KLEINE B I B L I O T H E K DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN N A T U R - UND K U L T U R K U N D L I C H E HEFT'E
DAS AUSWAN...
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KLEINE B I B L I O T H E K DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN N A T U R - UND K U L T U R K U N D L I C H E HEFT'E
DAS AUSWANDERERSCHIFF AUS EINEM SCHIFFSTAGEBUCH DES JAHRES 1849
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU•MÜNCHEN • INNSBRUCK • BASEL
"Weg ins Unbekannte Le Havre, die große Hafenstadt an der neun Kilometer breiten Mündung der Seine, war um die Mitte des 19. Jahrhunderts alljährlich Zielstation von Zehntausenden von Auswanderern. „Stadt der Tränen und der Hoffnungen" nannten die Zeitgenossen die damals vierhundertfünfzig fahre alte Seestadt, die König Franz I. von Frankreich als Ersatz für den versandeten Hafen Lefleur hatte erbauen lassen. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten die meisten europäischen Staaten die Auswanderung freigegeben und auf „Abfahrtsgeld", „Abzugsgeld" und Vermögensabgaben verzichtet, die bis dahin das an sich schon leidvolle Verlassen der alten Heimat erschwert oder unmöglich gemacht hatten. Seitdem vermehrte sich der Strom derer, die dem Hunger, der Arbeitslosigkeit, dem Preiszerfall, der sozialen oder wirtschaftlichen Unterdrückung und der politischen oder religiösen Verfolgung zu entkommen suchten. Es gab auch Abenteurer und romantische Schwärmer unter den Menschen, die sich in den Häfen auf die Auswandererschiffe drängten. 'Aber die Mehrzahl der Emigranten war von echter Lebensnot betroffen und sah im Aufgeben der angestammten Heimat den letzten A:'.;weg aus einem verzweifelten Dasein. Innerhalb eines Menschenalters verließen vierundzwanzig Millionen Europa, das damals nur Zweihundert bis dreihundert Millionen Einwohner zählte. In jene Jahre des großen Aufbruchs ins Unbekannte führt das Schiffstagebuch eines Auswanderers zurück, das er im Jahre 1849, nach der'Ankunft am Mississippi, an Hand seiner Unterwegsnotizen niedergeschrieben hat. Der Tod fuhr an Bord des Dreimastseglers „Charlesmagne" mit. Dieses Reisetagebuch ist zwar das Dokument eines einzigen, bestimmt für die Angehörigen, die er in Europa zurücklassen mußte; aber es ist zugleich ein Zeitgemälde, in dem die düsteren Farben aufgehellt sind durch das Licht der Hoffnung und der Zuversicht ...
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Am Mississippi, Juni 1849 Meine Lieben in der alten Heimat! Ihr werdet meine wenigen Zeilen, die ich Euch am 28. März von Le Havre aus sandte, in bester Gesundheit empfangen haben; seither bin ich glücklich an den Ort meiner Bestimmung gelangt und beeile mich nun, Euch schnell Nachricht von mir zu geben. Wie ich Euch bereits von Le Havre aus meldete, langte ich am 24. März, morgens 6 Uhr, mit der Eisenbahn daselbst an und logierte mich bei der Frau Bauer zur „Stadt Basel" für 3 Francs täglich ein. Alles wimmelte in diesem Hause von Auswanderern, und ihre große Zahl mochte wohl schuld daran sein, daß ich recht schlecht einquartiert war; die Betten waren schlecht und das Essen nicht gut. Daher war mir daran gelegen, Le Havre recht bald wieder verlassen zu können, und noch an jenem Morgen verfügte ich mich mit anderen Gefährten, die ich hier traf, zu Herrn Dr. Roth, der uns mit Rat und Tat zur Seite stand und für uns den schönen Dreimaster „Charlesmagne", der in wenigen Tagen nach New-Orleans gehen sollte, auskundschaftete; bis zum Abend mehrte sich die Zahl der Landsleute, die nach New-Orleans wollten, und Herr Dr. Roth schloß Sonntag, den 25. März, für unser dreißig den Reisevertrag zu 70 Francs pro Person mit eigener Verköstigung ab, und zwar noch mit der Bedingung, daß, wenn das Schiff den 28. März nicht abfahren sollte, jeder Passagier eine Vergütung von eineinhalb Francs pro Tag zu erhalten hätte. Wir besichtigten das Schiff, das etwa 200 Fuß lang ist und 1000 Tonnen hält und dessen Zwischendeck uns nicht übel gefiel. Herr Roth hatte die besten Plätze für uns in Beschlag belegt und zwar zwischen dem großen und hinteren Mastbaum, und jeder beeilte sich nun, auch eine ordentliche Schlafstelle zu kriegen. Ein Herr Fasnacht von Bern, Schlegel und ich bewirkten durch ein Trinkgeld von 10 Francs, die wir dem Austeiler der Bettstellen gaben, daß wir zu dritt, statt zu viert schlafen konnten, eine Eroberung, die uns später, als die Hitze täglich zunahm, sehr wohl bekam. Das Zwischendeck, das zwischen dem unteren Schiffsraum und dem Verdeck liegt, nimmt die ganze Länge des Schiffes ein und erhält sein Licht von den Luken hinten im Schiff und durch die Öffnungen, 3
die aufs Verdeck führen. An den beiden Wänden entlang laufen die Bettstellen, die sehr einfach aus Brettern geschaffen sind, und wo ein Raum von 6 Fuß im Quadrat für vier Personen bestimmt ist. Zwei solcher Bettstellen sind übereinander, und wir wählten Nr. 55 (eine Zahl, an die ich noch manchmal denken werde) als unsere Lagerstätte. Unter uns und rechts neben uns lagen Landsleute und links von uns ein echter Blitzschwabe mit seinem Anhang. Die erste Beschäftigung war, nun eine Matratze, wenn man einem Strohsack diesen Namen geben will, eine wollene Decke und ein Kissen anzuschaffen, was auf etwa 10 Francs zu stehen kam. Da wir in der Stadt bei Frau Bauer schlecht logierten, so zogen wir es vor, schon am Sonntagabend „Nr. 55" mit unserem Besuch zu beehren, und wir schliefen recht vergnügt auf unserem neuen Besitztum. Am Montag ging ich wieder in die Stadt und brachte den ganzen Tag mit dem Einkauf der Lebensmittel und der Küchengerätschaften zu; sie bestehen aus einem Kochtopf, einem Bratpfännchen, einem .Teller, einer Schüssel, einem Becher und einem Besteck. Den Hauptteil der Lebensmittel bilden Brot, Zwieback, Kartoffeln, Reis, Speck und Wein, wozu dann noch Mehl, Eier, Tee, Zwetschgen etc. kommen. Sämtliche Anschaffungen beliefen sich auf etwa 100 Francs, so daß die ganze Überfahrt sich nicht höher als 170 bis 200 Francs belaufen kann. Am Montag langte dann auch Freund Adolf von Paris an, in dessen Gesellschaft ich den Dienstag außerordentlich vergnügt verlebte, so daß ich vor lauter Freude am späten Abend statt auf „Charlesmagne" auf ein anderes ähnliches Schiff geriet und mich erst zurechtfand, als sich „Nr. 55" nirgends zeigen wollte; Licht durfte auf dem Schiff, solange es •£* Hafen lag, keines gebrannt werden, daher war es jedesmal eine- halsbrecherische Arbeit, durch die vielen Kisten, die sich täglich mehrten, sein Nest zu finden. 28. März. "Herr Dr. Roth kündigte uns diesen Morgen an, daß „Charlesmagne" heute mittag wirklich unter Segel gehen werde, welche Nachricht ich sogleich meinem Freunde Adolf überbrachte. Das veranlaßte mich, noch einmal auf festem Lande nach alter Väter Sitte zu frühstücken. Die Becher erklangen auf das Wohl unserer Lieben in der Heimat und auf ein frohes Wiedersehen in der 4
Im Hafen vor der Ausfahrt. Neuen Welt. Auf dem Schiffe fand sich bereits die ganze Reisegesellschaft ein, die aus etwa 300 Personen besteht, darunter Schweizer, Franzosen, Nassauer, Hessen, Badenser, Bayern, Holländer. Das Treiben der Menge hättet Ihr nun sehen sollen, das bunte Gemisch der Leute, und wie jeder die Gesellschaft musterte, mit der er im besten Fall während sechs Wochen auf engem Raum leben sollte. Ein beschnauzter Polizeiheld visitierte noch die Pässe der Auswanderer, ob alle visiert seien, eine Förmlichkeit, die sehr wenig nützt und der jeder leicht entgehen könnte, haben wir doch sehr viele auf dem Schiff, die nicht einmal einen Paß mit sich führen. Am Ufer fand sich eine Menge Volkes, die unser Schiff, das eines der größten im Hafen war, auslaufen sehen wollte. Sechzehn Segel flatterten in der Luft, und „Charlesmagne" flog unter dem Gesang der Matrosen und den Tränen manchen Passagiers aus dem Hafen. Als wir Le Havre, die schmutzige Seestadt, im Rücken hatten, zog 5
sich alles ins Zwischendeck hinunter, um den Haushalt einzurichten, und mancher plagte sich schon mit dem Gedanken, wie bald ihn wohl die vielbesprochene Seekrankheit erreichen werde.
Das erste Grab im Ozean indem ich unsere Reisegesellschaft durchgehe, merke ich bald, daß die Schweizer, die Franzosen und einige Deutsche zu den ordentlichsten gehören; Kajütenpassagiere haben wir gar keine, dafür viele kleine Kinder im Zwischendeck, die uns wohl nur zu oft mit ihrem Nachtgesang erfreuen werden. Das Schiffspersonal gefällt mir; Kapitän Fales, ein ergrauter Seemann und ein geborener Amerikaner, umsegelt während mehr als 30 Jahren die Welt, spricht englisch und etwas weniger französisch; die beiden Steuerleute und die Matrosen sind bis auf zwei Deutsche ebenfalls Amerikaner und sprechen nur englisch; der Bediente des Kapitäns ist ein Hamburger und der Koch, dessen nähere Bekanntschaft ich zwar weniger seiner Persönlichkeit als vielmehr der Küche wegen suchen werde, ist ein alter Bremeraner, der seine Muttersprache beinahe vergessen hat. Diesen Abend schon stellte sich bei vielen Schwindel ein, und schon sah man einige einen entlegenen Winkel suchen, um sich ungestört des Überflüssigen entladen zu können. Ein guter Anfang, dachte ich, rauchte- mein Pfeifchen, und legte mich, ohne heute mehr ans Kochen zu denken, frühzeitig zu Bett. 29. März. Das erwartete Kindergeschrei ließ mich diese Nacht wenig schlafen. Zudem blies, der Wind heftig und schlug unseren „Charlesmagne" etwas unsanft herum, was dann auch bewirkte, daß wir heute eine Menge bleicher Gesichter auf dem Verdeck sehen, viele mögen gar nicht aus dem Bett. Ich befinde mich ausgezeichnet, lasse mir durch Freund Schlegel eine Kartoffelsuppe richten und begebe mich in eigener Person zur Küche, wo man sich ums Feuer streitet — jeder will der erste sein —, und nur mit Mühe kann man sein mageres Fleischtöpfchen aufhängen; es ist sehr zu wünschen, daß später mehr Ordnung bei der Küche eingeführt werde. Behaglich läßt sich dieser Tag nicht nennen, die vielen Übelkeiten, deren Zeuge man sein muß, flößen einem Ekel ein; das Wetter ist äußerst schlimm, es regnet und schneit, als ob wir uns im Monat Dezember befänden. 6
30. März. Wie die Zahl der Seekranken, so hat auch das schlechte Wetter und so hat der Wind bedeutend zugenommen; leider bläst er von der unrechten Seite und bringt uns mehr zurück als vorwärts. Rechts von uns haben wir die englische Küste, auf der man die Leuchttürme mit bloßem Auge unterscheiden kann. Bekanntlich ist die Fahrt, solange man im Kanal steckt, am gefährlichsten, da man hier den Wirkungen der Ebbe und Flut ausgesetzt ist; unser Kapitän, der mir äußerst vorsichtig scheint, läßt den ganzen Tag herummanövrieren und die Segel oft in einer Stunde zwei- bis dreimal drehen, namentlich, wenn uns der Wind der Küste zu nahe bringt. Diese Manier zu reisen, führt uns freilich nicht weit, dafür aber sind wir sicher, nicht an die Klippen und Felsen geschlagen zu werden. 31. März. Ich stehe auf und darf sagen, recht gut geschlafen zu haben, und es wäre gut, wenn ich den ganzen lieben Tag über hätte schlafen können; die Seekranken mehren sich täglich, und wo man hinblickt, sieht man nichts als Jammer und Jammer, und ich begreife, daß für manche die ersten Tage einer Seereise etwas Schreckliches sind. Zu der Seekrankheit gesellen sich gewöhnlich der Mißmut und das Bedauern, die Heimat verlassen zu haben. Die guten Ehemänner, die da hofften, ihre zarte Ehehälfte werde ihnen die Küche besorgen, sieht man bescheiden zur Küche wandern; denn die Frau liegt tief im Bett und nichts schmeckt ihr, was ihr dienstbarer Geist ihr mit Mühe gekocht hat. Mein guter Humor und meine Gesundheit sind unerschütterlich, trotz Wind und Regen stehe ich auf dem Verdeck, tröste meine mißmutige Umgebung oder lache sie eigentlich eher aus und labe mich an der französischen Küste, deren Ende wir nahen. Bisweilen unterhalte ich mich auch mit dem kleinen Holsteiner Matrosen, der mir erzählt, wie er seit fünfzehn Jahren seinen mir nicht besonders einleuchtenden Beruf treibt. Sonst bleibt wenig Unterhaltung, da die Gesellschaft leidend und noch nicht genügsam miteinander bekannt ist. Der Wind nimmt gegen Abend ungemein zu, und schon bilden die Wellen famose Täler und Hügel, auf denen „Charlesmagne" herumzutanzen gezwungen ist. Auf dem Verdeck kann man nicht stehen, ohne sich an etwas zu klammern, und oft neigt sich „Charlesmagne" so stark auf die linke Seite, daß die Segel beinahe 7
mit dem Meer in Berührung kommen. Im Zwischendeck, wo bis jetzt wegen der Krankheit wenig Reinlichkeit herrscht, ist die Luft nicht am angenehmsten, und so ist eine gesunde Haut gezwungen, auch auf die Gefahr hin, von Wellen und Regen bespült zu werden, sich auf dem Verdeck aufzuhai.en. Die Matrosen sind vollauf damit beschäftigt, die Segel jeden Augenblick anders zu drehen, und mich ergötzt das englische Geschrei, das sie jedesmal bei dieser Arbeit vollführen. Frankreich scheint uns besonders lieb zu haben, denn noch segeln wir an seiner Küste herum. Es ist nun der vierte Tag, den wir im Kanal sind, während man ihn bei günstigem Winde in 48 Stunden zurücklegen kann. Palmsonntag, 1. April. Wir stehen heute morgen akkurat auf demselben Fleck wie gestern, und Ihr glaubt nicht, wie unangenehm es ist, so herumgeschaukelt zu werden, ohne dabei von der Stelle zu kommen. Der -Wind wird immer stärker, und unter allen Bettstellen ist unsere, glaube ich, die einzige, wo kein Patient liegt; „Nr. 55" scheint eine gute Zahl zu sein. Bei vielen mag wohl die unregelmäßige Kost Hauptursache ihrer Krankheit sein; da essen sie morgens früh rohen, stark gesalzenen Speck, trinken Schnaps und geben sich zu den vielen unverdaulichen •Speisen, die man genießt, keine Bewegung. Manche werden dann wirklich von der Seekrankheit zu arg mitgenommen, so namentlich einige Frauenzimmer, die gar keine Speisen ertragen mögen und nachts kein Auge schließen können. Zu allen guten Dingen haben diese Armen nun noch Angst vor dem Sturm, der herrscht, obwohl mir die Matrosen versichern, daß er noch lange nicht bedenklicher Art sei. Gegen Abend forderte das Meer ein Opfer aus unserer Gesellschaft. Ein Kind von fünf Jahren erlag der Seekrankheit und der unregelmäßigen Lebensart, wohl auch der mangelhaften Fürsorge. Wenige Stunden nach seinem Tode wurde der kleine Leichnam in einen Sack gewickelt, ein anderes Säckchen mit Steinen ihm an die Füße gebunden und so mittels eines Brettes ins Meer geschoben. Der Tod und das Begräbnis machten auf die vielen Kranken einen höchst beklemmenden Eindruck. Wie würde es wohl gewesen sein, wenn wir dazumal schon hätten ahnen können, daß diesem Opfer noch zwanzig andere nachfolgen sollten! 8
Das Verdeck gleicht einem Lazarett 2. April. „Abermals eine Leiche", tönt es durch unseren Schlafraum, und zwar hat eine Frau von 38 Jahren, die Mutter von vier Kindern ist, das Irdische mit dem Ewigen vertauscht. Diesen Morgen wurde sie ebenfalls den Wellen, die sich heute noch unsinniger als gestern gebärden, anvertraut. Ihr Mann ist untröstlich. Wohl dem, der die Reise ohne Familie machen kann! Die Küsten haben wir zwar heute wenigstens aus den Augen, doch geht's trotz allem Sturm nicht vom Fleck; der Kapitän ist verdrießlich, bei der Küche kann man kaum stehen, ohne daß der Rauch einen beinahe blind macht; dazu viel, recht viel Jammer; ein schöner Teil der Passagiere sehnt sich nach der Heimat zurück, und eine Frau macht ihrem Mann Vorwürfe, weil er zuerst von Amerika geträumt habe. Alle diese kleinen Leiden anderer geben mir Stoff zum Nachdenken. Die Wellen, die das Meer wirft, habe ich mir nie so groß vorgestellt, unsere Arche bückt und krümmt sich wie der untertänigste Diener. Alle Kisten, Koffer etc. müssen im Zwischendeck fest angebunden werden, und ich bin unschlüssig, ob ich mich für diese Nacht nicht auch anbinden lassen soll. 3. April. Dies war eine flotte Nacht; dreimal habe ich mich in meinem Bett von Kopf Zu Fuß und von Fuß zu Kopf gedreht, je nachdem die Segel standen und das Schiff auf die eine oder andere Seite schwankte. Kisten, Kochgeschirre rasselten herum, wie. wenn der jüngste Tag nahe wäre; von Kindergeschrei will ich gar nicht mehr reden, an das bin ich bereits gewöhnt wie eine Mutter von zehn Kindern. Mein kleiner Holsteiner Matrose, der in solchen Fällen mein Berater ist, sagte mir diesen Morgen, als ich ihn mit Kognak erquickte, wir hätten eine schlimme Nacht hinter uns, da wir den Küsten immer noch nahe und diesem Winde niemals zu trauen sei. Der Kapitän befahl heute, daß Gesunde und Kranke aufs Verdeck müßten, um frische Luft zu schöpfen, und unser Verdeck gleicht jetzt einem Lazarett. Alte Weiber, junge Männer, Kinder sitzen da und blasen Trübsal. Sechs junge rüstige Leute aus meiner Heimat und einige andere, die mich jetzt am meisten ansprechen, lächeln mit mir über die vielen Bleichgesichter, worunter es welche gibt, die wir 9
bis jetzt noch gar nicht erblickt hatten. Am Nachmittag wurden die Kranken von einer Welle überschüttet. Schlegel und ich, die wir jetzt einzig für uns gekocht hatten, vereinigten heute unsere Lebensmittel mit denen des Herrn Fasnacht, und wir werden nun gemeinschaftliche Küche machen. Die Tischvereinigung wurde bei einer Flasche Wein gefeiert. 4. April. Die großartige Reinigung im Zwischendeck nahm heute den ganzen Morgen weg; gut ist's aber, daß man Putz gehalten hat, da wir viele unreinliche Leute unter den Passagieren haben. Sowie übrigens die Seekrankheit etwas nachgelassen und das Wetter sich gebessert haben wird, wird der Kapitän auch in dieser Beziehung energischer auftreten. Unsere Plätze bewähren sich als die angenehmsten, und jeder Auswanderer sollte trachten, diejenigen zwischen dem großen und hinteren Mast zu kriegen; hier hat man Luft durch beide Treppenöffnungen. Somit ist es auch schön hell, währenddem man weiter vorn im Dunkeln hausen muß. Ganz hinten im Schiff wäre es in dieser Beziehung freilich am schönsten, aber da ist man, wie auch ganz vorn, am meisten dem Schaukeln des Schiffes ausgesetzt.
Es ist die Cholera 5. April. Ich bedaure heute besonders, so schlechtes Wetter zu haben, während wir an der spanischen Küste, die sich bei heller Witterung so schön ausnehmen soll, vorbeisegeln. Wie gern würde ich das hügelige Land, das sich unserem Auge darstellt und dem wir so nahe sind, betreten, um mich an dessen Früchten zu laben. Im allgemeinen ist unser Seeleben noch sehr ungeregelt; bald wird früh, bald wird spät aufgestanden, gekocht wird, je nachdem man Platz bei der Küche erhält, und ich sehne mich wirklich außerordentlich nach mehr Ordnung, die erst bei besserem Wetter eingeführt werden wird. Obwohl wir an Spanien vorübersegeln, ist die Temperatur verteufelt unfreundlich und kalt. 6. April. Nachdem ich diesen Morgen noch Studien in der Kindererziehung bei meinem Nachbar, der seine Sprößlinge jeden Morgen beim Frühstück mit Ohrfeigen traktiert, genommen habe, finde ich mich zeitig auf dem Verdeck ein, wo der Kapitän mürrisch seine Se10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2006.12.28 11:33:34 +01'00'
gel beguckt. Seine Miene wird sich wohl mit dem Wind ändern, und sie soll mir fortan als Barometer dienen. Es ist übrigens heute lieblicher als gestern, und wie uns gestern Spanien zur Seite lag, so fahren wir heute an Portugal vorbei. Karfreitag und das schöne Wetter bestimmen die Leute im Laufe des Tages zu sehr verschiedenen Verrichtungen; die einen beten, während die anderen zum erstenmal auf dem Verdeck erscheinen und sich ins Spiel vertiefen. Dieser erste schöne Tag, der zwar auch nicht ganz ohne Regen ablief, brachte neues Leben in unsere zum Teil verzagte Gesellschaft, was sich am Abend erst recht kundgab. Wer Beine hatte, war, als die Sonne am fernen Horizont Abschied nahm, auf dem Verdeck und weidete sich an dem großartigen Schauspiel. Abends spät starb noch ein kleines Kind, das wie die übrigen Verstorbenen sein Grab am Meeresgrund fand. 7. April. Mein Tagebuch gleicht bald einem Leichenanzeiger, denn schon muß es wieder den Tod zweier Personen melden. Ein Franzose, der gestern noch ganz munter Damenbrett spielte, bekam während der Nacht heftige Leibschmerzen und erlag, als man ihn gegen Morgen noch auf das Verdeck transportierte, in wenigen Stunden fürchterlichen Krämpfen. Unser Kapitän und Herr Roberto aus Frankreich, der Hauptmann in Algier war und etwas Medizin zu verstehen scheint, glauben, der Verstorbene habe einen CholeraAnfall gehabt. Mit diesem Franzosen wird eine Frau, die einer ähnlichen Krankheit erlegen ist, ins Meer geworfen; ihnen folgt auch ihr Bettzeug nach. Zwei Kinder ringen noch mit dem Tode auf dem Verdeck und werden wahrscheinlich gegen Abend auch im kühlen Grunde schlafen. Der Kapitän gibt sich, seitdem die Krankheit bei vielen eine ernsthafte Richtung annimmt, alle erdenkliche Mühe um die Patienten, ist aber bei bestem Willen sehr beschränkt mit medizinischen Hilfsmitteln, da er sich auf so außerordentliche Fälle begreiflicherweise nicht vorgesehen hat. Fortwährend haben wir schlechten Wind, und scherzweise bemerkt heute der Kapitän, die Barte müssen herunter, bevor der Wind besser werde. Etwas gezwungen lehrt heute der Wind viele Leute Anstand und führt ihnen die Kappe vom Kopf; nicht weniger als fünf Opfer forderte die Höflichkeit, und die Fische werden sich dieser Kopfbedeckungen freuen. 11
8. April. Statt mit Ostereiern beschenkt uns heute der Himmel mit besserem Wind, eine willkommene Erscheinung, nachdem wir bereits zwei Wochen wie die Schnecken vorgerückt waren. Viele ziehen sich heute festtäglich an, und man könnte glauben, es wäre auf eine Landpartie abgesehen; stau anderer Kleider nehme ich eine feierliche Miene an, lasse statt Kartoffeln Maccäroni mit Käse kochen, wozu eine Flasche Wein trefflich mundet.
Aul dem Zwischendeck. 12
9. April. Der Wind hält gut an, wir legen in einer Stunde deren drei zurück und sind dabei guter Dinge. Ein Glühwein vereinigt uns am Abend auf dem Verdeck, es ertönte im traulichen Kreise manches Hoch; dasjenige, das der lieben fernen Heimat gilt, war wohl das feurigste. 10. April. „Charlesmagne" eilt davon, wie wenn er Flügel erhalten hätte; eile nur zu, noch haben wir weit zum Ziel! Die Leute fangen nach und nach an, einander besser zu verstehen, alles wird geselliger, das beweist der heutige Abend. Man singt, man pfeift, musiziert und legt sich am Ende seelenvergnügt auf seinen Strohsack, auf dem man allmählich ausgezeichnet schläft. 11. April. Unser Schnellsegler scheint sich gestern allzu stark ermüdet zu haben und sich nun heute der Ruhe zu freuen, denn er steht total still. Das Meer ist ruhig und klar wie ein Spiegel. Das ist fürs Auge wohl eine hübsche Abwechslung, aber sie ist wenig erwünscht. Streitigkeiten beim Kochen und andere Unannehmlichkeiten machen es notwendig, aus der Mitte der Passagiere einige Männer mit der Handhabung der Ordnung zu beauftragen; zur Wahl dieser Deputierten verlangt der Kapitän sämtliche Männer aufs Verdeck. Mit einer Würde, wie wenn es zur Präsidentenwahl in Frankreich ginge, finden wir uns oben ein, wo der Kapitän sechs auswählte, die fürderhin für Reinlichkeit zu sorgen haben, und so gibt es nun Küchen-, Abtritt- und Zwischendeck-Kommissionen. Diese Wahlen gaben Anlaß zu manchem Witz, wozu das gewählte Präsidentlein, ein kleines eingebildetes Männlein vom Main, den meisten Stoff lieferte; mit Sorgen beginnt eine geregelte Lebensweise. Ein Barbier aus Mainz, der sich jetzt Doktor nennen läßt, schlägt nachmittags seine Barbierstube auf dem Verdeck auf, grausam wird mit den Barten verfahren. Das Leben auf dem Schiff erhält täglich einen neuen Reiz; man findet immer Zerstreuung unter der Masse Leute; ich unterhalte mich am meisten mit den Landsleuten, schließe mich aber auch von der übrigen Gesellschaft nicht aus und bin überall dabei, wo es etwas zu lachen gibt. — Am Abend nahm das Meer wieder eine Leiche auf. 12. April. Nach der gestrigen Windstille marschieren wir heute im Sturmschritt, und „Charlesmagne" läuft viel schneller, nicht verge13
bens flattern aber auch zwanzig Segel in der Luft. Nur schade, daß dieser herrliche Morgen wieder durch zwei Todesfälle getrübt werden mußte. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß die Cholera auf unserem Schiff herrscht, eine bedenkliche Erscheinung bei Ermangelung eines Arztes, der Medikamente und bei der schlechten Verpflegung, die man den armen Kranken hier zukommen lassen muß und mit dem besten Willen nicht leicht verbessern kann. 13. April. Als ein kleiner Ersatz der vielen Toten, die wir bisher hatten, bescherte uns der Himmel diese Nacht einen neuen Weltbürger; eine Frau aus Bayern hat ein Mädchen geboren, Mutter und Tochter befinden sich wohl, und das Kind unseres „Charlesmagne" scheint sich schon der warmen Sonne zu freuen.
Madeira Endlich haben wir eine regelmäßige Ordnung auf dem Schiff, und zwar wird fortan um 5 Uhr aufgestanden, dann vor der Bettstelle gereinigt und sich mit Meerwasser tüchtig gewaschen. Um 7 Uhr kommt der Steuermann und schaut, ob alles reinlich ist. Ist das der Fall, so wird das Wasser ausgeteilt; jede Person erhält pro Tag 2 Liter oder 6 Schoppen, nachher wird angefeuert, und an dem einen Tag von den Passagieren im hinteren Schiff und dem anderen von denen im Vorderteil des Schiffes zuerst gekocht. Jede Seite hat ihre eigene Küche. Ich komme in der Regel um 9 Uhr morgens, 12 Uhr mittags und 5 Uhr abends oder solange dann Feuer da ist, zum Kochen. Eine Reis- oder Kartoffelsuppe und ein Gläschen Kognak sind mein Frühstück; Speck, Brotschnitten, Kartoffeln, Maccaroni oder auch nur Suppe sind die Speisen des Mittags, nach Tisch wird der schwarze Kaffee zu zwölf gemeinsam genommen. Die Kaffeezeit ist immer eine der gemütlichsten; eine Suppe oder Überbleibsel vom Mittagsmahl machen das Abendessen aus, eine Flasche Wein schließt die Bedürfnisse des Tages. Alles ginge nun seinen schönen Gang, und es fehlt uns nichts als anhaltend guter Wind, und daß uns der Himmel mit Kranken und Toten verschone; Seekranke haben wir sozusagen keine mehr, aber die Cholera macht immer noch Fortschritte, und schon wieder trägt man einen Mann von 50 Jahren aufs Verdeck, den die frische Luft wahrscheinlich nicht kurieren wird. 14
14. April. Vor 5 Uhr machte heute der Untersteuermann die Runde im Zwischendeck und hieß die Leute aufstehen, damit recht früh die frische Luft hinunterkomme. Unser Untersteuermann ist ein Prachtkerl, stark und groß, mit schön gelockten schwarzen Haaren, dabei ein kreuzfideler Seeheld, der alle Mädchen auf dem Schiff englisch lehren will. Es gibt viel Witz, wenn er so des Morgens die Runde um die Bettstellen macht und hie und da einen beim Bein zupft; reicht man ihm dann ein Glas Schnaps, ist er so gefällig und schlägt es nicht aus. Mir wird heute ein besonderes Amt zuteil; Herr Roberti, der sich der leidenden Menschheit fortwährend sehr annimmt, ersucht mich, ihm den Dolmetscher zu machen, und so begleite ich ihn von einem Kranken zum anderen. Es sind deren nicht weniger als zehn auf dem Verdeck, darunter Kinder. Abends, wenn die Kranken wieder im Zwischendeck sind, herrscht reges Leben auf dem Verdeck; ich wünsche nur, Ihr könntet euch hie und da überzeugen, wie man sich auch draußen, auf offener See, recht wohl befinden kann. Wir singen unsere heimatlichen Lieder. Die Matrosen knüpfen Liebschaften an, und somit bietet alles ein buntes Leben dar. Hat sich später die Menge verlaufen, dann suche ich gern noch ein einsames Plätzchen auf: So sitze ich auch heute, also am Samstagabend, ganz vorn an der Spitze des Schiffes und bewundere die vom Mond so schön beleuchtete ruhige Meeresfläche. Die Passagiere sind längst zur Ruhe, und es ist ganz still auf dem Verdeck. Man hört nur die Matrosen, die gerade auf der Wache sind, sich langsam hin und her bewegen. 15. April. Ein herrlicher Sonntagmorgen rief mich früh aus dem struppigen Gefieder, ein gutes Lüftchen durchzieht die Segel, und das Thermometer zeigt 16 Grad Wärme an, eine Temperatur, die etwas Schweiß kostet. Heute wird wieder einmal nach heimatlicher, sonntäglicher Sitte gelebt; zum Frühstück Kaffee, mittags schmekken eine kräftige Reissuppe, Klöße, Speck mit einer Flasche Wein, und nach dem Essen finde ich mich auf dem Verdeck zum schwarzen Kaffee ein. Da lagern wir uns nun vergnügt und zufrieden herum, spielen Karten, verschmerzen leicht alle Gefahren der Seereise und vergessen gern, daß eine schaurige Pest unserem Leben so schnell ein Ende bereiten kann. 15
Als wir des Nachmittags ein Schläfchen machen, ertönt plötzlich die freudige Nachricht, man sehe die Insel Madeira, wie elektrisierend wirkte diese Kunde auf die Passagiere. Alles strömte herbei und begrüßte die schöne Insel, die nur etwa sieben englische Seemeilen . oder zweieinhalb Stunden von uns entfernt war und bei diesem wunderbaren Wetter mit ihren Fruchtwäldern, Leuchttürmen, Hügeln etc. einen Prachtausblick gewährte. Könnten wir diesen Abend auf der Insel zubringen! Die Sehnsucht nach dem Lande wird erst groß, nachdem man wieder einmal Land gesehen hat. Da wir auf ein Gläschen Madeira verzichten müssen, so dampft ein Glühwein für uns auf dem Feuer zum Schluß dieses angenehm verlebten Tages, der, den Tod eines Kindes ausgenommen, ohne Störung der Freude ' gewidmet werden konnte. Aussichten auf ein Gewitter führen uns etwas früh dem Schlafgott in die Arme, nachdem ich vorher noch J das Leuchten des Meeres bewundert hatte. Es ist, wie wenn lauter Sterne im Meere glänzten. Dieses herrliche Leuchten soll von Insekten, die im Meere hausen, nach anderen aber von der Elektrizität kommen.
Die Vorräte werden knapp 16. April. Unsere Aussichten auf ein Gewitter waren grundlos, und früh treibt uns die drückende Hitze aus unserem Verlies in die frische Luft; die Wärme nimmt täglich zu, heute haben wir schon 20 Grad, und wir legen allmählich unsere Winterkleider ab, obwohl man sich vor Erkältung sehr in acht nehmen muß, da es gegen Abend immer bedeutend kühler wird. Die Kleider nimmt's auf dem Schiff schrecklich her, namentlich die Stiefel, die vom Meerwasser ganz aufspringen; ich trage daher immer die gleichen, obwohl sie ganz offen und zerrissen sind. Abermals hat sich ein Sterblicher zu eng im Schiffsraum befunden und ist der Ewigkeit zugegangen, die Krankheit ist immer die gleiche. — 17. April. Die Arche Noah war diese Nacht in Gefahr, durch die Sündflut ersäuft zu werden; alle Insassen wurden durch einen furchtbaren Regenguß, aus dem Schlafe gestört, und da die Treppenöffnungen, die ins Zwischendeck führen, nicht schnell genug geschlossen wurden, strömte der Regen hinunter, und im gleichen Augenblick
J
Abendstunde unter Deck (nach einem Szenenbild in den Sammlungen des Deutschen Museums, München;. standen die Koffer und Bettstellen im Wasser. Jeder kroch aus dem Bett, neugierig, woher das viele Wasser komme. Am Tage ist der Regen einem schönen klaren Himmel gewichen, und es ist brütend heiß, wo man steht und geht. Bei 24 Grad Wärme stehe ich beim stärksten Feuer und koche eine Mehlsuppe; mag sie wohl knollig werden? Der Nachmittag brachte uns einen sehr interessanten Anblick: In weiter Ferne sahen wir, wie sich eine dunkle Masse im Wasser bewegte, die sich bald etwas näherte, bis wir zum allgemeinen Erstaunen einen Walfisch unterscheiden konnten; er blieb bis gegen Abend in unserer Nähe. Eine betrübliche Bemerkung mußte ich heute in meinem Lebensmittel-Vorrat machen, daß nämlich aller Zucker verbraucht ist. Müßte ich die Seereise wieder machen, ich würde mich in mancher ßezie17
hung anders einrichten. Man sollte sich namentlich mit Zucker, dürren Früchten, Mehlspeisen, Reis und Gerste etc. versehen. Das Wasser, das man erhält, ist natürlich mit jedem Tage schlediter, und ohne Zucker sollte man gar keines trinken; wir vermischen es meistens mit Essig, Wein und etwas Branntwein. Der Durst nimmt ungemein zu, wenn man sich der heißen Zone nähert. 18. April. Auch der Vorrat meiner Freunde ist erschöpft, und so trösten wir uns zusammen und sind fidel. Immer besser, Kaffee ohne Zucker trinken, als über Bord geworfen zu werden wie das Kind, das vor einer Stunde gestorben ist. 19. April. Wie mir unser wackerer Kapitän, den ich täglich höher schätze, gestern prophezeite, sind mit heute die Passatwinde eingetreten, die etwa 20 Tage halten und uns eine schöne Strecke weiterbringen können. Stolz wehen achtzehn volle Segel; Fische, namentlich sogenannte Meerschweine, die etwa fünf Fuß lang sind und deren Kopf wie der eines Schweines geformt ist, sehen wir heute eine Menge; es ist possierlich, wie sie über das Wasser springen. Mit dem Koch des Kapitäns habe ich es durch Verabreichung von Schnaps bereits soweit gebracht, daß ich jeden Abend, wenn der Kapitän nicht in der Nähe ist, eine Tasse guten Tee mit Syrup in der Küche trinken kann. Ein Stück stark gesalzenes Rindfleisch läßt der Koch hie und da mitlaufen. Unsere Matrosen zeigen sich als manierliche Leute, die namentlich gegen die Evaskinder sehr zuvorkommend sind. Auf Schnaps und Wein sind sie sehr versessen, und oft schleichen sie ins Zwischendeck zu jenen Passagieren, wo sie wissen, daß etwas erhältlich ist. 20. April. Es scheint der heutige Tag dem Handel oder eigentlich dem Wucher gewidmet zu sein; mit Mühe konnte ich noch etwas Zucker und Rum kaufen. Meine Freunde machen auch noch etwelche Einkäufe, und man hat Gelegenheit, alles mit enormen Preisen bezahlen zu können. Leicht hätte einer die Überfahrt verdienen können, wenn er Wein, Zucker etc. in größerem Vorrat mitgenommen hätte. Die Vorräte werden täglich knapper.
Der unerbittliche Tod 21. April. Diese Nacht sollen wir 50 Stunden gemacht haben, und fortwährend eilt „Charlesmagne" wie eine Kugel aus dem Rohr. Übrigens sollen wir im ganzen erst ein Drittel unserer Reise zurück18
gelegt und jetzt bei anhaltend günstigem Wind noch 24 — 30 Tage nach New-Orleans zu fahren haben. Die Cholera läßt uns keine Ruhe; eine Mutter von fünf Kindern, deren Mann ebenfalls sehr krank ist, verschied diesen Morgen, nachdem sie während der Nacht noch ihren Mann gepflegt hatte. Würde uns diese fürchterliche Pest in Ruhe lassen, so wäre unser Leben recht heiter; man hat immer Zerstreuung, und ist man gern einsam, so setzt man sich in einen Winkel, denkt an die Vergangenheit und malt sich die Zukunft aus. So verfließen die Tage und die Abende, und es ist einem bald, wie wenn es immer so bleiben müßte. 22. April. Ein Sonntag, wie ich mir keinen mehr wünsche, war der heutige. Die Cholera, die bis jetzt nicht in die Reihen meiner Freunde gegriffen hatte, packte heute eine Frau, die in unserem Abteil schläft; und als man beschäftigt war, sie aufs Verdeck zu tragen, um sie frische Luft genießen zu lassen, fiel auch ihre Tochter in Ohnmacht, und man glaubte, das Mädchen werde augenblicklich eine Beute des Todes werden. Wir alle, von denen ja bei den Fortschritten, die die Cholera macht, keiner sicher ist, wie bald er der Hilfe bedarf, sind werktätig bei der Hand und helfen dem betrübten Gatten, der seine 60 Jahre zählt, tatkräftig aus. Der Kapitän läßt die Tochter zur besseren Besorgung in die Kajüte bringen, und wohl nur der ausgezeichneten Pflege hat sie ihr Leben zu verdanken. Welch ängstliche Stimmung bemächtigt sich heute aller Gemüter, wenn man sieht, wie der unerbittliche Tod ein Opfer nach dem anderen aus unserer Reihe holt und wohl bei jedem der Sensenmann anklopfen kann. 23. April. Wir haben diese Nacht abwechselnd bei unseren Kranken gewacht; die Tochter hat sich etwas erholt, hingegen die Mutter liegt rettungslos da. „Diese Woche fängt schlimm an", sagte mir der Holsteiner Matrose, als er diesen Morgen kam, um Steine aus dem Kielraum zu holen für einen Franzosen, der diese Nacht den anderen Kranken vorangeeilt ist. Der Verstorbene, der ein recht ordentlicher Mann war, hinterläßt eine trostlose wackere Frau mit zwei Kindern. Ihrer Stütze beraubt, jammerte diese gute Frau entsetzlich. Die Stunden gehen heute in unserem Sterbehaus langsam, und auf den Abend war uns neuer Schrecken bereitet. Ein junger Landsmann klagte gegen Abend über Leibschmerzen und legte sich 19
früh zu Bett, worin er nicht lange lag, als er in heftige Zuckungen verfiel; man öffnete ihm schnei! eine Ader. Ich hielt das Becken und wurde ganz mit Blut bespritzt. Zu unserer Freude sahen wir, wie unser Freund sich nach und nach erholte, nachdem wir ihn bereits hoffnungslos geglaubt hatten. 24. April. Unsere Nachbarin und ein Maler aus Deutschland sind diese Nacht von ihren Leiden erlöst worden; ich hielt gerade bei der Frau Wache, als sie, kaum kalt geworden, ins Meer geworfen wurde. Wenige Stunden nachher löste uns der Tod von der Wache ab. So düster jedesmal die Stimmung ist, wenn die Gesellschaft durch Sterbefälle verkleinert wird, so schnell kehrt auch jedesmal die Heiterkeit wieder, wenn die Toten im nassen Grabe ruhen. Ich wollte mich heute etwas mit englischen Sprachstudien befassen, mußte aber bald einsehen, daß das auf dem Schiff nicht geht, da zuviel Zerstreuung herrscht. Voll Verdruß werfe ich die Bücher weg und schaue nach den fliegenden Fischen, die sich scharenweise um unser Schiff tummeln. Sie fliegen jedesmal, vom Wasser erhoben, etwa zehn Schritte weit pfeilschnell dahin; dann fahren sie wieder ins Wasser. Sie fliegen in der Regel nur, wenn sie von größeren Fischen bedrängt werden oder dem Schiff zu nahe sind; in beiden Fällen sind die Flügel ihr Rettungsmittel. Dieser Abend war einer der ausgelassensten, den wir bis jetzt auf der „Charlesmagne" erlebten, jeder kramte aus, was er Dummes, sei es im Springen, Purzeln etc etc. wußte, und so gab es die lächerlichsten Auftritte der Welt — trotz des Todes, der unter uns ist. 23. bis 30. April. Es verflossen diese Tage, begünstigt vom besten Wind, schönsten Wetter, guten Humor so schnell, daß ich nicht Zeit fand, etwas niederzuschreiben. Ich vergesse bald, daß ich auf dem Meer bin, so habe ich mich bereits an dieses Leben gewöhnt. Nachdem' wir allesamt, nichts als Hemd und Hosen auf dem Leibe, den Tag über in der Sonnenhitze geschmachtet hatten und die übrigen Passagiere sich in ihre Nester verkrochen, verweilten einige gute Freunde und ich am Abend beim schönen Mondenschein und einem kühlen Lüftchen bis Mitternacht beisammen auf dem Verdeck. Der Morgen trifft mich immer früh an, da der Sonnenaufgang auf dem Meer eine zu großartige Erscheinung ist, als daß ich sie verschlafen könnte. 20
Nach drei Monaten schwerer Fahrt: Land in Sicht! 1. Mal. „Sei mir gegrüßt, du schöner Maientag", hätte ich der ganzen Welt zurufen mögen, als die Sonne am wolkenleeren Horizont aufstieg und das Meer gleichsam vergoldete. Ich hätte springen mögen wie die Sonnenfische, die uns jeden Morgen Kurzweil schaffen; so wohl war mir zu Mute, und mit großer Ruhe und Zuversicht sehe ich meiner Zukunft entgegen. Respektabel heiß wird es allmählich, 24 Grad haben wir heute im Schatten, und die Wärme nimmt von Tag zu Tag zu; hält dieser Wind noch zehn Tage an, so könnten wir am Mississippi sein. 2. Mai. gewährte Ferne ein die Nähe
Der 2. Mai, der dem ersten an Schönheit nicht nachsteht, uns am Morgen einen eigenen Anblick; wir sahen von Schiff daherfliegen, ohne Segel, und erkannten, als wir in kamen, einen verunglückten Dreimaster, dessen Masten 21
gebrochen waren. Leute befanden sich nicht mehr an Bord, die Schaluppen waren losgelassen, nur die Anker hingen noch im Tau und ein Segeltuch schwamm auf dem Verdeck, das etwa 1 Schuh unter Wasser lag. Dieses verunglückte Fahrzeug gewährte einen traurigen Anblick und ließ bei allen einen unangenehmen Eindruck zurück, was wohl begreiflich ist, wenn man sieht, daß man den gleichen Gefahren ausgesetzt ist. Hoffen wir, der „Charlesmagne" bringe uns gesund an unseren Bestimmungsort. 3. Mai. Wie wir gestern. — ich möchte sagen — einen toten Dreimaster sahen, so erblicken wir heute in weiter Ferne einen lebendigen, den wir, nachdem wir lange nichts als Wasser und Himmel gesehen, freudig als Kamerad von „Charlesmagne" bewillkommneten. 4. Mai. Das gestern gesehene Schiff läuft immer noch hinter uns drein und wäre die „Charlesmagne" nicht so schlank und geschmeidig gewachsen, es würde ihn fast überholen. Eine Frau Adlon aus Mainz, die sich bis jetzt aller Kranken ungemein angenommen, bekam diesen Morgen, nachdem sie sich gestern ein wenig unwohl gefühlt, auch einen Choleraanfall; um 11 Uhr mittags fragte ich sie noch, wie es ihr gehe, und um 3 Uhr nachts starb sie auf dem Verdeck, umringt von fünf Kindern und ihrem Gatten und bedauert von der um sie stehenden Menge; um 4 Uhr hatte sie schon ihr weites Grab im Meere gefunden. Ich habe nun bei allen unseren Kranken bemerkt, daß, sowie einer die ersten Anzeichen der Cholera hat, er sogleich schrecklich entstellt aussieht; die Augen und Wangen fallen furchtbar ein, und je nachdem die Krankheit Fortschritte macht, werden die Hände und die übrigen Glieder schwarz. Stirbt einer, so ist dessen Leichnam in wenigen Minuten schwarz. Ein kurioses Leben, das Schiffsleben, während hier eine Familie einer guten Mutter beraubt wird und rings um sie tiefe Trauer herrscht, wird in kleiner Entfernung Karten gespielt und gesungen, als wenn nichts vorgefallen wäre und es zur Schiffsordnung gehörte, daß täglich einer sterben müßte. Nicht vergebens sagt man, man könnte sich am Ende auch ans Henken gewöhnen! 22
Dem Golf von Florida entgegen 5. Mai. Je näher wir dem Ziele rücken, desto größer wird die Sehnsucht danach, und so oft wird jetzt gefragt, wie viele Tage wir noch zu fahren hätten. Viele falsche Berichte über unsere Ankunft in New Orleans kommen unter die Passagiere. Es wird gewöhnlich eine längere Fahrzeit angegeben, damit die Leute mit den Lebensmitteln besser haushalten. 6. Mai. Die Sonne versprach uns bei ihrem Aufgang am heutigen schönen Sonntagmorgen einen vergnügten Tag, und sie hat auch Wort gehalten; denn wer beschreibt wohl unser Entzücken, als wir gegen Mittag in kleiner Entfernung die Insel Abaco vor uns sahen; Freudentränen erglänzten auf manchem Gesicht. Nun wußten wir, daß wir bald in den Golf von Mexiko und ans Ende unserer Seereise kommen müßten. Wir fuhren nachmittags so nahe an der Insel vorbei, daß wir alles genau unterscheiden konnten. Sie scheint sehr lang, aber schmal zu sein und soll mit einigen anderen nahegelegenen kleinen Inseln etwa 11 000 Einwohner zählen und viele Südfrüchte liefern. Um das Maß der Freude vollzumachen, fuhr mittags ein Dreimaster in kleiner Entfernung an uns vorüber, und man begrüßte sich gegenseitig mit den Hüten. 7. Mai. Wir haben eine der interessantesten, aber auch gefährlichsten Nächte glücklich hinter uns; gestern nacht erreichten wir nämlich die große Bahama-Bank, die etwa 35 Stunden breit und 75 Stunden lang ist. Da der Kapitän dem Wind gut traute und die Nacht ganz hell war, so fuhr er, statt einen Umweg von 30 Stunden zu machen, mitten über die Bank. Ich weilte bis nach Mitternacht beim Kapitän, der unaufhörlich das Senkblei auswerfen ließ und mir zeigte, wie nun das Meer eine ganz weiße Farbe angenommen habe und nicht tiefer als 17 englische Fuß sei, während „Charlesmagne" bereits 16 Fuß tief im Wasser gehe. Es schauderte mir bei dem Gedanken, mit welcher Kraft unser Schiff, das im stärksten Lauf war, hier auffahren könnte. Der Kapitän erzählte mir, wie schon oft Schiffe 8 bis 14 Tage hier steckengeblieben seien, bis andere Schiffe sie erlösten. Die Bank soll aus lauter Tonerde bestehen. Gegen Abend kam ein Zweimasterlein so nahe auf uns zu, daß sich die Kapitäne gegenseitig befragen konnten, woher und wohin die Reise ging. Wir segeln nun dem Golf von Florida zu und können 23
bei günstigem Luftzug bis morgen früh im mexikanischen Meerbusen sein. Alles ist ausgelassen auf dem Schiff, und namentlich einer der Matrosen trägt viel zur Belustigung bei; er ändert sein Kostüm dreibis viermal, schwärzt sein Gesicht und küßt dann die Mädels, so daß es die tollsten Auftritte gibt. Ein schmächtiges Französlein, das Lust nach schöner Aussicht hatte, stieg auf den großen Mastbaum; schnell war unser Pierrot da, band die Taue fest und ließ den Mann droben zappeln, bis er einen Taler unter die Matrosen fliegen ließ. Schöner als heute habe ich die Sonne nie untergehen und den vollen Mond aufstehen sehen! 8. Mai. Auf Flügeln rücken wir unserem neuen „Vaterlande" näher; vielleicht für manchen früh genug, wie viele werden sich in den Erwartungen getäuscht sehen und statt dem erhofften Glück ihrem Elend entgegengehen!
Wir sehen Land 9. Mai. Der Golf von Florida ist passiert, und wir liegen in aller Stille am mexikanischen Meerbusen, denn es weht kein Lüftchen, und nur eine Masse Fische bringt etwas Leben in das Wasser. Eine entsetzliche Hitze ist heute, wir haben nicht weniger als 28 Grad; ich habe bereits einen amerikanischen Teint angenommen. Schiffe sehen wir heute eine Menge, und könnten wir, wie der Heilige Christoffel, übers Meer laufen, so würde man einander gegenseitig besuchen. Unsere Hoffnung, am Freitagabend am Mississippi zu sein, von wo aus wir dann in einem Dampfschiff in zwei Tagen nach New Orleans geschleppt werden, ist nun vereitelt. Also Geduld, obwohl Wein, Kognak, Eier etc. verbraucht sind und man auf Kartoffeln, Zwieback und Reis beschränkt ist. Mit heute sind es sechs Wochen, daß wir uns dem Neptun, der es noch ziemlich gnädig mit uns gemeint hat, anvertraut haben. 10. Mai. Die Cholera läßt uns endlich, nachdem sie vorigen Tag noch drei, also im ganzen einundzwanzig Opfer gefordert hat, ein wenig in Ruhe, und seit langer Zeit ist heute der erste Tag, an dem kein Kranker auf dem Verdeck liegt. Wie jeder Tag seine eigene Stimmung hat, so scheint der heutige zum Streiten geschaffen. Einer Prügelei bei der Küche macht der Kapitän, der eine starke Kraft besitzt, in eigener Person ein Ende, indem er die streitenden Par24
teien ziemlich empfindlich auseinanderjagt. Herr Roberti und Herr Eberhardt aus Oppenheim forderten einander auf Pistolen und wollen in New Orleans losgehen. Der eine oder andere wird aber wohl Pech haben; denn ich für mich hätte auch verteufelt wenig Lust, nachdem ich einer Seereise glücklich entronnen, mich einer Dummheit wegen auf Pistolen zu schlagen. Wir müssen diesen Abend wieder einmal in falscher Richtung segeln, und am Himmel hängen rabenschwarze Wolken, die uns Sturm und Gewitter verkündigen; um 7 Uhr hatten wir schon dunkle Nacht, und immer näher und näher kam das Gewitter. 11. Mai. Vergebener Schrecken hat uns gestern geplagt; es trat wohl Wind ein, der uns um 15 Meilen zurückbrachte, aber kein Sturm. Wir werden wohl das Vergnügen haben, noch einige Tage herumzusegeln, denn der Wind ändert sich im Meerbusen sozusagen jede Stunde, und die Segel müssen jeden Augenblick anders gestellt werden. Zwei Vögel, wovon der eine wie ein Kanarienvögelchen und der andere ein Nachtkauz ist, müssen sich zu weit vom Land entfernt haben und fallen nun ermüdet aufs Verdeck nieder; es sind für uns die ersten Amerikaner, die wir begrüßen können, sie sprechen aber ein schlechtes Englisch. 12. und 13. Mai. In Geduld, einer notwendigen Tugend für den Seefahrer, ließen wir diese beiden Tage schwinden und vertrieben uns die Zeit, so gut es, dem Ziel so nahe, noch gehen wollte. 14. Mai. Nach der hellgrünen Farbe, die das Meer angenommen hat, können wir nicht mehr weit vom Mississippi sein, und der Kapitän macht uns Hoffnung, daß wir gegen Abend den Strom erreichen könnten. Solche Berichte verteilen sich jedesmal wie ein Blitzstrahl unter die Leute, und nicht vergebens ging es den ganzen Nachmittag so fröhlich auf dem Verdeck zu. Der Abend brachte uns ein neues Vergnügen; einige Musikanten aus den Passagieren holten ihre Instrumente, der Kapitän ließ das Verdeck bestmöglichst räumen, und bald tanzte alt und jung, wie bei uns an der Kirchweih, obwohl das Schiff ganz schief stand. Es war freilich nicht jene liebe Tanzgesellschaft und jener schöne Damenkranz, der sich vor meiner Abreise bei uns zu Hause einfand, hier versammelt. 15. Mai. Sahen wir uns gestern in unseren Erwartungen getäuscht, so sind wir auch heute wieder die Betrogenen, vom Mississippi ist 25
noch keine Rede. Um unseren gerechten Mißmut zu verbergen, spielen wir bis zum Abend Karten und enden unser nobles Tagewerk erst, als ein kräftiges Gewitter uns auseinandertreibt. Auf Gewitter folgen immer die interessantesten Beleuchtungen auf dem Meere, so auch heute; gegen Osten sieht es aus wie ein Flammenmeer, während es im Westen ganz klar und im Süden rabenschwarz aussieht. Als sich das Gewitter allmählich verzogen hatte, erblickten wir in der Ferne ein Lichtchen und sahen bald nachher auch eine Rauchwolke aufsteigen. Unser Herz pochte, als sich ein Dampfschiff näherte und wir wahrnahmen, daß es ein zum Schleppen der Segelschiffe bestimmter Dampfer sei. Mit Blitzesschnelle fuhr „Yankee", so nannte sich der neue Ankömmling, auf uns zu, und es gewährte einen wunderschönen Anblick, dieses prachtvoll beleuchtete Schiff, auf dem ein harmonisches Glockenspiel je nach der Bewegung der Maschine erklang. Bei der Unterredung feilschten die Kapitäne, um welchen Preis „Yankee" den „Charlesmagne" nach New Orleans schleppen sollte und verstanden sich am Ende zum Preise von 400 Talern. Wir Passagiere waren erst recht froh, als die Matrosen alle Segel einzogen, und sich „Yankee" und „Charlesmagne" in Liebe vermählten. Die neue Ehe scheint mir glücklich zu sein, die beiden Gatten laufen wie Wettrenner nebeneinander, und wir werden nun nicht mehr nach dem Wind, diesem launischen Kameraden, sehen müssen. Um Mitternacht erblicken wir schon den fernen Leuchtturm am Mississippi, und wäre die Nacht freundlicher, ich würde sie auf dem Verdeck zubringen.
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16. Mai. Dem Himmel tausendfachen Dank, wir sehen Land, und I der einzige erhabene Anblick, den ich diesen Morgen habe, entschädigt für hundert Mühseligkeiten der Reise. Es ist unmöglich zu sagen, welchen Eindruck alles, was sich meinen Augen darstellt, auf mich j macht. Nicht weniger als zehn Dampfschiffe kreuzen herum, um Seg- j ler von ihren langen Fahrten zu erlösen; kleinere Fahrzeuge eilen hin und her, vier Dreimaster stehen unter Anker und harren auf Befreiung; einer davon soll seit sechs Wochen im Morast sitzen; im Hintergrund sehen wir die Einmündung des großen Mississippi, Kleine Inseln, Sandbänke, Leuchttürme, Wächterhäuschen und Wälder wechseln bunt durcheinander, und alles gewährt einen unbe26
schreiblich interessanten Anblick. Unser Schiff wurde gegen 6 Uhr auch unter Anker gelassen, und „Yankee" ging auf neue Beute aus, da diese Dampfschiffe oft zwei bis vier Schiffe auf einmal schleppen. Ein Sdiiffslotse kam von einer nahen Insel zu uns gerudert und stieg auf unser Schiff; er wurde da bewundert wie der erste Weiße, der unter die Schwarzen geriet; so machte ein neues Gesicht auf unserem Schiff Aufsehen. Gegen 9 Uhr rückte auch „Charlesmagncs" Gefährte „Yankee" mit einem Zweimaster wieder ein, und nun ging's dem Mississippi zu. Ja, es ist wahr, je weiter wir vorrücken, desto erhabener und belebter ist die Natur. Der Arm des Mississippi, den wir befahren, ist etwa zwei Stunden breit, es ist die sogenannte „Südliche Durchfahrt". Man weiß nicht, soll man seine Augen zuerst auf die üppigen Felder, die schönen Urwälder oder auf die kleinen Häusergruppen richten, die das rechte Ufer zieren. Gegen Nachmittag wurde der Fluß etwas ichmäler, und als wir so ganz nahe dem Ufer fuhren, grüßte mancher Farmer herüber, der gemütlich vor seinem niedlichen Häuschen eine Pfeife sdtmauchte.
New Orleans Die Dampfschiffe auf dem Mississippi haben mit den unseren gar nidits gemein, sie sehen aus, wie wenn auf einem gewöhnlichen Schiffe ein recht großes Haus stünde, dessen ganzer unterer Raum für die Maschine benutzt wird; die Maschinen sind lange nicht so kompliziert wie auf unseren Schiffen, obwohl sie eine weit stärkere Kraft haben; jeder kann da in der Maschine herumlaufen und sie besichtigen. Eine Stiege führt zur Kajüte und in die Zimmer, beide sind aufs eleganteste eingerichtet, und ringsherum führt eine Galerie. Noch eine Stiege weiter geht es aufs Dadi des Schiffes, das eine herrliche Terrasse bildet und wo der Steuermann am Ruder steht. Das Zwischendeck ist bei diesen Schiffen entweder der Maschine oder der Kajüte angebaut und ist in der Regel sehr schlecht eingerichtet. Auf „Yankee" trank ich nach langer Entbehrung wieder einmal ein Glas Bier, das auf die Bewillkommnung des neuen Landes trefflich schmeckte. 17. Mai. Am frühen Morgen bewundere ich die Zuckerplantagen, die abwechselnd mit Wäldern, Wiesen und Kornfeldern an unseren 27
Augen vorüberfliegen. Die Felder werden hier alle von Sklaven bearbeitet, und wir zählen oft in einem einzigen Zuckerfeld fünfzig, sechzig und noch mehr davon; die armen schwarzen Teufel tun mir leid. Zwei Krokodile, deren es nahe am Ufer noch viele geben soll, wurden diesen Morgen von unseren Leuten gesehen. Fuhren wir am heutigen, also am „Auffahrtstage", nicht gen Himmel, so warfen wir doch nachts in einer kleinen Entfernung von New Orleans Anker, und schon sehen wir die Liditer der Stadt blinken, auf deren An- I blick morgen ich sehr gespannt bin. In der sicheren Erwartung, diese Nacht schon in New Orleans zubringen zu können, hatten wir diesen Morgen unsere halbfaulen Matratzen und Kissen über Bord geworfen und haben nun Anlaß, auf den Brettern zu schlafen. 18. Mai. Da liegt sie endlich, die schön angelegte Stadt mit ihren beinahe zweitausend Schiffen. Es dauert nicht lange, so fuhr „Charlesmagne" stolz in die Reihen seiner Brüder; die Matrosen in ihren festtäglichen Kleidern banden ihn fest und zogen, nachdem sie uns „Lebewohl" gesagt, mit Gesang von dannen. Matrosen sind gewöhnlich die ersten, die das Schiff verlassen, sobald das Schiff angebunden ist, sind sie ihres Dienstes entlassen. Makler, Zöllner und andere Gäste fanden sich bald genug ein; ich schenkte keinem Gehör, brachte mein Gepäck in Sicherheit und eilte so schnell wie möglich zur Stadt, die sehr schöne Quartiere, aber im allgemeinen schmutzige Straßen hat; namentlich kann man am Damm herum kaum fortkommen, weshalb auch die meisten Geschäftsleute reiten. Bei einer Wärme von 34 Grad, wie wir sie heute haben, und bei dieser Ausdünstung, die rings um die Stadt und in ihr herrscht, muß man sich freilich nicht wundern, wenn es viele Krankheiten hier gibt. Die Cholera soll noch täglich etwa dreißig Opfer hier kosten, während in den Wintermonaten täglich über hundert ihren Tod fanden'. Etwa tausend Häuser stehen zur Zeit in New Orleans unter Wasser, so stark ist der Mississippi angeschwollen. Baumwolle sieht man in ungeheuren Mengen im Freien herumliegen. Das Leben hier ist billig, so kann man in den Kaffeehäusern für fünf Cents ein Glas Bier oder Wein trinken und von den vielen aufgetragenen Speisen essen, was einem beliebt. Karpf führte mich in der Stadt herum und begleitete mich nachher auf den „Charlesmagne", wo ich erfuhr, daß diesen Abend noch das große Dampf28
boot „Constitution" nach St. Louis abgeht und daß bereits etwa dreißig von unserem Schiff mitfahren werden. Ich schloß mich ihnen an, und wir vereinbarten einen Fahrpreis von 3 Talern bei eigener Verpflegung; das ist beispiellos billig für einen Weg von 1200 englischen Seemeilen. Wir hatten noch einige Lebensmittel anzuschaffen, und um 7 Uhr abends kam die „Constitution" und nahm uns samt unserem Gepäck bei der „Charlesmagne" auf. Ich schied von Karpf und sagte auch unserem lieben Kapitän Fales, dem ich noch meinen Namen in sein Tagebuch schreiben mußte, sowie den Schiffsleuten herzlich Lebewohl. Ein Teil unserer Gesellschaft blieb in New Orleans zurück, wo alle, namentlich die Frauen, schnell Arbeit fanden, andere schifften sich nach Texas, Cincinnati und anderswohin ein, und so stoben diejenigen, die fünfundfünfzig Tage lang Freud und Leid geteilt hatten, auseinander. Die „Constitution" war gepfropft voll mit Einwanderern, und das Zwischendeck war lange nicht so gut eingerichtet wie auf „Charlesmagne"; ich war zuerst willens, die Kajüte zu nehmen, wo es 15 Taler gekostet hätte, aber da keiner meiner Freunde mitging, so mußte ich mich acht Tage mit einem recht schlechten Lager begnügen. Ein Bett wollte ich mir nicht mehr anschaffen, und so schlief ich in meinem Nachtrock, des ewigen Rütteins ungeachtet, ganz prächtig.
Auf dem Mississippi 19. Mai. Inmitten der Zuckerfelder, die beide Ufer des majestätischen Mississippi zieren, stehen niedliche Landhäuser mit schönen Gärten und ringsherum die kleinen Sklavenhäuser, oft zwanzig bis dreißig nebeneinander. Bei einer dieser Plantagen wurden 200 Fässer Zucker eingeladen, und wir hatten während des Aufladens Zeit genug, uns auf der Plantage umzusehen. Neugierde trieb mich zuerst in die Hütten der Sklaven, wo ich von einigen auf Französisch bewillkommnet wurde. Gewöhnlich enthalten diese Häuschen nur ein Zimmer, das als Stube, Schlafkammer und Küche dient und das bei einigen recht reinlich, bei anderen erbärmlicher als bei uns ein Stall gehalten wird. Im Laufe des Tages hatten wir noch oft Gelegenheit, mit den Schwarzen zu verkehren. Ihr müßt keine Furcht haben, daß 29
ich Euch eine schwarze Frau Schwester nach Hause bringe. Wenig gefallen mir die weißen Amerikanerinnen, die auf dem Schiff sind. ! Sie kämmen und putzen sich den ganzen lieben Tag, wie wenn das ihre einzige Bestimmung wäre. Im Zwischendeck haben wir schlechte Gesellschaft, und es heißt gut aufpassen auf seine Sachen, will man 1 nicht bestohlen werden. 20. Mai. Viele, und auch ich, beklagen sich heute über Bauch- i schmerzen, die von dem trüben Mississippiwasser herkommen sollen.] Zu diesem Weh gesellte sich noch ein anderes, das hauptsächlich die Galle in Aufruhr brachte. Wir hatten in New Orleans den Fahrpreis j schriftlich vereinbart und uns auch hinsichtlich des Gepäcks mündlich geeinigt; nun kam diesen Morgen dieser Bube von Kapitän, nahm j uns drei Taler für die Person ab und erhöhte die Preise für die j Kisten auf eine heillose Weise. Ganz nach Willkür ließ er die Leute drei, vier, zehn Taler für eine oder zwei Kisten bezahlen; alle Einwendungen nützten nichts und brachten den Schlingel nur zur Äußerung, er werde diejenigen an Land setzen, die sich weiter wei- j gern sollten, zu bezahlen. Übrigens soll diese Prellerei auf allen Dampfschiffen des Mississippi stattfinden. 21.—26. Mai. So interessant die Fahrt auf dem Mississippi einige Tage ist, so verliert sie sich doch nach und nach ins Einerlei. Wir berühren nacheinander die Staaten Louisiana, Mississippi, Arkansas, Kentucky, Tennessee, und ich habe bis jetzt meine Füße auf jeden dieser Staaten gesetzt. Nach den Zuckerplantagen in Louisiana und Mississippi wechseln Urwälder, kleinere Dörfer und einzelne Farmen miteinander ab. Der Strom macht fortwährend ungeheure Krümmungen und teilt sich oft in Arme, sowie er oft eine enorme Breite annimmt. Die Fahrt auf dem Mississippi ist an Gefahren reich, und es vergeht kein Jahr, wo nicht mehrere Dampfschiffe zugrunde gehen; entweder fahren sie auf und werden in Grund gebohrt, oder es entsteht Unglück durch Fahrlässigkeit mit dem Feuer oder in der Maschine. Mit weit leichterem Herzen würde ich mich einem Segelschiff auf offenem Meere als den Dampfschiffen auf dem Mississippi anvertrauen. Mittwochabend hatten wir einen Beweis für die Leichtfertigkeit der Schiffsleute; ein anderes Dampfschiff, deren man vielen begegnet, war dem unseren nahegekommen, und nun entstand ein 30
Wettstreit, welches dem anderen vorfahren könnte. Auf Kosten des Lebens und Eigentums der Passagiere werden solche Wettrennen veranstaltet; wie verteufelt fuhren diese beiden feuerspeienden Schnellläufer ganz nah nebeneinander, und ich schaute zu den Sternen auf, ob sie wohl auf unsere Ankunft gefaßt seien, falls der Kessel springen sollte. Zur schnelleren Expedition lagen 300 Fässer Pulver im Keller. Zum Glück fuhr unser Schiff vor, was denn auch ein Hohngelächter und Auspfeifen durch unsere Schiffsleute zur Folge hatte. Die Moskitos plagten uns während dieser Tage sehr; jeden Morgen waren meine Hände und mein Gesicht mehr oder weniger zerstochen. Gegen Ende der Woche verließ mich mein Bauchweh, und unser Auge fand nach und nach wieder Ergötzung an dem hügeligen Lande, das die Staaten Missouri und Illinois bieten. Als wir Cairo, ein Städtchen, das aus ein paar alten zu Häusern geformten Dampfschiffen an der Einmündung des Ohio besteht, passiert hatten, nahm das Land allmählich einen mehr europäischen Charakter an; statt Sklaven sah man weiße Ansiedler ihr Feld bebauen, und gern hörten wir am ruhigen Abend das Glockengeläute der grasenden Kühe, das an unser Alpenland erinnerte. Samstag abends, also am Vorabend vor Pfingsten, erfreute uns die Nachricht, daß wir bis morgen mittag endlich St. Louis erreichen werden; wir vernahmen auch, daß die Cholera in St. Louise herrsche und in den letzten Tagen 418 Häuser und 24 Dampfschiffe abgebrannt seien.
Nach drei Monaten endlich am Ziel 27. Mai. Mit dankbarem Gefühl verlasse ich am Pfingstfest mein Lager; während dreier Monate mancher Gefahr und Strapaze ausgesetzt, bin ich nun endlich am Ort meiner Bestimmung angekommen. Nachmittags 2 Uhr erblickten wir von fern die Türme der Stadt St. Louis; hübsch gelegen, nimmt sie sich mit ihren meistens neuen Häusern, Kirchtürmen und der Masse Dampfschiffe recht malerisch und großartig aus. Schade, daß gerade das schöne Viertel am Hafen in Asche liegen muß; schrecklich verwüstet sieht jetzt dieser Teil der Stadt aus; am Ufer liegen Maschinenwerke, Kamine, die einzigen kleinen Überbleibsel der verbrannten 24 Dampfschiffe; in einem dieser Schifte ist auch der Brand entstanden. 31
Um 3 Uhr lag die „Constitution", der ich gern den Abschied gebe, im Hafen, und wir logierten uns in der „Stadt Wien" für 2xli Dollar pro Woche oder Mt Dollar pro Tag ein. Das erste Mal seit dem Monat März lege ich mich heute wieder einmal, nachdem ich mich vorher noch im Kreise fröhlidier Brüder der Ankunft gefreut, auf festem Lande zu Bett. 28. Mai. Ich würde besser geschlafen haben, wenn mich die Wanzen, die hier in den Häusern heimisch sind, in Ruhe gelassen hätten. Ich konnte auch nicht, wie ich es gewünscht hatte, heute nach Highland reisen, daher brachte ich die Zeit mit der Besiditigung der Stadt zu, die mir recht wohl gefällt. Deutsche, Schweizer, Franzosen, Engländer, alles bewegt sich hier bunt durcheinander und rennt seinen Geschäften nach, und aus allem geht hervor, daß St. Louis mit der Zeit eine ungeheure Stadt werden wird. Deutsche Bierhäuser gibt es hier viele, und wir besuchten am selben Abend einige davon. , 29. Mai. Diesen Nachmittag verließ ich St. Louis und fuhr über den Mississippi nach dem Gebiet Illinois, das gegenüber von St. Louis liegt und wo der Postwagen, eine alte Kalesche, die viel kleiner als unsere Posten ist, achtzehn Passagiere samt ihrem Gepäck aufnahm. Vier rüstige Füchse zogen uns trotz der schlechten, holprigen Straße rasch von dannen; durch üppige Felder und Wälder, vorbei an den niedlichen Städtchen Collinsville und Troy, langten wir abends um 10 Uhr in Highland an. Die Sehnsucht nach der mir befreundeten I Familie Rietmann führte mich diesen Abend noch in ihr Haus, wo alles im Schlafe lag, wo aber meine Ankunft wieder reges Leben brachte. Ich wurde auf das herzlichste empfangen. Als am Ziele angelangt, schließt sich mein Tagebuch, und mit mancher Erfahrung bereichert und guten Mutes werde ich nun schauen, wie mir das amerikanische Leben, das in gar vielen Beziehungen voll dem bisher geführten abweicht, behagt. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Fotos: Ullstein-Bilderdienst, Deutsches Museum, München Lux-Lesebogen
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