere Gebetszylinder und beteten laut. Am nächsten Tag versammelten sich die Lamas, um den neuen Hohenpriester zu wählen. Diese Zeremonie war außerordentlich kompliziert und fiel nur selten in die Lebensspanne eines Lamas. Die sieben hervorragendsten Mönche wurden als Kandidaten aufgestellt, und Lhalu befand sich unter ihnen, denn die Auserwählten mußten die Eigenschaften eines Gelehrten mit unbefleckter Moral, Mitgefühl und Wohlwollen für alle Wesen in sich vereinen. Die Priesterin trat nach der Wahl des neuen Ho henpriesters stets zurück. Sie begab sich in ihren früheren Konvent, wo sie die ihr verbleibenden zwei bis drei Jahre verbrachte, denn länger überlebte keine Ichka ihren Ichkitsu. Die Kandidaten selbst wurden erst kurz vor der Wahl davon unterrichtet, daß ihr Name auf der Liste stand. Die ältesten Lamas wählten die Anwärter im Geheimen aus und ordneten daraufhin ein strenges Fasten an, welches zweimal in der Woche über einen ganzen Monat hinweg eingehalten wurde. Alle Lamas verbrachten die gesamte Zeit in ihren Zellen. Es wurden weder geistige Reisen unternommen, noch -302-
Erwärmungsübungen abgehalten. Niemand wurde im Kloster vorgelassen, und die Neugierigen wurden vom Klosterhof vertrieben. Die Trapas schlossen die Tore, während wir den ganzen Tag lang beteten und meditierten. Nur die Priesterin nahm am allgemeinen Fasten nicht teil. Sie leitete das Klosterleben bis der neue Hohenpriester gewählt war. Nach dem langen, einen Monat währenden Fasten warteten wir auf den nächsten Vollmond, denn nur an einem solchen Tage konnte die Wahl vonstattengehen. Am Morgen des großen Tages zogen wir in einer Prozession zuerst durch den kreisförmigen Gang im Gebäude, um dann die äußeren Klostermauern zu umrunden, wobei wir laut beteten und sangen. Dann begaben wir uns in den Tempel, wo die Statue der Weisheit mit einem weißen Tuch verhängt war. Wir warteten schweigend auf das Erscheinen der Ichka. Als sie eintrat und sich auf ihren verwaisten Thron setzte, erhoben sich alle, und zwei Lamas entfachten das Feuer, indem sie Räucherwerk hineinwarfen. Der Zeremonienmeister hielt die Lieblingsgegenstände und Andenken des verstorbenen Hohenpriesters in den Händen, wanderte damit durch unsere Reihen, um sie uns einen nach dem ändern zu zeigen, und warf sie danach ins Feuer. Es waren die Geschenke, die der Ichkitsu von großen Königen und Prinzen erhalten hatte: sein kleiner Gebetszylinder, sein Dolch - den er lediglich als Zeichen der Macht getragen hatte - Früchte, die in seinem Turmzimmer verwahrt worden waren, und die von ihm erfundenen Heilpulver. Alles verging in den Flammen. Jetzt verlas Lhalu den letzten Willen des Verstorbenen und seine Lebensgeschichte, wie er gearbeitet und was er im Interesse des Klosters getan hatte. Danach beteten wir wieder. Die eigentliche Wahl begann erst jetzt. Die Namen der Anwärter wurden auf eine große Tafel geschrieben. Mein Herz machte vor Freude einen Sprung, als ich Lhalus Namen las. Obwohl ihn die Himmel mit außergewöhnlichen Gaben bedacht -303-
hatten und er einer der klügsten Lamas war, munkelte man im Kloster, daß er höchstens als zweiter oder dritter abschneiden konnte, da Chandugsa und Namseling wesentlich älter waren als er. Jeder von uns mußte wählen. Wir erhielten harte Früchte, in denen je ein Holzstäbchen steckte. Wenn wir bei der Nennung des ersten Kandidaten unser Stäbchen brachen, bedeutete das, daß wir diesen nicht wünschten. In derselben Weise befanden wir über die sechs anderen Anwärter. Die Priesterin sammelte die Früchte jedesmal ein, und sollten die Zahlen zum Schluß kein klares Bild ergeben, entschied sie nach den Regeln des Klosters über die Wahl. Ich brauchte vor Aufregung eine ganze Weile, bis mir klarwurde, daß Lhalus Name an dritter Stelle auf der Tafel stand. Als die Priesterin sich zurückzog, um die kleinen Stäbe zu zählen, war die Halle von einem so lauten Gemurmel erfüllt wie nie zuvor. Unsere innere Spannung war so groß, daß sie in kurzen Schauern durch unsere Körper lief. „Der Name des neuen Hohenpriesters des Felsenklosters", rief sie mit klangvoller Stimme, „mit dreihundertundzwanzig Stäben gegen achtzehn lautet - Lhalu Lama!" Noch niemals zuvor hatten die alten Mauern des Felsenklosters von Tampol- Bo-Ri von derartigen Stürmen der Begeisterung widergehallt. Die Kunst der Selbstbeherrschung, die langen Jahre der strengen Disziplin versagten plötzlich. Doch war dies verwunderlich, da der geheime Wunsch fast eines jeden Mönches, ein Wunsch wider alle Hoffnung gehegt, sich erfüllt hatte? Denn Lhalu galt als Vorbild eines jeden Lama: nach dem Hohenpriester wurde er am meisten geliebt. Und wie ging es mir? Ich konnte mich einfach nicht fassen, und ich erinnere mich nur, daß mir die Kehle durch jenen merkwürdigen Weinkrampf zugeschnürt war, der den Sterblichen ergreift, wenn das Schicksal ihm ein zu großes Geschenk gemacht hat. Eine Handbewegung der Ichka beendete unsere überschwengliche Freude. Sie wies den neuen Hohenpriester an, -304-
nach altem Brauche seinen Platz auf dem Thron einzunehmen. Auch mein Meister war sehr blaß und tief bewegt. Ich sah ihm an, daß diese hohe Auszeichnung ihn selbst vollkommen unvorbereitet getroffen hatte. Nach den Regeln des Klosters mußte er jetzt seine Antrittsrede halten. „Heilige Weisheit", begann er bewegt, „meine Seele ist dürr und öde. Ich halte mich Deiner Weisheit selbst für eine kurze Spanne Zeit nicht für würdig. Alles, worum ich Dich bitte ist die Stärke, nach bestem Wissen die schwere und verantwortungsvolle Aufgabe erfüllen zu dürfen, die das Vertrauen meiner Lamabrüder heute einem so unwürdigen Menschen auferlegt hat." Wir schauten ihn tief berührt an, denn selbst in diesem für ihn so heiligen und bedeutungsvollen Augenblick begann er seine Rede mit dem gewöhnlichen kleinen Tagesgebet der einfachen Lamas. „Ich will euch Vater, Bruder und Freund sein und all eure Lasten tragen. Ich will eure Sorgen teilen und eure Krankheiten heilen. Kommt zu mir mit euren geistigen und körperlichen Schmerzen, und erlaubt mir, euch zu dienen. Ich flehe die allmächtige Weisheit an, mich für alle Zeiten Diener und Helfer sein zu lassen und bis an mein Lebensende wie ein Diener gehorsam bleiben zu dürfen." Er hob die Arme gen Himmel und segnete uns nach dem hochheiligen Brauch des Großen Gebetes im Namen Gottes. Als er auf dem Thron Platz genommen hatte, wies die Priesterin den Zeremonienmeister an, die bei der Wahl verwendeten Früchte einzusammeln und in das Turmzimmer des Hohenpriesters zu bringen, damit sie bei seinem Tode ebenfalls verbrannt werden konnten. Dann stieg die Ichka vom Thron herab und übergab Lhalu ihre Amtszeichen zusammen mit denen des Hohenpriesters. Dreimal verbeugte sie sich tief vor ihm, dann wandte sie sich um und machte Anstalten, zu gehen. Sie hatte -305-
ihre Aufgabe erfüllt und mußte, dem Gesetz nach, noch am heutigen Tage in ihr altes Yamgo zurückkehren. Lhalu erhob sich tief bewegt, stieg vom Thron herab und warf sich vor der Ichka nieder. Er küßte den Saum ihres Gewandes, ergriff ihre Hand und führte sie aus dem Tempel. Als sie an uns vorüberschritten, traten uns Tränen in die Augen. Wir warfen uns nieder und erhoben uns erst, als unser neuer Hoherpriester zurückgekommen war und wieder auf seinem Throne Platz nahm. Der Zeremonienmeister schlug den Gong, und wir wußten, daß der Hohepriester jetzt den Eid ablegen mußte, was stets von feierlichen Zeremonien begleitet war. Wir zogen einer nach dem anderen an ihm vorbei, und er gab jedem von uns einen Schlag mit einem Rohrstock als Zeichen dafür, daß wir alles von ihm annehmen und erdulden würden. Dann übernahm er das Gewand seines Hohenpriesters aus der Hand des ältesten Lamas und legte es über die Lehne des Thrones. Wir stellten uns alle um ihn herum und legten ihm die Hände auf die Schultern. Es war eine wunderschöne, erhebende Szene, und mein Herz macht noch heute einen Sprung, wenn ich daran denke. Das Heilige Feuer brannte, und der Tempel lag im Halbdunkel. Die ältesten Lamas, die ihren Tod nahen fühlten, gingen zu ihm und übergaben ihm als Zeichen ihrer Ergebenheit ihre liebsten Gegenstände. Dann legte Lhalu, unterstützt vom Zeremonienmeister, das Gewand des Hohenpriesters an. In diesem Augenblick fiel der weiße Leinenstoff von der Statue der Gottheit herab und mit ihm das letzte Zeichen der Trauer. Alles hatte jetzt seine Ordnung, nur die neue Priesterin fehlte. Wer immer sie sein mochte, sie durfte nicht vor dem siebten Tage erscheinen. Sie würde von sechs weiteren Priesterinnen begleitet werden, und der Hohepriester würde sich diejenige aussuchen, die ihm am besten gefiel. Nachdem das Tuch vom Altar gefallen war, trat Lhalu zu der darauf stehenden Statue der Weisheit und dankte Gott für die -306-
ihm und uns allen erwiesene Gnade. Seine erste Amtshandlung war, in die große Metallkugel zu schauen, die vor der Statue der Gottheit auf dem Ständer ruhte. Er wies uns darauf hin, das gleiche zu tun. Es wurde erwartet, daß er in dieser Vision seine gesamte Laufbahn als Hoherpriester vorhersah. Lange stand er so bewegungslos und aufrecht vor der Kugel, als sei er selbst zu einer Statue erstarrt. Auch wir blickten hinein, denn jeder von uns sollte Ereignisse seines zukünftigen Lebens wahrnehmen, die mit dem Schicksal des Hohenpriesters verknüpft waren und außerdem an der Vision des Ichkitsu teilhaben, selbst wenn dies nur unvollkommen gelang. Der Zeremonienmeister winkte mir. Ich eilte zu ihm und verbeugte mich. „Schreibe die Visionen auf, Ti-Tonisa", flüsterte er mir ins Ohr. „Hier sind Rolle und Pinsel, nimm sie. Es war der Wunsch unseres neuen Hoherpriesters, dich zu seinem persönlichen Assistenten zu ernennen." Ich brachte kein Wort heraus. Stumm nahm ich die Schreibutensilien entgegen und eilte zu Lhalu. Er verharrte noch immer starr und bewegungslos wie alle anderen in der Halle. Ich schrieb die Sätze, die er in seiner Verzückung murmelte, Wort für Wort nieder. Was er sprach war deutlich und knapp, jedoch nicht viel. Normalerweise waren wir nicht in der Lage, die Zukunft in der Kugel zu sehen. Die Weihe eines neuen Hohenpriesters bildete die einzige Ausnahme, wobei die himmlischen Schutzgeister in unsere Kugeltrance eingriffen, so daß wir ihre Visionen und nicht die unseren wahrnahmen. Doch da es selbst einem gelehrten Lama nicht guttat, seine Zukunft in allen Einzelheiten vorauszusehen, kleidete der Geist seine Worte in Rätsel und projizierte nur sehr allgemeine Bilder auf die Kugel. „Ich sehe meine Priesterin", flüsterte Lhalu. „Sie ist klein, hat hellbraunes Haar und ist sehr klug… ich sehe sie wieder… sie ist groß und hat schwarzes Haar…jetzt ist sie wieder klein, als ob sie sehr groß und dann wieder klein geworden wäre… jeder -307-
liebt uns… unser Kloster gelangt zu voller Blüte… viel Leid, viele große Heilungen… zwei Ungehorsamkeiten, doch die Gnade ist noch wirksam… Reisen, Reisen… eine lange Reise, ein langer Aufenthalt… viele Länder am Meer… der König erholt sich von einer Krankheit, doch drohen große Gefahren… die Priesterin begegnet ihrem Arva… ein langes Leben, viel Leid… dein eigen Fleisch und Blut wird dich beißen wie eine Schlange… doch Tampol- Bo-Ri wird blühen und gedeihen… das Rad dreht sich, das Wasser des Lebens strömt… und TiTonisa wird helfen…" Er verstummte, und ich schrieb seine Worte verwundert nieder. Ich verstand gar nichts, nur, daß unser Kloster blühen würde und ich helfen sollte. Ich mußte jetzt zu jedem einzelnen Lama gehen und alle Visionen notieren. Zuletzt schrieb ich meine eigene Schau auf, an die ich mich genau erinnern konnte. Seltsamerweise glichen sich alle Visionen. Auch die anderen Lamas sahen ähnlichen Bilder wie ich sie gesehen hatte. Es war, als hätten verschiedene Maler dieselbe Landschaft mit unterschiedlichen Farben gemalt. Das Thema blieb gleich, doch die Färbung und die individuellen Charakteristika änderten sich. Natürlich hatten wir selbst keine unmittelbaren Einsichten, denn wir übernahmen eigentlich nur die Visionen des Hohenpriesters und nahmen nicht unsere eigenen wahr. Die Aufzeichnungen, die ich gemacht hatte, wurden von allen anwesenden Lamas unterschrieben. Dann wurde die Vision des Hohenpriesters an die Wand der Halle geheftet, so daß jeder sie lesen konnte. Wenn sich die Ereignisse in späteren Jahren von den Aufzeichnungen unterschieden, verringerte dieser Umstand die Glaubwürdigkeit und Autorität des Großen Lama. Als all dies geschehen war, mußte Lhalu den Tempel verlassen und sich in seine Räume zurückziehen. Von dort aus ging er für kurze Zeit in den Turm, wo ein großes, hölzernes Teleskop mit Linsen aus reinem Bergk ristall stand, um die geistigen Energien des verstorbenen Hohenpriesters in die Luft -308-
zu entlassen. Danach kam er wieder in den Tempel zurück, und der älteste Lama entfernte alle noch an ihm haftenden Energien seines Vorgängers. Lhalu lehnte sich dabei gemäß der Vorschriften in seinem Thron zurück, während der alte Lama ihn mit dem Großen Magnetismus und dem örtlichen Magnetismus behandelte. Gleichzeitig bereiteten wir das Wasser der Einweihung zu. welches von den Händen aller Lamas geweiht und magnetisiert wurde. Während wir das Wasser segneten, sprachen wir folgendes Gebet: „Groß ist unsere Macht, denn wir sind gelehrte Lamas, doch all dies empfangen wir von Dir, Heilige Weisheit. Du erlaubst uns in Deiner Gnade, heute unseren neuen Lehrer und Wächter zu weihen. Mache ihn stark wie den Felsen, auf dem unser Kloster steht." Danach trank der Hohepriester von dem gesegneten Wasser. Während des Rituals verharrten alle Lamas in großer Sammlung. Der Abend brach bereits an, die Zeit für das Ritual, welches „Schwarzer Befehl" genannt wurde. Dabei erschien der Hohepriester Lhalu in einem weißen Umhang im dunklen Tempel vor dem Altar und schwor auf den unausgesprochenen Befehl aller Lamas, Bod-Yul zu beschützen und den Orden der Lamas und die Lehre zu bewahren. An dieser Zeremonie konnte man den mystischen Ursprung der Weihe erkennen. Danach ging der Hohepriester nach oben in den Turm, wo sich das Observatorium befand und befragte die Sterne. Er wurde dabei von drei alten Lamas begleitet. Die Auslegung der Sternenschau war Aufgabe der Priesterin, deshalb geschah dies erst zu einem späteren Zeitpunkt. Doch damit war die Weihe des Hohenpriesters noch nicht zu Ende. Die erste Nacht mußte er in der tiefsten unterirdischen Höhle bleiben, in der die Novizen ihre Prüfungen abzulegen pflegten. Hier verbrachte er die ganze Nacht mit Wachen und Beten. Den Hohenpriester erwartete eine schwere Prüfung, bei der er -309-
durchaus auch versagen konnte. Tatsächlich wußten wir, daß in unseren Schriftrollen von Fällen berichtet wurde, wo der Große Lama diese Prüfung nicht bestanden hatte. Mitten in der Nacht hörte er beim Beten Stimmen. Er mußte diesen Stimmen folgen, das heißt, nur einer von ihnen, denn sie riefen ihn aus verschiedenen Richtungen. Wenn er die richtige Stimme erkannte, konnte er sich glücklich schätzen, wenn nicht, hatte er versagt. Die Bedingungen waren schwierig, und der Hohepriester mußte sich vollständig auf seine Eingebungen verlassen. Instinktiv mußte er entscheiden, ob er dem richtigen Rufe folgte. Seine Wahl mußte außerdem mit der Bedeutung der Visionen übereinstimmen, die er in dieser Nacht im Traum sah. Wenn er die Prüfung erfolgreich bestand, unterrichtete er den Burgvogt am nächsten Morgen und bat ihn, den Gong und die Trommeln als Wecksignal dreimal zu schlagen und damit gleichzeitig die erfreuliche Nachricht zu übermitteln. Ich wurde vom dreimaligen Klang der Trommeln geweckt, und diese Töne waren himmlische Musik in meinen Ohren. An diesem Morgen fand der festliche Empfang statt. Hunderte von Fremden waren zum Kloster gekommen, um mit uns zu feiern, ihre Glückwünsche und darüberhinaus ihre eigenen Wünsche kundzutun. All dies fand im Klosterhof statt, wo auch wir vollzählig versammelt waren, denn dieser Tag war wirklich ein großer Tag für uns alle. Das bedeutete nicht nur Freude, sondern auch Annehmlichkeiten. Zu solchen Gelegenheiten wurde der Weinkeller des Klosters geöffnet. Denn wir hatten auch Wein, den der Burgvogt aus fernen Ländern bezog, oder er wurde uns von den Prinzen des Südens geschenkt. Die Festlichkeiten zogen sich bis in den Nachmittag hin, und erst am dritten Tage kehrten die Besucher in ihre Dörfer zurück, und die Lamas nahmen ihre Alltagsgeschäfte wieder auf. Als ich am Abend nach dem Fest durch die inneren Kreisgänge eilte, um nach oben zu meiner Zelle zu gehen - denn ich war bereits einer der älteren Eingeweihten - griff eine kleine -310-
Hand hinter einer Säule hervor und hielt meinen Umhang fest. Erstaunt erkannte ich Santemi, die nicht an den Feierlichkeiten teilgenommen hatte, da ihr Aufenthalt im Felsenkloster nur ausnahmsweise gestattet wurde. Ich verbeugte mich tief vor ihr, denn es war mir unmöglich, sie anders zu begrüßen. „Ti-Tonisa Lama!" „Was wünscht meine Herrin? Ich freue mich, dich zu sehen und bedaure, daß du bei diesem herrlichen Fest nicht dabeisein durftest." „Ich habe alles gesehen", antwortete sie strahlend. „Ich stahl mich in den ersten Stock und spähte durch einen Belüftungsschacht in den Tempel. Sag mir, ist das eine Sünde?" „Nein, bestimmt nicht", antwortete ich lachend. „Niemand kann dir verübeln, Priesterin, daß du die Weihe unseres Lhalu mitansehen wolltest." „Nenne mich nicht Priesterin! Nenne mich Santemi. War er nicht wunderbar?" „Wer?" „Unser Hoherpriester, du Dummkopf! Wie gut er in seinem Festgewand aussah! Und wie jung, nicht so alt wie der verstorbene Große Lama. Friede seiner Seele, und möge die Heilige Weisheit seine Schritte immer höher hinauf lenken. Du bist glücklich, nicht wahr, Ti- Tonisa?" „Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin", erwiderte ich berührt. „Wer hätte gedacht, daß so viele von uns in so sehr lieben, daß sie ihn wählten! Er muß nur noch seine Priesterin finden, dann hat unser Kloster seine Führung wieder. Das Felsenkloster wird wie ein Stern über die schneebedeckten Bergriesen Bod-Yuls hinwegleuchten." „Seine Priesterin?" fragte sie und preßte ihre kleinen Hände gegen die Brust. Sie sah in ihrem weißen Gewand immer noch unvorstellbar klein und kindlich aus. „Was weißt du darüber, Ti-311-
Tonisa?" Ich errötete. Ich sah, daß sie traurig war, und wußte nicht, wie ich es ihr erklären sollte. „Ich glaube, daß die Priesterinnen für dieses hohe Amt besonders ausgebildet werden. In dieser Woche werden sieben Mädchen aus den besten Konventen Bod-Yuls in Tampol-Bo-Ri eintreffen, die seit mindestens zwei Jahren in diese Aufgabe eingeweiht wurden. Unter diesen wird der Hohepriester Lhalu wählen." „Werden sie Samding berücksichtigen?" fragte sie und errötete tief. „Doch Samding wurde ja von den Assyrern überfallen, und meine Gefährtinnen wurden verschleppt." „Ich weiß nicht, Santemi, ob Samding dabeisein wird", antwortete ich langsam und wiegte meinen Kopf. „Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß eine Abordnung die Yamgos nacheinander aufsucht und die Anwärterinnen auswählt. Natürlich gibt es keinen wirklichen Grund für das Komitee, nach Samding zu gehen. Ich habe außerdem gehört, daß der Konvent an die südöstliche Grenze Bod-Yuls verlegt wird, damit die Priesterinnen dort in Zukunft in Sicherheit ausgebildet werden können." „Und ich wurde erst im vorigen Jahr eingeweiht", sagte sie traurig, als hätte sie meine letzte Bemerkung gar nicht gehört. Danach kniete sie sich plötzlich nieder und warf sich mit dem Gesicht auf den kalten Stein. Ohne auf mich zu achten, betete sie laut: „Allmächtige Weisheit! Vergib die vergebliche Hoffnung deiner geringsten Dienerin. Sei nicht böse, weil sie so traurig ist, ihn zu verlieren. Bald schon werde ich von hier fortgehen und in ein fremdes Yamgo ziehen müssen. Doch selbst dann werde ich immer nur für ihn beten!" „Steh auf, Santemi!" rief ic h tief berührt. „Steh auf, oder willst du, daß ein eingeweihter Lama vor dir in Tränen -312-
ausbricht?" Ich kniete mich zu ihr auf den Boden und küßte unbemerkt den Saum ihres Gewandes. Dann half ich ihr sanft wieder auf die Füße. Jetzt gehe ich zurück in meine Zelle", flüsterte sie und trocknete sich die Augen. „Ich gehe zurück und bitte dich, für mich zu beten, Ti-Tonisa." Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, drehte sich auf dem Absatz um und lief geräuschlos davon. Das Ganze wirkte wie ein Traum. Ich ging gedankenverloren und tief besorgt in meine Zelle. Dort setzte ich mich auf mein Bett und schluchzte wie ein Kind. Dies war das zweitemal, daß ich im Felsenkloster weinte. Am dritten Tag nach seiner Wahl rief uns der Hohepriester im großen Chang zusammen. Wir wußten, daß die Feuertrance nicht der Grund für die Versammlung sein konnte, da das Kloster noch keine Ichka hatte. In der Halle herrschte tiefe Stille, und die Spannung der Erwartung hielt uns in ihrem Bann, bis er endlich begann: „Meine Brüder! Ich erbitte euren Rat in einer sehr wichtigen Angelegenheit. Vielleicht geschieht es zum erstenmal in der Geschichte dieses Klosters, daß ein neuer Hoherpriester als erstes seine Brüder um Rat fragt, sind es doch eigentlich die Lamas, die seinen Rat erwarten! Doch der Große Krieg schuf eine außergewöhnliche Situation, und seine Auswirkungen erfordern andere Bewertungen als die Vorgaben unserer Gesetze. Wie ihr wißt, werden in vier Tagen sieben Priesterinnen in unserem Kloster eintreffen. Wir haben ihre Hohenpriester schon vor Wochen auf unseren geistigen Reisen davon in Kenntnis gesetzt, die klügsten und begabtesten Mädchen nach TampolBo-Ri zu senden. Das bedeutet, daß die Priesterin in vier Tagen gewählt werden wird, denn so schreiben es die Regeln vor. Doch gerade deswegen wende ich mich an euch! Wie ich bereits -313-
sagte, schuf der Krieg eine außergewöhnliche Situation. Das größte Yamgo wurde verwüstet und seine Priesterinnen verschleppt. Nur eine geweihte Priesterin blieb übrig - Santemi, die euch allen bekannt ist, und die unser verstorbener Hoherpriester und die Ichka sehr schätzten. Ihr wurde, trotz der Regeln, gestattet, in Tampol-Bo-Ri zu bleiben. Ihr wißt außerdem, daß sie unserer Priesterin im Wissen sehr nahe kam. Meine Sicht nun ist folgende: Den Konvent von Samding trifft keine Schuld, keine Anwärterin schicken zu können - er wurde überfallen und von den assyrischen Truppen vollständig verwüstet. In der Tat hätte das Komitee Samding allen anderen Konventen vorziehen müssen, da es das erste Yamgo unseres Landes war. Doch da die Nonnen verschleppt wurden und nur Santemi übrigblieb, konnten die Mitglieder des Komitees, die sich an die Regeln halten, nicht zwischen den Mädchen wählen, da ja nur eine einzige die Katastrophe überlebte. Deshalb wurde Samding, ohne eigenes Verschulden übergangen. Ich frage euch, entspricht das den Prinzipien der Gerechtigkeit? Sollen wir auch in diesem Falle an den Regeln festhalten?" „Es entspricht nicht den Prinzipien der Gerechtigkeit!" riefen die Lamas. „Es ist ungerecht!" „Es herrschte Krieg! Wir können uns in diesem Fall nicht an die Gesetze halten!" „Was konnte Samding dafür, daß es zerstört wurde?" rief auch ich. „Selbst wenn es leer steht und nur Santemi übrigblieb, wissen wir nicht alle, daß sie die Beste war?" Lhalu hob die Hand, und wir verstummten. „Ja, sie war die Beste", sagte er, „und sie ist außerdem die weiseste, klügste Priesterin Bod-Yuls, begabt mit den höchsten psychischen Fähigkeiten. Das sage nicht nur ich, euer Hoherpriester, ihr alle wißt es ebenso! Als ich im Tempel in die Kugel sah, erschien eine Priesterin mit hellbraunem Haar in meiner Vision." -314-
„Auch wir haben sie gesehen", riefen die Lamas nacheinander, „denn solch eine kindliche Gestalt sieht man selten in Bod-Yul." „In der Nacht nach meiner Weihe zum Hohenpriester war es ihre Stimme, der ich in der unterirdischen Höhle folgte. Und auch der darauffolgende Traum bestätigte meine Entscheidung. Doch in vier Tagen werden die sieben Priesterinnen hier eintreffen, obwohl ihre Wahl, meiner Meinung nach, nicht den Gesetzen entspricht, da Samding nicht berücksichtigt wurde. Aus diesem Grunde, im Anbetracht der außergewöhnlichen Situation, im Vollbesitz meines priesterlichen Wissens und gemäß der Prophezeiung wünsche ich, Santemi, den Liebling unserer früheren Ichka und die hervorragendste Eingeweihte des ersten Konvents von Bod-Yul, an meiner Seite als Priesterin dieses Klosters zu sehen. Ich erbitte euren Rat und euer Einverständnis, o Brüder, denn, wie ihr wißt, war ich seit vielen Jahren ihr geistiger Führer. Was meint ihr, was sollen wir den Begleitern der Priesterinnen sagen? Ich würde ihnen eure Entscheidung mitteilen und sie bitten, meine Wahl im Anbetracht der besonderen Umstände anzuerkennen. Aus diesem Grunde suche ich euren Rat und eure Unterstützung, meine Brüder. Zuerst soll unser Ältester sprechen." Chandugsa Lama erhob sich. „Die Worte unseres geliebten Hohenpriesters haben meine Seele tief beeindruckt, und ich bin mir sicher, daß es euch ebenso ging, meine Brüder. Der Große Krieg hat wahrlich viel verändert, und wir alle lieben und achten die kleine Santemi. Wenn die Delegation der Priesterinnen zustimmt, werde ich für meinen Teil der Entscheidung meines Hohenpriesters gerne zustimmen." Die versammelten Lamas gaben alle gleichzeitig ihr Einverständnis bekannt, und es dauerte eine Weile, bis der Lärm verstummte. -315-
Dann erhob sich der Kharpon und meinte, daß er den Worten Chandugsa Lamas nur beistimmen könne. Nach ihm bat Namseling Lama um das Wort. „Mein Hoherpriester", sagte er und verbeugte sich vor Lhalu, der auf seinem Thron saß. „Auch ich bin der Meinung, daß der Krieg eine außergewöhnliche Situation schuf. Auch ich liebe Santemi und würde sie gern an deiner Seite auf dem Thron sitzen sehen und mich vor ihr verbeugen. Und doch kann ich als altes Oberha upt der Seher, das seit vierzig Jahren ferne Ereignisse und zuweilen auch die Zukunft in seinem Herzen bewegte, nur sagen, daß wir selbst in außergewöhnlichen Situationen das Gesetz genauestens befolgen müssen. Samding wurde nicht umsonst überfallen, denn alles geschieht nach dem Willen der Heiligen Weisheit. Zufällig traf die Katastrophe diesen Konvent, so daß wir von dort keine Priesterin auswählen können. Wir müssen die Ankunft der sieben Mädchen abwarten, um zu sehen, ob es unter ihnen eine von kleiner Gestalt gibt. Doch selbst wenn kein solches Mädchen dabei ist, glaube ich kaum, daß die Abordnung zustimmen wird, daß du die sieben nach dem Gesetz Auserwählten gleich wieder zurückschickst! Ich würde der Entscheidung unseres Hohenpriesters zu gerne zustimmen, doch ich darf meine Zweifel nicht verschweigen, denn es ist meine Pflicht, ihn zu warnen. Ich würde deshalb vorschlagen, abzuwarten - so sehr wir auch von der Wahrheit deiner Vision überzeugt sind - bis der Wille der Heiligen Weisheit erfüllt ist. Und Ihr Wille erfüllt sich nur dann, wenn wir dem Gesetz genauestens folgen." Tiefe Stille herrschte, nachdem er gesprochen hatte. Lhalu schaute gedankenverloren vor sich hin. Dann erhob er sich langsam, als erwachte er gerade aus einer Trance und dankte seinen alten Lamas mit warmen Worten für ihren Rat. „Möchte noch jemand dazu sprechen?" fragte er und wandte sich an die alten Brüder. Namgang, der Alte, stand auf, stimmte Lhalus Entscheidung -316-
zu und riet ihm zu einer Abstimmung. Doch bevor unser Hoherpriester den Arm heben konnte, hatten schon alle Anwesenden ihre Arme erhoben, als seien sie an Seilen hochgezogen worden. Die dreihundertundzwanzig Lamas von Tampol-Bo-Ri beendeten die Diskussion und zeigten, daß sie selbst gegen das Gesetz Santemi, die kleine Waise des Yamgo von Samding als Herrin und Priesterin wünschten. Die Versammlung löste sich auf, und Lhalus Gesicht strahlte vor Freude. Auch die Lamas waren so froh, daß sie es nicht fertigbrachten, sich den ganzen Tag zu beherrschen. So pflückten die Novizen morgens an Stelle von Heilkräutern Blumen, und Lhalu, der die Aufgabe hatte, ihnen dabei geistig zu folgen, tadelte sie nicht. Bevor ich an diesem Abend einschlief, weinte ich, obwohl ich von allen der Glücklichste hätte sein müssen…
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Kapitel 16 Endlich waren diese vier Tage vorüber. Niemals zuvor hatte das Felsenkloster eine so aufregende Zeit erlebt! Am Nachmittag des vierten Tages verkündete der Klang der Muschelhörner und der Gongs das Nahen der Karawane. Die Hohenpriester von sieben Konventen, von denen jeder eine eigene Priesterin mit sich brachte, hatten ihr Zusammentreffen im Tal vorher miteinander vereinbart. Unter feierlichen Ritualen zogen sie mit prächtigem Gefolge in den Klosterhof ein. Eine große Menschenmenge hatte sich an diesem Tage in Tampol-Bo-Ri versammelt, und beim Anblick der Prozession der Priesterinnen begannen die Leute zu beten. Doch dann nahm die Angelegenheit eine unerwartete Wendung. Als Lhalu beim geheimen Treffen der Hohenpriester seine Bitte vortrug, protestierten die Oberhäupter aller Konvente und verlangten, daß die weibliche Novizin, die sich wider alle Regeln im Felsenkloster aufhielt, augenblicklich in einen Konvent geschickt werde und daß er, Lhalu, unter den sieben Anwärterinnen wählen sollte, so wie es das Gesetz bestimmte. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Kloster und verursachte ungewöhnliche Aufregung. Die letzte Sitzung vor der Abreise der Delegation wurde in unserer Gegenwart in der Versammlungshalle abgehalten. Unser Hoherpriester erhob sich und sprach: „Meine verehrten, hochgelehrten Hohenpriester und Brüder, meine geliebten Lamas", begann er, „als gehorsamer Diener der Heiligen Weisheit nehme ich eure Entscheidung demütig zur Kenntnis. Es ist euer Wunsch, daß wir Santemi, die junge Priesterin aus dem verwüsteten Konvent von Samding, in ein Nonnenkloster schicken, und so sei es! Wenn ihr das Gesetz trotz der außergewöhnlichen Lage - in all seinen Einzelheiten -318-
befolgen wollt, werde ich, eingedenk meines Ranges als Hoherpriester, meinem Wunsche entsagen. Trefft eine neue Wahl, denn die bestehende anzuerkennen, weigere ich mich. Führt die sieben Priesterinnen zusammen mit Santemi in ihre Konvente, prüft die Mädchen ein zweitesmal und wählt die Sieben Heiligen. Ich erbitte einen Monat Aufschub, während welcher Zeit die Priesterinnen in ihren Yamgos erneut erprobt werden können. Bis dahin mögen uns die Himmel leiten und unseren Geist erleuchten." Widerwillig entsprach die Delegation schließlich Lhalus Bitte. Am nächsten Morgen begab sich die Karawane mit den sieben Priesterinnen und Santemi als der achten auf den Rückweg. Worte können das Leid und den Schmerz, der das ganze Kloster erfüllte, kaum beschreiben. Nur Lhalu bewahrte die Fassung, als habe er den Grund der allgemeinen Trauer schon vorhergesehen. Es mußten etwa drei Wochen seit der Abreise der Delegation vergangen sein, als der Hohepriester eines abends in meine Zelle trat. Diese große Auszeichnung wurde selten einem einfachen Lama zuteil, doch Lhalu schien an seinen alten Gewohnheiten festzuhalten. „Ti-Tonisa", begann er und machte es sich auf dem niedrigen Stuhl bequem, der vor meinem Bett stand. „Ich komme zu dir wie in guten alten Zeiten, wo wir uns in deine Zelle zurückzogen, um ungestört miteinander reden zu können. Uns beide verbindet viel mehr mit Santemi als alle anderen. Du warst bei mir und hast mir geholfen, als ich sie heilte, und du standest mir auch im Großen Kriege bei, als uns durch Gottes besondere Gnade vergönnt war, sie zu retten. Ich spüre, nein, ich weiß, daß sie eines Tage s für immer hier im Kloster leben wird. Doch jetzt ist sie in großen Schwierigkeiten, und mein Herz ist tief betrübt." „Was ist geschehen, mein Herr?" „Sie wurde in den Konvent von Ribog gebracht, wo man sie -319-
in die Höhle des Yamgo sperrte und täglich bestraft. Sie glauben dort, sie sei vom Bösen besessen. Damit habe ich wohl genug gesagt…" Mein Blut erstarrte. Ich wußte nur zu gut, was Exorzismus in Bod-Yul bedeutete! Das Schlimmste war, daß die arme Santemi zu Unrecht beschuldigt wurde, denn man warf ihr vor, sie habe den Hohenpriester verhext! Wahnsinnige, Verrückte und Besessene, die den ganzen Tag lang schrien oder randalierten, wurden auf Befehl des jeweiligen Hohenpriesters für drei Tage in eine unterirdische Zelle gesperrt. Danach wurden sie herausgeholt und einer bestimmten Behandlung unterzogen. Ein besonderes Puder, Sahab genannt, wurde in eine für diesen Zweck bereitete Flüssigkeit gestreut und der Besessene darin gebadet. Der Puder fraß sich in die Haut ein und verursachte furchtbare Schmerzen, wo rauf die Priesterin den Betreffenden sieben Tage lang mit den Strichen des Großen Magnetismus behandelte. Hatte sich der Besessene danach noch nicht beruhigt, hielt man ihn über einem Feuer fest, so daß seine Haut verbrannte. Diese Methode wurde allerdings nur bei jenen angewandt, die vom Bösen Geist besessen waren, weil sie vom wahren Glauben abgelassen hatten. Diese Menschen wurden so drastisch behandelt, daß sie außer sich waren vor Schmerz. Danach wurden sie in Heiligem Wasser gebadet und magnetisiert. „Vater", sagte ich zögernd, „glaubst du etwa, daß sie gegen Besessenheit behandelt wurde? Nein! Das kann ich nicht glauben! Das wäre schrecklich!" „Nenn mich Aku, wie früher, Ti-Tonisa. Ich bin dein ,großer Bruder' und will es für immer bleiben. Unglücklicherweise hast du recht. Die Tatsache, daß sie in der Höhle des Yamgo eingesperrt wurde, spricht für sich. Siehst du, Tonisa, wie engstirnig die Menschen, ja selbst Hohepriester sind? Doch Geduld, wir wollen geduldig sein. Laß uns die Allmächtige Weisheit anflehen, unser Leiden zu verkürzen. Du weißt, daß -320-
die Höchsten Führer den Eingeweihten unterschiedliches Arva auferlegen. Je nachdem wie man die Prüfung bestehst, ist einem eine leichtere oder schwerere Zukunft bestimmt. Bete für sie, Arau, deshalb bin ich gekommen. Bete darum, daß ihr Leiden kurz sein und daß sie trotz allem hierher zu uns kommen möge, selbst wenn alle Anzeichen gegen diese Hoffnung zu sprechen scheinen." „Seit ich ihr das erstemal begegnet bin, habe ich für sie gebetet", murmelte ich mit gesenktem Kopf. Schließlich war der Monat Aufschub vorüber, um den unser Hoherpriester gebeten hatte, und er bereitete sich auf die Reise vor. Um der Abordnung der Hohenpriester nicht noch einmal die Unannehmlichkeiten der Anreise zuzumuten, hatte er sich mit ihnen darauf geeinigt, daß er sich diesmal in das Yamgo begeben würde, in welchem die sieben neuen Kandidatinnen für ihn versammelt würden. Dort würde er seine Wahl treffen und die neue Priesterin gleich danach mit sich zurücknehmen. Am Tage zuvor hatte ein gleitender Bote die Nachricht überbracht, daß alles vorbereitet sei. Er hatte außerdem den Namen des Yamgo genannt, zu welchem Lhalu seine Karawane lenken sollte. Zufällig oder absichtlich, wer wollte das sagen, war der Konvent von Ribog ausgewählt worden, in welchem Santemi lebte. Diese Neuigkeit machte uns froh, denn mit unserem Ichkitsu hofften wir, daß die Delegation der Hohenpriester auf diese Weise feinsinnig zum Ausdruck brachte, daß sie seiner Bitte entsprechen wollte. Diese Nachricht besänftigte auch unsere Sorge wegen Santemis Einkerkerung und Bestrafung, denn sie mochten Teil einer Prüfung gewesen sein, mit der sie ihrer Priesterin beweisen mußte, welche Härten sie ertragen konnte. In allen Klöstern und Konventen wurden Geduld und Eitelkeit einer Vielzahl solcher Prüfungen unterzogen. Lhalu nahm mich mit auf die Reise, und da das Yamgo von Ribog nicht weit vom Felsenkloster entfernt lag, erreichten wir es bereits nach einem siebentägigen Marsch. Wir wurden -321-
feierlich und förmlich empfangen und nach einem üppigen Mahl in die besten Gästezimmer geleitet. Am Morgen jedoch erwartete unseren Hohenpriester und unsere Delegation eine gewaltige Überraschung. Als uns die sieben Mädchen, die aus allen Konventen Bod-Yuls ausgewählt worden waren, im Chang vorgestellt wurden, befand sich Santemi nicht unter ihnen. Ich schaute Lhalu an und bemerkte, daß sein Gesicht eine Spur blasser geworden war. Auch spürte ich, daß er am liebsten sofort protestiert hätte, doch er wußte so gut wie ich, daß es besser war, zu schweigen. Denn die Auswahl der Sieben Heiligen war Angelegenheit des Konzils der Hohenpriester, bei dem er kein Mitspracherecht besaß. Wenn sie entschieden, Santemi nicht zuzulassen, konnte niemand dagegen Einspruch erheben. Eine Hitzewelle durchflutete meinen Körper, und ich spürte einen Kloß in meiner Kehle. Wenn die Dinge so standen, dann stimmten auch die Gerüchte von Santemis Bestrafung! Unser Schmerz hätte größer nicht sein können! Wir befanden uns - hochgeehrt und inmitten prächtiger Festlichkeiten und Zeremonien zu unseren Ehren - genau in jenem Konvent, in dessen Keller unsere geliebte, unsere begnadete kleine Santemi hinter Gittern schmachtete! Das Schlimmste was, daß wir nichts für sie tun konnten. Kein Hoherpriester in Bod-Yul hatte das Recht, in die disziplinarischen Methoden des Klosters oder Konventes eines anderen Großen Lama oder einer Ichka einzugreifen. Als er seine Wahl treffen mußte, deutete Lhalu auf eine der sieben Priesterinnen, ein Mädchen von kleiner Statur mit braunem Haar und hervorstehenden Backenknochen zwischen fünfundzwanzig und achtundzwanzig Jahren. Sie war ihm aufgefallen, weil sie die ihr gestellten Fragen ohne zu zögern beantwortet hatte. Als sich unsere kleine Karawane am folgenden Tage mit der neuen Priesterin auf den Heimweg machte, lenkte Lhalu sein Maultier neben das meine. Ich hockte so traurig und -322-
gedankenverloren auf meinem Tier, daß ich ihn erst bemerkte, als er meinen Arm berührte. „Sorge dich nicht, Arau", sagte er, „ich habe viel mehr Grund dazu! Es scheint, als hätten sich die Himmel gegen uns verschworen. Doch wenn wir nicht aufhören zu beten, können wir selbst schlechtes Arva ändern, denn Gott ist stets gnädig und hat ein mitfühlendes Herz. Die Hauptsache ist, sich niemals zu ängstigen oder kleingläubig zu werden und alles Unglück zu ertragen. Glaub mir, Freund, wenn wir furchtlos sind und vertrauen, mögen selbst vorbestimmte Schicksalsschläge an uns vorübergehen. Dort reitet Bamo, unsere neue Priesterin, auf ihrem Maultier. Sie ist ein gutwilliges Mädchen, nur etwas geschwätzig. Doch ich spüre bis in meine Knochen, daß sie in unserem Kloster in Schwierigkeiten geraten wird. Ja, sie wird in große Schwierigkeiten geraten, deshalb nehme ich sie so bereitwillig mit. Nein, Ti- Tonisa, unsere Prüfung ist noch nicht zu Ende." „Aku," flüsterte ich, da mir plötzlich ein Gedanke kam, „erinnerst du dich noch daran, was die Metallkugel am Tage deiner Einweihung zeigte? Eine Priesterin von kleiner Statur mit hellbraunem Haar, die sich später in eine dunkelhaarige verwandelte. Jetzt ist es also wahr geworden." „Nicht ganz, Ti-Tonisa, nicht ganz. Auch ich hatte Visionen. Ich wußte, daß ich einmal einen hohen Rang bekleiden würde, und ich sah auch meine zukünftige Priesterin, die jedoch unserer ehrenhaften Bamo in keiner Weise glich. Dieser Punkt ist mir wirklich vollkommen gegenwärtig." Als wir ankamen, hatten sich die Menschen erneut im Klosterhof versammelt, doch als wir nach den üblichen Segenswünschen in den großen Chang einzogen und die versammelten Lamas sich in tiefer Verehrung niedergeworfen und wieder erhoben hatten, sah ich unbeschreibliches Erstaunen und Verwirrung in ihren Gesichtern. Ein leises Murmeln erfüllte die Halle, die Mönche wogten vor und zurück wie Gräser im -323-
Winde und steckten die Köpfe zusammen. Der Kharpon sprach das wunderschöne Gebet, welches nur bei der Weihe einer Priesterin gesprochen wird, dann wurde die Ichka in den Tempel geführt, wo sie ihren Thron in Augenschein nahm. Danach zeigte man ihr ihre Zelle im Turm. Jetzt erst wurden die religiösen Zeremonien, wurde das alltägliche Klosterleben wieder aufgenommen, denn ohne Priesterin konnten keine Vorträge gehalten und keine Rituale ausgeführt werden. So kam Bamo, die neue Priesterin, zu unser aller Bedauern ins Felsenkloster. Doch wir waren gehorsam und befolgten das Gesetz Gottes, und von diesem Tage an behandelten wir sie mit derselben Hochachtung wie unsere frühere Ichka. Die arme alte Ichka! Selbst jetzt gedachten wir ihrer voller Liebe. Als sie damals unser Kloster betrat, hatte sie bereits gewußt, daß sie dort nicht sterben würde. Auch war sie vom Himmel mit großem Feingefühl bedacht, und darin hatte sie die Priesterinnen anderer Klöster weit übertroffen. Diese psychisch hochbegabten Frauen, die bereits beim Eintritt in ein Kloster spürten, ob es ihnen bestimmt war, dort auch zu sterben, brachten die größten Opfer. Und das um so mehr, wenn sie fühlten, daß ihr Hoherpriester vor ihnen sterben würde, denn in einem solchen Falle mußten sie, wie unsere ehemalige Ichka, in ihr früheres Kloster zurückkehren, wo sie die ihnen verbleibende Zeit in Trübsinn und Unglück fristeten. Doch die verstorbenen Hohenpriester besuchten ihre früheren Ichkas und begleiteten sie im Geiste bis zu ihrem Tode. Außerdem behielt eine zurückgetretene Priesterin ihr altes Wissen und brauchte in ihrem Yamgo keinen Beistand. Doch sie waren alle seelisch gebrochen und lebten nie länger als drei Jahre. All dies kam mir in den Sinn, als ich das Gesicht der neuen Priesterin betrachtete, die so anders war als die frühere. So wurde Bamo, die Priesterin, in ihr Amt eingeführt, doch wie sie uns wieder verließ ist eine andere Geschichte, und eine -324-
lange zudem. Doch werde ich mich kurz fassen, denn es lohnt sich nicht, viele Worte an diese Angelegenheit zu verschwenden. Nachdem drei Monate vergangen waren, warteten wir eines morgens vor der Feuertrance vergeblich auf sie. Schon länger war mir aufgefallen, welch dünne, nahezu durchsichtige Kleider sie trug, denn wenn der Zeremonienmeister ihr gemäß dem Ritual den Mantel abnahm, konnte man im Feuerschein ihre Figur erkennen. Ich wußte tatsächlich oft nicht, was ich davon halten sollte und schaute zu Boden. Ich wagte nicht, meine Beobachtung mit anderen Lamas zu teilen, doch ich sah ihnen ihre offensichtliche Bestürzung an. Sie wußten ebenfalls nicht, wie sie sich verhalten sollten, schauten zur Ichka, senkten gleich darauf wieder die Augen und seufzten erleichtert auf, wenn sie ihren Mantel wieder anzog, sich an die Armlehne ihres Thrones lehnte und in tiefen Schlaf fiel. An jenem Morgen also hatten wir uns im Chang zur Feuertrance versammelt, und unsere Ungeduld erreichte gerade ihren Höhepunkt, als ein einfacher Trapa, ein Angehöriger der niederen Priesterschaft, der auf den Feldern arbeitete, den Tempel betrat und sich vor dem Hohenpriester zu Boden warf. Dann überreichte er ihm eine Schriftrolle, die Lhalu in Empfang nahm und den Mann darauf mit einer Handbewegung entließ. Wir ließen uns nichts von alledem entgehen, ohne zu wissen, was wir davon halten sollten, da es allen, vor allem aber den Trapas, strengstens verboten war, die heiligen Riten zu stören. Lhalu starrte lange auf die Papyrusrolle, obwohl nicht viel darauf geschrieben sein konnte, da er sie in kürzester Zeit überflogen hatte. Beim Lesen wurde sein Gesicht sehr ernst. Bestürzung, Scha m und wer weiß welch andere Gefühle huschten in wenigen Augenblicken über seine Miene. Wie durch ein Wunder entspannten sich dann seine Züge, und er verzog den Mund zu einem immer breiter werdenden Lächeln, welches wir unwillkürlich nachahmten. Schließlich brach er in lautes -325-
Gelächter aus, das in dem großen Tempel merkwürdig widerhallte. Die alten Lamas, die in der hintersten Reihe saßen, waren bereits aufgestanden und betrachteten ihn besorgt. Ich muß gestehen, daß es mir ähnlich erging. Mit klopfendem Herzen und völlig verwirrt starrte ich ihn an. Dann geschah etwas Furchtbares: Das Gelächter des Hohenpriesters breitete sich wie eine ansteckende Krankheit unter den feinfühligen Lamas aus! Vergeblich versuchten sie, den Reiz zu unterdrücken, und bald stieg hier und dort ein schrilles Kichern auf. Glücklicherweise hob der Hohepriester Lhalu die Hand, worauf wir alle verstummten. „Meine Brüder!" rief er mit einer seltsam zitternden Stimme, und keiner konnte sagen, ob sie vor Heiterkeit oder Trauer bebte. „Es ist etwas Schreckliches geschehen! Macht euch auf das Schlimmste gefaßt! Eine große Schande, eine schimpfliche Entehrung hat das Kloster getroffen. Eine wirkliche Schmach, von der man noch lange Zeit in Bod-Yul reden wird, wenn wir uns davon nicht reinwaschen. Stellt euch vor, unsere Priesterin, die höchst ehrenwerte Ichka, hat das Kloster verlassen! Sie entlief mit einem gewöhnlichen Trapa, der als Gärtner auf dem Kharlam beschäftigt war. Was beweist uns das, Brüder? Können wir den Beschlüssen der Klöster überhaupt noch trauen? Ist es nicht höchste Zeit, die Ordnung in den Chintanyins von BodYul wieder herzustellen? Jetzt ist es erwiesen! Begreift ihr jetzt, warum wir durch den Großen Krieg gezüchtigt wurden? In Klöstern, wo sich eine solche Priesterin eine n Platz unter die Sieben Auserwählten erschleichen kann, muß Ordnung geschaffen werden! Und nun sitzen wir wieder - ohne eine Priesterin." Seine Stimme versagte, und ungeachtet des Frevels, den er beging, brach er erneut in lautes Gelächter aus. Dies war das erstemal, daß ich Lhalu aus vollem Herzen lachen hörte. Sein Lachen steckte uns an und so geschah etwas, was im Felsenkloster noch nie geschehen war: Die ganze -326-
Versammlung der Lamas im großen Chang brüllte vor ausgelassenem, gurgelndem, prustendem Lache n. Auch ich lachte mit den anderen und wußte dabei, daß unsere Heiterkeit nicht der Tatsache galt, daß die Ichka mit einem Trapa durchgebrannt war. Maßlos erleichtert und von der großen Spannung befreit, freuten wir uns über das Versagen der vom Konzil der Hohenpriester ausgewählten Priesterin und hofften, daß nach alledem die kleine Santemi eine der sieben Jungfrauen sein würde. Von diesem Zeitpunkt an jagten die Ereignisse einander in rascher Folge, und selbst ein Blinder hätte gesehen, daß die Hand Gottes unsere Angelegenheiten regelte. Eine neue Wahl wurde anberaumt, was natürlich an sich noch keinen Vorteil bedeutete, denn niemals konnte eine „besessene Person" unter die sieben Anwärterinnen aufgenommen werden. Doch dann geschah etwas Erstaunliches. Im Yamgo von Ribog, wo Santemi hinter Schloß und Riegel gehalten wurde, brach eine unbekannte Seuche aus. Da Lhalu zu unseren Zeiten in der medizinischen Wissenschaft am besten bewandert war, schickte man nach ihm. Er nahm mich mit, und ich kann nur sagen, daß diese Reise nur unserem Vorteil diente. Lhalu gelang es, die Ichka, den Hohenpriester und die Nonnen des Konvents zu heilen, die bereits seit einigen Tagen krank daniederlagen. Doch Santemi fanden wir nicht unter den Leidenden. Lhalu fragte vergeblich nach ihr, niemand schien ihren Aufenthaltsort zu kennen. Am dritten Tag verlor mein Meister die Geduld und teilte dem Burgvogt mit, daß er alle Personen, die im Konvent lebten, untersuchen müsse, da die Seuche ihr Haupt sonst wieder erheben könne, und dann müßten alle hier sterben. „Gibt es irgendeine Frau, die ich noch nicht gesehen habe?" erkundigte er sich streng beim Kharpon. „Antworte mir, denn da dein Hoherpriester noch nicht gesund ist, übernehme ich seine Funktion!" „Eure Heiligkeit", stammelte der Burgvogt, „mir ist niemand -327-
mehr bekannt!" „Ich sehe deine Gedanken", donnerte Lhalu, „und es ist dein Glück, daß du die Wahrheit sprichst. Denk noch einmal nach! Gibt es eine Priesterin, die gerade bestraft wird? Bei einer unserer geistigen Reisen erfuhren wir, daß ein Mädchen völlig ungerechtfertigt in den unterirdischen Höhlen dieses Konvents darbt!" Der Burgvogt strich sich mit der Hand über die Stirn. „Wirklich, Vater, jetzt, wo ihr es sagt, erinnere ich mich wieder. Wir haben eine Priesterin eingesperrt, welche die Trapas versorgen. Ihre Behandlung war hoffnungslos, und so bestimmte die Ichka, daß nur die Trapas ihr das Essen bringen dürfen, da sie unrein ist. Niemand sonst darf sie sehen. Doch ich glaube, daß sie schon lange tot ist, denn als ich sie das letzte Mal sah, war sie in keinem guten Zustand." Lhalu warf ihm denselben Blick zu, unter dem schon die assyrischen Soldaten sichtlich geschrumpft waren. „Mann! Du kommst augenblicklich mit mir! Bring die Schlüssel, und wenn der Gefangenen irgend etwas zugestoßen ist, sage ich dir im Namen der Heiligen Weisheit, daß du nicht länger Kharpon und dein Kloster kein Kloster mehr sein wird!" Der Burgvogt wimmerte auf, warf sich zu Boden und küßte den Saum von Lhalus Gewand, doch dieser riß ihn auf die Füße und versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. „Beeil dich! Wir dürfen keine Zeit verlieren!" Der zitternde Mann zauberte in Kürze die Schlüssel herbei, und bald stiegen wir die gewundene Treppe hinab, die zu der unterirdischen Höhle führte. Diese glich dem Höhlengang im Felsenkloster, den ich mich einst voller Furcht vor der Wasserprüfung entlanggetastet hatte. Wir fanden Santemi in einer winzigen Zelle nahe dem Höhlensee, doch in welchem Zustand! Ihr Kleid war schmutzig -328-
und zerfetzt, das Haar zerzaust, ihr kleiner Körper dünn wie eine Maus. Nur die grünlichen Augen leuchteten mit derselben faszinierenden Klarheit, obwohl das Leid Falten in ihr müdes, abgezehrtes Gesicht gegraben hatte. Als wir die Gefängnistür öffneten, mußte ihr Lhalu auf die Füße helfen, da sie kaum gehen konnte. „Santemi!" riefen wir fast gleichzeitig, „Santemi, wir sind es!" Als sie meinen Meister erkannte, war sie nicht überrascht, sondern sagte leise und atemlos: „Ich wußte, daß du kommen und mich befreien würdest. Gesegnet sei die Ewige Weisheit, zu der ich unaufhörlich über gebetet habe." Wir nahmen sie mit auf den Klosterhof, damit sie frische Luft atmen konnte, dann kamen auf Lhalus Anordnung die Dienerinnen der Priesterin, badeten sie und gaben ihr ein neues Kleid. Am Nachmittag führten wir sie zur Ichka, die immer noch das Bett hüten mußte. „Siehe! Das hast du der besten eingeweihten Priesterin BodYuls angetan, die ich persönlich sechs Jahre lang im Felsenkloster ausbildete!" rief Lhalu mit blitzenden Augen. „Du hast sie viele Monate lang gegen Gesetz und Regel unter dem dummen Vorwand, sie sei vom Bösen besessen, in der unterirdischen Höhle gequält. Ich, Lhalu, der Hohepriester, BodYuls bester Arzt, der dich, Ichka, und deinen Hohenpriester an der Schwelle des Todes heilte, erkläre hie rmit feierlich, daß dieses Mädchen vollkommen gesund ist, nur schwach und fast verhungert. Höre mir jetzt genau zu! Ich befehle dir, mir diese Priesterin zu übergeben. In einem Monat wird eine neue Wahl stattfinden. Ich bin nicht an den anderen sechs Mädchen interessiert, du kannst aufstellen, wen du willst. Doch Santemi wird unter den Sieben Heiligen sein! Und da ich mich in jedem Falle für sie entscheiden werde, wirst du sie mit großem Gefolge als die zukünftige Priesterin des Felsenklosters zu mir schicken. Die anderen sechs mögen zu Hause bleiben, da ich kein Interesse daran habe, sie zu sehen. Yamgos, in denen -329-
Kandidatinnen ausgewählt werden, deren beste nach drei Monaten durchbrennt, verdienen nicht, Konvent genannt zu werden. So habe ich beschlossen und so befehle ich, Lhalu, der Hohepriester von Tampol-Bo-Ri, Bod-Yuls bestem Kloster!" Die Ichka war vollkommen eingeschüchtert, vor allem deshalb, weil Lhalu ihr noch zwei Heilbehandlungen geben mußte, und deshalb schwor sie, seine Anweisungen genauestens zu befolgen und sein Anliegen beim Konzil der Hohenpriester mit Nachdruck zu vertreten. Sie sagte, wir sollten uns keine Sorgen mehr machen, denn Santemi, welche ganz plötzlich zur besten und klügsten Schülerin aufgestiegen war und einem beklagenswerten Irrtum zum Opfer gefallen sei, würde in einem Monat im Felsenkloster erscheinen. Als der Mond die weißen Wände Tampol-Bo-Ris in sein silbernes Licht hüllte, kam für uns alle der große heilige Augenblick: Santemi hielt mit prächtigem Gefolge Einzug im Felsenkloster. Eine Menschenmenge, dreimal so groß wie bei jedem anderen Anlaß, hatte sich im Klosterhof versammelt, und dreimal so laut stiegen die Gebete gen Himmel. Wieder wurde der Weinkeller geöffnet, doch diesmal sangen die Lamas vor Freude und nicht wegen des Alkohols. Und als am Morgen der Hohepriester im Tempel mit seiner neuen Ichka zur Linken auf dem Zwillingsthron Platz nahm, und Chandugsa, der Sprecher der Lamas, das Einweihungsgebet der Priesterin sprach, weinten alle vor Bewegung. Dreimal verbeugte sich der alte Lama vor dem Thron und grüßte sie in unser aller Namen mit den alten feierlichen Worten: „Erhabene Priesterin, Mutter, Wächterin und Empfängerin der Heiligen Einsichten! Du wirst in diesem, unserem Leben das Licht des Klosters sein. Du weiß t, was der Große Schöpfer den -330-
Sterblichen erlaubt. Möge unser Kloster Kraft deines Willens eines Tages groß und berühmt sein! Mögen wir Kraft deines Willens eines Tages ewigen Seelenfrieden erlangen und jener Musik lauschen, welche immer für uns klingen soll! Mögen deine Augen uns beschützen und dein Blick sich nie von uns abwenden! Möge der Gott der Weisheit deinen Geist vollkommen erleuchten und dir die Stärke verleihen, all das, was du in deinen Inspirationen aufnimmst, für uns verständlich und zu unserem Nutzen an uns weiterzugeben! Laß dein ewiges Licht in der Stunde unseres Todes über uns leuchten, und halte durch deine Verbindung zu Gott die Kanäle zwischen uns und der ewigen Liebe geöffnet. Dies wünschen wir uns von dir, und wir erwarten, daß du es uns gibst. Möge die Allmächtige Weisheit dir bei deinem Tun beistehen." Gemäß der Zeremonie mußte der Hohepriester die Führung des Klosters mit seiner neuen Priesterin gleich zu Anfang durchsprechen. So ordneten sie die heiligen Rollen und Schriften und bereiteten die Bücher für die astrologischen Berechnungen vor. Nach ihrem ersten Monat im Kloster mußte die Priesterin das Horoskop des Hohenpriesters berechnen, welches sie ihm jedoch nicht aushändigte. Sie behielt es bei sich, schrieb die Ereignisse jeden Tages auf und notierte, was sich von den Vorhersagen erfüllte. Sie war in jeder Hinsicht für den Ichkitsu verantwortlich, mußte alles wissen, was der Hohepriester wußte, und zusätzlich dazu seine Pläne, sein Leben und sein Arva kennen. Oft war die geistige Verbindung der beiden so stark, daß ihre Geister nach dem Tode zum alten Kloster zurückkehrten und versuchten, ihre Nachfolger zu beeinflussen. Die Ichka erhielt keine besonderen Anweisungen mehr, da sie in ihrem früheren Yamgo auf alles vorbereitet worden war. Das Leben einer Priesterin konnte aber auch schwierig sein. Sie mochte unter den neuen Lamas den Kopf verlieren, wie es der Priesterin Bamo geschehen war, oder die Ausbildung der -331-
Mönche zu nachgiebig oder zu streng handhaben. So etwas passierte besonders dann, wenn die Priesterin zu jung war. Sie verfügte über das größte Wissen und sah alles, so daß der Hohepriester ihren Fähigkeiten Gerechtigkeit widerfahren ließ und sie als gleichrangig anerkannte. Es geschah allerdings recht häufig, daß ein Hoherpriester drei oder vier Priesterinnen fortschicken mußte, bis er die richtige fand. Die körperliche und seelische Reinheit einer wahren Priesterin erreichte einen hohen Grad. Aus diesem Grunde wurde sie von allen so sehr geachtet. Natürlich spielte die Erfahrung im Leben der Ichka eine große Rolle, denn oft dauerte es lange Jahre, bevor sie unabhängig und ohne die Führung des Hohenpriesters handeln konnte. Hier besaß unsere Santemi einen unschätzbaren Vorteil, denn seit wir sie - unmittelbar nach ihrer Einweihung aus dem assyrischen Krieg gerettet hatten, lebte sie im Felsenkloster, wo sie innerhalb von fünf Jahren alles Wissen meisterte, über welches eine Priesterin verfügen mußte. Jetzt war sie wie eine Reisende nach langer Wanderschaft wieder in ihrem alten Kloster angelangt. So kehrte Santemi, Horkangs Tochter und einstige Schülerin des alten Zauberers, als Priesterin ins Felsenkloster zurück, um ihrem Herrn und Meister, Lhalu, bis an ihr Lebensende zu dienen. Als das Leben im Felsenkloster wieder in seinen alten Bahnen lief, reihten sich die gewohnten Ereignisse wie die Glieder einer Kette aneinander. Die üblichen Lektionen, Gebete, geistigen Reisen und Tumo-Übungen begannen von neuem. In den Klöstern herrschte seit Jahrhunderten der Brauch, daß die neue Ichka den Lamas nach der Feuertrance eine lehrreiche Geschichte erzählen mußte, wonach ihr Wissen beurteilt wurde. Die Geschichte, die uns die Priesterin Santemi erzähle, blieb für immer in unserem Gedächtnis haften. „Meine Brüder!" begann sie mit ihrer silbrigen Stimme, als sie sich von ihrem Thron erhob, „ich möchte euch eine -332-
Geschichte über die Gefahren der geistigen Reisen erzählen, eine Geschichte, die wirklich geschehen ist und die ich in den alten Schriftrollen unserer Bibliothek verzeichnet fand. Vor vielen, vielen Jahren lebte einst eine Familie in Bod-Yul. Der Vater starb ganz plötzlich, und die Mutter mußte nun allein für die drei Kinder aufkommen. Sie lebten einsam in einem Walde. Eines Tages verschwand eines der Kinder, nach wenigen Monaten das nächste und zuletzt auch das dritte. Die Mutter blieb zurück. Da niemand in ihrer Nachbarschaft wohnte, war sie gezwungen, in ein Dorf zu ziehen, welches eine halbe Tagesreise vom Walde entfernt lag. Viele Jahre waren seitdem vergangen, als die Mutter eines Nachts träumte, ihr ältester Sohn erscheine ihr und lebe in einem Kloster. Sie dachte lange über diesen Traum nach und hätte ihn gern vergessen, doch es gelang ihr nicht. Auch der Zauberer des Dorfes konnte nichts mit dem Traum anfangen. Nach einem Jahr träumte sie denselben Traum wieder. Plötzlich kam der Frau ein Gedanke, und sie wanderte bis zum nächsten Kloster, wo sie nach dem Hohenpriester fragte. Dieser empfing sie und hörte ihre seltsame Geschichte an. Daraufhin wies er die Priesterin an, den Fall gründlich zu untersuchen. Die Priesterin beruhigte die Frau und sagte ihr, sie solle am nächsten Tage wiederkommen. Inzwischen versuchte die Priesterin, die Angelegenheit zu erhellen, indem sie in die Metallkugel blickte. Tatsächlich fand sie die drei Kinder, die jedoch längst erwachsene Männer waren. Der erste lebte als Novize in einem Kloster, der zweite war als Händler unterwegs, und der dritte fuhr als Seemann zur See. Da die Mutter der Priesterin erzählt hatte, wie ihre drei Söhne nacheinander verschwunden waren, verfolgte sie diese im Geiste und erfuhr folgendes: Als der Mann der Frau starb, war er im weltlichen Sinne nicht tot, wenngleich seine Familie davon überzeugt war. Der Zauberer des Dorfes hatte die Feuerprobe am Körper vollzogen, und die Seele war nicht zurückgekehrt. Der Mann wurde unter -333-
einem großen Stein beigesetzt, seine Frau hatte der Beerdigung beigewohnt und war auch jetzt noch davon überzeugt, daß sich die Leiche ihres Gatten in diesem Grabe befände. Wie hätte sie denn wissen sollen, daß ihr Mann einmal ein großer Hoherpriester hier in unserem Felsenkloster gewesen war! Aus meinen Worten mögt ihr schließen, daß der Hohepriester eine ungesetzliche Tat begangen hatte und deshalb seinem Arva begegnet war. Tatsächlich war das Folgende geschehen: Eines Tages sandte der Ichkitsu sein Bewußtsein im Kloster in der höchst schwierigen Variation des Phoimonda zusammen mit seinem Körper aus, wobei, wie ihr wißt, die Zustimmung der Höchsten Führer notwendig ist, weil sich der geistige Forscher sonst großen Gefahren aussetzt. Der Hohepriester jedoch sandte seinen Geist auf eigene Gefahr aus, ohne dabei überwacht zu werden. Er wollte herausfinden, wie lange er mit nach außen projiziertem Körper und Geist an einem anderen Ort würde leben können. Deshalb begab er sich zu seiner Gruft in den Bergen, verschloß die Steintür und legte sich auf den Grabtisch. Für die Mönche war er spurlos verschwunden, und um so größer war ihre Trauer, als einer der Lamas berichtete, er sei zwischen den Felsengräbern umhergegange n und dabei zufällig am Grab des Hohenpriesters vorbeigekommen. Als er durch eine Türritze hineinspähte, glaubte er, das Oberhaupt des Klosters auf dem steinernen Tisch liegen zu sehen. Der Mann hatte recht, denn der Hohepriester lag sechs Monate in seinem Grab. Als sich der Mond zum sechstenmal drehte, hatte er sich seelisch so sehr verändert, daß er nicht mehr zum Kloster zurückkehren konnte. Er strich in der Nachbarschaft umher und lernte so die Frau kennen, die er später heiratete. Doch wurde er nie glücklich, denn irgend eine schwere Sorge belastete sein Herz. Seine Frau gebar ihm mehrere Kinder, von denen jedoch nur die drei Söhne überlebten. Diese zählten alle über zehn Jahre, als er starb. Doch sein Tod war nur eine Art Schlaf, denn ein Körper, dessen -334-
Bewußtsein unterwegs ist, kann nicht sterben. Als die Mutter die Priesterin drängte, ihr den Traum zu erklären und ihr über das Schicksal ihrer Söhne Auskunft zu geben, wollte die Ichka nichts erzählen. Die Mutter bat und bettelte umsonst, die Ichka schwieg, so daß sie unverrichteter Dinge wieder in ihr Dorf zurückkehren mußte. In Wahrheit befand sich einer ihrer Söhne bereits in jenem Kloster, in dem ihr Mann Hoherpriester gewesen war. Im Laufe der Zeit setzte sich der Vater auch mit seinen anderen beiden Söhnen in Verbindung und begleitete sie auf ihrem Lebensweg. Die ganze Zeit über war die Frau fest davon überzeugt, daß ihr Mann schon lange tot war. Doch wie ihr bereits wißt, entstieg er sechs Monate, nachdem ihn seine Frau begraben hatte, der Gruft, erinnerte sich schwach daran, daß er einst Hoherpriester gewesen war und kehrte in sein ehemaliges Kloster zurück. Dort gab es einen neuen Hohenpriester und viele neue Lamas, die ihn nicht erkannten. Sein Grab hatte lange leergestanden. Da er über außergewö hnliche Fähigkeiten verfügte, wurde er als einfacher Lama aufgenommen. Doch die alten Mönche beobachteten ihn mißtrauisch. Eines Tages wurde er tot in seiner Zelle aufgefunden, doch der Hohepriester erkannte, daß er sich in tiefer Phoimonda-Trance befand. Der Lama war geistig zu seiner Frau gereist und hatte die Söhne, einen nach dem anderen, weggeführt, indem er ihnen direkte geistige Befehle gab, wohin sie gehen sollten. Seinen Ältesten leitete er auf eine Weise zu seinem Kloster, daß niemand im Chintanyin je erfuhr, woher und warum der Junge gekommen war. Seinen beiden anderen Söhne half er. in weltlichen Berufen erfolgreich zu sein. Als der Hohepriester feststellte, daß ein einfacher alter Lama, den er als Novizen aufgenommen hatte und nur seiner Fähigkeiten wegen bei den alten Mönchen leben ließ, das Wunder vollbrachte, eine ganze Woche lang in PhoimondaTrance zu verharren, rief er ihn zu sich. Doch vergeblich unterrichtete ihn der Ichkitsu von der Wahrheit, der Mann -335-
erinnerte sich nicht an seine Kinder, die er der Mutter entführt hatte. Der Große Lama wußte über die ganze Geschichte genau Bescheid, da die Priesterin die Trance des Lamas im Phoimonda überwacht hatte und dem Hohenpriester getreulich darüber Bericht erstattete. So fanden sie schließlich he raus, daß der merkwürdige Lama Hoherpriester gewesen, später als gewöhnlicher Mann in der Welt gelebt hatte und wieder ins Kloster zurückgekehrt war." Santemi hielt eine Weile inne, und die Stille war so groß, daß wir außer dem Zischen der Flammen nichts hörten. Dies war das erstemal, daß sie zu uns sprach, und ihre silbrige, melodische Stimme lullte unsere Sinne ein. „Ich habe euch diese Geschichte erzählt, damit ihr wißt, in welch große Gefahr ihr euch begebt, wenn ihr unbeaufsichtigt geistige Reisen unternehmt und daß ein Mensch mit ausgesandtem Bewußtsein in Ausnahmefällen sogar körperliche Arbeit verrichten kann. Das gesamte Familienleben des Hohenpriesters dieser Geschichte spielte sich in PhoimondaTrance ab, und dieser Zustand endete erst, als er aus seinem Felsengrab zum Kloster zurückkehrte. Doch konnte er sich an nichts mehr erinnern und spürte nur höchst unbestimmt, daß er drei Menschen helfen mußte. Seine Sünde bestand darin, daß er das Gesetz verletzte und niemanden davon in Kenntnis setzte, daß er einen sechsmonatigen Bewußtseinsflug unternehmen wollte. Er wurde damit bestraft, daß er all sein priesterliches Wissen verlor. Denkt über diese Geschichte nach, und wenn ihr sie verstanden habt, dann zieht eure Schlüsse." Solch eine gelehrte Priesterin war unsere Santemi, die geliebte Priesterin des Felsenklosters, um die uns von diesem Tage an viele Klöster beneideten, denn ihr Ruhm drang bis in die fernsten Winkel Bod-Yuls. Sie war noch sehr jung, kaum über zwanzig Jahre alt, obwohl sie in den ersten Monaten geistig gebrochen und sehr müde wirkte. Nachdem sie etwa vier oder fünf Monate bei uns weilte, brach in der Nachbarschaft des -336-
Felsenklosters eine Seuche aus, und Lhalu reiste in ihrer Begleitung durch das umliegende Land, um die Kranken zu heilen. Da er meist zu spät kam und viele Menschen starben, machte die abergläubische Bevölkerung die neue Priesterin für das Versagen verantwortlich. Lhalu selbst zog sich die Krankheit zu, und bald zeigte er solche Symptome, daß wir alle mit seinem Tode rechneten. Ich hasse die Erinnerung an diese Zeit, denn immer noch spüre ich den scharfen Schmerz in meinem Herzen. Das Wissen, ihn verlieren zu können, war so furchtbar, daß wir monatelang vor Angst wie gelähmt waren, obwohl wir alle wußten, daß sich ein Lama nie fürchten darf und sich stets, was auch geschehen mag, in den Willen Gottes ergibt. Doch die Heilige Weisheit zeigte Erbarmen mit uns und heilte ihn durch Santemi. Ihre Macht und ihr Wissen waren so gewachsen, daß sie Lhalu in allem ebenbürtig war. Die Gnade Gottes ruhte auf ihnen, und so arbeiteten sie lange gemeinsam Seite an Seite. Das Leben im Felsenkloster erblühte und war von Erfolg gekrönt. Jene Jahre zogen so rasch vorüber wie die Frühlingswolken am Himmel. Wenn ich an sie zurückdenke, spüre ich, daß sie keine Geschichte haben. Der Hohepriester tat keinen Schritt ohne sie, obwohl seine langen Reisen nie ungefährlich waren. Santemi hing ebenfalls an Lhalu und sah in ihm ihren Vater und Meister. Es gab keine Unstimmigkeiten zwischen ihnen. Lhalu zählte zehn Jahre mehr als sie, sah jedoch wesentlich älter aus. Die Lamas aller Klöster kannten ihre Geschichte und beneideten uns. Nach und nach wünschte sich jeder Lama, in unserem Kloster sterben zu dürfen, da er dann sicher sein konnte, daß sein Geist in den Sphären den himmlischen Ring V5 erreichte. Bereits nach zwei Jahren drang der Ruhm des Felsenklosters in alle Lande. Das einfache Volk wagte sich kaum noch zu uns, und so kamen nur die Könige und Prinzen ferner Länder. Unser Kloster war reich, denn alle Schätze der Erde häuften sich in seinen Speicherhäusern und Schränken. Lhalu und seine Priesterin, -337-
Santemi, heilten zahlreiche Menschen, und viele fanden Gott durch sie. Einige Prinzen ließen zu ihren Ehren Klöster erbauen, und zeigten Bod-Yuls altem Gott so ihre Dankbarkeit für die wunderbaren Heilungen, die Sein Hoherpriester Lhalu bewirkte. In jenen Zeiten wurde die Heilkunst von den Menschen der Welt am höchsten geachtet, und sie beurteilten das Wissen eines Mannes nach seinen Kenntnissen auf diesem Gebiet. Santemi war nicht wie die Priesterinnen anderer Klöster, die ihre wertvollen Andenken und Geschenke eifersüchtig hüteten. Sie verteilte vielmehr ihre Schätze an die Bevölkerung, da sie die weltlichen Güter verachtete und ziemlich leichtsinnig damit umging. Die beiden arbeiteten so viel, daß ihnen nie freie Zeit blieb. Zehn glückliche Jahre nach Santemis Einweihung drängten sich die Ereignisse. Die Arbeit häufte sich derartig, daß Lhalu sich nicht mehr imstande sah, das Leben des Klosters in den alten Bahnen zu belassen. Es gab zu jener Zeit so viele Klöster in Bod-Yul, daß das Felsenkloster zum Hauptkloster ernannt wurde, in dem nur noch Hohepriester ausgebildet wurden. Deren Unterricht war nicht so mühelos zu erteilen wie der eines einfachen Lamas, da sie sich täglich fünfzehn bis sechzehn Stunden lang auf geistige Reisen begeben mußten. Auf Lhalus Anweisung wurde auch ich Lehrer in der Schule der IchkitsuAnwärter, so daß ich in jener Zeit nicht in der Lage war, das Leben und die ruhmvollen Taten meines Meisters zu verfolgen. Wir mußten zweimal in der Woche streng fasten und einen Tag und eine Nacht in diesem Zeitraum in der unterirdische Höhle meditieren. Wenn ich an jene glückliche Zeit zurückdenke, um Santemis Wesen zu beschreiben, kommen mir seltsamerweise nicht ihr großes Wissen oder ihre liebevollen Heilungen in den Sinn. Stattdessen erinnere ich mich genau daran, daß sie die Gegenwart Gottes im Felsenkloster am deutlichsten wahrnahm. Im Laufe der Jahre hatten Lhalu und sie eine große Sammlung -338-
astrologischer Daten angelegt, welche sie selbst am Himmel abgelesen, berechnet und auf Papyrus notiert hatten. Niemand konnte die Zukunft so genau vorhersagen wie unser Hoherpriester und die Priesterin. Nachdem Santemi und Lhalu viele verschiedene Religionen kennengelernt hatten, nahmen sie eine besondere Haltung im Hinblick auf die Anbetung Gottes ein. Ja, das war das Wunderbarste, das auch jetzt noch wie die Strahlen der aufgehenden Sonne in den tiefen Tälern zwischen den Berggipfeln in mir aufblitzt, wenn ich an Santemi denke: Sie war es, die als erste die Erfüllung eines segensreichen Versprechens spürte, von welchem die Menschen jener Zeit noch nicht einmal träumten. Sie fühlte es deutlich und gab dies an uns weiter, daß achthundert Jahre nach unserem Zeitalter Yeshes, der Gott Bod-Yuls, dessen Name gesegnet sei, als Mensch auf Erden geboren werde, um Seine Kinder durch Sein Leiden zu erlösen.
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Kapitel 17 Unsere geliebte Priesterin lebte bereits seit vierzehn Jahren im Felsenkloster, als an einem Herbstabend Botschafter aus Assyrien im Chintanyin erschienen und nach dem Hohenpriester fragten. Ich hatte gerade mein Abendessen zu mir genommen und war auf dem Weg nach oben in meine Zelle, als ich dem Torhüter über den Weg lief, der mich von diesem wichtigen Ereignis in Kenntnis setzte. Augenblicklich eilte ich auf den Hof, um die edlen Gäste zu empfangen. Es handelte sich um prächtig gekleidete assyrische Fürsten mit schwarzen Bärten, die aus Babilu, der Hauptstadt ihres Landes stammten, und sie führten vier Maultiere bepackt mit Geschenken für das Kloster mit sich. Zu jener Zeit war der Friede zwischen unseren Ländern längst wieder hergestellt, denn Lhalus Kenntnisse wurden selbst in fernen Ländern gewürdigt. Oft hatten wir in Begleitung von Santemi lange Reisen zu Lande und zur See auf uns genommen, um die Könige ferner Länder zu heilen. Einmal hatte Lhalu dem König Hadad-Nirari von Assyrien durch dessen Boten eine Vorhersage überbringen lassen, und da sich diese später bis in alle Einzelheiten erfüllte, war ihm der König für alle Zeiten zugetan. Ich sagte den Botschaftern, daß sie kaum hoffen durften, den Hohenpriester noch am selben Tage zu sehen, da er sich in den späten Abendstunden stets im Turm befand, um die Sterne zu beobachten. Doch sei die Priesterin noch wach und würde sie wahrscheinlich empfangen. „Wir würden es vorziehen, mit seiner Heiligkeit, dem Hohenpriester, selbst zu sprechen", verlangte Kudurri, der ältere Botschafter, und, um seinen Worten besonderen Nachdruck zu verleihen, ließ er mich wissen, daß er der Zinseintreiber des Königs sei. Ich führte sie in die Empfangshalle, bat sie, Platz zu nehmen, -340-
und eilte zur Ichka, die, wie ich wußte, zu dieser nächtlichen Stunde in der großen Bibliothek unter dem Turmzimmer arbeitete. Wirklich saß sie dort über eine große Papyrusrolle gebeugt und schrieb mit ihrem Pinsel endlose Zeilen. „Willkommen, Ti-Tonisa", begrüßte sie mich lächelnd, als ich eintrat und mich tief verbeugte. „Was tust du hier zu so später Stunde? Ist irgend etwas vorgefallen?" „Vergib mein Eindringen, Ichka, doch es sind zwei Botschafter aus dem assyrischen Reich eingetroffen, die zu unserem Hohenpriester wollen. Ich sagte ihnen, er befände sich jetzt im Turm und sei erst am nächsten Morgen zu sprechen, doch sie meinten, die Wichtigkeit ihrer Nachrichten erfordere ein sofortiges Zusammentreffen." „Wir können die Botschafter nicht warten lassen, Ti- Tonisa. Bring sie hierher in die Bibliothek". Für einen Moment blickte sie nachdenklich vor sich hin auf die geöffnete Schriftrolle und preßte dann plötzlich beide Hände gegen die Brust. Sie sprang auf und lief ruhelos hin und her. Ratlos verfolgte ich ihre Bewegung, da ich ihre überraschende Aufregung nicht verstand. Auf einmal blieb sie vor mir stehen und stieß hervor: „Nein, nein, Ti- Tonisa! Ich kann sie nicht empfangen! Ich ahne eine schlimme Gefahr, eine große, uns alle bedrohende Gefahr! Noch nie haben mich meine Gefühle getäuscht! Gehe sofort zurück und mache ihnen irgendwie verständlich, daß sie gleich wieder abreisen müssen! Sage ihnen meinetwegen, daß der Hohepriester morgen sehr beschäftigt ist. Sage ihnen, daß ich sehr krank bin und sie nicht empfangen kann." „Warum denn, Ichka? Warum dieser plötzliche Wandel? Ich spüre überhaupt keine Gefahr. Im Verhalten der Männer habe ich nichts dergleichen bemerkt." „Nein, Ti-Tonisa! Tu, wie ich dir geheißen! Uns wird ein großes Übel befallen, wenn wir ihnen gestatten, den Hohenpriester zu treffen. Und Schlimmes wird auch mir widerfahren!" -341-
Sie, an deren Selbstbeherrschung wir uns stets ein Beispiel genommen hatten, reagierte so überspannt, daß ich sie kaum wiedererkannte. Ich schrieb dies den Mühen der letzen Zeit zu, denn sie hatte seit mehreren Wochen hart an ihrem großen Astrologiebuch gearbeitet. Trotzdem war mir klar, daß ich die Gesetze der Gastfreundschaft nicht so grob verletzen durfte. „Denk noch einmal darüber nach, Santemi", sagte ich und nannte sie bei ihrem Namen, was ich nur in großen, feierlichen Augenblicken wagte. „Wir können die Botschafter HadadNiraris unmöglich in Unehren entlassen. Der Herrscher hat uns mit seinen großzügigen Geschenken mehrmals bewiesen, daß er bereit ist, das an uns begangene Unrecht wieder gutzumachen. Wir dürfen seinen Unwillen nicht erregen, damit er nicht schlecht von uns denkt." Da ich sah, daß sie unnachgiebig blieb, verbeugte ich mich und verließ die Bibliothek, um ihren Befehl auszuführen. Doch als ich um die Ecke bog, ließ mich eine Laune des Schicksals fast mit Lhalu zusammenstoßen, der gerade aus der Sternwarte kam. Er blieb stehen, und da er merkte, daß ich an ihm vorbeischlüpfen wollte, verstellte er mir den Weg und fragte: „Was ist los, Arau?" Daraufhin erzählte ich ihm alles, auch daß die Priesterin die Botschafter unter allen Umständen fortschicken wollte. Lhalu war äußerst erstaunt und wies mich an, die Herren augenblicklich in die Empfangshalle zu bitten. Vielleicht war dies das erstemal, daß er eine Anordnung der Ichka aufhob. Mit widersprüchlichen Gefühlen und voller Zweifel eilte ich hinab, nicht ohne ihn zuvor davon unterrichtet zu haben, daß die Gäste sich bereits in der Empfangshalle befänden und daß er sich am besten selbst dorthin begäbe. Die Botschafter erwarteten ihn aufgeregt, und ich bemerkte ihre offensichtliche Freude darüber, daß ihr Wunsch so rasch -342-
erfüllt worden war. Nach der Begrüßung verbeugte sich Kudur tief vor unserem Hohenpriester. „Ich überbringe Eurer Heiligkeit die Grüße unseres Herrschers, Seiner Majestät Hadad-Nirari", sagte er mit dröhnender Stimme. „Unser König hat vom Verschwinden eures jüngeren Bruders erfahren, den seine Soldaten - hem - zur Zeit des Großen Krieges zusammen mit anderen Gefangenen verschleppten. Unser König weiß, daß ihr, heiliger Hoherpriester, seit vielen Jahren vergeblich nach ihm gesucht habt. Aus tiefer Dankbarkeit und Anerkennung eurer Verdienste befahl er mir, dem staatlichen Zinseintreiber, in ganz Assyrien Nachforschungen anzustellen und herauszufinden, ob euer Bruder noch unter den Lebenden weilt. Im Namen meines Herrschers habe ich die Freude, Eurer Heiligkeit mitzuteilen, daß wir einen Mann gleichen Namens und fremder Abstammung in der Stadt Kolbi-Atossar gefunden haben. Sein assyrischer Name lautet Zosep, doch als wir ihn befragten, antwortete er, er stamme aus Bod-Yul und sei der Bruder des Hohenpriesters Lhalu. Zuerst wollte er nichts von sich preisgeben, da er glaubte, er würde dadurch Schaden nehmen. Doch als wir ihm das Wohlwollen unseres Königs versicherten, gab er seine Identität preis." Nach den ersten Worten des Botschafters verrieten Lhalus Züge, mit welch gespannter Aufmerksamkeit er Kudurs Ausführungen folgte. Und als er hörte, daß sein Bruder lebte, hob er beide Arme gen Himmel. Freudentränen liefen seine Wangen hinab. Er umarmte den alten Kudur und sagte ihm, dies sei der glücklichste Augenblick seines Lebens. Nie werde er dem König von Assyrien dies wunderbare Geschenk vergessen. „Doch warum habt ihr ihn nicht gleich mitgebracht?" fragte er mit vor Freude bebender Stimme. „Ich bot es ihm an, Eure Heiligkeit, doch er meinte, daß ihn familiäre Umstände daran hinderten, mich zu begleiten. Er studiert an der Medizinschule in Kolbi-Atossar und steht kurz -343-
vor den Abschlußprüfungen. Es gibt da noch etwas, was ich euch berichten muß", fügte er verlegen hinzu. „Er lebt in sehr dürftigen Verhältnissen. Mit dem Einverständnis Eurer Heiligkeit stellte ich ihm eine gewisse Summe zur Verfügung, damit er in würdiger Kleidung vor Bod-Yuls Herrscher erscheinen kann, wenn er nach Hause gebracht wird." „Ich danke euch, Freund", antwortete Lhalu lächelnd, „doch sorgt euch nicht um seine armselige Lebensweise. Ich werde zu ihm reisen und ihn nach Hause bringen. Ja, ich selbst werde zu ihm gehen! Wir wollen den jungen Mann überraschen. Ihr habt mir eine große Freude bereitet und einen großen Dienst erwiesen, Inspektor. Übermittelt Seiner Königlichen Hohe it meine nie versiegende Dankbarkeit." So wurde Gonisa gefunden, der Bruder unseres Hohenpriesters, das einzige überlebende Mitglied von Lhalus Familie, das alle verloren geglaubt hatten. Lhalu vertat keine Zeit damit, die Angelegenheit mit der Ichka zu besprechen, deren merkwürdige Abneigung gegen die Botschafter sich inzwischen vollständig gelegt hatte. Sie entschlossen sich, nach einer Woche aufzubrechen und Kudurs Karawane zu begleiten. Die Stadt Kolbi-Atossar lag nahe den Grenzen von Tazik-Yul und des Zweistromlandes und konnte mit einer Karawane leicht in drei Wochen erreicht werden. Natürlich durfte ich Lhalu und Santemi begleiten. Die Ichka zeigte seltsamerweise überhaupt keine Abneigung mehr gegen das Unternehmen, sondern großes Interesse. Ich freute mich sehr, daß sie uns begleitete, obwohl es etwas gab, was ich nicht verstand. Oft schon hatte ich mich mit dem alten Chandugsa Lama über dieses Thema unterhalten. Er hatte mich als erster darauf angesprochen. Zu jener Zeit reichte der Ruf des Felsenklo sters über die Grenzen von Bod-Yul hinaus, und unser Hoherpriester unternahm zusammen mit seiner Ichka lange Reisen ins Ausland. Ich erinnere mich noch an den Tag, als sich Chandugsa Lama zum erstenmal beim Kharpon darüber -344-
beschwerte, daß der Große Lama die Ichka mit auf die Reisen nahm, obwohl die Regeln des Klosters dies ausdrücklich untersagten. Gemäß des alten Gesetzes war es dem Ichkitsu und der Ichka nicht erlaubt, das Kloster gemeinsam zu verlassen, damit der eine den anderen vertreten konnte. Doch unser Hoherpriester überließ dem ältesten Lama Namgang die Führung des Klosters, da er der Meinung war, daß Namgang, das Oberhaupt der Schule für die Hohenpriester, über das vollständige Wissen eines Ichkitsu verfügte. Außerdem war Tampol- Bo-Ri zum Hauptklo ster ernannt worden und fiel nicht mehr unter die allgemeinen Regeln. Das war wohl richtig, und die Angelegenheit hätte somit auf sich beruhen können. Weder Chandugsa noch Namseling hätten Einspruch gegen die gemeinsamen Reisen des Hohenpriesters und der Ichka erhoben, wäre da nicht der Umstand gewesen, daß Namgang dem Weine besonders zugetan war. Zweifellos war er neben Lhalu der älteste und gelehrteste Lama im Kloster, doch es war schon zweimal passiert, daß Vater Namgang, wie wir ihn nannten, während der Abwesenheit des Großen Lama einen Tropfen zuviel zu sich genommen hatte. Chandugsa Lama hatte die Führung des Klosters übernommen, damit die jüngeren Lamas nichts von der Trunkenheit Namgangs bemerkten und dessen Autorität bei ihnen gewahrt blieb. Als wir in Assyrien angekommen waren und den Bruder des Hohenpriesters in der Stadt Kolbi-Atossar gefunden hatten, waren wir Zeugen eines wahrhaft traurigen Anblicks. Er lebte mit einer Witwe, die auf dem Straßenmarkt Früchte verkaufte, in einer armseligen Hütte am Rande der Stadt. Zuerst erkannte ihn Lhalu gar nicht, denn er war zerlumpt und ungepflegt. Außerdem hatten die Jahre den einstigen Jugendlichen beträchtlich verändert. Wie soll ich Gonisa beschreiben? Es ist schwierig, ihn in wenigen Worten zu charakterisieren, denn trotz seines zerfetzten assyrischen Kaftans fiel seine Erscheinung aus dem Rahmen. -345-
Er war ein schwarzhaariger Mann von mittlerer Größe, sieben- oder achtunddreißig Jahre alt, obwohl er zehn Jahre jünger wirkte. Seinen Zügen nach mochte er für einen Bodpa, einen Assyrer, oder einen Bewohner des südlichen Reiches Khem gelten. Sein schlanker, gutgebauter, muskulöser Körper verriet großes Können im Kriegshandwerk, was sich, wie wir später erfuhren, als richtig erwies, da er drei Jahre lang in der assyrischen Armee hatte dienen müssen. Wenn man ihn betrachtete, gewann man den Eindruck eines gutaussehenden Mannes, dessen Augen allein auf die Abstammung aus Bod-Yul hinwiesen, wogegen sein Gang und seine Sitten eher an die eines Südländers erinnerten. Trotz seines armseligen Äußeren begrüßte er uns mit einer stolzen, vornehmen Verbeugung, als unsere Karawane in den ärmlichen Hof einzog. Lhalu war so tief bewegt, als er seinen verlorenen Bruder erblickte, daß er lange Zeit kein Wort hervorbrachte. Santemi stand auf der Türschwelle und betrachtete Gonisa. Ich befand mich bereits in der niedrigen Hütte und sah, daß sich ihre Augen einen Augenblick lang trafen. Gonisa starrte sie verwundert an, während die Ichka stehenblieb und schaute, als sähe sie eine Erscheinung. Sie wunderte sich wahrscheinlich darüber, daß er Lhalu so wenig ähnlich sah, entstammten sie doch derselben Familie. Im nächsten Moment fiel Gonisa seinem Bruder in die Arme. „Ich wußte, daß du eines Tages nach mir sehen würdest, lieber Bruder", rief er keuchend, „denn ich bin ein armer Mann und konnte dir keine Nachricht schicken. Doch da du ein gelehrter Priester bist, wußte ich, daß du mich eines Tages auf einem geistigen Fluge finden und zu mir kommen würdest." Am folgenden Tage kaufte Lhalu ein prächtiges assyrisches Gewand für seinen Bruder und befahl, daß sich die Karawane für die Rückreise rüsten solle, da er so bald wie möglich wieder nach Hause wollte. Vorsichtig befragte er seinen Bruder nach der Frau, mit der dieser die Hütte teilte. Doch Gonisa lachte nur. -346-
Was kümmerte ihn das Weib, mit dem er nur deshalb zusammenlebte, weil es für ihn so bequemer war. Ja, ich stellte fest, daß der Bruder unseres Hohenpriesters nicht nur orientalisch aussah, sondern ebensolche Sitten angenommen hatte. Er liebte die Bequemlichkeit und verabscheute schwere Arbeit aus vollem Herzen. Als wir nach langer, fröhlicher Reise zu Hause angekommen waren, gaben wir Gonisa eine Gästezelle, die er äußerst ungemütlich fand, und Lhalu besprach die Sache mit der Priesterin. Sie kamen zu dem Schluß, Gonisa nach Khem, in das südliche Land des Pherao zu schicken, denn während der Reise hatte Lhalu bemerkt, daß sein Bruder medizinisch sehr begabt zu sein schien. Diese Entscheidung wurde rasch in die Tat umgesetzt, denn kein Fremder durfte über einen bestimmten Zeitraum hinaus im Kloster bleiben. Deshalb rüstete Lhalu am vierten Tage eine große Karawane für seinen Bruder und gab ihm eine beträchtliche Summe Goldes und Lamakrieger, die ihn bis an die Grenze Khems begleiten sollten. Er kleidete ihn in prächtige Gewänder, angemessen für den Bruder von Bod-Yuls höchstem Priester, und sandte ihn liebevoll auf den Weg. Gonisa war tief bewegt, und ich sah, daß es ihn große Mühe kostete, sich von seinem geliebten und ehrlich bewunderten Bruder zu trennen. Er hatte mir einige Tage zuvor erzählt, daß der Bruder seit seiner Kindheit sein Vorbild gewesen sei. Er war wohl ein sehr schüchternes Kind gewesen, und Lhalu hatte ihn im Alter von zehn oder zwölf Jahren Mut gelehrt. Eines Tages war er in einen Abgrund gestürzt, und obwohl Lhalu den Unfall beobachtet hatte, versteckte er sich und tat, als habe er nichts bemerkt. So war Gonisa gezwungen gewesen, bis zum Anbruch des Tages in der Schlucht auszuhalten und die Qual der Angst vor Geistern und Kobolden durchzustehen. Erst dann war Lhalu, der ihn die ganze Zeit über von oben bewacht hatte, zu ihm hinabgestiegen und hatte ihn erlöst. Sechs Monate nachdem uns Gonisa verlassen hatte, erreichte -347-
uns eine Nachricht von einer edlen Familie aus Khem, die Lhalu seinem Bruder empfohlen hatte. Darin hieß es, dass Gonisa, bald nachdem er seine Studien an der Schule für Ärzte und Priester in Mempi begonnen hatte, in die Hauptstadt Pu-Bast übergesiedelt sei, wo er am Hofe Pharaos in einer hohen, reich bezahlten Stellung angestellt wurde. Als der Pharao Pi- Ank'khi Chewer, der Herr des Hohen Hauses, erfahren hatte, daß der edel aussehende, junge Arzt der Bruder des berühmten Großen Lama aus Bod-Yul sei, hatte er ihn augenblicklich an seinen Hof beordert, mit einem hohen Rang ausgezeichnet und ihm ein Amt im Silberhaus zugeteilt. Doch unterbrach Gonisa deswegen seine medizinischen Studien keineswegs. Er hatte oft genug Gelegenheit, die Klassen für die höheren Weihen der Priesterschule zu besuchen. Auch ich hatte gerade meine höchste Einweihung in der Heilkunst erhalten. In unserer Zeit war diese Kunst in Bod-Yul am höchsten entwickelt, was einen seltsamen und doch natürlichen Grund hatte, denn nur in Bod-Yul kannte man die alten Rituale des Chod, durch welche der Hohepriester die Toten innerhalb der drei Tage nach ihrem Tode aus dem Bardo zurückrufen konnte. Der Hohepriester war gleichzeitig der beste Arzt und Chirurg eines Klosters. Auch unser Hoherprie ster hatte die Leichen vieler verstorbener Lamas seziert, doch vorher hatte er sie erweckt und gefragt, an welcher Krankheit sie gelitten und wie sie ihren Tod in allen Einzelheiten erlebt hätten. Aus diesem Grunde wußten die Ichkitsus aus Bod-Yul nicht nur genauestens über Körper und Seele Bescheid, sondern auch über den Augenblick, in welchem sich die Seele vom Körper trennt und die menschliche Hülle allein zurückbleibt. Der Hohepriester Lhalu, der beste Arzt Bod-Yuls, vermochte jede Krankheit zu heilen, ausgenommen natürlich die Leiden, die den Kranken vom Arva auferlegt waren. Ob es sich um eine arvatische Krankheit handelte, erfuhr er vom Schutzgeist des betreffenden Patienten. Die meisten Krankheiten konnte Lhalu in der Iris des -348-
Kranken erkennen, und bei der Behandlung legte er das größte Gewicht auf die Magnetisierung. Davon ausgenommen waren nur die Schwindsucht, die er mit Atemübungen heilte, und Fälle, in denen er chirurgische Eingriffe vornehmen mußte. Er war ein konkurrenzloser Künstler auf dem Gebiet der Brust- und Herzoperation. Mit Hilfe magnetischer Stric he oder allein durch seinen konzentrierten Blick ließ er seine Patienten einschlafen, dann öffnete er die Brust. Dabei berührte er nie das Herz selbst. Er entfernte nur Wasser oder Flüssigkeit aus der Umgebung, denn oft wurde das Herz in Folge einer inneren Krankheit gegen die Rippen gepreßt. Es waren die verstorbenen Lamas, die Lhalu im Laufe langer Jahre eingeschärft hatten, daß man das Herz nie von seinem Platz entfernen und lediglich die Umgebung des Herzens von einem gegebenen Druck befreien dürfe. Es gab in jenem Zeitalter keinen zweiten Chirurgen wie den Hohenpriester Lhalu aus Bod-Yul. Nur der Hohepriester und die Priesterin konnten die Riten des medizinischen Chod ausführen, da niemand sonst darin eingeweiht wurde. Die Ichka notierte die Worte, die der tote Lama sprach. Bei solchen Gelegenheiten trug der Große Lama nicht sein übliches Gewand, sondern einen weißen Mantel, der um die Hüften mit einem Gürtel zusammengehalten wurde und beide Arme unbedeckt ließ. Die Priesterin stand in einem langen schwarzen Kleid neben ihm. Wenn sie einen Lama sezierten, der an einer ansteckenden Krankheit gestorben war, bereitete die Ichka zuvor ein Bad, in welches der Hohepriester Mhyrre und einen besonderen Puder streute. Er wußte erst nach dem Eingangsgebet, welchen Puder er benutzen mußte. Nach den Anweisungen der geistigen Führer wurden diese Puder eigenhändig zubereitet. Die Toten belehrten Lhalu nicht nur über die Schwierigkeiten einer Herzoperation, sondern auch darüber, daß sich der Hals eines sterbenden Mensche n immer auf gleicher Höhe mit Schultern und Brust befinden müsse, da sich die Seele in dieser Haltung leichter vom Körper trenne. -349-
Wenn er keine Gelegenheit hatte, den Verstorbenen nach dessen Todesstunde genügend befragen zu können, und wenn er aus bestimmten Gründen annahm, ihn nicht über den von den Gesetzen des Chod bestimmten Zeitraum nicht am Leben erhalten zu können, legte er mit Essig getränkte Mhyrre auf die Zunge des toten Lama, was das Leben in ihm erhielt. Doch konnte es auch dadurch nicht mehr als eine halbe Stunde verlängert werden. So wird verständlich, daß sich Heilkunst und Chirurgie in Bod-Yul auf einem höheren Stand befanden als selbst im Lande Khem. Wie konnte es denn anders sein, erklärten doch die für wenige Augenblicke belebten verstorbenen Lamas unseres Landes den Ärzten den Grund ihres Todes. Auch die Zauberer oder Ngaspas heilten, doch vor allem mit Hilfe von Beschwörungen und selbstgebrauten Tränken. Sie wandten sich meist an die dunklen Geister und baten diese, die Krankheit des Patienten auf dessen Feind zu übertragen. Ich lernte im Felsenkloster, daß Gott ihr Treiben aus folgendem Grunde zuließ: Wenn die Führungsgeister der Zauberer, welche zum vierten Ring gehörten, strenge Maßnahmen gegen die Ngaspas ergreifen würden, verlören diese all ihre Fähigkeiten und das einfache Volk, welches ihnen vertraute, damit seinen Glauben. Viele Patienten kamen zum Felsenkloster, denen die Behandlung eines solchen Zauberers die letzte Lebenskraft geraubt hatte. Lhalu und Santemi heilten täglich viele Kranke, nicht nur fremde Edelleute, sondern auch die Söhne des Volkes. Zu jener Zeit waren sie so mit Heilen beschäftigt, daß sich ihre priesterlichen Tätigkeiten auf die reine Kontrolle des Klosters beschränkten. Etwa zu jener Zeit bewirkte unser Hoherpriester in meiner Gegenwart jene denkwürdige Heilung im sonnigen Khem, deren Verlauf noch viele Jahrhunderte später in den Schriftrollen des Felsenklosters nachgelesen werden konnte. Denn wie sollte der -350-
Tag in Vergessenheit geraten, an welchem der Hohepriester Lhalu den Pharao Pi- Ank'khi Niamun Chewer operierte? Eines Tages traf ein Botschafter aus Khem ein, dem Land der Pyramiden, und überbrachte dem Hohenpriester einen Brief des Pharao. Lhalu las uns die königliche Schriftrolle am selben Nachmittage vor. Ich erinnere mich noch an den merkwürdigen Anfang: „Am ersten Tage des Festes der Hathor im Monat Epipi. Ich, Sohn des Osiris, Herr des Hohen Hauses, Wurzel von Amun, Sept-Hat und Anubis, Regent des Hoch- und des Tieflandes von göttlichen und menschlichen Gnaden. Sohn meines Vaters und meiner Mutter, Pharao mit dem Namen Pi- Ank'khi Kheperra, sende meine Grüße an Lhalu, den Hohenpriester und Regenten des Hohen Bod." Nach einer langen Einleitung bat der große Pharao unseren Hohenpriester, sich so rasch wie möglich zu einer Reise nach Khem herabzulassen, um ihn zu heilen, da seine Ärzte dabei seien ihn umzubringen. Tatsächlich sei sein Herz so schwach, daß er nur noch im Bett liegen könne. In der Papyrusrolle steckte ein Brief des königlichen Hofarztes. Darin informierte er unseren Hohenpriester, daß der Herr des hohen Hauses an einer seltsamen Herzkrankheit leide, die ihm völlig unbekannt sei. Dann folgte eine eingehende Beschreibung der Krankheit, die Lhalu sorgfältig studierte und dann ins Feuer warf. Er schien dem medizinischen Scharfblick des Hofarztes der dreiundzwanzigsten Dynastie nicht viel zuzutrauen. Der Botschafter übergab ihm außerdem einen Brief seines Bruders Gonisa, in welchem dieser ihn bat. so bald als möglich abzureisen, denn er war einer der Vertrauten des Pharao und hatte den Herrscher der beiden Länder überzeugt, daß nur sein Bruder, der große Heiler und Hohepriester, ihn heilen könne. Lhalu entschloß sich auf der Stelle und sagte dem Botschafter aus Khem, daß er, sobald die Karawane gerüstet sei, in wenigen Tagen mit ihm reisen würde. Wieder beschloß er, die Priesterin -351-
mit auf die lange Reise zu nehmen, eine Tatsache, die mich glücklich stimmte, da ich ihn als sein ständiger medizinischer Assistent natürlich ebenfalls begleitete. Wir machten uns am siebten Tag des Drachenmondes mit vierundzwanzig Yaks und Pferden und siebzig Soldaten auf den Weg. Unsere Reise führte uns über einen Monat lang durch das reiche Gyagar. In jeder größeren Stadt waren wir Gast in den Palästen der Prinzen des Landes. In einem großen Hafen an der südwestlichen Küste wartete des Pharaos seltsam aussehende Galeere auf uns, mit welcher der Botschafter über das Meer gefahren war. Das Segel des königlichen Schiffes war von scharlachroter Farbe und der schwarze Rumpf blau und golden verziert. Sie verfügte über zwei Ruderbänke, die sich im windstillen Engen Meer als sehr nützlich erweisen sollten. Doch erwartete uns eine stürmische Reise, bei der ich seekrank wurde, bevor wir das Enge Meer erreichten. Schließlich kamen wir in das große Meer, und bald erschien die sandige Küste Khems am Horizont. In Kanopi erwartete uns eine prächtige Karawane, deren Männer uns in stillem Erstaunen betrachteten. Wir taten dasselbe, denn die Menschen aus Khem sahen wirklich merkwürdig aus. Die Begleiter der Karawane waren schlanke, kräftige, braungesichtige Krieger, die auf langen Stangen die siegverheißenden goldenen Statuen ihrer Götter -Ibisse, Katzen, Krokodile und Falken - mit sich trugen. Außer Leinenröcken, die ihnen von den Hüften bis zu den Oberschenkeln reichten, waren sie unbekleidet. Ihre dolchartigen Schwerter trugen sie ohne Scheide in den Gürteln. Ihre Kopfbedeckung war ein weißes, gestärktes Stück Leinen mit roten Streifen und zu beiden Seiten des Gesichtes herabhängenden Stofflappen, wie wir es später auch an ihrer riesigen steinernen Sphinx beobachten konnten. Diese Kopfbedeckung wurde auch vom Volk getragen. Uns war in unseren warmen Kianghaarmänteln sehr heiß. Einer ihrer Hohenpriester, der Iotuneters, befand sich ebenfalls im Hafen, um unseren Großen Lama zu begrüßen. Er -352-
trug ein weißes Leinengewand, welches mit heiligen Schriftzügen verziert war, und über die linke Schulter hatte er ein Leopardenfell geworfen. Er und Lhalu begrüßten einander herzlich. Wir bestiegen die Kriegswagen von Pharaos Leibwache und rasten über die Wüstenstraße nach Pu-Bast, der Hauptstadt und dem Sitz des Pharaos der Napata Dynastie. In meinem ganzen Leben sah ich nie wieder solch eine Pracht, solch einen Glanz und so viel Licht! Als wir die Stufen des Marmorpalastes von Pu-Bast emporstiegen, kam mir das alte Bild, das ich gesehen hatte, als ich Lhalu zum erstenmal begegnet war, blitzartig in den Sinn. Damals war ich in Trance gefallen und hatte eine Vision geschaut, worauf der Soldat aus Gyanak über mein Bein gestolpert war. Jetzt befanden wir uns wirklich in dem seltsamen, sonnigen Land mit seinen glänzenden, weißen Marmorpalästen und den gebräunten, halbnackten Menschenmengen in farbigen Kleidern, und Lhalu war ebenfalls an meiner Seite. Und in der Ferne sah ich die Wüste und die riesige Gestalt von Horem-Khut, der Frau mit dem Löwenkörper, und hinter ihr - die Pyramiden von Attalan! Wahrlich, die Zukunft liegt in der Gegenwart, und die Vergangenheit wirft ihre Schatten auf sie. Ich fand in meiner Vision nur einen einzigen Fehler: Nicht der Große König, sondern sein erster Hoherpriester, der Uermaa oder Großer Seher, stieg die Marmorstufen herab, um uns zu begrüßen. Er trug das gleiche Gewand wie der Hohepriester, der dem Empfangskomittee am Hafen vorgestanden hatte, doch sein weißer Mantel war viel reicher verziert, und seine Brust war mit dem feinsten goldgewobenen Tuch bedeckt, das ich je gesehen hatte. Er und unser Hoherpriester begrüßten sich mit einer tiefen Verbeugung, dann faßten sie einander nach dem Grußritual der Eingeweihten am rechten Ellenbogen. „Im Namen von Isis, Osiris und dem Pharao heiße ich euch, großer Uermaa, in Khem, den vereinigten Ländern von TaMehu und Ta-Semau willkommen. Möge Ra-Papi, der -353-
Herrliche, euch Einsicht, Heilkraft und eine sichere Hand verleihen, auf daß ihr seiner Familie und seinem Volke Seinen Herrscher auf Erden, den Herrn des Hohen Hauses, Pharao, wiederzugeben vermögt." Lhalu begrüßte ihn mit entsprechender Hochachtung in ebenso schöner Sprache und versicherte dem Hohenpriester, daß er zur Heilung des Pharao sein gesamtes Wissen heranziehen werde. „Ich bitte euch jedoch, daß ihr mich jetzt zu eurem Herrn führt", bat er den Uermaa, „und enthaltet euch jeglichen Zeremoniells, denn jetzt bin ich Arzt, und der Zustand des Patienten steht an erster Stelle." Am Mittag des folgenden Tages war ich dabei, als Lhalu den Fall mit der Ichka besprach. Die Krankheit des Pharao war tatsächlich ungewöhnlich. Er war jetzt seit zwei Wochen ohne Bewußtsein, und wenn er ab und zu für einen kurzen Moment zu sich kam, stöhnte er und klagte über sein Herz, das von einer versteckten Krankheit befallen sein mußte. Mein Meister wies am selben Tage die Hohenpriester und Hofärzte an, alles für die große Operation vorzubereiten, denn er konnte Pharao nur helfen, indem er ihm die Brust öffnete. Die Ärzte aus Khem waren entsetzt, doch Lhalu blieb bei seiner Entscheidung und sagte ihnen, dies sei die einzige Möglichkeit, das Leben des Pharao zu retten. Ansonsten sei er zu seinem größten Bedauern gezwungen, wieder nach Hause zu reisen. Da die Operation nur in einer vollkommen stillen, ruhigen Umgebung ausgeführt werden konnte, beschloß Lhalu, den Pharao in seiner Pyramide zu operieren, wo der Steinsarkophag schon auf die zukünftige Mumie wartete. Auf seine Anweisung hin schleppten die Leute aus Khem einen großen Steintisch in die Pyramide, da Lhalu stets nur auf solchen Tischen operierte. Sobald sich der Tisch am rechten Ort befand, begab er sich mit Santemi dorthin, und sie beteten zwei Tage und eine Nacht, um die notwendige geistige Kraft für die Operation zu gewinnen. -354-
Während dieser Zeit des Gebets fasteten sie streng und nahmen keinerlei Nahrung zu sich. Danach schloß mein Meister seine Priesterin in der Steinzelle neben der großen Halle der Pirimit ein, dort, wo gewöhnlich die Geschenke für den Pharao aufbewahrt wurden. Hier lag Santemi zwei Tage und zwei Nächte bewegungslos mit steifem Körper, während ihr Geist auf höheren, mentalen Ebenen weilte. Am Morgen des dritten Tages begab sich mein Hoherpriester in die Pyramide, und ich sah von der Tür aus, wie er den weißen Mantel vom Körper der Ichka zog und ihr in den Mund blies, worauf sie augenblicklich zu sich kam. Sie unterrichtete ihn, woran der Pharao litt, wie er dessen Brust öffnen und unter welche Rippe er greifen sollte. Keinem Arzt aus Khem wurde gestattet, beim Phoimonda oder beim Erwachen der Priesterin zugegen zu sein, da Lhalu alle Rituale im Verborgenen ausführte. Die Hohenpriester aus Khem und die Hofleute hielten sich in gebührendem Abstand von der Pyramide auf und beobachteten von dort das geheimnisvolle Treiben des Zauberers aus Bod-Yul. Nachdem er Santemi geweckt hatte, trat Lhalu schließlich vor die Pyramide und befahl den Dienern und Wachleuten, alle Grabsteine und unbehauenen Tafeln hinauszutragen und den Innenraum bis auf das letzte Stäubchen zu säubern. Zum großen Erstaunen der Hohenpriester und Ärzte fegten und reinigten die Soldaten das Innere der Pyramide denn wer in des Pharaos Reich hatte je gehört, daß ein Mann in seinem eigenen Grab operiert werden sollte? Dann ließ Lhalu große rote Teppiche in der Gruft auslegen. Dieser Arura der Pyramide war keineswegs so eng wie der Chorten eines Lamas aus Bod-Yul, sondern ein großer Raum von sieben auf zehn Metern, in dessen Mitte der Sarkophag stand und davor - der Operationstisch, den Lhalu dorthin hatte tragen lassen. Unser Hoherpriester begab sich erneut in den Vorhof der Pyramide und sprach zu den Priestern Khems: „Große Seher und Väter des Himmels! Höchst ehrenwerte -355-
Uermaas, Iotuneters und auch ihr, Uerkherohemtius! Ich betete, ich fastete, ich flehte den Gott Bod-Yuls um Kraft an. Ich traf alle Vorbereitungen, damit meine Hände sicher und stark seinen und ich euren großen Herrscher zu retten vermag. Ich bitte euch, in die Grabkammer zu kommen und euch mit euren Heilern in einem Kreis um den Tisch zu stellen, damit ihr meine Zeugen seid vor Gott und den Menschen. Und jetzt bitte ich meinen Bruder, den Hohenpriester, den Herrn des Hohen Hauses hierherbringen zu lassen, während ich den Arura entkeime." Sichtlich steifen Schrittes, doch augenscheinlich beeindruckt, betraten die Uermaas und Hofärzte aufgeregt murmelnd einer nach dem andern den Raum und stellten sich in einem Kreis an den Wänden auf. Jetzt gebot mir Lhalu, ein besonderes Räucherwerk zu entzünden, das er aus Bod-Yul mitgebracht hatte, um damit die Luft der Grabkammer zu reinigen. Keimtötende Kräuter aus Bod-Yul, welche Lhalu entdeckt und gemischt hatte, brannten in den silbernen Räucherschalen, und ihr duftender Rauch füllte allmählich die geräumige Gruft. Danach wusch ich den Steintisch sorgfältig ab und rieb seine Oberfläche mit einem geruchlosen, medizinischen Öl aus BodYul ein. Wir hatten unsere Vorbereitungen gerade abgeschlossen, als der Pharao, dessen regloser Körper von einem weißen Umhang mit goldener Borte bedeckt war, auf einer verzierten Bahre hereingetragen wurde. Als wir ihn auf den Steintisch legten, hob er den Kopf und schaute unseren Hohenpriester angsterfüllt an. Doch da trat Gonisa vor, der Bruder des Großen Lama, der die Szene bis jetzt aus der Reihe der Ärzte aus Khem beobachtet hatte, und sprach zum Pharao: „O Sohn des Amun, Leuchtende Sonne, mein erhabener Herr! Vertraut euch meinem Bruder an, dem Hohenpriester aus BodYul, der die Prinzen Gyagars und den großen König der Assyrer heilte. Vertraut ihm, Herr, und ihr werdet niemals enttäuscht werden." -356-
Der Pharao blickte ihn dankbar an, doch im nächsten Augenblick verzerrten sich seine Lippen vor Schmerz, und er preßte eine Hand gegen das Herz. Jetzt trat Lhalu an den Tisch und schaute ihm mit leerem Blick konzentriert in die Augen. Er berührte ihn nicht einmal, sondern sagte nur: „Liege ruhig… und schlafe… schlafe!" Der Kopf des Pharao sank zurück, und er fiel augenblicklich in tiefen Schlaf. Ich sah und hörte, wie die Reihen der Priester und Ärzte aus Khem wie Gräser im Winde schwankten. Sie traten näher an den Tisch heran, um alles, was dort geschah, genau verfolgen zu können. Jetzt drehte sich Lhalu bedächtig um und wandte sich an den Hohenpriester von Khe m: „Mein Bruder! Bevor ich meine Arbeit beginne, bitte ich euch, zu eurem Gott zu beten und seine Hilfe zu erflehen." Ich wußte, daß er dies nur aus Höflichkeit gesagt hatte, und deshalb tat es mir natürlich weh, die wispernde Bemerkung eines Arztes aufzufangen, der in der ersten Reihe stand. Er beugte sich zum Ohr seines Gefährten und murmelte: „Es scheint mir, daß der Hohepriester aus Bod-Yul seinem eigenen Wissen nicht traut!" Doch dann trat der Uermaa vor, stellte sich vor den Steintisch und hob die Arme. Das Gebet war wirklich schön und ließ mich die gehässigen Worte des jungen Arztes aus Khem vergessen. Trotzdem fühlte ich mich unwohl, denn dies waren die ersten unfreundlichen Worte, die ich in diesem Lande gehört hatte. „Unser Vater Osiris, du großer, heiliger König", begann der Uermaa, „du, der du unsere Welt belebst und erhältst! Du unsterbliche, ewige Wirklichkeit, mögest du aus deiner Welt des Lichts zu uns herabsteigen und deine heiligen Arme über den kranken Leib deines Kindes ausstrecken, welches dich hier auf Erden vertritt. O, du Herr mit den reinen Augen, der du dein Ohr allen wahren Gebeten öffnest! Du, der du die Himmel durchmißt und über die Wasser gleitest! Lebensspender! Großer Herr! -357-
Stärke unsere Seelen in dieser schweren Stunde, offenbare uns deine himmlische Farbe, zeige uns dein irdisches Antlitz, deinen mitleidvollen Geist. Hilf dem Kinde Amuns, dem Diener von Isis und Horus, heimgesucht von schweren Sorgen! Segne ihn mit deiner großen, alldurchdringenden Liebe, so wie allein du jene zu segnen vermagst, die an dir hängen." Gleich nachdem der Uermaa geendet hatte, nahm die Ichka meinem Meister den Mantel ab, der jetzt nur noch sein weißes Gewand trug. Er hob seine Arme, die nach dem Brauche BodYuls unbekleidet blieben, gen Himmel und sagte nur: „Heilige Weisheit! Sei gesegnet für deine Hilfe!" Dann streckte er die Hand nach dem goldenen Tablett aus, auf dem ich all seine Instrumente für ihn bereithielt, und ergriff ein langes, dünnes Messer. Während er dieses in den Rauch des heiligen Räucherwerks hielt, deutete er mit der freien Hand an, daß alle Höflinge, die weder Priester noch Ärzte waren, die Grabkammer verlassen sollten. Als der letzte Nicht-Eingeweihte gegangen war, verschlossen die Soldaten die steinerne Tür, doch ein Regiment blieb im Raum zurück und verstellte den Ausgang. Mein Hoherpriester, der sein glänzendes Messer in die Höhe hielt und sich der nackten Brust des Pharao zugewandt hatte, schaute Santemi an, die am anderen Ende des Tisches stand, und flüsterte: „Hast du bemerkt, daß die Soldaten hiergeblieben sind?" Die Priesterin stand bewegungslos und gedankenverloren, als habe sie die Frage gar nicht vernommen. Dann antwortete sie so leise, daß sich ihre Lippen kaum bewegten: „Ich durchschaue ihren geheimen Plan. Die Soldaten erhielten Order, uns zu töten, wenn der Pharao unter deinem Messer stirbt. Arbeite sorgfältig, Lhalu, und möge die Heilige Weisheit deine Hand führen." Kein Muskel zuckte im Antlitz meines Meisters, stattdessen hatte ich den Eindruck, als glitte ein Lächeln über sein Gesicht. Er durchtrennte des Pharao Haut, nahm dann eine feine goldene Säge vom Tablett und durchsägte das Ende einer Rippe. Wie ich -358-
später erfuhr, hätte er in des Pharaos Brust eine gebrochene, abgebogene Rippe ausrichten sollen, die gegen das Herz drückte. Der Pharao hatte sich diese in seiner Jugend bei einem Sturz vom Wagen gebrochen, und sie war in falscher Stellung zusammengewachsen. Im Laufe der Zeit hatte sich das Ende immer weiter abgebogen und einen allmählich stärker werdenden Druck auf das Herz ausgeübt. Dieses gebogene Ende der Rippe hätte Lhalu begradigen sollen, indem er den Knochen im Zickzack durchtrennte und ihn in seiner ursprünglichen Lage mit einem goldenen Draht befestigte. Doch dann geschah etwas, was nicht nur die Ärzte aus Khem, sondern auch mich überraschte. Statt die Rippe geradezubiegen, nahm mein Hoherpriester den Knochen heraus und warf ihn wie einen Stein in die Ecke. Die eingeweihten Zuschauer ergriff die Furcht, denn so etwas war nach ihrem Gesetz ein großer Frevel. Der Pharao indes schlief weiter. Mein Meister wies mich an, die Hakenschere, mit welcher ich die Hautlappen auseinanderhielt, loszulassen, worauf sich die Wundränder sofort über dem Schnitt schlossen, durch welchen er die gebrochene Rippe entfernt hatte. Dann legte er sein Skalpell nieder, wusch seine Hände in einer Schüssel, in der er verschiedene Flüssigkeiten aus dem Felsenkloster gemischt hatte, trocknete sie ruhig ab und winkte der Ichka und mir, ihm zu folgen. Er wußte, daß man uns gefangennehmen und töten wollte, und doch ging er mit ruhigen, würdevollen Schritten zur Tür. Doch da erhob sich ein Murmeln, und ein schriller Befehl zerriß die Luft. Die Soldaten sprangen vor, ergriffen Santemi und rissen ihr den Mantel von den Schultern. Gleichzeitig hielten zwei Krieger meine Arme fest, während vier über Lhalu herfielen und uns nicht aus der Gruft heraus, sondern in den kleinen Raum neben der Grabkammer drängten, wo die Begleiter und Diener des Pharao begraben werden, wenn dieser gestorben ist. Einer der Soldaten drückte auf einen Hebel, worauf eine schwere Steintür -359-
zurückglitt. Wir wurden durch die dunkle Öffnung gestoßen, und die Steintür schlug mit einem Knall hinter uns zu. „Lhalu! Hilf mir!" hörte ich den schwachen Schrei unserer Priesterin. Kurz bevor sich die Steintür schloß, hatte ich gesehen, daß Gonisa versuchte, ihr zu Hilfe zu eilen, doch die Soldaten führten ihn ab. Eine Weile standen wir stumm im Dunkeln. Ich konnte nicht sprechen, denn die Verzweiflung überwältigte mich fast. Doch dann ze igte Lhalu, unser ruhmreicher Hoherpriester, welch gewaltiges Wissen ihm die Macht der Heiligen Weisheit verliehen hatte, jener alte Gott Bod-Yuls, der solange sein wird, wie sich Gebetsräder zu seinen Ehren auf den Gipfeln des Tise und des Kangchen drehen werden. Er hob die Augen eine Weile gen Himmel, sprach dann laut ein magisches Wort, welches ich zuvor noch nie gehört hatte, und schleuderte seinen goldenen Stab zu Boden, das Szepter des Hohenpriesters. Und siehe! Die geschlossene Tür glitt zurück, und wir traten in die große Gruft heraus, in der des Pharaos lebloser Körper lag.
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Kapitel 18 Das riesige Grab war bereits leer, denn die Menge drängte in den umbauten Hof vor der Pyramide. Wir eilten durch den Raum, in dem der Pharao noch immer auf dem steinernen Tische lag, und traten hinaus ins Sonnenlicht. „Bindet die Shem'a aus Bod-Yul!" hörten wir die Schreie des Volkes. „Pharao ist tot! Sie hat ihn verhext! Frevlerin! Zerreißt ihre Kleider! Zu den Krokodilen mit ihr!" Lhalu sprang vor und hob die Hand. „Aufhören!" brüllte er mit donnernder Stimme, worauf das Murmeln und Schreien auf der Stelle verstummte. Die Menschen glotzten ihn starr vor Überraschung an. Dies war der erste geistige Schlag, den unser Hoherpriester ihnen versetzte, denn sie konnten nicht fassen, wie es ihm gelungen war, aus dem verschlossenen Grab zu entkommen. Im nächsten Augenblick sprang er zu Santemi, welche die Soldaten losließen, um, alle fünf über uns herzufallen. Doch da senkte Lhalu schwungvoll beide Arme und rief dasselbe Wort, welches er im Hof des Felsenklosters gerufen hatte, als er die Krieger der Drachenleute entwaffnete. Die Soldaten aus Khem stolperten und stürzten wie vom Blitz getroffen zu Boden. „Heeke! Heeke! Zauberei!" riefen die Priester und Höflinge, und viele warfen sich vor Lhalu nieder. Die Priesterin blieb in ihrem zerrissenen Kleid einfach stehen und schaute zu, doch ihr Lächeln strahlte noch glücklicher als ihre Augen. Und Lhalu drehte sich auf dem Absatz um und winkte uns, ihm zu folgen. Würdevoll schritt er über den Hof in die Gruft. Er trat vor den Steintisch und weckte Pharao Chewer mit der Kraft Bod-Yuls. Dieser erhob sich augenblicklich, stieg vom Tisch und ging mit offener Wunde in der Brust zu seinen Leuten. Die Höflinge warfen sich zu Boden und weinten vor -361-
Glück. Andere stießen Jubelschreie aus und baten unseren Hohenpriester, den Großen Magier, um Vergebung. Nachdem sich der Große Uermaa von Khem vor seinem Herrn und König niedergeworfen hatte, kniete er vor Lhalu und berührte mit der Stirn den Saum seines Mantels. Doch der sah nur den Herrn des Hohen Hauses, der wie ein Schlafwandler durch die Reihen seiner am Boden liegenden Untertanen schritt - ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht. „Pharao", sagte Lhalu, „begebt euch jetzt wieder in euer Schlafge mach, und bevor ihr euch zur Ruhe legt, betet zu eurem Gott Amun-Ra und dankt ihm." „Er lebt! Er lebt!" schrie das Volk aus Khem begeistert. „Die zweiundvierzig Richter haben ihn nicht gerichtet! Toth, der Ibisköpfige, hat sein krankes Herz nicht gewogen! Tahuti hat die Federn der Gerechtigkeit nicht in die Waagschale geworfen!" „Wir danken dir, O Vater Osiris, daß du ihn nicht über den flammenden See der Zeit geführt hast! Gepriesen seist du dafür, daß er in der Halle der Wahrheit deine ewige Stimme noch nicht hören mußte." Sieben Tage später erhob sich der Pharao vollständig wiederhergestellt von seinem Lager. Und das Volk von Khem verehrte Lhalu und pries ihn. Ich werde nie vergessen, wie Gonisa am Tage der ersten Audienz zu dem goldenen Thron trat, der auf Löwenfüßen ruhte und dessen Rückenstütze und Armlehnen mit geschnitzten Lotusblüten aus Elfenbein verziert waren, und sagte: „Habe ich euch nicht versichert, ruhmreicher Pharao, daß es keinen zweiten Heiler in der Welt gibt wie meinen Bruder, den Hohenp riester Lhalu?" Und der Sohn Amun-Ras lächelte wohlwollend und winkte unserem Hohenpriester und Santemi mit einer Pfauenfeder, worauf schwarze Sklaven im Thronraum erschienen und Gold, Silber und Elfenbein brachten, die Schätze von Khem. So heilte der Hohepriester Lhalu den Pharao Pi- Ank'khi -362-
Chewer, das Kind Ras, die Leuchtende Sonnenscheibe, den Regenten des Hoch- und des Tieflandes. Wir blieben zwei weitere Wochen im Lande des Großen Pharao, unternahmen lange Ausflüge in die Wüste oder segelten den großen Strom Jetero hinab bis zu den Gräbern und dem Höhlentempel des Osiris, wo die Fußabdrücke des großen Göttlichen Hohenpriesters noch immer zu sehen waren. Ich erfuhr, daß rechtschaffene Pilger nie wieder sündigten, wenn sie sich auf dem Felssims auf diese Fußabdrücke stellten, hatten sie jedoch böse Herzen, stürzten sie unweigerlich in die Tiefe. Hier und in der Großen Pyramide von Khufu wurden auch heute noch Priester eingeweiht, und die Zeremonien glichen mit wenigen Ausnahmen den unseren. Doch bemerkte ich sofort, daß sich der alte Glaube Attalans, der verlorenen Welt, in Khem bereits im Niedergang befand, und obwohl der große Pharao Khunaten die uralte Religion des Sonnengottes für einige Zeit wiedereingesetzt hatte, bestand der alte reine Glaube heute nur noch aus leeren Ritualen und unzähligen Göttern mit Tierköpfen. Das Volk betete nicht zur wahren Gottheit, sondern verehrte ihre Symbole. Doch Isis, Osiris und Horus, die heilige Dreieinigkeit, lebte noch immer, und der Gottesdienst der Hohenpriester war rein geblieben. Vielleicht war es Isis, die Mutter Khems, die ihr nachtschwarzes Haar öffnete und ihren erdumspannenden weißgepunkteten Schleier, den wunderbaren Sternenhimmel, über den großen Fluß senkte, als unser Barke geräuschlos stromabwärts zur Hauptstadt glitt. Die Priesterin saß verträumt im Bug und lauschte den Worten Gonisas, der ihr von den Schönheiten des königlichen Hofes und des Landes erzählte. In dieser Nacht war ich sehr niedergeschlagen, ohne den Grund dafür zu erkennen. Lhalu unterhielt sich in einem farbigen Zelt am Heck der Barke mit den Uermaas. Während Santemi in BodYul das Zusammensein mit Lhalus Bruder vermieden hatte, fiel -363-
mir immer wieder auf, daß sie seine Gegenwart hier in Khem sichtlich genoß, denn immer bei seinem Anblick erhellte sich ihr Gesicht. Ich hatte nicht lange in der Welt gelebt, so wußte ich wenig über das Herz eines Mannes, doch auch ich mußte mich nicht besonders anstrengen um herauszufinden, daß Gonisa eine heimliche Zuneigung zur Ichka gefaßt hatte. Doch wer liebte sie nicht? Es gab nicht einen Lama im Felsenkloster, ob jung oder alt, der nicht ihr begeisterter Bewunderer gewesen wäre. Am Vorabend unserer Abreise geschah etwas, das bedeutungslos schien, was jedoch eine Lawine des Schicksals in Gang setzte - einen kleinen Stein auf dem Gipfel eines schneebedeckten Berges, der bald darauf ins Tal herabdonnern sollte. Wenn das eherne Gesetz von Ursache und Wirkung in Kraft tritt, kann es dem, der den ersten Stein warf, über Tausende von Jahren folgen, bis es ihn erreicht und zerschmettert. Am Vorabend unserer Abreise kam Gonisa zu seinem Bruder und bat, ihn mit nach Bod-Yul zu nehmen. Ich konnte in dieser Bitte nichts Ungewöhnliches entdecken und war überzeugt, daß mein Meister, der ihn so sehr liebte, daß er ihm insgeheim alle Geschenke des Pharao überlassen hatte, ohne weitere Umstände einwilligen würde. Doch irrte ich mich. Diesmal war unser Hoherpriester so starr und unbeugsam wie Santemi. als sie sich weigerte, die Botschafter des assyrischen Königs zu empfangen. „Nein, du bleibst hier, Gonisa!" sagte er. „Du hast keinen Grund für eine so lange Reise, da du die Imhotep-Schule für Medizin in Mempi noch ein weiteres Jahr besuchen mußt. Solange können wir, wie früher, durch Briefe oder Boten miteinander in Verbindung bleiben. Auch die Pakete kommen sicher an. Das Schlangengift, welches du mir sandtest, war mir bei meinen Behandlungen und Operationen eine große Hilfe. Deshalb bleibst du einfach in Khem. Ich wünsche, daß du die höchste Stufe der medizinischen Schule zuvor hier beendest." Ich konnte Gonisas plötzlichen Wunsch, abzureisen, nicht -364-
verstehen, da Lhalu ihn schon öfter vergeblich eingeladen hatte. Außerdem hatte ich von den Dienerinnen des Pharao erfahren, daß der junge Arzt aus Bod-Yul häufig in Begleitung eines achtzehn Jahre alten Mädchens aus Khem gesehen worden war, deren Vater im Silberhaus arbeitete, der Schatzkammer des Pharao. Die Beziehung der beiden war offensichtlich sehr eng und allgemein bekannt, und die Leute verstanden nicht, warum er sie nicht heiratete. Auch konnte ich seine plötzliche Sehnsucht nach Bod-Yul nicht begreifen, war doch die strenge Zucht im Kloster wirklich nicht für ihn geschaffen. „Ach, Bruder, erlaube mir doch, mit dir zu gehen", drängte Gonisa. „Ich werde meine Studien später beenden. Ein Monat mit dir ist mir mehr wert als alle zweiundvierzig medizinischen Bücher von Mena zusammen!" „Du bleibst hier, sage ich dir!" fuhr ihn Lhalu grob an. „Ich befehle es dir!" Nach diesen Worten machte Gonisa, der schon fast vierzig Jahre zählte, obwohl er zehn Jahre jünger aussah, ein verzweifeltes Gesicht wie ein Kind. Er wurde blaß, stammelte einige Worte, ließ den Kopf hängen und verließ langsam das Zelt am Heck des Schiffes. Ich konnte seine Schritte noch einige Zeit hören. „Ich weiß, daß er sich jetzt bei der Priesterin beschweren wird", wandte sich mein Meister an mich, „doch vergebens. Er hat im Augenblick nichts in Bod-Yul zu suchen. Mir ist völlig schleierhaft, was in ihn gefahren ist, daß er so starrsinnig darauf beharrt!" Die Priester aus Khem, die im kühlen Zelt mit uns beisammensaßen, drehten sich höflich zur Seite und begannen, die Feuerzeichen am Ufer zu betrachten, sollte die Szene unseren Hohenpriester peinlich berührt haben. Doch Lhalu setzte sich ruhig zu ihnen und führte die Unterhaltung fort, als sei nichts geschehen. -365-
Am folgenden Tag konnten wir nicht abreisen, da der Pharao zu unseren Ehren ein großes Abschiedsessen gab, das gleichzeitig mit dem Ende der Festlichkeiten für Isis und Sothis zusammenfiel, die am dreißigsten Ta ge des Monats Epipi stattfanden. Am nächsten Morgen schifften wir uns ein. Wir fuhren mit derselben königlichen Barke mit den scharlachroten Segeln, die uns nach Khem gebracht hatte. Und so sagten wir dem Reich des Pharao Lebewohl, in dem wir unerwartet in Lebensgefahr geraten waren, was durch den Dank und die Hochachtung, die man uns später entgegenbrachte, mehr als aufgewogen wurde. Als wir uns immer weiter von der sandigen Küste entfernten, sah ich vor meinem geistigen Auge HoremKhut, die Löwin mit dem menschlichen Gesicht, die neben der Großen Pyramide in den Himmel ragt, um der Welt von der einstigen Größe der verlorenen Welt von Atlantis zu künden. Als ob sich ihre Lippen bewegten, sagte sie: „Ich bin HoremKhut, die Geheimnisvolle und Ewig Eine, ich bin die Auferstehung und das Schicksal. Ich bin das Gesetz und die Warnung! Hütet euch!" Nach langer Seereise und mühseliger Wanderung durch die endlosen Flußtäler Gyagars erblickten wir endlich die himmelsstürmenden Gebirgszüge der großen schneeweißen Königin und erreichten sicher Bod-Yul. Seit unserer Abreise war im Felsenkloster nichts besonderes vorgefallen, außer, daß sich Chandugsa Lama über den alten Namgang beschwerte, in dessen Händen die Führung des Klosters gelegen und der wieder Anlaß zu Ärger gegeben hatte. Hätte er, Chandugsa, dessen Aufgaben nicht übernommen, wären bei den geistigen Reisen die schlimmsten Unfälle möglich gewesen, vor allem aber bei den jungen Lamas, die bei ihrem Phoimonda daran gewöhnt waren, von der geistigen Kraft des Hohenpriesters geführt zu werden. Lhalu war außerordentlich verärgert und versprach den alten Lamas, die Ichka nicht mehr mit auf Reisen zu nehmen. Die Zeit verging, aus Monaten wurden Jahre, und die Dinge -366-
blieben wie sie waren. Das Felsenkloster war als Hauptkloster weithin berühmt, und immer mehr Menschen aus den fernsten Winkeln der Erde pilgerten nach Bod-Yul. In dieser Zeit erfuhr ich endlich, was ein erfülltes Leben bedeutet. In jener Periode leuchtete der Ruhm des Hohenpriesters Lhalu und der Priesterin Santemi strahlendhell, denn damals standen sie Gott am nächsten. In einem meiner Träume erschien mir mein Schutzgeist Uparnissur und zeigte mir das Zuhause der beiden in den strahlenden Gärten des sechsten himmlischen Rings, einem Ort ewigen Segens, welchen sie sich durch das irdische Leben voller Opfer verdient hatten. Doch hat die Allmächtige Weisheit diese Welt so erschaffen, daß die Schatten dort am dunkelsten sind, wo das Licht am hellsten erstrahlt. Sadag, der Prinz der Unterwelt, beneidete uns um unser Glück, und so beschloß Gott, das Felsenkloster in seine Macht zu geben. Anderthalb Jahre nach unserer Reise nach Khem und der Heilung des Pharao Pi- Ank'khi Chewer erhielt unser Hoherpriester eine Nachricht der Imhotep-Schule für Medizin von Pu-Bast, daß sein Bruder Gonisa, der Buchhalter des Silberhauses, den höchsten medizinischen Grad der eingeweihten Priester erlangt hatte. Lhalu, der nichts mehr von seinem Bruder gehört hatte und sich wunderte, warum dieser ihm die frohe Botschaft nicht selbst überbrachte, schrieb sofort zurück, wünschte ihm alles Gute und lud ihn, wie in jener Nacht auf der Barke versprochen, nach Bod-Yul ein. Zwei Monate später kam eine Karawane aus Gyagar an, und Gonisa stieg auf dem Kharlam des Felsenklosters von seinem Yak. Als die Muscheltrompete die Ankunft der Fremden ankündigte und der Hohepriester aus dem Fenster seiner Turmzelle schaute, erkannte er seinen Bruder und eilte in den Hof hinunter. Immer stellte ich mit Erstaunen fest, daß unser Hoherpriester all seine priesterliche Würde aufgab, wenn er seinem Bruder begegnete. Er hieß ihn nicht nach dem Brauche Bod-Yuls willkommen, sondern begrüßte ihn gefühlvoll nach -367-
Art der Südländer. Sie umarmten einander herzlich, und wenn ich es richtig beobachtet habe, weinte Lhalu vor Glück. So innig liebte er seinen Bruder, diesen leichtsinnigen, gesprächigen großen Jungen, der seinerseits Lhalu wie einen Vater verehrte. So kam Gonisa wieder zum Felsenkloster zurück, und so brachte Sadag nach dem Willen der Heiligen Weisheit den Stein ins Rollen, der auf dem Gipfel eines strahlenden Sommertages loskullerte, um bald wie eine Lawine auf uns herabzustürzen. Von diesem Tage an kümmerte sich Lhalu selbst um Gonisa und wies ihn als Gast des Klosters in die Kunst der Medizin ein, da er wollte, daß Gonisa nach seinem Tode als der berühmteste Arzt Khems höchste Geltung erreiche. Im Gegensatz zu den seit langer Zeit geltenden Regeln ließ er ihn nicht in einer der Gästekammern im Erdgeschoß wohnen, sondern unter dem Turm im oberen Stockwerk in einem ge mütlich eingerichteten kleinen Raum vor der Bibliothek, wo er seine astrologischen Berechnungen aufbewahrte. Dies war natürlich gegen die Klosterregeln, doch das Felsenkloster stand zu jenen Zeiten hoch über den anderen Chintanyins, und Lhalu verfügte über so viel Macht im Lande, als sei er dessen Regent. Gonisa gliederte sich mit bemerkenswerter Anpassungsfähigkeit in das Klosterleben ein. Er trug dieselbe Kleidung wie wir, was ihm bei seiner schlanken Gestalt ausgezeichnet stand. Lhalu erlaubte ihm sogar gegen den Willen der alten Lamas, den morgendlichen Gottesdienst zu besuchen. Gonisas Fröhlichkeit wirkte sehr erfrischend, und jeder Lama mochte ihn, da er fesselnde und erheiternde Geschichten über das Leben in den großen fernen Ländern und über die Religionen von Assur und Khem zu erzählen wußte. Daran waren alle außerordentlich interessiert, da sie auf diese Weise Informationen aus erster Hand erhielten. Er verbrachte den Großteil des Tages im Sezierraum oder über seinen Büchern, und Lhalu heilte nie, ohne ihn mitzunehmen. Er weihte ihn in jedes medizinische Geheimnis ein, außer der Wiederbelebung und Befragung der -368-
Toten, da der Chod das heilige Geheimnis der Hohenpriester war, welches selbst wir nicht kannten. Eines Tages begab sich Lhalu auf die Wanderschaft, um einen Patienten zu besuchen, der in einem hundert Meilen von Tampol- Bo-Ri entfernten Kloster wohnte. Nachdem er abgereist war, fühlte sich die Ichka, die sonst keine Krankheit kannte, plötzlich unpäßlich und schickte nach Gonisa, damit er sie untersuche. Ich führte ihn hoch ins Turmzimmer, welches von Fremden normalerweise unter keinen Umständen betreten werden durfte. Er betrachtete Santemi nur flüchtig, dann stellte er fest, daß die stechenden Kopfschmerzen, an denen sie litt, von dem stürmischen Wetter herrührten, welches stark mit negativem Magnetismus aufgeladen sei. Er sagte, daß er sie im Handumdrehen mit einem Aderlaß heilen würde und übergab mir seine Instrumente, damit ich sie im Feuer reinigte. Da sich die Öllampe im angrenzenden Zimmer befand, begab ich mich dorthin. So wurde ich unwillentlich Zeuge ihrer Unterhaltung. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie besorgt ich war, als ich hörte, daß du krank bist", sagte er mit weicher, einschmeichelnder Stimme. „Sie nennen dich das Augenlicht des Klosters. O, Priesterin, seit ich dich in Khem erblickte, nenne ich dich meinen Augapfel! Nein, nicht erst seit Khem", verbesserte er sich rasch, „sondern als ich deine göttliche Gestalt zum erstenmal sah." „Sprich nicht so, Gonisa", hörte ich Santemi, und da ihre Stimme plötzlich gedämpft klang, wußte ich, daß sie den Kopf gebeugt haben mußte. „Es schickt sich nicht, so zu einer Priesterin zu reden. Und außerdem glaube ich dir sowieso kein Wort, da du allen Frauen schöne Worte sagst. Was ist eigentlich mit dem Mädchen aus Khem am Hofe des Pharao?" „Ich bitte dich, sprich nicht von ihr! Sie ist die Tochter des Schatzverwalters vom Silberhaus, und Kraft meines Amtes hatte ich regen Kontakt zu ihrem Vater. Er hätte es gern gesehen, wenn ich sie heiraten würde, doch daraus wäre nichts geworden. -369-
Es gibt viele schöne Frauen in Khem, die zu haben waren und mich umschmeichelten. Glaube mir, wenn ich gewollt hätte, ich hätte mich hundertmal verheiraten können." „Und warum wolltest du nicht?" fragte Santemi. „Du bist doch ein Mann in den besten Jahren. Wie lange willst du noch warten?" „Ich weiß nicht", hörte ich Gonisa antworten, und an dem nachdenklichen Klang seiner Stimme erkannte ich, daß er die Wahrheit sprach. „Ich weiß nicht, Priesterin. Irgendwie spürte ich immer, daß die Frau, die meinen Körper und meine Seele verzaubern könnte, noch nicht geboren ist. Ich bin vierzig Jahre alt, doch keine Frau hat sich bisher um meine Seele gekümmert. Als ich noch in Assyrien lebte, hatte ich einen Traum, und dieser Traum verfolgt mich seit jener Zeit. Leuchtende Geistgestalten trugen mich vor den Thron des Höchsten, und ich warf mich zu Boden, da meine Augen vom Licht Seiner Herrlichkeit geblendet wurden. Dann hörte ich Seine Stimme wie das Grollen eines fernen Flusses von oben tönen: ,Was wünschst du, mein Sohn? Um deines Bruders willen, meines geliebten Hohenpriesters, will ich ihn erfüllen, wenn er nicht gegen meine ewigen Gesetze verstößt.' Ich wagte nicht, nach oben zu schauen, ich murmelte ausgestreckt vor der untersten Stufe Seines Thrones: ,Herr, führe mich zum Doppel meiner Seele! Zeige mir die Frau, die ich lieben kann.'" Er hielt kurz inne, und obwohl ich mich bemühte, nicht hinzuhören, blieb das Messer in meiner Hand liegen, und ich konnte meine Arbeit einfach nicht fortsetzen. „Und was antwortete die Heilige Weisheit?" hörte ich Santemis sanfte Stimme. „Sie sagte: ,Es ist besser für dich, wenn du ihr nicht begegnest. In einem deiner früheren Leben, als die Fruchtbare Welt blühte und noch nicht untergegangen war, begingst du eine große Sünde wider die Liebe. Damals trugst du einen anderen -370-
Namen. Mensch! Hüte dich! Meide sie, oder stehe ihr mit reinem Herzen bei, solltest du ihr begegnen! In diesem Leben werde ich sie dir nicht geben, da du ihrer noch nicht würdig bist. Töte zuerst alle fleischlichen Begierden in deinem Körper und lerne, daß nur die Liebe der Selbstüberwindung Glück bringt. Dann wirst du wirklich glücklich werden, und jene, die einander lieben, werden sich einst in meinem Königreiche treffen.' Ja, so sprach die Heilige Weisheit zu mir", fuhr Gonisa leise fort, „und ich prägte mir ihre Worte ein, obwohl in diesem Augenblick so blendend helle Lichtblitze vor mir aufzuckten, daß ich im Traum das Bewußtsein verlor." Er schwieg eine Weile, dann fuhr er mit wehleidiger, fast kindischer Stimme fort, die mich bis ins Mark erschütterte: „Ich hatte einen weiteren Traum, und wieder stand ich vor dem blendenden Licht. Ich flehte Ihn von neuem an, mir das Doppel meiner Seele zu zeigen. Wie das Brüllen des Meeres donnerte Seine Stimme, die jedoch aus meiner innersten Seele zu stammen schien, und sprach zu mir: ,Ich riet dir schon einmal, Mensch, Geduld zu üben und nicht nach ihr zu verlangen. Denn Kummer droht dir, droht euch allen, wenn ihr nicht zu den schneebedeckten Gipfeln strebt! Jener, der hinunterschaut, mag seinem Schicksal zu früh begegnen und wird ohne meine Gnade vergehen.'" „Was sagte er?" fragte Santemi aufgeregt. „Jener, der hinunterschaut, mag seinem Schicksal zu früh begegnen? Ja", fügte sie nachdenklich hinzu, „wie die Priesterin, die dem Arva ihres früheren Lebens begegnete." „Ich verstehe nicht, Ichka". „Nichts, es ist nichts", erwiderte Santemi rasch. „Bitte, rufe Ti-Tonisa mit den Instrumenten!" Ich zog den Vorhang beiseite und überreichte ihm die Instrumente, die ich auf ein Tablett gelegt hatte, mit einer tiefen Verbeugung. -371-
Jetzt, wo ich mir diese Szene wieder ins Gedächtnis rufe, fällt es mir sehr schwer, fortzufahren, denn mein altes Herz wird traurig, und ich spüre, daß ich bald sterben werde. Ich will mich nicht lange an diesem Punkte aufhalten, denn die Worte eines Menschen und seine Erinnerung sind nur schwache Seufzer verglichen mit dem Donnern einer Lawine. Und die Verwüstung, die eine Berglawine angerichtet hat, kann weder durch Worte noch durch Erinnerungen wieder gutgemacht werden. Denn ich wußte bereits, daß Santemi dem Bruder meines Hohenpriesters nicht gleichgültig war. Eines Tages hatte Lhalu im Krankenzimmer Febse Lama operiert. Mit einem glücklichen Seufzer legte er seinen Mantel ab und bedeutete mir, ihn in den großen Chang zu begleiten, damit wir Gott für die gelungene Operation dankten. Als wir den düsteren Tempel betraten, blieben wir wie vom Donner gerührt stehen. Dort, hinter einer Säule, standen Santemi und Gonisa eng umschlungen. Sie hielten einander mit einem Arm, die Hand des anderen hatten sie sich gegenseitig zum Zeichen ihrer Zuneigung auf die Stirn gelegt. Lhalus Kehle entrang sich ein schmerzliches Stöhnen, welches ich nie vergessen werde. Er drehte sich um, bedeckte sein Gesicht mit dem Ärmel seines Gewandes und verließ eilends den Tempel. Ich rannte hinter ihm her und stieß beinahe zwei Lamas um, die gerade eintreten wollten, um das Öl der heiligen Lampen aufzufüllen. So stürzte die Lawine Sadags, des Prinzen der Unterwelt, auf das Felsenkloster herab und begrub unser aller Glück unter sich. Auch die jüngeren Lamas erfuhren von diesem Vorfall, und die Autorität der Ichka war erschüttert. Lhalu machte seinem Bruder mit keinem Wort einen Vorwurf, schickte ihn jedoch am nächsten Tage zurück nach Khem. Santemi, die das Gesetz gebrochen hatte, erhielt eine schwere Strafe. Santemi! Santemi! Du warst das Augenlicht unseres Klosters -372-
und die Heilige Inspiration unseres Hohenpriesters! Siehe, du begegnetest deinem Arva, weil du ins Tal schautest und deinen Blick einen Moment lang vom Himmel abwandtest. Immer noch sehe ich deine demütige kleine Gestalt und deine klaren Augen, die von diesem Tage an nie mehr strahlten. Ich sehe deine schamgeröteten Wangen und kann dir den Schmerz nachfühlen, den du in deinem Herzen spürtest, daß du, die du für uns eine Göttin gewesen, sterblich geworden warst und alle Anerkennung deiner Lamas verloren hattest. Von diesem Tage an wurdest du traurig und melancholisch, und dein priesterliches Wissen nahm ab. Nur dein Hoherpriester blieb trotz seiner Schmach bei dir und ließ dich nie auch nur mit einem Worte spüren, was du ihm angetan hattest. Vielleicht erkannte er, daß er selbst das Gesetz gebrochen hatte, denn er hätte nie , erlauben dürfen, daß du das Kloster verließest. Wie soll ich die Geschichte fortsetzen, wenn mein Herz blutet und meine Gedanken sich verwirren? Die Wunde blutet weiter, selbst wenn der Dolch nicht mehr in ihr steckt. Doch nein, du sollst alles wissen, damit du den Kelch der Bitterkeit bis zur Neige leeren kannst, wie ich es einst tat. Nicht einmal sechs Monate waren verstrichen, als ein neuer Botschafter aus Khem eintraf und einen Brief des Pharao überbrachte, der erneut erkrankt war. Er bat den Hohenpriester, zu ihm zu reisen, weil nur er ihm helfen könne. Lhalu war ein anderer Mann geworden. Seine alte Herzlichkeit war verschwunden, sein Gesicht wirkte erschöpft und hager, und er hatte große Mühe, den Verpflichtungen seines Amtes nachzukommen. Doch so schlecht seine Erinnerungen an Khem sein mochten, er erfüllte seine Pflicht als Arzt und entschied, sofort nach Khem aufzubrechen. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren war, daß er die Ichka wieder mit sich nahm, hatte er doch bereits so teuer dafür bezahlt. Vielleicht vertraute er ihr nicht mehr und wollte sie nicht allein zurücklassen, oder er hatte sich daran gewöhnt, daß sie ihm in fernen Ländern mit -373-
ihrer klaren Einsicht half, denn oftmals hatte sie ihn vor drohenden Gefahren gerettet. Wer konnte es wissen? Tatsache ist, daß wir bald darauf aufbrachen und an Bord des Schiffes gingen, welches uns in demselben Hafen in Gyagar erwartete. Wieder heilte er den Pharao auf wundersame Weise. Wie das letzte Aufflackern einer Flamme loderte Santemis Wissen ein letztes Mal auf. Nach dreitägiger Trance in derselben Grabkammer sagte sie Lhalu, wie er dem Pharao ganz ohne Operation helfen könne. Mit Hilfe eines Stückchens Schnures und mit der magischen Kraft seiner Hand zog er aus dem Schlund des Pharao den Rubinring, der darin steckengeblieben war. Die Menschen jubelten, Lhalu erhielt königliche Geschenke, und wir wurden viele Tage lang gefeiert. Nur Gonisa ließ sich nicht blicken, obwohl wir wußten, daß er sich ebenfalls in Pu-Bast aufhielt, doch er wagte nicht, seinem Bruder unter die Augen zu treten. Als die Zeit der Abreise näherrückte und wir uns bereitmachten, an Bord zu gehen, konnten wir Santemi nirgends finden. Wir suchten in allen Räumen und sogar an Orten nach ihr, wo wir uns nur für kurze Zeit aufgehalten hatten. Selbst in den Pyramidenkammern schauten wir nach, doch sie blieb verschwunden. Lhalu unterrichtete den Pharao, und dieser sandte augenblicklich Soldaten in die Stadt, um sie aufzuspüren. Doch die Soldaten kehrten erfolglos zurück. Die Priesterin blieb unauffindbar. Nachdem wir an Bord gegangen waren, stand Lhalu blaß an der Reling. Dann befahl er dem Kapitän plötzlich, wieder an Land zu rudern. Er bat den Uermaa um Erlaubnis, noch einen weiteren Tag im Palast verbringen zu dürfen. Er erklärte, er spüre, daß wir in kurzer Zeit gute Nachrichten erhalten würden. Diese Nachrichten erreichten uns in derselben Nacht. Nafkrit, die Tochter des Schatzmeisters vom Silberhaus, deren Leben das Schicksal mit dem Leben Gonisas verknüpft hatte, stattete uns einen unerwarteten Besuch ab. Sie beschwerte sich unter -374-
bitteren Tränen, daß ihre beste Freundin, Kumpti, die Priesterin des Isistempels, für das Verschwinden der Shem'a aus Bod-Yul verantwortlich sei. Durch ihr Klagen und Weinen aufmerksam geworden, schob Lhalu den Vorhang beiseite und schaute hinaus. Nafkrit fiel vor ihm auf die Knie. „Was sagtest du über die Priesterin aus Bod-Yul?" fragte er mit zitternder Stimme. „Sprich, Kind, hab keine Angst." „O großer Netertua, ich weiß nicht, wie ich es euch sagen soll! Euer Bruder Gonisa hat mich verlassen. Er lief mit eurer heiligen Priesterin davon. Und ausgerechnet sie, meine beste Freundin, die Priesterin des Isistempels, half ihnen dabei! Seit drei Tagen schon segeln sie den großen Fluß hinab!" Ihre Stimme brach, und sie schluchzte. Lhalu erstarrte und schaute mir mit leerem Blick in die Augen. Als ob eine eiserne Hand meine Kehle umfaßte, brachte ich kein einziges Wort hervor. Dort standen wir beide wie Pilger in den Bergen, die noch immer aufrechter Haltung - von einer Lawine begraben werden und in der Totenstille unter dem erdrückenden Gewicht des Schnees um die letzte verbleibende Atemluft ringen… Ich erinnere mich nicht, wie wir zurück in unser Land gelangten. Die Abreise, die lange Seefahrt, unsere mühselige Wanderung durch das weite Gyagar-Reich verschmolzen in meiner Erinnerung mit der Reise im vorigen Jahr. Auch damals hatte ich häufig zurückgeschaut und mich vergewissert, ob Santemi gut im Sattel saß oder ob sie irgend etwas wünschte. Doch jetzt schaute ich vergebens zurück, denn ich sah nur die traurigen Gesichter der Lamakrieger und der Maultiertreiber. Diese Karawanenreise glich in der Tat dem Weg der verdammten Seelen durch das Land des Nebels im Bardo. Das göttliche Licht war plötzlich erloschen, und wir irrten ohne Leitstern im Labyr inth des Lebens. Der Stern des Felsenklosters war untergegangen, das große Kloster hatte sein Augenlicht verloren. Die Hoffnung hatte uns getäuscht, und unser Glaube wurde leidvollen Prüfungen unterzogen. -375-
Doch damit war unsere Qual noch nicht zu Ende. Es sah so aus, als habe unsere Priesterin mit allem, was kommen sollte, gerechnet, denn vor ihrer Abreise hatte sie im Kloster alle Aufzeichnungen verbrannt, alle astrologischen und medizinischen Schriftrollen, die sie im Laufe vieler Jahre zusammen mit Lhalu erstellt hatte. Auf der Felsenterrasse vor der kleinen Bibliothek lagen noch ein oder zwei verkohlte Rollen. Bei diesem Anblick weinte mein Hoherpriester zum zweitenmal in seinem Leben. Mit zitternden Händen streichelte er die verbrannten, rußigen Papyrusfetzen, doch dann konnte er sich nicht länger beherrschen, lehnte sich gegen das Geländer und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Ich kniete vor ihm nieder und flehte: „Weine nicht, Aku. Weine nicht und vertraue Gott. Die Gnade der Heiligen Weisheit ist unendlich! Du bist der Hohepriester, und das Zeichen der Dornenkrone ist in dein Gewand gestickt und in Santemis! Ihr beide tragt diese Krone als Zeichen eures Priestertums. Sie ist das Sinnbild der Verdienste, die ihr in vielen Leben gesammelt habt. Unsere Heilige Inspiration, unser guter Genius, geriet wie ein Kiang auf dem schneebedeckten Gipfel ins Wanken und fiel aus der schwindelerregenden Höhe hinab in einen gähnenden Abgrund. Doch sie wird wieder emporklettern zu den sonnenerleuchteten Gipfeln, wenn nicht heute, dann im Morgengrauen eines zukünftigen Lebens, und dann werden wir ihr wieder begegnen. Ich, dein treuer Schüler, widme mein Leben der Allmächtigen Weisheit. Und ich werde für Santemi wieder auf die Erde zurückkommen, selbst wenn sich der Kreislauf von Akhor für mich nicht mehr dreht, um ihr und dir, Meister, zu helfen." Während ich sprach, hatte er den Kopf immer höher gehoben bis er mir das Gesicht zuwandte. Er schaute mich erstaunt an, als könne er die Vergangenheit vollkommen verstehe n und blicke durch einen Schleier in der Gegenwart in die ferne Zukunft. Dann streckte er beide Arme aus und drückte mich an seine -376-
Brust. „Du allein bist mir geblieben, Ti-Tonisa. Möge dich Yeshes, der Allmächtige, für deine tröstenden Worte segnen. Deine Treue ist mein Anker in den wilden Strudeln der Gefühle, die mich beinahe verschlungen hätten." Die Zeit verging - Zeit, die in Wahrheit nicht existiert, die nur die Projektion unseres glücklichen oder traurigen Geisteszustandes ist. Jetzt, wo unsere Seelen so sehr litten, erschienen uns die Wochen wie Jahre. Der Hohepriester wartete täglich auf Santemi und verbrachte all seine Freizeit auf dem Balkon des Turmzimmers, von wo er weit ins Tal hinunter nach Süden schauen konnte. So mag der schneebedeckte, gefrorene Boden eines fruchtbaren Tales auf die Ankunft des Frühlings warten, die durstige Küste auf das erfrischende Naß und das alte Vogelhaus auf die Rückkehr der Zugvögel… Doch er blickte vergebens in die Richtung, wo sich Khem tausende von Meilen entfernt von den himmelsstürmenden Gipfeln des Kangchen erstreckte: Das Land von Isis und Osiris hatte die Priesterin des Felsenkloster verschlungen. Nur Horem-Khut, die geheimnisvolle Löwin, lächelt rätselhaft in der Wüstennacht den Sternen zu - mit bewegungslos starren Lippen, während sie seit Tausenden von Jahren belustigt den Sturz großer Reiche und großer Männer verfolgt. Lhalu wartete sehr lange, doch schließlich blieb ihm keine andere Wahl, als der Forderung der anderen Klöster nachzukommen und sich eine neue Priesterin zu wählen. Doch mit der neuen konnte er nicht zusammenarbeiten. Daraufhin wollte er zurücktreten, doch die Lamas nahmen sein Rücktrittsgesuch nicht an. Mein Meister zählte zu jener Zeit sechsundfünfzig Jahre - und arbeitete allein weiter. Er willigte nur unter der Bedingung ein, der Hohepriester aller Klöster zu bleiben, wenn er nicht gezwungen wurde, eine neue Priesterin zu nehmen. Doch allein konnte er sich nicht richtig entfalten. Er hatte keine Ichka mehr, die er auf den Schwingen des Geistes -377-
auf weite Reisen schicken konnte, und vergebens unternahm er selbst die Bewußtseinsflüge - er vermochte auf der geistigen Ebene nicht mehr klar zu sehen und die göttliche Chronik der Zukunft nicht mehr zu lesen. Umsonst starrte er in ruhigen, mondhellen Nächten in die Metallkugel, dann, wenn die Verbindung zwischen den beiden Welten enger ist, er konnte die Gestalt von Santemi nicht finden. Danach suchte er nach seinem Bruder, dem er längst vergeben hatte. Er wäre glücklich gewesen, wenn er wenigstens vo n ihm gehört hätte. Doch alles war umsonst - sein Wissen versagte, und er fand ihn erst sechzehn Jahre später. Er zählte bereits zweiundsiebzig Jahre, obwohl er wie fünfzig wirkte. So sehr ihn das geistige Leid und die unendliche Qual gebrochen hatten, trugen das mystische Leben des Klosters und die vielen geistigen Reisen dazu bei, ihn zu verjüngen, und die Zeit schien spurlos an ihm vorübergezogen zu sein. In jenen Tagen geschah es, daß ein Händler aus Khem nach Bod-Yul kam, der seine Karawane mit Stoffen aus dem Süden und mit Seide beladen hatte. Er kam auch zu uns, da er wichtige Neuigkeiten für unseren Hohenpriester hatte. Von ihm erfuhr Lhalu, daß sein Bruder vor einem Jahr in Ta-Seman, dem südlichen Teile Khems, gestorben war. Doch von der fremden Priesterin, die man zuvor in seiner Begleitung gesehen hatte, wußte er nichts. Viel Zeit war vergangen, als Lhalu mich an einem winterlichen Morgen zu sich rufen ließ. Sein Haar war bereits ergraut, doch sein Gang und sein Gesicht wirkten immer noch jung. Nur die tiefen Falten um den Mund, die von vielen durchwachten Nächten und großem Leid zeugten, verrieten sein wahres Alter. Als der Burgvogt uns verlassen hatte und wir allein waren, legte er die Hände auf meine Schultern. „Ti-Tonisa, mein Kind, weißt du, wo hin wir heute wandern werden? In das kleine Dorf, in dem unsere Santemi, deren Andenken gesegnet sei, einst wohnte. Auch damals, an jenem -378-
lang vergangenen Tage, als sie noch ein kleines Mädchen war, wurde ich dorthin gerufen, und wir eilten, ihr zu helfen." Hier versagte seine Stimme, und mir war plötzlich, als bräche die ganze Welt über mir zusammen. Ein ganzer Schwarm von Erinnerungen stieg wie eine aufgeschreckte Vogelschar aus meiner Seele auf. Für einen Augenblick fühlte ich mich wieder jung und sah mich, wie ich an der Seite meines Meisters mit federnden Schritten das niedrige Haus Horkangs betrat, wo Santemi fiebernd mit dem Tode kämpfte. Ja, ich sah mit meinem geistigen Auge wie sie ihre großen grünen Augen aufschlug und flüsterte: „Du bist nicht der, auf den ich gewartet habe. Du bist es nicht - und doch werde ich an deiner Seite leben, Lhalu Lama." Ich sah meinen Meister an, und er bemerkte, daß ich mit den Tränen kämpfte. „Ja, Arau, wir gehen noch einmal in das Chumbi- Tal. Vor wie vielen Jahren waren wir das erstemal dort? Vor fünfzig oder fünfundfünfzig Jahre? Wer kann das sagen?" Am Morgen machten wir uns mit zwei Yaks auf den Weg und erreichten das kleine Dorf im Tal bei Neumond. Horkangs Haus war nur noch eine Ruine, und als wir daran vorbeigingen, blieb Lhalu eine Weile davor stehen. Dann senkte er den Kopf und folgte mir. „Gesegnet sei der Name der Heiligen Weisheit", hörte ich ihn murmeln, und dieser kurze Seufzer ließ meine Seele erzittern wie die Tempelglocken in der von Räucherwerk erfüllten Luft. Ja, gesegnet sei ihr heiliger Name jetzt und in alle Ewigkeiten! Nachdem wir einen reichen Bauern, den Vater einer unserer Lamabrüder, der am anderen Ende des Dorfes wohnte, in wenigen Stunden geheilt hatten, stand mein Meister auf und bereitete sich auf den Rückweg vor. Wir verließen das Dorf und erreichten einen Kreuzweg, von dem einer der Wege hoch in die Berge abzweigte. Dort kam uns eine alte, grauhaarige Bettlerin entgegen. Als sie an uns vorüberging, machte sie respektvoll -379-
Platz, und ich warf eine Silbermünze in ihre Schürze. Dann gingen wir weiter. Wir mochten etwa zwanzig Schritte zurückgelegt haben, als mein Meister plötzlich wie vom Blitz getroffen stehenblieb. Seine Hände zitterten, doch er sprach kein Wort. Ich begriff nicht, was mit ihm los war und schaute ihn ängstlich an. Da drehte er sich ganz langsam um und blickte zurück. Auch die Bettlerin war stehengeblieben und starrte uns nach. Und mein Meister ging mit den steifen, mechanischen Schritten eines Schlafwandlers mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Ich rannte ihm nach und blieb hinter ihm stehen. Und der Hohepriester Lhalu warf sich vor der Bettlerin zu Boden und küßte den Saum ihres zerlumpten Umhangs. „Santemi," rief er weinend, „meine heilige Inspiration! Gesegnet sei der Name der Heiligen Weisheit!" Er vermochte nicht mehr zu sprechen, denn seine Stimme erstickte in Schluchzen. Und ich - ich sah und hörte nichts, denn meine Augen füllten sich mit Tränen, und eine unsichtbare Kraft riß mich zu Boden. Ich fiel mit dem Gesicht auf die gefrorene Erde und weinte bitterlich. „Lhalu", hörte ich Santemis Stimme, die genauso klang wie früher, „ich wußte, daß wir uns noch einmal begegnen würden! Schau, dein Talisman hat mich zu dir zurückgeführt." Als ich mein tränenüberströmtes Gesicht hob, sah ich, wie sie ihre alte, zitternde Hand hochhielt, und an ihrem blaugefrorenen Handgelenk glitzerte Lhalus goldener Songdus. So begegnete der Hohepriester Santemi, die einst das Augenlicht des Felsenklosters gewesen war, dreißig Jahre nachdem das Schicksal sie in Khem von seiner Seite gerissen hatte. Was soll ich sagen, um in Worte zu kleiden, was nur empfunden werden kann? Unsere Sonne war gesunken, doch in diesem heiligen Augenblick fanden wir drei einander tief unten in der Lawine wieder, und der Sonnenschein der göttlichen -380-
Gnade erweckte uns für eine Weile aus unserem eisigen Tod. Wenn Gonisa uns vom Himmel aus zugesehen hat, hat er sicher gespürt, daß wir ihm lange vergeben hatten und daß er ewig zu uns gehörte. Wir begleiteten sie zu ihrer ärmlichen Hütte am Ende des Dorfes, wo sie von der Hand in den Mund lebte. Wir erfuhren, daß sie vor einem Jahr zurückgekommen war. Sie war durch das große Gyagar-Reich gewandert und hatte um Almosen gebettelt, bis die Gipfel der schneeweißen Königin am Horizont aufgeragt waren. Gerne wäre sie in ihr altes Yamgo zurückgekehrt, doch sie wurde abgewiesen. Alles, was sie dort erhalten hatte, war ein Topf mit geschälter Gerste, dann hatte man sie weggeschickt. So war sie wie eine Pilgerin zurück in ihr Dorf gewandert, in jenes Dorf, wo sie und Lhalu so viele kranke Menschen geheilt hatten. Das Haus ihres Vaters war schon lange verfallen, und sie kannte niemanden, zu dem sie hätte gehen können. So hatte sie in einer armseligen Hütte Schutz gesucht und lebte seitdem von der Wohltätigkeit anderer Menschen. Die Vergangenheit war nicht zu ändern, noch konnte Lhalu irgend etwas für sie tun. Doch vier Wochen später kehrten wir mit zwei Yaks, schwerbepackt mit Nahrungsmitteln und Kleidung, ins Chumbi-Tal zurück, damit Santemi nicht länger darben mußte. Lhalu besuchte sie jeden zweiten Monat, und sie unterhielten sich stundenlang - wie einst. Sie erzählten einander alles, was seitdem geschehen war, doch kein Wort des Vorwurfs kam über ihre Lippen. Unser Hoherpriester war wieder glücklich und dankte dem Himmel für die Gnade, die er ihm erwiesen hatte. Santemi lebte noch vierzehn Jahre lang in der kleinen Hütte im Chumbi- Tal und starb in Lhalus Armen. Ich war mit den beladenen Yaks später eingetroffen, und als ich die Hütte betrat, sah ich meinen Meister vor ihrem Bett knien. Bei dem Geräusch, das ich machte, drehte er sich ungeduldig um. „Scht! Sei leise, Ti- Tonisa. Störe sie nicht im heiligen -381-
Augenblick des Bardo, wenn das Ewige Licht vor ihr aufflammt!" „Was ist geschehen?" flüsterte ich voller Ehrfurcht. „Meddo", antwortete er und sprach die ersten Worte des Bestattungsgebetes. „Sie weilt nicht länger unter uns. Sie ist gegangen." Schweigend kniete ich mich neben ihn und legte meine Stirn auf die kühle, dünne Hand der Ichka. So beteten wir gemeinsam, bis die Dunkelheit wich und die Strahlen der aufgehenden Sonne die glitzernden Gipfel des schneebedeckten Kangchen rötlich färbten.
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Nachwort Meine Zeit ist um. Ich, Ti-Tonisa Lama, der dank der Gnade Gottes wieder auf der Erde lebt und dir diese Zeilen diktierte, mein Hoherpriester, muß zurück in meinen Körper, der bewegungslos und steif in Ägypten liegt in einem verborgenen Kloster zwischen den verfallenen Tempeln von Abu-Simbel. Das lange Pow neigt sich seinem Ende zu, und mein ausgesandter Geist, der viertausend Meilen von meiner Zelle entfernt in deinem Hause unsichtbar zugegen war, wird seinen Platz in seinem engen Gefängnis, dem Körper, wieder einnehmen. Danke der Heiligen Weisheit, preise Yeshes und die Heiligen Drei, segne die Hohen Himmlischen Führer, die, dank der Gnade des Allerhöchsten, dies alles hier ermöglicht haben. Heil dem Meister und Hohenpriester im Namen der Heiligen Weisheit und Tibets! Und dir, Santemi, der Priesterin und Heiligen Inspiration, die ich an seiner Seite fand - Preis, Friede und Ehre an diesem Tage wie in alten Zeiten! Werft euch nieder vor der Ehre des Herrn und dankt ihm, daß euch das Schicksal 2749 Jahre nach eurem Leben in Bod-Yul, nach einem Lidschlag der Ewigkeit, wieder zusammengeführt hat. Mein Meister! Du verbrachtest dein Leben in grauer Eintönigkeit und fandest in den dir verbleibenden Tagen keine Freude mehr. Auch in deinen späteren Leben bliebst du allein. In den Sphären, auf den Sternen und auf deinen irdischen Pilgerreisen suchtest du immer nach deiner Priesterin. Ein Funke deines alten Wissens blieb dir in all deinen Erdenleben erhalten, doch du fandest nie zum himmlischen Felsenkloster zurück, wo deine Zelle leersteht und auf dich wartet. Den Frauen hast du niemals mehr getraut, und weil der Stachel in deiner Seele -383-
steckenblieb, konntest du ihr, die sich einst an dir versündigte, nicht begegnen, bis sie dich selbst zurückführte zu Gott. Santemi! Auch du hast manches Leben erlitten, und auch dir blieb der herrliche Himmlische Ring, deine Heimat, verschlossen. Herrin, du hattest wirklich ein schweres Schicksal! Zwei Männer suchtest du im Himmel und auf Erden - den Hohenpriester und Gonisa. Den ersten konntest du erst finden, als du dieselbe reine Liebe auch für den zweiten empfandest, der einst dein Liebhaber gewesen war. Doch das größte Geschenk Gottes blieb dir: deine Seele war stets ein offenes Tor in die Feine Welt, und du bist immer noch, was du einmal warst - die heilige Inspiration, die den Hohenpriester und Gonisa zurück auf den schmalen Pfad führte. Sei dafür gesegnet, Santemi, und sei glücklich! Ich überbringe dir die Gnade Gottes und sein Versprechen. Siehe, ich, dein Lama aus alten Zeiten, entbiete dir meinen Gehorsam und beuge mein Haupt vor dir, so wie ich damals an deinem Totenbett im Chumbi- Tal meine Stirn in deine steife Hand legte. Gonisa! Erinnerst du dich noch deines Traumes in jenem längst vergangenen Leben in Bod-Yul? Als du zum Felsenkloster zurückkamst, Santemi heiltest und ihr von jenem Traume erzähltest? Dein Schutzgeist Uparnissur stellte dich vor den Thron des Höchsten, und du fielst vor Ihm auf dein Angesicht, weil deine Augen von Seinem Leuchten geblendet waren. „Herr! Führe mich zum Doppel meiner Seele! Zeige mir die Frau, die ich lieben kann!" Erinnerst du dich, was der alte Gott Bod-Yuls darauf erwiderte? „Töte zuerst alle fleischlichen Begierden deines Körpers und lerne, daß nur die Liebe der Selbstüberwindung Glück bringt. Dann wirst du wirklich glücklich werden, und jene, die einander lieben, werden sich einst in meinem Königreiche treffen." Doch du mißachtetest den Befehl Gottes, liehst dein Ohr den verführerischen Worten Sadags und stürztest deinen Bruder, dein eigen Fleisch und Blut, den einst ruhmreichen Hohenpriester in Verzweiflung, Schande -384-
und Leid! Du hast die Heilige Schlange in dir nie besiegt, denn wenn dich eine Frau nur flüchtig anlächelte, vergaßest du das Heil deiner Seele! So locktest du Santemi vom pfeilschnellen Pfad, und mit dir begegnete sie ihrem Karma vor der Zeit, denn zu jener Zeit war dir noch nicht bestimmt, sie zu lieben. Du, Gonisa, kamst am häufigsten zur Erde zurück, denn deine Sünde war wirklich groß! Du suchtest Santemi in den Wüsten des Südens und hinter den sieben Meeren, doch du erkanntest sie nicht oder behandeltest sie schlecht, wenn das Schicksal sie dir über den Weg führte. Doch jetzt, in deinem letzten Erdenleben denn ich vertraue der Gnade Gottes, daß es das letzte sein wird hat die Hand seines Heiligen Sohnes, den dein Bruder, der Hohepriester, und Santemi als erste in Bod-Yul erkannten, auch dein Herz berührt. Nun, nach dem Leid so vieler Jahre, hast du dein Herz der Ewigen Liebe übergeben, und diese Liebe erlöste auch dich. Nehmt einander bei der Hand und haltet zusammen. Ihr drei seid eine Familie. Das alte Tibet gebar euch, eure Namen jedoch erhieltet ihr in Atlantis. In ferner Vergangenheit seid ihr gestrauchelt und habt euer Wissen verloren, doch nicht vollständig, und die Erinnerung an euren einstigen Glanz im Himmel und an die Tugenden, die ihr euch durch eure Frömmigkeit im alten Felsenkloster erwarbt, wichen nie aus euren Herzen! Werft euch vor Gott nieder und dankt ihm dafür, daß er euch in seiner Gnade eine Brücke zwischen Himmel und Erde baute und euch erlaubte, wie einst im Felsenkloster mit den Höchsten Führern zu sprechen. Haltet diese Brücke bis zum Tage eures Todes offen, damit sie euch für immer mit der Gnade des allmächtigen Gottes verbindet und euch einen neuen Frühling bringt - wie Ajatsun, der Regenbogen Tibets, der die schneebedeckten Gipfel des Kangc hen und des Tise miteinander verbindet. Und jetzt betet! Euer Karma ist erfüllt. Ihr habt der Welt das -385-
Buch der heiligen Riten zurückgegeben, welches du, Priesterin, einst wegen Gonisa zerstörtest. Danke dem Herrn und bitte ihn um die Gnade, dir auch das Buch der Heilung zurückzugeben, denn bald wird der Sturm heulend über die Welt fegen, und die versprengten Schafe werden niemanden haben, der sie heilt. Doch haltet den Blick nur immer auf den Gipfel der schneeweißen Königin gerichtet und achtet der Sturmwo lken nicht, welche die Erde von Osten her überziehen werden. Die Zeit des Großen Gerichtes ist nahe. Der Wirbelsturm wird daherfegen und zerstören, und selbst die Grabsteine werden aus ihren Fundamenten gerissen. Doch dann wird ein großer Mann kommen, und er wird dem Wasserträger im Himmel winken, den Wasserkrug des ewigen Lebens aus den Sternenhöhen auf diese sündige Welt zu leeren. Möge die Erde endlich in dem reißenden Strome gereinigt werden, mögen seine Wasser allen irdischen Unrat hinwegspülen. Wehe den Schafhirten, und wehe den Schafböcken! So sprach Yeshes - der Heilige Sohn des Gottes von Tibet - Yeshes, der verkörperte Gott, der Eine von den Dreien, der Alles ist, was war und ist und sein wird. Und nun, bevor ich mich von euch verabschiede, spreche ich zu dir, Santemi! Ich, Ti- Tonisa Lama, der ich dir jetzt im Namen deines Hohen Führers das Versprechen des Herrn vortrage, bin beauftragt, dich für deine Arbeit und deinen Glauben zu belohnen. Und statt deines Hohenpriesters werde ich, dein alter Diener, dir nun das Gebet deiner neuen Einweihung sprechen, das alte Gebet Bod-Yuls, dessen dich der Herr wieder für würdig befindet: „Heil sei dir, Santemi, im Namen der Heiligen Weisheit! Du bist bereits in diesem Leben das Licht des himmlischen Felsenklosters. Du weißt, was der Schöpfer den Sterblichen gestattet. Möge unsere Bruderschaft kraft deines Willens eines Tages groß und berühmt sein! Mögen wir kraft deines Willens eines Tages ewigen Seelenfrieden erlangen und die Musik hören, welche immer für uns erklingen soll! Mögen deine -386-
Augen uns beschützen und dein Blick sich nie von uns abwenden! Möge der Gott der Weisheit deinen Geist vollkommen erleuchten und dir die Stärke verleihen, all das, was du in deinen Inspirationen aufnimmst, für uns verständlich und zu unserem Nutzen an uns weiterzugeben! Laß dein ewiges Licht in der Stunde unseres Todes über uns leuchten und halte durch deine Verbindung zu Gott die Kanäle zwischen uns und der ewigen Liebe offen. Dies wünschen wir uns von dir, und wir erwarten, daß du es uns gibst. Möge die Allmächtige Weisheit dir bei deinem Tun beistehen." Und du, mein Meister und Hoherpriester, der du einst das Felsenkloster groß machtest und den ich endlich wiederfand denn ich versprach, dich niemals zu verlassen - mögest du gesegnet sein vom Gotte Bod-Yuls, dem Ewig Einen. Vom Vater, dem Schöpfer, dem Gesetzgeber und Gnadenreichen, vom Ihm, der auf dem Throne sitzt und dieselben Worte zu dir spricht wie einst zu jenem, der die Gebote in den Stein meißelte: „Siehe, es ist ein Raum bei mir; da sollst du auf dem Fels stehen!"
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