Peter-Paul Manzel
Das Evangelium der Naturwissenschaften Eine naturwissenschaftlich begründete Theorie über Gott
Sept...
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Peter-Paul Manzel
Das Evangelium der Naturwissenschaften Eine naturwissenschaftlich begründete Theorie über Gott
September 2001
2. (veränderte) Auflage, 2001 Copyright © by P.-P. Manzel Alle Rechte liegen beim Autor, Peter-Paul Manzel, Bremen Umschlagsgestaltung D.A. Hensmann nach einem Foto von Harald Rehling Das Foto zeigt ein Laser-Experiment.
Gott und der Welt gewidmet
Inhaltsverzeichnis 1
Einleitung 9 1.1
2
Erstes Buch: Physik 20 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9
3
Vier Bücher 13
Genesis, erster Tag: Die Entstehung des Kosmos 22 Das „anthropische Prinzip“ 41 Das „starke anthropische Prinzip“ 45 Das Postulat vom ewig belebten Universum 45 Zeit 47 Über die Möglichkeit ewigen Lebens 54 Genesis, zweiter Tag: Das Werden der Chemie 66 Genesis, dritter Tag: Die Entstehung des Sonnensystems 73 Andere Welten 78
Zweites Buch: Evolution 82 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13 3.14 3.15 3.16 3.17 3.18 3.19 3.20 3.21
Gaia als Erweiterung des Evolutionsgedankens 86 Ökologie 88 Genesis, vierter Tag: Die Entstehung des Lebens 99 Weitere Evolution der Organismen 103 Makroorganismus Gaia 104 Der Tod 107 Der Odem des Lebens 108 Eine Definition von Leben 109 Lebenskraft 111 Information 112 Prädikatenlogik 117 Meme oder die Selektion der Information 119 Konformismus 122 Die Teleologie der Evolution 125 Teleologie und Kooperation 128 Genesis, fünfter Tag: Die Geschichte der Menschwerdung 134 Bewusstsein 137 Die Macht der Kultur 149 Gesellschaften als übergeordnete Organismen 153 Die Evolution der Moral 155 Das Gefangenen-Dilemma 167
7
3.22 3.23 4
Drittes Buch: Emergenz 201 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9
5
Gödel und Emergenz 203 Sprunghafte Evolution 206 Die vierte Domäne 208 Technosphäre 211 Die Teleologie der technischen Evolution 214 Maschinenleben 215 Roboter und Technaea 218 Künstliche Intelligenz 221 Die Ethik der Roboter 223
Viertes Buch: Transzendenz 227 5.1 5.2 5.3
6
Der Dekalog 175 Die Bedeutung des Dekalogs 198
Emulation des Lebens 239 Omega-Punkt 242 Cyberglückseeligkeit 250
Exegese 252 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8
Teleologie des menschlichen Geistes 252 Gesellschaftliche Entwicklung 258 Krieg 263 Umweltschutz 266 Empfängnisverhütung 270 Gentechnik 273 Cybernauten 280 Astronauten 287
7
Transzendente Spekulation 296
8
Nachwort 302
9
Glossar 306
10
Literatur 326
11
Literaturfussnoten 330
8
1
Einleitung „Erst wenn die empirischen Möglichkeiten erschöpft sind, müssen wir in das Traumreich der Spekulation ausweichen.“ (Edwin Powell Hubble)
Dieses Buch versteht sich - am Beginn des dritten Jahrtausends - als eine gute Botschafta. Ich erzähle hier die Geschichte des Universums und die der Menschheit aus der Sicht der Naturwissenschaften. Auf diesem Fundament aufbauend versuche ich darzulegen, ob und inwieweit die Erkenntnisse der Wissenschaftler es vermögen, Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu geben. Ich stelle mich in diesem Buch auf den Standpunkt, dass wir aus der Naturbeobachtung und ihrer Interpretation heutzutage ein vollständiges Modell ableiten können, das in seinen moralischen Grundsätzen einer Religion mindestens ebenbürtig ist und auch unsere transzendenten Bedürfnisse zu befriedigen weiß. Gegenüber vielen Wissenschaftlern und den meisten Philosophen begehe ich dabei das Sakrileg, Gott als notwendigen Teil des Kosmos abzuleiten. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse werden wie kaum etwas sonst kulturübergreifend als gültig angesehen, weil sie auf der Vernunft der Menschen gründen. Und damit, denke ich, ist ihre Anwartschaft auf Wahrheit weit mehr gerechtfertigt als bei irgendeinem anderen Wertesystem. Der Anspruch auf Wahrheit gehört zum Begriff der Kirche und mehr oder weniger zu jeder Religion1, reklamiert der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann die Wahrheit für sich. Aber selbst wenn es um das Ziel geht, unsere „Seele“ zu retten, könnten wir dieses Ziel nicht erreichen, indem wir unseren menschlichen Verstand opfern. Die Katholische Kirche hat Ihr Recht auf Wahrheit längst verloren, während die Naturwissenschaften das überprüfbare Experiment als Methodik zur Wahrheitsfindung etabliert haben. Es drängt: Im Zeitalter der Globalisierung, in dem keine abgelegene Ecke der Welt mehr getrennt vom Rest der Welt existieren kann und jede Gesellschaft zum Wohle aller Menschen beitragen muss, müssen wir objektive wissenschaftliche Erkenntnis stärker in die allgemeinen Sinn- und Wertfragen menschlichen Daseins einbringen. Einerseits eben, weil sie kulturübergreifend sind, andererseits, weil sie einer „Wahrheit“ am nächsten stehen. Sie sind damit am ehesten geeignet, auf unserer Erde, und möglicherweise darüber hinaus, einen Standard an Werten zu etablieren, so dass wir alle uns auf dieselben Menschenrechte und Pflichten berufen könnten. Wenn die Naturwissenschaften nicht die Themen besetzen, die zur Weiterentwicklung unseres Weltbildes beitragen, fördern sie ungewollt das Gegenteil: Den schleichenden Rückzug der Vernunft aus unserer Gesellschaft und sie stoßen damit einer beliebigen Esoterik oder einem religiösen Fundamentalismus weit das Tor auf. In den USA, im Staate Kansas, ist dieses bereits in Nahsicht. Dort darf an einigen Schulen zum Thema „Entstehung der Welt“ nur noch die Genesis, nicht aber die Entstehung der Arten nach Darwin gelehrt werden. Doch den Naturwissenschaftlern fällt es schwer, sich mit der tieferen Bedeutung und dem dahinter liegenden Sinn ihrer Forschungen zu befassen. Und a
Das griechisch-lateinische Wort „Evangelium“ bedeutet: Gute Botschaft, Heilsbotschaft.
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sie kommen doch nicht darum herum: Die National Academy of Science (NAS) veröffentlichte 1998 einen Bericht, in dem sie betonte, dass die Naturwissenschaften gegenüber der Frage nach Gott neutral seien, um dann vehement gegen die religiösen Einwände zu streiten, die gegen die Evolutionstheorie als Unterrichtsstoff erhoben werden. Hieraus ist zu schließen, dass die Naturwissenschaften, auch wenn ihre Vertreter allesamt Atheisten wären, nicht unberührt von der Frage nach Gott bleiben können spätestens, wenn es um die Erziehung unserer Kinder geht. Der Physiker Eugene Wigner schrieb, es sei ganz und gar nicht natürlich, dass Gesetze der Natur existieren, und noch weniger, dass der Mensch in der Lage sei, diese zu erkennen.2 Wir müssen in das Traumreich der Spekulation überraschend spät ausweichen, denn unsere Welt, unser gesamtes Weltall ist so einfach aufgebaut, dass wir den Kosmos, seine Gesetze und Entwicklungen heute schon weitgehend verstehen. - Darin liegt eine tiefe Wahrheit und möglicher Weise die Verpflichtung, ihn zu ergründen, zu begreifen und uns gemäß der sich uns offenbarenden Ordnung zu verhalten. Wir wissen heute weitgehend, wie das Universuma entstanden ist, denn wir leben in einer Welt mit festen Regeln, in einem Kosmos. In der antiken Naturphilosophie stand dieses Wort für die Ordnung des Weltalls. Die griechischen Philosophen des Altertums hatten recht: Das Universum hat sich nicht als Chaos, sondern nach festen Regeln entwickelt, bis schließlich wir auf einem Planeten in einem unbedeutenden Arm der Milchstraße auftauchten und anfingen, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Wenn der Kosmos so einfach aufgebaut ist, dass wir verstehen können, wie er funktioniert, dann sollten wir auch den Versuch unternehmen, seinen letztendlichen Sinn zu enträtseln. Noch vor 100 Jahren glaubten die Wissenschaftler, dass die Sonne nicht länger als 50 000 Jahre glühen könnte, weil man sie sich aus Eisen bestehend vorstellte. Niemand wusste etwas über das gewaltige Ausmaß des Universums oder den Fremdartigkeiten der Quantenwelt. Es war nicht bekannt, dass die Kontinente sich gegeneinander verschoben und damit Erdbeben und Vulkanausbrüche auslösten. Niemand konnte sagen, wie sich Merkmale von Lebewesen von den Eltern auf die Kinder übertrugen. Abraham Trembleyb war der Überzeugung, dass man zunächst die Biologie verbessern, weiter entwickeln müsse, ehe man die allgemeineren oder gar metaphysischen Fragen angehen könne. Vielleicht ist diese Zeit mehr denn je gekommen, da es den Biologen gelungen ist, das Genom eines Menschen zu kartieren. Denn zweifellos benötigen wir nicht nur das Wissen über die Gene, sondern auch das Wissen darüber, was wir damit anfangen können und vor allem dürfen. Ebenso alt wie die Frage nach der Entstehung der Welt ist die Frage nach der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen: Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Kann er sich, so er von Natur aus böse ist, wider seiner Natur zu einem „guten“ Menschen entwickeln? Viele Forscher sehen den größeren Erklärungsbedarf nicht darin, aufzuklären, a
Das Universum ist das zu einer Einheit zusammengefasste Ganze: Das Weltall. Der Begriff Kosmos geht darüber hinaus, da er dem Ganzen noch eine Qualität, nämlich Ordnung zueignet. b Abraham Trembley lebte in der Zeit des Rokoko von 1710 bis 1784.
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warum ein Mensch „kriminell“ wird, sondern darin, herauszufinden, warum die meisten Menschen es nicht sind. Ich denke, mittlerweile lässt sich der Beweis führen, dass die Evolution uns einen starken sozialen Reflex erwerben ließ, etwa zu lieben, Mitleid zu fühlen, oder uneigennützig zu helfen, einfach weil „Gutes zu tun“ eine sinnvolle und mächtige Strategie im Sinne der Evolution ist: Das Gute setzt sich am Ende durch, hofft der Volksmund, und er scheint damit durchaus richtig zu liegen. Dort, wo gesicherte Erkenntnis nicht hinreicht, ist es legitim zu spekulieren. Das wirklich Spekulative in diesem Buch habe ich von Frank J. Tipler, Professor für mathematische Physik an der Tulane University in New Orleans übernommen - und ein bisschen weitergesponnen. Frank Tipler ist mit seinem Buch: „Die Physik der Unsterblichkeit“ ein meiner Ansicht nach großartiger Entwurf einer Endzeit-Kosmologie gelungen. In einem Parforce-Ritt durch die moderne Physik entwickelt er eine streng physikalisch begründete Theorie, die er „Omega-Punkt“ nennt. Diese Theorie besagt, dass ein allgegenwärtiger, allwissender, allmächtiger Gott eines Tages in der fernen Zukunft jeden Einzelnen von uns zu einem ewigen Leben an einem Ort auferwecken wird, der in allen wesentlichen Grundzügen dem jüdisch-christlichen Himmel entspricht.3 Die einzelnen Begriffe: „allwissend“, „allmächtig“ und „ewiges Leben“ werden von Frank Tipler als reine physikalische Begriffe beschrieben. Frank Tipler erklärt die Theologie unverfroren zu einem Spezialgebiet der Physik, was mich sehr begeisterte. Schon der britischer Physiker Ernest Rutherforda meinte, die gesamte Naturwissenschaft - also auch die Biologie oder die Chemie - sei entweder Physik oder Briefmarkensammeln. Frank Tipler geht noch weiter: Wenn es eine Gottheit gibt, so muss sie entweder die Gesamtheit des Universums oder ein Teil davon sein. Das Universum ist per Definition die Gesamtheit alles Existierenden. Die Physik betrachtet es als ihre Aufgabe, das Verständnis darüber zu erlangen, was letztendlich die Wirklichkeit ist. Entweder, so folgert er, gäbe es keinen Gott, der sich im Universum bemerkbar mache, dann sei die Theologie blanker Unsinn, eine Wissenschaft ohne Gegenstand. Oder aber Gott existiere! Dann würde ER Spuren im Kosmos hinterlassen, die die Physik, diese verfolgend, letztlich zu IHM bringen würde. Wenn Gott eine Realität sei, sei ER also entweder präsent oder herleitbar und die Physik würde Gott finden oder unvollständig bleiben.4 Die Aussage die Theologie sei ein Teilbereich der Physik, die mich zunächst wegen ihrer Unverblümtheit verblüffte, war gar nicht soweit hergeholt, wie sie mir zunächst schien. Frank Tipler befindet sich damit in großartiger abendländischer Tradition: Es ist in jeder Hinsicht ein sehr schwieriges Unterfangen, sich eine feste Meinung über die Seele zu bilden [...]. Es scheint, als ob alle Erfahrungen der Seele nur in Verbindung mit einem Leib zustande kommen [...]. Freude, sowie Lieben und Hassen; in all diesen Fällen geht auch mit dem Leibe etwas vor sich [...]. Wenn es aber so ist, dann enthalten offenbar diese a
Ernest Rutherford, Lord of Nelson and Cambridge, wurde 1871 geboren und verstarb kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, 1937. Für seine bahnbrechende Arbeit in der Kernphysik und für seine Theorie zur Atomstruktur wurde ihm der Nobelpreis verliehen.
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Eigenschaften schon in ihrem Begriff etwas Stoffliches [...]. Und das ist schließlich auch der Grund, warum der Physiker zuständig ist für die Untersuchung der Seele. Diese Zeilen schrieb vor mehr als zweitausenddreihundert Jahren der berühmteste Denker des Abendlandes, Aristotelesa, in seinem Werk „De anima“5. Und von der Seele scheint es mir nicht sehr weit bis zu Gott. Götter dienten uns Menschen seit jeher als Erklärung für Phänomene, mit denen wir konfrontiert wurden, für die wir aber keine Erklärung fanden: Zeus schleuderte den Blitz, Helios lenkte den Sonnenwagen über das Firmament, Seuchen waren Strafen Gottes. Viele Theologen sahen in der geschaffenen Welt die Realisierung göttlicher Ideen und sprachen von einer „natürlichen Offenbarung“, die sich dem forschenden Geiste zeigt, wenn er sich mit den Gesetzen der Natur beschäftigt. Zur Zeiten Karl des Großen war das primäre Anliegen der Wissenschaft, die Schöpfung Gottes zu verstehen. Nach dem irischen Philosophen Johannes Scotus Eriugenab hindere uns die göttliche Autorität nicht, sondern fordere uns geradezu auf, nach den Gründen der sichtbaren und unsichtbaren Dinge zu forschen. Auch wenn Benjamin Franklin aus dem Donnerkeil des Zeus den Blitz eine elektrische Entladung gemacht hat, der man mit den einfachen Mitteln eines Blitzableiters begegnen kann, müssen wir zugeben, dass der Welt damit nichts von ihrer Faszination, und uns nichts von unserem Erstaunen über die Natur genommen worden ist. Und auch dieses ist nicht ungewöhnlich aus theologischer Sicht: Die Natur gibt uns Normen vor, wir erkennen in ihr Gottes Wille. Beispielsweise werden die aus der Natur hergeleiteten Normen in der Diskussion über Abtreibung und Genmanipulation zu theologischen Argumenten. Handlungen, die sich gegen den Lauf der Natur richten, wenden sich gegen den göttlichen Sinn des Kosmos: Gott nicht ins Handwerk zu pfuschen ist der volksmündliche Niederschlag dieser Weltsicht. Seit die Bibel vor nun rund 2000 Jahren entstanden ist und uns auferlegte, „Gutes zu tun“, gilt noch immer die Erkenntnis Sokratesc, dass alles Schlechte lediglich aus Unwissenheit geschähe, richtiges Handeln folge aus der richtigen Einsicht: Denn jeder tut das, was er tut, weil er es für gut hält.6 Das bedeute nicht, dass alles, was man tue, wirklich gut sei. Vielmehr herrsche in bezug auf das Gute eine große Unwissenheit. Und gerade deshalb sei das Bemühen um das Wissen des Guten so außerordentlich wichtig. Denn Gerechtigkeit und alle sonstigen Tugenden seien Wissen.7 Am Anfang des 3. Jahrtausends möchte ich hier im Sinne von Sokrates den Versuch unternehmen, aus dem Wissen, das uns die Naturwissenschaften erschlossen haben, zu a
Aristoteles wurde 384 v. Chr in Stagira in Makedonien geboren und zog mit 17 Jahren nach Athen. Er zählt neben Platon und Sokrates zu den wohl berühmtesten Philosophen des Altertums. Er starb 322 v. Chr. b Johannes Scotus Ierugena oder Eriugena, stellte das erste große philosophische System des Mittelalters auf. Er wurde um 810 in Irland geboren und verstarb 877. c Sokrates wurde 469 v. Chr. in Athen geboren und dort 399 v. Chr. hingerichtet. Wie kaum ein anderer prägte er die abendländische Philosophie. Seine überlieferten Werke befassten sich hauptsächlich mit der Ethik.
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sichten, was über das Gute bekannt ist. Dies ist lediglich ein erster Versuch. Nichts in diesem Buch muss geglaubt oder will als Dogma verstanden werden. Die Aussagen dieses Buches sind nur solange richtig, solange sie, wie alle wissenschaftlichen Hypothesen nach Sir Raimund Karl Poppera, nicht falsifiziert und durch etwas Besseres ersetzt werden.
1.1
Vier Bücher Was immer wir unternehmen, um Gott zu finden, wir sollten uns weigern, einfach nur zu glauben.
Das „Evangelium der Naturwissenschaften“ umfasst vier Themenbereiche, die nicht immer gänzlich zu trennen sind: Die physikalische Beschreibung der Erschaffung der Welt, das Werden des Lebens unter dem Einfluss der Evolution, das Entstehen neuer Fähigkeiten und Qualitäten durch den Zuwachs an Komplexität, hier als Emergenz bezeichnet und, wie Douglas Adams es nenne würde, den ganzen Rest, das heißt, den notwendigen Teil der Spekulation: die Transzendenz. Danach werde ich auf dieser Basis einige Extrapolationen in die Zukunft wagen. Aber zunächst dazu einige Begriffsbestimmungen. Physik Das Ausklammern der Theologie aus den Naturwissenschaften ist heute fest gefügtes Allgemeingut, eine Ansicht die sich spätestens seit der Verurteilung Galileo Galileisb in den Köpfen der abendländischen Wissenschaftler eingebrannt hatte. Schon Nikolaus Kopernikusc zögerte die Veröffentlichung seines Hauptwerkes: „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ bis zu seinem Todesjahr hinaus, aus Angst, der Inquisition in die Fänge zu geraten. Denn seine Aussagen über den Mittelpunkt des Kosmos, den er von der Erde zur Sonne verlegte, stand im Widerspruch zur Bibel und war mithin ketzerisch. Es war nicht immer so gewesen, dass die Wissenschaftler Angst vor der Kirche hatten. Vielmehr war es lange Zeit ihr bestreben, selbst im dunklen Mittelalter, Glauben und Wissen zu vereinen. Rationale Argumente galten als komplementär zum Zugang zur Wahrheit über die Offenbarungen Christi. Aber mit dem Widerruf Galileo Galileis lernte die Wissenschaft, dass es opportun war, sich nicht auf ein von religiösen Dogmen vermintes Terrain zu begeben und schließlich, jede Art von Transzendenz zu fürchten. Die Naturwissenschaften beschränkten sich bis auf den heutigen Tag selbst. Sie tun dies aus einem a
Sir Raimund Karl Popper (*1902; †1994), englischer Philosoph österreichischer Abstammung, gilt er als Begründer des kritischen Rationalismus. b Der 1564 in Pisa geboren Physiker, Mathematiker, Philosoph und Astronom Galileo Galilei war maßgeblich beteiligt an dem Umbruch vom Ptolemäischen System, das die Erde zum Mittelpunkt hatte, zum kopernikanischen Weltsystem, welches die Sonne in den Mittelpunkt stellte. Er lebte ab 1633 bis zu seinem Tod 1642 unter ständigem Hausarrest, nachdem er von der Inquisition gezwungen worden war, seinem neuen Weltbild abzuschwören. Erst im Oktober 1992 gestand der Vatikan sein damaliges Fehlurteil ein, und Galileo Galilei wurde offiziell rehabilitiert. c Der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus (*1473-1543) verbannte die Erde aus dem Mittelpunkt des Weltalls und stellte statt dessen die Sonne in das Zentrum.
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Trauma heraus in fataler Weise, ohne dass es dafür noch eine Notwendigkeit gäbe: Galileo Galilei wurde, wenn auch erst in unserer Zeit, vom Papst rehabilitiert, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden als wahr anerkannt. Wissenschaftler fürchten noch heute, ihre Reputation zu verlieren, wenn sie Fragen nach einem Urgrund stellen und sind damit unfähig, befriedigende Antworten auf drängende Fragen der Menschheit und der Menschlichkeit zu finden: Wann beginnt das Leben? Wann endet das Leben eines Menschen? Wieweit darf das Genom von Lebewesen manipuliert werden? Die Naturwissenschaftler müssen damit konsequenter Weise jegliche Teleologie, also jede Zielgerichtetheit und Zielstrebigkeit in der Entwicklung des Kosmos ableugnen. Das aber bedeutet, dass unser Dasein beliebig wäre. Diese Beliebigkeit unserer Existenz wird weder von den Naturbeobachtungen nahegelegt, noch wäre es dann möglich, langfristige Prognosen über die Entwicklung der Menschheit aufzustellen. Die Naturwissenschaftler berechnen den Kurs, den eine Rakete zum Mond fliegen muss, weigern sich aber, über den Kurs, den die Menschheit einschlagen sollte, ernsthaft nachzudenken. Die Grundlage allen Seins lässt sich rein physikalisch beschreiben. Die Physik nimmt einen reduktionistischen Blickwinkel ein, sie reduziert alles auf ihre Einzelelemente und ihre Interaktionen. Dieser überaus erfolgreiche Ansatz führt zu einer Beschreibung des Kosmos auf der Grundlage von Elementarteilchen, den „Quarks“ und den „Leptonen“, sowie von vier Elementarkräfte zwischen diesen Teilchen. Zwei dieser auch Wechselwirkungen genannten Kräfte sind der Elektromagnetismus und die Gravitation, uns aus der Steckdose und von der Waage wohlbekannten Kräfte. Der Rest dieser Grundelemente unserer Welt erschloss sich uns erst in den Experimenten der Physiker. Meiner Ansicht nach bleibt die ausschließlich physikalische Beschreibung unserer Welt prinzipiell unvollständig, insbesondere entbehrt sie so noch jeglichen Sinns. Evolution Der physikalische Blick auf unsere Existenz muss ergänzt werden. Es gibt Regeln, nach denen sich die Dinge im Kosmos formen. Jede Art von Leben unterliegt einer aus den Naturgesetzen und Konstanten heraus wirkenden Form der Veränderung. Diesen stetigen Wandel und das entstehen von immer komplexeren Dingen im Kosmos sehe ich als auf ein Ziel ausgerichtet, also als teleologisch an. Diese Entwicklung ist identisch mit dem, was man Evolution nennt. Bereits der griechische Philosoph Anaximandera hatte vermutet, dass der Mensch durch Evolution aus anderen Lebewesen hervorgegangen sei. In seinem Buch „On the Origin of Species by Means of Natural Selection", das 1859 erschien, entschlüsselte Charles Robert Darwinb die wesentlichen Mechanismen, nach denen sich a
Der griechische Philosoph, Mathematiker und Astronom Anaximander (* um 611 in Milet; † ca. 547 v. Chr.) gilt als der Begründer der Kosmologie. Für Anaximander war das Universum ein Ergebnis des Heraustretens von gegensätzlichen Elementen aus der Urmaterie. b Charles Robert Darwin (*1809; †1882), Kind einer reichen englischen Familie, studierte zunächst Medizin und später Theologie. Er nahm als unbezahlter Naturwissenschaftler an einer fünfjährigen
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Lebewesen entwickeln. Nach seiner Theorie bewirkt eine natürliche Selektion in einer Population von Individuen, die durch zufällige Mutationen differenziert ist, dass durch Anpassungen neue, höher entwickelte Arten entstehen können. Er war sich übrigens durchaus bewusst, dass dies nicht nur für die Architektur des Körpers, sondern auch für die Komplexität des Geistes galt, und so mutmaßte er im letzten Kapitel seines Buches: Die Psychologie wird sich sicher auf eine neue Grundlage stützen. Für das Leben auf unserem Planeten gelten für die Vererbung die Regeln der Mutation und der Selektion. Es gibt, so konstatiert einer der renommiertesten amerikanischen Evolutionsbiologen, George C. Williams, keinen Aspekt des menschlichen Lebens, für den ein Verständnis der Evolution nicht eine unabdingbare Notwendigkeit darstellt.8 Ich verfolge in diesem Buch den Ansatz, dass diese Regeln noch universeller anzuwenden sind. Sie formen schon die sogenannte „unbelebte Natur“, genauso, wie auch die physikalischen Gesetze auf jede Form der Materie wirken. Es gibt eine ununterbrochene Vererbungslinie vom Anbeginn des Universums, von den einfachsten Grundbausteinen der Natur bis hin zu uns Menschen. Selektion findet beispielsweise schon statt, wenn ein Bach den Sand aus seinem Bett wäscht und nur die Kiesel zurückbleiben. An einer Stelle entstehen so Sandbänke, an anderer Stelle Schotterbetten. Die maßgebliche Wirkung der Evolution ist nicht etwa die Destruktion, die Vernichtung von untauglichen Variationen, sondern ihre Tugend, immer komplexere Lebensformen hervorzubringen. Zuerst kommt die Produktion und Reproduktion, erst dann sondert die Selektion die weniger stabilen Konstruktionen aus. Die Evolution ist nichts weniger als der Konstrukteur des Lebens. Fortschritte in der Evolution werden nicht nur durch Mutation erzielt, sondern auch dadurch, dass sich Module zu neuen Konstrukten kombinieren. Folglich stelle ich neben die Selektion und die Mutation die Konstruktion als ein herausragendes Prinzip der Evolution. Auf der menschlichen Ebene mündet dieses konstruktive Verhalten in Kooperation. Die Mutation variiert das Vorhandene. Daneben können auch über Verschmelzung oder auch nur durch Bündnisse völlig neuen Eigenschaften und Fähigkeiten erworben werden. Auf der Ebene der menschlichen Gesellschaft zeigt sich dieses Prinzip der Evolution als „konstruktives Miteinander“, als Kooperation statt Konkurrenz. Kooperation als Überlebensstrategie ist, so meine These, der Kern jedes moralischen Verhaltens. Überall auf der Welt finden wir unter den Menschen Moral und ein System, diese in einer Gruppe durchzusetzen, und so müssen wir davon ausgehen, dass Moral fest in der Natur des Menschen verankert liegt. Als Individuen sind wir nur eine sehr vorübergehende Erscheinung. Das, was uns überlebt, sind die Gene. Gene sind in chemische Moleküle abgespeicherte Informationen. Frank Tipler geht von der These aus, dass Leben nichts anderes sei, als unter dem Einfluss der Evolution bewahrte Information.9 Die Evolution dient damit vor allem dem Zweck, Informationen im Kosmos zu erzeugen und zu bewaren. Expedition des Forschungs- und Vermessungsschiffs Beagle teil. Er gilt als der Begründer der modernen Evolutionstheorie.
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Emergenz Der fundamentale Satz zum Begriff Emergenz ist vielleicht dieser: Was berechenbar ist, braucht nicht notwendig auch voraussagbar sein.
Kurt Gödela bewies in einem die Mathematik in ihren Grundfesten erschütternden Aufsatz von 1931, dass logische Systeme hinreichender Komplexität, wie zum Beispiel die Arithmetik in der Mathematik, prinzipiell unvollständig sind. Die Mathematiker nahmen dieses Problem zwar zunächst auf die leichte Schulter. Sie hofften, es gäbe in der Arithmetik nichts, was sich einerseits genau wie Zahlen benehmen und andererseits von ihnen gänzlich verschieden sei. Auch wenn der Gödelsche Satz zunächst so formal klingt, dass er uns nicht weiter berühren sollte, so hat er doch mehrere sehr unangenehme Folgen, von denen ich zwei ausführen möchte: Erstens lässt sich damit kurioser Weise beweisen, dass wir wahrscheinlich nie vor Computerviren sicher sein können: Ein Programm, welches nicht selbst das Betriebssystem eines Computers aktiv verändert, vermag niemals alle Programme zu erkennen, die dies tun. Es kann also nicht alle Viren aufspüren.10 Möglicherweise ist das der Grund für unsere eigene körperliche Anfälligkeit für Viren. Denn Computerviren und biologische Viren haben nicht nur den Namen, sondern auch viele Eigenschaften gemeinsam. Jedenfalls haben Organismen seit Anbeginn der Virenattacken nach einer endgültigen Lösung des Viren-Problems gesucht und bis heute nicht gefunden. Die zweite Folgerung ist sehr viel weitreichender. Gödels Satz besagt letztlich, dass unsere auf der Logik beruhende Erkenntnisfähigkeit prinzipiell begrenzt ist. Er berührt solche Fragen wie die nach dem Bewusstsein oder die nach dem freien Willen: Können wir uns frei für etwas entscheiden, obwohl alle unsere Entscheidungen auf physikalischchemischen Reaktionen im Gehirn beruhen? Wir dürfen und müssen diese Frage stellen, können sie aber auf der Grundlage der Physik und Chemie nicht beantworten. Der Vollständigkeitssatz gilt auch für die Physik. Dass die Physik weitreichend unsere Existenz beschreiben kann, ist nicht von der Hand zu weisen, spätestens seit Sir Isaac Newtonb, der von einem fallenden Apfel inspiriert seine Gravitationstheorie entwarf. Das Auto, das Handy und das Internet sind nichts Anderes als Anwendungen physikalischer Theorien. Doch können die Physiker zwar unsere Gehirnströme messen, beschreiben und sogar manipulieren, aber an einem Phänomen wie dem Bewusstsein muss die Physik scheitern. Das Bewusstsein kann nicht aus der Quantenelektrodynamik abgeleitet werden. Sie ist eine Theorie, die sich ansonsten rühmt, die meisten Phänomene, mit denen wir es a
Kurt Gödel wurde am 28. April 1906 in Brünn in der heutigen Tschechei geboren. Seit 1946 lehrte er am Institute for Advanced Study in Princeton, US-Bundesstaat New Jersey bis er 1976 im Alter von 70 Jahren emeritiert wurde. Gödel starb im Jahr 1978. Er forschte als Mathematiker auf dem Gebiet der Mengenlehre, wandte sich später aber der Philosophie und der Relativitätstheorie zu. In seinem Nachlass befindet sich unter anderem auch eine Formalisierung des sogenannten ontologischen Gottesbeweises. b Der englische Mathematiker und Physiker Sir Isaac Newton (*1642; †1727) gilt als der Begründer der klassischen theoretischen Physik und damit der exakten Naturwissenschaften.
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zu tun haben, erklären zu können. Diese Theorie kann bestenfalls die Repräsentation des Bewusstseins als elektro-chemischen Prozess im Gehirn messen. Bewusstsein aber ist erheblich mehr. Ich werde dieses „Mehr“ hier „Emergenz“ nennen. Der Begriff ist der neueren englischen Philosophie entliehen. Er sagt aus, dass höhere Seinsstufen durch neu auftauchende Qualitäten aus niederen entstehen. Emergenz ist meiner Ansicht nach einer der Schlüsselbegriffe zum Verständnis unserer Welt. Am sinnfälligsten kann man Emergenz an Hand der Sprache beschreiben: {Hund; Postbote; beißt} sind drei Wörter mit jeweils spezifischem Sinn. Durch Komposition, durch die Formulierung eines Satzes entstehen Informationen, die weit über die Bedeutung der einzelnen Worte hinausreichen: „Postbote beißt Hund.“ Dieser Satz ist nicht die Summe der Bedeutungen der einzelnen Worte, er ist eine Nachricht! Die Bedeutung dieses Satzes ergibt sich aus den Bedeutungen der einzelnen Wörter und aus dem Zusammenhang, in dem die Worte stehen. Die Kompositionalität ist die entscheidende Eigenschaft aller menschlichen Sprachen, und sie ist auch die entscheidende Eigenschaft der Gene. Erst Kompositionalität macht aus einem Strang von Nukleinsäuren etwas, was in der Lage ist, das Werden eines Lebewesens zu steuern. Nebenbei erhellt dieses Beispiel auch, wie Sinn entsteht: Sinn entsteht aus Zusammenhang. Er ergibt sich daraus, das Dinge in Beziehung zueinander treten. Leben ist nicht Eigenschaft eines Objektes, sondern Eigenschaft einer Beziehung, genauso, wie Geist nicht das Gehirn selbst, sondern eine Tätigkeit in einem Beziehungsgeflecht von Neuronen ist. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Wir können Emergenz als den Teil einer Summe auffassen, der sich aus dem Ganzen minus der Summe der Einzelteile ergibt. In jedem Konstrukt ist das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile: Ein Kristall besitzt nicht nur eine gitterförmige Anordnung von Atomen, sondern auch eine Ästhetik. Das einzellige Bakterium Treponema pallidum besteht aus mehr als nur aus chemischen Strukturen. Es war und ist für einige eine Strafe Gottes, aber mindestens der sehr ernst zu nehmende Verursacher der Syphilis-Krankheit. Wenn die Neurowissenschaftler dereinst die Funktionsweise unseres gesamten Gehirns auf der Basis seiner Bauteile und Verdrahtungen verstanden haben werden, so wird das menschliche Verhalten immer noch am plausibelsten über seine Sehnsüchte und Hoffnungen erschlossen werden müssen. Einen Begriff wie „Liebe“ als chemisch-physikalisches Phänomen im Gehirn zu beschreiben, ist durchaus möglich. Wir müssen akzeptieren, dass das Verhalten ebenso ein Teil der materiellen Welt ist, so wie es die Atome sind, aus denen sich unser Gehirn zusammensetzt. Wir kennen bereits die Hirnareale, wo sich Liebe abspielt: Im Cingulum, dem Putamen und im Nucleus caudatus. Aber die Dramen Shakespeares zeigen eindringlich, dass damit noch nicht wirklich etwas über Gefühle wie Liebe, Gier oder Hass ausgedrückt ist. Emergenz ist ein Auftauchen, Emporkommen, Sich-Hervortun von Neuem. In der Stufenordnung der Komplexität ist keine höhere Stufe aus einer niederen voll ableitbar, immer enthält sie einen Moment des nie Dagewesenen, nicht Vorhersagbaren, was zum Beispiel die Biologen dazu verleitet, von „Leben“ gegenüber der Welt der „Gesteine und Böden“ zu reden: Das Wunder unserer Welt heißt nicht „Höhere Komplexität ist mehr“ sondern 17
„Höhere Komplexität ist mehr und zugleich prinzipiell anders“. Wenn man bedenkt, dass noch vor ein paar Millionen Jahren unsere Ahnen ganz ordinäre Affen waren, so keimt die Hoffnung, dass auch aus uns Menschen noch etwas sehr viel Komplexeres und mit noch undenkbaren Fähigkeiten Begabtes entstehen könnte. Transzendenz Die Transzendenz meint im Gegensatz zur Immanenz das jenseits der Erfahrung Liegende, oder die Überschreitung von Grenzen des Bewusstseins oder des Diesseits. Gibt es etwas jenseits des Todes von uns Menschen, so betreten wir spätestens dort das Reich der Transzendenz. Das platonische Weltbilda beruhte auf der Prämisse, dass keine Wunder oder Götter für die Erklärung von Phänomenen von Nöten seien. Das Universum ist seiner inneren Natur nach stabil und vorhersagbar. Wir können auf der Grundlage der Naturwissenschaften, die genau diese Meinung vertreten, viel von der Welt, in der wir leben erschließen. Der Grund dafür ist, dass unser Denken notwendig ein Produkt der Regeln dieses Kosmos ist. Wir besitzen zum Beispiel ein räumliches Vorstellungsvermögen und ein Zeitgefühl, weil wir in einem Universum leben, das drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension aufweist.b Unser sozialer Zusammenhalt beruht unter anderem darauf, dass wir uns verlässlich verabreden können, und das tun wir im vollen Bewusstsein eines Ortes und eines Zeitpunktes. Hätten unsere Vorfahren nicht in die Flugbahn ihrer Speere, die Gravitation und den Luftwiderstand einberechnet, hätten sie kaum je ein Mammut mit einem Speerwurf erlegt. Unser Geist bildet die physikalischen Grundlagen der Welt offensichtlich ab und stellt uns diese Berechnungen beim Wurf zur Verfügung. Doch bleiben trotz des enorm weitreichenden Weltbildes, das auf den physikalischen Grundlagen beruht, mindestens diese zwei Fragen offen: Was ließ das Universum entstehen?, Und warum macht sich das Universum - besser der Kosmos - überhaupt die Mühe, zu existieren? Ich vertrete in diesem Buch die Ansicht, dass wir etwas Transzendentes, Gott, dafür benötigen, um auf diese Fragen befriedigende Antworten zu finden. Beide Fragen zielen mehr oder weniger auf den Sinn des Lebens: Was macht es für einen Sinn, dass das Universum und wir in ihm entstanden sind? Wir brauchen Gott längst nicht mehr, um Donner und Blitz zu erklären, oder wie die Welt sich seit Urbeginn entwickelt hat. Aber wir brauchen ihn für den allerersten Anfang, um das Universum überhaupt entstehen zu lassen. Und wir brauchen ihn, damit das Universum Sinn enthält. Beide Fragen lassen sich auf der Grundlage der Naturwissenschaften deshalb widerspruchsfrei lösen, weil Gott nach der hier vertretenen These selbst physische Existenz besitzen wird, und damit widerspruchsfrei aus den Wissenschaften abgeleitet werden kann. Gleichzeitig a
Der griechische Philosoph Platon (* um 428; † ca. 347 v. Chr.) war der vermutlich einflussreichste Denker der abendländischen Philosophie. b Nach der zur Zeit heiß diskutierten String-Theorie sind es ein paar Dimensionen mehr, aber das soll uns hier nicht weiter beschäftigen.
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ist aufgrund von Emergenz Gott nicht auf Physik reduzierbar. Genauso, wie unser Bewusstsein eine Emergenz unseres Gehirns ist, genauso wird Gott, so wie ihn Frank Tipler postuliert, über Fähigkeiten wie Allwissenheit und Allmacht verfügen und ewig sein. Zukunft lässt sich prinzipiell nicht exakt vorhersagen, einerseits aus Gründen der Quantenmechanik, nach der im Innersten unseres Kosmos alles lediglich der Wahrscheinlichkeit unterworfen ist, andererseits weil die Emergenz, das, was über die Summe der Einzelteile hinaus an Fähigkeiten und Qualitäten entsteht, wenn Strukturen komplexer werden, sich nicht vorhersagen lässt. Aber, die Zukunft lässt sich immerhin logisch eingrenzen und dieses Verfahren ist sicher zuverlässiger als Prophetie auf der Grundlage des Vogelflugs oder der Eingeweideschau - der Grund warum es heute wesentlich mehr Physiker als Haruspektorena gibt. Und so ist auch eine auf den physikalischen Gesetzen begründete und zu ihr in keinerlei Widerspruch stehenden Theologie sicherlich „glaubhafter“, als es irgendeine andere Theologie sein könnte.
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Der Haruspex war bei den Etruskern und Römern für die Vorhersage von Ereignissen aus der Betrachtung der Eingeweide von Opfertieren zuständig und überlebte bis heute zumindest als Schlagwort im Duden.
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Erstes Buch: Physik „Erst später, bei meiner Vorbereitung auf Vorlesungen, habe ich diese Gründer (Newton, Kopernikus, Kepler, Descartes und Einstein) nochmals gelesen und erkannt, wie sehr ihre Suche nach Wahrheit auch immer eine Suche nach Gott war [...] Nahezu alle Begründer der Physik schreiben, als ob ihre Suche und die Suche nach Gott ein und dasselbe seien.“ Lee Smolin11
Kosmologen gehen heute davon aus, dass die uns bekannten physikalischen Gesetze überall im Kosmos dieselbe Gültigkeit haben. Die Verlässlichkeit der Naturgesetze ist unabdingbar für unsere eigene Existenz. Wir sind in extremem Maße auf annähernd gleichbleibende physikalische Bedingungen auf der Erde angewiesen - eine Änderung der Temperatur um ein paar Grad würde uns schon empfindlich treffen, eine Änderung der Reaktionsfreudigkeit von Sauerstoff uns wahrscheinlich sofort ersticken lassen, und wir könnten unsere Gene wohl kaum auf eine nächste Generation vererben, wenn chemische Prozesse nicht immer in derselben Weise, also reproduzierbar ablaufen würden. Dass sich physikalische Gesetze ändern könnten klingen absurd, offensichtlich besitzen wir ein Urvertrauen in die Stabilität der physikalischen Gesetzmäßigkeiten, ohne dass wir einen Grund dafür benennen könnten. Die Kosmologen behaupten nun, dass wir überall dieselben Rahmenbedingungen für unsere Existenz finden werden, wo immer wir hinkommen werden oder auch nur hinschauen können. Wenn wir eine Theorie aufstellen wollen, die das gesamte Universum beschreibt, so ergibt sich das knifflige Problem, dass es kein „Drumherum“ mehr gibt, keinen Hintergrund, vor dem sich die Gestalt des Universums abheben könnte, keinen übergeordneten Standpunkt, von dem aus wir es in seiner Gesamtheit betrachten könnten. Als Beispiel möchte ich die Zeit nennen: Wenn unser Universum einen Anfang in der Zeit hatte, müssen wir uns fragen, was vor dem Anfang war, und vor allem, warum dieses „Davor“ außerhalb des Universums zu liegen kommt - was es per Definition nicht darf. Per Definition enthält das Universum alles was existiert - also auch die Zeit. Die Newtonsche Physik war ein großartiger Triumph des menschlichen Geistes, aber sie machte einen wesentlichen Gebrauch von einem festen Hintergrund, also von etwas, was sie selbst nicht beschreiben konnte, aber benötigte. Sie konnte daher niemals eine Theorie des gesamten Universums darstellen. Und folglich behauptet Lee Smolin, Professor für Physik am Center for Gravitational Physics and Geometry an der Pennsylvania State University: Was letztlich an der newtonschen Theorie des Universums falsch ist, ist ihre grundsätzliche Irrationalität!12 Als Grundpfeiler der heutigen modernen Physik gelten die „Quantenmechanik“, die sich mit der Welt der Atome befasst und die „Relativitätstheorie“, die die großen Strukturen von Raum und Zeit im Universum erklärt. Beide Theorien sind unerhört erfolgreich in der Erklärung alter und neu auftauchender Probleme, aber keine von ihnen kann behaupten, universell zu gelten. Eine wichtige Folgerung aus der Quantenmechanik ist die Quantenelektrodynamik (QED). Sie beschreibt das Aussenden (die Emission) und das Einfangen (die Absorption) eines Lichtpaketes (Photons) durch zum Beispiel ein Elektron. Mit 20
diesen fundamentalen Prozessen vermag die QED ebenso zu erklären, wie sich ein Wasserstoffatom aus Elektron und Proton bildet wie auch, auf welche Weise Atome chemische Bindungen eingehen. Die Bedeutung seiner Formel fasst Dirac so zusammen: Im Prinzip erkläre sie die meisten physikalischen und alle chemischen Phänomene. Die Relativitätstheorie ist eine physikalische Theorie über die Struktur von Raum und Zeit. Die 1905 von Albert Einstein veröffentlichte spezielle Relativitätstheorie fußt auf der Annahme, dass es kein ausgezeichnetes Koordinatensystem im Universum gibt, woraus folgt, dass sich Bewegungen nur relativ zueinander beobachten lassen. Der amerikanische Filmregisseur Stanley Kubricka hat dies in seinem Film: „Odyssee im Weltraum“ (1968) eindrucksvoll dargestellt. Eine Raumfähre nähert sich von der Erde einer gewaltigen wagenradähnlichen Raumstation, die sich im All majestätisch um ihre Radnarbe dreht. Die Perspektive wechselt auf diese Raumstation. Der Beobachter sieht nun eine sich drehende Raumfähre, während die Raumstation scheinbar bewegungslos im Raum schwebt. Damit die Raumfähre andocken kann, passt sie sich allmählich der Drehung der Raumstation an. Aus der Perspektive der Raumstation wird die Rotation der Raumfähre immer langsamer und hört schließlich ganz auf, während sich unten der Raumstation die Erde dreht. Und wieder wechselt die Perspektive, diesmal zurück auf die Erde. Nun sieht man, wie hoch oben Raumstation und Raumfähre im Gleichklang rotieren. Die einzige feste Größe, so Einstein, sei die Lichtgeschwindigkeit. Licht ist überall gleich schnell, egal, ob wir auf eine Lichtquelle zufliegen oder ob wir von ihr wegfliegen, wir messen immer denselben Wert für die Lichtgeschwindigkeit. Dem menschlichen Geiste wäre es sicher zuträglicher, wenn uns das Licht kaum einholen könnte, wenn wir von einer Lichtquelle mit großer Geschwindigkeit davonfliegen würden. Aber dem ist nicht so. Stellen Sie sich zwei Raumschiffe vor, jedes fliegt mit 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit von der Erde weg. Nach ein paar Stunden schicken wir beiden eine Nachricht hinterher (Radiowellen bestehen ebenso wie Lichtwellen aus elektromagnetischen Strahlen). Die Strahlen bestehen aus einzelnen Quanten, den Photonen.). Die Nachricht wäre mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs und würde beide Raumschiffe ungefähr zur selben Zeit erreichen. Und nun die Preisfrage: Wenn zur selben Zeit eine Nachricht von Raumschiff A zu Raumschiff B gesendet würde, wie lange wäre diese unterwegs. Man sollte meinen, sie könnte niemals ankommen, weil sich Raumschiff B von Raumschiff A mit 198 Prozent der Lichtgeschwindigkeit weg bewegen. An dieser Stelle funktioniert unser Alltagsverstand aber leider nicht korrekt: Das Licht - nichts im Universum ist schneller als das Licht - holt das andere Raumschiff irgendwann tatsächlich ein. Eine Folgerung davon ist, dass es keinen ausgezeichneten Punkt im Universum gibt - insbesondere nicht die Erde. Die Naturgesetze haben überall im Universum in identischer Weise Gültigkeit. a
Der amerikanische Filmregisseur Stanley Kubrick, 1928 im New Yorker Stadtteil Bronx geboren, ließ sich 1961 in England nieder. Der Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben.“ mit Peter Sellers in der Hauptrolle kam 1964 in die Kinos. Daneben gehört das Sciencefiction-Epos „2001: Odyssee im Weltraum“ von 1968 zu seinen größten Erfolgen. Er starb 1999.
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Mit der 1915 veröffentlichten „Allgemeinen Relativitätstheorie“ zeigt Einstein, dass Beschleunigung und Gravitation nicht zu unterscheiden sind. Und aus ihr folgt das berühmte Äquivalent zwischen Masse und Energie: e = mc². Die Formel besagt, dass der Betrag an Energie (e), den man erhält, wenn man Masse in reine Energie umwandelt gleich der Masse (m) mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit (c²) ist. Die Beschreibung unserer Welt auf der Grundlage der Physik ist noch nicht vollständig, nach einer allumfassenden Formel wird noch gesucht. Die Relativitätstheorie beschreibt das ganz Große und alles was sich bewegt, die Quantenmechanik beschreibt das ganz Kleine und alles was existiert. Die Relativitätstheorie betont das Kontinuum, die Quantenwelt ist körnig und abrupt. Das Problem ist, dass man noch keine überzeugende Vereinheitlichung dieser zwei dominierenden Theorien der Physik gefunden hat. Aber beide Theorien haben etwas gemeinsam, das für meine Ausführungen äußerst wichtig ist: Die Allgemeine Relativitätstheorie sagt uns, dass wir Objekte immer in bezug zu anderen Objekten sehen müssen. Bezogen auf die Quantenmechanik stellt Lee Smolin fest, ihre Kernaussage über der Natur liegt in ihrer Betonung, dass sich die Welt nur dann vollständig beschreiben lässt, wenn wir sie als ein zusammenhängendes Ganzes verstehen.13 Daraus folgert er, dass wir einen Teil des Universums nur dann vollständig beschreiben könnten, wenn wir das ganze Universum beschrieben. Wir benötigen also eine konsistente Beschreibung des Universums mit Anfang, Ende und dem Dazwischen, um überhaupt etwas Sinnvolles über unsere Umgebung und über uns selbst aussagen zu können. Die Physiker sind mit Thales von Mileta aber nach wie vor der Meinung, dass wir den Kosmos mit nur ein paar wenigen Naturgesetzen vollständig beschreiben werden können.
2.1
Genesis, erster Tag: Die Entstehung des Kosmos
Wenn ich hier biblische Zitate neben das Wissen stelle, das heute über das Werden des Kosmos und unserer Erde bekannt ist, so ist dies nicht nur ein stilistischer Kunstgriff. Vielmehr, so absurd es uns vielleicht heute klingen mag, stellte die Bibel für sehr sehr lange Zeit unangefochten die Wahrheit über den Beginn der Welt dar. Sie berichtete wortgetreu über ihre Entstehung und die besten Köpfe der vergangenen Jahrhunderte, wie zum Beispiel Isaac Newton, einer der größten Wissenschaftler der frühen Neuzeit und Begründer der modernen Physik, stellten die christliche Lehre mit keinem Wort in Frage. Wie schwer es dem Abendland fiel, sich aus der Bevormundung der katholischen Kirche zu lösen, mag die folgende Begebenheit verdeutlichen: Isaac Newton hielt zwar den Bericht der Bibel über die Erschaffung der Welt für die einzige gültige Erklärung, meldete aber Zweifel im Details an. Er argumentierte gegenüber Thomas Burnet, einem zeitgenössischen Geowissenschaftler, dass gewisse geologische Befunde anzeigten, dass für die Entwicklung der Welt erheblich mehr Zeit von Nöten war, als die sechstausend Jahre
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Thales in Milet (* um 625; †546 v. Chr.) ist einer der legendären Sieben Weisen der griechischen Philosophie. Für Aristoteles ist er der Begründer der Naturwissenschaften.
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seit der Erschaffung des Himmels und der Erde durch Gott. Er schlug vor, anzunehmen, dass die Erde sich damals viel langsamer gedreht haben könnte und dadurch Tage von ungeheurer Ausdehnung hervorgebracht hätte. Thomas Burnet verwarf diese Hypothese unter anderem deshalb, weil eine später erfolgte Beschleunigung der Erdrotation das Eingreifen übernatürlicher Kräfte erfordert hätte. Als Naturwissenschaftler, der neben der Bibel nur die beobachtbaren Naturgesetze gelten ließ, glaubte Thomas Burnet nicht an ein direktes Eingreifen Gottes, das im Widerspruch zu den Naturgesetzen stand. Und dies sind die ersten Worte der Bibel: Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und leer, Finsternis lag über dem Abgrund, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.14 Wenn Gott auch nicht zu Anfang die Erde geschaffen hat - die entstand erst vielleicht 10 Milliarden Jahre nach dem „Anfang des Universums“ in einem unbedeutenden Seitenarm einer unbedeutenden Galaxis, so beantwortet dieser erste Satz des alten Testaments doch zwei grundsätzliche Fragen: 1. Hat das Universum einen Anfang oder war es schon immer? 2. Ist das Universum sinnerfüllt? Während heute die große Mehrheit der Wissenschaftler der Meinung ist, dass es einen Anfang des Universums gab, ist die Wissenschaftsgemeinde tief gespalten in der Beantwortung der Frage, ob denn ein „göttlicher Geist“ über allem schwebt, was wir in diesem Kosmos beobachten können. Vor allem dieser Frage nach dem Sinn möchte ich in diesem Buch nachgehen. Die Sehnsucht nach Sinn, die wir Menschen in uns tragen, leben wir in den Religionen aus, aber nicht nur da. Von der Natur, die uns umgibt, glauben wir intuitiv, dass sie selbst über ihre Bestimmung weiß, dass sie sinnerfüllt ist. Und so gilt das Wirken des Menschen auf seine Umwelt bei vielen Naturschützern schon als Sakrileg. - Dabei wird kurioser Weise der Mensch und sein Wirken nicht als natürlich empfunden, was, wie ich zeigen werde, wenig nutzbringend ist. Im Umgang mit unseren Kindern handeln wir so, als verfolgen wir eine auf ein Endziel ausgerichtete Strategie. Statt egoistisch alle Ressourcen für uns selbst zu verwenden und unser persönliches Glück zu maximieren, schränken wir uns für unsere Kinder ein, damit sie den Staffelstab des Lebens einst weiterreichen an ihre Kinder. Dies ist offensichtlich eine Zweckgerichtetheit, eine Teleologie unserer menschlichen Existenz, ausgerichtet auf eine ferne Zukunft. Wenn ich im Folgenden von Zielen rede, so können wir zwischen denjenigen Zielen unterscheiden, die wir Menschen als Menschen verfolgen und denjenigen, die, auf einem sehr viel ausgedehnteren Zeitmaßstab, von unseren Genen „verfolgt“ werden. Den Genen geht es ausschließlich um ihre Verbreitung, wir Menschen beschäftigen uns dagegen eher mit Gesundheit, hohem Auskommen, Liebe. Der Mensch verfolgt die Strategie, sich Vergnügen durch Sex zu verschaffen, die Gene benutzen dieses Vergnügen, um sich fortzupflanzen. Unsere Sorge um Gesundheit und um Auskommen sind ebenso Voraussetzungen wie unser Vergnügen an Sex, um Nachkommen in die Welt zu setzen. Gene haben keine Sorgen oder Vergnügen, sie können auch keine Ziele verfolgen, dies sind 23
Erscheinungen des Menschendaseins. Aber der uns in die Wiege gelegte Sinn liegt eben doch darin, uns zu befähigen, Nachkommen in die Welt setzen zu können. Wenn es um die Vererbung in der Natur geht, so ist die Frage nach Sinn, nach Teleologie offenbar eng verknüpft mit der Frage, ob es eine Höherentwicklung gibt. Dies wird durchaus nicht von allen Wissenschaftlern bejaht. Wir können, ohne große Einwände befürchten zu müssen, verschiedene Rangordnungen der Komplexität angeben: Zunächst das individuelle Wachstum des Menschen von der Eizelle über das Embryonalstadium, den Säugling bis zum Erwachsensein. Dann die Rangordnung der Artenvielfalt von den wenigen verschiedenen Lebensformen in der Frühzeit der Erde bis zum heutigen Formenreichtum. Schließlich gibt es die Stufenleiter der Organismenwelt nach Grad der Komplexität von den „einfachen“ Lebewesen zu den „höherentwickelten“. Zoologiebücher sind häufig nach dieser Ordnung aufgebaut. Das menschliche Gehirn ist das komplexeste aller uns im Universum bekannten Objekte. Zur Stufenleiter der Komplexität gehört außerdem das Auftauchen neuer Eigenschaften und Fähigkeiten. Nicht zuletzt ist Intelligenz mit ihrer Fähigkeit, Technik und Kultur hervorzubringen, gegenüber allem bisher da gewesenen eine Höherentwicklung. Ich werde zeigen, dass auch der „Sinn“ selbst erst durch die Fortentwicklung des Kosmos erzeugt wird. Hier ein Vorgeschmack: Ein totes Universum, das unbemerkt von jeder Form von Intelligenz existieren würde, hätte offensichtlich niemandem, der diesem Universum einen Sinn zumessen könnte und damit wäre es auch ganz und gar sinnlos. Zynisch wird die Ableugnung eines Fortschritts, wenn wir die Entwicklung der Zivilisation betrachten: Ein Vergleich des Grades der persönlichen Freiheiten und der Selbstbestimmung, des Gesundheitszustandes und der Lebenserwartung und nicht zuletzt die Verfügbarkeit von Nahrung, Kleidung und der Zugang zur Bildung für jeden einzelnen von uns hebt unsere Zeit aus allen anderen vergangenen Zeitaltern hervor. Es gibt eine lange Tradition von Jean-Jacques Rousseaua Anfang des 19 Jahrhunderts über Friedrich Wilhelm Nietzscheb bis Martin Heideggerc, die den Fortschritt als Zerstörer der Moral, Kultur und Natur unter Verdacht stellten. In Folge dieser Tradition werden die großen Errungenschaften in den Wissenschaften, in der Technologie, in der Ökonomie, in der Politik und sogar in der Medizin zunehmend kritisiert, obwohl die Lebensvorteile für den Menschen es gegenmenschlich machen würden, auf diese Fortschritte zu verzichten. Odo Marquard führt diese Ablehnung des Fortschritts und die damit einhergehende Weigerung, a
Jean-Jacques Rousseau (*1712; †1778), einer der bedeutendsten Philosophen der Aufklärung, behauptete, die Entwicklungen der Menschheit sei von einer glücklichen Urgesellschaft zur Rechtsungleichheit in der modernen spezialisierten Gesellschaft verlaufen. Für ihn war der Mensch von Natur aus gut und wurde erst durch die Zivilisation verdorben. b Friedrich Wilhelm Nietzsche (*1844; †1900), (1844-1900) war einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts, dessen kulturkritischen Schriften sich nachhaltig auf das Selbstverständnis der Moderne auswirkten. c Der Existenzphilosoph Martin Heidegger (*1889; †1976) behauptete, dass durch die Entwicklung der Technik der Mensch manipuliert und seines Sinnes beraubt würde. (Microsoft Encarta 1998)
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Fortschritt überhaupt als Fortschritt anzusehen auf Erinnerungsverweigerung zurück. Da der Strom aus der Steckdose kommt, brauchen wir uns halt keinerlei Gedanken mehr darüber zu machen, wie es sich ohne Elektroherd, Staubsauger und Waschmaschine lebt, ganz zu schweigen von den Annehmlichkeiten eines Fernsehers, eines Telephons oder einer Stereoanlage. Zum anderen verweist er auf das „Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste“. [...] denn je mehr Negatives aus unserem Leben durch den Fortschritt verschwindet, desto ärgerlicher wird das Negative, das übrigbleibt: Denn vielleicht bleibt ja der Leidensbedarf der Menschen in etwa konstant [...] und so leiden die Menschen - wo ihnen andere Leidensmöglichkeiten genommen werden - zum Ersatz schließlich unter dem, was ihnen die Leidensmöglichkeiten nimmt und das Leiden erspart: also etwa unter dem Fortschritt.15 Daher ärgern uns Windkraftanlagen vor unserem Fenster, weil sie uns die schöne Aussicht verbauen. In der Biologie ist die These einer fortschreitenden Evolution auch deshalb ungeliebt, weil aus ihr weitreichende gesellschaftliche Schlüsse gezogen werden können: Angefangen davon, dass der Mensch dann anerkannt das höchstentwickelte Lebewesen auf der Erde wäre, mit dem sich daraus ableitenden Privilegium, die Herrschaft über den Planeten auszuüben. Fortzufahren wäre damit, dass sich daraus eine bestimmte Natur- und Technikbewertung ableiten ließe. Auf diesen Punkt werde ich später ausführlich eingehen. Sozial gefährlich - und vor allem deshalb bei den meisten Biologen tabuisiert - wird es, wenn aus genetischen Unterschieden Privilegien abgeleitet werden. Zum Beispiel beruhten die Rassentrennung in Südafrika und das Naziregime in Deutschland auf der Annahme einer „höher entwickelten“ Rasse. Ich halte diese „Tabus“ für weitgehend unbegründet, die aktuelle Forschung hat dazu eher entlastendes beizutragen: Genetische Vergleiche legen nahe, dass die Unterschiede zwischen Menschen „derselben Rasse“ häufig größer sind, als die Unterschiede zwischen zwei Menschen „verschiedener Rassen.“ Außerdem scheinen wir alle von einer afrikanischen Urmutter abzustammen, die erst vor wenig länger als 100 000 Jahren Afrika verlassen hat und sicherlich eine schwarze Hautfarbe trug. Und seither war wenig Zeit für eine grundlegende Änderung des menschlichen Genoms. Ich werde an späterer Stelle noch ein anderes Argument verfolgen, das dagegen spricht, aus genetischen Veranlagungen Wertmaßstäbe für Menschen abzuleiten: Denn kein Lebewesen auf der Erde kann für sich allein existieren, wir alle sind Teil eines Ökosystems. Aber zurück zu den Rangordnungen, der Komplexität und zu den Anfängen des Universums: Wenn etwas überhaupt klein anfängt, so vermuten heute die Kosmologen, dann ist es ein Universum. Nach physikalischen Vorgaben Die Geschichte der Wissenschaft ist die Geschichte der Übernahme von Fragen der Philosophie durch die Physik.16 (David Deutsch)
Jede umfassende Erklärung über das Sein muss zunächst das Werden dieser Welt erzählen können. Erst wenn etwas existiert, kann daraus Sinn erwachsen. Wer oder was brachte diesen Kosmos hervor? Was war zu Anfang? Was sind die Grundlagen unserer Existenz? Wie sind wir geworden? Erst wenn wir dies beantworten können, können wir die Frage 25
nach dem Sinn stellen. Und die Antworten, die wir dazu heute finden, sind qualitativ anders als alle vorhergehenden Welterschaffungsmythen, denn sie fußen auf den Naturwissenschaften. Dies klingt in den Ohren der Geisteswissenschaften arrogant, aber selbst die Katholische Kirche kam nicht umhin, ihre Schöpfungsgeschichte von der reinen Wahrheit auf Folklore herunter zu stufen. Und auch die Philosophen haben zu diesen kosmologischen Fragen im Prinzip nichts mehr beizutragen. Es war ausgerechnet der aufstrebende Stern am Philosophenhimmel des 19. Jahrhunderts, Friedrich Hegela, der in seiner Doktorarbeit „De Orbitis Planetarum“ die Wende einleitete und die Philosophen aus dem Wissensgebiet der Kosmologie abmeldete. Er behauptete 1800 in seiner Schrift, dass das Planetensystem, so wie es bekannt war, vollständig war. Er hatte im wahrsten Sinne „augenscheinlich“ Unrecht, der Astronom Giuseppe Piazzi fand am Neujahrstag den Kleinplaneten Ceres, dem später noch ein ganzer Gürtel an Planetoiden folgen sollte. Hinfort verbaten sich die Experten der Himmelsbeobachtung die Einmischung der Philosophen in ihre Umlaufbahnen mit beißendem Spott. Astronomen mit ihren kosmologischen Theorien vom Anfang des Universums und die Biologen mit ihrem Wissen über die Entstehung des Lebens und der Arten sind heute unumstritten diejenigen, die wir fragen müssen, wenn wir zu diesen Themen etwas erfahren möchten. Wir wissen heute, dass der Übergang von der sogenannten unbelebten Materie zur belebten Materie fließend und ohne Bruch ist. Wir kommen gut ohne den lebensspendenden Odem einer personifizierten Gottheit aus, um zu erklären, wie der Mensch im Universum entstanden ist, auch wenn die Forscher noch viele Wissenslücken zu schließen haben. Die Evolution der Materie ist ein einziger fortschreitender Vorgang vom einfachsten Atom zur kompliziertesten Strukturformel im menschlichen Organismus. Genaugenommen stammt der Mensch nicht vom Affen, sondern vom Urknall ab. Alles dazwischen gehört zu seinem Stammbaum, und ohne Kenntnisse dieser Entwicklung ist die Geschichte der Menschheit unvollständig. Nun sprach Gott: Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich [...] Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie.17 Wie immer Gott aussehen mag - selbst Papst Johannes Paul II geht nicht mehr davon aus, dass Gott einem „alten weißbärtigen Mann“ gleicht, so wie Michelangelo oder William Blake ihn dargestellt haben - wir sind Kinder dieses Kosmos, hervorgegangen aus den Regeln der Physik. Wer immer diese Regeln festgelegt hat, hat auch unser Sein, unseren Körper ebenso wie unseren Geist damit geformt. Wie sehr alles Leben auf unserem Planeten direkt von den physikalischen Gesetzen modelliert ist, lässt sich an einfachen Beispielen aufzeigen: Die Schwerkraft schafft im Meer, an Land und in der Luft ganz unterschiedliche Voraussetzungen. Ein schweres Lebewesen wie der Wal ist völlig a
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, geboren 1770, lehrte in Heidelberg und Berlin Philosophie. Er starb im Jahre 1831 in Berlin an der Cholera. In seinem philosophischen System versuchte er, einen Rahmen zu schaffen, mit dessen Hilfe sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft begriffen werden könnte. Als Vertreter des Idealismus war Friedrich Hegel einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts.
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ungeeignet, durch die Luft zu gleiten wie der Albatros, aber im Meer konnte er sich zur größten Spezies der Erde entwickeln. Weitere direkte physikalische Randbedingungen sind Energie und Wärmefluss: Die Pinguine der Antarktis brauchen einen besseren Wärmeschutz als Kolibris in tropischen Gefilden. Kleine Tiere brauchen, bezogen auf ein Kilogramm Gewicht relativ mehr Nahrung, als große. Haifisch und Tiger - zwei der erfolgreichsten räuberischen Spezies auf unserem Planeten - sehen völlig verschieden aus, obwohl sie als Jäger ganz ähnliche Überlebensstrategien verfolgen - sie jagen in ganz unterschiedlichen Revieren. Aber das wirklich verblüffend ist: Der Kosmos ist augenscheinlich genau so konstruiert, dass er als Haus des Menschen taugt. Vom biblischen Anfang der Welt Nach sieben Tagen vollendete Gott sein Schöpfungswerk und die Beschreibung der Schöpfung in der Bibel schließt mit den Worten: Dies ist die Entstehungsgeschichte des Himmels und der Erde, als sie erschaffen wurden.18 Bibelforscher meinten sogar, den genauen Zeitpunkt des Schöpfungsaktes bestimmen zu können. John Lightfood berechnete 1654 auf der Grundlage früherer Berechnungen des Erzbischofs Ussher den Schöpfungsakt auf 9 Uhr vormittags mesopotamischer Zeit am 26 Oktober des Julianischen Kalenders im Jahre 4004 vor Christus. Aber die Kirche irrte nicht nur im Zeitpunkt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der katholischen Kirche einige starke Strömungen, die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften mit der überkommenen kirchlichen Lehre in Einklang zu bringen versuchten. Diese Bewegung, „Modernismus“ genannt, wurde von verschiedenen Theologen, wie zum Beispiel George Tyrrell, Baron Friedrich von Hügel oder Alfred Loisy vertreten. Papst Pius X verurteilte am 8. September 1907 in seiner „Enzyklika pascendi dominici gregis“ den Modernismus als Sammelbecken aller Häresien, als Bund zwischen Glauben und falscher Philosophie, der aus Neugier und Hochmut erwachsen wäre und den Geist des Ungehorsams schürte. Nachdem die Kirche einen Giordano Brunoa auf dem Scheiterhaufen verbrannt und Galileo Galilei gezwungen hatte, abzuschwören und zu lebenslanger Haft verurteilte, die man später gnädig zu ständigem Hausarrest milderte, gestand im Oktober 1992 eine päpstliche Kommission den Fehler des Vatikans ein. Die Erde dreht sich seitdem auch für die römische Kirche um die Sonne. Der Hintergrund dafür, dass sich die Kirche so lange dagegen sträubte, Galileo zu rehabilitieren, war: Sie musste damit anerkennen - und dies als unfehlbare Institution - dass sie sich geirrt hatte! Damit hatte der Papst mittelbar anerkannt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich des Aufbaus des Kosmos über die Erzählungen der Bibel zu setzen sind - wohl der größte Triumph der a
Der bei Neapel um 1548 als Filippo geborene Giordano Bruno wurde wegen ketzerischer Meinungsäußerungen am 17. Februar 1600 auf dem Campo dei Fiori in Rom öffentlich verbrannt. Auf diesem Platz steht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Statue, die an das Martyrium Brunos erinnert und der Gedankenfreiheit geweiht ist. Giordano Bruno glaubte an die Unendlichkeit des Universums mit Gott als der ordnenden Kraft und an die Existenz eines einzigen, unendlichen Prinzips, das sich in jedem Teil der Schöpfung widerspiegele. Er gilt mit seinen Gedanken als einer der Wegbereiter der modernen Philosophie.
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Wissenschaft über die Ignoranz und Arroganz der römisch-katholischen Kirche. Ihren Überlegenheits- und Wahrheitsanspruch gibt die Katholische Kirche gleichwohl nicht auf, wie sie in Ihrer Erklärung „Dominus Iesus“ vom 5 September 2000 klarstellte.19 Mit der Rehabilitierung Galileo Galileis hat die Kurie de facto die These von Frank Tipler bestätigt, dass Theologie Physik sei. Bei konkurrierenden Geschichten über unseren Kosmos, über die Entstehung des Universums und des Lebens setzt sich die rationale Weltsicht letztlich durch. Spätestens seither ist auch offiziell die Schöpfungsgeschichte der Kirche nichts mehr als eine hübsche, vielleicht sogar lehrreiche Geschichte. Die wahre Entstehungsgeschichte des Himmels und der Erde aber wird nicht mehr von Theologen sondern von Astronomen und Kosmologen erforscht. Und dies ist der große Vorteil der Naturwissenschaften: Sie setzen dem Beliebigen das Eindeutige, das Beweisbare entgegen und dort, wo die Wissenschaften möglicherweise nicht hinreichen, verlangen sie zu Recht, dass Hypothesen nicht im Widerspruch zu den gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen dürfen. Der tatsächliche Anfang des Kosmos Nach unserem heutigen wissenschaftlichen Verständnis über die Welt ist der Beginn der Schöpfung sehr viel früher anzusetzen, als nach der Bibel zu berechnen war, und zwar so ungeheuer viel früher, dass wir auch nicht im entferntesten in der Lage sind, uns diesen gewaltigen Abgrund an Zeit vorzustellen: Es trug sich vor 13-15 Milliarden Jahren zu. Bis der Kosmos den Planeten Erde hervorbrachte, verging mehr als die Hälfte dieser Zeit und als schließlich der Mensch begann, den Planeten zu bevölkern, waren noch einmal 4,5 Milliarden Jahre vergangen. Obwohl uns ein so gewaltiger zeitlicher Graben vom Anfang des Universums trennt, wissen wir heute, dass sich das grundsätzliche Werden allen Seins in sehr kurzer Zeit zutrug. Der wesentliche Zeitraum der Schöpfung, in dem die Materie und die physikalischen Kräfte entstanden, umfasst wenig mehr als 3 Minuten und 46 Sekunden.20 Danach war im Prinzip keine weitere Schöpfung mehr nötig sondern nur noch viel Zeit für die Entwicklung der immer komplexer werdenden Strukturen. Nach Meinung der Wissenschaftler ist die Möglichkeit eines göttlichen Eingriffs bestenfalls auf den allerersten Augenblick beschränkt gewesen. Seitdem können wir die Entwicklung des Universums ohne direktes Eingreifen Gottes, nur mit den bekannten Naturgesetzen erklären. Singularität Nach der heute im Großen und Ganzen anerkannten Urknall-Theorie begann das Universum als punktförmiges Ausgangsgebilde und stellte damit mathematisch gesehen eine Singularitäta dar, eine durch das heutige Physikverständnis nicht zu schließende Lücke in der Geschichte des Universums. Die Urknalltheorie beschreibt also nicht etwa, wie das Universum begann, sondern wie es sich von einem bestimmten Punkt an entwickelte. Das a
In der Mathematik steht dieser Ausdruck für Punkte auf einer mathematischen Kurve, die nicht definiert sind.
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Universum hat zum Zeitpunkt des Urknalls eine unendliche Dichte und keine Ausdehnung, soweit diese Ausdrücke überhaupt sinnvoll sind. Der Anfangszeitpunkt des Universums unterliegt nicht den durch die bekannten physikalischen Gesetze beschriebenen Regeln. Diese anfängliche Singularität zu erklären, ist immer noch das größte Rätsel der modernen Kosmologie: Warum existiert überhaupt etwas, wer oder was veranlasste, dass etwas wurde? Oder wie Stephen Hawking es formulierte: Warum macht sich das Universum die Mühe seiner Existenz?21 Und mehr noch ist dies ein Rätsel, zu dessen Klärung ich beitragen möchte: Die Schöpfung war durchaus nicht so verdorben, wie Mephistopheles in Goethes Faust beschwor: Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. Denn sie brachte solche Wunder wie Liebe und Verständnis unter den Menschen hervor! Vom Nichts und einem Bisschen „Alles aber, was in Bewegung ist, wird von einem anderen bewegt. [....]. Wenn demnach das, wovon etwas seine Bewegung erhält, selbst auch in Bewegung ist, so muss auch dieses wieder von einem anderen bewegt sein, und dieses andere wieder von einem anderen. [....]. Wir müssen also unbedingt zu einem ersten Bewegenden kommen, das von keinem bewegt ist. Dieses erste Bewegende aber meinen alle, wenn sie von „Gott“ sprechen.“22 (Thomas von Aquina)
Was vor dem Urknall war, entzieht sich also unseren Erklärungen, das Nichts beschreiben zu wollen, bleibt ein müßiges Unterfangen, denn in gewisser Weise beginnt die Zeit erst mit dem Urknall. Drehen Sie eine Sanduhr um: Wenn der Sand zu rieseln beginnt, können sie die Zeit messen, aber davor gab es eigentlich keine „gemessene“ Zeit. Aber nehmen wir an, dass es ein völlig abstraktes „Davor“ gab. Dann stellen wir uns natürlicher Weise vor, dass keine Masse existierte, es mithin keine negative Ladung eines Elektrons und keine positive Ladung eines Protons gab und nichts sich drehte. Verblüffender Weise hat sich mit dem Werden des Universums daran im Prinzip nichts verändert, wenn wir annehmen, dass das Universum eine endliche Ausdehnung hat. Die Kosmologen haben starke Hinweise, dass die Gesamtladung des Universums Null ist. Die Anzahl aller negativ geladenen Teilchen entspricht exakt der Anzahl aller Teilchen mit positiver Ladung. Auch die Erhaltungsgröße „Drehimpuls“ ist wahrscheinlich gleich Null, wir sitzen im Universum nicht auf einem Karussell. Selbst die Gesamtenergie des Universums ist Null. Man nimmt an, dass die Gravitation als „negative Energie“ genauso groß ist, wie die Masse (positive Energie) des Universums. Die Kosmologen gehen davon aus, dass dies auf alle Erhaltungsgrößen in unserem Kosmos zutrifft, ihr Mittelwert ist Null. - Dies legt den Gedanken an eine Schöpfung aus dem Nichts nahe, denn heben sich irgendwann alle positiven Ladungen gegen die negativen Ladungen im Universum auf und gleicht sich a a
Der Dominikaner Thomas von Aquin (*1225; †1274) gilt als einer der heiligen Väter der Kirchen und als wichtigster Vertreter der Scholastik. Er bemühte sich in seinen Lehren, Glauben und Intellekt miteinander zu vereinen: Glaubensgewissheiten und die von Aristoteles beschriebenen Vernunftseinsichten würden sich nicht widersprechen, sondern vielmehr ergänzen.
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die Energie der Gravitation mit der Energie der Masse aus, so bleibt vom Universum nicht mal etwas übrig, was sich drehen würde. Denn Staub bist Du und zu Staub musst Du zurückkehren,23 grollt Gott den Menschen bei der Vertreibung aus dem Paradies hinterher. Nach diesen Befunden müssten wir annehmen, dass wir aus dem Nichts stammen und ins nichts zurückfallen werden. Dass uns trotzdem nicht die endgültige Auslöschung drohen muss, werde ich versuchen zu zeigen. Einstein soll gesagt haben: Gott würfelt nicht. Eine Replik eines Kollegen darauf war: Gott würfelt nicht nur, er schummelt dabei sogar ein bisschen. Denn bei aller Symmetrie dieser sogenannten Erhaltungsgrößen verwundert und erstaunt uns, dass es überhaupt Materie im Universum gibt. Intuitiv müsste man erwarten, dass exakt so viel Materie wie Antimaterie entstanden wäre mit dem Resultat, dass sich Materie und Antimaterie wieder vollständig gegenseitig vernichtet und nichts außer der dabei entstandenen Strahlung den Kosmos erfüllt hätte bis auf den heutigen Tag. Eine klitzekleine Asymmetrie, die die Forscher jetzt auch experimentell nachgewiesen haben und die ein bisschen wie ein Taschenspielertrick wirkt, ermöglicht unsere Existenz: Vermutlich kamen auf 30 Milliarden Antimaterie-Teilchen 30 Milliarden plus 1 Materieteilchen. Nur 10-30 Sekunden nach dem Urknall hatten sich alle vorhandenen Materie-Antimaterie-Paare wieder vernichtet und nur eines von ungefähr 30 Milliarden Protonen überlebte diese Vernichtung - die natürliche Selektion hatte zum ersten Mal und mit unbändiger Brutalität zugeschlagen. Es entstand während des Urknalls eine sehr sehr geringfügige Menge mehr Materie als Antimaterie. Das Motto des Schöpfers schien sich nur minimal vom Mephistophelischem „besser überhaupt nichts“ zu unterscheiden, und dieser winzige Unterschied legte die im Universum befindliche Masse fest. Wie wenig dies im Vergleich zum riesigen leeren Raum ist, in dem sich dieses bisschen Materie befindet, mag dieses Bild veranschaulichen. Wenn wir alle Sonnen unserer Heimatgalaxie auf die Größe von Sandkörnern schrumpfen lassen und sie zusammen fegen würden, könnten wir alle Sterne der Milchstraße in einem einzigen Schuhkarton sammeln und davontragen. Möglicherweise ist diese Asymmetrie nur ein geborgter Zeitaufschub. Ein weiteres Erhaltungsgesetz sagt aus, dass die Zahl der Materieteilchen, genauer der Baryonen, konstant sei. Zu den Baryonen zählen die Protonen und die Neutronen, also die Atomkernbausteine. Das Gesetz von der Erhaltung der Baryonenzahl ist eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität der Materie, und dieses wichtige Gesetz wurde gleich in den ersten Mikrosekunden des Kosmos verletzt. Genau wie die Ladungszahl oder der Drehimpuls sollte auch die Baryonenzahl im Universum den Wert Null haben. Es hätte dann genauso viel Materie wie Antimaterie entstanden sein müssen und diese hätte sich sofort wieder vernichtet. Daraus schließen die Wissenschaftler, dass die Materie vielleicht nur eine vorübergehende, wenn auch sehr lange anhaltende Erscheinung ist und selbst Protonen irgendwann wieder zerfallen werden. Letzten Endes würde sich die anfängliche Asymmetrie wieder ausgleichen und so dem Gesetz genüge tun: Die Baryonenzahl ist nur vorübergehend größer Null. Allerdings sagen die Theorien voraus, dass das durchschnittliche Lebensalter eines Protons bei mindestens 1032 Jahren liegen muss, so dass wir uns vorläufig keine Sorgen darüber machen müssten.24 30
Der Urknall Der Schöpfungsakt selbst war, dem Anlass angemessen, ein gewaltiges Feuerwerk. Anders als in der Bibel beschrieben, wurden dabei keine komplizierten Objekte wie Himmel und Erde, Mond und Sonne oder gar Tiere und Pflanzen erschaffen. Der entstehende Kosmos war von bedrückender Gleichförmigkeit und fast ohne Strukturen. Er ähnelte damit eher den Ideen, die Anaxagorasa über den Kosmos entwickelt hatte: Ursprünglich, so sein Gedanke, befand sich „alles“ beieinander. Dann wurde „alles“ von einer eigentümlichen Kraft in eine wirbelnde Bewegung versetzt, so dass sich dadurch die sichtbare Anordnung der Stoffe ergab. Er nannte diese Kraft Vernunft, „nous“.25 Und in der Tat erscheint uns die Fähigkeit des Universums, sich aus diesem Urchaos zu einem geordneten Kosmos zu entwickeln, in dem schließlich sogar intelligente Wesen auftauchen, die diese wunderbare Fähigkeit bestaunen können, geheimnisvoll und von wahrhaft göttlichem Geiste beseelt. Das Universum war an seinem Beginn unvorstellbar klein und seither dehnt es sich aus. Und alles, was es zu Anfang im Universum zu bestaunen gab, war ebenfalls sehr sehr klein. Aber nichts konnte kleiner sein, als das nach dem Physiker Max Planckb benannte Quantum, und nichts konnte kürzer dauern und noch gemessen werden, als die Länge der Planck-Zeit. Im Innersten war die Welt in kleinste Pakete von Energie und Zeit zerlegt und blieb es bis heute, mit sehr seltsamen Gesetzen, die auf dieser tiefsten Ebene des Erfassbaren walten und die den Physikern nach wie vor höchst seltsam anmuten. Und weil wir nichts Kleineres als ein Quantum physikalisch beschreiben können, ist der Anfang, als das Universum noch kleiner war als die Ausdehnung des Planckschen Quantums für unser derzeitiges physikalisches Verständnis unverständlich.c Als nun das Universum sich ausdehnte, immer größer wurde, wurden auch seine Strukturen mit der Zeit immer größer und komplexer. Aber zunächst will ich Sie kurz durch den sogenannten Teilchenzoo der Physiker führen, denn wir finden in der ersten Zeit in der der Kosmos existierte nur ganz elementare Teilchen. a
Anaxagoras wurde um 500 nahe dem heutigen Izmir in der Türkei geboren und ließ sich um 480 v. Chr. in Athen nieder. Er lehrte dort ca. 30 Jahre, unter anderem, dass sich alle Naturkörper aus unendlich vielen und unvorstellbar kleinen Partikeln zusammensetzen, die seit dem Anbeginn der Zeit existierten. „Nous“, altgriechisch: die Welt-Vernunft, habe aus diesem Chaos der zahllosen winzigen Teilchen die geordnete Welt geschaffen. Weil er auch behauptete, die Sonne bestehe aus glühendem Gestein, wurde er schließlich wegen Gotteslästerei verhaftet und nach Lampsakos in Kleinasien verbannt. Dort starb er 428 v. Chr. b Max Karl Ernst Ludwig Planck, 1858 in Kiel geboren, gilt als der Begründer der Quantentheorie. Er stellte die These auf, dass Energie in einzelnen kleinen Einheiten abgestrahlt wird, deren Einheit heute als Planck’sches Wirkungsquantum bezeichnet wird. Planck starb am 4. Oktober 1947 in Göttingen. Zu seinen Schriften gehören auch: „Religion und Naturwissenschaft“ (1938). c Es gibt einen Bereich, in den die Physik nicht unmittelbar hineinblicken kann, nämlich in die Ebene unterhalb der Quantenwelt. Dies schränkt die Physik auf das „physikalisch mögliche“ Wissen über die Realität ein. Eine Folge davon ist, dass die Wissenschaftler nur statistische, nie aber definitive Vorhersagen über das Verhalten von Quanten machen können.
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Das Universum lässt sich kurz nach dem Urknall als ein Kosmos aus Materieteilchen und ihren Wechselwirkungen beschreiben, wobei es keinen Zusammenschluss zu höherentwickelten Objekten gab. Es war ein Ort von dröhnender Eintönigkeit. Selbst Atome gab es noch nicht, sondern erst ihre Bausteine. Wenige Millisekunden nach dem Urknall existierten sogar noch überhaupt keine der gewohnten Atombausteine wie Elektronen, Protonen und Neutronen. Statt dessen befand sich die gesamte Materie des Universums in einem unglaublich dichten Zustand, in dem Quarks und Gluonen frei durcheinander wirbelten. Gucken wir uns diese seltsamen Teilchen genauer an: Die Physiker unterscheiden drei Sorten von elementarsten Teilchen in ihrem sogenannten „Standardmodell“: Quarks, Leptonen und Bosonen. Ein Wasserstoffatom, das bei uns auf der Erde allgegenwärtig ist, das es aber kurz nach dem Urknall noch nicht gab, setzt sich aus einem Proton und einem Elektron zusammen (Abbildung 1).
Abbildung 1: Die verschiedenen Elementarteilchen in einem Wasserstoffatom: Das Proton besteht aus 2 Up- und einem Down-Quark und wird durch Gluonen zusammengehalten. Das Elektron umkreist den Atomkern und wird vom Photon (Pfeil) auf seiner Bahn gehalten.
Das Elektron, das erheblich leichter ist als das Proton, gehört zur Familie der nach einem altgriechischen (Leicht-)Gewicht benannten „Leptonen“ und trägt eine negative Ladung. Leptonen soll es der Theorie nach in 6 Grundtypen geben, darunter das geheimnisvolle Neutrino, das so leicht ist, dass man bis heute nicht weiß, ob es überhaupt Masse besitzt. Das eine positive Ladung tragende Proton, der Atomkern des Wasserstoffs, ist kein Elementarteilchen, sondern setzt sich aus drei Quarks zusammen. Von den Quarks gibt es ebenfalls 6 Grundtypen, darunter solche noch geheimnisvolleren, dass selbst die Physiker sie „Strange“ finden und sie mit diesem englischen Wort für seltsam benennen. Die meisten Teilchen existieren in verschiedenen Variationen, so dass tatsächlich ein
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Vielfaches von diesen 16 Grundtypen an Teilchen vorkommt. Zusammengehalten werden die Quarks im Proton durch den Austausch von Gluonen, einem Träger einer Wechselwirkung zwischen den Materieteilchen. Gluonena vermitteln die sogenannte „starke Kernkraft“. Das Elektron, das zusammen mit dem Proton das Wasserstoffatom bildet, wobei es sich um das Proton bewegt, wird durch den Austausch von Photonen also von Energie bzw. Licht-Quanten auf seiner Bahn gehalten. Das Photon wirkt zwischen Proton und Elektron und vermittelt die sogenannte elektromagnetische Kraft, die Kraft, die aus unseren Steckdosen kommt und mit der Sie so erstaunliche Sachen machen können wie Staubsaugen oder Fernsehen. Tabelle 1: Teilchenzoo des Standardmodells der Physiker für die Materie und Kräfte im Universum: Die Materie setzt sich aus drei Teilchengruppen zusammen: Quarks und Leptonen sind die Bauteile, aus denen die Materie besteht. Die Träger der Wechselwirkungen sind die (Eich-)Bosonen. Sie sind gewissermaßen der Mörtel, der die Materieteilchen beispielsweise zu Atomen verbindet. Name des Teilchens Quarks
Leptonen
(Eich-) Bosonen
Funktion
Anzahl der Teilchen Namen der Teilchen
Zum Beispiel Aufbau des Atomkerns. Die Kernbausteine der Materie, Protonen und Neutronen werden aus drei Quarks zusammengesetzt. Zum Beispiel Aufbau der Atomhülle
6
Up, Charm, Top Down, Strange, Bottom
6
Wechselwirkung zwischen den Teilchen
4
Elektron, Myon, Tau Elektron-Neutrino, Myon-Neutrino, Tau-Neutrino Photon, Gluon, W- und Z-Boson, Graviton (auch Higgsteilchen; noch nicht entdeckt)
Insgesamt gibt es vier Grundkräfte, die jeweils von einem anderen Überträger-Teilchen, von einem anderen Boson, vermittelt werden: 1. Die „Starke Kernkraft“ hält sowohl die Protonen und Neutronen zusammen, die aus je drei Quarks gebildet werden, wie auch den Atomkern insgesamt, der aus mehreren Protonen und Neutronen aufgebaut sein kann. 2. Die Photonen übertragen die „elektromagnetische Kraft“. Sie werden zum Beispiel als Licht von der Sonne abgestrahlt und im Atom halten sie die Elektronen auf ihren Orbitalen um die Atomkerne. a
Der Name leitet sich aus dem englischen „glue“ = „Klebstoff“ ab.
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3. Die „Schwache Kernkraft“ macht sich nur bei radioaktiven Zerfällen und bei Prozessen in der Sonne bemerkbar. 4. Die „Gravitation“ zwingt die Erde auf ihre Kreisbahn um die Sonne, das vermittelnde Teilchen kennt man noch nicht. Aber sie ist die einzige Elementarkraft, die immer anziehend wirkt. Die Tabelle 2 zeigt dass noch einmal in einer Übersicht. Bei der relativen Stärke wird die Starke Kernkraft hier willkürlich als 1 gesetzt.a Tabelle 2: Die vier (Eich-)Bosonen-Arten bzw. die fundamentalen Kräfte und ihre Wirkung. Name
vermittelt durch Wirkung
starke Kernkraft
Gluon
Elekromagnetismus schwache Kernkraft
Photon
Schwerkraft
W+, W-, Z0 nicht bekannt
koppelt Quarks zum Beispiel zu Protonen und Neutronen koppelt elektrische Ladungen ist für bestimmte radioaktive Zerfälle verantwortlich koppelt Massen
Relative Stärke1 Beispiel 1
Bildung der Elemente
10-2
Radiowellen
10-5
Erhaltung der Erdinnenwärme
10-38
Anziehung zwischen Erde und Sonne
Die elektromagnetische Kraft liegt in zwei gegensätzlichen Ladungen vor. Im größeren Maßstab ist Materie daher meistens neutral, weil die zwei gegensätzlichen elektromagnetischen Ladungen sich im Mittel aufheben. Bei der Gravitation summieren sich dagegen die Kräfte, je mehr Materie vorhanden ist. Und obwohl sie die weitaus schwächste der vier Grundkräfte ist, kann sie, zum Beispiel in Sonnen, über alle anderen Kräfte triumphieren. Elektromagnetismus und Gravitation sind die beiden Kräfte mit großer Reichweite. Die starke und Schwache Kernkraft machen sich in unserer täglichen Erfahrung nicht direkt bemerkbar, sie haben eine so geringe Reichweite, dass sie praktisch nur auf der atomaren Ebene wirken. Das Verhalten des Universums und aller seiner Teile hängt direkt und unmittelbar von den Größenordnungen ab, in denen sich diese Grundkräfte manifestiert haben. Dieses sogenannte Standardmodell der Physiker gilt nicht als der Wahrheit letzter Schluss, denn dafür gilt es den Physikern noch als viel zu kompliziert. Es enthält in seiner a
Falls Ihnen die wissenschaftliche Notation der Zahlen fremd ist: 10-5 stellt eine Zahl dar, bei der die eins fünf Stellen hinter dem Komma steht, also 0,00001. Die Zahl 10-38 hat also 38 Stellen hinter dem Komma.
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einfachsten Form über sechzig verschiedene Elementarteilchen, denn jedes oben aufgeführte Teilchen existiert wie gesagt in mehreren Variationen. Es verlangt mehrere Arten von Wechselwirkungen, ohne dass diese Vielfalt erklärt wird. Weiter benötigt die Theorie achtzehn Naturkonstanten, von denen die Physiker ebenfalls nicht wissen, wie sie deren Werte aus der Theorie ableiten sollen: Als Naturkonstanten bezeichnen die Physiker Größen wie das Massenverhältnis von Proton und Elektron, die Größe der Lichtgeschwindigkeit, die Gravitationskonstante, das Plancksche Wirkungsquantum oder die Größe der elektrischen Ladung des Elektrons. Das Standardmodell vermittelt eine solide Grundlage unserer sichtbaren Welt. Leider umfasst diese aber nicht unsere gesamte Wirklichkeit. Die Physiker haben zwar aus ihren Theorien mit guter Übereinstimmung ableiten können, wie viele Atome es ungefähr im Universum gibt und haben auch eine Bestandsaufnahme der sichtbaren Materie durchgeführt, die sich mit der theoretischen Vorhersage in Einklang befindet, aber sie wissen auch, dass das nicht alles ist: Von möglicherweise 96 % der Materie im Kosmos wissen sie nicht einmal, woraus sie bestehen könnte! Gleichwohl macht sich diese „Dunkle“ Materie durch ihre Wirkung deutlich bemerkbar. Man vermutet etwa 26 Prozent an exotischer Dunkle Materie und etwa 70 Prozent an sogenannter „Dunkler“ Energie. Über diese Energieform weiß man auch noch so gut wie nichts. Obwohl wir also lediglich vier Prozent unserer Welt kennen, ist unsere direkte Umgebung relativ einfach aufgebaut, auch wenn Proton und Neutron nicht im eigentlichen Sinne elementar sind: Die Materie, die uns umgibt, besteht fast ausschließlich aus diesen vier stabilen Bausteinen: Protonen, Neutronen, Neutrinos und Elektronen. Von den Elementarkräften, lassen wir Atomkraftwerke außen vor, bemerken wir nur die Gravitation und die elektromagnetische Kraft. Vom Einfachen zum Komplexen Die Entwicklung in den ersten Augenblicken des Universums ist durch eine einfache Regel gekennzeichnet: Je höher die Temperaturen lagen, desto weniger bindend wirkten die Kräfte, die es zwischen den Bestandteilen des neu entstehenden Universums gab und desto einfacher waren die vorhandenen Strukturen. Diese Regel kennen wir aus unserer unmittelbaren Beobachtung: Bei sehr hohen Temperaturen sind die Atome ionisiert, das heißt, die Wechselwirkungen, die die Elektronen an die Atomkerne binden, sind zu schwach, um die Elektronen noch zu halten. Diesen Zustand finden wir in unserer Sonne. Mit der Abnahme der Temperaturen können sich vollständige Atome bilden, zum Beispiel Wasser- oder Sauerstoff. Bei noch niedrigerer Temperatur treten chemische Bindungskräfte in Erscheinung, Wasserstoff- und Sauerstoffatome können zu Wassermolekülen zusammenfinden. Wird es noch kälter, bilden sich schließlich aus vielen Wassermolekülen die bizarren Formen der Schneekristalle. Nach diesem Prinzip verläuft die weitere Entwicklung des Kosmos kurz nach dem Urknall: Die Fortentwicklung des Universums ist jetzt eine Entwicklung seiner Strukturen, und nicht mehr seines Inhalts, denn der liegt bereits jetzt vollständig fest. Nichts geht mehr verloren, nichts kommt mehr hinzu. 35
Am Anfang blieb die Welt einfach Als das Universum auf 1011 Grad Kelvin abgekühlt ist, lässt es sich noch relativ einfach beschreiben. Es besteht aus einer undifferenzierten Suppe aus Materie und Strahlung und befindet sich in einer Phase der raschen Ausdehnung und Abkühlung. Die hohe Temperatur bewirkt, dass es noch etwa gleich viele Protonen und Neutronen gibt. Aber Neutronen sind nur im Atomkernverbund stabil. Ein freies Neutron zerfällt nach rund 926 Sekunden in ein positiv geladenes Proton, ein negativ geladenes Elektron und ein Antineutrino. Es können sich auf Grund der hohen Temperaturen noch keine Atomkerne bilden. Nach einer weiteren Sekunde ist die Temperatur auf 1010 Grad Kelvin gesunken. Ehe der Zerfall der Neutronen einsetzt, beginnt etwa 10 Sekunden nach dem Urknall die Kernfusion, also die Verschmelzung von Protonen und Neutronen zu größeren Atomkernen, die bis ca. 500 Sekunden nach dem Urknall anhält (Abbildung 2). Abbildung 2: Kernsynthese des Heliums kurz nach dem Urknall. Zunächst stoßen ein Proton und ein Neutron zusammen und bilden das Wasserstoffisotop Deuteron. Kommt noch ein Neutron dazu, entsteht das Wasserstoffisotop Tritium. Schließlich muss mit dem Tritium noch ein Proton zusammenstoßen, bis ein Heliumkern mit zwei Protonen und zwei Neutronen entsteht. Fängt dieser Atomkern noch zwei negativ geladene Elektronen ein, so entsteht ein elektromagnetisch neutrales Heliumatom.
Während Protonen unter den herrschenden Bedingungen stabil sind, muss sich das Neutron einen Partner suchen, oder zerfallen. Doch auch das Proton hat nur eine Chance, Teil eines höheren chemischen Elementesa zu werden, wenn es ihm gelingt, ein Neutron einzufangen. Proton und Neutron gewinnen, wenn sie sich zusammenschließen die Fähigkeit, höhere chemische Elemente zu bilden. Höhere chemische Elemente wiederum haben größere Fähigkeiten, Bindungen mit anderen Atomen einzugehen und so komplexe Moleküle zu bilden. Später, jetzt aber beim Urknall noch nicht, werden Kohlenstoffatome in Sonnen entstehen. Kohlenstoff ist die Krone dieser Entwicklung, es hat die Fähigkeit a
Die chemischen Elemente werden nach der Anzahl ihrer Protonen im sogenannten „Periodensystem“ geordnet. Kohlenstoff hat beispielsweise 6 Protonen, Silizium 14.
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diejenigen chemischen Strukturen aufzubauen, auf denen unser Leben basiert. Kernsynthese ist unser erstes Beispiel für Emergenz: Kernteilchen, die sich zu etwas Komplexerem zusammenschließen, gewinnen als Atome die neue Fähigkeit, chemische Stoffe zu bilden. Die Kernsynthese ist aufgrund der positiven Ladungen des Protons recht kompliziert. Ein Neutron und ein Proton können sich problemlos annähern, da das Neutron keine elektromagnetische Kraft trägt. Fliegen jedoch zwei Protonen aufeinander zu, so wächst die abstoßende Kraft der beiden positiven Ladungen, je näher sie sich kommen. Erst, wenn die beiden Kernbauteile fast zusammengestoßen sind, setzt die Starke Kernkraft ein und hält die beiden Protonen gegen ihre abstoßende elektromagnetische Kraft zusammen. Allerdings nur, wenn noch ein paar Neutronen ihren Teil zur Starken Kernkraft beitragen. Allein für sich ist die Abstoßung der beiden Protonen zu stark im Vergleich zur Bindungskraft der Starken Kernkraft (vgl. Tabelle 2 und Abbildung 3). In einem komplexeren Atomkern wirken u. a. diese zwei Kräfte: Die Starke Kernkraft hält über die Vermittlung von Gluonen die Protonen und Neutronen zusammen. Die positive Ladung der Protonen hingegen wirkt destabilisierend, denn positive elektromagnetische Ladungen stoßen sich gegenseitig ab. Der Grund, warum es keine höheren Atomkerne nur aus Protonen geben kann und die Anzahl der natürlich vorkommenden Elemente auf 92 (= 92 im Atomkern vorkommende Protonen) beschränkt ist, liegt in der unterschiedlichen Reichweite dieser beiden Kräfte: Die elektromagnetische Kraft der Protonen reicht weit über den Atomkern hinaus, die Starke Kernkraft aber wirkt nur zwischen benachbarten Kernbestandteilen. Während also über die Starke Kernkraft nur Nachbarn zusammengehalten werden, wächst die elektromagnetische Kraft aller Protonen im Kern zu einer immer stärkeren Gesamtkraft, je mehr Protonen im Kern versammelt sind. Neutronen, die keine elektrische Ladung tragen, stärken die starke Kernkraft, ohne zur elektromagnetischen Kraft beizutragen und wirken so stabilisierend auf den Atomkern. Mit Ausnahme der leichtesten Atomkerne besitzen alle stabilen Isotope der chemischen Elemente mehr Neutronen als Protonen. Abbildung 3: Darstellung der widerstreitenden Kräfte im Atomkern. Die Starke Kernkraft wirkt nur zwischen den Nachbarn, die elektromagnetische Kraft wirkt aber zwischen allen Protonen. Daher ist nur der Atomkern B (Helium) stabil, während die Beispiele A und C keine stabilen Kerne darstellen.
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Aufgrund der relativen Stärke der elektromagnetischen Kraft und der Starken Kernkraft zueinander gibt es keine stabile Konfiguration aus 5 oder 8 Kernbauteilen, also Atomkerne aus einem Gemisch von 5 oder 8 Protonen und Neutronen und dies hatte dramatische Folgen. Während des Urknalls konnten keine größeren Atomkerne fusioniert werden. Wenn zwei 4Helium-Kerne (zwei Protonen, zwei Neutronen) zusammenstoßen, bildet sich ein 8Beryllium-Kern. Die vorangestellte Hochzahl besagt, dass das Beryllium das Atomgewicht acht besitzt: Vier Protonen und vier Neutronen. Das 8Beryllium ist aber so instabil, dass es zu rasch zerfiel, als dass es in der Zwischenzeit einen weiteren Fusionspartner finden konnte. So entstanden lediglich noch eine geringfügige Menge an 7 Lithium (3 Protonen, 4 Neutronen) und nur sehr sehr wenige schwerere Atomkerne. Die Arten von Atomen, aus denen wir Menschen bestehen, wurden erst lange Zeit nach dem Urknall gebildet und durch eine ganz andere Art von Katastrophe im Universum verstreut. Die Neutronen verschmolzen in der ersten kurzen Phase des Urknalls zu Helium oder wandelten sich zu einem Proton um. Sechs von sieben Protonen blieben allein und bildeten später zusammen mit einem Elektron den Wasserstoff.26 Damit ergibt sich kurz nach dem Urknall eine Zusammensetzung der Masse aus ca. 75 Prozent Wasserstoff, 25 Prozent Helium, 10-3 Prozent Deuterium und 10-6 Prozent Lithium sowie unbedeutende Mengen schwererer Atomkerne. Nach der Kernsynthese passierte 300 000 Jahre nichts Besonderes mehr - der erste Tag der Schöpfung war vorbei. Vielleicht könnte man den zweiten Tag der Schöpfung auf den Zeitpunkt legen, an dem die Temperatur im Kosmos auf unter 5 000 Grad Kelvin abkühlte. Erst unter diesen Umweltbedingungen können die Atomkerne anfangen, Elektronen einzufangen. Nun konnten die Atome entstehen, erst ab dieser Zeit war Chemie möglich. Es gab noch keine Atome höherer Ordnungszahl, um komplexere chemische Stoffe zu bilden, das Universum war nicht mehr leer, aber überaus eintönig. Epilog zur Urknallgeschichte Dies ist also die Entstehungsgeschichte des Himmels, als er erschaffen wurde, jedenfalls die erste entscheidende Phase, so wie sie die Kosmologen heute erzählen. Die Erschaffung der Erde ließ nach dem Urknall noch lange auf sich warten. Der Anfang des Universums stellt sich als eine Explosion von wahrhaft kosmischen Ausmaßen dar, ein scheinbar destruktiver Augenblick ungeheurer Gewalt, der in Wirklichkeit aber Raum, Zeit und Materie schaffte und den Odem des Lebens in der Gestalt der physikalischen Gesetze und Konstanten, von Teilchen und Wechselwirkungen in sich trug. Richtiger ist damit, das Universum als Kosmos zu bezeichnen, ein Begriff, der auf Pythagorasa zurückgehen soll. Der Begriff aus dem Altgriechischen bedeutet „Schmuck“ oder „Ordnung“ und verweist a
Der um 570 v. Chr. auf der Insel Samos geborene griechische Philosoph Pythagoras ließ sich um 530 v. Chr. in Kroton im Süden Italiens nieder. Dort begründete er die Schule der Pythagoreer, die unter anderem von der Unsterblichkeit und der Wiedergeburt der menschlichen Seele überzeugt waren. Er starb um das Jahr 500 v. Chr. Die Pythagoreer glaubten an eine mathematische Ordnung der Welt und sie waren die ersten, die die Erde als Kugel betrachteten.
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damit auf die harmonischen Prinzipien des Universums. Es entstand durch den Urknall kein Chaos, kein wüstes Durcheinander, keine Auflösung aller Ordnung, sondern das Weltall stellt sich als ein nach sinnvollen Gesetzen gelenktes, als geordnetes System dar, dessen Gesetzmäßigkeiten sich so einfach darstellen, dass wir Menschen sie begreifen können. Abbildung 4: Die Entwicklung im Universum nach dem Urknall: Zunächst entstehen die elementarsten Teilchen, die Quarks, Leptonen und die Teilchen, die die Kräfte übertragen, die Bosonen. Das Universum dehnt sich nun aus und kühlt sich dabei ab. Es entstehen die Grundbausteine der Materie, so wie wir sie normalerweise beobachten: Protonen, Neutronen und Elektronen. Protonen und Neutronen fusionieren dabei zu größeren Atomkernen. Als sich das Universum noch weiter abgekühlt hatte, verbanden sich schließlich Atomkerne und Elektronen zu ganzen Atomen.
Dass es eine wahrhafte Schöpfung war, zeigt unsere Existenz. Eine kleine Asymmetrie bewirkte, dass mehr Materie als Antimaterie entstand, und so ließ der Urknall genügend Brennstoff für Sonnen in Form von Wasserstoffatomen übrig. Es blieb nur ein bisschen Materie im Universum übrig, aber diese Materie besaß die Fähigkeit, sich zu immer komplizierteren Mustern zusammenzufinden, zu Galaxien, zu Sonnen und Planeten, im Kleinen zu Molekülen und weiter zu Zellen, Pilzen, und Pflanzen und schließlich sogar zu intelligentem Leben. Alles war bereits in den Anfangsbedingungen enthalten. Das Universum entwickelte sich nach klaren Regeln und was entstand, entstand mit einer gewissen Zwangsläufigkeit - ein direktes Eingreifen Gottes war nach der Meinung der meisten Naturwissenschaftler mindestens seit dieser Zeit nicht mehr von Nöten. Der Kosmos ist nach dem Schöpfungsmythos der Wissenschaft sehr viel früher entstanden, als John Lightfood errechnete, etwa vor 10-15 Milliarden Jahren. Nach 10 Millionen Jahren lagen die Temperaturen bei wohnlichen 20°C, nach 100 Millionen Jahren nur noch bei -200°C. Nach einem feurigen Anfang schien das Universum in klirrender Kälte zu erstarren, und bis dahin enthielt es lediglich leichte Atomkerne. Aus diesen wenigen Arten von Atomen ließen sich noch keine komplizierteren Muster wie organische Moleküle aufbauen. - Bis „Leben“ entstehen konnte, musste sich noch einiges im Universum tun. Aber lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Grundsätzliches einfügen: Wenn Tipler mit seiner Aussage, dass Theologie letztlich ein Teilbereich der Physik sei, recht hat, so müssen wir Folgendes feststellen: Erst, wenn wir das Universum richtig verstanden haben, 39
können wir eine vollständige Theologie aufstellen, erst dann können wir das Wirken Gottes im Universum vollständig verstehen. Von diesem Verständnis sind wir aber noch sehr weit entfernt. Es gilt das Wort des Physikers Yakow Zeldowitsch, der gesagt haben soll: Die Kosmologen irrten oft, aber zweifelten nie. Mittlerweile wird ein Modell mit dem Namen „ekpyrotisches Universum“ diskutiert, das auf der Grundlage der StringTheoriea erdacht wurde. Nach diesem Modell entstand unser Kosmos aus der Kollision zweier Vorgänger-Welten in einem zehndimensionalen Raum.27 Sie sehen, es geht auch etwas komplizierter als mit einem einfachen Urknall. Das Grundsätzliche, das ich an dieser Stelle einfügen möchte ist dieses: Mein Buch stellt lediglich einen ersten Versuch dar, eine Theorie über Gott auszubreiten. Es sind Hypothesen, die zeigen sollen, dass wir als Menschen in der Lage sind, theologische Belange rational zu ergründen. Wir können über Gott nachdenken, ohne dass wir Dinge glauben müssen, die mit unserem wissenschaftlichen Weltbild unvereinbar sind. Ich sehe diese Vorläufigkeit als großen Vorteil an. Denn wenn ich den Katholizismus betrachte, so meine ich, dass sein größtes Defizit darin liegt, dass er unfähig ist, seine Essenz dem fortschreitenden Wissen der Menschheit anzupassen und damit aktuell zu bleiben. Wie ich zeigen werde, sind viele Inhalte des katholischen Glaubens nicht an den Text der Bibel gebunden, sondern können auch ganz anders erzählt werden. Sollte sich also die Sicht der Physik ändern und sich eine andere Theorie über die Entstehung und den Aufbau des Universums durchsetzen, so sind damit auch einige Gedanken Geschichte geworden, die ich in diesem Buch vertrete. Das ändert aber nichts daran, dass diese Gedanken als Modell dienen können, über Gott neu nachzudenken und vielleicht habe ich das Glück, dass auch Newton zuteil wurde: Zwar stellte sich seine Physik als falsch heraus, aber für viele Belange ist seine Physik durchaus hinreichend. Und lassen Sie mich auch noch einmal in die Mythologie abschweifen. Es ist durchaus verblüffend, dass die alten Griechen einen ganz ähnlichen Schöpfungsmythos erzählten, wie es die Wissenschaftler heute tun: Am Anfang, so wurde erzählt, als die Welt noch nicht geschaffen war, gab es nur das Chaos, einen gähnenden Raum, den man sich auch als eine rohe Masse vorstellte, in der alles, was später wurde, im Keime ungeordnet durcheinander lag. Nicht anders stellt sich das Universum zu diesem frühen Zeitpunkt auch für die heutigen Kosmologen dar. Und weiter gingen für die Griechen des Altertums aus dem Chaos einerseits Gäa, die Erde, und Eros, die Liebe, andererseits Erebos und Nyx, das Dunkel und die Nacht, hervor. Mich beeindruckt besonders, dass nach diesem Mythos nicht nur unsere materielle Welt aus dem Chaos entstand, sondern auch und mit gleicher Bedeutung die Liebe. Eine zentrale Hypothese meines Buches ist, dass sich im Zuge der Evolution tatsächlich und zwangsläufig die Liebe (oder die Kooperationsfähigkeit) als zentrales Moment der Höherentwicklung des Lebens herauskristallisiert. a
Die String-Theorie, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, fasst die Materieteilchen als eindimensionale schwingende, dehnbare Objekte auf, ähnlich einem Gummiband. Ein fundamentaler String kann in verschiedenen Modi schwingen, und diese verschiedenen Wellenmuster interpretiert man in der String-Theorie als die verschiedenen Elementarteilchen.
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2.2
Das „anthropische Prinzip“
Das anthropische Prinzip ist vielleicht die wissenschaftliche Variante des Fünften der Wege, die Thomas von Aquin aufgezeigt hat, mittels derer man die Existenz Gottes nahe legen kann: Aus der allseits zu beobachtenden Ordnung der Natur schließt Thomas von Aquin auf die Existenz eines Schöpfers.28 Das „anthropischea Prinzip“ versucht, eine Antwort auf diese Grundfragen unserer Existenz zu finden. Es besagt, dass das Universum so aufgebaut sei, wie wir es beobachten, weil es uns sonst nicht gäbe. Wir, die Menschheit stehen hier für die Ordnung im Kosmos. Einen Schöpfer gibt es allerdings nicht, sondern es wird nur auf die Notwendigkeit verwiesen, dass die Ausgangsbedingungen im Universum dadurch festgelegt sind, dass wir existieren. Von dem kanadischen Philosophen John Leslie stammt folgende Geschichte: Angenommen Sie erwarten Ihre Hinrichtung. Vor Ihnen haben 50 Soldaten ihre Gewehre auf Sie gerichtet. Sie schließen die Augen und hören die infernalische Salve der fünfzig Schüsse und bemerken, das keine einzige Kugel Sie getroffen hat: In diesem Augenblick der Verblüffung, in dem Sie bemerken, dass Sie noch leben, ist es mehr als legitim, sich nach dem Grund zu fragen. Warum haben 50 Soldaten daneben geschossen? Falls Sie wirklich keine andere Antwort finden, so können Sie immerhin das feststellen: Es hätte auch anders ausgehen können, aber da Sie noch leben, müssen notwendiger Weise alle 50 vorbeigeschossen haben. Das anthropische Prinzip kommt ein bisschen wie ein Taschenspielertrick daher, aber es ist genau dies und in seiner „schwachen“ Form auch nichts mehr: Die legitime Spekulation darüber, warum der Kosmos ausgerechnet so konstruiert ist, dass wir ihn beobachten können. Das Universum wurde als ein dreidimensionaler Raum mit einer Zeitdimension geschaffen, worin Quarks, Elektronen und andere Teilchen sich unter dem Einfluss von Kernkräften, elektromagnetischer Wechselwirkung und der Gravitation zu Atomen, Schmetterlingen und Galaxien ordnen. Und wo sich schließlich auf mindestens einem Planeten intelligentes Leben entwickelte, das fähig ist, eine Gleichung für diese physikalischen Grundlagen zu finden. Eine offene Frage der Physik formulierte Einstein wie folgt: Was mich interessiert ist, ob Gott bei der Erschaffung der Welt irgendeine Wahl hatte,29 oder ob er sie genauso, wie sie ist, erschaffen musste? Die Kosmologen fanden darauf bisher nur eine Antwort: Dieser Kosmos muss überaus exakt genau so angelegt sein, wie wir ihn beobachten aus dem schlichten Grund: Wäre das Universum geringfügig anders ausgestattet, gäbe es uns nicht - und wohl auch kein anderes intelligentes Leben, und Einstein hätte diese Frage nie gestellt. Dies ist das Erstaunliche am Urknall: Für einen bloßen Zufall sind die Naturkonstanten allzu genau darauf abgestimmt, die Entwicklung von intelligentem Leben in unserem Kosmos zuzulassen, wenn nicht sogar, diese Entwicklung zwangsläufig voranzutreiben. Eine physikalische Begründung aber lässt sich dafür - bisher jedenfalls - nicht finden.
a
Der Name leitet sich ab vom griechischen Wort für Mensch, „Anthropos“.
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Zum Wohle des Menschen Sokrates erläutert seinem Gesprächspartner Euthydemos, dass die Götter in bewundernswerter Weise die ganze Welt als einen Kosmos gestaltet haben, der dem Wohle des Menschen dient. Denn sie gaben uns am Tag das Licht, mit dessen Hilfe wir etwas erkennen können und gewähren uns bei Nacht durch die Finsternis die notwendige Ruhe. Sokrates fragt sich, ob es für die Götter überhaupt eine andere Aufgabe gibt, als für den Menschen zu sorgen. Lediglich die Einsicht, dass dasselbe auch für andere Lebewesen gilt führt für ihn zu einer Einschränkung der Fürsorglichkeit der Götter.30 Robert H. Dicke, Mitarbeiter der Princeton-Universität, formuliert im Jahr 1961 das anthropische Prinzip. Es ist gewissermaßen eine physikalische Variante dieser Überlegungen von Sokrates. Nach dem anthropischen Prinzip resultiert aus unserer Existenz als Beobachter, dass die Naturkonstanten genau die Werte haben müssen, die sie haben. Die unabweisbare Tatsache, dass intelligentes Leben in diesem Universum entstehen konnte, schließt andere Größenordnungen für die Naturkonstanten nahezu aus grundlegende Parameter des Kosmos waren nicht mehr frei wählbar! Wenn intelligentes Leben in einem Universum die Chance haben soll sich zu entwickeln, so hat, um bei Einsteins Formulierung zu bleiben, Gott bei der Festlegung dieser Naturkonstanten kaum eine andere Wahl gehabt. Die Naturkonstanten müssen mit unglaublicher Exaktheit die Größenordnung haben, die wir beobachten, ansonsten gäbe es in diesem Universum keine höhere Form der Komplexität. Dafür einige Beispiele: Brandon Carter aus Cambridge zeigte das anthropische Prinzip für die Stärke der Gravitationskraft. Denn die Physiker können sich durchaus ein Universum vorstellen, in denen diese sogenannte „Kopplungskonstante“, das Maß für diese Kraft, einen beliebig anderen Wert annimmt. Aber wäre dann Leben denkbar? Damit sich im Umfeld eines Sterns intelligentes Leben entwickeln kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen muss der Stern langlebig genug sein, damit ausreichend Zeit für die Entwicklung von Organismen zur Verfügung steht. Zum anderen wird von dem Stern gefordert, dass er immer genügend Energie abstrahlt, um den Weltraum genau dort genügend zu wärmen, wo ein bewohnbarer Planet in einer stabilen Umlaufbahn kreisen kann. Voraussetzung für die Evolution von Organismen ist also die richtige Kombination von Lebensdauer und Strahlungsenergie eines Sternes. Weder Sterne der Art „Blauer Riese“ noch Sonnen der Art „Roter Zwerg“ erfüllen diese Bedingungen Ein Blauer Riese ist ein sehr massenreicher Stern, der nur eine Lebensspanne von einigen Millionen Jahren hat. So ein Stern brennt zu schnell aus, als dass seine Planeten die Zeit hätten, auch nur hinreichend abzukühlen. Ein Roter Zwerg strahlt, wie sein Name schon nahe legt, ein ins rote verschobenes Spektrum ab. Photosynthese, die Grundlage der meisten Lebensprozesse auf unserer Welt würde mit diesem Licht nicht möglich sein. Sonnenähnliche Sterne gibt es aber nur dann, wenn die Gravitationskopplungskonstante 10-38 beträgt (vgl. Tabelle 2). Wäre der Wert um eine Größenordnung (10-37) höher als beobachtet, fände man ausschließlich Blaue Riesen. Falls die Konstante um eine Größenordnung niedriger läge (10-39), gäbe es im ganzen Universum lediglich Rote Zwerge. In beiden Fällen würden keine Sterne existieren, die für biologisches Leben 42
günstige Bedingungen schaffen könnten. Diese hypothetischen Universen anderer Gravitationskonstanten schließen also die Existenz menschlicher Beobachter aus. Das bedeutet umgekehrt, dass, wo ein Beobachter ist, die Kopplungskonstante zwangsläufig die Größenordnung 10-38 besitzt. Das „flache“ Universum Für die Entwicklung des Universums ist einerseits die Anfangsgeschwindigkeit ausschlaggebend, mit der sich die Materie im Kosmos nach dem Urknall ausdehnte, und andererseits die Fluchtgeschwindigkeit, die die Materie benötigt, um ihre eigene Gravitationsanziehung zu überwinden. Stellen Sie sich vor, Sie werfen einen Tennisball in die Höhe. Nach ein paar Metern wird sich seine Flugbahn umkehren und wenn Sie nicht aufpassen, fällt der Ball Ihnen auf den Kopf. Ihre Kraft reicht bei weitem nicht aus, um gegen die Gravitation der Erde anzukommen. Wenn Sie übermenschliche Kraft hätten, könnten Sie den Ball vielleicht so beschleunigen, dass er das Gravitationsfeld der Erde verlassen und ewig weiter geradeaus fliegen würde. Sie hätten dann die sogenannte Fluchtgeschwindigkeit der Erde überwunden. Hätten Sie daneben noch eine übermenschliche Geschicklichkeit, so könnten Sie den Ball genau so stark werfen, dass er immer langsamer wird, er sich irgendwann praktisch gar nicht mehr bewegt, aber immer noch nicht zurückfällt. Genau dieses Kunststück hat möglicherweise der Urknall hinbekommen. Nehmen wir an, die Expansionsgeschwindigkeit wäre von Anfang an sehr viel kleiner als die benötigte Fluchtgeschwindigkeit gewesen. Dann wäre das Universum kollabiert, noch bevor sich irgendwelche Strukturen wie Galaxien oder Sterne hätten entwickeln können. Wäre die Expansionsgeschwindigkeit dagegen sehr viel größer als die Fluchtgeschwindigkeit gewesen, wäre die Materie zu schnell auseinandergetrieben worden und es hätten sich auch keine Galaxien oder Sterne bilden können. Unser Planet mit uns obenauf konnte sich nur in einem Universum entwickeln, in dem die Expansionsgeschwindigkeit sehr genau der Fluchtgeschwindigkeit entspricht. Ein solches Universum, das sich annähernd mit der Geschwindigkeit ausdehnt, dass es weder zu schnell auseinander strebt noch zu schnell zusammenfällt, nennen die Kosmologen ein „flaches“ Universuma. Einige Modelle der Kosmologen verlangen sogar, auf der Grundlage von Einsteins Relativitätstheorie berechnet, eine vollkommene Flachheit: Die Gesamtmasse des Universums muss der sogenannten kritischen Masse mit einer Genauigkeit von 1 zu 1050 also auf 50 Stellen hinter dem Komma gleichen. Das entspricht ungefähr einem Proton pro Kubiklichtjahr oder einer Amöbe pro Galaxis. Der Flachheitsparameter ist damit die am genauesten bestimmte Zahl in den Naturwissenschaften. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die geringe Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie, die für das Überleben der Materie nach dem Urknall verantwortlich war, absurd wenig Materie überleben ließ. a
Wenn man das Alter des Universums gegen die Ausdehnung des Universums in einem XYDiagramm aufträgt, ergibt sich eine Kurve, die fast parallel zur X-Achse einschwenkt, also sehr flach, ohne nennenswerte Steigung verläuft (vgl. Abbildung 6).
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Die Elementarkräfte unterscheiden sich in ihrer Stärke dramatisch: Setzt man die Starke Kernkraft gleich 1, so ergibt sich relativ dazu für die elektromagnetische Kraft eine Größenordnung von 10-2 (vgl. Tabelle 2). Die elektromagnetische Kraft ist also etwa einhundert Mal schwächer als die Starke Kernkraft. Für die Gravitation ergibt sich im Vergleich dazu eine Größenordnung von 10-38. Und ausgerechnet diese weitaus schwächste aller Kräfte, die Gravitation beherrscht im Großen unser Universum. Weil sich die Kräfte aller Massenteilchen addieren, wird die Gravitation mit zunehmender Masse immer stärker, während sich die positiven und negativen Kräfte der elektromagnetischen Wechselwirkung über das ganze Universum betrachtet, gegenseitig aufheben. Die Starke und die schwache Kernkräfte wirken nur über winzige Entfernungen. Und nur weil die Stärke der Gravitation so unerhört klein ist, konnte das Universum so lange Zeit bestehen, dass intelligentes Leben entstehen konnte. Weitere Beispiele zum anthropischen Prinzip Beim Urknall musste es, die Kosmologen rätseln noch waruma, zu kleinen Schwankungen in der Ausdehnungsgeschwindigkeit gekommen sein, das Universum war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr ganz unstrukturiert. Diese Schwankungen verursachten Inhomogenitäten in der Dichte der Materie. Und ohne diese Dichteschwankungen hätte es nicht zur Bildung von Galaxien kommen können. Wären diese Schwankungen zu groß gewesen, wären wahrscheinlich überwiegend „Schwarze Löcher“ entstanden, wären sie wesentlich kleiner gewesen, wäre das Universum auch heute noch, 10-15 Milliarden Jahre später, überwiegend amorph - ohne Galaxien, Sonnen und ohne Homo Sapiens.31 Die Stärke der schwachen Kraft, sie ist in der Relation zur Starken Kernkraft zehntausend Mal schwächer, also 10-5 groß, bestimmte darüber, wie viel Helium im Verhältnis zum Wasserstoff während des Urknalls gebildet worden ist. Wäre die schwache Kraft noch etwas schwächer gewesen, wäre fast aller Wasserstoff zu Helium fusioniert. Auf Helium als Brennstoff angewiesen wäre die Lebensspanne der Sonne so drastisch reduziert, dass der Homo sapiens nie Gelegenheit bekommen hätte, dies alles nachzurechnen. Lee Smolin hat unter der Voraussetzung, dass sich die Naturkonstanten mehr oder weniger frei wählen lassen, berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit unser Universum existieren würde, und er kommt auf den irrwitzig kleinen Wert von 1:10229. Ehe Sie sich diese Zahl vorzustellen versuchen, schlage ich Ihnen vor, sich zunächst die ungefähre Anzahl aller Protonen im beobachtbaren Universum vorzustellen: Ich nehme an, Sie scheitern schon bei diesen läppischen 1080 Stück. Die Wahrscheinlichkeit im Lotto zu gewinnen liegt übrigens bei 1:13 983 816, ist also deutlich besser als 1:108.
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In diesem Zusammenhang wird heute viel über ein inflationäres Ausdehnen des Universums kurz nach dem Urknall geforscht. Nach dieser Theorie hätte sich das Universum gleich nach dem Urknall in sehr kurzer Zeit von einer Größe, kleiner als der Durchmesser eines Protons auf die Größe eines Basketballs ausgedehnt.
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Die Kosmologen schließen sich also der Vermutung des Philosophen und Mathematikers Gottfried Wilhelm Leibniza im Prinzip an, dass die reale Welt unter all den anderen Möglichkeiten etwas Außergewöhnliches ist.32 Für Gottfried Wilhelm Leibniz bedeutete dies eine Welt, die einerseits eine größtmögliche Vielfalt entwickelt, andererseits aber durch wenige physikalische Gesetze bestimmt ist, die auf einer göttlichen Ordnung beruhen. Für die Kosmologen ist dieses Universum vor allem deshalb außerordentlich, weil in ihm die Anfangsbedingungen und Naturkonstanten genau so sind, dass sich intelligentes Leben entwickeln konnte. Es ist etwas Besonderes, weil es uns in diesem Universum gibt.
2.3
Das „starke anthropische Prinzip“
Das anthropische Prinzip stößt auf weitverbreitetes Unbehagen, eben weil es so anthropozentrisch daherkommt. Es stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Aus dieser Position hatten uns Nikolaus Kopernikus und dann Charles Darwin mühselig entfernt. Ich werde an anderer Stelle zeigen, dass das anthropische Prinzip durchaus seinen Sinn behält, aber im Grunde nur ein Spezialfall eines umfassenderen Prinzips ist. Hier möchte ich nur noch zwei weitere Interpretationen des „maßgeschneiderten Kosmos“ vorstellen. Das von den Kosmologen ausgearbeitete anthropische Prinzip besagt, wie ich ausgeführt habe, dass das Universum so ist, wie es ist, weil nur dann Leben möglich ist. Dies wird das schwache „anthropische Postulat“ genannt. 1. Einige Forscher gehen weiter und formulieren unter dem Eindruck eines sich immer höher entwickelnden Universums das starke anthropische Postulat: „Das Universum ist genau so aufgebaut, damit Leben entstehen kann.“ Sie gestehen damit dem Kosmos explizit eine Teleologie, also eine Zweck- und Zielgerichtetheit von Anfang an zu. 2. Frank Tipler schließlich formulierte ein Postulat vom ewig belebten Universum. Um dieses Prinzip geht es im Folgenden.
2.4
Das Postulat vom ewig belebten Universum
Frank Tipler geht in seinem Buch „Physik der Unsterblichkeit“ noch einen Schritt weiter als die Anhänger des starken anthropischen Prinzips. Er nimmt an, dass das Universum nicht nur genau so angelegt ist, dass es Leben hervorbringen kann, sondern er postuliert, a
Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz wurde 1646 in Leipzig geboren. Er promovierte 1666 im Fach Jura, erfand unabhängig von Newton, der eine ähnliche Mathematik entwickelte, die Differentialrechnung und lebte schließlich als Geheimrat am Hof von Hannover, bis ihn dort 1716 der Tod ereilte. Als Universalgenie umfasst sein Werk neben mathematischen und philosophischen Studien auch Themen aus den Bereichen Theologie, Recht, Diplomatie, Politik, Geschichte, Philologie und Physik.
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dass der Kosmos dieses auch auf ewige Zeiten bewahren kann: Ich gehe von der physikalischen Annahme aus, dass das Universum imstande sein muss, Leben unbegrenzt lange aufrechtzuerhalten, das heißt für eine aus der Sicht des im physikalischen Universum existierenden Lebens unendliche Zeit. Frank Tipler ruft uns dabei nicht als Krone der Schöpfung aus. Nach seiner der Theorie entsteht zum Ende des Universums hin eine Wesenheit, die in ihren Fähigkeiten unserem modernen Bild von Gott gleicht. Ähnliche Annahmen hatten vor Frank Tipler unter anderen schon John Burdon, Sanderson Haldane, Paul Dirac oder Freeman Dysona formuliert. Postulate sind logisch nicht herleitbar, sie stellen Arbeitshypothesen dar, denen man eine gewissen Plausibilität zumisst. Daneben sollten sie „Ockhams Rasiermesser“b nicht zu fürchten haben. Steven Weinberg, Professor für theoretische Physik an der University of Texas in Austin und Nobelpreisträger gibt noch einen anderen, überraschenden Plausibilitätsmaßstab an: Er vergleicht in einem Interview im Spiegel die Schönheit einer physikalischen Theorie mit der Schönheit eines Musikstückes und behauptet: Wenn Sie eine Theorie als schön empfinden, dann ist es wahrscheinlich, dass sie auch wahr ist.33 Dies ist beileibe keine ungebräuchliche Begründung unter Physikern, Einstein verteidigte seine Relativitätstheorie damit, dass sie von erhabener Eleganz sei. Er beschrieb Wissenschaft als ein übernatürliches Rufen, als etwas, mit dessen Hilfe man sich über die Geringfügigkeit, Unbeständigkeit und den Kampf des menschlichen Lebens hinwegsetzen könne und das es ermöglicht, ein wenig an der Schönheit und Wahrheit teilzunehmen, die der wahren, unveränderlichen Natur der Welt zugrunde liegt.34 Auch Frank Tipler gibt für sein Postulat diese ästhetische Begründung an: Es ist wahrscheinlicher, dass eine schöne Annahme wahr ist, als dass eine hässliche Annahme wahr ist.35 Denn ist es in der Tat nicht eine bedrückende Vorstellung, dass das Leben im Universum irgendwann wieder verschwindet, das Universum dann kalt und leblos wie eine Leiche noch eine lange Zeit oder vielleicht sogar ewig weiter existiert? Dagegen ist Frank Tiplers Vermutung vom ewig belebten Universum von erhabener Schönheit. a
Frank Tipler hält Freeman Dyson für den Begründer der physikalischen Theologie, der dort, wo die anderen spekulierten, rechnete. b Ockhams Rasiermesser heißt auch „Parsimonie-Gesetz“. Dieses Prinzip, nach seinem Begründer Wilhelm von Ockham (* um 1285; † ca. 1349) benannt, fordert, alle unwahrscheinlicheren Hypothesen zugunsten des Offensichtlichen und Einfachen über die (Rasier-) Klinge springen zu lassen und geht auf das Prinzip der sparsamen Ökonomie zurück. Ein Beispiel: Der Verbindung des Zeus mit Metis, der Göttin der Einsicht sollte ein Sohn entspringen, der Zeus an Macht übertreffen würde - so erging die Weissagung. Aus Furcht davor verschlang Zeus Metis. (Theophagie war in der griechischen Mythologie eine wiederkehrende Unsitte.) Zeus bekam aber davon solch quälende Kopfschmerzen, dass er Hephaistos befahl, ihm das Haupt zu spalten. Also schlug Hephästos mit der Axt zu, und aus dem klaffenden Spalt des zeusschen Schädels entsprang die Göttin der Weisheit, Athene. Wir bewundern zurecht die Erzählkraft der griechischen Mythologie, aber als Hypothese über den Ursprung eines göttlichen Wesens ist sie doch, wie man umgangssprachlich sagen möchte, etwas an den Haaren herbeigezogen. Und so fiel sie im Laufe der Zeit Ockhams Rasiermesser zum Opfer.
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Naturwissenschaftler verlassen sich nur höchst ungern auf ihre Gefühle, die Philosophen tun dies sehr viel ungenierter. Als Auswahlkriterium für gute Naturphilosophie sollten wir ihren Beitrag zur Lebenskunst ansehen, schlägt der Molekularbiologe und Naturphilosoph Alfred Gierer vor und fordert Alltagstauglichkeit für einen philosophischen Denkansatz: Denn ein philosophischer Denkansatz, der in der Praxis versagt, ist in den theoretischen Prämissen nicht glaubwürdig. Ein Denkansatz, in dem das Leben dazu verurteilt ist, ohne Hoffnung dem eisigen Tod das weite Schlachtfeld des Universums überlassen zu müssen, taugt aber in der Tat nicht für den Alltag, er macht genaugenommen depressiv. Letztlich beantwortet Frank Tiplers Postulat die Frage nach der Bedeutung oder der Bedeutungslosigkeit des Kosmos. Der Zellphysiologe und Nobelpreisträger der Medizin, Christian de Duve drückt dies so aus: Wenn das Universum ein bedeutungstragendes Gebilde sei, so behauptet er, dann sei es so beschaffen, dass es Leben und Geist hervorbringt; es müsse zwangsläufig denkende Wesen entstehen lassen, die Wahrheit erkennen, Schönheit schätzen, Liebe empfinden, sich nach dem Guten sehnen, das Böse verachten und Geheimnisse entschleiern könnten. Frank Tipler erweitert dies mit dem Nachsatz, dass dieses Leben im Universum für alle Zeiten überdauern könnte. Denn wenn das Leben im Universum eines Tages erlöschen würde, würde auch jegliche Bedeutung dieses Kosmos mit untergehen. Das Besondere an Frank Tiplers Annahme ist, dass damit die physikalische Entwicklung des Kosmos sehr genau festgelegt ist, es zwingt der Zukunft des Universums rigorose Bedingungen auf. Insbesondere müssen die physikalischen Verhältnisse im Kosmos so angelegt sein, dass die Entwicklung des Universums nicht dahin führt, dass es dem Leben irgendwann an den Grundlagen seiner Existenz mangelt. Und, dies ist damit nicht identisch, die Eigenzeit des Universums muss unendlich sein. Unter der Eigenzeit ist folgendes zu verstehen: Die Zeit begann mit dem Urknall, und davor gab es keine Zeit. Die Zeit endet, falls das Universum wieder in sich zusammenfällt, mit dem Endknall und danach existiert auch keine Zeit mehr. Das Universum hat gewissermaßen eine eigene unabhängige Zeit. Frank Tipler fordert, dass diese Eigenzeit unendlich lange währt.
2.5
Zeit
Gottfried Wilhelm Leibniz kommt bezüglich der Zeit zur folgenden Überlegung: Angenommen, jemand frage, weshalb Gott nicht alles um ein Jahr früher geschaffen hat; und wenn dieselbe Person den Schluss ziehen möchte, dass Gott etwas getan hat, wofür man unmöglich einen Grund angeben kann, weshalb er es so und nicht anders gemacht hat, so würde man ihm antworten, dass seine Schlussfolgerung richtig wäre, wenn die Zeit etwas wäre, das außerhalb der zeitlichen Dinge ist. Aber, so folgert Gottfried Wilhelm Leibniz, da man dann keinen Grund angeben könnte, ist notwendig die Vorbedingung falsch und es folgt, dass: Augenblicke außer den Dingen nichts sind und dass sie ausschließlich in deren aufeinanderfolgender Ordnung Bestand haben.36 Gottfried Wilhelm Leibniz Zeitbegriff basiert also ausschließlich auf den Relationen der Ereignisse wie sie sich nacheinander ereignen. Alles im Kosmos hängt damit zumindest zeitlich zusammen und die Zeit hat wahrscheinlich keine andere Bedeutung als Veränderung. 47
Wohin wir schauen, wir schauen in die Vergangenheit. Je weiter entfernt etwas von uns ist, desto weiter aus der Vergangenheit stammt das Licht, das unsere Augen erreicht. Der Blitz hat meistens schon eingeschlagen, bevor wir ihn sehen. Ansonsten merken wir im täglichen Leben kaum, dass wir immer etwas hinterher, nie sozusagen auf Ballhöhe sind. Aber am Nachthimmel gucken wir ein paar Millionen Jahre in die Vergangenheit, ohne uns weiter anzustrengen. Das Hubble-Teleskop fängt Licht auf, dass vor mehreren Milliarden Jahren abgestrahlt wurde. Wir sind in der Lage, bis fast ganz zurück in die ersten Tage des Universums zu blicken. Dieses Beobachten der Vergangenheit wird uns noch beschäftigen. Hier aber zunächst nur die frustrierende Tatsache: In die Zukunft können wir leider kein bisschen sehen. Wir sind so sehr daran gewöhnt, dass wir gar nicht merken, wie erstaunlich das ist. Während wir die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerlegen, wobei die Vergangenheit schon war, die Zukunft noch sein wird, und wir in der Gegenwart leben, ist die Zeit in der Relativitätstheorie von Albert Einstein nicht nur sprichwörtlich relativ, sondern sie besitzt auch keine eindeutige Richtung: Sie ist blind für die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft, was ebenso für die Newtonsche Mechanik wie für die Quantenmechanik und die String-Theorie gilt: Es scheint eine Art stillschweigende Übereinkunft darüber zu herrschen, dass die Zukunft nicht so real ist wie die Gegenwart und die Vergangenheit, und dies obwohl alle grundlegenden physikalischen Theorien [...] stets betonen, es gebe keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.37 Rein physikalisch betrachtet könnten wir durchaus durch die Zeit zurück reisen! Der Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynman schlägt in seinen Diagrammen zur Veranschaulichung der von ihm gefundenen Quantenelektrodynamik Wege für Elektronen vor, in denen diese in der Zeit rückwärts reisen (Abbildung 5). Er hält diese Zeitreisen für reale Möglichkeiten.38 Der Physiker John Weeler meinte sogar, dass es im Universum nur ein einziges Elektron gäbe, dass in der Zeit vor und zurück rast und damit die Gesamtheit aller beobachtbaren Elektronen erzeugt. Sie, ich und der Rest des Universums beständen nur aus einem Elektron, einem Proton und einem Neutron, das man unzählige Male sieht.39 Abbildung 5: Feynman-Diagramm zur Wechselwirkung zwischen Elektron (dicke Linie) und Photon (dünnere, geschlängelte Linien). Das Elektron emittiert ein Photon, eilt in der Zeit zurück, um ein Photon zu absorbieren, und setzt dann seinen Weg in der Zeit vorwärts fort.40
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Lediglich der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik legt einen gerichteten Zeitpfeil nahe, da die Zunahme der Entropie im Universum ein unumkehrbarer Prozess zu sein scheint. Die Zunahme der Entropie im Universum bedeutet, dass sich alles zu einem Zustand des Ausgleichs oder anders ausgedrückt der geringsten Ordnung hin bewegt. Lassen Sie mich kurz den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik näher beschreiben, da er nach Meinung der Physiker konstituierend für die Richtung ist, in der wir die Zeit empfinden: Von der Vergangenheit über den Augenblick der Gegenwart zur Zukunft. Meiner Ansicht nach ist er außerdem nicht unerheblich für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Evolution und Physik: Entropie ist das destruktive Element in der Physik, das wissenschaftliche Gegenstück zur grässlichen Hindu-Gottheit des Todes: Kali. Denn alle Entwicklungen des Universums sind geprägt von dem anhaltenden Kampf der vier Grundkräfte gegen die Zunahme der Entropie. Während die Gravitation und ihre drei Schwestern der Elementarkräfte die physikalischen Systeme zusammenhalten oder Strukturen überhaupt erst schaffen, verdammt der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik diese Inseln der Ordnung dazu, letztlich zu zerfallen. Dies, weil sich das Universum ausdehnt und damit die zusammenhaltenden Kräfte über immer größere Entfernungen hin wirken müssen, was sie zunehmend schwächt. Entropie Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass in einem geschlossenen System die Entropie niemals abnehmen kann, dass sich alles zu einem Zustand des Ausgleichs oder der geringsten Ordnung hin bewegt. Ich kann sehr wohl in einer Ecke des Universums Ordnung schaffen, zum Beispiel, auf meinem Schreibtisch. Aber insgesamt wird das Universum eher unordentlich. - Und auch auf meinem Schreibtisch, so ist meine leidvolle Erfahrung, die ich sicher mit Ihnen teile, hält die Ordnung leider nicht grade lange an: Entropie ist sozusagen ein Desorganisationsprinzip. In der Physik ist Entropie eine Größe, die die Verlaufsrichtung u. a. eines Wärmeprozesses kennzeichnet. In einem geschlossenen physikalischen System nimmt die Entropie immer weiter zu. Gemeint ist damit, dass Ungleichgewichte in der Verteilung der Wärme sich mit der Zeit immer weiter ausgleichen. Der Physiker Ludwig Boltzmanna definierte den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in folgender Art: Je höher die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Ereignisses ist, das zu einer Zustandsänderung eines Systems führt, desto geringer ist die Entropie dieses Systems. Wenn ein Auto gegen einen Baum fährt, so verformt sich das Auto, einige Teile fallen ab, und a
Ludwig Boltzmann, 1844 in Wien geboren, gilt als Begründer der klassischen statistischen Physik. Er forschte insbesondere über den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik: Unter gegebenen Anfangsbedingungen ist die Zunahme der Entropie, das Maß für die Unordnung in einem abgeschlossenen System nur die wahrscheinlichste Entropieänderung. Seine Forschungsergebnisse wurden von vielen Wissenschaftlern seiner Zeit vehement angegriffen. Diese Angriffe mögen mit dazu beigetragen haben, dass Ludwig Boltzmann im Jahr 1906 Selbstmord beging.
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wir hoffen an dieser Stelle, dass dem Fahrer nichts passiert ist. Wenn dieser Unfall nun zufällig gefilmt wurde, so kann man den Film auch rückwärts laufen lassen. Das Auto sammelt wieder seine abgefallenen Teile auf, beult sich aus, und der Fahrer ist auf alle Fälle wieder gesund und munter. Die Physik hat gegen dieses Szenario nichts einzuwenden, außer, dass der beschriebene Vorgang, den der rückwärts laufende Film zeigt, so unwahrscheinlich ist, dass er sich in diesem Universum nicht zutragen wird. Das Ereignis „Unfall“ hat also eine höhere Wahrscheinlichkeit als das Ereignis „Ein verunfalltes Auto setzt sich spontan wieder zusammen“. Das unfallfreie Auto hat eine niedrigere Entropie oder einen höheren Ordnungszustand als das schrottreife Auto. Sie kennen das aus eigener Erfahrung: Es ist wahrscheinlicher, dass ein Auto kaputt geht, als dass ein kaputtes Auto spontan wieder fahrbereit wird - Werkstätten leben gewissermaßen vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Jedes Auto fährt eine Weile lang, geht früher oder später unweigerlich kaputt und landet auf dem Schrottplatz. Dieses Nacheinander der Ereignisse ist durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik festgelegt, und genau in der Reihenfolge erleben wir auch das Vergehen der Zeit. Die Reihenfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist ansonsten aus keiner anderen physikalischen Theorie ableitbar. Im Gegensatz zu den ungeordneten Konfigurationen von Atomen sind interessante Anordnungen - zum Beispiel in chemischen Verbindungen festgelegte Atome - recht unwahrscheinlich und werden mit der Zeit immer unwahrscheinlicher. Je komplizierter die Anordnung, desto unwahrscheinlicher tritt diese Konfiguration auf, einfach weil es viel mehr ungeordnete Zustände gibt. Nicht nur die Information in der DNS, sondern auch der Organismus selbst ist aufgrund seiner Komplexität eigentlich nichts, was dadurch erklärt werden könnte, dass es noch eine ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass so etwas in diesem Universum existieren könnte. Unter dem Einfluss der Evolution haben sich sogar so unwahrscheinliche Dinge wie VW-Käfer realisieren können. Und denken Sie an das spontane Zusammensetzen von Autos aus einem Trümmerhaufen von Einzelteilen: Diese Unwahrscheinlichkeiten passieren täglich in Werkstätten! Die Evolution führt uns in die entgegengesetzte Richtung, die die Thermodynamik vorgibt. Vergangenheit unterscheidet sich in der Evolution von der Zukunft dadurch, dass der Komplexitätsgrad der Organismen - also Ordnung! - mit der Zeit auf der Erde anwuchs. Darwins Theorie der Zuchtwahl basiert auf drei Hauptelementen: Auf Variation, Selektion und Vererbung. Vererbung ist das entscheidende Element, das auf alle Fälle einen eindeutigen Zeitverlauf fordert. Auch wenn physikalische Gesetze keiner eindeutigen Zeitrichtung bedürfen, damit sie ihre Gültigkeit besitzen: Damit etwas durch Evolution im Universum entstehen kann, benötigen wir eine eindeutige Zeitrichtung von den Eltern zu den Kindern, vom Einfachen hin zum Komplizierten. Wenn Evolution, wie ich meine, so grundlegend für unser Universum ist, wie die Relativitätstheorie, so finden wir die Zeit in der Evolution, in der Vererbung. Der Evolution geht es ausschließlich um das langfristige Schicksal seiner Protagonisten. Es geht ihr ausschließlich um Strukturen, die über viele Generationen hinweg ihre Identität bewahren oder zum „besseren“ ändern. Während die Entropie im 50
Universum auf die Zerstörung aller Strukturen hingerichtet ist, wächst in einer Bevölkerung die mittlere Fitness stets von einer Generation zur nächsten. Evolution ohne Zeitpfeil ist nicht vorstellbar. Für den griechischen Philosophen Plotina lag die Quelle der Zeit in uns selbst, sie entspränge der menschlichen Seele. Ganz falsch war diese Ansicht nicht. Heute wissen wir, dass jedes Lebewesen, von den Einzellern angefangen, zumindest einen Zeitsinn besitzt. Der schwedische Naturforscher Carl von Linnéb träumte davon, eine Blumenuhr zu pflanzen aus Nachtkerze, Ringelblume, Nelke, Acker-Gauchheil, Herbstlöwenzahn, Winde, Hasenkohl, Passionsblume, geflecktem Ferkelkraut und Milchstern, durch die man selbst bei Bewölkung die Zeit feststellen könne. Denn die Passionsblume öffnet sich mittags, die Nachtkerze um sechs Uhr abends und so fort.41 Was immer ein Organismus für Aufgaben erledigen will, es braucht seinen Zeitsinn, um alles zu organisieren. Leben ohne Zeitsinn funktioniert nicht: Leben ist vor allem eine Abfolge von Terminen. Vom Ende des Universums Die Bedeutung der Zeit speziell für uns Menschen ist nicht nur darin zu sehen, dass die Zeit eine genügend große Ausdehnung im Universum besitzen musste, um uns hervorzubringen, sondern mit ihr werfen wir die Frage nach dem Anfang und dem Ende des Lebens auf. Wir leben nicht in einem ewigen, unveränderlichen Kosmos, der immer so beschaffen war und ewig so weiter existieren wird, wie wir ihn gerade sehen. Wir leben in einem jungen Universum, dessen Reifungsprozess wir mit der Hilfe unserer Teleskope und Antennen fast bis an den Anfang der Zeit zurückverfolgen können. Zu allen Zeiten haben sich seit den Anfängen der Hochkulturen Menschen nicht nur gefragt, wie das Universum begann, sondern auch, ob es endlich oder unendlich ist. Dass der Anbeginn des Universums als Urknall zu beschreiben ist, gilt unter Wissenschaftlern heute als mehr oder weniger unstrittig. Über das Ende gibt es hingegen noch keinen Konsens - lediglich den, dass wir in einem sogenannten „flachen“ Universum leben, welches sich in seiner steten Ausdehnung noch nicht sehr verlangsamt haben kann. Nach Beobachtungen einer Forschergruppe um den Harvard-Astronom Robert Kirshner scheint es sogar im Gegenteil so auszusehen, als beschleunige sich die Expansion des Universums noch. Allerdings müsste es dann so etwas wie eine Antischwerkraft geben. Das Universum zeigt uns einen dramatischen Kampf zwischen Gravitation und Entropie. Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, wie wir uns das Ende des Weltalls vorzustellen können. Das Universum wird „offen“ genannt, wenn sich das Universum immer weiter ausdehnt, wenn also die Fluchtgeschwindigkeit größer oder gleich der dagegenwirkenden a
Der griechische Philosoph und Mystiker Plotin wurde in 205 n. Chr. Lykonpolis in Ägyptengeboren, ging etwa im Jahr 244 nach Rom, wo er 270 n. Chr. starb. Er lehrt das Hervorgehen alles Seienden aus dem Absoluten, das er „das Eine“ nannte. b Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (*1707; †1778) schuf eine binäre Nomenklatur für die Einordnung der Pflanzen mit zwei Namen. Ein Name steht für die Gattung, der folgende Name für die Art. Seine Systematik hat ihre Gültigkeit bis heute erhalten.
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Massenanziehungskraft ist. In diesem Fall würde das Universum sich immer weiter ausdehnen und ewig weiter bestehen. Zunächst eine tröstliche Idee, aber leider nur im ersten Anschein. Ein „geschlossenes“ Universum dehnt sich dagegen nur bis auf eine gewisse Größe aus und fällt dann wieder unter dem Sog der Schwerkraft in sich zusammen. „flach“ nennt man ein Universum, wenn beide gegensätzlichen Kräfte annähernd gleichstark sind oder sich exakt entsprechen, weil dann der Graph dieser Beziehung einen parallel zur X-Achse verlaufenden Weg einschlägt (Abbildung 6).
Abbildung 6: Die möglichen Entwicklungen des Universums.
Nach dem Standardmodell der Kosmologie wird das Universum noch mindestens 100 Milliarden Jahre Eigenzeit währen, wenn es geschlossen ist, d. h. wenn es sich nach einer Zeit der Ausdehnung wieder zusammenzieht. Wenn das Universum offen ist, also sich immer weiter ausdehnt, wird der Kosmos buchstäblich ewig existieren. Wir leben so oder so in der Frühzeit des Universums, der größte Teil der Raumzeit liegt noch vor uns. Und wenn wir als intelligente Wesen schon so früh im Kosmos evolviert wurden, so ist es bei der ungeheuren Zeit, die der Kosmos noch vor sich hat mehr als plausibel, dass noch weit komplexere Lebensformen als der Mensch entstehen werden. Unter der Annahme eines geschlossenen Universums können wir die Möglichkeit eines pulsierenden Universums in Betracht ziehen. Nach dieser Idee schließt sich an den Big Chrunch ein nächster Urknall an (Abbildung 7). Solche Zeitkreise, in denen das Ende zugleich den Anfang einer neuen Welt darstellt, lösen das Problem des Anbeginns und des Endes der Welt auf elegante Weise: Es gibt einfach keinen Anfang und kein Ende. Der Preis aber ist, dass dieses Modell eines ewigen Universums keine Entwicklung zum Höheren zulässt. Es gibt keinen wirklichen Fortschritt, nur Höhen und Tiefen wie auf einem Meer die Wellenkämme und -täler.
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Abbildung 7: Zyklisches Universum unter der Bedingung, dass das Universum geschlossen ist. Die Wissenschaftler vermuten dann, dass der Wärmegehalt des Universums mit jedem Zyklus zunehmen würde. Dies hätte Auswirkungen auf die Expansionsdauer und die maximale Größe des jeweiligen Universums.42
Unter Naturwissenschaftlern gab es viele Befürworter für die ewige Wiederkehr der Ereignissen: Einer der großen Geologen J. Hutton des 18. Jahrhunderts formulierte dies in seiner „Theory of the Earth“ 1795 so: Diskordanzena sind der unmittelbare Beweis dafür, dass die Geschichte unserer Erde mehrere Zyklen von Ablagerungen und Erhebungen umfasst: [...] keine Spur eines Anfangs, kein Anzeichen eines Endes [...]43 Ein weiterer Nachteil dieser Theorie ist, dass die Energie des Urknalls bei jedem neuen Anfang des Universums höher läge, als beim Mal davor. Damit aber würden sich die Bedingungen in jedem Kreislauf erheblich verändern. Lebewesen wie wir bekämen wahrscheinlich kein weiteres Mal die Chance, in einem anderen dieser Zyklen zu entstehen. Der ewige Tod Um 1860 herum machten Forscher eine der deprimierendsten Voraussagen in der Geschichte der Naturwissenschaften: Sie sagten voraus, dass das Universum einem ewigen Tod entgegenstrebt. Aus dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ergab sich nämlich, dass sich das Universum in einen Zustand überall gleicher Temperatur verwandeln würde, in dem nichts Nützliches mehr geschehen könne. Da die stete Expansion des Weltalls damals noch nicht bekannt war, gingen die Wissenschaftler von einer allmählichen Erwärmung aus, weil die Sonnen im Kosmos immer mehr Wärme in den damals als endlich groß erachteten Weltraum abgeben würden. Folglich würde das Universum einen Hitzetod erleiden. Schon George Louis Buffonb stellt, im Gegensatz zu dieser Voraussage, die Abkühlung unseres Planeten und seinen Verlust an Wärme als einen kontinuierlich fortschreiten Prozess dar. Er würde seine Grenze erst in der Auslöschung allen Lebens und aller Bewegungen auf der ganzen Oberfläche und überall im Inneren der Erde finden.44 a
Unter einer Diskordanz verstehen die Geowissenschaftler eine spezielle Lagerung von Gesteinsschichten, welche sich durch tektonische Bewegungen der Erdoberfläche gegeneinander verstellt haben. b Der französische Naturforscher George Louis Buffon (*1707; †1788) war einer der ersten Autoren der Neuzeit, die sich in ihren naturgeschichtlichen Darstellungen über Biologie und Geologie der Erde nicht mehr auf die Bibel beriefen.
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Die Voraussagen von George Louis Buffon haben unter der Voraussetzung, dass sich das Universum auf ewig ausdehnen wird auch heute noch im Prinzip ihre Gültigkeit. Wir wissen heute, dass ein „offenes“ Universum sich immer weiter abkühlen wird, bis sich quasi kein Atom mehr regt. Alles Gas in den Galaxien würde von den Resten erloschener Sterne eingefangen werden - von ausgekühlten weißen Zwergsternen, von Neutronensternen und von Schwarzen Löchern. Dann würde der Himmel dunkler und dunkler werden, weil sich alles voneinander entfernt und die Sterne erlöschen. Auf die Dauer würden nur Schwarze Löcher überleben, falls sich bewahrheitet, dass Protonen nicht stabil sind, sondern nach sehr sehr langer Zeit zerfallen. Schließlich würden auch die Schwarzen Löcher verdampfen und das Universum ewig, in völliger Struktur- und damit Sinnlosigkeit weiter existieren. Das Leben im Universum aber bliebe beschränkt auf eine kurze Zeitspanne vom ersten Leuchten der Sterne bis zu ihrem Verglühen. Irgendwann würde die letzte Glühbirne verlöschen und das „Haus der Menschheit“ wäre endgültig in Dunkelheit und Kälte erstarrt - das Universum wäre tot für ewige Zeiten. Das Deprimierende an dieser Aussage ist, dass wahrscheinlich jede Anstrengung umsonst wäre. Dem höher entwickelten Leben im Universum wäre nur ein kurzes Intermezzo im ewig währenden Universum beschieden und es wäre ohne Hoffnung zum Untergang verdammt. Spätestens an dieser Stelle kann man Frank Tipler verstehen, wenn er als Begründung für seine Teleologie des Kosmos, derzufolge solche klirrenden Eiswüsten als mögliche Entwicklungen des Universums ausgeschlossen sind, auf die hoffnungsfrohe Schönheit eines ewig belebten Kosmos hinweist.
2.6
Über die Möglichkeit ewigen Lebens
In diesem Buch gehe ich, im Einklang mit der Omega-Punkt-Theorie von Frank Tipler davon aus, dass wir in einem geschlossenen Universum leben, dass das Universum nach einer Zeit der Ausdehnung wieder in sich zusammenfallen wird. Dies ist zur Zeit nicht unbedingt die mehrheitliche Meinung unter den Kosmologen. Denn nach ihrer Bestandsaufnahme verfügt das Universum bei weitem nicht über so viel Masse, dass es wieder zu einer Kontraktion kommen könnte. Bisher ist aber nur von einem kleinen Betrag der Gesamtmasse im Universum, der sichtbaren Materie, bekannt, woraus sie besteht: Sie besteht überwiegend aus Baryonen, also aus Protonen und Neutronen.a Von mindestens 90 Prozent der Masse oder Energie, die das Universum enthalten muss, weiß man nicht einmal, woraus sie bestehen. Man weiß nur über Indizien, dass es sie gibt. Messungen der Verteilung der kosmischen Hintergrundstrahlung mit dem Microwave Anisotropy Telescope (MAT) in den chilenischen Anden haben 1999 einen Beweis geliefert, dass das Universum tatsächlich flach ist. Es steht sozusagen auf der Kippe, es enthält genau soviel Masse bzw. Energie, dass es sich immer weiter ausdehnen wird, diese a
Negativ geladene Elektronen gibt es zwar genau so viele, wie es positiv geladene Protonen im Universum gibt, denn die Ladungszahl des Universums ist Null. Aber sie haben nur ungefähr ein Zweitausendstel des Gewichtes eines Protons oder Neutrons und können daher bei der Berechnung der Masse des Universums vernachlässigt werden.
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Ausdehnung sich aber stetig verlangsamt. Ob buchstäblich eine Handvoll Materie zuviel vorhanden ist, und das Universum schließlich zusammenstürzen wird, oder ob genau diese Handvoll fehlt, und es sich ewig ausdehnen wird, darüber können die Forscher bisher bestenfalls spekulieren. Noch aus einem andern Grund geht die Mehrheit der Forscher von einem offenen Universum aus. Nach neuen Beobachtungen verringert sich Geschwindigkeit, mit der sich das Universum ausdehnt, nicht etwa, sondern erhöht sich eher noch. Das setzt eine „Antischwerkraft“ voraus, die für diese Beschleunigung sorgen könnte. Aber wie diese neue Kraft beschaffen sein sollte, weiß so recht noch niemand. Die Frage, ob das Universum endlich oder unendlich ist, gehört zu den ältesten der Philosophie - und sie ist keineswegs schon zugunsten der Unendlichkeit entschieden, wie manche Bücher glauben lassen, weil in ihnen ein unzulässiger Schluss aus der Allgemeinen Relativitätstheorie gezogen wird45, behaupten Jean-Pierre Luminet und seine Mitautoren. Denn die Relativitätstheorie ist eine rein lokale Theorie und weder sie noch die üblichen kosmologischen Beobachtungen geben einen Hinweis darauf, wie sich die beobachteten Einzelteile zu einer Gesamtgestalt, einer Topologie, des Universums zusammenfügen. In unseren Köpfen tragen wir vermutlich alle die Vorstellung von einem kugelförmigen Gebilde, einer sich ausdehnenden Blase mit uns herum. Aber es existiert zum Beispiel eine große Anzahl von Schwarzen Löchern und diese Löcher stellen mathematisch betrachtet Singularitäten im Raum da. Es sind physikalisch nicht definierbare Orte, wie auch der Kosmos als solcher beim Urknall eine Singularität darstellte. Wie einfach auch immer die sonstige räumliche Struktur des Universums aussieht, Schwarze Löcher machen unser Universum zu einem für uns in seinen Konsequenzen noch nicht zu überschauenden geheimnisvollen Ort. Allein vom Gefühl her und wegen ihrer Eleganz würde wohl die große Mehrheit der Forscher die Theorie eines geschlossenen Universums bevorzugen. Ich stütze mich hier auf diese Annahme, weil sie außerdem die Möglichkeit beinhaltet, über ewige Existenz zu spekulieren. Ein geschlossenes Universum bietet nach unserem heutigen Wissensstand eine plausible Chance, dass die sogenannte „Eigenzeita“ dieses Kosmos ins Unendliche divergiert und damit einen Weg zur ewigen Existenz von Leben eröffnet. Allerdings ist damit nicht ausgeschlossen, dass auch Theorien entwickelt werden könnten möglicherweise auf der Grundlage der Entdeckung der sogenannten „Dunklen Materie“, oder auf der Grundlage einer Antischwerkraft - nach denen auch ein offenes Universum dem Leben die Möglichkeit bietet, auf ewig weiter zu existieren. Eine originelle Theorie dazu, die außerdem die Feinabstimmung der Naturkonstanten erklärt, publizierte Lee a
Raum und Zeit existieren nach der Relativitätstheorie von Albert Einstein nicht unabhängig voneinander und es existiert kein absolutes Zeitsystem. In einem Raumschiff, dass von der Erde startet und mit fast Lichtgeschwindigkeit zu einem Stern und zurück fliegen würde, würde die Zeit langsamer vergehen, als bei uns auf der Erde. Hätten sich Zwillinge getrennt, einer wäre mit dem Raumschiff geflogen, der andere auf der Erde geblieben, so wären sie hinterher unterschiedlich alt. Derjenige, der im schnellen Raumschiff unterwegs gewesen war, wäre erheblich jünger geblieben.
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Smolin. Er behauptet, dass bei der Implosion von Sonnen zu Schwarzen Löchern jedes Mal ein neues Universum entstünde. Schwarze Löcher wären in Wirklichkeit die Außenseiten anderer Universen. Diese Annahme bedeutet nichts anderes, als dass laufend und in ungeheurerer Zahl neue Universen entstünden. Elegant ist dabei seine Überlegung zu den Naturkonstanten: Für Schwarze Löcher postuliert Lee Smolin das Darwinsche Prinzip der Selektion. Die Naturkonstanten können in jedem Schwarzen Loch zu anderen Werten mutieren! Aber, diejenigen neuen Universen, in denen sich besonders viele neue Schwarze Löcher bilden können, haben einen Selektionsvorsprung. Entwickelt sich ein Universum mit Naturkonstanten, die die Bildung von Schwarzen Löchern erst gar nicht zulassen, weil beispielsweise die Gravitationskonstante zu klein ist, wird sich dieses Universum gewissermaßen nicht fortpflanzen. Andersherum wird dasjenige Universum, das besonders dafür feinabgestimmt ist, viele Schwarze Löcher zu produzieren, eine große Zahl an ähnlichen Universen hervorbringen. Dies sind aber genau die Universen mit besonders vielen Sternen, also Universen mit den besten Voraussetzungen dafür, dass dort auch Lebewesen entstehen können.46 Diese Theorie würde die Frage nach der Vergänglichkeit der Existenz von Leben von der Entwicklung unseres beobachtbaren Universums gänzlich abkoppeln. Bemerkenswert ist nebenbei, dass sich damit der Evolutionsbegriff auf das Universum selbst ausdehnen lässt. Wenn Universen neue Universen hervorbringen, sind Begriffe wie Vererbung und Mutation sowie die natürliche Auslese im Rahmen einer physikalischen Theorie anwendbar. Und die Gesetze der Evolution ständen damit, wie scheinbar auch die Gesetze der Physik, außerhalb unseres Kosmos als grundlegendes Prinzip zur Verfügung. Mir geht es in diesem Buch um die prinzipielle Möglichkeit, mit rationalen Mitteln, mit dem Werkzeug der Naturwissenschaften, transzendente Fragestellungen auszuleuchten. Mit einem geschlossenen Universum hätten wir, wie ich aufzeigen werde, eine vorstellbare und physikalisch plausible Möglichkeit, die Frank Tiplers Postulat vom „ewigen Leben im Kosmos“ erfüllt. Das besagt weder, dass das Universum wirklich geschlossen sein muss, noch, dass die hier vertretenen Aussagen „wahr“ sind. Es handelt sich um eine Theorie, und Theorien werden durch weitere Forschungen entweder bestätigt oder aber widerlegt und durch etwas Besseres ersetzt. Ein etwas vorschneller Witzbold hatte pünktlich zum Ausklang des 20. Jahrhunderts das Ende der Physik postuliert, weil seiner Ansicht nach bereits alles mehr oder weniger entdeckt und durch Theorien abgesichert ist. Hier ein paar Einschränkungen dazu, die gleichzeitig belegen, dass die Entwicklung unseres Kosmos physikalisch betrachtet noch sehr im Dunklen liegt: Wir wissen nicht, was vor dem Urknall war oder was zum Urknall führte und nicht, warum er die Naturkonstanten in der beobachteten Form hervorbrachte. Zwischen den beiden Haupttheorien der Physik, der Relativitätstheorie und der Quantentheorie klafft eine theoretische Lücke, die noch nicht geschlossen werden konnte die Theorien passen noch nicht zusammen. Wir kennen weder den Hauptteil der Materie im Universum noch den Hauptteil der Energie, wir kennen überhaupt vermutlich nur 4 Prozent des Inhalts des Universums. Um Galaxien entstehen zu lassen, müssen kurz nach dem Urknall Dinge passiert sein, die heute im Rahmen einer Inflationstheorie 56
diskutiert werden: Das Universum dehnte sich danach in sehr kurzer Zeit sehr stark aus. Für diese Theorie gibt es keinen direkten Beweis und sie erfordert weitreichende Veränderungen im Theoriegebäude der Physik. Nach neueren Messungen dehnt sich das Universum mit der Zeit immer schneller aus und daher brauchen die Physiker etwas wie eine negative Gravitation. Man vermutet eine sogenannte Quintessenza die dahinter stecken könnte, weiß aber noch nichts Genaues darüber. Man hat unerklärlich viele Elementarteilchen und noch unerklärlichere Naturkonstanten. Dieses Manko möchte man mit der String-Theorie beheben, die aber erst mit 10-11 Dimensionen funktioniert. Wir würden demnach auch die Mehrzahl der Dimensionen des Kosmos nicht kennen, in denen wir leben. Kurz, auf der Baustelle Physik herrscht große Betriebsamkeit, das Fundament erscheint uns sehr solide, aber das errichtete Gebäude ist erst in sehr groben Umrissen erkennbar. Phasenraum Ich halte es für legitim, von der Annahme eines geschlossenen Universums auszugehen, auch, weil eine Theologie auf der Grundlage der Physik letztlich erst vollständig entwickelt werden kann, wenn unser Verständnis der Physik vollständig ist. Und danach sieht es im Moment nicht aus. Betrachten wir also die Konsequenz eines geschlossenen Universums in Hinsicht auf das Überleben im Kosmos. Wir haben es hier zunächst mit einem offensichtlichen Widerspruch zu tun: Wenn das Universum nach endlicher Zeit aufhört zu existieren, kann auch nichts im Inneren endlos lange leben. Frank Tipler findet einen mathematisch beweisbaren trickreichen Weg, damit sich dieser Widerspruch zugunsten seines Postulates löst. Dafür müssen wir uns damit beschäftigen, wie die Geschichte eines beliebigen Teilchens im Universum verläuft. Betrachtet man in einem einfachen physikalischen System ein Teilchen ohne weitere Eigenschaften, kann man seinen Ort und die Veränderung seiner Lage im Raum mit sechs Zahlen beschreiben. Stellen Sie sich einen Ball vor, der gerade von Ihnen geworfen wurde. Seine Flugbahn ist im Idealfall durch seinen Abflugpunkt und seinen mitgegebenen Impuls eindeutig festgelegt. Der Aufenthaltsort eines Teilchens im Raum lässt sich also durch die drei Raumdimensionen eindeutig einmessen, zum Beispiel: Wie weit vor mir (x), wie weit rechts von mir (y), wie weit über mir (z). Dieser Aufenthaltsort wird Konfigurationsraum genannt. Aus gewissen physikalischen Gründen beschreibt man den Ortswechsel mit dem Impuls des Teilchens, der sich aus seiner Masse mal Geschwindigkeit (Geschwindigkeit = Weg/Zeit) berechnen lässt: (Impuls = Masse * Weg/Zeit). Auch dieser sogenannte Impulsraum wird mit drei Zahlen beschrieben, nämlich mit dem Weg (1), der pro Zeit (2) von einer bestimmten Masse (3) zurückgelegt wird. Man kann sich diese drei Zahlen (W,Z,M) ebenfalls als Dimensionen vorstellen, so dass der sogenannte
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Der Begriff stammt aus der Naturphilosophie der Antike und bezeichnet auf lateinisch die „fünfte Substanz“ neben den vier Elementen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Sie füllte nach der antiken Philosophie den Raum zwischen den Himmelskörpern und der Erde und verhinderte so, dass Sonne, Mond und Sterne auf die Erde fielen.
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Zustandsraum (oder Phasenraum) eines Teilchens, sein Zustand zu jedem Augenblick mit sechs Dimensionen vollständig beschrieben ist: Wo ist das Teilchen (x,y,z), und wohin ist es unterwegs (W,Z,M)? Phasenraum = Konfigurationsraum + Impulsraum = (x,y,z) + (W,Z,M) Das hört sich kompliziert an. Es steckt aber nicht mehr dahinter als der Umstand, dass ich die Flugbahn eines Balls berechnen kann, wenn ich den Abwurfpunkt, seine Geschwindigkeit und seine Masse kenne. Die Masse ist für die zukünftige Geschichte des Balls deshalb entscheidend, weil davon abhängt, wie der Ball seine Flugbahn ändert, wenn er zum Beispiel mit etwas zusammenstößt: Trifft eine Eisenkugel auf eine Mauer, so bohrt sie sich vielleicht in das Gestein, ein Tennisball wird der Mauer nichts anhaben können und zurückspringen. Der Phasenraum hat eine zeitliche Dimension. Die Flugbahn eines Teilchens im Phasenraum ist die Geschichte seiner einzelnen Zustände, also seiner Aufenthaltsorte und seines Impulses zu jedem einzelnen Zeitpunkt und man kann ein Teilchen theoretisch von Beginn an, dass heißt vom Urknall bis zum Ende des Universums verfolgen (Abbildung 8). Die Geschichte (Flugbahn) eines solchen Teilchens wird Weltenlinie genannt. Es ist die gesamte Linie, die es in dieser Welt durchläuft, und diese kann auf der Ebene der Quantenmechanik durch eine Wellenfunktion beschrieben werden. Abbildung 8: Die vertikale Achse stellt die Zeit, die horizontale eine Richtung (von dreien) im Raum dar. Die Dimensionen sind zum Beispiel Jahre (zeitlicher Abstand) gegen Lichtjahre (räumliche Entfernung). Ein Photon, dass mit Lichtgeschwindigkeit fliegt, bewegt sich in diesem Diagramm auf der Geraden mit dem Winkel von 45°. Alle Teilchen im Universum, die langsamer sind, beschreiben Weltenlinien, die oberhalb dieser Geraden verlaufen. Da diese Teilchen im Gegensatz zum Lichtteilchen mal schneller, mal langsamer unterwegs sein können, entstehen dabei in dieser Abbildung auch keine Geraden.47
Jedes einzelne Teilchen im Universum reist auf so einer Weltenlinie, die alle Punkte der Positionen des Teilchens in Raum und Zeit miteinander verbindet. Schneiden sich zwei oder mehr Weltenlinien, findet ein Ereignis statt. (Tennisball trifft auf Mauer und ändert seine Flugbahn.) Schneidet die Weltenlinie eines Teilchens niemals die Weltenlinie eines anderen Teilchens, so geschieht mit diesem Teilchen absolut nichts, und es ist weder wichtig noch möglich, den Ort dieses Teilchens zu irgendeinem Zeitpunkt zu bestimmen. Dass es nicht einmal möglich ist, den Ort eines solchen Teilchens zu bestimmen ist eine 58
Folgerung aus der Quantenphysik, nach der ein Beobachter die Weltenlinie eines Teilchens beeinflussen muss, wenn er den Aufenthaltsort des Teilchens messen will. Das ist leicht einzusehen: Will ich registrieren, wo ein Teilchen A ist, muss zum Beispiel ein Lichtteilchen zum Teilchen A fliegen, dort vom Teilchen A reflektiert werden und dann von meiner Messapparatur registriert werden. Dabei kreuzen sich aber die Wege des Teilchens A und des Lichtteilchens und Teilchen A wird dabei beeinflusst.a Besucher auf der Pferderennbahn haben ein ähnliches Problem beim Wetten: Die sogenannte Quote bezeichnet den Gewinn, der auf das eingesetzte Geld ausgezahlt wird, wenn mein Pferd siegt. Die Quote richtet sich aber danach, wie viel Geld insgesamt auf das Pferd gesetzt wurde. Je mehr Menschen auf das Pferd setzen, desto schlechter wird die Quote. Ich verändere die Quote zwangsläufig, und das sogar zu meinem Nachteil, sobald ich Geld auf ein Pferd setze: Ich kann nicht wetten, ohne die Wette zu beeinflussen. Schrödingers Katze Teilchen benehmen sich recht sonderlich, wenn sie nur genügend klein sind und die Teilchen der Meinung sind, dass sie niemand beobachtet. Auf der Größenskala der atomaren Teilchen und darunter herrschen die wunderlichen Gesetzmäßigkeiten der Quantenmechanik. Diese Theorie vermag das Geschehen im Allerkleinsten lediglich als Wahrscheinlichkeiten zu beschreiben. Wenn wir ein Elementarteilchen durch Raum und Zeit verfolgen wollen, um seine Geschichte beschreiben zu können, müssen wir uns auch kurz mit den Interpretationen beschäftigen, mit denen die Wissenschaftler das seltsame Verhalten der kleinsten Teilchen zu erklären suchen. Es ist den Atomphysikern nicht möglich, vorauszusagen, wann ein einzelnes radioaktives Teilchen zerfällt. Nehmen wir an, der Kernstoff, aus dem wir ein Atom entnehmen wollen, hat eine Halbwertzeit von einer Stunde. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Atom innerhalb dieser Stunde oder aber danach zerfällt, ist fiffty:fiffty. Der österreichische Physiker Erwin Schrödingerb stellte dazu ein Gedankenexperiment an, das eine verblüffende Interpretation erfuhr. Schrödinger steckte eine Katze in eine Kiste,c und koppelte an ein radioaktives Atom eine Tötungsmaschinerie. Die Tötungsmaschine würde ausgelöst werden, sobald das Atom zerfällt und würde die Katze in der Kiste a
Man kann diese zwangsläufige Beeinflussung eines Experiments durch den Wissenschaftler auch mit einem Beispiel aus der Anthropologie verdeutlichen. Matthias Matussek beschreibt das so: Anthropologen „wollen den Wilden, den unberührten Stamm, um ihm die Geheimnisse von Beginn der menschlichen Entwicklung abzulauschen [....]. Doch bereits der erste Kontakt kontaminiert und verfälscht die Ergebnisse, ist sozusagen der Sündenfall.“ Matussek 2001, S. 259. b Erwin Schrödinger, 1887 in Wien geboren, wurde vor allem für seine Katze berühmt, die in seinem Gedankenexperiment zur Unbestimmtheit der Quantenmechanik vorkommt. Er stellte aber auch die nach ihm benannten Gleichungen zur Wellenmechanik auf und erhielt 1933 den Nobelpreis für seine Beiträge zu den Grundlagen der Quantenmechanik. Er starb 1961. c Für alle Tierschützer sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich hier um ein Gedankenexperiment handelte, also keine wirkliche Katze in eine wirkliche Kiste gesteckt wurde, damit sie darin in einer der möglichen Welten wirklich umkam!
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umbringen. Alle Beobachter verließen den Raum. Nach einer Stunde kehrte man zurück. War das Atom zerfallen und die Katze tot oder nicht? Man guckte nach, das Atom gehörte Gott sei Dank zur langlebigeren Sorte und man fand die Katze quietschlebendig und nur ein bisschen vergrätzt, weil man sie in eine Kiste gesperrt hatte. Die Physiker haben sich lange darüber den Kopf zerbrochen und tun dies auch heute noch, wie das Experiment zu interpretieren ist: Denn, solange die Kiste zu bleibt, schwebt die Katze gewissermaßen in einem Zwischenzustand, sie ist sowohl tot wie auch lebendig. Denn, solange man nicht weiß, ob das Atom zerfallen ist oder nicht, nimmt das Atom eine Art Überzustand, Superposition genannt, ein: Es ist sowohl zerfallen wie auch ganz und dies gleichzeitig. Es verharrt in einem Zustand, der in der klassischen Physik niemals existieren dürfte. Mit trickreichen Versuchsanordnungen haben die Physiker es tatsächlich geschafft, diesen Zustand der Superposition nachzuweisen! Solange niemand hinguckt, verharren Quantensysteme gleichzeitig in verschiedenen Zuständen. Man hat sogar schon Systeme aus Milliarden Elektronen48 dazu gebracht, in so einem verrückten Zustand zu verharren. Diese Überlagerung mehrerer sich ausschließender Zustände bleibt jedoch nur solange „existent“, solange es den Experimentatoren gelingt, das System vollständig von seiner Umgebung zu isolieren. Einer der Folgerungen daraus ist: Der Zustand eines Quantensystems ist unauflöslich mit einem Beobachter verknüpft! Da die Katze von einem Atomzustand abhängt, existiert sie - solange niemand die Kiste öffnet - ebenfalls quasi in zwei Welten - in der einen ist das Atom zerfallen und die Katze tot, in der anderen ist die Katze noch lebendig, weil der Atomkern noch nicht geplatzt ist. Sobald aber die Kiste aufgemacht wird und ersichtlich wird, in welchem Zustand sich die Katze befindet, trennen sich diese beiden Geschichten. Die Geschichte „lebende Katze“ wird Teil der einen Welt, die Geschichte „Katze tot“ wird Teil einer anderen, parallel existierenden Welt. An dieser Stelle gabeln sich die Weltenlinien eines Quantums. Wenn wir es verfolgen wollen, müssen wir uns an solchen Stellen immer entscheiden, welchem der beiden Wege wir hinterhergehen. Diese Vielwelten-Interpretation ist nicht unumstritten. Aber sie ist eine der besten Erklärungen für das Phänomen, dass sich Quanten erst in dem Augenblick für einen bestimmten Zustand entscheiden, in dem sie beobachtet werden. Vorher verharren sie offensichtlich in Superposition, wo sie alle Möglichkeiten gleichzeitig repräsentieren. Und so absurd uns die unvorstellbar große Zahl an Parallelwelten auch vorkommt, so ist sie doch auch Teil unserer eigenen Erfahrung: Jeder von uns lebt aufgrund seiner ganz persönlichen Lerngeschichte und seiner ganz persönlichen Art, die Welt zu verstehen und zu begreifen, in einer ganz eigenen Welt. Eine Welt in der nur er sich auskennt, in die kein anderer umfassend Einblick nehmen kann. Sie können sich das ungefähr so vorstellen, als würden Sie Lotto spielen. Solange die Zahlen noch nicht gezogen sind, sind die Zahlen auf Ihrem Lottoschein eine der Kombinationen, die gezogen werden könnten. Ihr Lottoschein befindet sich in einer Superposition mit 14 Millionen anderen Möglichkeiten. Dann fällt eine Kugel nach der anderen aus der Maschine, und Sie beobachten, dass es nicht die Kugeln mit den Zahlen sind, die Sie auf Ihrem Schein angekreuzt haben. In diesem Augenblick werden Sie 60
wahrscheinlich in eine Welt versetzt, in der Sie kein Lottomillionär sind. Nach der Vielwelten-Interpretation gibt es in diesem Augenblick 14 Millionen Parallelwelten, und in einer davon haben Sie die richtigen Zahlen getippt. Nun postulieren wir, dass Sie in einem Kosmos leben, in dem Sie Lottogewinner sind. (Ein Postulat mit einem gewissen Charme, wie Sie zugeben müssen.). Wir erklären alle 14 Millionen Parallelwelten als unzulässig, und Sie können mit Gewissheit den Lottogewinn einpacken. Und genau so rigoros setzt auch das Postulat von Frank Tipler einer Auswahl von Welten enge Grenzen. Das Postulat lässt nämlich nur die Weltenlinien zu, in denen die Teilchen in einer Welt verbleiben, in der das Leben bis zum Ende des Universums existieren kann. Es ist ein Universum, in dem mindestens eine Katze solange am Leben bleibt bis sie Nachkommen gezeugt hat, die wieder Nachkommen zeugen und auch die wieder usw. bis ans Ende aller Tage. Dieses Ende würde allerdings dank des Eingreifens der von Frank Tipler postulierten Gottheit nicht eintreten. Stellen Sie sich ein Labyrinth vor und gehen Sie eine Weile darin herum, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Nehmen Sie nun an, der Weg, der aus dem Labyrinth führt, ist derjenige, der bis an das Ende des Universums reicht, und Sie stehen im Augenblick ein bisschen entfernt vom Urknall. Nun reisen Sie durch Raum und Zeit und plötzlich kommen Sie nicht mehr weiter, Sie haben den falschen Weg gewählt. In diesem toten Zweig des Labyrinths kommen Sie nicht bis an das Ende der Zeit. Vielleicht ist Ihnen der Rückweg versperrt, und Sie müssen, schon lange bevor Sie das Ende des Universums erreicht haben, verhungern und verdursten. Das Postulat von Tipler sperrt nun genau diese toten Zweige des Labyrinths und lässt Ihnen nur die Wege offen, die direkt ans Ende des Universums führen. Sie wandern also durch Raum und Zeit und gelangen schließlich zeitgleich mit dem Ende des Universums zum Ausgang. Stellen Sie sich jetzt noch zum Schluss vor, nicht Sie, sondern die durch die Evolution hervorgebrachte Ahnenreihe besteht dieses Abenteuer. Nur Welten, in denen mindestens eine Ahnenreihe nie erlischt, sind nach Tiplers Postulat zulässig. Als Omega-Punkt bezeichnet Tipler nun den Punkt, zu dem alle Weltenlinien führen, die seinem Postulat entsprechen. Die Gesamtheit dieser Weltenlinien, also die Geschichte aller Teilchen des Universums durch Raum und Zeit repräsentiert dabei die Gesamtheit der im Universum befindlichen Informationen. Unendlichkeit Betrachten wir einen normalen dreidimensionalen Raum. Dieser ist offensichtlich endlich groß, wenn man in allen drei Richtungen an eine Wand stößt. Ihr Zimmer, in dem sie sicherlich jetzt gerade sitzen, ist ein Beispiel dafür. Wie sieht dagegen ein unendlich großer Raum aus? Nun, es muss lediglich eine der drei Raumkoordinaten eine unendliche Ausdehnung haben, um einen unendlich großen Raum zu erzeugen: Sie hätten dann eine Röhre, durch die sie vielleicht nur geduckt kriechen könnten, aber Sie würden nie das Licht am Ende des Tunnels sehen können. Man kann sich fragen, wie man sich die Konstruktion eines solchen Raumes vorstellen könnte. Eine einfache Möglichkeit wäre diese: Stellen Sie sich vor, sie kriechen mit 1 km/h durch eine Röhre und sind hoffnungsfroh, bald das Licht am Ende zu erblicken. Was Sie nicht wissen ist, dass 61
jemand ständig an diesem Tunnel weiterbaut. Und zwar fügt der Baumeister 2 km Röhre pro Stunde an das Ende, auf das Sie zukriechen. Es ist gemein, aber Sie haben keinerlei Chance, je aus diesem Tunnel zu entkommen, weil die Röhre schneller länger wird, als Sie kriechen können. Ich hoffe, sie haben bei diesem Beispiel keine klaustrophobischen Gefühle entwickelt, aber ich wollte klarstellen, dass es reicht, eine der drei Raumrichtungen unendlich auszudehnen, um als Resultat einen unendlich großen dreidimensionalen Raum zu erhalten. Allgemein ist für jedes beliebige physikalische System der gesamte Phasenraum ausschlaggebend und nicht allein der Ort. Dies gilt für alle Materieteilchen im Universum. Ein Phasenraum hat eine endliche Ausdehnung, wenn sowohl der Konfigurationsraum, also der Aufenthaltsort (x,y,z), in dem sich das Teilchen bewegen kann, wie auch sein Impulsraum (W,Z,M), also seine Masse mal Geschwindigkeit, endlich groß sind. Ein Phasenraum kann unendlich sein - bei endlicher Raumausdehnung - wenn der Impuls oder anders gesagt die Energie gegen unendlich konvergiert. Dies ist der physikalisch beweisbare Trick: Obwohl das geschlossene Universum von der räumlichen Ausdehnung her nicht unendlich groß ist, ja gegen Ende seiner Existenz sogar gegen Null schrumpft, kann sein Inhalt, genauer, seine enthaltene Energie unendlich groß werden - der Impulsraum kann gegen Unendlich konvergieren und eine Dimension dieses Impulsraums ist die Zeit. Angenommen, das Universum ist geschlossen, es dehnt sich für eine Weile aus und kollabiert dann wieder. Frank Tipler zeigt die Möglichkeit auf, wie der Raum dann zwar gegen Null konvergiert, aber die Energie in dem kollabierenden Universum noch sehr viel schneller anwächst, als der Raum schrumpft. Insgesamt beweist er, dass der Phasenraum gegen Unendlich konvergiert. Übersetzt aus der Physik bedeutet dies nichts anderes, als dass in einem kollabierenden Universum die Zeit, die ein Teilchen in diesem Universum verbringen kann, also seine Eigenzeit, unendlich lang wird, obwohl das Universum irgendwann zu einem Punkt zusammenstürzt. Obwohl das Universum nur endlich lange existieren wird, kann ein Teilchen im Universum eine unendlich lange Weltenlinie zurücklegen - ewig existieren. Achilles und die Schildkröte Betrachten wir einen Klassiker der Leichtathletik - das Rennen von Achilles gegen die Schildkröte (10 000 Meter-Lauf), wobei Achilles das zusammenstürzende Universum darstellt und die Schildkröte eine Weltenlinie in diesem Universum. Die Schildkröte erhält großzügig von Achilles 1 000 Meter Vorsprung, und dann geht das Rennen los. Achilles fliegt heran, aber wenn er bei der 1 000 Metermarke angelangt ist, ist die Schildkröte immerhin 100 Meter weitergekommen. Achilles legt diese 100 Meter auch zurück, aber wieder ist die Schildkröte vorausgeeilt, wenn auch nur um 10 Meter. Man sollte meinen, Achilles hätte es jetzt wirklich leicht. Aber immer, wenn er den Punkt erreicht, den die Schildkröte noch vor einem Augenblick einnahm, ist die Schildkröte schon wieder ein Stück vorwärts gekommen. In dieser Art betrachtet, kann Achilles die Schildkröte nicht überholen und nicht einmal einholen, obwohl die Strecke, die er zurücklegen müsste
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immer mehr gegen Null schrumpft. Soweit zum Paradoxona des Zenon von Eleab. Natürlich ist es jedem intuitiv klar, dass Achilles die Schildkröte überholen wird. Aber stellen Sie sich jetzt noch vor, dass Achilles ein kleines Handicap hat: Für jede der kleiner werdenden Strecken bräuchte er eine hundertmal längere Zeit, die Eigenzeit von Achilles dehnte sich also, je näher er der Schildkröte käme: Für die ersten 1 000 Meter bräuchte er vielleicht 6 Minuten, für die nächsten 100 Meter dann schon 1 Stunden, für die nächsten 10 Meter 10 Stunden, für 1 Meter 100 Stunden, für 10 Zentimeter 1 000 Stunden, für 1 Zentimeter 10 000 Stunden und immer immer mehr Zeit bräuchte er für eine immer kleiner werdende Wegstrecke. Auf den Zuschauerrängen dieses Leichtathletik-Events würde es so aussehen, als würde der letzte Laufschritt des Achilles, der ihn die Schildkröte überholen ließe, nie zu Ende gehen. Achilles würde regungslos im Sprung verharren, seine Bewegung wäre eingefroren, während die Schildkröte langsam aber stetig vorankriecht. Vielleicht erscheint Ihnen dieser Trick, Achilles so zu handicapen etwas unfair, aber versuchen Sie einmal, schneller als das Licht zu reisen. Im Universum ist bekanntlich nichts schneller als das Licht (außer vielleicht schlechte Nachrichten49, wie Douglas Adams anmerkte, aber die wollen wir hier außen vor lassen). Wenn Sie Ihr Raumschiff immer weiter beschleunigen, so wird der Energiebedarf immer größer, je näher Sie der Lichtgeschwindigkeit kommen. Dies ist eine Folgerung der Relativitätstheorie von Albert Einstein. Der Energiebedarf wächst schließlich gegen unendlich, während Sie der Lichtgeschwindigkeit beliebig nahe kommen, aber Sie werden sie nie exakt erreichen, geschweige, sie übertreffen können. Gleichzeitig dehnt sich dabei für Sie - nach der Relativitätstheorie - die Zeit ins Endlose! Es ist also vorstellbar, dass unter gewissen Umständen das Universum in endlicher Zeit kollabiert, von außen betrachtetc, während im Inneren sein Phasenraum divergiert. Die Eigenzeit des Universums, die Zeit, die existierende Wesen in diesem Universum erleben, wird dabei unbeschränkt lang. Im physikalischen Sinne heißt dies, dass ein Teilchen im Universum eine unendlich lange Weltenlinie besitzen kann. Theologisch bedeutet dies das Folgende: Frank Tipler geht davon aus, dass Gott im Universums existiert. Wenn das Himmelreich Teil des Universums ist, so könnten Gott, die Engel und die Wiederauferstandenen dort ohne Widerspruch zur Physik bis in alle Ewigkeiten existieren. Taub-Kollaps Um den Phasenraum des Universums ins Unendliche divergieren zu lassen, müsste das Universum in der Kontraktionsphase eine Reihe von sogenannten „Taub-Kollapsen“ durchlaufen. Der Mathematiker Abraham Taub wies auf die Möglichkeit hin, dass das a
Ein Paradoxon ist ein offensichtlich widersprüchlicher Schluss, der sich jedoch von gültigen Prämissen ableitet. b Zenon von Elea griechischer Mathematiker und Philosoph, der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte, machte sich mit seiner Philosophie des Paradoxons unsterblich. Aristoteles bezeichnete Zenon als den Schöpfer des dialektischen Denkens. c Allerdings gibt es beim Universum per Definition kein Außen, da das Universum das Allumfassende ist.
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Universum nicht in alle Richtungen (x, y, z) gleich schnell kollabieren muss.50 Es ist möglich, dass es in zwei Raumrichtungen kollabiert, während es in einer Raumrichtung seine Größe beibehält (Abbildung 9). Das würde etwa so aussehen, als würde jemand von oben und unten einen komprimierbaren Ball drücken (Raumrichtung z verkürzt sich) und ein anderer von links und rechts (Raumrichtung x verkürzt sich). Dann bliebe der Ball in der Raumdimension y, also vorne und hinten gleich groß, in den beiden anderen Raumdimensionen x und z, würde er kleiner werden. Das Ergebnis dieser Deformation, auf einen europäischen Fußball angewandt, wäre übrigens ein amerikanischer Football. Abbildung 9: Taubscher Universumkollaps, hier zweidimensional dargestellt: Das Universum kollabiert in der Raumdimension y, während die anderen beiden Richtungen x, z ihre Größe beibehalten (Stadium I). Dadurch entsteht in dem abgeplatteten Ellipsoid ein Energiegefälle, dass das Leben zur Aufrechterhaltung seiner Existenz nutzen kann. Nach einer Weile zieht sich das Universum in einer anderen Richtung zusammen usw. (Stadium II und Stadium III).51
Nach einer Weile könnte das Universum dann in zwei anderen Dimensionen, zum Beispiel y und z schrumpfen, während es in x-Ausdehnung seine Größe unverändert behielte. Den Effekt können Sie sich so vorstellen, als würde jemand einen Tennisball walken. Dabei erwärmt sich der Ball allmählich, das Innere des Balles erhitzt sich. Wenn das Leben im Universum seinem Selbsterhaltungstrieb folgt, wird es genau diese Art von Taub-Kollapsen herbeiführen. Das Besondere bei einem Taub-Kollaps ist nämlich, dass Temperaturunterschiede im Universum entstehen, und dieses Energiegefälle kann sich das Leben zu Nutze machen. Nähert sich das Universum seinem endgültigen Ende, wird es im Inneren des Universums immer heißer. Zusätzlich erhitzt es sich durch die Art, wie es ungleichmäßig kollabiert. Zusammengenommen divergiert die verfügbare Energie gegen Unendlich. Damit divergiert auch der Phasenraum und die mögliche Eigenzeit des Lebens. Zu klären bliebe dann nur noch, wie das Leben in dieser Umwelt überdauern kann, aber auch darauf weiß Frank Tipler eine mögliche Antwort, auf die ich später zurückkommen werde. Auch wenn ich ein Anhänger eines geschlossenen Universums bin, weil es mir irgendwie eleganter vorkommt, so hängt die Theorie von der Möglichkeit ewigen Lebens in unserem Kosmos nicht unbedingt daran, dass es geschlossen ist. Zwei weitere Möglichkeiten gibt
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es mindestens. Die eine sei mit nur einem Satz erwähnt: Das Universum kann in einem seiner Teile kollabieren, obwohl es insgesamt offen ist. Dies könnte bewusst von einer Intelligenz initiiert werden, vielleicht, um ihr das ewige Leben zu garantieren. Die andere Möglichkeit verdient eine etwas längere Ausführung: Der Physiker Freeman Dyson formulierte diese Theorie, sie trägt den Namen Skalierungshypothese. Freeman Dysons Idee beruht auf einem offenen Universum. Weil sich ein offenes Universum immer weiter ausdehnt und es sich dabei auch immer weiter abkühlen muss, würde niemals ein thermodynamisches Gleichgewicht erreicht werden. Zwar würde sich die Durchschnittstemperatur in solch einem Universum immer mehr dem absoluten Nullpunkt annähern, ihn aber nie erreichen können. Freeman Dyson geht nun davon aus, dass die Geschwindigkeit, in der zum Beispiel Informationsverarbeitung in einem Gehirn abläuft von der Umgebungstemperatur abhängt: Ein Organismus, der in einem bestimmten Temperaturbereich lebt, würde schneller denken, als ein Organismus, der bei erheblich kälteren Temperatur gedeihen müsste (Abbildung 10).
Abbildung 10: Die Skalierungshypothese von Freeman Dyson besagt, dass ein Lebewesen in einer doppelt so kalten Umgebung auch doppelt solange für einen Denkprozess benötigen würde. Kelvin ([K] ist die Gradeinteilung, mit der die Physiker in der Regel Temperatur angeben. 273K entsprechen 0C°. Die Zeit ist hier als unterschiedlich lange Linie dargestellt: Je länger die Linie ist, desto länger braucht derselbe Gedanke, um gedacht zu werden.
Und nun haben wir es wieder mit einer Grenzwertbestimmung zu tun. Das Universum würde immer kälter, das Temperaturgefälle würde immer kleiner, aber eben nie ganz verschwinden. Und das, was es im Überfluss hätte, wäre Zeit. In einer sehr fernen Zukunft würde es vielleicht ein paar Milliarden Jahre dauern, den Gedanken zu fassen, mal eben noch ein Bier trinken zu gehen. Aber es wären, verglichen mit der Zeit, die dem Universum zur Verfügung ständen, nur Bruchteile von Sekunden: Da die Zeit über alle Maßen wächst, wäre sozusagen für jeden denkbaren Gedanken Zeit genug, auch wenn das Denken noch so langsam ablaufen würde. Es wäre also sehr wohl möglich, dass auch in einem offenen Universum ewig gedacht werden könnte, es also bewohnbar bliebe. 65
2.7
Genesis, zweiter Tag: Das Werden der Chemie Sterne werden geboren, wachsen heran, versorgen das Universum durch ihre Kernreaktionen mit Energie und verschwinden dann, entweder mit einem großartigen Feuerwerk oder indem sie langsam verblassen.52 Aber vor allem sind sie die Erzeuger aller höheren Arten von Komplexität, die wir kennen, weil sie höhere chemische Elemente hervorbringen und diese verschwenderisch im Kosmos verstreuen.
Aber zurück zum Anfang der Welt: Da sprach Gott: „Es werde Licht!“ Und es ward Licht. Gott sah, dass das Licht gut war, und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis.53 Diese Geschichte würden auch die heutigen Kosmologen nicht sehr anders erzählen: Der Urknall war sicher eine der spektakulärsten Lichterscheinungen, die das Universum je gesehen hat, aber leider gab es wohl kein Publikum. Nur wenig später wurde dann tatsächlich das Licht und die Finsternis getrennt. Aber zunächst konnten sich, als die Temperatur im Kosmos auf unter 5 000 Grad Kelvin abkühlt war, Elektronen und Atomkerne zu vollständigen Atomen vereinen. Das Zeitalter der Chemie begann, aber es gab praktisch noch keine Bausteine, um komplexere chemische Stoffe zu bilden. Die nur aus sehr wenigen verschiedenen chemischen Elementen aufgebaute Materie im Universum fing an, sich in riesige Strukturen zu gliedern, Galaxien, in denen sich mehr und mehr Sterne entzündeten. Nachdem das Universum mit einem alles überstrahlenden Blitz begonnen hatte und zwischenzeitlich in tiefe Dunkelheit und klirrende Kälte gestürzt war, wurde es endgültig Licht. Von nun an entwickelten sich die verschiedenen Elemente des Weltalls, die wir heute beobachten wie Galaxien, und Sternhaufen, exotische Gebilde wie „Quasare“ oder „Schwarze Löcher“. Es tat sich was im Kosmos. Und schon der französische Philosoph Henri Bergsona vertrat Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Auffassung, die Beschreibung des Universums müsse eher der Beschreibung eines lebenden Organismus gleichen als der Beschreibung eines einfachen physikalischen Systems, das in einem kleinen Teil des Universums isoliert sei.54 Der Himmelskörper, der unser Sein am augenfälligsten beeinflusst, ist die Sonne. Neben der Bedeutung der Sonne als Energielieferant für das Ökosystem Erde hat die Entwicklung von Sonnen im Allgemeinen eine andere notwendige Bedeutung für unsere Existenz: Alle chemischen Elemente höherer Ordnung entstanden in Sonnen, insbesondere die für Organismen notwendigen Elemente wie Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor und Schwefel. Die aus dem Urknall hervorgegangenen einfachen Atome verschmelzen in Sternen über die Kernfusion zu schwereren und komplizierter aufgebauten Atomen, wobei diese damit die Fähigkeit gewinnen, sich zu komplexeren Molekülen und Kristallen zu strukturieren. Die Entwicklung der Atome war aber nicht nur wichtig, um die Grundbausteine für unseren Körper zu erzeugen, sondern auch, um die Entstehung unseres Planeten Erde zu ermöglichen. Denn auch die Erde ist überwiegend aus höheren chemischen Elementen a
Henri Bergson, 1859 in Paris geboren, lehrte unter anderem Philosophie am Collège de France. Im Jahr 1927 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Er starb 1941.
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aufgebaut, die Erdkruste besteht z. B. hauptsächlich aus Silizium-, Eisen- und Magnesium-Mineralen. Wesentlichen Anteil an der Entstehung und an der Verbreitung von Atomen höherer Ordnung haben gewaltige Explosionen, die sich im Endstadium der Sternentwicklung ereignen können. Wie wichtig es war, dass beim Urknall nur wenige höhere Elemente erzeugt wurden, folgt aus den Stabilitätsberechnungen für Sterne: Eine Kugel von der Größe unserer Sonne mit ihrer Temperatur und Energieerzeugung kann nur stabil sein, wenn sie entweder 35 Prozent oder mindestens 95 Prozent an Wasserstoff und Helium enthält. Im ersten Fall wäre ihre Lebensspanne aber bei weitem nicht so groß, als dass sich auf dem Planeten Erde intelligentes Leben hätte entwickeln können: Wären beim Urknall schon alle chemischen Elemente in ausreichender Menge gebildet worden, hätte sich daraus zwar schon eine kohlenstoffbasierte Chemie und Planeten entwickeln können, aber es hätte keine Sonne gegeben, die unsere Erde so ausdauernd beschienen hätte, bis in ihrem Licht jemand hätte Bücher darüber lesen können. Drei mögliche Entwicklungen von Himmelskörpern Ballt sich eine interstellare Gaswolke in einzelnen Teilbereichen zusammen, so entsteht ein Kräftegegensatz zwischen der Gravitation und dem Gas- und Strahlendruck. Während sich die Materie auf einen kleineren Raum zusammenzieht, erhöht sich die Temperatur des Gases, und es entwickelt sich als Gegenkraft der Gasdruck. Dabei können außerdem Photonen emittiert werden, die einen Strahlendruck erzeugen. Eine oder beide Kräfte können, wenn sich die Gaswolke weit genug zusammengezogen hat, die Gravitationskraft vollständig kompensieren. Es ist eine Frage der Größe der Materieansammlung. Je nach Masse kann die Entwicklung in drei Richtungen verlaufen: 1. Es entsteht ein kalter, kleiner Ball wie zum Beispiel der Jupiter, der allein vom Gasdruck vor dem Zusammenbruch bewahrt wird. 2. Die Gaswolke verwandelt sich in einen strahlenden Stern, den eine Mischung von Gas- und Strahlendruck über eine lange Zeit stabil hält - wie unsere Sonne. 3. Es entsteht ein kurzlebiger, superheißer Gasball, den der Strahlendruck bald zersprengt. Sterne entstehen dabei nur in einem sehr engen Bereich von einem Zehntel der Masse unserer Sonne bis zu dem hundertfachen. Darunter bleibt die Materieansammlung planetenhaft, ohne dass die Kernfusion im Inneren zünden könnte. Ist die Masse zu groß, erzeugt sie so viel Energie, dass der entstehende Stern schnell explodiert und Teile zu einem „Schwarzen Loch“ kollabieren. Die Massen von Sternen liegen also in einem Bereich, der nur um den Faktor 1 000 schwankt.
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Das Entstehen chemischer Elemente höherer Ordnung Bei sehr hohen Temperaturen spalten sich im Inneren einer Sonne die Wasserstoffatome in Protonen und Elektronen auf. Dieser Zustand der Materie wird „Plasma“ genannt. Mit dem Verlust ihrer umlaufenden Elektronen verlieren die Atome ihre Abschirmung für ihre positiven Kernladungen. Ein Wasserstoffkern besteht ja aus einem positiv geladenen Proton und eventuell noch aus einem oder gar zwei ungeladenen Neutronen. Normalerweise stoßen sich solche nackten Kerne umso stärker ab, je näher sie sich kommen. Eine Verschmelzung von zwei Atomkernen kann sich nur ergeben, wenn zwei dieser positiv geladenen Atomkerne so heftig gegeneinanderstoßen, dass die Abstoßungskraft der Ladungen überwunden wird. Erst auf sehr kurze Entfernung tritt die Starke Kernkraft in Erscheinung und hält die beiden Kollisionspartner zusammen. Nur wenn sich die Protonen sehr nahe kommen, können die Gluonen, die als Vermittler der Starken Kernkraft die Atomkerne zusammenhalten, über die weitreichende elektromagnetische Kraft der Abstoßung obsiegen. Wird eine gewisse Schwellentemperatur in einem Himmelskörper überschritten, kann diese Kernfusion des Wasserstoffs einsetzen und dabei wird Wärme erzeugt. Bei allen Fusionen von Atomkernen bis zum chemischen Element 56Eisen mit der Ordnungszahl 26 wird Energie frei: Ist das Ergebnis der Fusion ein Element höherer Ordnung als Eisen, so erzeugt dieser Prozess keine Energie mehr, im Gegenteil, er frisst Energie. Ein Plasma wird also bei der Fusion bis zum Eisen heißer und kühlt bei der Fusion höherer Elemente ab, da der Fusionsprozess nun seiner Umgebung Energie entzieht. Die Fusion des Heliums aus Wasserstoff ist unter allen Kernverschmelzungen diejenige, die die höchste Energieernte erbringt und die unter der niedrigsten Temperatur ablaufen kann. Letzteres kann nicht verwundern, da bei dieser Fusion nur Atome mit jeweils einer positiven Ladung verschmelzen. Damit sind auch die Abstoßungskräfte der Atomkerne, die bei der Kernverschmelzung überwunden werden müssen, nur zwei positive Ladungen groß. Durch diese Energieerzeugung kann die Materie der erdrückenden Kraft der Gravitation trotzen, die Wärmebewegung der Atomkerne und der Strahlendruck der Photonen halten die Gravitation in Schach, solange diese Fusion abläuft. Im Mittel braucht ein Proton in den Sternen der Größe und Masse unserer Sonne bei 15 Millionen Grad Kelvin 14 Milliarden Jahre, um einen Partner zu finden. Dies ist der Grund, warum die Sonne über Milliarden von Jahren mit annähernd derselben Strahlungsintensität leuchten kann und unser Planet so lange Zeit hatte, eine Zivilisation hervorzubringen. Die Supernova 1987A Die Helligkeit eines Sterns nimmt mit seiner Masse sehr schnell zu: Ein doppelt so massenreicher Stern wie unsere Sonne strahlt mit der achtfachen Helligkeit, die 18-fache Masse lässt einen Stern sogar vierzigtausend Mal heller scheinen. Die Lebensdauer nimmt dabei rapide ab: Ein doppelt so großer Stern wie die Sonne lebt nur ein Viertel so lang, also etwa 2,5 Milliarden Jahre. Sterne mit der 18-fachen Masse existieren nur wenig länger als 10 Millionen Jahre. Anfang 1987 strahlte in 170 000 Lichtjahren Entfernung ein 68
ungewöhnlich heller Stern auf - eine Supernova. Der Stern hatte die18-fache Masse unserer Sonne und war ca. 11 Millionen Jahre alt. Das Leben dieses Sterns verlief nach den Berechnungen und den Beobachtungen der Forscher etwa so: Nach seiner Geburt verbrannte der Stern seinen Wasserstoffvorrat in verschwenderischer Manier in nur 10 Millionen Jahren. Denn als massenreicher Stern musste er sehr hohe Temperaturen und Drücke aufrechterhalten, um nicht zu kollabieren. Dabei strahlte er ca. 40 000-mal heller als unsere Sonne. Nachdem im inneren Drittel des Sterns der gesamte Wasserstoff zu Helium fusioniert war, zog sich dieser Bereich zusammen, bis er eine Temperatur von 190 Millionen Grad Kelvin erreichte und das Helium anfing, zu fusionieren. Gleichzeitig erhitzte sich die Hülle des Sterns, die noch aus unverbranntem Wasserstoff bestand und dehnte sich auf 300 Millionen Kilometer aus. Das Heliumbrennen dauerte nur weniger als eine Million Jahre. Jetzt bestand der Kern vor allem aus Kohlenstoff und Sauerstoff. Wieder kontrahierte der Kern, bis bei 740 Millionen Grad das Kohlenstoffbrennen einsetzte und in nur 12 000 Jahren Neon, Magnesium und Natrium erzeugte. Der Stern ähnelte nun gewissermaßen einer Zwiebel, wobei in den verschiedenen Schalen des Sterns unterschiedliche Kernfusionsprozesse abliefen. Während im Kern die Fusion von immer höheren Elementen in immer kürzerer Zeit ablief, liefen in den höheren, weniger dichten Zonen des Sterns die Verschmelzungsprozesse früherer Phasen ab. Tabelle 3
Entwicklung des Kernbereiches der Supernova SN1987A55
Fusion von MassenzahlElement (Ordnungszahl) 1
Wasserstoff (1) Helium (2) 12 Kohlenstoff (6) 14 Stickstoff (7) 16 Sauerstoff (8) 28 Silizium (14) und 32Schwefel (16) 4
Temperatur [106 Kelvin] 40 190 740 1 600 2 100 3 400
Zeitdauer [Jahre] 10 000 000 1 000 000 12 000 12 4 7 Tage
Jede dieser Fusionen setzte in der Summe etwa dieselbe Gesamtenergie frei. Der Kern der Sonne bestand nun aus Eisen und anderen Elementen der Eisengruppe wie Nickel, Chrom, Vanadium, Titan, Kobalt und Mangan. Ab hier war nun keine Energie mehr freizusetzen und die Gegenkraft versiegte, die bisher die Gravitation im Zaum halten konnte. Eine gewaltige Implosion folgte, die nur wenige Zehntelsekunden andauerte und unvorstellbare Energien freisetzte. Das Innere des Sterns fiel mit solcher Kraft zusammen, dass die Elektronen mit den Protonen zu Neutronen verschmolzen und ein unvorstellbar dicht gepackter Neutronenklumpen von der Größe eines Mount Everest und der Masse unserer Sonne entstand. Die äußere Hülle stürzte nach und prallte auf dieses in keiner Weise mehr verformbare Hindernis mit dem Effekt, dass es einen mächtigen Rückschlag gab, der als 69
Schockwelle durch die übrige Hülle des sterbenden Sterns raste. Schließlich wurde das Material aus dem Inneren des Sterns mit 3 000 km/sec durch die Hülle hinausgeschleudert und riss die Hülle selbst dabei mit ins Weltall hinaus. Dieser Vorgang heizte die Supernova soweit auf, dass sie heller als eine Galaxis mit Milliarden von Sonnen erstrahlte. Abbildung 11: Die Supernova 1987a, umgeben von drei leuchtenden Gasringen. Das Foto wurde sieben Jahre nach dem Ausbruch, im Februar 1994 vom HubbleTeleskop aufgenommen. Bildnachweis: C. Burrows und NASA.
Obwohl dies an sich schon eine wahrhaft staunenswerte Geschichte ist, kommt auch an dieser Stelle die Physik nicht ohne eine weitere Feinabstimmung in ihren Naturkonstanten aus. Und damit kommt das anthropische Prinzip zum Vorschein: Die Stoßwelle selbst ist nämlich nicht stark genug, die Hülle wirklich auseinander zu treiben, immerhin handelt es sich um mehrere Sonnenmassen, die bewegt werden wollen. Aber beim Auftreffen der inneren Schalen auf die Neutronenkugel entstehen so viele Neutrinos und die Sternhülle ist so dicht gepackt, dass die Neutrinos dort mit der Materie über die schwache Kraft wechselwirkt. - Erst die herausfliegenden Neutrinos reißen die Sonnenhülle mit der notwendigen Kraft auseinander, sie liefern den Restbetrag an Energie, der den Stern auseinander platzen lässt. Doch kann dieser Energiebeitrag von den Neutrinos nur geliefert werden, wenn die schwache Wechselwirkung genau ihre von der Physik gemessene Größe hat: Wäre sie nur geringfügig kleiner, würden die Neutrinos die Hülle ohne nennenswerte Wirkung auf die Materie durchqueren. Wäre sie stärker, würde die Wechselwirkung schon tief im Inneren die Neutrinos abbremsen und davon abhalten, nach außen zu streuen. Erst durch Sternexplosionen dieser und ähnlicher Art entstanden und verteilten sich schwere chemische Elemente bis hin zum Uran im Weltall und konnten Grundlage von steinernen Planeten wie die Erde oder zum Baustoff der Organismen werden. Auch wenn uns der Ablauf und die Größe eines Supernovaausbruchs exotisch und sehr fern erscheinen, so steht doch fest, dass unsere Existenz tiefgreifend von solchen Ereignissen beeinflusst worden ist. Der Mensch ist aus Sternenstaub solcher gewaltigen Katastrophen geboren, unser Körper besteht zu einem erheblichen Anteil aus der Schlacke verglommener Sterne. 70
Wie die Menschen sind die Sterne Staub und müssen zum Staub zurückkehren. Atome evolvieren in Sternen zu höherer Komplexität und wenn eine Sonne stirbt, so sät sie diese Atome über die Galaxis aus. Dort, wo Atome höherer Ordnungszahl auf günstige Bedingungen treffen, entsteht vielleicht eine Biosphärea. Die Schlacke von Sonnen ist Teil und Grundlage unseres eigenen Körpers und wir sind damit Enkelkinder der Sonnen. Der Stoff des Lebens Unter den knapp 100 natürlich vorkommenden chemischen Elementen ragt der Kohlenstoff durch seine Fähigkeit heraus, eine Vielzahl von Verbindungen mit anderen Elementen einzugehen. Insbesondere kann Kohlenstoff mit sich selbst Bindungen bilden, aber auch mit maximal vier anderen Atomen. Kohlenstoff kann in einzigartiger Weise Ketten von fast beliebiger Größe mit unterschiedlichen chemischen Elementen aufbauen (Abbildung 12). Diese hohe Variabilität der chemischen Bindungen machte den Kohlenstoff zu dem entscheidenden Stoff, aus dem Leben entstehen konnte.
Abbildung 12: Verschiedene einfache Kohlenwasserstoffe demonstrieren die Fähigkeit des Kohlenstoffes, mit sich selbst Bindungen einzugehen und damit Ketten von beliebiger Länge bilden zu können.
Die Komplexität der Moleküle, aus denen sich Lebewesen zusammensetzen, beruht nicht so sehr auf der Vielfalt der verschiedenen chemischen Elemente. Allein 96 Prozent des menschlichen Körpers besteht aus nur diesen vier Elementen: Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff und Stickstoff. Die Komplexität beruht vielmehr auf der Fähigkeit dieser Elemente, allen voran des Kohlenstoffs, sich zu einer beliebigen Zahl unterschiedlicher Kombinationen anzuordnen. Von ähnlicher chemischer Variabilität wie der Kohlenstoff ist nur noch das Silizium, das auf der Erde eine Vielzahl der mineralischen Verbindungen aufbaut (Abbildung 13). Bezeichnenderweise die Grundlage der sogenannten „künstlichen Intelligenz“ geworden ist: Entscheidende Komponenten unserer Computer basieren auf Siliziumverbindungen. a
Unter der Biosphäre versteht man normalerweise den Teil der Erde, wo Lebewesen existieren, also die Meere, der Meeresboden und die Erdoberfläche bis in eine gewisse Tiefe und die Atmosphäre bis in eine bestimmte Höhe.
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Abbildung 13a, b: Der Silizium-Sauerstoff-Tetraeder ist das wichtigste Mineralfragment in der Geologie. Es ist der Zentralkomplex von fast 90 Prozent der Minerale auf der Erde. Vier Sauerstoffatome gruppieren sich dabei um ein Siliziumatom. Tatsächlich ist das Siliziumatom im Vergleich zum Sauerstoffatom so klein, dass es vollständig im Tetraeder eingeschlossen ist. In Bild b ist der Komplex auseinandergezogen dargestellt.
Wieder sehen wir hier einen außerordentlichen Zufall wirken: Der britische Astrophysiker Fred Hoyle konnte zeigen, dass Kohlenstoff ausgesprochen selten im Universum wäre, wenn dieses Atom nur einen geringfügig anderen Anregungszustand besessen hätte. 12 Kohlenstoff besitzt 6 Protonen und 6 Neutronen im Kern. Damit ergeben sich zwei Möglichkeiten der Kernsynthese, denn fast der gesamte Baustoff der Kernsynthese besteht aus 4Helium (2 Protonen, 2 Neutronen), denn dieser Atomkern ist von allen der Stabilste. 12 Kohlenstoff kann aus dem gleichzeitigen Zusammenstoß von 3 4Helium entstehen oder durch die Kollision von einem 4Helium mit einem 8Beryllium, das vorher seinerseits aus der Kollision von zwei 4Heliumkernen entstanden ist. Das gleichzeitige Zusammentreffen von 3 4Heliumkernen ist so selten, dass dabei viel zuwenig Kohlenstoff produziert wird. Bliebe noch die Kollision eines 4Helium- mit einem 8Berylliumkern. Doch beträgt die Lebensdauer von 8Beryllium lediglich 10-17 Sekunden! Das ist einer der Gründe, warum während des Urknalls keine höheren Elemente entstanden sind. Aber innerhalb der 10-17 Sekunden muss nicht nur ein weiteres 4Helium mit dem 8Beryllium zusammenstoßen, sondern dieser Zusammenstoß von zwei ungleich schweren Stoßpartnern muss auch genau die richtige Energie haben. Ist die Energie zu niedrig, können die Teilchen ihre abstoßende Kraft nicht überwinden. Ist der Zusammenstoß aber zu energiereich, platzt der neue Kern sofort wieder. Tatsächlich existieren im Inneren der Sonnen genau die Verhältnisse, damit die Kernsynthese von Kohlenstoff funktioniert. Die Physiker sprechen hier von einer „Resonanz“. Wie speziell dies ist, zeigt der nächste Schritt der Synthese: 16 Sauerstoff könnte aus einem 12Kohlenstoff und einem 4Helium gebildet werden, aber da hier die kinetische Energie nicht genau zwischen den unterschiedlich schweren Kollisionspartnern abgestimmt ist, bleiben nur wenige Sauerstoffatome übrig, der Rest zerplatzt gleich wieder. Gäbe es auch hier eine Resonanz, würde fast aller Kohlenstoff weiter in Sauerstoff umgewandelt werden. Auch dann würde es kaum Kohlenstoff im Weltraum geben. Es muss also eine Resonanz für die Bildung von Kohlenstoff geben, es darf aber keine Resonanz für die Bildung von Sauerstoff geben. Fred Hoyle erklärte, als die Resonanz entdeckt worden war, die er vorhergesagt hatte: Es ist, als ob die Gesetze der Physik im Hinblick auf die Folgen, die im Inneren von Sternen ablaufen, absichtlich so geschaffen 72
wurden [...]. Eine vernünftige Interpretation der Tatsachen erscheint zu sein, dass ein Überwesen mit der Physik, Chemie und Biologie herumgespielt hat und dass es in der Natur keine nennenswerten „blinden Zufälle“ gibt.56 Aber dieses außergewöhnliche chemische Element musste nicht nur in ausreichendem Maße in Sternen produziert und durch Supernovaausbrüche verstreut werden. Der Kohlenstoff musste auch genau in dem Abstand zur Sonne kondensieren, in dem sich diejenigen Planeten bilden, die einen ausreichenden Vorrat an verschiedenen anderen chemischen Elementen aufweisen, also dort, wo sich die steinigen Planeten bildeten. Diese Planeten wiederum mussten nah genug an ihrem Stern ihre Bahnen ziehen, damit die Sonnenenergie für biotische Prozesse genutzt werden konnte. Nicht zuletzt durfte Kohlenstoff nicht so schwer wie zum Beispiel Eisen sein, sonst wäre es in der Frühphase der Planetenentwicklung zu großen Teilen in den Erdkern gesunken. Es musste im Gegenteil so leicht sein, dass es sich im gasförmigen Zustand über die ganze Erde verteilen konnte und damit überall verfügbar wurde. Alle diese „glücklichen Umstände“ ergeben sich letztlich aus den Naturkonstanten, die während des Urknalls festgelegt wurden und noch einmal das anthropische Prinzip veranschaulichen: Wäre der Kohlenstoff nicht in ausreichendem Maße verfügbar oder hätte er nicht genau diese Eigenschaften, die ihn auf der Erdoberfläche in ausreichendem Maße vorkommen ließen, so gäbe es auf unserem Planeten kein Leben auf Kohlenstoffbasis. Und es ist zweifelhaft, ob Leben auf anderer chemischer Grundlage hätte entstehen können, denn andere chemische Elemente haben nicht die einzigartige Fähigkeit des Kohlenstoffs, sich in so vielfältiger Art zu langen Ketten zu verbinden.
2.8
Genesis, dritter Tag: Die Entstehung des Sonnensystems
Vor 4,55 Milliarden Jahren begann sich ungefähr 28 000 Lichtjahre vom Zentrum der Milchstraße entfernt eine kalte und dunkle interstellare Wolke zusammenzuziehen, und sich dabei abzuflachen, um schließlich eine Scheibe zu bilden. Sie bestand vorwiegend aus Wasserstoff, Helium und aus Molekülen, die größtenteils der organischen Chemie zugerechnet werden konnten. Das am häufigsten gefundene Molekül im interstellaren Medium ist das Kohlenmonoxid (CO). Die meisten höheren Elemente, der Sternenstaub aus vergangenen Sonnen, war bei den tiefen Temperaturen von nur wenigen Grad Kelvin zu festen Staubkörnern kondensiert. Der Staubanteil der ansonsten gasförmigen interstellaren Materie in unserer Heimatgalaxie beträgt heutzutage etwa 1-2 Prozent und war wahrscheinlich in der protosolaren Materiewolke unseres Sonnensystems ähnlich hoch. Neuere Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass die Staubkonzentration in den Galaxien bereits einige Milliarden Jahre nach dem Urknall ähnlich hoch war wie heute57, da sich die massenreichen Sterne, die ihr kurzes Leben mit einer Supernovaexplosion beenden, vor allem in der Entstehungsphase einer Galaxie bildeten. In der Gaswolke gab es wegen der geringen Temperatur am Anfang kaum thermische Gegenkräfte zur Gravitation, und sie konnte sich fast ungehindert immer weiter 73
zusammenziehen und abflachen. Es entstand ein scheibenförmiges Gebilde, dessen Zentrum sich immer dichter mit Materie füllte. Dabei wandelte sich die Gravitationsenergie allmählich in Wärme um. Schließlich erreichte der Kernbereich der Wolke eine Temperatur, die ausreichte, um die Kernfusion von Wasserstoff in Gang zu setzen. Die Sonne erstrahlte, es wurde Licht nicht weit von dem Ort entfernt, wo bald die Erde entstehen sollte. Der protostellare Kollaps der Gaswolke verlief relativ schnell. Man schätzt, dass diese Phase der Entstehung nur einige 100 000 Jahre beanspruchte. Es dauerte nun noch einige Millionen Jahre, bis auch die Kontraktion der Sonne beendet und ein stationärer Zustand erreicht war. Seitdem brennt die Sonne überaus gleichmäßig seit über 4 Milliarden Jahren. Differenzierung der chemischen Elemente Am dritten Tag der Schöpfung sprach Gott: Es sammele sich das Wasser, das unter dem Himmel ist, zu einer Ansammlung und es erscheine das trockene Land.58 So etwas Ähnliches geschieht nun tatsächlich bei der Entstehung der Planeten, nur dass sich das trockene Land in der Nähe der Sonne sammelte und das Wasser weit draußen im Raum. Nach dem Zusammenziehen der Sonne auf ihre heutige Größe kam es in der Gasscheibe, die sich um die Sonne gebildet hatte, zu einer deutlichen Selektion der einzelnen chemischen Elemente in Abhängigkeit von der Entfernung zum Zentrum. Die Temperatur der Gaswolke nahm vom Inneren, dort wo sich die Sonne befand, nach außen ab. Es konnten jetzt nur diejenigen Atomarten erstarren, die die Fähigkeiten hatten, bei den jeweils herrschenden Temperaturen, temperaturstabile Minerale zu bilden. Auf der Höhe der Erdumlaufbahn gehörte Wassereis nicht dazu, denn dort es war noch recht heiß. Eisen, Nickel und Silizium konnten hingegen schon unter den dort herrschenden relativ hohen Temperaturen zu Festkörpern erstarren. Diese schwereren Minerale wurden außerdem vom einsetzenden Sonnenwind nur wenig beeinflusst, während der Wasserstoff und das Helium als einzelne Atome leicht davon geweht werden konnten und so aus dieser Region zum großen Teil verschwanden (Abbildung 14). Es trennte sich also tatsächlich aufgrund der herrschenden physikalischen Verhältnisse das Wasser vom trockenen Land. Die steinernen Planeten entstanden nahe der Sonne in heißeren Zonen, die wässrigen Planeten wie Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun entstanden weit draußen im kalten Raum. Während die Erde und ihre Nachbarn überwiegend aus höheren chemischen Elementen bestehen und nur relativ wenig Wasser auf der Erdoberfläche besitzen, bestehen die äußeren Planeten überwiegend aus Wasserstoff und Helium. Wieder sehen wir die listige Konstruktion dieses Kosmos, seinen Hang, es so zu richten, dass die Entwicklung von Leben begünstigt wird. Genau die Elemente, die für die Entwicklung von Leben notwendig sind, kondensieren bevorzugt in dem Bereich, wo die Sonnenstrahlung noch so viel Kraft besitzt, dass sich ein wohltemperiertes Klima auf einem Planeten entwickeln kann.
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Abbildung 14: In der Nähe der Protosonne fallen zunächst Hochtemperaturkondensate wie Korund oder Perovskit aus. Zwischen 1 500 und 800 Kelvin fiel der größte Teil der Bestandteile der erdartigen Planeten, insbesondere basische Silikate und metallisches Eisen, aus. Erst bei tieferen Temperaturen bildeten sich Sulfite, wasserhaltige Silikate und organische Verbindungen, wie man sie in den kohligen Chondriten findet. Schließlich konnte sich auch Eis bilden. Wegen des Temperaturgradienten in der protosolaren Scheibe dominieren die flüchtigen Verbindungen also in sonnenfernen Bereichen.59
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Die Erde entsteht Auf unserer Erde können wir beobachten, wie sich um feste Schwebstoffe in der Atmosphäre, um sogenannte Kondensationskerne, Wassermoleküle anlagern. Auf diese Weise bilden sich in der Atmosphäre Regentropfen um Staubteilchen herum. Auf ähnliche Weise wuchsen aus den Staubteilchen in der interstellaren Wolke die ersten größeren Teilchen. Nach einiger Zeit wurden diese Objekte so groß, dass sie durch ihre Gravitation den Gaswiderstand in der Scheibe überwinden und weiter Teilchen an sich ziehen konnten, sie hatten eine kritische Masse erreicht. Mit der Zeit klumpte die Materie in der Symmetrieebene des Protosonnensystems zu sogenannten Planetesimalen zusammen. Diese konnten um so erfolgreicher Materie anhäufen, je größer sie waren (Abbildung 15).
Abbildung 15: Planetenbildung. Dargestellt ist die Sonne (heller kleiner Kreis) und jeweils eine halbe Bahnscheibe um diese Sonne. Stadium 1 (herausgehoben und vergrößert): Staubpartikel verklumpen aufgrund der Kohäsion und Adhäsion. Stadium 2 (herausgehoben und vergrößert): Größere Partikel gewinnen allmählich aufgrund ihrer Gravitation Masse dazu. Stadium 3: Es bilden sich Ringsysteme aus. Stadium 4: Auf den Ringen bilden sich Schwerkraftzentren. Stadium 5: Es bilden sich einige große Planetesimale. Stadium 6: Ein einziger Planet auf einer stabilen Umlaufbahn sammelt die letzten Materiereste aus der Umgebung auf.
In ihren Scheibenzonen umliefen die Planetesimale die Protosonne zunächst nicht auf stabilen Bahnen. Die Planetesimale stießen zusammen, organisierten sich zu immer größeren Gebilden und wuchsen schließlich zu Planeten heran. Jeder Planet beanspruchte ein eigenes, wohldefiniertes Gebiet, in dem er durch seine Gravitation andere Objekte entweder anzog oder sie aus diesem hinauslenkte. Die Planetenbahnen sind nicht zufällig angelegt, denn die Körper konkurrierten und beeinflussten sich untereinander. Die Evolution dieser Planetesimale unterlag der Selektion. Das erklärt, warum die Planeten 76
nur eine ganz gewisse Größe erreichen konnten, abhängig von ihrer Bahn um die Sonne. Zunächst gab es weitaus mehr Planeten als später übrig blieben. Kamen sie sich zu nah kollidierten sie miteinander, wurden zerstört, bildeten erneut Planeten und gaben dabei auch wieder Staub an die Scheibe ab. Diejenigen, die sich zufällig auf stabilen Umlaufbahnen befanden, sammelten die Planetesimale der instabilen Umlaufbahnen allmählich ein. Konnten sie sich einen Brocken nicht einverleiben, drängten sie ihn in die Sonne oder aus dem Sonnensystem. Schließlich blieben im wesentlichen acht bis neun Planeten übrig.a Am Tage, als Jahwe Gott Erde und Himmel machte, gab es auf der Erde noch kein Gesträuch des Feldes und wuchs noch keinerlei Kraut des Feldes. Denn Jahwe Gott hatte es noch nicht regnen lassen [...].60 Wahrscheinlich war die Erde zu Anfang wirklich ein äußerst trockener Planet. Da bei dem Zusammenstoß von Planetesimalen Gravitationsenergie in Wärme umgewandelt wird, waren zumindest die inneren Planeten Merkur bis Mars zu Beginn glutflüssige Kugeln, aus denen die leichtflüchtigen Bestandteile wie Wasser, Kohlendioxyd, Ammoniak und Methan verdampften.61 Nachdem sich die Krusten der inneren Planeten verfestigt hatten, waren aber noch genug Planetesimale übrig, die danach auf diese Himmelskörper einschlugen. Mit ihnen, vor allem mit den weit draußen im Raum gebildeten Kometen, gelangten vermutlich die leichten chemischen Elemente, zum Beispiel der Wasserstoff, wieder auf die Urerde und bildeten Teile der Atmosphäre und vor allem die Ozeane. Erst nachdem das innere Sonnensystem vor vermutlich 3,8 Milliarden weitgehend leergefegt war, ließ die Häufigkeit der Zusammenstöße deutlich nach. Das Ende der Sonne Seit ihrer Entstehung vor 4,5 Milliarden Jahren ist unsere Sonne um 40% kleiner und dabei heller geworden und hat dabei 4% ihres Anfangsvorrates an Wasserstoff in Helium umgewandelt. Pro 100 Millionen Jahre nimmt ihre Strahlungsintensität um ca. ein Prozent zu. Spätestens in 4-5 Milliarden Jahren wird die Sonne sich zu einem Roten Riesen aufblähen, dessen Ausdehnung über die Erdbahn hinaus reichen wird. Dabei werden starke Sonnenwinde auftreten, es wird ein starker Strom von Teilchen von der Sonne weg einsetzen. Damit ergibt sich eine spannende Frage: Wäre es möglich, dass dieser Sonnenwind nicht nur einfache Teilchen, sondern auch Sporen von Leben mit sich führen und so den Weltraum und schließlich andere Planeten mit Leben infizieren könnte? Zumindest sehen wir erstaunt, dass genau die Art von Sternen, die fähig ist, auf ihren Planeten Leben auszubrüten, ein Ende nimmt, das geeignet ist, Lebenssporen im Universum zu verteilen. Diese Überlegung wird noch einmal wichtig, wenn wir uns mit der Entstehung des Lebens auf der Erde beschäftigen.
a
Die Planetenbahnen stehen in einer Regelhaftigkeit zueinander, allerdings in anderer Weise, als Georg Wilhelm Friedrich Hegel vermutete. Die Entfernung der Planeten zur Sonne nimmt in einer Art geometrischen Reihe von 0,4 Astronomischen Einheiten (Merkur) auf 40 AE (Neptun) zu.
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2.9
Andere Welten
Im Jahr 1600 wurde Giordano Bruno als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er der festen Überzeugung war, dass die Erde nicht die einzige Welt, die Menschheit nicht einmalig im Universum ist: Die Erschaffung einer begrenzten Welt ist mir der göttlichen Güte und Macht unwürdig erschienen, wenn Gott neben ihr noch eine andere und unbegrenzt mehrere andere erschaffen konnte. Daher habe ich erklärt, dass es noch weitere Welten gibt, die ähnlich unserer Erde sind. Mit Pythagoras sehe ich die Erde als einen Stern an, und ihr ähnlich sind der Mond, die Planeten und andere Sterne, die unbegrenzt an Zahl sind, und alle diese Himmelskörper sind Welten. Wir haben die Frage bis heute nicht klären können, ob es außer uns noch andere intelligente Wesen im Kosmos gibt, bisher haben sie jedenfalls noch nicht angerufen. Aber ihre Existenz ist wahrscheinlich. Die Frage, ob es andere Planetensysteme gibt, auf denen sich eine ähnliche Evolution abgespielt hat oder abspielen wird, wie auf der Erde, können wir dagegen mittlerweile positiv beantworten. Wir können uns dank der Astronomen heute in der glücklichen Lage schätzen, nicht mehr glauben zu müssen und sind damit nicht mehr der Willkür und den Schergen einer Kirche ausgeliefert. Wir wissen heute: Es gibt noch weitere Welten. Unsere heutigen Theorien zur Planetenentstehung lassen vermuten, dass es sogar sehr viele „erdähnliche“ Planeten gibt und dieses belegen auch astronomische Beobachtungen: Im Orionnebel sind etwa die Hälfte der dort neu entstehenden Sterne von einer dunklen Scheibe umgeben, wobei diese aufgrund ihrer Abmessung und Masse als Vorläufer von Planetensystemen interpretiert werden können (Abbildung 16).
Abbildung 16: Mehrere junge Sterne im Orionnebel sind von flachen Staubscheiben umgeben, aus denen sich Planetensysteme entwickeln könnten.62
Bemerkenswert ist, dass in einem Gebiet, ca. 15 AE vom Zentralgestirn entfernt, die Materie verschwunden ist, so als wäre sie von einem Planeten aufgesaugt worden. Wir kennen dieses Merkmal von den Saturnringen. Die Lücken zwischen den Ringen werden 78
dort von den sogenannten Schäferhundmonden gerissen, die auf ihren Bahnen alle übrige Materie auffressen oder aus dem Ring drängen. Die Astronomen wissen heute, dass solche Staubscheiben um junge Sterne nach 300 und 400 Millionen Jahren verschwinden, wahrscheinlich, weil das Material dann mehr oder weniger vollständig von Planeten aufgesammelt worden ist. Der 53 Lichtjahre von unserer Sonne entfernte und nur einige Millionen Jahre alte Sonne β-Pictoris war der erste Stern, um den herum Astronomen eine solche protoplanetare Scheibe beobachten konnten. Die Scheibe hat einen Durchmesser von rund 1000 AEa und enthält Staubteilchen aus Eispartikeln und Gesteinskörnern. Die Partikel haben eine Größe von einigen Mikrometern, liegen also in einer deutlich größeren Zusammenballung vor, als wir sie im freien Weltraum beobachten können (vgl. dazu Abbildung 15). Im Jahr 1992 führte Hervé Beust in seiner Doktorarbeit ein weiteres Indiz an, das auf die Existenz eines Planeten bei β-Pictoris hinweist: Im Spektrum der Sonne finden sich Spektrallinien, die sich als verdampfende Kometen interpretieren lassen. Hervé Beust vermutet, dass die Kometen von einem Planeten aus ihrer Bahn gelenkt werden, der etwas größer als der Jupiter sein müsste und auf einer elliptischen Bahn zieht. Einige der Kometen geraten dabei auf eine Umlaufbahn, die sie letztlich in den Stern stürzen lässt.63 Der erste definitive Nachweis eines Planeten außerhalb unseres Sonnensystems konnte erst 1994 geführt werden. Allerdings umkreiste dieses Objekt keine gewöhnliche Sonne, sondern einen Pulsarb. Doch noch immer war unklar, ob die Entwicklung unseres Planetensystems ein einzigartiger Zufall war, oder doch den Normalfall der Sternentwicklung im Universum darstellt. Erst 1995 gelang es den Astronomen einen Planeten um eine Sonne der sogenannten Hauptreihec zu entdecken. Der Stern 51 Pegasi ist mit seinem Spektraltyp „G" unserer Sonne sehr ähnlich. Der Planet von etwa der halben Masse des Jupiters umkreist seine Sonne in nur 4,25 Tagen in einer Entfernung von etwa 7 Millionen km. Das entspricht etwa ein Achtel der Entfernung vom Merkur zur Sonne. Er dürfte mit einer Oberflächentemperatur von über 1000 Grad Kelvin kein sehr angenehmer Ort sein. Auch dieser Planet konnte nicht direkt beobachtet werden, sondern man schloss indirekt anhand von Gravitationsstörungen in der Bewegung des Sternes 51 Pegasi auf sein Vorhandensein. Es kann nicht verwundern, dass dieser Planet erheblich größer ist als die Erde, denn man kann mit den verwendeten Methoden kaum Planeten von der Größe der Erde aufspüren, da deren Massen unterhalb der Nachweisgrenze lägen. Nachdem der a
Eine Astronomische Einheit (AE) bezeichnet die Entfernung zwischen Erde und Sonne und hat den ungefähren Wert von 1,5 Millionen km. b Pulsare sind vermutlich Radiosignale ausstrahlende Neutronensterne, wobei die Radiosignale durch die sehr schnelle Rotation des Sternes gepulst werden. Das bezeichnete Objekt pulsiert zum Beispiel pro Sekunde 163 mal und rotiert entsprechend schnell. c Hauptreihensterne sind Sonnen, die ihre Leuchtkraft aus der Fusion des Wasserstoffes beziehen, wie es auch unsere Sonnen die längste Zeit ihres Daseins macht.
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Nachweis eines Planeten in einem fremden Sonnensystem das erste Mal gelungen war, wurden in rascher Folge weitere Planeten gefunden (Abbildung 17). Bis Anfang 2000 wurden rund 50 weitere Planeten bekannt, die um einen Stern ähnlich unserer Sonne kreisen und deren Massen weniger als 13 Jupitermassena betragen. Die Massen der entdeckten Planeten variieren vom 0,47-fachen bis 13-fachen der Jupitermasseb.
Abbildung 17: Einige der ersten neu entdeckten Planeten im Größen- und Entfernungsvergleich mit dem Sonnensystem.
Im Mai 1998 gelang dann schließlich, einen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems direkt nachzuweisen: Das vom Hubble-Teleskop im nahen Infrarotbereich aufgenommene Photo zeigt in einem entstehenden Sternsystem eine lange dünne Nebelfahne, die sich von einer Sonne zu einem kleinen Begleiter hinzieht (Abbildung 18). Dieses Himmelsobjekt wurde von den Astronomen „TMR-C1“ getauft. Es ist ungefähr 450 Lichtjahre von uns entfernt und hat das 2-3-fachen der Jupitermasse.64
a
Bei einer Größe von über 13 Jupitermassen setzt die Deuterium-Kernverschmelzung im Inneren solcher Himmelskörper ein. Diese werden dann nicht mehr als Planeten angesehen. - Allerdings ist diese Definition nicht unumstritten. Ab der Größe von 80 Jupitermassen ist zu erwarten, dass die Wasserstofffusion einsetzt und sich das Objekt zu einer Sonne entwickelt. b Die Jupitermasse entspricht 318 Erdenmassen.
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Abbildung 18: Protoplanet im Sternbild Taurus; erster mutmaßlicher Planet, der direkt beobachtet werden konnte. Das Bild entstand am 28.5.1998. Bildnachweis: (S. Terebey (Extrasolar Research Corp.) and NASA.
All diese neu entdeckten Planeten sind als Hort außerirdischen Lebens kaum geeignet, allerdings lassen sich aufgrund der bisherigen Nachweismethoden auch nur solche ungeeigneten Planeten aufspüren. Von großer Bedeutung sind diese Entdeckungen aber für die Abschätzung, inwieweit die Planetenentstehung etwas ganz normales im Universum darstellt. Verschiedene Schätzungen auf Basis des derzeitigen Wissens ergeben, dass zwischen 10 und 50 Prozent aller Sterne Planetensysteme aufweisen könnten. Und dann fand man sogar im Oktober 2000 einige Planeten dort, wo man sie gar nicht vermutete: Im freien Raum. Eine Gruppe von spanischen, amerikanischen und deutschen Astronomen konnte im Sternbild Orion 18 Planeten direkt nachweisen, weil diese weitab von Sonnen vagabundieren.65
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3
Zweites Buch: Evolution Ich glaube, ein einfaches Mittel zu kennen, um Menschen mit der Tatsache zu versöhnen, dass sie selbst ein Teil der Natur und in natürlichem Werden, ohne Verstoß gegen die Naturgesetze, entstanden sind: man müsste ihnen nur zeigen, wie groß und schön das Universum ist und wie ehrfurchtgebietend die Gesetze, die sie beherrschen.1 (Konrad Lorenz)
Das Universum war also mit einem Knall entstanden, Materie hatte sich über den Raum ausgebreitet, großräumige Strukturen wie Galaxien und Sonnensysteme gebildet und im Kleinen neue Arten von Atomen zusammengebacken. Auf mindestens einem Planeten in einem Seitenarm der Milchstraßen-Galaxie spielte sich nun eine Entwicklung ab, die neben den physikalischen Gesetzen verstärkt von Gesetzmäßigkeiten gesteuert wurde, die Charles Darwin in seiner Evolutionstheorie darlegte. Charles Darwin Theorie basiert auf den drei Säulen Variation, Selektion und Vererbung. Diejenigen Individuen, die durch Mutation, also durch die zufällige Veränderung ihrer Gene, besser an die herrschenden Umweltbedingungen angepasst sind, haben eine größere Überlebenschance und eine größere Fortpflanzungswahrscheinlichkeit. Diese besser angepassten Individuen geben ihre genetische Beschaffenheit durch Vererbung an die folgenden Generationen weiter. Doch das Selektionsprinzip meint weniger, dass der Fitterea durch Erfolg überlebt, sondern dass die Selektion diejenigen aus dem Rennen wirft, die es nicht schaffen, sich fortzupflanzen. Man kann dies in einer einfachen rekursiven Formel ausdrücken: „Erfolg bedeutet in der biologischen Welt nichts anderes, als Nachfahren zu haben, die wiederum Erfolg haben.“ Während die Mutation quasi chemische Druckfehler produziert, also eine Auswirkung der Entropie ist, ist die Selektion in der Evolution in gewisser Weise der Gegenspieler der Entropie. Einfache Replikation ist stets unvollkommen. Auf die Dauer lässt die Qualität von Kopien immer nach. Sie können dies auf einem Fotokopiergerät nachvollziehen, indem Sie immer wieder eine Kopie von der Kopie machen. Irgendwann verschwimmt das Bild, die Informationen, die Ihre Vorlage beinhaltete, verfallen Stück für Stück, wie es das Zweite Thermodynamische Gesetz fordert. An dieser Stelle setzt die Selektion an, indem Sie aus allen Kopien immer nur die besten zur weiteren Replikation aussucht. Die Selektion wirkt nicht in erster Linie verändernd auf eine Art, sondern verhindert vor allem Veränderungen. Denn schlechtere genetische Kopien gibt es immer wesentlich mehr, als Kopien, bei denen sich zufällig etwas zum „besseren“ hin verändert. Meistens aber bleibt alles beim alten. Neue, der Fitness förderliche Merkmale werden, wenn sie sich durchsetzen, schnell von einer Art als Ganzes übernommen, sie werden Standard, Normalität. Der hauptsächliche alltägliche Effekt der Selektion ist die Erhaltung des Status quo.2
a
Im Sprachgebrauch der Populationsgenetiker wird die Fitness eines Organismus damit bewertet, wie viele Nachkommen das einzelne Individuum hervorbringt.
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Die allgemeinen Gesetze der Natur schlössen von vornherein Grundeigenschaften des Lebendigen ein, so vermutete schon Aristoteles. Und so ist zunächst zu klären, inwieweit die natürliche Selektion wirklich nur ein spezifisch biologischer Begriff ist, oder sie sich auf noch grundlegendere Mechanismen zurückführen lässt. Denn wenn wir akzeptieren, dass sich Leben aus dem Nichtlebenden entwickelt hat, muss die Evolution dem Leben vorangegangen sein und damit auch die natürliche Selektion, was dafür spricht, diese nicht als spezifisch biologisch anzusehen. Ich behaupte, natürliche Selektion lässt sich problemlos auf grundsätzliche physikalische Ursachen zurückführen. Die Evolution ist, wie alles andere, bestimmt durch den Ausgangszustand des Universums, seine physikalischen Gesetze und deren Naturkonstanten. Einen direkten Zusammenhang zwischen den Prinzipien der Evolution und den physikalischen Gesetzen finden wir auf der Basis der Quantenphysik: Nach der Quantenphysik sind sämtliche Vorgänge im Universum lediglich als Wahrscheinlichkeiten zu beschreiben. Aus diesem Prinzip der Zufälligkeit erwächst in der Evolution die Mutation, also zum Beispiel die zufällige Änderung der Erbanlagen. Das Konstruktive Element in der Evolution Bei der Diskussion über Evolution wird meist übersehen, dass sie vor allem ein konstruktiver und kombinatorischer Prozess ist. Vererbung bedeutet, dass Neues geschaffen wird, und dies nicht nur in Variation des Alten oder in kleinen Abweichungen davon. Im Gegensatz zur klassischen Evolutionslehre, nach der die Entwicklung einer Population allmählich durch zufällige, winzige Veränderungen voranschreitet, vertritt vor allem Lynn Margulis die These, dass durch die Verschmelzung von unterschiedlichen Fähigkeiten sprunghafte Evolution möglich und sogar der allgemeinere Fall ist. Wenn ein Zelltyp mit einem funktionierenden Sauerstofftransportsystem sich in Symbiose mit einem Zelltyp vereint, dass ein Luftaustauschsystem evolviert hat, ergibt dies zusammen einen funktionsfähigen Atmungsapparat, der sonst vielleicht nie zustande gekommen wäre. Mit einer einzigen wechselseitigen Beziehung kann die Evolution so einen tiefen Abgrund an Zeit überwinden, der sonst nutzlos durch Versuch und Irrtum vertan würde. Denken sie an Legosteine! Sicher ist es möglich, ein Haus nur aus der Grundform eines Legosteintyps zu erbauen. Mehr Spaß macht es aber - es geht schneller und sieht schließlich weit gefälliger aus - wenn man vorgefertigte Fenster und Türen nimmt, und all die anderen vorgefertigten Teile, die Legoland zur Verfügung stellt. Warum sollte jede Entwicklungslinie der Organismen alles selbst evolvieren, wenn man sich die tollsten Entwicklungen auch anders zu eigen machen kann: Als Parasit, durch Symbiose oder durch Verschmelzung und schließlich durch Kooperation und Handelsbeziehungen? Ich werde an späterer Stelle zeigen, dass man das kompositorische Moment in der Evolution möglicherweise besser erfasst, wenn man Begriffe aus der formalen Logik heranzieht. Solche Kombination, so allgegenwärtig sie in der Ökosphäre sind, sind nicht beliebig. Aus der Menge aller möglichen Kombinationen überleben diejenigen Kombinationen, die einen Vorteil gegenüber konkurrierenden Kombinationen aufweisen. Evolution ist keine 83
blinde Kombination sondern echte Konstruktion. Nicht weniger als 1029 einfache Teilchen greifen auf überaus raffinierte Art und Weise ineinander und erzeugen so das System Mensch. Der Meeresbiologe George Liles bemerkt zu recht: Die Zellen und Organe, die das Leben ermöglichen, müssen ziemlich gut konstruiert sein, weil zu leben eine ganz beträchtliche Aufgabe ist.3 Die Fähigkeit zur Höherentwicklung hängt entschieden von den Elementarkräften ab. Ich hatte dies an Hand des Anthropischen Prinzips verdeutlicht. Die Elementarkräfte ermöglichen es der Materie, sich zu immer komplexeren Strukturen zusammenzufinden. Sie verleihen Strukturen Stabilität und verteidigen sie gegen die Entropie, also gegen die Tendenz, wieder zu zerfallen. Wir konnten dies für den Urknall berechnen: Wasserstoff und Helium sind stabile Formen, Beryllium zerfiel aber so schnell wieder, dass es sich nicht zu höheren Komplexen wie einem Kohlenstoffatom organisieren konnte. Aus diesem Grund überlebten nur Wasserstoff, Helium und ein bisschen Lithium. Unter den spezifischen Bedingungen in Sonnen konnten dagegen höher organisierte Atomkerne entstehen. Als dann die Planeten kondensierten, konnten sich die Minerale auf der Höhe der Erdumlaufbahn halten, die hinreichend temperaturstabil waren. Als die Erdkruste abkühlte, konnten sich nur bestimmte Minerale unter den spezifischen Umweltbedingungen wie Temperatur und Druck bilden und aus ihnen die Gesteinsformationen. Kohlenstoff hatte einzigartige Fähigkeiten, komplexe Verbindungen einzugehen. Unter den spezifischen Bedingungen der Erde entstanden daraus die ersten Zellen. Auf Merkur oder Jupiter hatte der Kohlenstoff keine Chance, Ähnliches zu erreichen. Mit der Reproduktionsfähigkeit der Organismen war schließlich ein überaus feinsinniger Mechanismus etabliert, die Entropie noch weitgehender auszutricksen. Dass Entwicklung aufeinander aufbaut, hatte sich schon in der gesamten Geschichte des Kosmos bis zum Entstehen der Planeten gezeigt. Die Ahnenreihe reichte vom Wasserstoff über die Entstehung höherer Atome bis hin zum reichhaltigen Inventar der frühen Erde mit Gesteinen Mineralen und den Grundbausteinen für die ersten Zellen. Nun führten die Organismen eine Art Stabilität zweiter Ordnung ein: Ein Organismus muss nur so lange stabil bleiben, bis er einen Nachfahren erzeugt hat, der in der Lage ist, weitere Nachfahren zu haben. Dies macht das Leben zu einem der stabilsten Konstrukte überhaupt: Es hält sich und differenziert sich nun seit mehr als 3,5 Milliarden Jahren ohne Unterbrechung. Das Leben an sich, einmal entstanden, ist auf unserem Planeten so gut wie unausrottbar. Potentielle Stabilität Die natürliche Selektion (bzw. der biologische Begriff der Fitness) lässt sich meiner Ansicht nach als Stabilitätskriterium auffassen: Etwas existiert, weil es die Fähigkeit hat, unter den gegebenen Umständen seine Einheit oder Form zu wahren. Je stabiler etwas ist, desto mehr werden wir davon finden, falls - dies ist die zweite Bedingung - es überhaupt gebildet wird. Es gibt so viele Protonen, weil sie, wenn überhaupt, erst nach 1030 oder mehr Jahren zerfallen. Auf der anderen Seite konnten höhere Atomkerne als Beryllium während des Urknalls gar nicht erst entstehen, obwohl sie durchaus sehr stabil sein
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können. Es gab keine Möglichkeit für sie, überhaupt zu entstehen. Von Uran schließlich gibt es nicht so viele Atome, weil sie erstens selten entstehen und zweitens nach einer Weile wieder zerfallen. Die potentielle Stabilität einer beliebigen Verbindung von Atomen lässt sich als ihr Vermögen beschreiben unter den gegebenen Umwelteinflüssen zu entstehen und eine spezifische Zeit lang zu existieren. Damit sollten einfache, sehr stabile Konfigurationen von Atomen bevorzugt sein. Betrachten wir die Wechselwirkungen: Eine Struktur von Atomen, zum Beispiel ein Molekül wirkt über die nach außen nicht abgeschirmten Kräfte, vornehmlich der elektromagnetischen Kraft und der Gravitation auf seine Umwelt. Und seine Umwelt beeinflusst es auf dieselbe Weise. Um zu begründen, warum physikalische Systeme überhaupt die Fähigkeit aufweisen, sich bis zu einem Komplexitätsgrad des Menschen zu organisieren, sind zusätzliche Überlegungen notwendig, die ich als Metastabilitätskriterien anführen möchte: • • •
Ein beliebiger Komplex aus Atomen ist dann stabiler, wenn er die von außen einwirkenden destruktiven Einflüsse abschirmen kann; (zum Beispiel durch eine Schutzhülle). Ein beliebiger Komplex aus Atomen ist dann stabiler, wenn er die Fähigkeit besitzt, sich selbst stabil zu halten; (zum Beispiel über Reparaturmechanismen oder über einen Stoffwechsel). Ein beliebiger Komplex aus Atomen ist dann stabiler, wenn er die Fähigkeit besitzt, auf seine Umwelt, für die er selbst optimal konfiguriert ist, stabilisierend einzuwirken.
Diese Metastabilitätskriterien führen unmittelbar zu belebten Komplexen aus Atomen, auf Organismen, die noch eine weitere Regel ausnutzen: •
Ein beliebiger Komplex aus Atomen ist dann häufig zu erwarten, wenn er in der Lage ist, mehr oder minder identische Komplexe seiner selbst mindestens so schnell zu erzeugen, wie er selbst zerfällt. Dies ist die Fähigkeit der Replikation.
Aus den Metastabilitäten resultiert die natürliche Selektion bei Organismen: Verlierer der Evolution sind daran gescheitert, solange zu existieren, bis sie einen Nachfolger gleicher Bauart hatten. Es lässt sich nachweisen, dass die Langlebigkeit von Taxa im Laufe der geologischen Zeiträume zunahm. Dies zeigt, dass es eine Zunahme der Stabilität von Organismen gibt, aufgrund einer verbesserten Fähigkeit, mit den Umweltbedingungen zurechtzukommen.4 Komplexere Lebewesen entstehen, weil sie raffinierter die Metastabilitätskriterien erfüllten. Die Tendenz der Evolution, auf unserer Erde komplexere Organismen
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hervorzubringen, liegt darin begründet, dass ein Anwachsen der Komplexität die Stabilität einer Struktur erhöhen kann. Wie ich noch ausführen werde, können wir das eben gesagte auch auf ganze Ökosysteme anwenden. Dann ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: • •
Ökosysteme bewegen sich immer auf ein Gleichgewicht zu, da von der Selektion immer die stabileren Konfigurationen bevorzugt werden. Wir können dies Homöostasea nennen. Große Ökosysteme sind stabiler als kleine.
Die natürliche Selektion wirkt auf Ökosysteme mit dem Ziel, Stabilität in einer stabilen Umwelt zu erreichen. Diese Idee der Stabilität als Wesenszug der Evolution kann man wunderbar mit Frank Tiplers Postulat vom „ewig belebten Kosmos“ verbinden: Die höchste Stabilität ist zweifellos dann gegeben, wenn die Umwelt so manipuliert wird, dass Leben darin unendlich lange überdauern kann.
3.1
Gaia als Erweiterung des Evolutionsgedankens
James Lovelock entwickelte die Theorie, dass die Entstehung der Arten nicht unabhängig von der Evolution ihrer materiellen Umgebung abläuft. Arten und Umwelt sind eng miteinander verbunden und entwickeln sich als Gesamtsystem. James Lovelock nennt dieses Wesen Gaia.b Der Gedanke leuchtet eigentlich unmittelbar ein, wenn man in Gedanken eine Maus auf dem Mars aussetzt - sie würde wohl keine zwei Sekunden überleben. Organismen passen sich nicht nur selbst durch Mutation an die Außenwelt an, sondern verändern aktiv ihre Umwelt zu ihren Gunsten: Sie manipulieren ihre Umwelt nach ihren Bedürfnissen zum Beispiel durch den Bau von Wohnhöhlen oder Nestern. Genau genommen werden die verschiedenen Lebensräume auf unserer Welt erst durch die gemeinsame Einwirkung sämtlicher in ihr enthaltenden Spezies geformt. Die Prinzipien der Evolution, Selektion und Mutation, werden von James Lovelock also um eine zusätzliche Eigenschaft ergänzt. Es gilt nicht nur, dass sich Organismen, die besser als andere angepasst sind, mit größerer Wahrscheinlichkeit fortpflanzen. Hinzugefügt werden muss, dass das Wachstum eines Organismus seine physikalische und chemische Umgebung beeinflusst. Arten und Umwelt sind eng miteinander verbunden und entwickeln sich als ein Gesamtsystem.5 Lebewesen, die die Fähigkeit entwickeln, ihre Umwelt zu ihren Gunsten zu manipulieren, besitzen einen Selektionsvorteil.
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Unter „Homöostasie“ versteht man zunächst das Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen, z. B. die Stabilität der Verhältnisse beim Blutdruck und bei der Körpertemperatur. Lovelook wendet diesen Begriff auch auf „Gaia“, den planetenweiten alles umfassenden Organismus Erde an. b Gaia ist der Name der griechischen Erdgottheit. Die Bezeichnung Gaia für die Erde als ein einziger umfassender lebender Organismus wurde erstmals vom Nobelpreisträger William Golding eingeführt und von James Lovelook weiter ausgebaut.
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James Lovelock leitete aus dieser Gaia-Theorie Anfang der siebziger Jahre unter anderem die Vorhersage ab, dass es kein Leben auf dem Mars gibt, weil eine Biosphäre auf einem Planeten nicht auf vereinzelte Organismen beschränkt sein kann. Leben könne sich nicht in ein paar Oasen festgesetzt haben, außer zu Beginn oder am Ende der Existenz von Organismen auf einem Planeten. Als Beleg führte er an, dass die Atmosphäre des Mars chemisch inerta sei. Inert bedeutet das Folgende: Nimmt man eine bestimmte Menge Luft aus der Marsatmosphäre, erhitzt sie gemeinsam mit einer durchschnittlichen Gesteinsprobe von der Planetenoberfläche bis zum Glühen und lässt sie dann langsam abkühlen, würde kaum eine Veränderung der Zusammensetzung der Luft eintreten. Auf der Erde muss dagegen jährlich nahezu 1 Milliarden Tonnen Methan nachproduziert werden, um die Konzentration des Methans in der Atmosphäre zu erhalten. Methan ist sehr reaktiv und wird in der irdischen Atmosphäre rasch abgebaut. Messungen der Marsatmosphäre hatten ergeben, dass diese überwiegend aus Kohlendioxid besteht und sie sich chemisch im Gleichgewicht mit der Marsoberfläche befindet. Gäbe es auf dem Mars eine Biosphäre, dann müssten in seiner Atmosphäre Stoffwechselprodukte von Organismen wie Methan oder Sauerstoff nachweisbar sein. Nehmen wir an, auf der frühen Erde vor 3,5 Milliarden Jahren hätte es ausschließlich CO2-fixierende Bakterien gegeben, die mittels der Photosynthese Kohlendioxyd aus der Luft aufnehmen. Dann wäre durch deren übermäßiges Vorkommen in wenigen Jahrmillionen der Kohlendioxydvorrat auf ein sehr niedriges Niveau abgesenkt worden. Da Kohlendioxyd ein bedeutendes Treibhausgas ist, hätte sich dieser Verlust drastisch bemerkbar gemacht: Es wäre sehr kalt auf der Erde geworden. Zum Glück für uns haben sich aber auch Lebewesen entwickelt, die diese CO2-Fixierung wieder aufbrechen und Kohlendioxyd in die Atmosphäre freisetzen konnten. Erst im Wechselspiel dieser beiden unterschiedlichen Stoffwechsel konnte auf der Erde über eine sehr lange Zeit bis heute das Klima stabil auf annähernd derselben Durchschnittstemperatur gehalten werden, obwohl die Strahlung der Sonne stetig zunahm. Die Intensität der Sonnenstrahlung nahm immerhin seit ihrer Entstehung um 40 Prozent zu. Betrachten wir den Mond: Er, der die Sonne im selben Abstand umläuft wie die Erde hat eine Durchschnittstemperatur von m 18°C, die Erde dagegen von plus 15°C. Bei Tieren drückt sich die Fähigkeit, die Umwelt zu manipulieren zum Beispiel in der Klimasteuerung in einem Termitenhaufen, oder im Anlegen einer Bruthöhle aus. Bei Menschen führte sie, wie ich zeigen werde, sogar zur Entwicklung der Moral in der menschlichen Gesellschaft. Denn die wichtigste Einwirkung, die ein so komplexes Lebewesen wie der Mensch auf seine Umwelt ausüben kann, ist diejenige auf seine Mitmenschen. Das Einzigartige bei der Evolution des Menschen war und ist, dass seine wichtigsten Umwelteinflüsse kultureller Natur sind. Und die hat sich der Mensch selbst geschaffen.
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Das Wort „inert“ leitet sich aus dem Lateinischen ab und bedeutet „untätig“, „träge“; „unbeteiligt“.
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3.2
Ökologie
Die meisten Abhandlungen über die Evolution betonen den Konkurrenzkampf. Aber betrachten wir die Fülle der verschiedenen Lebensgewohnheiten, die auf unserer Erde entwickelt wurden, dann liegt ein wesentlicher Aspekt der Evolution eher in der Entwicklung neuer Formen des Zusammenlebens als im Konkurrenzkampf zwischen den oder innerhalb der verschiedenen Arten. Aber die Organismen sind insgesamt darauf angewiesen, mit ihrer gesamten Umwelt zu interagieren. Charles Darwin beschreibt zum Ende seines Buches „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ das, was man heute wohl als Ökosystem betrachten würde: „Singende Vögel auf Büschen mit verschiedenen umherhuschenden Insekten, mit Würmern, die sich durch das feuchte Erdreich wühlen [...] ein Knäuel, in dem auf komplexe Weise alles voneinander abhängig war.6 Und auch Alfred Lotka, ein früher Theoretiker der Biologie betonte 1925, [...] Es ist nicht so sehr der Organismus oder die Art, die evolviert, sondern das gesamte System, Spezies plus Umwelt. Die beiden sind untrennbar verbunden.7 Der russische Geologe Vladimir Vernadsky zog sich schon 1926 mit seinem Buch „Die Biosphäre“ den Zorn seiner Mitwissenschaftler zu, weil er behauptete, Berge, Wasser, der Ozean und die Atmosphäre stellten eine extrem langsame Lebensform dar, weil sie sich in Wechselwirkung mit den anderen Lebewesen in Koevolution entwickeln würden. Ich ziehe in diesem Buch keine eindeutige Trennlinie zwischen der sogenannten „belebten“ und „unbelebten“ Natur, also zwischen zum Beispiel dem Boden und den darin hausenden Organismen. Dass bereits Moleküle der Evolution unterliegen, zeigt jede Form von Organismen: Nicht der Organismus an sich evolviert sondern in ihm bestimmte Proteine. Diese überleben in der Zelle, und verbreiten sich, wenn sie sich als wertvoll erweisen. Damit ergibt sich die Idee „Gaia“ zwanglos. Da alles der Evolution unterliegt, entwickelt sich alles in gegenseitiger Beeinflussung: Es zählt nicht so sehr, was etwas ist, als vielmehr das, was es in einem System bewirkt, also sein Verhalten. Eine der wirkungsvollsten Beeinflussungen meiner Umwelt ist, sie dazu zu bringen, mir im Überlebenskampf beizustehen. Evolution ist kein Gegeneinander der verschiedenen Teilnehmer dieses Spiels nach der einzigen Regel: Recht hat der Stärkere, sondern Evolution ist in erster Linie ein integrierender interaktiver Prozess, um Emergenz zu erzeugen, die wiederum allen zugute kommt. Es geht um die Formen des Zusammenfunktionierens und des Zusammenlebens und der zentrale Begriff der Evolution ist nicht das Individuum sondern die Funktion des Individuums in einem Ökosystem. Ökosystem Nach dem Zoologen und Naturphilosophen Ernst Heinrich Haeckela besteht ein Ökosystem grob gesprochen aus Lebewesen und Umwelt. Nach dieser Definition entstand a
Ernst Heinrich Haeckel, 1834 in Potsdam geboren, prägte den Begriff „Ökologie“. In Anlehnung an die Evolutionstheorie Charles Darwins, zu dessen Verbreitung im deutschsprachigen Raum er einen wesentlichen Beitrag leistete, vertrat er außerdem als einer der ersten die Auffassung der sexuellen Selektion: Die Weibchen erwählen die Männchen. Dies führt zu geschlechtstypischen
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somit plötzlich ein Ökosystem, als der erste Organismus auftauchte, während die davor ablaufenden chemischen Reaktionen noch keinerlei Ökosystem darstellten. Dies erscheint mir nicht gerade schlüssig. Die Urerde war schon vor dem Auftreten der ersten Zelle ein brodelndes Ökosystem. Auf der Urerde agierten, wie in jeder Zelle auch, verschiedenste chemische Moleküle. Lediglich der Größenmaßstab und der Zusammenhang war ein anderer. Gaia war schon Gaia, noch ehe der erste Organismus evolviert war. Diese Annahme erübrigt nebenbei, auf der Urerde den Anfang des Lebens festlegen zu müssen, was eh ein sehr delikates Unterfangen ist. Ich möchte hier ein Ökosystem als ein System definieren: „das sich vollständig aus physikalischen Einzelteilen zusammensetzen lässt, in seiner Gesamtheit aber Eigenschaften aufweist, die durch das Zusammenwirken der einzelnen Bestandteile des Gesamtsystems entsteht.“ Dabei ist das System adaptiv, es organisiert sich im Inneren selbst und ist in der Lage, sich an das Äußere anzupassen. Es ist vollständig aus Einzelteilen zusammengefügt, die wir mit den Mitteln der Physik beschreiben können. Es ist aber mehr als die einfache Summe seiner physikalischen Einzelteile: Ein Ökosystem kann nicht vollständig mit den Mitteln der Physik beschrieben werden. Im Gegensatz zu Frederic Clements, einem der Gründerväter der Ökologie, der in dem Ökosystem „Buchenlaubwald“ einen Superorganismus sah, behaupte ich, dass nicht ein Ökosystem wie ein Organismus anzusehen ist, sondern jeder Organismus als eine spezielle Form eines Ökosystems. Der Begriff Ökosystem ist der universell zu gebrauchende! Oder wie George C. Williams schreibt: Ein Lebewesen ist weniger ein Gegenstand als ein Ort, an dem verschiedene Prozesse ablaufen.8 Die meisten Stoffe in den Geweben von Lebewesen werden innerhalb von Stunden, Tagen oder höchstens Wochen ausgetauscht. Lebewesen sind Systeme kontinuierlicher Stoffflüsse vom Organismus zur Außenwelt und von der Außenwelt in den Organismus hinein. Um das zu testen, versuchen Sie einfach mal, eine Minute lang die Luft anzuhalten. Außerdem kann unser Körper nur zusammen mit seinen Untermietern, zum Beispiel den Darmbakterien, mit denen wir in Symbiose leben, existieren. Ich begreife Gaia als ein umfassendes Ökosystem, wobei jedes Lebewesen für sich eine Teilmenge Gaias, also ein Sub-Ökosystem darstellt. Die russischen Matruschka-Puppen geben ein gutes Beispiel für das, was ein Ökosystem ist: Man öffnet eine Puppe und stellt fest, dass innen wieder eine Puppe ist, nur dass diese kleiner dimensioniert ist. Und wenn wir diese kleinere öffnen, finden wir wieder eine kleinere Puppe und so weiter. Gaia ist eine sehr Große Puppe, eine Zelle eine sehr kleine. Wenn man keinen prinzipiellen Unterschied zwischen belebter und unbelebter Natur macht, ergibt sich damit, dass wir auch Aquarien und Autos als Ökosysteme auffassen müssen. Aquarien sind Ökosysteme, die mit technischen Systemen eng verzahnt sind und
Merkmalen wie den überlangen Schwanzfedern der Pfauenmännchen oder den ausladenden Geweihen der Elche. Er lehrte seit 1865 am neu gegründeten Lehrstuhl für Zoologie der Universität Jena. Er starb 1919.
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sie besitzen die Eigenschaft, enorm beruhigend auf die menschliche Psyche zu wirken eine Fähigkeit, die sie als Sub-Ökosystem im Ökosystem Haus stabil hält. Autos bestehen aus physikalisch beschreibbaren Einzelteilen und sie haben einen Stoffwechsel - der bei der heutigen Technik allerdings leider nicht sehr ökologisch ist. Die über die Einzelteile hinausgehende Fähigkeit von Autos, ihre Emergenz ist, fahren zu können. Diese Fähigkeit entsteht aus der Kooperation der einzelnen Komponenten. Ein Vorteil meiner Definition liegt darin, dass sie die Komponenten des Systems wertfrei und egalitär behandelt und damit eine der Grundforderungen der Wissenschaft erfüllt: Vorurteilsfrei zu sein. Naturschützer pflegen eine intuitive Wertsetzung, nach der ein Hamster etwas Gutes, eine Straße, die durch das Gebiet einer Hamsterkolonie führen soll aber etwas Schlechtes ist. Das sollen sie auch durchaus, aber diese Vorurteile pflegen nicht nur Naturschwärmer, sondern auch ernsthafte Wissenschaftler. Es liegt bereits in der Definition Ernst Heinrich Haeckels begründet, der lebendige (wertvoll) und nichtlebendige (wertlos) Systemkomponenten trennt. Mit solchen Vorurteilen können wir aber nur schwer unsere heutigen, durch und durch technisierten Ökosysteme wie zum Beispiel unsere Städte, wissenschaftlich erforschen. Das Ökosystem, in dem wir heute überwiegend leben, ist die Stadt. Häuser sind hier gleichrangige Bestandteile des Ökosystems wie deren Vorgärten, Bäume konkurrieren um die Ressource Platz auf der Straße wie die Autos, und eine Voliere mit ihren Vögeln teilt sich den akustischen Raum mit der Stereoanlage. Zwischen allen Komponenten in einer Stadt ergeben sich vielfältige Zusammenhänge, aus denen vielfältige Arten von zusätzlichen Fähigkeiten hervorgehen: Die Emergenz des Gesamtökosystems Stadt ergibt sich aus der Verdichtung der Siedlung von Menschen. Eine Stadt kann Theater und Opernhäuser hervorbringen, etwas, zu dem in aller Regel kein Dorf in der Lage ist. Das Sub-Ökosystem „Straße“ vervielfältigt die Geschwindigkeit, mit der Handelsströme fließen können. Straßen sind ohne Autos nur halb so viel Wert und ohne Bäume doppelt so hässlich. Die Beschleunigung der Handelsströme ermöglicht höheren Gewinn und damit letztlich wieder, dass mehr Menschen auf engem Raum, nämlich in einer Stadt, zusammenleben können. Vögel im Käfig erfreuen den Menschen durch ihren Gesang, der Mensch gibt ihnen dafür Schutz und Futter. Stereoanlagen besetzen eine ähnliche ökologische Nische in einem Haus. Der Mensch gibt ihnen Strom, sie erfreuen ihn mit Musik. Die Nische, die Musikanlage oder Voliere besetzen, mag in beiden Fällen die Ästhetik sein, die wir in der Musik der Vögel oder CD wahrnehmen. Vögel entstanden in einem „natürlichen“ Ökosystem, eine Stereoanlage kann erst durch das Ökosystem „Stadt“ entstehen. Wir brauchen dafür Bands, Instrumentenhersteller, CD-Fabriken, Marketingexperten und Strom. CD´s sind gewissermaßen die Früchte, der Baum sind die CD-Fabriken und dieser „Baum“ steht in dem Garten: „Musikindustrie“. Eine Stadt besitzt ineinandergreifende Organisationsebenen wie unsere „natürlichen“ Ökosysteme. Es gibt globale Leitungssysteme wie Wasser und Strom, lokale Organisationsebenen wie Wirts-, oder Kaufhäuser, und abgeschlossene kleine Ökosysteme wie Einzimmerwohnungen mit Küche und Bad. Ein Bad wiederum stellt eine eng 90
umgrenzte Funktionseinheit in der Wohnung dar, ähnlich wie eine Organelle in einer Zelle. Eine Stadt produziert Mehrwert, der sich aus dem Zusammenwirken der einzelnen Komponenten ergibt. Auf der Ebene der Menschen können wir diesen durch Geldwert quantifizieren: Ein Ökosystem ist dann nichts anderes als eine Ökonomie und es gilt das Gesetz der zunehmenden Erträgea: Je mehr mitmachen, desto mehr Gewinn ergibt sich für alle. Dienstleistungen in einer Stadt werden von Menschen erbracht, die vornehmlich ihr eigenes Wohl im Auge haben, sie wollen Geld verdienen. Gleichzeitig ermöglichen sie aber erst, dass eine Stadt als Ökosystem funktioniert. Sie sind Bestandteile einer größeren Funktionseinheit. Fraktale Systeme Unter Fraktalen versteht man Muster, bei denen sich die allgemeinen charakteristischen Eigenschaften über einen großen Skalenbereich wiederholen (Abbildung 19). Sie sind gewissermaßen die naturwissenschaftliche Theorie zu den Matruschka-Puppen.
Abbildung 19: Ein klassisches Beispiel von Fraktalen. Bei dieser Art von Blumenkohl wiederholt sich die wendeltreppenförmige konische Form des ganzen Kopfes (1) in jeder Rosette (2). Die Rosetten selbst sind wiederum aus einzelnen Rosetten aufgebaut, die eine Größenordnung kleiner sind.
Wenn wir den Kosmos insgesamt, Galaxien und schließlich einzelne Sterne betrachten, so haben wir drei verschiedene Größenordnungen mit immer denselben physikalischen Gesetzen. Wir können sie als Ökosysteme unterschiedlicher Größenordnung auffassen. Galaxien umfassen die Sonnen und Planeten als Ökosystem, und der Kosmos die a
Dieses Gesetz lässt sich gut am Beispiel des Telefons verdeutlichen: Wenn nur einer eines besitzt, ist es völlig wertlos. Bei zwei Telefonen hat es bereits einen Wert, aber einen eher bescheidenen: Der Wert eines Telefons steigt mit jedem neuen Teilnehmer im Telefonnetz kontinuierlich weiter an.
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Galaxien. Wie die Apfelmännchen, die wohl berühmtesten Darstellungen im Zuge der mathematischen Theorie der fraktalen Systeme, tauchen Ökosysteme immer wieder auf, wenn ich ein Ökosystem in Teile zerlege: Ökosysteme bestehen aus Ökosystemen. Die Charakteristik ist dabei, dass sie auf jeder Größenskala denselben physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Und sie befinden sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht, sie haben gewissermaßen einen Stoffwechsel. Evolution ist ein Begriff, der auf mehr und mehr naturwissenschaftliche Gebiete ausgeweitet wird. Selbst die Sprache der Astronomen ist mittlerweile biologisch eingefärbt: Man spricht von sich bildenden, sich entwickelnden und schließlich aussterbenden Populationen von Sternen. Bei der Sternbildung geht es um den Wettstreit von Einzelobjekten um natürliche Vorräte, um die Materie von Molekülwolken. Selbst auf der Größenskala der Galaxien entdecken die Astronomen allmählich einen gigantischen ökologischen Apfelmann. Unsere Milchstraße ist weit von ihrem thermischen Gleichgewicht entfernt und erhält trotzdem einen gleichbleibenden Zustand in ihren einzelnen Regionen aufrecht. Dafür muss es ein System von Prozessen geben, das die Materie in einem Kreislauf durch die verschiedenen Komponenten der Galaxis schleust. Und es muss eine Art Rückkopplung geben. Die Astronomen sind diesem ökologischen Geschehen auf der Spur: Danach ist eine Galaxis ein System, in dem der Prozess der Sternentstehung kontinuierlich als Teil eines anscheinend stabilen Kreislaufs von Energie und Materie stattfindet. Supernovae sind dabei für die Geburt weiterer Sterne notwendig, es gäbe ohne sie nicht genügend Energie, um die Sternentstehung immer wieder neu anzuregen.9 Selbst auf der größten Skala, dem Universum sprechen Wissenschaftler heute von einer Evolution, durch die Galaxien entstanden und sich weiterentwickelt haben, wobei diese miteinander wetteifern, fusionieren und einander auffressen. Wahrscheinlich waren in den letzten sieben bis acht Milliarden Jahren die Hälfte der Galaxien in Kontakt mit einer anderen Galaxis, wobei sich eine Reihe von Austausch- und Sternbildungsprozessen ereigneten und sich die Dynamik dieser Galaxien insgesamt änderte. Einheit-Ökosystem-Einheit Ich möchte dies noch einmal vertiefen: Wir haben es einerseits überall mit Ökosystemen zu tun, auch wenn wir diese normaler Weise als Individuen, als Organismen bezeichnen. Andererseits, wenn wir ein Ökosystem in Einzelteile zerlegen, erhalten wir wieder nur Ökosysteme. Das eine Mal gehe ich von der Einheit des Individuums aus, die nur scheinbar ist, das andere Mal gehe ich vom Ökosystem aus, das sich immer weiter untergliedern lässt, ohne dass ich schließlich eine abgeschlossene Einheit erhalte. Bei einem Bakterium, bei einer Pflanze oder einem Tier sprechen wir intuitiv von einer Einheit. Aber Vielzeller wie die Pflanzen und Tiere sind aus einzelnen Zellen zusammengefügt, sie sind Kolonien von Einzellern, die gelernt haben, eng miteinander zu kooperieren. Es sind einzelne Zellen, die sich gegenseitig unterstützen, untereinander kommunizieren und die zusammen eine Kuh ergeben. Aber selbst eine Kuh ist als Kuh betrachtet keine Einheit. Kühe sind auf die Ciliaten und Bakterien in ihrem Verdauungstrakt angewiesen, die ihnen die Nahrungsstoffe aus dem Gras oder dem Holz 92
aufschließen, und auch der Mensch ist dicht mit anderen Lebewesen besiedelt, von denen einige im Darm lebende Bakterien ihm lebenswichtige Stoffe wie B- und K-Vitamine liefern. Intuitiv gehen wir umgekehrt davon aus, dass das Zusammenwirken von verschiedenen Einzelteilen keine Einheit darstellt, wenn die einzelnen Bestandteile ein hohes Maß an Autarkie besitzen. Auch diese Intuition trügt: Denn ebenso, wie sich der Mensch auf einer niedrigeren Ebene in „lebendige“ Zellen zerlegen lässt, ist er auf einer höheren Ebene selbst Teil einer größeren Einheit, der Gesellschaft, in der er lebt. Auf der höchsten Ebene ist der Mensch Teil des weltumfassenden Organismus Gaia. Ein Primatenforscher fasste seine Erkenntnisse über die Notwendigkeit einer Gemeinschaft bei Affen einmal so zusammen: Ein einzelner Schimpanse ist überhaupt kein Schimpanse. Und auch ein einzelner Mensch ist kein Mensch, wie das traurige Beispiel eines Casper Hauser zeigte. Einige Arten der Blattschneider-Ameisen können Kolonien bilden, die bis zu acht Millionen Ameisen umfassen und damit an die Biomasse einer ausgewachsenen Kuh heranreichen. Und sie benötigen auch ungefähr soviel Grünfutter, wie ein Rind. In diesen Lebensgemeinschaften übernehmen Individuen klar umrissene Funktionen, agieren autark, sind aber für sich allein nicht lebensfähig. William Morton Wheeler beschrieb im Jahre 1911 einen Ameisenhaufen als einen Organismus, der Soldaten anstatt eines Immunsystems, Arbeiterinnen anstelle eines Magens und eine Königin anstelle der Eierstöcke besitzt. Wie gesagt, ich würde dies nicht als ein „Organismus“, sondern als ein Ökosystem betrachten. Im Organismenreich gibt es fließende Übergänge der Zusammenarbeit. Eine der frühesten Kooperationen war die Arbeitsteilung in einer Bakterienkolonie, wie sie in sogenannten Stromatolithena stattfanden. Stromatolithen, ihre Geschichte reicht bis in die Anfänge des Lebens vor 3,5 Mrd. Jahren zurück, finden sich als Ablagerungen, die in Küstenlagunen im sulfatreichen Wasser einer unterseeischen Vulkanlandschaft entstanden sind. Kolonien verschiedener Mikroorganismen hatten eine kissenförmige Abfolge von Schichten mineralischer Körper und Krusten aufgebaut. Man konnte bis zu elf verschiedene Typen von Bakterien identifizieren. Flechten, als klassisches Beispiel für enge Kooperation, bestehen aus einer Alge und einem Pilz. Zusammen erschließen sie sich Lebensräume, die weder Pilz noch Alge allein einnehmen könnten. In unseren Wäldern gemäßigter Klimazone sind die Organismen zum Teil direkt aufeinander angewiesen, wie das Beispiel der Symbiose zwischen Baum und Mykorrhizab zeigt. Daneben gibt es mittelbare Abhängigkeiten in unterschiedlicher Abstufung. So sind die Bäume des Waldes als Primärproduzenten in der Nahrungskette ihrerseits darauf angewiesen, dass ihre abgefallenen Blätter von anderen Organismen recycelt werden, damit die Mineralstoffe für den Baum wieder verfügbar werden. Ein schönes Beispiel für artübergreifende Kooperation finden wir im hohen Norden. Dort gehen Eisbären, a
Stromatolithen bestehen aus aufeinanderfolgenden Schichten mineralischer Körper und Krusten, die von Kolonien verschiedener Mikroorganismen aufgebaut werden. b Mykorrhiza bezeichnet die Symbiose aus Pilzgeflecht und Wurzeln von höheren Pflanzen.
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Polarfüchse und Elfenbeinmöwen gemeinsam auf Jagd nach Robben. Da die Eiswüste groß und der Robben wenige sind, muss der Eisbär seine Beute schon auf Zehner von Kilometern aufspüren. Dies übernimmt ein Schwarm Möwen für ihn. Sie halten nach Robben Ausschau und, wenn sie eine entdeckt haben, kreisen sie laut kreischend über ihr, um den Eisbären zu informieren. Hat sich dieser auf einige hundert Meter dem Opfer genähert, kommt der Polarfuchs ins Spiel. Er umgeht das Opfer und führt von der gegenüberliegenden Seite Scheinangriffe auf die Robbe. Die nimmt dies natürlich nicht ernst, da ihr der Polarfuchs nicht gefährlich werden kann. Aber damit lenkt der Fuchs die Robbe so weit ab, dass der Bär sich heranpirschen kann. War die Jagd erfolgreich, bekommen alle drei Tierarten ihren Teil der Beute ab. Schließlich gibt es die globale Kooperation. In großen Regelkreisläufen sind die Tiere auf Sauerstoffproduzenten, also auf Cyanobakterien und Pflanzen angewiesen, die ihnen den Nachschub an diesem Gas aus Wasser produzieren. Die Pflanzen sind wiederum auf die Sauerstoffatmer angewiesen, da sich die Wälder bei zu hohem Sauerstoffgehalt selbst entzünden würden. Kein Lebewesen kann für sich allein existieren, jeder Organismus ist auf ein ganzes Organismenreich angewiesen. Ein einzelner Schimpanse ist noch viel weniger ein Schimpanse, als der Primatenforscher glaubte. Organismen und Umwelt sind eng miteinander verflochten und entwickeln sich als Gesamtsystem. Klima, Boden und Vegetation sind untrennbar miteinander verbunden: Das Klima bestimmt den Vegetationstyp, aber auch die Bodenentwicklung. Andererseits hängt die Bodenentwicklung in entscheidendem Maße von den Organismen ab, die ihn besiedeln. Auf der globalen Ebene manifestiert sich Gaia, das allumfassende Netzwerk der Biosphäre. Ohne dieses Netzwerk von unterschiedlichen Organismen gäbe es entweder zuviel oder gar keinen Sauerstoff in der Luft. Die Erde wäre erheblich kälter oder schon längst durch große Hitze sterilisiert. Wahrscheinlich gäbe es auch kein Wasser auf der Erde, hätte die Biosphäre nicht gegen den Verlust des Wassers angearbeitet. Ökosystem als Funktionseinheit Überall, wo sich uns eine funktionale Einheit zeigt, die mehr darstellt als nur die Summe der Einzelteile, können wir diese als Ökosystem betrachten. Die kleinste Skala dieser ineinander geschachtelten Ökosysteme umfasst die Grundeinheiten der Materie wie Quarks oder Leptonen. Aus diesen Grundbausteinen fügen sich die Atome zusammen. Diese bilden Moleküle, die sich in der Welt der Zelle zu Organellena organisieren. Organellen bilden Zellen. Die nächste Organisationsstufe sind die Organe des Körpers. Dann kommen die Tiere und Pflanzen, Gemeinschaften gleicher Organismen, lokale Ökosysteme, größere Ökosysteme die auf Kontinenten und Meeren zusammengefasst sind. Auf allen Stufen können die Einheiten nur in ihren vernetzten Strukturen bestehen. Alles auf der Erde hängt voneinander ab und ergibt zusammen das umfassende Ökosystem Gaia. Und auch Gaia ist eingebunden in eine größere Einheit, dem Sonnensystem. Selbst a
Organellen sind Bestandteile von Zellen mit spezifischen Strukturen und Funktionen. Auf ein Auto übertragen wäre der Motor oder eine Klimaanlage eine Organelle des Wagens.
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eine Galaxis scheint eine Art von Ökosystem zu sein. Eine Galaxis erscheint vielleicht schon unüberschaubar groß, aber der menschliche Körper besitzt mehr einzelne Zellen, als unsere Galaxis Sterne. Auf der höchsten Ebene ist es der Kosmos selbst, der als universales Ökosystem alles umschließt. Veranschaulichen wir uns dies noch einmal am Beispiel der Zellen: Zellen sind die Grundeinheit des Lebens schlechthin. Neben den Einzellern wie Bakterien, die trivialer Weise aus einer Zelle bestehen, setzen sich auch alle höheren Lebensformen aus einem Verbund mehr oder minder autarker Zellen zusammen. Die meisten Zellen sind relativ klein, vielleicht ein Zehntel oder ein Hundertstel eines Millimeters im Durchmesser. Das Innere einer Zelle wird durch eine Membran von der Außenwelt abgeschottet. Nahrung gelangt nur kontrolliert in die Zelle hinein und Ausscheidungsprodukte nur kontrolliert hinaus. Im Inneren einer Zelle schwimmen im sogenannten Zytoplasma, einer wässrigen Lösung, verschiedene spezialisierte chemische Verbindungen, die alle chemischen Prozesse wie den Stoffwechsel oder die Vermehrung kontrollieren. Bestimmte Teile der Zelle dienen der Energiegewinnung, entweder mittels Sonnenlicht oder aus chemischen Verbindungen. Der Zellkern, falls die Zelle einen hat, steuert und kontrolliert die Arbeiten in der Zelle durch chemische Botenstoffe. Eukaryotischea Zellen haben bis zu drei verschiedene halb-autonome Untereinheiten, Organellen, die für spezifische Aufgaben ausgelegt sind: Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, Chloroplasten, in deren Innerem die Photosynthese abläuft und die Undulipodien, der Antrieb. Undulipodien sind bewegliche Geißeln am Äußeren einer Zelle, mit deren Hilfe sich die Zelle fortbewegen kann. Membranen ermöglichen es der Zelle, die Umweltbedingungen in ihrem Inneren gegenüber der Außenwelt stabil zu halten: Im Meer bedeutet dies u. a., den Salzgehalt in der Zelle gegenüber dem des Meerwassers gering zu halten. Denn ein ähnlich hoher Salzgehalt, wie wir ihn im Meerwasser finden, würde in der Zelle die meisten lebenswichtigen chemischen Reaktionen unterbinden. Wir können das Innere einer Zelle als Ökosystem betrachten. Und damit können wir eine Zelle problemlos mit einem Ökosystem wie der Raumstation ISS vergleichen: Unzweifelhaft besitzt die ISS eine Außenhülle, die es ihr erlaubt, einen definierten Systemzustand im Inneren aufrechtzuerhalten. Sie hat einen Stoffwechsel, der auf Zulieferung von Außen angewiesen ist und sie scheidet Müll aus. Im Inneren agieren verschiedene Funktionseinheiten wie technische Apparate und Menschen. Sie hat einen Antrieb, ein Kraftwerk und statt Chloroplasten besitzt sie Sonnensegel, die eine ganz ähnliche Funktion ausüben. In Zellen wie in Raumstationen wirken dieselben physikalischen Gesetze. Beide Systeme unterliegen in ihrer Gesamtheit der Evolution, denn auch die ISS hat große Teile ihrer Baupläne von Vorgängern geerbt.
a
Dies ist die Bezeichnung für alle Organismen, deren Zellen einen Zellkern aufweisen.
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Der Körper als Ökosystem Ein Kernbegriff des Ökosystems ist die Homöostasie, das Bemühen, einen Gleichgewichtszustand zu erhalten. Ich hatte diesen Gleichgewichtszustand als Stabilitätskriterium bezeichnet und ihn mit der natürlichen Selektion verknüpft. Wie nützlich es ist, seinen eigenen Körper als Ökosystem zu begreifen, möchte ich an einem kleinen Beispiel verdeutlichen: Es gibt eine unübersehbare Vielfalt an Diäten und unglaublich viele Menschen in den Industrieländern, die versuchen, damit ihr Gewicht zu reduzieren. Udo Pollmer und Susanne Warmuth schreiben dazu lapidar: Alle Versuche, das Gewicht dauerhaft absenken zu wollen, sind bei einem gesunden Körper zum Scheitern verurteilt.10 Es gibt nämlich eine individuelle, genetisch bedingte Grundeinstellung für die „Futterverwertung“. In der Regel wird in etwa der Tagesbedarf an Kalorien aus der Nahrung herausgezogen. Ist die Nahrung knapp, wird sie besonders gut verwertet, gibt es einen Überfluss, werden die überflüssigen Kalorien ausgeschieden. Eine verminderte Nahrungszufuhr interpretiert unser Körper als Notfall, auf den er wie folgt reagiert: Er versucht, die Nahrung besonders gut zu erschließen und er drosselt den Grundumsatz des Körpers. Aber er tut noch etwas: Er lernt. Er lernt, dass es schlechte Zeiten gibt. Wenn die Nahrungsaufnahme wieder erhöht wird, verwertet der Körper die Nahrung solange weiter nach dem Notplan, bis das „normale“ Gewicht erreicht ist. Und weil er gelernt hat, dass es Notzeiten gibt und man dafür besser ein paar Reserven anlegt, stellt er das erstrebenswerte Gewicht, den neuen Normalzustand etwas höher ein. Der Erfolg jeder Diät ist also nicht die Gewichtsabnahme, sondern im Gegenteil die Zunahme: Der Körper ist ein kompliziertes System, dass einen stabilen Gleichgewichtszustand anstrebt und versucht, diesen zu erhalten. Individualität Sehen wir das Leben als ein Treiben in einem Ökosystem, so können wir Individuen einerseits als kleine abgeschlossene Ökosysteme betrachten oder aber als Module. Nun muss es eine Begründung geben, warum es überhaupt Individualität von Funktionseinheiten, warum es relativ autarke Module gibt, anstatt eine einzige große Struktur. Einen Hinweis erhalten wir aus Beobachtungen von neuronalen Netzen. Neuronale Netze bestehen grob aus sogenannten Knoten und den Verbindungen dieser Knoten. Die Knoten können wir als autarke Funktionseinheiten, also als Module betrachten. Die Verbindungen stellen das Maß der Einbindung ins System dar. Stellen wir uns einmal ein Telefonnetz vor. Wir haben die Aufgabe, drei Städte mit Telefonkabeln zu verbinden: Kansas City, San Diego und Seattle (Abbildung 20). Wir benötigen dafür 4 800 Kilometer Kabel. Sie werden sicher intuitiv denken, dass die Gesamtkabellänge wachsen muss, wenn wir eine vierte Stadt zu verkabeln haben. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, wenn wir die Stadt in das Dreieck der ersten drei Städte hineinlegen und alle Verbindungswege über diese Stadt laufen lassen: Wir nehmen Salt Lake City, und der Gesamtweg verkürzt sich um fünf Prozent auf 4 584 Kilometer. Man kann also Netzwerke verkürzen, wenn man zusätzliche Knotenpunkte, autarke Einheiten einführt. 96
Andererseits entdeckte 1968 der Organisationsforscher Dietrich Braess das nach ihm benannte Paradoxon: Zusätzliche Leitungsstrecken in einem überlasteten Netzwerk können das Netz insgesamt verlangsamen. Wenn Sie eine zusätzliche direkte Leitung von Seattle nach San Diego ziehen, kann es passieren, dass das Netz dadurch nicht schneller, sondern langsamer wird! Abbildung 20: Mögliche Verbindungen zwischen mehreren Städten. Man sieht unmittelbar, dass sich die Wegstrecken insgesamt verkürzen, wenn man einen weiteren Knotenpunkt (Salt Lake City) dazu nimmt.
Insgesamt können wir daraus den Schluss ziehen, dass es in einem neuronalen Netz ein Optimum an Knoten und Verbindungen geben muss, bei dem es seine maximale Leistung erreicht: Eine einseitige höhere Vernetzung bei gleichbleibender Knotenanzahl würde die Leistung des Netzes schmälern. Das Braess-Paradoxon ist meiner Ansicht nach eine Begründung für Modularität: Wenn eine stärkere Einbindung ins ökologische Netzwerk das Gesamtnetz lediglich belasten würde, stellt die Zunahme der Autarkie eines Moduls eine Gegenstrategie bei der Konstruktion eines Ökosystems dar. Der Physiker Shlomo Havlin von der Bar-Ilan Universität in Israel kommt zu einer weiteren Begründung. Das Internet muss sich einerseits gegen Computerviren zur Wehr setzen, andererseits gegen Hacker. Viren greifen eine große Zahl von Rechnern gleichzeitig an, sind aber vergleichsweise einfach abzuwehren. Hacker dagegen greifen nur sehr gezielt an, sind dafür aber in der Lage, noch die kleinste Sicherheitslücke zu finden und darüber einzudringen. Computernetze bestehen aus Rechnern und ihren Verbindungen. Gäbe es nun nur ein paar zentrale Rechner mit sehr vielen Verbindungen, so wären diese sehr verwundbar gegenüber dem Angriff von Hackern. Eine Vielzahl an Rechnern mit wenigen Verbindungen ist hingegen recht immun gegenüber Hackern. Doch reagieren diese sehr empfindlich auf Virenattacken, was Großrechner nicht tun. Zentrale Rechner sind in der Regel gegen Viren gut abgeschottet. Shlomo Havlin konnte mittels mathematischer Theorie zeigen, dass der Mittelweg eines Netzes aus großen und kleinen Rechnern, ein Mit- und Nebeneinander großer und kleiner Einheiten am stabilsten ist.11 Der Vorteil dieser Betrachtungsweise Nun muss ich es natürlich begründen, wenn ich ein Paradigma der Biologie umwerfen und mich vom Begriff des Organismus als zentrales Objekt der Biologie verabschieden möchte. Zunächst ist zu nennen, dass wir damit eine elegante grundlegende Beschreibung hätten, wie es die Physik mit ihren Gesetzen vormacht: Gravitation beschreibt über viele Organisationsebenen hinweg so unterschiedliche Phänomene wie den Fall eines Apfels, 97
den Aufbau einer Sonne, die Bewegung eines Planeten um einen Stern und die Gestalt einer Galaxis. Mit dem Ökosystembegriff können wir so unterschiedliche biologische Objekte wie einen Organismus, ein Organ, eine Zelle ebenso gut beschreiben wie einen Wald oder Gaia. Selbst unser Gehirn lässt sich als Ökosystem begreifen. Der Verstand ist nach Edward Wilsons Worten ein sich selbst organisierendes Gemeinwesen einzelner Szenarien.12 Alles ist mit Allem verbunden. Was Lee Smolin für die Quantenmechanik feststellt, gilt auch für die Biologie. Auch ihre Kernaussage muss sein, dass sich die Welt nur dann vollständig beschreiben lässt, wenn wir sie als ein zusammenhängendes Ganzes verstehen. Sich als Teil eines umfassenderen Gebildes zu verstehen, sei es in die Natur oder in der Gesellschaft macht uns plausibler, dass es für jeden von uns von Vorteil ist, das Ganze im Auge zu behalten, also uns natur- wie sozialverträglich zu verhalten. Und es beugt der Arroganz vor, die die Weißen in Südafrika und die Nazis in Deutschland umtrieb: Sich für etwas Besonderes, Herausgehobenes zu halten. Der Ökosystembegriff führt uns direkt zu Fragen wie Moral in der Gesellschaft und zu teleologischen Themen. Denn diese Definition vermittelt den Sachverhalt, dass wir alle Teil eines Ganzen sind, dass wir wohl individuell fühlen und handeln, aber dass wir auch undenkbar sind ohne den Rest unserer direkten Umwelt, unserer Erde, unseres Sonnensystems, unserer Galaxis oder unseres Kosmos. Diese Betrachtungsweise führt dazu, dass wir das Universum als einen einzigen zusammenhängenden allumfassenden Kosmos begreifen. Dies ist eine Auffassung, die religiösen Systemen wie dem Buddhismus mit seinem allumfassenden Weltgeist bereits sehr nahe kommt. Diese Definition fügt wieder zusammen, was der französische Philosoph, Wissenschaftler und Mathematiker René Descartesa mutwillig auseinander gerissen hat: Die Trennung zwischen der materiellen (res extensa) und der denkenden Substanz (res cogitans). René Descartes trennte den Menschen, der als Einziger dank seiner Seele Anteil am Göttlichen hat, vom Rest des Universums ab. Das übrige Inventar des Kosmos gehorchte hingegen nur der Newtonschen Mechanik. Nach seiner Philosophie waren selbst Tiere, obwohl sie offenbar Schmerz fühlen, seelenlose Automaten. René Descartes war damit Wegbereiter der Wissenschaft. Seine Ansicht erlaubte es, den nicht-göttlichen Teil der Welt naturwissenschaftlich zu erforschen, während der göttliche Teil des Kosmos Sache der Theologie blieb; insbesondere die Seele des Menschen. Folgen wir Frank Tipler mit seiner Ansicht, dass Theologie Teil der Physik ist, so können wir nun den göttlichen Geist der Schöpfung in jedem ihrer Teile wieder entdecken, ohne in den Bannstrahl der Gotteslästerung zu geraten. Es wird damit möglich, auch die Seele des Menschen zu erforschen. a
René Descartes, 1596 in La Haye, in der Touraine geboren, gilt als Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Er versuchte, die Methodik der Naturwissenschaften, vor allem die der Mathematik, auf die Philosophie zu übertragen. Seine „Cartesianismus“ genannte Theorie führte zu einem System von mechanischen Erklärungen der physikalischen Phänomene. Aus Angst vor der katholischen Kirche ließ René Descartes wesentliche Teile seines Werkes erst nach seinem Tod 1650 veröffentlichen. Der Papst setzte sie dann auch prompt auf den Index librorum prohibitorum.
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3.3
Genesis, vierter Tag: Die Entstehung des Lebens
Dann sprach Gott: „Es lasse grünen die Erde Grünes, Kraut, das Samen bringt, und Fruchtbäume, die Früchte auf Erden tragen, in denen ihr Same ist.“ Und es geschah so. Die Erde brachte Grünes hervor, Kraut, das Samen bringt nach seiner Art, und Bäume, die Früchte tragen nach ihrer Art, in denen ihr Same ist.13 Bemerkenswert an diesem Bibelzitat ist zweifellos, wie sehr hier die Betonung auf den Samen, also die Weitergabe des Lebens gelegt wird. Dies ist sicher eine bedeutende Einsicht in die Biologie der Erde. Allerdings startete das Leben nicht als terrestrische Pflanzenwelt. Diese entstand erst rund 3 Milliarden Jahren nach den ersten Einzellern, obwohl die Photosynthese, Grundlage der Pflanzenwelt, schon damals erfunden wurde. Biologen ziehen heute nicht mehr ernsthaft in Zweifel, dass es lediglich der Physik und der Chemie bedürfe, um alle biologischen Mechanismen verstehen zu können. Die Biologen nennen das die „Doktrin des Mechanismus.“ Göttliches Einhauchen von Lebenskraft war für die Entstehung von Organismen auf der Erde nicht vonnöten. Die Entwicklung des Lebens auf der Erde verlief in aufeinanderfolgenden kleinen Schritten hin zu immer höherer Komplexität und wir müssen annehmen, dass Evolution bereits auf die Vorläuferstrukturen des Lebens eingewirkt hat. Die Vorläufer der ersten Organismen konnten auf der Urerde auf ein reichhaltiges Angebot komplexer chemischer Moleküle zurückgreifen. Zu dieser Ursuppe dürfte in nicht unerheblichem Umfang beigetragen haben, dass sich komplexe organische Verbindungen schon in der Ausgangswolke fanden, aus der das Sonnensystem entstanden war: Die Ursprünge komplexer organischer Verbindungen, aus denen sich die Organismen auf der Erde entwickeln konnten, lassen sich also weit früher datieren als die 4,5 Milliarden Jahre, die die Erde alt ist - und sie liegen tief in den Weiten des Weltalls. Von da ist es dann nicht mehr sehr weit bis zurück zum Urknall und so liegt auch hier der Schluss nahe, das die Evolution der Organismen buchstäblich bis zum Anfang des Kosmos zurückreicht. Unter den so lebensfeindlich erscheinenden Bedingungen des eisigen Weltraums können sich durchaus komplexe organische Moleküle aufbauen. Kometen haben einen nie abreißenden Strom von biochemischen Grundstoffen geliefert. Die Moleküle stammten aus der Ursprungswolke, aus der das Sonnensystem hervorging. Wie Jennifer Blank auf der Tagung der American Chemical Society berichtete, können selbst so komplexe Verbindungen wie die in Kometen gefundenen Aminosäuren den Einschlag auf der Erde überstehen.14 Die Anfänge des Lebens Auf unserer Erde scheint es lediglich eine Wurzel des Lebensbaumes zu geben. So unterschiedliche Arten wie die Bakterien, die Fische, die Vögel oder die Pflanzen bestehen alle aus den drei Grundbausteinen RNS, DNS und Proteinen. Sie alle beziehen ihre Energie aus ähnlichen Stoffwechseln, orientieren sich mit ähnlichen Sensoren. Da liegt der Schluss nahe, dass alle Arten von Lebewesen auf unserem Planeten mehr oder weniger eng miteinander verwandt sind.
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Der Akt der Entstehung von Organismen auf der Erde spielte sich wahrscheinlich in mehreren deutlichen Entwicklungsschüben ab, wobei jede Stufe durch die Erfindung einer grundlegenden Neuerung gekennzeichnet ist: Voraussetzungen waren die Sonneneinstrahlung oder vulkanische Aktivitäten, flüssiges Wasser als Lösungsmittel und eine Chemie, die durch die Uratmosphäre und eine Reihe organischer Verbindungen oder durch die Chemie in der Nähe unterseeischer Vulkanaktivitäten charakterisiert war. Als erster Schritt entwickelte sich eine einfache Kopiermaschine, die aus den vorhandenen Materialien Kopien ihrer selbst erzeugen konnte. Dabei kam es ständig zu unkorrekten Kopien (Mutationen) und zu einer Dominanz besonders erfolgreich sich selbst kopierender Moleküle (Selektion): Die Evolution hatte mit ihrer Selektion und Mutation auf der Ebene der organischen Chemie eingesetzt. Die nächste große Erfindung auf dem Weg zum Organismus war wahrscheinlich die Synthese einer Ribonukleinsäure (RNS). Sie war in der Lage, gleichzeitig Proteine zu kodieren, und als Enzym chemische Prozesse zu beschleunigen. Dies ist die Periode der RNA-Welt. In der RNA-Welt gab es noch keine Trennung des Phänotyps vom Genotyp. RNA ist sowohl die (genetische) Information wie auch das Produkt ihrer selbst. Schließlich entsteht die Desoxyribonukleinsäure (DNS) und damit die chemische Kodierung von Bauplänen beliebiger organischer Moleküle. Ab hier gibt es den Dualismus von informationstragender Struktur und Körper als getrennte Einheiten. RNS-Moleküle sind lange Ketten aus Nukleotiden, die ihrerseits aus drei Teilen bestehen: Dem Phosphat, einer Ribose und einer Base. Ribose nennt man einen Zucker mit fünf Kohlenstoffatomen. Von den Basen existieren in der Regel vier verschiedene Typen: Adenin, Guanin, Cytosin und Uracil. Alle Basen sind relativ komplizierte Ringmoleküle. Während die Ribose und das Phosphat das Gerüst des Moleküls bilden, kodieren die Basen die Informationen in einem 4-Buchstaben-Alphabet. Die frühe Erde war ein gigantisches Labor voller Möglichkeiten, in dem ununterbrochen ungezählte Experimente abliefen. Einige Reaktionen waren erfolgreicher darin, sich selbst zu replizieren. Dabei muss es einen klaren chemischen Reaktionsweg gegeben haben, der von einer Stufe zur nächsten führte. Da organisches Leben sehr schnell auf der frühen Erde auftauchte, muss der Weg zur Entwicklung von Organismen relativ zwangsläufig eingeschlagen worden sein. Und er konnte den Zufall nicht zu sehr strapaziert haben. Der Startschuss für die chemisch-biotische Evolution auf der Erde konnte nicht früher als vor 4,4 Milliarden Jahren gefallen sein, da bis zu diesem Zeitalter die Erde von einem globalen Magmaozean überzogen war. Auch danach haben gigantische Asteroideneinschläge die Erdkruste vermutlich noch mehrere Male aufgeschmolzen. Die ältesten Gesteine auf der Erde werden auf ein Alter von 3,8-3,9 Milliarden Jahren datiert. Einige dieser Gesteine bestehen aus Sedimenten, also aus erodierten und umgelagerten Gesteinspartikeln, die unter Druck und Hitze wieder zu Gesteinen verbacken wurden. In diesen Sedimentgesteinen fand man Minerale, die bereits vor 4,1-4,2 Milliarden Jahren auskristallisierten und demnach aus noch älterem Festgestein stammen müssen. Die ersten Bestandteile einer festen Erdkruste, die nicht wieder durch Impaktereignisse aufgeschmolzen wurden, wären danach spätestens vor 4,1-4,2 Milliarden Jahren entstanden. 100
Aber nicht nur Minerale, die älter als die Sedimentgesteine sind, können nachgewiesen werden. Auch die Überreste von Organismen können sich als Fossilien in den Sedimentgesteinen erhalten. Die ältesten bekannten Fossilien, Stromatolithen genannt, wurden in Felsformationen in North Pole im Nordwesten von Australien entdeckt und sind 3,5 Milliarden Jahre alt. Es ist zu vermuten, dass sie Produkt einer längeren Zeitspanne in der Evolution waren. Die Vorläuferorganismen der Stromatolithen-Kolonien müssen schon vor der Zeit von 3,5 Milliarden Jahren existiert haben. Das Wachstum von Stromatolithen kann man übrigens auch heute noch in ähnlicher Form beobachten. Die Existenz von Leben auf der Erde vor 3,5 Milliarden Jahren gilt als sicher belegt. Manfred Schidlowski vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz konnte sogar nachweisen, dass sich seit 3,5 Milliarden Jahren das Verhältnis zwischen mineralischem Kohlenstoff und organisch gebildeten Carbonaten in Sedimenten nicht mehr verändert hat. Das bedeutet, dass das Organismenreich vor 3,5 Milliarden Jahren bereits genauso viel Kohlenstoff umgesetzt hat, wie die Organismen heute. Die rasche Ausdehnung des Lebens auf ein Niveau, das, bezogen auf die Produktion der organischen Substanz, mit dem heutigen Leben vergleichbar ist, ist nicht so überraschend. Organismen haben die Tendenz, sich solange exponentiell auszubreiten, bis einer der benötigten Nährstoffe weiteres Wachstum beschränkt.a Man nimmt an, dass Phosphor der begrenzende Stoff war, der die obere Grenze der Vermehrung der Organismen auf der frühen Erde setzte. Geologen meinen, Hinweise in einem Sedimentgestein aus dem Westen von Grönland gefunden zu haben, die auf Organismen bereits 3,76 Milliarden Jahre vor heute deuten. Die Indizien finden sich im ältesten überhaupt bekannten Sedimentgestein.15 Wenn die Forscher recht haben, sind Lebewesen bemerkenswert bald nach oder noch während der Periode des Trommelfeuers von Asteroiden und Kometen entstanden, welches die Planeten des Sonnensystems in der Frühphase ihrer Entstehung bis ca. 3,8 Milliarden Jahre vor heute getroffen hat. Gewaltige Einschläge in der Frühphase bis ca. 4,2 Milliarden Jahre vor heute haben die Erdkruste wieder ganz und gar aufgeschmolzen und die Erde damit vollständig sterilisiert. Mit der Entdeckung der Lebensspuren vor fast 3,8 Milliarden Jahren bleibt damit lediglich 400 Millionen Jahre Zeit für die Evolution der ersten Zellen aus der sogenannten Ursuppe. Die ersten Zellen scheinen sich auf der Erde in beinahe unglaublichem Tempo zu voll entwickelter Form herausgebildet zu haben. Untersuchungen am Stammbaum des Lebens a
Angenommen, eine schwimmfähige Pflanzenart breitet sich auf einem Teich ungestört aus. Dabei teilt sich jede Pflanze jede Woche einmal in zwei neue Pflänzchen, die ihrerseits eine Woche brauchen, um die Größe ihrer Mutterpflanze zu erreichen. Haben sie diese Größe erreicht, teilen sie sich erneut. Zunächst schreitet die Eroberung der Teichoberfläche noch relativ langsam voran. Ist erst einmal ein Quadratmeter Seefläche eingenommen, dauert es eine weitere Woche, bis zwei Quadratmeter bedeckt sind. Nach noch einer Woche sind vier und wieder eine Woche später schon acht Quadratmeter der Seeoberfläche eingenommen. Am verblüffendsten ist dabei der Schluss. Ist der See zur Hälfte mit der Pflanzenart besiedelt, dauert es nämlich nur eine Woche mehr, bis der gesamte See bedeckt ist.
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förderten zutage, dass die ersten Lebewesen, Bakterien, vielleicht eher als Urgemeinde anzusehen waren, in der die Gene frei ausgetauscht wurden und sozusagen Allgemeingut waren. Auch heute noch finden sich in Bakterien kleine Erbgutschnipsel, Plasmiden genannt, die vom restlichen Erbgut unabhängig im Plasma des Bakteriums schwimmen und mit anderen Bakterien ausgetauscht werden können. Zu Beginn des Lebens war das Austauschen der Gene wohl so üblich, dass sich keine eindeutige Stammfolge ergab. Erst als die Organismen komplexer wurden, wurde es schwieriger, frei fluktuierende Gene in das Erbgut einzugliedern. Die Zellen fingen an, sich gegen fremde Gene abzuschotten und erst von diesem Zeitpunkt an können wir von Stammbäumen sprechen. Die Vielfalt der verschiedenen Organismen, die bereits 3,5 Milliarden Jahre vor heute existierten, lässt die Frage zu, ob sich Organismen nicht nur sehr schnell, sondern auch mehrere Male unabhängig voneinander und an verschiedene Umweltbedingungen angepasst entwickelt haben könnten. Selbst solche weit hergeholt erscheinenden Ideen, wie sie der schwedische Chemiker und Nobelpreisträger Svante August Arrheniusa aufstellte, bekommen dann eine größere Plausibilität.16 Er formulierte die Theorie der Panspermie, der „Befruchtung der Erde“ durch Lebenskeime, die aus dem Weltall auf die Erde kamen. Bemerkenswert ist, dass der Zeitraum zwischen 4,2-3,5 Milliarden Jahren vor heute auch die Zeit ist, zu der auf dem Mars ähnliche Bedingungen herrschten wie auf der Erde: Man schätzt, dass es bis 3 Milliarden Jahre vor heute auf dem Mars Wasser in flüssiger Form gegeben hat. Von dieser Seite her betrachtet ist es also nicht unwahrscheinlich, dass die Indizien auf Marsorganismen, die sie im Meteoriten ALH84001 gefunden haben, von den NASA-Wissenschaftlern richtig interpretiert wurden: Von den Ausgangsbedingungen her betrachtet stand der Entwicklung von Leben auf dem Mars nichts entgegen. Heute ist auf unserer Welt der chemische Reaktionsweg, aus dem sich die Organismen aufbauen und versorgen, etabliert und optimiert. Die grünen Zellen der Pflanzen und die Bakterien bauen alle Bestandteile ihrer selbst aus einfachen Ausgangsstoffen auf: Sie benötigen lediglich Wasser, Kohlendioxid, Nitrat, Sulfat und Spuren einiger anderer Nährsalze. Wie dieser Reaktionsweg sich aber ohne die katalytische Mithilfe der Zellen etablieren konnte, haben die Wissenschaftler bisher noch nicht enträtseln können. Doch macht die Wissenschaft auch auf diesem Gebiet große Fortschritte. Reza Ghadiri vom Scripps Institute im kalifornischen La Jolla fand in einem Laborexperiment ein System aus kurzen Eiweißbruchstücken, die sich paarweise zu längeren Ketten zusammen lagerten. Die Forscher waren erstaunt, dass die einfachen Proteine sich verhielten, als hätten sie ein Bewusstsein. In einer Mischung aus drei verschiedenen Bausteinen A, B, und C entstanden die beiden Produkte AB und AC. Das Überraschende war, dass sich die einzelnen Proteine nicht nur egoistisch vermehrten, sondern auch die Reaktionen des anderen Proteins unterstützten. Die Reaktion lief nämlich schneller, wenn alle drei a
Svante August Arrhenius (*1859; †1927), schwedischer Chemiker und Nobelpreisträger, begründete den Wissenschaftszweig der physikalischen Chemie. Er forschte allerdings auch auf den Gebieten der Astronomie, Kosmologie, Geophysik und der Chemie des Immunsystems.
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Bausteine in einer Mischung vorhanden waren, als in Mischungen mit nur zwei Komponenten. Ein solches Szenario könnte die erste Entwicklungsstufe auf dem Weg zum Organismus auf der Urerde gewesen sein. Und schon auf dieser Stufe einfacher chemischer Reaktionen wird deutlich, dass kooperatives Verhalten eine der erfolgreichsten Strategien im Überlebenskampf darstellt.
3.4
Weitere Evolution der Organismen
Das gesamte Leben auf unserem Planeten besteht aus Bakterien und deren Nachkommenschaft. Die Weiterentwicklung von den ersten Lebewesen auf unserer Erde hin zu einer ungeheuren Artenvielfalt geschah nach den Prinzipien der Evolution. Sie ist ein konstruktiver Prozess, der auf Vererbung, Mutation und Selektion beruht. Auf welche Art und Weise sich autonome Zellen zu einem vielzelligen Organismus zusammenschließen können, um gemeinsam das Überleben zu meistern, versuchen Entwicklungsbiologen heute am Beispiel des sozialen Einzellers Dictyostelium discoideum herauszufinden. In Notzeiten schließen sich diese Amöben zu Zehntausenden von Individuen zusammen, um pilzförmige Fruchtkörper zu bilden. In ihnen warten in Sporen verwandelte Individuen dieser Amöbenart darauf, vom Wind aus der kargen Umwelt davongetragen zu werden. Andere Individuen geben ohne Chance auf eigene Rettung und Fortpflanzung dabei altruistischa Hilfestellungen als Fruchtkörper. Dieser Zusammenschluss von Einzellern zu immer größeren Strukturen funktioniert über einen chemischen Signalstoff. Er wird von jeder Zelle ausgeschüttet. Die Konzentration des Signalstoffes ist demnach an der Stelle mit den meisten Zellen am höchsten. Dieser Stelle streben die Amöben zu, und verstärken damit das Signal noch weiter. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass aufgrund einfacher physikalischer Gesetzmäßigkeiten der Fruchtkörper entsteht, ohne dass es dafür in den Amöben einer genetischen Ausstattung bedarf.17 Die erste Ausweitung des Lebens von der einfachsten Bakterienzelle zu höher organisierten Zelltypen ist wahrscheinlich durch einen Verdauungsfehler entstanden. Bakterien umschlossen andere Bakterien, um sie aufzulösen und in ihren Metabolismus zu integrieren. Dieser Verdauungsprozess mag nicht immer so geklappt haben. Ein Bestandteil einer Zelle oder die ganze Zelle selbst überstand die Inkorporation und lernte zu beiderseitigem Nutzen - in der Angreiferzelle zu überdauern. Auf diese Weise entwickelten sich die Eukaryoten, bei denen der Zellkern das Rudiment einer anderen Zelle darstellt. Der Hauptteil der Evolution spielte sich zunächst in den Meeren ab, aber vor 1,2 Milliarden Jahren oder möglicherweise früher eroberten Cyanobakterien auch das Festland. Und sie beherrschten es über lange Zeit. Tiere entwickelten sich noch vor den Pflanzen und Pilzen und zwar ausschließlich im Wasser. Die ältesten Fossilien von Tieren fand man bisher in der südchinesischen Provinz Guizhou in Gesteinsformationen aus Kalziumphosphaten. Die Geologen konnten das Gestein auf ein Alter von 570 Millionen a
Als altruistisch bezeichnet man eine selbstlose Handlungsweise, die durch Rücksicht auf andere gekennzeichnet ist. Altruismus steht im Gegensatz zum Egoismus.
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Jahren datieren. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht schon davor Tiere gegeben haben könnte. Genarchäologen vermuten aufgrund von genetischen Vergleichen, dass die Evolution der Tiere vor 670 Millionen Jahren oder sogar noch früher begann. Tiere entstanden erst in einer Welt, in der es freien Sauerstoff in der Atmosphäre gab. Die Sauerstoffkonzentration musste erst auf eine bestimmte Konzentration ansteigen, ehe der tierische Stoffwechsel funktionieren konnte. Die Meeresfauna entwickelte sich in einer Welt, die der heutigen schon sehr ähnlich war. Diese prähistorische Welt hatte eine ähnliche Chemie der Kontinente und Meere, eine Ozonschicht hatte sich aufgrund des freien Sauerstoffes entwickeln können und das Klimageschehen reduzierte sich nur noch auf den unteren Bereich der Atmosphäre, der Troposphäre. Die Vielfalt der Tiere im marinen Bereich ist auch heute noch reicher als die an Land, denn die Evolution hatte im Meer rund 300 Millionen Jahre mehr Zeit gehabt als auf dem Festland. Im Gegensatz zum Tierreich ist das Pflanzenreich fast ausschließlich terrestrisch. Es entwickelte sich im Silur (vor 435 bis 410 Millionen Jahren) auf den Kontinenten. Diese waren bisher nur von Cyanobakterien und anderen Einzellern besiedelt worden. Zusammen mit den Pflanzen entwickelten sich die Pilze zu den komplementären Destruenten. Sie vermochten, die chemischen Bauteile der Pflanze wieder abzubauen. Über 400 Millionen Jahre haben Pilze die Hauptaufgabe des Recyclings chemischer organischer Bauteile übernommen und so die Stoffkreisläufe stabil gehalten.
3.5
Makroorganismus Gaia
Auf der Erde steht alles mit allem in einem Zusammenhang, denn alles ist Teil eines Ökosystems. Schon der als Vater der Medizin angesehene Arzt Hippokrates von Kosa sah den menschlichen Organismus als Teil der natürlichen Umwelt an, mit der er in einem beständigen Austausch stehe. Ein Organismus ist nicht klar von seiner Umwelt abgrenzbar. Eine Flechte auf einem Stein steht in enger Verbindung mit diesem. In Tieren diffundiert bei der Atmung ein ständiger Gasstrom in den Körper und aus dem Körper. Strauße pflegen in ihrem Bauch Steine zu tragen, die die Nahrung noch zusätzlich zerkleinern. Der Mensch als Beispiel bekommt alle fünf Tage eine neue Magenschleimhaut, innerhalb von zwei Wochen wird die Leber komplett ausgetauscht, 98 Prozent aller Atome im menschlichen Körper werden innerhalb eines Jahres ersetzt. Eine Zelle tauscht während ihrer Lebenszeit jedes ihrer ungefähr 5000 verschiedenen Proteine mehrere tausendmal vollständig mit ihrer Umgebung aus.18 Alles hängt voneinander ab, alles beeinflusst sich gegenseitig.
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Hippokrates, 460 v. Chr. auf der Insel Kos in Griechenland geboren, (†377 v. Chr.), gilt als der berühmteste Arzt der Antike und als Vater der Medizin überhaupt. Er machte seine Beobachtungen der Krankheitssymptome zur Grundlage seiner Erklärungsversuche und trug damit wesentlich dazu bei, den Aberglauben aus der Medizin zu verdrängen. Insbesondere aber verbindet sich mit diesem Namen der Eid, den noch heute alle Mediziner schwören, und der sie zu einem ärztlichen Handeln auf der Grundlage ethischen Verantwortungsbewusstseins verpflichtet.
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Auf globaler Ebene betrachtet prägte James Lovelock für diese Art von Miteinander den Namen Gaia und folgert: Ein Planet, der Organismen trägt, verhält sich in einigen Aspekten wie ein einziger großer Makroorganismus mit einer ihm zugehörigen Physiologie. Historisch geht die Idee einer planetaren Physiologie der Erde auf James Hutton, einen Geologen zurück, der diese These bereits 1785 auf einer Versammlung der Royal Society of Edinburgh vortrug. Wie das Blut im Körper von Menschen und Tieren verfügt auch Gaia über lebenserhaltende Stoffkreisläufe. Dazu gehören der Wasserkreislauf, der Kohlenstoffkreislauf, der Schwefel- und der Jodkreislauf, die alle wenigstens zum Teil oder sogar entscheidend von Organismen gesteuert werden. Nach der Gaia-Theorie erfolgt die Selbstregulierung in Kopplung mit der natürlichen Auslese: Verändert ein Organismus seine Umgebung derart, dass sie für ihn lebensfreundlicher wird, gewinnt er einen Selektionsvorteil. Er wird diesen Vorteil so lange an seine Nachkommenschaft weitervererben, wie diese Umweltveränderung in Richtung einer Verbesserung der Lebensgrundlage wirkt. Umgekehrt verschwinden Organismen, die es nicht schaffen, die Umwelt ihren Bedürfnissen anzupassen. Umweltveränderung in der Richtung, dass es dem Lebewesen nützt, ist eine notwendige Fähigkeit im Überlebenskampf. James Lovelock sieht auf der Erde verschiedene Regelkreisläufe, die globale Bedeutung für die Umweltbedingungen auf der Erde haben. Sie stellen gewissermaßen die Physiologie unseres Planeten dar. Die Erde verdankt ihrer Biosphäre, dass sie nicht so austrocknete, wie die Venus. Unter aktiver Mithilfe der Biosphäre steuert der Kohlenstoffkreislauf das Erdklima. Auch der Anteil an Sauerstoff und Stickstoff in der Atmosphäre wird von der Biosphäre reguliert. Und nicht zuletzt sorgen die Organismen dafür, dass ihnen essentielle Nährstoffe wie Schwefel überall in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Als einen Beweis für seine Gaia-Theorie führt James Lovelock eine einfache Computersimulation an, mit der er zeigt, dass Organismen auf einem Planeten über lange Zeit die Temperaturen relativ konstant halten können. Er nennt seine Welt Daisy-World. In ihr kommt nur eine Sorte Wesen vor: Gänseblümchen. Ausgangspunkt der Simulation ist, dass die Temperaturen auf einer Welt notwendigerweise mit der Zeit ansteigen, weil Sonnen mit der Zeit ihre Energieemissionen erhöhen. Nun hängt die Oberflächentemperatur eines Planeten aber nicht nur von der Sonneneinstrahlung, sondern auch von dem Reflexionsvermögen der Oberfläche, ihrer Albedo ab. Auf einer weißen, zum Beispiel schneebedeckten Oberfläche wird ein Großteil der Strahlung direkt in den Weltraum reflektiert: Sie hat eine hohe Albedo. Auf einer schwarzen, verkohlten Fläche wird dagegen fast die gesamte Strahlung in langwelligere Wärmestrahlung umgesetzt und damit die Atmosphäre erwärmt: Diese Fläche hat eine geringe Albedo. James Lovelock nimmt eine Albedo von 0,4 für seine Planetenoberfläche an, wenn sie keinen Bewuchs trägt, es werden also 40 Prozent der Sonneneinstrahlung reflektiert. Im einfachsten Entwurf dieser Welt gibt es lediglich zwei Sorten von Gänseblümchen, die sich nur farblich unterscheiden. Eine der beiden Spezies ist relativ hell und hat damit eine relativ hohe Albedo von 0,7. Die andere ist dunkler und hat eine niedrige Albedo von 0,2. 105
Wie alle Organismen sind auch die Gänseblümchen auf eine verträgliche Umwelt angewiesen. Sie fangen an zu sprießen, wenn die Temperaturen über 5°C steigen, fühlen sich bei 22°C am wohlsten und welken bei 40°C dahin. Auf Daisy-World beginnt das Wachstum von Gänseblümchen also zu dem Zeitpunkt, wenn die Sonne genügend Kraft entwickelt hat, um die äquatorialen Durchschnittstemperaturen über 5°C zu heben. Da die dunklen Blumen aufgrund ihrer dunklen Färbung zusätzliche Wärme erzeugen, haben sie einen Selektionsvorteil: Sie heben in ihre Umgebung die Temperaturen näher an das Wachstumsoptimum von 22°C. Es bildet sich also zunächst nur um den Äquator herum, dort wo es am wärmsten ist, ein Gürtel von dunklen Gänseblümchen (siehe Abbildung 21 Welt 1 u. 2). Der Vegetationsstreifen dort ist dunkler als der nackte Boden, so dass sich die globalen Temperaturen des Planeten erhöhen. Weil es wärmer auf Daisy-World wird, breiten sich die dunklen Gänseblümchen vom Äquator zu den Polen hin allmählich aus. Im Zuge der Ausbreitung vermindern sie die Albedo des Planeten immer weiter, und damit steigt auch die globale Temperatur weiter. Außerdem erhöht auch die Sonne allmählich ihre Strahlung, was gleichfalls die Temperaturen auf Daisy-World ansteigen lässt.
Abbildung 21: Die Daisy-Welt in fünf Entwicklungsstadien.
Ab einem Schwellenwert, wenn die Temperaturen am Äquator über 22°C steigen, wechselt dort der Selektionsvorteil von den dunklen zu den hellen Gänseblümchen. Diese reflektieren mehr Strahlung und kühlen den Planeten. Die hellen Blumen beginnen, die dunklen Blumen zu verdrängen (siehe Abbildung 21 Welt 3). Mit dem stetigen Anstieg der Sonnenstrahlung breitet sich nun die helle Spezies wie vorher die dunkle vom Äquator zu den Polen hin - auf Kosten der dunklen - aus. Während die Sonne immer mehr Strahlung zum Planeten schickt, schicken die hellen Gänseblümchen immer mehr davon umgehend zurück in den Weltraum. Schließlich sind die Möglichkeiten der Gänseblümchen erschöpft, das Klima zu kontrollieren und die Wüste breitet sich aus - das Ende von Daisy-World ist erreicht (siehe Abbildung 21 Welt 4-5). Das Ergebnis dieser Simulation ist, dass die Gänseblümchen es über einen sehr langen Anstieg der Sonneneinstrahlung hin schaffen, die Temperaturen auf Daisy-World konstant zu halten. Auf unserer Erde sind die Temperaturen in den letzten 2,5 Milliarden Jahren relativ konstant geblieben. Wir können davon ausgehen, dass das planetare Ökosystem, oder wie James Lovelock es nennt „Gaia“ entscheidenden Anteil daran hatte.19 106
Eine sehr ähnliche Art von Wechselwirkung haben Forscher am Potsdam-Institut für Klimaforschung (PIK) in ihre Modellrechnung einbauen müssen, um erklären zu können, wie die Sahara zur Wüste wurde. Man weiß aufgrund von Höhlenmalereien, dass noch vor 6000 Jahren die Sahara grün war und dort eine reiche Steppenfauna gedieh. In einer „grünen Sahara“ werden nur etwa 20 Prozent des Sonnenlichtes reflektiert, vom nackten Sandboden aber 35 Prozent. Außerdem hält die Vegetation Niederschlagswasser fest, was sich ebenfalls - über die Verdunstungsenergie - auswirkt. Die einzelnen Wechselwirkungen sind weit komplizierter, als es James Lovelock in seinem einfachen Beispiel darlegt, aber der Effekt ist dieser: Die Vegetation erniedrigt die Albedo, es wird wärmer. Dies erhöht die Menge des Monsunregens, der in der Sahara niedergeht, was wiederum zu mehr Vegetation führt. Die Vegetation, so die Potsdamer Forscher, hat sich gewissermaßen die für sie günstigen Umweltbedingungen selbst geschaffen.20 Kehren wir kurz zu der These von Frank Tipler über den „ewig belebten Kosmos“ zurück. Genauso wie sich auf der Erde Gaia ausgebreitet hat, wird sich das Leben über den gesamten Kosmos ausbreiten und dies mit ähnlichen Folgen: Die „kosmische Gaia“ wird versuchen, die Entwicklung des Universums so zu steuern, dass in ihm Leben für alle Zeiten überdauern kann.
3.6
Der Tod Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? (Matthäus, 27.45)
Das Organismenreich der Erde, das planetare Ökosystem Gaia, überlebt auf unserem Planeten seit mindestens 3,5 Milliarden Jahren. Wir selbst als Individuen aber sind zum Tod verdammt. Das, was uns am meisten ängstigt und über den Sinn des Lebens nachdenken lässt, ist der „natürliche“ Tod, der auf uns alle wartet. Die ersten Lebewesen, die Bakterien, kennen diese Art von Untergang nicht. Sie können prinzipiell ewig leben, es sei denn, sie werden gewaltsam zerstört. Doch gibt es auch hier Ausnahmen: Bakterien opfern sich mitunter selbst auf, um ihre restliche Kolonie vor einer Virusinfektion zu schützen. Larry Snyder und seine Mitarbeiter von der Michigan State University in East Lansing beobachteten den Selbstmord von Escherichia coli K-12, als diese von T4-Bakteriophagen befallen wurden. Da die Selbstzerstörung einsetzte, noch ehe sich das Virus vermehren konnte, wurde so die Infektion der übrigen Kolonie durch die höchste Form des Altruismus, der Selbstaufgabe, verhindert.21 Was immer Religionen oder auch die von Frank Tipler vertretene „Omega-Theorie“ zum individuellen „ewigen Leben“ aussagen können, unumstößlich bleibt, dass wir in unserer augenblicklichen Form der Existenz nur eine sehr kurze Zeitspanne verbleiben. Bei den Menschen, Ratten, Schmetterlingen und Walfischen überlebt nur jeweils eine Zelle als direkter Nachkomme eines Individuums - die Geschlechtszelle. In ihr ist das vollständige genetische Wissen des Elternteils gespeichert, und nur das wird tradiert. Das Altern und Sterben ist für ein Individuum eine schwere Bürde des Leidens, aber vom Standpunkt der Gene macht es Sinn, den Alterungsprozess genetisch festzulegen. So macht das Individuum nach der Fortpflanzung die ökologische Nische für seine Nachkommen frei. Richard Dawkins reduziert in seinem Buch „Das egoistische Gen“ Evolution sogar einzig 107
auf die Vererbung der DNS. Aus seiner Sicht besteht das ausschließliche Kriterium, das ein erfolgreiches Gen ausmacht, darin, dass dieses es schafft, sich replizieren zu lassen, wie und von wem auch immer. Er bringt damit auf den Punkt, was Herbert Spencer, ein Zeitgenosse Charles Darwins, schon erwog: Das Huhn diene dem Ei nur dazu, ein anderes Ei zu machen. Diejenige DNS, die Verlierer im Kampf um die Fortpflanzung produziert, wird aussterben und daher ist die Fitness eines Individuums nur insofern interessant, als dieses es schafft, DNS zu reproduzieren. Erwachsene Individuen können nicht evolvieren, sondern nur das Feld bestellen und dann den Platz für die nächste Generation freimachen. Eier können genauso wenig evolvieren, sondern sich lediglich entwickeln. Nur die DNS kann sich ändern, und diese Änderung zielt unter dem Druck der Evolution auf höhere Komplexität und Variabilität. Auch wenn uns dies als Individuen nicht über unseren eigenen Tod trösten kann: Katastrophen wie der Tod sind oft Schöpfer und Wegbereiter neuer, komplexerer Strukturen. Die sicher eindrucksvollste Katastrophe war, auch wenn niemand sie direkt beobachtete, der Urknall: Er brachte das Universum hervor. Wenn ein Stern stirbt und als Supernova seine Saat höherer chemischer Elemente in das Weltall streut, so bereitet er den Weg für die Entstehung von Planeten. Ein gewaltiger Asteroideneinschlag auf der Erde vor 65 Millionen Jahren beendete die Vorherrschaft der Dinosaurier und ließ das Feld den Säugern: Die entscheidende Katastrophe, der schließlich der Mensch seine Existenz verdankt. Und schließlich ist die Katastrophe des individuellen menschlichen Tods auch dieses: Wegbereiter für Neues, weiter Entwickeltes, für unsere Nachkommen, dadurch, dass wir ihnen unsere ökologische Nische überlassen. Diese Form des Altruismus, die Selbstaufgabe zum Wohle anderer, die nach uns kommen, findet sich bei allen höheren Tieren genetisch fixiert. Jedes Elternpaar wünscht sich, dass es ihren Kindern besser gehen soll, als ihnen selbst. Im evolutionären Sinne bedeutet dies nichts anderes als mehr Fitness. Aus diesem Grunde ist auch das Bild des gekreuzigten Jesus Christus von solch überwältigender Symbolkraft, gab er doch nach dem Mythos der katholischen Kirche sein Leben für das sündenfreie, also bessere Leben der Menschheit hin.
3.7
Der Odem des Lebens
Dann bildete Jahwe Gott den Menschen aus Staub von dem Erdboden und blies in seine Nase einen Lebenshauch. So wurde der Mensch ein lebendes Wesen.22 Wir wissen heute, dass der Mensch nicht aus einem Klumpen feuchten Staubes als Spezialanfertigung der göttlichen Schöpfung zusammengebacken wurde. Er steht vielmehr in einer langen Reihe von Wesen, die allesamt den Odem des Lebens in sich trugen und ihn auf ihre Nachkommenschaft vererbten. Lebewesen haben sich aus der präbiotischen Chemie heraus in einzelnen kleinen Schritten entwickelt. Als in der Erdfrühzeit sich in der „Ursuppe“ der Ozeane nach und nach die einzelnen Bausteine zum ersten richtigen Organismus zusammenfanden, konnte man bei jedem kleinen Schritt 108
fragen: Ist es jetzt schon ein Organismus? Der Übergang ist so gering, schließlich wurde nur eine kleine chemische Verbindung irgendwo eingebaut! Die Antwort lautet dann immer: „Nein, ich kann nicht sagen, das Vorhergehende ist noch kein lebendiges Wesen, und das Nachfolgende ist schon ein Lebewesen.“ Und diese Frage stellt sich bei jeder neuen chemischen Verbindung, jeder neuen Eigenschaft, die eingebaut oder erworben wurde und in ihrer Gemeinsamkeit ein Gebilde darstellte, das wir schließlich als lebendig betrachten.a Die Unterscheidung zwischen lebendig und nichtlebendig ist willkürlich, Leben ist keine Erscheinung, der wir einen einzigen bestimmten Übergang von einer in eine andere Form zuordnen könnten. Da die Biologie nicht an eine Gottheit glaubt, die ab einer bestimmten Komplexitätsstufe der Materie einen Lebenshauch eingeblasen hat, müssen wir davon ausgehen, dass der Odem des Lebens sich auf der Basis der Teleologie entwickelte, die durch den Urknall in Gang gesetzt wurde und von dort in einer langen Tradition entlang der Entwicklungspfade des Kosmos weitergereicht wurde. Es gibt keine klare Abgrenzung zwischen unbelebter und belebter Materie, auf der physikalisch-chemischen Ebene gibt es keinen Zeitpunkt, den man für den Beginn des Lebens benennen könnte - eine Folgerung, die noch an anderer Stelle weitreichende Folgen hat.
3.8
Eine Definition von Leben Leben ist eine vernetzte Angelegenheit - ein vielgliedriges Wesen, ein Organismus, der sich über Raum und Zeit erstreckt. Es gibt kein Individuelles Leben. Nirgendwo werden wir einen einzelnen lebenden Organismus finden.23 (Kevin Kelly)
Für den amerikanischen Physiker Frank Tipler ist Leben durch natürliche Auslese, unter dem Einfluss der Evolution bewahrte Information.24 Nach seiner Definition fängt Leben genau da an, wo sich ein Muster aufgrund eines Vorteils gegenüber der Bildung eines anderen Musters in Konkurrenz durchsetzt. Das trifft bereits auf alle chemischen Reaktionen zu. Deutlich wird auch, dass Frank Tiplers Definition von Leben und die von Richard Dawkins sehr eng beieinander liegen. Lediglich die Information überlebt. Das Individuum selbst altert und stirbt. Dass bereits chemische Reaktionen im Sinne der Evolution „leben“ ist nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick erscheint. Manfred Eigen untersuchte RNA-Moleküle im Reagenzglas und konnte mit Experimenten belegen, dass das Wechselspiel von Mutation und Selektion immer diejenigen Moleküle hervorbrachte, die sich unter den herrschenden Umweltbedingungen am schnellsten kopieren konnten.25 Ich werde an dieser Stelle keine Definition von Leben geben. Vielmehr werde ich „leben“ als Funktion eines Ökosystems betrachten. Ich behaupte, dass die Definition Ökosystem die grundlegende ist. Lebewesen sind lediglich ein Teil aus der Menge der Ökosysteme mit speziellen Eigenheiten. Jede biologische Definition, die versucht, Leben als Eigenschaft eines Individuums zu definieren, muss daran scheitern, dass kein einzelnes Lebewesen für sich allein existieren kann. Jeder Organismus ist nur als Teil eines a
Schon Zenon von Elea pflegte seine Mitmenschen mit solchen Paradoxa zu verwirren.
109
umfassenden Systems zu begreifen. Der Organismus selbst wiederum besteht aus autonomen Subsystemen. Wir können einen Igel erst dann wirklich erfassen, wenn wir ihn als Teil einer umfassenden Struktur, eines Ökosystems betrachten, in der er atmet, frisst, sich fortpflanzt, sich verteidigt und räubert. Wir erfassen seine Existenz nur, wenn wir die Existenz der anderen Organismen im Ökosystem mit berücksichtigen. Andrerseits ist auch der Igel selbst zusammengesetzt aus funktionalen Untereinheiten wie den Organen, die wiederum aus Zellen als Untereinheiten aufgebaut sind. Die Eigenschaft, die Ökosysteme charakterisiert, ist die Selbstorganisation zu immer höherer Komplexität. Komplexität meint ein Anwachsen der kodierten Informationen in einer Funktionseinheit, die Selbstorganisation geschieht nach den Regeln der Evolution: Der Prozess, der ein Ökosystem beschreibt, heißt Selbstorganisation von Informationen unter dem Druck der äußeren Bedingungen. Charakteristisch für ein Ökosystem ist einerseits die Kodierung, anderseits die Verarbeitung und der Austausch von Informationen. Ökosysteme sind Funktionseinheiten und eine spezielle Form von Ökosystemen stellen die Organismen der Erde dar. Nach dieser Definition lässt sich, zusammen mit Frank Tiplers These „Leben ist Information“, ein Ökosystem als ein „Speicher von Informationen“ begreifen, der durch die Evolution erzeugt wird. Diese Definition hat schon allein deshalb ihren ungeheuren Charme, weil sie Leben nicht als Eigenschaft eines Individuums sondern als Beziehung definiert. Leben ergibt sich aus dem Kontakt und der Wechselwirkung, die alle Beteiligten mit dem Rest des Universums verbindet. Die Definition geht damit mit dem Leibnizschen Prinzip konform, nach dem Eigenschaften erst durch Relationen entstehen. Alle bedeutenden Entwicklungen in der Physik des Zwanzigsten Jahrhunderts, Relativitätstheorie, Quantentheorie oder Eichprinzip, führen zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Auf die eine oder andere Art basieren sie alle auf dem Standpunkt, dass sich die Eigenschaften der Dinge aus ihren Beziehungen ergeben. Die Eigenschaften von Objekten beruhen auf den Beziehungen zwischen den Dingen und haben keine absolute Bedeutung. Aus der Eichtheorie der Elementarteilchen folgt unmittelbar, dass die Eigenschaften der Elementarteilchen eine Folge ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen sind. Und auf ähnliche Weise sind es die Beziehungen in einem Ökosystem, die Leben darstellen. Organismen sind lediglich spezielle Ökosysteme: Ihre Baupläne, sind zum Beispiel in der DNS kodiert. Informationen als den wesentlichen Teil des Lebens anzusehen, erweist sich als eine Sichtweise, die viel zu erklären vermag. Sie erfüllt darüber außerdem eine Grundforderung einer Teleologie der Evolution: Sie gibt ein Maß für Fortschritt an. Als Maß für die Höherentwicklung kann man diejenige Menge an Informationen annehmen, die ein Ökosystem ansammelt, speichert und sich nutzbar machen kann. Und daraus ergibt sich eine sehr einfache Antwort auf die Frage, was Evolution ist: Evolution ist Lernen: Der Kosmos kann als ein einziger allumfassender Organismus verstanden werden, der sich in seiner juvenilen Phase befindet. Denn der Kosmos ist noch sehr jung in der Hinsicht, wie lange das Universum noch bestehen wird. Möglicherweise sammelt er mit uns als Menschen seine ersten intellektuellen Erfahrungen. 110
3.9
Lebenskraft
Nach der hier aufgestellten Definition beginnt das Leben mit dem Urknall. Zunächst gibt es nur einfache Strukturen mit wenig Informationsgehalt. Erst später entstehen in Sonnen höhere chemische Elemente. Sie werden in einer komplizierten Abfolge von Bildungsschritten geboren und schließlich in dramatischen Explosionen aus dem brütenden Bauch ihrer Sonnen herausgeschleudert. Im interstellaren Gas lagern sich unter den vorherrschenden Strahlungsbedingungen und Temperaturen Atome zu komplexen Molekülen zusammen. Planeten unterschiedlichster Form und mit unterschiedlichsten Eigenschaften entstehen. Mindestens die Erde war in der Lage, Organismen hervorzubringen, die sich weiter und weiter entwickeln, bis schließlich die Schöpfung soweit vollbracht ist, wie die Bibel sie erzählt. Bemerkenswert ist die Richtung, in der die Entwicklung der Materie durch eine dem Kosmos innewohnende Kraft getrieben wird: Die Entwicklung des Lebens verläuft gegen die Richtung der Entropie. Während nach dem zweiten Satz der Thermodynamik das Maß der Unordnung ständig anwächst, verringert sich die Unordnung bei der Entwicklung von immer komplizierter aufgebauten Strukturen offensichtlich. Wohl alle Kulturen haben sich Gedanken über die Essenz gemacht, die das Leben antreibt. Einige Kulturen vermuteten den Sitz der Lebenskraft im Blut, andere im Fleisch, die Australier im Nierenfett,26 jedenfalls behaupteten dies Lynn Margulis und Dorion Sagan. Für die Maori Neuseelands war das Menstruationsblut die Quelle des Lebens, auch Schatten, Flammen, Bäume, Säulen, Puppen, Tümpel und sogar Polaroid-Bilder wurden schon als Aufenthaltsort oder sogar als Gefängnis der Seelen angesehen. Die Kulturen des fernen Ostens haben für diesen Antrieb den Begriff „Qi“a eingeführt mit dem sie die universale Lebensenergie bezeichnen. Qi fließt mit dem Einatmen in den Körper ein und vereint sich wieder mit dem universalen Qi bei der Ausatmung. Diese folkloristische Sammlung deutet schon an, dass es zumindest nicht leicht fiel, den Sitz der Lebenskraft oder der Seele im menschlichen Körper zu bestimmen. Die Biologen und mit ihnen die gesamte Naturwissenschaft haben sich schließlich davon entfernt, Leben als durch Gott beseelte Materie anzusehen. Irenäus Eibl-Eibesfeldt nennt es aus der Sicht eines Ethologen lediglich eine Funktionslust, die für die meisten biologischen Systeme existiert.27 The healthy animal is up and doingb, formulierte es William McDougall. Neugierde, ein Trieb, der mindestens alle Säugetiere dazu bringt, Informationen über ihre Umwelt zu sammeln, verdeutlicht diese Funktionslust. Den Menschen treibt diese Lebenslust sogar soweit, dass wir ohne Not Gefahren wie Bergsteigen oder Fallschirmspringen auf uns nehmen.
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Das chinesische „Qi“, oder nach alter Umschrift „Chi“, bedeutet „universelle Lebenskraft.“ Die japanische Umschrift für dasselbe lautet: „Ki“ und kommt zum Beispiel in „Aikido“, dem Namen einer japanischen Kampfsportart vor. b Übersetzt (ins Ruhrdeutsch) heißt das ungefähr: Das gesunde Tier macht und tut.
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Aus den Naturwissenschaften heraus ergibt sich ein zwingender Schluss: Die innewohnende Kraft des Lebens resultiert aus den vier Elementarkräften. Diese Kräfte sind es, die die Materie dazu bewegen, sich zu immer komplizierteren Mustern zusammenzufinden und sie agieren zu lassen. Dies ist Geheimnis genug, allerdings lässt sich dieses Mysterium auf jeder Stufe des Lebens enträtseln: Kristalle wachsen durch „chemischen“ Antrieb zu ihrer bezaubernden Schönheit heran, Katalysatoren sind in Zellen Beispiele für eine Funktionslust, Bäume benutzen die elektromagnetische Strahlung der Sonne für alle Lebensprozesse, und auf der Ebene des menschlichen Daseins wirken sich diese Grundkräfte als unsere Lebenskraft aus: Elektro-chemische Energie erlaubt es den Muskeln, sich zusammenzuziehen, dieselbe Kraft induziert in unserem Gehirn unsere Denkvorgänge. Und auch hier entlarvt sich die Unterscheidung von „belebter“ und „unbelebter Natur“ als Arroganz unserer Spezies: Auch unser Staubsauger entwickelt seine Sauglust durch den Antrieb eines Elektromotors. Betrachtet man Lebenskraft, Seele oder Odem Gottes als Ausdrucksformen der vier Grundkräfte, so erscheint der gesamte Kosmos als beseelt und lebendig, denn die Elementarkräfte wirken auf alles Stoffliche im Universum.
3.10 Information Der Gedanke, dass ein paar Kritzeleien auf einer Tafel oder einem Blatt Papier das Leben der Menschheit verändern konnte, überrascht mich noch immer zutiefst. (Ein unbekannter Physiker, der an der Entwicklung der Atombombe beteiligt gewesen sein soll.)
Information ist einer der zentralen Begriffe in diesem Buch. Frank Tipler behauptet, Leben selbst sei eine bestimmte Art von Information. Da es in der gesamten Evolution nicht um den Organismus an erster Stelle, sondern um die genetische Information geht, ist diese Vermutung sicher nicht ganz falsch. Kevin Kelly, Chefredakteur der Computerzeitschrift Wired, meint dazu, das Leben selbst, auf seine wesentlichen Eigenschaften reduziert, entferne sich nicht sehr weit von der Rechenfunktion in einem Computer, also auf Information und Informationsverarbeitung.28 Weiter noch geht Ed Fridkin, ein Mitarbeiter des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA. Er vertritt die These, das Universum in seiner Gesamtheit sei ein Computer, in dem Materie und Energie Formen der Informationsverarbeitung darstellen.29 Und Ken Karakotsios, ein Pionier der artifical-life-Forschung und -Programmierunga meint: Wissen Sie, das einzige, das groß genug ist, damit das ultimative „Spiel des Lebens“ darauf laufen kann, ist das Universum. Das einzige Problem mit dem Universum als Computer sei, so Ken Karakotsios neidisch, dass darauf gerade das Programm von jemand anderem liefe.30 Die Entropie, der wir im Zusammenhang mit dem Zeitpfeil schon einmal begegnet sind, stellt ein Maß für die Unordnung dar. Informationen dagegen sind Ordnung pur. Ordnung a
Dieser Forschungszweig der Informatik beschäftigt sich mit der Simulation von Lebensvorgängen im Computer.
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stellt in der Informationstheorie ein Maß für die Größe des Nachrichtengehalts einer Zeichenmenge dar. Die Entropie, das Maß für die Unordnung ist dann am niedrigsten, also die Ordnung am höchsten, wenn der Nachrichtengehalt einer Zeichenmenge maximal ist. Ein Buch ist eine unerhörte Unwahrscheinlichkeit. Denn ein Schimpanse, wenn er auf einer Schreibmaschine herumhämmert, wird nur äußerst selten überhaupt ein sinnvolles Wort schreiben. Ein vollständiger Satz wird ihm wahrscheinlich nie gelingen. Bücher entstehen gegen die Wahrscheinlichkeit und gegen das Bemühen der Entropie, aus unserem Universum einen schrecklich langweiligen Ort zu machen. Ebenso unwahrscheinlich, wie dass ein Affe als Schriftsteller einen Roman verfasst, ist die Entstehung der DNS. Leben und damit die Erbinformationen der Organismen zählen zu den unerhörten Unwahrscheinlichkeiten in diesem Kosmos. Was aber ist eigentlich Information und was Informationsverarbeitung? Gene sind informationstragende Strukturen. Wie die Materie selbst, die aus wenigen Grundelementen aufgebaut ist, basiert auch das DNS-Molekül auf nur einer Handvoll Grundbausteine. Wie bei fast allen Lebewesen, so auch bei uns Menschen, besteht das Genom aus vier verschiedenen Basen: Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Es ist ein System, das man sich als ein Alphabet aus vier Buchstaben vorstellen kann. Diese können beliebig variiert werden und so einen Grad von beliebiger Komplexität erreichen. So, wie auch Musik aus nur ein paar verschiedenen Tönen zusammengesetzt ist, so ermöglicht die Komposition von diesen Basen, eine Lebensmelodie von unglaublicher Mannigfaltigkeit auf der Erde hervorzubringen. Ihr Komponist ist die Selektion, die Rauschen, Lärm und Dissonanzen aussiebt und die harmonischen Sequenzen überleben lässt. Das DNSMolekül liegt in der Form eines wendeltreppenartigen Doppelstranges, einer Doppelhelix vor, dass aus einem Gerüst aus Kohlenstoffketten besteht. Diese Stränge sind jeweils zu großen Einheiten zusammengefasst, den sogenannten Chromosomen, von denen der Mensch 46 besitzt. Jedes Chromosom kodiert ca. 20 Milliarden Bits. In das lateinische Alphabet übersetzt wären das ungefähr 500 Millionen Worte. In Buchform vorliegend wären dies 5 000 Bücher mit dem Inhalt von 400 Seiten, jede Seite mit ca. 300 Worten bedruckt.31 Unsere gesamte Gedankenwelt basiert auf Information und Informationsverarbeitung. Diese Gedankenwelt stellt, wie ich noch ausführen werde, eine Softwarelösung für Probleme dar, die auch die Gene zu lösen haben. Es gibt eine Äquivalenz von Hardware und Software, beides ist ineinander überführbar.a Verhalten zum Beispiel kann sowohl genetisch fixiert wie erlernt sein. Unsere Gedanken sind, wie die Gene, modular aufgebaut. Aus einfachen Teilen wird durch eine immer wieder veränderte Zusammensetzung und durch das Zurückgreifen auf schon Bekanntes eine Gedankenwelt von schier unendlicher Vielfalt möglich. Unsere Gedankenwelt ist eine Fortführung der Genetik mit anderen Mitteln, aber in unmittelbarer Tradition dazu stehend. Lernen, und Sich-Erinnern-Können sind etwas, was schon Fliegen und Würmer beherrschen, es ist a
Diese wichtige Erkenntnis aus der Informatik werde ich noch an zwei Stellen in diesem Buch verwenden, in dem Kapitel über „Meme“ und dort, wo es um unsere Unsterblichkeit geht.
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etwas Uraltes, etwas, das so alt sein muss wie der Geschlechtstrieb oder die innere Uhr.32 Unsere Gedanken ermöglichen es uns, Lösungen für das universelle Problem zu finden, das das Leben zu bewältigen hat: Zu überleben und für überlebensfähigen Nachwuchs zu sorgen. Informationscodierung In der Theorie über Informationen ging es ursprünglich um die Frage, wie viele Informationen man in einem bestimmten Gerät unterbringen oder wie viele Informationen man über einen Draht transportieren kann. Man entdeckte, dass die minimale Information eine Ja-Nein Unterscheidung ist und nannte dieses Maß für Information ein „Bita“. Eine Münze ist ein Beispiel für einen Informationsspeicher, der genau ein Bit speichern kann: Wappen oder Zahl. Eine Verkehrsampel ist im Prinzip ähnlich, ist aber eine Zusammenfassung von drei Bits: An drei Stellen kann das Licht „an“ oder „aus“ sein.
Abbildung 22: Kodierung von Informationen in dem 3-Bit-Speicher Verkehrsampel
Autofahrer wissen um die Bedeutung dieser kodierten Informationen: „Rotes Licht“ - ich muss warten, „grünes Licht“ - ich darf fahren. Das „gelbe Licht“ erweitert dieses Informationssystem um zwei weitere Informationen: „Ich darf gleich fahren“ und „ich muss gleich anhalten.“ Damit sind die Möglichkeiten, Informationen durch drei Lichter auszudrücken aber noch längst nicht erschöpft. Eine Ampel wäre in der Lage, acht (= 23) verschiedene Informationen zu kodieren und wir bräuchten dafür nicht einmal farbiges Licht, wie die Abbildung 22 verdeutlicht. Je nach dem Muster von „An“ oder „Aus“ der drei Ampellichter könnte man Informationen kodieren wie zum Beispiel: „Busse dürfen schon losfahren, die anderen Verkehrsteilnehmer aber noch nicht.“
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Dieses Maß leitet sich vom englischen: „binary digit“ ab. Es bezeichnet dann eine Zahl in einem Zahlensystem auf der Basis 2. Unser normales Zahlensystem basiert bekanntlich auf der Basis 10.
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Informationen sind Muster, wie die Abbildung 22 zeigt. Muster manifestieren sich in Atomen, in Kristallstrukturen oder Molekülen, in Genen und natürlich können Informationen auch in einem Gehirn oder Computer gespeichert sein. Jedes Muster beinhaltet Informationen. Zum Beispiel kann ein geübter Fährtenleser aus einem Muster im Schnee erkennen, ob die Spur von einem Fuchs stammt, wie schwer das Tier in etwa war, ob es auf der Pirsch oder auf der Flucht war, wann es vorbeigekommen ist und nicht zuletzt, dass es in nordöstliche Richtung gelaufen ist (Abbildung 23). Vielleicht hat der Fuchs auch leicht gehinkt und oder ein Beutetier im Maul mit sich herumgeschleppt. Die Informationzerstörerin Entropie, in diesem Falle wahrscheinlich verursacht durch den Wind, verwischt die Spuren allmählich wieder, so dass irgendwann die Trittmale des Fuchses und der damit verbundene Informationsgehalt wieder verloren gehen. Abbildung 23: Eine Fuchsspur. Experten können aus dem Trittsiegel verschiedene Informationen herauslesen.
Die Geologen rekonstruieren aus den Mustern der Gesteine und Gesteinsformationen die Geschichte der Erdkruste. Aus der Form und den Bestandteilen eines Gesteins lassen sich Rückschlüsse ziehen, unter welchen Drücken und Temperaturen es mineralisierte, ob es sich bei dem Ausgangsmaterial um umgelagerte Sedimente handelt, die in einer bestimmten Tiefe in der Erdkruste verfestigt wurden oder um Magma aus höheren oder tieferen Schichten des Erdmantels. Auf Grund geeigneter Indizien können so gezielt Lagerstätten nach Erzen und fossilen Brennstoffen wie Kohle oder Öl suchen. Ähnlich wie unser Denken ist Genetik ein informationsverarbeitender Prozess. Die drei Grundmerkmale der Evolution, die in der Genetik für die Informationsverarbeitung stehen, also Vererbung, Mutation und Selektion, lassen sich mit Hilfe des Informationsbegriffs umschreiben: Die Vererbung der Gene entspricht der Kopie von Informationen, das Ablesen und Ausführen von Gen-Befehlen entspricht einer Informationsübertragung, die von der Selektion kontrolliert wird, die Mutation schließlich entspricht einer Informationsänderung. Ein Gen wird entweder vererbt oder nicht, es gibt keine Vererbung von „halben“ Genen. Vererbung ist nicht partikulär sondern digital.33 Unsere Welt scheint nicht nur in ihrem Innersten, der Quantenwelt, in einzelne nicht weiter teilbare Pakete gegliedert. Auch die Genetiker haben es mit solchen diskreten, stufigen, kleinsten Informationseinheiten zu tun. 115
Informationsverarbeitung Informationen können übertragen werden, und sie sind nicht an eine bestimmte Matrix gebunden. Wir können unsere Computerdaten auf einer CD, auf einer Floppy-Disk oder in einem Hardwarecache speichern oder sie auch über einen Drucker auf Papier ablegen: Dieses Buch hat all dies hinter sich. Wenn ich mit meiner Liebsten telefoniere, so wandert eine Information aus meinem Gehirn in die Luft, verbreitet sich dort als Schallwelle, wird im Telefon einer elektromagnetischen Welle aufgeprägt, und der ganze Prozess kehrt sich am anderen Ende der Leitung um und landet schließlich im Kurzzeitspeicher meiner Holden. Manchmal haben diese Informationen auch langfristigere Bedeutung und werden bei ihr ins Gedächtnis übertragen. Lassen Sie uns einen kleinen Stock nehmen, den wir senkrecht in die Erde stecken und dann zeichnen wir einen Kreis um den Stock. Den Kreis unterteilen wir in 24 Segmente: Schon ist die Sonnenuhr fertig. Sie kodiert uns den Lauf der Sonnen zu abstrakten Uhrzeiten. Nun nehmen wir einen lichtempfindlichen Sensor, den wir mit einer Glocke und einem Mechanismus verbinden, der die Glocke anschlägt, sobald der Sensor Schatten meldet. Wir haben einen Wecker konstruiert, der immer um dieselbe Zeit ein Signal gibt, wann immer die Sonne scheint. Dieses Signal erreicht unser Ohr, bewegt dort kleine Härchen, die einen elektrischen Impuls auslösen, der im Gehirn verarbeitet wird und vielleicht den Anstoß gibt, dass wir aufstehen und uns das Frühstück machen. Die Bewegung der Sonne ist also ein Muster, die Sonnenuhr bereits ein informationsverarbeitender Mechanismus, der Informationen kodiert, ohne weiter etwas zu bewegen. Der Wecker kodiert eine Information in ein akustisches Signal. Auf diese Weise entsteht eine Kaskade von Informationsübertragungen, die schließlich auf unser Verhalten Einfluss nimmt. Wir können den Wecker als ein informationsverarbeitendes Gerät auffassen, als einen Computer. Sicher stellen Sie sich einen Computer als ein kompliziertes Gerät vor, aber der britische Mathematiker Alan Mathison Turinga schlug schon 1936 eine Maschine vor, die im Prinzip nur fünf verschiedene Operationen kennt und einen, allerdings mehr oder weniger unbegrenzten, Papierstreifen als Speicher besitzt. Diese Maschine kann, soweit heute bekannt ist, jeden beliebigen Computer mit seinen gesamten Fähigkeiten ersetzen. Die Fachleute sprechen bei einem solchen, in seiner Funktionsweise nicht zu unterscheidenden Ersatz von einer Emulationb. Diese sogenannte Turing-Maschine würde zwar entsprechend lange für eine Berechnung brauchen, aber sie könnte im Prinzip dieselben Dinge leisten, wie sie heute die ausgeklügeltsten Computer beherrschen. a
Alan Mathison Turing wurde 1912 in London geboren. Er ist einer der Wegbereiter der Computerwissenschaften. Besonders seine abstrakte Rechenmaschine, die theoretisch jede mathematische Berechnung bewältigen konnte, übte Einfluss auf die Entwicklung der Computer aus. Daneben forschte er über künstliche Intelligenz und die mathematischen Aspekte der theoretischen Biologie. Er starb 1954. b Diese „Church-Turing-Theorem“ genannte Vermutung, dass eine Turingmaschine jedes lösbare, mathematisch formulierbare Problem in endlich vielen Schritten lösen könne, konnte bisher nicht widerlegt werden.
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Information ist nur die eine Seite der Münze: Informationen haben keinen Sinn, solange es nicht informationsverarbeitende Strukturen gibt. Eine unter den Philosophen kreisende Geschichte lautet so: Eine Ameise kriecht durch den Sand und hinterlässt dabei Spuren, die zufällig eine Karikatur von Winston Churchill darstellen. Die Philosophie sieht sich nun vor dem Dilemma, ob die Ameise eine Karikatur gezeichnet hat oder nicht. Denn die Absicht etwas zu zeichnen, hatte die Ameise keinesfalls, dafür versteht sie zu wenig von Politik. Für uns ist diese Spur eine Karikatur, für die Ameise keine. Und wenn die Karikatur schon verschwindet, wenn wir auf der Welt nur Ameisen hätten, verschwindet sie ganz und gar und sofort, wenn gar niemand hinguckt. Ich werde auf diesen Aspekt der Informationstheorie noch im Zusammenhang mit „Sinn“ näher eingehen.
3.11 Prädikatenlogik Frank Tipler behauptet, das Leben sei nichts anderes als Information. Sie entsteht unter dem Einfluss der Evolution. Betrachten wir Evolution also als informationsverarbeitenden Prozess, so sollten wir eine formallogische Äquivalenz für ihre Prinzipien der Selektion und der Mutation finden. Die Prädikatenlogik, ein Zweig der formalen Logik, untersucht Aussagen und ihre Verknüpfungen. Kern der Idee ist dabei, jede noch so komplexe Aussage in eine Anzahl von Einzelinformationen, die sogenannten Prädikate und in drei, eigentlich sogar nur zwei Verknüpfungen zu zerlegen. Prädikate sind Aussagen beliebiger Art wie: „Die Ampel ist grün“, „Susie trägt einen roten Hut“ oder „Nachmittags regnet es seltener als vormittags.“ Die drei Verknüpfungen, mit denen solche Prädikate zu längeren Aussagen verkettet werden, heißen in der Prädikatenlogik: [nicht]; [und]; [oder]. Die Logiker nennen sie Junktoren. • • •
„[nicht] die Ampel ist grün“;a „Die Ampel ist grün [und] die Ampel ist gelb"; „Die Ampel ist grün [oder] rot“;
Im ersten Satz ist ein Prädikat mit dem [nicht]-Junktor verknüpft, in den beiden anderen Sätzen jeweils zwei Prädikate mit einem der beiden anderen Junktoren. "Die Ampel ist [nicht] rot [und] ich darf fahren." Dieser Satz verknüpft mit zwei der Junktoren zwei Prädikate. Die Logiker behaupten, dass sich jede beliebig komplexe logische Aussage aus genau solchen Prädikaten und den genannten Junktoren zusammensetzen lässt.
a
Nach der deutschen Grammatik müsste es allerdings: "Die Ampel ist [nicht] grün" heißen.
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Evolutionsprinzipien und logische Junktoren Evolution wird häufig mit der Selektion verbunden und die steht in einem miserablen Ruf: „Gnadenloser Überlebenskampf“, „Überleben des Stärksten“, „Herzloser Umgang mit den Unterlegenen.“ Betrachten wir hingegen die Evolution als einen informationsverarbeitenden Prozess, so zeigt sich, dass dieses lediglich eine der möglichen Optionen ist. Eine weitere ist die Konstruktion. Die Selektion steht für das [oder] zwischen zwei Genen: Es setzt sich entweder das eine oder das andere Gen durch. Das [nicht] steht für die Mutation: Das mutierte Gen ist nicht das ursprüngliche Gen. Das [und] schließlich steht für die Konstruktion oder Kooperation: Das eine Gen und das andere Gen. [nicht] Gen A Gen A [oder] Gen B Gen A [und] Gen B
Mutation Selektion Konstruktion
Wie in der klassischen Evolution sind in der Prädikatenlogik eigentlich nur zwei Junktoren nötig: Die Verneinung und wahlweise das [und] oder das [oder]. Meistens verwendet man die sogenannte schwache Disjunktion, die sowohl das ausschließende [oder] umfasst wie auch das [und]. In der Prädikatenlogik hat sich die Verwendung aller drei Junktoren durchgesetzt, wohl deshalb, weil sich die Welt so einfacher beschreiben lässt. Und genauso ist es mit der Evolution: Die Konstruktion ist in der Selektion mit enthalten, aber der Begriff Konstruktion als separater Begriff macht vieles in der Entwicklung des Universums verständlicher. Und sie ist, wie Lee Smolin meint, auch der Normalfall zumindest in der Evolution des Wissens: Der Fortschritt in der Wissenschaft besteht meist eher aus einem logischen „und“ als einem „oder“.34 Ich will nicht behaupten, dass Konkurrenz nicht eine wichtige Triebfeder im evolutionären Geschehen ist. Meine These lautet, dass sich Kooperation und Konkurrenz wie das halbleere oder halbvolle Glas betrachten lassen. In unserem gesellschaftlichen Bewusstsein wird, wenn wir über Evolution reden eher das halbleere Glas, die Konkurrenz in der Evolution gesehen. Dabei wird übersehen, dass in der Evolution eine enorme Kraft wirkt, die alle Mitspieler zur Kooperation drängt. Logik und Computer Die logischen Bauteile in einem Computer reduzieren sich letztlich auf lediglich zwei Junktoren, auf die beiden Junktoren: [nicht; und]. Ein Computer verarbeitet sämtliche Informationen mit diesen beiden logischen Grundoperationen. Doch auch hier gibt es einen dritten logischen Junktor: [oder]. Er lässt sich aber durch die beiden anderen Junktoren [nicht; und] ausdrücken. Die sogenannte schwache Disjunktion [oder], die das [und] mit einschließt, lässt sich wie folgt darstellen: [nicht] ([nicht] „die Ampel ist rot“ [und] [nicht] „die Ampel ist gelb“) 118
Das sieht kompliziert aus, ist aber sehr einfach. Es heißt einfach nur, dass das rote und das gelbe Licht nicht gleichzeitig ausgeschaltet sein dürfen. Es gibt drei zulässige Lösungen und eine Möglichkeit ist ausgeschlossen. Zugelassen sind die Möglichkeiten: • • •
Die Ampel ist rot. Die Ampel ist gelb. Die Ampel ist rot und die Ampel ist gelb.
Die ausgeschlossene Aussage ist, dass die Ampel weder rot noch gelb ist, d. h. es muss mindestens das rote oder das gelbe, oder auch das rote und das gelbe Ampellicht leuchten. Wenn wir Evolution als informationsverarbeitenden Prozess betrachten, ergibt sich zwanglos, dass Evolution vor allem ein kompositorisches Moment besitzt. Charles Darwin hatte die Selektion hervorgehoben, wahrscheinlich, weil sie dramatischer ins Auge sticht. Wir finden dafür in unseren Gefühlen eine Entsprechung: Dramen treffen und berühren uns stärker als es positive Ereignisse tun. Aber die Selektion, das ausschließende [oder], ist nur eines der logischen Gatter, nach denen sich das Erbgut entwickelt. Neben der Selektion ist immer auch das logische Gatter [und] im Spiel, dass wir als Komposition, Kommunikation oder Kooperation in der Ökosphäre finden. Diese Hypothese verschiebt meiner Ansicht nach den Blickwinkel, weg vom „herzlosen“ Kampf der Natur „Jeder gegen Jeden“ hin zu den Dingen, die wir in der Natur bewundern: Das Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten in einer Zelle, in einem Körper, oder in einem Wald.
3.12 Meme oder die Selektion der Information Die Selektion betrifft nicht nur für unsere genetische Ausstattung, sondern auch unser Denken. Wir können uns längst nicht an alles erinnern, unser Gedächtnis ist starken Beschränkungen unterworfen. Aber: „It´s no bug, it´s a feature“a, würde der Informatiker sagen. Optimal konfigurierte Informations-Suchsysteme lassen nur den Zugriff auf eine Information zu, wenn die Bedeutung der Information den Aufwand des Auffindens überwiegt. Kein System, das Informationsverarbeitung betreibt, darf unbeschränkten Zugang zu Informationen haben. Denn Informationen sind nicht nur von Nutzen, sondern auch teuer. Sie kosten zum Beispiel Speicherplatz. Unsere Gedankenwelt wird durch Selektion immer weiter optimiert. Eine unentwegte Produktion von Gedankenbildern, die sich weit von der Realität entfernen und ohne Überlebenswert sind, nennen wir Wahnsinn. Unser Gehirn sollte nur zulassen, aus unseren a
Die Übersetzung könnte lauten: Es ist kein Fehler, sondern gewollt. Einen Fehler als „bug“ zu bezeichnen, geht auf einen der Gründungsmythen der Informatik zurück. Als Rechner noch Relais und dicke Stromkabel hatten, fand man als Ursache für das Versagen einer Rechenmaschine angeblich einmal einen Käfer, der den Kurzschluss verursacht hatte und dabei verschmort war. Seitdem werden Fehler in der Informatik häufig als „bug“ bezeichnet.
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Kenntnissen die wichtigen Folgerungen abzuleiten. „Elefanten dürfen nicht Fahrrad fahren, weil sie keinen Daumen zum Klingeln haben.“ Das amüsiert Viertklässler und es ist sicher wahr, aber genauso sicher unwichtig. Wenn wir unsere Zeit mit solchen Schlussfolgerungen vertrödeln würden, würden wir vergessen, das Licht auszumachen, das Wasser abzudrehen und wir würden nicht an den Geburtstag der Schwiegermutter, oder noch schlimmer, an den Hochzeitstag denken. Informationsverarbeitende Systeme wie die Gehirne der Lebewesen gehen äußerst restriktiv mit Informationen um. Nur Wichtiges wird gespeichert, nur Überlebensnotwendiges wird den verarbeitenden Modulen zur Verfügung gestellt. Das Problem, die wichtigen Dinge von den unwichtigen unterscheiden zu müssen, ist das erste Mal voll in das Bewusstsein von Forschern gedrungen, als sie versuchten, Maschinen mit künstlicher Intelligenz auszustatten. Einfaches Alltagsbewusstsein zu programmieren ist eines der hartnäckigsten Probleme in der Informatik und als Rahmenproblem bekannt und gefürchtet. Der Wissenschaftsphilosoph Gerhard Vollmer erzählt dazu die Geschichte vom Roboter in der Physikvorlesung: Ein Roboter kommt in den fast vollen Vorlesungssaal, sucht sich einen leeren Stuhl, und fängt an, der Vorlesung über Quantenelektrodynamik zu lauschen. Der Professor schreibt von oben links nach unten rechts Formeln an die Tafel, wischt alles weg und beginnt von neuem. Plötzlich meldet sich der Roboter und behauptet, in der Rechnung sei ein Fehler aufgetreten. Unwillig rechnet der Professor noch mal von vorn und tatsächlich, es war ein Fehler in der Rechnung. Vollmer fragt nun, was an dieser Geschichte unglaubwürdig sei und beantwortet selbst: Dass der Roboter sich einen freien Platz sucht!35 Tatsächlich haben die heutigen Roboter gerade mit dem scheinbar Alltäglichen, Banalen ungeheure Probleme. Sie neigen zu Problemlösungen wie in diesem Zimmermannswitz: Ein Zimmermann wirft jeden zweiten Nagel, den er aus einer Tüte nimmt, weg. Warum?, wird der Zimmermann gefragt und seine Antwort lautet: „Die haben alle die Spitze am falschen Ende!“ Die Ursuppe der Meme finden wir in den Anfangsgründen unserer Sprache und unserer Kultur. Ideen verbreiteten sich dort nicht durch Zeugung sondern durch Überzeugung. Es überlebte diejenige Gedankenwelt, deren Wissen über wilde Tiere genauer und vollständiger war, einfach, weil die Besitzer dieser Gedankenwelten höhere Überlebenschancen hatten. Es ist diejenige Lehrmeinung am erfolgreichsten, die sich durchsetzt und damit am häufigsten kopiert wird. Die Information, „Die Erde ist eine Kugel“, befähigte Kolumbus, Amerika zu entdecken und damit eine neue Welt zu erschließen. Dies war ein klarer Selektionsvorteil für die Spanier: Es machte sie zu einer führenden Seefahrernation. Die Information, „Die Erde ist ein Scheibe“, wurde durch die bessere Information, „Die Erde ist eine Kugel“, verdrängt. Das Internet ist eine beeindruckende Spielwiese der Evolution von Informationen. Jede Information wetteifert mit den übrigen Inhalten des Netzes um die Ressourcen: Speicherplatz und schnelle Übertragungswege. Eine Webseite wie die offizielle Informationsseite über die Marsmission Pathfinder der NASA wurde während der Zeit, in der das Planetenmobil seinen Aufträgen nachging, nicht nur über 100 Millionen mal von Interessierten aufgesucht, sondern sie wurde auch vollständig auf andere Computer gespiegelt, d.h. 120
vervielfältigt. Wichtige Informationen im Internet bekommen also verschiedenen Speicherorte, was ihre Chance, längerfristig im Netz zu verbleiben deutlich erhöht. Außerdem verbessert sich dadurch die Auffindbarkeit solcher Webseiten. Die Auffindbarkeit von Informationen aber ist die Analogie zur Erinnerungsfähigkeit unseres Gehirns. Umgekehrt werden Informationen, die nicht nachgefragt werden, allmählich wieder aus dem Internet verschwinden. Auf diese Weise wird sich ein immer besser organisierter Wissenspool mit immer wertvolleren Informationen im Internet herausbilden. Ähnlich funktioniert unser Gehirn: Informationen, die häufiger abgefragt werden, sind leichter erinnerbar. Aus diesem Grunde müssen wir Vokabeln „pauken“. Gene sind die Erinnerungen an das Leben unserer Vorfahren. Nun gibt es in unserer Kultur Informationen, die ähnlich wie Gene tradiert werden. Verhalten als Beispiel kann sowohl genetisch wie kulturell erworben sein und so liegt eine Analogie nah. Wir haben es beim Verhalten offensichtlich nicht mit einem Funktionswechsel sondern nur mit einem Substratwechsel zu tun: Statt in der DNS sind „Meme“ in den Neuronen gespeichert. Erinnerungen werden in unser Gedächtnis mit Atomen geschrieben. Wir verlieren alle irgendwann unser Leben, aber ein Teil unserer Erinnerungen bleibt erhalten. Dies ist um so wichtiger, als wir bereits eine Menge wissen müssen, um Neues lernen zu können. Den Begriff: „Mem“ führte Richard Dawkins 1976 in seinem Buch: „Das egoistische Gen“ ein. Im Oxford English Dictionary steht die folgende Definition für ein Mem: Ein Element einer Kultur, das offenbar auf nicht genetischem Weg, insbesondere durch Imitation, weitergegeben wird. Wir finden zu den meisten menschlichen Verhaltensweisen und zu fast allem, was der Mensch geschaffen hat Anleitungen, die mündlich oder schriftlich oder auch nur über Abgucken weitergegeben wurden. Unsere ersten Verhaltensweisen erlernen wir über Imitation von unseren Eltern und Geschwistern, später lesen wir den Struwwelpeter, die Bibel oder gar den Knigge. Wie wir einen Film auf Video aufnehmen müssen, entnehmen wir einer Gebrauchsanweisung. An Universitäten werden Meme vermittelt, die uns befähigen, ein Auto, eine Kathedrale oder einen Luftballon zu fertigen oder wie man Geige spielt. Letztlich sind dies alles Handlungsanleitungen. Wir wissen, dass Verhalten genetisch kodiert sein kann. Hier finden wir nun die Verlängerung des menschlichen Genpools als „Meme“ in unserer Kultur. Der Begriff Mem bekommt eine erhöhte Schlagkraft, wenn wir uns mit der Evolution der Technik beschäftigen. Denn wenn Meme die Fortsetzung unserer Gene sind, so ist Technik die Fortsetzung der biologischen Evolution. Auf dieses Thema werde ich später ausführlich eingehen. Hier möchte ich eine andere Idee formulieren: Meme als eine Art kulturelle Gene aufzufassen ermöglicht eine interessante Formulierung für Wahrheit. Susan Blackmore schreibt in ihrem Buch „Die Macht der Meme“, Wahrheit sei nicht unbedingt ein Kriterium für ein erfolgreiches Mem.36 Dem möchte ich widersprechen: Wenn Meme der Selektion unterliegen, so sollten sie wie die Gene zur Fitness einer Kultur beitragen. Eine Kultur muss zur Auseinandersetzung mit der Umwelt taugen. Je besser sie sich mit der Umwelt, mit der Realität auseinandersetzt, desto erfolgreicher wird sie sein. Dauerhaft erfolgreiche Meme sind meiner Ansicht nach von hohem 121
Wahrheitsgehalt, weil sie uns befähigen müssen, mit der Realität umzugehen. Dies mag der Grund dafür sein, warum sich die Naturwissenschaften so erfolgreich verbreiten und gegen alle anderen Kulturgene durchzusetzen beginnen. Wenn die Evolution die Gene zu immer höherer Komplexität hin entwickelt, so entwickelt die Evolution die Meme zu immer höherer Wahrheit und Weisheit. Diese These ist gleichzeitig eine weitere Folgerung von Frank Tiplers Postulat vom „ewig belebten Universum“, wie ich noch anmerken werde. Bezeichnend ist, dass Meme dann am ehesten „überleben“, wenn sie sich mit anderen Memen in Verbindung bringen lassen oder zu ihnen nicht im Widerspruch stehen. Wir können das am eindrucksvollsten in den Wissenschaften beobachten. Ein wissenschaftlicher Beitrag wird nur veröffentlicht, wenn er sich auf andere Beiträge bezieht, sie zitiert. Und die Thesen des Aufsatzes werden nur dann akzeptiert, wenn sie nicht mit dem als gültig angesehenen Wissensstand der Fachdisziplin im offenkundigen Widerspruch stehen. Die Welt der Meme ist, genau wie es die physikalische Welt ist, eine Welt der Relationen. Menschen konkurrieren heute nur noch wenig genetisch miteinander, wichtiger ist die Konkurrenz auf der Wissensebene. Dasjenige Individuum, das die wertvolleren Informationen besitzt, gewinnt Macht und Einfluss: „Wissen ist Macht!“ Die Überlegenheit der Industrieländer gegenüber den Dritte-Welt-Ländern beruht auf dem höheren Bildungsstand und den größeren Forschungsanstrengungen und nicht auf den Erbanlagen und sie drückt sich im technologischen Vorsprung aus. Für den Einzelnen von uns bedeutet die Theorie der Meme, dass nicht nur unsere Gene durch unsere Kinder erhalten bleiben. Auch alles, was wir zur Kultur beigetragen haben, überlebt unseren individuellen Tod.
3.13 Konformismus Wo immer es Mutation gibt, muss es auch ein retardierendes Moment geben, dass dem Wandel Widerstand entgegensetzt. In Zellen kennen wir eine ganze Anzahl von Prüf- und Reparaturmechanismen, die verhindern, dass das Erbgut sich bei der Weitergabe auf die nächste Generation verändert. Betrachten wir unsere kulturellen Errungenschaften als Meme, so können wir erwarten, dass wir auch bei der Weitergabe von Memen Mechanismen finden, die einer Abweichung vom Status Quo entgegenwirken. Dieser Widerstand zur Veränderung von Wissen in einer Gesellschaft ist der Konformismus. Er gewährleistet, dass einmal erworbenes Wissen auch dauerhaft in der Gemeinschaft verfügbar bleibt. Die Konformität des kulturell erworbenen Wissens ist der Garant für den dauerhaften Zugewinn an nützlichen Informationen. Ein großer Vorteil dieser Art der Informationserhaltung ist, dass der erworbene Wissensstand einer Gemeinschaft redundant, also auf viele Individuen verteilt, gespeichert und nicht geschmälert wird, wenn einzelne Individuen zugrunde gehen.
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Zur genetischen Evolution [....] hat die natürliche Auslese das Parallelgleis der kulturellen Evolution hinzugefügt, schreibt Edward Wilson und führt für „Kultur“ die folgende Definition an: Kultur [ist] die Summe all dessen, was die Lebensart einer spezifischen Gesellschaft ausmacht - Religion, Mythen, Kunst, Technik, Sport und all das andere systematische Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. 37, Die Fähigkeit, auf unsere erlebten Erfahrungen zurückgreifen zu können, ist eine der nützlichsten Anpassungsleistungen. Erfahrungen stehen uns als Entscheidungshilfen für alle weiteren Situationen zur Verfügung. Der Konformismus ermöglicht es, auf die Erfahrungen einer ganzen Gruppe und auf die Erfahrungen der Vorfahren zurückgreifen zu können. Bei der Evolution geht es um Anreicherung von Informationen unter dem Druck der Selektion. Meme stellen in einer Kultur das Äquivalent zu den Genen dar. Konformität bewahrt den „memetischen“ Code unserer menschlichen Kultur. Sie schützt die Meme und setzt ihrer Veränderung heftigen Widerstand entgegen. Informationen erhalten sich in einer Gemeinschaft dauerhaft entweder durch Nachahmung, durch Überlieferung und heute auch als niedergeschriebenes oder elektronisch gespeichertes Wissen. Die Meme unterliegen der Evolution: Nachahmenswertes wird nachgeahmt, unzweckmäßiges Verhalten ausgesondert. Die meisten Ideen, so formuliert es Lee Smolin, die man fälschlicher Weise für einen Augenblick als die eigenen ansieht, [sind] nur auf der Durchreise. Sie entstammen irgendeinem Ursprung in der fernen Vergangenheit und reisen von Kopf zu Kopf bis zu uns hin.38 Hilfreiches wird dauerhafter überliefert als Unzweckmäßiges. „Gute“ Bücher werden nachgedruckt, während Flops vom Markt verschwinden. Das Gedächtnis einer einzelnen Biene reicht ca. sechs Tage, im Schwarm verbleibt die Erinnerung dagegen bis zu drei Monaten, zweimal solange, wie eine Biene im Schnitt lebt.39 Wolfgang Wickler berichtet von Grünfinken, die die Samen des in England wegen seiner schönen Blüten oft in Gärten zu findenden Seidelbasts fressen. Es gibt starkes Beweismaterial, das diese Fressgewohnheit nur ein einziges Mal vor ein bis zwei Jahrhunderten von einem Fink „erfunden“ wurde und sich dann über Nachahmung mit zwei bis vier Kilometer jährlich über England ausgebreitet hat.40 Findet eine Ratte eine neue, bisher unbekannte Nahrung, so entscheidet meist das erste Tier, ob die Großfamilie davon frisst oder nicht. Sind einige weitere Tiere am Köder gewesen und haben ihn verschmäht, wird kein weiteres Mitglied des Rudels sich noch daran wagen, sondern sich konform verhalten. Das Wissen über die Gefährlichkeit eines Köders überlebt bei weitem jene Tiere, die schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht haben. Der Konformismus bewirkt, dass der Kammerjäger sich immer neue Strategien gegen Ratten einfallen lassen muss. Ein zu großes Maß an Konformität hat allerdings auch einige Nachteile: Meme können sich hartnäckig behaupten, auch wenn sie ihre Fitness, ihren Nutzen für die Gesellschaft, eingebüßt haben. Die Wissenschaft ist voll von Beispielen darüber, wie mühsam sich neue Ideen durchsetzen. Zyniker behaupten gar, neue Theorien setzen sich in der Wissenschaft 123
nicht durch, sondern die Vertreter der alten Theorien sterben allmählich aus. Dies ist um so erstaunlicher, als man sich von der Wissenschaft leicht das Bild macht, dort würde nach rationalen Aspekten über den Wahrheitsgehalt von Theorien entschieden. Eine Begründung, warum sich Konformität als menschliches Verhalten durchgesetzt hat, liefern die Wirtschaftsmathematiker David Hirshleifer, Sushil Bikhchandani und Ivo Welch. Sie versuchen zu erklären, warum sich die Leute alle nach derselben Mode kleiden, denselben Rockstars zujubeln und dieselbe Zigarettenmarke rauchen: Jeder Mensch kann sich in der Regel bei jeder Entscheidung auf zwei Instanzen stützen: Auf seine eigene Urteilskraft und auf die Meinung der anderen Leute. Je weiter die eigene Wahl und konforme Entscheidung auseinander klaffen, desto eher wird der Mensch auf die Mehrheit hören und seiner eigenen Urteilskraft misstrauen. Daher ist es für den Sozialpsychologen Robert B. Cialdini auch ein Schlüsselfaktor sozialer Einflussnahme, dass wir uns an unseren Mitmenschen orientieren.41 In den meisten Fällen ist das eine sehr sinnvolle Reaktion, nicht jedoch, wenn diese Einflussnahme beispielsweise zu Propagandazwecken ausgenutzt wird. Der Erfahrungsschatz einer Bevölkerung ist im allgemeinen größer, als der Erfahrungsschatz jedes seiner Individuen. Das Verhalten der anderen ist eine nützliche Quelle angesammelter Erfahrungen.42 Modeerscheinungen Das Phänomen Konformismus ist vielschichtig. Betrachten wir einmal die Mode. Intuitiv läuft ganz Paris plötzlich in denselben Modefarben herum und die Modebewussten halten nur diese Farben für überhaupt tragbar. Aber schon in der nächsten Saison kann sich dieses ästhetische Empfinden gänzlich geändert haben. Konformismus hat offensichtlich auch etwas mit Gruppenidentität zu tun. In meiner Jugend war das Tragen langer Haare non-konform den Erwachsenen gegenüber und konform mit meinen Freunden. Die einen reagierten mit Repressalien, den anderen galt man als Weichling, wenn man sich die Haare schnitt. Wir hatten unsere Vorbilder, denen wir nacheiferten, die aber in der Erwachsenenwelt nicht gerade als vorbildlich galten. Der Kunsthistoriker Quentin Bell zeigte den dahinter liegenden Mechanismus auf: Versuche, wie die Leute über dir auszusehen, bist du ganz oben, versuche, anders als die Leute unter dir auszusehen.43 Hier hat Konformismus weniger mit der Erhaltung von Informationen als mit Status zu tun. Diese Art von Konformismus zeichnet neben der Mode auch die Welt der Kunst aus. Fettecken sind Kunst, weil sich eine Modeelite mit ihrem scheinbaren Verständnis für solche Unappetitlichkeiten über den normalen, höchst durchschnittlichen Kunstgeschmack hinwegsetzen kann.
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3.14 Die Teleologie der Evolution Wer die Weltgeschichte nach den Gesetzmäßigkeiten der Evolution durchforscht, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre gesamte Strategie auf einen Zweck ausgerichtet zu sein scheint: die Verewigung des Lebens, in welcher Form auch immer.44 Jesco v. Puttkamer
Die Regeln des Kosmos sind vorgegeben: Es sind die Gesetze der Physik und die Prinzipien der Evolution. Mehr ist offensichtlich nicht vonnöten, um das Werden allen Seins im Kosmos zu verstehen. Diese Vorgaben haben dazu geführt, dass Menschen mit ihrer Intelligenz, Moral und ihrem Altruismus entstanden sind. Dies ist, soweit erkennbar, ein gerichteter Aufstieg im Kosmos zu immer höherer Komplexität. Ob sich hinter dieser Entwicklung noch etwas versteckt, ob sie auf ein Endziel ausgerichtet ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Allerdings bin ich eher der Ansicht, dass die Ablehnung einer Teleologie nicht wirklich etwas mit den Überzeugungen der betreffenden Person zu tun hat, sondern eher schon mit dem Ringelnatzschen Motto: „Was nicht sein darf, das nicht seien kann.“ Zuerst muss man sich fragen, warum sich Wissenschaftler mit der Evolution überhaupt beschäftigen, wenn sie nicht der Meinung sind, dass sie kausal ist und damit eine Art von Richtung vorzeichnet, in der sich das Leben entwickeln wird. Die meisten Wissenschaftler, die über Evolution forschen, verneinen tapfer eine inhärente Teleologie. Wie das aussieht, möchte ich am Beispiel eines etwas längeren Zitats deutlich machen, das dem Buch: „Wie das Denken im Kopf entsteht“, von Steven Pinker entnommen ist: Der Prozess der natürlichen Selektion als solcher hat zwar kein Ziel, aber er hat Gebilde hervorgebracht, die (wie ein Auto) hochorganisiert sind, so dass sie bestimmte Ziele und Teilziele verfolgen. Wenn wir den Geist mit der analytischen Technik untersuchen wollen, müssen wir diese Ziele dingfest machen und das eigentliche Hauptziel seiner Konstruktion identifizieren [...]. Die Antwort ergibt sich aus der Logik der natürlichen Selektion. Der eigentliche Zweck, zu dessen Erfüllung der Geist konstruiert wurde, ist die Erzeugung möglichst vieler Kopien der Gene, die ihn hervorgebracht haben. Der natürlichen Selektion geht es ausschließlich um das langfristige Schicksal von Gebilden, die sich vervielfältigen, das heißt um Gebilde, die über viele Generationen von Kopiervorgängen hinweg eine stabile Identität beinhalten.45 Steven Pinker setzt sich also nicht nur auf die Spur von Zielen, die aus der Evolution hervorgegangen sind (die Evolution hat das Gehirn mit dem Ziel konstruiert [...]). Er weiß auch ein langfristiges Ziel zu formulieren, das die Selektion an sich verfolgt, und dem nicht unähnlich ist, was die Regenbogenkämpfer von Greenpeace auf ihre Fahnen geschrieben haben: Die Erhaltung der Arten. An anderer Stelle schreibt Steven Pinker: Wenn die Ziele eines Lebewesens nicht bestimmbar sind, verliert der ganze Begriff der Intelligenz seinen Sinn. Und er definiert Intelligenz als die Fähigkeit, Ziele angesichts von Hindernissen zu erreichen, und zwar mit Hilfe von Entscheidungen, die sich auf rationale (auf Wahrheit gründende) Regeln stützt. Und schließlich: In der Evolution geht es nicht um Mittel sondern um Ziele.46 125
Es entbehrt nicht einer gewissen Komik: Gehirn und Geist seien von der Evolution konstruierte Hilfsmittel, um das Überleben der Spezies Mensch zu gewährleisten. Wenn der Mensch sein Gehirn in diesem Sinne benutzt, verfolgt er per Definition kein Ziel, da die Evolution kein Ziel verfolgt und schwups, entledigen sich die Denker selbst der Intelligenz, mit der sie so messerscharf schließen. Da der „Glaube“ an die nicht-teleologische Bedeutung der Evolution tief verwurzelt zu seien scheint, möchte ich ein paar Argumente anführen, die nahe legen, dass Evolution als zielgerichtet anzusehen ist. Mein erstes Argument lautet: Sobald die Regeln aufgestellt sind, ist auch ein Endzustand festgelegt, auf den ein System zustrebt, das Ziel. Dies soll an einem Beispiel aus der Robotik erläutert werden, das Gero von Randow beschreibt: Ein paar einfache Vorschriften, die Robotiker nennen sie Algorithmen, führen dazu, dass ein Roboter in einem eingezäunten Rechteck unregelmäßig verteilte Teelichter zu einem einzigen großen Haufen zusammenschiebt. Die Regeln sind überaus simpel: Der Roboter soll so lange geradeaus fahren, bis er auf einen Widerstand stößt, der größer ist, als der, den zwei Teelichter bieten. Trifft er auf so einen größeren Widerstand, so soll er sich ein wenig drehen und dann seine Geradeausfahrt in der neuen Richtung fortsetzen.47 1. Widerstand ≤ 2 Teelichter 2. Widerstand > 2 Teelichter
Geradeausfahrt Richtungsänderung
So simpel diese beiden Regeln sind, sie führen dazu, dass der Roboter scheinbar zielgerichtet das Geviert nach Teelichtern absucht und sie nach und nach zu einem einzigen Haufen zusammenschiebt, ohne dass eine Absicht von Seiten des Roboters dahinter verborgen wäre. Die Zielstrebigkeit, die er an den Tag legt, ist nicht explizit in seinen Verhaltensregeln aufgeführt. Trotzdem resultiert aus den lediglich zwei Regeln und dem Versuchsaufbau, dass seine Handlungsweisen nicht von zielgerichteten Handlungen zu unterscheiden sind. Wenn sie aber nicht davon zu unterscheiden ist, so ist sie tatsächlich zielgerichtet, auch wenn sich der Ausführende nicht explizit darüber bewusst ist. Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik, schrieb 1950: Nicht nur, dass wir Maschinen Zielstrebigkeit einbauen können; in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle wird eine Maschine, die so konstruiert wurde, dass sie gewissen Störfaktoren ausweicht, nach erreichbaren Zielen suchen.48 Und er vermutete, dass ab einem bestimmten Schwellenwert der Komplexität einer mechanischen Konstruktion das Auftauchen von Zielgerichtetheit unvermeidbar ist. Auch nach Kevin Kelly brauchen wir keine vitalistischen oder übernatürlichen Erklärungen zu bemühen, um zu entdecken, dass aus richtungsloser Masse und ziellosen Teilchen Richtungen und Ziele entstehen können. Evolutionsexperimente in Computersimulationen bestätigen seiner Meinung nach diese inhärente Teleologie, diesen selbsterzeugenden „Trend“.49 Vielleicht haben Sie schon einmal einem Marienkäfer zugeschaut, wie er auf einer Pflanze herumkurvt. Er läuft außen an einem Blatt entlang, den Stängel runter und rauf auf ein neues Blatt, umkurvt dieses außen herum und so fort über mehrere Blätter, kommt aber 126
dann auf das Blatt zurück, bei dem er seinen Weg begonnen hat. Anschließend geht er fast denselben Weg noch ein paar Mal. Irgendwann schlägt er an einer Wegkreuzung einen neuen Weg ein, den er wieder ein paar Mal hintereinander auf dieselbe Art abkrabbelt. Es ist kaum anzunehmen, dass sich der Marienkäfer intellektuelle Gedanken über seine Handlungen macht, vielmehr erinnert seine Umhereilerei sehr an den Roboter mit seinen einfachen Regeln: 1. Biege an Stängeln immer rechts herum ab und laufe immer rechts herum am Rand eines Blattes lang. 2. Wenn Dir nach zwei Minuten keine Laus über den Weg gelaufen ist, biege an einem Stängel links ab und befolge anschließend wieder Regel 1. Nur geht es hier nicht um Teelichter. Die Evolution hat vielmehr Jagdstrategien ausgearbeitet und im Genom des Marienkäfers kodiert, mit denen es dem Insekt gelingt, Läusekolonien aufzuspüren, einzelne Läuse daraus zu greifen und zu verspeisen. Genauso wenig wie der Roboter macht sich der Marienkäfer darüber irgendwelche Gedanken. Trotzdem ist sein Verhalten zielgerichtet auf den Fang seiner Beute ausgerichtet. Im Grunde müssen wir jedes Verhalten im Tierreich so auffassen, dass es auf ein Ziel ausgerichtet ist und dieses Ziel besteht letztlich darin, die eigenen Gene zu tradieren. Das Individuum selbst ist sich dieser Konsequenzen seiner Handlungen nicht bewusst. Zielgerichtetheit erwächst aus den Regeln und nicht, weil jemand darüber nachdenkt. Wenn Sie übrigens immer noch nicht davon überzeugt sind, das aus einem Regelwerk ein Endzustand folgt, spielen Sie einfach ein paar Runden Monopoly. Wie Sie merken werden, ist der Verlauf des Spieles zwar ungewiss und vom Glück im Würfeln abhängig, aber das Spiel strebt immer demselben Endzustand zu: Einer gewinnt, und besitzt schließlich fast alle Immobilien. Natürlich kann man einwenden, so wie es in der Rechtsfindung der Fall ist, das zur Zielgerichtetheit der Vorsatz gehört. Dies ist aber nicht viel mehr als ein anthropozentrischer Blickwinkel. Denn es ist wissenschaftlich durchaus noch nicht belegt, ob der Mensch selbst dieses Kriterium erfüllt. Die Wissenschaftler streitet sich, ob der Mensch prinzipiell in der Lage ist, frei und auf Grundlage seines Intellektes Entscheidungen zu fällen, oder ob nicht auch er lediglich aufgrund des augenblicklichen Erregungszustands seiner Neuronen zwingend und vorhersagbara zu einer Entscheidung gelangt. Ein Neuron macht schließlich nichts anderes, als einkommende Werte zu addieren, sie mit einem Schwellenwert zu vergleichen und anzuzeigen, ob der Schwellenwert überschritten ist. Tiere jedenfalls wären, juristisch gesehen, auf jeden Fall vom zielgerichteten Verhalten ausgeschlossen, obwohl sie mit ihren Handlungen eindeutig Ziele verfolgen. Wenn eine
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Die Vorhersagbarkeit würde wahrscheinlich aber schon an der hohen Komplexität eines menschlichen Entscheidungsprozesses scheitern.
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Henne sich auf ihr Ei setzt, um es auszubrüten, verfolgt sie damit ein Ziel. Implantieren wir ihr kurz ein menschliches Hirn und lassen sie weiter brüten. Würde sich dann die Zielgerichtetheit ändern, nur weil die Henne unsere Intelligenz besäße? Schließlich möchte ich noch eine Art von logischen Schluss anführen, dessen ich mich noch häufiger bedienen werde. Der Schluss ist durch das mathematische Prinzip der Unvollständigkeit inspiriert, dass von Kurt Gödel bewiesen wurde. Hier die Folgerung, die sich für die Zielgerichtetheit der Evolution ergibt: Die Evolution, selbst wenn sie nicht zielgerichtet wäre, war in der Lage, etwas zu schaffen, dass zielgerichtet vorgehen kann: Den Menschen.a Unzweifelhaft sind Menschen in der Lage, Ziele zu verfolgen und sie sind gleichzeitig Teil der Evolution. Damit aber bekommt die Evolution, so sie nicht von Anfang an zielgerichtet gewesen ist, ein teleologisches Moment, einfach deswegen, weil wir Menschen in der Lage sind, Teleologien zu verfolgen. Und dies wird so bleiben, solange es intelligente Wesen im Kosmos geben wird. Eine weitere Frage ist, ob jemand „bewusst“ eine Entwicklung in Gang gesetzt hat und damit ein Ziel verfolgt, oder ob die Evolution zufällig, aber in dieselbe Richtung verläuft. Immerhin, dafür sollten wird Gott oder dem Zufall dankbar sein: Die Regeln des Universums gewährleisteten, dass wir entstehen konnten.
3.15 Teleologie und Kooperation Kooperation kann sich bereits aus dem Zusammenwirken ergeben, wenn Lebewesen das selbe Ziel verfolgen. Lässt man zwei der oben beschriebenen Roboter umherfahren, so schieben sie die Teelichter schneller zusammen, als jeder einzelne von ihnen es könnte. Sie scheinen zusammenzuarbeiten. Dabei hat jeder von ihnen nur dieselben einfachen Regeln, aus denen implizit dasselbe Ziel folgt: Teelichter zu einem Haufen zusammenzuschieben. Kooperation ergibt sich wie das Ziel: Implizit aus den Regeln. Es bildet sich sogar ein sinnvolles Interaktionsmuster zwischen diesen beiden Maschinenwesen aus. Trifft einer der Roboter auf den anderen, so tritt Regel zwei in Kraft: Der Roboter ändert die Richtung und geht dem anderen so aus dem Weg. Mit ähnlich einfachen Regeln entsteht bei den Ameisen ein soziales Verhalten. Jede Ameise legt während ihres Umherstreifens eine chemische Spur. Trifft sie bei ihren Streifzügen auf eine Weggabelung, so wird sie sich zufällig für links oder rechts entscheiden. Findet sie nun eine Nahrungsquelle, so nimmt sie einen Teil davon, kehrt auf ihrer eigenen Spur zum Ameisenhügel zurück und legt dabei eine zweite Duftspur über a
Ich nehme hier als Voraussetzung an, dass das Universum Welt ein logisches System sei, welches aus sich selbst heraus keine Art von Zielgerichtetheit aufweist. Dies ist die Art und Weise, wie viele Wissenschaftler die Welt betrachten. Logisch korrekt wäre anzunehmen, dass ein solches System keine Eigenschaft hervorbringen kann, welche es selbst nicht als Gesamtheit oder Teilmenge besitzt. Nehmen wir weiter an, dass Zielgerichtetheit mit Intelligenz gekoppelt sei, so taucht die Eigenschaft „zielgerichtet“ erst mit dem Menschen auf. Der Mensch als Teil des Systems Universum besitzt also eine Eigenschaft, die unter den hier getroffenen Annahmen nicht aus den Anfangszuständen des Universums abzuleiten ist und nicht vollständig darauf zurückzuführen ist.
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die erste. Eine nachfolgende Ameise entscheidet nun nicht mehr ganz so zufällig, welchen Weg sie einschlägt: Die Seite mit der doppelten Duftspur ist anlockender als die andere Seite der Weggabelung. Denn der Folgeinstinkt der Ameise hängt mit der Stärke der Duftspur zusammen. Je stärker der chemische Reiz ist, um so attraktiver ist es, der Spur zu folgen. Vielleicht folgt sie also der ersten Ameise und legt ihre eigene Duftspur dazu. Und mit jeder Ameise, die der Fährte folgt, verstärkt sich die Duftspur noch mehr, weil jede Ameise eine neue dazusetzt. Auf diese Weise entsteht eine Ameisenstraße zu einer attraktiven Futterquelle. So oder ähnlich funktioniert vieles im Staate der Ameisen. Die Schwarmfische der Weltmeere geben ein Beispiel für eine Art der Vergesellschaftung, in der es keinerlei innere Struktur gibt, keinen Anführer, keine Hierarchie, nur eine gewaltige Ansammlung gleicher Elemente. Es ist erstaunlich, dass sich bereits diese rudimentäre Art der Gemeinschaft durch so große Vorteile für das Individuum auszeichnet, dass sie die Nachteile aufwiegt: Den erschwerten Nahrungserwerb wegen der Größe der Gemeinschaft, die Unmöglichkeit des Verborgenseins und die vergrößerte Anfälligkeit für Parasiten und Krankheitserreger. Das Verhalten hochkomplexer Gesellschaften, zuoberst der unseren, erwächst aus einigen wenigen Grundregeln, und das kann eigentlich nicht verwundern: In der Physik entstehen aus den einfachen Gleichungen der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie Galaxien, Sonnen und Planetensysteme, ohne dass irgendwo explizit dafür ein Bauplan kodiert wäre. Und genauso ist die Kooperation in einer Zivilisation wie der unsrigen in den einfachen Regeln der Evolution enthalten. Spezialisierung Ein Wesenszug kooperativen Verhaltens ist die Spezialisierung. Sie vor allem macht, dass Gemeinschaften mehr sind als die Summe ihrer einzelnen Glieder. Durch die Spezialisierung des Individuums erreicht eine Gemeinschaft einen höheren Generalisierungsgrad sie kann als Gemeinschaft ihre ökologische Nische ausweiten. Wir alle sind Teil einer Familie, einer Horde, eines Stammes, eines Staates, unfähig, ohne diese Gemeinschaften zu überleben. In einer Schimpansenhorde ist nicht unbedingt der Stärkste das Alphamännchen, sondern oft derjenige, der soziale Koalitionen am besten zu seinen Gunsten manipulieren kann.50 Immer ist die Kooperation der Kitt, der eine neue Funktionseinheit zusammenhält. Sie gewinnt dadurch neue Fähigkeiten, die sie fitter gegenüber anderen Funktionseinheiten macht. Eine Zelle, zum Beispiel ein Bakterium, besteht aus nichts anderem als aus einer Ansammlung verschiedener chemischer Verbindungen. Proteine, Enzyme usw. tauschen untereinander Stoffe aus, schaffen zusammen neue Verbindungen oder bauen sie wieder ab, mit dem Ziel, etwas hervorzubringen oder zu erhalten, das wir im allgemeinen „lebendig sein“ nennen. Leben basiert auf Kooperation relativ einfacher chemischer Verbindungen. Überall, wo Kooperation herrscht, ergibt sich ein komplexes System aus Kompromissen, aus Kontrollen und Vorsichtsmaßnahmen, also eine Moral: Eine Zelle in einem Körper darf sich nicht hemmungslos und beliebig vermehren, auch wenn es ihr egoistisches 129
Trachten ist. Es würde dem Gesamtsystem schaden und so wachen ausgeklügelte Kontrollmechanismen darüber, dass dies nicht passiert. Passiert es doch einmal, entwickelt sich das, was wir immer noch als eine Geißel der Menschheit erleben, ein Krebsgeschwür. Die erste Ausweitung des Lebens von der einfachsten Bakterienzelle zu höher organisierten Zelltypen ist wahrscheinlich über einen verunglückten Beutezug entstanden. Das Mitochondriuma ist nach Ansicht vieler Biologen eine ehemalige eigenständige Zelle gewesen, die möglicherweise gefressen, aber nicht verdaut wurde. Sie verschmolz statt dessen mit der räuberischen Zelle. Der durch die Verschmelzung von zwei Zellen hervorgegangene Zelltyp war so erfolgreich, dass er sich in allen höheren Lebensformen durchgesetzt hat. Tiere sind Strukturen verschiedener Zellen mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen, die sich wahrscheinlich aus Bakterienkolonien heraus entwickelt haben. Anfänge dieser Entwicklung gab es schon zu Beginn der Evolution in Form von Stromatolithen. Der zur Zeit am höchsten entwickelte Organismus der Erde, der Mensch, besteht aus etlichen Milliarden Zellen, die aber nur etwa 200 Typen angehören. Nach wie vor bleiben die eigentlichen biochemischen Prozesse auf die einzelnen Zellen beschränkt. Der wesentliche Evolutionsfortschritt ist die hochentwickelte Kooperation dieser Zellverbände in einer funktionalen Einheit. Der Zwang zur Kooperation Die Anpassung zwischen einem Bakterium und dem Menschen zeigt, wie sich Kooperation zum gegenseitigen Nutzen langsam aus dem anfänglichen konkurrierenden Verhalten heraus entwickeln kann. Das Ziel eines Bakteriums ist, seinen Genpool möglichst weit und dauerhaft zu verbreiten. Angenommen, einem Bakterium gelingt es, einen Menschen das erste Mal zu befallen: Eine neue Krankheit ist entstanden. Durch eine ungezügelte Vermehrung schadet das Bakterium seinem Wirt so stark, dass dieser erkrankt und an der Infektion schließlich stirbt, denn der Mensch verfügt noch über keine Abwehrmechanismen gegenüber dem Bakterium. In der Zeit bis zum Tod des Wirts muss das Bakterium bereits neue Wirte befallen haben, da es sonst selbst zugrunde geht. Vorteilhaft für das Bakterium ist, den Wirt lange am Leben zu lassen. Dann hat es lange Zeit, andere Wirte zu infizieren. Das lässt auf der anderen Seite dem Wirt Zeit, Nachkommen in die Welt zu setzen, von denen einige durch Mutation erste Immunabwehrreaktionen erwerben. Diese Nachkommen haben eine höhere Überlebensrate und damit ihrerseits den größeren Kindersegen. So können sich allmählich Abwehrmaßnahmen entwickeln und diese weiter vererbt werden. Das Bakterium steckt nun in einer Zwickmühle: Seine weniger aggressiven Stämme haben einen Selektionsvorteil, da sie den Wirt länger am Leben lassen. Aber gegen diese kann der Wirt auf die Dauer wirksame Gegenmaßnahmen entwickeln. a
Das Mitochondrium ist ein faden- oder kugelförmiger Bestandteil in tierischen und pflanzlichen Zellen, das der Atmung und dem Stoffwechsel der Zelle dient.
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Die Zeit arbeitet für den Wirt. Die Gegenmaßnahmen werden immer weiter verfeinert, solange das Bakterium dem Wirt schadet. Mit der Zeit entsteht so eine immer wirkungsvollere Immunantwort gegen das Bakterium bis hin zur vollständigen Beseitigung. Die gefährlichen neuen Seuchen, ausgelöst durch Ebola-, Marburg- oder auch durch das AidsVirus sind lediglich für die Menschheit neu und damit oft tödlich: Mit ihren tierischen Wirten haben sich diese Viren über eine Jahrmillionen lange Evolution bereits auf ein mehr oder weniger friedliches Miteinander arrangiert: Der Virus schadet dem Wirt kaum und dieser toleriert das Virus weitgehend. Letztlich bedeutet dies, das es keine evolutionsstabile Entwicklung für ein Bakterium oder Virus gibt, es sei denn, es einigt sich mit dem Wirt in der Art, dass beide voneinander profitieren: Nur dann wird ein Organismus seine Immunantwort nicht weiter ausbauen. Dass dies tatsächlich zu Kooperationen zwischen Mensch und Bakterium geführt hat, sieht man an der Mund- und Darmflora. Diese Besiedelung des menschlichen Körpers besteht zu beiderseitigem Nutzen. Mutter-Kind-Konflikt Kooperation ist ein sehr menschliches Wort. Neutral formuliert ist es der immer wieder neu auszuhandelnde Zustand, in dem beide Seiten aus einer Beziehung ein Optimum an Vorteilen erzielen. Zwischen dem ungeborenen Kind und der schwangeren Mutter könnte man naiv eine kompromisslose Zusammenarbeit erwarten: Aber beide sind Individuen, die durchaus von unterschiedlichen Interessen im Sinne der Verbreitung ihrer Gene angespornt sind. Die Ausgangslage könnten wir so beschreiben: Die Mutter möchte nicht alle Ihre Ressourcen für dieses eine Kind verbrauchen. - Sie hat vielleicht schon einige andere oder ist jung genug, noch weitere Kinder zu bekommen. Das Kind hat dagegen das Interesse, möglichst viele Ressourcen der Mutter einzufordern. Aber beide sind, auch in Hinblick auf die Verbreitung ihrer Gene, aufeinander angewiesen. Es ergibt sich, wie die Biologen herausgefunden haben, ein Kompromiss: Bei der Zufuhr von Nährstoffen wie Glucose zum Fötus etwa liegt diese etwas unterhalb des Optimums für das werdende Kind und etwas höher als für die Mutter ideal wäre. Beide Organismen setzen dabei Hormone in den Blutkreislauf frei, die ihr Anliegen unterstützen. Ist dieses Gleichgewicht der hormonalen Kräfte gestört, etwa indem das Kind zuwenig mit Nährstoffen versorgt wird, kann es zum Abort kommen, was nicht im Sinne der Vererbung der Gene der Mutter wäre. Gerät dieser ausgehandelte Kompromiss zu sehr zugunsten des Kindes, kann sich bei der Mutter eine Schwangerschaftsdiabetes ausbilden, die sich für den Gewinner - das Kind - genauso schädlich auswirkt, wie für die Mutter. Kooperation von Mensch und Biosphäre Der Mensch ist fähig, seine Umwelt fast beliebig zu manipulieren, eine Fähigkeit, die vor ihm kein anderes Wesen auf diesem Planeten besaß. Der Mensch setzt seine Macht vor allem dazu ein, die Biosphäre zu zwingen, maximal zu seinen Gunsten zu kooperieren. Diejenigen Teile Gaias, die nicht mit dem Menschen kooperieren, stehen unter einem verstärkten Selektionsdruck. Dies sind in der ersten Stufe alle Organismen, die den 131
Menschen direkt bedrohen wie Krankheitserreger und Raubtiere. Während das Pockenvirus gerade noch an zwei Stellen auf der Welt eingefroren überlebt hat, bleiben auch für Raubtiere wie dem Tiger lediglich einige Naturparks und die Arbeit im Zirkus. Auf der anderen Seite verbreiten sich Arten, von denen der Mensch profitiert: Gene, deren Träger dem Menschen direkt von Nutzen sind, können sich ausbreiten: Nutzvieh und Getreide sind Beispiele dafür. Kooperation und Moral Das größte Glück für möglichst viele ist die Grundlage der Moral. (Jeremy Bentham)
Ohne Zweifel betrachten einige Philosophen Moral als ihre Domäne, schreibt der Ethologe Frans de Waal in seinem Buch „Der gute Affe“. Und meistens waren sie der Meinung, Moral sei das vom Homo sapiens geschmiedete Schwert, um den Drachen seiner tierischen Herkunft zu töten,51 wie es Thomas Henry Huxley in einem Vortrag in Oxford über „Evolution und Ethik“ formulierte. Damit lagen und liegen sie in einer Linie mit den christlichen Theologen, die die angeborene Schlechtigkeit des Menschen in der Erbsünde thematisieren. Und selbst der Urvater der Psychoanalyse und Begründer der modernen Psychologie, Sigmund Freuda, forderte 1929 in seinem Buch „Das Unbehagen in der Kultur“, wir müssten unsere niederen Instinkte überwinden, ehe wir eine moderne Gesellschaft errichten könnten. Nach all diesen Meinungen ist Moral, wenn sie nicht lediglich ein blödsinniger Fehler der Evolution war, gerade nicht biologischen Ursprungs, nicht naturgegeben: Sie ist kulturelle Gegenkraft zur eigentlichen menschlichen Natur. Dies löst die Kontinuität zwischen dem Verhalten von uns Menschen und unseren affenartigen Vorfahren und erhebt uns über sie, aber um welchen Preis! Es ist ein überaus anstrengender Standpunkt, müssen wir Menschen doch, um „gut“ zu sein, lernen, heldenhaft gegen unsere eigene natürliche Veranlagung zu bestehen. Diese arrogante und anstrengende Sicht auf die Natur des Menschen wird mehr und mehr von den Biologen widerlegt. Sie verstehen allmählich die paradoxe, scheinbare Widersprüchlichkeit, in der die egoistische Ausrichtung des Einzelnen auf seinen Fortpflanzungserfolg die Haupttriebkraft dafür war, dass sich Fürsorge und Mitfühlen als menschliche Fähigkeiten entwickeln konnten. Die Regeln der Evolution haben für unser Verhalten dieselbe Bedeutung, die die Physik für jedes komplexe System hat: Genauso wenig, wie wir irgendwo etwas finden werden, was gegen die Gesetze der Physik verstößt, werden wir in den Anlagen unseres Verhaltens kaum etwas finden, das sich unsinnig in bezug auf die Fitness unserer Art auswirken würde. Wir a
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, wurde 1856 in Freiberg im heutigen Tschechien geboren. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in Wien, ehe er 1938 vor den Nazis nach London floh, wo er 1939 starb. Sigmund Freuds Methodik beruhte auf der Untersuchung des spontanen Gedankenflusses der Patienten, um die unbewussten psychischen Vorgänge aufzuklären, die den neurotischen Störungen zugrunde lagen. In späteren Jahren versuchte Freud, mit der von ihm entwickelten Theorie des Unbewussten Fragen der Religion, der Mythologie, der Künste, der Literatur und der menschlichen Kultur insgesamt zu analysieren.
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können die Evolution als das Ringen um immer neue, komplexere Formen auffassen. Mit der Komplexität steigen die Anforderungen an die Kooperationsfähigkeit einzelner Teile. Auf diese Weise entstehen in einer komplexen Gesellschaft die Tugend und die Moral. Kooperation in der menschlichen Gesellschaft ist nicht in erster Linie tugendhaft, sondern eine kluge Entscheidung eines egoistischen Individuums. Aber etwas existiert nicht dadurch, dass es gewollt wird, sondern dass es sich manifestiert! Dies habe ich schon am Beispiel der Zielgerichtetheit begründet und dasselbe gilt auch für Tugend und Moral. Die Evolution bringt Tugend und Moral hervor, auch wenn die Beweggründe von egoistischen Genen vorgegeben sind. Das Miteinander ist einfach besser als ein Gegeneinander, weil Konstruktion besser ist als Destruktion. Kooperation, Tugend und Moral sind Begriffe, die erst auf der Stufe hoher Intelligenz ihre gebräuchlichen Bedeutungen erfahren. Dass sich eine Mutter so selbstlos um ihren Nachwuchs kümmert, gilt als hoch tugendhaftes Verhalten und ist doch genauso entwickelt vielfach im Tierreich anzutreffen. Die mutige Verteidigung des Staates selbst unter Aufopferung des eigenen Lebens findet sich schon bei Ameisen und Bienen. Das Verhalten, seinen unterlegenen Rivalen zu schonen und am Leben zu lassen treffen wir bereits bei Wölfen und vielen anderen sozialen Tiergesellschaften an. Allerdings haben Menschen das „tugendhafte Verhalten“, wie viele andere Verhaltensweisen, weit raffinierter entwickelt, als es Tiere je könnten. Wenn man menschliches Verhalten auf „das egoistische Gen“ zurückführt, um die Metapher von Richard Dawkins zu gebrauchen, so unterstellen wir einerseits den Genen die Fähigkeit, gefühlsmäßig, nämlich egoistisch zu agieren. Andererseits setzen wir das Verhalten von uns Menschen mit dem unserer Gene gleich. Beides ist nicht plausibel. Die Metapher „egoistisches Gen“, so stellt Frans de Waal fest, sagt nichts, weder direkt noch indirekt, über Motivation, Emotion oder Intention aus.52 Gene haben nichts, was sie befähigen könnte, sich egoistisch zu verhalten, genauso wenig, wie sie sich raffgierig, mordlüstern oder hinterhältig gebärden könnten. Dies können nur die Organismen, deren Baupläne sie sind. Ein Mensch, der aus Mitleid einem Bettler gibt, handelt tatsächlich und wirklich altruistisch, auch wenn seine Motive vom Standpunkt seiner Gene aus betrachtet rein egoistisch sind. Die Wurzeln des altruistischen Verhaltens reichen so tief in unsere Vergangenheit, dass wir Menschen dafür sogar ein inneres Belohnungssystem entwickelt haben: Anderen zu helfen gibt uns ein befriedigendes Gefühl. Glücksgefühle sind Belohnungssysteme der Natur für ein Verhalten, was sich als günstig herausgestellt hat in bezug auf die Verbreitung der eigenen Gene. Aber unsere Realität ist, dass wir tatsächlich glücklich sind, wenn wir einen Lebenspartner finden, dass wir tatsächlich strahlen, wenn wir Nachwuchs bekommen. Das, was die Evolution im wesentlichen hervorbringt, sind immer komplexere Formen der Kooperation einiger relativ einfacher Teile. Der „gute“ Mensch wurde, ohne dass die Regeln der Evolution außer Kraft gesetzt wurden.
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3.16 Genesis, fünfter Tag: Die Geschichte der Menschwerdung Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt in seinen Fähigkeiten! (Shakespeare)
Gott machte das Wild des Feldes nach seinen Arten, das Vieh nach seinen Arten und alles Gewürm auf dem Erdboden nach seinen Arten. Und Gott sah, dass es gut war. Nun sprach Gott: „Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich [...]“53 Tiere waren tatsächlich vor dem Menschen auf der Erde aufgetaucht. Sie gehören zur Ahnenreihe der Menschheit, wie wir seit Charles Darwin wissen. Die Naturwissenschaften legen nahe, dass die Ahnenreihe der Menschheit sogar bis zu den Anfängen des Universums zurückreicht (Abbildung 24). Die Trennlinie zwischen der sogenannten unbelebten Materie und den Organismen lässt sich jedenfalls nicht eindeutig bestimmen. Abbildung 24: Die Ahnenreihe der Menschheit.
Und auch die Abgrenzung, wann Hominiden sich zu Menschen entwickelt haben und damit den Status des Affen hinter sich ließen, ist rein willkürlich: Wir wissen sozusagen nicht, ab wann wir unsere Vorfahren zum Essen eingeladen und bis wann wir sie lieber im Zoo abgegeben hätten. Die Paläontologen schätzen, dass sich dieser Übergang vom Australopithecus zum Homo vor 2,8 bis 2,5 Millionen Jahren in Afrika vollzogen hat. „Alles Tier steckt im Menschen, aber nicht aller Mensch steckt im Tier“, wie der Chinese sagt. Der Informatiker nennt dies aufwärtskompatibel.a Die Unschärfe bei der Trennung zwischen den Menschen und seinen affenähnlichen Vorfahren ist eine natürliche Folge der a
„Aufwärtskompatibel“ nennt man Software, wenn ältere Programme auf neuen Computern laufen, während neuere Programme nicht mehr auf den alten Computern laufen, weil diese noch nicht die Möglichkeiten bieten, die die neuen Programme fordern.
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Kontinuität in der Evolution. Helena Cronin behauptet, dass eine biologische Apartheid zwischen Mensch und Tier einzuführen hieße, uns von einer potentiell nützlichen Quelle aufschlussreicher Prinzipien abzuschneiden.54 Wahrscheinlich ist das der Grund, warum viele Wissenschaftler und praktisch alle Philosophen so große Schwierigkeiten damit haben, einen plausiblen Grund für das moralische Verhalten der Menschen zu finden: Sie negieren diese Konstanz und geben sich der Eitelkeit der menschlichen Überlegenheit hin. Es gibt eine Konstanz vom Verhalten der Primaten hin zu unserem eigenen Verhalten. Biologen neigen dazu, bei Tieren von aggressivem, gewalttätigem, verschlagenem oder grausamem Verhalten zu reden, von Freundschaft, Mitleid oder gar Liebe mögen sie aber nie reden. Da reden sie lieber von Interaktion mit Mund-zu-Mund-Kontakt bei Affen, Menschen dagegen küssen sich. Oder sie schreiben von „Mutter-Kind-Bindung“, wenn eine Mutter ihre Kinder zärtlich ableckt. Aber wir befinden uns nicht nur in einer Tradition allgemeiner Rauferei und Gladiatorenschau mit Tieren, wie Pjotr Kropotkina in seinem 1902 erschienen Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ formulierte. Die negative Sicht auf die Natur leitet sich vom Übergewicht ab, das man dem Konkurrenzgedanken in der Evolution gab und gibt. Dabei ist mütterliche Fürsorge im Tierreich allgegenwärtig und gegenseitige Hilfe finden wir bei Bibern, wenn sie Dämme bauen oder bei Gnus, wenn sie sich gemeinschaftlich gegen Löwen wenden, die ein Jungtier schlagen wollen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist, dass aus einem quantitativen Unterschied allmählich eine neue Qualität erwuchs. Und diese Quantität ist die Raffinesse der Informationsverarbeitung. Eine der wichtigsten Innovationen in der Biologie war die Kodierung von Bauplänen durch die DNS. Ausgerüstet mit diesen Blaupausen ihrer Selbst wuchsen die Möglichkeiten der Lebewesen, sich auszubreiten und sich in die unterschiedlichsten Erdräume einzunischen, enorm an. Die DNS blieb für mehr als zwei Milliarden Jahre, bis zur bahnbrechenden Erfindung der Neuronen, der wichtigste Informationsträger in der Biologie. Neuronen können, dank ihrer einzigartigen Kombinationsfähigkeit, Steuerungsnetzwerke von fast beliebiger Kapazität aufbauen. Fortschritt hing von der verbesserten Kommunikation, von der Aufnahme von Informationen, von ihrer Verarbeitung und Umsetzung und von der Menge der Informationen ab. Und so trieb ein unbarmherziger Selektionsdruck das Nervensystem in Richtung einer immer größeren Komplexität. Neuronen wurden zu dem bestimmenden Faktor bei der Evolution der Tiereb. Aus vielen Beobachtungen aus der Tierwelt wissen wir heute, dass das Gehirn der Tiere ebenso spezialisiert und gut konstruiert ist, wie der Tierkörper selbst. Ab einer Stufe genügender Komplexität entwickelte sich auf der Basis der Neuronen eine neue Qualität an Reiz-Reaktions-Schemata: Verhalten konnte durch Erfahrungen verändert werden. Das Sammeln von Erfahrungen erweiterte die Anpassungsfähigkeiten des Individuums an seine Umwelt enorm. Damit diese Erfahrungen nicht ständig wieder a
Fürst Pjotr Aleksejewitsch Kropotkin (*1842; †1921) war russischer Revolutionär und einer der führenden Vertreter des Anarchismus. b Außer den Schwämmen haben alle Tiere diese Gehirnzellen.
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verloren gingen, und vor allem, um sie auch der nächsten Generation zugänglich zu machen, mussten höhere Formen der Kommunikation etabliert werden. Es entstanden Formen der Verständigung zwischen Individuen auf der Basis von chemischen Stoffen, Gesten und Lauten. Das Leben hatte gelernt, dass es andere Formen des Informationsaustausches gibt als Sex: 20 Uhr Nachrichten zum Beispiel. Der Vorteil der Kommunikation beruht auf dem Gesetz der zunehmenden Erträge. Falls Sie nicht chinesisch sprechen, können Sie es einmal in China ausprobieren. Es ist überaus frustrierend und hinderlich, etwas einzukaufen, wenn Sie niemand versteht. Die Fähigkeiten des Sprechens und Verstehens werden um so wertvoller, je mehr Menschen wir damit erreichen. Erfahrungsaustausch wird um so wertvoller, je mehr Individuen sich mit ihren individuellen Kenntnissen daran beteiligen. Die Faszination des Internets beruht zu einem Großteil auf seiner elektronischen Brief-Funktion: „E-Mail“. Damit können wir schnell und billig Menschen und Institutionen in der ganzen Welt erreichen. Kommunikation ist der Austausch von Signalen, zunächst einmal also ein rein physikalischer Prozess. Ich erzeuge in meinem Sprachorgan Schallwellen, die vom Ohr meines Gesprächspartners über Härchen im Innenohr aufgenommen und in elektrische Impulse umgewandelt werden. Die Bedeutungen dieser elektrischen Impulse, die im Gehirn meines Gegenübers ankommen, werden ausschließlich in seinem Gehirn erzeugt. Bedeutung kann grundsätzlich nicht mit übertragen werden: Kommunikation ist daher zu verstehen als wechselseitige Konstruktion von Bedeutung zwischen zwei oder mehr Partnern. Sie funktioniert in dem Maße, in dem in den Gehirnen der Partner dieselben oder ähnliche Erfahrungskontexte, konsensuelle Bereiche - wie sie genannt werden vorherrschen.55 Informationen existieren, wie ich schon dargelegt habe, erst durch Informationsverarbeitung. Aber auch alle anderen Formen von Lebewesen kommunizieren, selbst die ohne Gehirn. Kommunikation funktioniert, weil jedes Lebewesen Teil eines Ökosystems mit denselben physikalischen Grundlagen ist und dieselben Erfahrungen auf der Grundlage dieser physischen Umwelt sammelt und teilt. Kommunikation funktioniert, weil alles Leben den Begebenheiten seiner Umwelt mehr oder weniger dieselben Bedeutungen verleiht: Regen auf der Haut ist für die meisten Wirbeltiere eher unangenehm. Wärmende Sonnenstrahlen genießen dagegen nicht nur Eidechsen, Koalabären und Pinguine sondern auch wir Menschen. Und daher können wir uns so trefflich über das Wetter unterhalten. Das Tier, das die Kommunikation schließlich zu seiner höchsten Form entwickelte, der Sprache, wurde fast zwangsläufig zum erfolgreichsten Lebewesen, das die Erde bisher gekannt hatte. Der Mensch schwang sich mit Hilfe seines kollektiven Erfahrungsschatzes zum Herrscher über das Erdenrund auf, wobei er die Speicherung der Erfahrungen und seine Kommunikationsmethodik ständig erweiterte: Die Erfindung der Schrift ermöglichte eine größere Reichweite der Informationsübertragung und in Büchern konnte über lange Zeit zuverlässig Wissen gespeichert werden. Aus der Perspektive der Evolution gesehen, führten die Entwicklung von Sprache und Schrift - und heute die neuen Computermedien zu zunehmender Unabhängigkeit von Umweltbedingungen und damit zur besseren Anpassung auch an ungünstige Lebensbedingungen.56 136
3.17 Bewusstsein Wie könne man gleichzeitig als wahr empfinden, dass der Körper als reiner Mechanismus in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen funktioniert, aber zugleich auf Grund von unbestreitbarer unmittelbarer Erfahrung eindeutig sei, dass ich seine Bewegungen leite und deren Folgen voraussehe, die entscheidend und höchst bedeutsam sein können; in diesem Falle empfinde und übernehme ich die volle Verantwortung für sie. (Erwin Schrödinger 1945)
Bisher weiß niemand genau, was Geist oder Bewusstsein ist. Bewusstsein beruht gleichwohl kaum auf einem durch die Nase eingeblasenen Lebenshauch eines Gottes. Allerdings möchte ich dies am Ende des Buches relativieren. Vielleicht ist unser Bewusstsein ein Art Resonanz eines umfassenden universalen Bewusstseins, dessen Teil wir sind oder sein werden. Aber dies ist nur eine Spekulation. Was wir sicher wissen ist, dass Bewusstsein eine Eigenschaft des Gehirns ist. Unser Gehirn hat es im wahrsten Sinne des Wortes in sich. Um nur einiges zu nennen: Optische Sensoren und Programme zur Mustererkennung, Bewegungssteuerung mit hochsensiblen Rückkopplungssystemen für die Lagebestimmung, Taktgeber und Zeitplaner, Simulationsprogramme für Lösungsstrategien und Datenbanken für jede Art von Wissen in verschiedenen Formaten wie Bilddateien oder Hierarchiebäumen. Beeinträchtigungen des Gehirns betreffen den Geist in spezifischer Art. Mittlerweile haben die Neurophysiologen vielfältige Nachweise geführt, dass mentale Prozesse mit bestimmten Hirnprozessen umkehrbar eindeutig zusammenhängen: Es gibt keinen Geist ohne Gehirn. Der menschliche Geist setzt sich aus vielen kleinen, für sich geistlosen Einzelteilen zusammen, er ist modular aufgebaut. Nach dem Linguisten Ray Jackendorf und dem Philosophen Ned Block kann man drei Bedeutungen von Bewusstsein auseinanderhalten: 1. Das Wissen von sich selbst; 2. Zugang zu Informationen des eigenen Gehirns; 3. Empfindungsfähigkeit; Wir können uns fragen, ob die Australopithecine, die südlichen Frühmenschen, schon über ein Bewusstsein verfügten, oder besser, wann und wodurch die Menschwerdung gelang. Wahrscheinlich müssen wir aber weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Malt man Schimpansen unter Narkose einen Fleck auf die Stirn und lässt sie nach dem Aufwachen in einen Spiegel schauen, so versuchen sie, den Fleck wegzuwischen. Sie erkennen offensichtlich sich selbst, sie verfügen damit über mindestens die erste der drei Bedeutungen des Bewusstseins. Diesen Test bestehen außer den Schimpansen nur noch die Menschen und die Orang-Utan - und gut dressierte Tauben! Helmut Prior und seine Kollegen von der Ruhruniversität Bochum fanden auch bei Versuchen mit Elstern, dass diese sich offensichtlich im Spiegel selbst identifizieren. Die rot markierten Elstern putzen sich nach einem Blick in den Spiegel häufiger, setzte man ihnen dagegen ausgestopfte, 137
nicht markierte Elstern hinter einer Glasscheibe vor, so ignorierten sie diese Pseudospiegelbilder.57 Dagegen haben nach diesem Test weder sämtliche anderen Affen, noch Ihr Hund oder Ihre Katze, oder auch nur Kleinkinder unter zwei Jahren ein Bewusstsein, denn sie versagen bei diesem Experiment in aller Regel. Es ist nicht viel schwieriger, einen Roboter zu konstruieren, der sich selbst im Spiegel identifiziert, als einen Roboter zu programmieren, der überhaupt irgend etwas erkennt. Hunde und Katzen scheinen träumen zu können, alle Tiere scheinen Todesangst zu kennen. Vor allem die Reaktion auf die Bedrohung der eigenen Existenz setzt jedoch eine gewisse Art der Selbstbewusstheit, also Bewusstsein voraus. Einige Pflanzen haben bewusstseinserweiternde Substanzen entwickelt, um ihre Samen und Sporen zu verbreiten. Diese Pflanzen und Pilze haben ihre halluzinogenen Fruchtkörper sicher nicht nur wegen der Menschen entwickelt. Offenbar sprechen auch Tiere auf diese Substanzen an. Denn wessen Bewusstsein verändert werden kann, dessen Bewusstsein muss überhaupt erst einmal vorhanden sein! René Descartes betrachtet den menschlichen Körper als Ensemble mikroskopischer Geräte. Der Mensch bestehe aus einem Kollektiv von zusammengeschalteten Apparaten. Genaugenommen steht die gesamte Naturwissenschaft mit ihrem reduktionistischen Forschungsansatz in dieser Tradition. Das Herz ist eine genial konstruierte Pumpe. Muskeln sind Motoren, Knochen sind Stützkonstruktionen und der Magen ist ein chemischer Reaktor. Gefühle werden in chemische Reaktionen zerlegt, Wahrnehmung auf elektrische Stimuli von Rezeptoren zurückgeführt und letztlich Bewusstsein auf Komplexität neuronaler Vernetzung. Verhaltensforscher wie David McFarland vertreten die Ansicht, dass die menschliche Intelligenz lediglich auf Reiz-Reaktions-Mechanismen aufgebaut ist, Schicht über Schicht. Lebewesen wägen unablässig Zustandsalternativen ab, denn Zustände haben immer ihre Vor- und Nachteile: Passt eine Löwin ständig auf ihre Jungen auf, verhungert sie. Geht sie Jagen, kann ihrem Nachwuchs etwas zustoßen. Intelligentes Verhalten strebt danach, die Vor- und Nachteile so abzuwägen, dass ein optimal an die Umweltbedingungen angepasstes Verhalten dabei herauskommt. Bewusstsein besteht demnach aus dem gegenseitigen Vergleich der Auswahl einiger dieser Möglichkeiten und aus der Unterdrückung der meisten anderen. Lynn Margulis und Dorion Sagan definieren Bewusstsein als die Wahrnehmung einer Außenwelt und der Möglichkeit von Reaktionen darauf. Danach hat jede lebende organische Struktur ein Bewusstsein, jede Zelle und jeder höhere Zellverband. Denn um überleben zu können, ist es zwingend erforderlich, seine Umwelt wahrzunehmen und darauf in angemessener Art zu reagieren. Und wie raffiniert bereits die Verhaltenssteuerung auf der Ebene von Bakterien funktioniert, beweist uns jeder Krankheitskeim und die im Blut dagegen eingesetzten Abwehrzellen. Das Bewusstsein von uns Menschen ist dann lediglich ein zu einem mächtigen Instrument herangereiftes Produkt fundamentaler Prozesse der Informationsverarbeitung.
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Unser Gehirn mit seinen charakteristischen Fähigkeiten ist ein Produkt der Evolution. Es setzt sich aus einzelnen Modulen zusammen, die alle für die Lösung eines spezifischen Problems von der Evolution entworfen wurden. In Analogie zu unserem Körper, der sich aus einzelnen Organen zusammensetzt, ist jeder Bereich im Gehirn für eine bestimmte Aufgabe konstruiert und optimiert. Allein das Sehsystem der Primaten setzt sich aus mindestens dreißig verschiedenen Gehirnbereichen zusammen. Daraus erklären sich sowohl die Ähnlichkeiten mit der Tierwelt als auch die Unterschiede. Ein Mustererkennungssystem muss jedes Lebewesen haben, das Augen hat. Aber dieser Neuronenkomplex kann natürlich mächtiger oder simpler angelegt und verschaltet sein. Der Kiefernhäher kann sich bis zu 10 000 Orte merken, an denen er Samen versteckt. Die Nachtigall merkt sich bis zu 200 verschiedene Melodien. Die Vogelhirne dieser beiden Arten unterscheiden sich in diesen Teilbereichen, die als Notwendigkeit auf bestimmte Anforderungen der Natur angelegt wurden. Der Geist des Menschen ist ein System von Rechenorganen, das von der natürlichen Selektion so gestaltet wurde, dass es die Probleme unserer Vorfahren und ihres Jägerund Sammlerlebens lösen kann, insbesondere indem es Gegenstände, Pflanzen, Tiere und andere Menschen versteht und überlistet,58 behauptet Steven Pinker. Und er folgert, dass unsere Sichtweise für unsere Umwelt einschließlich der Wahrnehmung von Raum und Zeit, der Materie und den Kräften ausschließlich von Nützlichkeitsmomenten geprägt wurde, die das Überleben unserer Gene betreffen. Bewusstsein verschafft einen Selektionsvorteil. Zu unserer Fähigkeit des strategischen Denkens gehört nicht nur die Abwägung des Status Quo, sondern auch, verschiedene Szenerien zu entwerfen und gegeneinander abzuwägen. Dazu gehört, sich die Zukunft in verschiedenen Variationen einschließlich der zu erwartenden emotionalen Befindlichkeiten vorstellen zu können. Eine möglichst gute Selbstrepräsentation, die gekennzeichnet ist durch eine möglichst große Robustheit gegenüber inneren und äußeren Widersprüchen verbessert unser strategisches Denken. Eine möglichst genaue Selbstrepräsentation erhöht die „Fitness“. Bewusstsein, also das emotionale und rationale Beschäftigen mit der eigenen Daseinsform auszubilden, liegt in der Tendenz biologischer Evolutionsprozesse. Der Kern heutiger Denkansätze über Bewusstsein ist die Annahme, Bewusstseinszustände seien identisch mit repräsentationalen Zuständen höherer Ordnung bei bestimmten Informationsverarbeitungsprozessen.59 Systeme wie das Gehirn können nicht nur äußere Gegenstände und Ereignisse repräsentieren, also zum Beispiel einen Gegenstand mit einer horizontalen Platte und vier Beinen als Tisch als Erinnerung ablegen, sondern, unter bestimmten Voraussetzungen, ebenso ihre eigenen, inneren Zustände betrachten. Sie können sich Gedanken über sich selbst machen. Immer dann, wenn das Gehirn solche Vorstellungen über seinen eigenen Zustand entwickelt, entsteht ein Bewusstseinszustand.
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Bewusstsein als Computerprogramm Es klingt zunächst absurd, sich das eigene Selbst als nichts anderes als ein Stück Software vorzustellen, aber diese Theorie, die zuerst vom Mathematiker Alan Turing und den Informatikern Alan Newell, Herbert Simon und Mavin Minsky sowie den Philosophen Hilary Putman und Jerry Fodor formuliert wurde, ist eine der bedeutenden Ideen der Geisteswissenschaften. Sie vermag das uralte „Leib-Seele-Problem“ zu lösen. Denn, guckt man ins Gehirn, stellt man fest, dass niemand zu Hause ist. Die Frage, an der sich Philosophen seit Jahrtausenden die Zähne ausgebissen hatten, lautet: Wie verbindet man Träume und Wünsche mit der realen Welt: Ich wünsche mir die neuste CD von Bob Dylan. Dafür setze ich mich in den Bus und fahre in die Stadt. Aber, wie kann eine immaterielle Erscheinung wie das Wünschen Ursache für die Bewegung eines Körpers, also eines greifbaren Vorgangs werden? Sicher kann man das Geräusch des Lachens als die Schwingungen von Stimmbändern bei einem gewissen Muskeltonuns im Kehlkopf, verursacht durch das stoßweise Vorbeiströmen von Luft beschreiben. Aber einen Witz als Ursache für dieses Geräusch physikalisch zu fassen, wird mindestens problematisch. Oder, um es englischer auszudrücken: Wie vermag das Schlossgespenst eine schwere Eichentür so enervierend quietschend zu bewegen? Seit man die erste Maschine gebaut hat, die über einen Computer gesteuert wurde, hatte man endlich den Ansatz einer Lösung für dieses Problem. Die Lösung heißt: „Computertheorie des Geistes“ und besagt, dass Wünsche Informationen sind, die in einer materiellen Basis, dem Gehirn, als Muster kodiert sind und damit physikalische Realität besitzen. Materie kann Muster bilden, die Informationen tragen und gleichzeitig an einer Abfolge von physikalischen Ereignissen beteiligt sein: Der Geist ist die Tätigkeit des Gehirns. Wenn ich in einen Zigarettenautomaten das nötige Geld einwerfe, so verarbeitet der Automat die Information: „Dieser Mensch darf eine der Schächte öffnen und sich eine, und genau nur eine Schachtel Zigaretten aus dem Automaten nehmen.“ Dabei wird mechanisch verglichen, ob die Münze in Gewicht und Form einer gültigen Münze entspricht. Die Münzen werden solange addiert, bis ein Grenzwert, zur Zeit in Deutschland meistens 3 Euro, erreicht ist. Das, was die Münzen mechanisch bewirken, können auch Elektronen leisten, und schon haben wir den Geist in der Maschine. Wir nehmen dafür eine Checkkarte und lassen den Zigarettenautomaten alles auf elektronischem Wege erledigen. Die Zigaretten würden wir dann auch bekommen. Unsere Neuronen addieren verschiedene Größen auf und senden ein Signal, wenn ein Schwellenwert überschritten ist. Denken und Wünschen ist damit kein esoterisches Terrain mehr und auch nicht mehr unbedingt ein geisteswissenschaftliches. Wir können es chemisch und physikalisch untersuchen und beschreiben. Die Computertheorie des Geistes gilt heute als wenig umstritten und als Grundlage mindestens der Neurophysiologie. Bewusstsein ist eine Erscheinung eines Netzwerks aus bewusstlosen Schaltkreisen. Diese Schaltkreise des Gehirns sind, wie wir unter dem Mikroskop erkennen können, von einer solch erstaunlichen filigranen Komplexität, dass sie dem Vergleich mit der Fülle unseres Geistes kaum nachstehen.
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Für jedes spezielle Problem gibt es ein spezielles, von der Evolution hervorgebrachtes Teilsystem, das genau diese Aufgabe löst. Das Hören, das Riechen, das Sehen, das Sprechen, das Vorausplanen und das Beurteilen sind alles Module, die diese Aufgaben separat lösen und die Lösung dann anderen Bereichen des Gehirns zur Verfügung stellen. Bewusstsein ist nichts anderes als ein virtuelles Ökosystem, wo verschiedene Subsysteme um Ressourcen wetteifern. Dumme Subsysteme, in einer wohlformulierten Ordnung vernetzt, bringen das menschliche Denken hervor. Wir Menschen verfügen über Bewusstsein. Bewusstsein macht unsere Person aus. An dieser Stelle tauchen verschiedene Fragen auf: Wenn Bewusstsein auf der rein materiellen Basis eines informationsverarbeitenden „Apparats“ fußt, werden dann auch hinreichend komplexe Computergehirne Bewusstsein entwickeln? Hans Flohr vom Institut für Hirnforschung der Universität Bremen bejaht dies. Für ihn ist es heute nicht mehr undenkbar, dass sich in informationsverarbeitenden Systemen wie Computern Bewusstseinszustände entwickeln können. Das Thema Seelenwanderung hat viele Religionen beschäftigt, nun fangen Computerwissenschaftler an davon zu träumen, das menschliche Bewusstsein aus einem Gehirn in einen Computer zu verpflanzen! Dies würde die Lebensspanne einer Person enorm ausweiten, eine Versuchung, die für einige Menschen jede Anstrengung rechtfertigt. Die Möglichkeit, unser Bewusstsein zu verpflanzen, wird uns noch einmal im Zusammenhang mit der Möglichkeit einer persönlichen Wiederauferstehung beschäftigen. Freier Wille Die Newtonsche Mechanik beschreibt ein vollständig deterministisches Universum und Pierre Simon Laplacea wies mit Recht darauf hin, dass ein Dämon, der in der Lage ist, den Ort und den Impuls jedes einzelnen Moleküls im Universum zu messen, die Zukunft des Universums vollständig vorhersagen könnte. Die Konsequenzen daraus sind nicht trivial: Ein Mensch wäre nach Isaac Newton genauso in seinen Handlungen vorherbestimmt wie eine Billardkugel, die nach dem Gesetz "Einfallswinkel ist gleich Ausfallswinkel" von der Bande des Tisches abprallt. Niemand wäre damit für sein eigenes Tun haftbar zu machen, da jede Handlung durch die physikalischen Gesetze vollständig festgelegt wäre: Wir wären Marionetten des Urknalls. Aber wie Yogi Berra, ehemaliger Fänger der New York Yankees, mal gesagt haben soll: Es lassen sich schwer Vorhersagen machen insbesondere über die Zukunft. Wir erleben den „freien Willen“ als Realität und als solcher ist er Realität. Allerdings hält der Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Wolf Singer, ihn für naturwissenschaftlich nicht begründbar. Er hält ihn lediglich für ein kulturelles Konstrukt, entstanden aus unserer Erziehung.60 Seine Folgerung daraus ist, dass Verbrecher tatsächlich nicht in dem Sinne haftbar gemacht werden können, dass sie verantwortlich für a
Pierre Simon Marquis de Laplace, 1749 dort geboren, wo auch der Calvados herkommt, ist einer der Wegbereiter der modernen Mathematik. Er forschte vor allem auf dem Gebiet der Himmelsmechanik und der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Laplace starb am 5. März 1827 in Paris.
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ihr Tun sind. Gleichwohl muss die Gesellschaft vor Verbrechern geschützt werden. Demzufolge spricht Wolf Singer von Fehlverhalten, statt von Verbrechen und von Schutzmaß für den Schutz der Gesellschaft, je nachdem, wie niedrig die Schwelle zum Fehlverhalten eingeschätzt wird. Der Mensch ist ein „adaptives System“, er ist lernfähig. Daraus leitet sich ein Verwahrungsmaß ab, das sich nach der Schwere der Normverletzung richtet. Wolf Singer nennt dies einen humaneren Umgang mit „Verbrechern“ und wahrscheinlich hat er sogar damit Recht. Aus der Begründung für unser Verhalten lässt sich die Verantwortlichkeit für unser Tun ableiten. Der freie Wille steht auf der einen Seite, auf der anderen Seite finden wir das genetisch fixierte Verhalten und die Abhängigkeit unserer Entscheidungen von unseren Gehirnfunktionen. Im Jahr 1993 hatten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen unkontrollierter Gewalttätigkeit und einem Gen festgestellt und sofort plädierte ein Anwalt eines Mörders auf Freispruch wegen genetischer Indisponenz. Und ein Kolumnist witzelte, nicht auszudenken, irgendwann gibt es vielleicht eine Gentherapie gegen Fußball. Dass für ein höheres Lebewesen eine Entscheidungsfreiheit von großer Bedeutung ist, zeigt das klassische Beispiel vom Buridans Esel, der in genau demselben Abstand zu zwei identisch attraktiven Heuhaufen steht. Da der Esel keine objektiven Gründe finden kann, sich für einen der beiden Futterplätze zu entscheiden, muss er entweder verhungern oder eine willkürliche Entscheidung treffen, er muss gewissermaßen würfeln. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir in unserem Gehirn einen Zufallsgenerator als Entscheidungsinstanz besitzen. Er könnte auf der Zufälligkeit von Quantenzuständen beruhen. Allerdings wäre dies nur ein Hilfsmittel, das eine nichtdeterministische Entscheidung technisch ermöglicht. Nicht nur physikalische Gesetzmäßigkeiten oder genetische Fixierung, jede Art von Ursache für Verhalten wirft die Frage nach dem freien Willen und der Verantwortung auf. Verhalten ist nach heutigem Wissen ein komplizierter Entscheidungsprozess zwischen genetischer Vorprägung, der Anatomie des Gehirns, dem augenblicklichen biochemischen Zustands des Gehirns, der Prägungen und Erfahrungen des Menschen in der Gesellschaft und der momentanen Stimuli, die auf ihn einwirken. Es sind also weder die Sterne noch die genetische Fixierung allein, die uns zu einem Sklaven unseres Schicksals machen. Die Natur schreibt uns jedenfalls nicht simpel vor, was wir hinnehmen müssen und wie wir unser Leben zu führen haben. Wir sind keine biochemischen Automaten, aber auch keine beliebig formbare Masse, wir sind je nachdem Allergiker, Steuerzahler, Revoluzzer, Verbrecher, liebevolle Eltern, Zahnarzt oder Zahnarztpatienten. Möglicherweise ist das Gefühl, frei entscheiden zu können, nur eine nachgeschaltete Instanz des Gehirns und nicht etwa der Regent unserer Handlungen. Unser subjektives Erleben, dass unser „bewusstes Ich“ an den Schalthebeln der Macht sitzt, ist nach den Forschungsergebnissen der Neuropsychologen offenbar eine nachträgliche Zuschreibung. Der Leiter des Zentrums für Kognitionsforschung in Bremen, Gerhard Roth, sieht die Rolle des sprachlich-bewussten Ichs als hochgradig überschätzt an und behauptet, Menschen hätten nur eine geringe Einsicht in die Grundstrukturen und tatsächlichen 142
Antriebe ihres Handelns. Dazu ein berühmtes Beispiel vorweg, das die Psychologen gern erzählen: Es ist Winter, es ist kalt und ich muss früh raus. Der Wecker klingelt, ich schrecke hoch, es ist, wie gesagt noch dunkel, es ist kalt und ich fasse gegen meine inneren Widerstände den heroischen Entschluss, aufzustehen. Leider klappt es dann doch nicht, ich schlummere wieder weg. Plötzlich klingelt der Wecker ein zweites Mal, ich schrecke hoch, ich weiß, ich bin zu spät! Ich springe unwillkürlich aus dem Bett, jawohl unwillkürlich. Kein heroischer, vorweg gefasster Entschluss, sondern nackte Panik treibt mich aus den warmen Kissen. Unser Wille, unsere Fähigkeit, einen Entschluss zu fassen, ist, wie der Mathematiker zu sagen pflegt, „notwendig“, um innere oder äußere Hindernisse zu überwinden, „aber nicht immer hinreichend“ zur Ausführung einer Handlung. Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich bei uns in der Regel mit ungefähr 2,5 Jahren. Die Aneignung von Verhaltensbedeutungen setzt dagegen schon im Mutterleib ein und vollzieht sich nach der Geburt bruchlos weiter. Alles, was das Kind tut, wird in seinem Gehirn bewertet, ob es lustvolle oder eher unangenehme bzw. schmerzhafte Konsequenzen nach sich zieht. Die Bewertung wird dann im Positivgedächtnis oder im Negativgedächtnis abgelegt. Die Folgen des Verhaltens werden also nicht nur aus einem Tatsachengedächtnis heraus, sondern auch aus einem emotionalen Gedächtnis heraus erinnert. Immer wenn wir in eine ähnliche Situation kommen, greifen wir darauf zurück. Dieser Verhaltenskatalog wird unser ganzes Leben lang erweitert, erfährt aber seine grundsätzliche Prägung in unserer ersten Lebensphase. Ob wir jähzornig oder sanftmütig sind, geduldig oder ungeduldig, neugierig oder zurückhaltend, eher selbstbewusst oder schüchtern, ob wir ausdauernd sind oder schnell aufgeben. Die Ausgestaltung des Charakters erfolgt bei uns Menschen noch vor der Entwicklung des Ich-Bewusstseins in den ersten Monaten unseres Lebens. Gerhard Roth meint daher: Der Mensch ist in seiner Persönlichkeitsstruktur weitgehend festgelegt, bevor sein bewusstes Ich sich entwickelt; dieses Ich wird sozusagen in eine Persönlichkeit hineingestellt.61 Unsere Persönlichkeit entwickelt sich selbstverstärkend: Jede neue Sachlage wird auf der Grundlage des schon vorhandenen Wissens beurteilt und so dem Wissenschaftsschatz beigefügt. Das sich entwickelnde Bewertungssystem überprüft ständig unser Verhalten daraufhin, ob es gut/nützlich/erfolgreich oder aber schlecht/nachteilig/erfolglos war. Je mehr uns eine Handlung belohnt hat, desto stärker wollen wir sie wiederholen. Umgekehrt meiden wir Verhaltensweisen, die uns negativ betroffen haben: Einmal auf die heiße Herdplatte zu fassen, reicht meistens schon aus. Wenn wir uns dann noch einmal irgendwo verbrennen, meiden wir zukünftig alles Heiße - nicht nur Herdplatten und Kerzenflammen. Wir eigenen uns bevorzugt das an, was sich gut in unsere Weltsicht einfügt. Wir wollen glauben. Die Psychologen sprechen dann von der „Verringerung der kognitiven Dissonanz“. Wir versuchen, die Widersprüche zwischen der äußeren und inneren Welt zu minimieren. Es ist nicht nur so, wie Sokrates gesagt hat: Denn jeder tut das, was er tut, weil er es für gut hält. Es ist schlimmer! Wir konstruieren uns ein gutes Stück weit unsere 143
eigenen Wahrheiten selbst. Dies ist einer der Gründe, warum Suchtkranke so schwer zu behandeln sind. Suchtkranke sind in aller Regel nicht zu der Einsicht fähig, dass sie suchtkrank sind. Denn sie verringern die kognitive Dissonanz, also ihr eigenes Bild von sich Selbst und ihr tatsächliches Verhalten durch die feste Überzeugung, dass sie jederzeit mit dem Trinken oder Koksen aufhören könnten. Nach Gerhard Roth können wir uns den Zwang zum Passendmachen, zur Selbststabilisierung unseres limbischen Antriebssystems nicht stark genug vorstellen. Unsere Tendenz zum Passendmachen kann in den Augen Anderer den Eindruck krasser Selbsttäuschungen und Realitätsverbiegungen erzeugen: Das Bewertungssystem will Selbstbestätigung, will emotionalen Frieden, und nur bei sehr starker Diskrepanz verändert sich das bestehende Bewertungsschema. Der Grad möglicher Veränderung nimmt mit zunehmendem Alter rapide ab, und es bedarf dann dramatischer Lebenskrisen, wenn es im Erwachsenenalter noch zu größeren Veränderungen kommen soll.62 Wie funktioniert vor diesem Hintergrund nun der freie Wille, so es ihn denn überhaupt gibt? Gerhard Roth nennt die verschiedenen Instanzen, die im Gehirn durchlaufen werden, ehe ein Entschluss in die Tat umgesetzt wird. Es ist gleichzeitig ein gutes Beispiel dafür, wie modular unser Gehirn aufgebaut ist. Der Ort unserer Absichten und Planungen ist der präfrontale Cortex, unser Stirnhirn. Allerdings werden unsere Pläne nicht direkt von dort in das motorische Hirnzentrum geschickt und dort umgesetzt. Sie werden zunächst den Basalganglien vorgelegt, wo unsere unbewussten Entscheidungsinstanzen sitzen. Die verschiedenen Basalganglien sind die Orte unserer unbewussten Entscheidungen. Hier liegen entweder unsere Erfahrungen abgespeichert oder diese Gehirnzentren haben Zugang zu diesen Erinnerungen, insbesondere auch zu unserem emotionalen Gedächtnis. Nachdem ein Plan entworfen ist, wird geprüft, ob als Reaktion auf die geplante Handlung eher ein schmerzhafter oder eher ein erfreulicher Gemütszustand folgen wird. Meldet das emotionale Gedächtnis, das die Handlung wahrscheinlich ein positives Erlebnis wird, findet die Handlung statt, ansonsten wird sie unterdrückt. Diese Abfrage, deren Ergebnis auf unserer gesamten unbewusst vorliegenden Handlungserfahrung beruht, die dem limbischen System zur Verfügung steht, erfolgt ungefähr eine Sekunde bevor wir etwas wollen! Die neuen psychologischen Forschungen haben bestätigt, dass wir unbewusst schon längst entschieden haben, ehe wir das bewusste Gefühl haben, dass wir uns zu etwas entschließen: Der Wille folgt der Entscheidung, nicht umgekehrt. Die Entscheidung beruht dabei auf dem einzigen Kriterium, das wir besitzen, der individuellen Erfahrung. Unser Bewusstsein ist keine hinreichende und wahrscheinlich eher eine hinderliche Instanz für konkrete Entscheidungen, weil der Zweck jeder Handlung durch die Evolution bereits vorbestimmt ist: Am Leben zu bleiben und erfolgreiche Nachkommen zu haben. Das IchBewusstsein wird lediglich zu Rate gezogen, es ist nur ein besonderes Hilfsmittel des Bewertungssystem. Es wird verstärkt einbezogen, wenn wir in einer komplexen neuartigen Situationen Entscheidungen treffen müssen, für die bisher noch keine konkreten Erfahrungen gesammelt worden sind.
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Ich werde an dieser Stelle wieder mit dem Unvollständigkeitssatz von Kurt Gödel argumentieren: Ich behaupte, einfach dadurch, dass das Gehirn ein Modul besitzt, dass für sich in Anspruch nimmt, Sitz des „freien“ Willens zu sein, existiert ein „freier“ Wille tatsächlich. Denn dieses Modul ist tatsächlich in der Lage, unabhängig von allen anderen Gehirnzuständen eine Handlung nach einer beliebigen Definition von Ursache einzuleiten. Wie immer wir eine „freie“ Entscheidung definieren, wir können dieser als „frei“ erachteten Entscheidungen ursächlich eine Handlung zuzuschreiben. Angenommen, ich behaupte, ich besitze einen „freien“ Willen und möchte ihn unter Beweis stellen. Wie immer wir nun „Freiheit“ definieren, ich kann jede Definition als Ausgangspunkt meiner Entscheidungen bewusst wählen. Zum Beispiel könnte ich definieren, dass meine Entscheidung, ob ich heute morgen ein Ei frühstücke oder nicht, nicht von meinem Gehirn gefällt werden soll, um Kausalität auszuschließen. Dann werfe ich einfach eine Münze und richte mich nach dem Ergebnis. Die Kollegen von der Hirnforschung werden eine lückenlose Kausalkette der Entscheidungsfindung im Gehirn aufspüren können, ohne dass die daraus abgeleitete Handlung vom Gehirn abhängt. Ich kann den Satz: „Ich besitze einen freien Willen.“ sowohl denken, wie auch zum Ausgangspunkt einer Handlung machen! Sie erinnern sich vielleicht: Dieselbe Lösung ergabt sich bereits für das „Leib-Seele-Problem“. Ein anderes, aber weitgehend analoges Beispiel für diese Beweisführung ist der folgende Gedanke: Wir müssen eigentlich davon ausgehen, dass unser gesamtes Verhalten genetisch angelegt ist. Denn alles, was wir tun, ist durch unsere körperlichen Anlagen bedingt. Dieser Gedanke klingt fremd für uns. Er ist aber ebenso folgerichtig, oder, wie ich hier zeige, eben nicht folgerichtig, wie wenn wir annehmen, dass wir keinen freien Willen hätten. Den Übergang in der Evolution finden wir da, wo das genetisch festgelegte Verhalten durch neuronal bedingtes Verhalten verändert werden konnte. Fliegen sind bezüglich ihres Paarungstanzes fest verdrahtet, in ihnen läuft ein genetisch fixiertes Programm bei der Partnerwerbung ab. Menschen dagegen müssen, offensichtlich unbelastet von genetisch festgelegten Schrittfolgen, Tango in einer Tanzschule erlernen. Die Entstehung des Gehirns, die ja genetisch festgelegt ist, führte zu Verhaltensweisen, die nun nicht mehr genetisch bedingt sein mussten. Vielmehr konnte nun Verhalten durch Lernen korrigiert werden. Genetisch angelegtes Verhalten, nämlich denken zu können, führte so dazu, dass wir uns nicht mehr nach einem festgelegten genetischen Programm richten müssen. Gefühle Gefühle sind Impulse, die wesentlich unser Verhalten prägen. Ihr Sitz ist der Mandelkern, eine Region im Gehirn, die über beide Schläfenlappen verteilt liegt. Er empfängt abstrakte und komplexe Informationen von den höchsten Hirnzentren und sendet selbst Signale an praktisch alle Hirnareale, insbesondere auch an die Frontallappen, in denen die Entscheidungen für das Handeln getroffen werden. Es gibt keine Trennlinie zwischen Denken und Fühlen. Selbst Forscher, die sich mit der kühl kalkulierenden Logik der Roboter beschäftigen, neigen der Meinung zu, je 145
autonomer Roboter werden, desto zwingender werden sie über ein Äquivalent zu den menschlichen Gefühlen verfügen müssen, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können. Wir halten Gefühle wie die Angst vor Spinnen oft für irrational. Eigentlich sollten wir uns eher vor Gewehren, schnell fahrenden Autos oder zu fettem Essen fürchten, denn diese Dinge sind für uns heute wesentlich gefährlicher, als die meistens recht harmlosen Insekten. Wir sehen zweierlei: Erstens, dass Angst eine Anpassung an die Gefahren der Umwelt ist, die heute so nicht mehr unbedingt relevant erscheint. Zweitens, dass es sehr nützlich wäre, wenn wir uns vor einem Stück Käsekuchen fürchten würden. Es würde uns mache Diät ersparen. Überall auf der Erde besitzen die Menschen dieselben emotionalen Empfindungen: Wut, Hass, Liebe, Eifersucht, Neid, Angst und „schlechtes Gewissen“, um nur einige zu nennen. Gefühle sind so sehr unser aller Erbe, dass Eskimos die Emotionen in den Gesichtern von Wüstenbewohnern deuten können, wenn man ihnen Fotos von Beduinen zeigt. Dies, obwohl die Lebensumstände dieser Bevölkerungsgruppen nicht unterschiedlicher sein könnten. Das ist um so bemerkenswerter, als wir uns Gefühle einander nicht beibringen können. Die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden ist offenbar angeboren. Unsere Gene haben nicht nur unseren Organismus, sondern auch unsere Fähigkeit, einen Orgasmus zu empfinden, hervorgebracht. Auch bei Tieren können wir Gefühle beobachten. Gefühle sind Universalien nicht nur der menschlichen Spezies und offensichtlich stammesgeschichtlich älter als unsere Intelligenz. So sehr uns das Verhalten verliebter Menschen von außen betrachtet amüsiert, diese mondsüchtige Verrücktheit ist kein Systemabsturz, keine Funktionsstörung des Intellekts, sondern ein von der Evolution wohlformuliertes Programm zur Problembewältigung unseres Daseins. Auch hier ist es „not a bug, but a feature“. Die hochkomplexen Normen des Verhaltens wie Verliebtsein, Freundschaft, Rangordnungsstreben, Eifersucht, Gram usw. sind, so Konrad Lorenz, bei Graugänsen und Menschen nicht nur ähnlich, sondern schlicht bis in die lächerlichsten Einzelheiten identisch. So war es in einer homosexuellen Partnerschaft in der Gänsekolonie von Konrad Lorenz zu einem Kampf gekommen. Die beiden Ganter hatten sich ihre hornbewehrten Flügelbuge kräftig um die Ohren gehauen. Anschließend war die vormals stabile Paarbindung zerstört. Die Ganter gingen sich fortan weitestmöglich aus dem Weg. Trafen sie sich doch einmal zufällig, so Konrad Lorenz, zeigten sie so ziemlich das merkwürdigste Verhalten, das ich je an Tieren gesehen habe und das man kaum zu beschreiben wagt, um nicht in den Verdacht maßloser Vermenschlichung zu geraten. Die Ganter sind nämlich verlegen! Sex ist Physik, Liebe ist Chemie. Wir müssen heute davon ausgehen, dass Gefühle durch die Ausschüttung bestimmter chemischer Stoffe im Gehirn verursacht werden, und die auslösenden Reize sehr genau von der Natur programmiert wurden. Zuwiderhandlungen gegen das Interesse unserer Gene, Verbreitung zu finden, lösen mehr oder weniger starke Unlustgefühle aus. Auf der anderen Seite wird selbst bei äußerst unlustigen Gelegenheiten 146
ein Belohnungssystem in Gang gehalten, um den Fortpflanzungserfolg zu garantieren: Jeder Pinguin würde es für eine höchst verwunderliche Vorstellung halten, wenn jemand das Herumstehen im eisigen Wind und wochenlanges Fasten als Zumutung der Natur hielte. Vielmehr gibt es für einen Pinguin kaum etwas Befriedigenderes, als ein Ei in einer Bauchfalte auf den Füßen zu balancieren. Er tut dieses in der freudigen Erwartung auf ein Federbällchen, dass diesem Ei bei richtiger Fürsorge entsteigen wird. Was sind dagegen schon -50°C, 60 Tage fasten und Nachbarn, die einem ständig auf die Nerven gehen, weil sie zu dicht heranrücken? Das Streben nach Glück, so die Unabhängigkeitserklärung der USA, ist ein unveräußerliches Recht jedes Menschen. Unabhängig davon, wie uns das Schicksal mitspielt, uns Menschen verbindet ein annähernd gleiches Lebensgefühl, auf das sich unsere Grundstimmung einpendelt, egal, ob wir Weltmeister im 100 m Lauf sind oder im Rollstuhl sitzen. Dieses ist die Zufriedenheit. Es gibt zwar einen positiven, aber lediglich einen geringen, Zusammenhang zwischen Wohlstand und Zufriedenheit. Geld allein macht nicht glücklich. Nur sei diese Tragödie des Glücks nicht unerwähnt. Es gibt weit mehr negative als positive Gefühle, Verluste werden von uns tiefer empfunden als unsere Glücksmomente. Der Grund für diese Asymmetrie ist, dass der Verlust eines Körperteils oder gar der Tod eines Menschen unwiderruflich ist. Glücksmomente dagegen sind meistens wiederholbar und vorübergehend: Der Sex mit seinen Orgasmen ist ein Beispiel dafür. Glücksgefühle sind Belohnungssysteme der Natur für ein Verhalten, dass der Verbreitung unserer Gene förderlich ist. Die Liebe zu einem Lebenspartner und die Glücksempfindungen der Eltern gegenüber ihren Nachkommen sind die stärksten und beständigsten in unserem Gefühlshaushalt. Die Lust- und Unlustgefühle, die wir bei anderen vermuten, gründen wir auf unseren eigenen Empfindungen. Wenn wir wissen wollen, wie sich jemand fühlt, der sich gerade mit dem Hammer auf den Daumen gehauen hat, rufen wir uns in Erinnerung, wie uns der Schmerz traf, als wir selbst einmal den Nagel verfehlt hatten. Fremdes Leid erzeugt so in uns eigene Unlustgefühle, die wir dadurch mindern, dass wir das Leid des anderen zu lindern versuchen. Diese Erkenntnis ist alles andere als neu, schon Aristoteles formulierte sie: Überhaupt muss man nämlich hier annehmen, dass das, was man für sich selbst fürchtet, Gegenstand des Mitleids ist, wenn es anderen widerfährt.63 Menschen sind in der Lage, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen und andere glücklich zu machen, ohne dass wir dafür irgend etwas anderes als Belohnung erwarten als gerade dies: Uns am Glück des Anderen zu erfreuen. Wir versuchen, uns vorzustellen, wie ein anderer Mensch fühlt, um seine Absichten voraussagen zu können. Es lag in der Logik der Evolution, uns zu befähigen, uns in andere Menschen hineinzuversetzen. Und das ist der Weg, über den das Samaritertum zu den Menschen kam: Es kam als Kriegshandwerk, als Möglichkeit, den anderen zu überlisten, weil wir seine Absichten durchschauen konnten. Dieses Verhalten dient dem „Egoismus“ der Gene: Zum
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strategischen Denken gehört, sich in die Motive und Gefühle einer anderen Person hineinversetzen zu können. Nebenbei wurden wir so auch fähig, das Mitleid, das wir mit uns selbst haben, auf andere Personen zu übertragen. Reziproker Altruismus Moralisches Verhalten bei Menschen entstand über die elterliche Fürsorge und über den sozialen Kontext, in dem sich der Mensch zeit seines Lebens befindet. Besonders die sozialen Bindungen in einer Gruppe führten zur Entwicklung des von Robert Trivers analysierten reziproken, also wechselseitigen Altruismus. Es ist dies ein Akt des Helfens, der kurzfristig teuer zu stehen kommt, sich aber auf lange Sicht auszahlt. Charakteristisch ist, dass zwischen Geben und Nehmen ein größerer Zeitraum besteht. Zunächst profitiert nur der Nehmende. Gleichwohl wird eine Einlösung der daraus entstandenen Verpflichtung erwartet.64 In Gruppen, in denen Individuen selten zusammentreffen oder sich nicht merken können, wer was für wen getan hat, funktioniert diese Form des gegenseitigen Helfens deshalb nicht. Beispiele dafür sind Fischschwärme. Der reziproke Altruismus ist eine Art Tauschhandel und daher auch für einen Egoisten akzeptabel. Ein einfaches, einleuchtendes Beispiel für diese Form des Altruismus ist das Geld. Wir arbeiten für unser Geld, zumindest die meisten von uns müssen das. Aber Geld ist für sich betrachtet wertloses Metall, Papier oder eine wertlose Ziffernfolge in einem Bankcomputer. Erst die daraus abgeleitete gesellschaftliche Gewährleitung eines Gegenwertes zum Beispiel in Form einer Waschmaschinenreparatur verleiht dem Geld „Wert“. Da die Rechnung für eine Gefälligkeit, oder im Falle des Geldes, für eine Arbeit erst später beglichen wird, setzt der reziproke Altruismus als Minimalausrüstung einen Betrüger-Detektor und die Beherrschung eine „Wie-Du-mir-so-ich-Dir“-Strategie voraus. Auf diese wichtige Strategie innerhalb sozialer Beziehungen werde ich später noch ausführlich eingehen. Der Kreditrahmen bei altruistischem Verhalten ist normaler Weise unter uns Menschen weiter als bei den Sparkassen, die Bedingungen für die Rückzahlung großzügiger. Menschen wie Mutter Theresa laufen Gefahr, nicht alles, was sie an „Gutem“ tun, wiederzubekommen. Betrüger sehen sich dagegen der Gefahr ausgesetzt, entlarvt zu werden mit den Folgen der Bestrafung oder des Ausschlusses aus dem Netzwerk gegenseitiger Hilfeleistungen. Weil reziproker Altruismus darauf angewiesen ist, Betrüger aus dem System fernzuhalten, hat er einen hässlichen Bruder: Rache! Rache ist süß, weil ohne sie jeder, der zum Altruismus neigt, ausgenutzt würde. Blutrache ist ein Beispiel dafür, dass es sich bei Rache um eine evolutionäre „Tradition“ handelt: Denn warum sonst sollten offensichtlich unschuldige Verwandte für die Verbrechen eines anderen büßen, wenn nicht dadurch die Gene des Übeltäters getroffen werden könnten? Reziproker Altruismus ist nur denkbar in einer Gesellschaft, in der Betrüger bestraft werden können, und damit ist er die Keimzelle der menschlichen Gesetzgebung. Zügellose Rache muss in einer Gesellschaft bezähmt werden, weil Rache keine wirklich gute Strategie ist, um ein Miteinander in einer Gesellschaft zu etablieren. Unser modernes Rechtssystem nimmt der Rache und speziell der Blutrache ihren hässlichen Stachel. 148
Die Wissenschaftler neigen der Ansicht zu, dass die Anforderungen des wechselseitigen Altruismus vermutlich die Urheber zahlreicher menschlichen Gefühle sind. Insgesamt machen sie einen großen Teil des moralischen Empfindens aus.65 Zuneigung ist nach dieser Hypothese die Bereitschaft, etwas für einen anderen zu tun, ohne unmittelbar eine Gegenleistung zu erhalten. Wut ist unsere Enttäuschung darüber, dass wir das Vertrauen darüber, etwas zurückzubekommen enttäuscht sehen. Dankbarkeit hilft uns, die Schulden einzulösen, die uns durch Gefälligkeiten entstanden sind. Schuldgefühle entwickeln wir, wenn wir nicht daran denken, den Gefallen zurückzuzahlen, aber Angst vor Entdeckung unserer unlauteren Absicht haben. Frans de Waal behauptet, dass der wechselseitige Altruismus das Kernstück jeder tragfähigen Theorie der „Evolution der Moral“ sei.66 Die Idee des reziproken Altruismus reicht weit: Obdachlosen Menschen helfen wir nicht, weil wir annehmen, dass uns diese Menschen irgendwann unsere Gefälligkeit erstatten würden, sondern weil wir annehmen, dass so ein Schicksal auch uns beuteln könnte. Weil wir uns in einen Bettler hinein versetzen können, fürchten wir, dass wir den umgekehrten Weg nehmen könnten, den jeder Amerikaner im Traum verfolgt: Wir könnten es nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, sondern vom Mittelklassewagenfahrer zum Bettler schaffen. In dem Falle wären wir sehr froh, wenn jemand unter der Brücke vorbeikäme und uns helfen würde. Auf diesem Prinzip des reziproken Altruismus beruht der gesamte florierende Wirtschaftszweig der Versicherungen.
3.18 Die Macht der Kultur Die Bemühungen, den Menschen vom Tier zu unterscheiden, sind zahllos und meist wenig erfolgreich. Platona, gewiss einer der größten Denker der Antike, schlug die folgende Definition vor: Der Mensch sei das einzige Lebewesen, das sowohl nackt sei als auch auf zwei Beinen laufe. Diogenes von Sinopeb outete sich darauf als Schelm und Tierquäler, indem er ein Huhn rupfte und es laufen ließ mit den Worten: Seht, hier läuft Platons Mensch! Wie schwer die Eingrenzung des "Menschlichen" auch der modernen Wissenschaft fällt, zeigt dieses Beispiel: Nach Andrew Goudie ist es die systematische Herstellung von Geräten als Hilfe zur Bearbeitung der Umwelt, die den Übergang vom Hominiden zum Menschen kennzeichnet.67 Der Übersetzer der deutschen Ausgabe dieses Buches merkt dazu lapidar in einer Fußnote an: Die Arbeitsgruppe Günther und Boesch habe a
Platon um 428 v. Chr. in Athen geboren und ca. 347 v. Chr. gestorben, war ein Schüler des Sokrates und gilt als einflussreichster Denker der abendländischen Philosophie. Platon war von der Möglichkeit der Erkenntnis des wahren Seins überzeugt. Allerdings erschließt nicht die Sinneserfahrung der physischen Welt die Wahrheit, sondern nur die Vernunft gewährt intellektuelle Einblicke. Die heutigen Naturwissenschaftler gehen genau anders herum vor, sie vertrauen bezüglich der Erkenntnis ausschließlich auf die physische Welt. b Diogenes von Sinope ebenfalls ein Sokrates-Schüler lebte um 400 v. Chr. bis ca. 325 v. Chr. Seine Philosophie war auf eine praktische Anwendung ausgerichtet, und so machte er sich über die Gebildeten lustig, die ihre Theorien nicht auch lebten.
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mittlerweile die gewohnheitsmäßige und systematische Herstellung von Werkzeugen zum Öffnen von Nüssen bei freilebenden Schimpansen detailliert beschrieben. Mittlerweile ist bekannt, dass Schimpansen Grabstöcke verwenden, um Wurzeln auszugraben, deren Enden sie vorher mit den Zähnen fachgerecht bearbeitet haben. Sie verwenden die Dornen der Akazien als Zahnstocher und reinigen sich mit dem Federkiel eines Vogels die Ohren. Heute kennen die Forscher eine erstaunliche Vielfalt kultureller Muster. Sie reichen vom Werkzeuggebrauch über Formen von Kommunikation bis zu kulturell erworbenen und tradierten sozialen Gepflogenheiten. Zu diesen Gepflogenheiten gehören sogar tödlich ausgehende Fehden zwischen benachbarten Schimpansengemeinschaften.68 Es ist unser Erfindungsgeist, der uns über unsere nächsten Verwandten und die Australopithecinen heraushebt. Die ältesten Werkzeuge, die man bisher entdeckte, waren Geröllwerkzeugea, rohe Steinwerkzeuge mit einer Schneidkante, die zusammen mit Überresten von Hominidenknochen über verschiedenen Teile Afrikas verteilt gefunden und auf ein Alter von 2,6 Millionen Jahren datiert wurden. Im Paläolithikumb wurden der Bau von Schutzdächern und das Tragen von Kleidung zu einem kulturellen Merkmal der menschlichen Spezies und erlaubte die Ausbreitung unserer Altvordern auf Gebiete, in denen das Klima bisher zu ungünstig gewesen war. Mit dem Auftauchen des Homo erectus vor 1,5 Millionen Jahren kam das Feuer in Gebrauch und ermöglichte die Besiedelung noch kühlerer Regionen. Die Ernährung wurde durch das Sammeln von Früchten und durch die Großwildjagd gesichert. Es gilt heute als wahrscheinlich, dass sich die Hominiden von Afrika aus über die Erde verbreitet haben. Die erste Auswanderung aus Afrika fand vor mehr als 2 Millionen Jahren statt. Der moderne Mensch stammt genetischen Untersuchungen nach von einer Urmutter ab, deren Horde vor 100 000 bis 200 000 Jahren die Savannen des schwarzen Kontinentes durchstreifte. Deren Nachfahren machten sich von da auf den Weg, die Welt in einem Ausmaß zu besiedeln, wie es kaum einer anderen Art vorher gelungen war: Ein Sieg vor allem der kulturellen Fähigkeiten der Spezies Homo sapiens. Kultur ist keine Erfindung von uns Menschen. Wenn Sie durch den Wald gehen, können sie es deutlich hören: Vögel messen sich im Sangeswettstreit. Manche Gesangsweisen werden erlernt und von Generation zu Generation weitergegeben und nicht etwa genetisch vererbt.69 Die Laubenvögel in Australien und Neuguinea bauen Girlandenbögen und laden die Weibchen dazu ein, darunter hindurch zu gehen. Der Seiden-Laubenvogel bemalt sogar die Wände seiner Laube. Er verwendet einen Zweig als Pinsel und stellt seine Farben aus zermalmten Früchten, Holzkohle und Speichel her. Zusätzlich dekoriert er seine Bruthöhle. Der Ornithologe Frank Gill berichtet über diese Vögel, das sie ihre Laube mit Papageienfedern und Blumen ausschmückten.70
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In der Fachsprache, die heute fast ausschließlich Englisch ist, heißen diese Steinwerkzeuge „pebble-tools“. b Das Paläolithikum umfasst die erdgeschichtliche Periode der Eiszeitalter, des Pleistozäns, das vor 2,5 Millionen Jahren begann und ungefähr 8 000 Jahre vor Christi Geburt endete.
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Als der erste Homo sapiens die Weltbühne betrat, war sein Auftreten durch eine deutliche kulturelle Entwicklung und eine Bevölkerungszunahme gekennzeichnet. Die kulturellen Errungenschaften und die Entwicklung der Gehirnkapazität des Menschen bedingten sich gegenseitig. Erst in der Gemeinschaft konnte der Mensch die Ressourcen so effizient nutzen, dass er sich überhaupt ein so großes Gehirn leisten konnte: Das Gehirn ist unser größter Energiefresser. Es macht nur zwei Prozent des Körpergewichtes aus, verbraucht aber zwanzig Prozent der Energie und Nährstoffe. Doch ohne die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen hätte sich die Gesellschaft nicht so hoch entwickeln können! Auch hier treffen wir wieder auf das „Gesetz der zunehmenden Erträge“: Ein großes Gehirn macht vor allem Sinn in einer Gemeinschaft, die zu ähnlichen Denkleistungen fähig sind. Bei den zwei geschicktesten Familien der Säugetiere, den Fleischfressern und den Primaten kann ein enger Zusammenhang zwischen der Größe der sozialen Gruppe, in der diese Arten leben und ihrer Gehirngröße beobachtet werden. Um sich in einer komplexen Gesellschaft zu behaupten, muss das Individuum nämlich über erhebliche Gehirnkapazitäten verfügen. Es muss andere Individuen erkennen, sich an Interaktionen mit diesen erinnern können, und es muss die gruppeninterne Kommunikation beherrschen. Um in einer komplex strukturierten Gruppe überleben zu können, braucht man also ein großes Gehirn. Aber, um ein großes Gehirn zu unterhalten, braucht man eine starke Gemeinschaft. Denn Gehirne sind wahre Energiefresser und setzen eine hohe Effizienz der Nahrungsgewinnung voraus. Nach dem Abklingen der Eiszeit vor rund 10 000 Jahren begannen verschiedene Kulturen auf der Erde, bestimmte Pflanzen eher anzubauen, als sie mühsam zu suchen und Tiere zu halten, statt sie zu jagen. Die frühsten Spuren dieser ersten Anbauversuche fanden die Archäologen in den bergigen Regionen von Karacadag im Südosten der Türkei. Die Umstellung der Wirtschaftsweise vom Jagen und Sammeln auf Ackerbau und Viehzucht verringerte den Raumbedarf eines Individuums um den Faktor 500 und ermöglichte das erste große Anwachsen der menschlichen Population. Die Grundlage für die aufkommende urbane Kultur war gesetzt. Eine kritische Masse an Individuen war erreicht und es entstanden die ersten größeren Siedlungen. Nun konnte eine rasante kulturelle Entwicklung einsetzen, die sich bis heute stürmisch fortsetzt. Bis Christi Geburt wuchs die Menschheit auf etwa 200 Millionen, bis 1650 auf etwa 500 Millionen Köpfe an. Mit der Perfektionierung der Hochseeschifffahrt im 16. und 17 Jahrhundert verbanden sich die bis dahin in abgeschlossenen Gemeinschaften lebenden Menschen das erste Mal zu einer globalen Gemeinschaft der Völker. Den nächsten Bevölkerungssprung brachte die einsetzende technische und medizinische Revolution sowie die Ausdehnung der Siedlungsflächen. Die Bevölkerung betrug um 1850 eine Milliarde Menschen, bis 1930 zwei Milliarden und verdoppelte sich bis 1970 noch einmal auf vier Milliarden. Für 1995 schätzten die Vereinten Nationen die Zuwachsrate auf jährlich 90 Millionen Menschen.71 Im Oktober 1999 begrüßte der UN-Generalsekretär Kofi Annan in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo symbolisch den sechsmilliardsten Erdenbürger.
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Die großen innovativen Erfindungen seit der Einführung des Ackerbaus wurden von wenig mehr als 1000 Generationen von Menschen hervorgebracht, und es waren alles in allem wohl nicht viel mehr Individuen, als jetzt, im 20 Jahrhundert leben. Das ist eine zu kurze Zeit, als dass sich das genetische Erbe der Jäger und Sammler substanziell umgestaltet haben könnte. Die Weiterentwicklung des Menschen beruhte vor allem auf der Fortentwicklung der Kultur. Zwei hochentwickelte Fähigkeiten erlaubten dem Menschen, Barrieren wie Meere und Gebirge, Temperatur, Trockenheit und Dunkelheit zu durchbrechen und sich buchstäblich über die gesamte Welt auszubreiten: Die eine Fähigkeit ist die fast unbegrenzte Möglichkeit der Manipulation seiner Umwelt durch den Gebrauch von Behausungen und Kleidung, von Energieträgern und Werkzeugen. Die andere Fähigkeit, die die Menschheit wie keine andere Spezies vervollkommnet hat, ist die Speicherung von Erfahrungen und die Weitergabe dieser Erfahrungen über ihre Kommunikationssysteme Gestik, Sprache, Schrift und Bilder. Tabelle 4 Zeit nach Christus 1936 1690 Ab 1500 vor Christus 2000 2800 3500 8 000 1,5 Millionen 2,6 Millionen
Wichtige Entwicklungsschritte auf dem Weg zur heutigen Zivilisation Fortschritt Erste programmgesteuerte Rechenmaschine Z 1; Anfang des Computerzeitalters. Erfindung der Dampfmaschine; Einsetzen der industriellen Revolution. Perfektionierung der Hochseeschifffahrt; Einsetzen des Welthandels. Erstes Metallgeld. Papyrus. Keilschrift, Zahlen wie 10 und 100. Ackerbau und Viehzucht. Verwendung des Feuers. Erste Geröllwerkzeuge; Bau von Schutzdächern; Tragen von Kleidung.
Wie die Bakterien ihre Gene untereinander tauschen können und so einen kollektiven Pool an Informationen besitzen, besitzt die Menschheit einen kollektiven Pool von Informationen, die sie über ihre Umwelt erworben hat. Wird ein Bakterienstamm von einem Penicillin bedroht, so kann er durch Zufall genau das Gen finden und eintauschen, das ihn immun macht. Wird ein Mensch durch eine Krankheit bedroht, ist er nicht auf den Zufall angewiesen, falls die Erfahrung der Abwehr dieser Krankheit bereits gemacht wurde. Die Abwehr der Krankheit kann mit der Hilfe des in dem Informationspool der medizinischen Wissenschaften gefundenen Weges organisiert werden. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Informationen, die in einem Gen gespeichert sind und 152
den Informationen, die in einem Buch gespeichert sind. Diese beiden Beispiele unterscheiden sich lediglich in ihrer Komplexität. Und sie unterscheiden sich darin, dass der Mensch seine Immunabwehr nicht, wie es sonst in der Natur üblich, per Zufall entwickelt: Der Mensch ist in der Lage, Krankheiten gezielt zu bekämpfen. Die Entwicklung vielschichtiger, kommunikativer Fertigkeiten wie der Sprache oder der Schrift waren Schlüsselfertigkeiten, die der Menschheit gestattete, eine, in der übrigen Biosphäre einmalig komplexe Sozialform zu entwickeln. Auf diese Weise konnte das Menschengeschlecht einen kollektiven Wissenspool entwickeln. Mit diesem Rüstzeug im Gepäck gelang es uns, nach und nach den gesamten Erdkreis zu besiedeln, ohne dass unser Genom sich an die verschiedenen Lebensbereiche anpassen musste. Die Anpassung an die Umwelt hatte auf der Erde eine neue Qualität erreicht: Die Anpassung durch kulturelle Errungenschaften.
3.19 Gesellschaften als übergeordnete Organismen Wir können eine Horde, einen Stamm oder ein Volk als ein Individuum betrachten, das aus unterschiedlich spezialisierten Untereinheiten besteht. Verschiedene Gemeinschaften treten dabei in Konkurrenz zueinander und schon Charles Darwin folgerte: Es lässt sich nicht zweifeln, dass ein Stamm, welcher viele Glieder umfasst, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muts und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, über die meisten anderen Stämme den Sieg davontragen wird: und dies würde natürliche Zuchtwahl sein.72 Die Sieger dieses Konkurrenzkampfes sind diejenigen Kulturen, die am effektivsten die Ressourcen zu nutzen verstehen. Die Jäger- und Sammlerkultur war nicht so effizient wie die Kultur des Ackerbaus, und wurde verdrängt. Die städtische Kultur mit ihrer modernen Technik ist wiederum unschlagbar effizienter als eine bäuerliche Kultur und verdrängt allmählich diese. Im Zeitalter der vernetzten Kommunikation wird sich die Gesellschaft der Menschen immer höher entwickeln und verändern. Die Wirklichkeit im Denken des einzelnen ist nicht die gleiche wie die Wirklichkeit, die sich ergibt, wenn viele Individuen interagieren73, vermutet Frans de Waal. Kevin Kelly geht mit seinen Behauptungen noch weiter: Uns Menschen wird nicht bewusst sein, worüber das globale Denken nachsinnt. [...] Die eigentümlichen Gedanken des globalen Gehirns - uns eine sich daraus ergebenden Handlungen - werden außerhalb unserer Kontrolle und jenseits unserer Verstandeskräfte liegen. Die Netzwerkökonomie wird daher einen neuen Spiritualismus hervorbringen. 74 Damit meine Gesellschaft überlebt, muss ich mich als Individuum kooperativ verhalten. Wenn eine Gruppe sich gegenüber einer anderen Gruppe durchsetzen soll, hängt ihr Erfolg maßgeblich davon ab, wie gut die Individuen der Gruppe zusammenarbeiten. Schlachtenordnungen sind dafür ein gewissermaßen schlagendes Beispiel. Auch an dieser Stelle erweist sich die Idee der ineinander geschachtelten, der fraktalen Ökosysteme als hilfreich. Alles, was ich über Individuen in einer Gesellschaft aussagen 153
kann, kann ich auch über einzelne Gesellschaften in einer Staatengemeinschaft aussagen: Für einen einzelnen Staat zahlt es sich aus, wenn er sich kooperativ gegenüber anderen Staaten verhält. Der Konkurrenzkampf zwischen Kulturen mündet allmählich in Kooperation. Die Triebfeder dabei ist, dass Staaten mehr vom Handel als vom Krieg profitieren. Das Gesetz des „Vorteils durch komparative Kosten“ gilt nicht nur für ein einzelnes handeltreibendes Individuum, sondern auch auf der Ebene kompletter Volkswirtschaften: „Wenn zwei Individuen, Nationen oder Rassen sich hinsichtlich ihrer relativen Effizienz in der Güterproduktion unterscheiden, werden beide vom wechselseitigen Handel profitieren, selbst wenn der eine alles besser kann als der andere.“ Ich werde auf dieses ökonomische Gesetz später noch ausführlich eingehen. Kulturelle Universalien Die Universalität der menschlichen Kultur zeigt sich allein schon darin, dass in der Alten und der Neuen Welt unabhängig voneinander Kulturen entstanden sind, die sich bis in solche Details wie dem Bau von Pyramiden glichen. In seiner klassischen Zusammenfassung der Universalien der menschlichen Kulturen listet der Anthropologe George Murdock 67 verschiedene Merkmale auf, die keinen Bereich unseres Lebens aussparen: Religiöse Rituale, Seelenkonzepte, Eschatologie, Kosmologie, Aberglaube, Traumdeutung, Magie, Wahrsagerei, Wunderheilglaube, Medizin, Chirurgie, Schwangerschaftssitten, Geburtshilfe, Geburtsnachsorge, Beerdigungsrituale, Hygiene, Sauberkeitserziehung, Speisegesetze, Gesetze, Eigentumsrechte, Hausrecht, Regierungsbildung, Standesunterschiede, Bevölkerungspolitik, Besiedlungsprinzipien, Kommunalorganisationen, Strafaktionen, Sühneopfer, Erbschaftsregeln, sexuelle Verbote, InzestTabus, Pubertätsverhalten, Liebeswerben, Eheschließung, Mahlzeitengewohnheiten, Familienfeiern, Erziehung, Verwandtschaftsgruppierungen, Verwandtschafts-Nomenklatura, Altersgruppen-Differenzierung, Arbeitskooperation und Arbeitsteilung, Handel, Gärtnern, Kalender, Wetterbeobachtung, Werkzeugfabriken, Webkunst, Feuergebrauch, Kochen, Sprache, Ethik, Etikette, Folklore, Geschenke, Begrüßungsformen, Gesten, Besuchsbrauchtum, Gastfreundschaft, Spiele, Tanz, Sport, Witze, Haartrachten, Körperschmuck, Ornamentkunst, Personennamen.75 Der Anthropologe Donald Brown kommt zu einer allgemeineren, aber sehr ähnlichen Zusammenstellung. Wir finden überall eine Arbeitsteilung der Geschlechter nach weiblicher Mutterrolle und männlicher Dominanz im politischen Bereich, sowie ein soziales Gefälle an Macht und Reichtum und das Streben nach Prestige und Status. Es gibt Vergeltung von bösen und guten Taten, das Recht auf Eigentum und dieses kann vererbt werden. Sexualität wird reguliert und eingeschränkt. Überall sind die Menschen eifersüchtig und Männer bevorzugen überall junge Frauen als Sexualpartner. Weiter ist die Feindseligkeit gegenüber fremden Gruppen leider typisch, aber auch innerhalb der Gruppen gibt es Gewalt bis hin zu Vergewaltigung, Totschlag und Mord. Aber es gibt nicht nur überall auf der Erde Gewalt, sondern sie wird auch überall auf der Erde beklagt.76 154
3.20 Die Evolution der Moral Ich frage mich, ob das geistige Leben nicht dann am besten und umfassensten abgesichert ist, wenn allen bewusst ist, dass die Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen von Rechtschaffenheit im Wirkungsprozess des Universums inbegriffen sind; wenn allen klar ist, dass der Mensch mit seinen bewussten Bestrebungen, seinen Zweifeln, Versuchen und Niederlagen, mit seinen Sehnsüchten und Erfolgen, von jenen Kräften angetrieben und getragen wird, die die Natur gestalten. (John Deweya 1898)
Der Behaviorist John Watsonb garantierte, so man ihm ein Duzend Säuglinge brächte, dass er jedes davon auf jeden denkbaren Beruf vorbereiten könne, unabhängig von seinen Talenten, Neigungen, Eignungen, Fähigkeiten, seiner Berufung oder der Rasse seiner Vorfahren.77 Das Experiment „Sozialismus“, dass maßgeblich davon ausging, der Mensch sei durch seine Umwelt bestimmt und nur durch diese, zeigte, dass sich John Watson geirrt hatte. Denn zum Glück haben die „Umerziehungen“ der sozialistischen Regime keinen Erfolg gehabt. Aber John Watsons These hatte etwas sehr Beruhigendes nach den furchtbaren Verbrechen der Nazis. Die Nazis waren von der gegenteiligen Annahme ausgegangen, dass der menschliche Charakter durch seine Gene festgelegt sei: So wisse zum Beispiel jedermann, dass Frauen „launische und kokette“ und leichtsinnige Wesen seien, Juden „betrügerische Geizkragen“,78 formulierte schon der Begründer der Eugenik, Francis Galtonc. Das Studium von Genen und Verhalten war mit dem Holocaust ein Kind der Sünde geworden und es bleibt durchaus anfällig für weitere Sündenfälle. Aber ich zitierte noch einmal Helena Cronin: Eine biologische Apartheid zwischen Mensch und Tier einzuführen hieße, uns von einer potentiell nützlichen Quelle aufschlussreicher Prinzipien abzuschneiden. 79 Obwohl Charles Darwin uns in eine Reihe mit den übrigen Organismen gestellt hat und seine Theorien heute allgemein anerkannt sind, fällt es uns doch ausgesprochen schwer, die Konsequenzen anzuerkennen: „Die Natur ist voller Schrecklichkeiten wie Vergewaltigung, Mord, Diebstahl, Hungertod und Krankheit, die der Mensch mit Hilfe der Zivilisation zu vermindern und unter Kontrolle zu bringen sucht. Nichts spricht dafür, dass das, was natürlich ist, auch gut ist“80, schreibt Adrian Forsyth. Dies klingt, als würden Natur und Zivilisation etwas sehr Unterschiedliches sein. Aber diese Unterscheidung hält uns lediglich davon ab, aufschlussreiche Prinzipien zu erkennen und zu verstehen. Sowohl die Zivilisation wie auch die Moral sind natürliche Entwicklungen, die aus der Evolution des Menschen folgen. Zivilisation ist die Beherrschung der Umwelt mit den Mitteln, die uns die Natur zur Verfügung gestellt hat, unserer Intelligenz. Und Natur ist nicht von Hause aus gut, aber sie führt zur Entwicklung von Moral und vermindert damit die Schrecken der Verbrechen. a
Der amerikanische Philosoph, Psychologe und Pädagoge John Dewey (*1859; †1952) war der Meinung, Erziehung sollte nicht nur der Vorbereitung auf das zukünftige Leben dienen, sondern selbst schon Leben sein. b Der amerikanische Psychologe John Broadus Watson (*1878; †1958) gilt als der Begründer und führender Vertreter der psychologischen Schule des Behaviorismus. c Sir Francis Galton (*1822; †1911), ein Vetter Charles Darwins, prägte den Begriff „Eugenik“.
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Sigmund Freud sah die naive Selbstliebe der Menschheit durch die Wissenschaften zweimal zutiefst gekränkt: Die erste große Kränkung kam, als man erkannte, dass unsere Erde nicht im Mittelpunkt des Universums lag. Die zweite kam, als die biologische Forschung den Menschen zum Nachfahren der Tierwelt degradierte. Aber dies war noch lange nicht das Ende der Kränkungen. Aus den Beobachtungen der Geologen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass wir lediglich die derzeitige Krone der Schöpfung sind. Die tiefste der Kränkungen aber steuern wohl die Soziobiologen bei: Nach ihren Befunden ist das menschliche Verhalten zu bedeutenden Teilen genetisch bedingt. Dies ist durchaus keine Überraschung: Ähnlich wie die Passionsblume, die sich um den Mittag herum öffnet, pflegen wir Menschen gern kurz nach dem Mittag ein Mittagsschläfchen zu halten. Jeff Hall berichtete über sein Versuchstier Drosophila melanogaster: Eine Taufliege schläft während der Nacht, wacht auf, frühstückt und fliegt den ganzen Morgen herum. Dann hält sie über Mittag eine Siesta. Anschließend fliegt sie bis Sonnenuntergang wieder herum und schläft die Nacht durch. Sie würde dies jeden Tag ihres Lebens machen, selbst wenn sie in einem dunklen Teströhrchen zur Welt gekommen sei und nie den Tag gesehen hätte.81 Wir müssen ständig ein- und ausatmen. Wir essen, wenn wir hungrig sind, wir trinken, wenn wir durstig sind und schlafen, wenn wir müde sind. Etwas komplizierter sind unsere Entscheidungen schon strukturiert, aber niemand würde behaupten, dass Hunger- Durstoder Müdigkeitsgefühle erlernt sind und Essen, Trinken oder Schlafen kulturell erworbenes Verhalten sei. Wie das Atmen unser Verhalten bestimmt, wird deutlich, wenn wir unter Wasser sind. Dort ist noch nie jemand geblieben, wenn die Luft knapp wurde: Willentliches Ertrinken gibt es nicht! Die Suche nach dem neuen Kick, das Bedürfnis, Schaden zu vermeiden, unsere Abhängigkeit von Belohnungen und unsere an den Tag gelegte Beharrlichkeit sind Merkmale, von denen eine Reihe von Psychologen meinen, dass sie mindestens teilweise angeboren sind.82 Seymour Benzera glaubt, dass sich die Psychologie unter der Erkenntnis der genetischen Forschung völlig verändern werde: Schrittweise, mit dem Aussterben der alten Garde.83 Alles wäre an sich nicht so schlimm, würde der menschliche Geist über die Niederungen der menschlichen Instinkte triumphieren. Denn es ist die letzte und höchste Bastion der menschlichen Eitelkeit, Erfinder von Ethik und Moral zu sein. Wenn es auch immer schwerer wurde, den Menschen vom Tier zu unterscheiden, wenigstens hofften wir, die moralischen Sieger der Evolution zu sein. Und weil die Würde des Menschen unantastbar sei, so war und ist die Frage der Moral ein Schlachtfeld erbittert geführter Gelehrtenstreiterein vornehmlich der Philosophen. Es geht dabei nicht nur um den sogenannten „naturalistischen Fehlschluss": „Die Welt ist so-und-so beschaffen; also sind wir moralisch verpflichtet, uns so-und-so zu verhalten.“ Der britische Philosoph George a
Seymour Benzer gilt zusammen mit Eric Kandel als Begründer der molekularen Neurogenetik. In seiner Forschung gelang es ihm, einiges über das molekulare Geschehen während des Lernens, Erinnerns und Verhaltens zu enträtseln.
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Edward Moorea sah darin einen Verstoß gegen das Humesche Gesetz, dem zufolge aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Aber es scheint so, als würden die Philosophen auch auf diesem Gebiet dieselbe Niederlage erleiden, die sie mit Hegel in der Kosmologie erlitten. Die Diskussion über den „freien Willen“ zeigt, wie wackelig im Grunde die Grundlagen der Philosophen sind, wenn sie die naturwissenschaftlichen Diskussionen außen vor lassen, sei es, weil sie es wie Hume nicht besser wussten. Ein „Sollen“ ergibt sich erst, wenn wir uns einen „freien“ Willen zueignen. Der aber scheint sich für die Naturwissenschaftler allmählich zu verflüchtigen. Allerdings reichte es bei diesem Thema nicht, wie noch bei Hegel, durch ein Fernrohr zu gucken, um ihn zu widerlegen. Die Diskussion zwischen Soziobiologen und den Sozialwissenschaftlern wird nach wie vor erbittert geführt. Zunächst können wir uns fragen, was denn die Alternative wäre. Von woher sollte Tugend und Moral in die Welt und zu den Menschen gekommen sein, wenn nicht aus seiner Natur? Von einem Gott, der uns durch Gebote zum Guten anleitet? Oder gar von Philosophen, die uns zu „kategorischen Imperativenb“ vergattern? Nach Immanuel Kantc hat das „Seinsollende“ in der Natur keinen Platz, weil der sittliche Wille im strengsten und transzendentalen Verstande frei, und somit von den Gesetzen der Kausalität unabhängig sei. Dagegen unterliege die Natur dem Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung. Indem der Mensch eine sittliche Wahl trifft und sich über den reinen Instinkt erhebe, erwirke er eine transzendente Freiheit, welche als unabhängig von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muss. 84 Nach Edward Wilson hat die Formulierung etwas Beruhigendes, aber sie ergibt für ihn schlicht keinen Sinn. Mal abgesehen von seinem gewundenen Stil, so meint er, ist Immanuel Kant auch deswegen so schwer verständlich, nicht weil es tiefgründig sei, sondern weil er einfach irrt: Wie wir heute wissen, stimmt [Immanuel Kants] Aussage nicht mit den Nachweisen über die Funktionsweise des Gehirns überein.85 Nach den Erkenntnissen der Soziobiologie sieht die Sache recht einfach aus: Aus unserem menschlichen Sein folgt unser moralisches Sein. Wir sind moralisch, weil uns die Natur genetische Anlagen mitgegeben hat, die uns dazu bringen uns moralisch zu verhalten. Moral ist nicht eine Trumpfkarte des menschlichen Geistes über die Natur sondern die a
Der britische Philosoph George Edward Moore (*1873; †1958) war Vertreter des philosophischen Realismus. Für ihn war das Gute eine einfache, nicht erklärbare Eigenschaft von Dingen oder Situationen. Es sei keine natürliche Eigenschaft, sondern könne nur durch eine Art moralischer Intuition verstanden werden. (Microsoft Encarta 1998) b Der kategorische Imperativ, den Kant als Grundlage der Sittlichkeit bezeichnete, wurde von ihm folgendermaßen formuliert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ c Immanuel Kant, eigentlich Immanuel Cant geschrieben, wurde 1724 in Königsberg geboren, wo er im Jahre 1804 auch starb. Er ist unzweifelhaft einer der einflussreichsten Denker der Neuzeit. In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) untersuchte er die Grundlagen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Durch seine rationalistische Religionsauffassung geriet Kant allerdings auch in Konflikt mit der preußischen Regierung.
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seiner Gene. Diese Gene machen die menschliche Spezies so erfolgreich, weil sie Moral kodieren. Edward Wilson formuliert daraus sein allgemeines empirisches Prinzip: Starke angeborene Gefühle und historische Erfahrungen [die wir als Meme kodieren und weitergeben] führen dazu, dass bestimmte Handlungsweisen bevorzugt werden; nachdem wir sie erprobt und ihre Konsequenzen gegeneinander abgewogen haben, sind wir bereit, uns an die entsprechenden Regeln zu halten. Lasst uns die Einhaltung dieser Regeln beschwören, sie mit unserer persönlichen Ehre schützen und ihre Verletzung bestrafen.86 Die Evolution greift auf eine uralte emotionale Infrastruktur zurück. Anstatt sie zu ersetzen verändere sie diese Emotionen durch ein zunehmend größeres Verständnis der Beteiligten.87 David Freedman zeigte, dass Gehorsam bei Hunden rassenabhängig und damit genetisch bedingt ist: Sobald man einen Shetlandschäferhund einmal bestraft hat, weil er sich über Fleisch hergemacht hat, rührt ein Hund dieser Rasse ein Stück Fleisch selbst dann nicht mehr an, wenn man den Raum verlässt. Ein Spitz dagegen, den man bestraft hat, beginnt sofort zu fressen, kaum, dass man den Raum verlassen hat.88 Die Disposition ist hier einfach: Bestrafung zu vermeiden versus Gefräßigkeit. Aber von da ist es nicht sehr weit bis dahin, das Eigentum eines anderen zu respektieren aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung. Versuche haben gezeigt, dass Kinder schon mit vier Jahren ein Rechtsbewusstsein gegenüber dem Eigentum anderer entwickelt haben.89 Wenn das Männchen der Taufliege genau das richtige Werbungslied anstimmt, dass das Taufliegen-Weibchen hören möchte, nimmt die Handlung seinen genau festgelegten Lauf. Und der sei, so meint Seymour Benzer, einer der Pioniere der Genetik, auf ausgesprochen peinliche Weise anthropomorph. Das Männchen verfügt über einen erektilen Penis, das Weibchen über eine Vagina, und der Akt dauert üblicher Weise zwanzig Minuten.90 Wir haben es hier mit einer Aufwärtskompatibilität zu tun: Unsere alten Verhaltensprogramme laufen alle noch, aber es sind neue „Features“ dazugekommen. Es gibt verschiedene Wurzeln der Moral in der Evolution des Menschen: Zunächst ist da die Fürsorge der Mutter für ihre Nachkommen, dann die Kooperation der Geschlechter bei der Aufzucht der Kinder. Weiter lässt sich mathematisch belegen, dass es sich bezogen auf die Vererbung der eigenen Gene auszahlt, Verwandte unter Umständen selbstlos zu unterstützen, da sie weitgehend dieselben genetischen Anlagen haben. In einer Gesellschaft ergibt sich ein Nutzen aus dem Gesetz des „Vorteils durch komparative Kosten“. Schließlich ergibt sich aus den Thesen dieses Buches, dass Kooperation aus gewissermaßen „theologischen“ Gründen notwendig ist. Diesen Punkt werde ich später ausführlich aufzeigen. Die meisten Gründe beziehen sich auf das direkte persönliche Umfeld. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Geschichte der Menschheit Moral überwiegend auf die eigene Gruppe bezog und sie von da nur widerstrebend auf die Außenwelt übertragen wurde. Totschlag und Mord gilt leider bis heute, zum Beispiel im Krieg, als tugendhaftes Verhalten, solange es „Fremde“ trifft. Es gilt als Verbrechen, wenn das Opfer aus der eigenen sozialen Gruppe stammt. Da soziale Bindungen für uns überlebensnotwendig 158
sind, haben wir eine angeborene, das heißt genetische Veranlagung zum moralischen Verhalten, eine Moralfähigkeit. Wir verfügen über eine angeborene „Grammatik“ des moralischen Verhaltens, mit der wir ihre verschiedenen Formen erkennen, verstehen und verinnerlichen lernen, genauso wie wir eine angeborene Fähigkeit haben, Sprache zu erlernen. Robert B. Cialdini fasst sechs Schlüsselfaktoren sozialer Einflussnahme zusammen, die von der Evolution hervorgebracht wurden, damit wir Menschen in der Gruppe bestmöglich zurechtkommen: Es ist sinnvoll, Gefälligkeiten zu erwidern, sich reziprok altruistisch zu verhalten. Wir müssen uns als beständig und berechenbar erweisen, denn betrügerisches Verhalten unterminiert jede Gesellschaftsform. Dagegen sollten wir uns von Verbundenheit und Sympathie tragen lassen. Wir orientieren uns an unseren Mitmenschen und halten uns in der Regel an Autoritäten, wie zum Beispiel den Papst. Schließlich schätzen wir knappe Ressourcen, was knapp ist, ist uns teuer.91 Mindestens die ersten drei Faktoren sind direkte moralische Kategorien. Lassen wir zu diesem Thema noch einen Philosophen sprechen und machen Sie sich nichts daraus, wenn Sie es nicht verstehen. Der Gießener Professor Bernulf Kanitscheider, schließt sein Interview über das Verhältnis von Naturwissenschaften und Theologie im Spektrum der Wissenschaft mit den Worten: Wir müssen ja sowieso - ich nenne das die „Psychotherapie der Transzendenzreduktion“ - als säkulare Menschen irgendwie damit umgehen, dass die Bindungskraft der Kirchen verloren geht. Unser emotionales Bedürfnis in diese Richtung stirbt damit ja nicht ab. Und es wäre doch eine schöne Wendung [...] statt sich der Illusion der Götter hinzugeben, lieber die Freundschaft mit den Menschen zu pflegen.92 Ich behaupte, dass diese „schöne Wendung“ eine zwangsläufige Entwicklung der Evolution ist, weil „Freundschaft mit den Menschen“ die Fitness unserer Art erhöht. Wir brauchen sozusagen gar nicht erst auf die Ledercouch der Psychotherapeuten, um unsere Transzendenz zu reduzieren. Kinder, die kaum älter als ein Jahr sind, trösten bereits andere: Eine schmerzhafte Erfahrung eines anderen Individuums löst eine eigene besorgte Reaktion aus. Mitgefühl ist damit eine ebenso grundlegende Errungenschaft eines Kindes, wie es die ersten Worte sind, die es brabbelt. Und ebenso, wie wir die genetische Veranlagung zur Sprache mitbringen, haben wir die genetische Veranlagung zur Empathie. Wir sind durchaus nicht Alleinbesitzer dieser genetischen Veranlagung. Bei Affen finden wir Verhaltensweisen gegenüber behinderten Mitgliedern der Horde, die selbst unseren eigenen höchsten moralischen Ansprüchen genügen: Statt in Stücke gerissen oder als nutzloses Mitglied der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, wird der behinderte Affe mit zusätzlicher Toleranz, Fürsorge und Umsicht behandelt,93 berichtet uns Frans de Waal. Warum aber sollten wir zwei verschiedene Begründungen für dasselbe Verhalten suchen? Nach William of Ockhams Parsimonie-Gesetz müssen wir folgern, dass, wenn sich zwei Spezies auf dieselbe Art verhalten, dann auch die zugrunde liegenden Voraussetzungen dieselben sind.
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Aggression Aggressionen sind in unserer heutigen Gesellschaft weitgehend unerwünscht. Aber sie gehören zu unserem grundsätzlichen Verhaltensrepertoire und haben vielfältige Funktionen. Wir müssen dabei zwischen der innerartlichen und zwischenartlichen Aggression unterscheiden: Bei der ersten handelt es sich in der Regel um Rivalität, bei der zweiten meistens um Beute-Opfer-Beziehungen. Wenn es hier um die Entwicklung von Moral geht, geht es in der Regel um die zwischenmenschliche Aggression und Aggressionsvermeidung. Jedes Individuum einer Spezies ist für jedes andere der größte Konkurrent, da es exakt dieselben Ressourcen beansprucht. Individuen anderer Spezies haben dagegen immer etwas andere Bedürfnisse, und sei es lediglich bei der Wahl des Geschlechtspartners. Daher müsste der innerartliche Konkurrenzkampf der am unnachgiebigsten geführte sein. Selbst „friedliche“ Pflanzenfresser wie die Stiere kämpfen erbittert um ein Weibchen und der Körner und Würmer verspeisende Hahn ist in einigen Kulturen sogar ein Symbol für Aggression. Die größten Konkurrenten aber sind die Geschwister. Sie müssen von Geburt an um die Ressourcen der Eltern wetteifern. Auf der anderen Seite kann kein Elternteil großes Interesse daran haben, dass sich ihre Kinderschar, statt sich weiter zu vermehren, gegenseitig umbringt. Es sind diese beiden gegensätzlichen Motive, aus denen heraus die Evolution Moral entwickelt: Konkurrenz versus Kooperation. Keine Spezies kann überleben, wenn sich ihre Individuen immer gleich gegenseitig umbringen. Sexuelle Partnerschaft und Brutpflege gäbe es nicht, Geschwister würden kannibalisch übereinander herfallen. Für einen Darwinisten muss es erstaunlich sein, dass gerade das Zurückstellen des Egoismus zugunsten eines sozialen Interessenausgleichs die stärkere Strategie der Evolution darstellt. Philosophen haben es dagegen schon immer vermutet: Der griechische Philosoph Epikura wusste, dass das langfristig angestrebte Glück auch das Streben einschlösse, sowohl mit anderen als auch mit sich selbst in Übereinstimmung zu leben. Kommentkampf Eine der ersten Entwicklungen hin zu „tugendhaftem“ innerartlichen Verhalten erfolgte mit der Erfindung des Kommentkampfes: Bei einem Kommentkampf testen die Rivalen lediglich, wer der Stärkere ist, der Schwächere wird nicht umgebracht. Es gab offenbar einen starken Selektionsdruck in die Richtung, beschädigende Auseinandersetzungen zu vermeiden. Denn damit mindert man das Risiko, selbst ernsthaft verletzt zu werden oder sogar den Tod zu finden. Konrad Lorenz wies darauf hin, dass Tiere, die Waffen tragen,
a
Epikur, wurde 341 v. Chr. auf der Insel Samos geboren. Im Jahre 306 ließ er sich in Athen nieder und starb dort im Jahr 270 v. Chr. Er verfasste Abhandlungen über Physik, über die Liebe, über die Gerechtigkeit, die Götter und andere Themen. Von allen seinen Schriften sind jedoch nur ganz wenige erhalten geblieben.
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etwa starke Zähne, Hörner, Gifte, und die damit in der Lage sind, Artgenossen relativ leicht zu töten, meistens auch mit bestimmten Verhaltensweisen ausgestattet sind, die diesem Morden einen wirkungsvollen Riegel vorschieben.94 Den Griechen verdanken wir nicht nur die ersten Versuche zur Demokratie sondern auch die Olympischen Spiele. Bemerkenswert war neben dem hohen Ansehen, dass diese Wettkämpfe über alle Stadtstaaten hinweg genossen, dass zur Zeit der Spiele ein heiliger Friede ausgerufen war. Während der Zeit der Spiele durfte kein Krieg geführt werden. Als Ersatz für das oft tödliche Duell, vornehmlich zwischen Adeligen und um die Ehre ausgetragen, entwickelte sich in Europa das Boxen. Zwar muss diese Kampfform auf eine lange Tradition von im Ring gestorbenen Kämpfern zurückblicken, aber beim Boxen gibt es die Tötungshemmung. Die Kombattanten tragen dick gepolsterte Handschuhe. Das Boxen kennt einen ausgefeilten Katalog an Regeln, die der Ehrenmann einzuhalten hat: Tiefschläge sind verboten. Jeder sportliche Wettkampf hat unter anderem die Funktion, den Kampf um Rangordnung, Ansehen und natürlich um die schönsten Frauen, dies alles aus männlicher Sicht, rituell auszufechten. Kommentkämpfe haben ihre Regeln. Das unterscheidet sie vom Beschädigungskampf. Die höchste Ritualisierungsstufe des Kommentkampfes hat der Mensch erreicht: Es ist unsere Fähigkeit, uns verbal auseinander zu setzen. Kooperation und Tugend Bei Lebewesen, die auf die Gesellschaft anderer Individuen angewiesen sind, muss der Egoismus eines Individuums zurückgedrängt werden. Kooperatives Handeln, ist eine wertvolle Strategie gegenüber dem konkurrierenden Verhalten. Zwei schwächere Individuen können ein Individuum besiegen, das stärker als jedes einzelne von ihnen ist, wenn sie sich verbünden und geschickt kooperieren. Oder wie es Stephen J. Gould formulierte: Der Wettstreit um den größten Fortpflanzungserfolg zwischen Widersachern wird nur selten im blutigen Kampf entschieden, sondern zum Beispiel auch dadurch, dass man mit dem Partner bei der Aufzucht des Nachwuchses besser kooperiert.95 In Folge dieser Anpassung sind die Organisationsformen und der Vernetzungsgrad unserer Gesellschaft immer komplexer geworden. Kooperation erfordert ein hohes Maß an Intelligenz. Sie setzen voraus, dass ein Individuum andere Mitglieder seiner Sozialität unterscheiden und sich an deren Verhalten in bezug auf die eigene Person erinnern kann. Und es setzt voraus, dass ein Individuum unterscheiden kann, ob jemand betrügt oder ehrlich handelt. Die männlichen Delfine vor der Westküste Australiens leben in Zweier- oder Dreiergruppen und rauben, wenn ein Weibchen paarungsbereit ist, dieses aus ihrem Schwarm. Sie kontrollieren dann das Weibchen und begatten es, solange es brünstig ist. Nun kommt es vor, dass ein solcher Zweierbund mit Weibchen von einem anderen Männerbund angegriffen wird, um deren Weibchen zu erobern. Die Männerfreundschaft der Zweier- oder Dreiergruppen machen den folgenden Sinn:
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• • •
Allein kann kein Delfinmännchen ein Weibchen kontrollieren. Zu zweit ist die Chance für jedes Männchen immerhin noch fifty:fifty, der Vater des Nachwuchses zu werden. Zu Dritt sinken die Chancen auf den Fortpflanzungserfolg für jeden der drei, dafür ist man aber gegen Angriffe von anderen Zweierbünden relativ sicher.
Bis hierher ist die Geschichte nichts weiter als ein von der Evolution ausgearbeitetes Verhalten, dass sich so oder ähnlich überall im Tierreich abspielen könnte. Eine völlig neue Qualität gewinnt aber das folgende Verhalten: Mitunter kommt es vor, dass ein Zweierbund sich die Hilfe eines weiteren Zweierbundes sichert, um eine Gruppe von Männchen zu überfallen, die gerade ein brünstiges Weibchen begleiten. Zu viert sind sie in der Überzahl, und das Abjagen ist ein Kinderspiel. Die Helfer ziehen sich nach dem Überfall zurück und überlassen das Weibchen den beiden Delfinen, die sie um Hilfe gebeten haben. Die Delfine handeln gegenüber ihren Freunden in diesem Augenblick altruistisch. Dies setzt voraus, dass sie wissen, wem sie helfen und dass sie darauf vertrauen, in einem ähnlichen Fall ihrerseits Unterstützung zu bekommen.96 Solche Verhaltensweisen können sich nur herausbilden, wenn die „Freunde“ verlässlich sind, also in der Regel weder lügen noch betrügen. Gerechtigkeit und alle sonstigen Tugenden seien Wissen, sagte schon Sokrates. Wir können davon ausgehen, dass Flaschennasendelfine nicht sehr viel über Gerechtigkeit oder andere Tugenden nachdenken. Doch triumphiert hier kooperatives Verhalten über die einfache Konkurrenz um den Fortpflanzungserfolg. Unsere Freundschaft mehrt unsere Kräfte, erzählt bereits das Gilgamesch-Epos. In der menschlichen Gesellschaft sind Kooperation und Tugendhaftigkeit nicht aufgrund des menschlichen Intellekts entstanden, sondern resultieren aus der konsequenten Verfolgung individualistischer Ziele, die von der Evolution vorgegeben sind. Sexualität Eigentlich könnten wir es viel leichter haben. Bakterien, viele Tiere und Pflanzen und sogar unsere eigenen Körperzellen machen es uns vor: Diese Lebewesen teilen sich einfach, wenn sie sich vermehren wollen. Wir bräuchten nicht aufwendig einen Partner suchen und auch keine Paarungsrituale zelebrieren. Und wir würden unsere gesamten Gene weitergeben. Immerhin steuern Weibchen bei der geschlechtlichen Vermehrung nur die Hälfte der Gene bei. Bei ungeschlechtlicher Vermehrung wären es ihre gesamten Gene. Und dafür bekommen sie vom Männchen oft nicht einmal Hilfe bei der Aufzucht des Nachwuchses oder beim Geschirrspülen. Asexuelle Fortpflanzung erscheint unter diesem Gesichtspunkt einfacher und schneller und bezogen auf unsere Gene, vollständiger. Wir müssen uns fragen, warum sie die sexuelle Fortpflanzung nicht verdrängt hat. Darauf gibt es unterschiedliche Antworten, die letztlich immer in der Flexibilität der sexuellen Vermehrung ihren Grund finden. 162
Asexuelle Arten haben das Problem, zu ähnlich zu sein und sich damit dieselben Ressourcen streitig zu machen. Zweigeschlechtliche Arten schaffen genetisch variable Nachkommen und können sich schneller an unterschiedliche Lebensbedingungen anpassen. Unvorteilhafte Mutationen werden schnell ausselektiert. Bei der eingeschlechtlichen Vermehrung werden Fehlfunktionen über Generationen weitergegeben. Die meisten Abweichungen von der Norm haben negative Auswirkungen, weil nach dem Gesetz der zunehmenden Entropie eher etwas kaputt geht, als dass sich etwas sinnvolles Neues ergibt. Das Genom von Lebewesen, die sich sexuell fortpflanzen, wird ständig neu gemischt. Heraus kommt eine Art Mittelwertbildung, ein Durchschnitt. Verbesserungen breiten sich in der Regel schnell über die gesamte Population aus und werden rasch zu einer neuen Norm. Sex als einer der zentralen Mechanismen in der Evolution wirkt sich innerhalb einer Spezies vereinheitlichend aus. Genetisch neigen wir sozusagen zur Gleichheit, zur Demokratie. Deshalb haben alle Menschen dieselben Zelltypen, Organe, Wahrnehmungssinne, dieselben spezialisierten Gehirnareale und sogar dieselben Arten von Gefühlen. Wenn sie sich die Modellpalette der Automobilhersteller ansehen, so werden sie eine ähnliche Beobachtung machen: Unter dem Druck der Umweltbedingungen, hier vor allem dem ökonomischen Wettbewerb, passen sich Autos immer mehr aneinander an. Zwar gibt es eine Reihe von Unterspezies wie Kleinwagen, Sportwagen, Kombiwagen usw. Aber innerhalb dieser Untergruppierungen ähneln sich die Autos aller Hersteller frappierend. Die geschlechtliche Fortpflanzung erhöht die genetische Variabilität der Nachkommenschaft. Adrian Forsyth glaubt, dass dies bei der Koevolution zwischen Parasit und Wirt ein so großer Vorteil ist, dass es für die Weibchen die Nachteile der Sexualität überwiegt.97 Das Wettrüsten zwischen Parasit und Wirt erzwingt, möglichst schnell genetisch zu reagieren: Der Parasit muss alle Abwehrmaßnahmen des Wirtes überwinden. Der Wirt dagegen ist bestrebt, möglichst rasch wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Die genetische Vielfalt der Nachkommenschaft des Wirtes mindert die Wahrscheinlichkeit, dass Schädlinge, die der Elterngeneration zusetzen, auch die nächste Generation befallen. Für den Parasiten erhöht die genetische Vielfalt die Wahrscheinlichkeit, dass einer seiner Nachkommen die neue Barriere durchbrechen kann, die der Wirt zur Abwehr aufbaut. Verallgemeinert können wir sagen, dass die genetische Variabilität die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein gewisser Prozentsatz der Nachkommenschaft an die sich im steten Wandel befindende Umwelt angepasst ist. Denn nichts, so wusste es schon Heraklita, ist, sondern alles strömt im ewigen Werden dahin. Sex, meint Steven Pinker sei keine bindende, sondern eine spaltende Kraft. Konflikte zwischen Mann und Frau seien universal, und endeten gelegentlich tödlich.98 Das a
Der griechische Philosoph Heraklit, auch als Herakleitos von Ephesos bekannt, lebte von 544 bis 483 v. Chr. Für ihn war das Feuer die Ursubstanz aus dem durch Verdichtung und Verdünnung alles Seiende entsteht. Er verlieh seinen Thesen auch mit diesem Spruch Ausdruck: „Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen.“ (Microsoft Encarta 1998)
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grundlegende Konfliktpotential nicht nur bei Menschen entsteht daraus, dass für männliche und weibliche Individuen die Kosten für die Fortpflanzung unterschiedlich hoch sind. Da Weibchen nur eine beschränkte Anzahl an Kindern in die Welt setzen können, sollten sie immer nach dem besten Männchen ausschauen. Männchen dagegen produzieren ihre Spermien verschwenderisch und sind daher bestrebt, möglichst viele Weibchen zu begatten. Und um diese streiten sie sich. Ein Sieger kann viele Nachkommen zeugen, ein Verlierer häufig gar keine. Also, Weibchen stehen auf Qualität, Männchen auf Quantität. Und so ist es auch bei Menschen. Man nennt dies den Coolidge-Effekt, benannt nach einer Anekdote über den ehemaligen US-Präsidenten Calvin Coolidgea: Der Präsident und seine Ehefrau besuchen eine Hühnerfarm, gehen aber getrennt über die Anlage. Auf dem Hühnerhof stolziert der Hahn inmitten zahlloser Hennen. Frau Coolidge fragt interessiert, wie oft der Hahn es denn täglich treibe. „Mehrere duzend Mal“, wird ihr erklärt. Daraufhin bittet sie ihre Führer: „Erzählen sie das bitte dem Präsidenten.“ Eine Weile später gelangt auch der Präsident auf den Hühnerhof. Man klärt ihn weisungsgemäß über das Kopulationsverhalten des Hahns auf. „Donnerwetter,“ entfährt es dem Präsidenten, „immer mit derselben Henne?“ „Natürlich nicht, Herr Präsident, jedes Mal mit einer anderen!“ antwortete man ihm. Der Präsident verlangt daraufhin: „Sagen sie dies bitte Mrs Coolidge.“ Männer sind an jungen gut aussehendenb Frauen interessiert, die gesund sind und noch viele Kinder bekommen können. Frauen sind darauf angewiesen, einen Mann zu finden, der erstens fähig ist, bei der Aufzucht der Nachkommenschaft zu helfen und zweitens verlässlich in dieser Hinsicht ist. Frauen schauen daher bei Männern auf Status und Treue. Status, also Reichtum und Macht bedeuten bevorzugten Zugang zu Ressourcen. Ein Mann mit hohem Status kann besonders gut für Kinder sorgen. Treue ist das Versprechen, für die Betreuung ihrer Kinder zur Verfügung zu stehen. Insgesamt aber, denke ich, irrt Steven Pinker: Sex schafft zunächst einmal Bindungen. Die unterschiedlichen Interessen der beiden Geschlechter sind marginal im Vergleich zur überaus starken bindenden Kraft der Liebe, die beide Geschlechter dazu befähigt, dauerhafte Beziehungen einzugehen. Nach der Vermutung von Adrian Forsyth ist aus einem erbittert geführten Krieg zwischen Parasit und Wirt die Liebe zwischen Mann und Frau erwachsen. Die Evolution der sexuellen Partnerschaft und der daraus erwachsenden individualisierten Brutpflege war das Schlüsselereignis in der Stammesgeschichte des sozialen Verhaltens der Wirbeltiere. Sie führte zu Verhaltensweisen des gegenseitigen Groomens, wie es in der Sprache der Primatenforscher für das Austauschen von Zärtlichkeiten heißt, und dem Teilen von a
John Calvin Coolidge, 1872 geboren und 1933 gestorben, war 30. Präsident der Vereinigten Staaten. b Bei der Begutachtung der Qualität der Gene, die unser Lebenspartner beisteuert, sind wir auf den Augenschein angewiesen. Schönheit bei Frauen definieren wir in Anlehnung daran, ob sie gesund und jung erscheint. Glatte reine Haut und ebenmäßiger Wuchs sind zwei Kriterien dafür.
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Nahrung. Gegenüber dem Nachwuchs entwickelte sich das Füttern, Wärmen, Putzen, Trösten und Spielen. Ohne diese Ereignisse gäbe es bei uns Menschen keine Mitempfindung, kein Mitleid, keine Liebe. Sex ist eine durch die Evolution entstandene Strategie der Fortpflanzung, seine Begleiterscheinung ist die Liebe zwischen den Menschen. Hinter der sündigen Verlockung steht der Teufel, die Lust an der Lust entleert die Seele und setzt sie dem sehr realen Risiko der Hölle aus,99 wollen uns die rechtgläubigen Katholiken weismachen. Sie irren! Sex führte den Menschen direkt zu seinen höchsten Tugenden. Ohne Sex hätten sich wahrscheinlich nicht einmal höhere Formen der Geselligkeit herausgebildet. Doch ist der Mensch gerade deshalb das erfolgreichste Tier dieses Planeten geworden, weil er am sozialsten agiert. Und sein ökonomischer Erfolg basiert auf der Arbeitsteilung, auf dem Gesetz des komparativen Vorteils. Komparative Kosten In einem Körper leben die Zellen vom Tausch: Nährstoffe gegen Fähigkeiten. Der Körper stellt der einzelnen Zelle Nährstoffe zur Verfügung. Die individuelle Zelle stellt dafür ihre speziellen Fähigkeiten in den Dienst des Körpers. Dies ist nichts weiter als Dienstleistung: Arbeitskraft gegen Naturalien. In unserer Industriegesellschaft heißt das: Arbeit gegen Lohn. In einer menschlichen Gesellschaft ist die wichtigste Art der Kooperation die Arbeitsteilung der Beteiligten und der daraus resultierende Handel. Die natürliche Selektion begünstigt das Ausbalancieren von Aufwand und Wirkung, von Qualität und Investition. Genau die Vorstellungen haben auch die Ökonomen von der Wirtschaft. Eine der am besten untersuchten und abgesicherten Theorien der Ökonomie ist das von David Ricardoa formulierte Gesetz des "relativen Vorteils" auch das Gesetz der "komparativen Kosten" genannt: Wenn zwei Individuen, Nationen oder Rassen sich hinsichtlich ihrer relativen Effizienz in der Güterproduktion unterscheiden, werden beide vom wechselseitigen Handel profitieren, selbst wenn der eine alles besser kann als der andere. Von Winston Churchill wird erzählt, dass er ein guter Maurer gewesen war. Trotzdem rentierte es sich für ihn nicht, selbst zur Kelle zu greifen. Er hatte einen größeren persönlichen Vorteil, wenn er die Dienstleistung eines Maurers kaufte, um in der gewonnenen Zeit den britischen Staat zu lenken. Ein Land wie Deutschland ist durchaus in der Lage, effizient Kleidungsstücke herzustellen. Lukrativer ist es aber, Autos und Werkzeugmaschinen zu bauen und diese gegen Hemden einzutauschen, die irgendwo im Fernen Osten in primitiven Fabriken zusammengenäht werden. Die erste effiziente Arbeitsteilung entwickelte sich zwischen Mann und Frau. Fast in allen Stammesgesellschaften wird das Fleisch von den Männern erjagt, die pflanzliche Nahrung von den Frauen herangeschafft. Schlägt die Jagd fehl, gibt es immer noch vegetarische a
David Ricardo, 1772 in London geboren, war Volkswirtschaftler, der einige einflussreiche Theorien zur Verteilung von Vermögen aufstellte. Einer seiner Thesen lautete, dass die Arbeit den Wert eines Produktes bestimmt. Er starb 1823.
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Kost, erbringt das Sammeln oder der Feldanbau nichts, gibt es immer noch Fleisch. Und, erst zusammen ergibt sich eine ausgewogene Ernährung. Diese Spezialisierung forderte den fairen Handel, denn die Nahrung muss zwischen den beiden Spezialisten zu beiderseitigem Nutzen geteilt werden. Aus dem Teilen der Nahrung wurde ein universeller Wesenszug der menschlichen Kultur. Anthropologen haben herausgefunden, dass gemeinsames Essen einen in jeder Gesellschaft existierenden Charakterzug darstellt. Wer miteinander teilt, minimiert das Risiko, an schlechten Tagen mit leerem Magen dazustehen. Zusammenarbeit ist kein Nullsummenspiel wie das Pokern. Beim Poker kann nur das gewonnen werden, was ein anderer verliert. Die im Spiel befindliche Menge Geld bleibt konstant. Durch die Ausnutzung der komparativen Kosten entsteht dagegen nicht Gewinn für die eine auf Kosten der anderen Seite, sondern zusätzlicher Gewinn für alle, die daran teilhaben. Der Nutzen ist größer als die Summe der Teile. Wir haben es mit echtem Mehrwert zu tun. Die Arbeitsteilung bewirkt, dass, obwohl jeder seine eigenen Interessen verfolgt, jeder vom egoistischen Streben des anderen profitieren kann, solange alle sich spezialisieren. Aus diesem Grunde sind wir soziale Lebewesen. Die natürliche Selektion bestimmte, dass wir mehr Gewinn aus unserem sozialen Leben ziehen, als wir das je als Einzelkämpfer könnten. Der Vorteil komparativer Kosten kann nur errungen werden, wenn eine Gesellschaft eine gewisse Art von Moral hervorbringt. Jeder wirtschaftlichen Transaktion liegt eine Form von Vertrauen zugrunde. Die Tugendhaften sind nur tugendhaft, weil es sie befähigt, ihre Kräfte mit anderen Tugendhaften zum gegenseitigen Vorteil zu bündeln.100 Unternehmen verlieren sehr schnell ihre Kunden, wenn sie betrügen. Um Betrug zu erschweren, gibt es Urkunden und Verträge, Kassenzettel, Quittungen, Fahrkarten, Stechuhren und das Bürgerliche Gesetzbuch als Hilfsmittel. Dies alles steht durchaus nicht im Widerspruch zu den Wirtschaftstheorien eines Adam Smithsa. Dieser erhob in seinem 1776 erschienenen Buch „Wealth of Nations“ den Egoismus des Einzelnen zum Leitprinzip der Gesellschaft. Denn gerade Egoisten müssen auf tugendhaftem Verhalten bestehen, weil sie sonst den Vorteil verlieren, der ihnen aus den komparativen Kosten entsteht. Moral bedeutet eine Form des Zusammenlebens und der Machtverteilung, die als gerecht empfunden wird. Und erst mit der Entwicklung der Moral konnten sich prosperierend Volkswirtschaften ausbilden. Der Megatrend der ökonomischen Entwicklung im zweiten Jahrtausend unserer Zeitrechnung zeigt dies eindeutig: Die enorme Dynamik setzte erst nach 1820 mit dem Beginn des modernen Kapitalismus auf der Grundlage der freien Marktwirtschaft und der Demokratisierung ein. Im Mittelalter bis 1500 blieb die Wirtschaft unter den Feudalregimes traditionsgebunden und stationär. Auch in der Renaissance und Reformation bis zum Frühkapitalismus waren dem Aufstieg noch enge Grenzen gesetzt, weil alles ungerecht und schief zugunsten einer Feudalschicht verteilt war. Von 1820 bis 1870, in weltpolitisch „ruhigen Zeiten“, wuchs der Welthandel viermal a
Adam Smith, schottischer Moralphilosoph und Begründer der klassischen Nationalökonomie lebte von 1723 bis 1790.
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so stark wie die Produktion. Bis zum ersten Weltkrieg folgte ein kräftiger Aufschwung. Amerika florierte, Japan öffnete sich dem Welthandel, in dem klare Spielregeln galten: Freie Märkte, Eigentumsschutz, Goldstandard. Unter britischer Vorherrschaft herrschte politische Stabilität. Nationalismus, Protektionismus und politische Unruhen sorgten ab 1914 für einen schrumpfenden Welthandel bis hin zur Depression. Erst 1950 erreichte der Welthandel wieder das Ausmaß der „Belle Epoque“. Heute ist in allen wohlhabenden Staaten mit Ausnahme der Erdölstaaten, deren Reichtum nicht auf eigenen Anstrengungen fußt, die Demokratie Grundlage des Wohlstands. Da sich der Mensch mehr und mehr über seine Umwelt erhebt, sich von ihrem Einfluss abkoppelt, ist der eigentliche Konkurrent nur noch der Mensch selbst. Der Konkurrenzkampf unter uns Menschen findet heute auf dem Schlachtfeld der Ökonomie statt. Hier entscheidet sich für den Einzelnen, über wie viel Ressourcen er verfügen kann und welchen Rang er in der Gesellschaft einnimmt.
3.21 Das Gefangenen-Dilemma Die Mathematiker fragen sich seit längerem, welche Modelle man formalisieren kann, um den Umgang zwischen Handelspartnern zu beschreiben: Nach welcher Logik funktioniert eine Ökonomie. Sie stießen dabei auf das sogenannte „Gefangenen-Dilemma“, das hier weitgehender als Paradigmaa für jede Art der Entscheidung zwischen Kooperation und Treuebruch angesehen wird. Das Gefangenen-Dilemma geht auf das folgende Gedankenexperiment zurück: Zwei Gefangene, die für dasselbe Delikt angeklagt sind, werden vor die Wahl gestellt, jeweils gegen den anderen auszusagen. Beide vereinbaren, ehe sie in unterschiedliche Zellen gesteckt werden, nichts zu verraten. Da es ein Spiel ist, verteilten die Mathematiker die folgenden Punkte: Halten sich beide an die Absprache, kann der Staatsanwalt sie lediglich für längere Zeit in Untersuchungshaft halten. Dann kommen beide aus Mangel an Beweisen frei. Ein Freispruch zweiter Klasse, es gibt |1| Punkt. Belasten sich beide gegenseitig, werden beide verurteilt. Aber sie können nur wegen Beihilfe verurteilt werden, weil nicht klar ist, wer nun „geschossen“ hat. Sie bekommen keine so hohe Strafe: Es gibt |3| Punkte bzw. drei Jahre Haft. Beschuldigt aber der Gefangene A den Gefangenen B und der Gefangene B schweigt, so wird A als Kronzeuge freigelassen (|0| Punkte) und B zur Höchststrafe verurteilt (|5| Punkte). Die Frage ist also, ob man sich an die Absprache halten, also kooperieren oder den anderen beschuldigen, also betrügen soll? In Tabelle 5 sind die einzelnen Wahlmöglichkeiten und ihre Punkte aufgelistet. Dieses Spiel wurde 1950 von Merril Flood und Melvin Dresher von der kalifornischen RAND-Kooperation in die Wissenschaft eingeführt. Die Mathematiker fanden für dieses Dilemma zunächst nur die eine Antwort: Die einzig sinnvolle Entscheidung ist, den
a
Unter einem Paradigma, das griechische Wort bedeutet „Beispiel“, „Muster“, versteht man eine Theorie mit beispielhaftem, modellhaftem Charakter.
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anderen zu beschuldigen, sich also nicht an die Absprache zu halten! Beschuldigt der andere nämlich Sie, so bekommen Sie höchstens |3| Jahre bzw. Punkte, wenn Sie ihn auch beschuldigen. Schweigt der andere, so werden Sie freigesprochen (|0| Punkte), wenn Sie ihn beschuldigen. Wie immer der andere sich entscheidet, immer stehen Sie besser da, wenn Sie den anderen betrügen. Da Ihr Mitgefangener dieselben Überlegungen anstellt, wird er zum selben Ergebnis kommen und um so dümmer wäre es, zu kooperieren. Tabelle 5
Punkteverteilung beim Gefangenen-Dilemma
Gefangener A
Gefangener B Ergebnis für A Ergebnis für B
kooperiert betrügt kooperiert betrügt
kooperiert kooperiert betrügt betrügt
1 0 5 3
1 5 0 3
Die Mathematiker kamen also zunächst zu demselben Ergebnis wie die Biologen in ihrer Evolutionstheorie: Fressen oder Gefressen Werden: Betrügen statt Kooperieren ist die einzige mögliche Strategie. Diese Lösung des Gefangenen-Dilemmas hatte immerhin fast dreißig Jahre lang Bestand in der Spieltheorie, obwohl es einen ernsthaften Einwand gab: Ließ man zwei Spieler dieses Spiel mehrere Male gegeneinander spielen, so versuchten sie häufig, sich kooperativ zu verhalten. Die klugen Experten zogen den Schluss, dass diese Spieler sich dumm verhalten: Sie wären schlichtweg strategisch nicht genug versiert. Ein anderes Beispiel: Ein Leuchtturm gestattet es allen Schiffen, in der Nacht in den Hafen zu finden. Jeder Kapitän hat also einen Vorteil vom Bau eines Leuchtturms. Er kommt aber auch in den Genuss seines weisenden Lichtes, wenn er sich selbst nicht an den Kosten beteiligt. Jeder hat also ein Interesse daran, dass alle anderen für den Bau Geld bereitstellen, er selbst aber möchte sich drücken. Dies ist nichts anderes als das Gefangenen-Dilemma, bezogen auf öffentliches Eigentum. Und weil jeder so denkt, dass er selbst nur Nutzen, aber keine Kosten haben möchte, kann kein Leuchtturm gebaut werden. Er wird aber trotzdem gebaut! Als mit der Verfügbarkeit von Computern das Gefangenen-Dilemma beliebig häufig und mit unterschiedlichen Variationen durchgespielt werden konnte, geriet die Überzeugung der Spieltheoretiker ins Wanken. Schließlich initiierte der Politologe Robert Axelrod ein Turnier, in dem Computerprogramme mit unterschiedlichen Strategien jeweils 200 Mal gegeneinander spielen sollten. Ziel war es, mehr über die Logik der Kooperation zu erfahren. Insgesamt spielten 14 Computerprogramme gegeneinander. Zur großen Überraschung gewann nicht das Programm, das stets betrog, sondern ein Programm das der Politologe Anatol Rapoport geschrieben hatte. Es verfolgte die Strategie „Wie-du-mir-
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so-ich-dir“a: Im ersten Zug biete ich Kooperation an, danach wiederhole ich jeweils den Zug, den der andere im Spiel davor gewählt hat. Robert Axelrod erklärte den Erfolg dieser Taktik mit ihrer Kombination aus Freundlichkeit, Vergeltung, Vergebung und Klarheit: Die freundlichen Merkmale des Programms verhindern unnötige Schwierigkeiten. Seine Fähigkeit zur Vergeltung entmutigt den Gegner, sobald er betrügt. Dadurch, dass das Programm vergibt, hilft es, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen. Und seine Einfachheit erleichtert es dem anderen Spieler, es zu durchschauen, was einer langfristigen Kooperation förderlich ist.101 In einem nächsten Turnier ließ Robert Axelrod verschiedene Strategien im Computer nach den Darwinistischen Gesetzen der Auslese gegeneinander antreten. Der virtuelle Überlebenskampf sah denselben Sieger: „Wie-du-mir-so-ich-dir“. Allerdings gediehen zunächst die hinterhältigen Spielvarianten gegen allzu freundliche Strategien, und nur vergeltende Programme hielten mit den betrügerischen mit. Nachdem die freundlichen Spielstrategien ausgeschieden waren, mussten die böswilligen verstärkt gegeneinander antreten und eliminierten sich gegenseitig. Die Strategie „Wie-du-mir-so-ich-dir.“ hielt allen Attacken stand und verließ schließlich wieder als Sieger das Schlachtfeld. Unter gewissen Umständen können sich noch weit kooperativere Strategien durchsetzen. So eine Strategie ist zum Beispiel, wenn ich nicht immer gleich „Wie-du-mir-so-ich-dir“ spiele, sondern über einmalige Betrügereien hinwegsehe. Ich betrüge erst selbst, wenn der andere mich zweimal hintereinander betrogen hat. Matt Ridley nennt diese Variation: „Wie-du-mir-so-ich-großzügig-Dir“. Diese Strategie schlägt die Varianten: „Betrügeimmer“ und „Wie-du-mir-so-ich-dir“, wird aber ihrerseits durch die noch freundlichere Variante: „Kooperiere-immer“ geschlagen. Allerdings wird diese freundlichste der möglichen Strategien von der sehr hinterhältigen Spielweise: „Betrüge-immer“ sofort geschlagen. „Kooperiere-immer“ ist also nur in einem an sich schon kooperativen Umfeld die beste Strategie. Nur in einer (Computer-) Umwelt, in der bereits die stets betrügenden Varianten eliminiert sind, können sich die sehr kooperativen Varianten des Spiels durchsetzen.102 Wie-du-mir-so-ich-dir im Tierreich Das Gefangenen-Dilemma ist ein Grundthema in allen Situationen, in denen Mitglieder einer Gemeinschaft aufeinandertreffen. Nehmen wir eine Population Geier, die an einem toten Gnu aufeinandertreffen. Wir unterscheiden nun die Draufgänger und die Hasenfüße. Draufgänger streiten sich solange um das Aas, bis sie den Konkurrenten verjagt haben. Sie können sich dabei ernstlich verletzen, sie riskieren also stets einen Beschädigungskampf. Hasenfüße sind dagegen reine Kommentkämpfer. Sie drohen nur ein bisschen, schätzen ein, ob der andere stärker oder schwächer ist, und dann gibt der vermeintlich Schwächere nach und trollt sich. Hasenfüße lassen sich auf keinen Kampf ein. Es gibt folgende Punkte: |50| für das Aas, |0| fürs Weglaufen, |-10| für den Aufwand, den ein Kommentkampf a
Da dieses Beispiel der Spieltheorie dem englischen Sprachtraum entstammt, heißt sie auch: „TitFor-Tat“-Strategie.
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bedeutet und |-100| für eine ernsthafte Verletzung. Die Anzahl der errungenen Punkte stellt ein Maß für den Erwerb von Nahrung und damit letztlich für den Fortpflanzungserfolg dar. Tabelle 6 Geier A Draufgänger Draufgänger Hasenfuß
Punkteverteilung beim Hasenfußspiel Geier B Draufgänger Hasenfuß Hasenfuß
A gewinnt
B verliert
50 50
-100 0
50 - 10 =
40
-10 (fürs drohen)
Man kann zeigen, dass reine Hasenfuß-Gesellschaften ebenso wie reine DraufgängerGesellschaften sich nicht entwickeln können. Bei den Hasenfüßen würden alle von der Friedfertigkeit profitieren, Jeder in der reinen Hasenfuß-Gesellschaft würde mal |40| Punkte, mal |-10| Punkte einfahren. Im Mittel sind das |15| Punkte. Das Leben wäre kärglich aber auskömmlich für alle (Tabelle 6, dritte Zeile). Aber diese Gesellschaft ist ständig durch Draufgänger bedroht. Der Draufgänger gewinnt jedes Mal |50| Punkte, ohne gegen die Hasenfüße eine Verletzung zu riskieren. Denn Hasenfüße scheuen den Kampf. Der Draufgänger würde fett werden, während die Hasenfüße hungern würden. In einer reinen Draufgänger-Gesellschaft gäbe es bei jedem Gewinn zwar auch |50| Punkte, aber im Durchschnitt verliert man jedes zweite Mal. Dabei trägt man Verletzungen davon: |100| Punkte. In einer reinen Draufgänger-Gesellschaft ergibt das einen durchschnittlichen Gewinn von |-25| Punkten. Jeder Hasenfuß stände, selbst wenn er jedes Mal wegliefe, mit |0| Punkten weit besser dar. Man sieht, Friedfertigkeit aller zahlt sich auf die Dauer für alle aus. Aber es funktioniert nur, wenn alle mitspielen. Wenn Menschen das kleinere Übel wählen, wie im Gefangenen-Dilemma, werden dies auch Tiere tun. Entscheidungen können nicht nur rational, sondern auch durch Selektion gefällt werden. Durch die Evolution wurden erfolgreiche Strategien als Instinkte in Tieren fixiert. Der Kommentkampf hat sich weit im Tierreich verbreitet. Allerdings muss jedes Tier in der Lage bleiben, auf einen Beschädigungskämpfer adäquat, d. h. mit einem Beschädigungskampf zu reagieren. Kommentkämpfer müssen immer auch den Beschädigungskampf beherrschen. Andernfalls würde das erste Individuum, das zum Beschädigungskampf fähig ist, sämtliche sich ihm in den Weg stellenden Kommentkämpfer besiegen können und damit letztlich den Beschädigungskampf wieder einführen. Wir begegnen hier den Wurzeln des „ritterlichen Verhaltens“: Man einigt sich auf Turnierregeln, an die man sich auch hält, solange, wie der andere sie auch einhält. Unterm Strich gewinnen dadurch beide.
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Die Spieltheorie konnte zeigen, dass, wenn ein Spiel oft genug gespielt wird, die Freundlichkeit über die Hinterhältigkeit siegt. Die Wahrscheinlichkeit der Kooperation erhöht sich mit der Anzahl der Interaktionen. Die „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Strategie wirkt dabei wie ein Katalysator: Sie ist notwendig, um noch großzügigeren Strategien das Überleben gegenüber den hinterhältigen Strategien zu gewährleisten. Sie stellt eine Barriere für betrügerische Strategien dar, und drängt diese in einer Gesellschaft zurück. „Wie-du-mir-so-ich-dir“ verliert selbst aber gegenüber altruistischem Verhalten. Karl Sigmund bezeichnet daher die „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Strategie als den Angelpunkt der Evolution, sie ist aber nicht deren Zielpunkt.103 „Kleine Kinder,“ schreibt der Psychologe William Damon, glauben an die Verpflichtung zum Teilen. Kinder finden dergleichen im gemeinsamen Spiel heraus. Sie lernen, dass sie Schwierigkeiten bekommen, wenn sie ungerecht handeln.104 Christentum und „Wie-du-mir-so-ich-dir“ Wie weit die Strategie „Wie-du-mir-so-ich-dir“ in das menschliche Verhalten hinein reicht, können wir daran ermessen, dass die menschliche Kultur diese Entscheidungsstrategie in einer ihrer größten und erfolgreichsten Religionen etabliert hat: Im alttestamentlichen „Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn“. Dies ist nichts anderes als „Wie-dumir-so-ich-dir“. Heute wird oft vergessen, dass dieses Gesetz ein Fortschritt gegenüber den sonst üblichen überharten Strafen war. Aus dem kulturellen Kontext dieser vorchristlichen Zeit heraus formuliert müsste es eigentlich heißen: „Nicht-mehr-als-einAuge-für-ein-Auge; Nicht-mehr-als-ein-Zahn-für-einen-Zahn“. Vielleicht gelang dieser Übergang durch die Umdeutung des Preises, den der Christ zahlte. Die Gemeinschaft der Christen konnte auf Blutrache verzichten, weil der Tod eine andere Bedeutung erlangte: Er war nun Eingang zu einem besseren, jenseitigem Leben und wenn er einen Christen gewaltsam ereilte, so ging dieser Mensch nicht nur dem Himmelreich entgegen, sondern er wurde darüber hinaus als Märtyrer von seiner Gemeinschaft verehrt und selig gesprochen. „Wie-du-mir-so-ich-dir“ wurde auf diese Weise bei Tötungsdelikten für einen Christen mindestens fragwürdig. Wir wissen aus den Computerturnieren von Robert Axelrod, dass noch kooperativere Strategien gegenüber der „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Strategie die Oberhand gewinnen, wenn die „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Spieler erst alle Betrüger aus dem Rennen geworfen haben. Und genau diesen Wandel spiegelt der Übergang vom Alten auf das Neue Testament wider. Als das mosaische „Auge-um-Auge“ gesellschaftlich etabliert war, konnte von Jesus Christus eine noch weitaus menschenfreundlichere Strategie propagiert werden: Wer dich auf die Wange schlägt, dem halte auch die andere hin. [...] Vielmehr liebet eure Feinde, tut Gutes und leihet, ohne etwas zurückzuerwarten, und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.105 Oder zusammengefasst in die wohl moralischste aller Aufforderungen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
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Sich um andere zu kümmern ist nur möglich, wenn wir uns zunächst um uns selbst sorgen. Es klingt paradox, aber Altruismus fängt immer mit der Verpflichtung sich selbst gegenüber an. Es ist zweifelhaft, ob ein Individuum, dass sich nie wehrt, überleben könnte. Doch je moralischer die Gesellschaft ist, desto kooperativer können wir uns verhalten. Die Evolution der Gesetze Es war schon dem Wirtschaftstheoretiker Adam Smith aufgefallen, dass das Wirken einer „unsichtbaren Hand“, die egoistischen Motive des freien Wettbewerbs in soziale Motive überführt. Wir kennen nun diese „unsichtbare Hand“. Das Gefangenen-Dilemma lässt sich unmittelbar auf Handel Treibende übertragen: Betrügt der eine, und der andere verhält sich fair, so ist der faire Handelspartner übervorteilt und der Betrüger macht einen unverhältnismäßigen Gewinn. Allerdings wird man mit ihm nicht noch einmal ein Geschäft machen wollen. Betrügen beide, wird es ein unerquickliches Geschäft, aber beide gehen auch nicht ganz leer aus. Ein fairer Handel aber wird bei längeren Geschäftsbeziehungen beiden Handelspartnern Gewinn bringen. Und wie bei dem Gefangenen-Dilemma sind alle sehr kooperativen Strategien potentiell durch die Strategie „Ich-betrüge-immer“ gefährdet. Um Betrüger in einer Gesellschaft zu eliminieren, wurden schon sehr früh Verhaltenskodizes entwickelt. Einen, im wahren Sinne des Wortes, „Meilenstein“ der zwischenmenschlichen Moral stellt der sogenannte „Kodex Hammurapi“ dar. In einen über zwei Meter hohen, grauen Gesteinsblock ließ der babylonische König Hammurapia vor 3 800 Jahren eine Sammlung von Gesetzen und Edikten einmeißeln. Der Stein stellt den ältesten vollständig überlieferten Gesetzeskodex der Menschheit dar. Im elften Jahrhundert bildete sich in Europa aufgrund von verbesserten Produktionsweisen in der Landwirtschaft eine neue Klasse von wohlhabenden professionellen Händlern heraus. Diese nutze den komparativen Kostenvorteil weitreichender Handelsbeziehungen. Dabei konnten sie sich nicht mehr auf die Gesetzgebung ihres eigenen Landes verlassen, denn der Arm des Gesetzes reichte nur bis an die Grenze des Heimatlandes. Um den Handel trotzdem lukrativ zu gestalten, mussten Regeln aufgestellt werden, an die sich länderübergreifend jeder hielt. Dies war die Geburtsstunde des „Lex mercatoria“. In diesem Regelwerk wurden gute Bräuche und praktikable Schlichtungsverfahren niedergelegt, und dabei immer weiter verfeinert. Diese Evolution der Umgangsformen entwickelte sich analog zur Theorie des Gefangenen-Dilemmas. Einige Schurken konnten potentiell einen größeren Gewinn machen und die fairen Geschäftsleute übervorteilen. Diese Strategie des „Ich-betrüge-immer“ wurde durch die aufgestellten Regeln unterbunden. Dadurch konnte man kooperative Handelsstrategien anwenden, die sich zum Wohle aller auswirkten. Es entstand ein durch und durch privates, freiwilliges und a
Hammurapi, auch „Hammurabi“ oder „Chammurapi“ genannt, regierte etwa von 1792 bis 1750 v. Chr. das Babylonische Reich. Er ließ die bedeutendste Rechtssammlung des Alten Orients zusammentragen und in Stein meißeln.
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informelles System von Handelsregeln. Bemerkenswert ist, dass sich die kooperativen Strategien auf den Märkten aus sich selbst heraus entwickelten. Unkooperative Strategien eliminieren sich also ganz von selbst, kooperative Strategien sind die von der Selektion bevorzugten. Wir können heute, im Zeitalter der Globalisierung, die Entstehung eines ähnlichen Regelwerkes beobachten, wie es das Lex mercatoria darstellte: Obwohl es noch keine Weltregierung gibt, gibt es bereits eine Welthandelsorganisation (WTO). Sie regelt für mittlerweile über 130 Staaten eine unübersehbare Fülle von Details des Welthandels, und sie hat ein gerichtsähnliches Streitbeilegungssystem etabliert, das von der Staatengemeinschaft rege genutzt wird. Wie sehr heute Kooperation als Maßstab der Ethik gilt, zeigt ein Kommentar von Adolf Arndt auf dem 47. Deutschen Juristentag: Das erste Gebot einer Ethik des Strafrechts besteht darin, dass keine Strafandrohung zulässig ist, die sich nicht in erkennbarer Weise auf die Sicherung des Überlebens bezieht: Auf das Fundamentale des biologischen Existierens, auf die dazu notwendigen handgreiflichen Rechtsgüter und den Ausschluss von Gewalt oder gewaltgleicher Hinterlist. Dieses fundamentale Gebot ist offensichtlich die Antithese zum „Fressen-oder-Gefressen-Werden“. Die Weltuntergangsmaschine-Theorie Diese von verschiedenen Wissenschaftlern untersuchte Theorie beleuchtet den Aspekt der Vergeltung im Gefangenen-Dilemma und macht deutlich, welche wichtigen Funktionen Gefühle wie Ehre oder Rache für eine Gesellschaft einnehmen. Sie basiert auf einer Geschichte aus dem Film von Stanley Kubrick „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben.“ In diesem Film hatte ein amerikanischer Offizier eine Atombombe Richtung UdSSR geschickt, die man weder zurückbeordern noch zerstören konnte, ehe sie ihr Ziel erreichen würde. Der amerikanische Präsident ruft bei seinem sowjetischen Kollegen an und versucht, diesem zu erklären, dass es sich nicht um einen amerikanischen Angriff, sondern um ein Verbrechen eines irren Offiziers der amerikanischen Armee handele. Der Botschafter der UdSSR eröffnet dem amerikanischen Präsidenten daraufhin, dass die Sowjetunion über eine Weltuntergangsmaschine verfüge, die, wenn die amerikanische Bombe einschlagen würde, den ganzen Erdball zerstören werde. Das entscheidende Merkmal der Weltuntergangsmaschine sei, dass es keine Möglichkeit gäbe, diese Maschine zu stoppen. Dr. Seltsam erklärt dem Präsidenten, warum dieser Aspekt der Unwiderruflichkeit einer Weltuntergangsmaschine unabdinglich ist: Abschreckung sei die Kunst, im Feind die Angst vor dem eigenen Angriff zu wecken. Die angedrohte Reaktion auf den Angriff, nämlich die Erde zu zerstören, wäre absolut abschreckend. Einen menschlichen Eingriff auszuschließen, macht diese Reaktion vollkommen glaubwürdig. Aber, so frug Dr. Seltsam den sowjetischen Botschafter verdutzt, warum habe die UdSSR die Existenz dieser Maschine nicht öffentlich gemacht? Eine Weltuntergangsmaschine verlöre völlig ihren Sinn, wenn sie geheimgehalten würde.
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„Warum haben Sie nicht die ganze Welt informiert?“ Nun, antwortete der Botschafter: „Es sollte auf dem Parteikongress am Montag verkündet werden. Wie Sie wissen, liebt der Premierminister Überraschungen.“ Die Weltuntergangsmaschine-Theorie ist eine Theorie über die Glaubwürdigkeit von Verhalten. Sie fußt darauf, dass die Reaktion unserer willentlichen Kontrolle entzogen ist. Denn, als der amerikanische Präsident anrief, wäre für seine Gegenseite die Frage der Glaubwürdigkeit nicht zu lösen gewesen. Was wäre, wenn der amerikanische Präsident nur Zeit gewinnen wollte, bis seine Atomraketen eingeschlagen wären und einen Gegenschlag unmöglich gemacht hätten? Dadurch, dass die UdSSR aber die Kontrolle über die Reaktion abgegeben hatten, wurden sie im Prinzip völlig glaubwürdig: Die Welt würde todsicher untergehen, wenn Amerika angreifen würde. Ein Abbild dieses Automatismus tragen wir in uns, wenn wir lügen oder in Rage sind. Da Glaubwürdigkeit in einem sozialen Verband die Voraussetzung für Kooperation und daher unabdingbar ist, sind wir von Natur aus schlechte Lügner. Unser Gegenüber kann in aller Regel von unserer Aufrichtigkeit ausgehen. Denn er kann, auch wenn wir es verbergen wollen, erkennen, ob wir lügen: Wir werden rot! Diese Reaktion ist unwillkürlich und daher nur sehr schwer für uns unter Kontrolle zu halten. Gute Lügner glauben tatsächlich irgendwie das, was sie sagen. In Cartoons und Filmen sind die Schurken schnurrbartzwirbelnde verkommene Kreaturen, die hämisch über ihre eigene Bosheit kichern. Im wirklichen Leben sind die Bösewichte von ihrer Rechtschaffenheit überzeugt.106 Vergeltung ist um so glaubwürdiger, je zwangsläufiger diese eintritt. Die Natur hat uns mit Emotionen wie Zorn und Wut ausgestattet, die leicht unsere Ratio überrumpeln und dann unkontrollierbar ablaufen können. Der Volksmund nennt das: „Außer-sich-vorZorn“ sein oder „Blind-vor-Wut“. In vielen Gesellschaften ist ein unbezähmbarer Rachedurst aber der einzige Schutz vor tödlichen Überfällen107, schreibt Steven Pinker dazu. Eine Weltuntergangsmaschine der besonderen Art stellen die Religionen dar. In ihnen existiert absolute unentrinnbare Vergeltung ruchloser Taten dadurch, dass eine allwissende und allmächtige Person uns selbst nach dem Tod noch entlarven, aburteilen und bestrafen kann. Eine Gesellschaft, in der die Vergeltung in letzter Instanz an einen Gott delegiert wird, ist absolut glaubwürdig in bezug auf ihr Rechtssystem. Und aus dieser Verlässlichkeit heraus kann sich in solchen Gesellschaften eine sehr hohe Form der Kooperation entwickeln. Moral und Konformität Die Evolution hat in uns die Voraussetzungen für Moral geschaffen. Ausformen können und müssen wir sie selbst. Verhalten ist eine Anpassung an die Umwelt und daher wurden grundsätzliche Verhaltensdispositionen genetisch kodiert. Lernen ermöglicht eine flexible Modifikation dieser Verhaltensweisen und das ist der Grund, warum sich Gehirne entwickelt haben. Unser Gehirn ermöglicht es uns, unser Verhalten immer wieder neu zu überdenken und zu modifizieren. 174
Dieser Lernprozess unterliegt der Evolution. Denn stets fällt der Umwelt die Rolle des Richters zu, über angemessenes Verhalten zu urteilen. Verhalten ist nicht beliebig, sondern ein langer, kollektiver Anpassungsprozess. Religion ist wahrscheinlich das klassischste und beharrlichste Moment der Konformität in einer Gesellschaft. Religionen sind ungeheuer erfolgreiche Meme. Von Generation zu Generation übertragen, konnten sich unsere Weltreligionen beharrlich selbst wider rationaler Erkenntnis erhalten. Die Erzählung über einen Mann, der über das Wasser gehen konnte, aus Wasser Wein machte und schließlich recht unrühmlich einen Verbrechertod starb, beeinflusst noch heute ungefähr eine Milliarden Menschen auf der ganzen Welt. Die christliche Religion bringt ganze Staaten dazu, sich konform einem Sittenkanon zu beugen, der vor zweitausend Jahren sicher revolutionär war und offensichtlich den Kern großer Fitness für eine Gesellschaft beinhaltete. Diese Religion hat sich als nahezu resistent erwiesen, wenn es darum ging, ihren Moralkodex an neu erworbene Erkenntnisse, insbesondere Erkenntnisse der Naturwissenschaften, anzupassen. Religionen vermögen wie nichts anderes, Menschen, auch gegen den Widerstand rationaler Argumente, für ein gemeinsames Ziel zu begeistern und sie in eine bestimmte Richtung zu lenken.
3.22 Der Dekalog [Die Biologie hat erkannt,] dass Selbsterkenntnis durch die emotionalen Steuerzentren im Hypothalamus und im Limbischen System des Gehirns beschränkt und geformt wird. Diese Zentren überschwemmen unser Bewusstsein mit all den Gefühlen - Hass, Liebe, Schuld, Angst und anderen -, auf die sich Moralphilosophen berufen, die die Standards von Gut und Böse erkennen wollen. Wodurch, sind wir sodann zu fragen gezwungen, entstanden denn der Hypothalamus und das Limbische System? Sie evolvierten durch natürliche Selektion. Dieser einfachen biologischen Behauptung muss nachgegangen werden, um Ethik und Moralphilosophen - wenn nicht gar Epistemologiea und Epistemologen in aller Gründlichkeit zu erklären. (Edward O. Wilsonb)
Es ist durchaus nicht trivial, zu fragen, warum wir uns mit der Frage unseres Seins, mit der Welt, mit Transzendenz und Gott beschäftigen. Wir wissen, dass unser Gehirn modular aufgebaut ist und Howard Gardner, Professor an der Cambridge University, USA, zieht daraus den Schluss, dass dann auch unsere Intelligenz modular sei. Er hält eine „existentielle Intelligenz“ als eine von neun Modulen für möglich. Die anderen Module der Intelligenz sind seiner Ansicht nach: (2) die sprachliche, (3) die logisch-mathematische, (4) die musikalische, (5) die räumliche, (6) die körperlich-kinästhetische, (7, 8) die inter- und intrapersonelle sowie die (9) naturalistische Intelligenz. a
Epistemologie ist die Erkenntnistheorie, also die Analyse dessen, was wir wissen. Der amerikanische Evolutionsbiologe Edward Osborne Wilson (*1929) gilt als der Begründer der Soziobiologie. b
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Das Modul: „existentielle Intelligenz“ befähigt uns, fundamentale Fragen über Existenz, Leben, Tod und Endlichkeit aufzuwerfen und zu durchdenken. Existentielle Intelligenz ist nicht nur philosophische Intellektualität, sondern sie ermöglicht, dass der Mensch religiöse Gefühle empfinden kann.108 Nach den Regeln der Evolution muss sich dieses Modul für einen bestimmten Zweck herausgebildet haben, der letztlich dem Überleben der Gene dient. Und dieser Zweck ist nicht schwer zu erraten: Die Regeln dieser Welt zu erkennen, ist der wichtigste Vorteil, den unsere Intelligenz uns verschafft. Steven Pinker behauptet, dass zumindest alle technischen Probleme, die unser Gehirn löst, an sich unlösbar seien. Das Problem des Sehens oder Hörens oder auch nur des Sich-Bewegens könnten wir nur lösen, weil wir bestimmte Gesetzmäßigkeiten unserer Umwelt voraussetzen: Jedes unserer mentalen Module löst sein unlösbares Problem, indem es in einem Akt des Glaubens auf die Funktionsweise unserer Welt vertraut. Es macht Annahmen, die unverzichtbar sind, aber nicht begründet werden können.109 Wir berechnen die Gravitation mit ein, wenn wir einen Fuß vor den anderen setzen. Wir merken, woher jemand zu uns spricht, weil wir intuitiv drei Raumdimensionen in unserer Welt voraussetzen. Wir erkennen, dass sich ein Schneeball auf uns zubewegt, weil unser Gehirn um die Gesetze der Ballistik weiß. Jede unserer rationalen Entscheidungen fußt auf der Erkenntnis von „Wahrheiten“ auf der Grundlage einer Realität und der daraus abgeleiteten Folgerungen: Wenn ich das Steuer meines Wagens nach links reiße, lande ich in der Leitplanke. Rechts würde ich in das neben mir fahrende Auto knallen. Bremse ich plötzlich, säße mein Hintermann auf meiner Stoßstange. Dies sind alles Folgerungen aus den Gesetzen der Bewegung und der Geometrie des Raumes. Erst die dem Kosmos zugrundeliegenden Gesetze zu begreifen, befähigt uns Menschen, uns gemäß den Regeln zu verhalten. Wenn wir die Regeln des Spiels kennen, wissen wir, wie wir es gewinnen können. Religion und moralisches Verhalten „Und wenn, in einem utopischen Enderfolg der Ursachenanalyse,“ schreibt Konrad Lorenz, „[...] ein Mensch zur völligen Einsicht in die Ursachenkette des Weltgeschehens, einschließlich der in seinem eigenen Organismus wirkenden, gelangt wäre, er würde nicht zu wollen aufhören, sondern er würde dasselbe wollen, was die widerspruchsfreie Gesetzlichkeit des Universums, die „Weltvernunft“ des Logos will. Dieser Gedanke ist nur unserem heutigen westlichen Denken fremd, der altindischen Philosophie und den Mystikern des Mittelalters war er durchaus vertraut.“
Wenn wir voraussetzen, unser Gehirn sei modular aufgebaut, gibt uns dies unmittelbaren Zugang zu dem Thema, das alle Weltreligionen vereint: Unser Seelenleben ist ein beständiger Kampf zwischen Gier und Gewissen, zwischen Gut und Böse. Der Mensch vereint in sich angeborene Motive, die zu „bösen“ Taten führen ebenso wie angeborene Motive, die diese Taten zu verhindern suchen. Der Mensch folgt nicht blind einem Trieb, sondern wägt beständig zwischen vielen verschiedenen Motiven ab. Wir besitzen einen starken Hang zu moralischem Verhalten, der sich in der Fähigkeit ausdrückt, ein 176
schlechtes Gewissen bei Verstößen gegen die subjektiv akzeptierten Moralnormen zu entwickeln. In seiner schönsten Form manifestiert sich unsere Veranlagung als Liebe zum Lebenspartner, zur Nachkommenschaft oder sogar zum Nächsten. Es herrsche, so George C. Williams, zunehmend Übereinstimmung darüber, dass die Sexualität als Nebenprodukt von Mechanismen zur Erhaltung des Informationsgehaltes der Gene entstanden sei.110 Sexuelle Vermehrung mischt die Gene der beiden beteiligten Eltern immer wieder aufs neue und Vielfältigkeit ist angesichts der Unwägbarkeiten des Lebens langfristig vorteilhaft. Ohne Zweifel ist die Liebe zum Partner und die Liebe zu den Kindern einer der Tricks, deren sich die Sexualität bedient, um Nachfahren zu schaffen oder ihnen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Die Evolution führte den Menschen zu ethischen Traditionen mit dem Zweck, den Zusammenhalt in Gruppen zu fördern und zu stabilisieren. Religionen festigen moralische Normen und helfen, sie zu überliefern. Die berühmteste Zusammenstellung religiös eingekleideter Verhaltensregeln des Abendlands ist der mosaische Dekalog. Er besteht aus einem Katalog von Memen, die in der Lage sind, eine Gesellschaft zu formen, genauso wie Gene die Strukturen unserer Körper hervorbringen. Seinen Charme bezieht der Dekalog daraus, dass er emphatisch nachvollziehbar ist. Denn wer von uns wäre nicht intuitiv gegen Mord, Raub, Untreue oder Verleumdung. Imperative wie der von dem großen abendländischen Philosophen Immanuel Kant: „Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.", richten sich direkt an die Vernunft und nicht an unser „Gerechtigkeitsgefühl“ und scheitern daran. Die tatsächliche Befolgung von an die Einsicht appellierenden Regeln hält sich meist in engen Grenzen. Emphatie ist ein wesentlicher Punkt, wenn wir die Einhaltung von Regeln fordern. Wir besitzen eine Veranlagung, eine gefühlsmäßige Grundstimmung, uns im Sinne des Dekalogs „gesetzestreu“ zu verhalten. Und der Dekalog ist kurz. Er ist für jeden überschaubar, eine Eigenschaft, die jeder zu schätzen weiß, der sich einmal mit der deutschen Steuergesetzgebung auseinandersetzen musste. Hier ist eine Auflistung der Gebote, übersetzt ins Hochdeutsche. Lucas Cranach der Ältere 1516 hat sie so auf seiner Zehn-Gebote-Tafel für das Rathaus zu Wittenberg aufgeschrieben. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Du sollst keinen Fremden Gott anbeten Du sollst Gottes Namen nicht unnütz in deinen Mund nehmen Du sollst den Feiertag heiligen Du sollst Vater und Mutter ehren Du sollst niemanden töten Du sollst nicht unkeusch sein Du sollst nicht stehlen Du sollst kein falsches Zeugnis geben Du sollst keines anderen Gut begehren Du sollst keines anderen Gemahl begehren111 177
In der Bibel selbst sind die Gebote nicht so knapp gehalten und durchnummeriert. Dafür stehen sie mehr oder weniger ähnlich formuliert an mindestens zwei verschiedenen Stellen im Pentateuch des Moses: Im Buch Exodus und im Buch Deuteronomium. Ich werde ausführlich auf diese mosaischen Gesetze eingehen, um an ihnen exemplarisch zu zeigen, wie Religionen von der Evolution vorformulierte Verhaltensweisen in moralische Richtlinien überführen. Der Dekalog ist übrigens kein Unikat der jüdischen Religion. Regelwerke mit sehr ähnlichen Gesetzen finden sich in vielen Religionen. Schon im Neuen Reich Ägyptensa wurde den Verstorbenen ein Totenbuch mit Unschuldsbeteuerungen ins Grab gelegt, um vor dem Richterstuhl des Osiris bestehen zu können: • • • • • • •
Ich habe nichts Unrechtes getan, ich habe nicht geraubt, ich bin nicht habgierig gewesen, ich habe nicht gestohlen, ich habe nicht Menschen getötet, ich habe das Kornmaß nicht verringert, ich habe nicht Lüge geredet.112
Ich glaube nicht daran, dass diese 10 Gebote von einem Gott dem Israeliten Moses auf Steintafeln eingemeißelt auf dem Berg Sinai übergeben wurden. Also muss ich die Frage stellen, wer oder was diese Regeln hervorgebracht hat und welchem Zwecke sie dienten. Der Dekalog steht nicht für Eigennutz. Er regelte das soziale Zusammenleben der Israeliten. Der Dekalog hatte die Aufgabe, das israelitische Volk fitter zu machen, damit dieses im Konkurrenzkampf mit anderen Völkern bestehen konnte. Eine funktionierende Sozialform kann nicht gänzlich gegen die Natur des Menschen ausgerichtet sein. Andernfalls wäre der Druck, die Regeln durchzusetzen, enorm hoch. Wir können also erwarten, dass das natürliche menschliche Verhalten im Dekalog seine Entsprechung als moralische Norm gefunden hat. Im Folgenden habe ich neben den Wortlaut des Gebotes den Kommentar von Martin Luther beigefügt, der das Gebot aus der christlichen Sicht erläutert. Das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter haben als mich. (Exodus 20,3) Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. (Martin Luther)
Wir finden hier eine der sechs Schlüsselfaktoren sozialer Einflussnahme wieder, die Robert B. Cialdini zusammengefasst hat: „Wir orientieren uns in der Regel an Autoritäten, wie zum Beispiel den Papst.“113 Das Gebot Eins der mosaischen Gesetze installiert eine
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Das sogenannte „Neue Reich“ währte vom 16. bis zum 12. Jahrhundert vor Christus.
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Instanz, die dafür sorgen soll, dass der Dekalog eingehalten wird. Wie aus dem Gefangenen-Dilemma hervorgeht, entwickelt sich kooperatives Verhalten nur, wenn eine Instanz in der Lage ist, Betrüger zu bestrafen. Die Weltuntergangsmaschine zeigte, dass es überaus wirkungsvoll ist, die Bestrafung unabhängig von menschlichen Entscheidungen zu machen. In einem Wald muss jede Pflanze um Boden und Licht konkurrieren. Eine hoch aufschießende Pflanze ist also in aller Regel im Vorteil, denn sie kann das Licht über den anderen Pflanzen abfangen. Dicke hohe Stämme aber kosten eine Pflanze viele Ressourcen, die sich jeder vernünftige Baum gern sparen würde. Leider fehlt aber eine Abmachung, die die Wuchshöhe im Wald für jeden beschränken würde. Ein Abkommen kommt aus dem Grunde nicht in Frage, weil es sozusagen keine Biber gibt, die sofort einschreiten und den Gesetzesbrecher umlegen würden. Jeder Betrüger, der die Abmachung bricht, wäre erfolgreich. Und so muss jeder Baum so hoch wachsen, wie er nur eben kann. Wir Menschen sind nicht unbedingt besser als ein Spitz, der trotz eines Verbots an ein Stück Fleisch geht, sobald Herrchen den Raum verlassen hat. „Gelegenheit macht Diebe“, steuert der Volksmund dazu bei. Wir sind zwar in der Lage, moralisches Verhalten zu verinnerlichen, aber wir sind genauso in der Lage, uns darüber hinwegzusetzen, wenn es für uns nicht nachteilig ist. Ein Gott als über Allem stehende Person, den man verehrt und dem man Respekt entgegenbringt, eignet sich in hervorragender Weise als Instanz, den Dekalog im wahrsten Sinne des Wortes „glaubhaft“ durchzusetzen. Die Person Gottes hat die Wirkung einer Weltuntergangsmaschine, sie ist nicht zu bestechen, zu bedrohen, zu betrügen oder umzustimmen und gleichzeitig absolut vertrauenswürdig. Daneben regelt dieses Gebot die Eindeutigkeit: Es beugt vor, dass eine andere Gottheit andere Normen erlässt. Dies ist der größte Vorteil einer monotheistischen Religion: Wenn nur einer zu bestimmen hat, gibt es keine Unstimmigkeiten. Jeder hat sich nach dem Willen desselben einen Gottes zu verhalten. Monotheismus vereinheitlicht die Gesetzeslage, an die sich das Volk zu halten hat. Das zweite Gebot: Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes nicht zu Frevlem missbrauchen; denn Jahwe lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen zu Frevlem missbraucht. (Deuteronomium 5,11) Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir bei seinem Namen nicht fluchen, schwören, zaubern, lügen oder trügen, sondern ihn in allen Nöten anrufen, beten, loben und danken. (Martin Luther)
Götter machen sich in aller Regel rar. Sie vermitteln sich nur über ausgewählte Personen, meistens über die Priesterschaft einer Religionsgemeinschaft. Im Falle des Dekalogs war die ausgewählte Person Moses, der als einziger mit Gott Zwiesprache gehalten hatte. Das gemeine Volk kann nicht überprüfen, ob ein Gebot von Gott selbst kommt oder vom Priester ausgedacht wurde. Da liegt Missbrauch nah.
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Einer beliebigen Inanspruchnahme Gottes durch andere Personen musste ein Riegel vorgeschoben werden. Niemand sollte etwas im Namen Gottes verkünden oder auch nur mit ihm drohen, und doch nur seinen eigenen Vorteil suchen. Das zweite Gebot begründet die Konformität der Gesetze, ergänzt das erste Gebot und rundet die Autorität Jahwes ab. Das dritte Gebot: Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. (Exodus 20,8); Oder an anderer Stelle: „Sechs Tage magst du deine Arbeit verrichten, am siebten Tag aber sollst du feiern, damit auch dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Magd und der Fremde aufatmen.“ (Exodus 23,12) Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern es heilig halten, gerne hören und lernen. (Martin Luther)
Vorbereitet und motiviert wird dieses Gebot schon in der Schöpfungsgeschichte mit einem der denkbar großartigsten Beispiele: Gott vollendete am siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte, und ruhte aus am siebten Tag von seinem ganzen Werk, das er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn, denn an ihm ruhte er von seinem ganzen Schöpfungswerk.114 Wir haben ein sehr emphatisches Verhältnis zu diesem Gebot. In meiner Schulzeit galten „Streber“ als ärgerliche bis lächerliche Figuren. Aber das hing weniger mit den guten Noten zusammen: Ein Überflieger wurde respektiert, der Strebsame, der möglicherweise sogar am Sonntag büffelte, gehänselt. Neben dem lieben Gott benötigt auch sein nach ihm geschaffenes Ebenbild zwingend Ruhephasen, um seine Gesundheit und Arbeitskraft zu erhalten. Ruhe versus Aktivität ist ein entscheidendes, genau definiertes Verhaltensmerkmal eines Organismus,115 erklärte der Genetiker Jeff Hall. Ein böses Beispiel der Nichtbefolgung dieses Gebots kommt aus Japan: Dort ist Karoshi, der plötzliche Tod am Arbeitsplatz, bedingt durch Überarbeitung als Berufskrankheit eingestuft. In unserer modernen Gesellschaft wird nicht nur der regelmäßige freie Tag (oder deren zwei) pro Woche als Notwendigkeit empfunden, sondern sogar eine längere zusammenhängende Zeit, in der der Mensch seine Schaffenskraft regenerieren kann: Ferien. Auch in einer ökonomischen Konkurrenzsituation darf die eigene und die Arbeitskraft der Weisungsempfänger nicht bis zur Selbstzerstörung ausgebeutet werden. [...] damit auch dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Magd und der Fremde aufatmen.116 Ein solches ökonomisches Verhalten wäre vergleichbar mit einem Beschädigungskampf. Langfristig wäre dies ökonomisch sinnlos und würde auf die Dauer die Gemeinschaft schwächen. Für einen ökonomischen Kommentkampf aber müssen Regeln existieren, die unverhältnismäßigen Verschleiß verhindern. Es lassen sich noch eine Reihe anderer psychologischer und physiologischer Belege dafür finden, wie klug dieses Gebot ist. Immerhin sind Feiertage Inventar jeder institutionalisierten Religion. Unter anderem intensiviert es die Bindung an Gott und verstärkt damit die ersten beiden Gebote.
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Das vierte Gebot: Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Lande, das Jahwe, dein Gott dir geben wird.“ (Exodus 20.12) Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben. (Martin Luther)
Es ist die erfahrene Leitkuh, die eine Elefantenherde führt und sie sicher durch viele Gefahren bringt. Sie weiß besser als eine jüngere Anführerin, Freund und Feind zu unterscheiden, und so wird weniger häufig Alarm gegeben. Dies wirkt sich positiv auf den Bestand der Gruppe aus: Der Fortpflanzungserfolg einer Herde mit einer erfahrenen alten Leitkuh ist größer als der einer Herde mit unerfahrener Führerin.117 In der menschlichen Gesellschaft spielen Erfahrungen und deren Vermittlung eine weit größere Rolle als das im Tierreich der Fall ist. In einer so stark auf den Erhalt von Wissen ausgerichteten Sozialform, wie wir Menschen sie pflegen, ist es klug, konformes Verhalten durch Regeln zu verstärken. Die Begabung zum konformen Verhalten ist eine der wichtigsten Fähigkeiten von uns Menschen, um unsere „Meme“ zu erhalten und diese vor zu schneller und beliebiger Wandlung zu schützen. Die wichtigsten Träger und Mittler der durch die Konformität erhaltenden Informationen sind zweifellos die Eltern. Andererseits gibt es eine gegenläufige Tendenz im Verhalten von Kindern. Jedes Kind muss sich früher oder später von seinen Eltern emanzipieren und damit Konformität ablehnen. Wenn eine Gesellschaft sowohl für neue Erfahrungen zugänglich sein und ihre Traditionen bewahren will, bietet sich eine Arbeitsteilung zwischen den Generationen an: Die älteren in der Gemeinschaft sind für die Erhaltung von Erfahrungen und Traditionen zuständig und für die Überführung von Wissen in Weisheit, die Jungen für das Sammeln neuer Erfahrungen. Den Wert der Erfahrung schätzen bereits unsere Verwandten im Tierreich, zum Beispiel die Paviane an ihren ansonsten aus der Rangordnung ausgeschiedenen und fast zahnlos gewordenen alten Männchen: Wenn etwas Beunruhigendes und Unvorhergesehenes eintritt, etwa wenn bei einer Überschwemmung alle gewohnten Wege versperrt sind, setzen sich die Führer der Rotte einfach hin, stellen also gewissermaßen ihr Amt zur Verfügung. Dann übernimmt einer der alten Affen wie selbstverständlich die Führerschaft, bis die unerwarteten Schwierigkeiten bewältigt sind.118 Bei vielen Hirschartigen wird das Rudel von einer uralten Dame angeführt, die längst nicht mehr durch Mutterpflichten von dieser Führungsaufgabe abgelenkt ist.119 Je höher aber eine Gesellschaft entwickelt ist, desto wichtiger wird es, auf die Erfahrungen und Informationen ihrer älteren Mitglieder zurückgreifen zu können. Bemerkenswert an diesem Gebot des Dekalogs ist die Begründung: Ehre sie aus dem egoistischen Grunde, damit du selbst alt wirst. Zunächst verblüfft dies, wird doch kein Hinweis gegeben, warum es nun mein Leben verlängern sollte, wenn ich meine Eltern ehre, die mir vielleicht zur Last fallen und unnötige Kostgänger geworden sind. Es ist sozusagen ein Generationenvertrag. Wieder steckt „Wie-du-mir-so-ich-dir“ dahinter: Ehre ich meine Eltern, werden mich meine Kinder mit einer größeren Wahrscheinlichkeit auch ehren, als wenn ich ihnen ein anderes Vorbild gegeben hätte. 181
Das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten (Exodus 20,13) Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten. (Martin Luther)
Das fünfte Gebot ist in unserer Gesellschaft eines der stärksten Gebote. Dies lässt sich am Strafmaß ablesen, das bei Tötungsdelikten zugemessen wird. Selbst im sonst so fortschrittlichen Amerika steht darauf heute noch die Todesstrafe. Es ist zu erwarten, dass die Tötungshemmung, die dieses Gebot stärken soll, beim Menschen bereits genetisch veranlagt ist. Sie ist so allgemein im Tierreich anzutreffen, dass es verwundern müsste, wenn sie bei der Menschwerdung beseitigt worden wäre. Dort, wo große Raubtiere die Fähigkeit besitzen, große Tiere zu reißen, und wo diese in dauerhaften Sozialverbänden leben, dort hat sich auch die verlässlichste und dauernd wirksame Tötungshemmung entwickelt. Sie ist völlig selbständig und von den wechselnden Stimmungen des Einzeltieres unabhängig. So kommt nach Konrad Lorenz das eigenartig ergreifende Paradoxon zustande, dass die blutigsten Raubtiere, vor allem der Wolf, den Dante die „bestia senza pace“ nennt, zu den Lebewesen mit den verlässlichsten Tötungshemmungen gehört, die es auf dieser Welt gibt.120 Die Tötungshemmung bezieht sich zunächst auf Artgenossen des Sozialverbandes. Weniger stark fallen darunter Menschen aus anderen Sozialverbänden. Auf NichtArtgenossen, also auf Tiere bezieht sich das Tötungsverbot nur sehr bedingt: Je fremder uns das Tier ist, je verschiedener es von uns ist, desto geringer ist die Hemmung, es zu töten. Delfine und Affen fallen eher unter die Tötungshemmung, weil sie uns in ihrer Intelligenz am nächsten stehen. Aber es hat wohl nur selten jemand ernsthaft sein Gewissen erforscht und gefunden, dass er eine Mücke nicht hätte umbringen dürfen. Es gibt eine ganze Anzahl von verschiedenen innerartlichen Mordvarianten, je nachdem, welchen „Sozialkumpanen“, so nennt sie Konrad Lorenz, man des Lebens beraubt: Kindstötung, Geschwistertötung, Altentötung, Geschlechtspartnertötung, Rivalentötung, Fremdentötung und schließlich auch die Selbsttötung. Und da wir Mord als eines der grässlichsten Verbrechen empfinden, lohnt es sich, die verschiedenen Motive der Natur zu untersuchen, die zur Tötung des jeweiligen Sozialpartners führen können und die es verhindern. Selbstmord Einer der stärksten Antriebe in der Natur ist zweifellos der Selbsterhaltungstrieb. Auf der anderen Seite ist die Evolution nicht daran interessiert gewesen, dass ein höher entwickeltes Individuum sehr lange existiert - der Tod ist uns genetisch einprogrammiert. Auch wenn der Selbstmord im Dekalog nicht explizit gemeint ist, unterliegt er einem starken moralischen Verbot. Zumindest die katholische Kirche meint, dass Gott Selbstmördern den Zutritt zum Himmelreich verweigert. Ob es bei Tieren einen Selbstmord aus Verzweiflung oder Trauer gibt, soll hier nicht weiter ausgeführt werden.
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Doch kennt man durchaus Geschichten von Hunden, die aus Trauer um den Tod ihres Herrchens über längere Zeit die Nahrung verweigerten und vielleicht sogar daran starben. Selbstmord wurde und wird nicht unter allen Umständen als verwerflich angesehen, genauso, wie es immer Gelegenheiten zum „moralisch gutgeheißenen“ Mord gibt. Ein generelles Verbot für Selbstmord erhöht aber die Schwelle für potentielle Selbstmörder und dämmt Ausnahmen ein. Es bewahrt so die Gesellschaft vor dem Verlust von zu vielen wichtigen Mitgliedern. In jeder Gesellschaft gibt es Versuchungen, Individuen zugunsten der Gemeinschaft zu opfern, sei es, um Ziele wie den Gewinn eines Krieges durchzusetzen, sei es, um einer Ressourcenknappheit zu entgehen. Mit dem Selbstmord umgeht die Gemeinschaft dabei das Problem, die Tötungshemmung aktiv überwinden zu müssen. Sie muss keinen Henker benennen und braucht sich nicht schuldig an dem Tod des Gruppenmitglieds zu fühlen. Die wohl grausigsten Beispiele für kulturell verordneten Selbstmord finden wir in Japan. Unter gewissen Umständen wurde von einem ehrenhaften Samurai der Selbstmord durch Bauchaufschlitzen eingefordert, einer besonders bestialischen Art der Selbsttötung. Andernfalls wurde er und seine Familie auf die widerwärtigste Art und Weise vom Fürsten umgebracht. Diese dahinterstehende Drohung wog so schwer, dass bei vielen Gelegenheiten die individuelle Hemmung vor der Selbsttötung tatsächlich fiel. Die bekanntesten Selbstmörder sind wohl die Kamikaze-Flieger, die zum Ende des zweiten Weltkriegs das Kriegsglück noch wenden sollten. Beide Beispiele zeigen, dass es sich hier nicht eigentlich um die autarke Entscheidung eines Menschen handelt, sondern dass sich der Mensch den gesellschaftlichen Verpflichtungen unterwirft. Dies trifft auch auf die Art von Selbstmord zu, der aus Mangel an Ressourcen begangen wird. Der russische Revolutionär Pjotr Kropotkin schreibt, wie ein alter Bauer sich sein eigenes Grab aushebt und sich von den Seinen verabschiedet mit den Worten: Ich lebe anderen das Leben weg: Es ist Zeit zu gehen.121 Das Verbot der Selbsttötung nimmt der Gesellschaft die Möglichkeit, allzu leichtfertig Mitglieder in den Tod zu treiben. Und sie nimmt dem Individuum die Möglichkeit, allzu leicht aus dem Leben zu scheiden. Es reduziert die Gefahr für die soziale Gruppe, wichtige Mitglieder durch deren Selbsttötung zu verlieren, weil diese sich in einer emotionalen Ausnahmesituation wie Verzweiflung oder starker Trauer befinden. Die Debatte um die Sterbehilfe zeigt, dass durch den medizinischen Fortschritt das Thema eher noch aktueller geworden ist. Kindstötung Da sprach Gott zu Abraham: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebhast, den Isaac, und gehe in das Land Morija und bringe ihn dort auf einem Berge, den ich dir sagen werde, als Brandopfer dar. (Genesis 22,2)
Es ist keine unberechtigte Frage, warum Abraham überhaupt glauben konnte, die Aufforderung, seinen Sohn zu töten käme von Gott? Hinter einer solchen Forderung
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würden wir eher einen tyrannischen Drachen vermuten. Die Forderung nach einem Menschenopfer, und schlimmer, nach einem Kind als Opfer kollidiert mit unserer katholischen Überzeugung von einem gnädigen Gott. Im Tier- und Pflanzenreich finden wir durchgehend, dass jede Generation mehr Nachkommen hervorbringt, als letztlich überleben können. Bei den Karpfen mit seinen Millionen von Eiern, kann nicht mal eine Generation lang aller Nachwuchs überleben, ohne dass die Fische an die Grenzen ihrer Ressourcen stoßen würden. Die meiste Brut verschwindet daher schnell wieder, wird durch Fressfeinde, Unglücksfälle und Krankheiten dahingerafft. Aber auch darüber hinaus verschwinden weitere, da das Nahrungsangebot begrenzt ist. Sie verhungern allerdings nicht, sondern werden von Artgenossen auf den Speiseplan gesetzt. Denn vom Hunger wären alle betroffen und es würde für keinen zum Leben reichen, da die heranwachsenden Fische mit der Zeit immer mehr Nahrung beanspruchen würden. Es ist ein aus der Sicht der Evolution durchaus sinnvolles Verhalten: Statt den Hunger zu teilen, ermöglichen die überzähligen Individuen einer dann sogar größeren Anzahl an Individuen das Überleben, indem sie zu Opfern ihrer Artgenossen werden und damit das Nahrungsangebot ausweiten. Die Biologin Sarah B. Hrdy war eine der ersten, die in der Mitte der 70er Jahre Kindstötung unter Primaten in das Bewusstsein der Wissenschaftler und der interessierten Öffentlichkeit brachte und sie erntete damit zunächst empörte Ungläubigkeit. Heute kennt man Kindstötungen bei vielen Tierarten. Und von der sozialen Gruppe akzeptierte Kindstötungen gab es auch unter Menschen und gibt es wohl hier und da noch. Offensichtlich behinderte Kinder wurden in vielen Kulturen gleich nach der Geburt getötet. Als weiterer Grund kann der Mangel an Ressourcen gelten: Bei den Buschleuten der Kalahari, bei denen ein Kind sehr lange auf die Milch der Mutter angewiesen ist, kann es passieren, dass zu früh ein weiteres Kind von der Frau geboren wird. In diesem Falle kann die Mutter zusehen, wie beide Kinder verhungern oder sie kann eines der beiden umbringen. Bei den auf sehr beschränkte Ressourcen angewiesenen Eskimos werden viele Mädchen gleich nach der Geburt getötet. Denn die Bevölkerungszahl hängt letztlich nur von der Anzahl der Frauen ab. Theoretisch reicht ein Mann aus, um alle Frauen eines nicht zu großen Stammes regelmäßig zu schwängern. Es würde also im Hinblick auf die Bevölkerungszahl nichts nützen, männliche Kinder zu töten. Dies ist die dahinter steckende biologische Begründung. Kulturell wird diese Auswahl dadurch abgesichert, dass Mädchen die Familie unzumutbar belasten: Man muss für sie Mitgift aufbringen und sie machen keine Jagdbeute.122 Hinter Kindstötungen stehen also - bis auf pathologische Ausnahmen - meistens eine Selektion, die schwacher, kranker oder behinderter Kinder trifft, oder aber ein Ressourcenmangel. Laut Statistiken sind Frauen in den Industrieländern, die ihre Kinder umkommen lassen, überwiegend jung, arm und unverheiratet. Und so ist einer der wichtigsten Wege, diesem hässlichsten aller Verbrechen zu begegnen eine angemessene Geburtenkontrolle. Es ist eher das Verhalten des Papstes als moralisch höchst verwerflich anzusehen, dass er Empfängnisverhütung als schwere Sünde geißelt.
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Geschwistermord Indessen sprach Kain zu seinem Bruder Abel: „Lasst uns aufs Feld gehen!“ Als sie aber auf dem Feld waren, erhob sich Kain wider seinem Bruder Abel und schlug ihn tot. (Genesis 4,9).
Daraufhin verflucht Gott Jahwe Kain. Dies ist eine der erschütterndsten Geschichten in den mosaischen Büchern. Der Konflikt zeigt mit großer Klarheit, welcher Widerstreit in der Evolution sichtbar wird. Adler legen gewöhnlich mit einigen Tagen Abstand zwei Eier, aus denen in demselben zeitlichen Abstand die Küken schlüpfen. Bald danach bricht zwischen den beiden Küken ein tödlicher Streit aus, der sogenannte Kain-und-Abel-Kampf. Leslie Brown, einer der profiliertesten Adlerkenner berichtet darüber: Der Kampf kann vom älteren oder vom jüngeren Küken ausgehen, wird aber regelmäßig vom älteren gewonnen, gleichgültig, ob es ein männliches oder weibliches Tier ist. Der Angreifer nimmt die Drohhaltung ein, die der Erwachsene Feinden gegenüber zeigt: den Kopf hoch aufgereckt, die Flügel halb ausgebreitet, auf den Tarsen hockend. Dann beginnen die Geschwister aufeinander einzuhacken, meist auf den Rücken. Eins verfolgt das andere stundenlang Runde für Runde im Nest, das stärkere setzt sich auf das schwächere, und hat dieses erst einmal eine Wunde, dann wird sie immer weiter aufgerissen. Der „Kampf“ geht weiter, auch wenn einer aufgibt und zu entkommen trachtet. Beide kreischen laut dabei, aber nie greifen die Eltern ein, selbst wenn sie daneben sitzen. Es kann ein bis zwei Tage dauern, dann ist das jüngere Tier tot.123 Der Grund für dieses Verhalten ist einfach zu verstehen: Mehr als ein Küken können die Eltern nicht aufziehen, weil die Brutpflege sie sonst überfordern würde. Also greifen sie nicht ein. Andererseits ist es vernünftig, falls aus dem ersten Ei kein Küken schlüpft oder dieses krank ist, dass ein weiteres Küken dessen Stelle einnimmt. Dass in der Regel das ältere gewinnt, ist ein zusätzlicher Vorteil, da die Eltern in dieses Küken mehr Brutpflege investiert haben. Hier wird auf brutale Weise deutlich, dass das ältere Geschwister der größte aller möglichen Konkurrenten ist. Bei Menschen ist das nicht anders: Kinder konkurrieren zunächst und vor allem mit ihren Geschwistern um die Gunst und die Ressourcen der Mutter. Zum Glück gibt es in der Evolution andere, dem Geschwistermord entgegen wirkende Strategien. Je höher ein Organismus entwickelt ist, desto aufwendiger wird die Brutpflege für die Eltern. Dann wird irgendwann der Aufwand zu groß, nur aus Gründen der Redundanz mehr Nachwuchs in die Welt zu setzen, als man aufziehen kann. Die Evolution hat starke Hemmungen bei allen höheren Tieren ausgebildet, die verhindern, dass sich Geschwister allzu leicht gegenseitig aus dem Weg räumen. Es ist im Sinne der „egoistischen Gene“ sinnvoll, kooperative Bande zwischen Geschwistern zu etablieren. Denn sie tragen annähernd identische Gene. Wir finden im Tierreich gegenseitige Hilfe um so eher, je mehr sich die Gene der Individuen gleichen, je enger also die verwandtschaftliche Bande ist. Ich erhöhe meine Chancen, einen Großteil meiner Gene zu vererben, wenn ich meinem Mitgeschwister helfe. Auf die Spitze 185
getrieben wird dieses Verhalten bei Staaten bildenden Insekten, in denen sich nur die Königin fortpflanzt. Die Arbeiterinnen helfen selbstlos, weil ein Großteil ihrer Gene durch die Königin weitergegeben wird. Geschwisterliebe triumphiert als Strategie der Evolution über den Eigennutz. Die Geschichte von Kain und Abel, als abschreckendes Beispiel berichtet, unterstützt diese Strategie der Gene. Jeder von uns lebt in einem sozialen Verband und diese Verbände konkurrieren untereinander. Allerdings konkurrieren wir heute in der Regel nicht mehr so handgreiflich wie vor dreitausend Jahren. Als Kain Abel erschlug, schwächte er damit die Kampfkraft des eigenen Stamms. Außerdem ist eine Gruppe, wenn sie kooperiert und gut organisiert ist, um so schlagkräftiger und damit im Vorteil. Im Neuen Testament, das ja in gewisser Weise den Übergang von der Strategie „Wie-du-mir-so-ich-dir“ zu einer noch kooperativeren Lebensführung darstellt, wird dieses Gebot verstärkt Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: „Du sollst nicht töten“ [...] Ich aber sage euch: Jeder der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. Und wer sagt: „Du Narr!“, der soll der Feuerhölle verfallen sein. Wenn Du nun deine Gaben zum Altar bringst und du dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh erst hin und versöhne dich mit deinem Bruder. Dann komme und bringe deine Gaben dar.124 Weibchentötung, Männchentötung Die Zahl der Nachkommenschaft in einer Gruppe hängt, wenn sie nicht durch äußere Bedingungen eingeschränkt ist, lediglich von der Anzahl der weiblichen Mitglieder der Gruppe ab. Daher sind von allen Sozialpartnern die Weibchen am wirkungsvollsten gegen die Tötung durch Artgenossen geschützt. Wie unwichtig Männchen im Vergleich zu Weibchen für die Arterhaltung sind, zeigen Beispiele aus dem Insektenreich: Bei Fangheuschrecken und einigen Arten von Spinnen werden Männchen nach oder auch schon während der Begattung Beute für die Weibchen. Umgekehrt gibt es solch ein Verhalten im Tierreich nicht. Die Wertschätzung der Frauen macht sich sprichwörtlich bemerkbar, wenn ein Schiff sinkt und nur beschränkte Möglichkeiten der Rettung existieren; es heißt: „Frauen und Kinder zuerst.“ Kriege als meistens exklusive Aufgabe der Männer, spiegeln dies im besonderen Maße wider: Auch wenn nur ein paar Männer vom Krieg zurückkehren, so schmälert dies nicht die potentielle Menge der Nachkommenschaft des sozialen Verbandes. Der Verlust an Frauen mindert dagegen die Reproduktionsfähigkeit einer sozialen Einheit. Männern fiel das Kriegshandwerk zu, nicht nur, weil sie körperlich stärker sind, sondern weil sie entbehrlicher waren als die Frauen. Keine Horde, kein Stamm und kein Reich hätte überleben können, wenn es seine Frauen im Krieg verheizt hätte, während sich die Männer zu Hause um die wenigen verbliebenen Frauen gestritten hätten. Denn nach jedem Kriegszug wäre die Fähigkeit zur Reproduktion der Bevölkerung weiter zurückgegangen, wären weniger Nachkommen zu erwarten gewesen. Wenn dagegen Männer im Krieg fielen, reduzierte sich die Reproduktionsfähigkeit der Bevölkerung kaum: Früher oder später hätten diejenigen sozialen Verbände, 186
die Frauen schützten und den Männern das Kriegshandwerk überließen, die Amazonenstämme einfach auf Grund ihrer größeren Kopfzahl ausgelöscht. Wohlgemerkt, an dieser Stelle wird nicht darauf eingegangen, ob nicht auch der Krieg selbst entbehrlich ist. Frauen sind in jedem sozialen Verband die wertvollsten Individuen, solange es nicht um Bevölkerungskontrolle geht. Denn dann werden die weiblichen Mitglieder der sozialen Gruppe verstärkt zu Opfern. Wir finden dies in Indien mit seinem erheblichen Bevölkerungsdruck. Dort werden Witwen verbrannt, und dort werden vor allem weibliche Föten abgetrieben. Dort, wo Frauen etwas Wertvolles sind, müssen die Männer oft einen Brautpreis entrichten. In Indien, wo die Gesellschaft durch noch mehr Menschen vor allem belastet wird, müssen dagegen die Frauen eine Mitgift mitbringen, um geheiratet zu werden. Mitgift zahlen zu müssen macht Töchter unattraktiver für die Eltern als Söhne und damit verstärkt zu Opfern selektiver Abtreibung. Fremdtötung Das Gebot: „Du sollst nicht töten“ zielte im wesentlichen auf die Mitmenschen, auf die Angehörigen der eigenen Gruppe. Es ist sicher nie jemandem leicht gefallen, einen Mitmenschen zu töten. Die Tötungshemmung nimmt ab, je weiter entfernt das Opfer von der Bekanntheit her ist. Machen Sie in Gedanken ein Experiment und stellen Sie sich der Reihe nach vor: Sie rupfen einen Salatkopf aus, sie schlagen eine Mücke tot, überfahren einen Frosch, schlachten ein Meerschwein, ertränken eine Katze, erschlagen einen Hund und schließlich töten sie in Gedanken einen Schimpansen. Sie werden bemerken, dass Ihnen das Töten mit der Organisationshöhe des Lebewesens immer schwerer fallen würde. Mit Artgenossen verhält es sich ganz ähnlich: Je weiter sie uns entfernt sind, desto schwächer wird die Hemmung, sie zu töten. Die Stimmung kann sogar gänzlich in Hass gegen Fremde umschlagen, oder in so große Geringschätzigkeit, dass man ihnen die Menschenrechte abspricht. Diese Demütigung traf zum Beispiel die Eingeborenen Afrikas während, und wohl auch noch nach der Sklavenzeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich meine Gene in den Genen der eigenen Gruppe wiederfinden ist groß. Die Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung nimmt ab, um so entfernter mir die Menschen sind. Von den staatenbildenden Insekten ist seit langem bekannt, dass sie, oft nach Tausenden bis Millionen zählend, im Grunde eine Familie sind, deren gemeinsame Mutter eine Königin ist. Dringt ein Individuum derselben Art in einen fremden Verband ein, so wird es dort sofort gnadenlos eliminiert, während es untereinander in der Gemeinschaft nur sehr selten zu Mord und Totschlag kommt. In einer Rattensippe legen Mütter ihre verschiedenen Kinderscharen in dasselbe Nest. Friedfertigkeit, ja sogar Zärtlichkeit bestimmt den Alltag der Großfamilie untereinander. Ernsthafte Kämpfe gibt es in so einer Gruppe selten. Was Ratten aber tun, wenn ein Glied einer fremden Rattensippe in ihr Revier gerät, oder vom Experimentator hineingesetzt wird, gehört zu den erregendsten, schauerlichsten und widerlichsten Dingen, die man an Tieren beobachten kann. Konrad Lorenz fährt fort: Die fremde Ratte kann minutenlang und länger herumlaufen, [...] - bis schließlich der Fremdling einer von ihnen nahe genug 187
kommt, dass diese Witterung von ihm erhält. Da zuckt es wie ein elektrischer Schlag durch das Tier, und im Nu ist die ganze Kolonie durch den Vorgang der Stimmungsübertragung alarmiert, der bei der Wanderratte nur auf Ausdruckbewegungen, bei der Hausratte aber durch einen scharf gellenden, satanisch hohen Schrei vermittelt wird, in den alle Sippenmitglieder, die ihn hören, mit einstimmen. Mit vor Erregung aus dem Schädel quellenden Augen und gesträubtem Haaren begeben sich die Ratten auf Rattenjagd. So wütend sind sie, dass sie, wenn zwei von ihnen aufeinandertreffen, sich auf jeden Fall zunächst einmal heftig beißen. - Allerdings gehen sie sofort friedlich auseinander, wenn sie ihren Irrtum bemerkt haben.125 Über das Schicksal der fremden Ratte berichtet Konrad Lorenz weiter: Selten nur meint man einem Tier Verzweiflung und panische Angst und gleichzeitig ein Wissen um die Unentrinnbarkeit eines grässlichen Todes so deutlich anzusehen wie einer solchen Ratte, die im Begriff ist, von Ratten hingerichtet zu werden. Man sieht: Fremdenhass ist leider kein Privileg der Menschheit. Die Zigeuner bezeichnen sich selbst als „Rom“, das heißt „Mensch“. Denn für uns ist der Zigeuner ein Mensch, die anderen sind es hingegen nicht, wir bezeichnen sie daher mit dem Namen „gadgés“, das heißt Fremdlinge, 126 schreibt der Schriftsteller Matéo Maximoff, selbst ein Roma. Fremdlinge waren für die Griechen die Barbaren, für die Europäer die Schwarzen, für die Deutschen die Juden. Fremdlinge sind für Tutsi die Hutu, für die Katholiken in Nordirland die Protestanten, für die Türken die Kurden. In seinem Bericht über den Amazonas schreibt Matthias Matussek über zwei Indianerstämme, keiner vom Stamme der Tukano würde auf die Idee kommen, eine Maku-Frau zu nehmen: Sie sind, ganz naturwüchsig, Ausländerhasser.127 Innerhalb von Gruppen kommen nur ausnahmsweise Bluttaten vor. Miteinander statt gegeneinander als vorherrschende Strategie im Überlebenskampf entwickelt sich offensichtlich von innen nach außen, von der Familie über die Sippe über die Landsleute bis möglicherweise dahin, dass sich alle Menschen als Mitglied einer globalen, also weltumfassenden Gruppe fühlen werden. Und es ist ein positives Zeichen, dass so viele Menschen dafür kämpfen, dass auch unsere nächsten Verwandten im Tierreich, die Wale und Affen, in den Schutz der Tötungshemmung gelangen. Das 6. und 10. Gebot: Du sollst nicht ehebrechen; Du sollst nicht deines nächsten Weib begehren! 6: Du sollst nicht ehebrechen. (Deuteronomium 5,18) Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir keusch und zuchtvoll leben in Worten und Werken und in der Ehe einander lieben und ehren. (Martin Luther) 10: Du sollst nicht deines nächsten Weib begehren! (Deuteronomium 5,21) Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten nicht seine Frau, Gehilfen oder Vieh ausspannen, abwerben oder abspenstig machen, sondern dieselben anhalten, dass sie bleiben und tun, was sie schuldig sind. (Martin Luther)
In der jüdischen Stammesgesellschaft gehörte die Frau mit zum Besitzstand des Mannes und war in das Gebot über das Verlangen nach Haus, Acker, Ochs und Esel integriert. Erst 188
später wurde diese Art Besitz zu einem eigenständigen Gebot herausgelöst - gleichwohl ist die Stellung der Frau in den Büchern Moses nicht gerade als emanzipiert zu bezeichnen. Das Gebot zur Partnertreue tritt gleich zweimal in etwas unterschiedlicher Form im Dekalog in Erscheinung: 1. Du sollst nicht ehebrechen! (Deuteronomium 5,18) 2. Du sollst nicht deines nächsten Weib begehren! (Deuteronomium 5,21) Die Wechselwirkung zwischen Evolution und der Entwicklung von Moral und Tugend ist sicher nirgends enger als bei den Belangen, die mit der Fortpflanzung zusammenhängen. Es geht bei diesem Gebot um den Aufwand, den man für die Kinderpflege treiben muss. Das Grundtrachten jedes Individuums ist durch die Evolution darauf festgelegt, möglichst viele der eigenen Gene an möglichst viele Nachkommen weiterzugeben. Die Natur geht von einem egalitären Anspruch der Geschlechter aus: Jedes Kind erhält genau die Hälfte seiner Gene von der Frau und vom Mann. Diesbezüglich sind Weibchen und Männchen in der Biologie gleichgestellt. Aber Männchen und Weibchen unterscheiden sich darin, wie viele Nachkommen sie potentiell hervorbringen können: Männer fast beliebig viele, Frauen nur beschränkt wenige. Paarbeziehungen sind ökonomische Beziehungen. Es geht um die Aufzucht der Nachkommenschaft, um die erfolgreiche Vererbung der Gene. Männer und Frauen haben dafür unterschiedliche Strategien. Aufgrund der höheren Kosten für die Fortpflanzung sind Frauen eher wählerisch. Eine Frau geht fremd, weil sie der Meinung ist, der Mann aus ihrer Affäre sei ihrem eigenen überlegen. Forscher fanden heraus, dass Frauen verstärkt um ihren Eisprung herum mit ihren Liebhabern schlafen. Offensichtlich wollen sie das Erbgut ihrer Kinder verbessern, ohne aber den Mann zu verlieren, der Ihnen die Sicherheit bei der Aufzucht der Kinder gibt. Auf der anderen Seite möchte kein Mann Ressourcen für ein Kind investieren, das nicht von ihm stammt. Während die Mutter immer um ihre Mutterschaft weiß, war die Vaterschaft vor dem Zeitalter der Gentechnologie immer ungewiss. Gentechnische Analysen und damit einen sicheren Vaterschaftstest kannten die alten Beduinen halt noch nicht. Männer haben Affären, weil die andere Frau nicht die Ehefrau ist. Männer paaren sich tendenziell mit allen Frauen, die sie bekommen können, sehen aber zu, dass ihre Ehefrau nur mit ihnen selbst schläft. Männer müssen untereinander um Frauen konkurrieren und um sie werben. Männer sind auf einen bestimmten Status angewiesen, um überhaupt eine Frau zu finden. Aus dieser unterschiedlichen Veranlagung heraus wird klar, warum es häufiger Vielweiberei gegebenen hat und auch noch vereinzelt gibt:
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Reiche Männer versprechen eine großzügige Versorgung der Nachkommenschaft und sind daher bei den Frauen begehrt. Süleyman der Prächtigea hatte einen Harem, weil er ihn sich leisten konnte. Dort wo die Lebensbedingungen sehr hart sind und nur wenige Kinder überleben können, gab es auch polyandrische Ehen, Vielmännerei. Steven Pinker schreibt über Eskimos: Dort, wo es die Polyandrie vereinzelt gab, wären die gemeinsamen Männer immer eifersüchtig gewesen und hätten sich häufig umgebracht.128 George C. Williams behauptet, dass die Evolution unter diesen Umständen zur Herausbildung von ethischen und religiösen Traditionen führe, welche die Unterdrückung von Frauen durch Männer [...] ermöglichten, wobei allerdings alles so arrangiert ist, dass die Männer letztendlich die größten Verlierer sind. 129 Als Beleg für das Verlierertum sieht er die Kranken- und Sterbestatistiken, bei denen die Männer überall schlechter abschneiden. Die Reglementierung der sexuellen Beziehungen in der menschlichen Gesellschaft ist überaus wichtig. Denn die Rivalität der Männer um die Frauen ist die Hauptursache für Gewalt, Mord und Totschlag. In den Wildbeutergesellschaften ist diese Rivalität sogar Hauptursache für die Stammeskriege. Männer bringen Männer etwa 25 mal häufiger um, als Frauen Frauen umbringen.130 Und schon Salomob wusste: Denn Eifersucht ist des Mannes Grimm; am Rachetag übt er keine Schonung.131 Die Soziologen rätselten lange daran herum, warum in den Großstädten Amerikas die häufigsten Motive für einen Mord oder einen Totschlag so banal erschienen: Beleidigungen, Flüche, Rempeleien. Tatsächlich ist das Motiv, das dahintersteht existentieller. Es geht um die Ehre und um die Rangordnung, letztlich also darum, wie hoch ein Mann in seiner sozialen Gruppe angesehen ist. Und nach diesem Ansehen richtet sich sein Erfolg bei Frauen. Homosexualität Auch wenn der Dekalog nichts über die gleichgeschlechtliche Liebe sagt, gilt diese Form der sexuellen Beziehung zumindest in der katholischen Kirche nach wie vor als Sünde. Homosexualität kommt unter Tieren recht häufig vor. Männchen fechten in einer sozialen Gruppe Rangordnungen aus. Von der Stellung in der Gruppe hängt in der Regel der Fortpflanzungserfolg eines Männchens ab. Konrad Lorenz beobachtete in seiner Gänseschar, dass zwei in Liebe verbundene Ganter schnell höchste Stellen in der Rangordnung ihrer Herdeeinnehmen. Denn gemeinsam sind sie sowohl einem einzelnen Männchen, als auch einem gemischtgeschlechtlichen Paar kräftemäßig überlegen. Paart sich einer der beiden dann doch mit einer Gans, so ist diese Triade überdurchschnittlich a
Unter der Herrschaft Süleiman II., 1494 geboren und der Prächtige genannt, erreichte das Osmanische Reich den Höhepunkt seiner Macht und seines Wohlstandes. Der bedeutendste der türkischen Sultane starb im Jahre 1566. b Salomo, Sohn des David, regierte von 961 bis 922 v. Chr. Israel und Juda, und dies tat er der Geschichte nach mit großer Weisheit. Während seiner Regierungszeit erreichte das Reich seine größte Ausdehnung.
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erfolgreich in der Aufzucht ihres Nachwuchses. Einen ähnlichen Aufzuchtserfolg haben wahrscheinlich auch lesbische Tiere. Die Neigung zum gleichen Geschlecht kann sich also in einer Population durchaus erfolgreich halten, selbst wenn sie genetisch fixiert wäre. In unserer deutschen Gesellschaft besteht heute kein Zweifel mehr daran, dass gleichgeschlechtliche Liebe eine gleichberechtigte Form der sexuellen Beziehung darstellt, aber die endgültige gesellschaftliche Anerkennung ohne Diskriminierung steht immer noch aus. Prostitution Eine weitere Form der sexuellen Partnerschaft bei Menschen ist die wohl zu recht als ältestes Gewerbe der Welt anzusehende Prostitution. Sie dient durchaus nicht nur dem Bedürfnis der Männer sondern auch dem der Frau. Denn wie jeder andere Handel beruht auch Prostitution letztlich auf Gegenseitigkeit: Sex gegen Nahrung. Den Grund, warum fast ausschließlich Frauen diesen Dienst anbieten und Männer ihn nachfragen, fasst Steven Pinker so zusammen: Da Frauen wählerischer sind als Männer, muss der Durchschnittsmann für den Sex mit der Durchschnittsfrau bezahlen.132 Wenn eine Schimpansenherde auf eine Horde Stummelaffen stößt, kommt es häufiger zur Jagd auf solch einen Affen. Ob die Jagd losgeht, hängt eng damit zusammen, ob eines der Schimpansenweibchen brünstig ist. Dann versuchen die männlichen Schimpansen, eines der Stummeläffchen zu erlegen. Hat einer der Jäger Jagdglück, so bietet er anschließend dem brünstigen Weibchen einen Teil der Beute an und umgekehrt ist das Weibchen daraufhin eher bereit zu kopulieren, was, so Matt Ridley lakonisch, eigentlich nicht weiter überrascht. Bei den Hadza, einem Stamm der afrikanischen Steppe, genießen erfolgreiche Jäger bei den Frauen hohes Ansehen. Ein guter Jäger hat mehr außereheliche Affären. Ähnliches gilt für den Stamm der Ache, der Yanomami und vieler anderer südamerikanischer Stämme. Matt Ridley hält dieses Phänomen für vermutlich universell und es sei: Im übrigen auch kein Geheimnis.133 Obwohl diese Art der sexuellen Beziehung universell in der menschlichen Kultur vorkommt, wird sie fast allerorts als moralisch verwerflich angesehen. Während die Homosexualität, wenigstens in Deutschland, heute legalisiert ist, leiden Prostituierte immer noch unter der Doppelmoral, dass Männer sich heimlich ins Bordell stehlen und öffentlich gegen die Unmoral der Dirnen wettern. Aber auch hier findet in Deutschland zur Zeit ein Umdenken statt. Kooperation der Geschlechter Bei den Dreizehenmöwen hat J. Coulson in zwölfjähriger Beobachtung herausgefunden, dass Paare, die zusammen blieben und eine Dauerehe führten, eine größere Nachkommenschaft hatten, als Vögel, die den Partner wechselten.134 Kooperation bietet den Eltern einen deutlichen Selektionsvorteil bei der Aufzucht der Nachkommenschaft gegenüber Konkurrenten, die zur Promiskuität neigen.
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Die Veranlagung zur Monogamie ist durch den Vorteil, den die Kooperation mit sich bringt Erbe der Menschheit geworden. Die Frage, welche Paarbeziehung die Vorteilhafteste ist, lässt sich nicht generell beantworten. Vielmehr finden wir im Tierreich Beispiele dafür, dass sich unter verschiedenen Umweltbedingungen verschiedene soziale Verhaltensformen ausbilden können. Der Zaunkönig lebt in Gebieten, wo die Nahrung knapp und die Beschaffung mühselig ist, monogam. In diesen Gegenden füttern und hegen Paare den Nachwuchs gemeinsam. Dort aber, wo es Nahrung im Überfluss gibt, hat jeder Zaunkönig mehrere Weibchen. Diese müssen ihren Nachwuchs allein aufziehen.135 Die Entwicklung in unserer Gesellschaft mit ihrer hohen Rate an Scheidungen und der Tendenz hin zum Singledasein zeigt, dass sich die Menschheit auf diesem Gebiet in einer Zeit der dynamischen Neubesinnung und -bestimmung befindet. Die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau sind zu sehr abhängig von den äußeren sozialen und ökonomischen Bedingungen, als dass eine so einfache Regel wie: „Du sollst nicht ehebrechen“ den Kern des Problems heute noch zu treffen vermag. Grundsätzlich, und das ist auch die Tendenz bei der deutschen Rechtsprechung, wird Ehebruch heute nicht mehr als ein die Allgemeinheit angehendes Delikt betrachtet und ist daher aus dem Kanon der strafwürdigen Delikte entfernt worden. Wie-du-mir-so-ich-dir in Beziehungen Eheleute sind zu einer Gemeinschaft geworden, um Kinder großzuziehen. Dieses Ziel ist so wichtig, dass eine Trennung vom Lebenspartner als traumatische Erfahrung erlebt wird. Das Gebot: „Du sollst nicht Ehebrechen“ klingt, als wäre es eher auf den Seitensprung bezogen und nicht etwa auf Trennung. Der Mann möchte sichergestellt haben, dass er der Vater des Kindes ist. Die Frau reklamiert alle Ressourcen des Mannes für ihre eigenen Kinder. Ehebruch schwächt häufig die Beziehung oder lässt sie ganz scheitern. Dem Partner treu bleiben oder ihn bei erster bester Gelegenheit zu verlassen, ist eine typische „Wie-du-mir-so-ich-dir“ Situation: Bekanntlich schwächt sich das Gefühl der Liebe mit der Zeit ab. (Ich verteile hier der Einfachheit halber die Punkte wie beim Gefangenen-Dilemma.) Frisch verliebt sein ist auf alle Fälle weit aufregender (5 Punkte), als in einer eingefahrenen Beziehung vielleicht das Gefühl der Zufriedenheit zu genießen (3 Punkte). Oft lebt man sich wohl auch auseinander, hat sich nichts mehr zu sagen und geht im gegenseitigen Einvernehmen auseinander (1 Punkt). Dies schmerzt zwar auch, ist aber lange nicht so furchtbar, wie das Verlassenwerden und der damit verbundene Liebeskummer (0 Punkte). Gespielt wird genau wie im Gefangenen-Dilemma. Man kann seinen Partner betrügen und verlassen, um selber größeres Glück zu erringen, oder man kann auf die Dauer zusammenbleiben und kooperieren. Vertreter der verschiedenen Strategien finden Sie sicher in ihrer Bekanntschaft wieder.
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Das 7. u. 9. Gebot: Du sollst nicht stehlen; Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. 7: Du sollst nicht stehlen. (Exodus 20,15) Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsers Nächsten Geld oder Gut nicht nehmen noch mit falscher Ware oder Handel an uns bringen, sondern ihm sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten. (Martin Luther) 9: Und du sollst nicht Verlangen tragen nach deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Ochs, Esel oder sonst nach irgend etwas, was deinem Nächsten gehört. (Deuteronomium 5,21); Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten nicht mit List nach seinem Erbe oder Hause trachten und mit einem Schein des Rechts an uns bringen, sondern ihm dasselbe zu behalten förderlich und dienlich sein.
Die Zehn Gebote sind nicht eindeutig deren zehn, wie wir das zusammen mit dem kleinen Einmaleins in der Grundschule gelernt haben. Die Gebote überschneiden sich zum Teil in ihrer Bedeutung. Außerdem stehen sie gleich an mindestens zwei verschiedenen Stellen im alten Testament: Im Buch Exodus und im Buch Deuteronomium. Das siebte Gebot über das Stehlen erübrigt sich, wenn wir, wie im zehnten Gebot verlangt, nicht mal das Begehren verspüren sollen. Es erweitert das Gebot über das Stehlen, weil es andere Formen der Besitznahme als das Stehlen gibt, das wir als unmoralisch empfinden, etwa, wenn der Herr seinem Knecht etwas wegnimmt. Im Buch Exodus lesen wir eine Version, in der die Frau noch als Besitz des Mannes gilt, der demzufolge auch unrechtmäßig in Besitz genommen werden kann: Du sollst nicht begehren das Haus Deines Nächsten. Du sollst nicht begehren das Weib deines Nächsten, noch seinen Knecht, noch seine Magd, noch sein Rind, noch seinen Esel, noch irgend etwas, was deinem Nächsten gehört. (Exodus 20,17) Im Buch Deuteronomium ist dagegen die Frau aus dem Besitz herausgelöst und als eigenständiges Gebot vorangestellt: Du sollst nicht deines Nächsten Weib begehren! Und du sollst nicht Verlangen tragen nach deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Ochs, Esel, oder sonst nach irgend etwas, was deinem Nachbarn gehört. (Deuteronomium 5,21) Wieder haben wir es mit einem Thema zu tun, das als Variation einer widerstreitenden Konzeptionen in der Evolution, Konkurrenz versus soziales Zusammenleben, daherkommt. Konkurrenz ist immer Konkurrenz um Ressourcen. Und eine der archaischsten Formen der Konkurrenz ist, sich im Zweifelsfall auf der Basis des Rechts des Stärkeren in den Besitz von Ressourcen zu bringen. Bei diesem Gebot des Dekalogs, das Eigentum anderer zu respektieren, geht es nicht darum, als Stärkerer seinen Besitz zu bewahren. Es geht vielmehr darum, wie viel Besitz einem Individuum zugeeignet ist, ohne dass es darum kämpfen muss. Der Respekt vor dem Besitz eines anderen der Gruppe hebt das Gesetz des Stärkeren auf zugunsten der Möglichkeit, einen sozialen Verband zu bilden. Das Gebot tritt aufgrund seiner Wichtigkeit für das soziale Leben gleich zweimal in Erscheinung. Neben dem Stehlen gibt es andere „verbrecherische“ Methoden, um sich in den Besitz der Güter eines seiner Mitmenschen zu bringen. 193
Das Streben nach persönlichem Eigentum, das naturfremde Geister immer wieder für die Erfindung des sündig oder kapitalistisch gewordenen Menschen gehalten haben, ist in Wahrheit ein integrierender Bestandteil hochorganisierten Lebens und damit schon mehrere hundert Millionen Jahre alt.136 Sein Weibchen oder Harem oder ein Revier gegenüber einem Rivalen zu verteidigen, sind weitverbreitete Beispiele für die Existenz von Eigentum im Tierreich. Schimpansen in freier Wildbahn fressen gerne Fleisch und zu ihrer Jagdbeute gehören Waldschweine, Antilopen, aber auch andere Affen, zum Beispiel Paviankinder. Hat ein Schimpanse Jagdglück, so wird seine Beute als sein Eigentum akzeptiert, und zwar auch von den Ranghöheren in der Horde, die ihm die Beute leicht mit Gewalt abnehmen könnten: Selbst diese betteln mit offen vorgestreckter Hand um ein Stück, was ihnen durchaus nicht immer und oft erst nach längerem Warten freiwillig überlassen wird. Das Eigentum eines anderen zu respektieren, ist die materielle Grundlage der Ökonomie: Wenn ich dir dein Eigentum nicht mehr mit Gewalt nehmen darf, und ich trotzdem etwas von deinem Besitz haben möchte, so bleibt mir nur der Weg, mich mit dir gütlich zu einigen, Handel zu treiben. Um Handel zu treiben, muss aber eine gewisse Aufrichtigkeit herrschen: Man darf nicht lügen. Man sieht, der Dekalog stützt sich mit seinen Geboten auch untereinander. Eigentum zu respektieren ist ein Verhalten, dass von der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen gefordert und durchgesetzt wird. Unterm Strich muss es sich dieses Verhalten für jeden lohnen, andernfalls wäre es nicht durch die Evolution begünstigt. Eigentum muss daher „gerecht“ verteilt sein: Eigentum verpflichtet. Der Staat und damit die Gesamtheit der Individuen garantieren das Recht auf Besitz. Die Individuen kann daher vom Staat erwarten, dass er dafür sorgt, dass es selbst auch Eigentum erwerben kann. Und Eigentum darf nicht zu ungleich verteilt sein. Wenn die Gemeinschaft einem oder vielen ihrer Mitglieder keinen Besitz zugesteht, haben diese keinerlei eigene Gunst durch die Regel: „Respektiere das Eigentum anderer.“ Man kann ihnen selbst ja nichts stehlen, weil sie nichts besitzen. Solche Habenichtse fühlen sich zurecht benachteiligt. Sie ermöglichen solidarisch das Eigentum, haben aber selbst nur Nachteile dadurch. Dies unterhöhlt auf die Dauer diesen Sozialvertrag bis hin dazu, dass es zu massiven gewaltsamen Umverteilungen des Besitzes kommen kann. Die Tragik der Allmendea Ein Aspekt des Gefangenen-Dilemmas ist, wenn man es mit mehreren gleichzeitig spielt, unter dem Namen „Die Tragik der Allmende“ seit Jahrhunderten bekannt. Es geht dabei um frei nutzbare, für jeden zugängliche Ressourcen, um die Geschichte vom Allgemeingut. Diese Geschichte erklärt die Bedeutung des Eigentums, bzw. die Tragik, die aus unklaren Besitzverhältnissen folgt. Dazu diese Geschichte: Das Ende der letzten a
Die Allmende bezeichnet ein Gemeinschaftseigentum einer Dorfgemeinde an der bäuerlichen Kulturfläche wie Weide- oder Waldland, das für alle Dorfbewohner zur freien Nutzung zur Verfügung stand.
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Eiszeit leitete auch das Ende der Mammuts ein. Die Indianer der Clovis-Kultur waren allzu erfolgreiche Jäger und irgendwann gab es vielleicht die letzte Mammutkuh und ein Jäger begegnete ihr. Hätte er gedacht: „Ich verschone die Kuh, damit sie Kälber wirft und ich noch lange Mammuts jagen kann,“ hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit der nächste Jäger erlegt. Der erste Jäger hatte ja keine Möglichkeit, das Mammut für sein in der Zukunft liegendes Jagdglück zu schützen. Der Vorausschauende hätte zwar recht gehabt, aber seine Familie hätte gehungert, während sich der zweite Jäger wenigstens hätte über das Fleisch des letzten Mammuts freuen können. Also erlegte gleich der erste Jäger das Mammut. Dies ist derselbe Mechanismus, der beinahe dem afrikanischen Elefanten den Garaus gemacht hätte. Überall, wo die Nutzung von Allgemeingut nicht strikt geregelt ist, passieren ähnliche Dramen: Gemeindewiesen werden überweidet, daher hat die Tragik der Allmende ihren Namen. Das zusätzliche Kalb, das ein Bauer auf die Allmende stellt, nutzt ihm allein, während der Schaden von der ganzen Dorfgemeinde getragen wird. Also versucht jeder, so viele Rinder wie möglich auf die Allmende zu stellen mit dem Resultat der steten Überweidung. Die Allmende ist heute bis auf wenige Relikte verschwunden, die Tragödie aber ist geblieben: Fischgründe werden überfischt, und die Luft wird gnadenlos verpestet, denn die gehört auch niemandem. Wer die Tragik der Allmende in einem im Wortsinne anrüchigen Beispiel in Augenschein nehmen möchte, kann sie sich auf jedem Autobahnrastplatz oder in einer öffentlichen Toilette umsehen. Niemand würde sein Grundstück oder seine eigene Toilette so herunterkommen lassen. Die Tragik der Allmende erlangte ihr größtes Ausmaß im Sozialismus. Niemand fühlte sich für das verstaatlichte Eigentum verpflichtet. Jeder nutzte es zum eigenen Vorteil, aber niemand verschwendete Energie darauf, es zu erhalten. Das Ende war eine desolate, um Jahrzehnte zurückgeworfene Industrie. In der Romantik des Sozialismus galt Eigentum als Erfindung des Teufels. Aber es ist ein schützenswertes Gut. Besitztitel verhindern die Übernutzung und sorgen für die Bewahrung von Ressourcen. Und so kommt Eigentum letztlich auch der Allgemeinheit zugute. Kein Clovis-Indianer hätte die letzte Mammutkuh erlegt, hätte ihm eine Mammutherde gehört. Kein Fischteichbesitzer fängt den letzten Fisch aus seinem Bassin und kann es dann nicht mehr nutzen. Und weil die Luft schlecht zu privatisieren ist, haben wir ein ernsthaftes Problem, das uns eine Klimakatastrophe bescheren könnte. Das achte Gebot: Du sollst nicht als falscher Zeuge gegen deinen Nächsten auftreten. (Exodus 20,16) Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren. (Martin Luther)
Das achte Gebot bezog sich auf juristische Streitereien. Man kann sich bei den drakonischen Strafen, die die jüdische Gerichtsbarkeit kannte, unschwer vorstellen, dass eine Falschaussage Existenz gefährdend für den Angeklagten werden konnte. Wie schwer eine falsche Anschuldigung wiegen kann, wird auch heute noch in der deutschen Sprache 195
deutlich, wenn wir von Rufmord sprechen. Ich werde dieses Gebot hier allgemeiner im Sinne von Lügen interpretieren. Denn es ist durchaus erhellend, sich Gedanken über den Stellenwert von Lüge und Wahrheit in der menschlichen Gesellschaft zu machen. Eine verlässliche Bewertung des Gegenübers ist für die Partnerwahl von entscheidender Bedeutung. Betrachten wir dies zunächst von der Seite der Frau aus: Eine Frau muss eine außerordentlich schwere Entscheidung treffen, eine sehr unsichere Zukunft voraussehen: Sie muss die Qualitäten des Mannes wie seine Gesundheit und seine potentielle Lebensdauer, seinen sozialen Status und die damit verbundenen Ressourcen für die Familie im Voraus abschätzen können. Und nicht zuletzt muss sie voraussehen, ob der Mann sich bei der Aufzucht der Kinder beteiligen wird. Adaptiv, das heißt, von der Selektion begünstigt, sind unter diesem Gesichtspunkt einerseits Frauen, die diese Einschätzung zuverlässig treffen können und andererseits diejenigen Männer, die eine zuverlässige Einschätzung erlauben. Im Tierreich existieren bei Männchen eine große Zahl von Qualitätsmerkmalen, die nicht oder nur sehr schwer zu fälschen sind. Der äußerst hinderliche Schwanz des Pfaumännchens signalisiert durch Größe und Farbe die Qualität des Männchens und dieses Merkmal ist von anderen Männchen nicht zu fälschen. Bei Menschen spielt neben der Gesundheit und Stärke des Mannes die Kooperationsbereitschaft zur Kinderbetreuung eine entscheidende Bedeutung. Diese Eigenschaft lässt sich an körperlichen Merkmalen nicht ohne weiteres ablesen. Hier ist Aufrichtigkeit unabdingbar und sie wird daher auch von der Selektion erzwungen. Für den Mann ist von größter Bedeutung, dass die Kinder seiner Frau auch wirklich von ihm selbst stammen. Hörner aufgesetzt zu bekommen ist der GAU für den genetischen Erfolg des Mannes. Er würde Unterstützung für ein Kind anbieten, dass nicht seine eigenen Gene trägt und so weniger Ressourcen für seine wirklichen Kinder erübrigen können. Erst heute, in den Tagen der Genanalyse ist es für einen Mann überhaupt möglich, sicher zu erfahren, ob er der wirkliche Vater eines Kindes ist. Das Lügen erzeugt bei uns im Normalfall eine körperliche Reaktion wie Erröten. Diese unwillkürliche Reaktion ermöglicht unserem Gegenüber eine zuverlässige Einschätzung. Dies ist ein direkter Hinweis darauf, wie stark wir darauf angewiesen sind, Betrug zu erkennen: Unaufrichtigkeit ist eine derartige körperliche Angelegenheit, dass man sie sogar mit einer Maschine, dem Lügendetektor, messen kann: Ärger, Furcht, Überraschung, Trauer, Verachtung und Unwillen, um einige zu nennen, sind so deutlich in unserer Mimik und Gestik sichtbar, dass wir die Zeichen dafür überall auf der Welt und in jeder Kultur gleichlautend erkennen. Es ist also für Frauen und für Männer gleichermaßen wichtig, aufrichtige Partner zu haben. Daher hat uns die Natur körperliche Merkmale mitgegeben, durch die wir Aufrichtigkeit signalisieren. Das Beispiel aus der Welt der Geier zeigte, dass reine Gutgläubigkeit immer von Arglist bedroht wird. Und so gibt es auch unter den Menschen einige, die versuchen, ihren Vorteil anders als durch Aufrichtigkeit zu wahren. Eine Möglichkeit ist die Täuschung. Die Natur hat uns neben einem Lügenenttarner wie dem Erröten auch einen Lügengenerator mitgegeben. Dieser bringt in uns das „Sollen“ und das „Ist“ in Übereinstimmung. Und 196
zwar so raffiniert, dass wir selbst es gar nicht bemerken, dass wir Lügen. Denn dann würden wir die Lüge durch unser Rotwerden enttarnen. Es funktioniert so, wie Schauspieler ihre Rollen spielen: Gute Schauspieler spielen nicht, sie sind ihre Figuren im Augenblick der Darstellung: Sie sind wütend, zornig, überheblich, gereizt, zu Tränen gerührt oder wirklich traurig. Wir alle neigen dazu, unsere inneren Widersprüche zu minimieren, die sogenannte „kognitive Dissonanz“ zu verringern. Der Biologe Roger Sperry untersuchte Epileptiker, denen man das sogenannte Corpus callosum durchtrennt hatte. Dies ist die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften. Über diesen Neuronenstrang kommunizieren die beiden Hemisphären des Gehirns miteinander. Man durchtrennt diese Verbindung bei stark unter Epilepsie leidenden Menschen um zu verhindern, dass sich epileptische Anfälle von einer Gehirnhälfte auf die andere ausdehnen. Solchen Probanden deckte Sperry das rechte Auge ab und zeigte ihnen auf einer Leinwand den Schriftzug „gehen!“. Das linke Auge schickt seine Informationen in die rechte Gehirnhemisphären, dem Sitz für Handlungen und Entscheidungen. Fragte man die Probanden nun, warum sie aufgestanden sind und herumgehen, so sagten sie zum Beispiel: „Um eine Cola zu holen.“137 Der Patient kann den wahren Grund gar nicht erklären, weil seine rechte Hirnhälfte, dort wo das Sprachzentrum sitzt, von der Information, die das rechte Auge geliefert hatte, abgeschnitten war. Der Befehl: „Gehen“ ging vom Sehzentrum nur ins Bewegungszentrum auf der linken Hirnseite, die Kommunikation der linken Gehirnhälfte zum Sprachzentrum rechts aber war zerstört. Das Bewegungszentrum löste die Reaktion „Aufstehen und Umhergehen“ aus, ohne dass das Sprachzentrum etwas davon mitbekam. In Erklärungsnot erfindet das Sprachzentrum nun ganz einfach eine plausible Geschichte. Diese nimmt dem Probanden die Last, von sich selbst anzunehmen, dass er unsinnige Handlungen ausführt oder zumindest nicht Herr seiner eigenen Entscheidungen ist: Er verringert den Missklang zwischen seinem Weltbild des bewusst Handelnden und dem, was er tatsächlich tut. Diese Verringerung der „kognitiven Dissonanz“ ist der Grund, warum im wirklichen Leben die Bösewichte von ihrer Rechtschaffenheit überzeugt sind, ein Umstand, der schon Sokrates aufgefallen war. Gauner glauben oft nicht nur an ihre Rechtschaffenheit, weil sie es nicht besser wissen. Es schützen sie außerdem vor größeren inneren Widersprüchen zwischen ethischem Anspruch und wirklicher Handlung. Wir sind also in der Lage, zu lügen und dies sogar so weitgehend, dass unser Gehirn Lügen vor unserem Bewusstsein versteckt. Es ist ein schönes Märchen, dass Tiere nicht lügen können. Tiere auf der Organisationsstufe der Insekten beherrschen bereits mimisch die Notlüge, wenn sie sich vor dem Fressfeind tot stellen. Der Vogel, der einen gebrochenen Flügel schauspielt, um den Räuber vom Nest wegzulocken, gebraucht die Kunst der Täuschung bereits weit subtiler. Wolfgang Wickler erzählt die Geschichte von einer Polarfüchsin, die mit einer Beute nach Hause kam. Ein Jungtier sprang sie bettelnd an, dabei fiel die Beute herunter und der Jungfuchs machte sich sogleich darüber her. Die Füchsin ging ein paar Schritte umher und musste zusehen. Plötzlich hob sie die Schnauze und stieß den hohen 197
Warnschrei aus, der normalerweise den Nachwuchs vor Gefahr warnt. Der Jungfuchs ließ sofort ab von der Beute und verschwand eiligst im Bau. Die Füchsin machte sich darauf hin über ihre wiedergewonnenen Beute her. Warum dieses Verhalten sich langfristig nicht etablieren kann, gibt der Nachspann der Geschichte preis. „Denn wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er jetzt die Wahrheit spricht.“ Nachdem die Füchsin sich so einige Male einen Vorteil verschaffen konnte, lernte der Jungfuchs, die Täuschung zu durchschauen und reagierte nur noch sehr zögerlich auf den Warnruf.138 Das zögerliche Reagieren, wo eigentlich eine sofortige Flucht angezeigt wäre, stellt ein deutlich erhöhtes Sterberisiko für ihren Nachwuchs dar, wenn eine echte Gefahr droht. Der Fortpflanzungserfolg von Füchsen, die ein so „betrügerisches“ Verhalten an den Tag legen, ist geringer als der der „ehrlichen“ Füchse. So wird sich mit der Zeit die Linie der ehrlichen Füchse durchsetzen. Das Besondere an Lügen ist wohl: Sie büßen schnell an Wirksamkeit ein, wenn man sie wiederholt gebraucht. Kommunikation ist ein Grundelement der Kooperation. Kommunikation ist auf verlässliche und eindeutige Signale angewiesen, Lüge macht sie auf die Dauer wertlos. Eine Gesellschaft, die darauf angewiesen ist, dass ihre Mitglieder untereinander kooperieren, zum Beispiel untereinander Handel treiben, ist darauf angewiesen, dass die Kommunikation verlässlich ist: Darum sollst Du nicht lügen!
3.23 Die Bedeutung des Dekalogs Religionen allgemein setzen die moralischen Grenzen einer Gemeinschaft und definieren ihre ethnische Zugehörigkeit. Allerdings rechtfertigen sie auch die offensive und defensive Gewalt zwischen Ethnien und innerhalb von Gemeinschaften, ja sie verleihen dieser Gewalt nicht selten die Aura des heiligen und steigert oft noch die Grausamkeit solcher Auseinandersetzungen.139 Die Gebote des Dekalogs sind Forderungen, die nicht erst auf der Entwicklungsstufe des Menschen notwendig werden. Sie treten schon auf der Organisationsstufe der Tiere in ihrer gleichbleibenden Bedeutung als positiv für den Erhalt der eigenen Gene in Erscheinung.140 Der Dekalog hatte die Bedeutung, die Entwicklung einer Gemeinschaft voranzutreiben. Dabei muss er, um erfolgreich zu sein, in dieselbe Richtung zielen, wie die Evolution selbst. Einige Regeln des Dekalogs sind für unsere heutige Gesellschaft unannehmbar geworden. Dazu gehören die ersten zwei Gebote, die für einen Nichtgläubigen sowieso keine Bedeutung tragen. Doch die meisten Gebote sind, nicht zuletzt wegen ihrer schlichten Einfachheit, eine grundsätzliche Richtschnur für „gutes“ Verhalten geblieben. Allem voran steht sicher das Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Dann auch: „Du sollst nicht stehlen.“ Und auch dies ist ein strafwürdiges Vergehen in unserem Rechtsstaat: „Du sollst keine Falschaussagen machen.“ Die Gebote über das Ehren der Eltern und über den Ehebruch behandeln keine mehr als strafwürdig in unserer heutigen Gesellschaft empfundenen Delikte. Sie sind aber in der einen oder anderen Form durchaus aktuell.
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Die einfache Schlichtheit der Regeln des Dekalogs reichen in unserer Gesellschaft nicht aus, sie müssen differenziert und an Entwicklungen angepasst werden: Wie komplex eine simple Regel wie „Gedenke des Sabbat“ heute geregelt werden muss, zeigt die Diskussion über Arbeitszeitverkürzung, Ladenschlussgesetze und Altersteilzeit. Wie schwer es ist, mit einfachen Geboten komplexe soziale Handlungsweisen zu bewerten, zeigt sich auch bei der Diskussion über die Sterbehilfe: Darf ein Arzt auch dann nicht töten, wenn sein Patient es ausdrücklich von ihm erbittet? Wie weit gilt das Gebot „Du sollst nicht töten“ im Krieg oder im Falle einer Notwehr. Darf der Staat Verbrecher umbringen? Das Gebot „Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen“ ist nicht nur konstituierend für unsere Wirtschaft, deren Grundlage die Vertragstreue ist, sondern wir finden es auch als höchstes Ideal der Wissenschaften wieder: Lügen sind die Antithese zur Wissenschaft, deren Credo es ist, nur geprüfte und reproduzierbare, also wiederholbare Ergebnisse zu akzeptieren. Die übergeordnete Bedeutung des Dekalogs ist, dass erst konsistente Regeln die Voraussetzung dafür schaffen, dass sich moralisches und kooperatives Verhalten in einer Gesellschaft herausbilden. Wissenschaftler konnten nachweisen, dass junge Menschen, die in einem konsequent die Regeln einhaltenden sozialen Umfeld aufwuchsen, sich selbst im hohen Maße kooperativ benahmen und sich selten asozial verhielten. Dies war die Aufgabe des Dekalogs! Gilt Ehrlichkeit als hohe Norm in einem Umfeld, in dem Lehrer Schummeln durchgehend ahnden, Trainer bei Mannschaftswettkämpfen nicht zu versteckten Fouls um des Gewinnens willen auffordern und Familie und Freunde Offenheit und Ehrlichkeit erwarteten, dann zeigen die Heranwachsenden ebenfalls einen ausgeprägten Hang zu ehrlichem Verhalten. Im inkonsistenten sozialen Umfeld entwickelt sich dagegen bei den Jugendlichen ein Verhalten, dass sie moralische Botschaften nicht zu ernst nehmen lässt: Je unberechenbarer sich meine Umwelt verhält, desto weniger Grund habe ich, zu kooperieren. Wie-du-mir-so-ich-dir beruht auf Vertrauen und Verlässlichkeit. Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Ansicht, dass es gewaltige kulturelle Unterschiede gibt, die sich in einer sogenannten „fremden Mentalität“ äußern, zeigt die ethnologische Literatur, dass die Mitglieder alle Völker dieser Erde eine bis in die Details hineinreichende identische psychische Struktur besitzen. Moralische Ideale teilen praktisch alle Menschen als ihr phylogenetisches Erbe. Kinder auf der ganzen Welt bringen nahestehenden Menschen liebevolle Gefühle entgegen und reagieren ablehnend auf Brutalität und Ungerechtigkeit. Die Veranlagung, Scham, Schuldgefühle und Empörung zu empfinden, teilen wir mit allen anderen Menschen. Jedes Kind verfügt über einen Grundkanon von angeborenen Reaktionen, der es zu ethischem Handeln verpflichtet. Zum Beispiel reagieren Kinder mit der Bereitschaft zu trösten, wenn eine geliebte Person weint, aber wie es trösten kann, muss es lernen. Das Schwesterchen kann das weinende Brüderchen in den Arm nehmen oder es mit dem Hinweis tadeln: „Ein Junge weint nicht!“ Zu welchen Gelegenheiten und in welcher Stärke wir emotional reagieren, hängt stark vom Wertesystem einer Gesellschaft ab, denn die Bereitschaft, sich an die eigenen moralischen Grundüberzeugungen zu halten, wird individuell durch das soziale Umfeld erlernt. Ein konsistentes soziales Umfeld unterstützt die Moralentwicklung von Kindern 199
und Heranwachsenden,141 resümiert der Leiter des Center on Adolescence an der Stanfort University, William Damon, und fordert Philosophen und Sozialwissenschaftler auf, sich mit dieser wissenschaftlichen Erkenntnis der Psychologie auseinanderzusetzen. Ich werde in diesem Buch versuchen zu zeigen, dass uns ein göttliches Prinzip moralisch handeln lässt, indem ich die Evolution als Entwicklung deute, aus der letztlich Gott hervorgehen wird. Es ist weder theologisch noch biologisch verständlich, davon auszugehen, dass der Mensch eine Fehlkonstruktion sei. Dass er Böses tut, wenn er seiner Natur nachgibt und gut handelt, wenn er gegen seine Triebe ankämpft. Vielmehr macht die Auslegung des Dekalogs auf der Grundlage der Evolution deutlich, dass uns die Natur selbst das offenbart, was wir Moral nennen. Ein Gott als von der Natur abgehobener Überbringer der Gebote ist entbehrlich. Das Ziel der Evolution, ihre Teleologie bringt auf die Dauer das Gute hervor. Nach der Omega-Theorie von Tipler bringt die Evolution schließlich sogar Gott selbst hervor, als den logischen Schlusspunkt einer steten Entwicklung: Das Gute triumphiert letztlich im Kosmos, aus dem Grund, weil das Leben im Universum überleben will und damit auf umfassende Kooperation angewiesen ist.
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Drittes Buch: Emergenz
Ein Wesenszug der Evolution ist das Hervortreten vorher nicht beobachteter Phänomene. Schon Aristoteles war aufgefallen, dass es Stufen des Lebens gab, charakterisiert durch zusätzliche Eigenschaften: Etwa die Wahrnehmung bei den Tieren und das Denken bei den Menschen. Über das vorher Bekannte herausreichenden Neuerungen nenne ich, in Anlehnung an die neuere englische Philosophie „Emergenz“. Die Möglichkeit für Emergenz ist durch den „Gödelschen Satz“ formallogisch abgesichert. Intelligenz ist das wesentliche Merkmal der menschlichen Art. Sie ist eine Fähigkeit, die wir zu ungeahnter Blüte entwickelt haben und die außer uns niemand sonst auf diesem Planeten in dieser Form besitzt. Diese Begabung befähigt uns zu etwas, was manchen gruseln mag. Meiner Ansicht nach stellt es eine Notwendigkeit dar: Sie befähigt uns schöpferisch tätig zu werden. Zwei wesentliche Richtungen gibt es in diesem menschlichen Schöpfungsakt: 1. Wir greifen in die Baupläne der Natur ein bis hin zur Steuerung unserer eigenen Reproduktion. Diese Fähigkeit wird sich mit der Gentechnologie noch dramatisch erweitern und 2. wir sind die Schöpfer einer völlig neuen „Lebensform“, der technischen Apparate. Die Evolution ist ein integrierender interaktiver Prozess, der Emergenz erzeugt. Dieser Zugewinn an Fähigkeiten kommt allen zugute. Denn durch das Netzwerk eines Ökosystems profitieren alle Teilnehmer gemäß dem Gesetz der zunehmenden Erträge. Und zu diesem Netzwerk gehört heute nicht nur die gesamte Biosphäre sondern auch die Technik. Technische Apparate als Lebensformen zu bezeichnen, ist sicher gewöhnungsbedürftig. Aber die Diskussion über „Künstliche Intelligenz“ im Zusammenhang mit Robotern wirft gewissermaßen Schatten zurück. Sollte es erst einmal intelligente Roboter geben, so müssten wir auch ihren gesamten Stammbaum völlig neu bewerten. Anders herum waren für René Descartes Tiere seelenlose Automaten, warum also Automaten nicht seelenlose Tiere nennen? Die Entwicklung der Technik wird uns ermöglichen, der Mission gerecht zu werden, die uns die Teleologie des Universums meiner Ansicht nach auferlegt hat: Zu überleben, uns weiter zu entwickeln und das Leben zu den Sternen zu tragen. Als Gaia wieder einmal schwer von einem Asteroiden durchgeschüttelt wurde, so erzählt ein zeitgenössisches Märchen, wurde sie sehr traurig. Ihre geliebten Dinosaurier, die Millionen von Jahren lang die Wälder und Meere bevölkerten und selbst die Luft erobert hatten, waren mit einem Schlag ausradiert. Was war zu tun, dass sich so eine Katastrophe nicht noch einmal wiederholen konnte? Gaia beschloss, eine intelligente Spezies zu evolvieren. Er sollte in der Lage sein, Asteroiden schon im Weltraum abzuwehren. Und er sollte eine Raum-Arche bauen, mit der ein Grundstock Gaias über eine ähnliche
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Katastrophe hinweg gerettet werden könnte. Schließlich wollte sie dieser Spezies auch anvertrauen, das Leben im Universum zu verbreiten: Und also sah sie zu, dass sich die Säugetiere als Nachfolger der Dinosaurier durchsetzten. In der Folge der Evolution traten immer komplexere Arten mit immer größeren Fähigkeiten auf. Dies wird sich fortsetzen, so die These meines Buches. Als Schlusspunkt der Entwicklung wird eine Wesenheit mit göttlichen Fähigkeiten auftauchen. Eine Freundin fragte mich, warum ich eigentlich nicht erwartete, dass schließlich der „Gehörnte“ auftauchen werde? Wie ich am Beispiel des Dekalogs zeigen konnte, ist dies nicht zu befürchten: Die Evolution unterstützt letztlich das Konstruktive, nicht das Destruktive. Physik und Emergenz Paul Dirac behauptete, im Prinzip erkläre seine relativistische quantenmechanische Gleichung, welche die Grundlage für die Quantenelektrodynamik darstellt, die meisten physikalischen und alle chemischen Phänomene.a Das macht die Chemie zu einem Teilbereich der Physik. Da alle Prozesse in Organismen auf chemischen und elektrischen Phänomenen beruhen, ist auch die Biologie damit nur Teilgebiet physikalischer Beschreibungen. Meine These hier lautet: „Physik ist notwendig zur Beschreibung jedes wissenschaftlichen Teilgebietes, aber nicht hinreichend.“ Wir können die Verhaltensbiologie als elektrochemische Reaktionen im Hirn beschreiben und damit auch physikalisch auf der Ebene der QED. Zum Beispiel wird der Paarungstrieb durch chemische Botenstoffe in Gang gesetzt. Damit sind auch die Geisteswissenschaften auf die physikalischen Gesetze zurückgeführt. Gedanken sind im Gehirn repräsentierte physikalische Zustände. Neurophysiologen verfolgen diesen Ansatz und er hat sie bereits zu wichtigen Erkenntnissen für die Psychologie geführt. Meiner Ansicht nach entstehen aber auf jeder Beschreibungsebene wie der Chemie, der Biologie, der Verhaltenslehre, der Soziologie oder der Psychologie neue Arten von Informationen, die sich in einer physikalischen Sichtweise nur ungenügend oder gar nicht fassen lassen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber auch der Umkehrschluss: Jede Wissenschaft muss sich auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und damit letztlich der Physik gründen. Die Psychologie bleibt äußerst zweifelhaft, solange sie nicht die Biologie mit ihren Erkenntnissen über angeborenes Verhalten und die Hirnphysiologie mit ihren Erkenntnissen über die Funktionsweise des Gehirns als Grundlage nimmt. In der Bibel formulierte der Prediger Salomo, dass alles schon einmal dagewesen, dass die Welt statisch sei und sich nichts Neues in ihr entwickele: [...] und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Sagt man von etwas: „Sieh, das ist neu!“, so war es schon längst a
Zur Erinnerung: Während die starke und die Schwache Kernkraft für die Physik der Elementarteilchen eine Rolle spielen, und die Gravitation nur bei massenreichen Gebilden eine Rolle spielt, wird die Interaktion zwischen den Atomen im wesentlichen von der elektromagnetischen Wechselwirkung bestimmt, die sich als Austausch von Photonen mit den Atomhüllen, den Schalen der Elektronen darstellen lässt. Genau dies beschreibt die QED.
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zu den Zeiten, die vor uns gewesen.1 Würde Salomo in unserer Zeit leben, hätte er enorme Schwierigkeiten, Atomkraftwerke oder Computer als alte Hüte anzupreisen, mit denen sich schon die Pharaonen im alten Ägypten geschmückt hätten. Denn sehr augenscheinlich leben wir in einer Zeit in der ständig Neues, nie Dagewesenes entsteht. Der Mensch selbst, mit seiner Begabung des planvollen Handelns und des Konstruierens, ist ein herausragendes Beispiel für auftretende Emergenz im Zuge der Evolution. In der Informatik gibt es einen recht eingängigen Begriff, um Emergenz zu beschreiben: „Aufwärtskompatibel“. Das Betriebssystem „Windows“ der Firma Microsoft entwickelte sich mit der Zeit weiter und es erhielt neue Fähigkeiten. Windows2000 hat z. B. viele Eigenschaften, die der Anwender im Zeitalter des Internets benötigt. Ende der 80-er Jahre, als die Version Windows 3.1 aktuell war, gab es aber das Internet noch gar nicht in seiner jetzigen Form. Die Anwenderprogramme wie das Schreibprogramm MS-Word entwickelten sich gleichermaßen weiter, von Word2.0 über Word5.0 zum Word2000. Nun hat die Firma Microsoft immer zugesehen, dass mit dem Wechsel des Betriebssystems nicht gleichzeitig alle Anwenderprogramme nutzlos werden: Word5.0 läuft auf Rechnern, die mit dem Betriebssystem Windows2000 arbeiten. Umgekehrt geht es nicht: Das Programm Word2000 versagt seinen Dienst komplett unter einem alten Betriebssystem wie Windows3.1. Generell bedeutet „aufwärtskompatibel“ also, dass die alten Programme auf der neusten Version des Betriebssystems lauffähig bleiben. Neu entwickelte Programme nutzen aber auch die neuen Fähigkeiten des weiterentwickelten Betriebssystems und laufen daher nicht mehr auf Betriebssystemen älteren Datums.
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Gödel und Emergenz
Im Jahr 1931 erschütterte der Mathematiker Kurt Gödel, wie schon in der Einführung dieses Buches erwähnt, das Fundament der modernen Mathematik mit dem Beweis, dass hinreichend komplexe formallogische Systeme prinzipiell unvollständig sind. Denn in jedem formalen logischen System tauchen Theoreme, Wahrheitsvermutungen auf, die sich nicht auf den Grundlagen des logischen Systems selbst beweisen lassen. Kurt Gödel bewies seinen sogenannten „Unvollständigkeitssatz“ anhand des Axiomensystems der Natürlichen Zahlen. Es gelang ihm zu zeigen, dass es wahre Aussagen über die Natürlichen Zahlen gibt, die unbeweisbar bleiben. Gewisse Objekte verhalten sich nicht mehr ausschließlich wie Natürliche Zahlen. Sie erinnern sich an meine zwei Anlehnungen an den Gödelschen Satz: Menschen verhalten sich zielgerichtet in der ansonsten möglicherweise nicht zielgerichteten Evolution. Und Menschen entscheiden sich „frei“, obwohl die Handlungen im Gehirn rein physikalisch und damit deterministisch gesteuert werden und es eigentlich keinen Platz für „freie“ Entscheidungen gibt. Das Problem, dass die Hirnforscher mit dem „freien Willen“ haben, ist nach Gödel letztlich unentscheidbar: Die rein physikalisch ablaufenden Prozesse der Handlungssteuerung entziehen sich einer rein physikalischen Deutung. Gödels Satz bedeutet, dass kein Axiomensystem in der Lage ist, formal seine eigene Widerspruchsfreiheit zu entscheiden. Jeder Vollständigkeitsbeweis muss sich stärkerer Mittel bedienen, als derjenigen, die das System selbst bereitstellt.2 Die Theoretiker aus der 203
Mathematik fanden nur wenige Beispiele für diesen Satz, zeigten aber, dass er prinzipiell gilt. Die Biologen stolpern dagegen bei jedem Schritt über Phänomene, die aus dem formalen Rahmen der physikalischen Beschreibungen ausbrechen: „Dieses Objekt lebt“ und „Dieses Objekt denkt“. Wir können eine Zelle und die in ihr ablaufenden Prozesse vollständig physikalisch bzw. chemisch beschreiben. Aber die Eigenschaft „lebendig“ erfassen wir damit noch nicht. „Lebendig sein“ ist etwas, das nach den Gesetzen der Physik abläuft. Aber Lebendigkeit unterscheidet sich in einigen Eigenschaften von rein physikalischen Objekten: Sex ist eben doch nicht Physik, Liebe kein chemisch gesteuerter Prozess im Gehirn, Intelligenz oder Bewusstsein sind Eigenschaften des Gehirns, die sich nicht physikalisch-chemisch erklären lassen. Dies ist genau das Problem, das wir mit der Künstlichen Intelligenz haben: Wüssten wir, wie wir Intelligenz formal beschreiben könnten, könnten wir entscheiden, ob ein Computer denkt. Der GAU der Mathematik war genaugenommen schon früher eingetreten. Der Mathematiker Bertrand Arthur Russella hatte in der Mengenlehre eine Antinomieb entdeckt, die unmittelbar zu einem Widerspruch führt. Bertrand Russells mathematischer Satz kreist um eine bestimmte Art von Mengen, die ebenfalls den Sachverhalt der Emergenz ausdrücken. Es geht um Mengen, deren Gesamtheit nicht Element der Menge selbst ist. Nehmen sie alle Sandhäufchen dieser Welt. Jeder beliebige Sandhaufen sei Teil dieser Menge. Wenn sie zwei Sandhäufchen zusammenschütten, würden sie wieder einen Sandhaufen erhalten und der wäre auch wieder Teil ihrer Menge. Wenn sie allen Sand der Welt auf einen Haufen schütten würden, so wäre dies ein gewaltiger Sandhügel, aber halt auch Element ihrer Menge: Die Summe aller Teile, die Gesamtheit aller ihrer Sandhäufchen wäre Element ihrer Menge und nichts weiter. Nehmen sie nun als Elemente ihrer Menge die Ersatzteile Ihres Autos. Jedes beliebige Teil und jede beliebige Kombination dieser Teile wären Ersatzteile für ihr Auto: Kotflügel, Bremsbeläge oder ein ganzes Ersatzgetriebe. Die zusammengebaute Gesamtheit der Ersatzteile aber wäre genau ihr Auto. Diese Gesamtheit würde nun kein Ersatzteil sein, sondern einer neuen Kategorie angehören, nämlich der Kategorie der Neuwagen. Die Gesamtheit der Menge aller Einzelteile eines Autos ist nicht ein großes Ersatzteil, sondern ein Neuwagen. Solche Kategorienwechsel in der Mengenlehre führen zu einem unlösbaren Widerspruch. Anders betrachtet und allgemeiner stellt die sogenannte Russellsche Antinomie dar, dass das Ganze mehr sein kann, als die Summe seiner Einzelteile: Es kann zum Beispiel fahren.
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Der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Arthur William Russell wurde 1872 in England geboren. Als Realist vertrat er die Auffassung, dass die Dinge, die von den Sinnen wahrgenommen werden können, auch eine vom Geist unabhängige Realität besitzen. Er erhielt als „Verfechter der Menschlichkeit und der Gedankenfreiheit“ den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Jahre 1970. b Antinomie leitet sich vom griechischen „antonym“ ab. Es steht in den Sprachwissenschaften für Wörter mit entgegengesetzter Bedeutung, in der Mathematik für einen Widerspruch eines gültigen Satzes oder zweier Sätze in sich.
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Als Mathematikstudent hatte ich das Problem, dass ich nicht wusste, warum ich überhaupt noch Mathematik studieren sollte, da sie in sich widersprüchlich ist und damit insgesamt nicht wahr sein konnte. Heute bin ich von diesen beiden „Schwarzen Löchern“ in der Formalen Logik der Mathematik zutiefst fasziniert. Denn sie gewährleisten, dass die Welt nicht langweilig wird, weil wir schon alles kennen. Immer kann überraschend etwas Neues, nie vorher Dagewesenes auftauchen. Und sie verscheuchen auf Dauer den Laplaceschen Dämonen: Die Zukunft des Universums vollständig vorherzusagen ist unmöglich. Formal steht Emergenz in diesem Buch also für alle Unvollständigkeiten der physikalischen Beschreibbarkeit des Kosmos. Sie bezieht sich auf alle Objekte oder Fähigkeiten, die in keinem Widerspruch zu den physikalischen Gesetzen stehen, aber durch sie nicht mehr adäquat verstanden werden können. Diese Objekte oder Fähigkeiten sind Folge zunehmender Komplexität. Emergenz beschreibt das Entstehen derjenigen Teile einer Gesamtheit, die über die Summe der Einzelteile hinausgehen. Gott als Emergenz Die Eigenschaften, die den Menschen von den Tieren unterscheiden, sind zum großen Teil keine Neuerungen, sondern nur qualitative Verbesserungen: Menschen haben ein höher entwickeltes Gehirn, aber nicht das größte. Sie haben bessere Möglichkeiten, ihre Umwelt zu manipulieren, aber auch ein Schimpanse benutzt Werkzeug. Sie leben in einer komplexen sozialen Gemeinschaft, aber auch ein Ameisenhaufen ist komplex organisiert. Sie verfügen über eine hoch entwickelte Kommunikation, aber auch Wale verständigen sich über komplizierte Gesänge. Dass es viele lediglich graduelle Unterschiede gibt, ist nicht verwunderlich. Der Mensch wurde allmählich zum Menschen, mit kleinen Schritten der Weiterentwicklung. Doch unserer technischen Zivilisation hat das gesamte Tierreich nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Zivilisation ist die bedeutendste Erscheinung seit der Entstehung der Organismen. Der Menschheit gelang die direkte Ausnutzung von Energiequellen außerhalb des Stoffwechselbereiches wie des Holzes, der Kohle, des Erdöls oder der Atomkraft. Kulturelle und technische Errungenschaften und die Menschwerdung bedingen sich gegenseitig.a Die Entwicklung der Informationstechnik von der Tontafel bis zur CD-ROM ist nicht allein Ergebnis unseres technischen Fortschrittes, sondern gleichermaßen Voraussetzung der Menschwerdung. Und diesen kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit kann man im Vergleich zu den Errungenschaften der übrigen Organismenwelt eine Einmaligkeit zusprechen: Kunst und Wissenschaft sind Bereiche, für die sich im Tierreich kaum Ansätze finden lassen. Mit der Zivilisation existiert auf der Erde das erste Mal die Möglichkeit, planvoll neues Leben entstehen zu lassen. Bisher waren nur die Mechanismen der Evolution am Werke, und diese hängen vom Zufall, von Versuch und Irrtum ab. Es gibt, was die Erschaffung a
Auch hier zeigt sich wieder deutlich, wie sinnlos es eigentlich ist, von Leben oder Individualität zu reden: Alles entwickelt sich miteinander als Ökosystem.
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neuer Lebensformen angeht, zwei Bereiche, die sich jedoch überschneiden werden: Ihre Grundlage ist einerseits die Gentechnologie, andererseits die Ingenieurstechnik. Die Gentechnik wird zu neuen Arten von pflanzlichen und tierischen Lebensformen führen, aber auch das menschliche Erbgut ist schon kein Tabu mehr. Roboter mit künstlicher Intelligenz werden sich zu noch nicht vorstellbarer Formenvielfalt entwickeln, den Weltraum erobern und uns möglicherweise deutlich an Intelligenz überflügeln. Da wir in einer ununterbrochenen Ahnenreihe zu immer höherer Komplexität stehen, ist es vernünftig, uns nicht als endgültige Krönung der Schöpfung anzusehen. Es wird zukünftig höher entwickelte Wesen geben. Es ist nur konsequent anzunehmen, dass diese Entwicklung erst dort gipfelt, wo uns unsere Vorstellungskraft allmählich verlässt, in einem Wesen also, das wir als Gott auffassen können. Nach Frank Tipler wird die letzte Stufe der Emergenz Gott selbst sein. Er tritt zum Ende der Entwicklung, die durch die Evolution angestoßen und gesteuert wird, in Erscheinung. Dieser von Frank Tipler entworfene Gottesbegriff hebt die Dualität zwischen Gott und der Welt auf. Es gibt keinen Gegensatz zwischen der Ordnung stiftenden Intelligenz einer außerhalb des Universums existierenden Gottheit und dem Materiellen im Universum mit seinem scheinbaren Hang, ins Chaos zu verfallen. Frank Tipler hebt ihn auf zugunsten einer vollständigen und stetigen Entwicklung eines allumfassenden Universums mit dem Chaos am Anfang und der vollständigen Ordnung am Ende. Absicht Absicht ist etwas, was erst auf der Stufe des Menschseins deutlich hervortritt. Niemand würde dem Roboter, der nur zwei Regeln kennt und trotzdem alle Teelichter zusammenschiebt, ernsthaft eine Absicht unterstellen. Trotzdem ist sein Tun von einer absichtsvollen Handlung nicht zu unterscheiden. Ameisen, die einer Duftspur folgen, machen dies, weil ein Programm in ihnen abläuft. Trotzdem ist es ihre Absicht, zur Futterquelle zu gelangen. Aber erst auf der Stufe der Intelligenz können wir wirklich von absichtsvollem Handeln sprechen. Generell ergibt sich Sinn erst auf der Ebene hoher Komplexität. Wir finden ihn bei Betrachtung des Ganzen, nicht aber auf der Ebene des Reduktionismus, wie sie die Naturwissenschaften darstellt. Sinn entsteht erst allmählich im Universum. Ein Universum ohne Leben ist ohne Bedeutung. Erst durch das intelligente Leben erhält das Universum eine Art von Sinn. Gleichzeitig kann erst ein intelligentes Lebewesen diesen Sinn verstehen. Für Frank Tipler ist es das Leben selbst, das in weiter Ferne davon, unbedeutend zu sein, der Existenz des Universums ihren Letzten Sinn und Zweck verleiht.3
4.2
Sprunghafte Evolution
Die Evolution war nicht nur ein kontinuierlicher und gradueller Prozess, neue Fähigkeiten tauchten oft sprunghafter, unvermittelt und unvorhersehbar aus dem Urgrund auf. Das Entstehen der höheren chemischen Elemente wie Gold oder Uran ist auf der Ebene der kleinen Teilchen ein gutes Beispiel dafür: Diese Atome entstehen plötzlich und nur durch die furchtbare Gewalt einer Supernova. Und nur durch die Explosionen von Sonnen 206
konnten die Kohlenstoffatome mit ihrer im Inneren von Sternen neu erworbenen Fähigkeit, komplexe Moleküle bis hin zu Organismen zu formen, in das Weltall verstreut werden. Nachdem über fast drei Milliarden Jahre keine nennenswerte Höherentwicklung von Organismen seit der Entstehung der Einzeller auftrat, entstanden in der sogenannten Kambrischen Radiationa in nur fünf Millionen Jahren fast die gesamten Tierstämme. Abrupte Übergänge wurden nicht nur durch Katastrophen wie Supernovaausbrüche, sondern auch durch revolutionäre Erfindungen wie die DNS, die Neuronen oder die Intelligenz initiiert. Sigmund Freud sah, als er seine zwei Kränkungen der Menschheit durch die Wissenschaften formulierte, lediglich in die Vergangenheit. Er vernachlässigte die zeitliche Begrenzung, mit der die Geologie die Bedeutung des Menschen einschränkt. Spezies überdauern im Schnitt nur 10 Millionen Jahre, während die Erde noch die hundertfache Zeit hat, neue, noch raffiniertere Wesen hervorzubringen. Auch wenn der Mensch sich zur Zeit für die Krone der Schöpfung hält, so ist aus der Geschichte der Evolution doch zu lernen, dass unsere Nachfahren uns an Komplexität überlegen sein werden: Wir sind bestenfalls der „letzte Schrei“, aber wohl kaum das „letzte Wort“ in der Stammesgeschichte der Organismen. In der Physik kann man alles mit ein paar Theorien und Naturkonstanten beschreiben. Alles lässt sich auf einfache Regeln zurückführen und alles steht miteinander in Verbindung. Dies lässt den Physiker John Weeler sogar meinen, dass es im Universum nur ein einziges Elektron gäbe, dass in der Zeit vor und zurück rast und damit die Gesamtheit aller beobachtbaren Elektronen erzeugt. Wir kennen aus unserer alltäglichen Erfahrung Bewegung, die Wärme und den Schall. Nachdem Sir Isaac Newton die Gesetze der Bewegung erklärt hatte, so schreibt Richard Feynman, entdeckte man bald, dass einige dieser scheinbar verschiedenen Dinge Aspekte ein und derselben Sache waren. Beispielsweise ließen sich die akustischen Erscheinungen vollständig mit der Bewegung von Atomen der Luft erklären. Damit fiel die Akustik als eigenständiges Gebiet weg. Nicht anders sei es der Wärmelehre ergangen und so wurden große Bereiche der physikalischen Theorie zu einer vereinfachten Theorie zusammengefasst.4 Diese Art von Vereinheitlichung bietet sich meiner Ansicht nach auch in der Biologie an.
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Das Kambrium ist das geologische Zeitalter von 570 Millionen Jahren bis 510 Millionen Jahren vor heute. Der englische Geologe Adam Sedgwick führte 1835 diese Bezeichnung für Sedimentgesteine in Wales, dem römischen „Cambria", ein, welches in diesem Zeitraum abgelagert wurde. Dieses geologische Zeitalter ist berühmt für seine schnelle Ausbreitung, für die Radiation der mehrzelligen Lebewesen.
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4.3
Die vierte Domäne Dabei sollten wir uns immer bewusst bleiben, dass das Schicksal der Menschheit in unseren eigenen Händen liegt und die Weigerung, diesen Traum zu realisieren, zurück in die Barbarei führt.5 (Edward O. Wilson)
Unsere verwirrendste neue Fähigkeit ist zweifellos unsere Kreativität, aus der heraus wir fähig sind, Technik zu entwickeln. Technik ist eine natürliche Folge der Intelligenz und damit durchaus der Biosphäre zuzurechnen. Technik und Intelligenz entwickelten sich in einer klassischen Form einer gemeinsamen Evolution, einer Koevolution: Technik ist notwendige Voraussetzung für Intelligenz. Denn erst z. B. die Erfindung von Pfeil und Bogen erlaubte es unseren Vorfahren, so energiereiche Nahrung zu erbeuten, dass sie sich ein aufwendiges Gehirn leisten konnten. Gleichzeitig erlaubte aber auch erst ein großes Gehirn, die ballistischen Aufgaben zu berechnen, die der Pfeilflug mit sich bringt. Technik ist unabdingbar, wenn das Leben nicht nur einen kurzen Moment im Universum existieren soll: Unsere Erde bleibt vielleicht noch eine weitere Milliarde Jahre bewohnbar. Spätestens aber, wenn die Sonne sich zu einen Roten Riesen wandelt, kann die Biosphäre auf unserem Planeten Erde nicht länger überleben. Aber wahrscheinlich käme das Ende sehr viel früher und überaus plötzlich. Etwa alle 100 Millionen Jahre ist mit dem Einschlag eines Asteroiden von der Größe zu rechnen, der das Ende der Dinosaurier bedeutete. Dieser, an der geologischen Zeitgrenze zwischen Kreide und Tertiär vor etwa 65 Millionen Jahren herabgestürzte Asteroid hatte lediglich einen Durchmesser von 10-20 Kilometern. Wir würden so einen Himmelskörper ohne hochauflösende Fernrohre nicht einmal beim Anflug bemerken. Noch häufiger sind Kometen-Einschläge zu erwarten. Auf dem Jupiter ist vor nur ein paar Jahren so ein „schmutziger Schneeball“ spektakulär niedergegangen. Wir müssen davon ausgehen, dass solch ein Ereignis zumindest das Ende unserer Zivilisation darstellen würde. Das Leben auf unserer Erde muss das Weltall erobern, um überleben zu können. Technik ist daher eine weitere Folgerung aus dem Postulat von Frank Tipler über das ewig belebte Universum. Das Leben wird nur eine sehr vorübergehende Erscheinung im Universum bleiben, wenn es nicht lernt, Technik zu entwickeln und zu nutzen. Dabei wird sich die Technik in enger Symbiose mit der und nicht etwa als Antithese zur Biosphäre entwickeln. Dies wird spätestens in Raumstationen offensichtlich, wenn in diesen biologische und technische Systeme ineinander greifen, um das Überleben der Menschen zu gewährleisten: Biotope, die das Kohlendioxid beseitigen und Sauerstoff dabei produzieren, die das Wasser reinigen und nicht zuletzt, die Nahrung für die Menschen produzieren. Drei klassische Domänen Meine These an dieser Stelle lautet, dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der belebten und unbelebten „Natur“ gibt. Technik ist etwas, dass man ganz ähnlich wie das Organismenreich beschreiben kann. René Descartes hatte vorgeschlagen, Tiere als seelenlose Automaten anzusehen. Bakterien sind chemische Werkstätten, in denen nach
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einer Blaupause der DNS ganz spezielle chemische Produkte hergestellt werden. Die Gentechnologie nutzt Bakterien genau in der Art: Als Produktionsstätte zum Beispiel für menschliches Insulin. Schauen wir uns eine Definition von Leben an, so wie sie der Physiker Lee Smolin vorschlägt. • • •
Ein lebendes System ist ein selbstorganisiertes Nichtgleichgewichtssystem, dessen Prozesse durch ein symbolisch gespeichertes Programm (Lee Smolin meint hier die DNS und RNS) gesteuert werden und das sich einschließlich des Programms selbst reproduzieren kann.
Lee Smolin sieht die Stärke dieser Definition darin, dass hier die Existenz von Leben in der Physik - und zwar der richtigen Physik - begründet wird [...].6 Nun, die nachdrückliche Betonung der Physik wird die Biologen vielleicht ein bisschen ärgern. Aber die Definition hat ihre Vorteile: Funktionierende technische Systeme sind in der Regel Nichtgleichgewichtssysteme im Sinne der Thermodynamik. Wir können folgern: Wenn technische Gerätschaften zusätzlich die Fähigkeit der Selbstreproduktion erwerben sollten, wären auch sie im Sinne dieser Definition „lebendige“ Systeme. Selbstreproduktion ist aber kein qualitatives, sondern lediglich ein technisches, nicht mal besonders anspruchsvolles Problem. Vor nicht allzu langer Zeit gruppierte man alle Lebensformen in zwei Domänen. Auf der einen Seite standen die einfach gebauten einzelligen Bakterien ohne Zellkern, genannt Bacteria. Ihnen gegenüber gestellt wurden die ein- bis vielzelligen Lebensformen, deren Zellen Zellkerne besaßen. Zu diesen sogenannten Eukarya gehörten alle Pilze, Pflanzen und Tiere. In jüngerer Zeit entdeckte man an extremen Standorten urtümliche Mikroben, die zu keiner dieser beiden Einteilungen zu gehören schienen. Bei der Analyse von Erbgut dieser Einzeller erwies sich, dass diese sowohl verwandte Merkmale mit den Bacteria wie mit den Eukarya besaßen, mehr jedoch eigenständige Gensequenzen aufwiesen. Eine dritte Domäne des Lebens war entdeckt, die man Archaea nannte. Alle drei Domänen entwickelten sich aus einem Vorläufer. Aber den molekularen Stammbäumen zufolge entwickelten sich die Bakterien nicht aus den Archaebakterien. Da die technische Welt von ihrer Art her deutlich verschieden von der Biosphäre ist, schlage ich hier vor, ihre Gesamtheit als Technosphäre zu bezeichnen und ihre Arten einer neuen Domäne des Lebens zuzuordnen, der Technaea. Prinzipielle Gleichartigkeit Abgrenzung stärkt das soziale Verhalten in der Gruppe und schwächt es gegenüber Außenstehenden. Sie ist ein Grundreflex des Menschen, entwickelt aus der Notwendigkeit heraus, in einer Gruppe das „Wir-Gefühl“ zu stärken und gegenüber Nichtmitgliedern die Tötungshemmung zu überwinden. Wir sind stets bestrebt, uns abzugrenzen, sie durchzieht subtil unser gesamtes Denken. Es blieb Charles Darwin vorbehalten, uns die Unberechtigtheit vor Augen zu führen, mit der wir uns über das Tierreich erhoben sahen. 209
Wir sind natürlicher Teil der Evolution und alles, was wir produzieren ist damit gleichfalls natürlichen Ursprungs. Technik ist aus derselben Zwangsläufigkeit heraus entstanden, wie das Leben selbst. Unsere Verstandes- und Sinnessysteme haben sich als biologische Apparate zur Erhaltung und Verbreitung unserer Gene entwickelt. Sie haben uns bisher lediglich erlaubt, einen Teilausschnitt der realen Welt zu überblicken. Die Wissenschaft hat alle unsere Sinne geschärft, sie hat dieses Handicap deutlich verringert. Wir können nun in Bereichen hören, die weit jenseits unseres normalen Gehörs liegen, wenn wir das Radio anstellen. Wir können für uns das infrarote und das ultraviolette Licht sichtbar machen. An Brillen, Hüftprothesen und Herzschrittmachern haben wir uns bereits gewöhnt. Technische Geräte werden in Zukunft direkt mit dem Gehirn kommunizieren und auch Teilstrukturen des menschlichen Gehirns ersetzen oder ergänzen. Die Prothese der Zukunft wird ein gentechnisch hergestelltes organisches Ersatzteil sein, das nicht einmal mehr von unserer eigenen Immunabwehr als Fremdkörper erkannt werden wird. Die Gentechnik ermöglicht es uns, uns selbst quasi neu zu erfinden. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Menschheit wird in durchaus absehbarer Zeit in der Lage sein, sowohl intelligente Wesen auf der Basis der organischen Chemie, also durch Gentechnik, wie auch intelligente Wesen auf der Basis der „technischen Chemie“ zu erschaffen. So, wie wir uns abseits von der natürlichen Umwelt fühlen, so erscheinen uns die Dinge, die wir selbst erschaffen haben, noch abseitiger, noch unnatürlicher als wir selbst. Nun gibt es eigentlich keinen Unterschied zwischen der sogenannten organischen Materie und der nichtorganischen Materie. Die Lebenskraft eines Baumes wie auch eines Staubsaugers ist die elektrische Energie: Bäume assimilieren die Sonneneinstrahlung und benutzen sie für alle Lebensäußerungen. Möglicherweise befindet sich eine Solaranlage auf Ihrem Dach, wo die Energie für Ihren Staubsauger ebenfalls direkt aus der Sonneneinstrahlung erzeugt wird. Und bald kommen die ersten Putzgehilfen auf den Markt, die die Wohnung ohne unser Zutun absaugen. Betrachten wir es auch einmal anders herum: Daucus carota, die wilde Möhre, wurde über Generationen bis zur süßen Gartenmöhre entwickelt. Die meisten Obstbäume bestehen aus einer Konstruktion eines Unterbaus von Wurzeln und Stamm und eines aufgepfropften Astes einer Kultursorte. Die Euter von Rindern wurden auf unnatürliche Weise zu Hochleistungsorganen vergrößert. Dies sind alles Erfindungen des Menschen. Mit dem Aufdämmern des Industriezeitalters fügt sich, sich machtvoll ausweitend, ein neues Glied in die Evolutionskette ein. Es ist ein Lebensstamm, der auf einer anderen Art von Chemie aufbaut: Silizium, Metalle, Plastik. Aber genauso wie der Termitenbau ein natürliches Produkt ist, sind es auch die Pyramiden oder das Empire State Building. Und wenn es einmal denkende Computer geben wird, Maschinen, die mit künstlicher Intelligenz begabt sind, so ist in dieser unerhörten Neuerung lediglich die Zwangsläufigkeit der Evolution zu sehen. Man kann Technik mit denselben Methoden beschreiben, wie ich bisher das Werden der Lebewesen beschrieben habe. Technische Apparate haben einen evolutionären 210
Stammbaum ihrer eigenen Entwicklung. Sie reicht von der Keule zur Kanone, vom Handkarren zum Automobil, vom Abakus zum Computer. Die Ausweitung des Lebens von der einfachsten Bakterienzelle aus geschah vermutlich dadurch, dass sich zwei Zellen zu beiderseitigem Nutzen kombinierten: Eukaryoten, bei denen der Zellkern das Rudiment einer anderen Zelle darstellt, wurden der erfolgreichste Zelltyp auf Erden. Auch in der Technik entstanden durch Kombination von verschiedenen, schon bekannten Erfindungen mächtige neu Technologien. Es gab bereits eine Basistechnik der Energieerzeugung, den Dynamo, als Thomas Alva Edisona die Glühlampe erfand. Aber erst die Kombination von Glühlampe und Energieerzeugung brachte flächendeckend das Licht in die Nacht der Menschen. Heute scheinen die Roboter als möglicher neuer Zweig der Evolution dazu ausersehen, den Menschen zu übertreffen und neben und für ihn neue ökologische Nischen wie die Tiefsee oder den Weltraum zu erschließen.
4.4
Technosphäre
Nach der Gaia-Theorie begreifen wir die „natürliche Umwelt“ als einen einzigen Organismus, der das Klima und die chemischen Randbedingungen unseres Planeten zum Vorteil aller Organismen aktiv beeinflusst. Zu dieser Biosphäre gesellt sich seit einiger Zeit in enger Verflechtung mit dieser die Technosphäre. Man kann am Beispiel eines Autos leicht verdeutlichen, dass die gesamte Technosphäre ein einziges zusammenhängendes Ökosystem ist. Betrachten wir das Entstehen eines Autos: Um es überhaupt bauen zu können, müssen Ingenieure es zunächst konstruieren. Die Ingenieure erwarben zuvor ihr Know-how auf einer Universität. Um den dafür nötigen Wissenstransfer zu ermöglichen, musste bereits die Buchdruckerkunst erfunden worden sein: Bücher sind quasi die DNS der Technik. Dies sind nur einige der notwendigen Voraussetzungen, damit ein Auto überhaupt erdacht werden kann. Um es entstehen zu lassen, benötigen wir Stahlwerke, die wiederum ohne Bergbau, aus dem die Rohstoffe Kohle und Erz stammen, keinen Stahl erzeugen könnten. Wir benötigen Rohstoffe unterschiedlichster Art wie Gummi, Plastik, oder Kupfer für die Verdrahtung der elektrischen Systeme im Auto. Diese müssen erschlossen sein, veredelt und bearbeitet werden können. Drehbänke müssen bereits existieren, damit einzelne Teile geformt werden können, Schweißgeräte entwickelt sein, damit die Karosserie zusammengeschweißt werden kann. Es muss Treibstoff gefördert, veredelt und bereitgestellt werden, damit die Autos schließlich auch fahren können. Ästhetische Aspekte wie das Design, physikalische Aspekte wie der Windwiderstand und ökonomische Aspekte wie Gewichtsreduzierung erfordern eine immer weitreichendere Zusammenarbeit innerhalb der verschiedenen technischen Sparten. Kurz: Eine so komplizierte Maschine kann nur auf einer ganz spezifischen Stufe der technischen Evolution unter Zuhilfenahme vieler anderer Teile der Technosphäre entstehen.
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Der Amerikaner Thomas Alva Edison (*1847; †1931) war mit über 1 000 Erfindungen wohl einer der produktivsten Erfinder überhaupt.
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Selbstbestimmte Bewegung ist eine der ersten Innovationen der Evolution gewesen. Bereits einzellige Lebewesen, die Protozoen, haben eine Vielfalt an Fortbewegungstechniken entwickelt. Dazu gehören bewegliche Geißeln am Äußeren einer Zelle, oder Wimpern, die die ganze Zelle bedecken können. Die sogenannten Rhizopoden stülpen Zellplasma aus. All diese Erfindungen der Natur befähigen Einzeller, sich in Abhängigkeit von externen Reizen in bestimmte Richtungen zu bewegen. Die wichtigsten äußeren Faktoren sind Licht und Schwerkraft Aber auch thermische oder chemische Gradienten wie Kohlendioxid oder Sauerstoff können eine Rolle spielen. Verschiedene Protozoen reagieren außerdem auf mechanische Reize und sogar auf elektrische Felder. Je entwickelter die Fortbewegungsmittel und je besser die Wege wurden, desto beweglicher wurde der Mensch. Das Rad war sicherlich ein Quantensprung in der Entwicklung unserer Gesellschaften. Es zeigt sich in den Volkswirtschaften der Erde, dass Mobilität eine Grundvoraussetzung einer hochzivilisierten Welt ist. Der Ausbau der Verkehrswege und die damit verbundene Steigerung der Mobilität der Menschen steht in einer engen positiven Rückkopplung mit der Evolution der Technosphäre. Mit der Erschaffung der Technosphäre baut der Mensch die Erde im globalen Maßstab um. Die Erde wandelt sich in einen weltumspannenden Biosphären-TechnosphärenOrganismus mit einem auf die Menschheit zugeschnittenen Metabolismus. In den Städten wird Wasser und Strom durch ein Adernetz bis in das letzte Haus geleitet. Transportmittel erreichen jede abgelegene Ecke der Welt und holen oder bringen jede erdenkliche Ware. Geldströme fließen virtuell in einem riesigen Computernetzwerk in Sekundenschnelle über Ländergrenzen und branden wieder zurück. Die Technosphäre bedrängt und durchdringt die Biosphäre, vernichtet einen Teil und erschließt gleichzeitig den übrigbleibenden Rest für den Menschen. Verdrängung ist ein notwendiger Teil der Selektion, da in der Regel alle ökologischen Nischen bereits besetzt sinda. Bedeutend ist aber, dass die Durchsetzung der Technosphäre auf Kosten der Biosphäre lediglich dazu dient, letztere besser mit den Menschen zu vernetzen und nicht, den Menschen oder die übrige Biosphäre untergehen zu lassen. Die tiefsitzende Angst vor der Technik liegt darin begründet, dass wir fürchten, die Technosphäre werde auf die Dauer die Biosphäre vollständig überwuchern und schließlich ersticken. Aber es gibt eher eine Konvergenz zwischen technischen und biotischen Systemen: Am Boston College wurde jetzt in Fortführung der historischen Bemühungen, Motoren immer weiter zu miniaturisieren, ein Motor aus einem einzigen „organischen“ Molekül mit weniger als fünfzig Kohlenstoffatomen konstruiert. Ähnliche molekulare Minimotoren versetzen Bakterien und Protozoen in die Lage, sich in ihren Lebensumgebungen zu bewegen. An dieser Stelle wird die Technosphäre und die Biosphäre kaum noch unterscheidbar.
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Eine Ausnahme ergibt sich, wenn globale Katastrophen ökologische Nischen freigefegt haben.
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Daneben geht der Trend hin zur Kooperation: Spätestens in Raumstationen werden Technik und Biosphäre in enger Symbiose miteinander verschmelzen: Das eine wird ohne dass andere nicht denkbar sein! Maschinen werden die Luft umwälzen, die die Menschen ausatmen, und die Pflanzen an Bord werden sie mittels der Photosynthese wieder aufbereiten. Technische Systeme entstehen nicht „blind“ durch zufällige Mutation, sondern durch menschliche Vorstellungskraft und Intuition. Sie entwickeln sich aus einer Kombination von Planung und Auslese. Sie unterliegen denselben Prinzipien der Evolution wie James Lovelock diese formulierte: Wenn in der realen Welt ein Organismus den materiellen Zustand seiner Umgebung durch seine Handlungsweise zu seinem Vorteil verändert und sich infolge davon häufiger fortpflanzt, dann wird sowohl die Art wie auch die Veränderung solange zunehmen, bis ein neuer stabiler Zustand erreicht ist.7 Tut er das umgekehrte, schadet er seiner Umwelt gar, werden seine Nachkommen rasch vom Antlitz der Erde getilgt. Technische Systeme, die der Umwelt zu sehr schaden, werden wegen dieser Regel früher oder später aussterben. Nur diejenigen technischen Systeme, die das Potential zur Umweltverträglichkeit haben, werden langfristig überleben. Dies gilt für Kraftwerke, deren technische Fortentwicklung sie immer „sauberer“ werden ließ und die nach wie vor noch großes Potential in ihren Entwicklungsfähigkeiten haben, etwa in Form von Solaranlagen. Dies gilt für Autos, deren Spritverbrauch immer weiter abnimmt, wobei der Schadstoffausstoß zusätzlich durch den Einbau von Katalysatoren abnahm. Die nächste Generation saubererer Autos, die sogenannten „Null-Emission“-Autos sind bereits in der Entwicklung. Es wird konkret an Lösungen gearbeitet, die zur weitgehenden Umweltverträglichkeit führen werden, wie z.B. zu einem Antrieb mit Wasserstoff. Ökologie durch Ökonomie Jeder Organismus muss sich entscheiden, wie er seine Ressourcen einsetzt und verbraucht. Der optimale Einsatz der verfügbaren Mittel entscheidet darüber, wie erfolgreich ein Organismus in bezug auf seine Fortpflanzung ist. In den Theorien über Innovation in der Wirtschaft wird heute Innovation nicht so sehr als Erfindung, sondern als erfolgreiche Einführung in den Markt gesehen. Der ökonomische Erfolg in der Technik entspräche, so Alfred Gierer, damit ungefähr der „Fitness“ im Rahmen biologischer Evolution. Die technische Evolution lässt sich auf ein einfaches Ziel reduzieren: „Optimierung des Preis-Leistungsverhältnisses“ zum Wohle des Verbrauchers. Die Verbraucher sind wir, die Menschheit. Die Technikgeschichte zeigt, dass immer weniger umweltschädigende Produkte von immer ressourcenschonenderen Industriebetrieben hergestellt werden. Und es liegt buchstäblich in der Natur der Sache, dass sich dieser Trend fortsetzt: Produkte und Produktionsabläufe werden unter dem Einfluss der Evolution immer rohstoffschonender, schadstoffärmer, und effizienter in der Erfüllung ihrer Aufgaben. Technische Systeme werden von Menschen für den Menschen gemacht. Der Mensch ist fest in Gaia eingebunden und ohne die funktionierende Biosphäre der Erde würde er untergehen. Ernsthafte, schädigende Auswirkungen der Technosphäre auf die Biosphäre 213
sind ein Entwicklungsnachteil. Sie entstehen als Sackgasse der technischen Evolution mit demselben Schicksal, das allen schlecht angepassten Organismen zugeeignet ist: Sie verschwinden schnell wieder. Und genau aus diesem Grunde hat sich in allen entwickelten Ländern der Umweltschutz als ein bedeutender Antrieb technischer Innovationen etabliert. Denn langfristig ist die Ökologie nichts anderes als die Ökonomie: Beide Bereiche unterliegen der Forderung, mit dem geringsten Aufwand den maximalen Mehrwert zu schaffen. Autos, die weniger Treibstoff brauchen und weniger Folgekosten durch den Schadstoffausstoß verursachen, sind gleichermaßen ökologisch wie ökonomisch sinnvoll. Es hebt den Gesundheitszustand von Mensch und Wäldern, wenn das durch die Autos verursachte Ozon wegfällt, das die Atemwege von uns Menschen und die Blätter der Bäume gleichermaßen schädigt. Die Forstwirtschaft und die Krankenkassen würden dadurch viel Geld sparen. In einem Ökosystem zirkulieren Stoffe in Kreisläufen. Ein Blatt fällt von einem Baum. Am Boden zerlegen Mikroben es in Minerale und CO2. Die Minerale können nun vom Baum wieder über die Wurzeln, das CO2 über die Blätter aus der Luft aufgenommen werden. Dieses versetzt den Baum in die Lage, wieder Blätter auszutreiben. Zum Teil funktionieren solche Kreisläufe schon über die Grenze zwischen Öko- und Technosphäre hinweg. Holz wird zu Faserstoff aufgearbeitet, aus dem Papier hergestellt wird. Das Papier findet seine Verwendung als Zeitung, und wird schließlich als Altpapier gesammelt und kompostiert. Der Kompost düngt Bäume und der Kreislauf kann von vorn losgehen. Langfristig werden sich solche Kreisläufe überall durchsetzen, denn die Ökonomie funktioniert wie die Ökologie: Der Verbrauch von Energie und Material wird optimiert, Abfallerzeugnisse werden minimiert. Die beim Fertigungsprozess anfallenden Reststoffe werden wie die Produkte selbst, wenn sie ausgedient haben, als Rohstoffe für andere Produkte Verwendung finden.
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Die Teleologie der technischen Evolution
Spätestens bei der Erschaffung der technischen Spezies hält die Teleologie der Evolution unabweisbar Einzug: Maschinen werden für einen Zweck gebaut, haben zusammen mit ihrer Erschaffung einen Auftrag. Sie würden nie Geburtsrecht erhalten, wenn sie nicht zur Erfüllung ihres Auftrages taugen würden. Wenn Frank Tipler recht hat, haben sie außerdem einen langfristigen universalen Auftrag. Sie sollen helfen, das Weltall zu kolonialisieren, es mit Leben zu erfüllen und alle zur Mitarbeit zu bewegen, damit der Kosmos auf immer ein Hort des Lebens bleiben kann. Augustinus hat in seiner Exegese über die Erschaffung der Welt und dem Ruhen Gottes am siebten Tag gefolgert, dass nach dem sechsten Tag alles fertig war, und der Mensch daran auch nichts mehr ändern sollte. Der große Kirchenlehrer Augustinus sah Fortschritt als Sünde an! Für den großen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau waren soziale Ordnung und Wissensgewinn schlichtweg Feinde der Menschheit. Ich vertrete hier den genau entgegengesetzten Standpunkt: Wir haben den Auftrag die Technik, uns und unsere Gesellschaft weiter zu entwickeln, um aus der engen ökologischen Nische Planet Erde herauszukommen, damit sich das Leben ausbreiten und seiner Bestimmung folgen kann. 214
4.6
Maschinenleben
Wenn Gott als Wesenheit in Folge der Evolution in ferner Zukunft auftreten wird, müssen wir uns fragen, wie die Entwicklung zu dieser Wesenheit hin fortschreiten wird. Nach der Omega-Theorie von Frank Tipler wird er als ferner Nachfahre unserer heutigen technischen Welt entstehen. Die Erforschung der Anfänge des Lebens beleget, dass nichtbelebte Systeme in lebendige übergingen, ohne dass wir auf Konstrukte wie Lebensodem oder Seele zurückgreifen müssen. In einem Urozean auf der Erde setzten sich die ersten Zellen durch Selbstorganisation der beteiligten chemischen Moleküle zusammen. Diese entwickelten sich von da an zu der Lebensvielfalt, die wir heute auf der Erde antreffen. Leben ist also nichts anderes, als das Zusammenwirken verschiedener chemischer Bauteile. Maschinen sprechen wir intuitiv das „lebendig Sein“ ab. Wir sehen Technik als kalt und leblos an. Sie scheint nicht in das verwobene Netz des Organismenreiches zu gehören, in dem sich alles vom Aufbau her sehr ähnelt: Alles Leben basiert auf der Kohlenstoffchemie. Fremdes abzulehnen ist eine tiefsitzende Grundstimmung des menschlichen Gemüts: Roma sind für Roma Menschen und die anderen sind „gadgés“, Fremde. Menschen, das sind der eigene Stamm, dann sind es alle anderen Menschen. Verwandt fühlen wir uns am ehesten den Affen, weil die uns ähnlich sind. Wir fühlen uns in die Biosphäre eingebettet, weil wir aus dieser hervorgegangen sind. Aber einen rationalen, naturwissenschaftlich belegbaren Grund, Maschinen die Lebendigkeit als Eigenschaft abzusprechen, gibt es eigentlich nicht. Die Entstehung der Organismen auf der Erde war eine graduelle Entwicklung: Zuerst waren es chemische Komplexe, die miteinander agierten. Irgendwann war ein genügend hoher Grad der Komplexität erreicht, und ab da nennen es die Biologen „Leben“. Dass aus etwas Unbelebtem nur aufgrund der gewonnenen Komplexität etwas Belebtes entstehen kann, führt zu einer unausweichlichen Analogie: Maschinen, deren unbelebte Teile miteinander agieren, gewinnen ab einer genügend hohen Stufe der Komplexität dasselbe Privileg: Als lebendig angesehen zu werden. Ein Organismus besteht aus lauter „unbelebten“ Einzelteilen, letztlich aus Atomen oder Molekülen. Warum sollte also ein chemischer Bauplan, ein Genom, plus Baumaterial exklusiv lebendig sein, während vielleicht ein sich selbst reproduzierender Roboter mit der Gehirnkapazität des Vielfachen eines Menschen immer noch als „nicht lebendig“ angesehen wird? Aristoteles, der wohl berühmteste Philosoph des Altertums und Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften, schreibt in seiner Abhandlung „Über die Seele“: Das Beseelte scheint sich vom Unbeseelten durch zweierlei zu unterscheiden: Durch Bewegung und durch Wahrnehmung. Mit dieser Definition hätte Aristoteles große Schwierigkeiten, einem Roboter die Seele abzusprechen. Grob betrachtet sind Roboter Computer mit Gliedmaßen zum Agieren und Sensoren zum Reagieren. Sie nehmen ihre Umgebung wahr und können darauf reagieren, etwa durch das Ausweichen vor einem Hindernis. Was wir zur Zeit an Entwicklungen auf dem Gebiet der Robotik erleben, ist das frühe Embryonalstadium einer Spezies, die uns über kurz oder lang in den meisten Disziplinen 215
des Lebens überlegen sein wird. Die Analogien zum Belebten werden dabei immer zahlreicher: Die Fähigkeiten zur Selbststeuerung, Lernfähigkeit, begrenzten Eigenreparatur und sogar Selbstreproduktion wurden schon erfolgreich auf Maschinen übertragen. Den Dualismus zwischen den Menschen auf der einen und den „Maschinenwesen“ auf der anderen Seite aufzugeben, scheint gewagt. Doch hat dieses Aufgeben von schwer nachzuvollziehenden Unterscheidungen zugunsten einer Vereinheitlichung in den Naturwissenschaften eine großartige und erfolgreiche Tradition: Charles Darwin löste den Gegensatz von Mensch und Tier in der Evolutionstheorie in eine stetige Abfolge vom Affen zum Menschen auf, in der die Entwicklung der einen Spezies ohne Bruch in die andere übergeht. Das ermöglichte ein vertieftes Verständnis unserer eigenen Natur. Die Konsequenz der Darwinistischen Revolution war, dass wir akzeptierten, Nachkommen von Affen zu sein, weder perfekt konstruiert noch gottgeschaffen. Nun ergibt sich eine Folgeerscheinung einer „neobiologischen“ Revolution, wie Kevin Kelly sie nennt: Wir werden uns eingestehen müssen, die zwangsläufigen Vorfahren von intelligenten Maschinen zu sein. Kevin Kelly behauptet sogar, dass die bedeutendsten Entdeckungen des neuen Jahrhunderts an jene Menschen gebunden sein werden, die die einheitliche Beschaffenheit von Technologie und Leben feiern, erforschen und ausbeuten werden.8 Evolution der Roboter Jede biologische Definition von Leben ist im Prinzip wenig mehr als anthropozentrischer Übermut. Wir wollen uns als die Könige der Schöpfung, aber mindestens als etwas Besonderes fühlen, als erhaben über die unbelebte Natur. Als hübscher Nebeneffekt schließen solche Definitionen von vornherein gewichtige Mitkonkurrenten um diese Krone aus: Die Roboter. Roboter blicken wie wir Menschen auf eine lückenlose Ahnenreihe zurück. Sie reicht vom einfachsten Angelstöckchen, mit denen Schimpansen Termiten aus ihren Bauten holen über den Grabstock, mit denen unsere Altvordern ihre Äcker bestellt haben, über den Traktor bis hin zum satellitengesteuerten Ernteroboter. Technische Gerätschaften unterlagen einem stetigen Selektionsdruck: Die Steinschleuder wurde von Pfeil und Bogen verdrängt, diese durch die Vorderlader des ausgehenden Mittelalters. Auch dieser Waffentyp ist schon längst Technaea-Paläontologie, heute benutzt man Schnellfeuergewehre mit Laserzielführung. Roboter bestehen zum großen Teil aus Komponenten, die sich in anderen technischen Apparaten bewährt haben. Ähnlich wie bei dem Genaustausch in der Bakterienwelt werden Blaupausen aus vorhandenen technischen Geräten umgewidmet, neu interpretiert und angepasst. Als Entfernungsmesser für die ersten Roboter wurden zum Beispiel die Sensoren aus Polaroidkameras verwendet. Diese Kameras waren billig und hatten einen guten Entfernungsmesser. Den baute man aus, den Rest der Kamera warf man weg, und wenig später navigierte dann ein Roboter mit diesem Sensor. Wie bei den Organismen gilt auch bei den Robotern das Gesetz der Auslese. Entweder ein Roboter bewährt sich, dann wird er möglicherweise mehrfach gebaut oder man entwickelt auf seinem Bauplan aufbauend einen Nachkommen. Andernfalls kommt er auf die 216
Schrotthalde für Fehlentwicklungen. Die gesamte Roboterpopulation schätzte Gero von Randow für das Jahr 1996 auf ca. eine Million Exemplare in Größen von 3 Millimeter bis 30 Meter und für ganz unterschiedliche Bereiche konzipiert. Ihre Diversität explodiert, wie es analog auch immer bei den Organismen auf der Erde zu beobachten war, wenn neue ökologische Nischen besetzt werden konnten. Für Roboter gilt, im Gegensatz zum Organismenreich, dass neu erworbene Eigenschaften sofort in den Bauplan des Roboters, sein „Genom“ übernommen werden können. Das ist, obwohl es harmlos klingt, eine enorme evolutionäre Neuerung. Organismen ist es nicht möglich, erworbene Eigenschaften direkt in die Gene zu übernehmen: Die Übersetzung der genetischen Instruktionen zum Bau eines Organismus ist nicht umkehrbar.9 Man nennt dies auch das „zentrale Dogma“ von Francis Crick, dem Entdecker der räumlichen Struktur der DNS. Lernt ein Schimpanse, mit einem Stöckchen nach Termiten zu angeln, so kann er diese neu erworbene Fähigkeit nicht an seine Töchter und Söhne vererben. Er muss diese Fangtechnik seinen Kindern immer aufs Neue mit pädagogischen Mitteln beibringen. Bei Robotern ist es dagegen ohne weiteres möglich und wird auch so gemacht. Zweckmäßige Neuerungen, die man an ihm vornimmt, werden direkt in die Gene, d. h. den Bauplan seines Nachfahren hineingeschrieben. Die Basis der Maschinenintelligenz ist das chemische Element Silizium. Silizium ist von ähnlicher chemischer Variabilität wie der Kohlenstoff und baut auf der Erde eine Vielzahl von mineralischen Verbindungen auf. Aufgrund seiner größeren chemischen Stabilität konnte Silizium bei der Entstehung der Organismen auf der Erde nicht zum Zuge kommen. Der Kohlenstoff war unter den gegebenen Umweltbedingungen das chemische Element mit dem größten Potential, sich zu immer komplizierteren Mustern zu strukturieren. Aber wenn Siliziumverbindungen erst entstehen können, haben sie gerade durch ihre chemische Stabilität einen evolutionären Vorteil: Verbindungen auf der Grundlage von Silizium können besser dem Zweiten Thermodynamischen Gesetz widerstehen. Sie sind schlicht stabiler als es die reaktionsfreudige Chemie der Kohlenstoffatome zulassen würde. Siliziumchips sind sehr viel unempfindlicher gegen Strahlung, Hitze und Kälte als die Neuronen des menschlichen Gehirns, und sie können noch im Vakuum arbeiten. Damit sind sie prädestiniert, dorthin aufzubrechen, wovon die Menschheit bisher nur träumen kann, zu den Sternen. Triebfeder der Evolution der Roboter ist die Ökonomie. Gero von Randow rechnet vor, dass sich allein auf dem Markt der kommerziellen Toilettenreinigung leicht eine Marktchance von über 10 Milliarden Mark ergibt.10 Diejenigen Roboter, die diesen Job am besten und mit dem wenigsten Ressourcenverbrauch erledigen, werden sich auf dem Markt durchsetzen. Roboter besetzen immer mehr Tätigkeitsfelder, in denen sie direkt mit der Arbeitskraft von Menschen konkurrieren. Daneben erobern Roboter vielfältige ökologische Nischen, die dem Menschen nur schwer oder gar nicht zugänglich sind: Die Tiefsee oder der verstrahlte Bereich von Atomanlagen, um nur zwei Beispiele dafür zu nennen. Die beeindruckendsten Erfolge feierte die Robotik im Weltraum. Einige der spektakulärsten Weltraumflüge der letzten 30 Jahre wurden von unbemannten 217
Raumsonden durchgeführt: Die Raumsonde Voyager drang ins äußere Sonnensystem vor. Die Sonde Magellan kartographierte mittels Radar die Oberfläche der wolkenverhüllten Venus. Im Jahr 1970 erkundete der russische Lunochod I die Oberfläche des Mondes in einer kilometerlangen Fahrt, 1976 landete Viking I auf dem Mars und untersuchte, ob es auf dem Mars Spuren von Organismen gibt. Die Mission Pathfinder, die 1997 ebenfalls auf dem Mars landete, wurde sogar zu einem ähnlich spektakulären Medienereignis, wie es die Mondlandungen der Apollo-Missionen waren. Im Juni 1998 wurde die Raumsonde Deep Space One in Richtung Mars gestartet. Erstmals wurde diese Sonde nicht ausschließlich von einer Bodenstation aus gesteuert. An Bord befand sich „Remote Agent“, ein Computer mit sogenannter Künstlicher Intelligenz.a Remote Agent wird von der NASA als Trendsetter angesehen, der in Zukunft Astronauten ablösen wird. Kenneth Ford von der NASA nennt dafür einen plausiblen Grund: Astronauten sind zu schwer und sterben zu leicht.11 Die NASA hatte schon in den sechziger Jahren Szenarien entwickelt, wie sich selbst reproduzierende und reparierende Roboter auf dem Mond Produkte für die Menschheit herstellen könnten. Versorgt mit Solar- und Kernenergie würden diese Roboter auf dem Mond Fabriken konstruieren und errichten und alles, was die Menschheit ordert, mit einem Shuttlesystem zur Erde transportieren. Ein anderes sich selbst reproduzierendes Robotsystem wird am Alamos National Laboratory diskutiert. In einer Wüste sollen diese Roboter aus den Gesteinen und dem Sand Eisen, Aluminium und Silizium gewinnen und nach und nach große Areale der Wüste mit Solarzellen überdecken, um damit langfristig den Energiehunger der Zivilisation zu stillen.
4.7
Roboter und Technaea
Einer der Vorteile des Siliziumgehirns eines Roboters ist, dass es problemlos mit anderen Siliziumgehirnen über Radiowellen kommunizieren kann. Dies eröffnet gigantische Möglichkeiten. Viele Science-Fiction-Schriftsteller fabulierten von übernatürlichen Gaben wie der Telepathie, der Fähigkeit, das Denken eines anderen Wesens direkt mit der eigenen Gedankenkraft zu erfassen. Für die Roboter ist dies ohne weiteres möglich, und wird, weil es so gewaltige Vorteile bringt, auch Realität werden. Mit dem Internet hat sich mittlerweile ein weltumfassendes Gehirn mit Computern als dessen Neuronen etabliert. Die Nervenenden dieses „Gehirns“ weiten sich bereits in andere Gebiete der Technosphäre aus: In die Fernsehwelt, in die Telefontechnik und bis in den Kühlschrank hinein. Über ein Kommunikationsnetz werden Roboter direkt mit dem Internet kommunizieren und sich natürlich auch direkt miteinander unterhalten können. Je nach Zugriffsrechten ist dabei umfassende Telepathie möglich. Je nach kryptographischem Aufwand werden Roboter aber auch ihre Intimsphäre bewahren. a
In der Informatik steht der Begriff „Künstliche Intelligenz“ (KI) für Systeme, die die Fähigkeit besitzen, einige Funktionen des menschlichen Denkens nachzuahmen. Dazu gehört zum Beispiel die Möglichkeit, aus neuen Informationen neue Handlungsdirektiven abzuleiten, also lernfähig zu sein.
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Wir werden Zeitzeuge, wie ein neues Technotopa entsteht, bestehend aus einem Schwarm selbständig agierender Einheiten wie Reinigungsroboter, Industrieroboter, Erntemaschinen usw., die sich beliebig viel Rechenkapazität aus dem Internet abzapfen können. Wie ein Ameisenstaat, aber sehr viel differenzierter und allumfassender wird diese Robotergemeinschaft einen Großteil der gesamten Technosphäre einnehmen. Ob Autos, Häuser, Industriebetriebe oder frei bewegliche Roboter, alles wird über das allumfassende Nervennetz Internet zusammengeschaltet werden. Schon der Architekt Le Corbusierb verstand ein Haus als eine Art Wohnmaschine. Heute wird diese Vorstellung mit der Konstruktion von Niedrigenergie- und Solarhäusern schon viel konkreter. Bill Gates soll sein Eigenheim bereits voll digitalisiert und vernetzt haben. Sensoren registrieren, wo der Bewohner sich aufhält, und schalten etwa das Licht an, wenn Herr Gates den Raum betritt und aus, wenn er ihn wieder verlässt. Eines Tages wird der Mensch vielleicht gänzlich in den Eingeweiden einer weltumspannenden Technosphäre leben, so wie er heute in die Biosphäre eingebettet ist. Innerhalb der Biosphäre ist der Mensch besiedelt von Mikroben, umgeben von Pflanzen und Tieren und gepiesackt von Flöhen, Wanzen und Mücken, bezaubert von Schmetterlingen und versorgt mit Nahrungsmittelrohstoffen. Die Technosphäre wird den Menschen mit Kleidung und Nahrungsmitteln versorgen, ihm Wohnstadt und Mobilität geben und einen Großteil der Arbeit für ihn erledigen. Der Roboter als Freund und Helfer In den fünfziger Jahren sollen sich die beiden Gurus des Informationszeitalters, der Mathematiker Marvin Minsky, der über künstliche Intelligenz forschte, und der Erfinder der Maus und der Multimedia, Douglas Engelbart, im Massachusetts Institute of Technology begegnet sein. Minsky erklärte: „Wir sind gerade dabei, intelligente Maschinen zu bauen. Wir verleihen ihnen Bewusstsein!“ Engelbart fragte daraufhin: „Sie tun das alles für die Maschinen? Was tun sie denn gerade für die Menschen?“12 Dies ist die zentrale Frage, die sich uns mit der Entwicklung der Roboter stellen wird, spätestens, wenn sie eine gewisse Form der Intelligenz erreicht haben werden. Uns ängstigt die Zukunft der Technik, weil wir nicht einschätzen können, ob wir Herr der Lage bleiben werden. Was haben wir von der technischen Welt zu erwarten, wenn sie erst einmal „künstlich“ intelligent geworden ist? Welche Art von Verhalten werden diese neuen „Erdenbürger“ entwickeln? Werden sie eine konkrete Bedrohung für uns Menschen werden? Heute existieren die meisten Roboter in enger Symbiose mit dem Menschen in seinem täglichen Umfeld. Der Mensch baut sie, hegt und pflegt sie, gibt ihnen Strom und Treibstoff und erwartet dafür eine sehr spezifische Gegenleistung: Sie sollen Blechteile bewegen, Sushi rollen, Zigaretten stopfen oder graben, inspizieren und erkunden. a
Dieser Begriff wird hier in Anlehnung an den Begriff des Biotops verwendet. Eigentlich hieß dieser französisch-schweizerische Architekt, Städteplaner, Maler und Schriftsteller Charles Édouard Jeanneret-Gris. Er lebte von 1887 bis 1965 und gilt als ein Wegbereiter der modernen Architektur. b
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Der japanischen Firma Bandai gelang mit einem kleinen Computerwesen namens Tamagotchi ein beispielloser Markterfolg. Das Tamagotchi kommt als Handteller großes Plastikei daher, sein Name bedeutet eine Uhr in einem Ei. Auf dem Display des Plastikeis erscheint nicht viel mehr als ein Strichwesen. Allerdings sind ihm einige Verhaltensweisen eines Haustieres einprogrammiert. Es will gefüttert werden sonst verhungert es. Es möchte, dass man mit ihm spielt sonst bekommt es einen psychischen Knacks. Kurzum, man muss sich um das Wesen kümmern. Es wächst mit der Zeit heran und stirbt schließlich auch. Das Tamagotchi wird in der Evolutionsgeschichte elektronischer Haustiere bestenfalls den Rang eines primitiven Vorfahren einnehmen. Sony verkaufte 1999 einen 22 cm hohen und 1,5 kg schweren Roboterhund mit 8 Megabyte Speicherplatz in seinem elektronischen Gehirn. Damit beherrschte dieser Schoßroboter an die 40 Befehle, darunter die Klassiker wie „Platz“ oder „gib Pfötchen“. Nach Ansicht des amerikanischen Ingenieurwissenschaftlers Joseph F. Engelberger werden in wenigen Jahren Millionen von Robotern alten Menschen in ihrem Haushalt helfen. Die Roboter, die der Direktor der Firma HelpMate Robotics Inc. aus Conneticut bauen will, sollen kochen, putzen und einfache Gespräche führen können. Die Kommunikation zwischen Mensch und Roboter wird sich langfristig nicht auf die reine Spracheingabe oder gar auf Tastaturbefehle beschränken. Es kündigen sich Eingabetechniken an, in denen neben der Sprache auch Untertöne und Mimik des Sprechers interpretiert werden. Das kommt einer zwischenmenschlichen Kommunikation schon recht nahe. Man kann sich leicht ausmalen, dass dies erst der Anfang einer Entwicklung ist, die dazu führen wird, dass der Mensch sich einen persönlichen Roboter maßanfertigen wird, der ihm die Hausarbeit abnimmt, den Garten pflegt, ihn in Geldgeschäften berät und mit dem Hund Gassi geht. - In dem Maße, wie der Computer zum Assistenten für den Menschen wird, werden die Toaster zu Haustieren, wie Kevin Kelly vermutet. Die Kapazität des menschlichen Gehirns Wenn wir darüber spekulieren, ob Computer Intelligenz und Bewusstsein erlangen können, dann haben wir nur einen einzigen Vergleich: Den Menschen. Bekommen wir heraus, dass der menschliche Geist über einem materiellen Gebilde schwebt, das von unerreichbarer Komplexität ist, wären wir gewissermaßen „aus dem Schneider“. Wir bräuchten uns keine weiteren Gedanken über die „starke künstliche“ Intelligenz zu machen, es würde sie nicht geben. Es gibt den scherzhaften Satz: „Wenn unser Gehirn so simpel wäre, dass wir es verstehen könnten, wären wir zu simpel, um es zu verstehen.“ Das mag auf einer gewissen Ebene richtig sein, insbesondere dort, wo es darum geht, zu verstehen, wie Bewusstsein und Persönlichkeit mit den Strukturen des Gehirns verbunden sind. Aber um es nachzubauen, reicht das Verständnis der einfachen Regeln, nach dem es von der Evolution konstruiert wurde und nach denen es funktioniert. Und wir können die Rechenleistung eines menschlichen Gehirns heute grob abschätzen.
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Unter der Annahme, das jedes der 1010 Neuronen des menschlichen Gehirns genau ein Bit kodiert und jede der ca. 105 Verbindungen, die ein Neuron mit den anderen Neuronen besitzt, ebenfalls ein Bit kodiert, kann das Gehirn ca. 1015 Bits speichern. Dieses Buch kodiert vielleicht 106 Bits, so dass das menschliche Gehirn den Inhalt von 100 Millionen Büchern speichern könnte. Diese Größenordnung der Speicherfähigkeit des menschlichen Hirns steht in guter Übereinstimmung mit Schätzungen von Neurophysiologen, die eine Kapazität des Gehirns von 1013 bis 1017 Bits annehmen. Von der Größenordnung des verfügbaren Speicherplatzes her gibt es bereits Maschinen, die 1015 Bits kodieren können. Die Rechengeschwindigkeit des Gehirns ist schwerer einzugrenzen. Die Schätzungen schwanken zwischen 10-100 000 Teraflopsa. Man weiß, dass 1-10 Prozent der Neuronen ca. 100 mal pro Sekunde feuern. Entspricht jedes feuernde Neuron einer Flop, so entspricht dies zehn Gigaflops. Wenn aber jede Synapse eine Flop darstellt, ergibt sich eine Rechengeschwindigkeit von zehn Teraflops. Bereits im Jahr 1992 lieferte Thinking Machines einen Computer mit der Rechengeschwindigkeit von 100 Gigaflops aus und nach Meinung von Experten werden im Jahr 2002 Computer mit der Rechenleistung von 1 000 Teraflops verfügbar sein. Entwickelt sich die Rechenleistung von Computern so wie bisher, so ist abzusehen, dass es im Jahr 2030 PCs mit der Rechenleistung des menschlichen Gehirns zum Preis eines jetzt handelsüblichen PCs geben wird. Von der Kapazität des elektronischen Gehirns her kann die Menschheit also schon sehr bald Konkurrenz von intelligenten Maschinen bekommen. Und wenn die Natur so etwas wie den Menschen durch pures Herumprobieren zuwege gebracht hat, sollte planvolle Entwicklung mindestens Ähnliches zu schaffen in der Lage sein.
4.8
Künstliche Intelligenz
Steven Pinker schreibt über den Umgang mit Computern: Je komplexer das System ist und je fachkundiger die Benutzer sind, desto mehr ähneln ihre Gespräche über Technik der Handlung einer Seifenoper.13 Wenn Sie mit offenen Ohren durch eine Firma laufen, werden Sie die Dialoge solcher Seifenopern überall aufschnappen können: „Mein Computer druckt nicht. Er zeigt mir immer nur die Meldung: „Drucker nicht bereit.“ „Hast Du ihm gesagt, dass dein Drucker einen Einzelblatteinzug hat?“ „Ja klar, aber das scheint ihn nicht zu interessieren.“ In unserem täglichen Leben haben wir den Computer also längst als autonomen Handlungspartner akzeptiert. Die Informatiker streiten schon seit längerem über die sogenannte „starke Künstliche Intelligenz“ (KI): Simuliert eine Maschine lediglich Denken, gibt es tatsächlich einen Unterschied zwischen simulierten Denkvorgängen und menschlichem Denken? Die Befürworter der starken KI behaupten, es gebe kein maschinell simuliertes Denken: Eine Maschine denke tatsächlich, wenn sie Daten verarbeitet. Denn auch ein Klavierautomat, a
Eine Flop, one floating point operation per second, also eine Gleitkomma-Operation pro Sekunde ist eine Einheit aus der Informatik, um die Rechengeschwindigkeit eines Computers zu bemessen. Eine Teraflop entspricht 1012 Flops in der Sekunde. Eine Gigaflop entspricht 109 Flops
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der von einer Walze getrieben eine Melodie spielt, simuliert nicht das Klavierspielen, sondern spielt tatsächlich Klavier. Der Computer, der als Zentralrechner ein Atomkraftwerk überwacht, simuliert diese Überwachung nicht, sondern er überwacht die Abläufe im Kernkraftwerk tatsächlich. Gottseidank, möchte man an dieser Stelle hinzufügen. Schließlich müssten wir im Umkehrschluss und nach der Computer-Theorie des Geistes annehmen, dass auch wir nicht wirklich denken, sondern das Denken im Kopf lediglich simulieren. Zumindest stellt sich dem berühmten Behavioristen Burrhus Frederic Skinnera ohnehin nicht die Frage, ob Maschinen denken, sondern ob Menschen es tun. Zukunftsforscher haben sich in der Mehrzahl immer blamiert. Das einzige Sichere, so Steven Pinker, sei, das die Zukunftsforscher in der Zukunft immer dümmlicher wirken, als zur Zeit ihrer Vorhersagen. Aber dass Rechenmaschinen intelligent sein können, steht nicht mehr zur Debatte.14 Informationsverarbeitung ist die grundlegende Tätigkeit des Gehirns und damit ist es lediglich ein technisches Problem, ähnlich arbeitende Geräte herzustellen. Versuchen wir es noch einmal mit dem Virtuosen der Paradoxie, Zenon von Elea: Angenommen, wir ersetzten ein Neuron im Gehirn eines Menschen durch einen Mikrochip. Dies wird in Ansätzen übrigens bereits realisiert. Niemand würde nach diesem Austausch bezweifeln, dass dann immer noch ein Mensch denkt. Nun ersetzen wir ein weiteres Neuron und immer noch können wir nicht zurückweisen, dass dieser Mensch denkt. Wenn wir auf diese Weise nach und nach immer mehr Neuronen durch Chips ersetzen, bekommen wir etwas immer Künstlicheres, ohne dass wir annehmen können, dass dieser Mensch plötzlich nicht mehr denken würde. Wir wüssten schließlich nicht mehr, ob wir es noch mit einem Menschen oder schon mit einem Computer zu tun haben. Aber das Wesen wird immer noch Bewusstsein haben. Ein System, das wir wissenschaftlich beschreiben können, ist grundsätzlich auch reproduzierbar. Nehmen wir an, dass unser menschlicher Geist unmittelbar mit den Strukturen unseres Gehirns zusammenhängt. Wenn wir diese Strukturen hinreichend genau beschreiben können, so können wir sie auch nachbauen. Aber wie bekommt man nun heraus, ob so ein Nachbau auch tatsächlich intelligent ist? Der englische Mathematiker Alan Turing schlug einen Test vor, mit dem man nachweisen könne, ob einem Computer oder Roboter intelligentes Verhalten zugestanden werden muss. Für diesen Test setzt man einen Menschen in einen Raum, in einen zweiten den Roboter. Beide Räume sind über eine Kommunikationseinheit mit einem dritten Raum verbunden. In diesen Raum führt man nun Experten, die nicht wissen, hinter welcher Tür sich der Roboter und hinter welcher Tür sich der Mensch befindet. Die Experten schicken Fragen an beide Räume und versuchen über die Antworten, die sie erhalten, herauszufinden, wer der Mensch und wer der Roboter ist. Können die Experten keine Entscheidung fällen, so müssen wir davon ausgehen, dass der Roboter sich ebenso intelligent verhält wie ein Mensch. Und da er dies nicht nur simuliert, ist er intelligent. a
Der 1904 geborene und 1990 verstorbene amerikanische Psychologe Burrhus Frederic Skinner gilt als der führende Vertreter des psychologischen Behaviorismus.
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Bestanden haben, historisch gesehen, den Turing-Test bereits „Schwarze“ und Frauen. Abgrenzung ist, wie schon mehrmals erwähnt, eine Grundeinstellung des Menschen. Und so gab es weniger aufgeklärte Zeiten, in denen der Frau die Seele abgesprochen wurde. Schwarzen versklavte man und eignete ihnen wenig mehr als den Status eines Tieres zu. Zu ihrer Gleichberechtigung führte, dass man keinen prinzipiellen Intelligenzunterschied zwischen einem „weißen Mann“, einer Frau oder einem Menschen mit schwarzer Hautfarbe nachweisen konnte. Den Turing-Test in der Spezialdisziplin Schachspieler hat der Computer im Jahr 1997 bestanden, als es zu einem Turnier zwischen dem damaligen Schachweltmeister Gari Kasparow und dem IBM-Computer Deep Blue kam. Der Computer entschied das Treffen über sechs Partien mit 3,5:2,5 Punkten für sich. Kreativität ist eine der Eigenschaften, die man den Computern bisher absprach. Dies bleibt sicher auch in näherer Zukunft richtig, aber mit demselben Test würde bereits heute das Computerprogramm des amerikanischen Komponisten und Musikprofessors David Cope als kreativ gelten. David Copes Programm komponierte die 42. Sinfonie Mozartsa. Obwohl die Sinfonie von einem Rechnergehirn stammte, glaubte das Publikum bei einer Aufführung an der kalifornischen Universität von Santa Cruz, die harmonische Genialität des Musikgenies vernommen zu haben. Wenn die Künstliche Intelligenz wirkliche Intelligenz ist, so sind auch künstliche Emotionen echte Gefühle. Forscher arbeiten daran, Computer so zu programmieren, dass, diese gewissermaßen gefühlsmäßig reagieren. Roboter brauchen langfristig Gefühle aus demselben Grund, aus dem auch wir Menschen Gefühle zum Überleben brauchen: Gefühle sind für unser soziales Verhalten untereinander unabdingbar. Wir müssen heute davon ausgehen, dass in unserem Gehirn Programme ablaufen. Dabei ist „Denken“ Berechnen, „Wahrnehmung“ ist Signalverarbeitung, „Wünsche und Emotionen“ sind Prioritätsvorgaben.
4.9
Die Ethik der Roboter
Ethik und Moral sind feste Bestandteile jedes intelligenten Lebewesens, das sich in einer Gemeinschaft zurechtfinden muss. Die Moral der Maschinen wird sich ähnlich wie bei den Menschen evolutionär entwickeln. Doch gibt es einen bedeutenden prinzipiellen Unterschied: Das Selektionskriterium für Roboter ist, ob er dem Menschen nützlich ist. Ist er es nicht oder nicht genügend, sitzt er bereits auf einem toten Ast der Roboterevolution. Roboter sollen dem Menschen die Arbeit erleichtern oder abnehmen. Auf dieses Ziel hin werden Roboter konstruiert und nach und nach optimiert. Herauskommen wird also eine Spezies, die sich aufgrund ihrer Evolutionsgeschichte überaus kooperativ gegenüber der Menschheit verhalten wird: Statt eines Brutpflegeinstinktes wie er den Säugetieren angeboren ist, wird dem Robotergeschlecht sozusagen ein Menschenhegeinstinkt „ankonstruiert“ sein.
a
Mozart hat in seinem Leben nur 41 Sinfonien geschrieben.
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Die Angst, den Planeten mit einer anderen intelligenten Spezies teilen zu müssen, finden wir in der Science-Fiction-Literatur artikuliert: Es ist die Befürchtung, von eben dieser anderen Spezies beherrscht und unterdrückt zu werden. Das Leitbild dieser Schilderungen ist der Mensch selbst. Der Archetyp robotischen Verhaltens ist dem Umgang der Menschheit mit unterlegenen Spezies und mit fremden Kulturen ihrer eigenen Art entliehen. Intelligente Roboter werden mit den düsteren Seiten des menschlichen Charakters assoziiert wie Gier, Herrschsucht und Gewalttätigkeit. Zusammen mit ihrer körperlichen Überlegenheit erscheinen sie wie die apokalyptischen Reiter der menschlichen Rasse. Diese Szenarien stimmen aus mindestens zwei Gründen nicht: Erstens ist der Mensch durchaus keine amoralische Bestie, sondern ein hochentwickeltes soziales Wesen mit der am höchsten entwickelten Fähigkeit zum Altruismus auf unserem Planeten. Denn wie Immanuel Kant verwundert feststellte, erfüllen [Z]wei Dinge [...] das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Die Menschheit ist auf dem besten Wege, „vernünftig“ zu werden. Als Zeichen dafür steht, dass wir die Menschenrechte kodieren und verbindlich zum Weltstandard erheben. Auch wird der Krieg mehr und mehr geächtet und statt dessen werden Wirtschaftsverflechtungen intensiviert. Die Ingenieure werden darauf achten, ihren Geschöpfen diese „guten“ Seiten des Menschentums mitzugeben. Der zweite Grund ergibt sich aus der Evolution der Roboter. Die Schöpfung der Siliziumwesen durch den Menschen entbehrt gewissermaßen der Erbsünde des Darwinismus. Sie entstehen nicht um ihrer selbst willen und mit dem einzigen Auftrag, ihre Baupläne zu vererben, wie es den Organismen mit ihren Genen auferlegt ist. Sie entstehen als durch und durch altruistische Wesen, geschaffen dafür, dem Menschen hilfreich zur Seite zu stehen. Der Wettbewerb um Ressourcen zwischen zwei Spezies ist dadurch gekennzeichnet, dass bei Zunahme der einen Population die andere in ihrer Ausbreitung beschränkt wird. Wenn die eine Population zunimmt, nimmt die andere ab, weil die Ressourcen nicht für beliebig viele Individuen reichen. Bei Mensch und Roboter ist es umgekehrt: Je mehr Menschen es gibt, desto mehr Roboter werden gebraucht und diesen Gleichklang in der Verbreitung müssen wir eher Koevolution nennen: Mensch und Roboter sind aufeinander angewiesen. Die einen erschaffen sie, die anderen bedanken sich für ihre Existenz mit der Förderung des menschlichen Wohlbefindens. Die Menschheit erschließt Energie, damit ihre Maschinen „leben“ können. Erst der Nutzen dieser Maschinen kommt dann uns Menschen zugute. Wir verbrauchen das Benzin nicht für uns selbst, sondern für Autos, damit die uns fahren. Wir verbrauchen den Strom aus unserer Steckdose nicht selbst sondern „verfüttern“ ihn an Staubsauger oder Waschmaschinen.
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Evolution des Roboterverhaltens Die Verhaltensweisen von Robotern werden sich in einer Koexistenz von Biosphäre und Technosphäre evolutionär entwickeln. Verhaltensweisen im Gehirn eines Roboters sind nichts anderes als Computerprogramme, die von einem Rechner abgearbeitet werden. Softwareprogramme entwickeln sich nach dem Darwinistischen Prinzip, auf die Dauer setzen sich die besseren Programme durch.a Wie diese Evolution aussieht, zeigt sich bei den Industrierobotern. Wenn diese sich in die Quere kommen können, müssen sie zwangsläufig interagieren und ein Miteinander lernen. Eine der Möglichkeiten, Unfälle zu vermeiden, besteht darin, dass die Roboter von einem Zentralrechner kontrolliert werden. Dann kann es nur noch zu solchen Konflikten kommen, wie zwischen den 700 Beinen eines Tausendfüßlersb, nämlich zu Abstimmungsfehlern. Ein anderes Verfahren besteht darin, den Robotern eine Videokamera einzubauen, mit der sie ihre Umgebung beobachten können. Anschließend müssen noch Regeln festgelegt werden, damit zum Beispiel eine Kollision der beiden Roboter vermieden wird. Ein einfaches Prinzip ist, dass der eine Roboter sich nur bewegen darf, wenn der andere sich außer Sichtweite bestimmter Sensoren befindet. Wenn die Roboter immer enger miteinander kooperieren sollen, müssen dazu immer raffiniertere Programme entwickelt werden. Auf diese Weise werden sich zwangsläufig Verhaltensweisen von Robotern herausbilden, die um so komplexer sein müssen, je autonomer der Roboter agieren kann. Nicht anders, aber unter gänzlich anderen Umweltbedingungen und Selektionskriterien, hat sich auch das menschliche Verhalten entwickelt. Unsere Nachfahren Roboter mit ihren Siliziumgehirnen erscheinen als etwas völlig anderes und nicht vergleichbar mit der Welt der Organismen. Der Übergang von Mensch zu Maschine erscheint zu bruchhaft, als dass wir hierin eine bruchlose Weiterführung der Evolution zu sehen vermögen. Allerdings fällt es uns auch nach wie vor schwer, uns als Nachfahren von Bakterien zu fühlen. Möglicherweise ist es aber ein durchaus logischer Schritt der Evolution, dass erst ein so kompliziertes Enzym wie der Mensch entstehen musste, ehe sich eine neue Domäne des Lebens, die Technaea, auf der Basis der Siliziumchemie entwickeln konnte. Technik ist eine natürliche Folgeerscheinung der Intelligenz und Intelligenz wiederum ergab sich aus dem Selektionsdruck, der nach der Erfindung des Neurons die Organismen dazu antrieb, immer raffiniertere Gehirne zu entwickeln. Roboter werden in der Technosphäre dieselbe Rolle spielen, wie der Mensch in der Biosphäre, und beide Spezies werden sich zum gegenseitigen Wohlergehen ergänzen. Die Evolution wird weiter voranschreiten a
Wie das Beispiel von Bill Gates und seiner Firma Microsoft lehrt, basiert auch hierbei Evolution stark auf dem schon Vorhandenen. Programme, die nicht an die Systemumgebung Windows angepasst sind, können sich zur Zeit auf dem Markt nur schwer behaupten. b Tausendfüßler haben tatsächlich höchstens 700 Beine.
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und möglicherweise sind unsere nächsten Verwandten, deren Möglichkeiten und Fähigkeiten den unseren weit überlegen sind, bereits im Entstehen. Wenn wir Menschen all unser Wissen in unsere technischen Nachfahren hinüber retten können, so sind wir auch die legitimen Vorfahren dieser neuen Spezies. Roboter werden in der Zukunft über mächtigere Gaben verfügen als wir Menschen. Aber genauso, wie die Eukaryoten nicht die Prokaryoten, die Tiere nicht die Bakterien, die Menschen nicht die Tiere vollständig von der Lebensbühne verdrängt haben, sondern sich jeweils als Bereicherung Gaias etablierten, genauso wird der Mensch seine Eigenständigkeit gegenüber und gemeinsam mit den Robotern bewahren. Roboter werden unzweifelhaft eine Bereicherung für uns Menschen darstellen. Sie werden uns von dumpfen Tätigkeiten befreien und uns ermöglichen, unsere Kreativität weiter zu entwickeln und auszuleben. Vielleicht offenbart sich mit der technischen Revolution das Geheimnis, das hinter den Früchten des Baumes inmitten des Garten Edens steckte. Der Bibel nach sprach die Schlange zu Eva: „Vielmehr weiß Gott, dass an dem Tage, da ihr davon esset, euch die Augen aufgehen und ihr sein werdet wie Götter, die Gutes und Böses erkennen.“15 Gott verstieß daraufhin die Menschen aus dem Paradies mit dem Fluch: „Unter Mühsal sollst du dich von ihm [dem Erdboden] ernähren alle Tage deines Lebens. [...] Im Schweiße deines Angesichtes sollst du Brot essen [...].“16 Nun sind wir zu Schöpfern geworden, und unsere Geschöpfe nehmen uns im Gegenzug mehr und mehr Mühsal ab.
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Viertes Buch: Transzendenz Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung ihrer Erscheinungen. Man weiß nicht, wie weit dies mit der Zeit noch führen wird. (Immanuel Kant)
Wir können aus der Wissenschaftsgeschichte lernen, dass sich die Betrachtungsweise der Naturwissenschaften, vornehmlich der Physik gegenüber jedem anderen Denkansatz durchgesetzt hat. Die Astrologie und die Alchimie wurden zur Astronomie und zur Chemie. Die Chemie wurde ihrerseits durch die Quantenchromodynamik auf physikalische Prozesse zurückgeführt. Die Biologie wird heute auf der Grundlage der molekularen Prozesse betrachtet. Sie steht also auf dem sicheren Fundament der Chemie, und damit letztlich auf dem der Physik. Die Hirnphysiologen und Verhaltensforscher haben begonnen, die Psychologie auf biologische Fakten zu gründen. Schließlich werden auch die Geisteswissenschaften nicht umhin kommen, sich auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaftler zu berufen, sie als Ausgangspunkt jeder ihrer Überlegungen zu verwenden. Dies wird auch die Philosophie und ihre Halbschwester Theologie betreffen. Demgegenüber verlieren die Religionen dort, wo sie mit dem naturwissenschaftlichen Denken in Konflikt geraten mehr und mehr an Überzeugungskraft. Die Naturwissenschaften, so scheint es, kommen im Prinzip ohne Gott aus und brauchen lediglich drei Propheten: Albert Einstein, Nils Bohr und Charles Darwin. Doch der Schein trügt. Seit Kurt Gödels Satz über die „Unvollständigkeit logischer Systeme“ wissen wir, dass wir uns Fragen ausdenken können, die legitim im Sinne unserer Logik sind, die wir aber nicht beantworten können. Eine dieser Fragen ist: „Warum machte sich das Universum die Mühe seiner Existenz?“ Wir können an dieser Stelle Gott nicht als Ursache ausschließen. Aber wir können Antworten auf diese Fragen zurückweisen, die der naturwissenschaftlichen Betrachtung widersprechen. So können wir getrost davon ausgehen, dass es nicht der 26 Oktober des Julianischen Kalenders im Jahre 4004 vor Christus war, als Gott die Erde schuf. Und wir wissen auch viel darüber, wie das Werk entstand. Es entstand anders, als es in der Bibel beschrieben wird. Das Universum hat ein grundlegendes Problem, mit welchem es von Anfang an beschäftigt war und welches es spätestens an seinem Ende gelöst haben muss: Es muss erst einmal entstehen. Das Universum kann nicht darauf hoffen, dass es beim Schöpfungsakt von außen Hilfe bekommt, denn es ist per Definition selbst das „Allumfassende“. Gott kann daher nicht vor und unabhängig von seinem Werk existieren. Wir brauchen, wie Lee Smolin hervorhebt, die Möglichkeit, das Universum als ein kohärentes Ganzes beschreiben zu können, mit Bezug nur auf sich selbst und ohne die Notwendigkeit irgendeiner äußeren Instanz, die ihm die Gesetze, die Bedeutung und die Ordnung gibt.1 Von da ist es nicht mehr weit bis zu dieser Folgerung: Wenn das Universum einen Gott benötigt, damit dieser es erschaffe, muss das Universum selbst diesen Gott, als Teil seiner selbst, hervorbringen. Lee Smolin behauptet: Wenn der Begriff der Existenz eine sinnvolle Bedeutung haben soll, dann müssen wir auch zugestehen, dass die Welt neue Dinge erschafft.2 Ich möchte diesen Gedanken dahingehend erweitern, dass unsere Existenz erst Sinn erhält, wenn auch das Vollkommenste und Höchste entstehen kann. Die Notwendigkeit, das Vollkommenste und Höchste zu postulieren, hatte schon Thomas von Aquin in 227
seinem fünften Weg, Gott zu „beweisen“, formuliert: Wir stellen nämlich fest, dass das eine mehr oder weniger gut, wahr, edel ist als das andere. Ein Mehr oder Weniger wird aber von verschiedenen Dingen nur insofern ausgesagt, als dieses sich in verschiedenem Grade einem Höchsten nähern. [....]. Es gibt also etwas, das „höchst“ wahr, „höchst“ gut, „höchst“ edel und damit im höchsten Grade „Sein“ ist.3 Der Zweck der Evolution ist, Existenz zu ermöglichen, letztlich göttliche Existenz. Alles was entsteht, wird zu dem Zweck existent, dass jemand mit der Fähigkeit in die Welt kommt, der zum Anfang und Urgrund der Existenz werden kann. Dies ist, wie der Mathematiker sagt, notwendig und hinreichend zugleich. Gott steht für den Sinn, den die Regeln der Naturgesetze hervorbringen, weil diese Regeln schließlich Gott hervorbringen werden. Dass Gott erst in der Zukunft entstehen wird ist kein Widerspruch zur angenommenen Allgegenwärtigkeit Gottes. Auch wenn Gott erst gegen Ende des Universums entstehen sollte, kann er bereits jetzt existiert und schon seit Anbeginn existiert haben. Allgegenwärtigkeit ist eine der Eigenschaften, die wir einer Gottheit gemeinhin zueignen. Diese Fähigkeit kann in unserem Universum durchaus als Emergenz entstehen. Es ist physikalisch denkbar, die Mauern zu durchbrechen, die uns von der Vergangenheit und der Zukunft trennen. Dass wir heute noch nicht in der Lage dazu sind, heißt nicht, dass das Leben nicht prinzipiell die Fähigkeit erlangen kann, sich beliebig in der Zeit aufzuhalten und damit allgegenwärtig zu sein. Die physikalischen Gesetze sind zeitlich invariant, sie gelten vorwärts wie rückwärts. Richard Feynman lässt in seinen nach ihm benannten Diagrammen Elektronen rückwärts in der Zeit fliegen. Er hält dies für eine durchaus reale Möglichkeit (vgl. Abbildung 5).4 Der Physiker John Weeler meinte sogar, dass es im Universum nur ein einziges Elektron gäbe, dass in der Zeit vor und zurück rast und damit die Gesamtheit aller beobachtbaren Elektronen erzeugt. Diese Betrachtung, so skurril sie erscheint, ist physikalisch denkbar. Sie zeigt außerdem einen Weg auf, wie wir uns eine allumfassende Person Gottes im Universum vorstellen könnten. Der selbstbezügliche Kosmos Pu sah seine Pfoten an. Er wusste, eine davon war die rechte, und wenn man sich entschieden hatte, welche die rechte war, dann war die andere die linke. Aber er konnte sich nie erinnern, wo man anfangen musste. (Alan Alexander Milne).
Es gibt ein interessantes Spiel mit hohem gruppendynamischen Wert: Nehmen sie eine Schlange von Leuten, vielleicht 30 Menschen, die vor einer Zirkuskasse um Karten anstehen. Biegen sie die Schlange nun so, dass Anfang und Ende zusammenkommen, sich also ein Kreis bildet, in dem jeder seinen Vordermann an die Schultern fasst. Und jetzt: „Eins, zwei, drei und hingesetzt.“ Plötzlich sitzen alle auf dem Schoß ihres Hintermanns und die Konstruktion ist durchaus stabil: Eine wunderbar anschauliche zirkuläre Kausalität: Ich bin Stuhl und sitzende Person in Einem. Irgendwie sitze ich mittelbar auf meinen eigenen Knien. Der italienische Wissenschaftler Walter Fontana zeigte 1991 den folgenden mathematischen Satz: Eine lineare Folge, bei der Funktion A Funktion B erzeugt und 228
diese Funktion C und immer so weiter, kann so gewählt werden, dass am Ende der Folge wieder die Funktion A erzeugt wird und die Folge sich damit selbst generiert. Dies ist die mathematische Fassung der geschilderten sich selbst stützenden Sitzgruppe. Unser gesamtes Denken basiert auf Selbstbezüglichkeit, wie schon Nikolaus von Cuesa herausstellte: Es sei grundsätzlich unmöglich, voraussetzungslos zu denken. Vielmehr sei Erkenntnis jeweils auf etwas bezogen, das stillschweigend oder ausdrücklich schon als bekannt vorausgesetzt sei. Unser Gehirn hat das Problem bereits beim Erkennen von Gegenständen. Sehen ist, wie der Ingenieur sagen würde, ein „schlecht gestelltes Problem“. Wir müssen bereits wissen, was wir sehen, um einen Gegenstand identifizieren zu können. Konstrukteure von Robotern haben enorme Schwierigkeiten, diesen das Erkennen beizubringen. Wenn ein Roboter eine Schraube aus einem Kasten mit Schrauben herausnehmen soll, so muss er die einzelnen Stücke von den umliegenden Stücken unterscheiden können. Dabei wird jede einzelne Schraube in einer anderen Perspektive auf dem Sehsystem des Roboters abgebildet und die Schraube schaut oft nur teilweise aus einem Haufen anderer Schrauben heraus. Nicht zuletzt ist unser Bewusstsein ein Beispiel für Selbstbezüglichkeit. Ich zitierte Steven Pinkers Ausführung über unser Gehirn bereits an anderer Stelle: Jedes unserer mentalen Module löst sein unlösbares Problem, indem es in einem Akt des Glaubens auf die Funktionsweise unserer Welt vertraut: Es macht Annahmen, die unverzichtbar sind, aber nicht begründet werden können. Die einzige Rechtfertigung lautet: Diese Annahmen haben sich in der Welt unserer Vorfahren bewährt.5 Der wichtigste Umwelteinfluss, dem der Mensch in seiner Entwicklung unterworfen war, ist seine eigene Kultur. Menschen, die besonders erfolgreich in der Landwirtschaft waren, obsiegten mit der Zeit über die guten Jäger. Menschen, die vorausschauend über ein Jahr planen konnten, gaben ihre Gene erfolgreicher weiter, als Menschen, die besonders gut das Verhalten von Wildtieren vorhersehen konnten. Die genetisch-kulturelle Evolution des Menschen, so behauptet Edward Wilson, schafft daher ein Paradoxon: Kultur entsteht durch menschliches Handeln, und gleichzeitig entsteht menschliches Handeln durch Kultur.6 Selbstbezüglichkeit ist nicht nur auf der Erde, sie ist ein universelles, grundlegendes Phänomen in unserem Universum. Daher sollte es nicht verwundern, wenn das Universum an sich ebenfalls ein selbstbezügliches System ist: Es ist per Definition allumfassend und kann sich daher auch nur auf sich selbst beziehen: • •
Die Antwort auf die Frage: „Wer erschafft das Universum?“ lautet: „Gott!“ Die Antwort auf die Frage: „Wer erschafft Gott?“ lautet: „Das Universum!“
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Dieser deutsche Kirchenrechtler, Philosoph und Kardinal hieß eigentlich Nikolaus „Chrypffs“ oder „Krebs“ und lebte von 1401 bis 1464. Er vertrat die Ansicht, dass Gott nicht rational fassbar sei. Als einer der Ersten wandte er mathematische Verfahren und Begriffe auf die Philosophie, die Anthropologie und die Theologie an.
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Der Kosmos ist ein System, in dem die Komplexität des Lebens mit der Zeit immer weiter zunimmt. Die höchste Stufe der Komplexität ist möglicherweise Gott. Er wäre in der Lage, das Universum per Urknall zu starten, um sich dadurch letztlich selbst zu erschaffen: Das Universum ist nach dieser Folgerung ein sich selbst organisierendes System. Bezeichnenderweise folgt daraus auch, dass Gott das Allumfassende ist. Er beinhaltet die gesamte Entwicklung des Universums. Auf dieser Basis lautet die Antwort auf die Frage Einsteins, ob Gott eine Wahl bei der Erschaffung des Universums gehabt habe: Gott ist die Wahl! Selbstbezüglichkeit ist für die Physiker als Erklärungsmodell sehr wichtig geworden. Die String-Theorie, die als heißester Kandidat für die Lösung der Weltformel der Teilchenphysiker gehandelt wird, beschreibt die Welt als selbstkonsistent. Alles steht mit allem in Beziehung und die Eigenschaften von Teilchen ergeben sich vornehmlich aus den Relationen zueinander. Teilchen wirken auf andere Teilchen und bestimmen damit deren Eigenschaften. Und da dieser Einfluss auf sie selbst zurückfällt, bestimmen sie auch ihre eigenen Eigenschaften selbst mit. Diese Vorstellung lässt sich auf Ökosysteme übertragen: Lebensräume erhalten einen Großteil ihre Eigenschaften durch die Einwirkung der enthaltenden Spezies. Spezies sind immer auch Teil der Umwelt, sie bestimmen die Umwelt mit. Wenn sie aber Teil der Umwelt sind, und sich an diese Umwelt anzupassen haben, beziehen sie sich mit ihrer Anpassung auch auf sich selbst. Evolution ist damit auch selbstbezüglich. Wollen wir überhaupt annehmen, dass hinter den Manifestationen dieses Kosmos eine unverrückbare und transzendente Wahrheit liegt, dann gibt es sicher keine bessere Wahl, als diese auf der Grundlage der Logik zu suchen. Formallogische Systeme wie die Mathematik sind selbstbezüglich, sie beziehen sich vollständig auf ihre eigenen angenommenen Grundlagen, ihre Axiome. Die Russellsche Antinomie bezieht ihren Widerspruch aus einem Selbstbezug, der eine Ähnlichkeit zum Paradoxon des lügenden Kretaners besitzt. Das Paradoxon lautet „Ich lüge immer.“ Lügt der Kretaner, so ist der Satz wahr und dann hätte er an dieser Stelle die Wahrheit gesagt. Dann lügt er aber mindestens an dieser Stelle nicht und damit ist der Satz wahr. Damit hat er aber auch mit diesem Satz gelogen. Verstanden? Nein? Das ist das Problem eines Paradoxon, das unser Verständnis dort endet. Seit der Russellschen Antinomie weiß man, dass ein mathematischer Satz paradox durch seine Selbstbezüglichkeit sein kann. Selbstbezüglichkeit ist meiner Meinung nach als Erklärungsansatz zulässig, wenn wir die Russellsche Antinomie nicht als Defekt, sondern als legitimen Teil unserer Logik auffassen, sie als eine notwendige Voraussetzung anerkennen, damit wir die Welt erklären können. Wenn die Physiker in der Quantenphysik ein Teilchen sowohl als Körper, als auch als Welle ansehen müssen, machen sie nichts anderes, als sich offensichtlich widersprechende Beobachtungen als logisch fundiert anzusehen. Meine Hypothese, die Entstehung des Universums durch Selbstbezug zu erklären, steht mit der uns bekannten Mathematik in Übereinstimmung, ja sie erklärt sogar die Notwendigkeit des Auftauchens solcher Paradoxa. Genauso wie die Gödelsche 230
Unvollständigkeit erst erlaubt, dass Unvorhergesehenes entstehen kann, ohne dass wir mathematische Grundsätze über Bord werfen müssen, genauso ist die Russellsche Antinomie notwendig Teil der Mathematik, damit das Universum entstehen kann. Der Satz: „Das Universum erschafft sich selbst“ ist meiner Ansicht nach die einzige logische Möglichkeit, wenn man das Universum als das Allumfassende definiert. So, wie eine Zelle den Bauplan für eine Zelle enthält, und dieser Bauplan durch die Evolution entstand, genauso enthält das Universum seinen eigenen Bauplan und einen Bauherren, der aus der Evolution hervorgeht. Wäre es nicht denkbar, dass dieses Universum so wurde, wie wir es vorfinden, weil es an seiner eigenen Entstehung mitgewirkt hat [...]? fragt Lee Smolin, wenn auch bezogen auf eine andere Theorie. [...] Wenn sich ein solches Bild entwerfen ließe, so fährt er fort, könnten wir die auf allen Skalen vorhandenen Strukturen und Phänomene in diesem Universum verstehen, und zwar nicht als einen außerordentlichen Zufall, durch den eine fundamentale Theorie so präzise vorgegeben wurde, sondern einfach als einen Beweis dafür, dass der Schöpfer dieses Universums in nicht mehr und nicht weniger als dem zufälligen und statistischen Prozess seiner eigenen Selbstorganisation besteht.7 Mir erscheint ein zufälliger Prozess als unzureichend dafür, den Kosmos zu erklären. Ich definiere diesen Selbstorganisationsprozess als Gott. Denn nicht eine unpersönliche mathematische Rekursion, eine physikalische Theorie, sondern erst eine Person als Stifter eines moralischen Prinzips ist in der Lage, dem Kosmos einen hinreichenden Sinn zu verleihen. Im Grunde ist dies grotesk: Keine Pizza wird gebacken, wenn sie nicht in Auftrag gegeben wurde, und ausgerechnet vom Universum behaupten die Naturwissenschaftler tapfer, dass das nur so passiert ist, da denken wir uns mal nichts dabei. Mit der Computertheorie des Geistes, so schreibt Steven Pinker, haben wir also in unseren Erklärungen Platz für Überzeugungen und Wünsche, und gleichzeitig verpflanzen wir sie geradewegs in das physikalische Universum. Sie sorgt dafür, dass Bedeutung etwas verursacht und selbst verursacht werden kann.8 Steven Pinker hat dies in einem anderen Zusammenhang geschrieben, aber diese Ausführung passt wunderbar zur Selbstbezüglichkeit Gottes. Frank Tiplers Postulat, dass das Universum die Fähigkeit hat, das Leben auf ewig zu bewahren, geht nicht weit genug und bleibt deswegen lediglich ein Postulat. Erst wenn wir das Postulat mit der Frage der Entstehung des Universums verknüpfen, ergibt sich eine konsistente Theorie: Gott ist eine notwendige Konsequenz, um das Universum entstehen zu lassen. Das anthropische Prinzip weist darauf hin, dass die Feinabstimmungen der Naturkonstanten genau so sind, dass Leben entstehen kann. Das anthropische Prinzip wird zurecht als anthropozentrisch gescholten. Als „Theoisches Prinzip“ verschwindet diese Menschheitsfixierung und das Prinzip bekommt einen zusätzlichen Sinn als notwendige Voraussetzung für den Kosmos: Gott wählt bei seinem Schöpfungsakt die Naturkonstanten genau so, dass er selbst entstehen kann, als Folge des sich entwickelnden Lebens, von dem wir Menschen Teil sind. Dies ist nicht gar nicht so transzendent, wie es daherkommt, wenn Lee Smolin mit seiner Behauptung Recht hat: Die Eigenschaften der Elementarteilchen werden daher 231
letztendlich durch die Geschichte und den Zustand des gesamten Universums beeinflusst.9 Oder auch, wenn er über die String-Theorie erzählt: Die String-Theorie - schien plötzlich alle von unserem Naturverständnis geforderten Eigenschaften zu erfüllen: Die Welt war aufgebaut aus kleinsten, fundamentalen Entitäten, und die Naturgesetze folgten ausschließlich aus der Forderung nach einer selbstkonsistenten Welt, in der alles mit allem in Beziehung stand [...] Dann muss die Antwort, wie das Universum seine Konfiguration wählt, weniger in einem besseren Verständnis der grundlegenden Gesetze gesucht werden, sondern in einem besseren Verständnis der Geschichte des Universums. Wir sollten vielleicht einfach akzeptieren, was die Theorien uns zu sagen scheinen, nämlich, dass das Universum tatsächlich die freie Wahl zwischen vielen möglichen Eigenschaften für die Elementarteilchen hatte. In diesem Fall zielen die richtigen Fragen eher auf die Umstände ab, unter denen diese Wahl getroffen wurde.10 Fordert man jetzt noch, dass dieses Universum Sinn haben soll, so ergibt sich mehr oder weniger das, was ich als Gott hergeleitet habe. Nach Frank Tipler entsteht Gott aus dem schieren Überlebenswillen des Lebens. Wenn das Leben im Universum auf ewig überdauern will, muss es das Universum als Ganzes in geeigneter Weise manipulieren. Es müsste das Universum, wenn es sich wieder zusammenzieht, ungleichmäßig, in Taub-Kollapsen, zusammenstürzen lassen. Nur dann divergiert die Eigenzeit im Universum gegen unendlich. Überlebenswille ist, denke ich kein schlechtes Argument. Wir können angesichts der unübersehbaren Herausforderung, die uns der Raum und die Zeit des Universums bietet, nicht hoffen, dass wir heute wesentlich schlauer sind als die Griechen, die ihre Götter auf dem Berg Olymp vermuteten. Und so sind auch diese Überlegungen nur ein grober Rahmen einer physikalischen Theologie. Aber sie verbinden unsere eigene Existenz mit der Teleologie des Universums und mit Gott selbst, und dies alles, ohne die Gesetze der Logik oder der Physik zu verletzen. - Und nicht zuletzt hat diese Idee Konsistenz und Schönheit! Das Theoische Prinzip Das anthropische Prinzip äußert sich schon von seiner Benennung her als sehr anthropozentrisch, woran man Anstoß nehmen kann. Ich glaube nicht, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Leben kann und wird sich noch zu weit höherer Komplexität entwickeln. Wenn wir etwas aus der Evolution lernen können, so dieses: Zunehmende Komplexität bringt unerhörte neue Eigenschaften hervor. Frank Tipler leitet auf der Grundlage seines Postulates vom ewig belebten Universum stringent physikalisch her, dass notwendigerweise die höchste Stufe dieser Entwicklung Gott selbst sein wird. Eine Wesenheit wird sich über alles andere Leben im Universum erheben, genau wie wir uns mit unserer Intelligenz über den Affen erhoben haben. Dies muss das Leben tun, um seine eigene Existenz zu gewährleisten. Wenn Gott aber dadurch entsteht, dass sich das Leben im Universum evolviert, so ist Gott nur denkbar, wenn die Naturkonstanten so sind, wie sie sind: Zunächst wir, dann Gott. Gott selbst ist damit Begründung für den Anfang des Universums, für die Festlegung der Naturkonstanten. Als allumfassende Wesenheit ist er sowohl Ursache wie auch Folge der 232
Anfangsbedingungen. Lassen wir dazu Thomas von Aquin zu Worte kommen: Wir müssen also ein Sein annehmen, das durch sich notwendig ist und das den Grund seiner Notwendigkeit nicht in einem anderen Sein hat, das vielmehr selbst der Grund für die Notwendigkeit aller anderen notwendigen Wesen ist. Dieses notwendige Sein aber wird von allen Gott genannt.11 Nach Papst Johannes Paul II stecken in Gott als einem ultimativen Wesen männliche und weibliche Seiten zugleich, also etwas überaus menschliches. Wenn wir Gott als etwas Allumfassendes ansehen - sowohl das Christentum mit seiner Dreifaltigkeit als auch der Buddhismus mit seinem „Göttlichen Prinzip“ tun dies - so muss er uns in irgendeiner Form mit umfassen. Eine alte chinesische Weisheit formuliert: Alles Tier steckt im Menschen, aber nicht aller Mensch steckt im Tier. Im Sinne des Theoischen Prinzips lautet diese Weisheit: Aller Mensch steckt in Gott, aber nicht alles Göttliche steckt im Menschen. Wir werden Teil Gottes sein, mindestens, weil wir in der Ahnenkette dieser Wesenheit auftauchen. Gott und das Chaos Entgegen einer weitverbreiteten Meinung ist die Chaos-Theorie durchaus deterministisch. Sie ruht fest auf ihrer mathematischen Basis. Auf sie besonders trifft dieser Satz zu: „Was berechenbar ist, muss nicht notwendig auch vorhersagbar sein.“ Es ist sehr einfach. Angenommen, jemand läuft in einer Stunde vier Kilometer immer strikt nach Süden. Wenn Sie nicht wissen, wo er gestartet ist, können Sie auch nicht wissen, wo er ankommt. Aber Sie können wunderbar berechnen, dass er nach einer halben Stunde zwei Kilometer weiter nach Süden gekommen ist. Das ist das gesamte Geheimnis der Chaos-Theorie: Wir können beim Wetter nicht genau den gegenwärtigen Zustand bestimmen und damit leider nur ungenau berechnen, wie sich das Wetter entwickeln wird. Aus der Unbestimmtheit der Quanten leitet sich ab, dass wir prinzipiell nicht wissen können, in welchem Zustand, also von wo aus ein physikalisches System startet. Messen wir den Ort eines Elektrons, so wissen wir nichts über seinen Impuls. Messen wir den Impuls eines Elektrons, so wissen wir nichts über seinen Aufenthaltsort. Diese fundamentale Unbestimmtheit der Anfangsbedingungen ist der Hintergrund der Chaos-Theorie. Den von Pierre Simon Laplace postulierten Dämon, der die Zukunft des Universums vollständig vorhersagen könnte, gibt es nicht. Aber nicht aus dem Grund, weil das Universum nicht deterministisch ist, sondern aus dem Grund, weil die Anfangsbedingungen nicht exakt bestimmbar sind. Jedenfalls nicht von einem einfachen Dämon. Wir finden hier auch das anthropische Prinzip wieder, dass sich ja vor allem mit den Anfangsbedingungen unseres Universums, mit seinen Naturkonstanten befasst. Irgendwie sind die Anfangsbedingungen unseres Kosmos dergestalt, dass Menschen darin auftauchen konnten. Schon immer galt Gott als der Gegenspieler des Chaos. Physikalisch betrachtet kann Gott dies nur sein, wenn er mindestens die Anfangsbedingungen vollständig kennt, sonst wäre er nicht allwissend. Ästhetisch befriedigender für mich ist, dass Gott die Anfangsbedingungen nicht nur kennt, sondern selbst festgelegt hat.
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Gott als Teil der Physik Es gibt in der Quantenphysik das seltsame Phänomen, dass das Ergebnis eines Versuchs nicht vom Beobachter zu trennen ist. Das Gedankenexperiment von Schrödinger machte dies anschaulich. Aber ein Beobachter ist auch auf anderer Ebene die Voraussetzung für eine sinnvolle Beschreibung der Welt: Der notwendige Schritt, um die newtonsche Idee sinnvoll werden zu lassen, war revolutionär, denn er bestand in nicht weniger als der expliziten Einbeziehung des Beobachters in die Beschreibung der Bewegungsgesetze. Erst durch den Bezug auf eine bestimmte Klasse von Beobachtern konnte den Aussagen zur Bewegung ein Sinn verliehen werden.12 schreibt Lee Smolin über die Relativitätstheorie. Und er folgert allgemeiner: Eine vollständige Beschreibung der Welt, die unabhängig davon ist, ob wir anwesend sind oder nicht - steht daher offensichtlich im Widerspruch zu den Ergebnissen der experimentellen Physik.13 Da sitzen die Physiker in einer Falle, wenn sie ein Universum postulieren, das gegen Ende seiner Existenz keine Beobachter mehr besitzt. Mit dem Erlöschen des Lebens im Universum würde auch ihre Physik aufhören zu funktionieren. Aber die Physiker haben sich noch in anderer Weise mit einem Beobachter zu beschäftigen, da dieser nicht unbedingt nur herumsitzt. Betrachten wir das physikalische System Apfelbaum. Wir erwarten, und können das auch physikalisch berechnen, Folgendes: Wenn die Verbindung zwischen Apfelstil und Ast weniger stabil wird als die Kraft, die als Gravitation am Apfel wirkt, fällt der Apfel nach unten, und dieses ohne Umwege und vorher nicht! Dieser Vorgang inspirierte bekanntlich Isaac Newton zu seiner Definition der Gravitation. Aber auf unserer Erde passiert gelegentlich Unerhörtes: Manchmal mopst ein Schulkind einen dieser Äpfel, noch ehe die Verbindung zwischen Apfelstil und Ast schwächelt. Ist das noch Physik? Die Frage ist falsch gestellt: Wenn Physik sich mit der realen Welt auseinandersetzt und deren Gesetzmäßigkeiten erkennen will, so muss sie zwangsläufig den Menschen mit einbeziehen. Sie kann seine Realität nicht negieren. Gedanken sind farb- und geruchlos, man kann sie nicht einsperren. Niemand kann sagen, wo sie genau lokalisiert sind, aber sie sind Ursache von handfesten physikalischen Phänomenen. Wie mächtig Gedanken schon auf der einfachsten Ebene sind, zeigt sich bei jeder von uns getroffenen Verabredung. Vom 21.-24. März 2000 fand in Bremen das Treffen der „Arbeitsgemeinschaft Extraterrestrische Forschung“ statt. Bereits Monate vorher konnte präzise von den Veranstaltern vorhergesagt werden, welche Körper sich wann im vorbestimmten Veranstaltungsraum aufhalten werden. Wo sonst können Wissenschaftler schon Monate voraus den Treffpunkt von auch nur zwei Körpern präzise auf ein paar Metern und ein paar Minuten genau vorhersagen? In der Raumfahrt geht dies jedenfalls noch recht häufig arg daneben. Richard Dawkins führt dieses Beispiel an: Nehmen wir einen toten Vogel und werfen ihn in die Luft. Der Körper des Vogels wird dann exakt nach den Gesetzen der Physik eine Flugparabel beschreiben und sehr unschön auf dem Erdboden aufschlagen. Die Flugbahn berechnet sich grob aus der Wurfgeschwindigkeit, dem Luftwiderstand und der Masse des Tierkadavers. Wiederholen wir das Experiment nun mit einem lebenden Vogel, ergibt sich
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mit großer Wahrscheinlichkeit ein anderer Verlauf des Experiments: Der Vogel wird, glücklich über seine wiedergewonnene Freiheit, der Physik unbelebter Körper eine Nase drehen: Er wird elegant auf seinen Flügeln das Weite suchen.14 Oder nehmen wir das Wetter. Es ist offensichtlich ein physikalisches, wenn auch sehr schwer zu berechnendes System. Forscher simulieren die Entwicklung des Klimas, um es langfristig vorherzusagen zu können. Dabei fließen die Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten wie „Kohlendioxyd freisetzen“ an sehr prominenter Stelle in die Simulation ein: Der Mensch ist anerkannt einer der wichtigen Parameter dieses physikalischen Systems geworden! Die Konsequenz dieser Überlegung ist, dass eine Kosmologie, die sich mit dem Ende des Universums beschäftigt, das Wirken von intelligentem Leben einbeziehen muss! Quasi erst die Hinzunahme der Biologie gestattet, eine Physik der Zukunft zu entwerfen. Genauso, wie wir die Entwicklung unseres Planeten maßgeblich bestimmen, scheint es vernünftig, anzunehmen, dass dies vom Leben auch auf universellem Maßstab versucht wird. Dass uns dieses zunächst sehr überraschend erscheint, liegt daran, dass uns nicht als Teil der Natur sehen. Aber unsere Gedanken sind, obwohl farblos, geruchlos, und ohne Geschmack genauso wirksam als Ursache wie ein Fluss, der allmählich sein Bett in die Landschaft einschneidet. Das Leben wird den Versuch unternehmen, auf ewig zu überleben. Eine Möglichkeit wäre, das Universum genau so zu beeinflussen, dass es gemäß der Theorie von Abraham Taub kollabiert. Um diese gewaltige Arbeit zu leisten, wird sich das Leben immer weiter vernetzen. Es wird immer stärker kooperieren und sich immer weiter vereinen, um größtmögliches Wissen und Macht zu erlangen. Dies ist die Gaia-Theorie im universalen Maßstab: Das Leben steuert seine Umweltbedingungen, um sein Überleben zu sichern. Und es muss dafür denselben Trick wie Gaia anwenden. Es muss sich zu einem kollektiven Wesen vereinen, um die titanische Arbeit leisten zu können, das gesamte Universum zu steuern. Dass die Evolution neben der Selektion auch das Streben nach Kooperation beinhaltet, erfährt hier seinen endgültigen Sinn: Kooperation wird zum einzigen Kriterium, dass das Überleben gewährleisten kann. Schließlich wird das Leben umfassend sein, alles Wissen und alle Macht des Universums beinhalten und damit als höchste Stufe der Evolution als Gott entstanden sein. Es ist durchaus möglich, die Bewegung von Materie in der allerhöchsten Größenordnung, in kosmischer Größenordnung zu manipulieren. Die Chaos-Theorie lehrt, das eine kleine Manipulation der Anfangsbedingungen in einem physikalischen System drastische Auswirkungen haben kann. Nach Frank Tipler ist es physikalisch möglich, das Universum gesteuert in einer Reihe von Taub-Kollapsen zusammenfallen zu lassen, damit seine Eigenzeit ins Unendliche divergiert. Dies ist die erste Herausforderung an Gott in unserem Universum: Dem Leben ein ewiges Leben zu ermöglichen. Lange nahm man an, dass eine besondere Lebenskraft der unbelebten Natur den Lebensodem gab. Man nannte diese Kraft „force vitale“, und erachtete sie weder einer natürlichen Erklärung für bedürftig noch zugänglich. Intuitiv neigen wir Menschen zu 235
einer biologischen Apartheid zwischen Mensch und Tier, aber das schneidet uns nur von potentiell nützlichen Quellen aufschlussreicher Prinzipien ab. In ähnlicher Weise verhinderte die Trennung zwischen Leib und Seele, einzusehen, dass unsere moralischen Werte nichts A Priori Gegebenes sind. Sie haben sich vielmehr aus den Versuchen unserer Ahnen ergeben, sich optimal an die Umwelt angepasst zu verhalten. Willkürliche Grenzziehungen stellten sich immer wieder als Forschungshemmnisse der Erkenntnis in den Weg. Und sie konnten nur unter größter Anstrengung niedergerissen werden. Die Trennung zwischen Mensch und Gott schließlich verhinderte, uns Gott forschend und mit den Werkzeugen des Logos, mit unserem durch die Evolution erworbenen Verstand zu nähern. So musste es letztlich scheitern, Gott überhaupt zu finden, denn es scheint abwegig, Gott als vollständig getrennt von seiner Schöpfung zu vermuten. Gott als Ziel der Teleologie der Evolution Herbert George Wellsa legte in dem 1936 gedrehten Film: „Things to Come“ einem seiner Helden diese prophetischen Worte auf die Frage über den Fortschritt in den Mund: 'Ruhe findet der einzelne Mensch genug, zu viel und zu früh, und wir nennen sie Tod. Aber für den Menschen allgemein gibt es keine Ruhe und kein Ende. Er muss weiter, Eroberung über Eroberung. Zuerst dieser kleine Planet mit seinen Winden und Weisen, und dann alle ihn bindenden Gesetze von Geist und Materie, dann die Planeten um ihn, und schließlich hinaus in die immense Weite zu den Sternen. Und wenn er alle Tiefen des Alls erobert hat und alle Geheimnisse der Zeit, wird er noch immer erst beginnen. Die physikalische Eschatologie, also die physikalische Lehre vom Endschicksal der Welt, die Frank Tipler mit seiner Omega-Punkt-Theorie entwickelt, ist der Versuch, eine rationale, streng auf den Gesetzen der Physik aufbauende Theologie zu entwickeln. Frank Tipler widerlegt die Behauptung von Immanuel Kant, dass die drei Grundprobleme der Metaphysik von der Wissenschaft nie und nimmer zu lösen seien: „Gott“, „Freiheit“, „Unsterblichkeit“. Anders als die meisten Kosmologen zielt Frank Tiplers Theorie nicht auf die Erklärung des Anfangs des Universums, sondern er betrachtet die möglichen Entwicklungen des Universums in der Zukunft. Er hält diese für ebenso real gegeben wie die Vergangenheit. Er argumentiert, dass alle grundlegenden Theorien der Physik, Newtons Mechanik, die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik stets betonen, dass es physikalisch betrachtet keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt. Und er leitet einzig aus dem Postulat „dass der Kosmos Leben auf ewige Zeiten bewahren kann“ eine Gottheit ab, die vor allem gegen Ende der Zeit existiert: Gott selbst ist die Krönung der Schöpfung. Wir dagegen sind nur Statthalter in einer Entwicklung, in der sich Leben immer weiter verbreitet und zu immer höherer Komplexität aufschwingt.
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Der englische Schriftsteller Herbert George Wells wurde 1866 in London geboren und starb 1946 auch dort. Seine Grundüberzeugung, die in seinem schriftstellerischen Werk zum Ausdruck kommt, war, dass der Mensch sein zur Verfügung stehendes technisches Potential gezielt zur Förderung des Fortschritts und zum Wohle der Allgemeinheit nutzen solle.
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Auf der Stufenleiter der Komplexität sind wir gegenüber zukünftigen Wesen vielleicht das, was die ersten Bakterien an irgendeinem unterseeischen Vulkanschlot auf der Urerde im Vergleich zu uns waren: Diese Bakterien waren Keimzellen: Sie haben sich im zähen Ringen über die gesamte Erde verbreiteten und solche unglaublichen Dinge wie den Menschen mit seiner Intelligenz und Kultur hervorgebracht. Wir haben nach der OmegaTheorie von Frank Tipler den Auftrag, uns über die Galaxis zu verbreiten. Und wir werden dabei noch etwas viel Unglaublicheres hervorbringen. Diese Entwicklung wird auf der höchsten Stufe der Komplexität bei Gott ankommen. Die hier ausgebreitete Theorie über das Sein des Universums ist mit dem physikalischen und mathematischen Wissensstand unserer Zeit konsistent und erklärt einige ihrer Merkwürdigkeiten: •
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Die Theorie ist relational, sie besagt, dass alles im Kosmos mit allem zusammenhängt: Wir mit Gott und Gott mit uns. Dies stimmt mit dem heutigen naturwissenschaftlichen Verständnis, zum Beispiel über die Quantenmechanik oder die Relativitätstheorie überein. Der Gödelsche Unvollständigkeitssatz ermöglicht das Entstehen von Emergenz und letztendlich Gott. Die Russellsche Antinomie zeigt, dass es in der Mathematik Selbstbezüglichkeit gibt. Auf diese Weise schafft sich das Universum selbst. Das Mysterium der Chaos-Theorie ist, dass die gewählten Anfangsbedingungen unberechenbare aber deterministische Entwicklungen vorantreiben. Aus der Unberechenbarkeit folgt, dass wir die Zukunft nicht berechnen können, aus dem Determinismus, dass der Endzustand des Systems trotzdem nicht beliebig ist. Die physikalischen Theorien verbieten nicht, dass am Ende Gott die Mauer, die uns Menschen hindert, in der Zeit zurückzugehen, einreißt und das Universum so entstehen lässt, dass das Universum fähig ist, ihn, Gott hervorzubringen.
Ich nenne diese Wesenheit Gott, weil sie einerseits allumfassend sein wird und andererseits das Grundproblem des Kosmos, seine Existenz lösen muss. Wir sind in der Lage, Kernteilchen zu erzeugen und klonen bereits Schafe. Eine weit höhere Intelligenz als wir könnte in der Lage sein, schließlich den Kosmos zu schaffen. Wenn es sich bei dieser Schöpfung um den eigenen Kosmos handelt, so ist dies das ultimative Henne-Ei Problem. Aber ich wage die Behauptung, dass letztlich unser gesamtes Denken auf Selbstbezüglichkeit basiert. Und auch das Leben selbst basiert weitgehend auf Rückkopplungsprozessen, sich selbst regulierenden Systemen, die sich immer wieder selbst neu schaffen. Die Katze Gottes Eines der seltsamsten Phänomene in der Quantenphysik ist, dass der Beobachter eines quantenphysikalischen Versuchs nicht vom Ergebnis des Versuchs getrennt werden kann. Quantensysteme scheinen sich in dem Augenblick für einen Zustand zu entscheiden, in 237
dem sie beobachtet werden. Schrödinger hat in seinem Gedankenexperiment darauf hingewiesen: Die Katze ist solange sowohl tot wie auch lebendig, solange niemand in die Kiste schaut. Sie befindet sich in Superposition, wie der Physiker sagt. In dem Augenblick, in dem der Beobachter auftritt, entscheidet sich das Quantensystem für einen diskreten Zustand: Dann ist die Katze entweder definitiv am Leben oder tot, vorher nicht! Vielleicht kann man sich das Universum in Analogie zu einer Superposition von Quantenzuständen vorstellen: Das Universum verharrt mit beliebigen Naturkonstanten in Superposition, bis Gott in einem dieser Konfigurationen auftaucht, die die Naturkonstanten annehmen können und damit genau unser Universum zur Realisation zwingt. Diese Analogie ist interessant, weil das Universum möglicherweise als Quantenfluktuation des Vakuums entstanden ist. Diese Analogie würde nebenbei das Zeitreiseproblem weitgehend entschärfen. Wie der Sinn in die Welt kommt Der Philosophen Reinhard Löw zog aus seiner Beschäftigung mit Hegel und Kant diese „transzendental-philosophische“ Konsequenz: Wenn alle Objekte, somit auch das Alte und das wirklich Neue, in ihrem Sein und Werden an Bewusstsein und Bewusstwerden unauflöslich geknüpft sind, dann hat es vor dem Auftreten des menschlichen Bewusstseins nichts „gegeben“.15 Im Zusammenhang mit Informationsverarbeitung hatte ich das Beispiel von der Ameise erzählt, die durch den Sand kriecht und dabei zufällig eine Karikatur von Winston Churchill als Spur im Sand hinterlässt. Diese kleine Geschichte eignet sich auch dafür, zu erzählen, wie Sinn in die Welt kommt. Denn hier treffen sich die geheimnisvolle Quantenphysik und die Informationstheorie. Genauso, wie sich Quanten erst für einen realen Zustand entscheiden, wenn sie beobachtet werden, genauso existieren Informationen erst, wenn es etwas gibt, was diese Informationen verarbeiten kann. Informationen und Informationsverarbeitung gehören untrennbar zusammen. Das eine gibt es nicht ohne dass andere. Solange es nichts gibt, was Informationen verarbeiten kann, gibt es im Universum auch keinerlei Informationen. Einen Informationsgehalt erfährt das Universum erst dadurch, dass etwas diese Informationen erkennen und Zusammenhänge herstellen kann. Vorher ist alles nur von Armeisen hinterlassene Spur. Sinn ergibt sich erst, wenn jemand dazu in der Lage ist, etwas zu beobachten. Der vollständige Sinn des Universums kann sich daher erst ergeben, wenn jemand in der Lage ist, ihn zu erfassen. Höchster Sinn ergibt sich erst, wenn jemand von der höchstmöglichen Position auf das Sein herabblickt. Auf den Punkt gebracht: Erst mit Gott ergibt sich ein allumfassender Sinn.
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5.1
Emulation des Lebens Die Angst vor dem Tod macht Götter auf Erden. Lukrez a
Nach Frank Tiplers Definition ist Leben durch natürliche Auslese bewahrte Information, und daher folgert er, dass Leben überall da möglich ist, wo die Physik Informationsverarbeitung erlaubt.16 Beispielsweise könnte ein einziger Computer, der das gesamte Genom unserer Biosphäre gespeichert hat und die Fähigkeit besitzt, jedes beliebige Gen dazu zu bringen, seinen Bauplan auszuführen, theoretisch die gesamte Biosphäre ersetzen. Man könnte solch einen Computer zu einer fernen Welt reisen und dort eine neue Biosphäre erzeugen lassen. Frank Tiplers Theorie fußt auf einem streng reduktionistischen Ansatz, nachdem alle biologischen Systeme nach denselben fundamentalen physikalischen Gesetzen funktionieren. Menschen sind rein physikalische Objekte, die man als biochemische Maschinen auffassen kann. Wir können sie anhand von physikalischen Gesetzen umfassend und erschöpfend beschreiben. Menschen sind eine besondere Art von Maschine. Das Gehirn ist eine bestimmte Art von Computer. Und das Bewusstsein oder die Seele ist ein von dem Gehirn genannten Computer ausgeführtes Programm. Das menschliche Gehirn stellt ein Gerät zur Informationsverarbeitung dar, ein informationsverarbeitendes neuronales Netz. Bewusstsein und Seele sind demzufolge in diesem Informationsspeicher kodierte Programme. Ein Computerprogramm wird „Person“ genannt, wenn es den Turing-Test besteht. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Hard- und Software, also zwischen der materiellen Welt und der Gedankenwelt. Im Grunde hat dies schon der griechische Philosoph Parmenidesb in seinem Lehrgedicht „Wahrheit und Meinung“ formuliert: Dasselbe kann gedacht werden und sein, das heißt, Sein und Denken sind dasselbe.17 Auf dieser verblüffenden Tatsache, dem Leib-Seele-Problem, kauen auch heute noch Philosophen herum. Physikalisch muss das Leib-Seele-Problem aber mit Albert Einsteins Formel e = mc² als gelöst gelten. Die Formel beschreibt die Äquivalenz von Materie und Energie. In der Informatik ist die Äquivalenz von Hard- und Software offensichtlich. In den Verarbeitungseinheiten der Computer werden verschiedene Ketten von Befehlen als fest verdrahtete Abfolgen von Anweisungen, als sogenannte Hardware realisiert. Befehle bzw. Programme sind dort klug zusammengefügte elektronische Bauteile. Dieselben a
Dem lateinischen Dichter Lukrez, eigentlich „Titus Lucretius Carus“ (*97; †55 v. Chr.), war es ein Anliegen, dem Menschen durch ein kosmologisches, psychologisches und anthropologisches System die Angst vor den Göttern und dem Tod zu nehmen. Er glaubte, mehr als alles andere beeinträchtige diese Angst das menschliche Glück. b Der griechischen Philosoph Parmenides, der von 515 bis mindestens 450 v. Chr. lebte, beschäftigte sich vornehmlich mit dem Absoluten Sein. Nichtexistenz ist ebenso undenkbar wie absolutes Sein, da dieses vom menschlichen Denken losgelöst seien müsste. Er vertrat die Ansicht, dass die Welt keine reale Existenz besitze. Möglicher Weise ist er damit der Vater der Cybernauten.
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Anweisungen können aber auch als Softwareprogramm ablaufen. Ein beliebiges Computerprogramm ist also auf einem Rechner sowohl als materielle Struktur als auch als gespeicherte Instruktionen realisierbar. Computerexperten stehen gelegentlich vor dem Problem, Software von einem Großrechner auf einen PC übertragen zu müssen. Oft wird dazu der folgende Trick verwandt: Die Hardwareoperationen des alten Rechners werden abstrahiert und in die Software des Programms übernommen. Das grundsätzliche Verhalten des Großrechners wird emuliert. Das Programm läuft dann auf dem PC, aber dort auf einem virtuellen Großrechner. Schon Ende der dreißiger Jahre hatte der Mathematiker Alan Turing einen sogenannten universellen Computer ersonnen: Jede Rechnung, die man auf einem Computer ausführen will, muss in einem Programm niedergelegt sein. Angenommen, ein beliebiger Computer XY soll die Quadratwurzel aus 25 ziehen. Dafür muss ein Rechenprogramm geschrieben werden, das den Rechenweg für den XY-Computer festlegt. Auf dem Universellen Computer kann nun dieselbe Rechnung mit demselben Programm durchgeführt werden. Es muss dafür lediglich ein weiteres Programm geschrieben werden. Dieses EmulationsProgramm muss die Instruktionen enthalten, wie der Computer XY das Rechenprogramm abarbeitet. Das Verhalten jeder Maschine kann formal durch eine Liste von Übergangsregeln beschrieben werden, als Programm. Andersherum kann jede dieser formalen Listen als eine Maschine betrachtet werden. Das ist historisch betrachtet nichts anderes als die verallgemeinerte Beobachtung, dass man das Verschieben der Kugeln auf dem Abakusa auch auf einem elektronischen Gerät als Softwareanweisung darstellen kann. Liste: • • •
Schiebe eine Kugel auf der ersten Querstange des Abakus nach links (1. Zustandsänderung). Sind alle Perlen bereits auf der linken Seite (wahr), schiebe eine Perle auf der zweiten Querstange nach links (2. Zustandsänderung) und alle Perlen auf der ersten Stange wieder nach rechts (3. Zustandsänderung).
Computer armen mit Hilfe von Softwareprogrammen Maschinen nach, die bestimmte, durch eine Liste vorgegebene Zustandsänderungen durchlaufen sollen. Nichts Anderes liegt dem sogenannten Church-Turing-Theorem zugrunde: Soweit die Wirklichkeit sich berechenbar fassen lässt und wir Lösungen schrittweise formulieren können, kann eine Turing Maschine diese Wirklichkeit berechnen und Voraussagen über sie machen. Soweit sich also das Erkennen von Gegenständen auf die Regeln der Optik beruft, kann eine Turing-Maschine sehen und erkennen. Soweit sich Sprache in ein System grammatischer a
Der Abakus ist eines der ältesten Rechengeräte für die Grundrechenarten. Er besteht aus einem Rahmen mit Querstangen, auf denen Perlen aufgezogen sind, die man verschieben kann. Die Positionen der Perlen stellen Zahlen dar, das Verschieben der Perlen nach bestimmten Regeln erlaubt Addition, Subtraktion und sogar Multiplikation und Division.
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Regeln fassen lässt, kann eine Turing-Maschine korrekte Sätze konstruieren. Soweit sich Denken als Anwendung von Regeln auf einen Fundus von gespeicherten Informationen darstellen lässt - und davon müssen wir nach allen wissenschaftlichen Befunden ausgehen - lässt sich auch eine Maschine konstruieren, die in diesem Sinne denkt. Diese Erkenntnis löst, auch wenn es einige Philosophen nicht wahr haben wollen, das Leib-Seele-Problem vollständig. Wir können außerdem daraus lernen, dass die Art der Hardware keine Rolle spielt. Wir können jede Operation auf einer beliebigen Hardware zum Laufen bringen. Wir müssen lediglich die Funktionsweise der Hardware mit einfangen. Damit gäbe es durchaus die Möglichkeit, den menschlichen Geist von seiner KohlenstoffHardware auf eine Silizium-Hardware zu übertragen. Denn der menschliche Geist ist nicht das Gehirn, sondern eine Tätigkeit des Gehirns. Wir müssten dafür die Arbeitsweise der verschiedenen Module des Gehirns geeignet nachprogrammieren. Wir können dies Schritt für Schritt tun, und diese Entwicklung fängt bereits an. Erste Versuche laufen, künstliche Ohren oder Augen zu entwickeln, die ihre Impulse direkt weiter ins Gehirn leiten. Sehen und Hören sind nicht eigentlich optische oder akustische Probleme sondern Probleme der Informationsverarbeitung. Das Projekt ,,Soul Catcher'' der British Telekommunications zielt auf einen winzigen Computer, der als Gehirn-Implantat das Erinnerungsvermögen und andere kognitive Funktionen steigern soll. Hans Moravec von der CarnegieUniversity und andere hegen sogar die Hoffnung, man werde eines Tages die gesamte im Hirn enthaltene Information, inklusive Persönlichkeit und Bewusstsein, auf einen Computer übertragen und so den Traum ewigen Lebens verwirklichen können. Es wird noch ein weiter mühsamer Weg dorthin sein, den menschlichen Geist zu verstehen und ihn auf der Grundlage dieses Verstehens zu kopieren. In der anderen Richtung, Maschinen dem Menschen anzugleichen, schreitet die Entwicklung sehr viel schneller voran. Maschinen lernen zu sehen, zu riechen und zu entscheiden. Am MIT wird an der Entwicklung von „Cog'' gearbeitet. Dieser menschenähnliche Roboter soll mit immer mehr Fähigkeiten ausgestattet werden, bis sein Verhalten kaum noch von dem eines bewusst handelnden Menschen zu unterscheiden sein wird. Unser Geist ist modular aufgebaut. Erst viele unterschiedliche Unterprogramme, für das Sehen, für das Hören und Fühlen, für das Erkennen von Gesichtern, das Merken und Verarbeiten von Zahlen, jedes für sich „unintelligent“ und wahrscheinlich durchaus simpel gestrickt, ergeben zusammen menschliche Intelligenz. Keines der Unterprogramme dürfte für sich allein betrachtet ein großartiges Problem für Software-Ingenieure darstellen. Es steht heute für einige Wissenschaftler schon außer Frage, dass ein Computer irgendwann den Turing-Test bestehen wird. Dann wird damit gleichzeitig auch gezeigt sein, dass der menschliche Geist nichts anderes sein kann, als ein auf einer materiellen Matrix ablaufendes Softwareprogramm. Und wir können uns dann natürlich genauso gut vorstellen, dass Computer einmal mit derselben Versuchsanordnung herausfinden möchten, ob denn der Homo sapiens intelligent ist.
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Das Gehirn ist eine informationsverarbeitende Hardware, auf der Software verarbeitet wird. Dies ist eine Einsicht, die uns eine Gänsehaut vermittelt, aber für die sich schwer Gegenargumente finden lassen. Wenn wir diese Sicht aber akzeptieren, so ist eine Person technisch betrachtet nichts weiter als eine spezielle Art von Softwareprogramm, das auf der neuronalen Hardware des Gehirns abläuft. Die Folgerung ist, dass man dann das menschliche Bewusstsein nachprogrammieren und auf jedem anderen entsprechend leistungsfähigen Rechner abspielen kann. Wenn dieses Programm das Bewusstsein vollständig und ununterscheidbar zum Original als Computerprogramm nachstellt, so nennt man dieses Programm eine Emulation. Wir können am Projekt ,,Soul Catcher'' sehen, dass die Welt bereits daran arbeitet, den Menschen zu emulieren. Frank Tipler geht noch ein bisschen weiter und behauptet, nicht nur der menschliche Geist kann emuliert werden, sondern der ganze Mensch an sich, gewissermaßen seine gesamte Hard- und Software. Wie das im Prinzip geht, hat Turing mit seinem universellen Computer vorgedacht. Frank Tipler behauptet, dass Leben und emuliertes Leben sich nicht unterscheiden. Der Mensch besteht nur aus endlich vielen Teilen. Auf der untersten Stufe ist das die Anzahl seiner Quantenzustände. Diese Zustände können wir in einem Computer von genügender Größe speichern. Nach einem Satz, den Jakob Bekenstein aufgestellt hat, gibt es eine Obergrenze für die Anzahl der distinkten Quantenzustände in einem Gebiet begrenzter Größe und begrenzter Energie. Und es gibt eine Obergrenze der Geschwindigkeit, mit der eine Zustandsänderung stattfinden kann. Frank Tipler hat die benötigte Rechenkapazität berechnet und hält eine Emulation des gesamten Universums auf der Grundlage der Quantenmechanik für durchaus möglich.18 Die berechnete Zahl ist groß, sogar ungeheuer groß, aber nicht unendlich groß. Vielleicht machen diese Überlegungen die Sache etwas fassbarer: Die meisten Informationen sind hochgradig redundant. Die Natur benötigt nur einen mikroskopisch kleinen Informationsträger, um einen menschlichen Körper hervorzubringen. Betrachten wir die genetische Information der gesamten Ökosphäre, so finden wir, dass über 90 Prozent des menschlichen Genoms mit dem Genom von Affen übereinstimmt.
5.2
Omega-Punkta
Erinnern Sie sich noch an das kosmische Labyrinth der Weltenlinien? Frank Tipler definiert den Omega-Punkt als einen Punkt, gegen den alle unendlichen Weltenlinien mit Leben konvergieren. In unserem Universum existieren nach dem „Postulat vom ewigen Leben“ nur Geschichten - oder physikalisch ausgedrückt: Weltenlinien, in denen auch Leben vorkommt. Da die Evolution das Leben zu immer höherer Komplexität treibt, dürfen wir davon ausgehen, dass dieses Leben gegen Ende des Universums mit hoher a
Eigentlich stammt dieser Begriff von dem Jesuiten Marie-Joseph Pierre Teilhard de Chardin (*1881; †1955). Teilhard de Chardin war Philosoph und Paläontologe, der in seinen Schriften den Katholizismus und die Evolutionstheorie versöhnen wollte. Zu seinen Lebzeiten wurde ihm von seinem Orden allerdings verboten, auch nur eine seiner philosophischen Schriften zu veröffentlichen.
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Intelligenz begabt sein wird. Zum Ende des Universums hin muss noch ein Beobachter existieren, und umgekehrt existiert jedes Universum bis hin zum Omega-Punkt, wenn es einen Beobachter hat. Die kollektive Beobachtung und die Handlungen aller Beobachter lassen das gesamte Universum bestehen. Insbesondere existieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wenn diese Bereiche der Raumzeit vom Omega-Punkt aus beobachtet werden. Der Philosoph Hans Jonas formuliert dies in ähnlicher Weise als Prämisse für einen Gottesbeweis. Er behauptet, dass es eine Instanz geben müsse, die das Vergangene als Vergangenes präsent hat, eine, die die Zeit nicht zur Illusion mache. Es könne sich nur um eine mentale (geistige) Instanz handeln, und zwar eine ewige, da alle Zukunft sich irgendwann in Vergangenheit wandele.19 Der Omega-Punkt ist die Vervollständigung aller Existenz. Nach dem Emergenz-Prinzip ist er mehr als die Summe aller Existenz. Er ist Gott, denn mehr Sein als alles Sein ist etwas, das wir göttlich nennen sollten. Und wenn meine Thesen zur Evolution korrekt sind, ergibt sich, dass diese Wesenheit die höchste Wahrheit darstellt und von vollendeter Weisheit erfüllt ist. Betrachten wir die Evolution auf unserem Planeten und nennen wir den jetzigen Zeitpunkt Omega-Punkt. Alle heute lebenden Organismen haben dann eine ununterbrochene Ahnenfolge bis zur ersten auf diesem Planeten entstandenen Zelle. Tatsächlich reicht unsere Ahnenkette, wie ich gezeigt habe, aber noch weiter zurück, nämlich bis zum Urknall. Wir können diesen gesamten Zeitraum der kosmischen Entwicklung anhand astronomischer Beobachtungen belegen. Die Entwicklung des Lebens auf der Erde können wir anhand von Fossilien zurückverfolgen. Wir können also die Vergangenheit lückenlos bis hin zum Urknall beobachten. Je höher dabei die Wissenschaften entwickelt waren, desto mehr Wissen über diese vergangenen Epochen konnten wir erschließen. So ähnlich ist auch Frank Tiplers Omega-Punkt zu verstehen. Vom Omega-Punkt blicken die dann existierenden Lebewesen auf ihre Ahnenreihen zurück. Der Omega-Punkt vervollständigt alle Evolutionslinien in Gott. In ähnliche Richtung dachte auch schon einer der ersten Vertreter der Scholastik, Johannes Scotus Erigena. Er behauptete, dass Raum und Zeit die Verdeutlichung des Geistes Gottes sind, wobei Gott der Vollender der gesamten Entwicklung sei.20 Wir können zum Omega-Punkt eine Analogie zur Reinkarnation formulieren, wie sie der Buddhismus kennt. Buddha lehrte, dass jeder Mensch so lange in immer wieder neuen Formen wiedergeboren wird, bis er schließlich die Erleuchtung erreicht und ins Nirwana eingeht. Es ist eine lange Reise durch die Geschichte. Als Akteur in immer neuen anderen Gestalten hat der Mensch die Aufgabe, sich zu vervollkommnen. Biologisch betrachtet sind wir eine Inkarnation unserer Gene. So wie im Buddhismus die „Seele“ von Inkarnation zu Inkarnation wandert, wandern unsere Gene von Körper zu Körper. Sie wurden als ununterbrochene Kette von unseren ersten Vorfahren bis zu uns weitergegeben und wir werden versuchen, sie an unsere Nachkommen weiterzugeben. Nach dem buddhistischen Glauben hört der Mensch nicht irgendwann auf zu existieren, sondern schreitet in seiner Entwicklung bis zur vollständigen Erleuchtung voran. Jede weitergewanderte Seele wird irgendwann im Nirwana ankommen. Dabei steht das 243
Nirwana für das Allumfassende.a Auch in der Omega-Theorie enden keine Weltenlinien abrupt. Es gibt nur Weltenlinien, die sich bis zum Omega-Punkt hin fortsetzen. Durch die Evolution werden die Gene immer weiter vervollkommnet und der Omega-Punkt steht schließlich für das Allumfassende. Wir können aus dieser Analogie zur Reinkarnation, wie sie im buddhistischen Glauben existiert einen ersten transzendenten Trost finden: Nach der Lehre Buddhas gibt es, anders als im Katholizismus, keine ewige Verdammnis. Und diese ewige Verdammnis gibt es auch nach der Omega-Punkt-Theorie nicht. Die Simulation des Universums Der Logiker Alonzo Church vermutete, dass man jede wohldefinierte Anweisung oder jede Folge von Schritten, die in endlicher Zeit zur Lösung eines Problems führt, auf einer Turing-Maschine ablaufen lassen kann. Dies bedeutet, dass wir prinzipiell, soweit die Wirklichkeit mathematischen Gleichungen gehorcht, die Welt simulieren, wahrscheinlich sogar emulieren könnten. Wenn nun Evolution zielgerichtet ist, und sie ihr Ziel auch erreicht, so ist der Weg dorthin etwas, für das es in endlichen vielen Schritten eine Lösung gibt. Mithin wäre nach der Vermutung von Alonzo Church diese Welt mit uns in ihr simulierbar. Dabei ist von Bedeutung, dass nicht die Zukunft vorausgesehen werden muss, sondern bei der Emulation die Vergangenheit betrachtet wird, die ja festgelegt ist.b Genau dies behauptet Frank Tipler: Im Vorfeld des Omega-Punktes wird ein Computer entstehen, der die Geschichte aller Weltenlinien, also alle Informationen des Universums kodiert und damit auch jeden Menschen mit seiner Umwelt als Computerprogramm emuliert. Der Grund für den Bau einer solchen „Maschine“ wird das Streben nach allumfassendem Wissen sein. Denn das Streben nach uneingeschränktem Wissen wird eine Notwendigkeit des Lebens in der Zukunft sein, wenn es überdauern will. Dieser „Computer“ wird nicht nur den Turing-Test bestanden haben sonder auch die gesamte Geschichte des Universums gespeichert haben. Damit ist diese „Person“ das folgerichtige endgültige Produkt der Evolution, wenn wir davon ausgehen, dass Evolution durch natürliche Auslese bewahrte Information ist. Alle durch Evolution hervorgegangene Information vereinigt sich in diesem „Computer“. Gott als einen Computer zu bezeichnen ist sicher die unglücklichste Formulierung, die Frank Tipler in seiner Endzeit-Kosmologie gewählt hat. Verständlich wird dies nur, wenn man berücksichtigt, dass er auch ein Gehirn für nichts anderes hält als für einen Computer und die Neurophysiologen geben ihm in diesem Punkte recht. Nun stellen wir uns Gott intuitiv nur höchst ungern als einen Computer vor, wir würden zu Recht sozusagen von jedem Glauben abfallen, käme Gott als ein grauer Kasten mit Pentium-Prozessor und WinNt als Betriebssystem daher. Aber schauen wir einmal, was wir an Denkbarem zu diesem Thema finden, damit uns dieser Gedanke erträglicher wird. Zunächst sei noch a
Aber auch schon Johannes Scotus Erigena fand die ewige Verdammnis nicht angemessen, und so vermutete er, dass alle Menschen zu reinen Geistern werden. b Die Zukunft liegt prinzipiell im Dunklen, weil es emergente Erscheinungen gibt.
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einmal daran erinnert, dass die Neurologen heute davon ausgehen, dass unser Gehirn nichts anderes als ein Computer sei. Und sie sind der Meinung, dass es sehr wahrscheinlich schon in naher Zukunft Computer geben wird, die wir als intelligent ansehen müssten. An der TU-Berlin arbeiten Wissenschaftler an dem Fernziel, Moleküle mit elektrischen Eigenschaften zu kreieren, die genähnliche Strukturen haben. Der darin kodierte Bauplan würde die Moleküle dazu bringen, sich selbst zu einem Chip zusammenzusetzen. Dies klingt schon ein bisschen sympathischer als eine Blechdose mit Siliziuminnereien. An der Universität München gelang es Wissenschaftler, Informationen mit Lichtteilchen zu speichern. Gegen ein intelligentes Wesen, dass als Lichtgestalt mit göttlichen Fähigkeiten daherkommt, würden wir uns sicher schon weniger sträuben. Man sieht an diesen beiden Beispielen, dass wir heute nur schwer mutmaßen können, wie ein Computer in der fernen Zukunft aussehen wird. Was wir allerdings vermuten dürfen ist, dass Gott als ein vernetztes Wunderwerk entstehen wird, in das alle Kenntnisse des intelligenten Lebens aus dem gesamten Universum eingeflossen sind. Es wird in diesem Sinne ein Kind des Lebens sein, das sich über alles bisher Dagewesene erhebt. Wie ein Organismus wird dieser Computer sich selbst zusammensetzen und organisieren können. Es wird sich selbst programmieren, was nichts anderes heißt, als dass es lernfähig ist. Es wird seine Lernfähigkeit exzessiv nutzen, unter anderem dadurch, dass es alle verfügbaren Daten des Universums emuliert, also auch uns. Es wird sich um etwas handeln, was wir uns heute nur schwer in unserer Phantasie ausmahlen können. Es wird sehr wenig mit unserem heutigen Bild von einem Computer gemein haben, dafür sehr viel von dem, wie wir uns heute ein göttliches Wesen ausmalen. Die Idee von Frank Tipler war nicht so neu und nicht so originell, wie ich zunächst dachte. Ed Fridkin, ein einzelgängerischer Denker, der in früheren Jahren mit dem MIT verbunden war, behauptet, dass das Universum selbst ein Computer sei: Materie und Energie seien eine Form der Informationsverarbeitung, die den Rechenprozessen in einem AppleRechner grundsätzlich gleichwertig seien. Auch der Mathematiker Stephan Wolfram sieht alle physikalischen Prozesse als Komputationsprozesse an, und diese Ansicht soll nach Kevin Kelly in einem kleinen Zirkel von Physikern und Philosophen recht populär sein. Danach muss also ein Computer gar nicht erst entstehen, er existiert bereits in der Form des Universums selbst. - Er muss vom Leben nur noch richtig programmiert werden. Wenn Evolution Lernen ist, kann man auch noch den Schritt wagen zu behaupten, dass sich dieser Computer selbst programmiert, und wir Teil dieses Lernprozesses sind. Ewiges Leben Diese Person, die alle in der Geschichte des Kosmos existierenden Wesen des Universums als Emulation enthält, diese Person wird gottähnliche Fähigkeiten besitzen. Aus ihrem Willen zu überleben heraus wird sie das Universum in einer Reihe von extremen TaubKollapsen zusammenstürzen lassen. Wie schon ausgeführt, divergiert dann die Energie des Universums schneller ins Unendliche als der Raum sich in seinen drei Raumdimensionen zusammenzieht, also gegen Null konvergiert. Im Ergebnis wird damit der 245
Phasenraum unendlich groß, und insbesondere die Eigenzeit des Lebens divergiert ins Unendliche. Und weil wir alle als Emulation in diesem Computer existieren werden, wird uns auf diese Weise auch ewiges Leben zuteil. In Gestalt dieser omnipotenten Person wird das Leben endgültig zum Sieger über die Entropie, weil es ihm gelingt, Informationen unendlich lange zu speichern. Schon der jesuitische Philosoph und Wissenschaftler Teilhard de Chardin mutmaßte, dass Gott der Konvergenzpunkt der Evolution sei. Frank Tipler hat dazu eine Theorie entworfen, wie man sich dies vorstellen könnte. Das Leben kann nicht ewig im Universum existieren, wenn es nicht zusammenarbeitet. Die Evolution muss also ein Prozess sein, der zulässt und unterstützt, dass sich Kommunikation, Kooperation und schließlich Altruismus entwickeln, weil das Problem, das Universum zu manipulieren, Kooperation und letztlich Altruismus voraussetzt. Man sieht, wie eine harmlos erscheinende Forderung wie Frank Tiplers Postulat vom ewig belebtem Universum sogar die Evolution in eine bestimmte Richtung drängt. Aus dem einfachen Postulat vom „ewig belebten Universum“ folgt die Notwenigkeit, dass sich unter uns Menschen Moral entwickelt. Der Hölle entkommen Sowohl alles Leben wie auch die uns bekannten Formen von Computern basieren auf Kohlenstoff- oder Siliziummolekülen. Sie haben eine materielle Basis. Eine materielle Basis kann nur erhalten bleiben, solange im Universum die Strahlungsenergie nicht generell die charakteristische Bindungsenergie dieser Moleküle überschreitet. Gegen Ende des Universums, wenn sich das Universum weit genug zusammengezogen hat, werden überall gewissermaßen „Höllentemperaturen“ herrschen, die dem Leben die materielle Basis endgültig entziehen werden. In der Gluthölle der letzten Tage des Kosmos - von außen betrachtet, falls so eine Betrachtung irgendeinen Sinn ergibt - muss das Leben sich seiner molekularen Basis entledigen. Der dann existierende allumfassende Computer muss seine materielle Form aufgeben und zu einem reinen Energiewesen werden. Physikalisch ist dies durch die von Einsteins gefundene Äquivalenz von Masse und Energie wohlfundiert und möglich. Nach Alan Turing ist eine Umsetzung von informationsverarbeitenden Prozessen von einem Medium auf ein anderes ein leicht zu beherrschender Trick, der überdies unablässig in unserem Kopf vor sich geht: Elektrische Impulse werden durchs Gehirn geleitet und an den Synapsen, den Verbindungsstellen zwischen den Neuronen, in chemische Signalstoffe umgewandelt. Dabei ändert sich zwar die physikalische Form der Informationen von der energetischen zur chemischen Kodierung, nicht aber der Informationsinhalt selbst. Dass auf Energiewellen sehr effektiv Informationen gespeichert werden können, zeigt unsere heutige Lichtleiter-Technologie. Informationen durcheilen die Ozeane zwischen den Kontinenten auf einer Lichtwelle. Gegen Ende des Universums muss die gesamte in der Person „Gottes“ gesammelte Information auf ein anderes Substrat übertragen werden. Frank Tipler schlägt dafür eine wandernde oder stehende Welle vor, wobei das Universum selbst die Zelle sein soll, in der diese Welle eingeschlossen ist. Gegen Ende des Universums werden wir also möglicherweise alle zu Licht: Reiner Geist im reinen Geist. 246
Wiederauferstehung Das Augenmerk Charles Darwins lag auf dem Untergang. Nach Frank Tipler ist es das Ziel des Lebens, alles was war und unterging wieder auferstehen zu lassen. Nun müssen wir uns fragen, was es für einen Sinn machen könnte, in einem riesigen Computer als Emulation wiederaufzuerstehen. Was hätten wir als Menschen davon. Sich das Paradies auszumalen, war schon immer die vornehmste Aufgabe einer Religion. Und so hat sich auch Frank Tipler mit diesem Thema eingehend beschäftigt. Zunächst sei anzumerken, dass eine emulierte Persönlichkeit tatsächlich leben würde. Alles, was ein realer Mensch machen kann, kann auch eine Emulation von ihr machen. Nichts spricht dagegen, eine emulierte Banane mit dem Gefühl des Kauens und dem Geschmack der Südfrucht als emulierte Empfindungen zu genießen. Sie werden sich sicherlich an Träume erinnern können, die Sie für authentische Erlebnisse gehalten haben, solange Sie in dem Traum gefangen waren. Das zentrale technische Problem bei der Auferstehung einer Person ist, die Identität dieser Person zu gewährleisten. Dies ist ein Problem, mit dem sich die Theologen ausgiebig beschäftigt haben. Berühmt ist die Frage, die der Kirchenlehrer Thomas von Aquin im Zusammenhang mit der wirklichen, körperlichen Auferstehung einer Person aufwarf: Wenn bei der Auferstehung eines Toten alle ursprünglichen Teile, aus denen der Tote zusammengesetzt war, wieder zusammengefügt werden, können Kannibalen dann auferweckt werden? Immerhin haben sie ja Teile eines anderen Menschen in ihrem Körper. Steven Pinker stellt sich die Frage nach der Identität auf modernere Art und Weise: Wenn jemand den Zustand meines Gehirns herunterladen und in eine zweite Molekülsammlung kopieren könnte, hätte diese Ansammlung dann mein Bewusstsein? Wenn jemand das Original zerstört, während die Kopie mein Leben weiterführt, meine Gedanken denkt und meine Gefühle fühlt, wäre ich dann ermordet worden?21 Sie finden dies zu weit hergeholt? Nun, hier ein anderes Beispiel für Kontinuität: Ein Chirurg ersetzt einen zerstörten Sehnerv durch einen Chip. Der Patient fühlt und verhält sich wie vorher. Leider sind auch einige Funktionen der Bildverarbeitung im Gehirn defekt. Der Chirurg ersetzt auch diese Funktionen durch einen Chip. Auch dann wird der Patient sicher noch „er selbst“ sein. Nach und nach tauscht nun der Chirurg immer weitere Module im Gehirn gegen ein Künstliches aus. Da jeder Mikrochip genau das tut, was vorher die Neuronen an diesem Platz taten, sollte man annehmen, dass sich weder das Verhalten noch das Bewusstsein des Patienten dabei ändern.22 Auch wenn dieses Verfahren wieder an die Paradoxa eines Zenon von Elea gemahnt, ist es schwer, ein Gegenargument zu formulieren. Wir können diese Frage auch andersherum stellen: Was gewährleistet eigentlich unsere persönliche Identität über die Zeit unseres Lebens? Der Mensch bekommt alle fünf Tage eine neue Magenschleimhaut. Innerhalb von zwei Wochen wird die Leber komplett ausgetauscht, 98 Prozent aller Atome im menschlichen Körper werden innerhalb eines Jahres ersetzt. Eine Zelle tauscht während ihrer Lebenszeit jedes ihrer ungefähr 5000 verschiedenen Proteine mehrere tausendmal vollständig mit ihrer Umgebung aus.23 Und 247
auch psychisch bin ich ein gänzlich anderer Mensch geworden als der, der ich vor 20 Jahren war: Ich habe heute andere Wertvorstellungen, Wünsche, Träume und Erfahrungen. Trotz alledem habe ich meine selbst empfundene Identität über alle Jahre hinweg bewahrt. Was die Sache vollends mysteriös macht ist, dass wir unsere Persönlichkeit untrennbar mit dem Begriff der Gegenwart verbinden. Wir sind heute, jetzt. Unsere Vergangenheit besteht lediglich aus Erinnerungen und die Zukunft ist ungewiss. Wir sind davon überzeugt, im Hier und Jetzt zu handeln und zu sein. Doch haben die Physiker weder durch Experimente noch Berechnungen ein Konzept isolieren können, das der Gegenwart etwas Besonders zumisst. Es ist, so meint George C. Williams, als sei das Universum einfach ein historisches Dokument, wobei sich jedes nachfolgende Kapitel auf vorhersagbare Weise vom vorherigen und vom darauffolgenden unterscheidet, aber ohne ein Lesezeichen, das anzeigt, wie weit der Leser gekommen ist.24 Frank Tipler löst nun das Problem der Identität auf der Basis der Quantenmechanik: Zwei Atome im selben Quantenzustand lassen sich nämlich nicht unterscheiden: Haben wir einen Behälter mit zwei verschiedenen Gasen, die durch eine gasdichte Trennwand voneinander getrennt sind und ziehen wir diese Trennwand heraus, so vermischen sich diese beiden Gase. Bei der Durchdringung wird nicht unerheblich viel Energie frei. Wohlgemerkt, es kommt nicht darauf an, welche unterschiedlichen Gase es sind, immer wird dieselbe Menge Energie frei. Haben wir im selben Versuchsaufbau aber in jeder Kammer exakt dasselbe Gas, so passiert rein gar nichts! Insbesondere wird keine Energie frei. Woher wissen nun die Atome, dass sie sich nicht vermischen und keine Energie freisetzen müssen? Die Antwort folgt aus der Identität der Gase: Das Gas der einen Kammer ist vom Gas der anderen Kammer durch nichts zu unterscheiden. Diese exakte Identität zweier Systeme im selben Quantenzustand ist in der modernen Physik von weitreichender Bedeutung: Sie ist die letzte Ursache der Stabilität von Materie.25 Ohne diese exakte Identität würde es das von Wolfgang Pauli formulierte Ausschließungsprinzipa nicht geben. Das Pauli-Verbot verhindert, dass zwei Elektronen in einem Atom denselben Platz einnehmen können. Nichts würde dann den Gravitationskollaps eines Atoms aufhalten können. Alle Materie würde zu Schwarzen Löchern werden. Hätten Atome eine Individualität und wären mithin unterscheidbar, so würden wir nebenbei bemerkt in dem Dilemma feststecken, dass Thomas von Aquin formuliert hatte. Eine einfache Rechnung würde belegen, dass wir alle Atome in uns tragen, die schon einmal davor in einem menschlichen Körper eingebaut waren.26 Die Quantenmechanik hebt das Problem der Kontinuität auf, indem sie zeigt, dass zwei existierende Systeme im gleichen Quantenzustand identisch sind. Da Emulation und Vorbild identisch sind, und der Mensch als die Gesamtheit seiner Quantenzustände
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Der schweizerisch-amerikanische Physiker österreichischer Herkunft Wolfgang Pauli (*1900; †1958) wurde vor allem durch sein „Pauli-Prinzip“ oder auch „Pauli-Verbot“ bekannt. Es besagt verkürzt ausgedrückt, dass ein Atomorbital von maximal zwei Elektronen besetzt werden kann.
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emuliert wird, ist er identisch mit der ursprünglichen Person.a Nach Frank Tipler wird die gesamte Umwelt mit emuliert, also nicht nur meine Hauskatze, sondern auch der Sitzball, auf dem ich gerade herumwippe und dieses schreibe. In der Science-Fiction-Literatur akzeptieren wir diesen Gedanken bereits. Wir erwarten, wenn Captain Kirk in dem Transporterraum verschwindet und anderswo wieder auftaucht, dass wir es noch mit derselben Person zu tun haben, obwohl es augenscheinlich keine materielle Kontinuität beim Beamen gibt. Für einzelne Elementarteilchen beherrschen die Physiker diesen Trick bereits! Das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren von Gottfried Wilhelm Leibniz besagt, dass je zwei Teilchen, die zu allen anderen Dingen im Universum dieselbe Relation haben, tatsächlich identisch sein müssen. Nehmen wir an, unser Bewusstsein bestünde ausschließlich aus Informationen und aus seinen Relationen zur Umwelt, die es wiederum nur als Informationen wahrnehmen kann. Angenommen, es gelingt, alle Informationen des Universums einschließlich ihrer Relationen zueinander auf einer beliebigen Matrix abzubilden. Dann ist unser Bewusstsein und seine Relationen zur Außenwelt in dieser Emulation identisch mit dem „wirklich“ Existierenden. Da Gott, so wie Frank Tipler ihn entwirft, genau dies sein wird: Im Besitz aller Informationen des Universums, ergibt sich die Emulation der Menschheit beiläufig. Sie addiert nebenbei zu Gottes unerhörten Fähigkeiten die Allwissenheit. Himmelreich und Hölle Der Lohn des Christseins besteht darin, aufzuerstehen und ins Himmelreich einzugehen. In den Evangelien wird erstaunlich wenig darüber geschrieben, was man sich unter dem Himmelreich konkret vorzustellen hat. Matthäus gibt nur einen vagen Hinweis auf einige technische Details: Denn bei der Auferstehung heiraten sie nicht und werden nicht verheiratet, sondern sind wie die Engel im Himmel.27 Vom Paradies immerhin wissen wir aus der Genesis, dass man dort nackt herumlief, der Mensch und sein Weib.28 Auch Papst Johannes Paul II hat zu diesem Problem Stellung bezogen. Das Paradies oder der Himmel ist danach kein Raum über den Wolken, wo Engel Harfe spielen. Es ist ein „Daseinszustand“, der nach dem Tod eintritt: Der Himmel, in dem wir uns wiederfinden, ist weder eine Abstraktion noch ein physischer Ort inmitten der Wolken [...] eine lebendige und persönliche Beziehung mit der Heiligen Dreieinigkeit. Eine gesegnete Gemeinschaft von jenen, die während ihrer Lebenszeit Jesus Christus treu geblieben sind und jetzt eins sind mit seiner Glorie.29 Demnach ist die Hölle ein Daseinszustand, in dem man niemals in den Genuss von Gottes Gegenwart gelangt.
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Und weil einzelne Atome nicht unterscheidbar sind, existiert auch das Problem des Kannibalismus nicht bei der Wiederauferstehung.
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5.3
Cyberglückseeligkeit Alice: „Ich kann mich nie an etwas erinnern, bevor es geschieht.“ Weiße Königin: „Eine dürftige Art von Gedächtnis, wenn es nur rückwärts reicht.“ (Lewis Carroll)
Ich denke, der Himmels, so wie der Papst ihn sieht, ist dem von Frank Tipler nicht ganz unähnlich. Für den Papst und für Frank Tipler ist es Weder eine Abstraktion noch ein physischer Ort, aber die „Seelen“ sind vereint in einer allumfassenden Person. In Frank Tiplers Himmelreich ist jeder Mensch nicht nur eins mit Gott, sondern kann darüber hinaus unmittelbar mit allen anderen Personen, mit dem Informationspool des gesamten Universums kommunizieren. Ein großer Vorteil des Tiplerschen Himmelreiches gegenüber dem christlichen Himmel ist, dass es ohne Hölle auskommt. Eine Hölle halte ich für zutiefst verabscheuungswürdig und einer liebenden Gottheit für unwürdig: Selbst unser irdisches Recht neigt dazu, Strafen verjähren zu lassen, während die Hölle ewig währt. Weiter nimmt Frank Tiplers Himmelreich auch Menschen auf, die zufällig nicht in eine katholische Glaubensgemeinschaft hineingeboren wurden. Sicher eine gute Nachricht für alle, die irgendwo in den unendlichen Weiten des Universums auf einem anderen Planeten genau wie wir versuchen, aus ihrer Existenz heraus zu verstehen, welchen Sinn der Kosmos hat. Zumindest eine gute Nachricht für alle, auf deren Planet kein Messias gekreuzigt wurde. Ich bin mir sicher, dass sie dieselben Naturgesetze finden werden, auf die wir gestoßen sind. Es erscheint mir folgerichtig, dass sie auf dieser Grundlage auch zu einer ähnlichen Theologie finden werden: Wenn es Gott in diesem Universum gibt, so werden auch alle denselben Gott auf mehr oder weniger dieselbe Art finden. Virtuelles Sein „Der erste Schritt zur Weisheit ist, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen“, sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Frank Tiplers Formulierung, Gott als einen Computer zu bezeichnen, ist emphatisch betrachtet schwer annehmbar, auch wenn er sich selbst und uns alle als Software ansieht, die auf Computern laufen, die nicht von Intel sondern von der Natur konstruiert wurden. Gott als ein Wesen anzusehen, dass aus der Anstrengung des gesamten intelligenten Seins heraus entsteht und aus reinem Licht besteht, sollte uns diese Vorstellung von Gott näher bringen können. Wir werden selbst Teil dieser letzten Anstrengung der Evolution sein, in Gottes Geist weiterleben. Nennen wir unsere Existenz in diesem informationsverarbeitenden Wesen nun nicht mehr Emulation sondern virtuelles Sein, so haben wir eine Beschreibung, die nicht unähnlich zum christlichen Glauben gerät. Der Vorteil ist, sie steht auf einer plausiblen naturwissenschaftlichen Basis. Der Verstand ist ein Strom von bewussten und unbewussten Erfahrungen, schreibt Edward Wilson. Einige unserer Eindrücke sind real, sie stammen aus unserer Umgebung und werden über unsere Sinne ins Gehirn geleitet. Diese werden mit den Datenbanken der Hirnrinde verglichen und vermischt. Gemeinsam stellen sie Szenarien her, die sich in einem realistischen Zeitrahmen bewegen. Es sind virtuelle Realitäten. [....] Es gibt keinen Teil des Gehirns, der sich diese Szenarien betrachten würde. Sie sind. Bewusstsein ist die aus solchen Szenarien zusammengesetzte virtuelle Welt. 30 250
Weil schon zu der Zeit unseres Menschendaseins unser Bewusstsein ein virtuelles ist, wird sich für uns auch als virtuelle Wesen alles echt anfühlen. Aber Krankheit, Alter und Tod sollten dann ihren Schrecken verloren haben. Obwohl wir Teil eines universellen Bewusstseins sein werden, werden wir unsere Identität behalten. Denn Modularität ist ein Kennzeichen unseres Kosmos und jeder guten Software. Mich selbst fasziniert die Vorstellung, in einem solchen Cyberraum durch die Geschichte des gesamten Kosmos zu reisen, jede fremde Welt besuchen zu können und mit jeder anderen Person in einem unmittelbaren geistigen Austausch zu stehen. Entledigt der materiellen Fesseln können wir alles erforschen, was es nur zu erforschen gibt, einschließlich persönlicher Bindungen. Die Unvollständigkeit einer Begegnung, so wie wir sie auf der Erde verspüren, weil wir sprichwörtlich in niemanden hineingucken können, wird einem umfassenden Verstehen des anderen weichen. Die Glückseligkeit wird vielleicht darin bestehen: Jeder ist Teil des allumfassenden Wissens und hat Teil daran. Jeder kann jeden verstehen, da er alles über ihn und seine Motive weiß. Daraus ergibt sich beiläufig, dass das Böse keinen Platz im Cyberspacea hat: Denn niemand kann lügen oder betrügen, da alle Gedanken offen liegen. Ich möchte an dieser Stelle nicht zu viel fabulieren. Frank Tipler sagt über seine „wissenschaftliche“ Theorie: [...] ich glaube nicht an einen persönlichen, von außen auf die Welt einwirkenden Schöpfergott. Ich glaube auch nicht an den Omega-Punkt. Die Omega-Punkt-Theorie ist eine lebensfähige wissenschaftliche Theorie über die Zukunft des physikalischen Universums, aber das einzige, was im Moment für sie spricht, ist ihre Schönheit als Theorie, denn noch haben wir keinerlei experimentellen Beweis, der sie bestätigt.31 Vielleicht ist es das Privileg eines Menschen, sich sein eigenes Himmelreich auszuschmücken. Ich denke, wenn man sich der Kühle entledigt, die uns anspringt, wenn Frank Tipler Gott als technische Apparatur bezeichnet, die unsere Wiederauferstehung als Kopie einer Software realisiert, ergibt sich durchaus eine Faszination. Darüber hinaus zeigt diese Idee, dass sich ein Himmelreich mit unserem derzeitigen Weltbild in Einklang bringen lässt. Dagegen widerspricht eine Theologie wie zum Beispiel der Katholizismus in weiten Teilen unserem heutigen wissenschaftlichen Weltbild. Die Katholische Kirche hat sich außerdem durch ihre gesamte Geschichte, von der die Hexenverfolgung nur die exzessivste Entgleisung war, soweit desavouiert, dass sie für mich keine ernst zu nehmende Alternative mehr darstellt. Und auch dies wird den Papst mächtig ärgern: Auf die Frage, wie dieser „Himmel“ aussehen wird, ob es Sex im Omega-Himmel geben wird, antwortet der Prophet Frank Tipler mit einem „Ja“. Denn wie heißt es so schön: In der Ewigkeit ist Zeit für alles.
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Hier wird dieser Begriff ähnlich wie der Begriff der virtuellen Realität verwendet. Cyberspace meint eine künstliche Umgebung, die im Computer realisiert wird und in die der menschliche Geist in der Zukunft vielleicht völlig hineintauchen kann.
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6
Exegese Alle gehen immer weiter runter, runter, runter und versuchen noch reduktionistischer zu sein, noch kleinere Details zu sehen, die Basis von Strukturen und Funktionen zu finden. Ich glaube, es ist an der Zeit, wieder nach oben zu gehen - in die entgegengesetzte Richtung.“ (Salvador Luriaa)
Dies waren sozusagen die vier Evangelien der Naturwissenschaften: Physik, Evolution, Emergenz und Transzendenz, wie ich sie genannt habe. In diesem Kapitel möchte ich nun einige Folgerungen auf der Grundlage dieser „Frohen Botschaften“ darlegen, im klassischen Kontext der Religionen mich also als Prophet betätigen. Wenn Sie es genau betrachten, dienen uns die Naturwissenschaften zu einem großen Teil dazu, die Zukunft möglichst genau vorherzusagen. Einige Beispiele dafür sind die Planetenbewegungen, Erdbebenvorhersage, Wettervorhersage, Verkehrsaufkommen, Wirtschaftsprognosen, und nicht zuletzt und sie an Kühnheit alle übertreffend Frank Tipler mit seiner EndzeitKosmologie.
6.1
Teleologie des menschlichen Geistes
Bei der Betrachtung der Zukunft der Erde entwickeln viele Menschen eine Gänsehaut: Es schrecken uns Klimakatastrophe, Umweltverschmutzung, Bevölkerungsexplosion, nur um die allergegenwärtigsten Schlagworte der menschlichen Apokalypse zu benennen. Diesen Untergangsszenarien habe ich versucht, eine optimistische Ansicht entgegenzuhalten. Die Geschichte der Philosophie ist voll von den Versuchen, zu entscheiden, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist. Und die Umweltschützer werden nicht müde zu prophezeien, dass der „böse“ Mensch den Planeten Erde mit seiner gesamten Biosphäre mit in den Abgrund reißt. Es ist eine sehr aktuelle Diskussion, ob der Mensch in der Lage ist, die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen oder ob er eher eine Fehlentwicklung der Natur darstellt. Diese Frage lässt sich nun beantworten, und zwar mit einem glatten „Ja“. Der Mensch ist in der Lage und wird die Zukunft meistern. Seine Fähigkeit zur Vervollkommnung wird direkt in Gott münden. Wahrscheinlich kommt Leben im Universum relativ häufig vor. Wissenschaftler der NASA behaupten, im Mars-Meteoriten ALH84001b fossile Spuren von drei Milliarden Jahre alten sehr kleinen einzelligen Lebewesen, die unseren Bakterien ähneln, entdeckt zu haben. Wenn das stimmt, so gab es allein in unserem Sonnensystem zwei Versuche des Lebens, sich auf einem Planeten anzusiedeln. Im Folgenden möchte ich ein paar Argumente anführen, warum es außer auf unserem Planeten noch weiteres Leben im Universum geben sollte:
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Der amerikanische Mikrobiologe Salvador E. Luria (*1912-1991) erhielt 1969 zusammen mit Max Delbrück den Nobelpreis für Medizin für seine Forschungen über das Parasiten-Systemen von Bakteriophage und Wirt. b ALH84001 wurde in den Allen-Hills Bergen der Antarktis im Jahr 1984 als erster (001) Fund dieses Jahres in diesem Gebiet entdeckt.
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1. Die universelle Natur der physikalischen Gesetze lässt den Schluss zu, dass ähnliche Planetensysteme wie die Erde häufiger entstanden sind. 2. Die Gefahren für einen bewohnbaren Planeten sind sehr groß: Vorbeiziehende Sterne, Ausbrüche von Supernovae in seiner näheren Umgebung oder Einschläge sehr großer Himmelskörper könnten ihn so in Mitleidenschaft ziehen, dass kein Organismus darauf überleben kann. Wären die Voraussetzungen für die Entstehung von Organismen wirklich einmalig auf unserer Erde gewesen, so ist es unwahrscheinlich, dass diese einmalige Entwicklung solange existiert hätte, bis dass intelligentes Leben entstehen konnte. 3. Die Laborversuche von Harold Urey und Stanley Miller oder von Carl Sagana haben gezeigt, dass organisches Ausgangsmaterial für Organismen relativ einfach entsteht. Auf erdähnlichen Planeten wäre also immer genügend Ausgangsmaterial für die Entwicklung von Leben vorhanden. 4. Der universelle Charakter der Evolution legt nahe, dass ähnliche Bedingungen, wie sie auf der Erde zu ihrer Frühzeit herrschten, auch zu einer ähnlichen Entwicklung von Lebewesen führen. 5. Organismen wie die Archaebakterien zeigen, dass Lebewesen unter sehr harten Bedingungen entstehen können. Und sie überstehen unvorstellbare Katastrophen, wie der „Kreide/Tertiär-Impakt“ zeigte, der die Dinosaurier ausgerottet hat. Diese Punkte gelten für das uns bekannte organische Leben. Nehmen wir die These hinzu, dass das Leben überall dort entstehen kann, wo informationsverarbeitende Prozesse stattfinden, erweitern sich die Möglichkeiten enorm. Für Lebewesen auf der Grundlage der organischen Chemie gilt: Für viele chemische Moleküle, die das Leben erfunden hat, gibt es wahrscheinlich kaum eine Alternative. Genauso, wie der Kohlenstoff das chemische Element mit den meisten Bindungsfähigkeiten ist, und daher zur Grundlage biotischer Existenz wurde, genauso bieten sich die vier oder auch fünf Basen der DNS als Favoriten für die Kodierung von Informationen an. Die irdischen Organismen vom Bakterium bis zum Säugetier verfügen über dieselbe innere Uhr, die ihnen den Zeittakt vorgibt. Es sind Eiweißstoffe, deren Schwingungen die Organismen dazu benutzen, ihre innere Zeit zu messen.
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In einem berühmten Experiment mischte im Jahr 1953 der Doktorand Stanley Miller aus der Arbeitsgruppe von Harold Urey in einem Glaskolben eine, wie er glaubte, Uratmosphäre der Erde aus den Bestandteilen Methan, Ammoniak und Wasserstoff. Heute nimmt man eher an, dass die Uratmosphäre der Erde aus Kohlendioxid bzw. Kohlensäuregas, Wasserdampf und Stickstoff bestand. In dieser Gasmischung erzeugte Stanley Miller als Analogie zu den Blitzen in der Erdatmosphäre eine Reihe von elektrischen Entladungen, schickte Wasserdampf durch diese Versuchsanordnung und ließ diesen anschließend in einer Kühlvorrichtung kondensieren. Als Ergebnis konnte er mehr als ein Dutzend Aminosäuren nachweisen, darunter sechs der 20 Bausteine, aus denen sich die Proteine zusammensetzen. Carl Sagan wiederholte diese Experimente später auf einem technisch höheren Niveau.
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Der australische Ameisenigel, das Riesengürteltier Nordamerikas, der Große Ameisenbär Südamerikas und das Schuppentier Afrikas sind untereinander nicht verwand, bevorzugen aber dieselbe Nahrungsquelle: Ameisen und Termiten. Dies führt zu weitreichenden strukturellen, physiologischen und verhaltensmäßigen Ähnlichkeiten. Die Mägen, dieser Tiere können die giftigen Substanzen ihrer chiningepanzerten Beute neutralisieren. Aus ihrer rüsselförmigen langgestreckten Schnauze lecken alle vier mit einer langen klebrigen Zunge nach den Insekten. Dazu ermöglichen ihnen ihre starken Klauen, Termitenhügel und Ameisennester aufzugraben. Christian de Duve zieht daraus den Schluss, dass unter den gegebenen Voraussetzungen der Erde die Entwicklung des Lebens mit hoher Wahrscheinlichkeit diesen Weg einschlagen musste, den sie tatsächlich genommen hat, zumindest in allen wesentlichen Aspekten.1 Wahrscheinlich ähneln sich daher, so es mehrere davon gibt, die intelligenten Spezies des Universums ziemlich stark: Sie werden denselben physikalischen Gesetzen unterliegen. Sie werden aus derselben Art von Evolution hervorgegangen sein, Sie werden dieselbe Mathematik dafür verwenden, technische Gerätschaften zu entwerfen. Und sie werden auch einen ähnlichen moralischen Kodex des Zusammenlebens entwickeln. Eine ähnliche Art von Intelligenz wird sich überall entwickeln, wenn das Leben nur genügend viel Zeit hat. Wir sind keine Fehlentwicklung, es sei denn, die Evolution führt in eine Sackgasse und bringt sich auf der Stufe intelligenten Verhaltens um die Früchte ihres eigenen Bemühens. Unser kollektives Bewusstsein Für die Entwicklung der Erde ist weniger der einzelne handelnde Mensch von Bedeutung, als die Summe aller Handlungen der menschlichen Gemeinschaft. Es ging in der Evolution nicht so sehr um das Überleben eines einzelnen Menschen, denn kein Mensch ist ohne Gemeinschaft lebensfähig. Es geht nicht einmal um die eigene Art, sondern um das gesamte Ökosystem, in dem sich eine Gemeinschaft aufhält, mit dem selben Argument: Kein Individuum überlebt ohne ein intaktes Ökosystem. Wenn Sie meinen Argumenten bezüglich der Definition eines Ökosystems folgen möchten, so sehen Sie hier einen weiteren Nutzen dieser Definition. Sie erfasst den Gedanken des Überlebens wesentlich genauer, als das auf der Grundlage eines Individuums möglich wäre. Das Gesicht der Erde wird nicht durch dass geprägt, was der einzelne denkt, sondern durch den Mittelwert aller unserer divergierenden Vorstellungen. Dieses kollektive Verhalten wurde von der Evolution dahingehend optimiert, auf der Erde in Gemeinschaft zu überleben: Unser freier Wille als Individuum mittelt sich mit allen anderen Individuen zu einem Gesamtverhalten, das uns von der Evolution auferlegt wurde. Man kann dies in Analogie zur Quantenphysik betrachten: Auf der Ebene der kleinsten Teilchen ist nichts vorhersagbar, alles unterliegt lediglich der Wahrscheinlichkeit. Diese Wahrscheinlichkeiten summieren sich aber derart, dass auf der Größenskala, die wir wahrnehmen, eine definitive Kausalität herrscht. Ein einzelnes radioaktives Atom in einem Brennstab zerfällt, wann immer es ihm bestimmt ist. Ein Kernbrennstab in seiner Gesamtheit verhält sich hingegen so berechenbar, dass wir ihn sogar in einem 254
Atomkraftwerk als Kraftquelle einbauen können. Die Atomkraft mag uns unheimlich sein. Atomkraftwerke können durch Fehlkonstruktion, menschliches Versagen oder Naturkatastrophen hochgehen. Aber sie geraten mit Sicherheit nie deshalb außer Kontrolle, weil sich alle Uranatome auf einmal entscheiden würden, zu zerfallen. So ähnlich, denke ich, sollten wir uns auch die menschliche Gesellschaft vorstellen. Es ist im Prinzip unvorhersehbar, wie sich ein einzelnes Individuum entscheidet. Es besitzt lediglich Handlungsdispositionen, die ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlich machen. In seiner Gesamtheit funktioniert aber eine Gesellschaft vorhersehbar, und zwar in der Art, wie sie es durch die Evolution antrainiert bekommen hat. Kevin Kelly beschreibt eine Szene in einem voll besetzten Konferenzsaal mit 5 000 Sitzen in Las Vegas. Jeder Anwesende hält einen Stab in der Hand, der auf der einen Seite rot, auf der anderen Seite grün gefärbt ist. Ein Videosystem nimmt die augenblicklich sichtbare Farbe der 5 000 Stäbe auf und ein angeschlossenes Computersystem zählt sie aus. Auf der Bühne steht der „Grafikzauberer“ Loren Carpenter und teilt die Anwesenden in zwei Gruppen ein, die gegeneinander spielen sollen. Auf der Videoleinwand läuft das Computerspiel Pong. Ein weißer Punkt bewegt sich gradlinig über den Schirm bis er an den Bildrand stößt. Dort wird er und nach dem Gesetz „Einfallswinkel = Ausfallswinkel“ reflektiert. Zwei Spieler können den „Ball“ mit je einem beweglichen Rechteck abfangen und zurückspielen. Pong ist die einfachste Form einer Tischtennis-Simulation: Ping-Pong. Die Zuschauer auf der linken Seite sollen den linken Schläger steuern, die auf der rechten Seite den rechten. Die in der Mitte sind rechts, wenn sie sich rechts zugehörig fühlen und umgekehrt. Die je ca. 2 500 Spieler lenken den „Schläger“ über die Farbe ihrer Stäbe: Zeigen mehr rote Stäbe nach oben, fährt das Rechteck hoch, zeigen mehr grüne Stäbe nach oben, bewegt sich das Rechteck nach unten. Nach ein paar Minuten spielen 5 000 Menschen ziemlich gutes Pong, ohne dass jemand direkt die Kontrolle darüber ausübt. Später bringt Loren Carpenter einen Flugsimulator auf die Leinwand. Der rechte Block steuert das Höhenruder, der linke Block das Seitenruder, die Mitte teilt sich selbst zu. Und ab ging es. Kevin Kelly schildert die dramatischen Sekunden während der ersten Landung, die der Gemeinschaftssinn sinnvoller Weise im letzten Augenblick abbrach. Er erzählt von der Linkskurve, von der keiner wusste, warum ausgerechnet links herum geflogen wurde? Und merkt zu dieser Situation an: Der Gedanke, ein Flugzeug von seinen Passagieren gemeinsam fliegen zu lassen, hat etwas gleichermaßen Ergötzliches wie Lächerliches. Der rohe Sinn für Demokratie an all dem ist reizvoll. Als Passagier hat man Stimmrecht bei allem, nicht nur, wohin die Gruppe fliegt, sondern auch, wann die Landeklappen bedient werden. Nach einer kurzen Weile flog das Publikum probeweise mal einen Looping, 5 000 Menschen ergaben einen erstaunlich geschickten und gelehrigen Piloten.2 Der menschliche Geist ist aus vielen verschiedenen Modulen, aus kleinen Unterprogrammen zusammengesetzt. Jedes dieser Module ist für sich allein betrachtet unintelligent und von der Evolution für einen fest umrissenen Aufgabenbereich entworfen. Unser Gehirn verrechnet den von der Umwelt eingespeisten Input, trifft aufgrund dieser Berechnungen Entscheidungen und setzt diese in Verhalten um. Genauso, wie unsere
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einzelnen Gehirnmodule nichts von unserem Bewusstsein wissen können, wissen wir als Einzelpersonen nur wenig über das Bewusstsein des menschlichen Kollektivs. Die Anlage des Gehirns selbst variiert von Mensch zu Mensch. Für jeden Menschen ist der Input aus der Umwelt unterschiedlich, und so differieren auch die Ergebnisse und das Verhalten. Schließlich und endlich ist der Mensch ein adaptives System: Er kann lernen und sein Verhalten in Rückkopplung mit der Umwelt ändern. Das macht aus der Menschheit insgesamt einen massiven Parallelrechner zur Berechnung vorteilhaften Verhaltens mit im Moment sechs Milliarden parallelen Lebensentwürfen. Auf diese Weise funktioniert Demokratie und auf diese Weise wird sich letztlich das Schicksal der Menschheit entscheiden. Ob ein einzelner die rote oder grüne Seite des Stabes hochhält ist egal. Aber zusammen halten wir den Kurs, den uns die Teleologie des Kosmos vorgibt. Theorem der prinzipiellen Gutartigkeit intelligenten Verhaltens Nehmen wir an, es gibt keine Teleologie der Evolution und mithin auch keinen endgültigen Sinn, nach dem wir uns richten könnten. Nehmen wir weiter an, dass jedes intelligente Lebewesen in der Lage wäre, dies zu erkennen. Dann wäre die rationale Entscheidung jedes Menschen zwangsläufig, seinem eigenen Überleben die höchste Priorität einzuräumen und nach Glücksmaximierung zu streben. Seine Gene zu verbreiten würde früher oder später hinter dieser Lebensmaxime zurücktreten, denn intelligente Systeme sind hochadaptiv. Auf die Dauer, so folgere ich, würde Intelligenz immer die Fitness seiner Träger unterminieren und damit keine von der Evolution bevorzugte Fähigkeit sein. Intelligenz wäre eine destruktive Eigenschaft, die als scheiternder Versuch der Evolution zufällig entstanden ist. Intelligenz wäre immer zum Aussterben verurteilt, wenn es keinen erkennbaren Sinn der Evolution, keine Teleologie gäbe. Wenn das Universum aber ein mit Sinn erfüllter Kosmos ist, können wir daraus ableiten, dass Intelligenz konstruktiv ist. Wenn sich überhaupt Leben entwickelt, ist das Auftauchen von Intelligenz früher oder später zwangsläufig. Evolution verläuft nach festen Regeln. Genauso, wie die physikalischen Gesetze überall im Kosmos Galaxien und Planetensysteme hervorgebracht haben, genauso bringt der Kosmos überall Leben in ähnlicher Form hervor, wie wir es auf der Erde studieren können. Die Geschichte unseres Planeten lehrt, dass die Steuerung von Verhalten durch ein informationsverarbeitendes Organ wie das Gehirn einen überaus erfolgreichen Ansatz darstellt. Dieses Organ ist darauf getrimmt, die Fitness des Ökosystems Erde und nicht nur das Überleben des Individuums bzw. seiner Nachkommenschaft oder das Überleben der eigenen Art zu fördern. Denn überall, wo sich eine Art langfristig als Strapaze für ein Ökosystem herausstellt, trifft es letztlich die Art selbst. Allerdings gibt es nirgends Stillstand, alles ist im Wandel, in einem schwebenden Gleichgewicht. Vorübergehende Anpassungsschwierigkeiten ergeben sich immer, wenn neue Fähigkeiten Kräfteverhältnisse durcheinanderwirbeln. Und dies ist mit der Entwicklung der Technik sicher der Fall. Technik ist, wenn Intelligenz zwangsläufig ist, als natürliche Folge der Intelligenz ebenfalls zwangsläufig. Letztlich wird die Ökosphäre der Erde davon profitieren. Denn nur die Technik bietet dem Leben die Möglichkeit, sich über unser Sonnensystem und zu den Nachbarsternen hin auszubreiten. Ich möchte dies das 256
„Theorem der prinzipiellen Gutartigkeit intelligenten Verhaltens“ nennen: „Der Mensch ist durch seine Intelligenz befähigt, zu überleben und sich über die Galaxis auszubreiten. Er wird weder sich selbst noch Gaia auslöschen.“ Das Theorem gründet sich auf folgende Argumente: • • • • • •
Intelligenz ist keine pathologische Fehlentwicklung, sondern eine zwangsläufige Entwicklung auf der Erde gewesen. Wenn Intelligenz sich anderswo im Universum entwickelt, wird sie sich sehr ähnlich wie die menschliche entwickeln. Evolution ist keine Sackgasse, die auf der Komplexitätsstufe der Intelligenz ihr Werk der Vernichtung anheim fallen lässt. Ohne Intelligenz und Ihrer Fähigkeit, Technik zu entwickeln, würde es keine Verbreitung von Leben im Kosmos geben. Könnte sich das Leben nicht im Universum ausbreiten, so würde es schnell wieder aus dem Universum verschwinden. Dies verstößt gegen das Postulat von Frank Tipler. Es wird damit auch keinen Gott geben und meiner Beweisführung nach damit auch kein Universum. Dies ist augenscheinlich falsch.
Wohlstand Frank Tipler fragt sich, ob wir darin Hoffnung finden können, wenn seine Theorie vom Omega-Punkt richtig wäre. Hoffnung sei grundsätzlich die Erwartung, dass die Zukunft besser würde, als die Gegenwart sei. Nehmen wir an, es gibt eine stete Weiterentwicklung vom Menschen bis schließlich hin zu Gott. Dann folgt für die rein materielle Seite, dass es einen ständigen Zuwachs an Kultur, Wohlstand und Wissen geben wird.3 Nach den Beobachtungen der Biologen nimmt die Fitness einer Population im Mittel immer weiter zu. Wenn die Gesetze der Evolution auf die Ökonomie der Menschheit anwendbar sind, so bedeutet dies gleichfalls, dass im Mittel der Wohlstand immer weiter zunehmen wird. Das ökonomische Verhalten unterliegt genauso den unerbittlichen Gesetzen der Evolution, wie das Verhalten eines Löwens den Gesetzen der Evolution unterliegt, der in der afrikanischen Steppe jagt. Wirtschaftliche Entwicklungen, die dem Gesamtsystem schaden, sind auf die Dauer Verlustgeschäfte: Beutet der Chef seine Untergebenen aus, werden die es mit schlechten Leistungen zurückzahlen. Beutet ein auf schnellen Profit ausgelegter Kapitalismus die Erde aus, wird das auch das Ende des Kapitalismus sein: „Keine Erde, keine Kunden“. Wirtschaftliche Strategien, die auf Nachhaltigkeit und auf Partizipation beruhen, werden die langfristigen Gewinner am Markt sein. Heute ist es nicht mehr so sehr die Fähigkeit, Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, die das Überleben auf dem Weltmarkt gewährleistet, sondern die Fähigkeit, Allianzen und Kooperationen zu schmieden. Im Zeitalter der Globalisierung wird diese Fähigkeit immer existentieller werden. 257
6.2
Gesellschaftliche Entwicklung Wissenschaft [....] ist das akkumulierte und organisierte objektive Wissen der Menschheit, das erste ins Leben gerufene Medium, das in der Lage ist, Menschen in aller Welt zu gleicher Urteilskraft zu befähigen. Sie favorisiert keinen Stamm und keine Religion. Sie ist die Basis für eine wahrhaft demokratische globale Kultur.4 (Edward O. Wilson)
Soweit ich mich meines Geschichtsunterrichts erinnern kann, und bis heute habe ich noch nichts Gegenteiliges gehört, gibt es keine grundlegende Theorie darüber, wie Geschichte voranschreitet. Offensichtlich bauen Ereignisse irgendwie aufeinander auf. Geschichte stellt eine Abfolge von Geschehnissen dar, aber sie ist nicht deterministisch. Es wäre meiner Ansicht nach ein vernünftiger Forschungsansatz, zu untersuchen, inwieweit Geschichte das ist, was die Phylogenese für Organismen war und ist: Ein evolutionärer Prozess. In diesem entwickeln sich die verschiedenen Gesellschaften der Erde, konkurrieren miteinander und werden von fitteren verdrängt. Denn allen gesellschaftlichen Utopien zum trotz leben wir in unserer westlichen Demokratie so gut, wie noch in keinem früheren Gesellschaftsentwurf. Ich halte dies für einen Fortschritt in der Entwicklung der Gesellschaftsformen. Wir können uns natürlich fragen, ob sich unsere Gesellschaft im Laufe der Historie denn überhaupt weiterentwickelt hat. Diese Frage wird vom Zeitgeist meist zynisch negiert. Aber eine antike Hochkultur konnte sich einen Staat nicht ohne Sklaven vorstellen, im Mittelalter waren Städte ohne Mauern undenkbar. Despoten mit Harems, Frauen als Eigentum, Kinderarbeit, Blutfehden, Apartheid, Faschismus und was die Geschichte noch in ihren Horrorkatalog aufzubieten hat, sind mindestens aus unserer westlichen demokratischen Welt verschwunden. - Und dies wahrscheinlich unumkehrbar! Konflikte im menschlichen Leben sind universal, ihre Regelung aber nimmt doch deutlich feinsinnigere Formen an. Die Menschheit war mitnichten früher eine Rasse von edlen Wilden im friedvollen Naturzustand, wie uns Jean-Jacques Rousseau glauben machen wollte. Bei den Yanomami-Stämmen liegt die Wahrscheinlichkeit, durch einen anderen Krieger umzukommen bei 30 Prozent. Dagegen liegt die Mordrate in den schlimmsten Großstadtdschungeln der USA um das 20-fache niedriger. Im modernen Großbritannien liegt die Mordrate um einen ähnlichen Betrag niedriger als noch im Mittelalter.5 Als einmal ein junger Yanomami-Häuptling in die Hauptstadt kam, erzählt Frans de Waal, soll er sogleich den Vorteil einer unabhängigen Justiz erkannt haben. Er wäre daraufhin zum Gouverneur gegangen und hätte ihn gebeten, seinem Volk Gesetz und Polizei zu geben, so dass sie sich nicht mehr in ihren Rachefeldzügen aufreiben und in ständiger Furcht leben müssten.6 Heute leben sechs Milliarden Menschen auf der Welt, ein Zeichen nicht der Fruchtbarkeit, sondern der angewachsenen Macht der Menschen. Sie ist hervorgegangen aus einer beispiellosen Entwicklung kultureller Errungenschaften. Menschen leben heute im Durchschnitt länger, leben gesünder, haben eher Zugang zu Bildung und Wohlstand, als alle ihnen vorhergegangenen Generationen. Die Menschenrechte ebenso wie der 258
Umweltschutz sind Errungenschaften des modernen Menschen im 21. Jahrhundert. Daher bin ich der Meinung, jawohl, die menschliche Gesellschaft hat sich höherentwickelt, und ich bin guter Hoffnung, dass dieser Prozess weitergeht. Moralisches Handeln Wie ich aufgezeigt habe, ergibt sich Moral als Folge der Evolution, moralisches Handeln ist eine vernünftige Strategie im Überlebenskampf. Um moralisches Tun bewerten zu können, bedarf es einer übergeordneten Instanz. Diese finden wir in der Teleologie der Evolution. Negieren wir eine Teleologie in der Natur, so negieren wir auch alle moralischen Werte. Folgen wir ihr, so können wir zukünftige Entwicklungen aus diesem Blickwinkel heraus beurteilen: Ergibt eine Handlung einen positiven Effekt im Hinblick auf die Entwicklung für das Leben im Universum, so können wir sie „gut“ nennen. Schadet sie dem Leben auf die Dauer, so können wir sie „böse“ nennen. Dies ist sehr einfach und naiv formuliert, und es ist noch schwieriger, die Folgen einer Entwicklung tatsächlich korrekt abzuschätzen. Wieder möchte ich mit Sokrates formulieren, dass „Gutes zu tun“ zur Voraussetzung hat, über das Gute Bescheid zu wissen. Es ist dies die Aufgabe der Naturwissenschaften, die Prognosen über die Auswirkungen des menschlichen Tuns immer weiter zu verfeinern. Das Beispiel der Klimaforscher mit ihrem Ringen um immer genauere Prognosen über den Einfluss des Kohlendioxids auf die Atmosphäre ist dafür ein gutes Beispiel. Diese Forschungen haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Politik und die Wirtschaft der Welt. Es geht nicht um den individuellen Eigennutz. Es geht auch nicht nur um die Arterhaltung, also um die Menschheit. Es geht um das globale Ökosystem auf unserer Erde, das aus Gaia und Technaea besteht. Und das Schicksal von Gaia entscheidet sich nicht auf der Ebene des Individuums, sondern schon eher auf der Entscheidungsebene großer politischer Systeme. Es gibt die weit verbreitete Meinung, dass die kulturelle Ausformung einer Gesellschaft willkürlich und nahezu beliebig sei. Aber die Realität selbst ist nicht demokratisch. Nach der Auswertung der ethnologischen Literatur kommt Anthropologe Donald E. Brown zu einem ganz anderen Schluss: Die Menschenvölker ähneln sich in ihren gesellschaftlichen Gefügen bis in die Details.7 Moral ist nicht beliebig erfindbar und der Mensch mithin nicht beliebig formbar. Dafür sollten wir zutiefst dankbar sein, denn andernfalls hätten die „Umerziehungen“, die Despoten gelegentlich versuchten, möglicherweise Erfolg gehabt mit unabsehbaren Folgen für den Rest der Erdenbevölkerung. Aber auch wenn wir nicht über die Realität als solche abstimmen können, sie führt uns früher oder später zu einer demokratischen Gesellschaft. Technik und Gesellschaft Da die Evolution auf Dauer die Fitteren bevorzugt, werden sich in Zukunft diejenigen gesellschaftlichen Sozialformen herausbilden, die am erfolgreichsten die technische Revolution vorantreiben. Diese können sowohl die eingenommenen ökologischen Nischen effizienter nutzen, als auch neue ökologische Nischen erschließen. Die Verlierer der Evolution werden zweifellos totalitäre Staatssysteme sein. Despotische Systeme 259
scheiterten alle oder werden in näherer Zukunft daran scheitern, dass sich ihre Wirtschaft unter den herrschenden sozialen Bedingungen nicht erfolgreich entwickeln kann. Grausige Beispiele sind Nordkorea, wo die kommunistisch verbrämte Diktatur ein hungerndes Volk nicht ernähren kann. Oder Kambodscha, wo die Diktatur gleich das halbe Volk umbrachte. Auch der Kommunismus in der ehemaligen Sowjetunion scheiterte unter anderem daran, dass durch die autoritäre Planung der Wirtschaft die kreativen Ressourcen der Bürger nicht voll ausgeschöpft werden konnten. Ideen sind Informationen und unterliegen wie alles, was miteinander konkurriert, der Selektion. Mit dem freien Zugang zum globalen Wissen der Menschheit für jedes Individuum über das Internet werden sich die aufgeklärten Ideen des wissenschaftlichen Weltbildes mehr und mehr auf der ganzen Welt durchsetzen, da sie die Grundlage der technischen Revolution sind. Wie sehr das Internet eine Gefahr für ein unterlegenes Denksystem ist, zeigen die Versuche totalitärer Staaten, den Informationsfluss zu unterdrücken. Aber diese Regierungen, die Zensur ausüben müssen, um ihre Macht zu erhalten, sitzen heute in der Falle. Information wird immer mehr zu dem bestimmenden Produktionsfaktor der Industrie. Hemmen Regierungen den Informationsfluss, hemmen sie gleichzeitig den wichtigsten Produktionsfaktor für ihre Wirtschaft, und in der Folge fallen diese Länder ökonomisch zurück. Lassen sie aber den freien Informationsfluss zu, emanzipieren sich die Individuen der Gesellschaft schließlich von der Unterdrückung. Das Ende der Nationalstaaten Die Nationalstaaten unterliegen mittlerweile einer schleichenden Aufweichung, und der Kampf um die Elemente einer globalen Wertegemeinschaft hat bereits begonnen. Insbesondere die Entscheidungsmacht des UN-Sicherheitsrats, aber auch etwa die Entwicklung universaler und regionaler Menschenrechte stellen Elemente einer globalen Verfassung dar und weisen hinaus über die Souveränität des klassischen Nationalstaats in Richtung auf eine internationale Rechtsgemeinschaft8, schreibt der Völkerrechtler Rudolf Dolzer. Durch die globale Vernetzung der Computer über das Internet verlieren die Staaten die Macht über den nationalen Informationsfluss und damit einhergehend nivellieren sich die kulturellen Einflüsse im globalen Dorf Internet. Eine kulturelle Abgrenzung wird immer schwieriger. Nationalstaaten überleben sich aber vor allem aus ökonomischen Gründen. Denn der globale Informationsfluss hat eine noch weit stärkere Integrationskraft, da er der Schlüssel zur Globalisierung der Wirtschaft ist. Bei der Steuerung der globalen Geldströme haben die Staatsregierungen schon jetzt weitgehend die Kontrolle verloren und werden sie noch mehr verlieren. Damit schwindet der Einfluss der Länderregierungen dramatisch. Und die Wirtschaft, der Kern jeder Gesellschaft, ist bereits soweit internationalisiert, dass große Konzerne wie Sony oder Daimler-Chrysler ihre nationale Identität verlieren. Überall entstehen durch Firmenzusammenschlüsse immer größere staatenlose Konglomerate, die ihrer ursprünglichen Firmentraditionen abstreifen und internationale Identität annehmen. Ein striktes Festhalten an nationalen Regeln gegenüber solchen Firmenimperien ist einerseits nicht möglich, andererseits würde es deren wirtschaftlichen Vorteile einschränken. 260
Es gibt mittlerweile kaum noch einen Bereich der Wirtschaft, in dem nationale Regeln nicht an die Grenzen Ihrer Wirksamkeit stoßen: Das gilt für die Steuerpolitik ebenso, wie für die Bekämpfung der Geldwäsche. Das gilt für die Finanz- und Versicherungsmärkte, für den Bereich der Investitionen, für das Transportwesen, für die Nutzung der Biotechnologie und nicht zuletzt für den elektronischen Handel. Der Versuch, die Nationalstaaten Europas politisch und wirtschaftlich zu vereinen zeigt, dass die Notwendigkeit zur Bildung immer größerer einheitlich handelnder Verwaltungsgebiete von der Politik erkannt wurde. Auch in Amerika und in Asien entstehen immer größere Wirtschaftszonen. Dies lässt den Schluss zu, dass sich über kurz oder lang eine Weltregierung mit einheitlichen Gesellschaftsnormen unter demokratischen Rahmenbedingungen herausbilden wird. Die Staaten und ihre Wirtschaft vernetzen sich also allmählich global, genauso, wie sich GAIA als globales Netz des Organismenreiches herausgebildet hat. Und genauso, wie kleine abgeschlossene Biotope anfälliger gegenüber Störungen sind als große, genauso ist ein globales Wirtschaftssystem stabiler, als es partikuläre Nationalökonomien sind. Ideale Demokratie Sexualität vernichtet genetische Aristokratie erbarmungslos!9 Germaine Greer soll gesagt haben, Evolution sei, was sie sei. Die „upper classes” seien immer ausgestorben; das wäre einer ihrer charmantesten Seiten. Innerhalb einer Spezies wirkt die natürliche Selektion vereinheitlichend. Das ist der Grund, warum uns allen das Herz links schlägt. Die natürliche Selektion wirkt hauptsächlich in die Richtung, Abweichungen von der Normalität auszulesen. Es geht der Selektion um das langfristige Schicksal seiner Protagonisten, es geht um Identität, die über möglichst lange Zeit aufrecht erhalten bleiben soll. In einer Art bilden sich nicht etwa einige Linien besonders intelligenter Individuen heraus, sondern die Gene mischen sich durch Sex immer wieder neu und nivellieren zu große Unterschiede in den Veranlagungen. Elitebildung ist nicht das Programm der Evolution innerhalb einer Spezies und daraus folgt, dass keinem Geschlecht eine herausragende Stellung, zum Beispiel als Adel gebührt. Wenn wir uns auch noch so moralisch gebären, im Kern sind alle Handlungsmuster von der Evolution daraufhin optimiert, die eigenen Gene zu tradieren. Alles Tun ist vom Egoismus der Gene dominiert. Niemand hat sich einer größeren Einheit angeschlossen, weil es gut für die Gemeinschaft ist, sondern weil jeder einzelne davon mehr Gewinn erwartet, als er auf sich allein gestellt erringen kann. Unser aller Problem ist, das maximale Glück für uns selbst in einer Gesellschaft zu finden. Wir verhalten uns moralisch, weil wir als Einzelne davon profitieren, wenn wir uns kooperativ verhalten. Der „Vorteil durch komparative Kosten“ überwiegt für uns als Individuum alle Nachteile. In einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Stämmen kann es für das Individuum sinnvoll sein, sich selbst zu opfern. Unter der Voraussetzung, dass die Kinder oder Verwandte des eigenen Stammes und somit verwandte Gene nur dann überleben, wenn der Stamm maximale Schlagkraft besitzt, ist die Einschränkung der Individualität in Form eines bedingungslosen Gehorsams bis zur Aufopferung für den Einzelnen notwendig und 261
akzeptabel. In einem totalitären Staat geht der Gewinn für das Individuum gegen Null. In diesem Fall wird das Individuum alles daransetzen, sich selbst maximale Gestaltungsmöglichkeiten auf Kosten der Gesellschaft zu erkämpfen oder diese Gesellschaftsform zu ändern. In totalitären Staaten geht das Wohlsein einiger weniger über das der großen Mehrheit, aber nach der Teleologie der Evolution kann dies auf die Dauer nicht zu einer stabilen Gesellschaftsform führen. Denn eine der wesentlichen Merkmale des Egoismus ist die Selbstbehauptung. Der „Egoismus der Gene“ zwingt die Bürger, einen gerechten Anteil an der Gesellschaft zu erkämpfen. Demokratie als gesellschaftliches System hat sich als das stärkste durchgesetzt, weil es die Individuen weitestgehend an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt. Herrschende gehen immer einen Gesellschaftsvertrag mit den Beherrschten ein. Der Führer in einer Gruppe hat die Funktion, Uneinigkeit zu minimieren, da die Gruppe sonst nicht gegen eine andere bestehen kann. Erfolgreiches Krisenmanagement besteht aber nicht in der Unterdrückung von Konflikten, sondern in ihrer Lösung. Führung und Schlichtung haben sich offensichtlich als wirksamer als Dominanz und Gewalt herausgestellt. Egalität, die Abflachung der Hierarchie, schreitet in den Gesellschaften fort. Allgemeine Grundsätze zur Konfliktbewältigung wurden in allen Gesellschaften entwickelt - Gesetze. Gleichheit in der Gesellschaft sei keine irrelevante Abweichung von unserem evolutionären Pfad, schreibt Frans de Waal10. Meiner Ansicht nach ist sie eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer entwickelten Gesellschaft. Das führt durchaus nicht dahin, dass alle in einer Gesellschaft gleichgeschaltet sein sollten. Nach Alfred Gierer legen die biologischen Unterschiede zwischen Individuen insbesondere in den psychischen Anlagen nahe, dass jede Gemeinschaft ein weites Spektrum an verschiedenen sozialen Rollen vorhalten sollte, um dem einzelnen Wahlmöglichkeiten zu bieten.11 Bezogen auf die Verteilung von Reichtum stellte John Rawls eine Theorie der Gerechtigkeit auf. Er stellte die Frage, wie sich Menschen die Verteilungsgerechtigkeit vorstellen, wenn sie ihre zukünftige Rolle in der Gesellschaft nicht absehen können. Seiner Ansicht nach würden sie sich gegen Armut versichern wollen und dafür bereit sein, falls sie zu den Reichen gehören, gewissermaßen als Versicherungspolice etwas von ihrem Reichtum abzugeben: Armut in einer Gesellschaft ist zu vermeiden, ohne dass das Eigentumsgefälle in einer Gesellschaft eingeebnet wird.12 Nach James Lovelock bieten Fähigkeiten, die erlauben, die Umwelt zum eigenen Nutzen zu verändern einen erheblichen Vorteil gegenüber den Konkurrenten. Eine dieser Fähigkeiten ist, bezogen auf eine soziale Gemeinschaft als Umfeld, Macht auszuüben. Macht basierte, wie wir schon im Tierreich beobachten können, zunächst auf körperlicher Überlegenheit. Sie ist das Ergebnis gewonnener Rivalitätskämpfe und sie ermöglicht, ein Revier zu verteidigen oder einen Harem zu besitzen. Bei höher entwickelten Arten wie den Schimpansen ist aber nicht mehr unbedingt der Stärkste das Leittier der Horde. Oft ist es derjenige, der soziale Koalitionen aushandeln und pflegen kann, mit anderen Worten dasjenige Tier, dass die Fähigkeit zur Kooperation besitzt.
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Die schlichte Grundregel des Soziallebens, die im gesamten Tierreich Gültigkeit hat, fasst Edward Wilson so zusammen: Der persönliche Vorteilsverlust durch die Unterwerfung unter die Gruppeninteressen [müssen] mehr als ausgeglichen [werden] durch persönliche Vorteile, die durch den zu erwartenden Gruppenerfolg erzielt werden können.13 Die Gesellschaft muss dem Individuum nutzen, aber auch das Individuum muss der Gesellschaft Nutzen bringen. Zwischen diesen beiden auseinander strebenden Interessenlagen muss immer wieder die Balance gefunden werden, andernfalls zerbricht die Gemeinschaft. Die gesellschaftliche Entwicklung wird unter dem Druck der Evolution gegen eine Gesellschaftsform konvergieren, in der ein Individuum eine maximale Gestaltungsmöglichkeit für sich selbst behält, und in der die Einschränkungen für dieses Individuum durch einen maximalen Gewinn aus seinem Gemeinschaftsleben kompensiert werden.
6.3
Krieg
Krieg hat auf unserem Planeten eine lange Tradition und er wird nicht nur von Menschen geführt. Innerartliche Aggression ist eine Veranlagung fast aller Tiere auf unserer Welt. Aber bei allen in sozialen Verbänden lebenden Raubtieren ist auch immer eine Tötungshemmung ausgebildet. Diese bezieht sich in erster Linie auf die Individuen im Sozialverband selbst. Bei den Menschen gibt es demzufolge innerhalb einer Gemeinschaft in aller Regel strenge Verbote, einen anderen Menschen zu töten. Bei Konflikten zwischen Sozialverbänden kann es dagegen sogar dazu kommen, dass von jedem verlangt wird, Artgenossen zu töten. Die grundsätzliche Bereitschaft, Krieg zu führen entstand wahrscheinlich aus der Konkurrenz der Männer um Frauen und nicht etwa, wie man intuitiv annehmen sollte, aus Ressourcenmangel. Selbst aus der Propaganda des zweiten Weltkriegs, in der Hitler von einem „Volk ohne Land“ barmte, lässt sich noch erahnen, dass es bei diesem Krieg irgendwie um den genetischen Erfolg gehen sollte. Moses sprach: Tötet sofort alle männlichen Kinder, ebenso tötet jedes Weib, das bereits mit einem Manne geschlechtlich verkehrt hat! Alle jungen Mädchen aber, die mit einem Manne noch nicht geschlechtlich zu tun hatten, lasst für euch am Leben.14 Das stärkste Motiv für Krieg in der Geschichte der Menschheit war, wie wir schon im Kampf um Troja nachlesen können, der Besitz von Frauen. In den Wildbeutergesellschaften ziehen Männer in den Krieg, um Frauen zu erobern oder zu behalten, ihre häufigste Kriegsbeute sind Frauen. Bei den Yanomami haben Männer, die schon einen Feind getötet haben, dreimal so viele Frauen und Kinder, wie diejenigen, die noch keinen Feind erschlagen haben. Dass es bei Krieg um Ressourcen wie Jagdgründe geht, streiten sie selbst ab: Wir mögen zwar Fleisch, aber Frauen mögen wir noch viel lieber.15 Der Fortpflanzungserfolg einer Frau hängt so gut wie nie von der Zahl der verfügbaren Männer ab. Und so haben sich Frauen nie stark für Krieg interessiert, im Gegenteil. Da sie zur Beute gehören, und wie wir bei Moses nachlesen können, auch noch ihre männlichen Kinder verlieren könnten, haben sie sich in der Geschichte nie zusammengerottet, um ein Nachbardorf wegen der Männer dort zu überfallen.
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Die Gene der Männer profitieren dagegen direkt davon, wenn viele Frauen verfügbar sind. Krieg ist eine Domäne der Männer, denn ihr Fortpflanzungserfolg kann sich dadurch vergrößern. In den zurückliegenden Zeitaltern, als annähernde Waffengleichheit herrschte, hing der Ausgang eines Kriegs entscheidend von der Anzahl der Kämpfer ab. Mehr Frauen bedeuteten mehr Kinder und damit mehr Krieger. Betrachtet man dieses Motiv für Krieg, so verschwindet es mit der Emanzipation der Frau, mit ihrer Selbstbestimmung über ihren Körper. Emanzipation ist eine Kernforderung jeder Demokratie. Natürlich ist das Problem Krieg vielschichtiger. Wir können aus dem „kalten Krieg“ zwischen Amerika und der ehemaligen UdSSR lernen, dass sich ein eigenartiges Paradoxon auf der Ebene der Staatengemeinschaft wiederfinden lässt, von dem Konrad Lorenz aus dem Tierreich berichtet: Die blutigsten Raubtiere müssen die verlässlichsten Tötungshemmungen entwickeln.16 Keiner der beiden Staaten konnte damit rechnen, ungeschoren davon zu kommen, wenn er seiner Aggression freien Lauf lassen würde. Die logische Konsequenz war das zähneknirschende Einhalten des Friedens. Diese Tendenz wird sich mit der Anhäufung von Vernichtungspotential wohl eher verstärken, als dass es zum Beschädigungskampf zweier Nationen kommen wird, bei dem sich beide Gegner in die Steinzeit zurückbomben würden. Denn der Mensch hat neben seiner Fähigkeit, immer schrecklichere Waffen zu ersinnen, auch die Gabe mitbekommen, sich die Frage nach den Folgen seiner Handlungen vorzulegen und zu beantworten. Dieses eher rationale Szenario gilt leider nicht für fanatisierte Terroristen und wahnsinnige Despoten. Im Zeitalter der Globalisierung können wir noch eine weitere Hoffnung schöpfen, die Geisel „Krieg“ endgültig zu überwinden. Mit der Globalisierung und dem damit enger Aneinanderrücken der einzelnen Staaten hebt sich allmählich der Unterschied zwischen Menschen, denen wir im Sozialverband begegnen und Menschen, die einem anderen Sozialverband angehören auf. Damit dehnt sich aber auch die innersoziale Tötungshemmung global aus. Was für ein gewaltiger Fortschritt sich aus der globalen Kooperation und Kommunikation ergibt, kann man daran ermessen, dass dieser schon Gott Jahwe angesichts des Turmbaus zu Babel unheimlich vorkam: Und Jahwe sprach: Siehe, sie sind ein Volk und sprechen alle eine Sprache. Das ist erst der Anfang ihres Tuns (den Turm zu bauen). Fortan wird für sie nichts mehr unausführbar sein, was immer sie zu tun ersinnen. Wohlan, wir wollen hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht!17 Krieg als Mittel der Auseinandersetzung zwischen Nationalstaaten, um Territorien auszuweiten oder allgemeiner, um Ressourcen zu vergrößern, hat sich weitgehend, aber leider noch nicht vollständig, erübrigt. Die Verteidigung von strategischen Gütern, wie das Offenhalten eines freien Zugangs zu den Ölvorräten ist aktuell. Auch die Verteilung der Wasservorräte und damit die Verteidigung dieser Ressource ist in einigen Gebieten dieser Welt noch von wachsender Bedeutung. Prinzipiell aber spielen Rohstoffe weniger und weniger eine Rolle, da durch den intelligenten Einsatz der Technik einerseits immer mehr 264
Rohstoffe verfügbar gemacht werden, auf der anderen Seite immer weniger gebraucht werden. Dagegen werden Handelsbeziehungen im globalen Maßstab immer wichtiger. Kriege aber schädigen den Welthandel und so hat zum Beispiel Amerika ein vitales Interesse, Krisenherde zu befrieden, weil sich sonst dort kaum eine solvente Abnehmerschicht für Microsoft-Software und Coca-Cola herausbilden kann. Spätestens mit dem Entstehen einer global vernetzten Konzernkultur ist ein wirtschaftlich motivierter Krieg seiner Logik beraubt. Bei jedem Bombenangriff auf ein beliebiges Land würde man auch die eigenen Fabriken oder Zulieferer treffen, oder sich Märkte zerbomben. Kein Staat, der dem Wohl seiner Bürger verpflichtet ist, kann heute noch ernsthaft Interesse an einem Krieg haben. Und so schreibt Fareed Zakaria in einem Artikel im Magazin Foreign Affairs über die Fähigkeiten zukünftiger Staatsmänner: Im globalen Zeitalter ist derjenige der Mann, auf den es ankommt, der den Frieden auf den Weltmärkten erhalten kann. Die Weltgemeinschaft kann sich im Zeitalter der Globalisierung weniger und weniger einen Krieg leisten. Und sie kann dieses archaische Gehabe auch nicht länger tolerieren, es kostet einfach zu viel Geld. Erst musste man Jugoslawien mit viel Aufwand an Waffen und Logistik in die Knie zwingen. Anschließend muss man den Staat wieder für noch mehr Geld aufbauen. Kriege sind unrentabel geworden: Die Autofabrik Zastava in Kragujevac, Jugoslawien produzierte vor dem Krieg 200 000 Autos jährlich und exportierte diese in 72 Länder. Im Zuge der mörderischen Expansionspolitik von Milosevic verlor Jugoslawien seine Märkte, seine Zulieferer und nicht zuletzt den Anschluss an die moderne Technik. Im Jahr 1998 lag die Produktion bei gerade noch 14 000 Autos im Jahr, ehe die Bomben der Nato das Werk zu einem Trümmerhaufen zerlegten und die Produktion auf Null fuhren. Krieg und Information Der wichtigste Produktionsfaktor der Wirtschaft ist heute die Information. Die aber ist durch Kriege nicht zu gewinnen, sondern nur durch Forschung und vielleicht noch durch Spionage. Mehr noch, da Kriege destruktiven Charakter haben, vernichten sie Informationen. Ohne hochentwickelte Forschung ist kein Krieg mehr zu gewinnen: Gegen die HightechWaffen der Amerikaner haben weniger entwickelte Staaten kaum eine Chance. Staaten, die sich statt der Entwicklung ihrer Kultur und der Wissenschaft Krieg leisten, verhindern mit der damit einhergehenden Destruktion des Bildungswesens, dass sie einen breiten Anschluss an diese Waffentechnologien finden können. Denn die Soldaten fehlen als Studenten und Lehrer. Das Geld, das für das Bildungssystem bereitstehen sollte, wird in die Kriegswirtschaft umgeleitet usw. Die zukünftigen Kriegsschauplätze verlegen sich ins Virtuelle. Dies ist die neueste Drehung in der Rüstungsspirale mit der Folge, dass die Staaten, in denen Wissenschaft und Bildung hoch entwickelt sind, den anderen Staaten noch weiter davonziehen werden: Bei den Angriffen der USA auf Jugoslawien während der Kosovo-Krise gaukelten die Amerikaner den jugoslawischen Waffenleitsystemen Flugzeuge vor, worauf die 265
getäuschte Elektronik mit Abwehrfeuer reagierte. Echte Flugzeuge schoss die Flugabwehr dagegen nur in zwei Fällen ab! Aber das ist erst der Anfang: Das Schlachtfeld möglicher zukünftiger Kriege wird das weit in jede Art von Ökonomie hinein wuchernde Datennetz sein. Sieger der Waffengänge wird sein, wer sich die Kontrolle über möglichst wichtige Informationen verschafft. Der Verlierer wird der Informationsüberlegenheit seines Gegners mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sein. Schon heute kann ein geballter Angriff auf das Computersystem einer Volkswirtschaft diese wahrscheinlich härter treffen, als ein Bombardement jeder anderen Infrastruktureinrichtung. Teleologisch betrachtet ist Krieg Destruktion und damit nicht im Sinn der Evolution. Vernichtung von Leben und seiner Vielfalt ist langfristig immer einer Leben bewahrenden Strategie unterlegen.
6.4
Umweltschutz
Nun sprach Gott: Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bilde ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über alles Wild des Feldes und über alles Gewürm, das auf dem Erdboden kriecht!18 Wir sind tatsächlich Herrscher der Welt geworden. Und wie bei allen Machverhältnissen müssen wir Sorge tragen, dass wir diese Macht nicht missbrauchen. Der menschliche Geist ist, wie das ihn hervorbringende Gehirn, ein Produkt der Evolution. Es ist ausschließlich von Nützlichkeitsmomenten geprägt, die das Überleben unserer Gene betreffen - Bewusstsein verschafft einen Selektionsvorteil. Intelligentes Verhalten ist, die Vor- und Nachteile abzuwägen, so dass ein optimal an die Umweltbedingungen angepasstes Verhalten dabei herauskommt. Aus der Teleologie der Evolution können wir ableiteten, dass der Mensch angehalten ist, das Leben zu bewahren. Er muss es weitergeben und dafür zu sorgen, dass auch die zukünftigen Generationen auf unserem Planeten überleben können. Wenn wir die Teleologie der Evolution anerkennen, ist die Biosphäre auf unserer Erde von zentraler Bedeutung für unser Handeln: Umweltschutz ist diesem Gedanken nach eine Art „kategorischer Imperativ“. Unser Körper genauso wie unser Gehirn mit seinen vielfältigen Modulen sind eine Antwort auf die Herausforderungen, die die Umwelt an uns stellt. Wir nehmen die Umwelt nicht zuerst feindlich wahr, sondern als unsere Heimat. Wir haben aus gutem Grunde eine starke emotionale Bindung an die Natur, ja wir lieben sie und wir finden sie schön. Jede Spezies zieht es zu der Umwelt, in der sich ihre Gene selbst zusammensetzten; man nennt das die „Lebensraumentscheidung“. Denn nur dort ist unser Überleben und geistiger Frieden so garantiert, wie es unsere Gene für uns vorgesehen haben,19 schreibt Edward Wilson. Umweltschutz kann nicht aus der Konservierung eines schon lange nicht mehr vorhandenen „natürlichen Zustands“ der Erde bestehen. Die nostalgische Idee einer „heilen“, weil natürlichen Welt vertraten schon die Kyniker. Ihr bedeutendster Vertreter war der griechische Philosoph Diogenes von Sinope. Die Kyniker behaupteten, dass die Zivilisation mit all ihren Problemen ein künstlicher, unnatürlicher Zustand sei und daher 266
verachtet werden müsse. Bei über sechs Milliarden Mitbewohnern auf dieser Erde, die sicher nicht mit Jagen und Sammeln ernährt werden können, ist das eine sprichwörtlich zynische Sicht der Dinge. Jeder von uns wird sich schnell eines Besseren besinnen, wenn er auch nur an einer Blinddarmreizung erkrankt. Denn da sind wir dankbar für die Existenz eines Krankenhauses, für das Wissen des Arztes und für den Segen einer Betäubung. Und in den Urlaub fliegen möchten wir eigentlich auch alle. Gaia muss und wird sich zu einem Ökosystem hin verändern, in dem Technik und Biosphäre sich überlagern und ergänzen werden. Denn schon immer war die Entwicklung der Biosphäre nicht geprägt von der Zurückweisung und Unterdrückung von Innovationen sondern dadurch, das jede neue Herausforderung angenommen wurde. Als die Cyanobakterien anfingen, die Erde mit Sauerstoff zu vergiften, bedeutete dies eine der größten vorstellbaren Umweltkatastrophen, die langfristig aber überhaupt erst die Entwicklung höheren Lebens ermöglichte. Als Bäume anfingen, den Holzstoff Lignin zu produzieren, stand noch kein Verfahren zum Abbau dieser organischen Verbindung zur Verfügung. Und so türmten sich riesige Abfallhalden von toten Bäumen auf. Dieser Umweltskandal führte einerseits zur Entstehung der Kohlevorkommen auf der Erde und andererseits wurde dieser Stoff zum Ausgangspunkt einer reichen biologischen Vielfalt von Recycling-Spezialisten. Schließlich hat auch die kommerzielle Nutzung des Weltraums genau zu dem Zeitpunkt eingesetzt, als mit dem Space-Shuttle das erste wiederverwertbare, also recyclebare System entwickelt worden war. Umweltschützer, die meinen, das: „alles, was in der Natur geschieht gut ist“, gehen von einer Apartheid zwischen Mensch und Technik aus, und schneiden uns damit von nützlichen Quellen aufschlussreicher Prinzipien ab. Dies ist so wenig sinnvoll, wie eine Trennlinie zwischen Tier und Mensch zu ziehen. Sie übersehen, was Charles Darwin so ausdrückte: Was für ein Buch könnte des Teufels Priester über die unbeholfenen, verschwenderischen, niedrigen und entsetzlich grausamen Taten der Natur schreiben. Wir Menschen haben, mehr als alle Lebewesen vor uns, kraft unserer Intelligenz die Möglichkeit, verantwortungsbewusst zu handeln und „Nachhaltiges Wirtschaften“ zu entwickeln. Mittlerweile findet sowohl bei den Grünen wie auch bei Umweltschutzgruppen wie Greenpeace ein Umdenken statt. Man fängt an zu akzeptieren, dass Ökonomie und Ökologie keinen Gegensatz darstellen. Nach meinen Schlussfolgerungen sind Volkswirtschaften Ökosysteme und funktionieren nach denselben Regeln. Wirtschaft ist ein Teilsystem des globalen Ökosystems Gaia und alles, was sich als schlecht für die Ökosphäre darstellt, wird sich früher oder später auch als unökonomisch herausstellen. Tier- und Umweltschutzbewegungen gewinnen immer mehr Einfluss auf die Regierungen und bestimmen ihre Politik mit. Hinter moralischen Grundsätzen verstecken sich in der Regel vorteilhafte Verhaltensdispositionen: Natur ist überaus wertvoll für den Menschen. Und daher werden wir sie auf die Dauer nicht nur erhalten, sondern behüten und pflegen. Dies wird um so leichter fallen, als der Mensch sich allmählich von der Nutzung natürlicher Ressourcen abkoppeln wird. Gentechnisch erzeugte Nahrungsmittel und die Nutzung von direkter und indirekter Solartechnik werden die Inanspruchnahme der Natur deutlich reduzieren. 267
Frans de Waal formulierte eine gute Nachricht: Wir Menschen beginnen allmählich, uns Gedanken über Grausamkeit gegen Tiere zu machen - ein in der Natur noch nie dagewesenes Phänomen. Jäger bewerten den Gejagten eher dem Kalorien- als dem Gefühlswert nach, und wenn andere Spezies nicht als Nahrungsmittel dienen, bringt es normalerweise nichts, wenn man in Rücksichtnahme in sie investiert.20 Es bringt uns eben doch etwas. Es werden ethische, ästhetische und ökonomische Beweggründe in den Vordergrund treten, die auf den Schutz der Natur zielen: • • •
Ethische Gründe: Schon heute ist die Tierschutzbewegung in allen Industrieländern eine mächtige Instanz, genährt aus dem Empfinden heraus, dass die Fauna der Erde ein ähnliches Recht auf Existenz besitze, wie der Mensch. Ästhetische Gründe: Seit jeher hat der Mensch die Schönheit der Natur empfunden und sie in der darstellenden Kunst, in der Musik und in der Literatur gewürdigt. Ökonomische Beweggründe: (1) Mit der Gentechnik wird es immer wichtiger, die Genressourcen, also die Artenvielfalt, zu erhalten. (2) Für die Touristikindustrie wird Natur mittlerweile ein wesentlicher Rohstoff.
Dies alles wird zu einem altruistischen Verhalten gegenüber der Biosphäre führen. Statt Wale zu jagen, erfreuen sich heute schon die Menschen mehr, sie zu beobachten. Affen werden weitgehend schon als nahe Verwandte betrachtet und entsprechend geschützt. Menschen werden zu Vegetariern, um nicht schuld am Tod von Tieren zu werden. Wo man vor 50 Jahren noch Kaninchen gehalten hat, um den häuslichen Speisezettel zu bereichern, wird in den Kinderzimmern der Industriestaaten das Schlachten eines dort gehaltenen Kaninchens schon fast als Mord angesehen. Alle Staaten der Erde haben mittlerweile erkannt, dass negative Beeinflussung der Umwelt auf die Dauer einen gewaltigen ökonomischen Schaden anrichtet. Der Mensch muss lernen, mit der Ökosphäre zu kooperieren und sie nicht destruktiv auszubeuten. Er muss Umweltschutz als Verpflichtung annehmen, als moralischen Auftrag. Wir können durchaus sagen, dass Greenpeacea einen Teil des kollektiven Gewissens unserer Gesellschaft darstellt gegenüber dem Gebot: Du sollst diese Erde mit ihrem Leben bewahren, auf das auch Deine Enkelkinder die Schönheit Gaias noch bewundern können.
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Greenpeace steht hier natürlich nur stellvertretend für viele Organisationen, die in diesem Sinne wertvolle Arbeit leisten. Allerdings möchte ich diesen Satz meinem Freund und Regenbogenkrieger Thilo Maack widmen .
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Umweltschutz und Technik Neben der Ökonomie gibt es für Umweltschützer einen weiteren „natürlichen Feind“: Die Technik. Aber es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen Biosphäre und Technosphäre. Auf die Dauer werden sich beide Sphären zum gegenseitigen Nutzen überschneiden. Aufgrund der plötzlichen und oft auch gewalttätigen Ausbreitung der Technik bedarf es noch einer Menge Anpassungsprozesse zwischen Technik und Natur. Regulative wie Greenpeace sind für die Entwicklung von Gaia als technik- und biosphärenumfassendes System ebenso wichtig, wie die Ingenieure. Es gibt ein großes Unbehagen gegenüber der Technik, weil sie in der Biosphäre großen Schaden angerichtet hat und immer noch anrichtet. Aber wir müssen diesen Schaden gegen die Vorteile aufrechnen, die uns die Technik geschenkt hat. Sämtliche Indikatoren der Lebensqualität wie Lebenserwartung, Versorgung mit Nahrung und Kleidung, Zugang zur Bildung usw. haben sich in den technisch entwickelten Staaten deutlich verbessert. Nichts hat uns so erschreckt, wie die Entwicklung der Atombombe. Sie hatte nach dem Paradigma des Gefangenen-Dilemmas durchaus ihre Berechtigung. Hitler und den Japanern musste mit allen Mitteln Einhalt geboten werden. Trotzdem war und blieb der Abwurf über Hiroshima und Nagasaki ein Menetekel. Doch die Atombombe kann durchaus auch dem Wohle der Menschheit und des gesamten Lebens auf dieser Erde dienen: Vielleicht brauchen wir sie einmal, um einen Asteroiden zu sprengen, der andernfalls auf die Erde stürzen und Gaia eine tiefe Wunde schlagen würde. Schließlich möchte keiner von uns so enden wie die Dinosaurier. Wir können uns für drei Möglichkeiten entscheiden. Die erste ist, dass das Wachstum aufhört mit allen Folgen einer Stagnation. Aber die Rasanz der technischen Entwicklung ist notwendig, um die zerstörerischen Übergangsphasen wie die Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen mit niedrigem Wirkungsgrad möglichst schnell zugunsten besserer technischer Verfahren zu überwinden. Die Technosphäre ist vor allem zu Beginn ihrer Entwicklung eine Gefahr für die Umwelt. Die großen, ernsthaften Umweltzerstörungen sind heute mehr ein Problem der weniger entwickelten Länder der Welt, denen das Knowhow und die Mittel fehlen, schnell neue Technologien zu entwickeln oder einzuführen. Die zweite Möglichkeit wäre, dass der Mensch und die Technik den Planeten mehr überwuchern, als dieser verträgt. Oder aber es findet eine, wie Jesco v. Puttkamer sie nennt kopernikanische Systemöffnung zum Weltraum hin statt. Technik ist ein notwendiger Bestandteil unserer Biosphäre geworden. Wir brauchen sie, um das biologische Leben langfristig auf der Erde zu schützen und um das Leben im Universum zu verbreiten. Das Leben kann ein wichtiger Teil des Weltalls werden und die astronomische Umwelt ähnlich beeinflussen, wie die Menschen es heute auf dem Planeten Erde tun. Ökologie, Ökonomie und Technologie sind keine Gegenspieler. Sie gewinnen im Gegenteil gegenseitig durch die Emergenz, die aus dem Zusammenwirken dieser drei Teilbereiche erwächst. Und nur auf diesen drei Säulen als Fundament lässt sich die Startrampe bauen, die das Leben benötigt, um die Biosphäre auf den Weltraum auszudehnen. 269
Korrektur bedrohlicher Entwicklungen Das vielzellige Leben entstand im geologischen Zeitalter des Kambriums vor 530 Millionen Jahren. Es hat seitdem neben einer großen Anzahl kleinerer auch mindestens fünf Megakatastrophen überstanden. Es waren Asteroideneinschläge wie der, der die Dinosaurier vom Antlitz der Erde tilgte. Massenextinktionen, also das plötzliche Aussterben von einer Vielzahl von Arten, haben sich häufiger ereignet, liefen schneller ab und waren umfassender und verschiedenartiger, als man früher angenommen hatte.21 Das Ökosystem Erde hat sie alle überstanden. Gaia nahm jede dieser Herausforderungen an. Ein Wesenszug dieser Ereignisse war, dass das Leben nachher immer weit vielfältiger als zuvor dastand. Gaia ist ein System, das sich über Rückkopplungssysteme sein Gleichgewicht über lange Zeit erhält. Wenn ihr Gleichgewicht gestört wird, läuft eine Welle von Mutationen und der Ausrottung von Arten durch das Ökosystem, bis sich ein neues stabiles Gleichgewicht eingestellt hat. Seit dem Anbrechen des technologischen Zeitalters befinden wir uns in einer großen Umbruchsphase, wo die Karten des Lebens neu gemischt werden. Aber es gibt einen wesentlichen hoffnungsfrohen Unterschied: Unsere Intelligenz wird es verhindern, dass die Biosphäre wirklich schwer geschädigt wird und einer langen Zeitspanne der Regeneration und Erneuerung bedarf. Denn dies würde zweifellos uns Menschen am härtesten treffen. Wie die Korrektur bedrohlicher Entwicklungen funktioniert, zeigt das Beispiel des Ozonabbaus in der oberen Atmosphäre. Der Nachteil eines zusammenbrechenden Ozonschildes wurde als größer erkannt, als die Vorteile, die FCKW für die Technosphäre besitzen. Daraufhin wurden Ersatzstoffe entwickelt und die Produktion der FCKW weltweit reduziert mit dem Ziel, sie mittelfristig ganz einzustellen. Die Ozonschicht wurde durch FCKW stark, aber durchaus nicht irreparabel in Mitleidenschaft gezogen. Sie wird sich in ein paar Jahrzehnten durch die Selbstheilungskräfte Gaias regeneriert haben. Diese „Erkrankung“ Gaias hat ihr Immunsystem gestärkt und weiterentwickelt. Mit bekannt werden dieser heraufdämmernden Umweltkatastrophe wurden umgehend bedeutende Forschungsgelder bereitgestellt. Die Wissenschaftler konnten damit soviel Wissen über diesen für unser Überleben so wichtigen Schutzschild ansammeln, dass wir heute sehr viel schneller auf eine so gravierende Bedrohung unserer Umwelt reagieren würden. Bezogen auf die Ozonschicht ist Gaia wahrscheinlich sogar immun geworden: Die Menschheit wird mit aller ihrer Kenntnis verhindern, dass sich eine solche Bedrohung noch einmal entwickeln kann.
6.5
Empfängnisverhütung
Das zentrale Thema der Evolution ist die Nachkommenschaft. Moral kam zu uns Menschen, weil sie nützlich dafür ist, unsere Gene zu vererben. Wir sollten uns also nicht wundern, wenn dieser Themenkomplex große umstrittene „moralische“ Fragen aufwirft. Es sind kurioser Weise nicht so sehr die Fragen, wie man ein heranwachsendes Kind erzieht oder schützt. Viel brisanter sind die Themen: Empfängnisverhütung und Gentechnik. 270
Hier zunächst ein paar Anmerkungen zur Empfängnisverhütung, weil sie zentraler Bestandteil der Strategie sein muss, der Übervölkerung der Erde durch den Menschen entgegenzutreten. Empfängnisverhütung ist ein klassisches, religiös eingefärbtes Schlachtfeld moralischer Entrüstung. Es zeugt für die großartige Weitsicht der Evolution, dass Empfängnisverhütung mehr oder weniger problemlos funktioniert, wenn die „technischen“ Mittel dafür erfunden sind. Und erst die Selbstbeschränkung bezüglich des eigenen Nachwuchses ermöglicht ein „menschliches“ Zusammenleben. Sex als „Selbstzweck“, wie die Katholiken den Geschlechtsverkehr nennen, wenn er nicht der Befruchtung einer Eizelle im weiblichen Körper dient, führt durchaus nicht zu Sucht, zu Krankheit, zum Tod.22 Naiv sollte man meinen, der Gefühlshaushalt aller höheren Lebewesen wäre darauf ausgerichtet, Kinder in die Welt zu setzen. Denn die Weitergabe der Gene ist schließlich der entscheidende Parameter, der die Entwicklung der Organismen prägte. Merkwürdiger Weise sind aber zwei ganz andere Gefühlskomplexe von der Natur angelegt worden, um den Nachwuchs zu sichern: Sex und Brutpflege. Der Sexualtrieb regelt wesentlich mehr und vor allem andere Probleme als allein die Befruchtung der weiblichen Eizelle durch den männlichen Samen: Er steuert die Auswahl des Sexualpartners, hält, vor allem bei den Menschen, Partnerschaften aufrecht und regelt, wann es zur Empfängnis kommen kann. Aber, Sex hat emotional mit Nachwuchs wenig zu tun. Sex machen wir, weil es Spaß macht, nicht weil dabei Kinder entstehen, auch wenn das die katholische Kirche gern anders sähe. Brutpflege setzt erst ein, wenn der Nachwuchs da ist. Irenäus Eibel-Eibelsfeld schildert, wie Geburtenkontrolle bei einigen Naturvölkern dadurch erreicht wurde, dass Neugeborene, die dem Stamm zu viel erschienen, umgebracht wurden: Nirgends bringen Mütter ihre Neugeborenen leichten Herzens um, aber dort, wo Infantizida aus Gründen der Bevölkerungskontrolle notwendig ist, handelt es sich um einen kulturell als notwendig empfundenen Zwang, dem man sich fügt. Bemerkenswerter noch ist sein Nachsatz: Und es gilt dabei die Regel, dass man schnell unmittelbar nach der Geburt handelt, bevor die Bindung der Mutter an ihr Kind gefestigt wurde.23 Aus mehreren Gründen wird diese Bindung zwischen Mutter und Neugeborenen bei Säugern oft erst und vor allem in den ersten Minuten nach der Geburt etabliert. Nimmt man einer Ziegenmutter das Zicklein unmittelbar nach der Geburt für eine Stunde weg, ist sie nicht mehr bereit, es anzunehmen. Belässt man es aber nur 5 Minuten direkt nach der Geburt bei ihr, begrüßt sie ihr Kind danach auch nach einer Stunde der Trennung freudig. Übervölkerung und der damit verbundene Stress blockiert im Tierreich erstaunlich oft nicht die sexuelle Betätigung der Erwachsenen, sondern führt eher dazu, dass die erzeugten Nachkommen wieder vernichtet werden.24 Bei Nagetieren wie den Mäusen werden die besamten Eier gar nicht erst in die Uterusschleimhaut eingebettet sondern abgestoßen.
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Die Übersetzung dieses wissenschaftlichen Fachausdrucks lautet einfach: Kindesmord.
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Bei Kaninchen werden selbst halbentwickelte Embryonen wieder resorbiert. Spitzhörnchen fressen ihre neugeborenen Jungen auf. Offensichtlich ist hier die partnerbindende Aufgabe des Sex so wichtig, dass es sich sogar lohnt, dafür das Ergebnis des Sex zu verschwenden. Damit ergibt sich der folgende Sachverhalt: 1. Sex hat emotional nichts oder nicht viel mit einem Kinderwunsch zu tun. 2. Das Belohnungssystem, das den Menschen in die Lage versetzt, seinen Nachwuchs die zärtliche und liebevolle Brutpflege angedeihen zu lassen, setzt erst verstärkt ein, wenn das Kind da ist. Nachwuchs als ein (gelegentlich durchaus ungewolltes) Nebenprodukt von Sex zu zeugen und den Brutpflegetrieb erst mit der Geburt des Kindes zu initialisieren, ermöglichte es erst, dass der Mensch wirklich menschlich werden konnte. Wenn der Mensch einen speziellen Kinderwunsch-Trieb hätte, der ihn mit selber Macht nach Nachwuchs streben ließe, mit der er nach Sex verlangt, wir könnten keine Frau und keinen Mann davon abhalten, soviel Kinder wie möglich in die Welt zu setzen. Dass der Mensch sich rational gegen seine Triebe durchzusetzen vermag, ist zwar ein weitverbreitetes Märchen, aber alle Dramen der Weltgeschichte zeigen, dass Rationalität nur in sehr beschränkten Maße unser Verhalten zu steuern in der Lage ist. Und die Psychologen wissen viel über die verheerende Wirkung unterdrückter Triebe. Wir Menschen würden zweifellos die Welt mit derselben exponentiellen Wucht überbevölkern, wie es die Pflanzen auf einem See tun mit der unweigerlichen Konsequenz von stetigem Kampf jeder gegen jeden um die beschränkten Ressourcen. Wie das aussieht, zeigt das Beispiel von den Affen und den Bananenbäumen auf einer Insel, ein Beispiel, das jeder Mathematikstudent im Laufe seines Studiums einmal durchrechnen muss: Die Affen kommen auf die Insel und zunächst ins Paradies. Es gibt Bananen im Überfluss. Daraufhin vermehren sich die Affen stark und schließlich reichen die Bananenstauden längst nicht mehr für alle. Die Affen müssen jetzt stark untereinander um die wenigen Bananen konkurrieren mit dem Ergebnis, dass eine große Anzahl an Affen Hungers stirbt. Der Rest der Affen darf sich wieder im Paradies wähnen, gibt es doch jetzt plötzlich wieder Bananen im Überfluss. Darauf vermehren sich die Affen wieder stark usw. Dieselbe Beziehung gibt es recht häufig zwischen Räubern und ihren Opfern: Gibt es reichlich Opfer, so vermehren sich die Räuber. Schließlich gibt es so viele Räuber dass diese die Opfer in einem Maße dezimieren, dass es anschließend für kaum noch einen Räuber reicht. Die Räuber verhungern zum großen Teil, und die Opfer können sich, da es jetzt nur wenige Räuber gibt, rasch vermehren. Schließlich gibt es wieder reichlich Opfer usw. Diese Beziehung verläuft in Zyklen und wird heute durch die Chaos-Theorie beschrieben. Auch wenn man nicht genau vorhersagen kann, wie viele Räuber es zu einem bestimmten Zeitpunkt geben wird, kann man doch diese Zyklen relativ genau berechnen.
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Der Schluss ist zwingend: Ohne die Möglichkeit des Selbstverzichts auf Kinder, kann sich keine soziale Zivilisation auf Dauer etablieren. Diese Möglichkeit ergibt sich erst daraus, das der direkte Kinderwunsch durch die zwei aufgeführten Gefühlskomplexe ersetzt ist. Die Entwicklung von Gesellschaften verliefe im wesentlichen, wie auf einer Affeninsel, chaotisch. Das Wissen und die Möglichkeit zur Verhütung sind ein Fundament unserer Zivilisation. Der Selbstverzicht auf die maximale Anzahl von Kindern zugunsten einer stabilen Bevölkerungsgröße ist ein Eckpfeiler unserer menschlichen Gesellschaft mit ihren hohen moralischen Qualitäten. Aber dies ist nur möglich, weil es eben keine von der Natur auferlegte drängende emotionale Verpflichtung auf Kinder gibt. Die Evolution hat uns den Raum geschaffen, den wir benötigen, um wirklich menschlich sein zu können.
6.6
Gentechnik Wir werden wirklich bald tief in uns gehen und entscheiden müssen, was aus uns werden soll. Unsere Kindheit ist zu Ende, jetzt werden wir die wahre Stimme von Mephistopheles zu hören bekommen. (Edward O. Wilson)
Zumindest in den Demokratien hat sich langsam durchgesetzt, Geburtenkontrolle weitgehend zu tolerieren. Nun haben die Wissenschaftler durch ihre Forschung und deren Anwendung eine noch weitreichendere Frage aufgeworfen, die uns am Beginn dieses Jahrtausends zutiefst emotional bewegt. Es ist die Frage nach der Ethik, wenn wir das Genom eines Lebewesens verändern. Ein sehr unrationales Argument gegen die Anwendung der Gentechnologie ist: „Der Mensch solle dem lieben Gott nicht ins Handwerk pfuschen.“ Damit drohen selbst Leute, die es ansonsten von sich weisen würden, als religiös zu gelten. Aber selbst Anhängern religiöser Wertvorstellungen haben nicht das Recht, ihre Vorstellungen von unumstößlichen moralischen Grundprinzipien einer laizistischen Gesellschaft aufzuzwingen. Gott als planvoller Gestalter des Gencodes wird von den meisten Wissenschaftlern ausgeschlossen. Weit eher war der Zufall in Form von Mutation am Entwurf der Blaupause des Lebens beteiligt. Der Baum des Lebens spross aus den Genen, die seit der Entstehung von Organismen zusammengetragen wurden. Gene veränderten sich oder entstanden neu durch Mutation, und verliehen der Nachkommenschaft neue, andere Eigenschaften. Gene taten sich zusammen und erzeugten so noch weit schneller neue Fähigkeiten. Die Selektion verwarf die Fehlentwürfe und mit schwächeren Eigenschaften Behafteten und unterstützte, dass sich „stärkere“ Eigenschaften durchsetzen. Das Kriterium für „stark“ und „schwach“ war dabei der Erfolg bei der Vererbung. Bisher hat auf diesem Planeten jedes Lebewesen versucht, seine Fähigkeiten auszunutzen oder ist untergegangen. Der ewige Plan der Evolution ist, Fähigkeiten hervorzubringen, damit diese sich beweisen können. Nicht im Programm dagegen war bisher die Selbstbeschränkung. Spätestens seit dem ersten geklonten Schaf mit dem Namen Daisy wird kontrovers diskutiert, ob wirklich gemacht werden sollte, was technologisch machbar ist. Darauf gibt es eine einfache Antwort, wenn man Technologie als Eigenschaftserwerb ansieht, der dem Individuum ermöglicht, einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten zu 273
gewinnen: Jede gentechnologische Entwicklung, die einen wirtschaftlichen Vorteil verspricht, wird in irgendeinem Land von irgendeiner Firma irgendwann gemacht werden, wenn sie einen Selektionsvorteil gegenüber anderen Firmen darstellt. Die Ethik, die wir für unser Tun aufdecken müssen, ergibt sich bei der Gentechnik wie überall sonst auch aus der Regel, dass sie unter dem Strich eine Weiterentwicklung der Ökosphäre ergeben muss: Sie muss das Überleben der Menschheit positiv beeinflussen. Die Gentechnik enthebt uns nicht, das grundlegende Gaia-Gesetz zu beachten, nach dem jede Spezies untergeht, die ihre Umwelt schädigt. Wir dürfen uns zur Zeit wohl zu Recht als die am weitesten entwickelte Spezies unseres Planeten fühlen. Der Mensch hat durch die Gentechnologie als erstes Wesen auf diesem Erdball die Möglichkeit erworben, planvoll bei dem vorzugehen, was davor dem Zufall überlassen war. Denn im Gegensatz zu einem menschlichen Ingenieur war die natürliche Selektion nicht befähigt, vorausschauend und intelligent zu planen. Organismen sind meist eher, wie Steven Pinker es ausdrückt, zusammengestoppelte Konstruktionen voller Schrott von früher, und gelegentlich schießen sie mit kaum tragfähigen Problemlösungen einen Bock.25 Ein Beispiel dafür sind die beim Menschen über kreuz verlaufenden Speise- und Luftröhren. Sie sind ein nicht unerhebliches Unfallrisiko. Speisebrocken können in die Luftröhre gelangen und zum Erstickungstod führen. In Amerika würde für eine vergleichbare Ingenieurleistung ein sehr erhebliche Schadenersatz fällig! Zur Zeit können wir, was die Genmanipulation anlangt, nur wenig mehr, als im Würfelspiel der Vererbung ein wenig den Würfel zu unseren Gunsten hin zu zinken. Definieren wir eine Art als eine Gruppe von Lebewesen, in der sich nur die Mitglieder untereinander kreuzen können, dann müssen wir bei den Bakterien von einer einzigen Art ausgehen. Denn Bakterien können beliebig untereinander ihre Gene tauschen und sie tun dies auch häufig und ungeregelt. Durch den sogenannten interzellulären Gentransfer und dem damit für das einzelne Bakterium verbundenen Erwerb von vererbbaren Eigenschaften erweitern und verändern Bakterien ständig ihr genetisches Potential. Die moderne Bakteriologie betrachtet die Bakterienwelt als einen einzigen Superorganismus, der auf den gesamten Genpool der Art Zugriff hat. Bakterien können sich so mit immensem Tempo an sich verändernde Umweltbedingungen anpassen, wenn nur irgendwo im gesamten Genpool das entsprechende Gen existiert. Die Resistenzbildung gegen Antibiotika ist eine solche für uns Menschen bedrohliche Anpassungsleistung. Dieser Gentransfer beschränkt sich aber nicht nur auf die Bakterien. Gentransfer über die Artengrenze hinweg wurde zwar noch nicht quantifiziert, aber dass er selbst bei Menschen auftritt, ist bewiesen. Viren betätigen sich dabei als Zwischenträger zwischen den Arten. Sie und möglicherweise mitgeschlepptes anderes Genmaterial lagern sich in das Genom von Lebewesen dauerhaft ein. Einige Biologen glauben, dass große Ballungen menschlicher DNS ehemals zwischengeschaltete Viren waren. Gentechnik ist bisher nichts Anderes als die Ausnutzung dieser Fähigkeiten von Bakterien, ihr Erbgut untereinander immer neu zu mischen. Der Unterschied zur natürlichen Vererbung besteht noch lange nicht darin, dass wir Menschen neue Eigenschaften in Genen kodieren können. Er besteht lediglich darin, dass wir gezielt 274
vorhandene Erbanlagen an bestimmte Stellen in den Chromosomen einschleusen, während das bei Bakterien zufällig, aber in großer Zahl passiert. Das Vorgehen, den Zufall in der Vererbung durch intelligente Konzepte zu ersetzen, ist ein wiederkehrendes Prinzip der Evolution, Intelligenz ist sozusagen die Antwort der Evolution auf die Zufälligkeit der Quantenmechanik. Die Entwicklung von Enzymen als erster Schritt auf dem Weg zum Organismus auf der Urerde gestattete das zielgenaue Zusammensetzen eines Moleküls. Gene fassten dieses Prinzip auf höherer Ebene zusammen und ersetzten damit die Zufälligkeit durch Baupläne. Neuronen, in einem Gehirn zusammengeschaltet, gestatten schließlich planvolles Handeln. Und sie gestatteten die Auswahl des Geschlechtspartners unter mehreren möglichen und dies ist auch nichts anderes als Genmanipulation. Die Möglichkeiten der Genmanipulation scheinen heute enorm und sie werden im hohen Maße unsere Zukunft bestimmen. Schon heute können wir Medikamente durch genetisch veränderte Lebewesen weit billiger herstellen als nach den üblichen industriellen Verfahren. Der Verbrauch von Pflanzenschutzmitteln wird durch die gentechnische Veränderung der Anbaupflanzen reduziert und hilft so, den Boden zu schonen und Energie einzusparen. Weitere Vorteile der Gentechnologie erwachsen dadurch, dass Pflanzen gezielt auf die Ernährung des menschlichen Metabolismus optimiert werden können, etwa durch Anreicherung von Vitaminen in Obst oder Gemüse. Langfristig kommt wahrscheinlich unsere gesamte Nahrung aus gentechnischen Laboren. Warum noch etwas so Unappetitliches tun, wie ein Rind zu schlachten, wenn man geschmacklich und auf die Nährstoffe hin optimierte Filets direkt in gentechnischen Anlagen aus Zellkulturen herstellen kann? Man würde sich nur unnötig der Gefahr aussetzen, blöd durch BSE zu werden. Der britische Staatsmann Sir Winston Churchill und ehemalige Premierminister von Großbritannien hat dies schon 1932 für die achtziger Jahre vorausgesagt: In fünfzig Jahren [...] werden wir uns von der Absurdität befreien, ein ganzes Huhn zu züchten, nur um die Brust oder den Flügel zu essen; Statt dessen werden wir diese Teile einzeln in einer Nährlösung heranwachsen lassen. Auch wenn der Zeitpunkt der Erfüllung längst verstrichen ist, bleibt diese Vorhersage höchst wahrscheinlich. Und wenn dieses erst möglich wird, wird der Genuss von echtem Fleisch schnell denselben Ekel in unserer Gesellschaft erzeugen, den wir heute verspüren, wenn wir uns vorstellen, Maden und Käfer zu essen. Unter den Eskimos gibt es keine Vegetarier, weil es für sie keine Alternative gibt. Sobald aber die Notwendigkeit entfällt, Tiere für das eigene Überleben zu schlachten, kann sich ein umfassender Altruismus gegenüber der Tierwelt durchsetzen, und diese werden dann nur noch zur Freude der Menschen gehalten werden.
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Gentechnologie und menschliches Genom Mit dem Entstehen der Vernunft vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in der Evolution, weg von der zufälligen Mutation und von der Selektion durch Konkurrenz hin zur Evaluierung von günstigen Merkmalen und ihrer Förderung. Langfristig werden ungünstige Merkmale im gemeinsamen Genom der Menschheit nicht mehr dadurch selektiert, dass die Evolution das Individuum an der Fortpflanzung hindert oder zum Verlierer stempelt, sondern indem wir diese ungünstigen Gene direkt mit Hilfe der Genmanipulation verändern. Dies ist die bei weitem „humanere Lösung“ und überdies langfristig eine notwendige, auch wenn viele von uns heute noch ein großes Unbehagen dabei beschleicht. Der Nobelpreisträger James Watson, Entdecker der Doppelhelixstruktur der DNS schrieb dazu in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Er glaube an einen Wertewandel in der Gesellschaft, der es in Zukunft als unmoralisch gelten lassen werde, die Geburt eines behinderten Kindes zuzulassen. Vielleicht werde es sogar strafrechtlich geahndet, wenn Eltern nicht verhinderten, dass ihre Kinder mit nur einer kleinen Chance auf ein Leben ohne psychisches und seelisches Leid auf die Welt kommen. In Frankreich gibt es dazu bereits ein Urteil. Einem Kind, dass aufgrund einer RötelInfektion der Mutter schwer behindert zur Welt kam, wurde Schadensersatz zugesprochen, weil die Mutter über das Risiko ihrer Schwangerschaft nicht ausreichend aufgeklärt worden war. Wie zweifelhaft das bestehende Recht in Deutschland ist, zeigt Watson am Beispiel des Paragraphen 218 hier in Deutschland auf: Nicht die zu erwartende Schädigung des Kindes selbst, sondern nur eine für die Mutter unzumutbare körperliche oder seelische Beeinträchtigung erlaubt das straffreie Abtreiben des Fötus. Die Auswahl günstiger und das Vermeiden ungünstiger genetischer Merkmale ist ein Grundthema der Evolution. Ein Großteil der Paarungsrituale im Tierreich haben das Motiv, über den Phänotyp des Partners dessen genetisches Potential abzuschätzen. Auf der Stufe der Menschen müssen wir bezogen auf die Partnerwahl durchaus von bewusster Genmanipulation sprechen, wenn das Verfahren auch mit starken Unsicherheiten behaftet ist. Schönheit ist weniger vom individuellen Geschmack bestimmt, vielmehr gibt es ein universelles Schönheitsideal, wie US-Psychologen herausgefunden haben: Schön sei, was als Signal für Gesundheit gilt, beispielsweise reine Haut oder kräftiges glänzendes Haar. Schöne Menschen haben mehr Erfolg und mehr Sexualpartner als die weniger gut aussehenden.26 Wir sind genetisch darauf festgelegt, Lebenspartner attraktiv zu finden, die in bezug auf mögliche Nachkommen möglichst fit sind. Wir betreiben damit mehr oder minder gezielte Genmanipulation, weil wir eben nicht einen x-beliebigen Lebenspartner wählen. Die Eugenika-Debatte bis in die Hitlerzeit hinein ging genau von dieser, dann allerdings staatlich verordneten und pervertierten Art von Genmanipulation aus. Wohlgemerkt, es geht bei der Genmanipulation nicht um lebensunwertes Leben, sondern um eine Alternative. Eine Frau wird in ihrem Leben in unserer westlichen Welt kaum a
Eugenik, abgeleitet aus dem Griechischen, bedeutet in der Medizin soviel wie: Erbgesundheitslehre, -forschung, -pflege. Der britische Naturforscher F. Galton bezeichnete 1883 damit die Wissenschaft von der Verbesserung des Erbguts.
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mehr als zwei Kinder zur Welt bringen. Da sollte sie schon dasselbe Recht an Auswahl haben, dass sich die Natur herausnimmt. Die Natur produziert in der Regel eine Unzahl von Alternativen, von denen nur ein paar letztlich zu Menschen werden. Jede Spermaprobe unter dem Mikroskop wird ihnen das vor Augen führen. Der Mensch ist schon lange Modelliermasse seiner selbst geworden: Chirurgen verändern alle äußeren und inneren Merkmale eines Menschen bis hin zur Geschlechtsumwandlung eines Individuums. Spezialisten fügen Erbmaterial von Frauen und Männern zusammen, die sich nie im Leben begegnet sind. Pharmakologen beeinflussen den menschlichen Geist bis hin zu einschneidenden Persönlichkeitsveränderungen. Und all dies nicht nur, um Unheil vom Menschen abzuwenden, sondern auch, um ihn schöner und leistungsfähiger zu machen. Über Empfängnis, Geburt, seelische Gesundheit und Tod entscheidet heute weitgehend nicht mehr ein „lieber Gott“, sonder Mediziner und Techniker. Das Tabu, in das menschliche Genom einzugreifen, wankt. Langfristig wird vermutlich kein Weg daran vorbei führen. Die natürliche Selektion wurde in unserer Gesellschaft aufgrund des sich durchsetzenden Altruismus in vieler Hinsicht außer Kraft gesetzt. Wir bringen missgestaltete Babys nicht mehr um, wie das in Wildbeutergesellschaften normal war. Kranke und schwache Menschen werden nicht mehr von Raubtieren gerissen, denn wir helfen ihnen. Diese Hilfsbereitschaft hatte die „normale“ Evolution bisher nur selten auf dem Plan. Aber früher oder später müssen unerwünschte Erbanlagen wie diejenigen korrigiert werden, die zur Erkrankung des entwickelten Menschen an zystischer Fibrose oder an Sichelzellenanämie führen. Mir erscheint es wahrscheinlich, dass die Reparatur von Gendefekten von der UNO quasi als Weltgesundheitsaufgabe betrachtet werden wird, wie es bei Impfprogrammen heute schon der Fall ist. Und dies werden sicher dann auch Eltern begrüßen, deren Kinder an Neurodermitis leiden. Wissenschaftler haben in einer europaweiten Studie eine Genregion auf Chromosom drei identifiziert, die ein Krankheitsgen für die Anfälligkeit dieser Autoimmunkrankheit enthält.27 Bob Edwards jedenfalls prognostiziert, dass es bald eine Sünde sein wird, wenn Eltern wider besseren Wissens ein Kind mit einer schweren Behinderung auf die Welt bringen. Die Diskussion über Genmanipulation wird, meist ungetrübt von übermäßig viel Fachwissen, äußerst erbittert geführt. Aber es bleibt anzumerken, dass die Natur, auf die sich berufen wird, eben nicht zulässt, dass sich ungünstige Merkmale in einem Genom etablieren. Wenn wir uns auf das Naturrecht stützen wollen, so müssen wir uns auf die Frage einlassen, was die „Natur“ nicht dulden würde, wir aber aus „humanistischen Überlegungen“ heraus gegen die „Natur“ zulassen: Tay-Sachs-Syndrom, Muskeldystrophie oder Chorea-Huntigton erledigen sich in einer steinzeitlichen Kultur relativ rasch von selbst. Kinder mit offensichtlichen Missbildungen wurden in solchen Kulturen in aller Regel nach der Geburt umgebracht. Dagegen erscheint mir eine Gentherapie durchaus als fortschrittlich. Die Gegner der Gentherapie hoffen wahrscheinlich, dass ihr „Nichttun“ sie vor jeglichen moralischen Verpflichtungen bewahrt. Allerdings ist es, wie Gerhard Trageser es in einem Spektrum-Essay formulierte, wohl eher der blanke Zynismus der Erbgesunden.
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Der Traum vom Design-Menschen Wahrscheinlich kennen Sie den Film Frankenstein, möglicherweise sogar den von 1931, in dem Boris Karloffa das Monster gibt - kein sehr schöner Anblick. Irgendwie assoziieren wir schnell Monströses, wenn der Mensch sich das anmaßt, was nach der Bibel eigentlich Gottes Werk ist. Wir trauen uns da nur eine Stümperrolle zu. Dabei steht dies außer Zweifel: Während die Evolution das gesamte Organismenreich über „Versuch und Irrtum“ hervorgebracht hat, ist zum ersten Mal mit dem Menschen jemand in der Lage, diese Entwicklung intelligent zu steuern. Trotzdem stimmt das Argument stümperhaft bis auf Weiteres, denn in Wirklichkeit sind unsere Möglichkeiten, Genome gezielt zu verändern, relativ beschränkt. Sicher haben Sie schon einmal Mikado gespielt: Das Spiel mit den wild durcheinander liegenden Holzstäbchen, von denen man immer eins derart herausziehen muss, dass nur kein anderes Stäbchen dabei wackelt. Genmanipulation eines Lebewesens ist Mikado in verschärfter Form. Sie müssen nicht nur ein Stäbchen herausziehen, sondern ein anderes Stäbchen anschließend genau an diese Stelle hinlegen, ohne dass die anderen Stäbchen davon berührt werden. Sicher ist es möglich, eine beliebige Sequenz in einem Genom auszutauschen. Nur stehen die einzelnen Gene in einer sehr subtilen Abhängigkeit zueinander. Nehmen wir ein Auto. Versuchen Sie einmal, ein beliebiges Teilchen des Vergasers gegen das eines anderen Autotyps auszutauschen. Wahrscheinlich fährt das ganze Auto hinterher nicht mehr. Allerdings, das geht problemloser: Sie können das Auto in einer anderen Farbe lackieren. Es ist unwahrscheinlich, dass man mehr als die marginalen, nur ein einziges Merkmal ausprägenden Gene austauschen kann. Im Rahmen des Genom-Projekts zur Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes stellte sich heraus, dass der Mensch über recht wenige Gene verfügt, lediglich über 30 000 bis 100 000 Einheiten. Damit scheint klar, dass jedes Gen mehrere Aufgaben übernimmt, was eine Veränderung am Genom vorerst zu einem Roulettspiel macht. Das Genom des Menschen zu kartieren ist lediglich ein Anfang. Die wahren Probleme fangen erst an, wenn wir verstehen wollen, wie das Zusammenspiel und die Abfolge der einzelnen Gene beschaffen ist. Und auch dann greifen diese kleinen Rädchen lediglich in größere Rädchen und diese in noch größere Rädchen, bis dann schließlich ein Organismus entsteht und funktioniert. Wir haben einige Verhaltensweisen, die nicht mehr unbedingt zu unserer Zivilisation passen. Stress ist solch ein phylogenetisches Erbe, das uns in unserer Gesellschaft eher beutelt als nützlich ist, und auch unser Aggressionsverhalten. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass Aggressivität, auch wenn wir sie häufig als böse und unangepasst verstehen, sich über Genmanipulation ausmerzen ließe, selbst wenn sie rein genetisch bedingt wäre. Das menschliche Verhalten ist zwar in Teilen genetisch induziert, aber von so hoher Komplexität, dass einfache Justierung am genetischen Ausgangsmaterial keine a
Der englische Schauspieler Boris Karloff (*1887; †1969) hieß eigentlich William Henry Pratt. Er war wohl der Schauspieler des Gruselfachs überhaupt. So spielte er u. a. auch die Mumie in dem gleichnamigen Film.
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vorhersehbaren Ergebnisse liefern würde. Ein aggressionsloser Mensch wäre darüber hinaus weder ein Mensch noch überhaupt lebensfähig: Wir wissen heute mehr denn je, dass die Natur ein hochkomplexes Ganzes ist, das gezielte Erzeugung eines neuen Menschentyps ausschließt,28 behauptet der Bonner Philosoph und Bioethiker Ludger Honnefelder in einem Spiegelinterview, und dieser Meinung schließe ich mich an. Durch und durch auf dem Reißbrett zusammengestellte Kinder widersprächen der Evolution in fundamentaler Weise: Das Ziel jedes existierenden Organismus auf der Erde war seit Anbeginn, einen größtmöglichen Anteil an eigenen Genen weiterzuvererben, mit der Betonung auf eigene. Zu diesem nämlichen Zweck wurde der Sex und die Brutpflege erfunden. Bei den Tikopia und Yanomami verlangt der Ehemann, wenn er eine Frau nimmt, die bereits Kinder hat, dass diese getötet werden.29 Untersuchungen über die schlechtere Behandlung von Stiefkindern im Vergleich zu den eigenen Kindern deuten in dieselbe Richtung und zeigen, wie elementar das Streben nach der Weitergabe der eigenen Gene im Menschen verwurzelt ist. Die eigenen Kinder werden in der Regel allen anderen Kindern vorgezogen. Und genauso werden die Kinder mit den eigenen Genanlagen Kindern mit beliebigen künstlich zusammengestellten Genanlagen vorgezogen werden, und daran wird sich wohl auch nichts ändern. Genmanipulationen an der menschlichen Keimbahn werden wahrscheinlich immer nur graduell zur Verbesserung einiger Merkmale der Nachkommenschaft erfolgen und so die zufällige Mutation und unmenschliche Selektion durch ein äquivalentes, intelligentes und humanes Verfahren ersetzen. Durch die Genmanipulation entstehen große moralische Herausforderungen. Der Molekularbiologe Lee Silver weist darauf hin, dass einer der Urtriebe der Menschen der Wunsch sei, dem eigenen Nachwuchs alle erdenklichen Vorteile mit auf den Weg zu geben.30 Wenn der Mensch dies kann und die Evolution ihm diesen Trieb vererbt hat, kann ich nichts Amoralisches daran finden, da es doch dem Wohle unserer Nachkommenschaft dient. Möglicherweise sind Kinder uns einfach zu wichtig, als dass wir sie auf Dauer von der zufälligen Begegnung einer Eizelle mit einem Spermium abhängig machen wollen. Wir alle suchen uns unsere Geschlechtspartner nach genetisch angelegten Mustern aus: Heterosexuell veranlagte Männer bevorzugen rundliche, nämlich weibliche Formen, heterosexuell veranlagte Frauen mögen ein breites Kreuz und einen „knackigen“ Po, wenn man den Umfragen trauen darf. Wie sehr uns das „genetische Potential“ bis in unser tägliches Leben hinein beeinflusst, zeigt eine Studie der Londoner Guildhall Universität: Die Wissenschaftler untersuchten die Karrierechancen von über 10 000 Männern und Frauen im Alter von 33 Jahren und stellten fest, dass „gut aussehende“ Männer im Durchschnitt 1000 DM mehr verdienen, als unattraktive Altersgenossen.31 Doch wieder ist hier die Frage zu sehen, was das Gute denn ist: Anhand der SilikonBusen, die vor allem in Amerika immer monströsere Formen annehmen, möchte ich ein daraus erwachsendes gefährliches Moment der Genmanipulation darlegen, zunächst mit einer Analogie aus dem Tierreich. Die Biologen nennen es „übernormale Reizerkennung“: Die Weibchen des Argusfasans paaren sich bevorzugt mit Männchen mit besonders großen Prachtschwingen. Der Argusfasan hat im Konkurrenzkampf um die Weibchen mit 279
der Zeit so große Armschwingen erworben, dass er kaum mehr fliegen kann. Die Weibchen würden zweifellos Fasane mit noch größeren Schwingen als Gatten wählen, Männchen, die flugunfähig wären und nur noch über ihre Armschwingen stolpern würden. Denn der Reiz der besonders großen Flügel ist überwältigend für die Fasanenfrau, da achtet sie nicht so sehr auf Ergonomie. Nun gibt es einen einfachen Grund, warum es keine flugunfähigen, mit enormen Sex-Appeal ausgestatteten Fasane gibt: Solche Mutanden wären leichte Beute für Raubtiere. Weibchen können also nach noch so großen Armschwingen Ausschau halten, die Natur verhindert auf andere Weise, dass die Männchen zu große Schwingen entwickeln. Die gesamte Schönheitsindustrie, so vermutet Edward Wilson, mache nichts anderes, als Mittel zur übernormalen Reizerkennung zu produzieren: Lidschatten, und Wimperntusche vergrößern die Augen, Lippenstift lässt die Lippen voller erscheinen, Make-up insgesamt macht die Gesichtskonturen weicher und damit jugendlicher.32 Und ähnlich mag es mit dem Sex-Appeal von übergroßen Busen sein. Übergroße Busen sind für eine Frau eine Last im wahrsten Sinne des Wortes: Frauen mit übergroßen Brüsten wären im „natürlichen“ Überlebenskampf wahrscheinlich unterlegen, weil sie vor Kreuzschmerzen kaum noch ihre Kinder tragen könnten. Die Gefahr in unserer Zivilisation ist darin zu sehen: Statt seiner Tochter in der Pubertät ein Silikon-Busen zu spendieren, lässt sie ein Vater gleich genetisch nach einem solchen Schönheitsideal designen. Dies hätte sicherlich noch unabsehbarere Folgen für die Gesundheit, als eine operative Brustvergrößerung. Wir haben Gott als denjenigen, der uns mit Krankheit schlägt, weitgehend ausgeschlossen. Und wir haben uns seine ihm von der Kirche zugeeigneten Fähigkeiten in bezug auf das Leben zum Teil selbst angeeignet. Nach der These dieses Buches sind wir Teil einer Entwicklung, die irgendwann die höchste Instanz der Ethik, Gott, hervorbringen wird. Und wir selbst werden Teil dieser umfassenden Wesenheit sein. Nach dieser These ergibt sich unsere direkte Verantwortung gegenüber unserer Nachkommenschaft. Weil wir Teil der Entwicklung sind, sind wir auch Teil der Verantwortung, die wir nun, einfach weil wir die Fähigkeiten erworben haben, ausfüllen müssen: Wir sind nun selbst verantwortlich für unser Erbgut geworden, ob wir es wollen oder nicht.
6.7
Cybernauten
Die Omega-Punkt-Theorie führt uns in zwei gewaltige Abenteuer, auf die sich die Menschheit gerade erst begibt: Die Eroberung des Weltraums und die Eroberung des Cyberspace. Beide Abenteuer zu bestehen ist Voraussetzung für das Entstehen des Wesens, das gegen Ende des Universums die Geschichte aller Weltenlinien kodieren wird und uns damit wieder auferstehen lässt. Die Astronauten bereiten uns den Weg hinaus in die unendlichen Weiten des Universums, denn nur durch die Besiedelung des Weltalls wird das Leben einen „gottähnlichen“ Computer bauen können, der das Universum so steuern wird, dass es in Taub-Kollapse zusammenstürzt und damit die Eigenzeit im Universum ins Unendliche divergiert. Die Cybernauten erkunden den Weg in die virtuelle Welt. Denn ohne Kenntnisse über den Cyberspace könnten die Lebewesen des Universums nicht als virtuelle Wesen wieder auferstehen. 280
Die Evolution zeigt, dass sich der Baum des Lebens immer weiter verzweigt hat. Daher können wir annehmen, dass sich auch die Menschheit in verschiedene Zweige teilen wird, und dies sicher nicht entlang politischer oder linguistischer Grenzen und nicht begleitet von körperlichen Merkmalen wie schwarzer Haut oder mandelförmiger Augen. Die verschiedenen Zweige werden sich in Abhängigkeit von ihren unterschiedlichen ökologischen Nischen abspalten. Zwei Linien möchte ich hier vorhersagen: Die eine Nische wird die Informationsverarbeitung und ihre Wechselwirkung mit den beteiligten Menschen sein: Der virtuelle Raum. Ein anderer Zweig der Menschheit wird sich auch räumlich von der heutigen Menschheit trennen und ich will sie hier Abenteurer nennen. Abenteurer zeichnen sich durch ihre Begeisterungsfähigkeit aus, mit der sie ihre weit gesteckten Ziele verfolgen. Und sie sind in der Lage, diese Ziele in hochentwickelter Kooperation mit anderen Menschen, mit der Bio- und der Technosphäre zu erreichen. Internet Über die Konsequenz, als Emulation aufzuerstehen und in diesem Zustand ewig weiter zu leben, können wir vorerst nur spekulieren. Aber dieser Zustand ist einer wissenschaftlichen Erforschung durchaus zugänglich. Wir werden schon in absehbarer Zeit viel über das Leben als Emulation in einem Computer, über das Leben in virtuellen Welten erfahren und lernen. Fortschritt in der Evolution ist gleichbedeutend mit dem Anstieg der Menge und der Qualität von Informationen und Kommunikation. Die in der Biosphäre gespeicherten Informationen haben sich mit der Zeit vergrößert, die Kommunikationssysteme deutlich verbessert. Wir sind gerade Zeitzeugen eines bedeutenden Evolutionssprungs, ausgedrückt durch die Effizienzsteigerung der Informationsspeicherung und -verarbeitung mit dem Computer. Dazu tritt die Vernetzung über die ganze Welt: Mit dem Internet bekommt die Welt ein globales neuronales Netz aus Computern, das früher oder später das gesamte Wissen der Menschheit enthalten wird. Das bestimmende Ereignis dieses Jahrhunderts wird die Vernetzung von allem mit allem sein. Diese Vernetzung wird eine neue Form von kollektivem Bewusstsein hervorbringen. Es entsteht ein globaler Gedankenraum, in den Menschen mehr oder weniger intensiv eintauchen werden - einige vielleicht bis hin zur Aufgabe ihres materiellen Seins. Spätestens dann wird klar, dass und wie es möglich sein wird, eine Person zu emulieren, sie vollständig als Programm in einem Computer abzubilden. Das Internet entwickelt sich zum Weltgehirn der Technosphäre. Die einzelnen Computer übernehmen dabei die Rolle der Neuronen des aufkeimenden Weltbewusstseins. Die über die ganze Welt verteilten Computer stehen über Signalleitungen miteinander in Verbindung. Ihre Speicher werden mehr und mehr mit dem gesamten Wissen der Menschheit angefüllt. Das Netz verfügt über Sensoren wie Mikrophone oder Videokameras, um die Außenwelt wahrzunehmen. Es verfügt über Messfühler, um zum Beispiel Temperatur oder Strahlung zu registrieren. Schon bald werden wir Menschen mit dem Internet über Spracheingabe und -ausgabe kommunizieren.
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Schließlich hat das Internet seine Krankheitskeime wie Computerviren und sein Immunsystem, das gegen die Infizierung arbeitet. Netzagenten, kleine Programme, die selbständig im Internet auf Geheiß eines Menschen nach Informationen suchen, verständigen sich mit anderen Netzagenten: Das Internet entwickelt erste Anzeichen von autarken Aktivitäten. Über kurz oder lang werden im Internet viele Dinge hervortreten, die wir, als bloße Nutzer des Netzes, nicht erwarten, nicht verstehen, nicht kontrollieren können - oder überhaupt nicht wahrnehmen werden. All dies sind erst die Anfänge einer Entwicklung, die einen völlig neuen immateriellen Raum schaffen wird. Das Internet als Gedächtnis des gesamten Wissens der Menschheit und als Plattform der weltumspannenden Kommunikation wird einen virtuellen Raum (Cyberspace) schaffen, der eine ähnliche Realität erlangen wird, wie unsere jetzige materielle Welt. Weltdenken Unser Bewusstsein setzt sich offensichtlich aus Einzelteilen zusammen, aus Signalen aus unterschiedlichen Gehirnregionen, welche über Synapsen verbunden sind. Kein einzelnes Neuron ist in der Lage, zu verstehen, was das Gehirn als Ganzes denkt. In einem Bienenstaat hat nicht einmal die Königin die Fähigkeiten, den Staat zu steuern. Die Individualintelligenz der Bienen wird von der kollektiven Intelligenz des Staates bei Weitem übertroffen. Dies ist ein sehr interessanter Aspekt, wenn man ihn auf das Internet überträgt: Das Internet ist ein komplexer Zusammenhang unbestimmter Form, sich weitgehend selbst steuernd und evolvierend. Kevin Kelly vermutet, dass uns Menschen nicht bewusst sein wird, worüber in diesem Weltgehirn nachgesonnen wird. Nicht weil wir nicht intelligent genug dafür sind, sondern weil der Aufbau des Internets es nicht ohne Weiteres erlaubt, dass Teile das Ganze verstehen. Wir Nutzer sind dabei genauso Teil des Internets wie die angeschlossenen Computer. Die eigentümlichen Gedanken des globalen Gehirns, und seiner daraus resultierenden Handlungen, werden außerhalb unserer Kontrolle und jenseits unserer Verstandeskräfte liegen. Cyberspace Ohne dass es uns bewusst ist, leben wir in einer ausgesprochen virtuellen Welt: Viele Teile unseres Daseins existieren lediglich als Informationen ohne Ausprägung in der materiellen Welt. Dazu gehören unsere Gedanken und Gefühle und natürlich unsere Träume. Träume sind purer Cyberspace. Die Frage „wache ich oder träume ich?“ zeigt, wie real uns virtuelle Wirklichkeit vorkommen kann. Zur virtuellen Welt gehören sämtliche Beschreibungen über diese Welt, sei es als Nachricht in der Zeitung, als Roman oder als Film. Und dann gibt es noch das Telefongespräch, Radio, Fernsehen, und Computerbildschirme. Das revolutionäre Moment von Intelligenz scheint zu sein, dass sich unser Geist in einem mehr und mehr virtuellen Umfeld aus Informationen bewegt: Religionen wie der Katholizismus erstrecken sich gar nicht mehr auf eine materielle Wirklichkeit. Ein Kunstwerk entfaltet sein künstlerisches Wesen erst im Empfinden des Betrachters. Und 282
auch Wissenschaft und Technik sind hochgradig abstrakt: Geisteswissenschaften drücken dies schon mit ihrem Namen aus. Aber auch die Technik fußt wesentlich auf Formeln und Blaupausen, also auf Informationen über die Technik. Erst nach einem komplizierten Fertigungsverfahren, in dem Kommunikation und Wissen die wesentlichen Momente sind, können fahrbare Autos entstehen. Zu all diesem gesellt sich jetzt das Internet mit völlig neuen Möglichkeiten. Die erste, schon verwirklichte ist, dass unsere materielle Grundlage eine mächtige Schattenwelt im Cyberspace bekommen hat. Geld, das bekanntlich die Erde in Rotation hält, hat seine materielle Gestalt schon fast aufgegeben. In der Steinzeit tauschten unsere Vorfahren noch Ware gegen Ware. Handel wurde schon sehr viel abstrakter mit der Einführung von Goldmünzen. Dann wurde das Papiergeld eingeführt. Tausend Euro als Aufdruck auf einem Papier ist kaum noch als real in dem Sinne zu empfinden, als dass es den Gegenwert zu einem Diamanten, wenn auch einem kleinen, darstellt. Aber selbst diese gedruckte Realität hat sich verflüchtigt. Gelder sind nur noch kodierte Ziffern in Computern und können mit Lichtgeschwindigkeit um den ganzen Erdball transferiert werden. Wir bekommen keine Lohntüte mehr, sondern eine Überweisung auf unser Konto. Wir zahlen mit der Scheckkarte. Und dank des Internets können wir am Computer einen Einkaufsbummel durch Karstadt machen und auch dort bezahlen. Nur die Ware materialisiert sich dann doch über den Postweg. Erweiterte Realitäta ist ein anderes neues Schlagwort. Der Nutzer bekommt über Datenbrille ergänzende Informationen eingespielt, zum Beispiel einen Stadtplan mit seinem darin verzeichneten Standort, wenn er sich in einer fremden Stadt zurechtfinden muss. Diese Technik wird schon in naher Zukunft viele Arbeitsbereiche erobert haben. Aber das ist erst der Anfang des heraufdämmernden Cyber-Zeitalters. Bald werden wir uns mittels Datenhelm oder Datenanzug in rein virtuellen Landschaften bewegen können, oder durch Fernsehbilder, die ein Roboter vom Mars zur Erde funkt. Bei der NASA wird bereits geprüft, ob das Astronautentraining nicht wenigstens zum Teil in der virtuellen Realität durchgeführt werden kann. Aufwendige Nachbauten von Raumstationen für die Simulation auf der Erde könnten so eingespart werden. Das Verfahren wurde bereits 1995 zum ersten Mal eingesetzt, um an der Ladebucht des Space-Shuttles einen technischen Ablauf zwischen einem deutschen und einem amerikanischen Astronauten einzuüben. Ein defekter Solarstromgenerator sollte ausgetauscht werden Beide Astronauten operierten von ihren Heimatländern aus mittels Datenhelm und Spezialstuhl und verabschiedeten sich nach der erfolgreichen Erledigung der gestellten Aufgaben mit einem virtuellen Händedruck.33 NASA-Chef Goldin sieht sogar einen Großteil der zukünftigen Weltraumforschung im Cyberspace: Im All wie auf fernen Planeten müssen wir virtuell präsent sein.34 Kevin Kelly beschreibt seinen ersten Rundgang in einer Cyberwelt als überaus reale Erfahrung. Er war mit einem Datenanzug in eine virtuelle Welt des CyberspaceKonstrukteurs Jaron Lanier eingetreten. In dieser virtuellen Welt gab es unter anderem a
Das Fachwort hierfür lautet: augmented reality.
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einen kleinen Eisenbahnzug mit einem Ring aus Schienen. Wenn er den Zeigefinger seiner Hand, die er als aus winzigen polygonalen Blöcken zusammengesetzt sah, in eine bestimmte Richtung streckte, begann er dahin zu schweben. Er konnte sich auf die Lokomotive setzen. Er bewegte einen großen Hebel und fuhr ein paar Runden. Schließlich sprang er ab. Dort wo ein Zylinderhut mit der Öffnung nach oben lag, bückte er sich und plötzlich verwandelte sich der Zylinder in einen weißen Hasen. Vom Holodeck eines Enterprice-Raumschiffes sind wir offensichtlich also nicht mehr besonders weit entfernt. Leben im Cyberspace Bereits die Simulation von Robert Axelrod zur Lösung des „Wie-du-mir-so-ich-dir“ Problems war gewissermaßen die Simulation eines Ökosystems. In Robert Axelrods Computerturnier wirkte als treibende Kraft der Evolution das Selektionsprinzip: „möglichst hohe Punktzahl“. Die verschiedenen Strategien konkurrierten als Softwarewesen um Existenz, also um Speicherplatz und Rechenzeit. Heute wird die virtuelle Welt als neuer Lebensraum bereits durch eine ganze Anzahl von nur dort existierenden Lebewesen bevölkert, die ebenso wie in der realen Welt ökologische Nischen besetzen. FinFin, ein von der japanischen Firma Fujitsu entwickeltes Computerprogramm, wurde als eines der ersten Haustiere für den Besucher der virtuellen Welt konzipiert (Abbildung 25). Von der Gestalt her ist es ein Wesen, irgendwo zwischen Vogel und Delfin angesiedelt. Über ein Mikrophon, das an den Computer angeschlossen wird, vernimmt das Programm Geräusche, die außerhalb des Computers entstehen, verarbeitet diese und setzt sie in Aktionen um. Mit einem lauten Geräusch erschrickt man FinFin, und es flüchtet in sein Nest, redet man mit ihm, fängt es an, vor sich hinzuzwitschern. Vielleicht mag dies noch sehr primitiv sein, vor allem sind diese Computerwesen noch wenig autark. Aber es könnte durchaus das Aufdämmerung einer phantastischen neuen Welt sein, die, wenn man sie in einem Cyberanzug gehüllt betritt, ebenso real erscheinen wird, wie unsere materielle Welt. Abbildung 25: Das Computerwesen Finfin. Die Animationen wurden von der FUJITSU Computer GmbH entwickelt.35
Virtuelle Wesen bekommen bereits sehr konkrete Bedeutungen. Das zeigt das Beispiel der Norns aus dem Computerspiel: „Creatures“ von Stephen Grand (Abbildung 26). Das Spiel ist eine Simulation einer biologischen Lebewelt: Norns haben einen Stoffwechsel, sind lernfähig und könne ihr erworbenes Wissen an ihre Nachkommen weitervererben. 284
Abbildung 26: Norns aus dem Computerspiel: „Creatures“ von Stephen Grand. Ein Exemplar in einer Bananenpflanze (links) und ein NornPäärchen, das sich küsst (rechts).
Wie ein Norn Entscheidungen trifft, sei an einem kleinen Beispiel verdeutlicht: 1. Der Norn kommt an einer Banane und an einem Jojo vorbei. Da er gelernt hat, dass Bananen essbar sind und er Hunger verspürt, greift er sich zunächst die Banane, pellt und isst sie.
2. Die Banane wird verdaut und es entsteht Glucose, die zum Teil gespeichert wird. Gleichzeitig reduziert ein Botenstoff das Hungergefühl. Die Glucose liefert die Energie u. a. für die Muskeln und für das Immunsystem.
3. Der Norn ist nun „satt“. Jetzt gewinnt sein Bewegungsdrang an Priorität und das Jojo wird interessant. Er fängt an zu spielen. Der Botenstoff, der den Bewegungsdrang erzeugte, wird während des Spiels abgebaut: Das Jojo wird mit der Zeit „langweilig“. 4. Das Spielen verbraucht außerdem Glucose. Also schmelzen die Glucosevorräte und das Hungergefühl wird stärker. Der Norn legt das Jojo weg und geht auf die Suche nach neuen Bananen.
Das militärische Forschungsinstitut DERA im englischen Bedford benutzt eine Spezialversion dieses Programms dazu, für ihre Flugsimulatoren Piloten zu züchten. Dazu setze man diese virtuellen Pelztierchen mit einem virtuellen Flugsimulator, brachte das Flugzeug für sie auf ein Paar tausend Fuß Flughöhe und nahm die Hände vom Steuer. Natürlich stürzten zunächst alle Norns ab. Aber aus dem „Erbgut“ von denjenigen, die sich am längsten in der Luft hielten, zog man Nachwuchs heran. Die Norns beherrschen den Lamarkschen Trick, Erfahrungen vererben zu können! Die Piloten der vierhundertsten Generation sollen schon wie der Teufel36 fliegen, wie der Spiegel berichtet. Dieser Versuch bietet interessante Perspektiven: Nimmt man statt des Simulators einen richtigen Bomber und lässt ihn von einem Norn fliegen, kann man sich den Bomberpiloten sparen. Der Computerspezialist der DERA, Simon Hancock, denkt zumindest in diese Richtung: Man bräuchte kein Cockpit, die Flugzeuge könnten kleiner und wendiger gebaut werden und dem Piloten würde bei scharfen Kurven nicht schwarz vor Augen. Möglicherweise können Norns auch noch besser fliegen, als jeder menschliche Pilot. 285
Bomber ohne Piloten, sogenannte Drohnen, die nur von Computern gesteuert werden, befinden sich bereits in der Erprobungsphase bei den Amerikanern. Ziel des Pentagon ist es, künftige Kriege ohne eigene Opfer führen zu können. Macht es die Gegenseite genauso, kann man sich im Prinzip auch noch die Bomber sparen. Man lässt einfach die Simulatoren gegeneinander antreten: Wer dort gewinnt, würde auch in der Realität gewinnen, und man spart nicht nur Menschenleben sondern auch noch viel Geld. Ein ambitionierteres Beispiel für die Entwicklung einer virtuellen Welt ist der Versuch, einen Salamander in seinen gesamten Lebensäußerungen wie Bewegung, Beutesuchen und Paarungsverhalten im Computer zu emulieren. Wissenschaftler der Universität Bremen versuchen dazu im Projekt Simulander, die Raumorientierung eines Schleuderzungensalamanderns im Computer nachzustellen. Virenwelten Wie ähnlich die aufdämmernde virtuelle Welt der realen Welt ist, verdeutlichen die Computerviren. Sie sind wie die realen Viren einfach aber raffiniert aufgebaut. So sind sie auf andere, höher entwickelte Programme angewiesen, wie die realen Viren auf höhere, weiterentwickelte Organismen. Sie vermehren sich mit Hilfe fremder Software. Ebenso wie die wirklichen Viren nicht jeden Organismus befallen können, können sie nicht jedes Programm infizieren und sie richten sehr unterschiedlichen Schaden in ihrer Welt an. Unter dem Druck dieser Virenattacken entwickelt sich im Internet ein entsprechendes Immunsystem. Neue Software entsteht, die nur den Zweck hat, Virenattacken abzuwehren oder befallene Software wieder von der Virenbrut zu befreien. Die Hardware wird so eingerichtet, dass spezielle Computer als sogenannte Firewalls die ein- und austretenden Datenströme auf Krankheitskeime hin untersuchen und diese am Eindringen hindern. Die Computerforscherin Stephanie Forrest von der Universität New Mexico arbeitet an einer Virenabwehr, die, ganz analog zu den Lymphozyten in unserer Blutbahn, als kleine Datenpakete im Internet zirkulieren. Sie sollen sich dort vermehren und lernen, Viren aufzuspüren und zu vernichten. Nur erfolgreiche digitale Antigene vermehren sich und überleben langfristig. Auf diese Weise entsteht sogar ein autonomes Immunabwehrsystem gegen Computerviren. Aber wie das Leben selbst sind Computerviren robust, zäh und fast beliebig anpassungsfähig und wandelbar. Jede Woche werden mehrere Duzend Computerviren erzeugt. Jedes ist in seiner Weise virulent geblieben. Der Unvollständigkeitssatz von Gödel beweist, dass uns Computerviren wahrscheinlich solange begleiten werden, wie es Computer gibt. Wir im Cyberspace Virtuelle Welten sprießen im Internet wie Brennnesseln aus überdüngtem Boden. MUDSpiele, nach einem der ersten Rollenspiele „Dungeons an Dragons“ Multi-User-DungeonSpiele genannt, ziehen zeitgleich Hunderte von Spielern in ihren Bann. Am Eingang dieser virtuellen Schlösser schlüpft man in eine Rolle, etwa: John ist männlich, 185 cm, lange blonde Haare und Zauberlehrling. Die meisten Spiele sind noch textorientiert. Aber 286
es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir, ausgerüstet mit einem Datenanzug, mit allen unseren Sinnen in visuelle Welten eintauchen können. Als Spieler betritt man einen Raum, der Computer beschreibt ihn als Verlies, mit einem hoch angebrachten Gitter, durch das Licht fällt. Ein Gang führt nach Norden aus dem Verlies. Ein Schädel liegt auf der Erde, und - man ist nicht allein: Gitta, schwarzhaarig mit sportlicher Figur, eine Hexe warnt den Ankömmling, den Schädel zu berühren, weil sich dann eine Falltür öffnet. Sie hat es gerade erst geschafft, aus dem darunter liegenden Gefängnis zu entkommen und will jetzt in den Nordgang eindringen: „Haben Sie Lust, mitzukommen, John?“ Die beiden dringen tiefer und tiefer in die Burg ein, bestehen zusammen Abenteuer und treffen dabei immer wieder auf andere Mitspieler. Die Cyber-Wirklichkeit wird eine enorme Anziehung ausüben. Wie vollkommen ein Cyberspace aussehen kann, können Sie sich im Kino angucken. Ich empfehle Matrixa, einen Film, der sich mit der Thematik des Cyberspace beschäftigt. Für Trickfilme werden Figuren nicht mehr gezeichnet sondern in Gleichungen zerlegt. Gefühlsäußerungen sind eine Modifikation der Gesichtsgleichungen, Bewegungen werden berechnet und dann von diesen Figuren ausgeführt. Man verleiht ihnen damit eine gewisse Autarkie, und Kevin Kelly nennt sie daher einfache Roboter ohne echten Körper. Denken wir uns dies noch ein bisschen weiter, so kommen wir ganz zwanglos zu einer sehr interessanten zusammenlaufenden Entwicklung: Virtuelle Personen, Roboter, ausgestattet mit „künstlicher Intelligenz“, aber lediglich als Emulation, also ohne echten Körper, treffen im Cyberspace auf menschliche Cybernauten.
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Astronauten Wenn die Erde die Wiege der Menschheit ist, so heißt dies nichts mehr als, dass wir sie irgendwann verlassen müssen. (Unbekannt)
Das Universum ist homogen und isotrop. Dies ist die Grundannahme der Kosmologie. Homogen bedeutet, dass die physikalischen Gesetze nicht nur auf der Erde oder im Sonnensystem sondern im gesamten Universum gültig sind. Alle Newtons des Universums können auf ihren Planeten dieselbe Beobachtung machen, dass der Apfel vom Baum auf die Erde fällt. Isotropie besagt, dass ein Beobachter in allen Raumrichtungen, im kosmischen Maßstab betrachtet, praktisch das Gleiche sieht. Das Universum ist vorne nicht kürzer als hinten, und rechts sehe ich genauso viele Sterne wie links. Der Unterschied in der Verteilung der Materie über die Entfernung von zehn Milliarden Lichtjahren hinweg betrachtet, liegt im Mittel bei weniger als einem Zehntausendstel! Im ganzen Universum gibt es keine einzige Region, die sich gegenüber anderen Regionen durch irgend etwas auszeichnet: Insbesondere ist unser Planet Erde nichts Besonderes: Wir sind nicht der Mittelpunkt der Schöpfung. Diese Vorstellung ist im Denken der Menschen relativ neu. Und sie kränkt uns nicht nur, sondern eröffnet uns ungeheure Chancen: Sie eröffnet uns die Perspektive, in die unendlichen Räume des Kosmos vorzustoßen und diese zu besiedeln. Denn überall, wo a
Der Film kam im Jahr 2000 in die Kinos
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wir hinkommen finden wir dieselben physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Da diese Gesetzmäßigkeiten bereits zu unserem Wissensschatz gehören, können wir die Zustände dort genauso manipulieren und überlisten, wie wir das hier auf der Erde tun. Homogen und isotrop heißt nichts Anderes, als dass wir in großen Teilen des Universums überleben können. Dies sind wahrlich gute Voraussetzungen dafür, das Universum zu kolonisieren. Nach der Omega-Theorie von Frank Tipler verbirgt sich hinter dem Streben nach Ausbreitung, das wir überall in der Natur beobachten können eine Teleologie: Um ewig im Universum überleben zu können, müssen wir lernen, das gesamte Universum gezielt zu manipulieren. Abenteurer Harter entbehrungsreicher Einsatz für ein Ziel, das nur über mutiges Bestehen großer Gefahren und gegenseitige Hilfe unter Missachtung des eigenen Lebens erreicht werden kann, besaß in der Geschichte der Menschheit hohen Selektionswert. Neue ökologische Nischen zu erschließen, konnte den Nachkommen von Abenteurern einen bedeutenden Selektionsvorsprung sichern: Als die Nachfahren der Australopitheca afarensis, Lucy, europäischen Boden betraten, sicherten sie sich mit diesem Schritt für ihre Nachkommen den gesamten Rest der Welt außer Afrika. Es war ein kleiner Schritt für einen namenlosen Primaten, aber ein großer Schritt für die Menschheit. Es war mutiges Abenteuer mit einer der höchsten Belohnungen an Fortpflanzungserfolg, den diese Welt mutmaßlich je gesehen hatte. Die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffgerät, Heißluft-Ballonfahrten um die Erde, Durchquerung der Antarktis usw. sind Unternehmungen, deren augenscheinlicher Sinn sich so recht keinem von uns erschließt. Trotzdem bewundern wir diese Abenteurer und würden uns insgeheim gern selbst solchen Herausforderungen stellen. Die Begeisterung für Anstrengungen weit gesteckter Ziele zu erreichen ist stammesgeschichtliches Erbe der Menschen. Menschen neigen dazu, sich Herausforderungen zu stellen und sie letztlich zu meistern. Nur diese Gabe ermöglichte Kolumbus, Amerika zu entdecken, auf die vage Vermutung hin, die Erde könnte eine Kugel sein. Abenteurer werden auch in Zukunft Gewinner der Evolution sein, weil sie zwei wesentliche Begabungen haben: Begeisterung und Kooperationswillen. Beides sind unabdingbare Voraussetzungen, den Weltraum als Lebensraum zu erobern und so das Leben im Kosmos zu verbreiten. Kollektive Aufgaben Unsere Geschichte ist voller Beispiele dafür, dass sich Menschen Aufgaben verschrieben haben, die nur mit äußerster Anstrengung zu erreichen waren, aber deren Sinn nicht direkt im Materiellen lag: Der Turmbau der Babylonier oder der Bau der Pyramiden, um nur zwei zu nennen. Wie erstaunlich der Bau der ägyptischen Pyramiden war, zeigt sich darin, dass wir immer noch nicht im Detail wissen, wie die alten Ägypter solche baumeisterlichen Herausforderungen haben meistern können. Und so hat sich sogar ein langes Garn esoterischer Vermutungen darum gesponnen: Manche Hobby-Forscher
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glauben allen Ernstes daran, dass Außerirdische den Pharaonen dabei zur Hand gegangen sind. Diese Erklärung fällt wohl Ockhams Rasiermesser zum Opfer, demzufolge unwahrscheinliche Hypothesen zurückzuweisen sind. Aber die Frage nach dem „Wie“ ist eher nachrangig im Vergleich zum „Warum“. Warum hat sich überhaupt eine Nation solche entbehrungsvolle Mühe gemacht, Pyramiden in den Sand zu setzen. Diese höchst unnützen künstlichen Hügel, deren Bau ja einen großen Teil der Ressourcen der Bürger beanspruchte, scheinen keinen erkennbaren Nutzen für das Volk selbst gehabt zu haben. Aber Pyramiden konnten vielleicht etwas, was sie heute auf alle Fälle allerbestens können. Zumindest verdienen die Nachfahren dieses uralten Kulturvolkes damit eine Menge Geld: Pyramiden können begeistern. Pyramiden oder ähnliche monumentale Bauwerke, die nur unter allergrößter Anstrengung vieler Menschen realisiert werden konnten und nur sehr immaterieller Wertschöpfung dienten, finden sich überall auf der Welt. Offensichtlich gibt es einen kulturübergreifenden Antrieb im Menschen, sich solchen Aufgaben zu verpflichten. Dieser Antrieb musste Gesellschaften einen Vorteil gegenüber anderen Nationen erbracht haben, andernfalls hätte sich die Menschheit eine solche Veranlagung nicht erwerben können. Und diese Überlegenheit musste immens sein, sie musste die gewaltige Ressourcenverschwendung aufwiegen, die in solchen Bauwerken steckte. Die Vermutung liegt nahe, dass der Wert dieser Unternehmungen vor allem darin lag, eine Gesellschaft in Entbehrung zusammenzuschweißen. Dies geschah durch die Definition von Zielen, mit denen sich eine große Anzahl von Individuen eines Staatengebildes direkt identifizieren konnten, weil sie daran beteiligt waren: „Ich war dabei, ich habe mitgeholfen, ein solch monumentales Werk zu schaffen, das alle Welt beeindruckt.“ Vergleichbare Erlebnisse boten wahrscheinlich früher sonst nur der Krieg. Werfen wir einen Blick auf ein heutiges Pyramiden-Unternehmen, auf das grandioseste Unternehmen des letzten Jahrhunderts. Trotz Teflon und anderer Segnungen der Raumfahrtindustrie kann nicht behauptet werden, dass sich die Mondlandungen im Sinne einer Share-holder Wirtschaftsphilosophie refinanzierten. Es war vielmehr der erste umfassende Kommentkampf zwischen zwei Nationen. Es war ein Wettlauf der beiden Großmächte zum Mond, den die USA dank besserer Technik und überlegener Organisation gewannen. Wie schon auf der Ebene der Individuen bedeutet die Abwendung von Beschädigungskämpfen, die Abwendung vom Krieg und die Hinwendung zu Kommentkämpfen einen moralischen Fortschritt im zwischenstaatlichen Umgang. Denn wie bei den Individuen gibt es einen starken Selektionsdruck in die Richtung, beschädigende Auseinandersetzungen zu vermeiden, je weiter die Kriegstechnologie fortschreitet. Denn je grässlicher die Waffen, desto verheerender wirkt sich ein Beschädigungskampf, ein heißer Krieg aus.
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Begeisterung Das Wort Begeisterung drückt aus, dass etwas sehr Hohes, spezifisch Menschliches, nämlich der Geist den Menschen beherrscht. Enthusiasmus ist ein Begriff aus dem Griechischen und bedeutet das Durchdrungensein der menschlichen Existenz vom Heiligen. Der NASA-Planungsmanager im Office of Space Flight, NASA, Jesco v. Puttkamer vermutet, dass die hauptsächliche Motivation, der treibende Motor hinter einem fortlaufenden und mit Nachdruck betriebenen Explorationsprogramm des Weltraums die Identifikation der Öffentlichkeit mit Abenteurern sein wird, die im Namen ihrer Herkunftsländer große Taten vollbringen.37 Für ihn liegt der Nutzen der bemannten Raumfahrt in neuen Wachstumsanstößen zu einem Begriffs- und Bewusstseinswandel, dessen humanistische Potentiale allein schon den menschlichen Schritt ins All sinnvoll machen: Dadurch, dass er der Frage nach dem Warum allen Seins und unserer Existenz neue Dimensionen und tiefere Bedeutung verleihen kann. Wenn wir dieses Abenteuer nicht in Angriff nehmen würden, befürchtet er, dass wir auf Erfahrungen verzichten, die uns bestimmt sind, wie ich meine, und ohne die dem Menschengeschlecht letzten Endes Stagnation und Untergang in einer Sackgasse drohen könnten.38 Im landläufigen Begriff: „Eroberung des Weltraums“ zeigt sich ein martialischer Charakter solcher Unternehmungen. Sie haben in ihren Wurzeln viel mit Aggression und Krieg zu tun. Die Weltraumfahrt wurde zuerst von den Militärs vorangetrieben. Die zivile Nutzung stand selten im Vordergrund. Mit der Einkehr des Weltfriedens wird die Frage aufgeworfen werden, wie Hochtechnologie vorangetrieben werden kann, ohne dass der Existenzdruck die Gesellschaft antreibt, den die Bedrohung durch einen Kriegsgegner darstellt. Natürlich ist und wird eine der Triebfedern die Ökonomie sein: Wo sich Geld verdienen lässt, wird auch in Forschung investiert. Solche Unternehmungen wie das Apollo-Programm oder die Erforschung des Weltalls mit Milliarden Dollar teuren Weltraumteleskopen werfen aber, wenn überhaupt, erst in ferner Zukunft Rendite ab. Für solche Grundlagenforschungen müssen andere Antriebe mobilisiert werden. Für Jesco v. Puttkamer hat das Mondlandeunternehmen einen unüberschaubaren Gewinn für das Bildungswesen und die Wissenschaft erbracht und er glaubt, dass solche Unternehmen wie kaum etwas anderes zur Kultur, zum Ethos einer Gesellschaft gehören.39 Jesco v. Puttkamer fordert deshalb eine neue Daseinsphilosophie, da Staat und Kirche, Politik, Religion und moderne Philosophie es bis heute noch nicht verstanden haben, die Weltraumfahrt als globales Evolutionsphänomen sinnvoll in unser Leben und seine täglichen Bedürfnisse einzuordnen. In der Tat liegt es nahe, die Rüstungsindustrie mit ihrer Bedeutung für die Ökonomie durch die Raumfahrt zu ersetzen. Jedenfalls liegt ihr technologischer Nutzfaktor wesentlich höher als bei der Rüstung. Aber auch für die Entwicklung von Moral und Ethos, für unsere Daseinsphilosophie eignet sich die Eroberung des Weltalls wesentlich besser, als die Eroberung Kuwaits. Teleologie der Raumfahrt In den dreißiger Jahren schrieb der russische Geochemiker und Physiker Vladimir Vernadsky, das Vermögen zur maximalen Expansion wohne der belebten Materie inne, so 290
wie es für Hitze charakteristisch ist, sich auszubreiten und sich auf andere, weniger heiße Körper zu übertragen. Er nannte dies den „Lebensdruck“. Diejenigen Lebensformen, die sich möglichst weit ausbreiteten, haben die meisten Nachkommen. Lebensformen, die in ihren ökologischen Nischen verharren sind spätestens dann Opfer der Selektion, wenn sich die Umweltbedingungen in dieser engen Nische ändern. Für uns auf der Erde war bisher die Sonne der limitierende Faktor für unser Überleben. Mit ihrer Langlebigkeit ermöglichte sie die konstanten Umweltbedingungen, die die Voraussetzung für die Entstehung von Organismen sind. Aber die Lebensdauer der Sonne ist begrenzt und die Zeit, wie lange es auf der Erde wohnlich bleibt, ist noch sehr viel knapper bemessen. Je älter die Sonne wird, um so intensiver strahlt sie. Schon in ungefähr einer Milliarde Jahre wird es auf der Erde zu heiß für die Biosphäre werden, die Ozeane werden anfangen zu kochen. Die Erde wird, wie die Venus in ihrer Frühzeit, ihr Wasser an das Weltall verlieren. In 4-5 Milliarden Jahren wird die Sonne sich zu einem Roten Riesen aufblähen, der über die Umlaufbahnen der inneren Planeten hinaus reicht. Dies spätestens wird das Ende des Planetensystems sein, so wie wir es kennen: Die Entwicklung unseres Heimatsystems ist auf die endgültige Vernichtung der Erde hin ausgerichtet. Falls die Form von Leben, die auf unserem Planeten entstanden ist, über das Ende des Sonnensystems hinaus weiter existieren will, muss sie sich bis dahin neue ökologische Nischen erschlossen, sie muss den Weltraum besiedelt haben (Abbildung 27). Spätestens damit wird klar, dass Technik eine notwendige Entwicklung der Evolution ist, um langfristig den irdischen Spezies das Überleben zu sichern. Im Rahmen der Evolution wird die Raumfahrt dafür sorgen, dass die Erde nicht zur „Todesfalle“ des Lebens wird, sondern die Keimzelle eines sich beliebig weit ins Weltall ausbreitenden Ökosystems. Abbildung 27: Dies ist ein nach dem englischen Physiker Roger Penrose benanntes Diagramm für die Zukunft des Lebens im Universum. Die Geschichte der Erde ist als vertikaler Balken auf der linken Seite der Grafik dargestellt. Der hellgraue Bereich stellt die Biosphäre dar wie sie sich allmählich über das ganze Universum ausbreitet. Sie wird dies kurz nach dem Zeitpunkt erreicht haben, an dem das Universum wieder anfängt, sich zusammenzuziehen.40
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Noch betrachten wir die Weltraumfahrt als eine Art Reise. Früher oder später aber wird sie Leben im Weltall bedeuten. Der Startschuss, uns über die Erde hinaus zu verbreiten, fiel mit dem Zünden der Raketenmotoren, die eine russische Rakete mit einem Hund in den Weltraum hoben. Ein noch sehr kurzer und tödlich ausgegangener Ausflug in eine bis dahin als absolut lebensfeindlich geltende Umgebung. Mit der Aufgabe der am 19. Februar 1986 gestarteten Raumstation MIR, endete ein immerhin fast 15-jähriger Versuch, sich im extraterrestrischen Raum zu etablieren. Der Kosmonaut Jurij Romanenko hatte dort immerhin 326 Tage am Stück verbrachte. Zur Zeit wird die ISS als Nachfolgerin der MIR im Weltraum errichtet und besiedelt. Sie wird den Brückenkopf für die weitere Ausdehnung der irdischen Ökosphäre vielleicht auf den Mond oder den Mars bilden. Ökosphäre im Glas Das Kennzeichen der extraterrestrischen Ökosysteme wird die enge Verzahnung zwischen Biosphäre und Technosphäre sein. Als Kind habe ich mit Hingabe ein Buch gelesen mit dem schönen Titel „Die ganze Welt im Einmachglas“. Natürlich war das ein etwas hochtrabender Titel. Selbst ein schnöder Salamander passt nur sehr unwillig in ein Einmachglas hinein und überlebte dort nicht unbedingt lange. Auf Joe Handsons Glaskugeln aber trifft der Titel mit nur einer kleinen Abwandlung zu: Es ist nicht „die“ Welt, aber Joe Handson konnte zeigen, dass eine recht kleine Welt schon in ein Einmachglas hineinpasst. Joe Handson, der am Caltech-Institut im NASA-Förderprogramm zur Erhaltung des Lebens arbeitete, schuf eine kleine, in mehr als 50 000 Exemplaren verkaufte Ökosphäre. Sie ist von einer nur das Licht durchlassende Glashaut vollständig von der Umwelt abgeschottet und sie braucht nicht größer als eine große Grapefruit zu sein. Im Inneren befinden sich einige winzige Meereskrabben, eine Ansammlung grüner Algen auf einem Korallenzweig und eine Vielzahl von Mikroben. In dieser Mikrowelt ernähren sich die Krabben von den Algen, die Algen leben vom Licht und die Bakterien recyceln die Abfallprodukte. Die ältesten dieser Ökosphären sind mehr als 10 Jahre alt. Sie werden einzig durch das Sonnenlicht am Leben gehalten, nichts sonst kommt hinzu oder wird herausgenommen. Das Überraschende an dieser Geschichte ist, dass sich diese selbsterhaltenden Systeme von allein etablierten und immerhin wurden Zehntausende davon gebaut: Stabile Ökosysteme wollen sich offenbar ergeben! Kevin Kelly belegt dies an einer ganzen Reihe von Beispielen: Komplexe Systeme bewegen sich auf einen stabilen Zustand zu.41 Eigentlich ist das keine allzu überraschende Erkenntnis. Gaia demonstriert diese Eigenschaft seit über 3,5 Milliarden Jahren. Aber, wenn sich ein stabiler Zustand selbst in einem so winzigen Ökosystemen wie einer Glaskugel von 20 cm Durchmesser einstellt, so ist es mit Sicherheit möglich, fast jede beliebige Teilmenge Gaias beispielsweise auf eine Raumstation zu verfrachten, wenn der Zufluss von Energie gewährleistet ist.
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Ökosphäre II Im Jahr 1988 begann der Bau einer Weltarche, die acht Menschen auf möglichst unbegrenzte Zeit beherbergen können sollte: Ökosphäre II. Sie war als Prototyp einer Weltraumstation gedacht, die vielleicht einmal auf dem Mars gebaut werden könnte. Der Platzbedarf errechnete sich anhand der Bewohner, die von der Station versorgt werden mussten, auf etwa 1,2 Hektar. Diese Fläche setzte man in der Wüste Arizonas unter Glas und bestückte sie mit den verschiedenen Ökosystemen der Erde: Ozean und Savanne, Regenwald, Dornbuschsavanne, Wüste und natürlich auch Kulturland, auf dem die Bewohner ihre Nahrungsmittel anbauen konnten. Peter Warshall, einer der Erbauer der Ökosphäre II sagte über die Art, wie sie konstruiert wurde: Alles was man tun konnte, war, dass man sämtliche Teile zusammentrug und es ihnen selbst überließ, sich zu etwas Funktionierendem zusammenzubauen.42 Auch hier machte man also die Erfahrung, dass Ökosysteme dazu neigen, sich zu einem stabilen Zustand hin zu bewegen. Die Ergebnisse dieses gewaltigen Experimentes blieben umstritten. Aber immerhin gelang es den acht Personen mehr oder weniger autark, zwei Jahre in dem abgeschotteten Glasdom zu überleben. Ich finde, dies ist ein beeindruckender Erfolg für einen ersten Versuch. Und wie bei allen guten Prototypen ist zu erwarten, dass Ökosphäre II eine Menge Nachfolger „zeugen“ wird. Bedeutungsvoll für den Blick in die Zukunft ist, dass diese Miniwelt ein Modell dafür ist, wie Ökosphären und Technosphären zusammenwachsen werden: Ökosphäre II stellt eine vollständige Symbiose von Biologie und Technik dar. Direkt unter der „belebten“ Welt der Station liegen ausgedehnte Kelleranlagen mit Umwälzanlagen für die Luft und Pumpsysteme für den Wasserkreislauf. Alles wird von einem Computersystem gesteuert, das über seine überall über die Station verteilten Sensoren den Zustand des Systems kontrolliert. Auf diese Weise werden wir den Weltraum erobern. Das Zusammenwachsen von Biosphäre und Technosphäre wird im Weltraum seine höchste Form und Vollendung erfahren. In künstlichen Welten werden Teile der Erdbiosphäre alles bereitstellen, was wir Menschen für unser Wohlergehen brauchen: Luft zum atmen, Nahrung, Wasser, aber auch die Ästhetik, die die Natur uns bietet und ohne die wir schnell depressiv würden. Die Technosphäre wird alle notwendigen Bedingungen schaffen, damit dieses Teilstück der Erdbiosphäre auch im Weltraum gedeihen kann. Kolonialisierung des Universums Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Offenbarung 21.1
Die Geschwindigkeit, mit der man im Kosmos reisen kann, ist durch die Lichtgeschwindigkeit nach oben begrenzt. Das schränkt die Möglichkeiten der Raumfahrt deutlich ein. Trotzdem erscheint es möglich und auch in näherer Zukunft machbar, unsere gesamte Milchstraße zu kolonisieren. Frank Tipler schlägt dafür das folgende Szenario vor, das im wesentlichen auf dem Schneeballprinzip beruht. Als ersten Schritt für die
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Kolonialisierung der Milchstraße müssten wir einen sogenannten universalen Konstrukteur entwerfen und bauen. Unter einem universalen Konstrukteur versteht man eine Wesenheit mit den folgenden zwei Eigenschaften: 1. Ein universaler Konstrukteur muss sich selbst reproduzieren können. 2. Ein universaler Konstrukteur muss jedes Gerät herstellen können, wenn man ihm das Baumaterial und das Konstruktionsprogramm zur Verfügung stellt. Jedes Lebewesen besitzt durch seine DNS diese beiden Eigenschaften: Jeder Organismus kann sich selbst reproduzieren, bzw. mit dem anderen Geschlecht zusammen Nachkommen zeugen. Lebewesen können außerdem beliebige Werkzeuge (Extremitäten), chemische Fabriken (Organe) oder Sensoren (Sinne) aufgrund der in der DNS festgelegten Baupläne aus den zur Verfügung gestellten Materialien herstellen. John v. Neumann skizzierte einen Bauplan für solch einen Konstrukteur: Sein Roboter wandelt durch eine Lagerhalle mit sämtlichen Bauteilen, die für den Bau eines Roboters von Nöten sind. Der besagte Roboter sucht die notwendigen Bauteile und setzt sie zusammen, bis er ein Ebenbild seiner selbst geschaffen hat. Anschließend übergibt er dem neuen Roboter eine Kopie des Planes, wie man einen Roboter in dieser Lagerhalle zusammensetzt.43 Zwar scheint die Lagerhalle mit den Bauteilen etwas angestrengt Konstruiertes zu sein, aber eben nur scheinbar: Bei jeder Zellteilung passiert genau das: Alle Bauteile sind in der Zelle vorhanden und müssen lediglich nach DNS-Plan zusammengesetzt werden. Der Mensch ist ein universaler Konstrukteur, und wahrscheinlich können wir auch Roboter mit denselben Fähigkeiten konstruieren. Die NASA schätzte 1980 in einer Sonderstudie, dass so ein Roboter, wenn genügend Mittel dafür bewilligt werden würden bis zur Jahrtausendwende gebaut werden könnte. Leider wurden die Mittel nicht bewilligt. Diesen Konstrukteur lässt man nun in einem Raumschiff reisen, das die folgenden Anforderungen erfüllt: Das Raumfahrzeug benötigt einen Antrieb, der es ins Zielsternensystem bringt, einen Motor, der es im Zielsternensystem abbremst und einen Motor, damit es sich im Zielsystem bewegen kann. Alle diese Antriebe liegen als realisierbare Entwürfe bereits vor. Mit bloßem Auge sind von der Erde aus etwa 5000 bis 8000 einzelne Sterne zu erkennen. Erste mögliche Ziele der Sternschiffe wären Tau Ceti in 11,3 Lichtjahren Entfernung und Epsilon Eridani, eine Sonne, die 10,7 Lichtjahre entfernt ist. Wenn der universelle Konstrukteur nach seiner langen Reise angekommen ist, wäre sein Auftrag, sich zunächst selbst zu reproduzieren und die Kopien zu neuen Sternsystemen zu schicken. Im Zielsystem selbst hätte der Konstrukteur den Auftrag, Organismen zu synthetisieren und, wenn möglich, Planeten mit diesen Lebewesen zu bevölkern. Ist kein passender Planet vorhanden, müsste zunächst eine autarke Art von Raumstationen gebaut werden. Angenommen, die durchschnittliche Reisezeit eines Raumschiffes für zehn Lichtjahre zum nächsten Stern läge bei 20 Jahren und die Reproduktion des Konstrukteurs samt Raumschiff würde weitere 80 Jahre dauern. Nach hundert Jahren flöge also die nächste 294
Generation von Raumschiffen los. Leben würde sich dann mit einer Reisegeschwindigkeit vom 0,1-fachen (10 Lichtjahre in 100 Jahren) der Lichtgeschwindigkeit über die Milchstraße ausbreiten. In nur einer Million Jahren wäre die gesamte 100 000 Lichtjahre durchmessende Milchstraße kolonisiert (Abbildung 28). Abbildung 28: Kolonialisierung des Universums nach dem Schneeballprinzip. Von jedem Sonnensystem starten zwei Von-Neumann-Raumschiffe. Diese kolonisieren zwei neue Sonnensysteme und starten von diesen wiederum je zwei neue Von-Neumann-Raumschiffe.
Diese Gedankenskizze zeigt, dass die Menschheit durchaus in der Lage ist, den gesamten Kosmos zu erobern. Aber dieses ist nur eine der Möglichkeiten, wie sich das Leben in der Milchstraße ausbreiten kann. Einige Menschen werden es sich nicht nehmen lassen, selbst auf die große Fahrt zu anderen Sternsystemen zu gehen. Ihre Begeisterungsfähigkeit wird sie dabei antreiben. Es wird sich nicht um eine Reise an sich, sondern eher um ein bewegtes Wohnen handeln. Wie auf einem Kreuzfahrtschiff wird ein interstellares Raumschiff den Bewohnern alles bieten, was sie für ihr Glück benötigen. Sie werden in einer Miniwelt leben, ein Teilstück Gaias mit sich nehmen und überall, wo sie hingelangen als Teil der irdischen Ökosphäre ankommen. Das Projekt Biosphäre II hat gezeigt, wie wir uns das vorstellen können. Wird die Kolonisation des Kosmos Realität, so ist eine wichtige Voraussetzung dafür erfüllt, dass Leben im Universum auf Dauer existieren wird.
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Transzendente Spekulation Dass es soviel Widerstand gegen den Empirismus gibt, liegt aber auch an der emotionalen Unzulänglichkeit der von ihm propagierten Logik - sie ist einfach blutleer.44 (Edward O. Wilson)
Die Götter haben sich aus den Quellen und Bergen zurückgezogen und werfen auch keine Blitze mehr. Eine kurze Zeit besiedelten sie noch den Himmel, wo sie mit der Entwicklung der Raumfahrt ihrer endgültige Ausrottung entgegensahen. Die Sense für dieses Göttermorden schwangen nicht etwa die Philosophen, sondern die Naturwissenschaftler, die uns eine scheinbar traurige Welt ohne Hoffnung übrig ließen. Warum? Ich denke, der fundamentale Irrtum der modernen Naturwissenschaftler ist, zu meinen, sie müssten alles meiden, was zur Sinnfrage des menschlichen Daseins beiträgt. Für die alten Philosophen Griechenlands galt noch eine Übereinstimmung der Naturwissenschaft mit den Fragen nach dem Sinn des Menschseins. Vielleicht war es das Trauma der Verurteilung des Galileo Galileis, dass die Naturwissenschaftler gänzlich vor Fragen zurückschrecken ließ, von denen die Theologen behaupteten, sie endgültig und allgemeingültig gelöst zu haben. Nicht der Ungehorsam gegenüber dem einen Gott sondern die Offenbarung war es, die uns aus dem Paradies trieb. Zur Erinnerung: Darauf sprach die Schlange zu dem Weibe: „Keineswegs, ihr werdet nicht sterben. Vielmehr weiß Gott, dass an dem Tage, da ihr davon esset, euch die Augen aufgehen und ihr sein werdet wie die Götter, die Gutes und Böses erkennen!“45 Es ist viel Zeit vergangen, seit dieser Mythos entstand. Die Menschheit hat seither eine Menge dazugelernt: Wir verdienen unser Brot nicht mehr im Schweiße unseres Angesichts, sondern delegieren schwere körperliche Arbeit an Maschinen. Wir haben gelernt, Schmerzen zu lindern und körperliche Gebrechen zu heilen. Wir stehen sogar an der Schwelle, selbst wie die Götter Leben erschaffen zu können. Wenn wir auch nicht auf dem Weg zurück in das Paradies sind, so haben wir uns doch immerhin aufgemacht, den Himmel zu erobern, und in die unendlichen Weiten des Weltalls vorzustoßen. All das sind wahrlich großartige Taten, auf die die Menschheit stolz sein kann. Und wir verdanken sie den Naturwissenschaften. Aber bis wir wie die Götter Gutes und Böses erkennen, müssten sich die Naturwissenschaftler noch ein wenig ins Zeug legen. Vor allem dürfen sie nicht ohne Not denen wichtige Forschungsfelder überlassen, die unredlich damit umgehen. Gott und Freiheit Die meisten von uns glauben heute nicht mehr ernsthaft daran, dass Gott direkt in das Leben der Menschen eingreift und sich dabei über die Naturgesetze hinwegsetzt. Warum sollte er das auch tun? Die Naturgesetze sind, wenn nicht sogar Ausdruck seiner Person, so doch mindestens ursächlich an ihn gebunden. Daher können wir davon ausgehen, dass die Naturgesetze so wohldurchdacht sind, dass sie keiner Nachbesserung oder willkürlichen Korrektur bedürfen. Nichts ist schwerer zu akzeptieren, als ein Gott, der in seinem Werk herumpfuscht, um einen entlaufen Dackel einer alten Dame aus WanneEickel wiederzufinden; der aber gleichzeitig zulässt, dass sich im „Heiligen Land“ Juden 296
und Palästinenser gegenseitig umbringen, und dies sogar in seinem Namen. Trotzdem beschränkt dies keinesfalls die Macht und die Freiheit Gottes. Sie lässt auf der anderen Seite aber dem Menschen selbst auch die Freiheit eigener Entscheidungen. Ich möchte hier ein ähnliches Argument verwenden, wie ich es schon bei der Begründung unseres freien Willens getan habe: Angenommen, ich begegne einem Bettler. Ich greife in meine Tasche und gebe dem Bettler einen Euro. Ich halte mich bei meiner guten Tat strikt an die Naturgesetze! Nun nehmen wir weiter an, der Grund für meine wohltätige Tat war mein Glauben daran, dass ich Gott damit gefalle. Damit ist Gott die Ursache für meine Handlung. Das klingt kurios, grade auch, weil es unabhängig davon funktioniert, ob es Gott tatsächlich gibt. Aber das Wirken Gottes manifestiert sich bereits durch seine bloße Existenz, ja sogar schon, wenn wir ihn lediglich in unserem Kopf konstruieren. Ein weites Feld der freien Entfaltung eines göttlichen Willens ist die Zukunft: Sowohl die Quantentheorie als auch die Chaosforschung lehren uns, dass wir nicht in die Zukunft schauen können. Damit steht es Gott frei, sie nach seinem Willen zu gestalten. Frank Tipler hat mit seinem Postulat des ewig belebten Universums bereits aufgezeigt, wie wir uns das vorstellen können: Es realisieren sich nur diejenigen Quantenzustände, in denen sozusagen die Katze von Schrödinger auf ewig Nachfahren hat. Meiner Argumentation nach realisieren sich sogar nur diejenigen Quantenzustände, die auf die Entstehung Gottes hinführen. Dies ist, zur Erinnerung, das von mir formulierte „Theoisches Prinzip“: Die Existenz des Kosmos ist die Voraussetzung für das Entstehen Gottes, weil Gott über die Evolution in der Zukunft entsteht. Aus der Existenz des Kosmos folgt die Existenz Gottes, weil Gott den Kosmos erschafft. Gott ist der Endpunkt aller Geschichten. Damit bestimmt Gott eindeutig das Schicksal des Kosmos insgesamt und jedes seiner Teile. Heilige Mythen Der Mensch braucht heilige Mythen, Ideen, die ihm über das augenblickliche Sein hinaus einen Sinn vermitteln. Menschen besitzen die Begierde, die letzte Wahrheit erkennen und eine Erklärung für ihre Existenz finden zu wollen. Ich teile mit Edward Wilson die Ansicht, dass der wahre evolutionäre Mythos, poetisch erzählt, ebenso erhaben wie jedes religiöse Epos sei.46 Die Wissenschaftler verfügen, so sie sich auf sie besinnen, über viele kraftvolle Mythen. Und sie haben einen reichen Fundus an Themen, die sie in den Dienst der menschlichen Sehnsucht nach Transzendenz stellen können. Wir müssen uns fragen, was vor dem Urknall war, und was zum Urknall geführt hat. Aus der Singularität am Anfang des Universums ergibt sich, dass wir dort eine Erkenntnislücke haben, die wir mit den heutigen mathematischen Mitteln nicht zu schließen vermögen. Aber ab da kann kein glaubhafter Schöpfungsmythos, wie immer er auch aussehen mag, die Entwicklung des Kosmos anders als die Naturwissenschaftler erklären. Denn die objektive physikalische Realität ist für einen Mystiker dieselbe, wie für einen Wissenschaftler.
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Was passiert in Schwarzen Löchern? Auch diese sind Singularitäten. Sie können uns beinahe wie die Hölle erscheinen, wenn wir Frank Tiplers Definition des Lebens folgen: Leben sei durch natürliche Auslese, unter dem Einfluss der Evolution, bewahrte Information. In Schwarzen Löchern passiert etwas Unfassbares: Information wird unwiederbringlich vernichtet. Nach Frank Tiplers These fällt damit Leben der endgültigen Vernichtung anheim. Alles, was ein Schwarzes Loch schluckt, verschwindet aus unserem Beobachtungshorizont und existiert damit nicht mehr. Es scheint so, als wäre das Universum tatsächlich so einfach aufgebaut, dass wir es verstehen können. Wir können den Kosmos mit der Sprache der Mathematik beschreiben. Dabei erfahren wir die Mathematik als eine Quelle der Absoluten Autorität und als Hort der Absoluten Wahrheit, die durch bloße menschliche Interessen nicht getrübt werden kann,47 schreibt der britische Naturwissenschaftler Jonathan Powers. Wir alle glauben fest daran, dass Wahrheit klar und ästhetisch ansprechend ist und nicht etwa konfus und hässlich. Die formale Schönheit der Mathematik hat Forscher immer wieder fasziniert. Für John Wheeler hat Gott oder die Evolution unser Denken so geformt, dass unsere instinktiven Fähigkeiten, das Schöne zu erkennen, ein Werkzeug zum Auffinden der Wahrheit ist.48 Wir müssen nicht irgend etwas glauben, was uns Menschen erzählen, die sich als Mittler zwischen Mensch und „Jenseits“ ausgeben. Wir sind weder auf Priester angewiesen, die uns die Wahrheit übermitteln, noch auf Fähigkeiten, die angeblich nur einige von uns besitzen, und die uns spirituellen Zugang zu Geisterwelten vermitteln. Wissen ist demokratisch: Es ist für jeden zugänglich und für alle ist dieses Wissen das Selbe. Das ist sicherlich eines der größten Geschenke, die uns die Naturwissenschaften gemacht haben. Im Universum gilt das „Kosmologische Prinzip“: Wir leben in einem demokratischen Kosmos, in dem alles nach denselben Gesetzen funktioniert und nichts eine besondere Stellung innehat. Und daher gibt es aus physikalischer Sicht auch nur eine einzige Erklärung für diese Welt. Naheliegend ist dann, dass, wenn es einen Gott gibt, es derselbe Gott für alle ist. Das klingt vielleicht wenig transzendent, aber zur Zeit haben wir auf der Erde eine Menge verschiedener Götter, deren Anhänger sich zum Teil erbittert bekämpfen. Der Kosmos lässt sich in einer einfachen einheitlichen Sprache beschreiben, der Mathematik. Überall im Kosmos ergeben zwei Sterne plus zwei Sterne vier Sterne. Auch das klingt vielleicht nur nach einem Milchmädchen. Doch hat es nicht nur Mathematiker immer wieder in beinahe heiliges Erstaunen versetzt, mit welcher einfachen mathematischen Eleganz das Universum beschreibbar ist. Albert Einstein fragte sich, ob die Notwendigkeit der logischen Einfachheit überhaupt Freiheit [einer göttlichen Entscheidung bezüglich des physikalischen Aufbaus des Universums] zulässt.49 Vielleicht geht es aber gar nicht um eine Wahl. Wenn wir darüber spekulieren, wie Gott aussieht, welche Eigenschaften er besitzt, so könnten wir meiner Ansicht nach durchaus sagen: Gott ist die klare Reinheit der mathematischen Logik, er ist mathematisch und logisch widerspruchsfrei. Sein Wirken manifestiert sich in den für uns erkennbaren physikalischen Gesetzen. Damit ist es Gott gelungen, Geschöpfe wie uns zu erschaffen, ohne uns die Freiheit eigener Entscheidungen zu nehmen. Und er ließ uns in einem Kosmos aufwachsen, der berechenbar und für uns erklärbar bleibt. 298
Im fernöstlichen Kulturkreis ist der Glaube an eine universelle Lebenskraft, dem „Qi“ weit verbreitet. Ich hatte ausgeführt, dass wir davon ausgehen müssen, dass das Qi, unsere Lebensenergie, nichts anderes sei als die Wirkung der vier Grundkräfte im Universum. Warum sollten wir auch von einer zusätzlichen Kraft ausgehen, es widerspräche nicht nur dem Parsimonie-Gesetz des William of Ockham. Meiner Ansicht nach sind diese Kräfte nicht weniger wunderbar, nur weil wir sie beschreiben und messen können. Manche Kosmologen spekulieren über einen Beginn des Universums als ein spontanes, unverursachtes Ereignis. Das Nichts wäre dabei sozusagen instabil und würde dazu neigen, in „Etwas“ zu zerfallen. Vielleicht gibt es ja tatsächlich eine mathematisch bestimmbare Wahrscheinlichkeit, so hoffen sie, dass ein Schnipsel Raumzeit einfach aus dem Nichts heraus entstehen könnte.50 Aber dann müssen die Kosmologen immer noch erklären, wie die Mathematik und die physikalischen Gesetze das Licht des Kosmos erblickt haben. Gott, so nehmen wir an, ist sicher nicht der gütig guckende, bärtige Mann mit weißem Haupthaar des Michelangelo. Wenn wir Eigenschaften von Gott beschreiben wollen, so gefällt es mir am besten, anzunehmen, dass er mathematische Konsistenz und physikalische Eleganz besitzt, dass er selbst die mathematische Beschreibung des Kosmos ist. Die Quantenphysik lehrt uns, dass die Dinge keine konkreten Eigenschaften besitzen, solange diese nicht gemessen werden. Sie existieren nur in einer Art spukhaften sogenannten Superposition, in der sie potentiell alle Eigenschaften gleichzeitig besitzen. Erst der Beobachter schafft gewissermaßen Fakten. Indem er beobachtet, konstituiert er Realität. Die Heisenbergsche Unschärferelation, ein Herzstück der Quantenmechanik, lässt sich sogar noch weitergehend interpretieren: Ein unbeobachtetes Teilchen existiert möglicherweise gar nicht, es hat keine Verbindung zum Kosmos. John Wheeler fragte sich daher, ob ein Universum überhaupt existieren kann, wenn es keinen Beobachter gibt?51 Damit überhaupt etwas existiert, brauchen wir jemanden, der es beobachtet, und das für alle Zeit des Universums. Für Frank Tipler führt dies zwangsläufig zu einem OmegaPunkt. Sobald ein Teilchen aber beobachtet wird, existiert es nicht nur zwangsläufig, sondern es wird auch ebenso zwangsläufig durch diese Beobachtung beeinflusst. Der Akt des Beobachtens ist nicht nur notwendig für die Existenz von Allem, er ist auch selbstbezüglich: Die Beobachtung ist Teil des Beobachteten. Theologisch ausgedrückt leben wir damit in einem selbstbezüglichen Kosmos, in dem unsere Existenz von der Beobachtung Gottes abhängt, und wir gleichzeitig Teil dieses Gottes sind. Vermutungen zum Bewusstsein oder auch zur menschlichen Seele Ich möchte hier eine Vermutung zum menschlichen Bewusstsein darlegen. Sie ergibt sich nicht zwingend aus dem bisher Gesagten sondern ist rein spekulativ. Sie ist ein Beispiel für einen Mythos, der sich aus einem geheimnisvollen physikalischen Phänomen speist. Ich wage dies, weil ich tief überzeugt bin, dass wir in einer mit Sinn erfüllten Welt leben und dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, dieses zu erkennen. Genauer: Dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, die Wahrheit über seine Existenz zu erahnen. 299
Nehmen wir an, dass Frank Tipler mit seiner Idee der Wiederauferstehung Recht hat und wir irgendwann als virtuelle Wesen in einer als Gott anzusehenden Wesenheit existieren werden. Frank Tiplers Idee der Wiederauferstehung beruht auf der Ununterscheidbarkeit zweier Quantensysteme in demselben Zustand. Erst diese Ununterscheidbarkeit ermöglicht die Kontinuität der Persönlichkeit und damit unsere Auferstehung nach dem physischen Tod. Dann müssen wir folgern, dass unser derzeitiges Ich in irgendeiner Weise mit diesem virtuellen Ich verbunden ist, oder diese beiden „Ichs“ wären nicht identisch. Dies ist nun meine These: Unser Bewusstsein ist das Bewusstsein der Verbundenheit mit dem virtuellen Ich. Da sich unser virtuelles Ich seiner Verbundenheit mit dem „Weltgeist“ bewusst sein wird, und wir identisch mit ihm sind, müssen auch wir im Prinzip dieses Bewusstsein bereits besitzen. Eine ähnliche Idee finden wir bereits in den mystischen Schriften des Brahmanismus, den Upanishaden des alten Indiens. Dort wird die universelle Seele, die Weltenseele mit der Einzelseele gleichgesetzt. Dieser Gedanke würde nebenbei das Problem der heutigen Präsenz eines Gottes lösen, der erst in der Zukunft entstehen wird: Gott ist präsent, weil er mit allen Personen, die gelebt haben und die er auferstehen lässt, in Kontakt steht. Es gibt in der Physik geheimnisvolle Phänomene, die mir dazu einfallen und die schon Einstein höchst beunruhigend fand. Man nennt eines davon das EPR-Paradoxona. Bei der sogenannten „Paarerzeugung“ wird die Energie eines sehr energiereichen Photons in die Masse eines Teilchen-Antiteilchen-Paares umgewandelt. Dies ist wegen der Äquivalenz von Masse und Energie möglich, die Einstein in seiner wohl berühmtesten Formel beschrieben hat: e = mc². Damit sich beide Teilchen auch wieder in reine Energie zurück verwandeln können, müssen sie komplementäre Eigenschaften besitzen: Sie sind verschränkt, wie die Physiker sagen. Erzeugen wir zum Beispiel ein Positron-ElektronPaar so trägt das Positron eine positive Ladung und das Elektron eine negative. Verwandeln sich beide Teilchen wieder zu reiner Energie, so heben sich dabei die positive und negative Ladung gegenseitig auf. Neben dieser Ladung haben diese beiden Teilchen noch ein paar andere komplementäre quantenmechanische Eigenschaften. Nehmen wir an, wenn das eine grün ist, so muss das andere rot-gelb sein, damit beide wieder zu weiß verschmelzen können. Nun sind tatsächlich beide solange grün-gelb-rot, solange wir nicht hingucken. Sie befinden sich im Zustand der Superposition, wie wir das schon bei Schrödingers Katze kennengelernt haben. Aber sobald wir nun eins der beiden Teilchen beobachten und es damit zwingen, Farbe zu bekennen, fällt auch das andere Teilchen aus seiner Superposition und nimmt die komplementären Farben an. Der Skandal dabei ist, dass dieses „Farbe bekennen“ unabhängig von der Entfernung der beiden Teilchen gleichzeitig passiert. Wo immer das Positron sich im Universum befindet, sobald sich jemand die Mühe macht, es zu untersuchen, bemerkt sein verschränkter Partner Elektron dies und nimmt die komplementären Eigenschaften an - und wirklich erst dann! a
EPR sind die Anfangsbuchstaben der drei Physiker Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen.
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Raum und Zeit scheinen dabei keinerlei Rolle zu spielen! Allerdings wird über diese Verschränktheit keine Information hin und her transportiert, denn ein Informationsaustausch, der schneller als das Licht wäre, ist durch die Relativitätstheorie ausgeschlossen. Informationen dürfen sich nur höchstens lichtschnell verbreiten, sonst gibt es Konfusionen im Kosmos. Eine ähnliche Verschränktheit, so stelle ich mir nun vor, sollte es zwischen einer Person und seiner virtuellen Wiedergeburt geben. Über Raum und Zeit hinweg sollten wir uns unserer virtuellen Inkarnation, die in der Person Gottes aufgegangen ist, bewusst sein, ohne dass wir Zugang zu konkreten Informationen darüber haben würden. Dieses Bewusstsein ist zwar an unsere Existenz und damit an unser Gehirn gekoppelt, stellt aber den Widerhall unserer Existenz als virtuelles Wesen in der von Frank Tipler postulierten Person Gottes dar. Das, was ich gerade naturwissenschaftlich spekuliert habe, ähnelt in verblüffender Weise dem, woran die Buddhisten glauben: Nach den Lehren Buddhas tragen wir alle die Buddhanatur in uns und können sie uns bewusst machen. Wir sind Teil eines Weltbewusstseins, in das wir eingehen können, wenn wir zu unserem reinen Bewusstsein vordringen. Die Buddhisten nennen es Nirwana, nicht, weil es wirklich „Nichts“ ist, sondern weil man es nicht in Informationen fassen kann: „Das Sein über das wir reden ist nicht das wahre Sein,“ wie Lao-tsea sagen würde. Wir sehen, Frank Tiplers Idee der physikalischen Theologie gibt weiten Raum, unser Bedürfnis nach Transzendenz forschend zu befriedigen. Dies ist reine Spekulation, obwohl ich meiner grundlegenden These traue: Wenn es ein Himmelreich irgendeiner Art gibt, so sollten wir auch als Mensch schon einen gewissen transzendenten Zugang dazu haben. Die physikalischen Gesetze zeigen uns, dass alles mit allem zusammenhängt und dass es einen Beobachter geben muss, damit das Universum existieren kann. Und auch, dass es einen wissenschaftlichen Zugang zur Transzendenz geben muss oder dass es sie andernfalls nicht gibt, macht für mich Sinn. Auch wenn ich in diesem Buch, in Anlehnung an Frank Tipler Gott als Person darstelle, so ist der Gedanke naheliegender, ihn als etwas Allumfassendes, als ein Prinzip zu verstehen, dass alles durchdringt. Gott ist durch die Verschränkung von real existierender Welt und virtueller Welt etwas, was Baruch Spinozab so ausdrückte: Gott ist eine in jedem Detail des Universums gegenwärtige Wirklichkeit.
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Die Existenz von Lao-tse, der um 570 bis ca. 490 v. Chr. gelebt haben soll, ist historisch unbewiesen. Nach seiner Lehre soll man sich von Kategorien und Werten befreien und auf seine spontane Wahrnehmung vertrauen. Der Weise versucht, „nichts zu tun“ und die Dinge ihren natürlichen Lauf nehmen zu lassen. b Der niederländische Philosoph Baruch Spinoza (*1632; †1677) glaubte, dass das Universum mit Gott identisch sei. In seiner Theorie des Parallelismus behauptete er, dass jede Idee eine physische Entsprechung besitze und umgekehrt jedes physische Objekt über eine ihm adäquate Idee verfüge.
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Nachwort Was meine religiöse Orientierung betrifft, so bemühe ich mich, für die Wahrheit nach allen Richtungen offen zu sein und ketzerische Lehren gründlich zu prüfen, bevor ich sie verwerfe - oder übernehme.52 (Sir Peter Ustinov)
Jeder von uns stellt sich irgendwann die Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wie soll ich entscheiden, wohin ich in meinem Leben gehen soll? Woher haben wir unsere Begierden und Sehnsüchte, woher haben wir unser Streben nach Glück und woran scheitern wir auf dem Weg zu diesem Ziel? Warum fühlen wir Stolz, Neid, Liebe, Hass? Was macht uns zu aggressiven Totschlägern und liebevollen Eltern? Was hat Mutter Theresa zu einer altruistischen Frau werden lassen, und was Hitler zum Schlächter der Juden? a Die [christliche] Theologie hat diese Frage[n] lange für sich allein beansprucht, aber viel ist ihr dazu nicht eingefallen, schreibt Edward Wilson. Weil sie sich noch immer mit den Vorstellungen eines Volkswissens aus der Eisenzeit belastet, ist sie außerstande, reinen Tisch zu machen und sich der realen Welt anzupassen, die unserer Forschung heute offen steht. Die abendländische Philosophie ist auch kein vielversprechender Ersatz. Ihre verworrenen Geistesübungen und ihre professionelle Zaghaftigkeit haben die moderne Kultur an Sinn verarmt zurückgelassen.53 Die meisten von uns leben mit der festen inneren Überzeugung, dass unser Dasein einen transzendenten Sinn erfüllt. Aber die Kirchen sind offenbar nicht willens oder fähig, sich den modernen Herausforderungen des Seins anzupassen und büßen damit im wahrsten Sinne des Wortes ihre „Glaubwürdigkeit“ ein. Denn Erzählungen eines Beduinenstammes, die vor beinahe 2000 Jahren zu einem Buch zusammengefasst wurden - so gut sie damals waren - können einfach keine Antworten auf Fragen aus der Gentherapie liefern. Wissenschaftler und Philosophen kneifen vor dem Grundbedürfnis des Menschen nach Transzendenz in aller Regel ganz fest die Augen zu und lassen damit den Menschen mindestens fahrlässig im Stich. Der deutsche Philosoph Odo Marquart bemerkte, dass, seit die Philosophen Gott umgebracht hätten, es schwer für den Menschen sei, menschlich zu bleiben.54 Ich bin der Meinung, Botschaften wie: „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“ sind nicht an die Form der Erzählung, nicht an einen Bibeltext gebunden. Und so können wir durchaus Essenzen aus dem katholischen Glaubens bewahren. Ich habe versucht, dies am Dekalog oder an Hand des Gefangenendilemmas zu erläutern. Seit die Bibel vor nun rund 2000 Jahren entstanden ist, und uns auferlegte, „Gutes zu tun“ gilt noch immer die Erkenntnis Sokrates: Wir wissen zu wenig über das Gute. Nach seiner Meinung geschähe alles Schlechte lediglich aus Unwissenheit, richtiges Handeln folge aus der richtigen Einsicht: Denn jeder tut das, was er tut, weil er es für gut hält.55 Sokrates These reicht sehr viel weiter, als es auf den ersten Blick scheint. Sie weitet die Frage nach Gut und Böse, nach Schuld und Sühne auf die Frage nach dem Bemühen um Wissen aus. a
Nicht wahr, meine geliebte Antonia? Und Du hast natürlich recht: Niemand muss die Antworten darauf in diesem Buch gefunden haben. Aber auch wenn Du den Inhalten nicht zustimmst, so erweitern sie vielleicht das Terrain, wo Du nach Antworten forschen kannst.(Statt einer Widmung)
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Für Buddha gab es drei große Gifte, den Hass, die Gier und eben die Unwissenheit. Für Frank Tipler schließlich ist Evolution das Anwachsen der Information, das Anwachsen von Wissen im Kosmos. Ob Philosophie, Religion oder Wissenschaft, letztlich lautet das Resümee immer: Wir müssen forschen, wir müssen Wissenschaft betreiben, um Gott zu finden. John Horgan schreibt im Epilog seines Buches „Der menschliche Geist“: Die Gefahren wissenschaftlicher Selbstüberschätzung sind am größten, wenn Wissenschaftler nicht bloß ein Heilmittel für Krebs oder eine andere Krankheit suchen, sondern eine endgültige Erklärung dafür, wer wir sind oder, schlimmer noch, wer wir sein sollten.56 Als wäre die Wissenschaft schon schwarze Magie, wenn sie versucht, Menschen von Krankheiten zu befreien, kommt dieser Satz doch lediglich polemisch daher. Er gründet seine Polemik auf dem Humeschen Gesetz, demzufolge aus einem „Sein“ kein „Sollen“ abgeleitet werden kann. Dabei tun wir unser Leben lang nichts Anderes, als eben dies: Aus unseren Erfahrungen, seien sie angeboren oder erworben, möglichst „richtige“ Entscheidungen abzuleiten. Die Evolution erzwingt diese Anpassung: Wer sich nicht seiner Umwelt gegenüber optimal verhält, schmälert seine Chance auf Fortpflanzung. Das universelle Thema der Evolution lautet: Du sollst [zusehen, dass Du Kinder in die Welt setzt, die ihrerseits in der Lage sind, Kinder in die Welt zu setzen]. Und nichts war erfolgreicher, als dieses Sollen mit Hilfe wissenschaftlicher Methodik zu bewältigen. Was wäre die Alternative? Der Juden- oder Christen-Gott, Allah, der Pantheon der hinduistischen Götterwelt oder das göttliche Prinzip, das der große Buddha formulierte? Baghwan, Moon, Scientology? Und wenn ja, warum nicht Zeus oder Wotan oder einen der unzähligen anderen Götter, die die Erde zu unserer oder früherer Zeit bevölkern oder bevölkert haben und von denen jeder seine eigene Moral, Ethik und seine eigenen Gesetze mitbringt oder gebracht hat? Ein Kennzeichen der Naturwissenschaften ist es, dass ihre Theorien kulturübergreifend anerkannt werden. Dieses trifft auf kaum eine philosophische oder gar politische Denkschule und auf keine einzige Religion zu. Ich habe versucht zu zeigen, dass unsere moralischen Imperative, naturwissenschaftlich betrachtet, sinnvoll sein können. Naturwissenschaftlich begründete ethische Vorstellungen können, eben weil sie allgemeingültig akzeptierbar sind, Gemeingut aller menschlichen Kulturen werden. Die Menschenrechte wären ein guter Anfang. Wenn man die Teleologie der Evolution anerkennt, so verpflichtet sie uns, Gaia zu hegen und zu schützen. Diese Vorgabe deckt sich mit der Gesinnung der modernen Gesellschaft gegenüber der Natur. Die Teleologie verpflichtet uns auf den Umweltschutz, aber auch auf den Ausbau der Technosphäre mit der Perspektive, den Weltraum zu erobern. Dies ist ein humanistischer Blickwinkel, sechs Milliarden Menschen ernährt unser Planet nicht auf der Grundlage einer Wildbeuter-Ökonomie sondern am ehesten mit Hilfe einer ausgefeilten Technosphäre. Wir sind in einer dramatischen Umbruchsphase unseres Planeten. Vielleicht ist sie ähnlich bedeutend wie die Tertiär-Kreide-Krise, als die Dinosaurier ausstarben und der Aufstieg 303
der Säugetiere begann. Es ist an uns, diesen Übergang so zu steuern, dass der derzeitige Umbruch nicht in ähnlichem Sinne eine Katastrophe wird. - Aber dafür, meine ich, stehen die Chancen gut. Die Evolution zwingt uns in Richtung Konstruktion und bestraft Destruktion. Diese Erkenntnis ist eigentlich trivial, ist die Evolution doch unzweifelhaft die Schöpferin und Bewahrerin des Lebens auf unserer Erde. Auf der menschlichen Ebene bedeutet Konstruktion „Kooperation“ und das nennen wir moralisches Verhalten. Auch das wusste schon Sokrates: Es ist besser, Freunde zu haben als Feinde, und der erfolgreichste Weg, gute Freunde zu gewinnen besteht darin, selbst gut zu werden.57 Dies ist eine Erkenntnis, die in die Ökonomie einfließen sollte und wird, denn der Grund, fairen Handel zu treiben liegt in seiner Überlegenheit gegenüber anderen Wirtschaftsnormen. Die These von Sokrates passt besser zum Buddhismus als zum Christentum mit seiner endgültigen Verdammnis. Der Buddhist besitzt durch seine Reinkarnationen immer wieder die Möglichkeit, weitere Erfahrungen zu machen und schließlich das Gute zu erkennen, ohne je der Ewigen Verdammnis anheim zu fallen. Die Evolution hat viel mit Reinkarnation zu tun, wenn wir die Gene betrachten. Diese erschaffen immer neue Körper, die sie tragen und weitervererben. Entlang dieser Wiedergeburten werden die Gene allmählich immer weiter optimiert. Charles Darwin konnte kein Ziel und keinen Endzustand für die Evolution angeben. Frank Tipler vereint in gewisser Weise die Evolution mit dem Buddhismus, wenn er als Endprodukt der Evolution einen Gott entstehen sieht. „Gutes“ überlebt dabei, „Schlechtes“ fällt der Selektion zum Opfer. Denn alles muss letztlich in Kooperation zusammenarbeiten, um das Wesen zu schaffen, das nicht nur dafür sorgt, dass das Leben im Universum ewig überdauern kann, sondern auch dafür, dass alles frühere Leben im Universum wiederauferstehen wird. Ich habe in diesem Buch nur einige Aspekte von Gott hergeleitet, die ich an dieser Stelle noch einmal zusammenfassen möchte: •
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Als höchste Entwicklungsstufe der Evolution verfügt Gott über jede Fähigkeit, die das Leben bis dahin erworben hat. Insbesondere muss das Leben im Universum zu diesem Zeitpunkt hochgradig kooperativ sein, woraus abzuleiten ist, dass der entstehende Gott ein „guter“ Gott sein wird. (Barmherziger Gott) Die Fähigkeiten Gottes müssen, bezogen auf Frank Tiplers Postulat vom ewig belebten Universum dazu ausreichen, das Universum so kollabieren zu lassen wie Abraham Taub es vorgeschlagen hat. (Ewiges Leben) Nach meinem Vorschlag eines „theoischen Prinzips“ muss Gott fähig sein, den Urknall zu initiieren und mit ungeheurer Präzision zu steuern. (Schöpfer) Wenn Gott aber am Anfang und am Ende des Universums präsent ist, ist er zu jedem Zeitpunkt präsent. (Allgegenwart) Um seine eigene Geschichte vollständig zu enthalten, wird Gott alles gelebte Leben im Kosmos virtuell auferstehen lassen und so allumfassend sein. (Allwissenheit, Wiederauferstehung)
Dieses Gottesbild ist meiner Ansicht nach durchaus dem christlichen Gottesbegriff ähnlich, aber rational begründet und im Prinzip falsifizierbar. Besser noch trifft dieses Gottesbild das buddhistische Weltbild: Da Gott erst in der Zukunft entstehen wird, tritt er lediglich durch die Konstituierung der physikalischen Regeln in Erscheinung. Er stellt sich physikalisch betrachtet als göttliches Prinzip des Kosmos und nicht als eingreifende Person dar. Jacques Monoda, Molekularbiologe und Naturphilosoph, behauptete eine radikale Fremdheit des Menschen im Universum, dass gleichgültig ist seiner Hoffnung, Leiden und Verbrechen.58 Ich kann nicht anzuzweifeln, dass wir auf der Erde sehr unterschiedlich mit Glück gesegnet werden. Aber wir sind in keiner Weise vom Kosmos abgetrennt, oder Fremde im Universum: Die Kosmologen grübeln über ein „anthropisches Prinzip“. Die Quantenphysiker sind erstaunt über die zentrale Rolle des Beobachters. Charles Darwin fand den Menschen in einer Abstammungslinie mit den Tieren. Die Betrachtungen von James Lovelock über Gaia zeigen, wie sehr wir in ein Ökosystem eingebunden sind. Die Omega-Theorie schließlich stellt den Menschen in die Ahnenreihe einer Evolution, die letztlich das höchste Wesen hervorbringen wird, Gott. Dies ergibt für mich ein überwältigendes Gefühl: Wir sind Teil eines Ganzen. Der moralische Imperativ des Humanismus ist das Bemühen an sich, sei es erfolgreich oder nicht und immer vorausgesetzt, dass der Versuch achtbar ist und ein Misserfolg im Gedächtnis behalten wird59, schreibt Edward Wilson. Ich denke, dieses Buch kann nur ein erster Versuch sein, ein theologisches Gebäude auf den Fundamenten der Naturwissenschaften zu errichten. Denn wenn Frank Tipler damit Recht hat, dass die Theologie ein Teil der Physik sei, so müssen wir dies folgern: Solange wir nur ein beschränktes Wissen über das Universum haben, solange können wir auch nur ein beschränktes Wissen über Gott haben. Aber selbst, wenn mir nur eine windschiefe Bambushütte gelungen sein sollte, so ergibt sich doch ein faszinierendes Bild: Das Universum kann als selbstbezügliches System betrachtet werden, in dem Gott als endgültige Wesenheit aus der Ahnenfolge des Lebens entsteht. Dieser Paradigmenwechsel im Gottesbild - nicht Gott erschafft uns, sondern Gott geht irgendwann aus uns hervor reduziert die Hybris des Menschen, sich als Krone der Schöpfung zu fühlen, ohne dem Menschen die Würde zu nehmen, ein wie ich meine nicht unwesentlicher Punkt. Gott schafft das Universum, um sich letztendlich selbst zu schaffen und er verleiht dem Kosmos damit Sinn: Sinn des Lebens ist es: Mitzuarbeiten, dass die Entstehung Gottes in der Zukunft möglich wird. - Gibt es eine wunderbarere Herausforderung an unsere Existenz als diese?
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Der französische Biochemiker und Nobelpreisträger Jacques Lucien Monod lebte von 1910 bis 1976. Er forschte vornehmlich auf dem Gebiet der Molekularen Biologie, verfasste aber auch eine philosophische Studie über die Wissenschaft in der modernen Welt.
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Glossar
Abakus - Dies ist das wohl älteste Rechengerät für die Grundrechenarten. Es besteht aus einem Rahmen mit Querstangen, auf denen Perlen aufgezogen sind, die man verschieben kann. Die Positionen der Perlen stellen Zahlen dar. Das Verschieben der Perlen nach bestimmten Regeln erlaubt Addition, Subtraktion und sogar Multiplikation und Division. AE - siehe: Astronomische Einheit Albedo - Maß für die Reflexion der Sonneneinstrahlung von der Erdoberfläche. Dem Schnee (weiß) wird eine hohe Albedo, dem Basalt (sehr dunkles Gestein) eine geringe Albedo zugesprochen. ALH84001 - Dieser SNC-Meteorit wurde in den Allen-Hills Bergen der Antarktis im Jahr 1984 als erster (001) Fund dieses Jahres in diesem Gebiet entdeckt. NASA-Forscher meinen, im Inneren dieses Meteoriten fossile Spuren von Einzellern gefunden zu haben, die vom Mars stammen. Allmende - Bezeichnung für das Gemeinschaftseigentum einer Dorfgemeinde an der bäuerlichen Kulturfläche wie Weide- oder Waldland, das für alle Dorfbewohner zur freien Nutzung vorgehalten wurde. Altruismus - (neulateinischen „alter“: „der Andere“); Der Begriff geht auf den französischen Philosophen und Soziologen Auguste Comte zurück, und meint den Selbstverzicht zum Wohle anderer. In der Philosophie bezeichnet Altruismus heute eine Handlungsmaxime, die auf die Förderung des Wohles anderer gerichtet ist. In der Ethik steht der Altruismus im Gegensatz zum Egoismus. Altruismus, reziproker - Charakteristisch für diese Form des wechselseitigen Altruismus ist, dass zwischen Geben und Nehmen ein größerer Zeitraum besteht, so dass zunächst nur der Nehmende profitiert. Gleichwohl wird eine Einlösung der daraus entstandenen Verpflichtung erwartet. Aminosäuren - Eiweißbausteine, die aus einer basischen Amingruppe und einer sauren Karbongruppe bestehen. Es gibt 20 verschiedene Aminosäuren in den Organismen der Erde, die sich alle nur durch eine Seitenkette (hier als R bezeichnet) unterscheiden: H2N-CHR-COOH. Amöbe - Zoologischer Name für ein einzelliges Lebewesen. Anthropisches Prinzip - (griechisch „anthropos“: Mensch); Nach diesem Prinzip folgt aus der Existenz von Beobachtern, dass die beobachtbaren Naturkonstanten genau so sind, wie sie sind. anthropomorph - menschenähnlich, menschlich, von menschlicher Gestalt. Antichrist - Als Antichristen wurde (und werden?) die Gegner oder Widersacher Christi angesehen. Diesen Titel bekamen unter anderem die römischen Kaiser Nero, Diokletian, Julian und Caligula verliehen, ebenso Mohammed, der Begründer des Islam. Zur Zeit der Reformation galt der Papst den Protestanten, Luther den Katholiken als der Antichrist. Antimaterie - Jedes Elementarteilchen hat ein Gegenstück z. B. mit derselben Masse, aber entgegengesetzter Ladung. Beim Elektron ist es das Positron. Es ist also möglich, dass Atome existieren, die aus negativ geladenen (Anti-)Protonen und Positronen zusammengesetzt sind. Begegnen sich Teilchen und Antiteilchen, vernichten sie sich und wandeln sich in reine Energie um. Antineutrino - Ein Elementarteilchen aus der Familie der Leptonen, das z. B. beim Zerfall eines Neutrons entsteht. Antinomie - (griechisch „antonym“); In den Sprachwissenschaften steht das Wort für Begriffe mit entgegengesetzter Bedeutung. In der Mathematik versteht man darin eine widersprüchliche Aussage.
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Äquivalenz - In der mathematischen Logik ist eine Aussage gleichwertig, wenn gilt: Aus A folgt B, und aus B folgt A. Die Mathematiker sagen dann A ist äquivalent zu B. Ein Beispiel dafür ist die Äquivalenz von Masse und Energie. Äquivalenz von Masse und Energie - Masse kann in Energie und Energie in Masse überführt werden nach der Formel: e = mc²; Dabei bedeutet: e = Energie; m = Masse; c = Lichtgeschwindigkeit. Archaea - Ein vom Mikrobiologen Carl Woese vorgeschlagener Begriff für die Gesamtheit der Archaebakterien. Archaebakterien - (auch: „Archaea“); Stamm von Bakterien, der sich schon sehr früh in der Entwicklung des Lebens auf der Erde von den anderen Lebensformen abgetrennt hat. Sie gelten als eigenes Organismenreich oder Domäne. Arithmetik - Teilgebiet der Mathematik. Sie befasst sich vornehmlich mit den Zahlen und ihren Verknüpfungen nach bestimmten Rechengesetzen. artifical-life - Computersimuliertes Leben; Computerprogramme, die künstliche Formen von Leben im Computer simulieren. Asteroid - In einer Übergangszone zwischen der äußeren reduzierenden Zone mit den Gasplaneten und der inneren oxidierenden Zone mit den terrestrischen Planeten, in einer Entfernung von 2,2 bis 3,3 AE, liegt der Asteroidengürtel, eine Ansammlung von Gesteinstrümmern von sehr unterschiedlicher Größe. Man kennt mehr als 6000 von diesen Objekten, ihre Gesamtzahl wird auf eine halbe bis eine Million geschätzt. Die Zusammensetzung dieser Objekte ist unterschiedlich, einige sind kohlenstoffhaltig, andere silikathaltig, wieder andere sind metallreich. Bemerkenswert ist, dass einige Asteroiden die Erdbahn kreuzen. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch heute noch sehr große Objekte mit der Erde kollidieren und unabsehbare Verwüstungen anrichten können. Astronomische Einheit - Dies ist die mittlere Entfernung zwischen Sonne und Erde; sie entspricht 149,6 * 106 Kilometern. Atom - Kleinstes chemisches Teilchen, dass aus Protonen, Neutronen und Elektronen besteht. Atomhülle - Sie besteht aus Elektronen. Atomkern - Er besteht aus Protonen und Neutronen. aufwärtskompatibel - Ein Begriff aus der Informatik. Betriebssysteme entwickeln sich in der Regel so weiter: Die alten Programme laufen auf der neueren Version des Betriebssystems. Neu entwickelte Programme nutzen aber auch die neuen Fähigkeiten des weiterentwickelten Betriebssystems und laufen daher nicht mehr auf Betriebssystemen älteren Datums. Ausschließungsprinzip - siehe: „Pauli-Prinzip“ Australopithecus - (plural: Australopithecine); Dieser anthropologische Fachbegriff leitet sich aus dem griechisch-neulateinischen ab und bedeutet: Der (südliche) Vor- oder Halbmensch, die Übergangsform zwischen Tier und Mensch. Australopithecus afarensis - Einer der frühesten bekannten Hominiden im Übergangsstadium zwischen Tier und Mensch, der vor drei bis vier Millionen Jahren im heutigen Süd- und Ostafrika gelebt hat. Der bekannteste Fund eines A. a. ist ein Schädelfragment, das den Namen „Lucie“ bekam. Autarkie - In der Ökonomie meint dieser Begriff die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland. Der Begriff wird hier allgemeiner verwendet für die Unabhängigkeit eines Individuums in seinen Handlungsweisen. Autotrophe Lebewesen - (griechisch „auto“: selbst; „trophae“: Nahrung); Organismen, die ihre Nahrung aus der abiotischen Umwelt beziehen, im Gegensatz zu den heterotrophen Lebewesen, die sich von anderen Lebewesen oder deren Produkten ernähren.
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Axiom - Ein als richtig anerkannter Grundsatz, der nicht bewiesen werden kann oder bewiesen zu werden braucht. Axiomensystem - Ein System von Axiomen, die eine mathematische Theorie begründen. Die natürlichen Zahlen werden zum Beispiel durch 5 Axiome definiert. Eines davon lautet: „Jede natürliche Zahl hat einen Nachfolger.“ Dieses Axiom gewährleistet die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen. Bakteriophage - auch kurz Phage genannt: Bakterienzerstörendes Virus. Bakterium - (plural: Bakterien); im allgemeinen Sprachgebrauch gleichbedeutend mit Prokaryoten und synonym mit Eubakterien. Ballistik - Die Lehre von der Bewegung geschleuderter oder geschossener Körper. Baryonen - (griechisch: „barys“: schwer); Teilchen, die sich aus Quarks zusammensetzen. Beispiele dafür sind die Protonen und Neutronen. Basalganglien - Ein stammesgeschichtlich alte Gehirnregion, zu der das Corpus striatum, der Globus pallidus, die Substantia nigra und der Nucleus subthalamicus gehören. Hier werden die unbewussten Entscheidungen im Gehirn getroffen. Behaviorismus - Forschungsströmung der amerikanischen Psychologie - nach der wie andere Fertigkeiten auch - emotionale Reaktionen erlernbar sind. Beryllium - Ein graues, sprödes metallisches Element mit der Ordnungszahl 4. 8Be, das Isotop mit vier Protonen und vier Neutronen ist sehr instabil. Erst das 9Be mit vier Protonen und fünf Neutronen ist stabil. Beschädigungskampf - Rivalenkampf im Tierreich um die Weibchen, wobei es regelmäßig zu schweren Verletzungen und zum Tod kommt. Siehe auch: „Kommentkampf“ Biosphäre - Der Teil der geographischen Erdhülle, innerhalb dessen die physikalischgeographischen Voraussetzungen für die normale Funktion der Enzyme bestehen. Sie umfasst die Meere, den Meeresboden und die Erdoberfläche bis in eine gewisse Tiefe und die Atmosphäre bis in eine bestimmte Höhe. Biosphäre II - So wurde ein abgeschlossene Lebenswelt genannt, die in der Wüste von Arizona gebaut worden war. Ziel der Unternehmung war, zu erforschen, wie sich ein von der Außenwelt abgeschlossenes Ökosystem bauen ließe, in dem auch Menschen leben können. biotisch - etwas, was sich auf lebende Organismen oder Lebensvorgänge bezieht. Biotop - (griechisch: „bios“: Leben; „topos“: Ort); bezeichnet einen Lebensraum einer Lebensgemeinschaft mit relativ einheitlichen Lebensbedingungen. Bit - binary digit. Zahl in einem Zahlensystem auf der Basis 2 (Null und Eins). Das Bit ist die Grundeinheit der Information. Eine Münze mit ihren beiden Seiten Wappen und Zahl ist ein Beispiel für einen Speicher mit dem Informationsgehalt von einem Bit. Black Smoker - Unterseeische heiße Quellen in den Vulkangebieten vor allem der mittelozeanischen Rücken. Blauer Riese - Sehr massenreiche, kurzlebig Sterne, die ihr Licht überwiegend im kurzweiligen, blauen Spektralbereich abstrahlen. Blaupause - bezeichnet die Kopie eines Dokuments, die durch Kohlepapier entstanden ist. Vorläuferverfahren des Fotokopierens. Bosonen - Auch (Eich-)Bosonen genannt, sind die Teilchen, die die Elementarkräfte übertragen. Zwischen zwei Elektronen oder zwischen dem Elektron und den Proton wird die Kraft z. B. durch Photonen vermittelt. Es gibt wahrscheinlich vier Bosonen - zu jeder der vier Grundkräfte eins. Chloroplasten - Organellen einer Zelle in denen die Photosynthese abläuft. Chondrite - Steinmeteorite mit kugelförmigen Einschlüssen.
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Chromosomen - Fadenförmige Gebilde in einer Zelle die für die Übertragung des Erbmaterial von der sich teilenden Zelle auf die beiden Tochterzellen verantwortlich sind. Chemisch gesehen bestehen sie aus basischen und nichtbasischen Proteinen mit Enzymcharakter, die kettenartig hintereinander geschaltet die DNS-Stränge bildenden. Ciliaten - Wimpertierchen. Bekannteste Vertreter sind das Pantoffeltierchen und der Erreger der wohl bekanntesten Fischkrankheit, der sogenannten Pünktchenkrankheit. Cingulum - Gehirnareal, das aktiv ist, wenn es um die Liebe geht. Allerdings zeigt es auch bei Drogeneinfluss erhöhte Aktivität. Computervirus - Kleines Computerprogramm, dass sich selbst vervielfältigen kann. Es benutzt andere Computerprogramme, um sich zu verbreiten. Ein Computervirus kann wie ein richtiger Virus sehr „ansteckend“ sein und unterschiedlich viel Schaden in einem befallenen Computersystem anrichten. Corpus callosum - Teil des Gehirns, über das die Kommunikation zwischen den beiden Gehirnhälften läuft. Cyanobakterien - (auch: Blaugrün-Algen); Alter Zweig von Bakterien, die für ihre Energiegewinnung die Photosynthese benutzen. Sie entziehen mit Hilfe der Lichtenergie dem Wasser Wasserstoff, wobei Sauerstoff freigesetzt wird. Cybernaut - Ein Mensch, der sich mit Hilfe verschiedener technischer Geräte wie Datenhandschuhen und Head-Display in einer virtuellen Umwelt bewegt. In Anlehnung an den Begriff: „Astronauten“ benannt. Cyberspace - Angeblich wurde diese Bezeichnung erstmals 1984 von dem Science-Fiction-Autor William Gibson in seinem Buch Neuromancer verwendet. Die Bedeutung des Begriffs liegt noch nicht streng fest. Hier wird der Begriff ähnlich wie der Begriff der virtuellen Realität verwendet. Cyberspace meint eine künstliche Umgebung, die im Computer realisiert wird und in die der menschliche Geist in der Zukunft vielleicht völlig hineintauchen kann. Desoxyribonukleinsäure - siehe: „DNS“ Destruenten - Organismen, die ihren Stoffwechsel damit betreiben, dass sie biochemische Produkte wie zum Beispiel Pflanzenfasern wieder in ihre mineralischen Bestandteile zerlegen. Typische Vertreter der Destruenten sind die Pilze. Determinismus - In der Philosophie die Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens. In den Naturwissenschaften sind deterministische Vorgänge eindeutig durch die physikalischen Bedingungen festgelegt. Dem stehen probalistische Vorgänge gegenüber, Vorgänge, die vom Zufall abhängen. Deuterium - Ein stabiles, nichtradioaktives Isotop des Wasserstoffs (2H) mit einem Proton und einem Neutron im Atomkern. Deuteron - Der Atomkern des Wasserstoffisotop Deuterium, allerdings ohne sein Elektron. digital - (englisch „digit“: Ziffer); Digital bezeichnet die Darstellung oder die Verarbeitung von Daten oder Messwerten in Ziffern, also in einzelnen unzusammenhängenden Stufen oder Schritten. Im Gegensatz dazu steht die analoge Darstellung. Sie ist kontinuierlich, zusammenhängend, stufenlos. Disjunktion (schwache) - Begriff aus der Formalen Logik. Sie verknüpft zweier Aussagen miteinander, wobei das [oder] auch das [und] mit einschließt. Disjunktion (starke) - Begriff aus der Formalen Logik. Sie verknüpft zweier Aussagen durch das ausschließende [entweder-oder]. Diskordanz - Eine ungleichmäßige Lagerung von Gesteinsschichten, z. B. dadurch entstanden, dass Gesteinspakete absanken, wie im Oberrheingraben. Ein gutes Bild für eine Diskordanz ist eine Straße, in der durch ein Erdbeben die Spur versetzt, unterbrochen oder verstellt wurde.
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Distinkte Zustände - Klar und deutlich abgegrenzte Zustände. Der Gegensatz sind fließende Übergänge zwischen den einzelnen Zuständen. DNA - DesoxyriboNucleic Acid; Englische Abkürzung für die DNS. Siehe: „DNS“ DNS - Abkürzung für die DesoxyriboNukleinSäure; Die DNS ist der Träger der genetischen Information in den Zellen mit der Fähigkeit sich selbst zu reproduzieren. Sie bestehend aus zwei spiralig angeordneten Ketten von Nukleotiden, in denen sich vier verschiedene Basen in unterschiedlicher Reihenfolge wiederholen. Die Anordnung dieser Basen beinhaltet den genetischen Code. Sequenzen dieser Nukleinsäure-Bausteine sind zu Genen zusammengefasst. Diese Gene enthalten alle Informationen über Wachstum, Metabolismus und Reproduktion eines Organismus. Domäne - Das Organismenreich wird in drei Domänen aufgeteilt. Es sind dies die Archaea, unter die alle Archaebakterien fallen, die Bakterien, die in der Domäne Bakteria zusammengefasst sind und schließlich die Eukarya. Zu diesem Organismenreich gehören alle Pflanzen, Pilze und Tiere. Andere Autoren sprechen von sechs „Reichen“: Pflanzen, Tiere, Pilze, Einzeller, Zellplasmateilchen und Archaebakterien. Doppelhelix - Räumliche Anordnung der Bausteine der DNS in einer stabilen wendelförmigen Struktur. Drosophila melanogaster - Diese Taufliegen-Art ist eines der berühmtesten Labortiere überhaupt. Mit ihr als Versuchstier konnte ein bedeutender Teil des Zusammenhangs von genetisch bedingtem Verhalten aufklärt werden. Dunkle Materie - Masse im Universum, die sich durch ihre Anziehungskraft im Weltall bemerkbar macht und nur dadurch. Niemand weiß bisher, woraus diese geschätzten 90 % der Masse im Universum bestehen. Eigenzeit - Nach der Relativitätstheorie Albert Einsteins existieren Raum und Zeit nicht unabhängig voneinander und diese vier Dimensionen nicht unabhängig von der Materie. Jedes Bezugssystem hat seine eigene Zeit. In einem Raumschiff, dass von der Erde startet und mit fast Lichtgeschwindigkeit zu einem Stern und zurück fliegen würde, würde die Zeit langsamer vergehen, als bei uns auf der Erde. ekpyrotisches Universum - Eine Theorie über den Beginn des Universums, die auf der StringTheorie fußt: Danach entstand das Universum nicht mit einem Urknall, sondern aus der Kollision zweier Vorgänger-Welten in einem zehndimensionalen Raum. Der Begriff leitet sich ab von „Ekpyrosis“, der aus der philosophischen Lehre von Heraklit und den Stoikern stammt. Er meint das "Ausbrennen" oder die Wiederauflösung der Welt in Feuer. Elektromagnetische Kraft - (auch: Elektromagnetismus); Eine der vier Wechselwirkungen zwischen Materieteilchen. Die Kraft wird durch das Photon übertragen. Z. B. wird das Elektron, das zusammen mit dem Proton das Wasserstoffatom bildet, durch den Austausch von Photonen auf seiner Bahn gehalten. Elektron - Das Elementarteilchen aus der Gruppe der Leptonen, das von allen Elementarteilchen die kleinste Masse besitzt. Elektronen bilden die Atomhülle eines Atoms. Element - Atom mit einer bestimmten Anzahl von Protonen in seinem Kern. Wasserstoff, das leichteste Element hat ein Proton im Atomkern, Uran, das schwerste natürlich vorkommende chemische Element hat 92 Protonen im Kern. Elementarkräfte - Die Physiker unterscheiden vier Grundkräfte des Universums: (1) Die Gravitation zwingt die Erde auf ihre Kreisbahn um die Sonne, das vermittelnde Teilchen kennt man noch nicht. (2) Die elektromagnetische Kraft liegt in zwei Ladungen [+] und [-] vor, die sich gegenseitig aufheben können. Elektromagnetismus und Gravitation sind die beiden Kräfte mit großer Reichweite. Die (3) starke und die (4) schwache Kernkraft machen sich in unserer
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täglichen Erfahrung nicht direkt bemerkbar, sie haben eine so geringe Reichweite, dass sie praktisch nur auf der atomaren Ebene wirken. Elementarteilchen - Kleinste, nicht weiter teilbare Bausteine der Materie. emergent - „auftauchend“; Hier im Sinne des Begriffs: „Emergenz“ immer dann verwendet, wenn eine Eigenschaft neuer Qualität auftaucht. Emergenz - Ein Begriff der neueren englischen Philosophie entliehen, wonach höhere Seinsstufen durch neu auftauchende Qualitäten aus niederen entstehen. Emergente Erscheinungen im Kosmos sind das Leben selbst, Intelligenz, freier Wille, die Liebe. Emulation - Eine absolut präzise Simulation. In der Informatik der Begriff für die Nachahmung der Funktionen eines anderen Computers auf der Basis eines Computerprogramms. Endknall - (auch: „Endkollaps“); Endgültiges Verschwinden eines „geschlossenen“ Universums in einem Zustand unendlicher Dichte und Temperatur. Endorphin - Ein Kunstwort aus Endo- u. Morphin. Es sind körpereigene Eiweißstoffe (Hormon), die schmerzstillend und euphorisierend wirken. Entität - Existenz im Unterschied zum Wesen eines Dinges. Entropie - In der Physik eine Größe, die die Verlaufsrichtung eines Wärmeprozesses kennzeichnet. Sie ist in einem Gas die Gesamtmenge der zugeführten Energie, geteilt durch die Temperatur. Nach dem Zweiten Thermodynamischen Gesetz nimmt in einem geschlossenen physikalischen System die Entropie immer weiter zu. Gemeint ist damit, dass Ungleichgewichte in der Verteilung der Wärme sich mit der Zeit immer weiter ausgleichen. In der Informationstheorie stellt die Entropie ein Maß für die Größe des Nachrichtengehalts einer Zeichenmenge dar. Die Entropie ist dann am niedrigsten, wenn der Nachrichtengehalt einer Zeichenmenge maximal ist. Enzym - Katalytisch wirkendes Protein, das am Stoffwechsel beteiligt ist. Epistemologie - „Erkenntnistheorie“ EPR-Paradoxon - Nach Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen benanntes Gedankenexperiment. Es handelt sich um ein quantenmechanisches Phänomen bei verschränkten Objekten. Erzeugen wir zum Beispiel ein Positron-Elektron-Paar, so haben diese beiden Teilchen gewisse komplementäre Eigenschaften, sie sind verschränkt. Diese Eigenschaften sind aber solange nicht bestimmt, solange wir sie nicht messen, sie befinden sich im Zustand der überlagerten Zustände, der Superposition. Messen wir aber bei einem Teilchen die Eigenschaften, so legen wir sie damit fest. Diese Messung teilt sich aber sofort dem anderen Teilchen mit: es fällt aus der Superposition und nimmt die (komplementäre) Eigenschaft zum anderen Teilchen an. Erster Hauptsatz der Thermodynamik - Energie kann nicht geschaffen oder vernichtet werden. Eschatologie - Die Lehre vom Endschicksal des einzelnen Menschen und der gesamten Welt. Ethologie - Die wissenschaftliche Untersuchung der charakteristischen Verhaltensmuster von Tieren und Menschen. Eubakterien - (umgangssprachlich: Bakterien;) Große Gruppe von Prokaryoten, die ein eigenes Organismenreich, eine eigene Domäne bilden. Eugenik - Von dem britischen Naturforscher Sir Francis Galton 1883 geprägte Bezeichnung für die Wissenschaft von der Verbesserung des Erbguts. Eukarya - siehe: „Eukaryoten“ Eukaryoten - (auch: „Eukaryonten“); Zusammenfassende Bezeichnung für alle Organismen, deren Zellen einen Zellkern aufweisen. Hierzu gehören alle Pflanzen, Pilze und Tiere. Evangelium - griechisch-lateinisch für „gute Botschaft“, „Heilsbotschaft“. Evolution - Die stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen von niederen zu höheren Formen. Sie geschieht durch Vererbung, die über die Mutation und die Selektion gesteuert wird.
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evolvieren - „entwickeln“, „entfalten“ Exobiologie - Die Exobiologie forscht über die Möglichkeiten von Leben auf anderen Welten und über die menschliche Physiologie im Weltraum. Extrapolation - Die Weiterführung einer Kurve auf der Grundlage des bekannten Verlaufs der Kurve in das Unbekannte hinein. Dies kann immer nur näherungsweise geschehen. Faunenschnitt - Aufgrund von Fossilien haben die Paläontologen nachgewiesen, dass es in der Entwicklung der Arten auf der Erde immer wieder Zeitpunkte gab, zu denen überdurchschnittlich viele Arten ausstarben. Einer der bekanntesten Faunenschnitte kann zum Ende der Kreidezeit belegt werden - die Dinosaurier starben aus. Flop - one floating point operation per second, also eine Gleitkomma-Operation pro Sekunde ist eine Einheit aus der Informatik, um die Rechengeschwindigkeit eines Computers zu bemessen. Massenextinktionen - ein anderes Wort für Faunenschnitt; siehe dort. Fitness eines Organismus - Im Sprachgebrauch der Populationsgenetiker wird die Fitness eines Organismus damit bewertet, wie viele Nachkommen das einzelne Individuum in einer Population hervorbringt: Je mehr Nachkommen, desto fitter ist das Individuum im Vergleich zu den anderen Individuen der Population. Flaches Universum - Es gibt drei mögliche Entwicklungen, die unser Universum nehmen kann: es kann sich (1) endlos weiter ausdehnen (=offenes Universum), sich nach einer Zeit der Ausdehnung (2) wieder zusammenziehen und schließlich implodieren (=geschlossenes Universum) oder es kann gerade so schnell auseinander fliegen, dass es sich (3) genau auf der Grenze zu diesen beiden angesprochenen Möglichkeiten befindet. Wenn man das Alter des Universums gegen die Ausdehnung des Universums in einem XY-Diagramm aufträgt, ergibt sich in diesem Falle eine Kurve, die fast parallel zur X-Achse einschwenkt, also sehr flach ohne nennenswerte Steigung - verläuft. Flop - (englische Abkürzung für: one floating point operation per second); In der Informatik eine Bezeichnung für die Geschwindigkeit einer Rechenoperation. Es geht um die Anzahl von Berechnungen rationaler Zahlen, also Gleitkomma-Zahlen pro Sekunde. Eine Gigaflop entspricht 109 Flops, eine Teraflop entspricht 1012 Flops. formale Logik - Die Lehre von den Gesetzen, der Struktur und den Formen des Denkens, unter der Verwendung mathematischer Begriffsbildungen und Methodik. Ihrer Grundforderung ist die Eindeutigkeit. Fossil - Überrest von Tieren oder Pflanzen aus früheren Erdzeitaltern, die als Abdruck oder Versteinerung erhalten geblieben sind. Fraktale - Fraktale sind Muster, bei denen sich allgemeine charakteristische Eigenschaften über große Skalenbereiche wiederholen. Bergketten oder Küstenlinien sind Beispiele dafür: Wenn wir am Strand entlang gehen, bemerken wir eine unregelmäßige Grenzlinie zwischen Land und Meer. Sehen wir die Küste aus dem Flugzeug, erscheint sie uns genauso unregelmäßig und doch sehr ähnlich, obwohl der Maßstab ein ganz anderer ist. Gaia - Erdgottheit des griechischen Altertums. Die Bezeichnung „Gaia“ für die Erde als ein einziger umfassender lebender Organismus wurde erstmals vom Nobelpreisträger William Golding eingeführt. Die Idee wurde dann von James Lovelook weiter ausgebaut. Gammaquant - Das Spektrum der elektromagnetischen Strahlung reicht von der sehr langwelligen Radiostrahlung über die kurzwellige Lichtstrahlung bis zur extrem kurzwelligen und energiereichen Gammastrahlung. Ein Gammaquant ist daher ein sehr energiereiches Photon. Gas - Aggregatzustand der Materie, in dem diese aufgrund der freien Beweglichkeit ihrer Moleküle keine bestimmte Gestalt annimmt, sondern sich frei im Raum ausbreitet. GAU - Abkürzung für den Größten Anzunehmenden Unfall. Einen Super-GAU gibt es daher nicht.
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Gefangenen-Dilemma - Das Gefangenen-Dilemma ist ein Grundthema in allen Situationen, in denen Mitglieder einer Gemeinschaft aufeinandertreffen und zwischen Kooperation und Egoismus entscheiden müssen. Gen - Einheit der Erbinformationen, die im Chromosomensatz eines Lebewesen gespeichert ist. Genetik - Teilgebiet der Biologie, das sich mit der Vererbungslehre beschäftigt. Genom - Die Gesamtheit aller Gene im Chromosomensatz eines Lebewesen. Genotyp - nennt man den gesamten Bestand an Erbanlagen (Genen) eines Organismus. Da gewisse Erbanlagen nicht in Erscheinung treten müssen, unterscheidet man den Genotyp, also die tatsächliche Erbanlage, und den Phänotyp, die Erscheinungsform, die durch die Erbanlagen entsteht. Genpool - Die Menge aller verschiedenen Genen, aus der sich die Individuen potentiell bedienen können. Geschlossenes Universum - Das Universum wird geschlossen genannt, wenn die Fluchtgeschwindigkeit kleiner ist, als die dagegenwirkende Massenanziehungskraft. Ein geschlossenes Universum dehnt sich daher nur bis auf eine gewisse Größe aus und fällt dann wieder in sich zusammen. (Siehe auch: Flaches Universum). Gesetz der „komparativen Kosten - (auch: „komparativer Vorteil“ oder: „Gesetz des relativen Vorteils“); „Wenn zwei Individuen, Nationen oder Rassen sich hinsichtlich ihrer relativen Effizienz in der Güterproduktion unterscheiden, werden beide vom wechselseitigen Handel profitieren, selbst wenn der eine alles besser kann als der andere.“ Gesetz der zunehmenden Erträge - Ökonomisches Gesetz, nach dem etwas umso mehr Mehrwert erbringt, je mehr Partner sich beteiligen. Gigaflop - siehe: „Flop“ Gluon - Hypothetisches Elementarteilchen, das die starke Kernkraft vermittelt und damit den Atomkern zusammenhält. Gödelscher Satz - Der Mathematiker Kurt Gödel bewies, dass eine wahre Aussage in einem beliebigen formalen logischen System hinreichender Komplexität, wie zum Beispiel die Arithmetik in der Mathematik, nicht zwingend beweisbar oder widerlegbar ist. Unsere Möglichkeit der Beweisführung ist unvollständig. Gödels Satz besagt letztlich, dass unsere auf der Logik beruhende Erkenntnisfähigkeit prinzipiell begrenzt ist. Gravitation - Eine der vier Wechselwirkungen zwischen Materieteilchen. Sie zwingt die Erde auf ihre Kreisbahn um die Sonne, das vermittelnde Teilchen kennt man noch nicht, hat aber schon einen Namen: Higgs-Teilchen. Elektromagnetismus und Gravitation sind die beiden Elementarkräfte mit großer Reichweite. groomen - Das Austauschen von Zärtlichkeiten wie zum Beispiel die gegenseitige Fellpflege bei Affen. Halbwertzeit - Zeit, in der die Hälfte einer radioaktiven Substanz zerfällt. Hardware - Ein englischer Sammelbegriff für alle technisch-physikalischen Teile eines Computers. Haruspex - Seher bei den Etruskern und Römern, der für die Vorhersage von Ereignissen aus der Betrachtung der Eingeweide von Opfertieren zuständig war. Hauptreihenstern - Die Hauptreihensterne befinden sich in ihrer stabilen Lebensphase, in der überwiegend die Fusion des Wasserstoffes zu Helium abläuft. Auf der sogenannten Hauptreihe des Hertzsprung-Russell-Diagramms verbringen die Sterne die längste Zeit ihrer Geschichte. Heisenberg´sche Unschärferelation - Diese Relation drückt die prinzipielle Unmöglichkeit aus, gleichzeitig den Ort und den Impuls eines quantenmechanischen Teilchens, etwa eines Elektrons, mit beliebiger Genauigkeit bestimmen zu können. Wenn z. B. der Ort eines
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Elektrons genau bekannt ist, kann man überhaupt keine Vorhersage mehr machen, wo es sich im nächsten Augenblick befinden wird. Helium - Chemisches Element. Es gibt zwei stabile Isotope: 3He und 4He. Beide Isotope besitzen 2 Protonen und zwei Elektronen. 3He besitzt ein Neutron, : 4He besitzt 2 Neutronen im Kern. Heliumflash - Schlagartiges Zünden der Heliumfusion in einem Stern. Hertzsprung-Russell-Diagramm Graphische Darstellung der Sternenpopulationen, bei der auf der vertikalen Achse die Helligkeit, auf der horizontalen Achse die Temperatur des Sterns aufgetragen wird. Heterotrophe Lebewesen - (griechisch „heteros“: anders; „trophae“: Nahrung); Organismen, die sich von anderen Lebewesen oder deren Produkten ernähren, im Gegensatz zu den autotrophen Lebewesen, die ihre Nahrung aus der abiotischen Umwelt beziehen. hinreichende Komplexität - Dies ist eine typische mathematische Formulierung. Es gibt sehr einfache logische Systeme, für die der Satz von Gödel über die Unvollständigkeit logischer Systeme nicht gilt. Mit dieser Formulierung weisen die Mathematiker darauf hin, ohne die hinreichende Komplexität damit näher beschreiben zu wollen. Holismus - Philosophischer Ansatz, der alle Erscheinungen des Lebens aus einem ganzheitlichen Prinzip abzuleiten versucht. Hominiden - Die Familie der Menschenartigen. homogen - Das Universum wird als homogen bezüglich der physikalischen Gesetze angesehen. Die physikalischen Gegebenheiten sind nicht nur auf der Erde oder im Sonnensystem gültig, sondern sie betreffen das gesamte Universum. Homöostasie - Darunter versteht man das Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen, z. B. die Stabilität der Verhältnisse beim Blutdruck und bei der Körpertemperatur. Von James Lovelook auch auf Gaia, den planetenweiten alles umfassenden Organismus Erde angewandt. Humesche Gesetz - Der schottische Philosoph David Hume behauptete, dass aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Hypothalamus - Gehirnregion unterhalb des Thalamus, der unter anderem das Sexualverhalten und emotionales Verhalten steuert. Imperativ - In der Ethik das Gebot der Pflicht. Der berühmte kategorische Imperativ von Kant lautet: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Impulsraum - Drei-dimensionale Eigenschaften eines Teilchen, die seinen Impuls beschreiben: „Strecke“, „Zeit“, „Masse“. inert - (lateinisch: „untätig“, „träge“ „unbeteiligt“); In der Chemie ein Begriff dafür, dass ein chemisches System mehr oder weniger im thermodynamischen Gleichgewicht ist. inerte Stoffe - Stoffe, die sich an gewissen chemischen Vorgängen kaum beteiligen wie z. B. Edelgase. Information - In der Theorie über Informationen ging es ursprünglich um die Frage, wie viele Informationen man in einem bestimmten Gerät unterbringen oder wie viele Informationen man über einen Draht transportieren kann. Man entdeckte, dass die minimale Information eine JaNein Unterscheidung ist und nannte dieses Maß für Information ein „Bit“. inhärent - Das Zusammengehören von einem Ding mit einer ihm innewohnenden Eigenschaft. interstellares Medium - Staub- und Gasmassen im Zwischenraum zwischen den Himmelskörpern. interzellulärer Gentransfer - Ein Austausch von Genen zwischen verschiedenen Bakterien. Ion - Positiv oder negativ geladenes Atom oder Molekül, das entweder ein überzähliges Elektron besitzt oder eines oder mehrere verloren hat.
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Isotop - Atome mit gleicher Ordnungszahl, d. H. mit derselben Anzahl an Protonen im Kern, aber mit einer unterschiedlichen Anzahl von Neutronen sind isotop zueinander. isotrop - Im kosmischen Maßstab sieht ein Beobachter in allen Raumrichtungen das Gleiche. Die Verteilung der Materie über eine große Entfernung von zehn Milliarden Lichtjahren hinweg ist in allen Richtungen fast gleich. Der Unterschied liegt im Mittel bei weniger als einem Zehntausendstel. Junktor - In der Prädikatenlogik ein Verbindungsstück, mit dessen Hilfe man aus einer Anzahl von Aussagen zu einer neuen Aussage gelangt. Diese Junktoren sind: [nicht]; [und]; [oder]. kambrische Radiation - Sehr schnelle Ausbreitung der Faunenarten im Kambrium vor 570 bis 510 Jahren. Es entstanden die Vorfahren aller modernen Tierstämme: Würmer, Muscheln, Seeigel, Insekten und Wirbeltiere. Kambrium - Erdgeschichtliches Zeitalter vor etwa 570 bis 510 Millionen Jahren. Der englische Geologe Adam Sedgwick 1835 führte diese Bezeichnung für Sedimentgesteine in Wales, dem römischen „Cambria", ein, das in diesem Zeitraum abgelagert wurde. Dieses geologische Zeitalter wird mit dem Auftauchen der ersten Tiere assoziiert. Karoshi - Der plötzliche Tod am Arbeitsplatz bedingt durch Überarbeitung. In Japan, wo der Begriff herstammt ist Karoshi als Berufsrisiko anerkannt. Katalysator - Dies sind chemische Verbindungen, die andere chemische Verbindungen anregen, sich zusammenzulagern. Dabei werden die Katalysatoren selbst nicht eingebaut oder verbraucht - sie können nach getaner Arbeit sofort denselben Prozess neu einleiten. Sie beschleunigen eine bestimmte chemische Reaktion oder sorgen dafür, dass diese chemische Reaktion zu einer größeren Ausbeute der Endprodukte führt. Kategorischer Imperativ - Ein Imperativ ist in der Philosophie ein unbedingt gültiges sittliches Gebot. Immanuel Kant stellte das sogenannte kategorische Gebot auf: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Kelvin - Temperaturskala, die nach William Thomson Lord Kelvin benannt wurde. Die Einheiten von K (Kelvin) und °C (Grad Celsius) sind gleich groß, aber während der Nullpunkt der Celsiusskala beim Gefrierpunkt des Wassers liegt, hat die Kelvinskala als Nullpunkt den absolute Temperaturnullpunkt (entspricht -273,15 °Celsius). Kernfusion - Vereinigung von zwei kleineren Atomkernen zur Bildung eines größeren Atomkerns. Bei der Kernfusion wird bis zum Element Eisen (Massenzahl 56) Energie frei. Um höhere Elemente zu erzeugen, muss Energie aufgewendet werden. KI (wissenschaftlich) - Abkürzung für Künstlicher Intelligenz. Ki (weltanschaulich) - siehe Qi. Kinästhetik - Lehre von den Bewegungsempfindungen. Sie beschäftigt sich mit den Fähigkeiten des Menschen, Lage und Bewegungsrichtung von Körperteilen zueinander und in bezug zur Umwelt unbewusst zu kontrollieren und zu steuern. Koevolution - Die wechselseitigen evolutionären Anpassungen zwischen verschiedenen Arten oder zwischen Arten und Umwelt. Wenn z. B. eine Muschel eine dickere Schale entwickelt, muss ein Raubtier, das sie fressen will, stärkere Werkzeuge entwickeln, um den Panzer doch zu knacken. kognitiven Dissonanz - Der Widerspruch zwischen der eigenen Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung von außen: Magersüchtige halten sich zum Beispiel oft für noch zu dick, während ihre Umwelt sie als unterernährt ansieht. Kohlendioxid - (auch: „CO2“); Es ist ein farb-, geruch- und geschmackloses Gas. Es entsteht bei der Verbrennung von kohlenstoffhaltigen Substanzen, bei der alkoholischen Gärung sowie bei der Atmung.
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Komet - (lateinisch „stella cometa“: haariger Stern); Kometen haben sich weit draußen im Sonnensystem gebildet, dort, wo zuwenig Materie war, um noch richtige Planeten entstehen zu lassen. Die Materie dieser Kometen besteht vorwiegend aus dem ursprünglichen Solaren Urnebel und setzt sich vorwiegend aus locker verbundenen Eisklumpen und gefrorenen Gasen zusammen. Es sind Verbindungen mit Wasserstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff und anderen leichten Elementen und ein bisschen Staub, weshalb man Kometen häufig auch als schmutzige Schneebälle bezeichnet. Kommentkampf - Im Tierreich müssen die Männchen in der Regel untereinander um die Weibchen konkurrieren. Es entstand im Laufe der Evolution dabei ein Verhalten bei höher entwickelten Tieren, dass diese Kämpfe weniger verlustreich für beide Seiten gestaltete: Der Kommentkampf. Dabei testen die Rivalen lediglich, wer der Stärkere ist, ohne sich gegenseitig zu verletzen. Kommunikation - ist der Austausch von Informationen auf der Grundlage derselben Erfahrungen. Sie ist möglich, weil wir in einem verlässlichen Universum leben - unserer Existenz beruht für uns alle auf identischen physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Daher können wir Signalen, die wir austauschen, dieselben Bedeutungen zueignen. komparative Kosten - siehe: „Gesetz der komparativen Kosten“ Komplexität - Maß für die Menge der Informationen, die zur Beschreibung eines Systems notwendig ist. Konfigurationsraum - Drei-dimensionale Eigenschaften eines Teilchen, die seinen Aufenthaltsort (X, Y, Z) beschreiben. konsistent - in der Logik: „widerspruchsfrei“. Konsistenz - In der Logik steht dieser Begriff für die Widerspruchsfreiheit. konstituieren - lateinisch bzw. französisch: „einsetzen“, „festsetzen“, „gründen“. Konvergenz - (mathematisch) Annäherung an einen Grenzwert; Konvergenz - (biologisch) Bei genetisch verschiedenen Lebewesen werden ähnliche Merkmale hinsichtlich der Gestalt oder der Organen ausgebildet, weil die Umweltbedingungen ähnlich sind. kosmische Hintergrundstrahlung - Mikrowellenstrahlung bei einer Temperatur von ungefähr 2,7 K, die, aus allen Richtungen des Weltraumes kommend, auf die Erdoberfläche trifft. Sie ist während des Urknalls entstanden, wurde von der Urknalltheorie vorhergesagt und gilt daher als starke Stütze für diese Theorie. Kosmologie - Lehre von der Entstehung und der Entwicklung des Weltalls. Kosmologisches Prinzip - Es besagt, dass das Universum homogen und isotrop ist. Kosmos - (griechisch: „Ordnung“, „Schmuck“); In der Antike der Begriff für das Weltall als geordnetes System, von dem gedacht wurde, dass es nach sinnvollen Gesetzen gelenkt wird. Der Begriff Kosmos geht damit über den Begriff Universum hinaus, weil er dem Ganzen noch eine Qualität, nämlich Ordnung zueignet. Kreide/Tertiär-Impakt - Vor wahrscheinlich 66,4 Millionen Jahren schlug auf der Südspitze der Halbinsel Yucatán in der Nähe einer von den Archäologen gefundenen Maya-Siedlung mit dem Namen Chicxulub ein schätzungsweise 10 bis 20 km großer Asteroid mit einer Geschwindigkeit von 20 km/s eine 170 Kilometer tiefe Wunde in die Erdkruste und beendete mit einem Schlag die Vorherrschaft der Dinosaurier auf der Erde. Dieser Impakt beendete das geologische Zeitalter der Kreide und leitete zum geologischen Zeitalter Tertiär über. Kreidezeit - Geologisches Zeitalter vor 135 bis 65 Millionen Jahren. künstliche Intelligenz - In der Informatik steht der Begriff „Künstliche Intelligenz“ (KI) für Systeme, die die Fähigkeit besitzen, einige Funktionen des menschlichen Denkens
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nachzuahmen. Dazu gehört zum Beispiel die Möglichkeit, aus neuen Informationen neue Handlungsdirektiven abzuleiten - also lernfähig zu sein. Das sogenannte starke KI-Postulat behauptet sogar, dass Computer irgendwann ein Bewusstsein entwickeln werden. Laizismus - Diese Weltanschauung fordert eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Laplacesche Dämon - Pierre Simon Laplace wies im Hinblick auf die Newtonsche Mechanik darauf hin, dass ein Dämon, der in der Lage ist, den Ort und den Impuls jedes einzelnen Moleküls im Universum zu messen, die Zukunft des Universums vollständig vorhersagen könnte. Leben - Nach einer These von Frank Tipler, der ich in diesem Buch folge, meint Leben: „durch natürliche Auslese, also durch Evolution bewahrte und sich zu immer größerer Vielfalt und Komplexität hin entwickelnde Information“. Leibniz Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren - Das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren von Gottfried Wilhelm Leibniz besagt, dass je zwei Teilchen, die zu allen anderen Dingen im Universum dieselbe Relation haben, tatsächlich identisch sein müssen. Leptonen - (leptos: griech.: leicht) Leptonen sind neben den Quarks die zweite Familie von Elementarteilchen, die aber nicht der starken Wechselwirkung unterliegen. Es sind das Elektron, das Myon, das Tauon und die drei dazugehörigen Neutrinoarten: Elektronneutrino, Myonneutrino, Tauneutrino. Zu jedem dieser Teilchen gibt es ein entsprechendes Antiteilchen. Das Elektron ist also, im Gegensatz zum Proton, das aus drei Quarks bestehen, elementar. Lex mercatoria - Dieser Codex war im Mittelalter das vereinheitlichte Handelsrecht der Kaufmannschaft. Lichtgeschwindigkeit - Fundamentale Konstante in der Relativitätstheorie. Ihr Wert liegt im Vakuum bei 299 792 km/sec. Massenlose Teilchen wie Photonen bewegen sich mit genau dieser Geschwindigkeit. Lichtjahr - Entfernung, die das Licht in einem Jahr zurücklegt; entspricht 9,46 * 1012 Kilometer. Lignin - Neben der Zellulose der wichtigste Bestandteil des Holzes. Limbisches System - Eine Funktionseinheit des Gehirns, die für viele Aspekte des Verhaltens und für den Abruf von Erinnerungen verantwortlich zeichnet. Lithium - Ein silbrig weißes, chemisch reaktionsfreudiges metallisches Element der Ordnungszahl 3. Der Atomkern besitzt 3 Protonen und 4 Neutronen (7Li). Lj - siehe: „Lichtjahr“ Metabolismus - Stoffwechsel bei einem Lebewesen. Mitochondrium - Ein faden- oder kugelförmiges Bestandteil in tierischen und pflanzlichen Zellen, das der Atmung und dem Stoffwechsel der Zelle dient. Modul - Austauschbares, komplexes Teil eines Gerätes oder einer Maschine, das eine geschlossene Funktionseinheit bildet. Hier steht Modul auch für eine Funktionseinheit des Gehirns. modular - aus einzelnen Modulen, aus einzelnen Bauelementen zusammengesetzt. Siehe Modul. Molekül - Die nächst höhere Komplexitätsstufe nach dem Atom. Ein Molekül setzt sich aus mindestens zwei Atomen zusammen und ist nach außen hin neutral. Mutation - Eine plötzlich auftretende und dann vererbbare Veränderung in der Erbsubstanz. Sie kann spontan zum Beispiel durch Radioaktivität im Gen oder durch Einwirkung von chemischen Stoffen verursacht werden. Mykorrhiza - (griechisch für „Pilzwurzel“); Der Begriff beschreibt eine Symbiose zwischen den Wurzeln höherer Pflanzen und Pilzen. Die Pflanzen liefern den Pilzen Kohlenhydrate, während die Pilze die Pflanzen mit Wasser und Mineralsalzen versorgen. Myzel - (auch Myzelium;) Das unter der Erde wachsende Fadengeflecht von Pilzen.
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naturalistischer Fehlschluss - Mit dem Ausdruck „naturalistischer Fehlschluss" bezeichnete der britische Philosoph George Edward Moore Verstöße gegen das Humesche Gesetz, demzufolge aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Ob Ableitungen des Typs „Die Welt ist sound-so beschaffen; also sind wir moralisch verpflichtet, uns so-und-so zu verhalten." immer Fehlschlüsse oder (zumindest manchmal) schlüssige Argumente sind, ist heftig umstritten. Naturkonstanten - Konstanten, die in der Standarttheorie der Physiker für die Erklärung des Universums benötigt werden, die aber nicht theoretisch herleitbar sind. Beispiele dieser Größen sind: das Massenverhältnis von Proton und Elektron, die Größe der Lichtgeschwindigkeit, die Gravitationskonstante, das Plancksche Wirkungsquantum oder die Größe der elektrischen Ladung des Elektrons. Natürliche Zahlen - Die Mathematiker bezeichnen damit die ganzen Zahlen von 1 an. Die negativen Zahlen und die Zahl Null gehören nicht zu ihnen. Neuron - „Nervenzelle“ Neutrino - Dieses Elementarteilchen hat weder eine Ladung noch (mutmaßlich) eine Ruhemasse und wirkt daher weder gravitativ noch elektromagnetisch auf andere Teilchen ein. Neutron - Massenteilchen, das neben dem Proton die Atomkerne aufbaut. Es ist geringfügig schwerer als das Proton, trägt aber im Gegensatz zu diesem Kernbauteil keine elektromagnetische Ladung. Neutronenstern - Ein überaus kompaktes Objekt, das am Ende einer Sternentwicklung übrigbleibt. In einem Neutronenstern sind die Elektronen der Atome unter dem Einfluss der Gravitation in den Atomkern gedrückt, wo sie sich mit den Protonen zu Neutronen verbunden haben. Die Masse eines Neutronensterns kann nicht größer als 3 Sonnenmassen sein, der Durchmesser so eines Sterns liegt bei 10 bis 20 km und ein Kubikzentimeter seiner Masse wiegt 100 Millionen Tonnen. Newtonsche Mechanik - Die Mechanik beschäftigt sich mit den Bewegungen von Körpern und deren Reaktion auf die Einwirkung von Kräften. Newton führte die Kraft und Masse als Begriffe ein und setzte sie in Beziehung zur Beschleunigung. Seine Mechanik ist streng deterministisch: Aus jeder Einwirkung einer Kraft folgt eine genau berechenbare Reaktion. Für Massen, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, verlieren Newtons Gesetze ihre Gültigkeit. Solche Bewegungen müssen mit der Relativitätstheorie von Albert Einstein beschrieben werden. Nucleus caudatus - Wie das „Cingulum“ und das „Putamen“ ein Gehirnareal, das aktiv ist, wenn es um die Liebe geht. Ockhams Parsimonie-Gesetz - (auch: „Ockhams Rasiermesser“); Dieses Prinzip, nach seinem Begründer, dem Scholastiker William of Ockham benannt, fordert, dass von zwei gleichwertigen Hypothesen immer die einfachere bevorzugt werden sollte. Und dass man nur eine neue Deutung einführen darf, wenn sie unbedingt nötig wird: „Principia interpretationis praeter necessitatem non sunt multiplicanda.“ Ockhams Rasiermesser - siehe: „Ockhams Parsimonie-Gesetz“. Offenes Universum - Das Universum wird offen genannt, wenn sich das Universum immer weiter ausdehnt, wenn also die Fluchtgeschwindigkeit etwas größer ist, als die dagegenwirkende Massenanziehungskraft. (siehe auch „Flaches“ Universum). Ökologie - Die Lehre von den gesamten Beziehungen des Tieres sowohl zu seiner anorganischen, als zu seiner organischen Umgebung. Ökologische Nische - Ökologische Nischen sind keine Plätze oder Reviere, sondern verschiedene Arten und Weisen, den Lebensunterhalt zu bestreiten.
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Ökosystem - Ein System, in dem die Wechselbeziehungen zwischen den dort vorkommenden Lebewesen mit ihrem Lebensraum beschreiben wird. Ein Wasserloch kann als ein sehr kleines, der tropische Regenwald als ein großes Ökosystem betrachtet werden. Ontologie - Anschauung, nach der alles endliche Seiende, auch das Bewusstsein und der menschliche Geist, seine eigentliche Ursache in Gott als dem ersten Sein hat. Die Ontologie ist Lehre vom Sein, von den Ordnungs-, Begriffs- u. Wesensbestimmungen des Seienden. Orbital - Ein Elektron kann man sich als eine Wolke negativer Ladung vorstellen, die den Atomkern umgibt. Das Orbital ist der Bereich, in dem sich nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit das Elektron am häufigsten aufhält. Organellen - Bestandteile von Zellen mit spezifischen Strukturen und Funktionen. Ozon - Dreiatomiges Sauerstoffmolekül, das u. a. durch die UV-Strahlung in der hohen Atmosphäre gebildet wird. Paläolithikum - Archäologisches Zeitalter. Es umfasst die Periode der Eiszeitalter (des Pleistozäns), die vor 2,5 Mio. Jahre begann und vor ungefähr 10 000 Jahren endete. Panspermie - Theorie, nach der die Erde durch Lebenskeime aus dem Weltall befruchtet wurde. Paradigma - (griechisch: „Beispiel“, „Muster“); Eine Geschichte mit beispielhaftem, modellhaftem Charakter. Paradoxon - Ein offensichtlich widersprüchlicher Schluss, der sich jedoch von gültigen Prämissen ableitet. Parsimonie - (englisch „parsimony“: Geiz); Prinzip der sparsamen Ökonomie. Pauli-Prinzip - (auch: Pauli-Verbot); Nach dem vom in Österreich geborenen Physiker Wolfgang Pauli 1925 aufgestellten Ausschließungsprinzip können sich Fermionen nicht gleichzeitig im selben Quantenzustand befinden. Dabei sind diese Quantenzustände u. a. durch die räumliche Wellenfunktion eines Teilchens charakterisiert. Richard Feynman formulierte es so: Elektronen können nicht einfach aufeinanderhocken - diese Tatsache ist es, die einen Tisch und alles andere zu einem harten Gegenstand macht. Periodensystem - Die chemischen Elemente werden nach der Anzahl ihrer Protonen im sogenannten Periodensystem geordnet. 12Kohlenstoff ist das 6. Element im Periodensystem und hat daher 6 Protonen und 6 Neutronen, 28Silizium ist das 14. Element mit 14 Protonen und 14 Neutronen. Von jedem Element gibt es sogenannte Isotope: 14Kohlenstoff hat z. B. 6 Protonen und 8 Neutronen. Phänotyp - nennt man das äußere Erscheinungsbild eines Organismus, das durch seine Erbanlagen ausgebildet wurde. Siehe auch: Genotyp. Phasenraum - Zustandsraum eines Teilchens im Universum, der mit 6 Dimensionen beschrieben wird, je drei für den Ort und drei für den Impuls. Der Ort wird mit den drei Dimensionen des Raumes (X; Y; Z) beschrieben und der Impuls mit den drei Dimensionen: („Strecke“; „Zeit“; „Masse“). photoautotroph - Diese Eigenschaft bedeutet, dass Organismen durch Photosynthese ihre Nährstoffe auf der Basis der mineralischen Angebote aus ihrer Umgebung selbst erzeugen. Photoautotrophe Organismen bauen aus Wasser und Kohlendioxid unter Ausnutzung des Sonnenlichtes als primäre Energiequelle molekularen Sauerstoff und Kohlenhydrate wie Zucker auf. Photon - Das Quantum, das die elektromagnetische Kraft überträgt. Licht besteht aus Photonen. Sie bewegen sich immer mit Lichtgeschwindigkeit und je kürzer ihre Wellenlänge ist, desto größer ist ihre Energie. Photosynthese - Ein chemischer Stoffwechselprozess in Grünpflanzen oder Cyanobakterien, bei dem Licht für die Umwandlung von Kohlendioxid in Kohlenhydrate benutzt wird.
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phototroph - Phototrophe Lebewesen nutzen das Licht als Energiequelle für ihre Stoffwechselprozesse Phylogenese - (auch: Phylogenie); Bezeichnet die Stammesgeschichte der Lebewesen. Physiologie - Wissenschaft von den Funktionen der menschlichen, tierischen und pflanzlichen Organismen. Plancksches Wirkungsquantum - Kleinstes mögliches Energiepaket. Es hat die Größe h = 6,026 × 10-34 Joulesekunden. Es wird Wirkungsquantum genannt, weil seine Wirkung als Produkt aus Energie (J = Joule) und Zeit (s = Sekunde) definiert ist. Planetesimale - Anhäufungen von Materie im Übergang zwischen Gasscheibe und Planeten. Plasma - (auch „vierter Aggregatzustand der Materie“ genannt neben „gasförmigem“, „flüssigem“ oder „festem“ Zustand); Charakteristisch für ein Plasma ist, dass sich die Elektronen vom Atomkern getrennt haben. Pleistozän - Erdgeschichtliches Zeitalter. Es bezeichnet die Eiszeit, die vor 2,5 Mio. Jahre begann und vor ungefähr 10 000 Jahren endete Polyandrie - „Vielmännerei“; Im Tierreich: Ein Weibchen paart sich mit mehreren Männchen. Polygynie - „Vielweiberei“; Im Tierreich: Ein Männchen paart sich mit mehreren Weibchen. Positron - Das Positron ist das Anti-Teilchen zum Elektron. Es hat also dieselben Eigenschaften wie das Elektron, trägt aber im Gegensatz zum Elektron eine positive Ladung. Treffen ein Positron und ein Elektron aufeinander, so vernichten sich beide Teilchen. Prädikate - In der Prädikatenlogik eine Aussage etwa der Form: „Die Ampel ist grün.“ Prädikatenlogik - Es werden die logischen Strukturen von Aussagen untersucht wie: „Wenn es regnet, wird die Straße nass.“ Zwei Prädikate stehen in einem logischen Zusammenhang: (1) es regnet; (2) die Straße wird nass. Aussagen bestehen aus Einzelaussagen, den Prädikaten und den Verknüpfungen zwischen diesen. Die Verknüpfungen, Junktoren genannt, sind [und], [oder], [nicht]. präfrontale Cortex - Der Sitz der Fähigkeit zum planvollen Handeln und Gestalten im Gehirn. primordeal - lateinisch „von erster Ordnung“, „uranfänglich“, „ursprünglich seiend“. Prokaryoten - (auch: Prokaryonten); Einzeller, die keinen Zellkern besitzen. Zu den Prokaryoten zählen die Archaea (Archaebakterien), die Bakterien und die Blaualgen. Promiskuität - Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Partnern. Prosperität - Eine Periode allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs. Protein - Eiweißstoff; ein Polymer, das aus einem langen Strang von Aminosäuren besteht. Proteine sind die wichtigsten strukturellen und funktionalen Einheiten einer Zelle. Proton - Massenteilchen, das neben den Neutronen die Atomkerne aufbaut. Ein Proton besteht aus einem Down- und zwei Up-Quarks, die durch Gluonen, den hypothetischen Trägern der starken Kernkraft, zusammengehalten werden. Es trägt im Gegensatz zum Neutron, das sich ebenfalls aus drei Quarks zusammensetzt, eine positive Ladung. protosolar - „proto“ ist ein Bestimmungswort von Zusammensetzungen mit der Bedeutung von „erster“, „wichtigster“ „ursprünglicher“. In diesem Sinne ist protosolar gemeint als erste Entstehungsphase einer Sonne aus einer Gaswolke. Protozoen - (griechisch „zoon“: Lebewesen); Einzellige tierische Organismen. Die Protozoen enthalten neben den normalen Zellstrukturen der eukaryontischen Eizeller oft spezifische Zellorganellen, deren Differenzierung der bei den Vielzellern vorliegenden Differenzierung in Gewebe und Organe vergleichbar ist Pulsar - Neutronenstern, der Radiosignale ausstrahlt, wobei die Radiosignale durch die sehr schnelle Rotation des Sternes gepulst werden.
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Putamen - Wie der „Nucleus caudatus“ und das „Cingulum“ ein Gehirnareal, das aktiv ist, wenn es um die Liebe geht. QED - siehe: „Quantenelektrodynamik“ Qi - chinesisch, nach alter Schreibweise „Chi“ ist im japanischen das „Ki“ und steht für den Begriff: „universelle Lebenskraft.“ Quantenelektrodynamik - (QED) Theorie aus der Physik, die vor allem die Wechselwirkungen zwischen Photonen und Elektronen beschreibt. Quantentheorie - Kernaussage der Theorie ist, dass Energie nicht ein Kontinuum ist, sondern dass es ein kleinstes, unteilbares Energiestückchen gibt: Das Energiequant. Aus der Theorie folgt, das die Prozesse auf dieser untersten Ebene sich nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft manifestieren und sie damit auch nicht mehr beliebig vorhergesagt werden können, sondern nur noch als Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden können. Quantum - Quanten sind kleinste, nicht teilbare Stücke Energie oder Wellenpakete. Siehe auch: Plancksches Wirkungsquantum Quarks - Elementarteilchen der Materie, aus denen sich u. a. die Protonen und Neutronen zusammensetzen. Es gibt sechs Quarks, die mit den Namen „Up“, „Down“, „Strange“, „Charm“, „Bottom“ und „Top“ belegt wurden. Zu jedem der Quarks gibt es ein Antiteilchen, und jedes kommt in drei Formen vor, denen man willkürlich die Farben Rot, Blau bzw. Grün zuschreibt. In einem Proton, dass aus einem Down- und zwei Up-Quarks besteht, werden diese durch Gluonen, die Vermittler der starken Kernkraft zusammengehalten. (Die Elementarteilchen sollen von Murray Gell-Mann, einem der Väter der Theorie über die Quarks, nach einem schemenhaften Wesen in James Joyce Roman Finnegans Wake benannt worden sein.) Quasar - Eine quasistellare Radioquelle. Quasare gelten als die am weitesten entfernten und hellsten Objekte im Universum. Ihre Entfernung wird auf 12 Mrd. und mehr Lichtjahre geschätzt, ihre Helligkeit erreicht das 1 000-fache einer ganzen Galaxis. Quintessenz - Der Begriff stammt aus der Naturphilosophie der Antike und bezeichnet auf lateinisch die „fünfte Substanz“ neben den vier Elementen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Sie füllte nach der antiken Philosophie den Raum zwischen den Himmelskörpern und der Erde und verhinderte so, dass Sonne, Mond und Sterne auf die Erde herabfielen. Raumzeit - Seit Albert Einstein wissen wir, dass sich Raum und Zeit nicht voneinander trennen lassen und so nennen die Physiker das vierdimensionale Gebilde, in dem wir existieren, Raumzeit. Die Raumzeit besitzt drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension. Reduktionismus - Methodik, die isoliert die Einzelelemente ohne ihre Verflechtung in einem Ganzen untersucht. Rekursion - Das Zurückführen einer neuen Größe oder Funktion auf eine schon bekannte. Relativitätstheorie - Von Albert Einstein entwickelte Theorie über Raum und Zeit im Universum. Sie ersetzte in der Physik ältere Theorien von Newton über die Bewegung von Körpern. Kerngedanke der Theorie ist, dass es keinen ausgezeichneten Bezugspunkt im Kosmos gibt, sondern alle physikalischen Systeme sich nur relativ zueinander beschreiben lassen. Danach kann man in einem fahrenden Zug sitzend beide Aussagen für gültig erklären: der Zug bewegt sich oder aber: der Zug steht, und die Landschaft bewegt sich an ihm vorbei. Stellen Sie sich ein Raumschiff vor, das seine Position immer genau über diesem Zug hält. Für die Besatzung des Raumschiffes stände dann der Zug unter ihm tatsächlich still, während sich die Erde langsam weiterdreht. Replikation - In der Biologie meint dies die Bildung einer exakten Kopie von Genen oder Chromosomen.
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Resistenz - Die angeborene Widerstandsfähigkeit eines Organismus gegenüber schädigende äußeren Einwirkungen. Bakterien werden zum Beispiel gelegentlich resistent gegen bestimmte Medikamente, die sie normalerweise töten würden. Rhizopoden - "Wurzelfüßer", zu den Einzellern zählender Stamm des Tierreichs, dessen Vertreter durch in der Form ständig veränderliche, der Fortbewegung u. Nahrungsaufnahme dienende Protoplasmafortsätze gekennzeichnet sind. Ribonukleinsäure - RNS-Moleküle sind lange Ketten aus Nukleotiden, die ihrerseits aus drei Teilen bestehen: dem Phosphat, einer Ribose und einer Base. Ribose; Desoxyribose - Ein Zuckermolekül mit fünf Kohlenstoffatomen. Diese Kohlehydrate haben die Strukturformel (CHOH)n und sind die Grundbausteine der RNS und DNS. RNS - (englisch: „RNA“); siehe: „Ribonukleinsäure“ Robotik - Die Ingenieurswissenschaft von der Konstruktion von Robotern. Rote Zwerg - Rote Zwerge sind massenarme, langlebige Sterne, die ihr Licht vorwiegend im roten Spektralbereich abstrahlen. Russelsche Antinomie - Ein Paradoxon in der Mengenlehre. Manche Mengen enthalten sich selbst als Element, manche nicht. Bildet man nun die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten, so führt dies auf einen unlösbaren Widerspruch. Schwache Kernkraft - Eine der vier Wechselwirkungen. Sie macht sich in unserer täglichen Erfahrung nicht direkt bemerkbar, da sie praktisch nur auf der atomaren Ebene wirken. Sie zeichnet sich verantwortlich für den radioaktiven Zerfall von Atomen und wird durch die sogenannten W- und Z-Teilchen übermittelt. Schwarzer Zwerg - Wenn ein „Weißer Zwerg“ seine gesamte thermische Energie in den Weltraum abgestrahlt hat, bleibt nur noch eine nichtstrahlender Körper übrig. Schwarzes Loch - Aus der Relativitätstheorie hergeleitete Himmelsobjekte, die wahrscheinlich im Zentrum der meisten Galaxien anzutreffen sind. Schwarze Löcher können in der Endphase der Entwicklung von sehr massenreichen Sternen entstehen. Wenn die Kernfusion in diesen Sternen zum Erliegen kommt, kann die Materie des Sterns auf einen so engen Raum zusammenstürzen, dass die Gravitation übermächtig wird. Sie verhindert dann sogar, dass Licht aus diesem Gravitationsfeld entkommen kann - der Raum ist an dieser Stelle schwarz. Die Masse unserer Sonne müsste auf weniger als 6 Kilometer Durchmesser zusammengepresst werden, die Erde auf 1,8 m, um zu einem Schwarzen Loch zu werden. Selektion - Die „natürliche“ Selektion ist für die Biologen der Prozess, der die Ausbreitung von genetischen Informationen steuert. Ein Merkmal, das den Fortpflanzungserfolg eines Individuums mindert, wird in seiner Häufigkeit von Generation zu Generation abnehmen, bis die Erbinformation darüber verschwunden ist. Dagegen werden Erbinformationen, die den Erfolg eines Lebewesens mehren, sich in einer Population ausbreiten. Silur - Geologisches Zeitalter vor 435 bis 410 Mio. Jahren. Singularität - Punkte in einem sonst stetigen Verlauf einer Kurve, für die die Formel für diese Kurve keine eindeutige Lösung angibt. Die Beschreibung des Sachverhaltes, für den die mathematische Formel steht, versagt an dieser Stelle. SNC-Meteorite - Diese Gruppe von Meteoriten wird nach ihren drei ersten Fundorten auf der Erde benannt: Shergotty in Indien; Nakhla in Ägypten; Chassigny in Frankreich. Charakteristisch für diese Gruppe von Meteoren ist, dass sie erst sehr viel später als die meisten anderen Körper im Sonnensystem entstanden sind. Einige von ihnen stammen vom Mars. Software - Ein englischer Sammelbegriff aus der Informatik, der alle Programme, die für den Betrieb von Rechensystemen (z.B. Computern) zur Verfügung stehen, einschließt.
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Sozialdarwinismus - Soziologische These, die sich auf Charles Darwins Lehre von der natürlichen Auslese beruft. Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten gelten damit als unvermeidlich: Menschen, die reich und mächtig werden, sind die Stärksten; die niedrigeren sozioökonomischen Klassen sind die Verlierer der Evolution, und es sei nicht schade, wenn diese untergehen. Spektraltyp "G" - Gemeint ist hier ein Stern mit ähnlichem Lichtspektrum wie das unserer Sonne. Die Astronomen haben unserer Sonne als Typ „G“ definiert. Spektrum - Unter dem Aspekt von Strahlung versteht man ein Spektrum als die Verteilung elektromagnetischer Wellen nach ihrer Frequenz oder Wellenlänge in Form von Linien- oder Bandenspektren. Anhand der Signaturen von Spektren, also aus den Spektrallinien, kann man auf die Zusammensetzung der Materie schließen, von der das Licht ausgestrahlt wurde. Es lässt sich damit also Nachweisen, dass in der Atmosphäre der Erde freier Sauerstoff existiert und die Sonne überwiegend aus Wasserstoff besteht. Spieltheorie - Zweig der Mathematik, in dem Spiele behandelt werden, deren Ausgang zum Teil oder insgesamt vom Verhalten der Spieler abhängt. Ziel der Forschungen ist das Auffinden der für einen Spieler günstigsten Strategie. Spin - Fundamentales Merkmal von Elementarteilchen, welches den Rotationszustand des Teilchens beschreibt. Standardmodell der Physik - Das Standardmodell der Teilchenphysik beinhaltet die Vorstellungen und Theorien über die Struktur der Materie (Quarks und Leptonen) sowie die Eigenschaften der fundamentalen Wechselwirkungen (Bosonen). Aus diesem Modell resultieren die Beschreibungen über den Aufbau der Atome und die Struktur fester Körper, Flüssigkeiten und Gase. Starke Kernkraft - Eine der vier Wechselwirkungen. Sie macht sich in unserer täglichen Erfahrung nicht direkt bemerkbar, da sie praktisch nur auf der atomaren Ebene wirkt. Träger der starken Kernkraft sind die Gluonen, sie halten die Quarks in den Kernteilchen, den Neutronen und Protonen zusammen. sterilisieren - „keimfrei machen“, aber auch „unfruchtbar“, „zeugungsunfähig machen“. Stoffwechsel - Die Gesamtheit der chemischen Reaktionen, die in einem Organismus ablaufen. String-Theorie - Diese Theorie fasst die Materieteilchen als eindimensionale schwingende, dehnbare Objekte auf, ähnlich einem Gummiband. Ein fundamentaler String kann in verschiedenen Modi schwingen, und diese verschiedenen Wellenmuster interpretiert man in der String-Theorie als die verschiedenen Elementarteilchen. Stromatolithen - Ablagerungen, die in Küstenlagunen in sulfatreichem Wasser von unterseeischen Vulkanlandschaften entstehen. Der Aufbau dieser kissenförmigen Bauten, bestehend aus einer Abfolge von Schichten mineralischer Körper und Krusten, erfolgt durch Kolonien verschiedener Mikroorganismen. Supernova - (plural: Supernovae); Als Supernova bezeichnet man eine gewaltige Energien freisetzende Sternenexplosion, die am Ende der Entwicklung eines Sternes mit sehr großer Masse steht. Superorganismus - Eine Gemeinschaft von Lebewesen, die zusammen wie ein einziger Organismus agieren. Superposition - In der Quantenphysik der Zustand eines Quantums, bevor ein Messvorgang erfolgt. Das Quantum nimmt zu diesem Zeitpunkt noch jeden möglichen Zustand gleichzeitig an. Synapsen - Über diese Strukturen leiten Sinnes- und Nervenzellen Signale weiter.
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Taxon - (plural: Taxa); Die künstlich gezogene Grenze, um Lebewesen in Gruppen innerhalb der biologischen Systematik einzuteilen. Die Biologen gruppieren die Organismen in: Arten, Familien, Ordnungen über den Stamm bis zu den Reichen (Domänen). Technaea - In Anlehnung an die Domänen der Organismen den „Archaea“ den „Bakteria“ und den „Eukarya“ ist dies der Domänenbegriff für alle technischen Apparate auf unserer Erde. Technosphäre - In Anlehnung an den Begriff der „Biosphäre“ wird darunter hier die Technik mit allen ihren Gerätschaften und ihrer Auswirkung auf die Umwelt verstanden. Technotop - Der Begriff wird hier in Anlehnung an den Begriff des „Biotops“ verwendet. Teilchenzoo - Nach dem Standardmodell setzt sich die Materie aus drei Teilchengruppen zusammen: Quarks und Leptonen sind die Bauteile, aus der die Materie besteht. Die (Eich)Bosonen sind die Träger der Wechselwirkung, also der Mörtel, der alles verbindet. Zusammen ergibt dies in der einfachsten Form mehr als sechzig elementare Teilchen oder, wie der Physiker flapsig sagt, einen „Teilchenzoo“. Teleologie - Lehre von der Zielgerichtetheit oder der Zielstrebigkeit jeder Entwicklung im Kosmos. Teraflop - siehe: „Flop“ terrestrisch - bezeichnet Organismen, die auf dem Festland leben oder Prozesse, die dort ablaufen. Tertiär - Geologisches Zeitalter vor etwa 65 Millionen bis 1,6 Millionen Jahren. Theoisches Prinzip - Nach diesem Prinzip folgt aus der Existenz von Gott die Existenz des Kosmos, da Gott über die Evolution in der Zukunft entsteht. Gott ist der Endpunkt einer Entwicklung, die in der Gesamtheit die Geschichte des Kosmos darstellt. Theorem - Ein Lehrsatz, der z. B. wegen seiner Bestätigung durch ein Experiment für wahr gehalten werden muss. Tiplers Postulat - „Ich gehe von der physikalischen Annahme aus, dass das Universum imstande sein muss, Leben unbegrenzt lange aufrechtzuerhalten, das heißt für eine aus der Sicht des im physikalischen Universum existierenden Lebens unendliche Zeit.“ Tit-For-Tat-Strategie - Dies ist die wichtigste Strategie in der Spieltheorie, bezogen auf das Gefangenen-Dilemma. Es wird wie folgt gespielt: Im ersten Zug biete ich Kooperation an, danach wiederhole ich jeweils den Zug, den der andere im Spiel davor gewählt hat. Titius-Bodesche Reihe - Die Planetenbahnen stehen in einer Regelhaftigkeit zueinander, die Entfernung von der Sonne nimmt in einer Art geometrischen Reihe von 0,4 Astronomischen Einheiten (Merkur) auf 40 AE (Neptun) zu. (rn = 0,4 +0,3 * 2n mit rn = Bahnradius des n-ten Planeten in AE.) Topologie - Zweig der Mathematik, in dem die Eigenschaften geometrischer Figuren untersucht werden. Transzendenz - meint im Gegensatz zur Immanenz das jenseits der Erfahrung Liegende, oder die Überschreitung von Grenzen des Bewusstseins oder des Diesseits. Tritium - Ein radioaktives Isotop des Wasserstoffs (3H) mit einem Proton und zwei Neutronen im Atomkern. übernormale Reizerkennung - Verhalten, dass monströse Merkmale bevorzugt, die es in der Natur so gar nicht gibt, weil sich so extrem nicht erworben werden kann. Ein Beispiel dafür sind Silikon-Busen. Undulipodien - Bewegliche Geißeln am Äußeren einer Zelle, mit deren Hilfe sich die Zelle fortbewegen kann. Universum - Das zu einer Einheit zusammengefasste Ganze; das Weltall. Upanishaden - Esoterische und mystische Schriften des Brahmanismus. Die Upanishaden beschäftigen sich mit dem Wesen der universellen Seele, die mit der Einzelseele gleichgesetzt wird.
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Urknall - (englisch: „Big bang“); Ein vom Kosmologen Frank Hoyle eingeführter Begriff für den Anbeginn des Universums. Nach der Idee des Urknalls entstand das Universum aus einem winzigen Punkt heraus und dehnt sich seither immer weiter aus. virtuell - „der Möglichkeit nach vorhanden“; hier: Eine im Computer simulierte Welt. Virtuelle Realität - Virtuelle Welten sind im Computer abgebildete oder frei entworfene Umgebungen. Diese Welten sind Anwendern über Displays in einer Brille und Datenhandschuhen zugänglich. Ein Cybernaut kann sich in einer computersimulierten Welt umsehen, sich dort bewegen und er kann auf diese virtuelle Umwelt reagieren. Es ist möglich, etwas zu berühren, Dinge zu greifen und sogar virtuelle Objekte zu verändern. Virus - Ein kleines, von einem äußeren Eiweißmantel umgebenes Stück genetischen Materials, dass in der Lage ist, in lebende Zellen von Organismen einzudringen und sich da zu vervielfältigen. Wasserstoff - Einfachstes Atom, besteht aus einem Proton und einem Elektron. Daneben gibt es zwei Isotope des 1H: 2H und 3H. 2H besteht im Atomkern aus einem Proton und einem Neutron und wird Deuterium genannt, 3H besitzt ein Proton und zwei Neutronen und wird Tritium genannt. Wechselwirkungen - Kräfte, die zwischen den Teilchen der Materie wirken und durch die (Eich)Bosonen vermittelt werden. Es gibt vier Elementarkräfte: Die starke Kernkraft, den Elektromagnetismus, die schwache Kernkraft und die Schwerkraft. Der Elektromagnetismus als Wechselwirkung zwischen den Elektronen oder zwischen den Elektronen und den Protonen wird z. B. durch die Photonen vermittelt. Weiße Zwerge - Wenn ein Stern ungefähr von der Größe unserer Sonne am Ende seiner Entwicklung angekommen ist, sprengt er seine äußere Hülle ab und übrig bleibt ein sehr dicht gepackter, überwiegend aus Eisenatomen bestehender, weißglühend strahlender „Weißer Zwerg“. In einem Weißen Zwerg findet keine Kernfusion mehr statt und er kühlt deshalb langsam aus und verblasst schließlich. Wellenlänge - Die Entfernung zwischen benachbarten Wellentälern oder Scheitelpunkten bei einer Welle. Wie-du-mir-so-ich-dir-Strategie - siehe: „Tit-For-Tat-Startegie“ Wildbeuter-Gesellschaft - Ein anthropologischer Begriff für Völker, die von der Jagd und dem Sammeln von Beeren leben und kaum Ackerbau kennen. W-Teilchen - Träger der schwachen Kernkraft Yanomami - Ein Indianerstamm im Dschungel des Amazonas beheimatet. Zahlentheorie - Zweig der Mathematik, der sich mit den unterschiedlichen Arten von Zahlen beschäftigt. Zellkern - Ein durch eine Doppelmembran von der übrigen Zelle abgetrennter Teil einer eukaryotischen Zelle. Der Kern enthält vor allem die DNS der Zelle. Z-Teilchen - Träger der schwachen Kernkraft Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik - S = k(lnP); (mit S = Größe der Entropie; k = BolzmannKonstante; ln = natürliche Logarithmus; P = Größe der Wahrscheinlichkeit). Die Formel sagt Folgendes aus: Je höher die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Ereignisses ist, dass zu einer Zustandsänderung eines Systems führt, desto geringer ist die Entropie dieses Systems. Zytoplasma - Eine wässrigen Lösung im Inneren einer Zelle.
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Physik 1
Welt am Sonntag 2000, 19.9. S. 38 Wigner, nach Wilson 2000, S. 67 3 Tipler 1995, S. 24 4 Tipler 1995, S. 26 5 Aristoteles, nach Gierer 1998, S. 153 6 Pleger 1998, S. 189 7 Pleger 1998, S. 90 8 Williams 1998, S. 180 9 Tipler 1995, S. 164 10 Dawson 1999 11 Smolin 1997, S. 231 12 Smolin 1999, S. 38 13 Smolin 1999, S. 291 14 Genesis 1,1; 1,2 15 Marquard 1994, S. 105 f. 16 Deutsch, nach Davis 1996, S. 329 17 Genesis 1,26; 1,27 18 Genesis 1,4 19 Welt am Sonntag 2000, 19.9. S. 37 f. 20 Weinberg 1994, 121 21 Hawking, nach Gribbin & Rees 1994, S. 285 22 Thomas von Aquin 1986 23 Genesis 3, 20 24 Adams & Laughlin 2000 25 Pleger 1998, S. 25 26 Hogan 1997 27 Pössel 2001, S. 12 28 Thomas von Aquin 1986 29 Einstein, nach Smolin 1999, S. 219 30 Pleger 1998, S. 89 31 Gribbin & Rees 1994 32 vgl. Smolin 1999, S. 196 33 Der Spiegel 26.7.1999 34 Einstein, nach Smolin 1999, S. 14 35 Tipler 1995, S. 36 36 Leibniz, nach Smolin 1999, S. 257 37 Tipler 1995, S. 16 38 Feynman 1992, S. 114 39 Davis 1996, S. 242 40 Feynman 1992, Abb. 63, verändert 2
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Evolution 1
Lorenz 1973 Williams 1998, S. 42 3 Liles, nach Williams 1998, S. 80 f. 4 Tipler 1995, S. 162 5 Lovelock 1993, S. 17 6 Darwin, nach: Kelly 1999 S. 44 7 Lotka, nach: Kelly 1999, S. 128 8 Williams 1998, S. 126 9 Smolin 1999, S. 155 10 Pollmer & Warmuth 2000, S. 99 11 Weserkurier vom 6.1.2001, S. 22 12 Wilson 2000, S. 148 f. 13 Genesis 1,11, 1,12 14 http://www.wissenschaftonline.de/artikel/572598 15 Arrhenius et al. 1996 16 Gee 1997, zitiert nach: www.nature.com 2
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Roth 2000 Aristoteles 1980, S. 111 f. 64 Trivers 1971 65 Pinker 1998, S. 498 66 de Waal 2000, S. 39 67 Goudie 1994 68 Whiten & Boesch 2001, S. 30 f. 69 Whiten & Boesch 2001, S. 32 70 Weiner 2000, S. 163 71 Microsoft Encarta 1997 72 Darwin 1871 73 de Waal 2000, S. 42 74 Kelly 1999, S. 286 75 Murdock, nach: Wilson 2000, S. 198 76 Brown 1991 77 Watson, nach Weiner 2000, S. 98 78 Galton, nach Weiner 2000, S. 130 79 Cronin, nach Ridley 1997, S. 219 80 Forsyth 1987, S. 15 81 Hall, nach Weiner 2000, S. 226 82 Weiner 2000, S. 327 83 Benzer, nach Weiner 2000, S. 331 84 Kant, nach Wilson 2000, S. 331 85 Wilson 2000, S. 332 86 Wilson 2000, S. 334 87 de Waal 2000, S. 101 88 Freedman 1958 89 Damon 1999, S. 63 ff. 90 Weiner 2000, S. 168 91 Cialdini 2001, S. 61 92 Spek. d. Wiss. 1999, S. 80 ff. 93 de Waal 2000, S. 70 94 Lorenz, 1973 95 Gould 1997, S. 52 96 Ridley 1997, S. 224 ff. 97 Forsyth 1987, S. 237 ff. 98 Pinker 1998, S. 571 99 Autori vari 2000 100 Ridley 1997, S. 209 101 Axelrod 1984 102 Ridley 1997, S. 112 ff. 103 Sigmund 1997, S. 307 104 Damon 1999, S. 68 105 Lucas, 6,29; 6,35 106 Pinker 1998, S. 524 63
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108
9
Pinker 1998, S. 511 Gardner 1999, S. 22 f. 109 Pinker 1998, S. 45 f. 110 Williams 1998, S. 88 111 Cranach 1516 112 zitiert nach: Wickler 1971, S. 53 f. 113 Cialdini 2001, S. 61 114 Genesis 2, 2-3 115 Hall, nach Weiner 2000, S. 226 116 Exodus 23.12 117 http://www.wissenschaftonline.de/abo/ticker/572884 118 Wickler 1971, S. 184 f. 119 Lorenz 1973 120 Lorenz 1973 121 Wickler 1971, S. 102 122 Wickler 1971, S. 107 123 Brown, nach Wickler 1971, S. 110 124 Mt 5, 21 125 Lorenz 1973 126 Maximoff, nach Wickler 1971, S. 115 127 Matussek 2001, S. 260 128 Pinker 1998, S. 591 129 Williams 1998, S. 95 130 Daly & Wilson 1994 131 Buch der Sprüche, Salomo 6,34 132 Pinker 1998, S. 588 133 Ridley 1997, S. 130 ff. 134 Coulson 1966, S. 269 ff 135 Wickler 1971, S. 63 136 Frank 1969 137 Weiner 2000, S. 109 138 Wickler 1971, S. 135 f. 139 Hufton 1999, S. 30 140 Wickler 1971, S. 141 141 Damon 1999, S. 70
Emergenz 1
Prediger 1,9-10 Dawson 1999 3 Tipler 1995, S. 15 4 Feynman 1992, S. 14 5 Wilson 2000, S. 34 6 Smolin 1999, S. 187 7 Lovelock 1993, S. 60 2
332
Kelly 1999, S. 90 Sigmund 1997, S. 44 10 von Randow 1997 11 Der Spiegel 46/1997 12 Minsky, nach Kelly 1999, S. 56 13 Pinker 1998, S. 103 14 Pinker 1998, S. 109 15 Genesis 3, 5 16 Genesis 3, 17-19
Transzendenz 1
Smolin 1999, S. 27 Smolin 1999, S. 223 3 Thomas von Aquin 1986 4 Feynman 1992, S. 114 5 Pinker 1998, S. 45 f. 6 Wilson 2000, S. 223 7 Smolin 1999, S. 211 8 Pinker 1998, S. 38 f. 9 Smolin 1999, S. 70 10 Smolin 1999, S. 88 11 Thomas von Aquin 12 Smolin 1999, S. 272 13 Smolin 1999, S. 304 14 Dawkins, nach Pinker 1998, S. 389 15 Löw, 1994, S. 153 16 Tipler 1995, S. 166 17 Pleger 1998, S. 24 18 Tipler 1995, S. 274 ff 19 Jonas, nach Löw, 1994, S. 95 20 Scotus Erigena 870; zitiert nach: Microsoft Encarta 1998 21 Pinker 1998, S. 185 22 Pinker 1998, S. 184 f. 23 Margulis & Sagan 1997, S. 23 f 24 Williams 1998, S. 176 25 Tipler 1995, S. 285 26 Tipler 1995, S. 292 27 Matthäus 22, 30 28 Genesis 2, 25 29 Welt am Sonntag vom 25.7.1999 30 Wilson 2000, S. 147 f. 31 Tipler 1995, S. 369 2
45
Exegese 1
de Duve 1995, S. 190 ff Kelly 1999, S. 17 ff 3 Tipler 1995, S. 270 4 Wilson 2000, S. 328 5 Pinker 1998, S. 642 6 de Waal 2000, S. 200 7 Brown 1991 8 Dolzer 2000 9 Forsyth 1987, S. 238 10 de Waal 2000, S. 166 11 Gierer 1998, S. 267 12 Rawls 1975 13 Wilson 2000, S. 326 14 4. Mose, 31, 17-18 15 Pinker 1998, S. 633 f. 16 Lorenz 1973 17 Genesis 11,6 11,7 18 Genesis 1,25; 1,26 19 Wilson 2000, S. 371 20 de Waal 2000, S. 108 21 Gould 1997, S. 59 22 Autori vari 2000 23 Eibel-Eibelsfeld 1997, S. 269 24 Wickler 1971, S. 161 25 Pinker 1998, S. 210 26 Weser-Kurier vom 13.3.2001, S. 6 27 Spektrum-Ticker vom 4.12.2000 28 Der Spiegel 39/1999 29 Daly & Wilson, nach Pinker 1998, S. 537 30 Der Spiegel 29/1998 31 Weser Kurier vom 25.11.2000 32 Wilson 2000, S. 309 33 Damian et al. 1996 34 Der Spiegel 46/1997 35 Bildnachweis: http://www.finfin.de. 36 Der Spiegel 23/1 998 37 Puttkamer 1996, S. 336 38 Puttkamer 1996, S. 306 39 Puttkamer 1996, S. 306 40 Tipler 1995, S. 189, verändert 41 Kelly 1999, S. 184 42 Kelly 1999, S. 199 43 Sigmund 1997, S. 31 44 Wilson 2000, S. 329 2
Genesis, 3,4; 3,5 Wilson 2000, S. 352 47 Powers 1992, S. 13 48 Wheeler, nach Ferguson 2001, S. 96 49 Einstein, nach Ferguson 2001, S. 99 f. 50 Ferguson 2001, S. 184 51 Wheeler, nach Ferguson 2001, S. 51 52 Welt am Sonntag vom 15.4.2001, S. 1 53 Wilson 2000, S. 359 54 Marquard 1981, S. 76 55 Pleger 1998, S. 189 56 Horgan 2000 57 Pleger 1998, S. 91 58 Monod, nach Gierer 1998, S. 226 59 Wilson 2000, S. 14 46
333