Seewölfe 100 1
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Seewölfe 100 1
Fred McMason 1.
„Ich kann schon das Meer riechen“, erklärte der Schiffsjunge Bill, der ganz vorn auf der Back der „Isabella VIII.“ stand und angestrengt nach vorn blickte. Dabei lief ihm der Schweiß in Strömen über das schmale Gesicht. Er hob die Hand und wischte sich die Tropfen von der Stirn. Der drahtige, blonde Bob Grey winkte müde ab. „Das Meer ist noch weit, Junge, und was du riechst, ist nichts weiter als das Brackwasser des Flusses .und bestenfalls noch der Gestank nach ein paar toten Fischen.“ Der Junge, lang aufgeschossen und mager, wischte sich eine Strähne seines schwarzen Haares aus dem Gesicht, die dort wie festgeklebt hing. Er wollte etwas entgegnen, doch er war einfach zu faul dazu. Die verdammte Äquatorhitze, das drückende Klima, die Moskitos und diese Luft, die sich wie ein feuchter Schwamm auf die Lungen legte, setzten ihm gehörig zu. So starrte er schweigend ins Wasser, das sich lehmgelb und tückisch dahinwälzte, unwahrscheinlich breit und reißend. Überall in diesem gewaltigen Delta des Amazonas lagen grüne Inseln, die man sorgfältig umfahren mußte, wollte man nicht unversehens auf einer Sandbank stranden. Jeden Tag veränderte der Fluß sein Gesicht. Heute verschlang er kleine Inseln, morgen spie er andere wieder aus. Es war ein gefährliches Navigieren in diesem höllischen Labyrinth. Der Junge riskierte einen trägen Blick zum Achterkastell, wo der Seewolf, Ben Brighton und der bullige Carberry standen. Auch sie bewegten sich kaum von der Stelle. Alles schien vor sich hin zu dösen, sogar Donegal Daniel O’Flynn im Großmars ließ den Kopf hängen und wedelte sich ab und zu mit den Händen frische Luft zu, die es hier gar nicht gab. Der mächtige Strom schob, riß und drängte die ranke Galeone mit sich, durch das Delta hindurch dem Atlantik entgegen, nach dem sich jetzt alle sehnten.
Das Drachenschiff
Ja, davon träumten sie insgeheim, die Seewölfe. Vom kühlen Wind einer frischen Atlantikbrise, von geblähten Segeln, von Wellen, die ihnen die Mattigkeit aus den Knochen trieb, diese lausige Mattigkeit, die sich vom Körper auf den Geist übertrug, die sie zu teilnahmslosen, fast apathisch wirkenden Geschöpfen werden ließ. Sie hatten genug vom „Wolkenwasserlärm“, von den Myriaden hinterhältiger Insekten, die ihr Blut saugten, sie quälten und peinigten, genug von dem dampfenden Dschungel und der Bleihitze und dem wilden feuchten Atem der riesigen undurchdringlichen Wälder. Auch das Geschrei störte sie jetzt, dieses ewige Konzert, das Kreischen der Affen, Zirpen der Insekten, das Geschrei der Vögel und das heisere Fauchen irgendwelcher unsichtbarer Raubtiere. Bill schlief fast im Stehen, und er bedauerte nur Pete Ballie, der am Ruder stand und das Schiff steuerte, obwohl kein Windhauch die Segel bewegte. Der muß sich doch tot schwitzen, dachte der Junge, und er darf sich nicht die kleinste Unaufmerksamkeit beim Steuern leisten. Wieder tauchten mächtige, grüne und wildbewachsene Inseln vor dem Schiff auf. Die „Isabella“ fiel hart nach Backbord ab, scherte aus und umfuhr das große tückische Hindernis in einem eleganten Bogen. Weit hinter ihr folgte der schwarze Segler, der sich in dem Gewirr der vielen Inseln noch schlechter steuern ließ als die „Isabella“. Auch seine schwarzen Segel hingen schlaff und wie leblos von den Rahen. Bill stieg in die Kuhl hinunter wie ein müder alter Mann. Ein Bad müßte man jetzt nehmen, dachte er, ein frisches kühles Bad. Aber in diesem von Kaimanen und Piranhas verseuchten Urwaldstrom war daran natürlich nicht zu denken. Er sah die vor sich hin dösenden Männer, die es sich im Schatten des Segels bequem gemacht hatten, und setzte sich dazu. Niemand sprach ein überflüssiges Wort. Sie sahen ihn nur an und schwiegen. Vielleicht dachten sie auch an die goldene
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Stadt der Inkas, an die goldene Galeone, die sie entdeckt hatten, und an die Amazonen, jene kriegerischen Frauen, die ihnen den Weg zu der goldenen Stadt der Inkas gewiesen hatten. Vielleicht aber dachten sie auch an gar nichts. Dagegen herrschte auf dem Achterkastell der Galeone eine fast rege zu nennende Betriebsamkeit. „Aufpassen, Pete“, sagte der Seewolf warnend, der neben dem offenen Ruderhaus stand und aufmerksam nach vorn blickte. „Etwas mehr Backbord, sonst laufen wir in den Strudel hinein, und der sieht mir ganz danach aus, als befände sich direkt darunter eine Sandbank.“ Pete Ballie, der stämmige blonde Rudergänger mit den großen Fäusten, ließ die Galeone leicht abfallen und stöhnte leise. Auch ihm rann der Schweiß über den nackten Oberkörper. Er schwitzte noch mehr als die anderen, denn zu seiner körperlichen Arbeit kam noch die ständige Bereitschaft und Aufpasserei, damit sie in diesem grünen Höllengewirr nicht irgendwo aufliefen. Der tückische Strudel wurde umfahren. Es waren Sand und Morast, die der Amazonas zu einer langgestreckten Wand zusammengeschoben hatte, an der sich ständig das Wasser brach. „Soll ich das Ruder übernehmen?“ fragte der Seewolf. Pete schüttelte den Kopf. „Nein, Sir, ich kann es noch eine Weile aushalten. Geht es da vorn Back- oder Steuerbord weiter?“ Weit vor der „Isabella“ teilte sich der Fluß erneut. Es war eine jener tückischen Stellen, die schmal waren, durch die reißendes Wasser schoß und die sich nach ein paar Meilen wieder in den Riesenfluß zurückverwandelten. Dort waren die Ufer keine zweihundert Yards voneinander entfernt. Hasard wußte es selbst nicht genau. Es war unmöglich, sich den genauen Stromverlauf über Hunderte von Meilen zu merken, zumal er ständigen Veränderungen unterworfen war. Das hier war keine Themse, die relativ ruhig dahinfloß. Hier war es die reine
Das Drachenschiff
Hölle, ein Irrgarten, ein Labyrinth des Todes mit tückischen Schlamm- und Sandbänken, wild über das Wasser hinausragenden abgestorbenen Baumriesen, faulenden treibenden Stämmen und wilder Vegetation, die weit in den Fluß wucherte. An den Ufern zeterte, schrie und keckerte es. Es zirpte, röhrte, fauchte und brüllte. Dazu kamen das Rauschen des Stromes, das Brodeln des Wassers. das Schmatzen des Schlamms und das schrille Kreischen vieler bunter Vögel, die erschreckt hochflatterten, sobald das Schiff vorbeifuhr. Hasard mußte sich entscheiden, denn viel Zeit blieb nicht mehr. Die grüne Hölle rückte rasch näher. Er warf Ben Brighton einen fragenden Blick zu, doch der hob nur resignierend die Schultern. Er konnte sich an diese Stelle auch nicht mehr erinnern. „Wir bleiben auf der Steuerbordseite“, sagte der Seewolf ruhig. Ein Blick nach achtern überzeugte ihn, daß auch der schwarze Segler auf den gleichen Kurs einschwenkte. Offenbar wußte man dort auch nicht weiter und orientierte sich am Kurs der „Isabella“. Dan, der hoch oben im Großmars zusammen mit dem Schimpansen Arwenack saß, hob hilflos die Hände. Es war eine Gebärde; die dem Seewolf verriet, daß es Dan leid tue, er aber auch nicht wisse, wie das Fahrwasser weiter verlaufe. Das war immer eine der Stellen, die auch den müdesten der Seewölfe auf die Beine brachte. Jetzt reckten sie in der Kuhl alle die Köpfe, als das tückische Fahrwasser erreicht wurde. Schlagartig schob sich der Urwald zusammen. „Hahaha, Affenarsch, hahaha, was-wie!“ Ein wüstes Gezeter hob an. Es ertönte auf der Rahnock des Großmastes, auf der aufgeplustert Sir John, der karmesinrote Papagei, hockte, der dem Profos vor ein paar Wochen auf die Schulter geflogen war. Seitdem hatte er die „Isabella“ nicht mehr verlassen, und die meisten der Seewölfe hatten ihn als letztes Besatzungsmitglied längst integriert.
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Sir John hatte schnell gelernt und in erstaunlicher Eile Carberrys Flüche nachgekrächzt. Die schlimmsten Wörter gingen ihm runter wie Öl, die harmlosen kapierte er nicht, oder er vergaß sie rasch wieder. In dieser Beziehung war der karmesinrote Papagei mit dem vorlauten Schnabel wie ein junger Bengel. Je gröber die Wörter, desto leichter ließen sie sich merken. Er flatterte ein paarmal, dann reckte er seinen Hals und erhob sich in die brühwarme Luft. Wild mit den Flügeln schlagend, flog er in das Dickicht und hockte sich auf einen Ast. „Den sind wir los“, meinte Carberry bedauernd. „Schade, und dabei konnte er fluchen wie ein - äh -ein ...“ „... wie ein Profos“, half der Seewolf nach. Er hatte jetzt jedoch keine Zeit, sich qm Sir John zu kümmern, der reglos in dem dichten Blättergewirr hockte und der „Isabella“ wüste Flüche nachkrächzte. „Affenarsch, Kakerlaken“, tönte es grell aus dem Gewirr des Dschungels. Und dann wieder: „Hahaha, hahaha!“ „Dieses Mistvieh“, sagte Matt Davies leise. „Jetzt haut es ab und verspottet uns noch!“ Auch er schüttelte enttäuscht den Kopf, genau wie Dan, der dem großen Vogel mit Bedauern nachblickte und ihn lockte. Sir John wäre kein vollwertiges Besatzungsmitglied gewesen, wenn er sich so einfach empfohlen hätte. Die Seewölfe hatten es ihm nun einmal angetan, und nach einer knappen Minute flatterte er reumütig auf die Rahnock zurück. Von dort äugte er mit schief gelegtem Kopf auf das Deck hinunter, ohne zu fluchen. Die Männer grinsten erleichtert, als sich Sir John seelenruhig sein Gefieder vornahm und es mit dem Schnabel durchkämmte. Die „Isabella“ gewann rasch an Fahrt, als sie auf das immer enger werdende Fahrwasser zuschoß. Es war wie ein Schlauch, rechts und links von geheimnisvoller Wildnis umgeben, die fast bis ans Schiff reichte. Prächtige Orchideen leuchteten aus dem Dschungel, riesige Aasblüten und Aufsitzerpflanzen
Das Drachenschiff
verströmten einen betäubenden Geruch. Über allem aber hing brühwarm und dick wie eine Mauer die drückende Luft. die das Atmen zur Qual werden ließ. Vor der Bugwelle flohen Wasservögel, farbenprächtige flinke Tiere, die übers Wasser flitzten und sich krächzend in die Luft erhoben. Im Uferschlamm lagen Kaimane mit weit aufgerissenem Rachen und dösten vor sich hin. „Genau Strommitte halten“, sagte der Seewolf zu dem Rudergänger, der angespannt voraus blickte. Dort, wo der Schlauch breiter wurde, zeigten sich wieder Inseln, und für Pete Ballie sah es so aus, als würde der Urwald dort zusammenwachsen und die „Isabella“ genau hineinfahren. Er schwitzte noch stärker. Ganze Sturzbäche liefen ihm über den nackten Rücken, es biß und juckte, aber Pete getraute sich nicht, eine Hand vom Ruder zu lösen und sich ausgiebig zu kratzen. Er mußte höllisch aufpassen. Zu allem Überfluß irritierte ihn der Kutscher, der die Kombüse ver- lassen hatte, nun an Deck stand und aufgeregt mit den Armen fuchtelte. Er schien Smoky, dem Deckältesten, etwas zu erklären. aber der hob nur ratlos die Schultern. Ben Brighton sah dem Treiben eine Weile zu. Noch ein paar Männer gesellten sich zu dem Kutscher-Batuti, Luke Morgan und der alte Segelmacher Will Thorne. Immer wieder hieb der Kutscher wütend durch die Luft, dann ging er entschlossen zum Achterkastell. Der Seewolf konzentrierte sich so auf den Flußverlauf, daß er den Kutscher nur aus den Augenwinkeln bemerkte. Daher wandte sich der fluchende Mann an Ben Brighton. „In Zukunft wird das Essen etwas fader schmecken“, teilte er Ben mit. „Das wollte ich nur bemerken, falls später einer über mein Essen meckert.“ „Sind dir die Kakerlaken ausgegangen?“ fragte Brighton, ohne das Gesicht zu verziehen.
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„Die Ka ... das ist ja wohl die Höhe“, schnaufte der Kutscher empört, der bei Sir Freemont gedient hatte und eine Menge von der Medizin verstand. „Das Salz ist es, Ben. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit ist es zu einem häßlichen Brei zerlaufen. Den Mist kann ich wegschmeißen.“ „Dann nimm Seewasser zum Würzen“, schlug Ben ungerührt vor. „Wenn du keine anderen Probleme hast, dann ...“ Der Kutscher sah aus, als wolle er Gift und Galle spucken. „Das Brot. das ich auf Vorrat gebacken habe, ist total verschimmelt und vergammelt. Wenn wir noch lange hier herumkrebsen, verfault mir selbst das Salzfleisch, die Bohnen quellen auf, und die Dörrpflaumen nehmen wieder ihre ursprüngliche Gestalt an. Was, zum Teufel, soll ich denn nur tun?“ „Vor allem nicht fluchen“, sagte Ben Brighton. „Davon wird es auch nicht besser. Wirf das vergammelte Zeug über Bord. Salz kannst du selbst gewinnen, indem du Meerwasser verdunsten läßt.“ Brightons Stimme war lauter geworden, denn jetzt zeterte, keifte und schrie es von beiden Ufern. Ein Höllenspektakel begann, und das alles krönte Sir John, der mit gesträubtem Gefieder auf der Rahnock hockte und wie verrückt kreischte. Den Seewölfen taten die Ohren weh von dem Konzert der Hölle. Als der Kutscher sauer zum Vordeck zurückging, streiften weit ausladende Äste die Mastspitzen der „Isabella“. Riesige Tausendfüßler fielen an Deck, die der Kutscher angewidert mit dem Fuß fortschleuderte. Selbst Arwenack stimmte noch in das Gezeter ein, das kein Ende zu nehmen schien. Gemeinsam mit dem AracangaPapagei kreischte er um die Wette. „Dieser Höllenspektakel geht mir allmählich auf die Nerven“, sagte Ben. „Ich bin froh, wenn ...“ Er konnte seinen Satz nicht beenden. Das Geschehnis am rechten Ufer lenkte ihn ab. Dort kreischte eine Affenhorde los, die sich wild prügelte. Sie flitzten die Baumstämme hoch. bissen sich
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gegenseitig, zeterten und schrien wie am Spieß. Einer, der auf einem dünnen Ast entlang turnte und von einem anderen verfolgt wurde, verlor das Gleichgewicht, schrie grell und landete sofort darauf auf dem Quarterdeck. Zeternd raste er los, als er die vielen Männer sah. Er flitzte in die Kuhl, rannte weiter und war, noch bevor jemand eingreifen konnte, mit einem wilden Satz über Bord gesprungen. Der Affe schwamm und schlug um sich, dabei kreischte er in höchster Angst. Er wußte, was hier im Fluß auf ihn lauerte, und deshalb wollte er die Strecke so schnell wie möglich hinter sich bringen. Auch die Seewölfe bedauerten den armen kleinen Kerl, den die nackte Angst weitertrieb, der die Zähne ‘ fletschte und dessen Augen angstvoll aufgerissen waren. Mit den Blicken folgten sie ihm, bis er sich kurz vor dem Ufer befand. Aus dem Gewirr von Schlamm, toten abgestorbenen Baumstämmen, modernden Pflanzen und faulen Ästen erhob sich träge ein Kaiman, als sich der Affe näherte. Seine Trägheit verschwand, der Körper wurde schnell und geschmeidig und glitt mit einem Satz ins schlammige Ufer. Bis der Affe die Gefahr erkannte, war es zu spät. Er stand noch auf allen vieren, als der große Kaiman zuschnappte. Starke Kiefer hieben in den schmächtigen Körper des Tieres, das jetzt einen gellenden Schrei ausstieß, der sich wie der Todesschrei eines Menschen anhörte. Das war der Augenblick, in dem Pete Ballie abgelenkt wurde. Er sah schnell zum Ufer hin und schloß eine Sekunde lang die Augen. Dabei lief die „Isabella“ ganz geringfügig aus dem Kurs. Außerdem war hier der Schlauch zu Ende, das Fahrwasser verbreiterte sich, viele Inseln tauchten im Delta auf. „Hart Backbord!“ schrie der Seewolf, als er die Gefahr erkannte und die ranke Galeone sich beängstigend rasch einer der Inseln näherte. Von links drückte der Strom den Segler immer mehr zur Seite. Durch die
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Verbreiterung des Fahrwassers schwoll der Fluß beängstigend rasch an. Hasard war mit einem Satz am Ruder, um die sich anbahnende Katastrophe zu verhindern, denn dicht vor dem Bug wuchs eine der zahlreichen tückischen Sand- und Schlammbänke aus dem Amazonas, die sie schon mehr als einmal das fürchten gelehrt hatten. Hart wirbelte er das Ruder herum, bis es im Ruderlager auf Widerstand stieß. Der Seewolf versuchte, an der Schlammbank vorbeizusteuern, um Kurs auf die weit dahinter liegende Urwaldinsel zu nehmen. Dazu war es jetzt zu spät, das erkannte er klar und deutlich. Wäre die „Isabella“ unter voller Besegelung gefahren, hätte das Manöver sicher erfolgreich geendet. Hier reagierte sie zu träge. Ein ellenlanger Fluch drang über seine Lippen. Aus den Augenwinkeln sah er die verzerrten Gesichter seiner Leute, die die Hände ballten und Daumen drückten. „Fallen Anker!“ schrie er laut. Vielleicht gab es noch eine letzte Möglichkeit, überlegte er fieberhaft. Der Heckanker konnte die „Isabella“ aus dem Kurs reißen, wenigstens so weit, daß sie nur leicht mit der Steuerbordseite die Bank schrammte. Die Schlammbank war jedoch tückischer, als er gedacht hatte. Als der Anker ins Wasser klatschte, ging ein winziger Ruck durch das Schiff. Ganz leicht hob sich der Bug aus dem Wasser, dann drückte er nieder, es kratzte und schurrte, und sofort verlor das Schiff ganz rapide seine Fahrt. Ein paar Sekunden später saß die „Isabella“ fest. Um den Rumpf herum blubberten Blasen, lehmgelb und schmierig sahen sie aus. Pete Ballie raufte sich die Haare. „Ich bin schuld daran“, jammerte er. „Ich hätte ...“ „Quatsch“, unterbrach ihn Hasard grob. „Niemand hat schuld daran, wir kennen das Fahrwasser zu wenig. Außerdem verändert es sich täglich. Fiert die Ankertrosse etwas nach!“ befahl er dann. Auch das half nicht mehr. Der Anker slippte durch den Schlamm, er hielt nicht.
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Immer mehr drückte der mächtige Strom das Schiff zur Seite, bis es fast quer zur Fahrtrichtung lag. Der Seewolf fluchte nicht oft, aber diesmal tat er es lange und ausgiebig, denn jetzt näherte sich das Unheil in Gestalt des schwarzen Seglers, der rasch heranglitt. Immer größer und mächtiger wurde der Bug des Schiffes. Keine Macht der Welt konnte es jetzt noch aufhalten. „Verflucht!“ schimpfte Ed Carberry in ohnmächtiger Wut. „Der Kasten rammt uns genau mittschiffs! Die haben noch gar nicht gemerkt, daß wir festliegen.“ 2. „Eiliger Drache über den Wassern“, wie der schwarze Segler hieß, tat seinem Namen alle Ehre an. Groß, mächtig und unverwüstlich glitt er eilig über den reißenden Strom, als könne nichts ihn aufhalten. Das pechschwarze Schiff rauschte wie ein Bote des Todes heran. Der schwarze Rumpf, die schwarzen Masten und die aufgegeiten schwarzen Segel ließen ihn unheimlich und fremd erscheinen. Beim bloßen Anblick des Schiffes duckte man sich unwillkürlich. Am Kolderstock stand der mächtige Wikinger, in rauchgraue Felle gehüllt. Er trug trotz der brüllenden Hitze seinen glänzenden Kupferhelm. Neben ihm wirkte Siri-Tong zerbrechlich, die jetzt die Augen zusammenkniff und nach vorn zur „Isabella“ blickte, die langsam aus dem Kurs scherte. Sie hatten gesehen wie der Affe an Deck gefallen war, und es war ihnen auch nicht entgangen, daß das verängstigte Tier einem Kaiman zum Opfer fiel, der es buchstäblich zerfetzte. „Gib acht, Thorfin“, sagte die Rote Korsarin. „Die Seewölfe legen Hartruder!“ „Ich sehe es“, erwiderte der Wikinger ruhig. „Die weichen einer Sandbank aus. Verdammter Strom!“ setzte er hinzu. Danach überschlugen sich die Ereignisse, und jetzt hatte der Wikinger plötzlich alle Hände voll zu tun.
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Die „Isabella“ lief auf, drehte sich, schwoite herum, der Anker fiel. Sie versperrte einen Teil des Fahrwassers, genau an jener Stelle, wo der Fluß wieder zusammenlief. Nicht einmal der erfahrene Wikinger reagierte so schnell wie Siri-Tong. Sie erfaßte die Situation auf den ersten Blick, schob ihren schmalen Körper an den seinen und drückte nach, um den Druck auf den Kolderstock zu verstärken. „Hartruder, Thorfin!“ schrie sie. Thorfin Njal erkannte jetzt ebenfalls, was sich da anbahnte. Die „Isabella“ wurde scheinbar immer länger - und sie fuhren genau auf die Schiffsmitte zu. „Bei Odin und seinen Raben“, knurrte der riesige Mann. Seine mächtigen Fäuste drückten den Kolderstock mit einem Ruck herum. Gleichzeitig begann der Amazonas an dem Schiff zu schieben und zu zerren, als wolle er es direkt in die Galeone hineinlaufen lassen. Langsam, viel zu langsam fiel „Eiliger Drache über den Wassern“ ab und scherte aus dem Kurs. „Die Galeone ist aufgelaufen“, sagte SiriTong, „sie sitzt fest, Thorfin!“ Fieberhaft überlegte sie, wie man den Seewölfen jetzt helfen könnte. Aber es gab nichts zu helfen, sie konnten bei dieser Windstille nicht wenden, und wenn, dann wäre es ein Manöver von mehreren Meilen geworden. Selbst wenn sie Anker warfen, half das nichts mehr. Sie konnten nur von Glück sagen, wenn sie mit der „Isabella“ nicht gleich zusammenstießen. Jetzt sah es ganz danach aus, als der Strom das Schiff immer mehr zur Seite versetzte. Der Wikinger gab keine Antwort. Die neue Situation war so schnell entstanden, daß es ihm die Sprache verschlug. Außerdem hatte er genug damit zu tun, das Schiff vorsichtig aus dem Kurs zu steuern. Auch an Deck des schwarzen Seglers hatte man verfolgt, was da passiert war. Insgeheim betete jeder der rauhen Gesellen darum, daß die beiden Schiffe nicht zusammenstoßen mögen, denn dann gab es hier Kleinholz und vielleicht ein paar Tote.
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Siri-Tong verschwand vom Achterdeck, flankte mit einem Satz in die Kuhl und stand bei dem Boston-Mann, dessen goldener Ohrring wild schlenkerte. Er hatte die Hände in Hüfthöhe geballt und bewegte sie unruhig auf und nieder. „Das schaffen wir nicht mehr“, sagte er rauh. „Es ist zu spät, um auszuweichen.“ Thorfin Njal am Ruder schwitzte Blut und Wasser. Unter seinem Helm juckte und brannte es. Er hatte das ekelhafte Gefühl, als laufe dort ein ganzes Ameisenheer Amok. Der schwergebaute Mann sah nur noch einen allerletzten Ausweg, um die mittschiffs drohende Kollision zu verhindern. Er mußte die „Isabella“ hart anlaufen, dann Ruder legen und mit der Breitseite daran vorbeischeren. Daß die Bordwände sich dabei berühren würden, konnte nicht ausbleiben. Aber die Beschädigung würde nicht sehr groß werden. Zum Greifen nahe hing das Schiff jetzt vor ihnen, als der Wikinger Ruder legte. Auf der Galeone sahen sie seine mächtige, alles überragende Gestalt, die den Kolderstock bewegte, als sei er ein kleiner Knüppel. „Haltet euch fest!“ brüllte er mit Donnerstimme. „Paßt auf, daß keiner über Bord geht.“ Siri-Tong hatte plötzlich eine Idee. Sie sah den Boston-Mann an, der immer noch die Hände geballt hatte. „Schnell, das starke Tau, Boston-Mann! Werft es hinüber, sobald wir an der ‚Isabella’ vorbeischeren. Los, ihr anderen, willig, beeilt euch! Mit etwas Glück kann es uns gelingen, die Galeone herunterzuziehen. Wartet mit dem Festhalten, bis wir achterlich vorbei sind!“ Die Männer kapierten sofort. Das schwere Tau wurde aufgenommen und lose um den achteren Doppelpoller gelegt. Juan stand bereit zum Nachfieren. Dann war es soweit. Der schwarze Segler scherte so dicht an der Bordwand der „Isabella“ vorbei, daß keine Hand mehr dazwischen paßte. Die Männer sahen sich nur stumm in die Augen, doch die Seewölfe hatten ebenfalls begriffen, um
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was es ging und was der Boston-Mann und Juan beabsichtigten. Edwin Carberry vergaß seine Flüche. Die Zunge lag ihm wie ein dicker Klumpen im Hals, seine Sprüche kamen einfach nicht heraus. Als die beiden Hecks sich schwach berührten, lief ein leichtes Zittern durch die Schiffe. Beide rieben hart aneinander, und dort, wo sie sich trafen, sah das Holz abgeschmirgelt aus. Dann flog das Tau zur „Isabella“ und wurde belegt. Auf dem schwarzen Segler standen jetzt zwei Männer zum Nachfieren bereit: Juan und der Boston-Mann. Rasend schnell lief das Tau um die Poller, bis sie zu qualmen begannen und sich hellgrauer zarter Rauch entwickelte. Der Boston-Mann legte einen weiteren halben Schlag, stemmte sich mit dem Fuß gegen die Polier und hielt langsam fest. Der Bootsmann Juan sorgte dafür, daß der Boston-Mann genug Lose hatte und sich nicht in dem wie wild ablaufenden Tau verfing. Spürbar nahm die Fahrt des schwarzen Seglers ab, aber die „Isabella“ rührte sich immer noch nicht, sie schwang nur ein wenig das Heck herum und blieb störrisch liegen. „Noch zwanzig Yards!“ schrie Juan. „Mehr Lose gibt’s nicht!“ „Laß sie durchlaufen!“ befahl die Rote Korsarin. „Erst bei den letzten fünf Yards hart abstoppen!“ Wie eine glühende Schlange wand sich das Tau durch die Hände. Es wurde immer heißer, bis der Boston-Mann unterdrückt stöhnte. Ein weiterer halber Schlag um die Poller, noch einer. Der Qualm wurde stärker, das Hartholz der Poller glühte. Die letzten Yards liefen ab. Der Boston-Mann fluchte. Mit einem Blick erkannte er, daß der schwarze Segler jetzt ebenfalls hart aus dem Kurs lief. Da stemmte er sich mit dem Tau in der Faust hart gegen die Poller. Die Leine pfiff, straffte sich, hing dann wieder durch, sang ein höllisches Lied, als sie sich wieder
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straffte. Mehr als siebzig Yards waren jetzt draußen. Dann brach sie mit einem peitschenden Knall. Vom Achterkastell kam das laute und ungenierte Fluchen des Wikingers, der jetzt in seiner Sprache loslegte, die außer seinen rauhen Gesellen niemand verstand. Zum Glück verstand sie niemand, denn des Wikingers grausame Flüche hätten jedem abgebrühten Mann die Stiefel ausgezogen. Wild schwang er den Kolderstock herum und schaffte es gerade noch rechtzeitig, einer sich kräuselnden Wasserfläche auszuweichen. „Der letzte Mist!“ brüllte er, und der Stör. der neben ihm stand und die Angewohnheit hatte, stets die letzten Worte seines Kapitäns zu wiederholen, sagte mit langem Gesicht ebenfalls: „Der letzte Mist!“ Siri-Tong erschien wieder auf dem Achterkastell. Die Enttäuschung war deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen. „Schade“, sagte sie leise, „ich hatte mir viel davon versprochen. Wie können wir ihnen jetzt helfen?“ Thorfin Njal hob hilflos die mächtigen Schultern. „Zunächst gar nicht, sonst laufen wir auch noch auf. Der Seewolf wird die Flut abwarten oder leichtern müssen. Nur drückt die Flut hier kaum herein“, setzte er nachdenklich hinzu. Es ärgerte ihn ebenfalls mächtig, daß das erfolgversprechende Manöver mißlungen war. Es war alles viel zu schnell gegangen. Siri-Tong blickte achteraus, wo die „Isabella“ immer kleiner zu werden schien. Sie sah die Seewölfe an Deck stehen, ebenfalls hilflos, genauso wie sie. Weit vor ihnen, wo das mächtige Delta in den Atlantik überging, lag eine Insel, von Urwald bewachsen. Sie lag mitten im Strom, der hier mächtig aus seinem breiten Bett drängte und dessen Farbe stark lehmgelb war. Die ihnen zugewandte Seite der Insel war bis ans Wasser hin von dichtem Wald bewachsen. Siri-Tong entsann sich dieser Insel wieder. Sie hatte zum Meer hin eine Bucht mit relativ
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ruhigem Wasser. „Thorfin“, sagte sie. „Wir umfahren die Insel auf Backbord und versuchen, in das Stauwasser auf der Rückseite zu gelangen. Dort können wir ankern und abwarten. Ich möchte nicht in den Atlantik hinaus, wenn Hasard dort noch festsitzt.“ „Wir werden es schaffen“, versprach der Wikinger. „Aber der Seewolf wird uns von dort nicht sehen können, wir befinden uns dann im toten Winkel.“ „Er wird nicht annehmen, daß wir hinaussegeln, jedenfalls glaube ich das nicht“, sagte sie. Sie scheuchte die Männer auf ihre Posten, und die flitzten willig los, weil sie den unterdrückten Zorn der Roten Korsarin instinktiv spürten –und fürchteten. Thorfin ließ das schwere Schiff hart nach backbord abfallen, so hart, daß es fast zur Längsachse im Strom trieb, der jetzt wieder gegen die Breitseite schob. Hier, an der kleinen Insel, war der Fluß wieder gefährlich und gurgelte scharf und laut an dem Ufer vorbei. Der Bug erreichte das Stauwasser, das Achterschiff schwang herum. Mit dem letzten Rest Fahrt lief der schwarze Segler in die Bucht. Der Anker klatschte auf Grund und hielt. Das Schiff war von den Seewölfen nicht mehr einsehbar, auch die Crew der Roten Korsarin konnte die „Isabella“ nicht mehr sehen. Siri-Tong verließ sich darauf, daß der Seewolf ihr Manöver im Geiste nachvollzog. „Wir warten so lange, bis die Flut aufläuft, oder bis wir Wind kriegen, um den Strom hochsegeln zu können“, entschied sie. „Die Galeone muß so schnell wie möglich wieder flott werden.“ Auch Thorfin und der Boston-Mann überlegten, wie man den Seewölfen helfen konnte. „Heute wird es nicht mehr klappen“, sagte der Wikinger zweifelnd, „in ein paar Stunden ist es dunkel, und den tückischen Fluß möchte ich bei Nacht nicht hinaufsegeln, jedenfalls hier im Delta nicht. Was nutzt es uns, wenn wir nachher ebenfalls irgendwo festsitzen?“
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Siri-Tong sah das ein. Der nächste Morgen mußte abgewartet werden, alles andere hatte keinen Sinn. Dann saßen wirklich beide Schiffe fest, und keiner konnte dem anderen helfen. * Carberrys Miene hatte sich verfinstert. Er starrte über das Schanzkleid in den gurgelnden Strom, der machtvoll vorbeifloß. Alles mögliche trieb heran. Bäume, große Äste, die aufgedunsenen Kadaver irgendwelcher Tiere, tote Fische, Schlamm, Lehm und Blätter. „Da ist mir die freie See doch zehnmal lieber“, sagte er grollend. „Da sieht man, was man hat, aber auf diesem lausigen Fluß mit seinen miesen Sandbänken ...“ Der Profos motzte herum, wie es seine Art war. Wenn es technisch möglich gewesen wäre, hätte er diesem verlausten Fluß die Haut in Streifen von seinem Affenarsch gezogen, so jedenfalls drückte er sich öfter aus. „Geh ihm bloß aus dem Weg“, raunte Blacky Bob Grey zu, der den Profos etwas fragen wollte, „der ist für den Rest des Tages sauer, weil wir festsitzen.“ Carberry hatte auf der anderen Seite Tiefe loten lassen, doch das Ergebnis hatte seinen Unmut nur verstärkt. Auf dieser Sand- oder Schlammbank schwemmte immer mehr Zeug an, und er hatte das Gefühl, als würde die „Isabella“ immer höher auf den Dreck gezerrt und geschoben. Schöne Aussichten waren das –und das alles praktisch vor der Haustür zum Atlantik. „Wir hätten auch sofort einen Tampen zum schwarzen Segler hinüberwerfen sollen“, meckerte er weiter, „dann hätte es ...“ Hasard legte seinem Profos leicht die Hand auf die Schulter. Carberry drehte sich um und grinste schief. „Hätte und wenn hilft uns keinen Schritt weiter, Ed! Bei dem Gefasel und den Selbstvorwürfen kommt leider nichts heraus. Überlegen wir lieber, um nach
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einem erfolgversprechenden Weg zu suchen.“ „Tut mir leid“, murmelte der Profos. „Ich denke gerade daran, daß die anderen schon bald auf dem Meer sind.“ Hasard hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Anfangs glaubte ich, SiriTong würde hinter der Insel warten. Aber man hat keinen Einblick in die Bucht. Der Urwald versperrt die gesamte Sicht.“ „Wenn sie weitergefahren sind, können wir sie ohnehin nicht sehen“, murmelte Carberry. „Wir warten den morgigen Tag und die zweite Flut ab“, sagte der Seewolf, „vorausgesetzt, die Flut bringt uns nicht heute noch herunter. Hilft das auch nichts, werden wir leichtern, und damit ihr nicht auf trübe Gedanken verfallt, bringen wir jetzt beide Anker aus, bis zum letzten Yard Tau. Ihr holt die Trossen straff, sonst drückt uns der Strom immer weiter auf die Bank.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Carberry. „Wenn die Anker halten, können wir uns morgen vielleicht daran ‘runterziehen.“ Augenblicklich kam Leben in ihn, er drehte sich um und fixierte die Männer an Deck. „Auf, auf, ihr verlausten Heringe!“ dröhnte seine Stimme. „Fiert die Boote ab, bringt Stock- und Heckanker aus! Willig, Leute, und nicht so lahmarschig! Nennt ihr das etwa Boote wegfieren, was, wie? Fiert weg, fiert weg, ihr Rübenschweine, oder soll ich euch reihenweise die Haut in Streifen von euren verdammten Affenärschen abziehen?“ „Gott sei Dank, jetzt ist er wieder normal“, meinte Blacky erleichtert. „Wenn er seine großmäuligen Sprüche klopft, kann nichts mehr schief - gehen.“ „Hoffentlich flucht er weiter“, sagte Luke Morgan. Der Profos tat ihnen den Gefallen, denn jetzt war er wieder in seinem Element. Seine Flüche hallten über Deck, bis sich um die Lippen des Seewolfes ein leichtes Lächeln stahl. „Nichts wirkt auf den Profos so erleichternd wie Fluchen“, sagte er zu Ben
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Brighton. „Sieh dir die Leute an! Die haben direkt entzückte Gesichter und arbeiten wie besessen.“ „Hmm, er ist ein guter Zuchtmeister“, gab Ben zu. „Das kann keiner besser als er.“ Es gab noch mehr Flüche, als sie mit dem schweren Anker im Boot gegen den Strom anruderten und ihn dann ausbrachten, so lang die Trosse war, und das waren immerhin gut hundertzwanzig Yards. Aber unter Carberrys wildem Brüllen wurde auch das geschafft. Jetzt lagen beide Anker weit draußen im Strom, und am Spill standen die Männer bei den Spaken und drehten, bis die Trossen straff waren und ihr Lied sangen. „Gut so“, sagte der Seewolf, „nicht mehr weiter einholen.“ Er warf einen Blick auf das Wasser. Nein, an die Flut war vor Sonnenuntergang nicht zu denken. Selbst wenn sie kam, konnte man in diesem weitverzweigten Flußdelta nicht navigieren, ohne Gefahr zu laufen, erneut mit einer Sandbank Bekanntschaft zu schließen. „Zwei Mann gehen Deckswache, einer bleibt im Ausguck!“ ordnete er an, als er noch einmal das Schiff inspizierte. Die Stimmung war nicht gerade die beste an Bord der „Isabella“, dachte er, aber vorerst ließ sich das nicht ändern. 3. Das unheimlich wirkende Schiff, das an diesem späten Nachmittag das mehr als hundert Meilen breite Delta des Amazonenstromes passierte, ähnelte dem schwarzen Segler der Roten Korsarin. Es war ebenfalls pechschwarz und trug schwarze Besegelung. Mehr als einmal hatten sich die Besatzungen anderer Schiffe heimlich bekreuzigt, wenn sie es sahen und es lautlos wie ein Schatten vorüberglitt. Es trug drei Masten, die im Gegensatz zu denen des schwarzen Seglers nicht hintereinander standen. Diese Masten waren seitlich versetzt. Den großen schwarzen Bug zierte ein häßlicher Drachenkopf, dessen Augen
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grimmig vorausstarrten. Genau der gleiche häßliche Schädel befand sich an der Flagge, die vom Topp des Hauptmastes wehte. Sein Bug trug keinen Namen, er war bis auf den Drachenkopf schmucklos schwarz gehalten. Der alte Mann lehnte fast apathisch am Großmast. Gleichzeitig und teilnahmslos blickten seine müden alten Augen über das gewaltige Delta des Stromes. Ihn fror trotz der drückenden Hitze, und er zog seine mageren Schultern noch mehr zusammen. In seinem gelblichen faltigen Gesicht traten die Wangenknochen scharf hervor. Der faserige dünne Oberlippenbart, der ihm bis weit über das Kinn hing, verlieh ihm etwas unsäglich Trauriges. Wie verloren wirkte der Alte, als gehöre er nicht hierher auf das unheimliche Schiff. Er schloß die müden Augen und schlief fast im Stehen ein. Dann zogen immer wieder die gleichen Bilder an seinen Augen vorbei, Bilder, die noch längst nicht verblaßt, die klar und scharf waren. Szenen aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit. Der alte Mann konnte die Tage und Nächte, die er auf See verbracht hatte, nicht mehr zählen. Wie lange geisterte er schon über die Meere? Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte? Es waren Ewigkeiten, ein ganzes Menschenalter. Was war alles geschehen? Die langen Jahre auf See hatten ihn geprägt und hart wie das Holz des Schiffes, auf dem er fuhr, werden lassen, aber seine Energien waren längst verbraucht. Er war nicht mehr der junge, unerfahrene Hungwan, ausgeschickt vom großen Chan des mächtigen Reiches, um ans Ende der Welt zu segeln. Er fühlte sich der Schwelle zum Tode nahe, und er wußte nicht, ob er auf See sterben würde, oder ob seine gebrechlichen Knochen die Ehre erfahren durften, im Land des Großen Chan beigesetzt zu werden, wo ihn ein zweites Leben erwartete. Seine Tätigkeit als Chronist gehörte ebenfalls längst der Vergangenheit an,
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einer Ära, die unendlich weit zurück lag. Damals war er ausgezogen, um die Welt zu erobern, eine Welt, die nur in der Vorstellung existierte, die begrenzt war von einem riesigen Abgrund und dort aufhörte, wo die wilden Wasser ins Große Nichts fielen. Träume waren es gewesen, Seifenblasen, die zerplatzten, schillernd und atemberaubend schnell hatten sie sich aufgelöst und waren harte, grausame Wirklichkeit geworden. Hung-wan öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne, die tief am Horizont stand: Was hatte es für einen Zweck, jetzt noch darüber nachzugrübeln? Seine Zeit war um, bald würde er eingehen in das Reich der himmlischen Stille. Wieder zog sich sein ausgemergelter Körper fröstelnd zusammen. Unbewußt nahm er das Plätschern des Wassers wahr, das an den Bordwänden gurgelte, jenes monotone, einschläfernde Geräusch, dem er ein Leben lang gelauscht hatte. Er sah die geblähten Segel, die das Schiff vorantrieben, einem Ziel zu, das in weiter Ferne lag. Sein müder, entsagungsvoller Blick streifte die „Gestalt des Kapitäns LiCheng, jenes Mannes, der das Leben noch vor sich hatte, der noch nicht alt, müde, abgekämpft und verbraucht war. Ein freudloses Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als sein Blick weiterwanderte, über die in dunkles Tuch gehüllten Gestalten, die schweigend am Schanzkleid standen und sich nach einem kurzen scharfen Befehl hastig umwandten, um ihrer Arbeit nachzugehen. Das Rauschen des Wassers, der warme Wind des Atlantik, das Gurgeln am Schiffsrumpf, das alles schläferte ihn schon wieder ein. Er setzte sich auf die Bretter des Laderaumes und döste vor sich hin. Die Befehle galten ihm nicht, sie waren für die Jüngeren bestimmt, denn er selbst genoß als Ältester und Weiser eine Sonderstellung an Bord des Schiffes. Niemand hätte es gewagt, ihm zu befehlen, auch Li-Cheng nicht. Der Respekt vor seinem Alter, seiner Weisheit und seiner Erfahrung war zu groß. Sie alle kannten
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seine Geschichte in allen Einzelheiten, da er noch als Chronist auf dem Schiff „Eiliger Drache über den Wassern“ gefahren war. Ab und zu schrak er auf. Das Krächzen eines Vogels riß ihn aus der Ruhe, das Schlagen eines Segels weckte ihn, oder das Knarren der Taue, Rahen und Blöcke mahnte ihn, nicht einzuschlafen. Dann sah er zu den Wassern des großen Stromes hinüber, der sich hier in das mächtige Meer ergoß und sein süßes Wasser weit in den Atlantik schob. Niemand störte die Gedanken des alten Mannes, und so war er mit sich völlig allein und grübelte. Als er sich wieder damit beschäftigte, über den Sinn des Lebens nachzudenken, erschrak er plötzlich. Mit einem Ruck setzte er sich aufrecht hin. Da war etwas, eine Veränderung, unbewußt anfangs, jetzt aber immer klarer und deutlicher werdend. Es war etwas, das die allgemeine Harmonie störte und nicht hierher paßte. Die tausend grünen Inseln hatten sich verändert. Da ragte etwas Schwarzes hervor, verschwand wieder, tauchte nach einer Weile erneut auf. Die Rahen und Masten eines Schiffes, dachte er. Schwarze Masten, schwarze Rahen, versteckt zwischen Urwald, Palmen und Gestrüpp. Sein Geist schärfte sich, der Blick seiner Augen war wieder hell und klar. Sehr aufmerksam spähte er zum fernen Ufer hin. Das namenlose Schiff segelte weiter, die Inseln auf der Steuerbordseite wuchsen wie Buckel aus dem Wasser, eine verdeckte die andere, bis er wieder die schwarzen Masten sah. Durch seinen Körper ging ein Ruck, und etwas fuhr ihm schmerzhaft in die Glieder. Er glaubte, jeden Augenblick würde sein Herzschlag aussetzen. Mit beiden Händen griff er an die Brust. Aus seinem halbgeöffneten Mund drang ein klagender Laut, ein wildes, unkontrollierbares Zittern durchlief ihn. Er hatte nicht die Kraft, um mit der Hand über
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die Augen zu wischen, denn was er sah, konnte er nicht glauben. Hatte er nicht gerade eben noch seine Gedanken über „Eiliger Drache über den Wassern“ gesponnen? Ließ sich Wunschdenken realisieren? Gab es das, daß ein Traum von einer Minute zur anderen Wirklichkeit wurde? Er zweifelte an seinem Verstand, an seinen Augen, die ihm Trugbilder vorgaukelten. Aber das Bild blieb, es ließ sich nicht wegwischen. Dort drüben, in der Bucht einer kleinen vorgelagerten Insel, lag „Eiliger Drache über den Wassern“! Majestätisch, groß und erschreckend lag das Schiff vor Anker, schaurig und schön zugleich. Den alten Mann überfiel die Erinnerung noch stärker. Er fühlte sich wie einer, der ein ganzes Leben lang von zu Hause weg gewesen war und jetzt wieder in die Heimat zurückkehrt. Dort lag all seine Erinnerung an schöne und an schlechte Stunden, an Gefahren, Abenteuer, Strapazen. Dort mußte auch der tote Mandarin sein, versteckt vor den Blicken Zudringlicher lag er in seiner geheimen Kammer. Ein paarmal setzte Hung-wans Herz spürbar aus. Seine Lippen stammelten Worte, sein Körper bebte. Sein Schiff! Das erste Schiff, das bis zum Ende der Welt gesegelt war und das doch kein Ende gefunden hatte. Palmen und Dickicht entzogen es wieder seinen Blicken, als der Segler weiterglitt. Der alte Mann fand die Kraft, sich aufzuraffen. Innerhalb ganz kurzer Zeit hatte er sich verwandelt. Er war nicht mehr alt und müde, seine Knochen nicht mehr brüchig. Jetzt war er wieder jung und elastisch, und seine Augen sprühten Blitze. Der bloße Anblick dieses Schiffes hatte ihn verändert. Mit einem Satz war er auf den Beinen und lief nach achtern, wo Li-Cheng mit unbeweglichem Gesicht auf dem Achterdeck stand. Der Kapitän legte die Hände an die Brust und verneigte sich, als er den Alten auf sich zukommen sah.
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„Li-Cheng“, stammelte der Alte mit aschfahlem Gesicht. Seine ausgestreckte magere Hand, auf der die Adern blau und scharf hervortraten, wies herrisch nach steuerbord. „Dort - dort liegt ,Eiliger Drache über den Wassern`.“ Immer noch verzog Li-Cheng keine Miene. Er ließ nicht erkennen, was er dachte oder ob ihn diese Entdeckung freute. Er wandte lediglich den Kopf in die angegebene Richtung und deutete dann ein leichtes Nicken an. „Ich sehe ihn nicht, Hung-wan.“ „Die Insel und der Wald verdecken ihn, LiCheng“, sagte der Alte leise. „Ich aber habe ihn klar gesehen, und glaube mir, LiCheng, ich kenne dieses Schiff besser als jeder andere. Der größte Teil meines Lebens hat sich dort abgespielt.“ „Wenn Ihr es sagt, glaube ich es“, erwiderte der Kapitän leise. „Vor längerer Zeit lag ,Eiliger Drache über den Wassern’ noch auf der Insel Little Cayman, wie man mir zutrug. Danach haben wir ihn nicht mehr gesehen.“ Der alte Chronist nickte. Angestrengt blickte er zum Delta des großen Flusses, aber das schwarze Schiff tauchte nicht mehr auf. Der Urwald hatte es verschluckt. Auch der Kapitän kannte die Geschichte des Seglers, der im Reich der Mitte schon zu einer Legende geworden war. Der Nimbus des Schiffes strahlte heller als die Sonne. „Was schlagt Ihr vor, Hung-wan?“ „Umkehren“, sagte der Alte sofort. „Vielleicht befindet sich an Bord in der geheimen Kammer noch die Mumie des Mandarins. Vielleicht aber hat man sie auch geraubt.“ „Beides ist möglich“, sagte der Kapitän. Der warme Wind ließ seinen schwarzen Zopf auf der Schulter leicht pendeln, und die Seide seines Gewandes blähte sich wie ein Segel. „Der Mandarin“, setzte er leise hinzu. „Wenn wir ihn dem Großen Chan bringen ...“ Er sprach nicht weiter, nur seine Lippen preßten sich zusammen, und in seinen
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geschlitzten Augen lag eine versteckte Drohung. „Wir müssen erfahren, was aus ihm geworden ist, und wir werden ebenfalls erfahren, wer dieses Schiff befehligt.“ „Der Grausame, den sie El Diabolo nannten, kann es nicht mehr sein“, versicherte Hung-wan hastig. „Es sind aber auch nicht unsere Landsleute. Wehe ihnen, wenn sie den Mandarin angerührt haben! Der Tod wird über sie kommen.“ Sein faltiges Gesicht verschloß sich. Es wurde hart und kantig, wie Li-Cheng es bei dem Alten noch nie gesehen hatte. „Da, da, man sieht die Masten!“ rief der Chronist heiser. Nur für einen winzigen Augenblick tauchten sie noch einmal aus dem Grün des Regenwaldes, dann verschwanden sie endgültig, aber jetzt hatte der Kapitän sie auch deutlich gesehen. Er rief dem auf dem Achterdeck unbeweglich stehenden Mann etwas zu, der den Befehl sofort mit herrischen Bewegungen und lauter Stimme weitergab. Plötzlich tauchten Gestalten auf, wie aus dem Nichts erschienen sie an Deck, schweigsame gelbhäutige Männer. in dunkles Tuch gehüllt, auf den Köpfen flache tellerartige Hüte. Stumm, mit unbeweglichen Gesichtern, nahmen sie die Befehle entgegen und verneigten sich ehrfurchtsvoll vor dem Kapitän und dem Alten, der jetzt aus brennenden Augen zum Ufer schaute. Das Schiff ohne Namen segelte weiter, eine halbe Meile etwa, dann begann es zu wenden und ging durch den Wind. Nach ein paar weiteren Manövern lag es auf Gegenkurs und kreuzte in kurzen Schlägen gegen den Wind. Der Kapitän beriet sich mit dem Alten. Zu jedem seiner Vorschläge nickte er, denn Hung-wan hatte die größere Erfahrung und Weisheit, und er kannte das Schiff genau. „Es wird bald dunkel sein“, sagte er. „Bis dahin werden wir die kleine Bucht der vorgelagerten Insel erreicht haben. Sobald sich die Dunkelheit über den Regenwald senkt, werden wir einen Trupp losschicken
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und im Schutz der Nacht über die Besatzung herfallen.“ Auf seinen Wink versammelten sich ein paar Männer der Schiffsführung um ihn herum, die ihm wortlos zuhörten. „Ihr habt meine Anordnungen gehört. Sobald die Nacht hereinbricht, werdet ihr das Schiff besetzen. Vorher beobachtet ihr es genau. Ihr nehmt die Schiffsführung gefangen, aber achtet darauf, daß vorerst niemand getötet wird, es sei denn, es geht nicht anders. Die Männer der Schiffsführung sind hierher an Bord zu bringen.“ In seinen dunklen Augen glomm es sekundenlang auf. „Ich selbst werde das Unternehmen leiten“, sagte er dann. „Dort vorn gehen wir vor Anker!“ Immer noch gegen den Wind kreuzend, glitt der namenlose schwarze Drachensegler vorsichtig in die Bucht. Der riesige Drachenkopf am Bug schien sich zu bewegen, in seinen rubinroten Augen funkelte es, als wären sie voller Leben. Unheimlich sah es aus, dieses fremde dunkle Schiff, auf das nun die letzten Strahlen der Sonne fielen. Mit den in schwarzes Tuch gehüllten Gestalten an Deck schob es sich wie ein Bote des Todes in die Bucht. Alles geschah lautlos, es schallten keine Kommandos über Deck, und selbst als der Anker fiel, vernahm man kaum ein Geräusch. Die Zopfmänner ließen ihn nicht fallen, sie fierten ihn ab, damit nichts ihre Anwesenheit verriet. Gleich darauf kehrte völlige Stille ein. 4. Die kurze Dämmerung wich der Tropennacht, und immer noch schritt die Rote Korsarin unruhig über das Achterdeck ihres Schiffes. „Warten wir doch den Morgen ab“, sagte Thorfin Njal schon zum wiederholten Mal, denn die Unruhe Siri-Tongs steckte ihn an. Sie wanderte hin und her, von Steuerbord nach Backbord und blieb dann wieder stehen.
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„Ich will aber nicht den Morgen abwarten“, widersprach sie. „Das dauert mir zu lange. Die Seewölfe werden annehmen, daß wir in den Atlantik gesegelt sind, und ...“ „Vorhin hast du noch anders geredet“, murrte der Wikinger. „Was können wir denn jetzt schon ausrichten?“ Er winkte resigniert ab und blickte auf den Boston-Mann, der sich ebenfalls auf dem Achterdeck befand. Er kannte Siri-Tong. Wenn die sich etwas in ihr hübsches Köpfchen gesetzt hatte, dann führte sie es auch konsequent durch, daran konnten nichts und niemand etwas ändern. Silbernes, Mondlicht fiel auf das Deck. Es schien der schlanken Gestalt der Roten Korsarin zu folgen, wohin sie sich auch wandte. „Na schön“, brummte der Nordmann zornig. „Der Klügere gibt nach. Was sollen wir tun? Zu den Seewölfen hinüberschwimmen und ihnen sagen, daß wir hier liegen? Uns von den Kaimanen oder Piranhas fressen lassen?“ „An deinem Helm werden sich die Kaimane die Zähne ausbeißen“, sagte sie spöttisch. „Ich will, daß wir ein Boot zu Wasser lassen und zur ‚Isabella’ hinüberrudern. Du, der Boston-Mann und ich! Ist das etwa zuviel verlangt?“ „Selbstverständlich nicht, Madame“, erwiderte der Boston-Mann. „Selbstverständlich nicht“, äffte Thorfin ihn nach. „Ich sage nur, daß es Unsinn ist, mehr nicht. Der Seewolf wird deshalb auch nicht besser schlafen. Wir können drei Stunden lang gegen den verdammten Strom anpullen.“ Wie der Boston-Mann nicht anders erwartet hatte, setzte Siri-Tong sich auch diesmal durch. Die Argumente des Wikingers beeindruckten sie nicht im geringsten. Sein nur noch schwacher Protest verhallte ungehört. Der Wikinger war ein wüster Dickschädel, von der Mannschaft respektiert und gefürchtet. Niemand hätte es gewagt, ihm zu widersprechen. Aber diese zarte schlanke Frau brachte es jedesmal fertig, ihn zu überzeugen, und seiner Ansicht
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nach auf eine ganz infantile Art, indem sie ihn einfach ignorierte. Na schön, dachte er grimmig, sie war der Kapitän, sie gab hier an Bord den Ton an, sollte sie ihr verdammtes Boot haben und den Seewölfen gute Nacht sagen. Wortlos ging er mit dem Boston-Mann daran, das Beiboot abzufieren. Dabei murmelte er unaufhörlich vor sich hin. „Lausiges, verseuchtes Wasser“, hörte der Boston-Mann ihn murmeln. „Da reißt man sich die Knochen aus, um gegen den Strom zu pullen. Beim achtbeinigen Roß Odins, das ist das allerletzte Mal, daß ich nachgebe.“ Unter pausenlosen leisen Verwünschungen kam das Boot ins Wasser. Sofort drückte es die starke Strömung achteraus. Nur die beiden Taue hielten es noch. Der Wikinger zog es mit seinen mächtigen Armen wieder heran. „Halt das Tau, du Stint!“ fuhr er den anderen Wikinger an, den sie seines langen Gesichtes wegen allgemein den Stör nannten. „Unnötiger Blödsinn ist das“, wetterte der Wikinger leise. „Hier auf dem Amazonas ist es nachts nicht geheuer.“ Der Stör kam prompt mit seiner Wiederholung. „Hier auf dem Amazonas ist es nachts nicht geheuer“, plapperte er den letzten Satz Thorfins nach. „Da hast du recht“, sagte Thorfin, der seinen ersten Satz schon wieder vergessen hatte. „Ja, da habe ich recht“, sagte der Stör. So wäre das vielleicht noch endlos weitergegangen, wenn die Rote Korsarin nicht mit einem kühnen Satz ins Boot geflankt wäre. Der Boston-Mann folgte, der Wikinger stieg ebenfalls ein, und der Stör blieb unschlüssig an Deck stehen. „Bring zwei Fackeln!“ herrschte Thorfin ihn an. Der Stör verschwand und kehrte gleich darauf mit zwei Fackeln zurück, von denen eine bereits brannte. Der Boston-Mann nahm sie entgegen, hielt sie in der Hand
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und wollte mit der anderen Hand nach dem einen Riemen greifen. „Das kann ich allein“, versicherte Thorfin. „Leuchte lieber mit der Fackel dicht übers Wasser, damit die Kaimane nicht nach uns schnappen, die Biester nötigen mir Respekt ab.“ Er legte sich kräftig in die Riemen und hielt auf das rechtsseitige Ufer zu, wo der Strom nicht so kraftvoll drängte. Normalerweise hätten zwei Männer genug zu tun gehabt, um das Boot voranzutreiben, doch der Wikinger schaffte es ganz allein. Die Riemen bogen hart durch, so daß Siri-Tong befürchtete, sie würden gleich brechen, denn sie sah, daß der Wikinger seinen ganzen Zorn in den Schwung hineinlegte. War der dichte Dschungel tagsüber schon eine Quelle des Geschreis, dann wurde es nachts noch schlimmer. Milliarden Zikaden zirpten pausenlos, wilde Tiere kreischten, Raubkatzen gingen auf die Jagd und holten sich ihre Opfer. Von allen Seiten ertönte Gebrüll. Am Ufer wurde es noch gefährlicher, denn hier lauerten wieder die gefräßigen Kaimane, die nach allem schnappten, was sich bewegte. Ab und zu, wenn der Boston-Mann die Schnauze eines Kaimans dicht über der Wasseroberfläche sah, strich er mit der Fackel ganz dicht darüber hin. Das verscheuchte die Biester, die unbekannte Helligkeit trieb sie zurück. Thorfin hielt auf die kleinen, verstreut liegenden Inseln zu, um das Stauwasser auszunutzen, erst kurz davor bog er wieder ab und ruderte dem Ufer entgegen. Er hatte keine Ahnung, daß er und die anderen seit einer ganzen Weile pausenlos beobachtet wurden. Fünf Augenpaare hatten sie verfolgt, jede ihrer Bewegungen gesehen und gehört, was sie miteinander besprachen. Etwas streifte leicht das Boot. Der BostonMann leuchtete mit der Fackel und erkannte den gepanzerten Rücken eines Kaimans, der sich anschickte, das Boot zu untertauchen. Wahrscheinlich hielt er es
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für einen treibenden Stamm, dem man besser auswich. Thorfin sah im gespenstisch wirkenden Schein der Fackel den gepanzerten Rücken der Riesenechse. Er zog den linken Riemen etwas ein und hieb mit aller Kraft zu. Ein wilder schneller Schlag mit dem Schwanzende traf das Boot. Der Kaiman nahm Reißaus und tauchte. Das kleine Boot geriet heftig ins Wanken, Siri-Tong klammerte sich fest. „Muß das sein, Thorfin?“ fuhr sie den Riesen an. „Damit hatte ich nicht gerechnet“, entschuldigte sich Thorfin. Er konnte diese Biester nicht ausstehen und hatte Angst davor, einmal in einem dieser gefräßigen Rachen zu landen. Inzwischen entzündete der Boston-Mann die zweite Fackel, die erste war am Verglimmen. Daß sie beobachtet wurden, merkte immer noch keiner von ihnen. * Li-Cheng und drei seiner Männer hatten schon lange vorher das Gelände genauestens erkundet. Ihre Geduld war grenzenlos. Sie hatten Zeit, sie brauchten nichts zu überstürzen. Für den Kapitän des fremden Schiffes war es klar, daß die Leute, die vor kurzer Zeit mit dem Boot losgepullt waren, nur zur Schiffsführung gehören konnten, denn den einfachen Seeleuten standen solche Aktionen nicht zu. Kurz danach hatten sie auch die „Isabella“ entdeckt, und da war es Li-Cheng nicht schwergefallen, sich das Ganze zusammenzureimen. Das eine Schiff hatte sich im Strom festgefahren, die anderen wollten nachsehen, was passiert war, und deshalb waren sie jetzt auf dem Weg. Eine ganz einfache und durchaus logische Angelegenheit, wenn man ein wenig nachdachte, und darin war Li-Cheng ein Meister. Sie lauerten in der schützenden Dunkelheit dicht am Ufer und beobachteten schweigend, wie sich das Boot gegen den Strom quälte. Sie selbst hatten nicht soviel
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Arbeit gehabt, sie hatten ihr Boot von Land aus gezogen, ohne die Kaimane zu beachten. Li-Cheng hob die Hand. „Pullt los“, befahl er leise. „Pullt mit voller Kraft und rammt das Boot in der Mitte!“ Durch die Fackel waren der Wikinger, SiriTong und der Boston-Mann etwas geblendet, sonst hätten sie vielleicht das heranfahrende Boot bemerkt. So aber sahen sie es nicht. * Ganz dicht vor ihnen wuchs ein flacher Schatten aus dem Wasser. Thorfin Njal bemerkte ihn, doch er hielt ihn für einen der zahlreichen Baumstämme, die hier oft genug herumtrieben. Gefährlich genug war eine solche Begegnung immer, und daher wollte er in einem schnellen Manöver ausweichen. Zu spät, er schaffte es nicht mehr, es ging zu schnell. „Achtung!“ rief er. Ein mächtiger Stoß krachte gegen das Boot. Es knirschte laut, Siri-Tong gelang es, sich festzuklammern, auch der Wikinger schaffte es noch. Dem Boston-Mann entfiel die Fackel. Sie sank ins Wasser und verlöschte mit einem Zischen. Er selbst wurde über Bord katapultiert. Die Rote Korsarin richtete sich auf, schwankte, im selben Augenblick spürte sie einen wilden Ruck und etwas ungemein Hartes schlug ihr an den Hals. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und sank in sich zusammen. „He, bei allen ...“ schrie der Wikinger und unterbrach sich. Er sah zwei oder drei schwarze Gestalten nicht mehr als vage Schatten in der Nacht und verspürte, wie etwas gegen seine Schulter knallte. Ein blitzschnell geführter Schlag gegen seinen Kehlkopf raubte ihm die Besinnung. Das Höllenkonzert des nächtlichen Dschungels wurde schwächer und verlor sich in weiter Ferne. Thorfin Njal glaubte, in einen Abgrund ohne Ende zu fallen.
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Alle beide spürten nicht die kräftigen Fäuste, die sie in ein anderes Boot zerrten. „Zurück, schnell!“ befahl Li-Cheng. „Und paßt gut auf die beiden auf!“ „Das eine ist eine Frau“, flüsterte jemand im Boot, „und der andere Mann ist über Bord gefallen.“ „Zurück habe ich gesagt!“ Von da an wurde kein Wort mehr gewechselt. In wilder Fahrt wurde das Boot stromabwärts gerudert. * Übergangslos befand sich der BostonMann im Wasser. Er war eher verblüfft als erschrocken. Er kriegte einen Schwall Brackwasser in den Mund und spie die lehmgelbe Brühe angewidert aus. Er versuchte, sich zu orientieren. Aber seine Augen sahen nicht viel, zu oft hatte er in den hellen Schein der Fackel geblickt. Was, zum Teufel, hatte sie eben so hart gerammt, und wo war das Boot geblieben? fragte er sich immer wieder. Die Strömung trug ihn rasch fort, er versuchte, dagegen anzuschwimmen, gab das Vorhaben jedoch gleich wieder auf, weil es nur unnötige Kräfte kostete und doch keinen Sinn hatte. Gegen den starken Strom kam er nicht an. „Madame!“ brüllte er, als er wieder Luft schöpfen konnte. „Madame! Wikinger!“ Nichts, der große Strom murmelte und rauschte, und von links antwortete wüstes Kreischen. Er brüllte noch lauter. Wieder erhielt er keine Antwort. Sollten die beiden etwa über Bord gefallen sein, genau wie er? Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, er verfluchte diese nächtliche Fahrt auf dem unbekannten Fluß, verfluchte den Baumstamm, der sie gerammt hatte. Er verfluchte Gott und die Welt. Querab zum Ufer hin sah er einen Schatten im Wasser treiben. Das Boot! Aber es war leer, wie er erkennen konnte, denn er sah keine
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Erhebung oder die Silhouette eines Menschen. Er schwamm darauf zu. Offenbar hatte sich das Boot verfangen, es trieb hin und her. Ein anderes Geräusch erschreckte ihn jetzt. Ein großer schwerer Körper klatschte ins Wasser, das Geräusch war überdeutlich zu hören. Ihm folgte sofort ein zweiter nach. Dem Boston-Mann lief es eiskalt über den Rücken. Er hatte das Gefühl, als erstarre sein Körper von einer Sekunde zur anderen. Er sah sie nicht, die lauernden, schläfrig wirkenden Kaimane, die im Uferschlamm lagen, aber er spürte sie ganz deutlich. Spürte, wie sie lautlos heranglitten, wie sie ihre Mäuler mit den scharfen Zähnen aufrissen, wie sie mit den starken Kiefern zuhieben. Der Boston-Mann war ein schweigsamer, besonnener Kerl, für den der Begriff Angst fast fremd war. Er hatte sie nur sehr selten kennengelernt. Gegen die Angst vor anderen halfen seine Fäuste, ein Messer, der Schiffshauer oder eine Pistole. Damit konnte man die Angst besiegen. Aber das hier war etwas anderes. Es war eine fast panische, lähmende Furcht, die ihn ergriff. Die jämmerliche Angst, von diesen Biestern unter. Wasser zerrissen zu werden, sich nicht dagegen wehren zu können, warten zu müssen, bis sie zuschnappten, ihm ein Bein, einen Arm abrissen oder ihre Kiefer in seinen Leib hieben. Waren sie unter ihm, rechts oder neben ihm? Schwammen sie genau auf ihn zu? Egal, er mußte das Boot erreichen, das allein war seine Rettung. Bis zum Ufer schaffte er es nicht, dort lauerten zu viele von ihnen. Wieder klatschten ihre schweren Körper ins Wasser. Die Satansbrut hatte bemerkt, daß hier ein hilfloses Wesen um sein Leben schwamm, daß es eine gute Beute abgab, die ihnen in den Rachen fiel. Das wirkte ansteckend, berauschend auf sie. Wie irrsinnig schlug er mit Händen und Füßen um sich, schnellte aus dem Wasser, schrie, schwamm. Schon glaubte er ihre rauhen Rücken an seinem Körper zu
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spüren, da tauchte das Boot vor ihm auf. Er wußte nicht mehr, wie er die letzten paar Yards zurückgelegt hatte, bis er das Dollbord erreichte. Mit einer Hand griff er danach, doch dann verspürte er einen kurzen heißen Schmerz an der anderen. Ein Kaiman, dachte er, aber es war kein Kaiman, es war kleiner, wendiger, schneller, und es ritzte nur seine Haut leicht an. Die kleinen Teufel des Amazonas waren plötzlich da. Handtellergroße Fische mit Zähnen, die so scharf wie ein Messer waren. Der vorwitzigste unter ihnen ritzte die Haut an, bis ein feiner Blutstropfen herausquoll. Danach verschwand er wieder. Aber jetzt hatte es die anderen gepackt. Blutrausch! Eine ganze Wolke dieser kleinen Fische schnappte nach der Hand des Boston-Mannes. Winzige Fleischbrocken fetzten sie heraus, rissen und zerrten, erschienen in dichten Schwärmen. Der Boston-Mann vergaß die Kaimane, vor denen er sich so gefürchtet hatte. Er zog und zerrte die verteufelt schmerzende Hand aus dem Wasser, von der das Blut in dünnen Fäden lief. Da hingen sie zappelnd an seinem Körper und den Beinen. Um sich schlagend, total erschöpft, gelang es ihm, sich über das Dollbord zu ziehen – buchstäblich im allerletzten Augenblick, denn jetzt waren zwei Kaimane heran. Einer schnellte aus dem Wasser, schrammte das Boot, ein zweiter gab dem Boot einen Stoß, das immer noch an einer Liane im Wasser festhing. Ächzend und außer Atem fiel der BostonMann auf die Gräting. Zwei Piranhas, die sich in seinem Hemd verbissen hatten, zappelten im Boot, die anderen waren verschwunden. Es dauerte lange, bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, Ewigkeiten, wie es ihm schien. Er spürte nicht die Moskitos, die jetzt über ihn herfielen. Für ihn waren die kleinen Plagegeister das winzigere Übel, das er nicht einmal als lästig empfand.
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Piranhas! Jeff Bowie fiel ihm ein, der Mann mit der Hakenprothese von der „Isabella“. Beinahe hätte er das gleiche Schicksal erlitten, denn Bowie hatten diese kleinen Fische die ganze Hand abgefressen. Was mußte der Mann ausgestanden haben! Der Boston-Mann betrachtete seine Hand. Sie schmerzte, und noch immer lief Blut an ihr entlang, wie er im Schein des Mondes deutlich erkennen konnte. Winzige Brocken waren herausgefetzt worden. In Sekundenschnelle war das geschehen. Nach einer Minute unter diesen Teufelsbiestern hätte er wie ein Skelett ausgesehen. Er sah sich um und fluchte auf den Amazonas, diesen gigantischen Fluß mit seinen tausend versteckten Gefahren. Weder Siri-Tong noch der Wikinger waren zu sehen. Er wischte sich müde über die Augen. Was half es, wenn er jetzt den Strom mit dem Boot absuchte? Entweder war es den beiden gelungen, irgendwo an Land zu schwimmen, oder der Fluß hatte sie geholt. Kaimane, Piranhas! Verfluchter Amazonas, verfluchte grüne Hölle, verdammter Regenwald, tödliches Klima. Er hätte heulen können vor Wut. Aber er konnte nicht hier herumhocken und warten, daß ein Wunder geschah. Er tastete nach den Riemen. Alle beide waren noch da und befanden sich im Boot. Weit hinter ihm lag die „Isabella“. Dort war Licht an Deck, offenbar war der ganze Vorgang nicht unbemerkt geblieben. Er nahm die Riemen, hieb die Liane durch, die das Boot festhielt, und spürte gleich darauf, wie der Strom ihn wieder talwärts drückte. Verbissen, ärgerlich, wütend und traurig zugleich legte er sich in die Riemen und ruderte dicht am Ufer entlang, bis er nach langer Zeit auf gleicher Höhe mit der „Isabella“ war. „He, ho!“ ertönte eine Stimme von Deck. „Wer da?“ Verdammt, hatten die scharfe Augen, dachte er, denen entging aber auch gar nichts. Die Seewölfe bemerkten ein Boot
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bereits, wenn es noch gar nicht zu sehen war. „Der Boston-Mann!“ schrie er zurück. „Hol auf!“ rief die Stimme von Deck. „Was, zum Teufel, treibst du dich hier nachts allein auf dem Fluß herum?“ Der Boston-Mann gab keine Antwort. Er sah nur, daß immer mehr Lampen an Deck entzündet wurden. Vierkant legte er bei und warf das Tau hinauf, wo es in Empfang genommen wurde. Kräftige Fäuste halfen ihm an Deck. Er hatte es noch einmal geschafft. 5. Dem Seewolf stand die Verblüffung deutlich im Gesicht geschrieben, als der Boston-Mann aufenterte. Die anderen scharten sich um ihn, leuchteten ihn an, sahen sein Gesicht. Er erkannte den Seewolf, Carberry, den rauhbeinigen Profos, den riesigen Gambianeger Batuti, Ferris Tucker und noch ein paar andere Gesichter, die nicht im Lichtkreis der Lampe waren. Hasard hatte wohl vorhin etwas weit unterhalb der „Isabella“ gehört, einen Schrei, laute Flüche, aber er hatte sie nicht genau unterscheiden können, weil die anderen Geräusche des Dschungels alles übertönten. „Himmel, siehst du aus, Mann“, sagte Carberry und griff nach seiner Hand. „Bist wohl in den Bach gefallen, was, wie?“ Hasard hatte die Verletzung ebenfalls bemerkt. „Los, Bill, hol den Kutscher!“ befahl er dem Schiffsjungen. „Er soll Salbe und Verbandszeug mitbringen und etwas zum Desinfizieren der Wunde. Hopp, los!“ Während der fünfzehnjährige Moses losflitzte, um den Kutscher und Feldscher zu holen, winkte der Boston-Mann hastig ab. „Das eilt nicht“, sagte er, „das hat noch Zeit. Viel wichtiger ist, daß ihr Siri-Tong und den Wikinger sucht. Wahrscheinlich sind alle beide in den Fluß gefallen und ertrunken, oder die verdammten Kaimane haben sie geschnappt.“
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Der Seewolf wechselte die Gesichtsfarbe. Noch bevor der Boston-Mann weitersprach, winkte er herrisch dem Profos zu. „Ed, laß die Boote abfieren, dalli, schnell! Such dir ein paar Männer als Besatzung. Erzähle, Boston-Mann!“ Carberry purrte die Leute hoch. Es bedurfte keiner Kommandos, jeder wußte, was er zu tun hatte. Die beiden Beiboote der Galeone wurden blitzschnell zu Wasser gelassen. Der Schreck über die eben erhaltene Nachricht war den Seewölfen recht nachhaltig in die Knochen gefahren. Hasard wiederum wußte, daß auf den Boston-Mann unbedingt Verlaß war. Entweder schwieg der Bursche und sagte lieber gar nichts als eine Lüge, oder er berichtete die Wahrheit ohne Übertreibung. Das tat er meist sehr knapp, wie es seine Art war. Dabei verzichtete er auch auf überflüssige Handbewegungen oder große Gesten zur Untermalung. „Wir drei fuhren los, um euch zu sagen, daß wir hinter der nächsten Insel liegen“, berichtete er. „Unterwegs rammte uns ein verdammt großer Baumstamm. Zu sehen war allerdings nicht viel. Ich flog gleich außenbords, die anderen sah ich nicht mehr. Als ich auftauchte, mußte ich mir diese dreimal verfluchten Kaimane und die kleinen Mörder vom Leib halten, die an mir hingen.“ „Und wie bist du wieder ins Boot gekommen?“ fragte Hasard, dem die Unruhe jetzt deutlich anzumerken war. „Es hatte sich an einer Liane verfangen und war leer, ich schwamm hinüber und zog mich hinein.“ Hasard nickte. Das war knapp, damit konnte man etwas anfangen. „Wer verfiel denn auf die glorreiche Idee, bei der Dunkelheit in einem kleinen Boot zu uns herüberzugondeln? Wir ahnten natürlich, daß ihr nicht weitergefahren seid. Hatte der Wikinger diesen glänzenden Einfall?“ „Madame hatte ihn. Sie, äh, setzte natürlich ihren Willen durch.“
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„Natürlich“, sagte Hasard. „Das war ja auch nicht anders zu erwarten. Sind die Boote im Wasser, Profos?“ „Alle besetzt, Sir. Wir warten. Lampen und Fackeln sind ebenfalls bereit.“ Der Seewolf deutete auf den Boston-Mann und blickte dabei den Kutscher an. „Verarzte ihn anständig. Hat Bekanntschaft mit den Piranhas geschlossen. Während meiner Abwesenheit übernimmt Smoky das Kommando über das Schiff!!“ Es ging alles blitzschnell. Wenn noch etwas zu retten war, dann mußten sie handeln und konnten sich nicht mit langen Reden aufhalten, die doch zu nichts führten. Hasard sprang ins Boot. Insgeheim lobte er die Kerle und bewunderte ihr Verhalten. Niemand stellte überflüssige Fragen, jeder Handgriff saß im Schlaf, es klappte fast zu gut. Die Männer waren gedrillt, und das bewährte sich jetzt wieder einmal. Die beiden Boote stießen ab und gerieten schnell in die Strömung, und erst jetzt kam der Seewolf dazu, darüber nachzudenken, was inzwischen wohl geschehen sein mochte. Es sah nicht gerade rosig aus, dachte er, und der Gedanke an die Rote Korsarin und den Wikinger lastete wie ein Felsen auf ihm. Er stellte sich vor, was passierte, wenn sie über Bord gefallen waren, und dazu bedurfte es nicht der geringsten Phantasie. Man brauchte sich diese Hölle nur einmal anzusehen, dann reichte es. Piranhas, Kaimane, Schlangen. Hier gab es alles, vom blutsaugenden kleinen Moskito über die Raubtiere im Wasser bis zur Riesenschlange, die einem Mann die Knochen zerbrechen konnte. „Mehr Steuerbord ihr da drüben!“ rief Hasard der anderen Gruppe zu. „Leuchtet das Wasser ab, ruft die Namen! Fahrt auch bis dicht an die Ufer!“ Der Fluß wurde abgesucht,: ein hoffnungsloses Unterfangen bei seiner Breite, den vielen Inseln, den Sand- und Schlammbänken und vor allem: bei Nacht! Am Tag sah es vielleicht noch etwas
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riesiger aus, da hatte man einen weiteren Blick. Dann die Strömung! Von der Flut war immer noch nichts zu bemerken, die würde noch lange auf sich warten lassen, wenn sie überhaupt kam, dachte der Seewolf. In rasender Fahrt schossen die Boote stromabwärts. Es war einfach unmöglich, alles abzuleuchten. Zwischendurch riefen sie immer wieder die Namen der beiden über Bord Gefallenen, erhielten aber keine Antwort. Nur die Affen, Vögel und Nachttiere wurden nervös und veranstalteten ein Höllenkonzert, daß einem die Ohren weh taten. „Mist“, sagte Hasard laut. „Verdammter Mist!“ Er hielt die doppelläufige Pistole in der Hand und zielte auf den Rücken eines Kaimans, der sich dem Boot bedrohlich näherte. Aber bevor Hasard abdrücken konnte, war der Bursche schon auf Tiefe gegangen. Eine aufgeschreckte Anakonda, ein Biest von fast zehn Yards Länge, schlängelte sich in wilden Bewegungen dicht am Boot vorbei. Hasard blickte ihr angewidert nach. Mit diesen Riesenschlangen hatte er auch schon üble Bekanntschaft geschlossen. Hoffentlich ist Siri-Tong nichts passiert, dachte er immer wieder. Der Gedanke, daß er sie vielleicht schon verloren hatte, heizte ihm so ein, daß ihm der Schweiß in kleinen Bächen über das Gesicht rann. Und der Wikinger . „Sie werden es schon geschafft haben, nehme ich an“, sagte neben ihm Ben Brighton. „Der Strom hat sie wahrscheinlich wahnsinnig schnell mit sich fortgerissen, so schnell, daß die Kaimane und Piranhas ihnen gar nicht folgen konnten. Weiter unterhalb sind sie dann an Land geklettert.“ „Gott bekräftige deine Ansicht“, sagte Hasard halblaut. Er wußte, daß Ben ihn trösten wollte und ihm Mut zusprach, damit er die Hoffnung nicht verlor. Aber so wie es aussah, standen die Chancen für die beiden mehr als schlecht.
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Hasard blickte zum linken Ufer. Die Bezeichnung war an und für sich nicht richtig, denn das linke Ufer war mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Es lag weit hinter dem Horizont, denn schon hier hatte man das Gefühl, mitten im Atlantik zu sein. Nur die vielen Inseln erinnerten an das Riesendelta, der Strom teilte sich immer wieder. Andererseits konnte der Strom die beiden nicht sehr weit zur Seite getrieben haben, überlegte der Seewolf. Man brauchte nur dem Strömungsverlauf zu folgen. An jeder Sandbank, jeder kleinen Insel hielten sie, leuchteten alles ab, eine halbe Stunde lang, dann hatten sie die Insel erreicht, hinter der „Eiliger Drache über den Wassern“ lag. Ihr Gebrüll und Geschrei und das Licht, das auf dem Fluß tanzte, hatte die Crew der Roten Korsarin auf die Beine gebracht. Jetzt brüllten sie herüber und fragten, was passiert sei. Hasard erklärte es ihnen. Die beiden Boote fuhren in die Bucht und suchten dort weiter. Der Bootsmann Juan war der erste, der die Burschen hochpurrte, als er die Nachricht vernahm. Im Nu versammelte sich alles an Deck. Die Situation hatte sich grundlegend geändert. Noch vorhin hatten sie nur das Problem mit der „Isabella“ am Hals gehabt, aber jetzt waren Siri-Tong und der Wikinger verschwunden und, wie es schien, so nachhaltig verschwunden, daß niemand mehr ernsthaft damit rechnete, die beiden würden noch einmal auftauchen. Der Schreck ließ sie fast so schnell handeln wie die Seewölfe. Blitzartig rauschte das andere Beiboot aus dem Galgen und klatschte ins Wasser. „Wir suchen mit!“ schrie der Bootsmann, neben dem Bill the Deadhead erschien und sogleich ins Boot kletterte. „Es wird nicht mehr viel nutzen“, meinte Hasard, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er resignieren. Es stimmte ja auch. Sie hatten den Fluß bis hierher abgesucht und nichts gefunden. Auf ihr pausenloses Rufen hatte sich niemand gemeldet. Was lag also näher, als
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daß die beiden nicht mehr am Leben waren? „Wir suchen den Fluß weiter oben ab!“ rief Juan. Carberry tippte sich an die Stirn und sagte düster: „Mit diesen Rübenschweinen ist es doch immer das gleiche. Die kapieren einfach nicht, daß ein Körper flußabwärts treiben muß, statt aufwärts. Oder glaubt dieser Hurensohn etwa, die beiden wären aus lauter Vergnügen an die Quelle des Amazonas zurückgeschwommen?“ Niemand lachte, der Profos erhielt keine Antwort. Etwas später pullte das andere Boot auf sie zu. Es war bis auf die letzte Ducht besetzt. Wahnsinn, dachte Carberry, wie wollten die überhaupt den Fluß hinauffahren? Aber er verstand doch ihre Besorgnis und auch den Umstand, daß sich jeder an der Suche beteiligen wollte. Aus dem Grund war das Boot auch hoffnungslos überladen. Eine fieberhafte Aufregung herrschte. „Pullt ihr noch einmal die Ecke da drüben ab“, sagte der Seewolf zu den Männern der anderen Crew. „Laßt auch die kleinen Inseln nicht aus, die dicht am Ufer stehen. Wir haben noch nicht alles absuchen können.“ „Aye,Sir!“ schallte es aus der Dunkelheit zurück. Laternen wurden geschwungen, als heller Lichtpunkt entfernte sich das eine Boot und wurde im Schutz des Ufers stromauf gerudert. Die Seewölfe suchten die Vorderseite der Insel ab, hinter der der schwarze Segler lag. Alle halbe Minute rief jemand den Namen der Roten Korsarin oder des Wikingers. Niemand gab Antwort. Wieder verging fast eine Stunde, ehe sie die „Isabella“ sahen. Diesmal hatten sie nicht viel ausgelassen, jede noch so kleine Insel war untersucht worden. „Es gibt nur noch eine allerletzte Möglichkeit“, sagte der Seewolf schließlich. „Wenn es ihnen gelungen ist, Land zu erreichen, irren sie irgendwo im Dschungel herum und haben sich verlaufen. Im Fluß sind sie nicht mehr:’ Das klang endgültig, und es war logisch.
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Nur Batuti hatte einen Einwand. „Batuti nicht glauben, daß in Urwald verlaufen. Sehen von Ufer immer Wasser, hören Fluß gurgeln. Dickes Wikinger nicht dumm, und Madame auch wissen gut Bescheid. Batuti nicht glauben“, wiederholte er leise. „Ich glaube es auch nicht“, sagte Hasard. „Es war nur eine Hoffnung, an die ich mich klammern wollte.“ Ihm blieb nichts anderes übrig, und so schwer es ihm auch fiel, aber mit dem Tod der beiden mußten sie sich abfinden. Hier gab es keine Wunder, der Riesenstrom hielt keine bereit. Noch sträubte sich alles in Hasard, es als Tatsache hinzunehmen. Es erschien ihm zu einfach, zu banal. Siri-Tong, die erfahrene Kämpferin, und der Wikinger, der sogar das Gefecht und den Schiffsuntergang in der Windward-Passage überlebt hatte, waren einfach über Bord gefallen und ertrunken? Irgendwie ließ sich das nicht in Einklang bringen. Einfach so? Die Boote legten schließlich an der „Isabella“ an. Auch das Boot der Roten Korsarin kehrte zurück. Die Männer sahen müde, abgekämpft und enttäuscht aus. Aber sie hatten getan, was in ihren Kräften stand, mehr konnten sie nicht tun. „Kommt an Bord“, lud Hasard sie ein. Sein Gesicht war hart und kantig, es wirkte verschlossen. Sein Blick war in sich gekehrt. Der Boston-Mann stand an Deck. Der Kutscher hatte ihm einen Verband um die Hand gelegt, die Wunden desinfiziert und alles mit Binden umwickelt. Er fragte nichts, er sagte auch kein Wort. Er las es in den Augen des Seewolfs, daß alles vergebliche Mühe gewesen war. „Hast du keinen Schrei gehört, BostonMann?“ fragte Hasard. „Nein, nichts, es ging zu schnell. Ich weiß nur, daß ich der erste war, der über Bord fiel, dann konnte ich nichts mehr erkennen, die Fackel war erloschen.“ „Es besteht keine Hoffnung mehr, sie noch zu finden“, sagte Hasard mit düster umwölkter Stirn. Er sah die Männer der
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Reihe nach an, die jetzt auf dem Quarterdeck und in der Kuhl standen und nicht wußten, wo sie ihre Hände lassen sollten. Sie alle wirkten geknickt, obwohl sie sich mit der Tatsache noch keinesfalls abfinden wollten oder konnten. „Profos, laß den Leuten einen Becher Rum geben“. sagte Hasard. , „Aye, Sir!“ Auch das klang matt und kraftlos. Sie tranken einen Schluck, aber der Rum heizte ihnen in dieser brühwarmen Luft nur noch mehr ein. Die meisten tranken ihren Becher gar nicht ganz leer. Carberry mußte etwas sagen, die Spannung wurde zu groß. Wie sie alle herumstanden, nichts sagten, sich gegenseitig anstarrten, dann wieder auf das Wasser blickten — er hielt das nicht mehr aus. „Noch ist nichts endgültig“, sagte er lauter als nötig. „Bei Tag kann das alles ganz anders aussehen, denn soviel Pech auf einmal gibt es nicht. Wir sitzen hier auf diesem Scheißfluß fest, das allein genügt doch wirklich. Und dann verschwinden die beiden auch noch. Das ist zuviel, das haut nicht hin. Morgen werden wir darüber lachen, wenn sie auftauchen.“ „Sie tauchen nicht mehr auf“, versicherte Bill the Deadhead, der Mann mit dem großen goldenen Totenkopf um den Hals, dumpf. „Was der Fluß hat, das hat er, das gibt er nicht mehr her.“ „Quatsch keinen Stuß, du Hering“, grollte der Profos. „Den Boston-Mann hat der Fluß ja auch gehabt. Steht er nun hier an Deck oder nicht?“ „Das ist etwas anderes.“ „Wieso ist das was anderes?“ fragte Ed angriffslustig und schob sein gewaltiges Rammkinn vor. „Warum, was, wie?“ Darauf wußte Bill the Deadhead keine Antwort. „Aha, rumquatschen und nichts davon verstehen, he! Das hab’ ich gern. Wartet nur ab!“ Der gewaltige Optimismus des Zuchtmeisters und Profos’ der „Isabella“ nahm etwas von der Spannung, die über ihnen lag. Insgeheim war jeder dankbar dafür.
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Juan wollte den Fluß noch einmal oberhalb der „Isabella“ nach den beiden absuchen, doch das versprach nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Schließlich sah er das selbst ein. „Kehren wir also zurück“, meinte er. „Wir können ja doch nichts mehr unternehmen, wenigstens in dieser Nacht nicht. Warten wir den Tagesanbruch ab.“ Missjöh Buveur, ein dunkelblonder, etwas dicklicher Seemann, der als einziger seinen Rumbecher ausgetrunken hatte. und der in Siri-Tongs Crew noch neu war, soff auch die anderen Becher leer. Er war ständig auf der Suche nach etwas Trinkbarem, daher hatte er auch seinen Namen, der nichts anderes als Trinker bedeutete. „Wir stehen hier herum, und inzwischen sind die beiden längst wieder an Bord. aufgeentert“, sagte er. „Ein Stück durch den Urwald, dann durch den Fluß, und schon sind sie wieder zurück. Ganz sicher haben wir uns verfehlt, als wir unterwegs waren.“ Diese Ansicht teilte zwar keiner, doch sie beflügelte die Männer, die sich an jeden kleinen Hoffnungsschimmer klammerten. Innerhalb von kurzer Zeit waren sie wieder in ihrem Boot und pullten davon. „Wenn es stimmt, dann sind wir in einer Stunde wieder da!“ rief der Boston-Mann. Aber die Stunde verging und noch eine weitere. Von der Crew der Roten Korsarin ließ sich niemand blicken. Da wußte auch Hasard, daß es keine Hoffnung mehr gab, diesmal nicht.. Das Schicksal hatte wieder einmal zugeschlagen, mit aller Härte, ohne jeden Kompromiß. Der Seewolf war nicht der einzige, der in dieser Nacht keinen Schlaf fand. Er lehnte an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und starrte in den warmen Tropenhimmel. Er sah nicht das Kreuz des Südens, es gab an dem Sternbild auch ohnehin nichts Besonderes zu sehen. Sein Blick war ausdruckslos, seine Gedanken wanderten. Warum ausgerechnet immer ich? fragte er sich in Gedanken. Warum trifft es den einen immer so hart und den anderen gar
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nicht? Wo bleibt da die vielgepriesene Gerechtigkeit? Die fernen Sterne schwiegen. Kalt und unnahbar blinkten sie auf ihn nieder. Um ihn herum blühte eine verschwenderische Vegetation in unvorstellbarer Pracht. Das Leben war herrlich, es war ein Paradies auf Erden, dachte er, doch für ihn erschien es in dieser Nacht wie eine übergroße Last, die er mit sich herumtragen mußte. Der Seewolf haderte mit sich und seinem Schicksal, er klagte an, aber den, den er anklagte, der antwortete nicht, nahm keine Stellung dazu. Gab es IHN überhaupt, dachte er. Wenn ja, dann schien ER einen ganz besonderen Haß auf den Seewolf zu haben. Aber warum nur? Er fand keine Antwort darauf. War er von Gott geächtet? 6. Thorfin Njal fand sich in einer Umgebung wieder, die er anfangs gar nicht begriff. Ungläubig blinzelnd, sah er sich um. Er befand sich in einem merkwürdigen Raum. An den Wänden hingen Seidenteppiche, die mit Schlangen und Drachen bestickt waren. In einer Nische der Kammer stand eine fast lebensgroße Figur aus Holz, die einen Gott darstellte. Vor ihm brannten in zwei kleinen goldenen Schalen Lichter, die die Züge der Gottheit flackernd erhellten. Gespenstisch zuckte der Schein der kleinen Flammen von einer Ecke zur anderen. Aber es gab für den verblüfften Wikinger noch mehr zu sehen. Öllampen, die von der Decke leicht hin und her schwangen, eine große Schale mit Orakelknochen und den Panzern längst gestorbener Schildkröten. Die Einrichtung sah zierlich und zerbrechlich aus, von den Bam- busmatten auf dem Boden bis zur seidenbespannten Decke. Er verspürte keine Schmerzen, bis auf einen leichten Druck in der Halsgegend, wo ihn der Hieb getroffen haben mußte.
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Verdammt, er entsann sich nur noch ganz undeutlich der kleinen Gestalten, die ihn überwältigt hatten. Er wollte sich an den Hals greifen, doch dann bemerkte er, daß seine Hände an einen Stuhl gefesselt waren. Sie ließen sich nicht bewegen, so hart waren sie an die Lehnen gepreßt. Thorfin Njal wartete in stoischer Ruhe ab und blickte nach links, wo er eine kleine Bewegung gesehen hatte. Siri-Tong war zu sich gekommen. Ihre Überraschung war lange nicht so groß, sie wunderte sich auch nicht so wie der Wikinger. Dafür glaubte er in ihrem Blick leichte Angst zu lesen, denn immer wieder sah sie sich nervös um. „Keine Angst“, sagte er rauh und wandte den Kopf. „Das wird sich bald als ein Irrtum herausstellen.“ „Es ist ganz sicher kein Irrtum“, sägte die Korsarin gepreßt. „Ich kenne diese Kerle.“ Ehe sie noch etwas hinzufügen konnte, löste sich aus dem hinteren Teil des Raumes eine Gestalt aus dem Halbdämmer. Eine zweite Gestalt war undeutlich im Hintergrund zu erkennen. Um die schmalen Lippen des Fremden lag ein grausames Lächeln, als er sich näherte und den Wikinger betrachtete. Stark geschlitzte Augen aus einem gelblichen Gesicht, von dessen Oberlippe ein langer dünner Bart herunterhing, sahen den Wikinger an und betrachteten den funkelnden Helm auf seinem Schädel. Der gelbhäutige Zopfmann war in kostbare Gewänder gehüllt, die entfernt denen glichen, die auch der tote Mandarin in der geheimen Kammer getragen hatte. Seide, bunt bestickt, fiel wallend an ihm herunter, bis fast zum Boden. Der Zopfmann trug hölzerne, weiß lackierte Schuhe, auf deren Oberteil ein stilisierter Drache zu sehen war. Sein lackschwarzes Haar auf dem Schädel wurde zum größten Teil durch eine Kappe verdeckt, die von goldenen Fäden durchwirkt war. Seitlich war der schwarze Zopf zu sehen, sobald der Mann sich bewegte.
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Der zweite hielt sich auch weiterhin im Hintergrund, Thorfin sah sein Gesicht undeutlich. Es schien ein altes, faltiges Gesicht zu sein, ein magerer Hals und ein ausgemergelter Körper. In Thorfin dämmerte ganz schwach eine Ahnung herauf. Nein, es war kein Irrtum, dachte er. Diese Kerle wußten, was sie wollten, vermutlich hatten sie es auf SiriTong oder den schwarzen Segler abgesehen, denn Thorfin spürte fast körperlich, daß er sich jetzt auf einem ganz ähnlichen Schiff befand. Der Mann hatte immer noch kein Wort gesprochen. Jetzt ging er zwei Schritte weiter, und das harte, grausame Lächeln auf seinem Gesicht verstärkte sich noch mehr. Er blickte Siri-Tong in die Augen und ließ sie nicht mehr los, auch als die Korsarin versuchte, dem Blick auszuweichen. Er erkannte sie sofort, jetzt hatte er Gewißheit, wen er vor sich hatte. Höhnisch blickte er sie an und sah, wie sie unruhig an ihren Fesseln zerrte. Er bemerkte ihre Angst, die ihr plötzlich in die Augen sprang. Der Chinese löste den Blick von ihr. Entgegen seiner Art wurde er unruhig, fast aufgeregt. Das, was ihm hier in die Hände gefallen war, hatte er nicht erhofft, nicht in diesem Ausmaß. Er hatte den schwarzen Segler und damit die Mumie des Mandarins, und gleichzeitig war ihm auch die Rote Korsarin in die Hände gefallen. „Hast du meine Botschaft erhalten?“ fragte er höhnisch. Siri-Tong gab keine Antwort. Der Mann sprach in einem hohen singenden Tonfall, schnell und weich. Natürlich entsann sie sich der Botschaft, die sie ihr mit einem Pfeil herübergeschossen hatten. Das war noch gar nicht lange her. Allerdings war SiriTong da an Bord der „Isabella“ gewesen, und die Begegnung hatte in dichtem Nebel stattgefunden. „Nie wirst du uns entkommen“, hatte in der Botschaft gestanden. „Wir werden dich an jedem Punkt der Welt finden!“
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Der Zopfmann trat ganz dicht an Siri-Tong heran. Seine Augen blickten mitleidslos, seine rechte Hand mit den langen Fingernägeln schoß jäh vor und ergriff ihr Kinn. „Befehligst du ,Eiliger Drache über den Wassern’?“ fragte er herrisch. „Antworte!“ Siri-Tong versuchte, dem Griff auszuweichen. Ihre dunklen Augen sprühten verächtliche Blitze. „Ja, ich befehlige das Schiff“, erwiderte sie. Jetzt trat auch der Alte näher und blieb dicht vor ihr stehen. Seine Augen waren nicht mehr müde, er wirkte lebendig und frisch. Eine ganze Weile starrte er die Korsarin an. Seine Lippen zuckten, seine Augen wurden noch wacher. „Möchtet Ihr sie etwas fragen, Hungwan?“ erkundigte sich der Zopfmann freundlich. „Ja, ich werde sie etwas fragen.“ Siri-Tong zuckte bei der Erwähnung des Namens zusammen. Hung-wan, der Chronist! Sie blickte den Alten wie eine Erscheinung an. Sie hatte die Schriftrollen über die Reise von „Eiliger Drache über den Wassern“ gelesen und sie dem Seewolf übersetzt, als sie die Mumie des Mandarins gefunden hatten. Jetzt stand dieser Alte lebendig vor ihr, ein Geist aus einer anderen Welt, eine Legende fast. „Ihr seid Hung-wan?” fragte sie brüchig. „Hung-wan, der ...“ Zu spät merkte sie, daß sie sich damit verraten hatte. In den Augen des alten Mannes blitzte es wieder auf. Wie ein Wetterleuchten ging es über sein Gesicht. „Woher kennst du mich?“ fragte er scharf. Zu spät, dachte sie. Er weiß es schon, oder er konnte es sich denken. Der Triumph in der Stimme des anderen Mannes war unverkennbar. „Sie hat die Chronik der Reise gelesen, Hung-wan. Sie hat sie hei dem mumifizierten Kapitän gefunden. Wie könnte es anders sein?“ „Es kann nur so sein, Li-Cheng!“
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Der Alte wandte sich um, seine knöchernen Finger fuhren unruhig über sein faltiges Gesicht. „Wo ist die Mumie des Mandarins?“ fragte er. Seine Stimme war jetzt schrill. Stumm sah der Wikinger zu. Er verstand kaum ein Wort von dem, was gesprochen wurde, doch den Sinn begriff er, er wußte, um was es ging und was die beiden Männer wollten. Er versuchte, seine Fesseln zu lockern, doch er gab den Versuch gleich wieder auf. Sie waren aus dünnem, unglaublich zähem Material, das er nicht zerreißen konnte. Siri-Tong überlegte fieberhaft. Gab sie das Versteck preis, das der Alte ja ohnehin kannte, würde man sie anschließend töten. Vielleicht gab es einen anderen Ausweg. Li-Cheng riß brutal ihren Kopf herum. Seine scharfen langen Fingernägel waren dicht vor ihren Augen. „Antworte!“ zischte er. „Der edle Mandarin befindet sich an Bord, das wissen wir. Oder habt ihr . Siri-Tong fühlte, wie ihr ein kühler Schauer nach dem anderen über den Rücken rann. Li-Cheng kannte kein Erbarmen. Sie sah, wie gierig er nach der Mumie war. „Sie befindet sich nicht mehr an Bord“, sagte sie tonlos. „Wir haben den edlen Mandarin mit allen Ehren bestattet.“ Li-Chengs Gesicht verzerrte sich vor Wut. Mit dem Handrücken schlug er der Korsarin hart ins Gesicht. „Du Teufelin!“ stieß er hervor. „Der Mandarin hat auch nach dem Tod über das Schiff–gewacht. Ihr hättet ihn zurückbringen müssen ins Land des Großen Chan. Nur dort würde er ins Große Nichts zu Ahnen gehen können.“ Wieder schlug er zu, rechts, links. Der Kopf der Roten Korsarin pendelte hin und her. Aus ihren Augen schossen Blitze. „Rühr mich nicht noch einmal an!“ fauchte sie wild. „Oder meine Leute werden dich in Stücke reißen.“ „Deine Leute“, sagte er verächtlich, „die wissen noch nicht einmal, daß wir hier sind und euch entdeckt haben. Solange du in meiner Gewalt bist, werden deine Leute
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gar nichts unternehmen. Wir werden auch das Schiff kriegen, im Austausch gegen dich.“ Er stieß sie mit der flachen Hand vor den Kopf. „Ich werde deinen Leuten eine Falle stellen“, höhnte er. „Und jetzt will ich wissen, wo ihr den Mandarin bestattet habt!“ „Auf der Insel Little Cayman“, log SiriTong. „Wir haben ihn in eine Höhle gebracht, in der er genauso ruht. wie in der Kammer des Schiffes.“ „Du Frevlerin! Weshalb?“ „Er sollte seine ewige Ruhe finden. Ich wollte nicht, daß er Piraten oder Spaniern in die Hände fällt.“ Der alte Chronist fuhr sich mit beiden Händen durch die spärlichen Haare. Er war verzweifelt, sein Mund zuckte nervös. „Eine Todsünde“, jammerte er, „aber ich glaube ihr. Das Schiff lag ja vor jener Insel, wie du mir gesagt hast, Li-Cheng!“ „Ich glaube ihr nicht, sie will nur ihre Haut retten. Der Mandarin befindet sich noch an Bord, ich fühle es.“ „Wir haben ihn bestattet“, erklärte SiriTong fest. „Ich bin gespannt ob du unter der Folter immer noch bei dieser Lüge bleibst.“ Unmerklich zuckte sie zusammen, als LiCheng aus einem Topf in der Nähe des Fensters einen kleinen grünen Trieb abbrach und ihn vor ihr Gesicht hielt. „Bambus“, sagte er sanft, „du kennst die Schößlinge dieser Pflanze. Du weißt, was ich mit dir anstelle, wenn du nicht die Wahrheit sagst.“ Siri-Tong konnte sich keine schlimmere Folter vorstellen. In Shanghai hatte sie es einmal bei einem aufsässigen Seemann erlebt, und ihr wurde heute noch übel, wenn sie daran dachte. Sie hatten dem armen Kerl junge Bambustriebe in die Haut gesteckt, die sie vorher angeschnitten hatten. In den blutenden Wunden wurden die kleinen Schößlinge gesteckt und mit Bast abgebunden. Innerhalb von wenigen Stunden zogen sie Wurzeln und begannen sich unter der
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Wirkung von Wärme und Blut rasch zu entfalten. Die Schmerzen, die das Opfer erdulden mußte, ließen sich nicht mit allen Worten dieser Welt schildern, denn der Bambus wuchs unheimlich rasch und steckte seine Wurzeln immer tiefer in den Körper, bis das Opfer unter unbeschreiblichen Qualen starb. Der Seemann hatte alles zugegeben, was sie wissen wollten – und noch viel mehr. „Ich habe die Wahrheit gesagt“, log sie weiter. „Fragt den Mann dort, er wird es bestätigen.“ „Wer ist dieser Mann?“ fragte der Chronist. „Mein Steuermann, er stammt aus dem Norden.“ „Versteht er unsere Sprache?“ „Nein“, sagte sie schnell. „Ihr müßt in der Sprache der Engländer mit ihm reden.“ Sie warf dem Wikinger einen flehenden Blick zu, und der begriff jetzt allmählich, um was es ging. Es handelte sich um den toten Kapitän, den sie immer noch an Bord hatten. Li-Cheng beherrschte die englische Sprache, wenn er auch in dem hohen Singsang sprach. Ziemlich freundlich wandte er sich an Thorfin Njal, der ihn grimmig anblickte. „Die Korsarin behauptet, der Edle Mandarin befinde sich noch immer in der Kammer an Bord. Ich glaube das nicht, denn ich nehme an, ihr habt ihn auf einer Insel bestattet. Was ist nun richtig?“ Thorfin geriet ins Schwitzen. Stellte ihm dieser verdammte Zopfmann eine Falle, in die er blindlings hineinlief? Er antwortete nicht gleich, sah Li-Cheng nur verständnislos an und grinste schließlich. Das sollte soviel heißen, daß er die Frage nicht verstanden hatte. Inzwischen überlegte er jedoch angestrengt. Diesen gelben Schlitzaugen war nicht zu trauen, dachte er, der gab sich auf einmal so freundlich. Er ließ sich die Frage wiederholen und nickte dann, nachdem Siri-Tong ihm unauffällig mit den Augen ein Zeichen gab. „Toter Kapitän auf Little Cayman“,
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radebrechte er in schlechtem Englisch. Das stimmte ja auch. Der vorherige Kapitän des schwarzen Seglers, El Diabolo, war längst tot und lag auf der Insel Little Cayman in einer Höhle, zusammen mit seinen Huren und Spießgesellen, die der Tod gemeinsam überrascht hatte. Er las das Mißtrauen in den Augen des Chinesen, der sich nun abwandte und erregt die Hände ballte. „Ich glaube es nicht“, stieß er hervor. „Sie lügen, alle beide, weil sie ihre Haut retten wollen.“ Er sprach weiterhin englisch, damit ihn der Nordmann auch verstehen konnte. Er griff in die Schublade eines eingebauten Wandschrankes und holte ein winziges Messer hervor. Stumm ging er zu dem Bambusstock in dem Topf und trennte zwei kleine Schößlinge ab, die er sorgfältig anspitzte. Sie sahen harmlos und grünlichgelb aus, und der Wikinger begriff noch nicht, was Li-Cheng vorhatte. Nur an Siri-Tongs leichenblassem Gesicht las er ab, welche Qualen sie schon jetzt erduldete, als sie die kleinen Triebe sah. „In ein paar Stunden bist du ein wandelnder Bambusstrauch“, erklärte er kalt. „Du wirst wünschen, nie geboren zu sein, das verspreche ich dir!“ Mit dem kleinen Messer ging er auf die Korsarin zu, die unwillkürlich einen leisen Schrei ausstieß. „Wo ist der Mandarin?“ fragte er noch einmal. „Auf Little Cayman!“ schrie Siri-Tong. Li-Cheng gab keine Antwort. Ein blitzschneller Schnitt zerfetzte die rote Bluse der Roten Korsarin am Oberarm. Mit der anderen Hand spannte er ihre Haut und wollte das Messer zu einem feinen Schnitt ansetzen. Da erklang Hung-wans leise Stimme. Sie war sanft und ruhig. „Ich an Eurer Stelle“, sagte der Alte, „würde die Korsarin zuerst dem Rauch der Wahrheit aussetzen, Li-Cheng. Aber bitte, Ihr seid der Kapitän.“ Li-Chengs Hand mit dem Messer blieb in der Luft hängen. Er drehte sich nicht um
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und wartete darauf, daß der Alte weitersprach. Er sprach auch weiter, leise und etwas heiser, und er wußte, daß der Kapitän seinen Vorschlag annehmen würde, denn er war der älteste und weiseste Mann an Bord. „Mit dem Rauch der Wahrheit habt ihr das Ergebnis in einer halben Stunde, mit den Bambussprossen jedoch dauert es viele Stunden, ehe sie die Wahrheit sagen wird, Li-Cheng. Der Rauch der Wahrheit ist schmerzlos, aber seine Wirkung ist sicher.“ Li-Cheng lächelte, er legte das Messer wieder in die Schublade zurück und verneigte sich höflich vor dem Alten. „Die Jahre haben Eure Weisheit sehr stark geprägt, Hung-wan. Ihr seid abgeklärt und erfahren!“ Noch einmal verneigte er sich. „Hsi-wang-Mu soll den Rauch der Wahrheit bringen!“ Er zog an einer dünnen Schnur. Aufatmend glaubte Siri-Tong ein feines Läuten zu hören. Die tödliche Folter war ihr noch einmal erspart geblieben, aber dem Rauch der Wahrheit würde sie nicht entkommen, das war sicher. Li-Cheng würde alles erfahren, was er’ wissen wollte. Aber wenigstens hatte sie Zeit gewonnen. Ihr Gesicht war leichenblaß, ihre schmalen Hände zitterten leicht, und sie warf dem Alten einen dankbaren Blick zu. Lautlos trat ein weiterer Mann ein. Er war von Kopf bis Fuß in dunkles Tuch gehüllt und trug eine tellerartige Kopfbedeckung. Er verneigte sich ein paarmal hintereinander, als Li-Cheng ein paar kurze Worte zischte. Lautlos, wie er erschienen war, verschwand er auch wieder für eine kurze Zeit. Als er wieder auftauchte, trug er eine Kupferschüssel in der Hand, die er unter vielen Verneigungen auf den Tisch stellte. Dann zog er sich wieder zurück. Thorfin Njal zerrte wieder an seinen Fesseln. Vergeblich, sie gaben nicht nach. Auch der Stuhl, auf dem er saß, ließ sich nicht bewegen. Er stieß ein paar wilde Flüche aus, aber niemand beachtete ihn. Die beiden Männer waren beschäftigt.
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Li-Cheng entnahm der Kupferschale zwei kleine dünne Stäbchen von blauer und grüner Farbe und entzündete sie an der Öllampe. Anfangs brannten sie, dann kräuselte sich schwerer blauer Rauch zur Decke, und sie qualmten nur noch. Ein penetranter, widerlich schwerer und süßlicher Duft verbreitete sich augenblicklich. Der Wikinger blickte hilflos auf die Schale und rümpfte angewidert die Nase. Er begriff nicht, was hier geschah, denn unter dem Rauch der Wahrheit konnte er sich nichts vorstellen. Li-Cheng brachte die Schale dicht vor SiriTongs Gesicht, bis der graublaue Dunst sie einhüllte. Sie wandte den Kopf hin und her, doch die Schale folgte beharrlich ihren Bewegungen. Sie hielt die Luft an, doch es half nichts. „Atme tief ein!“ befahl der Kapitän. „Wenn du es nicht tust, hole ich die Bambussprossen!“ Die ersten Schwaden hatte sie bereits eingeatmet, und sie spürte, wie ihr Körper schwerelos zu werden begann. Alles wurde leicht und klar, ihre Angst verschwand, eine grenzenlose Gleichgültigkeit kam über sie. Sie glaubte, auf schnellziehenden rosa Wolken dahinzueilen. Ihr Körper entspannte sich. Li-Cheng hielt ihr die Schale weiterhin vor das Gesicht. Der Alte stand daneben und fächelte die kleinen Schwaden mit einem Tuch zur Seite, damit Li-Cheng sie nicht einatmete. Der Rest des Rauches zog zu dem Wikinger hin, der angewidert schnüffelte. Er konnte es nicht vermeiden, daß er eine gehörige Portion von dem Zeug einatmete. Er sah die Gestalten vor sich auf und ab tanzen, mal größer, mal kleiner werdend. Eine große Schrift rückte auf ihn zu, sie schien den gesamten Raum auszufüllen, und er glaubte den Satz wieder zu lesen, den er schon so oft angetroffen hatte und der lautete: Wer hier eingeht, des Leben ist für immer verwirkt! Die Schrift verblaßte, dafür wurden jetzt die Konturen unscharf und zogen sich wellenförmig zusammen. Wie aus weiter
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Ferne hörte der Wikinger leise wispernde Stimmen, die aus der Ewigkeit auf ihn zukamen. Sein Kopf sank auf die Brust. Er wollte fluchen, sich erheben, doch da begann sich der ganze Raum zu drehen. Die Stimmen klangen jetzt näher, unwirklich, aus geheimnisvollen Tiefen, über Raum und Zeit hinweg, und dazu erklang in seinem Schädel eine dröhnende Glocke, die immer lauter hallte. Er fühlte sich in eine andere Szene versetzt, in eine fremde Welt voller Geheimnisse, die immer plastischer und realistischer wurde. Da war eine große Stadt mit vielen Menschen... 7. Kaum jemand schlief in dieser Nacht auf der „Isabella“. Das ungewisse Schicksal der Roten Korsarin und des Wikingers war den Seewölfen auf den Magen geschlagen. Sie hockten herum, lagen an Deck und blickten in den Tropenhimmel, der wie ein Mantel aus schwarzblauer Seide mit kleinen gelben Löchern darin aussah. Der riesenhafte Gambianeger Batuti blickte sorgenvoll auf den reißenden Strom, der unentwegt Äste, Baumstämme und Blätter dem großen Meer entgegentrug. Er konnte nicht schlafen, das Schicksal der beiden ließ ihm keine Ruhe mehr. Als ihm niemand Beachtung schenkte, schlich er nach unten und holte seinen riesigen Morgenstern. So unauffällig wie möglich schlich er zum Bug des Schiffes, aber Bill, der Schiffsjunge, sah ihn. „Wo willst du hin, Batuti?“ raunte er. „Batuti gehen Fische bewässern“, sagte der Neger. „Fische bewässern?“ fragte -der Junge, der den Ausdruck noch nicht kannte. „Die Fische sind doch naß.“ „Wenn Batuti bewässern, Fische erst richtig naß“; kauderwelschte der Neger grinsend. „Und jetzt hau ab, kleines Bill, legen in Koje, machen Schnarchmann, Batuti passen auf.“
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Bill wunderte sich, weshalb der Neger seinen mörderischen Morgenstern mitnahm, aber er fragte nicht weiter, und gleich darauf hatte er Batuti aus den Augen verloren. Der Neger ließ sich lautlos über das Schanzkleid gleiten, bis seine Füße das Wasser berührten, das hier an der Sandbank nicht sehr tief war. Sein Plan stand schon seit einer Stunde fest. Er war im Urwald zu Hause, er kannte sich hier besser aus als jeder andere, also war auch er bestens dafür geeignet, die beiden zu suchen. Wer weiß, vielleicht hielten sie sich doch irgendwo in der Nähe auf und waren hilflos. Ein letzter Blick nach oben: Niemand hatte etwas bemerkt, auch der Seewolf nicht, der auf dem Achterkastell stand. Batuti wollte nicht, daß Hasard es erfuhr, der hätte ihm das nächtliche Unternehmen einfach aus dem Grund verboten, weil er es für sinnlos und viel zu gefährlich hielt. Das wollte Batuti umgehen. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust, er watete weiter, bis er schwimmen konnte. Dann legte er sich auf den Rücken, packte den schweren Morgenstern auf seine gewaltige Brust und ließ sich einfach treiben. Batuti schwarz wie Nacht, dachte er, demnach konnte ihn auch niemand sehen, wie er an dem Schiffsrumpf vorbei trieb. In diesem Augenblick dachte er weder an Kaimane noch an die gefräßigen Piranhas, die den Fluß bevölkerten. Schnell riß der Strom ihn mit sich fort und drückte ihn zum rechten Ufer hinüber. Das Schiff lag jetzt weit hinter ihm, als er triefend an das schlammige Ufer stieg. Leises Fauchen schlug ihm entgegen. Der Neger blieb stehen und grinste hart. „Nur kommen, großes Wildkatz“, sagte er, „Batuti stärker, Batuti keine Angst vor lausiges Kaiman oder vor Wildkatz. Batuti machen kaputt wie Löwe.“ Grimmig schwang er seinen Morgenstern in der Hand. Das Fauchen wurde stärker, gereizter. Blätter raschelten, die riesige Wildkatze, die auf Beute lauerte, hatte den Schwarzen
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gewittert, aber sie griff nicht an. Vielleicht fühlte sie mit dem ihr eigenen Gespür, daß hier ein Gegner stand, der ohne Furcht und nicht so leicht zu überwältigen war. Noch einmal fauchte sie gereizt. Batuti fauchte zurück, zornig, voller Wut. Er sah die Katze nicht, wußte aber, wo sie sprungbereit stand und auf ihn lauerte. Mit einem Satz stürmte er vor, schwang den Morgenstern hoch über seinen Schädel und hieb in das Gewirr der Pflanzen. Die große Wildkatze fauchte noch stärker und zerfetzte mit zwei blitzschnellen Prankenhieben Zweige und Blätter. Dann drehte sie sich um und flüchtete in langen Sätzen vor dem unerschrockenen Gegner, der unbekümmert weiterging. Einmal sackte Batuti in ein Schlammloch ein. Er fluchte nicht, er sagte keinen Ton, er wartete und legte sich mit dem Oberkörper ganz langsam zurück, bis er wieder festen Boden gewann. Er fühlte sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung keineswegs fremd, er fühlte sich wie der Herrscher über den Dschungel und alle seine Tiere. Immer wieder ging er bis dicht ans Ufer und spähte in die kleinen winzigen Buchten, ob da nicht jemand lag oder angetrieben war. Die Moskitos setzten ihm zu und kleine Fliegen stachen ihn, um ihre Eier in seinem Körper abzulegen, doch der Neger kannte diese heimtückischen Biester und schlug sie tot, sobald sie seine Haut auch nur leicht berührten. Er verstand es meisterhaft, jeder drohenden Gefahr auszuweichen, weil er sie schon vorher spürte und sein Instinkt ihn immer rechtzeitig warnte. Nur einmal hatte er Pech und erkannte die Gefahr zu spät. Wieder stand er dicht am Ufer und blickte in das vom Mondlicht erhellte Wasser, als er ein leises Schaben hinter sich vernahm. Wie der Blitz fuhr er herum. Ein Kaiman, der im Uferschlamm gelegen hatte, riß seinen riesigen Rachen auf und schnellte herum. Stinkender fauliger Atem schlug dem Neger wie eine Wolke entgegen. Dicht vor seinem rechten Bein
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schnappten die Kiefer des Kaimans mit einem harten Geräusch zu. „Verflixt!“ fluchte Batuti. Er sprang noch einen Satz zurück. Der Kaiman gab nicht auf, für ihn existierten keine unbezwingbaren Gegner. Auf seinen kurzen Beinen schnellte er herum, der große Schwanz schlug wütend auf den Boden, und so schnell, daß die Bewegung kaum zu sehen war, schnappte er wieder zu. Batuti war jetzt in seinem Element. Als ganz junger Mann hatte er in seiner Heimat die Mutprobe ablegen müssen, die darin bestand, einen Löwen mit dem Speer zu töten. Batuti hatte auf den Speer verzichten müssen, als der Löwe sprang, und so hatte er ihn mit bloßen Händen erledigt, bei einem Kampf auf Leben und Tod. Er verlor seinen Morgenstern, und jetzt befand er sich in der gleichen Lage wie damals, nur war es diesmal ein Kaiman, und der war gefährlicher als ein Löwe. Bevor die mächtigen Kiefer zuschnappten, war der Neger einen Satz nach vorn gesprungen. Sein linker Finger stieß in das Auge des Kaimans, der zusammenzuckte und sich nach links drehte. Schon war Batuti über ihm. Seine mächtigen Arme hoben den Vorderkörper der wild um sich schlagenden Riesenechse hoch, drückten ihn herum, und als der Kaiman den Rachen öffnete, ließ Batuti los. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stieß er beide Arme in den geöffneten Rachen und drückte mit aller Kraft gegen Ober- und Unterkiefer der jetzt wild tobenden Echse. Immer weiter riß er dem Reptil den Rachen auf. Seine mächtigen Muskeln an den Oberarmen zitterten, der Schweiß lief ihm in Strömen über den Körper. Er wußte genau, was ihm bevorstand, wenn es ihm nicht gelang, das Maul der Bestie noch weiter aufzureißen. Schaffte er es nicht, würden ihm die spitzen Zähne beide Arme abbeißen, und dann war er erledigt. Am Hals traten seine Adern wie dicke Stränge hervor, er glaubte, jeden Augenblick müsse sein Schädel platzen.
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Der Kaiman tobte, seine kurzen Beine wühlten Dreck auf, stemmten sich in den Untergrund. Sein kräftiger Schwanz schlug hin und her und peitschte bis dicht vor Batutis Beine. Er fühlte die spitzen Zähne in seinen Händen, den harten Kiefer der Echse, und er strengte sich noch mehr an. Es kostete übermenschliche Kräfte, gegen den gewaltigen Kiefermuskel des Kaimans anzukämpfen. Während er den Rachen Stück für Stück weiter aufstemmte, suchten seine Augen den Morgenstern, den er verloren hatte. Nicht weit von ihm lag er auf dem Boden, unerreichbar im Augenblick. Mensch und Tier kämpften stumm und verbissen. Batuti mußte sich höllisch vor dem gepanzerten Schwanz in acht nehmen, der immer wieder den Boden peitschte und nach ihm schlug. Der Neger war fertig, fast am Ende seiner Kraft. Er zitterte am ganzen Körper, seine Arme verkrampften sich, wurden gefühllos. Noch einmal riß und zerrte er mit gewaltiger Kraft, dann hatte er das unmöglich Scheinende geschafft. In dem Schädel knirschte es vernehmlich, das Reptil fauchte heiser, gab den Kampf aber noch nicht auf. Da ließ der Neger ganz überraschend los und griff blitzschnell nach dem Morgenstern. Als sich der Kaiman fauchend umwandte, schlug Batuti zu. Das schwere Instrument zertrümmerte der Echse den Schädelknochen. Der mit aller Wucht geführte Hieb ließ das schwere Tier torkeln und auf die Seite fallen. Noch einmal schlug der Gambianeger zu, dann hauchte der Kaiman sein Leben aus. Der Körper zuckte noch ein paarmal, ehe er still lag. Zwei, drei Minuten lang stand Batuti reglos da und holte tief Luft in seine Lungen. Er kriegte die Arme nicht mehr hoch, so ausgepumpt war er von dem Kraftakt. Doch er erholte sich rasch, er hatte eine starke Kondition. Verbissen setzte er seinen Marsch durch den nächtlichen Dschungel fort. Er kämpfte sich durch
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Gebüsch, durch riesengroße Farne, durch morastige Tümpel, er drang in das Labyrinth ein wie ein großes starkes Tier, das keine Hindernisse kennt. Je weiter er ging, desto geringer wurde seine Hoffnung, einen der beiden zu finden, denn daß er alle beide finden würde, glaubte er schon nicht ehr. Die Tiere wichen ihm aus, denn sie spürten, daß da einer kam, der stärker war als sie, ein Gegner, der sich nicht besiegen ließ und kein Erbarmen kannte. Voller Wut durchquerte er ein Stück des Flusses, der hier einen tiefen Einschnitt bildete. Nicht einmal die Piranhas nahmen Notiz von ihm, kein einziger dieser Fische ritzte auch nur seine Haut. Triefend stieg er aus dem brühwarmen Wasser und sah auf der anderen Insel den schwarzen Segler in der Bucht liegen. Gegen den Nachthimmel erkannte er dort Gestalten, die sich an Deck unterhielten und ebenfalls keinen Schlaf fanden. Demnach waren die beiden Vermißten nicht zurückgekehrt, überlegte er. Nichts, keine Spur. Batuti war verzweifelt und wollte aufgeben und wieder zurück zur „Isabella“ gehen, weil er einsah, daß er doch nichts ausrichten konnte. Eine innere Unrast trieb ihn jedoch weiter, dem noch fernen Meer entgegen. Dort, bei den vielen kleinen Inseln, wollte er noch einmal suchen. Fand er dort auch nichts, dann waren die Rote Korsarin und der Wikinger nach menschlichem Ermessen tot. Eine Tortur begann für ihn. Wasser, Schlamm, Morast, Gestrüpp, das kaum zu durchdringen war, hielten ihn auf. Batuti marschierte unentwegt weiter, bis er den schwarzen Segler aus den Augen verlor. Immer noch suchte er jede kleine Bucht ab, aber er fand nicht die geringste Spur. Die nächste Insel war sein allerletztes Ziel. Fand er dort auch nichts, würde er endgültig umkehren. Als er den vorderen Inselteil umrundete, sah er das Schiff. Lange schwarze Masten stachen in den Nachthimmel. An den Rahen hingen die schwarzen Segel im Gei.
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Das Schiff ähnelte dem schwarzen Segler, doch Batuti konnte es vorerst nicht einordnen. Es dauerte lange, bis es ihm endlich wie Schuppen von den Augen fiel. Das war ja das unheimliche Schiff der Fremden, denen sie schon einmal im Nebel begegnet waren! Aufregung packte ihn. Er entsann sich der Roten Korsarin, die vor den Zopfmännern so eine unerklärliche Angst gehabt hatte. Dem Neger fiel es nicht schwer, sich den Rest zusammenzureimen. Dieser schwarze Segler mußte etwas mit dem Verschwinden der beiden zu tun haben. Er schöpfte neue Hoffnung. Hatte man die beiden entführt? Befanden sie sich etwa an Bord des Schiffes, oder war alles nur ein Zufall? Lautlos watete er ins Wasser, und als es ihm bis zu den Schultern ging, schwamm er zum Achterkastell des Schiffes, wo er hoch über sich einen Schatten sah. Ein zweiter gesellte sich zu ihm, er hörte ein paar Worte in einer Sprache, die sich wie Gesang anhörte, aber er verstand kein Wort. Das Schiff der Zopfmänner! Sie lagen nicht von ungefähr hier, überlegte der Gambianeger. Möglich, daß sie von See her die Masten des schwarzen Seglers gesehen hatten und dann in die Bucht eingelaufen waren. Die krausesten Gedanken und Vermutungen gingen ihm durch den Kopf, als er lautlos aufenterte und an Deck schlich. Er verursachte nicht das leiseste Geräusch, und doch fuhr eine der Gestalten sofort herum und rief etwas. Batuti kauerte sprungbereit im Schlagschatten der Aufbauten. Hier drang das Mondlicht nicht hin, hier herrschte absolute Finsternis, und er selbst war ebenfalls dunkel wie die Nacht. Der Zopfmann gab keine Ruhe. Er trat näher, bis er ganz dicht vor dem Neger stand. Er sagte auch nichts mehr, und Batuti glaubte, er hätte ihn doch nicht gesehen. Daher stieg sein Respekt vor den Zopfmännern ganz beachtlich, als der Kerl
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sich scheinbar gleichgültig umwandte. und es so aussah, als wolle er den Rückzug antreten. Im selben Augenblick jedoch fuhr er herum. In einer schnellen, geschmeidigen Bewegung zog er ein kurzes Schwert aus dem Gewand. Ein blitzschnell geführter Hieb pfiff durch die Luft. Batuti konnte gerade noch mit dem Oberkörper ausweichen, sonst hätte das Schwert ihm die Schulter gespalten. Dem nächsten Hieb konnte Batuti noch einmal ausweichen, dann war der Zopfmann an der Reihe. Die Faust des Negers schoß vor und erwischte den Mann seitlich am Schädel. Steif wie ein Brett kippte er zur Seite. Bevor er auf Deck fiel, packte Batuti ihn und legte ihn hin, damit ihn kein Gepolter verriet. Der zweite Mann rief jetzt etwas in der hohen Singsangsprache. Als er keine Antwort erhielt, glitt er näher, blieb mißtrauisch stehen und kniff die Augen zusammen, bis sie ganz schmale Schlitze waren. Deutlich hob er sich gegen das Mondlicht ab, das schimmernd auf sein Gesicht fiel. Batutis stählerne Arme langten aus der Dunkelheit, schlossen sich um den Hals des Mannes und drückten einmal zu. Der Neger legte ihn neben den anderen aufs Deck und wartete. Niemand erschien, niemand rührte sich, nur von irgendwoher vernahm er leises Gemurmel, Stimmen, die sich nicht unterscheiden ließen. Er enterte auf der Backbordseite ab, denn von dorther glaubte er die Stimmen und das Gemurmel zu hören. Er erreichte ein Fenster aus dem schwaches Licht fiel, hielt sich seitlich an einer Zierleiste fest und blickte hinein. Ihn traf fast der Schlag, aber gleichzeitig erfüllte ihn auch eine unbändige Freude. Ein erleichtertes Grinsen zog über sein Gesicht, er freute sich wie ein Kind. Da waren sie, Siri-Tong und der Wikinger. Und sie lebten! Beide waren an Stühle gefesselt. Siri-Tong war leichenblaß, und der Schädel des Wikingers baumelte haltlos hin und her.
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Zwei Zopfmänner hielten der Roten Korsarin eine Schale vor das Ge- sicht, aus der bläulicher Qualm stieg. Batuti begriff nicht, was sich hier abspielte, es erschien ihm unheimlich, fremdartig. Dieser Raum hatte etwas Unwirkliches – und dann die beiden Männer in ihren eigenartigen Gewändern, ihre gelben Gesichter, die lang herabhängenden dünnen Bärte. Der eine wirkte jung, während der andere wie ein Greis aussah. Batuti überlegte fieberhaft, wie er den beiden helfen könnte. Allein ließ sich nicht viel ausrichten, und im Augenblick sah es so aus, als bestünde für die beiden keine unmittelbare Gefahr. Sie schienen nicht verletzt zu sein, auch wenn sie einen abgekämpften Eindruck erweckten. Nein, hier konnten sie nur gemeinsam etwas ausrichten, dachte der Neger. Das mußte Hasard entscheiden. Ein letzter Blick überzeugte ihn, daß der Kerl immer noch mit seiner Schale herumwedelte, aus der es ständig qualmte. Keine Gefahr, entschied Batuti, doch das konnte sich schon sehr bald ändern. Er enterte ab, ließ sich ins Wasser gleiten, packte seinen Morgenstern fester und trat den Rückweg an. Diesmal hielt ihn nichts auf, er rannte und rannte, wo immer das Dickicht es zuließ, warf sich ins Wasser, schwamm, watete weiter, bis nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, endlich die Masten der „Isabella“ zu sehen waren. Hastig schwamm er an Bord zurück. 8. Shanghai, September 1558. Es war kein großes Ereignis, denn an diesem Tag wurden viele Mädchen geboren. Das einzig Ungewöhnliche war nur das Aussehen des kleinen Mädchens, das eine chinesische Mutter und einen portugiesischen Vater hatte und das auf den Namen Siri-Tong getauft wurde. Der Vater, ein portugiesischer Seemann, der die Familie „entehrt“ hatte,
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verschwand schon lange vor der Geburt. Seine Tochter hatte er nie gesehen. Als sie herangewachsen war, galt sie als das hübscheste Mädchen des ganzen Kantons, dabei war sie erst elf Jahre alt. Ihre Jugend war ein freudloses Dasein, zum größten Teil bestand es aus Hunger und Not. Siri-Tong wuchs heran, nur behütet von ihrer Mutter, die sich abrackerte, um mühsam den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wurde siebzehn Jahre alt, ein bestrickend schönes Mädchen, dem die Männer nachstarrten. Sie war anders als die anderen chinesischen Mädchen, der leichte Einschlag des europäischen Blutes unterschied sie etwas. Ihre Haut war nicht gelb, und ihre Augen waren mandelförmig, aber nicht geschlitzt. Sie hatte das, was man Rasse nennt — und sie war begehrt. Am Abend ihres siebzehnten Geburtstages ging sie durch die Hafengassen von Shanghai. Das bunte Leben und Treiben faszinierte sie immer wieder, und daher hatte sie sich als junger Mann verkleidet, um nicht ständig angesprochen zu werden. Dennoch folgte ihr beharrlich ein Kerl, der sich nicht abschütteln ließ. Siri-Tong drückte sich im Gewirr der Hafengassen in eine Nische, von der Treppen zu einen Keller hinunterführten. Als sich der Mann näherte, schlich sie die Treppen hinunter und betrat einen verqualmten, höhlenartigen Keller. Süßlicher Duft stieg ihr in die Nase, der sie fast betäubte. Nur undeutlich erkannte sie in dem Qualm Gestalten, die an den nackten Wänden kauerten. Manche schliefen selig, andere rauchten, wieder einige starrten mit leeren Blicken vor sich hin. Sie befand sich in einer der zahlreichen „Höhlen des Lasters“, wie man sie nannte, und zum ersten Male empfand sie Angst. Drei Männer traten ein, blickten sich suchend um, verständigten sich durch ein Zwinkern mit dem Wirt und boten ihr etwas zu trinken an. Sie konnte schlecht ablehnen,. Erst zu spät merkte sie, daß die drei Männer einer Preßgang angehörten, die
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sich ihre Seeleute aus den Höhlen des Lasters holten und sie zur Bordarbeit auf chinesische Dschunken preßten, die im Ostchinesischen Meer Küstenhandel trieben. Auf einer morschen Dschunke wachte sie wieder auf. Es gab kein Entkommen mehr. Über ihrer Schlafstelle unter Deck befand sich eingebrannt in Holz der Spruch: Wer hier eingeht, des Leben ist für immer verwirkt. Man hielt sie für einen Jungen, der schikaniert, geschlagen, geprügelt und bestraft wurde, der kein Geld für seine Arbeit erhielt, dem die magere Verpflegung mit Mühe und Not gerade reichte, um zu überleben. So ging es ein Jahr lang, Tag für Tag. Die Dschunke segelte von Shanghai nach Tsingtau, von Tsingtau nach Tschantou, bis hinunter nach Kaulun und durch die Straße von Taiwan. Sie trieben Handel mit Gewürzen, Gemüse, Reispflanzen, Sojabohnen, Bambus, Tee, Mohn –und den geplünderten Schätzen aus alten Kaisergräbern. Der grausame Kapitän kannte nicht die Ehrfurcht vor den toten Ahnen. Er plünderte respektlos das alte Kaisergrab, stahl in der Grabanlage den aus kostbaren Steinen dargestellten Himmel, zerstörte die von Apparaten bewegten Quecksilbermeere und Flüsse und plünderte sogar die Kerzen, die die Grabgewölbe erleuchteten und deren Brenndauer“ auf tausend Jahre berechnet war. Gegen ihren Willen wurde sie mitschuldig, denn was der Kapitän tat, wurde auch der Mannschaft angelastet. Ein paar Tage später erwischte man ihn. Es gab keine Verhandlung. Man schlug ihm und seinem Steuermann auf einem öffentlichen Marktplatz den Kopf ab. Auch der Seemann wurde enthauptet, und nach dem Schiffsjungen suchte man eine ganze Weile. Siri-Tong gelang die Flucht zurück nach Shanghai. Das eine Jahr im Ostchinesischen Meer hatte sie geprägt. Sie war hart geworden,
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nicht mehr das verweichlichte Kind von früher. Sie trug wieder Frauenkleidung, und sofort stellten ihr die Männer wieder nach. * Der Wikinger hatte das Gefühl, als wäre er so betrunken wie noch nie in seinem Leben. Er hörte die leisen Stimmen, vermochte sie aber nicht zu unterscheiden, Fragen wurden gestellt und auch sofort von der Korsarin beantwortet. Sie erzählte alles, ließ ihr ganzes Leben unter dem Einfluß des Rauches der Wahrheit ablaufen. Sie hörte kaum noch auf zu erzählen. Li-Cheng und der alte Chronist lächelten ausdruckslos. Wenn der Kapitän noch irgendwelche Zweifel an der Identität der Roten Korsarin gehegt hatte, so waren sie jetzt ausgeräumt. Mit diesem ersten Geständnis konnte er sie jederzeit den chinesischen Behörden ausliefern. Man würde sie aufgrund des Grabfrevels sofort enthaupten. Die Todesstrafe war ihr sogar zweifach sicher. Wollte sie mit der Überbringung der Mumie des Mandarins ihre Freiheit erkaufen? überlegte Li-Cheng. Er lächelte und fragte weiter, und Hungwan hielt ihr wieder die Schale vor das Gesicht, damit sie weiterhin den Rauch der Wahrheit einatmete. „Wie ging es weiter? Erzähle! Du hast einen ehrenwerten Mann getötet. Ich möchte es hören!“ Dem Wikinger fielen wieder die Augen zu, und aus den Worten wurden plastische Bilder, als sie weiter erzählte. * Der chinesische Kaufmann war ein ekelhafter Kerl. Er war dickleibig, aufgeschwemmt und lüstern auf junge Mädchen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, SiriTong zu heiraten, aber sie wollte nicht, sie sträubte sich hartnäckig.
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Jeden Tag erschien er im Haus ihrer Mutter und brachte der Alten kostbare Geschenke, um so die Gunst der Tochter zu erkaufen. „Du bist undankbar, Siri-Tong“, sagte die Mutter. „Fei-Lin ist ein ehrenwerter Kaufmann, er meint es gut mit dir.“ „Er ist ein ekelhafter Lüstling und mir aus tiefstem Herzen zuwider“, erwiderte die stolze Tochter. Die Alte fand immer neue Argumente. „Mein ganzes Leben habe ich geschuftet; damit du zu essen hattest. Ich habe mich erniedrigt, wie eine Frau sich nur erniedrigen kann. Und was ist dein Dank? Wir könnten ein herrliches, sorgenfreies Leben führen, würdest du dich mit Fei-Lin vermählen.“ „Ich denke nicht daran, dieses fette Schwein zu heiraten. Lieber würde ich sterben.“ „So spricht keine Tochter mit der Mutter!“ schrie die Alte. „Du hast dich ein Jahr lang herumgetrieben. Kein ehrenwertes Mädchen tut das. Sei froh, daß er dich überhaupt ansieht.“ Aber die stolze Tochter legte nur den Kopf in den Nacken und lachte höhnisch. „Du willst mir Vorwürfe machen, du?“ schrie sie zurück. „Keine ehrenwerte Frau kriegt ein Kind, wenn sie nicht verheiratet ist.“ Dafür erhielt Siri-Tong zwei harte Ohrfeigen, die sie gelassen hinnahm. Was waren die zwei Ohrfeigen gegen die Prügel, die sie auf der Dschunke erhalten hatte! Ein Dreck waren sie. „In drei Tagen wirst du ihn heiraten“, befahl die Alte. „Und jetzt will ich keinen Widerspruch mehr hören!“ Gegen die alten Sitten kam Siri-Tong nicht an. Sie war nur eine Frau, und sie hatte zu gehorchen. Einen Tag später wurde sie „verlobt“. Drei Tage später sollte die Vermählung sein. In der zweiten Nacht suchte Fei-Lin sie auf. Sein Grinsen war dreckig und gemein. Der dicke Mann schnaufte erregt. „Ich werde dir ein. paar Liebesspiele beibringen, mein Kind“, sagte er schmierig. „Wenn wir morgen vermählt sind ...“
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Er riß ihr die Bluse herunter, griff nach ihren Brüsten und wollte sich auf sie stürzen. Sie schrie nicht, sagte nichts, wartete nur in aller Ruhe ab und schlug ihm dann die Handkante ins Gesicht. Der fette Mann stolperte, schrie vor Schmerzen und stürzte rücklings auf einen kleinen Bambustisch. Er erhob sich auch nicht mehr, und ohne daß sich in ihr ein Gefühl des Mitleids regte, stellte sie fest, daß er sich beim Sturz auf das Bambusrohr das Genick gebrochen hatte. Ihre Unschuldsbeteuerungen halfen nicht. Sie hatte sich den Haß der Sippe Fei-Lins zugezogen, den gnadenlosen Haß, der sie bis in alle Ewigkeit verfolgen würde. Zwei Brüder aus der Sippe schworen Rache. Siri-Tong sollte für den Mord mit ihrem Leben bezahlen. In dieser Nacht gelang es ihr, unbemerkt das Haus zu verlassen, zum Hafen hinabzuschleichen und auf einem portugiesischen Handelsfahrer als Seemann anzumustern. Noch in der Nacht lief der Portugiese aus. Manuel Cordoba, der Kapitän der Galeone, erkannte bereits. am anderen Tag, wer da an Bord gekommen war. Aber er war ein ehrenwerter Mann, der Siri-Tong unter seinen persönlichen Schutz stellte, damit sie vor den Zudringlichkeiten der Mannschaft sicher war. Sie verstand es allerdings meisterhaft, sich die Kerle selbst vom Leib zu halten. Sie konnte fechten wie ein Mann, und wenn ihr trotz allem jemand zu nahe trat, forderte sie ihn kurz entschlossen vor den Degen. Schließlich begegneten ihr die rauhen Gesellen mit Hochachtung und Respekt. Zwei hatten im ehrlichen Kampf mit dem Leben bezahlt, die anderen riskierten es nicht. Cordoba kaperte unterwegs alles, was sich zeigte. Ein Spanier wurde aufgebracht, als sie in der Karibik waren. Er setzte sich hartnäckig zur Wehr. In dem Gefecht wurde die Galeone schwer beschädigt, Cordoba fiel im Zweikampf, andere
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Männer wurden niedergemetzelt, die Galeone sank schließlich. Siri-Tong erbeutete den Spanier. Sie hatte den größten Anteil daran, und die überlebenden Portugiesen riefen sie spontan zu ihrem neuen Kapitän aus. Von diesem Tag an gab man ihr den Beinamen Rote Korsarin, wegen ihrer Vorliebe für rote Blusen und blutrote Segel. Sie kaperte kreuz und quer durch die Karibik, legte sich mit anderen Piraten an, setzte sich immer wieder durch und verbreitete Furcht und Schrecken unter den Spaniern. Es gelang ihr sogar, die Galeone des Seewolfs zu kapern und einen Teil der Mannschaft zu überwältigen, doch dann gab sie bei einem Wettstreit auf der Schlangen-Insel klein bei. Der Seewolf hatte die besseren Kerle an Bord, eiserne Burschen, denen nicht beizukommen war. Schließlich verliebte sie sich in Philip Hasard Killigrew, den Seewolf. * Siri-Tong lächelte selig. Ihr Gesicht wirkte gelöst und entspannt, und sie plauderte fröhlich drauflos. Doch die Gesichter der beiden Chinesen veränderten sich schlagartig, sie sahen sich erschreckt an. „Ist das etwa der berüchtigte Seewolf, der weiter oben im Fluß liegt?“ fragte LiCheng. „Ja, er ist es. Sein Schiff ist aufgelaufen. Morgen werden wir es ganz sicher flottkriegen.“ Ihre Antworten erfolgten spontan, ohne Zögern, sie sah nicht, daß Li-Cheng erleichtert aufatmete. „Er ist also aufgelaufen“, sagte er leise. „Dann kann er uns auch nicht gefährlich werden. Aber nun erzähle die Geschichte des Mandarins. Wo befindet er sich?“ „In der geheimen Kammer an Bord von ,Eiliger Drache über den Wassern`.“ Li-Chengs Lächeln vertiefte sich. Er warf Hung-wan einen ehrfürchtigen Blick zu, legte die Hände über die Brust und verneigte sich vor dem Chronisten.
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„Eure Weisheit ist unendlich“, sagte er. „Durch Eure Methode haben wir das Ergebnis wirklich sehr schnell. Interessant, der Mandarin befindet sich also an Bord.“ Er stellte der Roten Korsarin weitere Fragen. „Wir segeln ins Reich des Großen Chan“, gab sie bereitwillig zu, „dort werde ich die Mumie des Mandarins abliefern. Der Große Chan persönlich wird mich schützen, und man wird mir vergeben. Ja, man wird mich öffentlich belobigen“, sagte sie fest. „Daraus wird wohl nichts werden“, sagte Li-Cheng, und diesmal verzerrte sich sein Gesicht zu einer höhnischen Fratze, in der aller Triumph lag. „Bevor du ins Reich des Großen Chan segelst, wird der Bruder FeiLins dich sprechen wollen. Er ist hier an Bord, und er kann die Stunde der Abrechnung kaum erwarten.“ Das schien die Rote Korsarin nicht im geringsten zu berühren. Sie schwebte immer noch auf rosaroten Wolken, die ihr eine Welt vorgaukelten, die es nicht gab. Der Chronist nickte beipflichtend. Er nahm die Schale weg und löschte die glimmenden Stäbchen, indem er einen kleinen Deckel aus Messing darüberstülpte. „Was passiert mit dem Nordmann?“ fragte er. „Wir brauchen ihn nicht, wir können ihn jedoch als Druckmittel gegenüber der Mannschaft verwenden. Solange sollen die beiden auch am Leben bleiben.“ „Ein guter Entschluß“, lobte der Chronist. Die Erregung übermannte ihn wieder, wenn er an den Mandarin dachte, unter dessen Führung er vor vielen Jahren gefahren war. Jetzt befand er sich also noch immer in seinem Versteck, nicht weit von hier entfernt. Ewigkeiten waren seitdem vergangen, aber dem Chronisten stand die Erinnerung ganz deutlich vor Augen. Er fieberte dem Augenblick entgegen, in dem er ihn wiedersehen würde. Li-Cheng wandte sich ab. Er hatte alles in Erfahrung gebracht, was er wissen wollte.
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Wenig später herrschte Getrappel an Deck. Der nächtliche Vorfall fand keine Erklärung. Die beiden Männer waren wieder bei Bewußtsein, doch aus Angst vor dem Kapitän gaben sie eine völlig andere Darstellung von dem Vorfall. Danach hatten sie sich gegenseitig für Feinde gehalten und aufeinander losgeschlagen, bis sie ihren Irrtum bemerkten. Li-Cheng wurde mißtrauisch, aber schließlich glaubte er die Darstellung, denn sie schien nicht total abwegig zu sein. Jetzt konnte er zu „Eiliger Drache über den Wassern“ hinüberrudern und die Übergabe des Seglers oder des Mandarins fordern. Im Austausch erhielt die Mannschaft dafür die beiden Leute von der Schiffsführung zurück. In Wirklichkeit dachte Li-Cheng nicht im Traum daran, die beiden am Leben zu lassen. 9. Auf der „Isabella“ schlug Batutis Ankunft wie eine volle Breitseite ein. Bill hatte erzählt, daß Batuti Fische wässern wollte, aber seitdem war der Neger verschwunden gewesen. Und jetzt, mehr als drei Stunden später, kletterte er grinsend an Deck. Selten hatte ihn jemand so aufgeräumt gesehen. Hasard erschien und hörte Batutis Kauderwelsch fassungslos zu. Der Gambianeger stand in der Kuhl, hatte die ganze Crew um sich versammelt und berichtete mit glühendem Kopf und in seinem schauderhaften Englisch. „Batuti nicht können schlafen. Denken an Siri-Tong und an dickes Nordmann. Batuti suchen, gehen von Schiff ganz leise, weil Kapitän Killigrew sonst böse. Laufen durch Urwald, schwimmen durch stinkendes Wasser, bald ersaufen, bald ersticken, bald gefressen von Kaiman. Batuti findet fremdes Schiff, sehen aus wie schwarzes Segler, aber sehen wieder etwas anders aus. Batuti schnell an Deck von anderes Schiff, sehen zwei Zopfmänner, klopfen zweimal mit Faust auf Zopf, dann weg. Und was sehen Batuti?“
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Der Neger drehte sich nach allen Seiten um. Mondlicht beleuchtete seine Züge, dazwischen war das Flackern der Lampen, die an Deck brannten. „Na, was sehen Batuti?“ fragte er drängend, als er keine Antwort erhielt, sondern nur angestarrt wurde. Sie wollten ihm die Freude auch nicht nehmen. Die Nachricht, die der Neger brachte, war schon ungeheuerlich genug. Ein chinesischer Segler weiter vor ihnen! „Batuti sehen Gespenst an Deck“, sagte Dan O’Flynn. „Und Gespenst war Batuti selbst!“ „Ha!“ schrie der Neger und klatschte sich auf die Schenkel. „Batuti sehen Siri-Tong und Wikinger in Kammer von Kapitän mit Zopf. Beide sein gefesselt an Stuhl. Ja, beide leben! Jetzt alle groß staunen, was?“ Jetzt staunten wirklich alle groß. „Du hast sie wirklich gefunden?“ fragte Hasard ungläubig, obwohl er genau wußte, daß Batuti niemals lügen würde. Der Neger übertrieb nie, der untertrieb höchstens. „Batuti sagen, dann stimmen, beide leben. Zopfmann haben Rote Korsarin Rauch gegeben. Wie Tabak damals, viel Qualm. Rote Korsarin viel rauchen.“ Damit konnte Hasard nicht das geringste anfangen. Er nahm den aufgeregten Neger beiseite und ließ sich von ihm noch einmal alles genau haarklein berichten. Die Freude war unbeschreiblich. Batuti war der Held des Tages. Der Profos sah sich wild im Kreis der freudigen Meute um. „Und ihr triefäugigen Kakerlaken steht noch herum und grinst?“ polterte er los. „Ihr seid noch nicht am Spill und holt die Trossen durch, was, wie? Und die anderen sind noch nicht im Wasser und heben unsere alte Tante von der Sandbank! Ja, soll ich euch erst die Haut in Streifen von euren verdammten Affenärschen ziehen, he? Willig, willig, ihr lahmarschigen Rübenschweine, jumpt über Bord und hebt das Schiff hoch, oder der alte Carberry wird euch ...“ „Bring deine Sprüche lieber bei den Piranhas an“, sagte Blacky, „siehst du denn nicht, daß wir gleich flott sind, was, wie?“
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Jetzt hielt sie nichts mehr. Ehe Hasard auch nur den Befehl dazu geben konnte, war schon alles im Lot. Es roch verdammt nach künftigen Kämpfen, und wenn die Zopfmänner SiriTong und den Wikinger in ihrer Gewalt hatten, dann sollten sie mal die wilde Horde der Seewölfe kennenlernen. Und wenn sie das verdammte Schiff von der Sandbank heben mußten, jetzt gab es keine Probleme mehr. Sie stemmten sich in die Spillspaken, und Carberry verstieg sich zu einer gewagten Behauptung. „Wenn wir den Kahn nicht ‘runterkriegen“, versprach er, „dann lege ich mich in den Bach und saufe diesen lausigen Amazonas mit all seinen Einwohnern leer und warte, bis die Flut vom Atlantik dieses lausige Bächlein füllt!“ Hasard hatte alles erfahren, was er wissen wollte. Brighton, Big Old Shane und der alte O’Flynn umstanden ihn. Der Seewolf war dafür bekannt, daß er sich blitzschnell entschloß und nicht lange zögerte. „Zuerst müssen wir das Schiff flottkriegen, auf Biegen oder Brechen. Haben wir es frei, stellen wir einen Trupp zusammen, der sofort in die Bucht fährt, in der die Zopfmänner liegen. Ich fahre mit, ihr setzt mich an Bord von ,Eiliger Drache’ ab und fahrt vorsichtig weiter. Ich möchte nicht, daß Siri-Tongs Kerle voreilig handeln und uns in ihrem Übereifer alles vermasseln.“ „Die wissen doch noch gar nichts davon“, wandte der alte O’Flynn verwundert ein. „Noch nicht“, sagte Hasard. „aber ich kann mir denken, was diese Kerle wollen, der Gedanke ist doch wirklich naheliegend und ganz einfach.“ „Sie wollen die Mumie“, sagte Big Old Sahne zu dem Alten mit dem Holzbein. „Sie stellt für sie anscheinend einen ungeheuren ideellen Wert dar.“ „Genauso ist es“, sagte der Seewolf. „Ich nehme an, daß die Kerle in allerkürzester Zeit dort auftauchen werden, um der Crew ein Geschäft vorzuschlagen. Den toten
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Mandarin im Austausch gegen Siri-Tong und den Wikinger.“ „Sollen sie doch die verdammte Mumie eintauschen“, wetterte Old O’Flynn. „Die bringt doch nur Unglück.“ „Sie werden sich kaum an die Vereinbarung halten“, erklärte der Seewolf. „Wenn sie die Mumie haben, werden sie vielleicht den Wikinger freilassen, aber Siri-Tong ganz sicher nicht, denn hinter ihr sind sie schon lange her. Deshalb werden wir nichts überstürzen, sondern kühl und besonnen handeln. Und jetzt benötige ich jede Hand an Deck!“ Das Spill drehte sich knarrend, die beiden Anker hatten sich in den Untergrund eingegraben, die Trossen waren zum Zerreißen gespannt, als die Seewölfe sich in die Spaken legten. Jeder half mit, drückte, schob, bis ihnen der Schweiß in Strömen vom Körper lief. Der Bug kam langsam frei, nur mit dem Heck lag die „Isabella immer noch fest. In den vergangenen paar Stunden hatte der Strom an der neugeschaffenen Sandbank gefressen, sie unterhöhlt, weggeschwemmt und den Sand zum Heck getragen, wo er sich aufstaute. „Wenn wir den Bug noch weiter freikriegen“, sagte Hasard, „dann können wir ihn auf Backbord in den Strom fallen lassen. Den Rest schafft der Fluß, der drückt uns herum. Zwei Mann, Luke und Bob Grey zum achteren Anker. Ich bitte mir Gefühl aus, ihr müßt genau entscheiden, wann gefiert oder festgeholt werden muß. Davon hängt unser Freikommen ab.“ Der Profos blickte die beiden grimmig an. „Denkt an eure Affenärsche“, sagte er, „wenn das nicht klappt, hängen sie noch heute nacht im Großmars. In Streifen zum Trocknen, selbstverständlich“, fügte er hinzu. Es wurde eine Knochenarbeit, die sich länger und länger hinzog. Die Bank versuchte, ihr Opfer wieder an sich zu reißen, aber diesmal schaffte sie es nicht. Die Seewölfe waren stärker.
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Immer weiter kam der Bug frei und rutschte von der Bank, bis die „Isabella“ herumschwoite und die andere Bugseite in die Strömung reckte. Bob Grey und Luke Morgan schwitzten um die Wette. Sie fierten, holten dicht, fierten wieder. Ganz langsam schwang der Bug jetzt zur Mitte herum, bis die Strömung ihn immer stärker packte. „Wir sind gleich frei!“ schrie Gary Andrews. „War ja vorauszusehen“, sagte der blonde Schwede Stenmark und grinste Gary befreit an. „Vier Mann nach achtern!“ brüllte der Profos. „Nennt ihr das Anker einholen, ihr Heringe, was, wie? So was hat sich meine Großmutter nach dem Essen aus den Zähnen gepolkt.“ „Kein Wunder“, sagte Matt Davies. „die fraß schon zum Frühstück große Nägel und mittags spuckte sie einen Amboß aus.“ Das Manöver war ungemein schwierig durchzuführen, und es war immer noch nicht sicher, ob der Strom auch das Achterkastell wegdrückte. Ferris Tucker, Carberry, der Seewolf und Ben Brighton waren jetzt vorn. Schwang der Bug noch mehr zur Strommitte hin, mußten sie den vorderen Anker sofort wieder ausbringen, sonst geriet die Galeone womöglich gleich wieder auf die nächste Schlammbank. Zwei Minuten bangen Wartens vergingen, dann schien es geschafft zu sein. Die „Isabella“ fiel hart ab. Achtern begann es zu knirschen und zu schaben, ein leichter Ruck folgte. „Arwenack!“ schrie Donegal Daniel O’Flynn, aber als die anderen in den alten Schlachtruf befreit einfallen wollten, hob der Profos drohend die Faust. „Noch ein Gebrüll, und ich lasse euch kielholen“, warnte er. „Oder sollen die Schlitzaugen hören, was hier vorgeht, he?“ Die „Isabella“ war frei und scherte an der Sandbank vorbei in Richtung Flußmitte. Hasard selbst ließ den Anker fallen, er paßte genau den Augenblick ab, in dem das Schiff auf das Ufer zugierte. Als der
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Anker Grund faßte, ließ er die „Isabella“ so lange slippen, bis sich der Schiffskörper gehorsam streckte und mit dem Bug voran gegen die Strömung liegenblieb. Ganz leicht schwoite das Heck noch, dann lag es ruhig. Geschafft! Sie hatten es geschafft! Sie schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Wenn sie jetzt wieder lossegeln wollten, brauchten sie nur den Anker einzuholen und Hartruder zu legen. Hasard ließ jetzt in aller Eile das abgefierte Beiboot besetzen. „Dan, Ferris, Ed, Batuti, Matt Davies und Gary Andrews“, sagte er. „Ihr deckt euch mit Waffen ein. Batuti wird das Boot führen, Ben übernimmt das Kommando über die ,Isabella’. Ich schicke später ein paar von Siri-Tongs Leuten den Fluß hinauf. Wenn sie an Bord sind, segelt ihr los. Sämtliche Geschütze werden geladen, Lunten bereitlegen, Stückpforten hochziehen. Vielleicht fahre ich mit den Männern mit, anderenfalls steige ich unterwegs zu. Hat noch jemand Fragen?“ „Von wem erhalten wir Feuererlaubnis?“ fragte Smoky, der Decksälteste, ruhig. „Ich werde euch ein Zeichen geben. Schießt dem fremden Schiff nur die Takelage zusammen, knallt ihm eins ins Ruderblatt, oder versucht, die Ankertrosse zu treffen. Wenn ihr den Fluß herabfahrt, entern wir.“ „Alles klar“, versicherte Smoky, und der Stückmeister Al Conroy nickte bedächtig dazu. Hasard wußte, daß er sich auf die Männer in allen Situationen verlassen konnte. Nicht umsonst hatte er sie so hart gedrillt, daß jeder Handgriff saß, daß jeder wußte, was zu tun war, und daß notfalls jeder selbständig handeln konnte, wenn es darauf ankam. Er war stolz auf die Männer, und er konnte es sein. Deshalb wandte er sich beruhigt dem Boot zu, in dem jetzt die Männer saßen: „Pützt Wasser und gießt es über Deck“, riet er noch, „ es kann sein, daß uns die Burschen mit den Brandsätzen eindecken.“
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„Hoffen wir es nicht“, erwiderte Al Conroy, denn gegen die teuflischen Brandsätze war noch kein Kraut gewachsen. Die Brände waren meist nicht mehr zu löschen. Das Boot legte ab. Fackeln wurden keine entzündet, die Zopfmänner sollten nichts merken. Batuti hockte ganz vorn und starrte in die Nacht. Leise flüsterte er dem Profos zu, wie der Fluß verlief. und wie sie am besten ungesehen an das fremde Schiff herankamen. , Der Strom trieb sie rasch vorwärts, bis „Eiliger Drache über den Wassern“ auftauchte. Dort hatte man das sich nähernde Boot bereits bemerkt. Der Boston-Mann rief sie an, Hasard gab ein Wort zurück. Im Vorbeifahren enterte er auf und sprang an Deck, während das Boot lautlos in der Dunkelheit weiter glitt und gleich darauf ihren Blicken entschwand. Verblüffung herrschte bei Siri-Tongs Leuten, als Hasard einen knappen Bericht gab. Überschäumende Freude wollte aufkommen, doch der Seewolf erstickte sie schon im Ansatz. „Kein Geschrei“, warnte er. „Wir dürfen uns nicht verraten.“ Dann setzte er ihnen seinen Plan auseinander. „Wenn sie also aufkreuzen“, schloß er, „und den Vorschlag unterbreiten, dann geht darauf ein. Erklärt euch bereit, die Mumie des Mandarins auszuliefern. Allerdings sollen die Kerle sie selbst abholen, ihr traut euch nicht, sie anzufassen. Ist das klar?“ „Alles verstanden“, erwiderte der BostonMann. „Sobald sie an Bord sind, nehmen wir sie hoch.“ „Ohne Geschrei und ohne Krach“, schärfte Hasard ihnen noch ein. „Sie glauben sich im Vorteil, weil Sie die Korsarin und den Wikinger haben. Wir werden die Burschen eines Besseren belehren. Der Vorteil liegt diesmal bei uns. Wir werden sie von zwei Seiten zugleich packen.“ Hasard sah in erleichtert grinsende Gesichter. Irgendwie mußten sie ihrer
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Freude Ausdruck geben, und daher war es ganz natürlich, daß sie grinsten und sich freuten. „Batuti hat das alles herausgefunden?“ fragte der Boston-Mann. „Ja, er ganz allein.“ „Ein toller Kerl“, sagte der Boston-Mann anerkennend. „Aus dem Grund sehe ich auch von einer Bestrafung ab“, sagte Hasard, „obwohl er sich ohne meine Erlaubnis entfernt hat.“ Die Leute sahen sich an, hoben die Schultern, schüttelten die Köpfe. Die meisten begriffen es nicht, höchstens der Boston-Mann. Er wandte sich an die Männer, die ihn umstanden. „Das kapiert ihr nicht, was? Gerade diese Kleinigkeiten bringen den Unterschied zwischen uns und den Seewölfen. Bei denen herrscht Ordnung, da kann sich einer auf den anderen verlassen. Wenn ihr ohne Erlaubnis von Bord geht, haltet ihr das noch für richtig.“ Stumm starrten sie den Boston-Mann an. Nein, die meisten kapierten nicht, was er zum Ausdruck bringen wollte. Der feine Unterschied war ihnen nicht geläufig. Olig, Arne und der Stör, die drei Wikinger, standen wie Felsen da, hoch aufragend, stumm und nur darauf wartend, daß sich eine Gelegenheit bot, es den Zopfmännern heimzuzahlen. Der Seewolf sah an ihren Gesichtern, was sie dachten. Eine Stunde verging, dann nochmals eine halbe. Der neue Morgen ließ sich schon ahnen, erstes Grau zog auf, aber noch war die Sonne nicht zu sehen. Dann tauchten sie auf. Ein großes schwarzes Boot schob sich den Fluß hinauf, folgte dem Ufer, wo die Strömung nicht so stark war, und wurde dann auf den schwarzen Segler zu gepullt. Der Boston-Mann, den Hasard für den Klügsten der ganzen Crew hielt, lehnte am Schanzkleid und sah zu dem Boot. Fünf unheimliche Männer hockten darin, und der Boston-Mann zuckte bei dem Anblick unwillkürlich zusammen: Tellerartige geflochtene Hüte bedeckten
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die Köpfe, so daß man die Gesichter nur undeutlich erkannte. Wie Hasard es ihm gesagt hatte, verhielt sich der Boston-Mann jetzt auch. Kaum hatte er die Gestalten entdeckt, stieß er einen Pfiff aus, griff eine Muskete, die am Schanzkleid lehnte, und richtete sie auf das Boot, das von vier Männern gegen den Strom gehalten wurde, während der fünfte sich aufrichtete. „Wer seid ihr?“ rief der Boston-Mann. „Was wollt ihr?“ Die schlanke Gestalt im Boot zeigte sich unbeeindruckt. Auch als noch mehr Männer an Deck erschienen, störte das den Fremden nicht. Jetzt sahen sie ganz schwach sein Gesicht mit dem herabhängenden Bart und den grausam wirkenden Zügen. „Vermißt ihr nicht euren Kapitän und einen in Felle gehüllten Nordmann?“ fragte eine Stimme. Sie sprach Englisch, in hohem, singendem Tonfall, war aber gut zu verstehen. „Natürlich!“ rief der Boston-Mann in gespieltem Erstaunen. „Wir nahmen an, sie seien ertrunken,“ „Sie leben. Können wir an Bord kommen? Wir haben euch Nachrichten zu überbringen.“ „Wo sind die beiden?“ Der Boston-Mann blieb misstrauisch, so wie es seine Rolle vorschrieb. Die Muskete hielt er immer noch in der Hand. „Sie sind in guter Obhut!“ „Entert auf, wir lassen eine Leiter hinunter!“ Das Boot mit den unheimlich wirkenden Männern legte gleich darauf an. Einer blieb im Boot sitzen, die anderen kletterten flink nach oben, wo jetzt fast zehn Mann an Deck standen. Überlegen und arrogant sah der Zopfmann sich um. „Mein Name ist Li-Cheng“, sagte er. Dann sah er die drei Wikinger, musterte sie von oben bis unten und schüttelte den Kopf. „Wir haben euch ein Geschäft vorzuschlagen, ein ganz einfaches Geschäft, und ich will mich kurz fassen. Ihr erhaltet euren weiblichen Kapitän und
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den anderen Mann zurück. Natürlich nur gegen eine entsprechende Gegenleistung.“ Der Boston-Mann zog sein Messer und spielte den Empörten. „Ihr wollt uns erpressen, was?“ schrie er. „Aber das kommt nicht in Frage. Ich bringe dich um, du Hund!“ „Vorsicht, mein Freund“, warnte der Chinese scharf. „Natürlich kannst du uns umbringen. Eure Leute werden dann noch genau eine Stunde leben, dann werden sie getötet.“ Der Boston-Mann ließ das Messer sinken. Hilflos wandte er sich an die Männer, die ihn umstanden. „So ist das also“, murmelte er. „Wir haben keine Schätze an Bord, wir können auch kein Lösegeld zahlen.“ Hasard sah das alles aus sicherer Deckung heraus und fand, daß der Boston-Mann sich genauso verhielt, wie Li-Cheng es von ihm erwartete. „Wir wollen kein Gold und keine Schätze. Ihr überlaßt uns die Mumie, die in der Kammer ruht, und als Gegenleistung erhaltet ihr eure beiden Leute zurück.“ Jetzt glitt ein erleichtertes Lächeln über das Gesicht des Boston-Mannes. „Die Mumie?“ fragte er. „Und dafür laßt ihr die beiden frei?“ „So ist es“, log Li-Cheng ungerührt. „Was meint ihr dazu?“ fragte der BostonMann die anderen. „Natürlich!“ schrien einige. „Weg mit der Mumie, die bringt uns nur Unglück.“ „Wir sind sogar froh, wenn wir sie los sind“, sagte der Boston-Mann im Brustton der Überzeugung. Li-Cheng sah sich am Ziel seiner Wünsche. Er hatte Widerstand erwartet, zwar keinen massiven, aber daß es so leicht sein würde, hatte er nicht gedacht. Schnell huschten seine Blicke über das Schiff. Er überlegte, ob es ratsam schien, das ganze Schiff zu fordern, denn „Eiliger Drache“ gehörte nach seiner Auffassung dem Großen Chan. Aber selbst wenn die Kerle es im Austausch herausrückten, wie hätte er es jemals zurückbringen können? Er sah den Fluß hinauf, doch von dem anderen Segler war nichts zu sehen, der lag
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wahrscheinlich noch immer hoffnungslos fest, und niemand dachte daran, ihm zu helfen. „Weshalb wollt ihr die Mumie gern los sein?“ fragte der Chinese in scharfem Ton. „Weil es nicht gut ist, einen Toten an Bord zu haben. Wir hätten ihn längst irgendwo bestattet, aber unser Kapitän wollte das nicht.“ „Das kann ich mir denken“, sagte LiCheng. Die Gründe dafür kannte er ja zur Genüge. „Dann holt ihn herauf“, forderte Li-Cheng. Der Boston-Mann hob entsetzt die Arme hoch. „Noch nie haben wir die Mumie berührt“, sagte er voller Abscheu, „und unter der Mannschaft ist auch keiner, der sie jemals anfassen würde. Nein, nein, holen müßt ihr sie selbst!“ Li-Cheng sah die drei Männer an, die mit ihm an Bord gestiegen waren. In seinen Augen blitzte es triumphierend. „Kai-Wong soll an Bord kommen!“ befahl er. Der fünfte Mann enterte geschmeidig wie eine Katze hoch. Auch er hatte ein grausam anzusehendes Gesicht. Mit verächtlichen Blicken musterte er die Crew. „Unter Deck, Leute!“ herrschte der Boston-Mann die anderen Männer an, die seinem Befehl willig folgten. Bevor sie verschwanden, bekreuzigten sich die meisten noch schnell. Sie haben Angst, dachte Li-Cheng, erbärmliche Angst vor einem Toten, und sie sind richtig froh, ihn loszuwerden. Besser hätte es gar nicht gehen können. „Ich zeige euch die Kammer“, erbot sich der Boston-Mann. Der Laderaum wurde geöffnet, sie folgten ihm in den schmalen Gang, bis der BostonMann stehenblieb. „Dort vorn!“ hauchte er und wandte den Blick ab. Die fünf Zopfmänner blickten in den dunklen Gang. Erregung packte sie, hastig liefen sie weiter. Der Gedanke an den toten Mandarin beherrschte sie, daß sie auf nichts mehr achteten.
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Der erste, der eins über den Schädel kriegte, war Li-Cheng. Ein Belegnagel traf ihn. Er fiel nicht, er knallte blitzschnell mit dem Schädel auf den Boden. Der zweite hatte nur bemerkt, daß der Kapitän blitzartig zu Boden ging. Er konnte sich den Vorfall nicht erklären, daher bückte er sich um dem Kapitän auf die Beine zu helfen. Der Stör hatte sich hinter einer Nische postiert. Niemand sah ihn, als er in aller Ruhe ein zweites Mal ausholte und zuschlug. Wie vom Blitz getroffen, brach der Zopfmann zusammen. Den dritten schnappte sich der BostonMann. Er hieb ihm die Faust ins Genick. Hinter dem Schlag lag eine solche Wucht, daß der Chinese in einem wilden Satz nach vorn raste, mit dem Schädel gegen das Schott stieß und benommen zu Boden kippte. Erst jetzt, als drei Männer ausgeschaltet waren, begriffen die beiden anderen, was hier vorging. Sie begannen zu brüllen, einer wollte ausweichen, doch da stand Olig, einer der Wikinger. Mühelos hob er den schmächtigen Mann hoch, und noch während er ihn hochhielt, schlug er ihm seinen harten nordischen Schädel auf die Nase. Erst dann ließ er den Zopfmann achtlos zu Boden fallen. Der fünfte, es war jener, der bis zuletzt im Boot gesessen hatte, wich angstvoll zurück. Sein Gesicht verzerrte sich vor Haß. „Eure Leute werden diesen Verrat büßen“, fauchte er, „in einer halben Stunde wird man sie weithin sichtbar an die Rah unseres Schiffes hängen!“ Der Boston-Mann packte seinen dürren Hals und zog den Zopfmann ganz dicht zu sich heran. „Ihr lausigen Schlitzaugen“, knurrte er, „glaubt ihr vielleicht, ihr hättet lauter Idioten vor euch, he? Los, an Deck mit dir! Bringt die anderen nach oben und fesselt sie!“ Die vier Bewußtlosen wurden an Deck gebracht. Im Nu waren sie verschnürt, bis sie sich nicht mehr rühren konnten.
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Li-Cheng wachte auf, sah sich benommen um und starrte dann voller Haß auf den Seewolf, der in sein Blickfeld geriet. Hasard lachte verächtlich. „Ihr müßt noch viel lernen“, sagte er, „so wie ihr euch das vorstellt, geht es nicht immer. Wo liegt euer Schiff?“ fragte er. Li-Cheng spuckte verächtlich auf die Planken. Er gab keine Antwort, und sein Blick verhieß nichts Gutes. Betont gleichgültig wandte sich der Seewolf ab. „Paßt gut auf sie auf!“ riet er dem BostonMann. „Die Kerle sind trickreich und gefährlich. Wir werden jetzt so vorgehen, wie wir es besprochen haben. Wer bringt mich zurück?“ Bereitwillig hoben sich die Hände. Die meisten rechneten es sich als große Ehre an, den Seewolf an Bord zu pullen. Eike und Arne, die beiden Wikinger, ließen sich nicht davon abhalten, Hasard zurückzurudern. Als sie ablegten, begann die kurze Dämmerung. Nicht mehr lange, und die Sonne würde heiß herabbrennen. Der schon tags zuvor eingeschlafene Wind begann ganz schwach zu blasen. Hasard hielt den Daumen in die Luft. „Warum sollten wir nicht auch einmal Glück haben“, sagte er. Etwas Wind konnten sie brauchen, er kam wie gerufen. Die beiden Wikinger pullten wild drauflos. Sie wußten, um was es ging, und sie fieberten dem Kampf gegen die Zopfmänner schon ungeduldig entgegen. 10. Der Profos sah aus zusammengekniffenen Augen zu dem schwarzen Drachenschiff hinüber. Unbehagen erfüllte in, ohne daß er zu sagen gewußt hätte, warum das so war. „Diesen gelben Stinkbeuteln wollte ich schon immer mal anständig einheizen“, grollte er. „Die glauben wohl, sie seien die Größten! Ein paarmal haben sie uns schon an der Nase herumgeführt, aber jetzt ist Schluß damit.“
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Das Boot war gut getarnt, vom Drachenschiff aus war es nicht zu sehen, obwohl ständig zwei in dunkles Tuch gehüllte Gestalten an Deck auf und ab wanderten und in ihre Richtung blickten. „Ein unheimlicher Kasten ist das“, sagte Matt Davies. „An den Anblick kann man sich nicht gewöhnen. Weshalb stehen die Masten eigentlich nicht hintereinander, Ferris?“ Ferris Tucker prüfte mit dem Daumen die Schneide seiner gewaltigen Axt, die wie immer scharf geschliffen war, so scharf, daß man sich damit rasieren konnte. „Keine Ahnung“, brummte er, „es würde mich selbst interessieren. Möglich, daß es mit der Stabilität etwas zu tun hat.“ Batutis, Dans und Gary Andres’ Blicke wurden ebenfalls wie magisch von dem Drachenschiff angezogen. Jetzt, als es ein wenig heller wurde, ließen sich die Einzelheiten klar und deutlich erkennen. Am Großmast wehte eine lange, an den Enden gespaltene Flagge, die den langgestreckten Schädel eines Drachen zeigte. Ebenso befand sich die Abbildung eines Drachen auf dem unteren Segel des Großmastes. Obwohl es im Gei hing, ließ sich der Drache deutlich darauf erkennen. Dann der Drache, der den Bug zierte. Die hölzerne Gestalt wirkte furchteinflößend. Wenn das Schiff leicht schwoite, schienen die feurigen Augen des häßlichen Schädels genau in ihre Richtung zu blicken. Die Männer warteten voller Ungeduld. Zwar war alles so eingetroffen, wie der Seewolf vorausgesagt hatte, aber mehr hatte sich auch nicht getan. Die Zeit lief, die „Isabella“ erschien nicht, und auch von dem schwarzen Segler War nichts zu sehen. Dan O’Flynn wurde ungeduldig. „Wenn ich mir vorstelle, daß die beiden jetzt vielleicht von den Schlitzaugen gefoltert werden, juckt es mich in den Fäusten. Was meinst du, Ed, sollen wir nicht einen Überraschungsangriff starten?“ „Ich bin auch dafür“, sagte Matt Davies. Er hob den Arm mit der mörderischen Hakenprothese hoch und betrachtete liebevoll die scharfgeschliffene Spitze.
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„Batuti sein auch dafür“, meldete sich der Neger. „Ich selbst bin auch dafür“, knurrte Carberry, „aber ich habe klare Anweisungen erhalten, und deshalb werden wir so lange warten, bis die Zeit reif ist, klar?“ „Und wenn die ‚Isabella’ zum zweiten Male auf Grund gelaufen ist“, wandte Gary Andrews ein, „dann sitzen wir in einer Woche immer noch hier und warten.“ Ed blieb störrisch wie ein alter Gaul. „Etwas wird schon passieren“, sagte er. „Wenn die fünf Schlitzaugen nicht zurückkehren, verändert sich eine ganze Menge dort drüben. Abwarten, noch ist es nicht soweit.“ Zwei weitere Gestalten erschienen in diesem Augenblick an Deck. Auch sie trugen die flachen Tellerhüte, unter denen man die Gesichter kaum erkennen konnte. Jeder der Seewölfe entsann sich noch deutlich an diese Gestalten, die ihnen damals im Nebel begegnet waren, sie nur stumm und drohend angeglotzt hatten und dann in dem dichten Nebel auch wieder spurlos verschwunden waren. Als Hasard die Verfolgung aufgenommen hatte, schien es, als hätte die See das unheimliche Drachenschiff verschluckt. Nach und nach tauchten immer mehr Gestalten auf. Ein paar lehnten sich ans Schanzkleid und blickten den Fluß hinauf. Ein anderer suchte mit einem überlangen Spektiv die ganze Gegend ab, Zoll für Zoll ließ er das Spektiv weiterwandern. „Laßt ja eure Dickschädel am Boden“, warnte Ed. „Rührt euch nicht, das Spektiv scheint besser zu sein als unseres, folglich kann man damit auch weiter und genauer sehen.“ „Bei denen ist überhaupt immer alles besser als bei uns“, maulte Dan. „Die brauchen nicht einmal Kanonen, weil sie etwas viel Besseres ha ben.“ Das was Dan mit „besser“ bezeichnete, waren kleine Abschußvorrichtungen auf dem Vor- und Achterdeck, ähnlich denen, die auch der schwarze Segler hatte. Damit ließen sich bis auf eine knappe halbe Meile
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die fürchterlichen Brandsätze verschießen, die so unheimlich genau trafen. „Bisher habe ich schon mehr als zwanzig Mann gezählt“, sagte Ferris Tucker, „die abwesenden allerdings mitgerechnet. Fünfundzwanzig dürften es also mindestens sein. Scheint, als werden sie jetzt immer ungeduldiger.“ „Sie warten auf den Mandarin“, sagte der Profos grinsend. „Auf den können sie warten, bis sie schwarz werden. Verdammt, was ist denn jetzt los?“ unterbrach er sich verwundert. Auf dem Achterdeck des Drachenschiffes hielt einer der Zopfmänner ein langes dickes Rohr senkrecht in den Himmel. Gleich darauf ging er hinter dem Rohr in Deckung. Grell jaulend sauste eine dünne Flamme aus dem Rohr, die hinter sich einen rauchigen Schweif herzog, der mit irrsinnigem Tempo in den Himmel zischte. Er pfiff und jaulte, der Rauchschweif wurde immer länger, bis er auf seiner Gipfelhöhe abbrach. „Ein Brandsatz“, sagte Tucker. Aber es war kein Brandsatz, jedenfalls keiner von der Sorte, wie die Seewölfe sie kannten. Aus dem Himmel fiel ein rotgoldener, weit ausladender Regen, dessen einzelne Riesentropfen immer wieder auseinanderplatzten und nach allen Richtungen davonstrebten. Begleitet wurde das farbige Schauspiel von einem ohrenbetäubenden Knall, der lauter war als der Abschuß aus einer Culverine. Daraufhin verstummte sekundenlang das Geschrei im Urwald und wich einer bedrückenden Stille. Der Regen fiel bis fast auf die Wasseroberfläche, ehe er sich in Nichts auflöste. Ein paar große Spritzer verirrten sich bis in die Nähe der Seewölfe. „Teufel, Teufel“, murmelte Carberry beeindruckt. „Was ist denn das wieder für eine Überraschung?“ „Wahrscheinlich eine Art Signal“, erwiderte Ferris Tucker. „Es ist gut und weithin sichtbar. Das ist bestimmt das vereinbarte Zeichen zwischen den
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Zopfmännern, daß es zu lange dauert oder etwas nicht in Ordnung ist.“ Carberry kratzte sich das stoppelige Kinn. Sehr wachsam blickte er zu dem Drachenschiff hinüber. Dann schlich er ein paar Yards zurück, bis er das sumpfige Ufer der Insel erreichte. Was er sah, ließ sein Herz höher schlagen. Da segelte die „Isabella“ den Fluß hinunter, obwohl segeln nicht der richtige Ausdruck war. Die Segel waren nur ganz schwach gebläht, der Strom trieb das Schiff größtenteils. Weit hinter der „Isabella“ lief der schwarze Segler. Sie waren nur noch ein paar hundert Yards entfernt. Carberry schlich wieder zurück. „Es geht los“, sagte er. „Scheint alles geklappt zu haben. In das Boot, Männer, und achtern aufgelaufen. Paßt auf, daß ihr nicht von unseren eigenen: Kanonen beharkt werdet. Erst entern, wenn die ersten Treffer gesessen haben.“ „Am liebsten würde ich ganz laut ,Arwenack’ schreien“, sagte Dan O’Flynn und reckte kampflustig die Brust raus. Der Profos warf ihm einen wilden Blick zu. „Versuch’s mal“, sagte er leise. „Dann hängt ...“ „Ich weiß, dann hängt mein Affenarsch morgen früh am Großmars.“ „Hellseher“, brummte Carberry. Er war der erste, der im Boot saß. * Auch Hasard hatte das weithin sichtbare Signal bemerkt und den ohrenbetäubenden Knall vernommen. Zu dieser Zeit hatte die „Isabella“ gewendet und trieb stromabwärts. Die Männer standen bei den Geschützen. Der Kutscher hatte glimmende Lunten bereitgelegt. Jetzt pützten er und Old O’Flynn unentwegt Wasser über Deck. Die Segel waren schon vorher angefeuchtet worden. Falls die Zopfmänner zum Schuß gelangten, und daran zweifelte der Seewolf nicht, setzten sie mit Sicherheit ihre Brandsätze ein. Mit etwas Glück konnten
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sie das Feuer später dann leichter löschen, vorausgesetzt, es ließ sich überhaupt löschen. Jedenfalls hatte Hasard alle Vorsorge getroffen, mehr vermochte er augenblicklich nicht zu tun. Ben Brighton stand am Ruder. Pete Ballie hatte seinen Platz diesmal an einer Culverine. Der Kutscher, Smoky, Blacky, Al Conroy und auch der Segelmacher Will Thorne standen feuerbereit da. Big Old Shane hatte Brandpfeile mit Pulverladung vorbereitet. Er stand in der Kuhl auf seinen mächtigen Bogen gelehnt und war die Ruhe selbst. Wie ein Denkmal stand er da, der Schmied von Arwenack, den nichts erschüttern konnte, der mit sicherer und starker Hand seine Pfeile. verschoß und fast immer traf. Stenmark, Luke Morgan, alle waren sie auf dem Posten. Arwenack hatte sich wieder in den Großmars verzogen und bleckte die Zähne. Der Schimpanse fühlte, daß wieder etwas bevorstand. Er scheuchte den Papagei von der Rah, der kreischend über seinen Schädel flog und sich auf dem Topp niederließ. „Du siehst besorgt aus, Hasard“, sagte Big Old Shane zu dem Seewolf, dessen Gesicht ernst und verschlossen war. „Ich bin es auch“, gab Hasard zu. „Selbst wenn wir die Überraschung auf unserer Seite haben, selbst wenn wir mit zwei Schiffen anrücken, dürfen wir unseren Gegner nicht unterschätzen.“ „Wer tut das schon?“ „Viele tun es und wundern sich später. Dieser Gegner ist übermächtig, wenn er mit seinen Waffen angreift. Wir haben den Nachteil, daß sich Siri-Tong und der Wikinger an Bord befinden, die wir nicht gefährden dürfen. Du siehst also, es gibt genügend Anlaß zur Sorge.“ Old Shane nickte gedankenschwer. Sicher, sie konnten kämpfen wie die Teufel, daran lag es nicht, aber die Sorge, daß den anderen beiden etwas geschah, nagte auch heimlich an ihm. Hasard überprüfte ein letztes Mal die Culverinen. Dann blieb er vor dem Waffen- und Stückmeister Al Conroy stehen.
Das Drachenschiff
„Von dir hängt viel ab“, sagte er nur, mehr nicht. Al Conroy wußte das. Hielt er zu tief, konnte er Siri-Tong oder den Wikinger treffen. Traf er die Pulverkammer, flog das Schiff in die Luft. Traf er schlecht, hatten die anderen Gelegenheit, die Scharte auszuwetzen und zurückzufeuern. Also mußte er auf Anhieb richtig treffen. Er grinste breit, als der Seewolf sich noch einmal umwandte. Dann sagte er: „Ich habe mir eben überlegt, daß man auf Anhieb richtig treffen muß, dann kann gar nichts schiefgehen.“ Hasard gab das Grinsen diesmal zurück. Er hatte wirklich einen prächtigen Stückmeister an Bord.. Je mehr sie sich dem Drachenschiff näherten, desto mehr frischte der Wind auf. Die Segel blähten sich, langsam nahm die Fahrt der „Isabella“ zu. Jetzt rauschte sie an dem schwarzen Segler vorbei, der gerade Anker klarierte und umdrehte. Der Boston-Mann hob den rechten Arm hoch und streckte den Daumen nach oben. Alles in Ordnung, hieß das. Etwas schwerfällig folgte „Eiliger Drache“ der Galeone. Hasard wußte das Schiff bei Ben Brighton in guten Händen, daher blieb er auch weiterhin bei den Culverinen. Schneller wurde die Fahrt, gespannt standen die Männer neben den Geschützen und warteten. Da kam das Drachenschiff in Sicht. Die Männer starrten den unheimlichen Fremden an, das Bild brannte sich ihnen ein. Dunkle Gestalten hasteten beim Anblick der „Isabella“ über Deck. Drei, vier Zopfmänner liefen zum Vorschiff. „Drehbasse feuern!“ rief der Seewolf. Stenmark bediente das schwenkbare Geschütz. Ein wilder Blitz, ein ohrenbetäubendes Krachen, und dann rauschte ein Eisenhagel aus dem Rohr, der fast augenblicklich im Vorschiff des Fremden einschlug und die Männer von Deck fegte.
Fred McMason
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„Kein Kunststück!“ brüllte der blonde Schwede. „Bei dem ruhigen Wasser muß man ja treffen.“ „Ohne Befehl feuern, Al!“ rief Hasard. „Das gilt auch für die anderen. Günstigste Position suchen und dann ab!“ Al Conroy konzentrierte sich voll und ganz auf das Ankertau des Drachenschiffes. Der Schuß mußte so sitzen, daß entweder der untere Teil der Klüse zerfetzt oder das Tau direkt auseinandergerissen wurde. Conroy wußte, daß dazu auch noch eine kleine Portion Glück gehörte. Aber er hatte Stenmarks Worte noch im Ohr. Bei dem ruhigen Wasser! Er sah nicht mehr nach links oder rechts, als er die glimmende Lunte an das Zündloch hielt. Sein Ziel rückte rasch näher, und leise betete der Stückmeister zum Himmel, daß ihm dieser Schuß gelingen möge. Ein Blitz fuhr aus dem Rohr, der Donner rollte, und der schwere Siebzehnpfünder ging auf die Reise. Wild zuckte die Culverine zurück, ehe die Brooktaue sie bremsten. Dann schlug es drüben ein. Gleich zweimal hintereinander. Den einen Schuß hatte Al Conroy abgefeuert, den anderen der „Seewolf. Jetzt krachte auch noch der dritte. Eine der Eisenkugeln fuhr in den vorderen Mast und riß ein großes Loch heraus. Der schwere Mast zitterte, neigte sich, stürzte aber noch nicht. Eine Rah polterte nach unten und schlug voller Wucht auf das eisenharte Deck. Sofort herrschte auf dem Drachenschiff Chaos. Schreiende Zopfmänner rannten über Deck, um dem stürzenden Ungetüm auszuweichen, das sich jetzt immer mehr zur Seite neigte. Sie schafften es nicht mehr, ihre verheerenden Brandsätze abzufeuern, der kippende Mast hielt sie auf Distanz. Geschrei und Gebrüll drangen zur „Isabella“ herüber. Conroy starrte verdattert auf das Vorschiff. Zuerst dachte er, sein Schuß hätte nicht getroffen, aber jetzt erkannte er, daß das Drachenschiff langsam herumschwang. Es hatte keinen Anker mehr, das starke Tau
Das Drachenschiff
war unterhalb der Klüse auseinandergefetzt worden. „Mensch, Junge“, sagte er zu sich selbst. In aller Eile lud er die Culverine nach, wischte, stopfte Pulver hinein, lud. Jetzt hatte der Mast seinen Neigungswinkel überschritten. Er kippte mit fürchterlichem Getöse um, riß Wanten und Pardunen mit sich und schlug auf der Steuerbordseite ins Wasser, einen Teil des Schanzkleides eindrückend. Die dritte Kugel war in den zweiten Mast gefahren, aber sie hatte offensichtlich in dem harten Holz keinen größeren Schaden verursacht. Nur ein im Gei hängendes Segel zerriß. Hasard ließ auch die restlichen Culverinen ihren tödlichen Hagel auf das Drachenschiff verfeuern, damit die Kerle gar nicht erst zur Besinnung kamen, um ihre tödlichen Waffen einzusetzen. Jetzt konnte die „Isabella“ nicht mehr gezielt feuern, denn sie lief an dem Drachenschiff vorbei, das immer mehr herumschwang. Die Segel zerfetzten, die Mastspitzen flogen davon, eine weitere Rah krachte an Deck und begrub zwei Zopfmänner unter sich, die sie auf der Stelle erschlug. Da zuckte es auf dem getroffenen Schiff plötzlich auf. Zwei, drei, dann vier Feuerschweife jagten in den Himmel, dunklen Rauch nach sich ziehend, blitzschnell detonierend und ihren Segen nach allen Seiten verschleudernd. Der Krach übertönte mühelos die nun loswummernden Culverinen von „Eiliger Drache über den Wassern“. „Es sind keine Brandsätze“, sagte Hasard, „es sind genau die gleichen Dinger, die sie vorhin abgeschossen haben. Sie können uns nicht gefährlich werden.“ Immer mehr der rasenden heulenden Dinger zerplatzten am Himmel und ergossen sich wie ein Blütenregen nach allen Seiten. Es war eine letzte Demonstration der Zopfmänner, die an ihre Brandsätze nicht mehr herankonnten und jetzt diese Dinger einsetzten, um den Seewölfen das Fürchten zu lehren.
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Fred McMason
Die „Isabella“ segelte weiter, sie feuerte nicht mehr, das fremde Schiff war genug beschädigt, auch ohne daß es Treffer unter die Wasserlinie erhalten hatte. Die Segel wurden aufgegeit, mit langsamer Fahrt trieb die ranke Galeone weiter. Auf dem schwarzen Segler herrschte zur selben Zeit emsiges Treiben. Siri-Tongs Piraten hätten den strikten Befehl erhalten, ausschließlich auf die Mastspitzen zu schießen. Drei oder viermal trafen sie, dann schwiegen die Kanonen. Juan und der Boston-Mann banden die gefangenen Chinesen los und stellten sie ans Schanzkleid. „Springt, ihr Schlitzaugen!“ schrie Juan. „Und schwimmt, bis ihr euren lausigen Kahn erreicht. Hopp, hopp!“ Li-Cheng blieb noch unschlüssig stehen. Er bemerkte das Chaos und sah, wie auf dem Drachenschiff alles zerstört wurde, wie seine Leute rannten und schrien. „Bist du noch nicht drüben!“ fluchte Juan, der Bootsmann. Er holte aus und trat dem Zopfmann in den Achtersteven. Mit einem Wutschrei ging Li-Cheng über Bord. „Und ihr!“ fauchte der Boston-Mann. „Ihr wollt wohl bei uns anheuern, was? Los, ihm nach, aber Beeilung! Freiwillige vor!“ „Das wirst du weißer Teufel noch bereuen!“ schrie einer der Chinesen. „Eines Tages kriegen wir dich und deine Gesellen, und dann wird ...“ Der Boston-Mann hob den Burschen kurz entschlossen hoch und warf ihn über Bord. Die drei übrigen wichen zurück, dann sprangen sie ohne Aufforderung. Im Wasser strampelten sie, fluchten in ihrer hohen Singsangsprache und drohten mit den Fäusten. Aber der Boston-Mann hatte für sie nur ein höhnisches Lachen übrig. Ihnen konnte nicht viel passieren, hier gab es keine Kaimane, und in dem Allgemeinen Getümmel, Geschrei und Gepolter trauten sich selbst die gefräßigen Piranhas nicht heran. Auch „Eiliger Drache“ segelte weiter, der „Isabella“ nach. *
Das Drachenschiff
„Jetzt sind wir dran!“ schrie Carberry, als er sah, daß beide Schiffe abdrehten und auf dem Drachenschiff ein wildes Chaos herrschte. Dort riefen, rannten, schrien und brüllten sie alle durcheinander. Aus dem Wasser schrien Gestalten zurück, die man vom schwarzen Segler über Bord geworfen hatte. Ein paar Zopfmänner hasteten nach vorn, um die Kerle aus dem Wasser zu fischen. Am Achterkastell enterten sie ungesehen auf, standen an Deck und sahen sich einem Zopfmann gegenüber, der sie entgeistert anstarrte. „Jetzt kannst du Arwenack schreien“, erinnerte der Profos Dan. Dan ließ sich das nicht zweimal sagen. „Arwenack!“ brüllte er über Deck und stürmte vor. Ein Teil der Zopfmänner war immer noch damit beschäftigt, ihre Kameraden aus dem Wasser zu fischen. Bei dem lauten Schlachtruf wandten sie erschreckt die Köpfe. Eine wilde Horde stürmte auf sie zu, brüllend, Schiffshauer, Äxte, Entermesser und eine riesige Axt schwingend, die ein rothaariger Riese in den Pranken hielt. Ein anderer. furchteinflößender Mann schwang einen gewaltigen Morgenstern über seinen Kopf und drosch auf alles, was sich bewegte. Es schienen Ausgeburten der Hölle zu sein, die da an Deck herumwüteten und alles kurz und klein schlugen. Die Zopfmänner, keine großen Kämpfer, setzten sich nur schwach zur Wehr. Sie kämpften mit dünnen Schwertern und Schiffshauern, aber sehr bald schon sahen sie ein, daß sie gegen diese brüllende Meute nichts ausrichten konnten. Gerade enterte Li-Cheng auf, von starken Armen an Bord gezogen, da war Carberry heran. „Zurück, du Rübenschwein!“ donnerte er und warf den Kapitän mit einem wilden Schwung ins Wasser zurück. Li-Chengs Körper riß gleich zwei andere mit sich, die naß und erschöpft an Deck wollten. Jetzt landeten sie in hohem Bogen erneut in dem Element, das sie gerade verlassen wollten.
Fred McMason
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Matt Davies traf auf einen kleinen gelbhäutigen Burschen, der sich erbittert zur Wehr setzte. Er schlug mit allem tim sich, was ihm in die mageren Fäuste fiel. Immer wieder mußte Matt sich ducken, denn der Kleine giftete wie ein Teufel herum. Da kriegte er ihn zu fassen. Seine blitzende Hakenprothese verfing sich am Hemd des Gelben. Ein wilder Ruck riß den Zopfmann auf Matt Davies zu. „Warte, du Giftzwerg!“ schrie er, als der Kleine spuckte und um sich trat. Er faßte mit dem Haken in den Hosenbund des Gelben und riß ihn mit einem gezielten Schwung über das Schanzkleid. Oben tobte der Kampf weiter, die Zopfmänner wichen vor den rasenden Teufeln angstvoll zurück und schrien entsetzt, wenn Tucker seine Riesenaxt schwang oder der Gambianeger mit dem Morgenstern über sie herfiel. An Bord war die Hölle los. Noch nie hatten die Chinesen Piraten von diesem Format erlebt. Immer mehr gingen über Stag, von Carberry oder Dan über Bord gefeuert. Da enterte Li-Cheng zum zweitenmal auf, rutschte über das Schanzkleid und blieb erschöpft stehen. Carberry blieb ebenfalls stehen, aber nicht erschöpft, sondern empört. „Ja, da hört sich doch alles auf!` brüllte er laut. „Da ist das gelbe Rübenschwein schon wieder und will sich hier einnisten. Habe ich dich nicht, eben eigenhändig außenbords befördert, du lausiger Sohn eines Eidotters!“ Li-Chengs haßerfülltes Gesicht verzog sich angstvoll, als der Riese mit dem gewaltigen Kinn nach ihm griff. Diesmal warf der Profos ihn regelrecht fort. Das Kerlchen wog nicht mehr als ein Zentner und solche Gewichte schaffte der Profos mit links. Er packte zu, griff den verängstigten Kapitän an den Beinen und drehte ihn um. Mit dem nötigen Schwung versehen, ließ er ihn einfach fliegen. „Das war der Kapitän, glaube ich“, sagte Dan O’Flynn im Vorbeilaufen und schlug einem Zopfmann die Faust an den Schädel.
Das Drachenschiff
„Deswegen ist der so hartnäckig“, murmelte der Profos. Das Deck war jetzt zum größten Teil klariert und wieder „sauber“, wie Carberry sich ausdrückte. Er stürmte in die achtere Kammer, gefolgt von Matt Davies, wo sie Siri-Tong und den Wikinger vermuteten. Carberry hatte den Niedergang noch nicht ganz erreicht, als sich ihm zwei Kerle in den Weg stellen. Mit dünnen, biegsamen Flachschwertern drangen sie auf ihn ein. Der Angriff erfolgte überraschend, weil die beiden Kerle aus zwei Nischen urplötzlich auftauchten. Carberry wich zurück und rammte Matt Davies, der genauso überrascht war. Die beiden hieben blitzschnell zu. Der Profos hörte es pfeifen, und schon trennte ihm der blitzschnell geführte Hieb den Handrücken auf. Den zweiten Schlag fing Matt Davies mit der Prothese ab. Er hatte das Gefühl, als sei der künstliche Arm völlig durchtrennt worden. Aber jetzt war es mit Carberrys Beherrschung vorbei, als er das Blut auf seinem Handrücken sah. Er rannte drauflos, wich dem zustoßenden Schwert aus und senkte seinen breiten Schädel dem Angreifer in den Magen. Der Schwung trieb ihn bis an die nächste Wand, wo der Gelbe stöhnend zusammenbrach. Noch einmal griff er nach dem Schwert, doch Carberrys gewaltige Faust traf seinen Schädel mit Urgewalt. Mit verrenktem Genick blieb der Zopfmann liegen. Den anderen schnappte sich Matt Davies. Er unterlief den Angriff und säbelte mit seinem Haken wie mit einer ‚Sense durch die Luft. Dabei drang er weiter vor, bis er den Gelben erwischte. Es gab ein häßliches Knirschen, ein wildes Stöhnen, dann lag der Zopfmann reglos neben dem anderen. Carberry drang in die Kammer ein. Nach Batutis Beschreibung war sie der Raum des Kapitäns, jenes mageren Burschen, dem Carberry bereits zweimal ins Wasser geholfen hatte.
Fred McMason
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„Da sind sie ja, Hölle und Teufel!“ stieß der Profos erleichtert hervor und zerschnitt blitzschnell die Fesseln. Die Rote Korsarin war bleich, sie blickte durch Carberry und Matt hindurch und nahm gar nicht wahr, was um sie herum vorging. Nur der Wikinger sah taufrisch und wütend aus. Mit einem wilden Schrei fuhr er hoch, sagte nicht danke, sah den Profos nicht an, sondern stürmte wie ein Wilder an Deck. „Der nimmt in seiner Wut das ganze Schiff auseinander“, sagte Carberry staunend. Er trug Siri-Tong an Deck und brüllte nach Dan, der auch sofort heranflitzte. „Sie lebt“, sagte Dan erfreut, „sie ist nur bewußtlos.“ „Das sehe ich selbst, du Hering! Los, pullt sie zur ‚Isabella’ hinüber, der Kutscher wird sie versorgen.“ Dan trug Siri-Tong zum Boot. In aller Eile pullte er sie zum Schiff hinüber. Auf dem Drachenschiff aber schien Odin persönlich zu wüten. Der auf gestaute Ärger des Wikingers entlud sich donnernd. Sogar der abgebrühte Carberry ging ihm aus dem Weg, wenn der Wikinger wie Odins achtbeiniges Roß vorbeidonnerte und nach einem Zopfmann griff. „Sieht so aus, als würde er Läuse knacken“, meinte Tucker erblassend. „Da brauchen wir nur noch zuzuschauen, der tut alles ganz allein und mit großer Freude.“ Thorfin packte einen der zitternden Gelben, drückte ihm den Hals zusammen und schlug ihm anschließend die mächtige Faust an den Schädel. Danach warf er den Kerl wie einen Lappen fort. Viel Arbeit fand er nicht mehr vor, und nachdem er den Rest der angeschlagenen Burschen gründlich versorgt hatte, kühlte er langsam ab. Inzwischen trieb das Drachenschiff quer in die Strömung der nächsten Sandbank entgegen. Es gab einen harten Ruck und der mächtige Rumpf neigte sich leicht zur Seite. Dann lag das Schiff fest. „Damit werden sie eine Weile zu tun haben“, meinte Ferris Tucker, „länger als wir auf jeden Fall.“
Das Drachenschiff
Er sah sich um, aber es gab nichts mehr zu tun. Nur als er über Bord blickte, konnte er sich das Grinsen nicht verkneifen. „Sie mal dort, Ed“, sagte er. Die Zopfmänner hatte sich unten in Trauben an die Planken geklammert und sahen ängstlich hoch. Zwei hockten in einem Boot, aber der Profos winkte ärgerlich mit dem Zeigefinger. „Raus da, ihr Säcke! Das Boot gehört uns! Willig, willig, oder soll ich euch die verdammten Zöpfe abschneiden, was, wie?“ Sie gehorchten, ließen sich willig über das Dollbord gleiten und paddelten im Wasser. „Na, denn, Thorfin, los, wir entern ab.“ Sie stiegen in das Boot und warteten aufMatt Davies, der mit einem Armvoll Brandsätze, die er in der Kapitänskammer gefunden hatte, zurückkehrte. „Kann man immer brauchen“, erklärte er grinsend. Etwas später legten sie bei der „Isabella“ an und enterten auf. Siri-Tong war wieder zu sich gekommen, ihr Blick war noch leicht verklärt, aber sie begriff an der frischen Luft wieder, was um sie herum vorging. Als die Männer an Deck standen, lächelte sie. Dieses Lächeln galt ganz besonders Batuti. Hasard hatte ihr erzählt, daß sie ohne ihn vielleicht nicht mehr am Leben gewesen wäre. Langsam ging sie auf ihn zu. Batuti grinste verlegen und wich vor ihr zurück, bis er ans Schanzkleid prallte. Doch die Rote Korsarin ging weiter, bis sie ihn erreichte. Dann drückte sie dem Neger einen Kuß auf die Wange. So verlegen hatten sie den Gambianeger noch nie gesehen. Er stand da, grinste, verdrehte die Augen, steckte einen Finger in den Mund und grinste wieder. Er wußte nicht mehr, wo er seine Hände lassen sollte. Wohl oder übel grinsten die anderen mit. Batuti bot ein Bild für Götter, und als sie ihn alle ansahen, wußte er sich gar nicht mehr zu helfen. Er drehte sich um und rannte fort.
Fred McMason
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Die Beiboote wurden an Bord genommen. Hasard blickte zu dem Drachenschiff hinüber. Halb entmastet lag es auf der Sandbank, und immer noch hingen die Zopfmänner außenbords und schimpften. „Die Reparatur hält sie wochenlang fest“, sagte Hasard. „So schnell werden sie uns nicht mehr folgen.“ Die Segel wurden gesetzt, das Schiff nahm Fahrt auf, und Siri-Tong und der Wikinger
Das Drachenschiff
wechselten auf „Eiliger Drache über den Wassern“ über. Es ging weiter, dem Atlantik entgegen, der sie aufnahm und eine kühle Brise herüberschickte. „Jetzt erst fühle ich mich so richtig wohl“, sagte der Profos zufrieden, und damit sprach er den anderen aus der Seele. Hier fühlten sie sich frei und unbeschwert, das weite Meer war ihre Heimat.
ENDE