Daniel J. Siegel
Das achtsame Gehirn Aus dem Amerikanischen von Dr. Ute Weber
Arbor Verlag Freiamt im Schwarzwald
Fü...
583 downloads
2721 Views
4MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Daniel J. Siegel
Das achtsame Gehirn Aus dem Amerikanischen von Dr. Ute Weber
Arbor Verlag Freiamt im Schwarzwald
Für Caroline
Copyright © 2007 by Mind Your Brain, Inc. Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt by arrangement with W. W. Norton & Company, Inc., New York Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2007 der in diesem Buch verwendeten Abbildungen: Seite 58: Daniel J. Siegel und Mary Hartzell 2004, aus: Parentingfrom the inside out, New Your: Penguin Putnam, 2003 — Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen, Arbor Verlag, Freiamt, 2004 Seite 61, 63, 65, 66, 71, 234: Nate Frizell, aus: Louis J. Cozolino, The neuroscience of human relationships, New York: W.W. Norton & Company, Inc., 2006 Seite 437: Sarah Lazar 2007 Korrigierte Neuauflage 2007 Lektorat: Eva Bachmann und Dr. Richard Reschika Gestaltung: Anke Brodersen Druck und Bindung: Wilhelm + Adam, Heusenstamm Dieses Buch wurde auf 1 0 0 % Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig. Weitere Informationen über unser Umweltengagement finden Sie unter www.arbor-verlag.de/umwelt.
www. arbor-verlag. de
ISBN 978-3-936855-88-3
Inhalt
Vorwort Das Bedürfnis Die Herangehensweise Interpersonelle Neurobiologie
I
13 14 16
Geist, Gehirn und Bewusstsein 1 Achtsames Gewahrsein Den Geist in unserem Alltagsleben finden Den Geist definieren Achtsam sein Einige Vorteile Achtsamkeit beim Lernen und im Bildungswesen Achtsames Gewahrsein Das Leben auf Autopilot GOAL und freundliches Gewahrsein Medizinische Anwendungsmöglichkeiten Unterscheidungsvermögen und Auswirkungen auf die geistige Gesundheit Achtsame Lehre und Therapie Warum sprechen wir vom „achtsamen" Gehirn? Zwei Arten des Wissens Achtsamkeit als Beziehung, die Integration fördert
23 24 25 26 26 29 35 36 39 40 42 45 46 49
2 Das Gehirn - Grundlagenwissen Entwicklung Neuroplastizität Das Gehirn in Ihrer Handfläche Neuronale Integration, Achtsamkeit und Selbstregulation Links und rechts „Gehirn" und „Geist"
II
52 54 57 67 72 76
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung 3 Eine Woche in Stille Schweigende Wissenschaftler 4 Leiden und die Ströme des Gewahrseins Auf einem Fuß balancieren Ströme des Gewahrseins Schweigen und Überraschung Der Fluss des Bewusstseins Selbst und Leiden Präsenspartizipien Selbstloses Gewahrsein Zeit, sich einzustimmen Siebzig Mal flüstern
82 100 101 103 105 108 112 114 116 118
III Facetten des achtsamen Gehirns 5 Subjektivität und Wissenschaft Subj ektivitätsstudien Beschreibungen von unmittelbaren Erfahrungen und Gehirnstudien zueinander in Beziehung setzen Achtsamkeit als erlernbare Fähigkeit Selbstsein
124 130 131 134
Selbstregulation Eine Zusammenkunft von Wissenschaftlern Die Exzentrik verstärken
136 138 140
6 Sich die Nabe nutzbar machen Neuronale Dimensionen von Aufmerksamkeit Ein erster Überblick Zustände und Merkmale Das Bewusstseinsrad des Geistes Exekutivfunktion und Selbstregulation
148 156 157 160 166
7 Urteile über Bord werfen Die Wissenschaft des „Von oben nach unten" Die Wissenschaft der Verarbeitung „von unten nach oben" Kortex und Bewusstsein Hierarchische Unterjochungen reduzieren Zugang zum Selbstsein Mögliche neuronale Entsprechungen des Selbstseins Nicht urteilen Worte „von oben" und die Poesie der Achtsamkeit Eine optische Täuschung
176 180 183 189 193 196 203 205 209
8 Innere Einstimmung Ein System, das den Geist spiegelt Spiegelneuronen und Achtsamkeit? Innere Einstimmung Atembewusstsein Aufmerksamkeit auf die Intention Die große Bedeutung der Intention Einige kleine Hinweise Eine Last, die von ihr genommen wurde Neuronale Entsprechungen des Selbst und des Bewusstseins Ankurbelung und die Gegenwart
213 217 221 224 226 228 231 235 236 239
9 Reflektive Kohärenz Konvergenz finden Wissenschaftliche Warnung Kohärenz spüren Integration definieren Integratives Wohlbefinden Integration und zwischenmenschliche Beziehungen Bindung und Erzählung Kohärenz und Kohäsion
241 243 245 249 251 253 255 261
10 Flexibilität des Fühlens Nichtreaktivität Was ist eine Emotion und wie regulieren wir sie? Emotionale Ausgeglichenheit üben Affektiver Stil und Resilienz Annäherung und Rückzug Grundlinienzustände Verschiebung auf die linke Hemisphäre Affektiver Stil und Achtsamkeit Mentales Zur-Kenntnis-Nehmen Links und rechts integrieren
265 266 268 269 272 274 277 280 281 284
11 Reflektives Denken Achtsames Lernen Den rechten und den linken Modus integrieren Warum sich um Ähnlichkeiten und Unterschiede kümmern? Kognitive und affektive „Stile" Wesentliche Merkmale „Seitliches Lernen" und „rechtwinklige Realität" Hierarchische Denkweisen auflösen Ungewissheit annehmen Kontrolle versus ausführendes Organ Reflektives Denken
291 293 295 296 298 304 306 308 309 310
Die Klassifikation zurückstellen Den Reiz des Neuen spüren Die Nabe Achtsame Integration
313 314 316 318
IV Reflektionen über das achtsame Gehirn 12
Den Geist erziehen
Das vierte „R" der Erziehung Der Aufbau reflektiver Fähigkeiten Praktiken des achtsamen Gewahrseins - Landkarten Mit dem Gehirn im Kopf unterrichten Als Lehrer präsent sein
324 327 331 337 341
13 Reflektion in der klinischen Praxis Reflektion aufbauen - die Nabe kultivieren
345
14 Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie Die Rolle der interpersonellen Neurobiologie, um Wohlbefinden zu verstehen und zu fördern Einstimmung „Der Haken mit dem Gehirn" Die Bereiche der neuronalen Integration
359 360 362 363
Nachwort: Reflektionen über die Reflektion Reflektion und Moral Eine reflektive Integration
397 401
Anhang Anhang I
Institutionen, Organisationen, Programme
Anhang II Glossar und Fachbegriffe Abkürzungen von Bezeichnungen der Gehirnbereiche Fachbegriffe
409 413 415 416
Anhang III Neurowissenschaftliche Anmerkungen Die Funktionen des mittleren Präfrontals 420 Lateralität 431 Resonanzschaltkreise und Spiegelneuronen 432 Beziehungen und Achtsamkeit 443 Entwicklungsbezogene Themen 447 Dank Literatur
451 455
Vorwort Ich begrüße Sie zu einer Reise in das Herz unseres Lebens. Es ist wissenschaftlich anerkannt, dass achtsam und bewusst zu sein, sich dem Reichtum und der Fülle unserer Erfahrungen im Hier und Jetzt zu widmen, positive Veränderungen in unserer Physiologie, den Funktionen unseres Geistes und unseren zwischenmenschlichen Beziehungen bewirkt. In unserem Bewusstsein vollständig präsent zu sein eröffnet neue Möglichkeiten des Wohlbefindens in unserem Leben. Nahezu alle Kulturen kennen Praktiken, die Menschen helfen, ein Bewusstsein für den Moment zu entwickeln. Jede der großen Weltreligionen verwendet irgendeine Methode, um Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, von der Meditation bis hin zum Gebet, von Yoga bis hin zu Tai-Chi. Jede dieser Traditionen hat vielleicht ihre ganz eigene Herangehensweise, aber alle verbindet der gemeinsame Wunsch, das Bewusstsein auf eine Weise zu fokussieren, die ihr Leben transformiert. Achtsames Gewahrsein ist ein universelles Ziel, das in vielen menschlichen Kulturen zu finden ist. Auch wenn Achtsamkeit häufig als eine Form der Aufmerksamkeitslenkung angesehen wird, die den eigenen Geist auf die Gegenwart ausrichtet, wird in diesem Buch ein tieferer Blick auf diese Art von Aufmerksamkeit gegeben: Achtsamkeit wird als eine Form der gesunden Beziehung zu sich selbst betrachtet.
12
Vorwort
In meinem Arbeitsbereich, dem Studium zwischenmenschlicher Beziehungen in Familien, verwenden wir das Konzept „Einstimmung", um zu untersuchen, wie eine Person, zum Beispiel ein Vater oder eine Mutter, ihre Aufmerksamkeit auf die innere Welt eines anderen, zum Beispiel diejenige des Kindes, fokussiert. Dieser Fokus auf den Geist einer anderen Person macht sich den neuronalen Schaltkreis zunutze, der es zwei Menschen ermöglicht, sich von dem jeweils anderen „gefühlt zu fühlen". Dieser Zustand ist entscheidend, wenn Menschen sich in Beziehungen dynamisch und lebendig, verstanden und miteinander im Reinen fühlen wollen. Die Forschung hat gezeigt, dass solche eingestimmten Beziehungen Resilienz und Langlebigkeit fördern. Unser Verständnis der Achtsamkeit kann auf diesen Studien der gegenseitigen Einstimmung und der sich selbst regulierenden Funktionen der fokussierten Aufmerksamkeit aufbauen, indem wir davon ausgehen, dass das achtsame Gewahrsein eine Form der Einstimmung auf sich selbst ist. Mit anderen Worten, achtsam zu sein ist ein Weg, sein eigener bester Freund zu werden. Wir werden erforschen, wie Einstimmung das Gehirn dazu veranlassen kann, auf eine Weise zu wachsen, die durch den Prozess der neuronalen Integration eine ausgeglichene Selbstregulation fördert und so Flexibilität und Selbstverstehen ermöglicht. Diese Art, sich „gefühlt zu fühlen", sich mit der Welt verbunden zu fühlen, kann uns helfen, zu verstehen, dass das Eingestimmtsein auf sich selbst die physischen und psychischen Dimensionen des Wohlergehens mithilfe des achtsamen Gewahrseins fördern kann. Wenn wir uns hierzu dem Gehirn zuwenden, können wir die gemeinsamen Mechanismen zwischen diesen beiden Formen der Einstimmung, der auf uns selbst gerichteten oder intrapersonalen und der gegenseitigen, besser erkennen. Indem wir die neuronale Dimension des Funktionierens und ihre mögliche Korrelation mit dem achtsamen Gewahrsein untersuchen, sind wir vielleicht in der Lage, unser Verständnis dessen zu erweitern, warum und wie Achtsamkeit die wissenschaftlich belegten Verbesserungen in der Immunfunktion, ein Gefühl inneren Wohlbefindens und eine Steigerung unserer Fähigkeit, lohnende zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, erzeugt.
Vorwort
13
Ich gehöre keiner bestimmten Tradition des achtsamen Gewahrseins an, noch habe ich eine formelle Ausbildung in Achtsamkeit per se genossen, bevor ich dieses Projekt begonnen habe. In diesem Buch werde ich also unbefangen an die Sache herangehen und nicht nur eine bestimmte Form von Achtsamkeit vorstellen. Es wird eine Erkundung des Gesamtkonzepts von Achtsamkeit sein. Die Achtsamkeit kann durch viele Mittel kultiviert werden, durch Erfahrungen innerhalb eingestimmter Beziehungen, über die Reflektion betonende pädagogische Ansätze bis hin zur formalen Meditation.
Das Bedürfnis Wir brauchen ganz dringend eine neue Art, zu sein - für uns selbst, in unseren Schulen und in unserer Gesellschaft. Unsere moderne Kultur hat sich in letzter Zeit zu einer Welt voller problembehafteter Individuen entwickelt, die unter Entfremdung leiden, mit Schulen, denen es nicht gelingt, ihre Schüler zu inspirieren und sich mit ihnen zu verbinden - kurz gesagt, zu einer Gesellschaft ohne moralischen Wegweiser, der ihnen zu zeigen vermöchte, wie wir in unserer globalen Gemeinschaft voranschreiten können. Ich habe meine eigenen Kinder in einer Welt aufwachsen sehen, in der die Menschen sich immer weiter von den menschlichen Interaktionen entfernt haben, die unser Gehirn zu seiner Entwicklung braucht, die aber nicht länger Teil unserer Erziehungs- und Sozialsysteme sind. Die menschlichen Verbindungen, die uns helfen, unsere neuronalen Verbindungen zu formen, fehlen im modernen Leben auf schmerzliche Weise. Wir verlieren nicht nur die Gelegenheiten, uns aufeinander einzustimmen, sondern haben darüber hinaus durch das hektische Leben, das viele von uns führen, auch nur wenig Zeit, uns auf uns selbst einzustimmen. Als Arzt, Psychiater, Psychotherapeut und Pädagoge hat es mich traurig gemacht und zugleich entsetzt, festzustellen, dass wir selbst in unserer Arbeit als Kliniker von einem festen Gegründetsein in einem gesunden Geist weit entfernt sind.
14
Vorwort
Nachdem ich über 65 000 auf dem Gebiet psychischer Krankheiten Tätige in Hörsälen rund um die Welt von Angesicht zu Angesicht gefragt habe, ob sie je einen Kurs zum Thema Geist oder geistige Gesundheit besucht hätten, antworteten 95 Prozent mit Nein. Was haben wir dann praktiziert? Ist es nicht an der Zeit, dass wir uns des Geistes selbst bewusst werden, statt bloß Symptome von Krankheiten ins Blickfeld zu rücken? Ein auf Erfahrung basierendes Verständnis des Geistes zu kultivieren ist ein direkter Fokus achtsamen Gewahrseins. - So lernen wir nicht nur unseren eigenen Geist kennen, sondern nehmen die inneren Welten und den Geist anderer mit Güte und Mitgefühl an. Es ist meine tiefste Hoffnung, dass wir, indem wir einander helfen, uns auf unseren Geist einzustimmen, uns selbst und unsere Kultur über die vielen automatischen Reflexe hinaustragen können, die unsere menschliche Gemeinschaft auf so destruktive Pfade geführt haben. Wir Menschen besitzen ein riesiges Potenzial an Mitgefühl und Empathie. Dieses Potenzial zu verwirklichen mag in dieser schwierigen Zeit nicht einfach sein, kann aber auch unmittelbar dazu führen, uns auf uns selbst einzustimmen - auf einen Geist, eine Beziehung, einen Moment nach dem anderen.
Die Herangehensweise Achtsamkeit ist eine sehr wichtige, stärkende persönliche innere Erfahrung. Dieses Buch möchte persönliche Wege des Wissens mit äußeren, wissenschaftlichen Sichtweisen über das Wesen des Geistes verbinden. Angesichts dieser Herausforderung habe ich mich darangemacht, die subjektive Wissenschaft des achtsamen Gewahrseins zu integrieren und gleichzeitig objektive Analysen der unmittelbaren Sinneserfahrung und Forschungsergebnisse anzubieten sowie aufzuzeigen, wie diese Erfahrungen, Ideen und Forschungsergebnisse praktisch angewandt werden können. Klarheit über diese verschiedenen Wege des Wissens zu haben ist bei unserem Vorgehen äußerst wichtig - subjektive Erfahrung, Wis-
Vorwort
15
senschaft und professionelle Anwendungen sind drei gesonderte Einheiten im Rahmen des gesammelten Wissens, und wir werden sie als eigenständige Dimensionen der Realität beibehalten müssen, damit dieses integrative Bemühen gültig und von Nutzen sein kann. Eine vorzeitige Vermischung dieser drei Elemente kann zu falschen Schlussfolgerungen über Subjektivität, zu wissenschaftlichen Fehlinterpretationen und zu falschen Anwendungen dieser Ideen in der klinischen Praxis und im Erziehungswesen führen. Wir stellen diese Ideen, Erfahrungen und Forschungsergebnisse also zuerst vor und werden dann bereit sein, ihre Synthese „sauber" anzuwenden auf die wichtige Arbeit, anderen Menschen dabei zu helfen, zu lernen, zu wachsen und ihr Leiden zu lindern. Wenn wir sie zu schnell vermischen, um „zum Praktischen" zu gelangen, dann laufen wir Gefahr, die Wege zu verwechseln, auf denen wir dazu gelangt sind, unsere Vision des Geistes und des Augenblicks zu verwirklichen. Um diese angestrebte Klarheit zu erreichen, ist dieses Buch in vier Teile gegliedert. Im einführenden Teil wird ein Überblick über das achtsame Gewahrsein gegeben, und es wird untersucht, warum es von Nutzen ist, sich dem Gehirn zuzuwenden, wenn man das Wesen des Geistes selbst erhellen möchte. Im zweiten Teil werden wir direkte Erfahrungen erforschen und die Unmittelbarkeit des Moments sehen, auf die die retrospektive Analyse anderer nur von weitem verweisen kann. Der Sinn und Zweck dieser praxisorientierten Kapitel besteht darin, die Essenz der Achtsamkeit zu erforschen und das, was dieser im Wege steht und uns davon abhalten könnte, in unserem Leben präsent zu sein. Wir werden erforschen, wie diese Form, bewusst zu sein, durch absichtsvolles Training erreicht werden kann, durch das der Geist von automatischen Einmischungen befreit wird. Im dritten Teil erforschen wir verschiedene Facetten des achtsamen Gehirns, die sich aus diesem erfahrungsbezogenen Sichversenken sowie aus den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Literatur und der Fachliteratur ergeben. Wir werden die Lektionen, die aus der direkten Erfahrung gewonnen wurden, mit einem Überblick über jene Forschungsarbeiten kombinieren, die es bereits über das Gehirn und das Wesen des Geistes gibt. Mit dieser Synthese wird
16
Vorwort
der Versuch unternommen, die subjektiven und objektiven Dimensionen, unser Leben zu verstehen, miteinander zu verweben. Im vierten Teil werden wir noch intensiver über die Implikationen und Anwendungsmöglichkeiten dieser Perspektiven des achtsamen Gehirns für Bildung und Erziehung, für die klinische Arbeit und für die Psychotherapie nachdenken. Diese Anwendungsmöglichkeiten werden auf dem Vorhergehenden insofern aufbauen, als wir Subjektivität und Wissenschaft mit praktischen Anwendungsmöglichkeiten im täglichen Leben verbinden. In diesem Teil werden einige vorläufige Ideen dazu angeboten, wie man diese Konzepte der inneren Einstimmung in die praktische, tagtägliche Verwendung des achtsamen Gewahrseins in unseren professionellen und persönlichen Bemühungen integrieren könnte.
Interpersonelle Neurobiologie Bis ins Tiefste zu verstehen, wie Beziehungen dazu beitragen, unser Leben und unser Gehirn zu formen, ist eine Leidenschaft, die mein Berufsleben geprägt hat. Seit Beginn der neunziger Jahre war ich an dem Bemühen beteiligt, einen interdisziplinären Überblick über die Natur des Geistes und der geistigen Gesundheit zu schaffen (Siegel 1999). Die Perspektive der interpersonellen Neurobiologie umfasst eine stattliche Bandbreite an Wissen, vom breiten Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen bis zu den expressiven Künsten und zur kontemplativen Praxis. Wir werden die Grundprinzipien dieses Ansatzes auf unsere Erforschung des achtsamen Gewahrseins anwenden. Die interpersonelle Neurobiologie integriert Wissen aus einer Reihe von Disziplinen, um die gemeinsamen Charakteristika dieser unabhängigen Wissensbereiche zu finden. Ganz ähnlich wie in der Fabel von den blinden Männern und dem Elefanten untersucht jede Disziplin lediglich einen naturgemäß begrenzten Bereich des Elefanten (bzw. der Realität), um jene Dimension in der Tiefe und im Detail kennen zu lernen. Um jedoch das Gesamtbild zu sehen und ein Gefühl für den ganzen Elefanten zu bekommen, ist es unerlässlich,
Vorwort
17
verschiedene Bereiche zusammenzubringen. Auch wenn nicht jeder Blinde der „Sichtweise" des jeweils anderen zustimmen mag, so leistet doch jeder einen wichtigen Beitrag dazu, einen Sinn aus dem Ganzen zu konstruieren. Und deshalb werden wir diesen integrativen Ansatz verwenden, um verschiedene Wege des Wissens zusammenzubringen und so das Phänomen Achtsamkeit auf eine vielleicht umfassendere Weise zu verstehen, als eine einzelne Perspektive das erlauben würde. Um eine Grundlage zu schaffen, werden wir also versuchen, persönliches Wissen mit wissenschaftlichen Standpunkten zu verbinden. Über diese wichtige Vermählung von Subjektivem und Objektivem hinaus werden wir Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft mit solchen aus der Bindungsforschung verknüpfen. Diese Herangehensweise lässt uns beobachten, wie der grundlegende Prozess der Einstimmung im Zustand zwischenmenschlicher Resonanz und in der vorgeschlagenen Form der intrapersonalen Einstimmung mittels Achtsamkeit im Gehirn funktionieren könnte. Dass wir uns dem Gehirn und Bindungsstudien zuwenden, soll nicht heißen, dass wir diese beiden Disziplinen gegenüber anderen favorisieren, sie sollen uns vielmehr als Ausgangspunkt dienen. Es wird eine ganze Reihe unterschiedlicher Disziplinen zum Tragen kommen, wenn wir die Forschungen zu Gedächtnis, Erzählung, Weisheit, Emotion, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Lernen zusammen mit Erkundungen untersuchen, die tief in das subjektive, innere Erleben hineinreichen. Ich liebe die Naturwissenschaften und bin begeistert, dass ich von den empirischen Erkundungen in die Tiefen unserer selbst und unserer Welt lernen kann. Aber ich bin ebenso Kliniker und als solcher stark von der Welt subjektiven Erlebens durchdrungen. Unsere innere Welt ist real, auch wenn sie nicht unbedingt auf eine Weise quantifizierbar ist, die die Wissenschaft häufig für eine sorgfältige Analyse verlangt. Letztes Endes lässt sich unser subjektives Leben nicht auf unser neuronales Funktionieren reduzieren. Diese innere Welt, diese subjektiven Inhalte des Geistes befinden sich im Kern dessen, was uns befähigt, den Schmerz des anderen zu spüren, einander in Zeiten der
18
Vorwort
Not und Verzweiflung zu umarmen, in der Freude des anderen zu schwelgen, Sinn in den Geschichten unseres Lebens zu stiften und sich miteinander verbunden zu fühlen. Mein eigenes persönliches und berufliches Interesse an der Achtsamkeit ist vor kurzem auf unverhoffte Weise erwacht. Nachdem ich einen Text geschrieben hatte, in dem ich erforschte, wie das Gehirn und unsere Beziehungen zusammenwirken und einen prägenden Einfluss auf unsere Entwicklung ausüben, wurde ich eingeladen, im Kindergarten meiner Tochter Vorträge über Kindererziehung und das Gehirn zu halten. Nachdem ich einige Workshops für Kinder entworfen hatte, schrieben die Kindergartenleiterin Mary Hartzell und ich ein Buch, in dem wir die „Achtsamkeit" als unser erstes Grundprinzip festlegten. Als Pädagogen wussten wir, dass die wesentliche Gemütsverfassung eines Elternteils (oder einer Erzieherin oder eines Klinikers), der das kindliche Wohlbefinden fördern möchte, darin bestand, aufmerksam und bewusst zu sein. Nachdem unser Buch veröffentlicht war, sprachen uns sehr viele darauf an, wie wir dazu gekommen seien, Eltern das Meditieren beizubringen. Das war eine schwierige Frage, da weder Mary noch ich in Meditationstechniken ausgebildet sind, noch wir der Überzeugung waren, dass wir Eltern „das Meditieren beibrachten". Unserer Meinung nach war Achtsamkeit einfach die Idee, bewusst zu sein, gewissenhaft zu sein und mit Freundlichkeit und Sorgfalt zu handeln. Was wir ihnen tatsächlich beibrachten, war, wie man seine Kinder und sich selbst reflektiert, wie man sich seiner selbst und seiner Kinder bewusst ist - mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe. Ich lerne ständig von meinen Patienten und meinen Studenten, seien sie nun Eltern oder Highschool-Schüler, Therapeuten oder Wissenschaftler. Diese Fragen über Achtsamkeit und Kindererziehung haben mich dazu inspiriert, die bestehenden Forschungsarbeiten in dem wachsenden Feld achtsamkeitsbasierter klinischer Interventionen zu untersuchen. Was mir bei der näheren Beschäftigung mit diesem Bereich aufgefallen ist, war, dass sich die Messergebnisse für dessen klinische Anwendungen und die Messergebnisse meines
Vorwort 19 eigenen Forschungsbereichs, des Bindungsverhaltens, bei dem es um das Studium der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ging, teilweise zu decken scheinen. Diese Überschneidung in Bezug darauf, wie Wohlbefinden und Resilienz durch eine sichere Bindung und die Praxis achtsamen Gewahrseins gefördert wurden, war faszinierend. Diese Ähnlichkeit stimmte außerdem mit den Funktionen einer bestimmten integrativen Region des Gehirns, den mittleren Aspekten des Präfrontalkortex, überein. Ich war wie gefesselt von dieser Konvergenz und wollte unbedingt mehr über das faszinierende Feld der Achtsamkeit wissen. Das Ergebnis der Reise, diese Ideen experimentell und begrifflich zu erforschen, ist dieses Buch über das achtsame Gehirn. Dieses Buch ist für Menschen gedacht, die sich dafür interessieren, mehr über den Geist zu erfahren und darüber, wie man ihn bei sich selbst und bei anderen stärker entwickeln kann. Diese Ideen könnten besonders nützlich für diejenigen sein, die anderen dabei helfen, voranzukommen und zu wachsen, für Erzieher, Lehrer und Kliniker bis hin zu Mediatoren und Führungspersönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft. Jeder dieser Menschen kann, unabhängig von seiner sozialen Rolle, entscheidend dazu beitragen, das Wohlergehen in der menschlichen Gesellschaft zu fördern. Mit dieser aufregenden Sichtweise, Ideen aus der Welt der Beziehungen, der Welt des Gehirns und der Welt des Geistes zu integrieren, bin ich in das unmittelbare Erleben der Tiefen des Geistes eingetaucht. Ich lade Sie ein, mich zu begleiten, während wir das Wesen des achtsamen Gewahrseins erforschen, das sich Moment für Moment in dieser den Geist öffnenden Entdeckungsreise entfaltet hat.
Teil I Geist, Gehirn und Bewusstsein
Kapitel 1 Achtsames Gewahrsein Sich der Fülle unserer Erfahrungen gewahr zu sein lässt uns für die geistige Welt in unserem Inneren wach werden, und wir tauchen vollständig in unser Leben ein. In diesem Buch geht es darum, wie die Art und Weise, wie wir im gegenwärtigen Moment aufmerksam sind, das Funktionieren von Körper und Gehirn, unser subjektives psychisches Erleben, einschließlich unserer Gefühle und Gedanken, sowie unsere zwischenmenschlichen Beziehungen unmittelbar verbessern kann. Wir gehen davon aus, dass sich diese uralte, nützliche Form des Gewahrseins den sozialen Schaltkreis im Gehirn zunutze machen kann, damit wir mit seiner Hilfe eine „eingestimmte" Beziehung in unserem eigenen Geist entwickeln können. Zur Prüfung dieser Annahme werden wir uns den Forschungen über unser soziales Leben zuwenden; wir werden bestimmte Regionen im Gehirn (einschließlich des Spiegelneuronensystems und der damit zusammenhängenden Schaltkreise) untersuchen, die an dieser Einstimmung beteiligt und möglicherweise aktiv sein könnten, wenn wir mit unseren intentionalen Einstellungen in Resonanz sind.
Achtsames Gewahrsein
23
Der Begriff achtsames Gehirn wird in diesem Ansatz verwendet, um die Vorstellung auszudrücken, dass unser Gewahrsein, unser achtsames „Aufmerksamkeit-Schenken" oder „Uns-um-etwas-Kümmern" eng mit der Beziehung zwischen unserem Geist und unserem Gehirn verbunden ist. Der Achtsamkeitsbegriff, den wir hier erforschen werden, umschließt eine ganze Reihe von Definitionen, von üblichen Alltagsvorstellungen wie „etwas im Gedächtnis behalten" oder „die Neigung haben, gewahr zu sein" bis hin zu den spezifischen pädagogischen, klinischen und wissenschaftlichen Definitionen. Vor dem Hintergrund dieser breiten allgemeinen und gebräuchlichen Definition werde ich einen Überblick über die neuen wissenschaftlichen Entwicklungen geben, die sich hinsichtlich der spezifischeren Formen der Achtsamkeit und eigener subjektiver Augenblickserfahrung ergeben haben.
Den Geist in unserem Alltagsleben finden Seit Mitte der achtziger Jahre ist der „Achtsamkeit" in der westlichen Welt zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden. Diese hat sich in erster Linie auf verschiedene Dimensionen des Alltagslebens gerichtet, angefangen bei unserem persönlichen Leben bis hin zu den Erfahrungen von Kindern in der Schule und von Patienten in der Therapie. Das geschäftige Leben, das Menschen in einer technologiegesteuerten, die Aufmerksamkeit aufzehrenden Kultur führen, produziert häufig eine nahezu irrsinnige Aktivität, bei der Menschen mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen versuchen und ständig dabei sind, etwas zu tun, ohne Raum zu haben, um durchzuatmen und einfach zu sein. Die Anpassung an eine solche Lebensweise führt dazu, dass sich Jugendliche in vielen Fällen an ein hohes Maß reizgebundener Aufmerksamkeit gewöhnen und von einer Aktivität zur nächsten hecheln. Auf der anderen Seite haben sie nur wenig Zeit für Selbstreflektion* oder für die direkte zwischenmenschliche Beziehung von * Zur Verwendung der Begriffe „Reflektion" versus „Reflexion" siehe ausführliche Darlegung auf Seite 169 ff.
24
Geist, Gehirn und Bewusstsein
Angesicht zu Angesicht, die das Gehirn braucht, um sich angemessen zu entwickeln. In unserem hektischen Leben gibt es heutzutage nur wenige Möglichkeiten, um sich aufeinander einzustimmen. Viele Menschen empfinden diesen „gesellschaftlichen Wirbelsturm" als persönlich zutiefst unbefriedigend. Wir können uns anpassen, auf den Druck, etwas tun zu müssen, reagieren, doch häufig können wir uns in einer so frenetischen Welt nicht entfalten. Auf der persönlichen Ebene brennen Menschen in modernen Kulturen häufig darauf, eine neue Seinsweise zu erlernen, die ihnen helfen kann, aufzublühen. Die Achtsamkeit in ihrer allgemeinsten Form bietet einen Weg des Gewahrseins an, der der Beginn eines vitaleren Lebens sein kann: Wir werden auf uns selbst eingestimmt. In einem Buchbeitrag führt Paul Grossman (im Druck) aus, dass „der umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs Achtsamkeit” häufig die Konnotation des Achtens, Aufpassens oder Eingedenkseins in einem eindeutig bewertenden Kontext hat: Ein Vater oder eine Mutter sagt zum Kind: ,Achte auf dein Benehmen' oder ,pass auf, was du sagst', was impliziert, darauf zu achten, dass man sich auf eine Weise verhält, wie sie von der Kultur vorgeschrieben wird. ,Er achtete auf die schlechten Straßenbedingungen und fuhr deshalb langsam' - ,Was ist denn der Mensch, dass du seiner gedenkst...?' (Psalmen, 8.5) - ,Ich verspreche, auf deine Ermahnungen zu achten' - ,Er achtete immer auf seine Verantwortung als Familienvater'. All diese Formulierungen spiegeln wider, dass die Betonung des Begriffs Achtsamkeit' darauf liegt, dass man einer Sache genaue Beachtung schenken sollte, um sich nicht mit den Folgen unachtsamen Verhaltens auseinander setzen zu müssen."
Den Geist definieren Eine nützliche und von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen befürwortete Definition des Geistes lautet: „ein Prozess, der den Fluss von Energie und Informationen regelt". Unser menschlicher Geist ist sowohl verkörpert, in dem Sinne, dass er einen Fluss von Energie und Informationen beinhaltet, der sich
Achtsames Gewahrsein
23
innerhalb des Körpers und des Gehirns vollzieht, als auch relational (beziehungsbezogen), womit jene Dimension des Geistes angesprochen wird, die sich auf den Fluss von Energie und Informationen zwischen Menschen bezieht - zum Beispiel diejenige vom Autor zu seinen Lesern. Jetzt im Augenblick formt dieser Fluss von mir zu Ihnen, während ich diese Worte an Sie schreibe und Sie sie lesen, unseren jeweiligen Geist, Ihren und meinen. Selbst während ich mir vorstelle, wer Sie sein könnten und wie Ihre Reaktion möglicherweise aussehen könnte, verändere ich den Energie- und Informationsfluss in meinem Gehirn und meinem Körper als Gesamtsystem. Und indem Sie diese Worte in sich aufnehmen, verkörpert Ihr Geist diesen Energie- und Informationsfluss ebenfalls.
Achtsam sein Bei Achtsamkeit in ihrem allgemeinsten Sinne geht es darum, aus einem Leben, das sozusagen auf Automatik geschaltet war, aufzuwachen und für den Reiz des Neuen in unseren Alltagserfahrungen empfänglich zu werden. Durch das achtsame Gewahrsein dringt der Energie- und Informationsfluss, der unser Geist ist, in unsere bewusste Aufmerksamkeit ein, und wir können auf der einen Seite seinen Inhalt würdigen und auf der anderen lernen, seinen Fluss auf neue Weise zu regulieren. Wie wir sehen werden, beinhaltet achtsames Gewahrsein mehr als das einfache Gewahrsein: Es beinhaltet, sich gewisser Aspekte des Geistes selbst gewahr zu sein. Statt auf Automatik geschaltet und achtlos zu sein, hilft uns die Achtsamkeit, aufzuwachen. Indem wir über den Geist reflektieren, werden wir in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, und so werden Veränderungen möglich. Die Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, hilft uns unmittelbar dabei, den Geist zu formen. Wenn wir eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit für unsere Hier-und-JetztErfahrungen und das Wesen unseres Geistes entwickeln, schaffen wir diese spezielle Form von Gewahrsein und Achtsamkeit, die das Thema dieses Buches ist.
26
Geist, Gehirn und Bewusstsein
Einige Vorteile Studien haben gezeigt, dass spezifische Anwendungen des achtsamen Gewahrseins die Fähigkeit verbessern, Emotionen zu regulieren, emotionale Fehlfunktionen zu bekämpfen, Denkgewohnheiten zu verbessern und negative Denkweisen zu reduzieren. Bei Untersuchungen, die die Praktiken des achtsamen Gewahrseins zum Gegenstand hatten, hat sich gezeigt, dass solche Praktiken das Funktionieren des Körpers entscheidend verbessern. Durch Achtsamkeit verbessern sich die Heilungschancen, die Immunabwehr und die Reaktionen auf Stress; darüber hinaus wird ein allgemeines Gefühl physischen Wohlbefindens erzielt (Davidson, Kabat-Zinn, Schumacher, Rosenkranz, Muller et al. 2003). Unsere Beziehungen zu anderen Menschen verbessern sich ebenfalls, weil sich die Fähigkeit, nonverbale emotionale Signale von anderen wahrzunehmen, genauso erhöht wie unsere Fähigkeit, das Innenleben unserer Mitmenschen wahrzunehmen (siehe Anhang III, Beziehungen und Achtsamkeit). Auf diese Weise lernen wir, an den Gefühlen anderer Menschen Anteil zu nehmen, sie nachzuempfinden und ihren Standpunkt zu verstehen. Wir können sehen, wie die Kraft achtsamen Gewahrseins diese zahlreichen und unterschiedlichen positiven Veränderungen in unserem Leben bewirkt, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass diese Form des Gewahrseins aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbaren Einfluss auf die Aktivität und das Wachstum derjenigen Gehirnregionen ausübt, die für unsere Beziehungen, unser emotionales Leben und unsere physiologische Reaktion auf Stress verantwortlich sind.
Achtsamkeit beim Lernen und im Bildungswesen Über solche persönlichen und gesundheitlichen Vorteile der Achtsamkeit hinaus hat Ellen Langer (1989,1997,2000) das Konzept des „achtsamen Lernens" entwickelt - eine Herangehensweise, die das Lernen nachweislich effektiver, unterhaltsamer und anregender macht. Der
Achtsames Gewahrsein
27
Kern dieses Ansatzes besteht darin, Lernmaterial in Gestalt möglicher Konzepte anzubieten und nicht als Konvolut absoluter Wahrheiten. In dieser Situation muss der Lernende seinen „Geist offen halten", mit anderen Worten, er muss Unvoreingenommenheit bewahren in Bezug auf die Zusammenhänge, in denen diese neuen Informationen nützlich sein könnten. Die aktive Einbeziehung des Lernenden in den Bildungs- und Erziehungsprozess wird auch dadurch erreicht, dass man Schüler oder Studenten die grundsätzliche Überlegung anstellen lässt, wie ihre eigene Einstellung die Richtung des Lernens bestimmen wird. Durch diese Form der Achtsamkeit nimmt der Lernende aktiv am Lernprozess teil. Langer geht davon aus, dass es beim Erlernen von Konzepten in der Möglichkeitsform darum geht, uns in einem gesunden Zustand der Unsicherheit zu belassen, der dazu führen wird, dass wir aktiv neue Dinge wahrnehmen. Der Pädagoge Robert J. Sternberg hat die Achtsamkeit im Erziehungs- und Bildungswesen als etwas angesehen, das einem kognitiven Stil vergleichbar ist (2000). Forschungsarbeiten zum achtsamen Lernen (Langer 1989) deuten an, dass es auf der Offenheit für Neues ebenso beruht wie auf der Aufmerksamkeit für Unterschiede, auf der Sensibilität für unterschiedliche Kontexte, auf dem Bewusstsein multipler Perspektiven und auf der Orientierung an der Gegenwart. Diese Dimensionen von Achtsamkeit innerhalb eines pädagogischen Szenarios in Betracht zu ziehen könnte es Schülern ermöglichen, ihr Lernverhalten während ihrer ganzen, ein Leben lang andauernden Laufbahn als Lernende zu vertiefen und zu erweitern. Die Lehrer können Ausdrücke wie „vielleicht", „es könnte sein" oder „manchmal" anstelle von „ist" verwenden, um so einen gesunden Respekt vor Unsicherheit zu kultivieren. (Weiteres zur Rolle der Achtsamkeit in Bildung und Erziehung in Kapitel 12.) Langer selbst (1989) hat darauf hingewiesen, dass wir vorsichtig damit sein sollten, anzunehmen, dass ihr Achtsamkeitskonzept mit dem historischen und modernen Gebrauch jenes Begriffs in den kontemplativen Praktiken gleichzusetzen sei. Bis auf weiteres werden wir den Zusatz „achtsames Lernen” verwenden, wenn wir uns auf Langers wichtige Begriffsbildungen in dem Sinne beziehen, wie
28
Geist, Gehirn und Bewusstsein
sich der Geist aus voreiligen Schlussfolgerungen, Kategorisierungen und eingeschliffenen Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten zu befreien scheint. Wenn wir uns einer Sache sicher sind, so Langer, „dann haben wir nicht das Bedürfnis, Acht geben zu müssen. Wenn man bedenkt, dass sich die Welt um uns herum in ständigem Fluss befindet, dann ist unsere Gewissheit eine Illusion" (Langer im August 2006 in einer persönlichen Mitteilung). Letzten Endes ist diese Form der Achtsamkeit eine flexible Geistesverfassung, in der wir aktiv neue Dinge wahrnehmen, für den Kontext sensibel sind und uns auf die Gegenwart einlassen. Es ist mir nicht gelungen, formale Studien zu finden, in denen ein Vergleich gezogen wurde zwischen dem achtsamen Lernen mit seiner zielorientierten pädagogischen Komponente und der wesentlich älteren kontemplativen Form, die wir „reflektive Achtsamkeit" nennen werden. Diese reflektive Form der Achtsamkeit - die wir hier im Text auch als „achtsames Gewahrsein" oder einfach als „Achtsamkeit" bezeichnen - wird jetzt intensiv erforscht. Neuere Forschungsergebnisse dazu werden in den nachfolgenden Kapiteln erörtert. Wenn es gelingt, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen diesen zwei Verwendungsformen des Begriffs Achtsamkeit festzustellen, könnte uns das helfen, das tiefere Wesen jeder der beiden Formen zu erhellen. Interessanterweise haben Forschungen ergeben, dass beide Formen unabhängig voneinander mit positiven Veränderungen im Leben eines Menschen in Verbindung gebracht werden - etwa einem erhöhten Lustgefühl, innerem Gewahrsein und physiologischer Gesundheit -, obwohl diese positiven Ergebnisse durch verschiedene Mittel erreicht werden. In diesem Buch werden wir die möglichen neuronalen Mechanismen erforschen, die diesen beiden wichtigen, wenn auch, oberflächlich gesehen, unterschiedlichen Dimensionen in Bezug darauf zugrunde liegen, wie wir unseren Geist im Moment formen.
Achtsames Gewahrsein
29
Achtsames Gewahrsein Unmittelbares Erleben im gegenwärtigen Moment ist als grundlegender Bestandteil der buddhistischen, christlichen, hinduistischen, islamischen, jüdischen und taoistischen Lehre beschrieben worden (Armstrong 1993; Goleman 1988). In diesen religiösen Traditionen, vom mystischen Christentum mit seinem kontemplativen Gebet (centeringprayer) (Fitzpatrick-Hopler 2006; Keating 2005) bis hin zur buddhistischen Achtsamkeitsmeditation (Kornfield 1993; Thich Nhat Hanh 1991; Wallace 2006), sieht man, dass die Vorstellung davon, sich des gegenwärtigen Moments bewusst zu sein, in einem anderen Sinne gebraucht wird, als es beim kognitiven Aspekt der Achtsamkeit der Fall ist. Viele Formen des Gebets aus verschiedenen Traditionen erfordern es, dass der Mensch innehält und an einem willentlichen Prozess teilhat, bei dem es darum geht, sich mit einer Geistesverfassung oder einer Wesenheit außerhalb der alltäglichen Seinsweise zu verbinden. Es ist nachgewiesen worden, dass das Beten und die Zugehörigkeit zu einer Religion allgemein mit längerer Lebensdauer und größerem Wohlbefinden in Verbindung stehen (Pargament 1997). Die übliche Überschneidung von Gruppenzugehörigkeit und Gebet macht es schwer, den inneren von dem zwischenmenschlichen Prozess zu trennen, doch vielleicht würden wir feststellen, dass es genau darum geht: dass das Innehalten, um achtsam zu werden, tatsächlich mit einem inneren Gefühl von Zugehörigkeit einhergehen könnte. Die klinische Anwendung der Achtsamkeitsmeditation, die aus der buddhistischen Tradition abgeleitet worden ist, hat als Fokus für ein intensives Studium der möglichen neuronalen Entsprechungen des achtsamen Gewahrseins gedient. Hier sehen wir die Benutzung des Begriffs Achtsamkeit auf eine Weise, die zahlreiche Forscher klar und deutlich zu definieren versucht haben (Baer, Smith, Hopkins, Krietemeyer & Toney 2006; Bishop, Lau, Shapiro, Carlson, Anderson, Carmody et al. 2004). Diese Studien, die in den verschiedensten klinischen Situationen durchgeführt worden sind — von physischen, mit chronischen Schmerzen einhergehenden Krankheiten bis hin zu
30
Geist, Gehirn und Bewusstsein
psychiatrischen Populationen mit Stimmungs- und Angststörungen, haben gezeigt, dass die effektive Anwendung weltlicher Achtsamkeitsmeditationsfertigkeiten jenseits von irgendeiner religiösen Praxis oder Gruppenzugehörigkeit gelehrt werden kann. Vielfach sehen Gelehrte die 2500 Jahre alte Praxis des Buddhismus eher als eine Möglichkeit an, das Wesen des Geistes selbst zu untersuchen (Germer, Siegel & Fulton 2005; Lutz, Dünne & Davidson, im Druck; Epstein 1995; Waldon 2006), denn als theistische Tradition. „Frühbuddhistische Texte zu lesen wird den Kliniker davon überzeugen, dass Buddha im Wesentlichen Psychologe war" (Germer 2005, S. 13). Es ist möglich, eine vom Buddhismus abgeleitete Meditation zu praktizieren und sich aus dieser Perspektive beispielsweise Aspekten der psychologischen Sichtweise des Geistes zu widmen und gleichzeitig seine Überzeugungen beizubehalten und Angehöriger einer anderen religiösen Tradition zu sein. In der kontemplativen Achtsamkeitspraxis fokussiert man den Geist auf spezifische Art und Weise, um eine rigorosere Form des Gewahrseins im gegenwärtigen Moment zu entwickeln, die das Leiden, das man in seinem Leben erfährt, unmittelbar zu lindern vermag. Jon Kabat-Zinn hat sein Arbeitsleben der Aufgabe gewidmet, Achtsamkeit in der modernen Medizin fest zu etablieren. Kabat-Zinns Ansicht nach ist „eine einsatzfähige Arbeitsdefinition von Achtsamkeit: das Bewusstsein, das dadurch auftaucht, dass man mit Absicht, im gegenwärtigen Moment und ohne zu urteilen, dem Sichentfalten von Erfahrungen von Moment zu Moment Aufmerksamkeit schenkt" (KabatZinn 2003, S. 145-146). Diese nicht urteilende Sichtweise kann häufig im Sinne eines „Nicht-an-Urteilen-Festhaltens" interpretiert werden, da der Geist sich ständig Reaktionen einfallen lässt, die bewertend und reaktiv sind. In der Lage zu sein, diese Urteile zur Kenntnis zu nehmen und sich von ihnen zu lösen - so könnte sich nicht urteilendes Verhalten in der Praxis anfühlen. „Mit Absicht" impliziert, dass dieser Zustand mit der Intention herbeigeführt wird, sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren. Das InnerKids-Programm, das darauf ausgerichtet ist, kleinen Kindern grundlegende Achtsamkeitskompetenzen zu vermitteln, definiert Achtsamkeit als
Achtsames Gewahrsein
31
„sich dessen bewusst sein, was geschieht, während es geschieht" (Kaiser Greenland, 2006a). Kabat-Zinn (2003) hat des Weiteren darauf hingewiesen, dass die buddhistischen Ursprünge dieser Sichtweise von Achtsamkeit und der natürlichen Gesetze des Geistes eine kohärente phänomenologische Beschreibung der Natur des Geistes, der Emotionen und des Leidens und ihrer potenziellen Befreiung offenbaren, basierend auf höchst verfeinerten Praktiken, die darauf abzielen, verschiedene Aspekte des Geistes und des Herzens mittels der Fähigkeit der achtsamen Aufmerksamkeit (die Begriffe für Geist und Herz sind in asiatischen Sprachen identisch; folglich schließt „Achtsamkeit" eine liebevolle, mitfühlende Qualität innerhalb des Aufmerksamseins ein, ebenso wie ein Gefühl von offenherziger, freundlicher Präsenz und von Interesse) systematisch zu trainieren und zu kultivieren. Und Achtsamkeit, so sollte ebenfalls zur Kenntnis genommen werden, ist, da es hier um Aufmerksamkeit geht, notwendigerweise auch universell. Es gibt nichts speziell Buddhistisches daran. Wir alle sind von Moment zu Moment mehr oder weniger achtsam. Es handelt sich dabei um eine dem Menschen angeborene Fähigkeit. Der Beitrag der buddhistischen Tradition hat teilweise darin bestanden, einfache und effektive Wege, diese Fähigkeit zu kultivieren und zu verfeinern, herauszustellen und sie in alle Aspekte des Lebens einzubringen. (S. 145-146) Letzten Endes befähigen Praktiken, durch die achtsame Seinsweisen entwickelt werden, den Menschen dazu, das tiefere Wesen der Funktionsweisen des Geistes wahrzunehmen. Es gibt viele Möglichkeiten, um achtsames Gewahrsein zu entwickeln. Durch jede von ihnen entwickelt sich ein Bewusstsein von den Fähigkeiten des Geistes, etwa wie wir denken, wie wir fühlen und auf Reize reagieren. Die Achtsamkeitsmeditation, als ein Beispiel, wird als besonders wichtig angesehen, um
32
Geist, Gehirn und Bewusstsein
die Aufmerksamkeit zu trainieren und eine strikte Identifikation mit den Aktivitäten des Geistes als ausschließlicher Identität des Individu-ums loszulassen. Eine Form, um das Bewusstsein des Geistes von sich selbst zu kultivieren, ist aus dem traditionellen buddhistischen Vipassana-Ansatz, mit anderen Worten der Einsichtsmeditation (Kornfield 1993) abgeleitet, die wir eingehend in Teil II erforschen werden. Praktiken des achtsamen Gewahrseins {mindful awareness practices, kurz MAPs), wie wir sie am Mindful Awareness Research Center an der Universität Kalifornien in Los Angeles (siehe Anhang I) nennen, sind bei einer ganzen Reihe menschlicher Aktivitäten zu finden. Historisch betrachtet sind verschiedene Praktiken über Tausende von Jahren in Form von Achtsamkeitsmeditation, Yoga, Tai-Chi-Chuan und Qigong entwickelt worden. Bei jeder dieser Aktivitäten fokussiert der Praktizierende seinen Geist auf eine sehr spezifische Weise auf das Erleben von Moment zu Moment. Bei nahezu allen kontemplativen Praktiken wird zum Beispiel der Atem als Ausgangspunkt verwendet, auf den der Geist seine konzentrative Aufmerksamkeit richten soll. Da der Atem bei den verschiedensten kulturellen Praktiken auf diese Weise eingesetzt wird, werden wir die mögliche Aussagekraft des Atembewusstseins für die Gesamt-prozesse des achtsamen Gehirns erörtern. Moderne Anwendungen des allgemeinen Konzepts der Achtsamkeit bauen einerseits auf den traditionellen Meditationsfähigkeiten auf, andererseits haben sie eigenständige, nichtmeditative Ansätze für den Prozess des Achtsamseins entwickelt. Eine nützliche, elementare Sichtweise ist die, dass Achtsamkeit als etwas angesehen werden kann, das aus den wichtigen Dimensionen der Selbstregulation von Aufmerksamkeit und einer gewissen Orientierung auf die Erfahrung hin besteht, wie Bishop und seine Kollegen vorgeschlagen haben (Bishop et al. 2004): (1) „die Selbstregulation der Aufmerksamkeit, so dass sie beim unmittelbaren Erleben aufrechterhalten wird und auf diese Weise ein erhöhtes Erkennen der geistigen Geschehnisse im gegenwärtigen Moment erlaubt"; und (2) „eine bestimmte Orientierung auf die eigenen Erfahrungen im gegenwärtigen Moment, eine Orientierung, die durch Neugierde, Offenheit und Akzeptanz
Achtsames Gewahrsein
33
gekennzeichnet ist" (S. 232). Im dialektischen Verhaltenstherapieansatz (Dialectical Behavior Therapy) ist Achtsamkeit beschrieben worden als „(1) beobachten, zur Kenntnis nehmen, Gewahrsein einbringen, (2) beschreiben, benennen, zur Kenntnis nehmen und (3) teilnehmen. All das geschieht (1) ohne zu urteilen und mit Akzeptanz, (2) im gegenwärtigen Moment und (3) „auf effektive Weise" (Dimidjian & Linehan 2003, S. 166). Shapiro, Carlson, Asten & Freedman (2006) haben die Mechanismen der Achtsamkeit ebenfalls beschrieben. Ihrer Meinung nach gehören dazu Intention, Aufmerksamkeit und eine Einstellung, dass alle zu einem Prozess beitragen, Dinge auf eine neue Weise zu sehen. Diesen Vorgang bezeichnen sie als „neu-wahrnehmen" (re-perceiving). Diese und andere Autoren erkennen an, dass Achtsamkeit auch zu den allgemein bekannten Resultaten führen kann wie Geduld, Nichtreaktivität, Mitgefühl mit sich selbst und Weisheit. In der ACT-Therapie (Acceptance and Commitment Therapy) nach Hayes „kann Achtsamkeit als Sammlung verwandter Prozesse angesehen werden, die dahingehend wirken, dass sie die Dominanz verbaler Netzwerke untergraben, insbesondere derjenigen, die zeitliche und bewertende Beziehungen betreffen. Diese Prozesse schließen Akzeptanz, Entschärfung, Kontakt zum gegenwärtigen Moment und das transzendente Selbst-Empfinden ein" (Fletcher & Hayes 2006, S. 315). Eine zusammenfassende Studie aus zahlreichen bereits bestehenden Fragebögen zum Thema Achtsamkeit (Baer, Smith, Hopkins, Krietemeyer & Toney 2006) zeigt fünf Faktoren auf, die sich aus unabhängig voneinander erhobenen Stichproben zu Clustern schienen: (1) Nichtreaktivität gegenüber inneren Erfahrungen (z. B. Gefühle und Emotionen wahrnehmen, ohne auf sie reagieren zu müssen); (2) Empfindungen, Gedanken und Gefühle beobachten / bemerken / sich darum kümmern (z. B. mit Empfindungen und Gefühlen präsent bleiben, selbst wenn sie unangenehm oder schmerzhaft sind); (3) mit Bewusstheit / (nicht) auf Autopilot handeln, Konzentration / Nichtablenkung (z. B. aufgrund von Achtlosigkeit, weil man nicht aufpasst oder an etwas anderes denkt, Dinge zerbrechen oder verschütten); (4) mit Worten beschreiben / benennen (sich z. B. leicht damit tun, Über-
34
Geist, Gehirn und Bewusstsein
zeugungen, Meinungen und Erwartungen in Worte zu fassen); (5) Nicht-Beurteilen von Erfahrungen (z. B. sich selbst dafür kritisieren, dass man irrationale oder unangemessene Emotionen hat). Mit Ausnahme des Beobachtens wurde festgestellt, dass dies die in statistischer Hinsicht nützlichsten und verlässlichsten Konstrukte zur Betrachtung einer operationalen Definition von Achtsamkeit sind. Sie schienen vier Facetten von Achtsamkeit zu offenbaren, die relativ unabhängig voneinander waren. Das Beobachten als Achtsamkeitsfertigkeit wurde am durchgängigsten bei den Probanden (College-Studenten) nachgewiesen, die regelmäßig meditierten. Das Beobachten wurde als erlernbare Fähigkeit angesehen: Zukünftige Forschungen werden sie als unabhängigen Faktor bewerten müssen. Fürs Erste werden wir bei der Erforschung der Achtsamkeit und des Gehirns die fünf Faktoren erörtern, die Baer und seine Kollegen (2006) skizziert haben. In dem wissenschaftlichen Bemühen, eine klare Definition für das achtsame Gewahrsein zu operationalisieren, wird an diesem Punkt der unkomplizierteste Ansatz derjenige sein, auf die angesammelte Weisheit der zahlreichen Praktizierenden und Erforscher dieser Disziplin zurückzugreifen. Dies wird unser Rahmen sein, um zu erforschen, auf welche Weise diese Art des achtsamen Gewahrseins den sozialneuronalen Schaltkreis des Gehirns einbeziehen könnte, wenn Achtsamkeit durch eine Form der inneren Einstimmung gefördert wird. Das Nachdenken über das Wesen der eigenen mentalen Prozesse ist eine Form von „Metakognition", das Denken über das Denken im weitesten Sinne; wenn wir Metabewusstsein haben, dann deutet das auf ein Bewusstsein des Bewusstseins hin. Ob wir uns nun mit Yoga, kontemplativem Gebet, morgendlichem Sitzen und Spüren unseres Atems beschäftigen oder abends Tai-Chi machen, jede MAP entwickelt diese Fähigkeit, sich des Gewahrseins gewahr zu sein. Das Gewahrsein des Gewahrseins ist ein Aspekt dessen, was wir als eine Form von Reflektion ansehen. Somit beinhaltet das achtsame Gewahrsein eine Reflektion über das innere Wesen des Lebens, über die Begebenheiten des Geistes, wie sie von Moment zu Moment auftauchen.
Achtsames Gewahrsein
35
Das Leben auf Autopilot Achtlosigkeit und Achtsamkeit Der Unterschied zwischen „achtlosem" und „achtsamem" Joggen besteht darin, dass wir uns bei Letzterem in jedem Moment bewusst sind, was wir tun, während wir es tun. Wenn wir joggen und Tagträumen darüber nachhängen, was wir am Abend tun werden oder was gestern passiert ist, dann haben wir uns nicht auf ein achtsames Joggen eingelassen. Es ist nichts verkehrt daran, Tagträumen nachzuhängen und den Geist umherwandern zu lassen: Tatsächlich kann es, wie wir sehen werden, eine achtsame Praxis sein, mit Absicht das Bewusstsein auf das zu fokussieren, was auch immer aufsteigt, während es aufsteigt. Wenn wir die Absicht haben, unseren Geist zu Tagträumen zu befähigen, und wir uns unseres Gewahrseins unserer Vorstellungskraft bewusst sind, dann würde dies eine achtsame Träumerei sein, obwohl es vielleicht kein achtsames Joggen wäre, weil wir uns unserer Füße und des Weges vor uns nicht bewusst wären. Stellen wir in diesem Zusammenhang einmal fest, dass wir häufig ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen, wie zum Beispiel einen Weg hinunterzulaufen und uns dabei in Gedanken an etwas zu verlieren, das nichts mit dieser physischen Aktivität zu tun hat. Wir haben neuronale Schaltkreise, die dieses automatische Verhalten ständig ausführen und uns befähigen, mehrere Dinge zur selben Zeit zu tun, wie etwa zu joggen und gleichzeitig mit offenen Augen zu träumen. Glücklicherweise stolpern und fallen wir jedoch gewöhnlich nicht und haben auch keinen Unfall auf der Autobahn. Für einige Menschen ist dieses „Leben im Autopilot-Modus" ihre normale Lebensweise. Wenn unsere Aufmerksamkeit mit etwas anderem beschäftigt ist als mit dem, was wir die meiste Zeit unseres Lebens über tun, dann können wir uns leer und taub fühlen. Wenn das automatische Denken unser subjektives Gefühl von der Welt beherrscht, dann wird das Leben zur ständigen Wiederholung und langweilig und trostlos. Statt das Auftauchen eines Gefühls zu erleben, etwas Neues zu entdecken, so wie ein Kind, das die Welt zum ersten Mal wahrnimmt, fühlen wir uns innerlich abgetötet - „tot,
36
Geist, Gehirn und Bewusstsein
bevor wir gestorben sind". Im Autopilot-Modus zu leben bringt uns auch in die Gefahr, dass wir achtlos auf Situationen reagieren, dass wir über verschiedene Möglichkeiten der Erwiderung überhaupt nicht nachdenken. Das kann häufig zu spontanen und reflexartigen Reaktionen führen, die ihrerseits ähnlich achtlose Reflexe in anderen auslösen. Ein Wasserfall sich verstärkender achtloser Reaktionen kann eine Welt voll gedankenloser Interaktionen, Grausamkeit und Zerstörung schaffen. Achtsam zu sein öffnet nicht nur die Tore dazu, sich des Moments stärker bewusst zu sein, sondern es bringt den Einzelnen auch einem tiefen Gefühl seiner inneren Welt näher und bietet ihm so die Möglichkeit zu mehr Mitgefühl und Empathie. Achtsamkeit ist keine „Genusssucht", sondern sie besteht aus einer Reihe von Kompetenzen, die die Fähigkeit, liebevolle Beziehungen zu anderen einzugehen, verbessern. Achtsamkeit erhöht die Fähigkeit, uns von den Gefühlen des Augenblicks ausfüllen zu lassen und uns auf unseren eigenen Seinszustand einzustimmen. Indem wir uns unseres Gewahrseins gewahr werden, können wir den Fokus schärfer auf die Gegenwart richten, was uns befähigt, unsere Füße zu spüren, während wir auf dem Pfad unseres Lebens wandern. Wir lassen uns auf uns selbst und andere ein und knüpfen eine authentischere Verbindung, mit mehr Reflektion und Rücksichtnahme. Das Leben wird umso stärker bereichert, je mehr wir uns der außerordentlichen Erfahrung des Seins, des Leben-digseins und des Lebens in diesem Moment bewusst werden.
COAL und freundliches Gewahrsein Über dieses reflektive Gewahrsein des Gewahrseins im gegenwärtigen Moment hinaus hat Achtsamkeit die folgenden Qualitäten, die ich meinen Patienten und Studenten so beschreibe: Wir nähern uns unserer Hier-und-Jetzt-Erfahrung mit Neugier, Offenheit, Akzeptanz und Liebe, kurz: mit COAL (curiosity, openness, acceptance, love; siehe Anhang II).
Achtsames Gewahrsein
37
Stellen Sie sich folgende Situation vor. Sagen wir, jemand stößt sich schlimm den Zeh an und spürt die Intensität des daraus resultierenden Schmerzes. Wenn man jetzt zu sich selbst sagt: „Was war ich für ein Idiot, dass ich mir den Zeh gestoßen habe!", dann wird das erlebte mentale Leiden größer sein als der Schmerz, der von dem Zeh ausgeht. In jenem Fall ist man sich des Schmerzes bewusst, doch man ist nicht von der COAL-Denkweise erfüllt. In diesem Fall schafft das Gehirn de facto mehr Leiden, indem es die Intensität des Schmerzes durch die Selbstbeschuldigung verstärkt. Das ist der ganze Unterschied zwischen der Intensivierung des Elends einerseits und dem Spüren des Schmerzes, ohne zu leiden, andererseits. Die Essayistin, Naturforscherin und Dichterin Diane Ackerman hat auf unserem Mind and Moment-Treffen, auf dem sich Dichter, Praktizierende und Psychotherapeuten versammelt hatten, die Geschichte erzählt, wie sie in Japan einen Unfall hatte und fast gestorben wäre (siehe Anhang I zur Erklärung dieser und anderer Konferenzen und Organisationen zum Thema Achtsamkeit.) Sie war eine Klippe hinuntergeklettert, um einige seltene Vögel auf einer kleinen Insel zu untersuchen, und fiel hin, wobei sie sich mehrere Rippen brach, große Schmerzen erlitt und nach Atem rang. Ihre Beschreibung dieses Vorfalls (Ackerman, Kabat-Zinn, O'Donohue & Siegel 2006) zeigte, wie sie die Begegnung von Moment zu Moment mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe anging. Diese geistige Haltung ermöglichte es ihr, aus diesem Ereignis zu lernen, die innere Stärke zu sammeln, die sie brauchte, um nicht nur den Unfall zu überleben, sondern durch denselben regelrecht aufzublühen. Diese Unterscheidung zwischen dem Gewahrsein mit COAL und dem einfachen Aufmerksamsein mit vorgefassten Ideen, die den Geist gefangen halten („Ich hätte mir den Fuß nicht stoßen sollen, ich bin so ungeschickt." -„Warum bin ich diese Klippe hinuntergefallen? Was ist mit mir los?"), ist der Unterschied, der unendlich viel ausmacht. Achtsames Gewahrsein zu kultivieren erfordert, dass wir uns des Gewahrseins gewahr werden und dass wir über dies hinaus in der Lage sind, zu bemerken, wann die vorgefassten Meinungen, die Geund
38
Geist, Gehirn und Bewusstsein
Verbote „von oben herab" uns ersticken und so davon abhalten, achtsam zu leben und gütig zu uns selbst zu sein. Der Begriff „von oben herab" (top-down) bezieht sich auf die Art und Weise, in der unsere Erinnerungen, Glaubenssätze und Emotionen unser direktes Empfindung von Erfahrung „von unten herauf" (bottom-up) prägen. Güte uns selbst gegenüber ist es, was uns die Stärke und Entschlossenheit verleiht, aus jenem Gefängnis „von oben herab" auszubrechen und die Ereignisse des Lebens, seien sie nun geplant oder ungeplant, mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe anzugehen. Forschungen im Bereich des achtsamen Gewahrseins zeigen, dass wir tatsächlich eine solche Liebe uns selbst gegenüber kultivieren können. Unsere Herangehensweise an die Achtsamkeit als Form gegenseitiger Einstimmung könnte ein Schlüssel dafür sein, wie das zu erreichen ist. Sieht man Achtsamkeit als eine Form gegenseitiger Einstimmung an, könnte es möglich sein, die Mechanismen zu enthüllen, durch die wir mithilfe der Achtsamkeitspraxis selbst unser bester Freund oder unsere beste Freundin werden könnten. Wir würden unseren besten Freund schließlich auch freundlich und gütig behandeln. Einstimmung steht im Zentrum liebevoller Beziehungen aller Art: derjenigen zwischen Eltern und Kind, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Therapeut und Patient bzw. Klient, zwischen Geliebten, Freunden und nahen Berufskollegen. Mit dem achtsamen Gewahrsein, so können wir annehmen, tritt der Geist in einen Seinszustand ein, in dem die eigenen Hier-undJetzt-Erfahrungen unmittelbar gespürt werden, sie als das akzeptiert werden, was sie sind, und mit Güte und Respekt anerkannt werden. Das ist die Art von gegenseitiger Einstimmung, die Liebe fördert. Und diese gegenseitige Einstimmung, so glaube ich, ist es auch, die uns sehen hilft, wie achtsames Gewahrsein die Liebe uns selbst gegenüber fördern kann. Es ist nachgewiesen worden, dass zwischenmenschliche Beziehungen emotionale Langlebigkeit fördern und uns dabei helfen, Wohlbefinden und körperliche Gesundheit zu erlangen (Anderson & Anderson 2003). Ich gehe hier davon aus, dass das achtsame Gewahrsein eine Form der Beziehung zu einem selbst ist, eine innere Form der
Achtsames Gewahrsein
39
Einstimmung, die in ähnlicher Weise gesundheitsfördernd ist. Dies könnte der bisher noch unidentifizierte Mechanismus sein, durch den Achtsamkeit das Wohlbefinden fördert.
Medizinische Anwendungsmöglichkeiten Weil er die tiefe Bedeutung der Kraft der Achtsamkeit spürte, initiierte Jon Kabat-Zinn gegen Ende der siebziger Jahre ein Projekt zur Anwendung dieser uralten Ideen in einem modernen medizinischen Umfeld. Was als Inspiration während eines stillen Retreats begann, führte dazu, dass Kabat-Zinn an die medizinische Fakultät der Universität von Massachusetts herantrat, an der er lehrte. Er bat darum, Patienten aufnehmen zu dürfen, deren Situation sich durch konventionelle medizinische Interventionen nicht mehr verbessern ließ. Und er fragte sich auch, ob er irgendetwas zur Genesung derjenigen Patienten beitragen könne, die mit konventionellen Mitteln behandelt wurden. Die medizinische Fakultät, die froh war, einen Platz zu haben, an dem die Betroffenen hoffentlich etwas Erleichterung finden könnten, stimmte zu, und so wurde die Stress Reduction Clinic aus der Taufe gehoben und die „Stressbewältigung durch Achtsamkeit" (MindfulnessBased Stress Reduction, kurz MBSR) entwickelt (Kabat-Zinn 1990). Das MBSR-Programm brachte Menschen mit den unterschiedlichsten chronischen Krankheiten, von Rückenschmerzen bis hin zu Schuppenflechte, die uralte Praxis der Achtsamkeit nahe. Kabat-Zinn und seine Kollegen, einschließlich Richard Davidson von der Universität Wisconsin in Madison, waren letztlich in der Lage, nachzuweisen, dass das MBSR-Training dazu beitragen konnte, subjektives Leiden zu verringern, die Immunfunktionen zu verbessern und die Heilung zu beschleunigen sowie zwischenmenschliche Beziehungen und ein allgemeines Gefühl von Wohlbefinden zu fördern (Davidson et al. 2003). MBSR ist jetzt von Hunderten von Programmen auf der ganzen Welt übernommen worden, und die Forschung hat nachgewiesen, dass seine Anwendung physiologische, psychologische und zwi-
40
Geist, Gehirn und Bewusstsein
schenmenschliche Verbesserungen bei einer Vielzahl von Patientenpopulationen herbeigeführt hat (Grossman et al. 2004). Angesichts der Tatsache, dass diese übereinstimmenden Ergebnisse so stabil sind, und angesichts des wachsenden Interesses an Praktiken des achtsamen Gewahrseins war es nicht weiter überraschend, dass sich auch meine eigene Disziplin der geistigen Gesundheit der Essenz der Achtsamkeit zuwandte und sie als Grundlage verwendete, um Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen anzusprechen.
Unterscheidungsvermögen und Auswirkungen auf die geistige Gesundheit Achtsamkeitspraktiken haben zahlreiche psychotherapeutische Ansätze beeinflusst, wobei die neueren Forschungen signifikante Verbesserungen bei verschiedenen Erkrankungen zeigen, die sich in einer Verringerung der Symptome und der Verhinderung von Rückfällen äußern (Hayes, Follette & Linehan 1993; Hayes, Strosahl & Wilson, 1999; Linehan 1993; Marlatt & Gordon 1985; Parks, Anderson & Marlatt 2001). Achtsamkeit kann darüber hinaus mittels kognitiver Therapie Rückfälle bei chronischen Depressionen verhindern (Segal, Williams & Teasdale 2002). In ähnlicher Weise ist Achtsamkeit als essenzieller Bestandteil der Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Rahmen der dialektischen Verhaltenstherapie (Dialogical Behavior Therapy, kurz DBT) verwendet worden (Linehan 1993). Von Marlatt und seinen Kollegen (2001) ist Achtsamkeit eingesetzt worden, um Rückfälle bei Drogenabhängigen zu verhindern. Die Prinzipien der Achtsamkeit sind außerdem ein ganz wesentlicher Bestandteil bei der Anwendung der zeitgenössischen Verhaltensanalyse in der ACT-Therapie, die auf Akzeptanz und innerer Verpflichtung beruht (Hayes 2004). Eine der ersten Studien, die gezeigt hat, dass Psychotherapie die Funktionsweise des Gehirns verändern kann, hat Achtsamkeitsprinzipien in der Behandlung von Menschen mit Zwangsneurosen eingesetzt (Baxter, Schwartz, Bergman, Szuba, Guze, Mazziotta et al. 1992). Mittlerweile sind mehrere Bücher erschienen,
Achtsames Gewahrsein
41
die sich mit dem Einsatz von Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen befassen - von Essstörungen bis hin zu Angstzuständen, posttraumatischem Stresssyndrom und Zwangserkrankungen (Hayes, Folette & Linehan 2004; Germer, Siegel & Fulton 2005; Segal, Williams & Teasdale 2002). Die allgemeine Idee vom klinischen Nutzen der Achtsamkeit ist, dass das Annehmen der eigenen Situation den inneren Kampf erleichtern kann, der möglicherweise auftaucht, wenn die Erwartungen, wie das Leben sein sollte, nicht damit übereinstimmen, wie das Leben ist (Brach 2003; Hayes 2004; Linehan 1993a). Achtsam zu sein beinhaltet, zu spüren, was ist, sogar das eigene Urteilen zu spüren und zur Kenntnis zu nehmen, dass Empfindungen, Bilder, Gefühle und Gedanken kommen und gehen. Wenn Sie eine COAL-Haltung haben, dann läuft der Rest wie von selbst. Es gibt kein bestimmtes Ziel, kein Bemühen, etwas „loszuwerden", sondern einfach nur die Intention, zu sein und, ganz spezifisch, das Im-Moment-Sein zu erleben, während man das Festhalten an Urteilen und Zielen loslässt. Aus dieser reflektierenden und achtsamen COAL-Seinsweise aufzutauchen ist ein grundlegender - als „Einsicht" bzw. „Urteilsvermögen" oder „Unterscheidungsvermögen" definierter - Prozess, der es ermöglicht, sich bewusst zu werden, dass die Aktivitäten des Geistes nicht die Gesamtheit dessen sind, was Sie sind. Die Einsicht ist eine Form der Desidentifikation von den Aktivitäten Ihres Geistes: Indem Sie der auftauchenden Sinneseindrücke, Bilder, Gefühle und Gedanken (sensations, images, feelings, thoughts, kurz SIFT) gewahr werden, sehen Sie diese Aktivitäten des Geistes als Wellen auf der Oberfläche des geistigen Ozeans. Von diesem tieferen Platz Ihres Geistes aus, diesem inneren Raum achtsamen Gewahrseins, können Sie das Kommen und Gehen der Gehirnströme an der Oberfläche einfach wahrnehmen. Diese Fähigkeit, sich vom Geschwätz des Geistes zu lösen und zu erkennen, dass es sich dabei „einfach nur um Aktivitäten des Geistes" handelt, ist befreiend und für viele Menschen revolutionär. Im Wesentlichen ist es dieses Unterscheidungsvermögen, durch das uns die Achtsamkeit dabei helfen kann, Leiden zu lindern.
42 Geist,
Gehirn
und
Bewusstsein
Die Kraft des Unterscheidungsvermögens verleiht uns darüber hinaus die Weisheit, rücksichtsvoller und mitfühlender miteinander umzugehen. In dem Maße, wie wir Freundlichkeit und Güte uns selbst gegenüber entwickeln, können wir auch freundlich und gütig anderen gegenüber sein. Wenn wir uns von unseren automatischen mentalen Gewohnheiten befreien, dann sind wir frei dafür, uns auf ein tieferes Gefühl von Verbundenheit und Empathie gegenüber anderen einzulassen.
Achtsame Lehre und Therapie Eine achtsame Herangehensweise an die Therapie sowie an Bildung und Erziehung beinhaltet Veränderungen in unserer Einstellung gegenüber den Menschen, mit denen wir arbeiten. Die aktive Beteiligung des Schülers bzw. der Schülerin am Lernprozess befähigt den Lehrer, sich der Entdeckungsreise, die das Unterrichten sein kann, als gleich gesinnter Erforscher anzuschließen: Wir können das Wissen ebenso wie die Ungewissheit mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und freundlicher Aufmerksamkeit bereitwillig annehmen. Der Lehrer muss keine Quelle absoluten Wissens sein, was einer Illusion gleichkäme. Vielmehr können sich der Pädagoge und die Schüler gemeinsam der aufregenden Herausforderung stellen, ein Wissensgerüst zu entwickeln, welches das Wesen des Wissens und die ihm innewohnende Kontextabhängigkeit sowie subtile Quellen des Neuen und Differenzierenden einbezieht. Den Einzelnen in der Psychotherapie auf ähnliche Weise zu sehen, scheint für viele Therapeuten etwas Neues zu sein. In dem Ringen darum, welche Terminologie sie in ihrem Buch über Achtsamkeit und Psychotherapie verwenden sollten, schrieben Germer, Siegel und Fulton (2005): „Eine wesentliche Herausforderung bei der Zusammenstellung dieses Buches bestand darin, zu einer einheitlichen Verwendung der Begriffe ,Klient' bzw. ,Patient' zu gelangen. Unser Berufsstand hat diese Diskussion noch nicht beendet, und wir werden es auch nicht tun. Nach eingehenderen Untersuchungen entschie-
Achtsames Gewahrsein
43
den wir uns jedoch für ,Patient'. Von der Etymologie her bedeutet Patient ,einer, der Leid erträgt', während ,Klient' bedeutet, ,einer, der sich unter den Schutz eines Schirmherrn stellt'. Da Doktor ,Lehrer' bedeutet, könnte gesagt werden, dass wir ,Menschen lehren, die Leid ertragen'. Diese Bedeutung entspricht der ursprünglichen Verwendungsweise der Achtsamkeit vor zweitausendfünfhundert Jahren: Sie ist eine Lehre, die Leiden lindert" (S. XV). Mit diesen Erkenntnissen im Hinterkopf werden wir auch den Begriff „Patient" in diesem Text verwenden. Diese Diskussion betrifft auch unsere Herangehensweise an die Psychotherapie einerseits und an Bildung und Erziehung andererseits als zwei Bereichen, in denen diese Vorstellungen über das achtsame Gehirn umgesetzt werden. Achtsamkeit hat unmittelbare Auswirkungen darauf, das Leben von Menschen im Unterricht und im klinischen Umfeld zu verbessern, indem sie die verschiedenen medizinischen und psychologischen Stressfaktoren und Krankheiten anspricht. Bei ihrer Suche nach einem wirksamen Ansatz für die Behandlung der weitverbreiteten chronischen Depression haben sich die anerkannten kognitiven Therapeuten Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale für die Achtsamkeit als einer Fähigkeit begeistert, die für ihre Bemühungen nützlich sein könnte (Segal, Williams & Teasdale 2002). Zu Beginn sahen sie die positiven Auswirkungen dieses Ansatzes als Folge des Aufmerksamkeits-Fertigkeitstrainings an, fanden jedoch bald heraus, dass die achtsame Präsenz des Therapeuten eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit der Behandlung spielte. Ihre Rücksprachen mit Kabat-Zinns MSBR-Klinik führten zur endgültigen Verschiebung ihres Schwerpunkts und der Entwicklung der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, kurz MBCT), die sich als erste Form von Psychotherapie erwies, die Rück-fälle bei Menschen mit chronischen depressiven Phasen verhindern konnte. Ihre Beschreibung dieser Verschiebung ist aufschlussreich: Bei unserer eigenen Ausbildung hatte man uns beigebracht, dass wir, wenn wir mit einem schwierigen klinischen Problem konfrontiert waren, mit dem Patienten zusammenarbeiten
44 Geist, Gehirn und
Bewusstsein
sollten, um herauszufinden, wie man es am besten lösen könnte. Und dies, indem man beispielsweise herausfand, welche Gedanken, Interpretationen und Annahmen das Problem verursachen oder verschärfen könnten. Wir rechneten damit, dieselbe Herangehensweise bei der Entwicklung des Aufmerksamkeitskontrolltrainings verfolgen und die Achtsamkeitstechniken auf diesen therapeutischen Grundrahmen „aufschrauben" zu können. Durch unsere späteren Besuche in der Stress Reduction Clinic wurde jedoch deutlich, dass wir, sofern wir nicht die Grundstruktur unserer Behandlung veränderten, uns ständig mit den schwierigsten Problemen konfrontieren würden, indem wir immer durchdachtere Wege suchten, sie zu lösen. Stattdessen erschien es uns jetzt so, dass die übergeordnete Struktur unseres Behandlungsprogramms sich von einem Modus, in dem wir die Therapeuten waren, verändern musste zu einem, in dem wir die Dozenten waren. Worin bestand der Unterschied? Als Therapeuten fühlten wir uns angesichts unserer Verwurzelung in der kognitiv-verhaltensorientierten Tradition dafür verantwortlich, Patienten zu helfen, ihre Probleme zu lösen, die „Knoten" ihres Denkens und Fühlens „aufzuschnüren", ihr Leiden zu reduzieren und solange bei einem Problem zu bleiben, bis es gelöst war. Im Gegensatz dazu sahen wir, dass die MBSR-Dozenten die Verantwortung eindeutig bei den Patienten ließen und ihre primäre Rolle darin sahen, Patienten zu befähigen, sich von Moment zu Moment achtsam auf ihr eigenes Erleben zu beziehen (S. 59). Die Akzeptanz und das Unterscheidungsvermögen der Achtsamkeit quasi als Therapeuten einzubeziehen befähigt uns, zum Mitreisenden auf diesem ungewissen Lebenspfad zu werden. In ähnlicher Weise können wir uns als Lehrer zu unseren Studenten gesellen und die Welt durch die Brille kreativer Ungewissheit sehen, welche die sich immer wieder verändernde Landschaft der äußeren und inneren Welten unseres dynamischen Lebens in der Tiefe anerkennt.
Achtsames Gewahrsein
45
Warum sprechen wir vom „achtsamen" Gehirn? Durch die Erforschung potenzieller Mechanismen im Gehirn, die mit Achtsamkeit korrelieren, wird es möglich, die Verbindung zwischen unserer gewöhnlichen Alltagssicht der Achtsamkeit, der pädagogischen Nutzung kognitiver Achtsamkeitskonzepte und der klinischen Anwendung der Praktiken des reflektiven achtsamen Gewahrseins zu sehen, wie sie im Bereich körperlicher und geistiger Gesundheit zum Einsatz kommen. Diese in manchen Fällen uneinheitlichen Verwendungen des Begriffs Achtsamkeit könnten jedoch auf dieselben neuronalen Bahnen zurückgreifen. Wenn wir diese mit kognitiver und reflektiver Achtsamkeit verbundenen neuronalen Mechanismen erhellen, dann könnte uns das dabei helfen, unser wissenschaftliches Verständnis zu erweitern und so den Weg dafür zu ebnen, spezifische, überprüfbare Fragen zu stellen. Solche neuronalen Einsichten könnten darüber hinaus Licht darauf werfen, wie praktische Anwendungsmöglichkeiten der Achtsamkeit entwickelt und umgesetzt werden könnten, und zwar auf eine Weise, wie wir sie uns bisher noch nicht vorgestellt haben. Indem wir zeigen, wie Achtsamkeit unsere sozialen neuronalen Schaltkreise beeinflusst, könnten wir in der Lage sein, unser Verständnis ihrer Auswirkungen auf das physiologische und psychische Wohlbefinden zu erweitern. Eine weitere wichtige Dimension des achtsamen Gehirns ist, dass wir, indem wir die mit achtsamem Gewahrsein verbundenen neuronalen Mechanismen verstehen, vielleicht eher in der Lage sind, seine universellen menschlichen Qualitäten zu identifizieren und es für ein breiteres Publikum zugänglicher und glaubhafter zu machen. Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der diese die Gesundheit fördernde, die Empathie erhöhende, die exekutive Aufmerksamkeit entwickelnde, das Mitgefühl mit sich selbst nährende, erschwingliche und anpassungsfähige geistige Praxis für jeden verfügbar wäre?
46 Geist, Gehirn und Bewusstsein
Zwei Arten des Wissens Bei der Vorbereitung auf die Erforschung dieser Themen habe ich mich mit zwei Arten des Wissens befasst - dem erfahrungsbezogenen und dem experimentellen. Ich habe an einer Reihe intensiver und unmittelbarer Versenkungen in das achtsame Gewahrsein teilgenommen, um die Kraft dieser bedeutenden Art, im Leben zu sein, zu spüren. Dieser Aspekt der Reise, über den ich noch sprechen werde, befähigt uns, die innere Dimension der Achtsamkeit quasi von innen nach außen zu erleben. Die zweite Art des Wissens ist gleichermaßen kraftvoll, jedoch anders geartet: Hier geht es um die wissenschaftliche Sicht auf das achtsame Gewahrsein. Ich erhielt eine Einladung, bei einem Sommer-Forschungsprogramm zu unterrichten. Dieses Programm wurde vom Mind and Life Institute gesponsert, das sich unter der Führung des Dalai Lama um die Integration von Wissenschaft und Meditation bemüht hat. Vertreter anderer Praktiken, unter anderem des kontemplativen christlichen Gebets, des dem Taoismus entstammenden Tai-Chi und des Yoga besuchten das Institut: Es gibt viele Wege, um achtsames Gewahrsein zu trainieren. Ich war auf einer Podiumsdiskussion und sprach über die klinischen Anwendungen von Achtsamkeit und die Transformation des Affekts durch Meditation. Bevor ich anfing, wollte ich ein Gespür dafür bekommen, welche Grundkenntnisse das Publikum in Neuroanatomie hatte, so dass ich die Einzelheiten meines Vortrags darauf abstimmen konnte. Als ich fragte: „Wer hier weiß, wie das Gehirn funktioniert?", entgegnete einer meiner Podiumspartner, Richard Davidson, ein renommierter Forscher auf dem Gebiet der affektiven Neurowissenschaft: „Keiner von uns!" Wir alle lachten und erkannten, wie Recht er hatte. Das Gehirn ist ein komplexes System, und wir „wissen" nicht wirklich zur Gänze, wie es funktioniert, noch, auf welche Weise seine Funktionen genau mit der subjektiven Natur des Geistes verbunden sind. Und noch viel weniger wissen wir, wie achtsames Gewahrsein funktioniert. Aber dennoch stehen uns viele faszinierende Hinweise darauf zur Verfügung, wie geistiges Erleben und Gehirnstruktur und
Achtsames
Gewahrsein
47
-funktion zusammenwirken. Die Gehirnfunktion und das geistige Leben sind nicht identisch. Wenn wir mit der Erforschung des achtsamen Gewahrseins befasst sind, dann müssen wir sehr bescheiden sein und sagen, dass wir nur sehr wenig über die Rolle des Gehirns dabei wissen. Doch wenn man sich unvoreingenommen den neuronalen Aspekten der Achtsamkeit zuwendet, dann kann das nur dazu beitragen, Licht auf die damit verbundenen Prozesse und Mittel zu werfen, um diese wichtige Dimension unseres subjektiven Lebens zu kultivieren. Und die daraus resultierenden Erkenntnisse könnten die objektive Natur unseres Körpers, unserer Beziehungen und unseres seelischen Wohlbefindens weiter bereichern. Wir können sagen, dass Geist und Gehirn sich in ihren Funktionen entsprechen, doch wir wissen de facto nicht, auf welche Weise Gehirnaktivität und Geistesfunktionen sich gegenseitig hervorbringen. Es ist allzu einfach, nur zu sagen, dass „das Gehirn den Geist erzeuge", da wir mittlerweile wissen, dass der Geist auch das Gehirn aktivieren kann. Der Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert (unsere Definition von Geist), kann das Feuern des Gehirns direkt anregen und letzten Endes auch die strukturellen Verbindungen im Gehirn umgestalten. Wir können auf das Gehirn schauen, um Entsprechungen zu mentalen Prozessen zu finden, wie etwa beim achtsamen Gewahrsein. Diese Verbindungen sind einfach nur das: keine kausalen Beweise, sondern zwei Dimensionen der Realität, die letzten Endes nicht aufeinander reduziert werden können. Davidson und seine Kollegen haben zum Beispiel eine Verlagerung der Gehirnfunktion zu einer Dominanz des linken Frontallappens als Reaktion auf emotionale Auslöser festgestellt (Davidson et al. 2003), die mit einer Annäherungshaltung und positiveren Emotionen assoziiert werden, wie wir in Kapitel 10 sehen werden. Diese Linksverlagerung in Schaltkreisen, die für das Regulieren von Emotionen zuständig sind, korrelierte unmittelbar mit dem Grad an Verbesserung bei der Immunabwehr. Eine weitere Studie (Lazar, Kerr, Wasserman, Gray, Greve & Treadway 2005) zeigte eine Vergrößerung von zwei Gehirnbereichen: (1) des mittleren Präfrontalbereichs auf beiden Seiten und (2) diejenige
48 Geist, Gehirn und Bewusstsein
eines damit verbundenen neuronalen Schaltkreises, der Inselrinde, die insbesondere auf der rechten Gehirnseite dicker war. Die Dicke in diesen Arealen hing mit der Länge der Zeit zusammen, in der die Achtsamkeitsmeditation praktiziert worden war. Hier sehen wir sowohl eine linksseitige als auch eine rechtsseitige Korrelation mit den Praktiken des achtsamen Gewahrseins (siehe Anhang III, Lateralität). Studien über andere Meditationsformen, bei denen man sich zum Beispiel auf das Mitgefühl konzentriert, zeigen wieder andere Veränderungen, wie etwa eine erhöhte Feuerkoordination, insbesondere im Präfrontalbereich auf beiden Seiten des Gehirns (Lutz, Greischar, Rawlings, Ricard & Davidson 2004). Eine umfangreiche Bewertung vieler Studien (Cahn & Polich 2006) zeigt eine ganze Reihe von Aktivierungen, insbesondere in den mittleren Präfrontalbereichen (anteriores Cingulum) durch die Achtsamkeitsmeditation. Ein positiver Effekt bei der Beschäftigung mit dem Gehirn und der Suche nach Entsprechungen mit dem Geist, zeigt sich darin, dass wir mehr über den Geist selbst lernen können. Bei der Untersuchung des achtsamen Gehirns werden wir uns nicht nur mit diesen und anderen Studien über Emotionen, Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen beschäftigen, sondern auch in das neue Gebiet der sozialen Neurowissenschaft eintauchen. Das achtsame Gewahrsein auch als Beziehung zu sich selbst anzusehen, die sich die neuronalen Schaltkreise unseres sozialen Lebens zunutze macht, könnte neues Licht auf die fundamentalen Prozesse werfen, die in der Erfahrung der Achtsamkeit verborgen liegen. Vorläufige Forschungen zu den Gehirnfunktionen deuten an, dass Achtsamkeit das Gehirn verändert. Warum sollte die Art und Weise, wie Sie im gegenwärtigen Moment aufmerksam sind, Ihr Gehirn verändern? Die Art und Weise, wie wir aufmerksam sind, fördert die neuronale Plastizität - die Umgestaltung neuronaler Verbindungen als Reaktion auf Erfahrung. Was wir untersuchen werden, sind die möglichen Mechanismen, wie sich die verschiedenen Dimensionen achtsamen Gewahrseins in der Aktivität des Gehirns niederschlagen und dann das Wachstum der Verbindungen in diesen Bereichen anregen. Indem wir tief in das unmittelbare Erleben eintauchen, werden wir
Achtsames Gewahrsein
49
in der Lage sein, etwas Licht darauf zu werfen, warum Forschungsergebnisse Veränderungen auf der linken und rechten Seite zeigen und welche globalen Auswirkungen sich dadurch für das integrative Funktionieren des Gehirns als Ganzes ergeben könnten.
Achtsamkeit als Beziehung, die Integration fördert Lange bevor wir unseren Geist mithilfe von Reflektion zu kultivieren versuchten, haben wir uns als soziale Geschöpfe weiterentwickelt. Ein großer Teil unseres Gehirns im Ruhezustand, in der Standardeinstellung sozusagen, scheint ein neuronaler Schaltkreis zu sein, der mit dem Verstehen anderer in Beziehung steht (Gusnard & Raichle 2001). Es sind die sozialen Schaltkreise des Gehirns, die wir zuerst benutzt haben, um den Geist, die Gefühle, Intentionen und Einstellungen anderer zu verstehen. Wenn wir das achtsame Gewahrsein als einen Weg ansehen, um das Bewusstsein des Geistes von sich selbst zu kultivieren, dann erscheint es wahrscheinlich, dass es sich Aspekte der ursprünglichen neuronalen Mechanismen zunutze macht, um sich des Geistes anderer bewusst zu werden. Wenn wir uns unserer eigenen Intentionen und des Fokus unserer Aufmerksamkeit bewusst werden, dann verwenden wir dazu vielleicht genau diejenigen Schaltkreise im Gehirn, die zuerst Landkarten von der Intention und Aufmerksamkeit anderer erzeugt haben. COAL ist genau die geistige Haltung, die Eltern gegenüber ihren Kindern haben, denen sie eine sichere Bindung mit auf den Weg geben. Wir können sagen, dass die gegenseitige Einstimmung bei der sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind einer intrapersonalen Form von Einstimmung beim achtsamen Gewahrsein entspricht. Beide Formen von Einstimmung fördern die Fähigkeit zu engen Beziehungen sowie Resilienz und Wohlbefinden (siehe Kapitel 9 zur weiteren Erörterung des Themas Bindung). Vergleicht man Studien über sichere Bindung mit solchen über Praktiken des achtsamen Gewahrseins, stellt man erstaunliche Überschneidungen in den Ergebnissen fest (Kabat-Zinn 2003b; Sroufe,
50 Geist, Gehirn und Bewusstsein
Egeland, Carlson & Collins 2005). Ich habe außerdem festgestellt, dass viele der Grundfunktionen, die bei diesen beiden scheinbar so unterschiedlichen Themen auftauchten, mit dem Präfrontalkortex verbunden waren. Zu diesen Funktionen gehören die Regulierung der Körpersysteme, das Ausgleichen von Emotionen, die Einstimmung auf andere, das Modulieren von Angst, flexible Reaktionen und das Zeigen von Einsicht und Empathie. Zwei andere Funktionen dieser Präfrontalregion - nämlich in Kontakt mit Intuition und Moral sein - sind in der Bindungsarbeit nicht untersucht worden, schienen jedoch ein Ergebnis der Praxis des achtsamen Gewahrseins zu sein (siehe Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals). Der Vorschlag, den meine Kollegen und ich früher unterbreitet hatten (siehe Cozolino 2002; Schore 2003a, 2003b; Siegel 1999, 2001b; Siegel & Hartzell 2003; Solomon & Siegel 2003), bestand darin, dass die Beziehungen der sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind ebenso wie die effektive therapeutische Beziehung zwischen Kliniker und Patient das Wachstum der Fasern in dieser Präfrontalregion förderten. Die Präfrontalfunktion ist integrativ. Das bedeutet, dass lange Stränge der Präfrontalneuronen bis in weit entfernte und abgegrenzte Bereiche des Gehirns und des Körpers hineinreichen. Diese Verbindung von abgegrenzten Elementen ist die wörtliche Definition eines fundamentalen Prozesses, nämlich der Integration. Aus vielerlei Gründen, die an anderer Stelle erörtert werden, kann die Integration als grundlegender gemeinsamer Mechanismus für verschiedene Bahnen angesehen werden, die zu Wohlbefinden führen (Siegel 1999, 2001b, 2006, im Druck). Wie fördert Einstimmung die Integration? Wenn die Beziehungen zwischen Eltern und Kind aufeinander abgestimmt sind, dann ist das Kind in der Lage, sich „gefühlt zu fühlen", und es hat ein Gefühl von Stabilität im gegenwärtigen Moment. Während der Interaktion im Hier und Jetzt fühlt sich das Kind gut, verbunden und geliebt. Die innere Welt des Kindes wird von den
Achtsames Gewahrsein
51
Eltern klar gesehen, und die Eltern lernen, mit dem Zustand des Kindes in Resonanz zu gehen. Das ist Einstimmung. Im Laufe der Zeit befähigt diese eingestimmte Kommunikation das Kind, die regulierenden Schaltkreise im Gehirn zu entwickeln - einschließlich der integrativen Präfrontalfasern -, die für einen Menschen in der Zeit des Wachstums eine Quelle von Resilienz darstellen. Diese Resilienz nimmt die Form der Fähigkeit zur Selbstregulation und des Einlassens auf andere in empathischen Beziehungen an. Hier sehen wir, dass gegenseitige Einstimmung - die grundlegende Eigenschaft einer sicheren Bindung - zu den empirisch nachgewiesenen Ergebnissen führt, die wir oben beschrieben haben. Diese Liste der neun Präfrontalfunktionen schien sich auch mit dem zu überschneiden, was ich im Laufe der Zeit über die Achtsamkeitspraxis gelernt hatte. Ich habe diese Idee Jon Kabat-Zinn auf einem Diskussionspodium vorgestellt (Ackerman, Kabat-Zinn & Siegel 2005), und er hat die Beobachtung dieser Funktionen als Zielkriterien bestätigt. Er hat dann die Idee dahingehend erweitert, dass es bei dieser Liste nicht nur um Ergebnisse geht, die von der Forschung verifiziert wurden, sondern um den Prozess des achtsamen Lebens an sich. Der Reiz, eine Konvergenz zwischen der Bindungs- und der Achtsamkeitsforschung zu finden, hat mich dazu gebracht, die Überschneidungen weiter zu erforschen. Seit jener ersten Begegnung habe ich noch mehr über die Achtsamkeitspraxis gelernt, aus dem direkten Erleben und meinen eigenen klinischen Anwendungen ebenso wie dadurch, dass ich an einer Reihe von Retreats teilgenommen habe und mich an Forschungsinstituten als Teilnehmer und Fakultätsmitglied damit beschäftigt habe. Die Reise, etwas über diese Möglichkeiten, den Geist und das Wohlbefinden zu kultivieren, zu lernen, ist aufregend gewesen und hat mich in meiner Aufgeschlossenheit gestärkt. In den vor uns liegenden Kapiteln werden wir tiefer in die Geheimnisse des Geistes eindringen und untersuchen, was achtsames Gewahrsein, sichere Bindung und präfrontale Gehirnfunktion miteinander gemein haben könnten.
Kapitel 2 Das Gehirn - Grundlagenwissen
Entwicklung Das Nervensystem entwickelt sich im Embryo zunächst als Ektoderm, den äußeren Zellschichten, die später die Haut bilden. Bestimmte Zellcluster dieser äußeren Zellen falten sich dann an der Rückenseite (Neuraiplatte) nach innen und bilden das Neuralrohr aus, das zum Rückenmark und zum Gehirn wird. Diese Entwicklung vom Ursprung der Neuronen - der Grundzellen des Gehirns - auf der „Außenseite" bis hin zu ihrer Reise „ins Innere" des Körpers veranschaulicht eine philosophische Erkenntnis, nämlich die, dass das Gehirn an der Schnittstelle der inneren und der äußeren Welt unseres körperlich definierten Selbst entsteht. Für die Beschäftigung mit dem achtsamen Gehirn ist es von Nutzen, diese Schnittstelle oder Verbindung von innen und außen im Gedächtnis zu behalten. Unser Gehirn steht an der Spitze eines ausgedehnten Nervensystems, das über den ganzen Körper verteilt ist. Wann immer wir dem Wort Gehirn begegnen, ist es wichtig, sich diese Tatsache zu
Das Gehirn - Grundlagenwissen
53
vergegenwärtigen. Das Grundgerüst (oder die Kernarchitektur) des Nervensystems entsteht im Zuge seiner Entwicklung im Mutterleib. Genetische Faktoren bestimmen in entscheidendem Maße, wie viele Neuronen zu ihrem Bestimmungsort wandern und sich dann miteinander verbinden werden. De facto sind circa fünfzig Prozent unseres genetischen Materials direkt oder indirekt für die Struktur des Nervensystems zuständig, was die Gene zu einem sehr wichtigen Faktor in der neuronalen Entwicklung werden lässt. Doch bereits wenn der Fötus kurz davor steht, den Mutterleib zu verlassen, wirken Erfahrungen auf die Verbindungen zwischen den Neuronen ein. „Erfahrung" bedeutet für das Nervensystem im Wesentlichen die Aktivierung des neuronalen Feuerns als Reaktion auf einen Stimulus. Wenn Neuronen aktiv werden, dann wachsen ihre Verbindungen untereinander und unterstützende Zellen und Blutgefäße beginnen sich schnell zu vermehren. Auf diese Weise prägen Erfahrungen die Struktur des Nervensystems. Unter neuronalem Feuern versteht man die Aktivierung des Äquivalents eines elektrischen Stroms, eines so genannten Aktionspotenzials, das sich über die gesamte Länge der Axone (Nervenzellenfortsätze) bis zu deren Endverzweigungen fortsetzt, wo an der Synapse, dem intrazellulären Raum zweier unmittelbar angrenzender Neuronen, die durch Verbindungskanäle (gap junctions) aneinander gekoppelt sind, entweder ein aktivierender oder ein hemmender Neurotransmitter (Botenstoff) ausgeschüttet wird. Das nachgeordnete Neuron wird dann in Abhängigkeit davon gefeuert, ob die in jenem Moment ausgeschütteten Transmitter eher stimulierend oder eher hemmend sind. Im Durchschnitt sind hundert Milliarden Neuronen über 10000 synaptische Verschaltungen miteinander verbunden, die von Genen geschaffen und durch Erfahrung geformt werden: Die Natur braucht die Umwelt. Diese beiden wichtigen Dimensionen der menschlichen Entwicklung und der Neuraifunktionen stehen nicht im Widerspruch zueinander. Neuronen feuern, wenn wir Erfahrungen machen. Durch das Feuern der Neuronen wird das Potenzial geschaffen, bestehende Synapsen durch das Wachstum neuer Verbindungen zu verändern oder sogar das Wachstum neuer Neuronen anzuregen, die ihrerseits neue synap-
54
Geist, Gehirn und Bewusstsein
tische Verbindungen erzeugen. Die Neubildung und Neuvernetzung von Neuronen beruht sowohl auf genetischen Faktoren als auch auf Erfahrung. Veränderungen in den Verbindungen, die aufgrund von Erfahrung zustande kommen, sind Ausdruck der Neuroplastizität des Gehirns. Erfahrung bedeutet neuronales Feuern, was in einigen Situationen die Aktivierung von Genen fördern kann. Die Genaktivierung führt zur Produktion von Proteinen, die ihrerseits die Bildung neuer Verschaltungen und die Verstärkung alter ermöglicht. Die Forschung hat außerdem gezeigt, dass Erfahrungen das Wachstum neuer Neuronen anregen können. Neurogenese ist der Prozess, bei dem neue Neuronen heranwachsen - sogar bei Erwachsenen. Bei den noch nicht ausdifferenzierten Zellen im Gehirn, den neuronalen Stammzellen, erfolgt eine regelmäßige Teilung. Ein Produkt dieser Teilung setzt durch Vermehrung die Stammzellenlinie fort (Proliferation), während das andere, die „Tochterzelle", dazu angeregt werden kann, zu einer voll integrierfähigen Nervenzelle im Gehirn heran-zuwachsen (Differenzierung). Wir wissen, dass sich Neurogenese bei Erwachsenen zumindest im Hippocampus vollzieht (synaptische Plastizität) und dass diese Tochterzellen über einen Zeitraum von mehreren Monaten dazu angeregt werden können, zu voll funktionsfähigen, integrierten Neuronen heranzuwachsen (Kempermann, Gast & Gage 2002).
Neuroplastizität Erfahrungen können strukturelle Veränderungen im Gehirn bewirken. Häufig finden solche Veränderungen auf der fein abgestimmten mikrostrukturellen Ebene statt; zum Beispiel wenn wir im Gedächtnis neue Assoziationen schaffen. Mit Hilfe eines Scanners können solche Veränderungen jedoch kaum nachgewiesen werden, es sei denn, sie wären recht markant. Aufgrund von Sara Lazars veröffentlichter Arbeit (Lazar et al. 2005), die strukturelle Veränderungen aufzeigt, sollte uns bewusst sein, dass dieser Befund nur durch signifikantes
Das Gehirn - Grundlagenwissen
55
Wachstum von Nervengewebe im Gehirn zustande gekommen sein kann. Sollte dies das Resultat von Erfahrung sein, dann könnte es sein, dass die Neuroplastizität im Zentrum jenes Befunds stünde: Ein wiederholtes Feuern von Neuronen in spezifischen Arealen würde zu einer deutlich erhöhten Synapsendichte in jenen Regionen führen, die durch die Achtsamkeitspraxis aktiviert werden. Das Wachstum von unterstützenden Zellen und Blutgefäßen könnte sowohl zum Funktionieren dieser Bereiche als auch zu der größeren Dicke beitragen. Das achtsame Gewahrsein ist somit eine Form der Erfahrung, welche die Neuroplastizität zu fördern scheint. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit in spezifischer Weise fokussieren, dann aktivieren wir die Schaltkreise im Gehirn. Diese Aktivierung kann die synaptischen Verbindungen in den betreffenden Bereichen stärken. Wenn unsere Hypothese lautet, dass Achtsamkeit als eine Form der Beziehung zu sich selbst nicht nur aufmerksamkeitsbezogene Schaltun-gen, sondern auch soziale Schaltkreise beinhaltet, dann bedeutet dies, dass wir neue Dimensionen unserer achtsamen Erfahrung im Gehirn erforschen oder, mit anderen Worten, nach „neuronalen Korrelaten" derselben suchen können (für Rezensionen der sozialen Neurowissenschaft siehe Cozolino 2006 und Goleman 2006). Bei der Untersuchung von Veränderungen im Gehirn als Reaktion auf Erfahrungen können wir auf Daten aus funktionellen Bildgebungsverfahren (wie der fMRI, der funktionellen Magnetresonanztomografie) oder elektronischen Überwachungsgeräten (wie EEGs und ähnlichen Testverfahren) zurückgreifen. Dabei sollten wir nicht nur auf die physische Struktur des Gehirns schauen, sondern auch auf das Funktionieren des Gehirns als Gesamtsystem, um aufzuzeigen, wie neuroplastische Veränderungen zu funktionalen Veränderungen führen können. Richard Davidsons Nachweis, dass es bei Stimulustests, bei denen bestimmte Emotionen provoziert wurden, zu einer linksfrontalen Funktionsverschiebung kam, zeigt, dass die Achtsamkeitspraxis Menschen hilft, ihre Emotionen auf positivere Weise zu regulieren, und zwar durch Annäherung statt durch Rückzugsverhalten (Davidson 2004). Die Tatsache, dass eine Korrelation zwischen dem Grad an Verschiebung zur linken Gehirnhälfte hin und der
56
Geist, Gehirn und Bewusstsein
positiven Beeinflussung der Immunfunktion festgestellt wurde, zeigt uns, dass Achtsamkeit nicht nur dazu beiträgt, dass man sich wohl fühlt und sich schneller von negativen Gefühlen erholt, sondern dass sie tatsächlich unseren Gesundheitszustand verbessern kann. Neuroplastische Veränderungen sind nicht auf strukturelle Veränderungen beschränkt, sondern gehen auch mit Veränderungen in der Gehirnfunktion, im psychischen Erleben (etwa von Gefühlen und emotionaler Ausgeglichenheit) und in der körperlichen Verfassung (beispielsweise bei der Reaktion auf Stress und bei den Immunfunktionen) einher. Wie könnte unser Fokus auf Aufmerksamkeit und innere Einstimmung Veränderungen in jenen Schaltkreisen des Gehirns bewirken, die diese Funktionen durch achtsames Gewahrsein vermitteln? Die Art und Weise, wie wir Aufmerksamkeit schenken, wird das neuronale Feuern in bestimmten Bereichen anregen; diese werden aktiviert werden und ihre Verbindungen innerhalb der integrierten Schaltkreise des Gehirns umorganisieren. Wir werden untersuchen, wie geistige Aktivitäten - beispielsweise ganz bewusst dem gegenwärtigen Moment Aufmerksamkeit zu schenken - das Gehirn tatsächlich dazu anregen können, in spezifischer Weise aktiv zu werden, was dann zu vermehrtem Wachstum in diesen Regionen führt. Hier sehen wir uns mit der Vorstellung konfrontiert, dass der Geist das Gehirn nutzt, um sich selbst zu erschaffen. Dieses Wachstum und diese neuroplastischen Veränderungen, die durch die Fokussierung auf unseren eigenen Geist bewirkt werden, helfen uns, die Verbindung zwischen der Praxis achtsamen Gewahrseins und der Herbeiführung von Wohlbefinden zu erkennen.
Das Gehirn - Grundlagenwissen
57
Das Gehirn in Ihrer Handfläche Das Gehirn kennen zu lernen kann eine überwältigende Erfahrung sein. Neuere Entdeckungen im Bereich der Gehirnfunktionen zeigen Grundprinzipien auf, die uns dieses Organ nicht nur verständlich machen, sondern auch zugänglich. Und wenn ich noch weitergehen darf: Es kann sogar Spaß machen, das eigene Gehirn kennen zu lernen. In diesem Buch finden Sie einfache Schaubilder des Gehirns, komplizierte Übersichtstafeln der neuronalen Schaltkreise und echte CAT-Scans. Diese bildlichen Details der Gehirnanatomie können recht nützlich sein. Für unsere Erkundungen des achtsamen Gehirns benötigen wir ein Grundgefühl dafür, wo die verschiedenen Gehirnareale lokalisiert sind: Mit Hilfe der auf die Grobstrukturen reduzierten Schaubilder in den Abbildungen 2.1 und 2.2 können Sie sich einen ersten Einblick in die Thematik verschaffen. Ein weiteres nützliches Handwerkszeug, um das Gehirn zu betrachten, ist Ihre Hand. Wenn Sie Ihre Hand nehmen, Ihren Daumen in der Mitte platzieren und Ihre Finger darüber legen, dann haben Sie ein leicht zugängliches und ziemlich genaues Modell des Gehirns. Dieses Handmodell ist so ausgerichtet, dass Ihr Handgelenk für Ihre Wirbelsäule steht, das Gesicht befindet sich vor Ihren Fingernägeln und der Scheitelpunkt des Kopfes wird von der Oberkante Ihrer Hand repräsentiert.
Der Corpus callosum (Balken) verbindet die beiden Gehirnhälften miteinander. Der Präfrontalkortex schließt den orbitofrontalen Kortex ein.
Hippocampus
Die Amygdala (Mandelkern) ist eine wichtige Struktur für die Verarbeitung von Emotionen und ist entscheidend an den Prozessen des impliziten Gedächtnisses beteiligt.
Stammhirn
Abbildung 2.1 Diagramm des menschlichen Gehirns (Median-Sagitalschnitt). Es werden einige der Hauptareale des Gehirns dargestellt, u. a. das Stammhirn, das limbische System (mit Amygdala, Hippocampus und Cingulum anterior sowie anderen medialen und ventralen Arealen) und der Großhirnrinde (mit den präfrontalen Arealen, einschließlich des orbitofrontalen Kortex, der zusammen mit dem anterioren Cingulum und anderen medialen und ventralen Arealen Teil des „mittleren Präfrontalkortex" ist (Siegel & Hartzell, aus: Parenting from the inside out, New York: Penguin Putnam, 2003 - Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Freiamt: Arbor, 2004. Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung der Autoren).
Areale des „mittleren Präfrontalkortex"
„seitlicher" bzw. dorsolateraler Präfrontalkortex
Rechte Seite Corpus callosum
Medial Ventral Orbitofrontal Kortices des Cingulum anterior Mittlere Präfrontalregionen
Linke Seite
Abbildung 2.2 Die beiden Gehirnhälften. Diese Abbildung zeigt auch die Lage der Areale des „mittleren Präfrontalkortex", zu dem die mittleren und ventralen Regionen des Präfrontalkortex gehören sowie der Orbitofrontalkortex und der Kortex des Cingulum anterior. Der Balken (Corpus callosum) verbindet die beiden Gehirnhälften miteinander.
Das Stammhirn ist Ihre Handfläche, das limbische System sind Ihre Daumen (idealerweise haben Sie einen linken und einen rechten Daumen) und Ihr Kortex wird durch Ihre gekrümmten Finger symbolisiert. Lassen Sie uns die genannten Hirnareale kurz eines nach dem anderen durchgehen. Das Stammhirn ist für wichtige elementare Prozesse zuständig, wie für die Regulierung des Herzschlags und der Atmung, für Zustände von Wachheit und Schläfrigkeit sowie für gewisse Aspekte von Kampf-, Flucht- und Einfrierreaktionen. Das Stammhirn, das bereits bei der Geburt gut entwickelt ist, ist der in evolutionärer Hinsicht älteste Gehirnanteil und wird manchmal auch als Reptilhirn bezeichnet.
60
Geist, Gehirn und Bewusstsein
Das limbische System hat sich entwickelt, als die Reptilien sich zu Säugetieren weiterentwickelten. Limbische Regionen sind am Bindungsverhalten (unseren Verbindungen zu unseren engen Bezugspersonen) beteiligt, ebenso am Gedächtnis (insbesondere der Verarbeitung von Ereignissen in faktischer und autobiografischer Form), der Wertschätzung von Sinn und Bedeutung und der Erzeugung von Affekt und unseren inneren Empfindungen von Emotion. Zum limbischen System gehört auch der Hypothalamus, der das Hauptsteuerungsorgan für die Regulierung des Hormonhaushalts ist und somit direkten Einfluss auf den Körper ausübt. Diese endokrine Verbindung ist zusammen mit dem Einfluss, den das Gehirn über das autonome Nervensystem mit seinen bremsenden und beschleunigenden Elementen (Parasympathikus und Sympathikus) auf unser Immunsystem und unsere körperliche Verfassung hat, der direkte Weg, auf dem Gehirn und Körper eng miteinander verbunden sind. Die limbischen Bereiche, das Stammhirn und die subkortikalen Areale wirken zusammen und beeinflussen unsere Motivation und die Aktivierung unserer Grundbedürfnisse nach Überleben, Zugehörigkeit und Sinn. Der Kortex ist der äußere Teil des Gehirns, der bei Säugetieren vergrößert ist. Er ermöglicht uns die Steuerung komplexerer Prozesse wie zum Beispiel Wahrnehmung, Planung und Aufmerksamkeit. Da er mehrere Lappen mit unterschiedlichen Funktionen umfasst, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, um die komplexen Fähigkeiten dieser Region zu beschreiben, die bei der Geburt noch kaum entwickelt und daher sehr offen dafür ist, durch Erfahrung geformt zu werden (Abbildung 2.3).
Scheitellappen
Hinterhauptslappen
Schläfenlappen
Stirnlappen
Kleinhirn Stammhirn
Abbildung 2.3 Die traditionelle Sicht auf das Gehirn - die Kortikallappen (Cozolino 2 0 0 6 ; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Der Kortex ist in erster Linie ein aus sechs Schichten bestehender gefalteter Bereich, der aus grauer und weißer Substanz besteht. Die sechs Schichten setzen sich aus vertikal angeordneten Reihen kortikaler Säulen mit verschiedenen Säulen-Clustern zusammen, die in der Regel für die Verarbeitung eines bestimmten Aktivitätsmodus zuständig sind, wie dem Sehen oder dem Hören. Diese vertikalen Säulen sind über horizontal verteilte Schaltneuronen miteinander verbunden, die Wortgefechte ebenso ermöglichen wie die Verknüpfung unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen (Hören, Sehen) in
62
Geist, Gehirn und Bewusstsein
einem „kreuzmodalen" Feuern ganzer Neuronengruppen. Auf diese Verknüpfung getrennter Bereiche ist die wichtige Komplexität zurückzuführen, durch die sich die Glanzleistungen des menschlichen Kortex erklären lassen. Im Allgemeinen ist die Rückseite des Kortex, der Bereich von den zweiten Fingerknöcheln nach hinten, für die Wahrnehmung der Außenwelt zuständig, mit Ausnahme des Geruchs und des Bewusstseins von der Position der Gliedmaßen. Diese hinteren Regionen ermöglichen es dem Menschen, ein Gespür für die Außenwelt in Form von Wahrnehmungen zu erlangen. Die Vorderseite des Gehirns führt motorische, aufmerksamkeitsbezogene und auf Gedanken basierende Prozesse aus. Unsere Frontallappen haben sich entwickelt, als wir zu Primaten wurden. Studien zeigen, dass die Ausprägung der frontalen (stirnseitigen) Kortikalarchitektur bei Säugetieren umso stärker ausfällt, je höher ihr Grad an sozialen Lebensweisen ist. Der Frontalbereich von den zweiten Knöcheln bis zu den letzten ist eine Region, in der die erste Zone motorische Handlungen ausführt und die nächste Zone nach vorn für die motorische Planung zuständig ist. Sie wird als prämotorischer Kortex bezeichnet (Abbildung 2.4). Dieses prämotorische Areal war die erste Region, bei der das Spiegelneuronensystem festzustellen war, das es uns ermöglicht, die Intentionen und Emotionen anderer Menschen aufzunehmen und jene Zustände in uns selbst als Teil eines größeren „Resonanzschaltkreises" zu generieren (siehe Anhang III, Resonanzschaltkreise). Wir werden die Möglichkeit erforschen, dass diese Resonanzschaltkreise unseres sozialen Gehirns eine wichtige Rolle beim achtsamen Gewahrsein spielen.
Motorischer Kortex Somatosensorischer Kortex
Wernicke-Areal
Primäres auditives Rindenfeld
Abbildung 2.4
Broca-Area
Die traditionelle Sicht auf das Gehirn - bedeutende Regionen (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Unmittelbar vor diesen motorischen und prämotorischen Bereichen befindet sich der Präfrontalkortex. Diese Präfrontalregion, die beim Menschen am höchsten entwickelt ist, ist für viele der Funktionen verantwortlich, die wir als einzigartig für unsere Spezies ansehen. Die Präfrontalregionen können in verschiedener Weise unterteilt werden, je nach ihren unterschiedlichen Funktionen (Abbildung 2.5). Fürs Erste werden wir sie lediglich in zwei Areale einteilen - die seitlichen und die mittleren Präfrontalregionen. Die Areale des Präfrontalkortex arbeiten im Allgemeinen als Team zusammen und ihre Funktionen in dieser Weise als System zu sehen, kann recht nützlich sein. Der Seitenbereich der Präfrontalregion, der dorsolaterale Präfrontalkortex (DLPFC) ist für das Arbeitsgedächtnis (die „Tafel des Geistes") verantwortlich, mit Hilfe dessen wir Inhalte kurzzeitig in
64
Geist, Gehirn und Bewusstsein
unserem Gedächtnis aufbewahren können. Dieser seitliche Bereich ist für die Ausführung wichtiger Exekutivfunktionen zuständig, die die Selbstregulation unseres Verhaltens ermöglichen, und er beeinflusst auch den Fluss unserer momentanen Aufmerksamkeit. Der mittlere Bereich, von Ihren beiden mittleren Fingernägeln zu den Knöcheln hinauf, schließt mehrere miteinander verknüpfte Regionen ein, die für jene neun mittleren Präfrontalregionen zuständig sind, die wir im nächsten Absatz näher besprechen werden. Dabei handelt es sich um den orbitofrontalen Kortex (OFC), den Kortex des anterioren Cingulums (ACC) und den ventrolateralen (vlPFC) sowie den medialen präfrontalen Kortex (mPFC). In Abbildung 2.5 sind der orbitofrontale und der mediale Präfrontalkortex zusammen dargestellt und werden als orbitomedialer Präfrontalkortex bezeichnet. In Abbildung 2.6 wird ihre Nähe zu den vorderen Anteilen des zingulären Cortex deutlich. Diese ventralen und medialen Mittellinienstrukturen erhalten direkten Input aus dem gesamten Gehirn und dem Körper, insbesondere aus der Inselrinde (Inselkortex = IC). Die Inselrinde ist der Kanal, durch den Signale an und aus dem äußeren Kortex und den inneren limbischen Regionen (Amygdala, Hippocampus und Hypothalamus) und verschiedenen Körperbereichen (durch das Stammhirn und das Rückenmark) geschickt werden. Die mittleren Präfrontalbereiche scheinen die Daten der Inselrinde in Bezug auf unsere Emotionen und unseren primären körperlichen Zustand zu nutzen, um dann Repräsentationen vom Geiste anderer Menschen zu schaffen. Die mittleren Präfrontalbereiche sind sowohl für die soziale Kommunikation als auch für die Selbstbeobachtung unerlässlich. Diese Region ist ein zentraler Knotenpunkt im sozialen Schaltkreis des Gehirns (siehe Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals).
Sylvische Furche
Dorsolateral
Ventrolateral
Orbitomedial
Seitliche Furche
Abbildung 2.5 Regionen des Präfrontalkortex (CozoJino 2 0 0 6 ; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Beachten Sie, wie die mittlere Präfrontalregion den Körper, das Stammhirn sowie die limbischen, kortikalen und sozialen Prozesse zu einem funktionalen Ganzen verbindet. Wenn Sie Ihre Finger heben und wieder senken, dann nehmen Sie vielleicht wahr, dass die mittleren Präfrontalbereiche (repräsentiert durch die Enden der beiden Mittelfinger) in anatomischer Hinsicht tatsächlich alles im Gehirn berühren. Genau das kennzeichnet die neuronale Integration: über den gesamten Körper verteilte synaptische Verbindungen, über die wir sogar mit anderen Menschen verbunden sind. Ein interpersoneller neurobiologischer Ansatz dazu, wie unser soziales Leben uns hilft, unser Wohlbefinden zu fördern, sieht die neuronale Integration als Resultat eingestimmter Beziehungen an. Die neuronale Integration, die Koordination und Balance des Gehirns
Singulärer Cortex Orbitomodialer Präfrontalkortex Hypothalamus Inselnnde Hippocampus Amygdala
Abbildung 2.6 Strukturen des sozialen Gehirns. Die hier gezeigten Srrukruren Mnd unter der Oberfläche des Gehirns verborgen (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
sind als getrennte Bereiche miteinander verbunden, um ein funktionales Ganzes zu bilden, und dies scheint durch den Einklang, der in sicheren Bindungen besteht, gefördert zu werden. Ich schlage vor, hier einige vorläufige Daten zu sammeln, um die Hypothese zu verifizieren, dass achtsames Gewahrsein eine solche neuronale Integration fördern könnte, und zwar durch eine Form der intrapersonalen Einstimmung.
Das Gehirn - Grundlagenwissen
67
Das Gewahrsein der eigenen Erfahrung von Moment zu Moment schafft die Möglichkeit, die eigenen psychischen Erfahrungen unmittelbar zu spüren und anzunehmen. Dieser Bewusstseinszustand könnte sich verschiedener Gehirnregionen bedienen, unter anderem der wichtigen stirnseitigen Bereiche des Kortex, der subkortikalen limbischen Bereiche und des Stammhirns, um einen integrierten, kohärenten Zustand herzustellen. Die neuronale Integration, die teilweise durch diese Frontalregionen herbeigeführt wird, könnte wesentlich dafür sein, ein selbstregulierendes Gleichgewicht herzustellen. Wir sollten die genannten Präfrontalbereiche im Auge behalten, wenn wir erforschen, auf welche Weise diese integrativen Bahnen eine entscheidende Rolle auf dem Weg zum Wohlbefinden spielen.
Neuronale Integration, Achtsamkeit und Selbstregulation Das Konzept der neuronalen Integration ist eine sehr weit gefasste systemische Sichtweise der verschiedenen Funktionsweisen des Gehirns. In der Neurowissenschaft ist es möglich, sich stärker auf die Mikroanalyse zu konzentrieren und etwa die Membranen von Neuronen zu untersuchen, Neurotransmitter und ihre Rezeptoren zu studieren oder Neuronencluster und die unmittelbar mit ihnen verbundenen Nachbarzellen unter die Lupe zu nehmen. Diese tief gehende und fein abgestimmte Forschungsarbeit ist bedeutsam und faszinierend. Über diese äußerst wichtige mikroskopische Sichtweise hinaus können wir uns jedoch auch stärker nach außen orientieren und das Gehirn als Gesamtsystem untersuchen. Diese Makroansicht ermöglicht es uns nicht nur, das gesamte Gehirn und den Körper als ein funktionales Ganzes zu sehen, sondern darüber hinaus zu untersuchen, wie Signale eines Gehirn-Körpers mit anderen in Beziehungen, Familien und Gesellschaften interagieren. Das ist der Fokus unserer Arbeit im Center for Culture, Brain, and Development an der UCLA (siehe Anhang I). Bei dem Versuch, sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroanalyseebene zu sprechen, wird man unweigerlich mit der Frage der
68
Geist, Gehirn und Bewusstsein
Übersetzung konfrontiert. In unserem Zentrum müssen wir die Realität dieses Wissensspektrums einbeziehen, um die Puzzleteile zusammenzubringen, die nur dann zusammengesetzt werden können, wenn man in aller Bescheidenheit und mit allem Respekt den Wert dieser voneinander abweichenden Standpunkte anerkennt. Mein Empfinden angesichts der systemischen Sicht, wie sich der Geist zweier Menschen durch gegenseitige Einstimmung verbinden kann, ist, dass diese Verbindungsfähigkeit des Gesamtsystems (die neuronale Integration) einen ganz wesentlichen Stellenwert für das Wohlbefinden in Beziehungen hat. Wenn wir uns diese neuronale Perspektive der gegenseitigen Einstimmung zu Eigen machen und die Achtsamkeit als intrapersonale Form derselben ansehen, dann ist es nur natürlich, das Gefühl zu haben, dass die neuronale Integration eine entscheidende Rolle bei Achtsamkeitszuständen spielen könnte. Die neuronale Integration ist das Verbindungsglied zwischen Neuralregionen, die in anatomischer oder funktionaler Hinsicht unterschiedlich sind, und sie bewirkt eine Zusammenschaltung von weit verzweigten Bereichen des Gehirns und des Körpers. Diese Zusammenschaltungen nehmen in struktureller Hinsicht die Form von synaptischen Verbindungen an und erzeugen in funktioneller Hinsicht eine Form von Koordination und Ausgeglichenheit. Die neuronale Integration bewirkt über diese Koordination und Ausgeglichenheit der Nervenaktivierung wahrscheinlich ein optimales Funktionieren. Koordination bedeutet, dass wir das Feuerverhalten voneinander getrennter Regionen überwachen und dann so beeinflussen, dass es zu einem gut funktionierenden Ganzen wird. Ausgeglichenheit impliziert die Aktivierung, Deaktivierung und Reaktivierung von miteinander gekoppelten Bereichen. Ein anschauliches Beispiel dafür wäre die Ausgeglichenheit solcher Funktionen wie des bremsenden und des beschleunigenden Zweiges des vegetativen Nervensystems. Hier sehen wir, dass die mittleren Präfrontalregionen die Aktivität dieser beiden Inputs - diejenige des Sympathikus einerseits und die des Parasympathikus andererseits überwachen und dann in der Lage sein müssen, sie zu verändern (sie herunterzufahren oder sie hochzufahren).
Das Gehirn - Grundlagenwissen
69
Das ist der Mechanismus der „Körperregulation", der ersten unserer neun Funktionen des mittleren Präfrontals. Erinnern Sie sich daran, dass diese Liste zum einen die Ergebnisse einer sicheren, eingestimmten Bindung aufzählt (die ersten sieben) und zum anderen eine Liste für die Resultate und den Prozess des achtsamen Gewahrseins ist, das wir als eine Form der inneren Abstimmung bezeichnet haben. Ich habe diese Liste generiert, während ich mich um eine Familie kümmerte, in der die Mutter bei einem Autounfall eine Verletzung an dem Teil des Gehirns erlitten hatte, der sich hinter der Stirn befindet. Die Familie quälte sich mit den tief greifenden Veränderungen in ihrer Persönlichkeit ab, und ich hoffte, den anderen Familienmitgliedern helfen zu können, diese Erfahrung irgendwie zu verstehen und sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Ich las einige grundlegende Werke zu diesem Themenkomplex und fragte mich: Welche Funktionen entsprechen der Aktivität der mittleren Bereiche des Präfrontalkortex? (Siehe Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals.) 1. Wie oben beschrieben, erfolgt die Körperregulation dadurch, dass Brems- und Beschleunigungsfunktionen koordiniert und ausgeglichen werden. 2. Abgestimmte Kommunikation beinhaltet die Koordination des eigenen geistigen Inputs mit dem eines anderen Menschen. Dieser Resonanzprozess findet unter Einbeziehung der mittleren Präfrontalbereiche statt. 3. Emotionale Ausgeglichenheit impliziert, dass die affekterzeugenden limbischen Bereiche genügend Aktivierung erfahren, um dem Leben Vitalität und Sinn zu verleihen, diese aber nicht so stark ist, dass das Leben chaotisch wird. Die mittleren Präfrontalregionen haben die Fähigkeit, das limbische Feuerverhalten durch den starken bidirektionalen Fluss zwischen der subkortikalen limbischen Region und der mittleren Präfrontalregion zu überwachen und zu hemmen. 4. Reaktionsflexibilität ist die Fähigkeit, vor dem Handeln innezuhalten. Ein solcher Prozess erfordert die Bewertung der aktuellen Stimuli, die Verzögerung der Reaktion, die Auswahl
70
Geist, Gehirn und Bewusstsein
aus einer Vielzahl möglicher Optionen und die Initiation einer Handlung. Zur Ausführung dieser Funktion arbeiten die mittleren Präfrontalregionen mit den Seitenbereichen zusammen. Empathie scheint auf den inneren Verschiebungen zu beruhen, die durch die Resonanzschaltkreise zustande kommen, bei denen limbische und körperliche Veränderungen dann initiiert werden, wenn wir die Signale einer anderen Person wahrnehmen. Als Nächstes scheinen die mittleren Präfrontalregionen die Interozeption (Wahrnehmung von Innenreizen) zu nutzen, also den Input dieser subkortikalen und körperlichen Gegebenheiten in die mittlere Präfrontalregion über die Inselrinde. Die Daten werden dann einer Interpretation unterzogen, und diese Bewertung wird einem anderen als Form empathischer Vorstellungskraft dessen zugeschrieben, was sich möglicherweise in seinem Innern abspielt. 6. Einsicht oder sich selbst kennendes Gewahrsein verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander. Der mittlere Präfrontalkortex hat Input- und Outputfasern, die in viele Bereiche hineinreichen. In diesem Fall betreffen sie die kortikalen Repräsentationen des autobiografischen Gedächtnisspeichers und das limbische Feuerverhalten, das den Themen unseres gegenwärtigen Bewusstseins, unserer Lebensgeschichte und unseren Bildern von der Zukunft eine emotionale Struktur verleiht. 7. Angstmodulation könnte durch die Ausschüttung des hemmenden Neurotransmitters Gammaaminobuttersäure (GABA) in die unteren, für Angst zuständigen limbischen Bereiche, wie die zahlreichen Kerne der Amygdala, erfolgen. Auf diese Weise könnte Angst limbisch erlernt werden, doch das Ablegen der Angst könnte durch das Wachstum der mittleren Präfrontalfasern erfolgen, die jene Angst zu modulieren vermögen (Abbildung 2.7). 8. Intuition scheint das Registrieren des Inputs aus den informationsverarbeitenden neuronalen Netzwerken zu beinhalten, die unsere inneren Organe umgeben, zum Beispiel Herz, Lungen und Darm. Die Weisheit unseres Körpers ist also mehr als eine poetische Metapher. — Sie ist ein neuronaler Mechanismus, durch den wir über die PDP (parallel distributed processing), die
Das Gehirn - Grundlagenwissen
71
um diese Hohlorgane herum stattfindet, einen tiefen Zugang zum Wissen unseres Körpers erlangen. Der entsprechende Input wird im mittleren Präfrontalkortex registriert und beeinflusst dann unsere Schlussfolgerungen und Reaktionen. 9. In Studien hat sich herausgestellt, dass Moral (im Sinne von moralischem Empfinden und Verhalten) ebenfalls durch den mittleren Präfrontalkortex vermittelt wird. Moral lässt sich wohl dadurch charakterisieren, dass man das größere Bild in Betracht zieht, dass man sich vorstellt, was das Beste für das Ganze ist, und nicht nur für einen selbst (selbst wenn man allein ist). Es hat sich gezeigt, dass Schädigungen der mittleren Präfrontalregion zu Beeinträchtigungen im Moralemptmden und damit au amoralischen Verhaltensweisen führen.
Orbitomedialer Präfrontalkortex Amygdala
Abbildung 2 . 7 Der orbitomediaie Präfrontalkortex: das Amygdala-Netzwerk (Cozolino 2 0 0 6 ; Nachdruck mit ausdrücklicher G e n e h m i g u n g des Autors).
72
Geist, Gehirn und Bewusstsein
Links und rechts In Abbildung 2.2 konnten wir sehen, dass das Gehirn in eine linke und eine rechte Seite unterteilt ist. Bei der Betrachtung der Unterschiede zwischen linker und rechter Hemisphäre ist es wichtig, eine “Dichotomisierung” zu vermeiden. Im Laufe unserer Evolution als Wirbeltiere hatten die linke und die rechte Seite unseres Nervensystems unterschiedliche Funktionen inne (Halpern, Güntürkün, Hopkins & Rogers 2005). Der Vorteil dieser Asymmetrie, den wir Menschen mit Fischen und Fröschen, Eidechsen und Vögeln ebenso wie mit Ratten teilen, könnte darin liegen, dass wir durch stärkere Differenzierung eine größere funktionale Komplexität erreichen können. Warum sollten links und rechts oder oben und unten dasselbe sein? Wie an früherer Stelle bemerkt, entwickeln sich das Stammhirn und die limbischen Bereiche früher als der Kortex. Ihre Asymmetrien verweisen auf einen Unterschied in der Verbindungsfähigkeit der kortikalen Strukturen beider Hemisphären. Die sich herausbildenden strukturellen Unterschiede führen zu einigen relevanten und recht stabilen Funktionsunterschieden zwischen rechts und links. Die rechte Hemisphäre ist in den ersten zwei oder drei Lebensjahren aktiver und weiter entwickelt. Die linke tritt erst um den zweiten Geburtstag herum auf den Plan, dann kommt es in den folgenden Jahren zu periodisch unterschiedlich starken Entwicklungsschüben von links und rechts. Das verbindende Gewebe, der Corpus callosum, bekommt zu dieser Zeit ebenfalls seinen ersten Entwicklungsschub. Er dauert bis weit nach dem zwanzigsten Lebensjahr an. Generell gesagt, kann man sich den Unterschied zwischen den Hemisphären so vorstellen, dass die kortikalen Säulen der rechten Hemisphäre mehr horizontale Verbindungen untereinander aufweisen, was die Repräsentationsprozesse stärker „kreuzmodal" werden lässt in dem Sinne, dass die differenzierten Prozesse des einen Bereichs mit denen anderer Bereiche kommunizieren. Dies mag uns helfen zu verstehen, warum die rechte Gehirnhälfte leichter den Kontext und das Gesamtbild zu sehen vermag als die stärker detailorientierte linke Gehirnhälfte. In der linken Hemisphäre scheinen die Kortikalsäulen
Das Gehirn - Grundlagenwissen
73
stärker eigenständig zu arbeiten, was die tiefer gehenden, analytischen, problemfokussierten, detailorientierten und Fakten akkumulierenden Prozesse dieser Hemisphäre ermöglicht. Die Inputströme aus den subkortikalen Regionen speisen diese beiden Regionen mit verschiedenen Quellen sensorischer Daten, was uns ebenfalls zu verstehen hilft, warum solche Unterschiede auftauchen. Immer wieder wird nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern gefragt, und so finden Sie hier eine allgemeine Aussage, die beide Geschlechter favorisiert. Die Entwicklung des weiblichen Gehirns scheint mehr Integration zu beinhalten, was auf eine größere Dicke des Balkens als Verbindung zwischen linker und rechter Hemisphäre zurückzuführen ist. Über das männliche Gehirn kann gesagt werden, dass es differenzierter und spezialisierter ist, so dass die getrennten Regionen intensiver eigenständig arbeiten können. Diese groben Verallgemeinerungen machen mich nervös, aber das ist meist die Art von Erkenntnis, die die Wissenschaft offenbart. In der klinischen Arbeit ist es wichtig, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie der Statistik zufolge sein könnten. Die Funktionen der linken Gehirnhälfte kann man sehr leicht im Gedächtnis behalten, weil die meisten von ihnen mit „L" beginnen: Die linke Seite ist spezialisiert auf Linguistik, Linearität, Logik und literales (wörtliches) Denken. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die rechte Hemisphäre durch folgende Eigenschaften aus: Sie ist nonverbal, ganzheitlich, visuell-räumlich und weist schließlich noch eine ganze Reihe nicht zusammenhängender Besonderheiten auf wie das autobiografische Gedächtnis, eine ganzheitliche Landkarte des Körpers (Körperschema), rohe und spontane Emotionen, eine anfänglich empathische, nonverbale Reaktion, Stressmodulation und eine Dominanz des alarmierenden Aspekts der Aufmerksamkeit. Man geht davon aus, dass die rechte Seite bei Leid und unangenehmen Emotionen vermittelnd wirkt und dass sie mit dem Rückzugsverhalten gegenüber Neuem korreliert. Die linke wird stärker mit positiveren affektiven Zuständen und mit Annäherungsverhalten assoziiert. Die Koordination zwischen rechts und links könnte bei der Ausprägung unserer emotionalen Gesamtstruktur eine
74
Geist, Gehirn und Bewusstsein
wichtige Rolle dabei spielen, wie das achtsame Gewahrsein unseren affektiven Stil verändert (Davidson 2000). Wie wir gesehen haben, scheint Achtsamkeit zu einem Annäherungszustand zu führen, der mit einer linksseitigen Verschiebung in der frontalen elektrischen Aktivität einhergeht. Wenn Funktionen getrennt sind, dann kann das Gehirn sie zu einem Zustand der Verbundenheit zusammenbringen, um komplexere und besser angepasste Funktionen zu ermöglichen. Das ist der Sinn der neuronalen Integration und der Weg, auf dem die komplexen Systeme des Gehirns und des Geistes Flexibilität erlangen und neue Funktionskombinationen schaffen können. Mit einer linken und einer rechten Hemisphäre, die physisch voneinander getrennt und in funktionaler Hinsicht differenziert sind, haben wir die Möglichkeit, ein anpassungsfähigeres Funktionieren zu erreichen, wenn es uns gelingt, sie zu einem Ganzen zu integrieren. So entsteht meiner Überzeugung nach Kreativität nicht aus der einen oder anderen Hemisphäre, sondern aus ihrer Integration. Wie wir sehen werden, könnte die linke Hemisphäre eine „Erzählerfunktion" haben, bei der diese Region dazu dient, die fortlaufende Lebensgeschichte einer Person sprachlich zu artikulieren. Doch die Inhalte unserer autobiografischen Erinnerungen sind hauptsächlich in der rechten Hemisphäre angesiedelt, und so könnte die Schaffung einer kohärenten Erzählung des eigenen Lebens als Minimum diese bilaterale Form von Integration bedingen. Die Integration von linker und rechter Hemisphäre trägt dazu bei, dass wir einen Sinn in unserem Leben sehen (Weiterführendes hierzu in Anhang III, Lateralität). Das Bewusstsein von der Gesamtheit der Erfahrungen unseres Körpers könnte es erfordern, dass wir die integrierte Ganzkörperlandkarte der rechten Hemisphäre mit der Aktivierung des seitlichen Präfrontalkortex verbinden. Beim achtsamen Gewahrsein konzentrieren wir uns häufig auf Aspekte unserer Körperfunktionen. Diese würden dann nicht nur die Interozeption der Inselrinde und des mittleren Präfrontalkortex, sondern die gesamte, auf der rechten Seite des Gehirns repräsentierte Körperlandkarte umfassen. Wenn unser Geist in der Achtsamkeitspraxis mit dem auf Worten basierenden linksseitigen
Das Gehirn - Grundlagenwissen
75
Geplapper des Moments angefüllt ist, dann könnten wir sagen, dass es einen elementaren neuronalen Wettbewerb zwischen rechts (Körperempfinden) und links (Wort-Gedanken) um die begrenzten Ressourcen des Aufmerksamkeitsfokus jenes Moments gibt. Im achtsamen Gewahrsein den Fokus auf den Körper zu verlagern, könnte eine funktionale Verschiebung weg von sprachlichen und gedanklichen Fakten und hin zu nonverbalen Bildern und somatischen Empfindungen der rechten Hemisphäre bedeuten. Das könnte uns helfen, das Untersuchungsergebnis von Sara Lazar zu verstehen, die eine Verdickung in den Strukturen des mittleren Präfrontals und der rechten Inselrinde festgestellt hat (Lazar et al. 2005). Wenn aber die fortlaufende Erzählung, vielleicht sogar ohne Worte, in Form eines bezeugenden Gewahrseins oder eines inneren Beobachters wirklich eine Funktion der linken Hemisphäre ist, dann würde es hierbei zu einer Aktivierung des Präfrontals auf der linken Seite kommen (exekutive Aufmerksamkeit mit aktiver narrativer Beobachtung), und vielleicht zusätzlich zu einer Aktivierung des rechten mittleren Präfrontals (nonverbale Selbstreflektion und Metabewusstsein im medialen Präfrontal) sowie einer Aktivität der rechten Inselrinde mit viszeraler Repräsentation. Das könnte uns helfen, die Ergebnisse der linksseitigen Annäherungsverlagerung zu verstehen, die Davidson und seine Kollegen festgestellt haben (Davidson et al. 2003), ebenso wie Lazars Untersuchungsergebnisse zum mittleren Präfrontal und der rechtsseitigen Inselrinde (Lazar et al. 2005). Die Implikationen dieser Argumentation müssen empirisch erforscht werden, um ihre Stichhaltigkeit zu bekräftigen. Doch dies ist ein Beispiel dafür, wie wir auf bestehendes Wissen über die Gehirnfunktionen (Lateralität) zurückgreifen können, um geeignete Fragen über Phänomene (achtsames Gewahrsein) und allgemeine Prinzipien (neuronale Integration und Wohlbefinden) zu stellen, mit deren Hilfe wir das Verständnis unseres subjektiven und neuronalen Lebens vertiefen können.
76
Geist, Gehirn und Bewusstsein
„Gehirn" und „Geist" Wenn in diesem Buch der Begriff Gehirn verwendet wird, dann bezieht er sich immer auf das Gehirn als einen integrierten Teil des gesamten Körpers. Diese Realität verändert die Art und Weise, wie wir über die Beziehung zwischen Gehirn und Geist nachdenken. Da der Geist selbst als gleichzeitig verkörpert und beziehungsbezogen angesehen werden kann, kann unser Gehirn im Grunde genommen als das soziale Organ des Körpers betrachtet werden: Der Geist verschiedener Menschen verbindet sich über einen neuronalen Schaltkreis in unseren Körpern miteinander, der fest verdrahtet ist, um Signale anderer aufzunehmen. Um die Beziehung des Geistes (des Fließens von Energie und Informationen) zum Gehirn (neuronale Verbindungen und ihr komplexes Feuerverhalten) zu untersuchen, müssen wir uns vor bestimmten vorgefassten Ideen hüten, die unser Verstehen beeinträchtigen und unser Denken beeinflussen könnten. Wir müssen kognitive Achtsamkeit walten lassen - offen für Kontexte sein, neue Wege der Wahrnehmung akzeptieren, subtile Unterschiede zwischen verschiedenen Ideen klar erkennen und neue Kategorien des Denkens in unserem Gewahrsein der Konzepte im jeweiligen Moment schaffen. Hier sehen wir, dass die Vorstellung einer kognitiven Achtsamkeitsdimension uns dabei helfen kann, wie wir denken und wie wir das Lernen angehen, sogar in Bezug auf die reflektive Achtsamkeit. Die zeitliche Abfolge und der Schauplatz der neuronalen Aktivierung entsprechen der zeitlichen Abfolge und den Eigenschaften geistiger Aktivität. Wenn sich jemand eine Fotografie ansieht, dann kann seine Gehirnaktivität dabei mit einem Kernspintomografen überwacht werden. Es wird eine Aktivierung im hinteren Teil des Gehirns sichtbar sein (normalerweise erhöht sich der Blutfluss während der Aktivierung und ist auf fMRI-Aufnahmen sichtbar oder als elektrische Aktivität auf einem EEG). Das Genaueste, was wir dann sagen können, ist, dass das Feuern von Neuronen am Okzipitallappen mit visueller oder räumlicher Wahrnehmung korreliert. Warum kann man nicht sagen, dass die neuronale Aktivität die visuelle Wahrnehmung erzeugt habe? Wenn wir solche Kausalzusam-
Das Gehirn - Grundlagenwissen
77
menhänge herstellen, dann wird die irrige Idee verstärkt, dass der Geist nur durch das Gehirn erschaffen werde. Wenn wir an dieser Stelle kognitiv achtsam sind, dann müssen wir offen für die Wahrheit sein, nämlich, dass das neuronale Feuern erst durch das Sehen des Bildes ausgelöst worden ist. Der Richtungspfeil weist in beide Richtungen: Der Geist kann tatsächlich das Gehirn nutzen, um sich selbst zu erschaffen. Ohne kognitive Achtsamkeit würden wir diese birektionale Ausrichtung übersehen. Wenn wir uns zum Beispiel unsere Weiterentwicklung als Spezies ansehen, stellen wir fest, dass unsere Spezies sich in den letzten vierzigtausend Jahren durch kulturelle Evolution verändert hat. Kultur ist der Weg, auf dem Bedeutung zwischen Individuen und über Generationen hinweg in Menschengruppen übertragen wird. Die Veränderungen, die sich in den Mustern dieses Energie- und Informationsflusses im Laufe der Zeit vollziehen, bestimmen den Verlauf der kulturellen Evolution. Wie wir uns als Spezies verändert haben, wird nicht nur von der genetisch vorangetriebenen Evolution unseres Gehirns bestimmt, sondern auch von der mentalen Evolution, die darin besteht, wie wir Energie und Informationen über Generationen kollektiv untereinander weitergeben. Dies ist die Evolution des Geistes und nicht die des Gehirns. Unserer Ansicht nach muss sich der Geist (Energie- und Informationsfluss) die Aktivität des Gehirns zunutze machen, um existieren zu können. Auf diese Weise benutzt der Geist das Gehirn, um sich selbst zu erschaffen. Diese Perspektive entspricht dem wissenschaftlichen Kenntnisstand darüber, wie Geist und Gehirn miteinander verbunden sind. Es ist nicht nötig, den Versuch zu unternehmen, die Dimension der einen Realität so zu vereinfachen, dass sie mit der anderen zusammenfällt. Der Geist ist keine „bloße" Gehirnaktivität, denn ein Energie- und Informationsfluss findet in einem Gehirn innerhalb des Körpers statt, und er geschieht auch innerhalb von Beziehungen. Um uns diese Sichtweise bildlich vorzustellen, können wir sagen, dass der Geist bei dem neuronalen Feuerverhalten im Gehirn „mitfährt" und dass dieses „Mitfahren" bidirektionalen, kausalen Einflüssen entspricht. Begriffe wie Mechanismen oder neuronal vermittelt sollen in dem vorliegenden
78
Geist, Gehirn und Bewusstsein
Werk keine Kausalität in eine Richtung implizieren. Neuronale Vorgänge „korrelieren" vielmehr mit mentalen Aktivitäten oder sind mit ihnen „verbunden", wobei die eine Komponente die jeweils andere beeinflusst. Beziehungen unter Menschen beinhalten ebenfalls den Fluss von Energie und Informationen und nutzen so auch dieselben Mechanismen. Diese gegenseitigen Verbindungen zwischen Gehirn, Geist und Beziehungen bilden ein Realitätsdreieck, auf das wir immer wieder zurückkommen werden. So können wir einen in drei Richtungen wirksamen Einfluss dieser drei nicht weiter reduzierbaren Dimensionen spüren. Beziehungen prägen den Energie- und Informationsfluss - so wie es jetzt gerade durch diese Worte in Ihrem Geist geschieht. Doch die Aktivität des Gehirns prägt auch unmittelbar die Art und Weise, wie der Energie- und Informationsfluss reguliert wird. Jetzt im Moment aktiviert Ihr Gehirn möglicherweise bestimmte Feuergewohnheiten, die Sie davon ablenken, dem Text Aufmerksamkeit zu schenken. Das würde Ihre Fähigkeit beeinträchtigen, dieses besonderen Moments achtsam gewahr zu sein. Es könnte eine Ablenkung geben, und diese wird die Art und Weise prägen, wie sich der Energie- und Informationsfluss - der Fokus Ihrer Aufmerksamkeit - in diesem besonderen Moment vollzieht. Die Aufmerksamkeit gegenüber dem gegenwärtigen Moment, die ein Aspekt des achtsamen Gewahrseins ist, kann durch unsere ständige Kommunikation mit anderen ganz unmittelbar geprägt werden, ebenso wie durch die Aktivitäten in unserem eigenen Gehirn. Einige der größten Herausforderungen beim Präsentsein stellen die hierarchischen Aktivierungsmuster in unserem Gehirn dar, die uns ständig mit ihrem neuronalen Feuern und mentalen Geplapper bombardieren. Im nächsten Abschnitt werden wir in das Wesen der unmittelbaren Erfahrung und des achtsamen Gewahrseins eintauchen. Wir können alle Vorstellungen über Gehirn, Geist und Beziehungen im Hinterkopf behalten, rücken sie aber erst einmal beiseite, wenn wir uns in die subjektive Realität des Innenlebens vertiefen.
Teil II Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Kapitel 3 Eine Woche in Stille Ich fliege von Los Angeles nach Boston, um an einem einwöchigen Retreat teilzunehmen, und ich bin aufgeregt. In den nächsten sieben Tagen werde ich zusammen mit einhundert anderen Wissenschaftlern in der Insight Meditation Society in Barre im US-Bundesstaat Massachusetts in Stille sitzen. Diese Zusammenkunft wurde vom Mind and Life Institute finanziert, einer Organisation, die sich der wissenschaftlichen Erforschung von Achtsamkeit und Mitgefühl widmet. Das Treffen ist ein einzigartiges Ereignis. Wann haben je zuvor einhundert Wissenschaftler, von denen sich die meisten auf das Studium des Gehirns spezialisiert haben, eine Woche lang zusammen in Stille gesessen und die „Achtsamkeitsmeditation" erlernt? Ich weiß, dass sich durch die Vermittlung von achtsamem Gewahrsein das körperliche und psychische Wohlbefinden von Menschen merklich verbessern kann. Am Mindful Awareness Research Center der UCLA haben wir vor kurzem eine achtwöchige Pilotstudie durchgeführt, die gezeigt hat, dass das Vermitteln meditativer Techniken die Ablenkbarkeit und Impulsivität der Probanden, unter denen sich unter anderem Erwachsene und Jugendliche mit genetischen Erkrankungen
82
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
wie Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung befanden, entscheidend reduzieren konnte. Dennoch habe ich keine Erfahrung mit Meditation, mein Geist ist immer geschäftig und läuft auf Hochtouren, und ich habe noch nie so lange Zeit schweigend verbracht. Ich habe einem Freund von dem bevorstehenden Schweigeretreat erzählt, und er meinte, mit anderen Menschen zu sprechen sei für ihn „Lebenselixier", und sich mit anderen zu verbinden - das Gespräch, der Augenkontakt, die Nähe - sei es, was seinem Leben einen Sinn gäbe. Mir auch, sagte ich. Wie wird es sein, über lange Zeit vollkommen still zu sitzen und sieben Tage lang mit niemandem verbal oder nonverbal (Teil der Vereinbarung) zu kommunizieren? Warum tue ich das? Ich frage mich, ob es zu spät ist, von der ganzen Sache noch zurückzutreten.
Schweigende Wissenschaftler Ich musste keine größeren Vorbereitungen treffen, außer warme Kleidung und Schuhe fiir diese Gelegenheit einzupacken, die mich mitten im Winter nach New England verschlagen sollte. Das Beste, was ich tun könne - so wurde mir geraten —, sei, zu Hause alles unter Dach und Fach zu bringen, so dass ich in der Stille des Retreats nicht den Drang verspüren würde, jemanden anzurufen, E-Mails zu schreiben oder welche zu beantworten. Als Psychiater, der sich für das Gehirn und fiir Beziehungen interessiert, konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, was die Sprache verarbeitenden Regionen meiner linken Hemisphäre übernehmen würden, wenn sie sich - voraussichtlich - während der Meditation in Stille übten? Worte sind digitale Informationspakete, die uns selbst und anderen unsere Modelle der gedanklichen Realität vermitteln - wie wir die Welt sehen und wie wir über sie denken. Sie sind Teil der hierarchischen Maschinerie des Gehirns, um die eingehenden sensorischen Informationen zu ordnen und aus ihnen klug zu werden. Aber dann denke ich an die Poesie - einen anderen Gebrauch von Sprache -, bei dem die streng hierarchischen Prozesse der linken Gehirnhälfte top down „von oben herab" also, unsere unverfälschte
Eine Woche in Stille
83
Erfahrung in einem vorgefassten Raster organisieren. Dichtung schafft wie Stille eine neue Balance zwischen der Erinnerung und dem Moment. Wir sehen mit frischem Blick durch die Kunstfertigkeit des Dichters, die mit Worten eine neue Landschaft erhellt, die vorher hinter dem Schleier der Alltagssprache verborgen war. Unsere gewöhnliche Sprache kann ein Gefängnis sein; sie kann uns in unseren eigenen Redundanzen gefangen halten, unsere Sinne abstumpfen lassen, unseren Fokus trüben. Dichter und ihre Dichtungen hingegen bieten uns neue, nicht gekannte Möglichkeiten, das Leben zu erfahren, indem sie Mehrdeutigkeiten präsentieren, Worte in unvertrauter Weise verwenden, Elemente der wahrgenommenen Realität in neuen Kombinationen gegenüberstellen und Bilder evozieren. Vielleicht wird die Stille dieser Woche ja dasselbe bei mir bewirken. Erster Tag Ich komme bei der Insight Meditation Society an, wo ich die Woche mit anderen Wissenschaftlern verbringen werde. Nach einem kurzen Abendessen, einem Rundgang, der Zuweisung der täglichen Reinigungsaufgaben und einem einführenden Gespräch haben wir bereits mit der Stille begonnen. Es geht darum, in die subjektive Realität unseres eigenen Geistes einzutauchen. Mit einigen Anweisungen von den hier tätigen Lehrern der Einsichtsmeditation versehen, sollen wir tief in die Gewässer unseres eigenen inneren Ozeans eintauchen. Die Form der Achtsamkeit, die wir in dieser Woche erlernen werden, entstammt der zweitausendfiinfhundert Jahre alten buddhistischen Praxis der Vipassana-Meditation, was häufig mit „klares Sehen" übersetzt wird. Am ersten Tag lernen wir, mit der kurzen Anweisung, einfach „unseren Atem zu beobachten", in der Meditationshalle zu sitzen. Diese Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, ist der erste Schritt des Trainings in achtsamem Gewahrsein. Wenn wir merken, dass unsere Aufmerksamkeit sich vom Atem wegbewegt hat, so sagen uns die Lehrer, dann sollen wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit sanft wieder auf den Atem richten. Das ist alles. Immer und immer wieder. Ich fühle mich erleichtert. Wie schwer kann das sein?
84
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Doch gegen Ende des ersten Tages, an dem ich diesen Konzentrationsaspekt der Meditation geübt habe, ist meine Zuversicht definitiv in den Keller gesunken. Ich hatte geglaubt, das zu haben, was die Lehrer eine „gute Aufmerksamkeit" nennen, doch tatsächlich folgt mein Geist wiederholte Male nicht der Anweisung, sich „einfach nur auf den Atem zu konzentrieren". Einige Momente später scheint es mir, als könne ich kaum einen ganzen Atemzug machen, ohne dass sich mein Geist zu verschiedenen Gedanken hingezogen fühlt, wie ein Hund, der auf einem Spazierweg im Zickzack läuft und sich von diesem oder jenem verlockenden Duft auf dem Weg in die eine oder andere Richtung gezogen fühlt. Unsere Lehrer sagen uns, dass dieses ständige Umherwandern ein vollkommen natürlicher Teil des Geistes sei, und sie schlagen uns vor, wir sollten einfach nur versuchen, uns jeweils auf einen halben Atemzug zu konzentrieren - einatmen, dann ausatmen. Das hilft etwas, doch mein Geist wandert immer noch in alle möglichen Richtungen ab. Manchmal wird das als „Wuchern des Geistes" bezeichnet, so sagt man uns - die Art und Weise, wie die Gedanken immer mehr begriffliches Denken hervorbringen. Die Lösung für dieses Dilemma sobald wir uns dessen bewusst werden, dass unser Geist von verirrten Gedanken „entführt" worden ist - besteht darin, sich ruhig darauf zu konzentrieren, den Fokus wieder auf den Atem zu richten, wieder und immer wieder - mindestens eine Million Mal, so scheint mir, während der fünfundvierzig Minuten, die die Sitzmeditation dauert. Nach jeder Sitzphase machen wir eine Gehmeditation, die von einer halben bis zu einer Stunde dauert. Während wir gehen, sollen wir den Fokus auf die Empfindungen in unseren Füßen und Waden richten, Schritt für Schritt. Wenn wir merken, dass sich unser Geist von dem Empfinden der Schritte entfernt, dann sollen wir unseren Fokus wieder zum Gehen zurückbringen. Es passiert genau dasselbe: Mein Geist hat ein Eigenleben und wandert, wohin er möchte, und nicht, wohin ich möchte. Unsere Anweisungen werden im Laufe dieses ersten Tages erweitert. Wir lernen, dass die Konzentration auf den Atem den ersten Schritt zur Achtsamkeit, das heißt, unsere Aufmerksamkeit zu richten
Eine Woche in Stille
85
und aufrechtzuerhalten, verstärken wird. Indem wir lernen, unsere Aufmerksamkeit fokussiert zu halten, können wir den ständigen Strom eigensinniger Gedanken verhindern, die Konzepte, die unsere geistigen Prozesse umfassen und die sich dem wahren Erleben von Empfindungen in den Weg stellen. Empfindung ist das Tor zu unmittelbarem Erleben, sagen sie uns. Wenn wir einfach nur sehen, riechen, schmecken, berühren oder hören können (unsere ersten fünf Sinne), dann betreten wir das Reich des Im-Moment-Seins - ein von meiner jetzigen Position weit entferntes Reich, mit all dem Wirrwarr im Kopf, während ich einfach sitze und gehe und sitze und gehe. Es scheint, dass die Annäherung an die Empfindung uns befähigen soll, einfach nur zu erfahren, ohne das unerwünschte Eingreifen des Denkens. Der erste Tag ist seltsam und anstrengend gewesen. In Stille zu sein und nicht direkt mit jemandem kommunizieren zu können, gibt mir ein Gefühl leichter Klaustrophobie. Ich habe den Drang, in Kontakt zu treten, aber es ist uns verboten, mit irgendjemandem mit Worten oder Gesten zu kommunizieren, Augenkontakt aufzunehmen oder durch den Gesichtsausdruck zu kommunizieren. Das ist die Regel, die es uns unmöglich macht, uns auf irgendeine Weise zusammenzutun; und ich fühle, dass ein Teil meines Gehirns darauf brennt, die vielen anderen zu erreichen, die hier sind. Ich fange an, mit mir selbst zu sprechen, und zwar nicht nur in Gedanken, sondern laut. Ich erzähle mir sogar selbst Witze und lache darüber. Dann sage ich „sch!" zu mir selbst und erinnere mich an die Regel von der edlen Stille: keine Kommunikation mit irgendjemandem. Aber was ist mit mir selbst? Während der Praxis versuche ich mich zu erinnern, was ich mir gesagt habe, bevor das hier begonnen hat: Lass jeden Atemzug zu einem Abenteuer werden. Jetzt sage ich mir: „Lass jeden halben Atemzug zu einem Abenteuer werden." Aber ich sage das mit Worten, und Worte sind irgendwie zum Feind geworden, sind wie wuchernde Konzepte, die mich vom unmittelbaren Empfinden abhalten. Ich bin gefangen. Ich fühle mich verwirrt. Ich fühle die Empfindungen unmittelbar, ich fühle oder ich denke, aber ich gebe auch nicht den gedanklichen, auf Worten basierenden Dialog in meinem Kopf auf - die Worte, die zusammenfassen, was ich tue, wie zum Beispiel spazieren gehen, einen
86
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Apfel essen -, statt dass ich es mich einfach tun lasse. Ich habe einen Erzähler in mir, der einfach nicht locker lässt. Also los, versuche einfach diese Sojamilch zu trinken." S-O-J-A-M-I-L-C-H, lese ich auf der Packung, und die Buchstaben springen in mein Gesichtsfeld wie ein lange verlorener Freund. Die Worte sind sogar in meinem Geist aktiv, wenn ich während unserer Sitzungen sitze und gehe. Das gibt mir das Gefühl, dass ich nicht „achtsam meditiere". Vielleicht bin ich einfach zu intellektuell und mit Ideen und Fragen, Worten und Konzepten angefüllt, um etwas wie das hier zu tun. Zweiter Tag Heute hat sich etwas verändert. Wir stehen jeden Tag um 5.15 Uhr auf und sind um 5.45 Uhr in der Sitzmeditation. Am Ende der ersten fiinfundvierzigminütigen Sitzung hatte ich das erstaunliche Gefühl, als sei überhaupt keine Zeit vergangen. Ich setzte mich hin, begann, meinen halben Atem zu beobachten, und ehe ich michs versah, wurde die Glocke fiir unser Frühstück um 6.30 Uhr geschlagen. Ich war nicht eingeschlafen, da ich immer noch vollkommen aufrecht saß, mit geradem Kopf und unter mir gekreuzten Beinen. Dann brach ich zu einem langen, achtsamen Spaziergang im Schnee im Wald draußen vor dem Hauptgebäude auf. Auf einmal hatte ich einen wunderbaren Ausblick auf ein schneeüberzuckertes Tal, das von dem ebenfalls mit Schnee bedeckten Ast einer riesigen Kiefer eingerahmt wurde. Eiszapfen hingen von einem nahe gelegenen Felsblock herunter. Zu meiner Überraschung brach ich angesichts des lebendigen Anblicks, der Gerüche und der kühlen Luft auf meinem Gesicht, des Säuselns des Windes in den Bäumen und des knirschenden Schnees unter meinen Stiefeln in Tränen aus. Und dann hörte ich genauso schnell einen Gedanken in meinem Kopf sagen: „Du wirst eines Tages sterben, und nichts von dem hier wird fiir dich mehr vorhanden sein." Meine Heiterkeit schwand augenblicklich und wich einem tiefen Unglücklichsein. Ich fühlte mich niedergeschlagen und ernüchtert. Es war, als ob ein uralter Krieg zwischen Gedanken und Empfindungen ausgefochten würde, der in meinem isolierten Kopf noch um ein Vielfaches vergrößert erschien.
Eine Woche in Stille
87
Später beschrieb ich während eines kurzen Gruppentreffens meinen Lehrern diese Erfahrung und fragte ihn, ob seine Achtsamkeitslehre eine Form sei, bei der man seine persönlichen Bevorzugungen ausspiele, so als ob Empfindungen besser seien als Gedanken oder irgendetwas anderes, was wir tun könnten, vielleicht sogar besser, als miteinander zu reden. Warum wurden Empfindungen Gedanken gegenüber bevorzugt? Eine Lehrerin sagte, dass wir bald lernen würden, dass alles, was aus dem Geist aufsteige, von Empfindungen bis hin zu Gedanken, ohne zu urteilen so akzeptiert werden solle, wie es komme. Ihre Anweisung war äußerst hilfreich und gab mir das Gefühl, dass es in meinem Kopf keinen Krieg mehr zwischen unmittelbarem Empfinden und begrifflichem Denken geben müsse. Aber ich war überrascht, dass eine so einfache Anweisung eine so riesige Verschiebung in meinem Erleben herbeiführen konnte. Mit dieser neuen Perspektive im Hinterkopf machte ich eine bemerkenswerte Erfahrung, als ich beim Abendessen einen Apfel verzehrte. Wir sollten bei allen Mahlzeiten, ja sogar bei all unseren Aktivitäten neben dem formalen Sitzen und der Gehpraxis „achtsam" sein. Das bedeutet, wach zu sein und sich dessen bewusst zu sein, was geschieht, während es geschieht. Ich beschloss, als Nachtisch einen Apfel zu essen. Da ich mich frei fühlte, sowohl zu denken als auch zu empfinden, beschloss ich, ein geistiges Experiment durchzuführen, bei dem ich die Erfahrung des Apfelverzehrens verstärken wollte. Ich schnitt ein Stück ab und sah mir seine Struktur an. Ich fühlte die Schale, das Fruchtfleisch und den Rand, wo sie sich berührten. Ich roch das Aroma des Apfels und atmete seinen wabernden, sich zunehmend ausbreitenden Duft ein. Ich beschloss sogar, das Stück Apfel an mein Ohr zu halten, um zu sehen, wie es klang (ja, ich weiß, das ist lächerlich, aber Moleküle schwingen, und genau daraus bestehen Töne, warum sollte ich es also nicht versuchen?). Doch alles, was ich hören konnte, waren die Geräusche der anderen im Raum, keine surrenden Atome, die mein Trommelfell erschütterten. Als ich den Apfel langsam in meinen Mund legte, konnte ich das Knirschen hören, die Explosion des Geschmacks spüren, die Stücke auf meiner Zunge und an meinen Zähnen fühlen und dann die Veränderung spüren, als
88
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
die zu Brei zermalmten Stücke kleiner wurden und sich dann meine Kehle hinunterbewegten, in meine Speiseröhre hinein und weiter hinunter in meinen Magen. Da ich jetzt die Freiheit verspürte, begriffliche Konzepte in das Bild einzubauen, erlaubte ich meinem Geist, weit zu werden und mit Bildern und Empfindungen des Apfels zu spielen, der sich seinen Weg durch mein Verdauungssystem bahnte, von meinen Körper absorbiert und damit zu einem integralen Bestandteil von mir wurde. Dann dachte ich darüber nach, wo der Apfel hergekommen war - die Leute in der Küche, die ihn (hoffentlich) gewaschen hatten, die Mitarbeiter, die ihn gekauft hatten, die Obstplantage, von der er gepflückt worden war, der Baum, auf dem er gewachsen war, und der Same, aus dem jener Baum hervorgegangen war. Angesichts der Freiheit, diese Bilder zu genießen, empfand ich plötzlich ein Gefühl von Ganzheit und Einssein mit allem - der Erde, der Menschenkette, meinem Körper. Ich schwebte aus dem Speisesaal und wollte mit jemandem sprechen, erinnerte mich aber an die Stille. Ein Freund war im Raum gewesen, aber wir konnten nicht miteinander sprechen. Ich ging nach draußen und starrte an einem wolkenübersäten Abendhimmel den Mond an, der fast voll war. Ich fühlte eine Präsenz in meiner Nähe und stellte fest, dass mein Freund auf seinem Weg in den Schlafbe-reich ebenfalls nach draußen gegangen war. Er hielt einen Moment neben mir in der Stille unter den Sternen inne. In jener Stille hätten eine Million Worte nicht zum Ausdruck bringen können, wie sich jener gemeinsame Moment im Mondlicht anfühlte. Dritter Tag Heute traf ich mich mit einem anderen Lehrer zu einer Zweier-Begegnung. Ich versuchte, die Erfahrung mit dem Apfel zu beschreiben. Ich sagte, ich fühlte, als ob es einen strömenden Fluss gäbe, der mein Bewusstsein erzeuge, und diese Meditationspraxis befähige mich, stromaufwärts zu gelangen, um die individuellen Bäche aufzusuchen, die in jenen Fluss flössen - ein Bach der Empfindung, einer der Konzepte. Dieses Bild half mir, mich wohler zu fühlen mit dem, was in
Eine Woche in Stille
89
meinem Geist auftauchte. Er antwortete mir, dass er oft das Gefühl gehabt habe, es „endlich kapiert zu haben", nur um sich dann bewusst zu werden, dass es immer etwas Neues im Bewusstsein zu erfahren gab. Er schlug vor, ich solle nicht an irgendeiner fixen Idee davon, „wie die Dinge sind", festhalten, sondern einfach schauen, was passierte. Ich fühlte mich abgelehnt und war von seiner Antwort irritiert. Nach diesem zehnminütigen Treffen war mein Kopf voll von ausformulierten Gedanken, und die nächsten Sitzungen waren schwierig. Eine schwierige Sitzung fühlt sich an, als ob sie nirgendwohin führt; als ob ich, statt die Weite eines ruhigen und stabilen Geistes zu fühlen, einfach wegdriften würde. Wegdriften statt nach innen zu gehen. Ich verliere mich leicht in Gedanken und komme irgendwie nicht zum Atem zurück. Am Ende hatte dieser Lehrer Recht. Es würde noch viel komplizierter werden und sich immer wieder verändern. Ganz gleich, wie erhellend einige Erfahrungen gewesen sein mögen, man kann nie vorhersagen, wie sich die nächste Sitzung anfühlen wird. Der Geist ist immer im Fluss, und nichts scheint irgendetwas vorherzusagen. Es geht darum, Erwartungen aufzugeben und geschehen zu lassen, was auch immer geschieht. In unserer Gruppe sind wir von der Anweisung, wir sollten einfach den Atem beobachten, dazu übergegangen, auch Geräusche wahrzunehmen und unseren Körper zu fühlen. Der Body Scan - jeden Teil unseres Körpers zu spüren, einen Bereich nach dem anderen - befähigt uns, unser Bewusstsein mit Absicht für die vorherrschenden Empfindungen in unserem Körper zu öffnen. Wir fallen einfach in das Bewusstsein unseres Körpers oder unserer Sinne hinein und nehmen auf, was immer aufsteigt. Vierter Tag Wir weiten jetzt das Feld des Gewahrseins aus und bewegen uns von der Konzentration auf den Atem darauf zu, achtsam und rezeptiv gegenüber allem zu sein, was auftaucht, einschließlich der Erfahrung der Achtsamkeit selbst. Nichts wird ausgeschlossen. Doch der rezeptive
90
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Geist ist kein passiver Geist. Es gibt eine Qualität der aktiven Beschäftigung, nicht nur mit dem Objekt der Aufmerksamkeit, sondern mit dem Gewahrsein selbst. Dennoch ist dieses aktive Spüren nicht angestrengt - es hat eine fließende, geerdete und intentionale Qualität. Eine Einsicht, die heute während einer Gehmeditation auftauchte, ist ohne Worte in mein Bewusstsein gedrungen. Die Einsicht war, dass es tief in der Achtsamkeit nicht möglich ist, sich zu langweilen. Worte stellen ein Konzept dar, einen verbalen Gedanken, der sogar eine nonverbale Idee artikulieren kann. Doch eine Einsicht wie diese fühlt sich eher wie eine Verschiebung der inneren Sichtweise an als wie eine begriffliche Idee. Heute hat eine seltsame Veränderung stattgefunden. Es fühlt sich an, als habe irgendein Teil meines Geistes, der darauf brannte, sich mit anderen zu verbinden, es aufgegeben, sich auf sie auszurichten, und sich nach innen auf mich selbst gerichtet. Ich fühle eine Welle des Gewahrseins bei jedem Schritt, eine Art der Verbindung zu mir selbst, die vorher nicht da war. Kein Moment gleicht einem anderen, selbst jeder einzelne Schritt ist anders. Ich fühle, wie sich mit jedem Schritt der Druck vom Fußballen auf die Sohle und dann auf die Ferse verlagert. Und dann spüre ich die Verlagerung des Gewichts in meinen Beinen, wenn der nächste Schritt den Druck meines Körpers aufnimmt. Jeder Schritt ist einzigartig. Es gibt keinen anderen Ort als hier, keinen anderen Moment als das Jetzt. Ich bin aufgeregt. Ich fühle eine schwebende Empfindung bei der Gehmeditation; jeder Moment ist wie mit Helium aus meinem Geist aufgeladen. Ich möchte das jemandem erzählen, also erzähle ich es mir selbst. Fünfter Tag Wir haben an der vollen Achtsamkeit gearbeitet, indem wir unsere Empfindungen, Gefühle, geistigen Aktivitäten und Zustände erlebt haben. Unsere Praxis besteht darin, uns zunächst durch die Konzentration auf den Atem zu erden und dann zu einem offeneren, weiteren und neugierigeren Bewusstseinszustand überzugehen, der sich irgendwie anfühlt wie „es hervorzurufen". Was auch immer kommen
Eine Woche in Stille
91
mag, wird kommen. Man sagt uns, dass es einigen Menschen hilft, einen Gedanken, eine Empfindung oder einen mentalen Zustand zur Kenntnis zu nehmen (ohne sich in ihn hineinziehen zu lassen), indem man sich vorstellt, dass er aus einem Mauseloch in der Wand kommt. Andere stellen sich vor, dass der Gedanke auf einem Bildschirm erscheint, den sie ein- oder abschalten können. Keiner dieser Ansätze hat bei mir funktioniert. Stattdessen tauchte mein Bewusstsein des gegenwärtigen Moments vor meinem inneren Auge als Tal auf. Gedanken, Gefühle und Bilder trieben wie Wolken in dieses Tal hinein, wo ich sie sehen, sie benennen („denken" oder „fühlen" oder „mir vorstellen") und sie einfach forttreiben lassen konnte, aus meinem Tal des gegenwärtigen Moments hinaus. Manchmal stieg ein Gedanke auf, ohne dass mir das bewusst geworden war, und im nächsten Augenblick hatte ich mich „in Gedanken verloren". Es gab keine Trennung zwischen dem Gedanken und mir. Ich hatte mich nicht nur in ihm verloren, sondern ich war der Gedanke. In jenen Momenten befand ich mich nicht länger im Tal, sondern war hinauf in die Wolken gefegt worden. Als mir bewusst wurde, dass ich mir meines Atems nicht länger bewusst war, bestand der Schlüssel darin, nicht wütend zu werden, sich nicht frustriert oder als Versager zu fühlen, sondern diese Erfahrung einfach zur Kenntnis zu nehmen. Es half auch, sich daran zu erinnern, was unsere Lehrer uns gesagt hatten: Ganz gleich, wie viele Jahrzehnte Menschen in achtsamem Gewahrsein zubringen, es gibt regelmäßig die Erfahrung des „Sich-in-Gedanken-Verlierens". So funktioniert der Geist nun einmal. Doch achtsames Gewahrsein aufzubauen hilft Ihnen, einen Gedanken als etwas zu sehen, das einfach nur aufsteigt und wieder wegschwebt. Der Gedanke verliert seine Macht, Sie zu entführen und zu seinem Gefangenen zu machen. Wir haben auch an uralten meditativen Praktiken zur Kultivierung „liebevoller Güte" gearbeitet. Die liebevolle Güte ist ein fundamentaler Bestandteil der Achtsamkeitsmeditation und zielt darauf ab, uns eine positive Achtung für alle Lebewesen, was auch uns selbst und die Welt insgesamt einschließt, mitzugeben. Bei dieser Praxis wird eine Reihe von Formeln wiederholt. Zuerst richtet man den Fokus dabei
92
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
auf sich Selbst, Im Folgenden finden Sie die besonderen Formulierungen, die von Sharon Salzberg (1995) gelehrt werden: „Möge ich sicher und vor Leid beschützt sein. Möge ich glücklich sein und ein friedliches und freudvolles Herz haben. Möge ich gesund sein und einen Körper haben, der mich mit Energie unterstützt. Möge ich mit der Leichtigkeit leben, die vom Wohlbefinden kommt." Ein Bild von sich selbst im Sinn zu haben kann diese Praktiken vertiefen. Während diese Anweisungen ausgesprochen werden, kann man sein Bewusst-sein mit jeder Ein- und Ausatmung auf die Herzregion konzentrieren, den Bereich direkt unterhalb des Brustkorbs. Nachdem wir uns auf uns Selbst fokussiert haben, fokussieren wir uns auf andere. Wir wünschen zunächst einem Gönner (jemandem, der uns und unsere Entwicklung im Leben unterstützt hat) Sicherheit, Glück, Gesundheit und Leichtigkeit, dann einem Freund und schließlich jemandem, dem gegenüber wir uns neutral fühlen. Häufig ist es nützlich, ein Bild der betreffenden Person vor seinem geistigen Auge zu haben, während man diese Wünsche zum Ausdruck bringt. Der nächste Schritt ist komplizierter - diese Segnungen einem „schwierigen" Menschen in unserem Leben zu wünschen; jemandem, zu dem wir vielleicht eine schwierige Beziehung haben. Und der nächste Schritt kann sogar noch komplizierter sein: Man bittet uns, Vergebung anzubieten und um sie zu bitten. „Ich bitte dich um Vergebung für alles, was ich getan oder gesagt habe, was dir Schaden zugefugt oder schmerzliche Gefühle bereitet hat." Dann vergibt man dieser Person mit denselben Worten. Ich habe einen Freund ausgewählt, mit dem ich lange Jahre in enger Verbindung stand, die vor kurzem mit Verwirrung und Feindseligkeit endete. Ich stellte mir sein Gesicht vor, sah die Probleme, die zu unserem Zerwürfnis geführt hatten, und bat ihn um seine Vergebung für das, was zwischen uns passiert war. Es war schwierig, da er mir bei dem Versuch, unsere Freundschaft wieder aufzunehmen, nicht entgegenkam. Aber die Übung, einschließlich dessen, ihm für das zu vergeben, was passiert war, half mir, das Gefühl zu bekommen, dass sich das Problem gelöst hatte. Ich persönlich fand das zutiefst berührend, aber mehrere Gruppenteilnehmer berichteten beim Abendvortrag, wie schwer es ihnen gefal-
Eine Woche in Stille
93
len sei, denen zu vergeben, die ihnen Schaden zugefügt hatten. Für andere war diese ganze „Metta"- oder Liebevolle-Güte-Praxis unangenehm, und einige kamen erst gar nicht mehr, wenn dies das Thema der Sitzung für die geführte Meditation war. Eine Reihe von Leuten sagte später, es sei ihnen schwer gefallen, jemandem zu vergeben, der ihnen Unrecht getan und sich nicht für seine Vergehen entschuldigt hatte. Sechster Tag Ich fühle mich gerade, als würden drei greifbare Ströme des Gewahrseins in den Fluss meines Bewusstseins hineinfließen. Einer ist das unmittelbare sensorische Erleben. Diese Empfindungen meines Körpers oder meiner Wahrnehmungen fühlen sich roh und nackt an. Wenn ich gehe, fühle ich den Druck der Ferse, den Übergang zum Ballen, die ungleichmäßige Verteilung des Gewichts auf meinen Zehen, die Bewegung meiner Hüften, während mein anderes Bein langsam über den Körperschwerpunkt schwingt und mein Körper sich vorbeugt, wobei die andere Ferse den Boden berührt, die Zehen meines anderen Fußes sich lösen und flüchten. Ich beobachte das nicht als Wahrnehmung; ich spüre es. Da es in Echtzeit passiert, fühle ich, dass es keine Worte gibt, um diese Empfindungen zu beschreiben, und keine Konzepte, um sie zu analysieren und Cluster daraus zu machen. Sie sind einfach nur ihre sensorische Fülle - Anblicke und Geräusche, inneres Gurgeln, Spannungen, Druckgefühle. Ich werde mir auch des zweiten Stroms recht deutlich bewusst - des begrifflichen Stroms in der Vorstellung des Gehens. Ich kann den Gedanken fast hören — „gehen" -, in Worten, die in meinem Geist nicht ganz hörbar sind. Aber jetzt gibt es da auch noch einen dritten fließenden Strom, den ich den Beobachter nenne — das Empfinden, dass ich mich selbst aus der Ferne beobachte, aus meinem Kopf heraus, wie ich im Saal über mir oder in den Bäumen über dem Weg schwebe, wo ich gerade gehe. Jeder Strom - Empfindung, Konzept, Beobachter - scheint im Tal des gegenwärtigen Moments nebeneinander zu existieren. Ich nehme alle drei Ströme zur Kenntnis und beobachte sogar den Beobachter. Wie seltsam. An irgendeinem Punkt habe ich das Gefühl, dass ich den
94
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Verstand verliere, während mein Gefühl der Realität zerbröselt, sich ganz wörtlich vor meinem inneren Auge auflöst. Oder finde ich ihn in Wirklichkeit? Ich gehe weiter. Schritt für Schritt beobachte ich meinen Geist. Ich spüre meine Schritte. Ich beobachte mein Empfinden und spüre sogar mein Beobachten. Ich habe fast eine Woche lang mit niemandem gesprochen, von den kurzen Augenblicken mit meinen Lehrern einmal abgesehen. Keine Interaktionen, kein Sprechen, keine Gegenseitigkeit. Ich bin von anderen umgeben, bin weit weg und dennoch so nah. Ich habe die mir zugewiesene Aufgabe erfüllt und jeden Tag die Toiletten unseres Saals geputzt. Vor dieser Routine hat mir anfangs gegraut, aber irgendwie ist es mir gelungen, sie zu genießen, ja diese Aufgabe sogar zu mögen. Ich fühle eine gewisse Verbindung zu dem Mopp, während ich die Toilette schrubbe und das Waschbecken säubere. Tag für Tag erwartete ich dann dieselbe Reaktion von den Reinigungsflüssigkeiten, den Schwämmen und den Putzlappen. Es fühlt sich tröstlich an zu wissen, dass es in alldem eine gewisse Vorhersagbarkeit gibt. Ich schrubbe, und der Schmutz verschwindet. Zauberei. Doch im offenen Tal des gegenwärtigen Moments weiß ich nie, was auftauchen wird. Da ich während des Gehens irgendeinen Ankerpunkt brauche, denke ich mir eine Eselsbrücke für das Ganze aus. Ich weiß, dass man uns gesagt hat, wir sollten zu uns selbst sagen, „nicht jetzt" oder „nein, danke", um eine interessante Idee anzuerkennen und uns nicht von ihr überschwemmen zu lassen. Doch ich kann mir nicht helfen. Oder vielleicht helfe ich mir gerade doch. Schritt für Schritt schweben meine unbeschuhten Füße über den Holzboden dieses Raumes, in dem wir die Gehmeditation machen. Schritt für Schritt. Ich denke: Empfindung. Okay. Beobachtung. In Ordnung. Konzept. Gut. Jeder dieser drei Ströme gibt mir das Gefühl, den gegenwärtigen Moment zu kennen; ein Wissen, das sich paradoxerweise ohne Worte, ohne Konzepte und ohne Empfindungen vollzieht. Dieses Wissen ist eine Art unterirdischer Strom unter diesem Tal des gegenwärtigen Moments, ein formloses Wissen. Wie kann ich mich später an diese erstaunliche Vision erinnern? Dann denke ich „S.O.C.K." (Sensation.
Eine Woche in Stille
95
Observation. Concept. Knowing). Also, eine Socke befindet sich um meine Fußsohle herum und SOCK umgibt die Seele der Achtsamkeit, Schritt für Schritt, Moment für Moment: Empfindung, Beobachtung, Konzept und Wissen. Vorher habe ich drei Bewusstseinsströme in einer Frage- und Antwortphase beschrieben und gefragt, ob ich wohl den Verstand verliere. Wenn der Beobachter übermäßig aktiv wird, so sagte ich, dann scheint er die unmittelbare sensorische Erfahrung zu zerstören, genauso wie die begrifflichen Gedanken es vorher taten. „Muss ich den Beobachter loswerden?", habe ich gefragt. „Nein", antwortete der Lehrer, „es geht um Ausgeglichenheit." Damit kann ich leben. Ja, ich kann sogar damit schweben. Und natürlich taucht beim nächsten Gehen eine weitere Eselsbrücke auf — das ABCDE der Achtsamkeit: A Balance of Concept and Direct Experience, also eine Balance aus Konzept und unmittelbarem Erleben. Meine linke Hemisphäre gibt einfach nicht auf! Siebter Tag Dies ist der Tag, an dem wir das „Schweigen brechen". Sie haben drei Stunden dafür geplant, mit formeller Diskussion, gefolgt von einer geselligen Abendmahlzeit, während der wir uns des Geschmacks des Essens nicht bewusst sein werden, so stelle ich mir vor, und dann eine stille Abendmeditation vor dem Schlafengehen. Und schließlich noch die letzte Meditation und Diskussion am folgenden Morgen. Wir treffen uns zuerst zu zweit, und ich lechze danach, meine Erfahrung zu beschreiben. Ich erzähle meinem Partner von den Eselsbrücken, und ihm gefällt das YODA [Akronym von you observe and decouple automaticity und die Bezeichnung einer Figur aus Star Wars; Anm. d. Ü.] am besten: Du beobachtest und entkoppelst die Automatismen. Das beschreibt die Rolle der Reflektion dabei, uns für das achtsame Gewahrsein wach zu machen: Die Beobachtung unterbricht den Prozess, auf „Autopilot zu sein". Wir lachen über die Vorstellung von YODAs SOCKen. Achtsamkeit könnte mehr beinhalten als einfach nur zu spüren: Es könnte die Fähigkeit beinhalten, sich des Gewahr-
96
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
seins gewahr zu sein, die Erfahrung zu beobachten. Wenn wir beobachten, dann können wir uns von dem automatischen Geplauder und dem weniger offensichtlichen Filtern lösen, die unsere Emotionen und Gewohnheitsschemata erzeugen und uns dadurch vom direkten Erleben wegbringen. Die Beobachtung fühlt sich wie der Schlüssel an, der ironischerweise die Tore für die unmittelbare Empfindung öffnet: Wir beobachten und nehmen unseren begrifflichen Geist zur Kenntnis, und wir befreien uns, um das Tal des gegenwärtigen Moments voll und ganz zu betreten. Als wir aus der Stille auftauchten, schien sich ein seltsames Phänomen zu ereignen, von dem mir nachher berichtet wurde, dass es häufig vorkomme, nicht nur bei Wissenschaftlern: Es war eine Art Rausch zu spüren, eine gewisse Partyatmosphäre, sobald wir nach unserem einsamen, stillen Aufenthalt wieder sprechen durften. Aber als wir später in die Stille zurückkehrten, empfand ich eine überraschende Erleichterung, und ein offenes, weites Empfinden meines Geistes kam zu mir zurück. Ich konnte fühlen, wie sich mein Bewusstsein klärte, als es mir nicht erlaubt war, mit irgend jemandem zu sprechen. Jener Mangel an Kontakt befreite meinen Geist, um wieder offen zu sein und sich mit sich selbst zu verbinden. Es gibt eine gewisse Klarheit, die aus der Stille kommt. Dennoch war ich, als ich an jenem Abend zum ersten Mal in dieser Woche zu Hause anrief, froh, mit meiner Frau und meinen Kindern sprechen zu können. Und dennoch konnte mein Geist, obwohl die Dinge zu Hause gut liefen, nicht aufhören, über unsere Unterhaltungen, die Pläne, den Tonfall meiner Familienmitglieder und die Dinge, die es zu tun gab, nachzudenken. Zum ersten Mal während dieser Woche fiel es mir schwer, einzuschlafen, und ich wachte mehrmals auf und dachte einfach über verschiedene Dinge nach, die die Woche über aus meinem Bewusstsein verschwunden waren. Der Sog meines normalen Lebens machte mir klar, dass mir gar nicht bewusst gewesen war, um wie vieles ruhiger mein Geist geworden ist. Ich hatte die ganze Woche lang problemlos heißen Tee getrunken. Nachdem ich zu Hause angerufen hatte, aus der Achtsamkeit ausgestiegen und in den Rummel und die Hektik des „zivilen" Lebens
Eine Woche in Stille
97
zurückgekehrt war, verbrannte ich mir die Zunge. Ich hatte an etwas anderes gedacht, statt mir des Tees bewusst zu sein, während ich ihn trank. Ohne Achtsamkeit können wir uns verletzen und verbrennen. Während der kurzen wissenschaftlichen Diskussionen über unsere Ideen und Erfahrungen des letzten Abends dieser Woche konnte ich meine Gedanken nicht ankurbeln. Was mir auffiel, war, wie vollkommen begrifflich sich die Unterhaltungen anfühlten, und ich war einfach nicht in der Gemütsverfassung, mich wieder auf diese Weise zu engagieren. Ich begrüßte die Rückkehr zum Schweigen an jenem letzten Abend. Auf der Fahrt zum Flughafen am nächsten Tag, bei der ich mich in Gesellschaft zweier Freunde befand, hatte ich jedoch das Gefühl, dass wir tief, langsam und ungestört in unsere Erfahrungen hineingehen konnten. Ich empfand es als befriedigend, zu versuchen, die Erfahrungen der Woche in Worte zu fassen und sie den anderen mitzuteilen. Ich sagte, dass ich das Gefühl gehabt habe, als ob ein Teil meines Geistes, der sich gewöhnlich mit anderen verbindet, von der Mitte bis zum Ende der Woche seinen Fokus auf die einzig verfügbare Person gerichtet hatte: mich! Als ich meine Erfahrung beschrieb, konnte ich fühlen, dass sie sich auf mich in einer Weise einstimmten, auf die ich mich, meinem Gefühl nach, während der Woche auf mich selbst eingestimmt hatte. Mein wissenschaftlicher Geist stellte sich vor, dass es die Beteiligung des sozialen Schaltkreises im Gehirn war, die es uns ermöglicht, miteinander in Resonanz zu treten, die sich jetzt auf mich konzentriert hatte. Diese Resonanz von innerer und gegenseitiger Einstimmung fühlte sich zutiefst befriedigend an.
Kapitel 4 Leiden und die Ströme des Gewahrseins Einhundertfünfzig Spezialisten, die meisten von ihnen Kliniker, hatten sich im Mount Madonna Center in den Bergen versammelt, von denen man einen Blick auf die Bucht von Monterey in Nordkalifornien hatte, um von Jon Kabat-Zinn und Saki Santorelli den Ansatz der „Stressbewältigung durch Achtsamkeit" (MBSR) zu erlernen, den diese seit mehr als fünfundzwanzig Jahren praktizierten (KabatZinn 1990; Santorelli 1999). Durch eine Reihe von Studien sind die positiven Ergebnisse belegt, über die wir an früherer Stelle berichtet haben: verbesserte Immunfunktion, ein verbessertes Funktionieren des Herzens sowie verbesserte Funktionen im psychischen und zwischenmenschlichen Bereich - all das wird mit Achtsamkeitspraktiken in Verbindung gebracht (Davidson et al. 2003; Kabat-Zinn 2003). Dies ist mein intensives Eintauchen in die Achtsamkeit: zwei einwöchige Retreats in einem Monat. Der Retreat der schweigenden Wissenschaftler war ein Eintauchen in eine klassische Einsichtsmeditationserfahrung. Früh aufwachen, sitzen, gehen, sitzen, gehen - all das wurde schweigend getan, ohne mit anderen auf irgendeine Weise in Kontakt zu treten.
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
99
Diese Woche ist eher ein Studienpraktikum, wo wir meistenteils mit anderen sprechen dürfen - mit Ausnahme der sechsunddreißig Stunden, die morgen früh beginnen. Diese Worte, die Sie jetzt lesen, gehen aus meiner linken Gehirnhälfte hervor, die weiß, dass sie kurz davor steht, die nächsten eineinhalb Tage zur Untätigkeit gezwungen zu sein. Außer dass wir nicht sprechen dürfen, hat man uns auch davon abgeraten, zu schreiben und zu lesen und - auch das ! - miteinander während dieser Zeit irgendwie in Kontakt zu treten. Rumis Gedicht „Das Gasthaus" hängt an der Wand als wunderschöne Formulierung des Gefühls, das für mich den Kern der Achtsamkeit bildet, während sich diese Tage entfalten. Das Gedicht beginnt mit dem Satz: „Dieses Menschsein ist ein Gasthaus", und legt uns nahe, alle unverhofften Besucher in unser Haus einzuladen und sie alle willkommen zu heißen und zu bewirten. Jeden Morgen lese ich seine Worte und gehe den Weg zum Versammlungssaal, vorbei an Rehen und Kiefern. Wir begegnen auf dieser Reise, die wir das Leben nennen, vielen Gästen, drinnen wie draußen. In Zusammenhang mit dem Schweigeretreat haben wir über die Vision von YODAs SOCKe gesprochen, die Vorstellung, dass „man beobachtet, um sich von den Automatismen abzukoppeln"; dass das Beobachten einen befähigt, sich weit genug zu entfernen, um jedem mentalen Prozess an der Tür seines Geistes „lachend" begegnen zu können. Die „Socke" steht für die Ausgeglichenheit von Empfindung, Beobachtung und Konzeptualisierung, die zu einem achtsamen Empfinden des nichtbegrifflichen Wissens führt (Abbildung 4.1). Wenn wir das Aufsteigen mentaler Prozesse bekämpfen, dann können wir in einen massiven inneren Kampf geraten, der mentales Leiden erzeugt. Darin liegt die Paradoxie des achtsamen Gewahrseins: In seinem Kern ist es voller Akzeptanz. Ohne uns aktiv zu bemühen, ein Ergebnis zu erreichen, befreit es uns vom Leiden. Im Folgenden finden Sie einige Beispiele, die diese grundlegende Idee veranschaulichen.
SOCK
BEWUSSTSEIN
Abbildung 4.1 Die vier Ströme des Gewahrseins.
Auf einem Fuß balancieren Wir machten eine Reihe von Übungen, die zeigten, wie wichtig das achtsame Gewahrsein sein kann. Ich stand bei den Yogaübungen nahezu in der Mitte des Raumes. Unser Lehrer gab uns die Anweisung, auf einem Fuß zu balancieren. Da ich genau neben ihm stand, versuchte ich, sein Tun zu spiegeln, fand es jedoch sehr schwierig, mein Gleichgewicht zu halten. Ich fühlte mich seltsam und war überrascht, denn am Tag zuvor hatte ich dieselbe Übung während eines Vortrags, als ich mich recken und strecken musste, aus eigenem Antrieb gemacht und das Asana über lange Zeit gehalten. Worin bestand also der Unterschied? Bei der Spiegelübung war ich darauf konzentriert, seine Bewegungen nachzuahmen, den Winkel seines Arms, die Höhe seines angehobenen Beins, sogar die Richtung seines Kopfes. Während das für ihn funktionierte, war es für mich ein sekundärer Prozess „von oben herab", bei dem ich nicht auf mein eigenes, primäres Bedürfnis nach Balance eingestimmt war. Am Tag zuvor konnte ich die Einstimmung auf mich selbst unmittelbarer erreichen, denn es gab niemand anderen, der mir denselben Balanceakt vormachte, so dass ich ihn imitieren konnte. Heute war ich nicht auf mich eingestimmt,
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
101
weil ich seine Körperbewegungen aufnahm. Der Versuch, ihm zu entsprechen, dominierte über die Fähigkeit, mein eigenes Gleichgewicht wahrzunehmen. Hier sehen wir, dass sogar eine Wahrnehmung als hierarchisches Hindernis angesehen werden kann, uns auf uns selbst einzustimmen. Dieses Ungleichgewicht scheint uns immer wieder von uns selbst zu entfremden, uns von unserem eigenen Geist zu distanzieren. Einflüsse, die sich von oben nach unten auf unsere Wahrnehmungskanäle auswirken, verzerren unsere Fähigkeit, unsere eigenen Fingerzeige zu lesen. In diesem Fall musste mein Gewahrsein in die Empfindung „hineinfallen", damit ich innere Einstimmung erreichen konnte. Alle vier Ströme scheinen unsere Fähigkeit zu beeinflussen, vollständig im Moment gegenwärtig zu sein. Manchmal müssen wir uns daran erinnern, uns selbst zur Gänze in das Gasthaus unseres eigenen Geistes einzuladen.
Ströme des Gewahrseins Als ich den Kieselweg hinunterging, fühlte ich die Steine unter meinen nackten Füßen. Ich nahm die Steine wahr, den Druck auf meinen Fußsohlen, das Heben meines Beins, seine Bewegung und dann das erneute Platzieren meines Fußes auf den Kieselsteinen. Hier nahm mein rezeptives Gewahrsein die Domäne des sechsten Sinns meiner Körperempfindungen und der fünf Sinne der mich umgebenden Geräusche, Anblicke, Gerüche und Berührungen auf. Während ich meinen Fuß hob und ihn sich durch den Raum bewegen spürte, war ich mir auch des bevorstehenden Gefühls meines Fußes bewusst, der „kurz davor war, wieder abgesetzt zu werden". Ich trat wieder einen Schritt nach vorn, und diese Empfindung wurde noch deutlicher. Ich konnte die Kiesel fast fühlen, bevor ich meinen Fuß abstellte. Ich hatte das Konzept von Spiegelneuronen im Kopf. Ich hörte den Gedanken: „Oh, diese Empfindung der Kiesel, bevor du den Schritt machst, ist irgendein Gewahrsein einer Erinnerung für die Zukunft, dein Geist, der sich auf den nächsten Schritt vorbereitet, die Wahrnehmung dieses vorsätzlichen Aktes." So spürte ich gleichzeitig
102
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
die Intention und das begriffliche Denken der Intention. Ich beobachtete mich auch dabei, wie ich ein Konzept mit einer Empfindung abglich und den Prozess durch diesen beobachtenden Zeugen „zur Kenntnis nahm" - ich beobachtete also auch die Intention. Während all das vor sich ging, war ein Gefühl dieses Gewahrseins eine Empfindung von Wissen, ein vages Gefühl, geerdet zu sein. Doch die Empfindung fühlte sich klar an. Die Beobachtung fühlte sich eindeutig an. Die Konzeptualisierung hatte ihre eigene Struktur und ihre eigene Griffigkeit. Sogar das Wissen fühlte sich wie ein auftauchender Prozess an, der aus der Verflechtung der drei Ströme entstand und vielleicht zu einem eigenen Strom wurde. Ich spürte, ich beobachtete, ich erfasste es geistig - alles innerhalb des Gewahrseins. Hier spürte ich deutlich, dass die Achtsamkeit eine unverfälschte oder unmittelbare Qualität hatte, die nicht auf die physischen Empfindungen der ersten sechs Sinne beschränkt war. Dieses rezeptive Gewahrsein hatte die weite Qualität von „dankbar sein für das, was immer auch kommt", und lud sie mit Offenheit und einem Lachen ein. Ich hatte das Empfinden, dass der Beobachterstrom das rezeptive Gewahrsein manchmal verdrängte und sich das Leben dadurch abgehoben und irreal, ja ungelebt anfühlte. Zu anderen Zeiten machte die Konzeptualisierung das Wassertrinken vielleicht zu einer Idee und ich fühlte nie wirklich die kühle Flüssigkeit über meine Lippen und meine Zunge fließen, obwohl ich tatsächlich trank. Ich denke mir, dass es Menschen gibt, bei denen auch ein Übermaß an Empfindungen herrscht und die die Beobachtung und die Konzepte ausblenden aber das ist einfach nie mein Schicksal gewesen, obwohl es von außen so scheint, als ob dieses Ungleichgewicht, das mich plagt, zumindest manchmal lohnend ist. Und das ist der Haken an der Sache: Gleichgewicht ist nicht dasselbe wie Gleichzeitigkeit. Nicht jeder unverhoffte Besucher muss zur selben Zeit im Gasthaus wohnen. Neuankömmlinge kommen jeden Morgen, und es bildet sich sogar eine Menschenmenge. Doch um jeden Gast ehrenvoll zu behandeln, müssen wir dieses rezeptive Gewahrsein - die Weite unseres Geistes - kultivieren, die sie alle in ihrer eigenen Zeit willkommen heißt.
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
103
Die unmittelbare Erfahrung verleiht ein Gefühl von Erkennen und Vertrautheit. Dieses „unmittelbare Erleben" kann die vier Domänen von Empfindung, Beobachtung, Konzeptualisierung und Wissen umfassen. Das mag Ihnen seltsam erscheinen, so wie mir auch, sogar während ich es schreibe. Aber wir können jeden dieser Ströme so anwenden, dass er der anderen gewahr ist: Ich kann wissend spüren und ich kann spürend wissen. Vielleicht ist das Wissen das Ergebnis der Balance der ersten drei, und wir werden diese Möglichkeit im weiteren Verlauf erforschen. In diesem Moment erinnere ich mich daran, was für ein Kampf es war, zu versuchen, sich „einfach nur" auf einen Strom oder einen anderen zu konzentrieren, damals, bei dem Schweigeretreat zu Anfang des Monats. Ist das noch derselbe Monat? Vor so vielen Momenten, einem Monat, dennoch ist genau dieser eine Moment jetzt, und jetzt ist genau dieser Moment. Der Geist verändert sich. Ich konnte nicht nur spüren oder nur beobachten: Sie kämpften um irgendeine Art von Aufmerksamkeit, wie kleine Kinder, die Sie zu Hause begrüßen und auf Ihren Schoß springen, um Ihnen zu erzählen, wie ihr Tag verlaufen ist. Diese Ströme des Gewahrseins schienen voll und frei zusammenzulaufen, als ich in jenen rezeptiven Zustand eintreten konnte, sie alle willkommen zu heißen, in welcher Form sie auch kamen.
Schweigen und Überraschung Warum Schweigen? Das Schweigen schafft eine seltene Gelegenheit, innezuhalten und sich in die Stille hineinfallen zu lassen, mit Ihrem eigenen Geist vertraut zu werden. So oft haben wir Dinge zu tun, Orte, an denen wir sein müssen, Menschen, mit denen wir uns treffen müssen. In unserem geschäftigen Leben ist unser Geist voll und reaktionsfreudig. Wenn wir beginnen, uns auf unseren eigenen Geist einzustimmen, indem wir schweigend innehalten, dann betreten wir einen neuen Bereich von Erfahrung, der in jedem Moment Überraschungen hervorbringen kann.
104
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Eine Überraschung ist, dass der Geist nie „leer" ist. Es ist ein häufig behauptetes und offensichtliches Missverständnis, dass der meditative Geist zu einem Vakuum an Aktivität wird. Mit ständig generierten Bildern und Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen angefüllt, ist der Geist übervoll mit Aktivität, die niemals aufhört. Der Geist ist eine geschäftige Biene, die um ihren neuronalen Bienenstock her-umhuscht. Einige Menschen nähern sich dem Schweigen bzw. der Stille in der Überzeugung, dass ihr Geist bald leer sein wird - nur um dann festzustellen, dass das Gegenteil wahr ist. In der Nähe eines brummenden Bienenstocks zu leben ist nicht leicht. Es ist sogar noch schwieriger, direkt an ihn heran-, ja in ihn einzutreten. In dem Maße, wie die Stille es dem Geist erlaubt, sich „niederzulassen", wird es möglich, sich der Subtilitäten in den feinen Strukturen der Funktionen des Geistes bewusst zu werden. Stille ist nicht dasselbe wie eine Lücke in der Aktivität, sie ist vielmehr so etwas wie eine stabilisierende Stärke. Eine andere Überraschung besteht darin, die vorübergehende, sich immer wieder verändernde Aktivität des Geistes zu erfahren. Wenn wir beschäftigt und im Geplauder des täglichen Lebens gefangen sind, können unsere Gedanken und Gefühle eine vermeintliche Festigkeit und Dauerhaftigkeit annehmen, die ihre wahre, überschäumende Natur verbirgt. Durch die Stille wird es möglich, diese äußere feste Schicht zu entfernen, um die gleichsam wolken- und dampfförmige Qualität der geistigen Aktivität zu offenbaren. Überraschungen warten an jeder Ecke: Eine weitere Überraschung ist die Art und Weise, in der verschiedene Ströme des Gewahrseins sich miteinander vermischen, um die Struktur des Gewahrseins im Moment zu erschaffen. Die Begriffe Qualität des Gewahrseins oder Natur des Gewahrseins zeigen, dass sich das Gewahrsein selbst von Moment zu Moment verändert. Meiner eigenen Erfahrung nach scheinen die Direktheit und Klarheit des Gewahrseins mit einer Art Vereinigungsprozess einherzugehen, bei dem (so stelle ich mir das zumindest vor) neuronale Feuercluster miteinander zu „resonieren" scheinen, um widerhallende Schleifen sich gegenseitig verstärkender Schaltkreise zu schaffen. Da die ablaufinvarianten Eigenschaften
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
105
dieser Schleifen ihre gegenseitig erzeugten Frequenzen sozusagen mit einem „Summen" begleiten, fühlt es sich so an, als ob ihre Selbstverstärkung eine substanzielle „Kraft" erzeugen könnte, die sich ihren Weg zu diesen neuronalen „Voraussetzungen" des Gewahrseins bahnt. Die Bedingungen beziehen sich hier nicht auf einen Ort, sondern auf eine Funktion, die von den Aktivierungen selbst erzeugt wird. So kann eine klare, unmittelbare Empfindung von Gewahrsein für eine Empfindung, eine Beobachtung, einen Gedanken oder ein Wissen existieren. Aber was ist mit dem Bewusstsein selbst? Wenn wir behaupten, dass die Bewusstseinsqualität in diesem Moment dunkel ist, wie sind wir uns dann des Bewusstseins bewusst? Können wir ein klares Bewusstsein von einer dunklen Bewusstseinsqualität haben? Metaprozesse wie diese, wie das Meta-Bewusstsein, haben unserer Spezies ihren Namen gegeben, nämlich Homo sapiens sapiens, was „die Wissenden" bedeutet. Wir wissen, dass wir wissen (KabatZinn, 2003b).
Der Fluss des Bewusstseins Viele Studien weisen auf die Kraft des achtsamen Gewahrseins hin, Wohlbefinden in vielen Bereichen unseres Lebens zu fördern. Warum sollte das so sein? Warum sollte die nicht urteilende Aufmerksamkeit, die Aufmerksamkeit, die wir mit Absicht dem gegenwärtigen Moment schenken, etwas Gutes sein? Wir haben gesehen, dass „nicht urteilend" bedeuten kann, nicht an den unvermeidlichen Urteilen festzuhalten, die der Geist aus den hierarchischen Prozessen unserer kortikalen Kritik erzeugt. Die Entkopplung dieses Automatismus führt in vielen Fällen dazu, das man „aufwacht" und beginnt, sich großartig zu amüsieren. Ein anschauliches Bild für das achtsame Gewahrsein kann das einer Radnabe sein, bei der das Rad unseres Geistes offen und weit genug ist, um jegliche Elemente am Rande des Rades zwar in unsere bewusste Erfahrung gelangen zu lassen, sie aber nicht zu übernehmen (Abbildung 4.2).
106
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Rand
Abbildung 4.2 Das Rad des Bewusstseins: Rand, Speichen und Nabe.
Jedes Element am Rand kann unmittelbar erfahren werden (unmittelbares sensorisches Erleben einer der grundlegenden Sinne); es kann beobachtet, in Begriffe gefasst und dann gekannt werden. Und so befähigen uns die vier Ströme des Gewahrseins, die den Bewusstseinsfluss, der in die Nabe unseres Geistes einströmt, speisen, ein reflektives Gewahrsein von etwas zu haben - einer emotionalen Reaktion, einer Erinnerung (siebter Sinn) einer Anspannung im Bauch, einer Schwere in der Brust (sechster Sinn), oder eines Anblicks, Geräuschs, Geschmacks, einer Berührung oder eines Geruchs (fünf Sinne). Wir könnten sogar ein Gefühl von Verbundenheit zu uns selbst oder zu anderen haben, in einer Art achtem Sinn, der uns zu einer relationalen (beziehungsbezogenen) Wahrnehmung befähigt. Das durch die Linsen dieser Ströme (Empfindung, Beobachtung, Konzeptualisierung, Wissen) gefilterte Material der Randpunkte (aller sieben oder möglicherweise acht Sinne) strömt dann in unser unmittelbares Gewahrsein ein und macht uns vollständig bewusst, was wir gerade erfahren. Manchmal wird dieses Gewahrsein von einem Teil der ersten drei beherrscht: Empfindung, Beobachtung und Konzeptualisierung. Zu anderen Zeiten ist dieses Bewusstsein in einem Zustand der
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
107
Balance, und dann scheint Wissen aufzutauchen. Und so ist es vielleicht das Ausgleichen des Quartetts, welches das Wesen der „Qualität des Gewahrseins" bestimmt, während die vier Eigenschaften Daten in die rezeptiven Naben unseres Geistes einströmen lassen (Abbildung 4.3).
Speichen der vier Ströme des Gewahrseins
Rand
Abbildung 4.3 Die vier Ströme des Gewahrseins, die den gefilterten Fluss in die Radnabe des Geistes einströmen lassen: Empfindung, Beobachtung, Konzept und Wissen.
Wenn wir den Körper anstrengen, kann das Empfinden des sechsten Sinns vorherrschend werden. In jenem Moment ist das Gewahrsein mit somatischem Input angefüllt, dem Geplätscher körperlicher Empfindungen, und ist frei von sprachlichen Begrenzungen. Wenn wir in das Empfinden eines schönen Anblicks eintauchen, dann können wir uns in dieser visuellen Schönheit verlieren und das Konzept dessen, was wir sehen, nicht mitbekommen. Auf der anderen Seite kann visueller Input leicht in Begriffe umgesetzt werden, und unsere geschäftigen kortikalen Muster-Detektoren vergleichen möglicherweise das, was wir jetzt sehen, mit dem, was wir Dutzende von Malen zuvor gesehen haben. Ein solcher Vergleich kann es schwer machen, den Baum einfach so zu sehen, „wie er ist". Desgleichen wird unser linkshemisphärischer kortikaler „Kuppler" versuchen, sprachliche Repräsentationen mit visuellen Inputs zu verbinden und das zu kategorisieren und zu
108
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
benennen, was wir sehen. Der Klassifizierungsprozess entfernt uns ebenfalls von dem direkten Empfinden der ersten fünf Sinne. Wir können den Gedanken immer noch „spüren", aber es fühlt sich anders an, als den Baum zu spüren. Hier beherrschen Konzepte die Ströme, die ins Bewusstsein hineinfließen, und der „Baum" wird eher zu einer Kategorie als zu einer Empfindung. Das achtsame Gewahrsein scheint eine Balance zwischen diesen Strömen des Gewahrseins zu erfordern. Einige Menschen stellen vielleicht die Empfindung in den Vordergrund, doch meine eigene unmittelbare Erfahrung an diesem Punkt lässt mich glauben, dass möglicherweise alle vier Ströme zur Klarheit und Stabilität von Achtsamkeit beitragen.
Selbst und Leiden Es wurde eine Frage zu dem „Wo" des reinen Gewahrseins gestellt. Ein Kommentar lautete, dass das Wo keine Rolle spiele, sondern dass am wichtigsten sei, wie die Erfahrung für den Einzelnen aussähe. Dieser Fokus auf unserer subjektiven Erfahrung ist wichtig und erinnert uns daran, dass wir, sogar wenn wir das Wesen des „achtsamen Gehirns" voraussetzen, vorsichtig sein müssen, die Naturwissenschaften, die Neurobiologie oder irgendeine andere wissenschaftliche Disziplin nicht zu vergegenständlichen. Wenn wir etwas über das Gehirn wissen, dann kann uns das jedoch dabei helfen, einige der introspektiven Beobachtungen und Empfindungen zu klären, so dass die von uns gebildeten Begriffe zumindest mit verschiedenen Wissenschaftszweigen konform gehen. Das macht die Wissenschaft nicht besser als die Subjektivität, sondern nur anders. Im Folgenden finden Sie eine kurze Zusammenfassung der allgemeinen Vorstellung von Stress und Leid und ihrer Verringerung mit Hilfe von Praktiken des achtsamen Gewahrseins. Sie wird durch die zwischenmenschliche neurobiologische Linse in meinem Kopf gefiltert, soweit ich das aus meiner unmittelbaren Erfahrung und der bestehenden Literatur sagen kann. Wenn der Geist sich an vorge-
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
109
fassten Vorstellungen festhält, dann erzeugt er eine innere Spannung zwischen dem, was ist, und dem „was sein sollte". Diese Spannung erzeugt Stress und Leid. Die Rolle des achtsamen Gewahrseins besteht nun darin, den Geist zu befähigen, das Wesen des Geistes selbst zu „erkennen", den Einzelnen zu der Einsicht erwachen zu lassen, dass vorgefasste Ideen und emotionale Reaktionen in das Denken und die reflexartigen Reaktionen eingebettet sind, die dann innere Not verursachen. Wenn sich ein Mensch aber von Gedanken und Emotionen löst, indem er sich bewusst macht, dass diese geistigen Aktivitäten weder mit dem „Selbst" identisch noch von Dauer sind, dann kann er erreichen, dass sie wie Blasen in einem Topf mit siedendem Wasser aufsteigen und zerplatzen. Nicht alles Denken und alle gewohnheitsmäßigen Reaktionen erfolgen „von oben herab", aber in diesem Modell sind es genau diejenigen, die erworbenes Leiden verursachen. Das Leben ist voller Leid. Es gibt ein universelles Leid, bei dem wir alle den Schmerz von Verlust, Enttäuschung und Tod erfahren. Doch erworbenes Leiden ist der Ausdruck, der verwendet wird, um zu verdeutlichen, wie unser Geist seine eigene mentale Pein verursacht, indem er an Begriffsbildungen und automatischen Reaktionen festhält, die uns aus dem unmittelbaren sensorischen Erleben herausreißen. In vielfacher Weise nimmt die Qualität unseres Gewahrseins ab, wenn wir nur in unseren Gedanken und vorgeformten Emotionen, in Konzepten und Wahrnehmungsfiltern leben, die dann unsere Weltsicht organisieren. Doch wenn wir für unsere Sinne erwachen, dann belebt das nicht nur unser Dasein, sondern es bringt uns unmittelbar zum Erleben von Moment zu Moment. Gedanken und Emotionen sind in Ordnung, solange sie nicht die Fähigkeit zum sensorischen Gewahrsein zerstören. Es geht, so habe ich im Laufe der Zeit gelernt, um Ausgleich, nicht um Diktatur. Und so besteht eine Rolle der Sinne im Alltagsleben darin, uns aufzuwecken, uns von unseren Automatismen wegzubringen, die Schärfe des Gewahrseins zu verstärken, damit das Leben reicher und im Moment gegenwärtiger wird. Das Ergebnis eines solchen Erwachens ist, dass unser gesamtes Wesen befreit wird, empfänglicher für die Dinge zu werden, so wie sie
110
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
sind. Die Einstimmung auf die Domänen der Außenwelt (die ersten fünf Sinne), die somatische Welt (sechster Sinn) und die geistige Welt des Selbst und der anderen (siebter Sinn) bringt einen Zustand mit sich, der sowohl kohärent als auch stabilisierend ist. Einstimmung bedeutet, Dinge im Gewahrsein so zu spüren, wie sie sind. Unser „gelebtes" Selbst schwingt in unmittelbarer, klarer Weise mit unserem „sich gewahr seienden" Selbst, und wir „fühlen uns" von unserem eigenen Geist „gefühlt". Wir fühlen diesen kohärenten Zustand von Einstimmung in unserem achten, beziehungsbezogenen Sinn. Man kann sagen, dass der flexible, anpassungsfähige, kohärente, energetisierte und stabile Fluss (FACES) des geistigen Wohlbefindens in Form von integrierten Systemen über die Zeit auftaucht. FACES ist der Begriff, mit dem wir uns auf diesen integrierten Zustand beziehen, einen Zustand, der dem Wohlbefinden zugrunde liegen könnte. Einstimmung ist der Prozess, durch den getrennte Elemente zu einem schwingenden Ganzen zusammengebracht werden. Wenn wir uns in unserem Gewahrsein Dingen so annähern, wie sie sind, mit einer COAL-Gemütsverfassung, dann sind wir auf dem Weg zu innerer Einstimmung. Dieser widerhallende Zustand befähigt das Selbst, einen FACES-Fluss zu erreichen und alles anzunehmen, was auftaucht. Einstimmung taucht auf, wenn Integration erzeugt wird. Mit einem Gewahrsein von Moment zu Moment, das sich nicht an Urteilen festhält, haben wir eine Formel für die innere Einstimmung, die den physischen, somatischen und mentalen Bereich der Realität einbezieht. Diese gegenseitige Einstimmung ist ein widerhallender FACES-Zustand, der das Bewusstsein erhellt und die Elemente, die im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen, stabilisiert. Das Leben wird dynamischer und klarer. Das achtsame Gewahrsein fühlt sich gut an, und es ist für das gesamte Wesen und seine Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen gut. In dem Maße, wie unser reflektives Gewahrsein von oben nach unten eindringende Vorurteile über Bord wirft, verschmelzen die drei Ströme von Empfindung, Beobachtung und Begriffsbildung mit dem tieferen Strom des Wissens, und wir sind frei, um in den ausgeglichenen Fluss unseres Bewusstseins hineinzuströmen. Es erfolgt
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
111
die Loslösung von den Objekten der Aufmerksamkeit im Sinne der definierenden Merkmale dessen, was wir sind, und dadurch kann ein Gefühl von achtsamem Wissen entstehen. Diese vom Beobachter geschaffene Fähigkeit der Unterscheidung ist es, die das achtsame Gewahrsein von der Vorstellung des „Flusses" unterscheidet, in dem wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, in die Empfindungen einer Erfahrung eintauchen (Czikszentmihalyi 1990). Im Fluss verlieren wir uns, weil das Eintauchen in die Empfindung oder den Gedanken uns „mitreißen" kann und wir uns in den Automatismen jenes Stroms verlieren. Bisweilen kann das etwas Positives sein, zum Beispiel wenn wir essen, miteinander schlafen, einen Spaziergang machen oder über ein Problem nachsinnen. Doch im täglichen Leben kann der Kern eines achtsamen Lebens darin bestehen, alle vier Ströme in Balance zu halten. In unserer klinischen Arbeit mit dem Leiden könnte ein Bedürfnis danach bestehen, die Fähigkeit des Beobachters zu schulen, um die Automatismen, die den Prozess in Gang bringen, zu entkoppeln (YODA). Sich auf Schmerzen in den Gliedmaßen zu konzentrieren kann uns zum Beispiel helfen, uns weg von einer vorgefassten Idee (etwa „ich sollte keine Schmerzen haben") und hin zur Empfindung zu bringen. Doch ohne einen stabilen Beobachter bleibt der Schmerz möglicherweise intensiv, selbst wenn die Gedanken weniger werden. Das Empfinden könnte für sich genommen keine Erleichterung bedeuten. Das achtsame Gewahrsein der Empfindung könnte hingegen alles verändern - richten wir unseren Fokus auf den Schmerz und die Aktivierung des Beobachters, so kann die Bewusstseinsqualität der rezeptiven Nabe das vorübergehende und vielleicht unvermeidliche Wesen des Schmerzes selbst anerkennen. Selbst der Gedanke „ich sollte schmerzfrei sein" kann untersucht werden und wie eine Seifen-blase im Badewasser zerplatzen. Stress und Leiden tauchen überall im Leben auf. Durch das achtsame Gewahrsein wird eine neue Möglichkeit geschaffen, das Leiden neu darzulegen, selbst wenn man der sensorischen Erfahrung nicht entkommen kann. Nichts wird vorsätzlich blockiert; vielmehr sind alle Gäste willkommen. Wenn ein vorgefasster Gedanke an die Tür
112
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
klopft, dann kann er als das, was er ist, gesehen, beobachtet, gedacht und gekannt werden. In diesem Zustand des Gewahrseins in diesem Moment des Schreibens scheinen alle vier Ströme zu seiner Struktur beizutragen, zu jener rezeptiven Nabe im Zentrum unseres Geistes.
Präsenspartizipien Unser Schweigen während dieses Retreats dauerte nur sechsunddreißig Stunden. Ich erinnerte mich immer wieder daran, nicht zu vergleichen und nicht so viel über den Retreat zu Anfang des Monats nachzudenken. Aber der Lernprozess aus jener Zeit prägte mein Erleben - YODAs SOCKe drang immer wieder in mein momentanes Bewusstsein ein, und ich konnte nicht dagegen ankämpfen, sondern ließ die Vorstellung einfach da sein. Ich versuchte zu sagen, „nicht jetzt", aber es schien nicht viel zu nützen. Also versuchte ich, die Gedanken einfach da sein zu lassen. Am ersten Morgen der Schweigeperiode saßen wir fünfundvierzig Minuten zusammen, die mir recht kurz erschienen. Ich trat in irgendeine Bewusstseinsqualität ein, in der nicht nur die Zeit zu verschwinden schien, sondern auch das Gefühl meiner Verbindung zu meinem Körper und den Empfindungen der Außenwelt - Geräusche, Licht durch meine geschlossenen Augen -, alles schien weit entfernt zu sein, zu schweben, als habe man es vorübergehend außer Kraft gesetzt, schwerelos, ohne zu irgendetwas oder irgendjemandem im Besonderen zu gehören. Die Glocken wurden geschlagen, und es wurde angekündigt, dass es Zeit für die Gehmeditation sei. Ich konnte mich nicht bewegen oder bewegte mich einfach nicht. Ich hatte Angst, die anderen könnten meinen, ich sei arrogant, weil ich die Anweisungen nicht befolgte. Doch ich spürte auch, dass sie irgendwie wissen würden, dass ich mich in einer Art von „wahllosem Gewahrsein" befand, in dem mein normales Selbstgefühl verschwunden war, weggeschmolzen, unwichtig, nicht vorhanden. Ich nahm meine Sorge um den Neid der anderen zur Kenntnis, und wie ein Lehrer in einem früheren Retreat vorgeschlagen hatte, notierte ich ihn im Geiste sanft als „Sorgegedanke
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
113
Nummer eins", und er schwebte irgendwo in die Ferne, wo er zwar nicht ganz verschwunden, aber nicht mehr so wichtig war. Ich beobachtete diese Empfindung des „Nicht-Ich" in meinem Empfinden. Ich weiß, dass das seltsam klingt, und vielleicht klingt die ganze Sache grotesk, wie sie „mir", glaube ich, auch erscheinen wäre, bevor ich diesen Weg betreten hatte. Das war passiert, als ich vor fast dreißig Jahren in Mexiko von einem Pferd mitgeschleift worden war und ich, wenn auch nur einen Tag lang, meine Identität verloren hatte und in eine andere Art des Wissens versunken war, die unterhalb des normalen Gefühls von „mir" lag. Einen Tag lang erlebte ich eine „vorübergehende globale Amnesie": vollständige Empfindungen, keinerlei Identität. Die Identität kehrte zwar zurück, aber ich vergaß nie, wie „licht" unsere Identitäten in Wirklichkeit sind. Ein Tag intensiver Empfindungen ohne den hierarchischen Rahmen der persönlichen Identität veränderte meinen Blickwinkel grundlegend. Aber das hatte eine etwas andere Beschaffenheit, bei der sogar die Empfindungen nicht mit einem „Ich" behaftet waren. In Mexiko hatte ich das Gefühl eines „Ich", aber nur in der Gegenwart, nichts Vergangenes schien an jenem Tag verfügbar zu sein. Jetzt und hier stellte sich das Empfinden ein, dass die Dinge, die geschahen, einfach Präsenspartizipien waren, Mittelwörter der Gegenwart: klingend, sitzend, atmend, gewahr seiend. Ich saß, bis die anderen vom Gehen zurückkamen, mir des Sorgegedankens Nummer zwei bewusst, der zur Kenntnis genommen und zerstreut wurde. Wir saßen eine weitere Periode lang und als die Glocken ein paar Sekunden später erneut geschlagen wurden, waren weitere dreißig Minuten vergangen. Ich saß über eineinhalb Stunden, ohne mich auch nur ein paar Zentimeter zu bewegen. Ich hatte mich zu dem Empfinden von Unendlichkeit hinbewegt.
114
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Selbstloses Gewahrsein Im Retreat nannten sie diesen Zustand des „Nicht-Ich" eine Form von wahllosem Gewahrsein. Es fühlte sich meinem Erleben nach eher wie ein selbstloses Gewahrsein an, in dem Erfahrungen ausnahmslos Geschehnisse waren, jene Präsenspartizipien, über die Jon Kabat-Zinn spricht, die einfach „passieren", im Sein begriffen sind, am Auftauchen sind. „Dieses Menschsein" fühlte sich in diesem Raum tatsächlich wie ein Gasthaus an, in das ich all das einladen konnte, aufzutauchen, wie es wollte - alles war willkommen, jedes mit seiner eigenen wundersamen Struktur, sogar die Sorgen. Nach dem Sitzen und dem Frühstück stellte ich fest, dass ich mir für den Rest des Tages meiner Gedanken bewusst war: konstruierter Konzepte und logischer Ausflüge in den Unterschied zwischen Beobachterstrom und diesem selbstlosen oder wahllosen Gewahrsein. Ich spielte mit dem Rad des Bewusstseins, probierte verschiedene Formen aus, in denen die Radnabe durch konzentrische Kreise von Empfindung, Beobachtung, Konstruktion und vielleicht auch durch dieses nichtbegriffliche Wissen erzeugt wurde, das die Nabe des Geistes, unseren reflektiven Zustand achtsamen Gewahrseins, umkreist (siehe Abbildung 4.3). War diese rezeptive Dimension des achtsamen Gewahrseins dasselbe wie das selbstlose Gewahrsein? War Wahllosigkeit tatsächlich eine aktive Form des Rezeptivseins? Ließ die Distanz zwischen Beobachter und Beobachtung mit der Linse der Beobachtung diese geräumige Freiheit zu, in der sich eine Wahl und die Entkopplung von den Automatismen einstellen konnten? Was für ein Haufen begrifflichen Denkens! Die neurologischen Aspekte dieses ganzen Rahmenwerks wurden als Bilder in meinem Kopf registriert, nicht nur als Worte, sondern als anschauliche Bilder. Meine linken und meine rechten Kortices erlebten eine Glanzzeit. Ich konnte sehen, wie die mittleren Präfrontalregionen den Fluss nach unten blockierten, um sich auf die Empfindungen konzentrieren zu können. Das fühlte sich so an, als könnte ich im Tal des gegenwärtigen Moments vom Fluss des Bewusstseins aus stromaufwärts wandern, um in den Oberlauf der Empfindung zu gelangen (Abbildung 4.1).
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
115
Ich konnte auch in den konstruierten begrifflichen Strom eintauchen, mir der Gedanken und der Bilder bewusst sein, aus denen mein innerer Dialog und meine visuelle Kunstfertigkeit bestanden, und die extrapolierte begriffliche Welt erforschen. Dieser Strom konnte direkt gespürt werden, über den siebten Sinn, aber er hat eine andere Bewusstseinsqualität, eine andere Struktur, die sich zwar sehr real, aber wild verschlungen anfühlt und sich voller Assoziationen gerade über den Rand der Talwand bewegt. Trat ich einen Schritt von den Strömen der Empfindung und konstruktiven Konzepte zurück, dann war ich am Beobachten und nahm die Haltung eines Erzählers des Moments ein. Ich dachte an einen jugendlichen Patienten, den ich behandle und bei dem ich Praktiken des achtsamen Gewahrseins einsetze. Dieser Patient ist bisher in der Lage, seine depressiven Symptome signifikant zu verringern und eine medikamentöse Behandlung zu vermeiden. Handelt es sich dabei um das Wachstum seiner Beobachterfunktion oder sein selbstloses Gewahrsein? In meinem Beobachterstrom fühlte es sich so an, als sei es diese kraftvolle Form der Distanzierung und Selbstbeobachtung statt einer Form von Gewahrsein, der es an einem Selbstgefühl mangelt. Als ich das später mit unserem Lehrer besprach, da schien es ihm ebenfalls so, dass die Entwicklung des Gewahrseins in Form eines Beobachters oder Zeugen tatsächlich eine wesentliche Quelle der Erleichterung für Menschen mit Stimmungsstörungen ist, die das Achtsamkeitstraining erlernen. Der achtsamkeitsbasierte kognitive Therapieansatz (MBCT) nutzt dies auf sehr wirksame Weise, um Rückfälle bei chronisch Depressiven zu verhindern (Segal, Williams & Teasdale 2002). Irgendwie war das beruhigend: Die Beobachtungsgabe zu stärken scheint sehr viel direkter zu sein, als dem durchschnittlichen Anfänger in diese Welt des achtsamen Gewahrseins hineinzuhelfen, um sich in der Annahme selbstlosen Empfindens zu üben. Es ist einfach ein bisschen viel, Menschen darum zu bitten, oder es auch nur begrifflich zu erfassen, zumindest am Anfang. „Würden Sie gerne in eine Erfahrung hineinspringen, bei der das Selbstgefühl, durch das Sie sich definieren, transformiert wird?" Wahrscheinlich nicht.
116
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Zurück in der Stille stellte ich fest, dass ich die Intimität mit meinem eigenen Geist genoss. Ich weiß, dass dies erst mein zweiter Retreat gewesen ist, aber ich konnte die Verlockung spüren, die Zeit zu haben, das eigene Selbst wirklich kennen zu lernen.
Zeit, sich einzustimmen Eine faszinierende Veränderung vollzog sich. Dieses Mal konnte der Beobachter jenes Gewahrsein vertiefen, ohne mit der unmittelbaren Empfindung zu kämpfen, wie sie mich beim ersten Retreat gequält hatte. Das schien Wachstum zu sein. Der Tag schritt voran und bei der Abendmeditation gab ich mir schließlich die Erlaubnis, mich zu amüsieren: Ich dachte, ich fühlte und ich hieß alles willkommen, was auftauchte, während ich meinen Geist erforschte. Ich begann mit meinem Körper. Ich bemerkte eine Schwere in der Brust und beschloss, ihr mit Wissbegierde, Energie und Neugier zu folgen. Ich wollte für alles offen sein, was auftauchte, und nahm das andere Trio - Konzentration, Ruhe und Gleichmut - als meine Leitprinzipien auf. Das sind die letzten drei der sieben Elemente eines erwachenden Geistes, die uns im ersten Retreat vermittelt worden waren. Zu diesen gehören auch die ersten vier: Achtsamkeit, Erforschung, Energie und Glückseligkeit angesichts der Entdeckung. Ich ließ mich die Schwere in meiner Brust unmittelbar fühlen, statt sie nur zu beobachten. Ich tauchte in den Strom der Empfindungen ein und stellte fest, dass sich mein Gesicht schwer anfühlte. Tränen begannen sich in meinen Augen zu sammeln, und plötzlich, vielleicht auch allmählich - es war schwer, die Geschwindigkeit zu bestimmen -, verspürte ich Bauchschmerzen. Dann begann ich zu schluchzen. Ich ließ das Schluchzen da sein, es beobachtend, es fühlend und darauf neugierig seiend. Ich durchsuchte meinen Geist und nahm die Empfindungen auf, um Bilder, Gefühle und Gedanken zu erforschen. Ein Bild meiner Mutter kam mir in den Sinn, und es stellte sich ein Gefühl von Angst und Traurigkeit zugleich ein. Der Gedanke an ihre bevorstehende Operation in der Woche darauf, die Gefühle von ihr
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
117
als Mutter, als ich noch ein Kind war, und die möglichen Komplikationen ihrer Operation gingen mir durch den Kopf, während sich das Schluchzen in ein Starren in den leeren Raum verwandelte. Ich folgte dem Gedanken an meine Mutter und fasste die klare Intention, tief in das hineinzugehen, was dies für mich zu dieser Zeit bedeutete. Ein Bild von meiner Mutter und mir - eine Erinnerung an einen Schnappschuss — trat in den Vordergrund. Ich begann, noch stärker zu schluchzen. All die Nähe, all die Distanz, die Probleme und die Sorgen, und jetzt, wo ich erwachsen war, blieben die Sehnsüchte meiner Vergangenheit, die mein Empfinden, mein nichtbegriffliches Wissen ausmachten. Ich fühlte sie einfach und kannte sie - nicht nur als Empfindungen, sondern als eine Verschmelzung von Spüren, Beobachtung und Gedanken, die all ihrer begrifflichen Ursprünge beraubt waren und einfach einen klaren Weg beschrieben, um eine Essenz in mir zu kennen. Ich sagte mir, dass ich bereit sein müsse, mich von ihr zu verabschieden, falls es Komplikationen bei der Operation gab. Also traf ich die Entscheidung, sie vor jenem Tag zu besuchen und während der Operation bei meinem Vater zu sein. .Mit dem Fortsetzen der Gehmeditation verebbte das Schluchzen; mein Körper fühlte sich leicht an, die Schwere in der Brust wich einer Leichtigkeit des Seins, einem tiefen Atem, einer Freiheit in meinem Bauch. Ich würde diese Phase wach angehen und bereit sein, für das, was auftauchte, vollkommen präsent zu sein. Ich weiß nicht, wie das selbstlose Gewahrsein mit dem nichtbegrifflichen Wissen zusammenhängt. Sie fühlen sich unterschiedlich an - hier „weiß" ich etwas über die Gesamtvorstellung von meiner Mutter, die Kümmernisse der Liebe und die Traurigkeit des Lebens und des Todes. Aber sehen Sie sich diesen Satz mit einem „ich weiß" unmittelbar dahinter an. Im wahllosen Zustand des selbstlosen Gewahrseins ist das Gefühl anders. Da gibt es einen zutiefst friedvollen, passiven Zustand des Schwebens, in dem das „Sich-gewahr-Sein" wie die Wolken am Himmel ist, die ohne einen Anker existieren oder verschwinden. Im nichtbegrifflichen Wissen gibt es ganz eindeutig ein „Ich", das weiß. Und daran ist die Vorstellung geknüpft: All das ist „real." Es gibt kein
118
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
„besser", wenn man sein Selbstgefühl verliert, wenn man Identität und Ego umgeht, als einen Ort des „Ich" zu haben, jenes verortete Paket, welches das „Ich" und das „Mein" erschafft. Alle sind gut, alle sind in Balance. Und so blieb in jenem Moment ein köstliches Empfinden der vier Ströme des Gewahrseins übrig, die den Fluss des Bewusstseins speisen. Jeder dieser vier umgibt vielleicht die Nabe des Bewusstseinsrads und filtert und kanalisiert unser Erleben des Jetzt (vergleiche Abbildung 4.2). Selbst in der reinen Rezeptivität, so stelle ich mir vor, können wir einen der vier Ströme als den vorherrschenden spüren. Und bei jenen Gelegenheiten, wo es klar wird, ist sogar eine Rezeptivität, die kein Selbst hat, de facto Teil unserer Erfahrung. Der Wissende, das Wissen und das Gewusste werden in jenem „transpirationalen" Zustand eins: Wir atmen durch alle Dimensionen Leben ein; wir integrieren eine tiefe Empfindung der Verbundenheit von allem. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit bleibt im Hintergrund der Potenziale, es nährt die Leichtigkeit unseres Seins, die „Flaumigkeit" der Wolken, die wir als Erfahrung des „Selbst" bezeichnen. Wir müssen unser körperlich definiertes Selbst nicht so ernst nehmen, aber wir können alles in uns aufnehmen, jeden süßen Moment lang.
Siebzig Mal flüstern Nachdem wir aus sechsunddreissig Stunden Stille aufgetaucht waren, begannen wir damit, einem Partner über unsere Erfahrungen zu berichten. Ich begann mit „Ich heiße Dan", und sie sagte, „mein Name ist Barbara", und so begannen wir unsere Rückkehr in die Welt der persönlichen Identität. Siebzig von uns flüsterten gleichzeitig: Die eine Hälfte jeder Dyade, die ihre Geschichten erzählte und alles tat, um die nonverbale Welt in das begrenzte Medium der Sprache zu übersetzen. An jenem Morgen machten wir eine Reihe von Gruppenübungen, die irgendwie mit dieser ganzen Diskussion zu tun hatten, den Geist des Gewahrseins zu verkörpern. Zuerst gingen alle einhundertund-
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
119
vierzig Teilnehmer schnell und mit willkürlichen Bewegungen. Es war erstaunlich, festzustellen, dass wir nicht zusammenstießen. Die Räume zwischen uns formten unsere Erfahrung, wie die Räume zwischen Musiknoten den Unterschied zwischen Jazz und Rock, Klassik und Ramsch ausmachen. Die nächste Übung bestand darin, langsam rückwärts zu gehen. Jedes Mal, wenn wir eine andere Person berührten, sollten wir uns einen kurzen Moment an sie lehnen und dann weitergehen. Wie bei unseren diskursiven, narrativen Gedanken während der ersten Erfahrung gab es auch hier ein Empfinden, dass Ströme des Gewahrseins kollidierten. Schließlich wandten wir uns nach außen, mit dem Rücken zum geometrischen Mittelpunkt gewandt, und gingen dann alle langsam rückwärts in den Raum. Am Ende waren wir natürlich alle im Zentrum zusammengepfercht, wie in einem Bienenstock, und lehnten uns nach innen, von anderen umgeben, um nirgendwo zu sein als dort. Ich war traurig, als wir uns voneinander trennen mussten. Mir wurde die gegenseitige Verbundenheit bewusst und die Art und Weise, wie wir lernen, als getrennte Wesen zu leben. Die optische Täuschung unserer Getrenntheit, wie Einstein sie so passend genannt hat. Diese Täuschung schien hier wegzuschmelzen, und ich sehnte mich nach der Realität unserer Ganzheit.
Teil III Facetten des achtsamen Gehirns
Kapitel 5 Subjektivität und Wissenschaft Wenden wir uns jetzt einem anderen Weg des Wissens zu - den Daten der „objektiven" Wissenschaft in der dritten Person. Wir haben bisher die unmittelbare Erfahrung des geistigen Innenlebens einer Person erforscht. Jetzt werden wir unser Verständnis vertiefen, indem wir diese Berichte in der Ich-Form, in der ersten Person, in verschiedene naturwissenschaftliche Disziplinen (Berichte in der dritten Person), insbesondere in die Neurowissenschaften, einordnen. Solche der praktischen Erfahrung fern liegenden Begriffssysteme einzubeziehen, wird uns in die Lage versetzen, wichtige Verhaltensmuster bei einer großen Anzahl von Individuen zu erkennen. Diese Einsichten würden wir nicht gewinnen, wenn nur ein oder zwei Menschen über ihre Erfahrungen berichteten. Die Wissenschaft erweitert unsere Sicht; sie stellt aber keinen Ersatz für die Aussagekraft persönlicher Erzählungen und Berichte dar, die auf erfahrungsbezogenem Wissen beruhen. Roger Walshs wichtige Beiträge (1980; Walsh & Shapiro 2006) legen nahe, dass die „Bewusstseinsdisziplinen", zu denen etwa die Meditation zählt, eine Gelegenheit darstellen, um unsere Erkenntnis-
124
Facetten des achtsamen Gehirns
möglichkeiten durch praktische Erfahrungen zu erweitern, die neues Wissen über intellektuelles Verstehen vermitteln. Diese disziplinierte Art, sich auf unsere Erfahrung zu konzentrieren, erkennt an, dass es viele subtile Schwankungen im Bewusstsein gibt, die sowohl Gegenstand introspektiver Erforschung sein als auch durch ausgiebiges Training erheblich erweitert werden können. Bewusstseinsdisziplinen erkennen die Begrenzungen von Sprache und abstraktem Denken an und gründen ihre Erkenntniswege im unmittelbaren persönlichen Erleben. In diesem Kapitel werden wir uns mit wissenschaftlichen Sichtweisen beschäftigen: Wie wir Achtsamkeit erfahren, wie wir ein Selbstgefühl erzeugen und wie wir Zeit erleben.
Subjektivitätsstudien Wir werden uns dem Thema Wissenschaft und Subjektivität nähern, indem wir uns eine Studie ansehen, die fünf unabhängig voneinander zusammengestellte Fragebögen untersucht hat, die darauf abzielten, das subjektive Erleben von Achtsamkeit zu untersuchen (Baer et al. 2006). Die Autoren merkten an, dass diese Methode einen Weg biete, um zu spüren, wie weitläufig Forscher Achtsamkeit in Begriffe fassten, und sie dann befähigte, zu untersuchen, ob es eine zentrale Dimension oder viele Facetten von Achtsamkeit gebe. Diese Bewertungsmaßstäbe wurden zunächst zusammengebracht und dann einer großen Auswahl von Probanden (College-Studenten) vorgelegt. Hierdurch konnten die Forscher diese Fragen behandeln und übergeordnete Reaktionsmuster aufspüren. Die verwendeten Fragebögen waren die Mindful Attention and Awareness Scale (MAAS: Brown & Ryan 2003), der Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit (FMI: Buchheld, Grossman & Wallach 2001); das Kentucky Inventory of Mindfulness Skills (KIMS: Baer, Smith & Allen 2004); die Cognitive and Affective Mindfulness Scale (CAMS: Feldman, Hayes, Kumar & Greeson 2004; Hayes & Feldman 2004) sowie das Mindfulness Questionnaire (MQ: Chadwick, Hember, Mead, Lilley & Dagnan 2005). Jede dieser Studien hat einen bestimmten
Subjektivität und Wissenschaft
125
Fokus, aber allgemein geht es bei allen Studien darum, verschiedene Aspekte von Achtsamkeit aus dem direkten Erleben der Versuchsperson hervorzuholen. Der detaillierte Ansatz von Baer und seinen Kollegen ist eine aufschlussreiche Lektion in Statistik und Beurteilung und zeigt eine Mischung aus Weisheit und scharfsinniger Beobachtung all der Forscher, die die individuellen Fragebögen entwickelt haben. Die gebündelten Fragen wurden Versuchspersonen in der Studie unterbreitet und dann mit den Messungen solcher Dimensionen wie Persönlich-keit, emotionaler Intelligenz und Mitgefühl mit sich selbst korreliert. Die Schlussfolgerungen aus dieser gebündelten Beurteilung beinhalteten unter anderem die folgenden Ergebnisse. Die vorhergesagten Korrelationen unter verschiedenen gebündelten Fragen wurden zusammengebracht, und so erhielt man fünf allgemeine „Facetten" oder Dimensionen von Achtsamkeit. Wie bereits in der Einführung gesagt, gehörten hierzu: (1) Nichtreaktivität gegenüber innerem Erleben; (2) Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle beobachten / bemerken / sich darum kümmern; (3) mit Bewusstheit / (nicht) auf Autopilot handeln, Konzentration / Nichtablenkung; (4) mit Worten beschreiben / etikettieren; (5) NichtBeurteilen von Erfahrungen. Als Nächstes erforschten Baer und andere, ob diese Facetten Teil einer einzigen Dimension oder ob sie in Wirklichkeit recht unabhängige Aspekte von Achtsamkeit waren. Statistisches Aussortieren und Argumentieren legte nahe, dass Achtsamkeit tatsächlich aus mannigfaltigen Facetten mit etwas unterschiedlichen Eigenschaften besteht, die sich bis zu einem gewissen Grad überlappen, aber auch ziemlich unabhängig voneinander sind; zumindest dahingehend, wie die Versuchspersonen die Fragen beantworteten. Bei einem Faktor, der Beobachtung, wurde durch verschiedene statistische Verfahren festgestellt, dass er sich zu sehr mit den anderen überschnitt und sich nicht als eigenständige Facette gegenüber den anderen abzeichnete. Auf diese Weise entwickelten sie das „hierarchische Vierfaktorenmodell", das „eine hierarchische Struktur der Achtsamkeit unterstützte, bei dem beschreiben, bewusst handeln, nicht urteilen und nicht
126
Facetten des achtsamen Gehirns
reagieren als Facetten eines breit angelegten Achtsamkeitskonstrukts angesehen werden können" (Baer et al. 2006, S. 38). Interessanterweise wurde die Facette „Beobachtung" bei den Versuchspersonen, die Meditationserfahrung hatten, als statistisch gültige unabhängige Dimension identifiziert. „Deshalb überprüften wir dieses Modell bei den Teilnehmern, die über ein gewisses Maß an Meditationserfahrung verfügten (n = 190), und stellten fest, dass alle fünf Facetten signifikant auf dem Achtsamkeits-Gesamtkonstrukt beruhten." Dies deutete für ihr Dafürhalten auf „die Plausibilität einer hierarchischen Fünffaktorenstruktur der Achtsamkeit bei Individuen mit Meditationserfahrung hin" (Baer et al. 2006, S. 38). Es wurden weitere Studien vorgeschlagen, um diese Vier- bzw. Fünffaktorenstruktur mit größeren und facettenreicheren Themen zu vergleichen. Korrelationen dieser Facetten mit anderen Faktoren zeigten, dass die Facetten sich mit vorhergesagten Dimensionen zu verbinden schienen. Zum Beispiel war die Handeln-mit-Bewusstsein-Facette umgekehrt korreliert mit Geistesabwesenheit und Dissoziation; „beschreiben" war positiv mit emotionaler Intelligenz verbunden und negativ mit Alexithymie (der Unfähigkeit, den eigenen inneren Zustand zu beschreiben); und „nicht urteilen" war am stabilsten mit geringen psychologischen Symptomen verbunden: Neurotizismus, Gedankenunterdrückung, Schwierigkeiten mit der Affektregulation und Vermeiden von Erfahrungen. Interessanterweise war „Nicht-Reagieren" am meisten mit Selbstmitleid verbunden, und „Beobachten" korrelierte mit Offenheit gegenüber Erfahrungen. Die Tatsache, dass das Beobachten als Facette für Nicht-Meditierende nicht gut funktioniert, könnte nach Ansicht von Baer und seinen Kollegen teilweise darauf zurückzuführen sein, dass der Akt des Beobachtens bei einem untrainierten Geist gleichermaßen mit Selbstverurteilung wie mit Erleichterung befrachtet sein könnte. Mit anderen Worten: Lediglich in der Lage zu sein, die eigene innere Welt zu beobachten, könnte ohne die anderen Facetten der Achtsamkeit nicht zu den vorhergesagten Korrelationen führen. Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung der Schlussfolgerungen von Baer et al., die ein Gefühl für diese Art des Denkens
Subjektivität und Wissenschaft
127
vermitteln: „Die CFA (Konfirmatorische Faktorenanalyse) legte nahe, dass beschreiben, mit Bewusstheit handeln, nicht urteilen und nicht reagieren Elemente eines allumfassenden Achtsamkeitskonstrukts sind, und bei dreien dieser Faktoren (mit Bewusstheit handeln, nicht urteilen und nicht reagieren) konnte gezeigt werden, dass sie eine erhöhte Validität für die Vorhersage psychologischer Symptome haben" (Baer et al. 2006, S. 42). Anders ausgedrückt: Mit diesen drei Facetten ließ sich am leichtesten ein Fehlen von Leidenssymptomen vorhersagen. Baer und seine Kollegen suchten diejenigen Fragen aus den ursprünglichen Befragungen, die ihnen am meisten halfen, Aspekte von Achtsamkeit zu erforschen, und stellten hieraus einen Fragenkatalog zusammen, der diese fünf Aspekte von Achtsamkeit berücksichtigte. Aus der Analyse dieses Fragenkatalogs ging ein Achtsamkeitsfragebogen mit fünf Facetten hervor, auf die die Probanden mit einer Bandbreite von „nie" oder „sehr selten" bis „sehr häufig" oder „immer wahr" antworteten. Das Folgende ist eine Stichprobe dieser Fragen, die dem Fünffacetten-Fragebogen von Baer und seinen Kollegen entnommen wurden (von Tabelle 3, 2006 adaptiert; die ursprünglichen Fragebogen-Abkürzungen erscheinen in Klammern nach den Fragen), Nichtreaktivität gegenüber innerem Erleben „Ich nehme meine Gefühle und Emotionen wahr, ohne auf sie reagieren zu müssen." „Ich beobachte meine Gefühle, ohne mich in ihnen zu verlieren." „In schwierigen Situationen kann ich innehalten, ohne sofort zu reagieren." (FMI) „Wenn ich beunruhigende Gedanken oder Bilder habe, ist es gewöhnlich so, dass ... ... ich in der Lage bin, sie einfach nur wahrzunehmen, ohne zu reagieren ... ... ich mich bald darauf ruhig fühle ... ... ich zurücktrete und mir des Gedankens oder Bildes bewusst werde, ohne mich von ihm überwältigen zu lassen ... ... ich sie nur zur Kenntnis nehme und dann loslasse." (MQ)
128
Facetten des achtsamen Gehirns
Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle beobachten / zur Kenntnis nehmen / sich darum kümmern „Wenn ich gehe, dann nehme ich ganz bewusst die Empfindungen meines sich bewegenden Körpers wahr." „Wenn ich dusche oder ein Bad nehme, dann bleibe ich für die Empfindungen meines sich bewegenden Körpers aufmerksam." „Ich nehme wahr, wie Nahrungsmittel und Getränke meine Gedanken, meine Körperempfindungen und Emotionen beeinflussen." „Ich achte auf Empfindungen, wie zum Beispiel den Wind in meinen Haaren oder der Sonne auf meinem Gesicht." „Ich achte auf Geräusche, wie tickende Uhren, zwitschernde Vögel oder vorbeifahrende Autos." „Ich nehme die Gerüche und Aromen von Dingen wahr." „Ich bleibe mir mit Absicht meiner Gefühle bewusst." „Ich nehme visuelle Elemente in der Kunst oder der Natur wahr, wie Farben, Formen, Strukturen oder Licht- und Schattenmuster." „Ich achte darauf, wie meine Emotionen meine Gedanken und mein Verhalten beeinflussen." (KIMS)
Mit Bewusstheit handeln, Autopilot / Konzentration / Nichtablenkung „Ich finde es schwierig, auf das fokussiert zu bleiben, was in der Gegenwart passiert." „Es scheint, als ob ich ,auf Automatik laufe', ohne viel Gewahrsein von dem, was ich tue." „Ich erledige Jobs oder Aufgaben automatisch, ohne mir dessen bewusst zu sein, was ich tue." „Ich stelle fest, dass ich Dinge tue, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu schenken." (MAAS) „Wenn ich Dinge tue, wandert mein Geist irgendwo anders hin und ich lasse mich leicht ablenken." „Ich schenke dem, was ich tue, keine Aufmerksamkeit, weil ich
Subjektivität und Wissenschaft
129
Tagträumen nachhänge, mir Sorgen mache oder mich anderweitig ablenken lasse." (KIMS) „Ich lasse mich leicht ablenken." (CAMS)
Mit Worten beschreiben / benennen „Ich bin gut darin, Worte zu finden, um meine Gefühle zu beschreiben." „Ich kann meine Überzeugungen, Meinungen und Erwartungen leicht in Worte fassen." „Es ist schwierig für mich, die Worte zu finden, um das zu beschreiben, was ich denke." „Ich habe Probleme, die richtigen Worte zu finden, um auszudrücken, was ich in Bezug auf Dinge fühle." „Wenn ich eine Empfindung in meinem Körper habe, dann ist es schwer für mich, sie zu beschreiben, weil ich nicht die richtigen Worte finde." „Selbst wenn ich mich schrecklich aufgebracht fühle, kann ich einen Weg finden, um meine Gefühle in Worte zu fassen." „Meine natürliche Neigung ist, meine Erfahrungen in Worte zu fassen." (KIMS) „Ich kann normalerweise ziemlich detailliert beschreiben, wie ich mich im Moment fühle." (CAMS)
Nicht-Beurteilen von Erfahrungen „Ich kritisiere mich selbst dafür, dass ich irrationale oder unangemessene Erfahrungen habe." „Ich sage mir, ich sollte nicht so fühlen, wie ich fühle." „Ich glaube, dass einige meiner Gedanken anormal sind oder schlecht und dass ich nicht so denken sollte." „Ich fälle Urteile darüber, ob meine Gedanken gut oder schlecht sind."
130
Facetten des achtsamen Gehirns
„Ich sage mir, ich sollte nicht so denken, wie ich denke." „Ich glaube, dass einige meiner Emotionen schlecht oder unange messen sind und dass ich sie nicht fühlen sollte." „Ich missbillige mich selbst, wenn ich irrationale Ideen habe." (KIMS) „Wenn ich erschreckende Gedanken oder Bilder habe, beurteile ich mich normalerweise selbst als gut oder schlecht, je nachdem, worum es bei den Gedanken/Bildern geht." (MQ)
Beschreibungen von unmittelbaren Erfahrungen und Gehirnstudien zueinander in Beziehung setzen Wenn wir die nicht zerlegbaren Dimensionen unserer geistigen Realität annehmen wollen, dann ist es aus der Sicht der Neurophänomenologie (Varela, Thompson & Rosch 1993) von großer Wichtigkeit, die Einsichten, die aus Berichten über direkte Erfahrungen in Du-Form gewonnen wurden, in diese Achtsamkeitsstudien einzubeziehen, zusammen mit den direkten Erfahrungen in der Ich-Form und den Ergebnissen der Neurowissenschaft in der dritten Person. Wir sollten unsere Annahmen direkt ausdrücken; jene begrifflichen, hierarchisch angeordneten, kortikalen Einflüsse, die die Art und Weise prägen, wie wir Input filtern und unsere Interpretationen unserer Wahrnehmungen beeinflussen, können in einem Maße gewusst und identifiziert werden, dass wir zu einer möglichst klaren Vision gelangen. Wir verfügen nämlich über einen Geist, der bei der gemeinsamen sozialen Konstruktion einer menschlichen Kultur gleichsam mit unserem Gehirn „tanzt". Bedeutung ist keine reine Erfindung - wir müssen in Bezug auf die Art und Weise, wie wir Symbole sichten, auswählen und sie der Reihe nach zu gemeinsamen Wissenssystemen ordnen, Demut walten lassen. Das ist der unvermeidliche Weg, auf dem wir die Welt durch Konzepte kennen lernen. Wie wir gesehen haben, gibt es auch das unmittelbare Erleben nichtbegrifflichen Wissens - doch das ist ein Bereich des Verstehens, der sich von einer Person zu einer anderen nur schwer mit Worten kommunizieren lässt.
Subjektivität und Wissenschaft
131
Und ungeachtet ihrer Begrenzungen können begriffliche Landkarten des Geistes recht nützlich sein: Der Wahrheit verpflichtete Ideen können uns helfen, schwierige Zeiten einzuordnen, Leid zu lindern und Wohlbefinden und Mitgefühl zu fördern. Es ist nicht notwendig, Konzepte wegzuwerfen. Wir sollten sie vielmehr als das annehmen, was sie wirklich sind - Bezugssysteme für das Wissen.
Achtsamkeit als erlernbare Fähigkeit Jeder von uns hat einen Geist mit einem riesigen Potenzial. Wir haben die Möglichkeit, eine Welt voller Mitgefühl und Wohlbefinden zu schaffen, und wir haben gleichzeitig die Fähigkeit, sinnlose Gewalt und Zerstörung herbeizuführen. Eine zweite kraftvolle Lektion liegt in der tief gehenden Plastizität des menschlichen Gehirns verborgen. Wir können unseren Geist tatsächlich auf eine Weise fokussieren, die die Struktur und die Funktion des Gehirns im Laufe unseres Lebens verändert. Als Haltung bietet das Bewusstsein des gegenwärtigen Moments, ohne an Urteilen festzuhalten, einen leistungsfähigen Weg für Mitgefühl einerseits und inneres Wohlbefinden andererseits. Dies wird durch die Wissenschaft verifiziert und ist über Tausende von Jahren der Praxis gelehrt worden. Aber worin besteht diese „Praxis", die in den kontemplativen Traditionen aus der ganzen Welt offenbart wird? Nicht nur das christliche kontemplative Gebet, sondern auch Yoga-Praktiken, Tai-ChiChuan und buddhistische Meditationsformen sind in den letzten Jahren untersucht worden, und sie scheinen neurologische Verbesserungen sowie Verbesserungen im Immunsystem der Praktizierenden zu bewirken. Vergleichen Sie zum Beispiel die Studien von Field, Fitzpatrick-Hopler und Spezio (2006) sowie diejenigen von Irwin (2005) und den Überblick von Walsh und Shapiro (2006). Mehr als einhundertundvierzig Wissenschaftler aus der ganzen Welt haben sich zu Veranstaltungen am Mind and Life Summer Research Lnstitute versammelt, die am Garrison Institute im Norden des Bundesstaates New York abgehalten wurden. Das Programm bestand
132
Facetten des achtsamen Gehirns
aus Vorträgen über Meditationen verschiedener Art, mit Erkundungen von Praktizierenden, Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftlern. Ich hielt „Bürostunden" ab, um mich mit jungen und erfahrenen Wissenschaftlern zu treffen und ihre Forschungsinteressen zu erörtern; außerdem sprach ich auf Podien über Themen wie Achtsamkeit in der klinischen Arbeit, Achtsamkeit bei der Behandlung von Kindern sowie bei der Regulierung von Emotionen und Spiritualität. Hier möchte ich einige der aufregenden Ideen hervorheben, die dort aufkamen. Über die Vorlesungen und Diskussionen hinaus hatten wir ausführliche Lesungen, die sich mit dem Wesen von Aufmerksam-keit, Emotionen, Gedächtnis, Meditation, Gebet und Achtsamkeit beschäftigten. Drei der Wissenschaftler dort hatten ein Dokument verteilt, das den aktuellsten Überblick über Themen enthielt, die mit der Wissenschaft, den Geist zu trainieren, zusammenhingen: „Meditation und die Neurowissenschaft des Bewusstseins" (Lutz, Dünne & Davidson, im Druck). Meditation ist das Training des Geistes. Für unseren Fokus hier sind wir besonders an der Achtsamkeitsmeditation interessiert. Doch es gibt viele Formen des geistigen Trainings, die achtsame Zustände erzeugen, die den Einzelnen stärker zu achtsamen Wesenszügen zu verhelfen scheinen. Aufmerksamkeitsprozesse, Emotionsregulation und die Fähigkeit, innerlich zu beobachten, Introspektion zu betreiben und zu reflektieren, sind allesamt Fähigkeiten, die als erlernbar angesehen werden. Lutz und seine Kollegen (2004) sagten: „Wir haben bereits gezeigt, dass selbst ein kurzes, befristetes Training in Emotionsregulation verlässliche Veränderungen in den Gehirnfunktionen herbeiführen kann." Mit besonderem Blick auf die klinische Anwendung des Achtsamkeits-Meditationstrainings im Rahmen des Ansatzes Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) stellten Lutz et al. (2004) fest: Das Programm scheint zu funktionieren, indem es dem Patienten hilft, die primäre sensorische Erfahrung (z. B. chronischen Schmerz, physische Symptome von Beklemmung) von den sekundären emotionalen oder kognitiven Prozessen
Subjektivität und Wissenschaft
133
zu unterscheiden, die als Reaktion auf die Ersterfahrung erzeugt werden. Die Personen werden darin unterwiesen, die Achtsamkeitspraxis zu verwenden, um die Details ihrer Erfahrungen abzufragen und die instabile und zufällige Natur von Gefühlen und Empfindungen, die mit Abneigung und Rückzug verbunden sind, unmittelbar wahrzunehmen. Als Folge davon sind sie besser in der Lage, jeglichen Neigungen zu Rückzug und Abneigung als Reaktion auf physischen oder seelischen Schmerz entgegenzuwirken. Aus neurowissenschaftlicher Sicht erhebt die offensichtliche Effektivität der MBSR-Praxis die Frage nach der Neuroplastizität das heißt, produziert sie Veränderungen in der Gehirnfunktion und -struktur? Lutz, Dünnes und Davidsons Ansicht dazu, wo wir auf unserer Suche nach dem Verständnis der neuronalen Entsprechungen von Meditation stehen, lässt vermuten, dass „trotz einer solch hohen Zahl von wissenschaftlichen Berichten und inspirierenden theoretischen Vorschlägen ... man immer noch zugeben muss, dass nur wenig über die neuro-physiologischen Prozesse, die an der Meditation beteiligt sind, und ihre möglichen langfristigen Auswirkungen auf das Gehirn bekannt ist". Es gibt Universalien in der Meditation, wie zum Beispiel ein Fokus auf dem Atembewusstsein. Aber aus diesem zunächst gemeinsamen Fokus entwickeln sich dann andere Dimensionen der Kultivierung des Geistes, die von Praxis zu Praxis variieren. Die Achtsamkeitsmeditation setzt einen sich selbst regulierenden Überwachungsprozess des Geistes in Gang, der letzten Endes ein Gewahrsein des Gewahrseins selbst ist. Das Atembewusstsein hilft Menschen, die Ziel- und Aufrechter-haltungsfunktionen der Aufmerksamkeit zu entwickeln. Doch die Achtsamkeitsmeditation geht dann zu einem rezeptiveren Zustand über, in dem alles, was aufsteigt, ins Bewusstsein gelangen darf. Die nicht urteilende Qualität dieses Prozesses scheint eine Art Gewahrsein des Gewahrseins zu beinhalten, die automatischer ist als die Selbstreflektion und manchmal „Reflexivität" genannt wird. Auch wenn sich die Meditation zu einem offenen Zustand hin entwickelt, ist sie nicht
134
Facetten des achtsamen Gehirns
einfach „leer" oder „passiv" in der Form, dass man sich zurückzieht oder „einen Filmriss hat". Das Achtsamkeitstraining beinhaltet, wie von Lutz, Dünne und Davidson (im Druck) erörtert, die folgenden Aspekte: 1. Meditation, die die Konzentration auf ein Objekt, wie zum Beispiel den Atem, entwickelt; 2. Techniken, die ein Bewusstsein von Subjektivität kultivieren davon, wie der Geist funktioniert - auf eine Weise, die dem Objekt des anfänglichen Fokus eine geringere Bedeutung beimisst; 3. Man gewinnt dann empirischen Zugang zum reflexiven Gewahr-sein - dem Gewahrsein des Gewahrseins -, das den reinen Aspekt mentaler Prozesse offenbaren soll; 4. Wenn das Training fortschreitet, dann wird der Subjektivität weniger Gewicht gegeben, ebenso wie dem rezeptiven Zustand, der die ganze Bandbreite an Erfahrungen aufnimmt; 5. In dieser Phase des Trainings verstärkt sich der Zugang zur Reflexivität noch weiter; jenes automatische Gewahrsein des Gewahrseins selbst, und: 6. Die Praxis erzeugt einen Fluss, in dem das Individuum sich zu dem Punkt hinbewegt, an dem der reine Aspekt des Gewahrseins in der Meditation vollständig erkannt wird.
Selbstsein - die lebensnotwendigen Dinge Es wird eine wesentliche Unterscheidung zwischen der narrativen Funktion - die eigene Lebensgeschichte mit Worten zu erzählen - und der unmittelbaren sensorischen Erfahrung des Moments getroffen. Die Art, wie unsere narrative Funktion durch den Kontext unseres Erzählens (anderen oder uns selbst) geprägt wird, verweist auf einen tief greifenden Einfluss durch hierarchische Prozesse, die das direkte Erleben verschleiern können. Im formalen Achtsamkeits-Meditationstraining beschäftigen sich die Praktizierenden direkt mit
Subjektivität und Wissenschaft
135
diesem narrativen „Subjekt" als Erzähler einer Geschichte, indem sie in das „reine Gewahrsein" oder ein Empfinden der essenziellen Natur des Geistes eintauchen. Lutz, Dünne und Davidson (im Druck) haben nahegelegt, dass der formale Begriff für diese Lebenserfahrung ohne die äußeren Zeichen unseres konstruierten Selbst Selbstsein sei - unsere essenzielle Seinsweise unterhalb der Schichten von Gedanken und Reaktion, Identität und Anpassung. „Essenziell" impliziert hier eine unveränderliche Qualität, eine geerdete Essenz unseres Seins, die nicht bloß eine Funktion der vorübergehenden Zusammenhänge ist, die in unserem Leben kommen und gehen. Die Autoren sagten, dass Selbstsein das minimale subjektive Empfinden des „IchSeins" im Erleben ist und als solches ein „minimales" oder „Kernselbst" erzeugt. Im Gegensatz dazu umfasst ein narratives oder autobiografisches Selbst (Legrand, im Druck) das kategorische oder moralische Urteil, Emotionen, die Vorwegnahme der Zukunft und Erinnerungen an die Vergangenheit. Dieses explizite Empfinden des narrativen oder autobiografischen Selbst wird häufig so charakterisiert, dass es in Verbindung mit einem expliziten Inhalt, einem Objekt oder einer Erfahrung erfolgt. Es scheint also in irgendeiner Weise vom Selbstsein abhängig zu sein, insofern, als das narrative Selbst teilweise auf jenem minimalen subjektiven Empfinden des „Ich-Seins" beruht. Im Zusammenhang mit der Bewegung von gut ausgebildeten Meditierenden zum Selbstsein hin erklärten Lutz, Dünne und Davidson: Auf der höchsten Ebene der Praxis bewegt sich schließlich das, was wir als „Herunterspielen" von Objekt und Subjekt beschrieben haben, zumindest theoretisch zu einem Punkt hin, bei dem keine Elemente von Objektivität oder Subjektivität - sei es in der Form gedanklicher Strukturen, zeitlicher oder räumlicher Kategorien oder irgendeinem anderen
136
Facetten des achtsamen Gehirns
Merkmal - in der Erfahrung verbleiben ... Traditionen erkennen nur bei einer kleinen Anzahl von Praktizierenden an, dass sie diese Ebene der Praxis wirklich erreicht haben. Es könnte sein, dass Achtsamkeit einen Hinweis auf diesen Zustand gibt, auch wenn nur wenige ihn vollständig verwirklichen. Wenn das der Fall ist, dann können wir uns das Selbstsein als einen Aspekt des tiefen Wissens vergegenwärtigen, welches als Strom des Gewahrseins auftaucht, ein Strom ohne Konzepte, aber einer, der vollkommen kompatibel damit sein könnte, ein „Subjekt" und ein „Objekt" zu haben, die unterhalb der hierarchischen Schichten mit einem Gefühl der lebensnotwendigen Dinge erlebt werden, aber dennoch ein Empfinden eines erlebenden „Ich" beibehalten. Mit anderen Worten, unser selbstseiendes Selbst behält ein Gefühl bei, ausführendes Organ zu sein, und ist offen dafür, das volle Spektrum des Bewusstseins zu erfahren, das sich von körperlichen Empfindungen zu einem nichtdualistischen Empfinden der Welt erstreckt, bei dem die Grenzen des Körpers nicht länger definieren, wo das „Selbst" beginnt und endet.
Selbstregulation Warum sollten Sie sich die Mühe machen, in Kontakt mit Ihrem essenziellen Wesen zu kommen? Ein geistiges Training, das Sie befähigt, Zugang zu Ihrem Selbstsein zu erlangen und ein Gefühl für das wesentliche „Du" unterhalb von Erzählung und Erinnerung, emotionaler Reaktivität und Gewohnheit zu entwickeln, befreit Ihren Geist, um neue Ebenen von Wohlbefinden zu erreichen. Durch die Auflösung automatischer Muster scheint der Geist die Freiheit zu erlangen, neue Ebenen von Selbstregulation zu erlangen. Das ist die Kraft der Achtsamkeit, unsere affektiven Reaktionen zu verändern. Der Offenheit für das eigene essenzielle Wesen ein Stück näher gekommen zu sein, erzeugt eine „Leichtigkeit, die eigenen Emotionen zu regulieren, so dass man weniger durch emotionale
Subjektivität und Wissenschaft
137
Zustände durcheinander gebracht wird. Man sagt auch, dass der Geist sensibler und flexibler wird, und daher wird die Kultivierung positiver Zustände und Eigenschaften sehr erleichtert" (Lutz, Dünne & Davidson, im Druck). Die beiden tief gehenden Integrationsprozesse von James Austin (1998, 2006) sind ein wunderschönes Beispiel für die Verschmelzung von unmittelbarem Erleben in der Ich-Form und wissenschaftlichen Untersuchungen des Gehirns. Austins Ansicht nach „kann man das Phänomen solcher Zustände nicht tief greifend erkunden, ohne Eigenschaften von grundlegender neurobiologischer Signifikanz sichtbar zu machen. Man stellt sogar fest, dass meditative Erfahrungen sich nicht nur in den Befunden der Neurowissenschaft widerspiegeln, sondern dass diese beiden Disziplinen so eng miteinander verbunden sind, dass jede die andere erhellt" (Austin 2006, S. 23). Austins Erfahrungen mit tiefen Formen der Meditation haben gezeigt, dass man bei diesen „nicht nur das psychische Selbst verlässt, sondern dass die aus ihnen gewonnenen Einsichten auch den Rest der früheren existenziellen Konzepte über das, was die Realität ausmacht, transformieren" (Austin 2006, S. 25). Die Weisheit, die zum Beispiel aus dem Gespür dafür gewonnen wird, dass wir alle Teil eines verbundenen Ganzen sind, ist eine Einstellung, die unsere Art zu sehen und in der Welt zu sein, beeinflussen kann. Austin hat anschließend die große Bedeutung dieser Einsichten und des Bemühens beschrieben, Wissenschaft und Kontemplation zusammenzubringen, als er erklärte: „Wir werden all die Hilfe benötigen, die wir von Neurobiologen bekommen können, um achtsam in den gegenwärtigen Momenten dieses nächsten Jahrtausends zu leben" (S. 24). Lutz, Dünne und Davidson (im Druck) haben über die Bedeutung dieser Integration und die Erkenntnis, dass Wohlbefinden und Mitgefühl mit Absicht erworben werden könnten, nachgedacht, wenn sie behaupten, dass die wissenschaftlichen Belege bestätigen, dass viele unserer zentralen mentalen Prozesse, wie Gewahrsein, Aufmerksamkeit und Emotionsregulation, ja sogar unsere Fähigkeit zu Glück und Mitgefühl, am besten als erlern-
138
Facetten des achtsamen Gehirns
bare Fähigkeiten aufgefasst werden sollten. Die meditativen Traditionen stellen ein faszinierendes Beispiel für Strategien und Techniken dar, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, um das menschliche Potenzial und Wohlergehen zu verbessern und zu optimieren. Das neurowissenschaftliche Studium dieser Traditionen steckt noch in den Kinderschuhen, doch die Anfangsbefunde versprechen, sowohl die Mechanismen zu enthüllen, durch die ein solches Training seine Wirkungen ausüben könnte, als auch die Plastizität der Schaltkreise im Gehirn zu unterstreichen, welche komplexen mentalen Funktionen zugrunde liegen.
Eine Zusammenkunft von Wissenschaftlern Zwei Monate bevor ich zu dem Schweigeretreat reiste, war ich durch meine Teilnahme an einer Reihe offizieller Treffen zehn Tage lang ständig in das Thema Achtsamkeit vertieft. Am Treffen der Gesellschaft für Neurowissenschaften in Washington, D. C., nahmen 36000 Menschen teil, und es wurden mehr als 17000 Vorträge gehalten. Die Eröffnungsrede hielt der Dalai Lama, der über das Grundsatzthema Verschmelzung von Wissenschaft und kontemplativer Praxis sprach. Jemand fragte ihn, was er tun würde, wenn die Wissenschaft den Beweis erbrächte, dass bestimmte Lehren der buddhistischen Meditation falsch seien. Seine Antwort lautete, dass man dann die buddhistische Praxis und Lehre überarbeiten müsse. Obwohl es viele mit Satelliten bestückte Räume gab, in denen die Teilnehmer vor einem riesigen Videomonitor sitzen konnten, um mittels einer ClosedCircuit-Installation eine Live-Übertragung der Rede zu sehen, warteten Zehntausende von Neurowissenschaftlern geduldig zwei Stunden in der Schlange, um einen Sitzplatz in dem riesigen Saal zu ergattern, in dem er sprechen sollte. Man konnte das Bemühen, dort präsent zu sein, als Zeichen einer gewissen Neugierde, wenn nicht Sehnsucht sehen, in der Gegenwart eines aufgeschlossenen Menschen zu sein.
Subjektivität und Wissenschaft
139
Ich nahm an jenem Neurowissenschaftlertreffen teil und hörte mir so viele Vorträge an, wie ich verkraften konnte (alle schaffte ich nicht), nachdem ich drei Tage lang eine Mind-and-Life-Konferenz besucht hatte, auf der sich der Dalai Lama mit anderen Meditierenden und einer Reihe von Neurowissenschaftlern getroffen hatte, um die Beziehungen zwischen Meditation und Wissenschaft zu erforschen. Es war klar, dass unser Verständnis davon, wie Meditation das Gehirn beeinflussen könnte, noch in den Kinderschuhen steckt. Es gab Vorträge über die Kraft der Achtsamkeitsmeditation, die Gehirnlateralität zur linken Hemisphäre hin zu verschieben, wo positivere und Annäherungszustände angesiedelt sind, und über Wege, um negative Gemütszustände bei klinischer Depression zu verhindern. Man hatte gezeigt, dass die Achtsamkeitsmeditation ein kraftvolles Handwerkszeug ist, um den Geist zu fokussieren, und meiner eigenen Erfahrung nach schien sie eine erhöhte Fähigkeit zu erzeugen, auf die nonverbalen Signale anderer Menschen zu achten. Nach meinem Schweigeretreat hat es sich genauso angefühlt - ich war auf subtilste Reaktionen eingestimmt. Warum sollte man sensibler für andere werden, wenn man eine Woche lang schwieg? Auf das Wahrnehmen der nonverbalen Signale eines anderen folgt ein Prozess, der sowohl die Inselrinde als auch die damit zusammenhängende Aktivität der mittleren Präfrontalregion, Innenreize wahrzunehmen, zu interpretieren und die eigenen inneren Zustände auf die eines anderen Menschen zurückzuführen, zu beinhalten scheint. Die Interozeption beruht auf der Fähigkeit des Geistes, sein Bewusstsein auf den inneren Zustand des Körpers zu konzentrieren. Die Inselrinde übermittelt Daten aus dem Körper an das Gehirn (Carr, Iacoboni, Dubeau, Maziotta & Lenzi 2003) und sie könnte direkt an der Erfahrung des „nach innen Schauens" beteiligt sein, die der kontemplativen Praxis jeder Kultur eigen ist. In der Tat haben wir eine Landkarte des gesamten Körpers, die nur auf der rechten Seite des Gehirns repräsentiert ist. Gesichtsausdrücken und anderen nonverbalen Signalen wie Augenkontakt, Stimmlage, Haltung, Gestik sowie der zeitlichen Abfolge und der Intensität von Reaktionen Beachtung zu schenken, sind alles Dinge, die von der rechten Hemisphäre ausgesendet und
140
Facetten des achtsamen Gehirns
wahrgenommen werden. Auf diese Weise könnten, wenn ich eine Woche lang nach innen auf die Gesamtheit meines körperlichen Erlebens, auf meine eigenen nonverbalen körperlichen Zustände schaue, die rechtsseitigen Aspekte Präfrontal- und Inselfunktionen zur Anwendung kommen. Hier sehen wir also die Anfänge des „Wie": Die Praxis des „nach innen Schauens" (der Reflektion) aktiviert die Inselregion und das mittlere Präfrontalareal, insbesondere auf der rechten Seite des Gehirns. Wie wir besprochen haben, haben Lazar und ihre Kollegen (2005) festgestellt, dass bei Menschen, die über längere Zeit die Achtsamkeitsmeditation geübt hatten, nicht nur die mittlere Präfrontalregion verdickt war, sondern darüber hinaus auch eine Vergrößerung der rechten Inselrinde feststellbar war. Diese Ergebnisse stimmen mit dem überein, was wir über die grundlegenden Prozesse der Interozeption wissen. Wenn wir davon ausgehen, dass uns diese Strukturen auch die Fähig-keit der „Mindsight" verleihen, unseren eigenen Geist und den anderer zu sehen, dann legen Lazars Forschungen nahe, dass die Achtsamkeitsmeditation genau die Strukturen unseres Gehirns verändern könnte, die für Empathie und Selbstbeobachtung verantwortlich sind. Hierin könnte die Verbindung zwischen der Praxis der Innenschau und der berichteten Verbesserung der Fähigkeit, sich mit anderen zu verbinden, bestehen (siehe Anhang III, Beziehungen und Achtsamkeit).
Die Exzentrik verstärken die subjektive Zeit ausdehnen und lähmende kortikale invariante Repräsentationen Sich nach innen einzustimmen scheint auch unsere Erfahrung von Zeit zu verändern. Haben wir eine Vorstellung davon, warum das so sein könnte? Bei einem anderen Vortrag auf dem Treffen der Gesellschaft für Neurowissenschaft ging es darum, wie man die subjektive Zeit ausdehnen könne. Tse (2005) hat ein brillantes Wahrnehmungsexperiment entworfen, bei dem man Probanden eine Reihe von Bildern in einer
Subjektivität und Wissenschaft
141
Anordnung zeigte, die aus sorgfältig platzierten geometrischen Formen bestand. Während diese Formen auf dem Bildschirm auftauchten und verschwanden, wurden die Probanden gebeten, anzugeben, wie viel Zeit ihrem subjektiven Empfinden nach vergangen sei. Die Studie zeigte, dass wenn ein exzentrisches Objekt — eine ungewöhnliche Form, die nicht in das vorher etablierte Muster passte - erschien, die Probanden das Gefühl hatten, als verlangsame sich die Zeit. Die Schlussfolgerung lautete, dass die erhöhte „Informationsdichte", die durch das exzentrische Objekt erzeugt wurde, der Schlüssel zum Verständnis des subjektiven Empfindens war, dass sich die Zeit ausgedehnt hatte. Im Alltagsleben machen wir die Erfahrung, dass eine gewisse Menge an Informationen pro Zeiteinheit wahrgenommen und verarbeitet wird. Das ist die Informationsdichte. Wenn ein exzentrisches Objekt erscheint, konzentrieren wir uns eifriger auf diese ungewöhnliche Form oder den Stimulus, weil er nicht mit unseren vorherigen Erwartungen übereinstimmt. Erwartungen werden im kortikalen Gedächtnis verarbeitet. Die äußere Gehirnrinde, unser Neokortex, ist in kortikalen Säulen oder Clustern vertikal angeordneter Zellkörperhaufen aufgebaut, die das Gedächtnis befähigen, unsere Wahrnehmung zu prägen. Im Gehirn scheint der aus sechs Schichten bestehende Neokortex In- und Outputfasern zu haben, die einen bidirektionalen Informationsfluss innerhalb der Säule selbst erzeugen. Wenn wir Empfindungen einbringen, zum Beispiel wenn wir eine Blume sehen, dann werden die visuellen Daten in die unteren Ebenen transportiert (die Schichten 6 und 5, wenn sich die Empfindung vom sensorischen Input bis zur endgültigen „Verarbeitung" aufwärtsbewegt), und dann die kortikalen Schichten hinauf bis zu den höheren Bereichen befördert, wo wir letztlich vielleicht „wahrnehmen" können, dass das Objekt untersucht wird. Aber der Kortex sendet auch wieder Informationen in diese unteren „Input"-Schichten hinunter, und zwar im Wesentlichen aus den höheren Ebenen (Schichten 1 und 2). Das Ergebnis ist so, als würden zwei Informationsverarbeitungswellen in den mittleren Regionen (dem Äquivalent der Schichten 3 und 4) kollidieren, wo wir letzten Endes die beiden Informationsströme miteinander vermischen (Hawkins & Blakeslee 2004).
142
Facetten des achtsamen Gehirns
Wir „wissen" aus unseren früheren Erfahrungen, aus der Erinnerung, wie eine Blume aussieht, und unsere hierarchische kortikale Verarbeitung sendet jene vorurteilsbehaftete Erwartung nach unten, um die eintreffende Wahrnehmung zu verändern, „Verändern" bedeutet, dass wir nicht so genau hinschauen müssen. Das nennt sich „Verarbeitung von oben nach unten" (top-down processing). Wir geben dem Objekt mit Hilfe unseres linken Neokortex den Namen „Blume" und gehen weiter. Jeff Hawkins und Sandra Blakeslee (2004) haben diesen Einfluss von oben als „invariante Repräsentation" bezeichnet, in dem Sinne, dass wir ein unveränderliches Bild der Kategorie Blume haben. Invariante Repräsentationen erlauben uns, unsere Umgebung schnell zu beurteilen, und dann mit dem weiterzumachen, was wir zu erreichen versuchen. Früheres Lernen hilft uns, effizienter in der Informationsverarbeitung zu werden, indem wir invariante Repräsentation griffbereit haben, die ständig unsere sensorischen Eingaben mit „ich weiß, was das ist, lass mich dir mit einem Modell dessen helfen, was wir bereits gesehen haben" bombardieren. Doch solches Lernen unterdrückt in vielfacher Hinsicht unser reines sensorisches Erleben, indem es das Wasser der klaren Wahrnehmung durch frühere Erwartungen trübt. Wenn wir erwachsen werden, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass diese angesammelten Schichten von Wahrnehmungsmodellen und begrifflichen Kategorien die subjektive Zeit einschnüren und unser Gefühl, lebendig zu sein, abtöten. Ohne das absichtliche Bemühen, aufzuwachen, rauscht das Leben an uns vorbei. Wir gewöhnen uns an Erfahrungen, nehmen durch die Filter der Vergangenheit wahr und orientieren uns nicht an den neuen Unterscheidungen der Gegenwart (Goleman 1988; Langer 1997). Unsere invarianten Repräsentationen verringern die Informationsdichte, weil wir Filter einsetzen, die das einschränken, was wir tatsächlich sehen. Wenn es eine neue Blume geben sollte, dann würden wir sie möglicherweise verpassen, weil wir die alte Blume antizipieren. „Aufwachen" und „die Rosen riechen" sagt ganz wörtlich zu den invarianten Repräsentationen in unserem Gehirn, sie sollten eine Pause einlegen. Wenn wir mit achtsamem Gewahrsein erwachen, könnte dann das mögliche Abschalten des hierarchischen Flusses invarianter Reprä-
Subjektivität und Wissenschaft
143
sentation die Informationsdichte verändern, wenn wir unsere Empfindungen allmählich vollständiger erfahren? Vielleicht könnte das achtsame Gewahrsein auf diese Weise die Informationsdichte erhöhen und das subjektive Erleben von Zeit ausdehnen. Wir sehen mehr, hören mehr, riechen mehr. Indem wir die invarianten Repräsentationen hemmen, erreichen wir, dass die dicht gepackten einströmenden sensorischen Daten nicht so stark verallgemeinert oder dass ihre Einzelheiten bagatellisiert werden. Sobald diese verstärkten eingehenden Daten erzeugt werden, kann das, was zuvor „nur eine Blume" war, zu der einzigartigen Blume werden, die sie in Wirklichkeit ist. Mit einem solchen achtsamen Gewahrsein unserer Erfahrung von Moment zu Moment kann alles zum außergewöhnlichen Objekt werden. Wenn die invarianten Repräsentationen abgeschaltet werden, dann wird das Gewöhnliche außergewöhnlich. Wir können sagen, dass das achtsame Gewahrsein das außergewöhnliche Objekt verstärkt, indem es jeden Moment einzigartig macht, während er die hierarchischen Zwänge invarianter Repräsentationen auflöst. Ohne achtsames Gewahrsein werden Empfindungsgewohnheiten als Hintergrund in die kortikale Zweispurenautobahn invarianter Repräsentationen eingestellt, wo sie die Ränder vernebeln und den Fokus der eingehenden Daten verschwimmen lassen. Dieses Verschwimmen des Fokus' ist selbst erzeugt, durch die Erinnerung herbeigeführt, und es versucht automatisch, uns zum Handeln bereit zu machen, indem es sich auf die Vergangenheit bezieht, damit wir wissen, was wir zu erwarten haben. Auf diese Weise ist das achtsame Gewahrsein, die Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Moment, ohne an den unveränderlichen Urteilen von oben festzuhalten, ein Weg, um das Eindringen der Vergangenheit in unsere Erfahrung der Gegenwart zu beruhigen. Wenn wir unseren Geist erwecken, weiten wir unsere subjektive Lebenszeit aus. Unsere Erfahrung von Zeit erweitert sich, wenn die dicht verpackten Empfindungen eines jeden Moments nicht länger gedämpft und getrübt werden. Wenn Sie sich einen Moment Zeit nehmen und einfach nur eine Minute lang ruhig dasitzen, dann nehmen Sie Notiz von dem, was in Ihrem Bewusstsein aufsteigt, Ihre Empfindungen
144
Facetten des achtsamen Gehirns
in Armen und Beinen. Nehmen Sie einfach die Geräusche wahr, die die Luft um Sie herum erfüllen. Vieles, was Sie jetzt spüren mögen, war schon vorher da, doch das Innehalten, das Rezeptivwerden, verändert die Zeit und das gesamte Empfinden von der Welt und einem selbst. Die Reflektion öffnet die Tür für die Empfindung. Indem wir vorwärtsgehen, können wir diese Stille in den Räumen zwischen den Worten der vor uns liegenden Erkundungen annehmen. Die Auflösung unserer eigenen invarianten Repräsentationen von oben kann durch achtvolle Intention erreicht werden.
Kapitel 6 Sich die Nabe nutzbar machen: Aufmerksamkeit und das Rad des Bewusstseins In diesem Kapitel werden wir die zentrale Rolle der Aufmerksamkeit für das bewusste Handeln und das Beobachten unserer sich ständig vollziehenden mentalen Prozesse erforschen. Etwas mit Absicht in sein Bewusstsein hineinzubringen bedeutet, dass wir, statt einfach nur Input aus den Sinnesorganen zu registrieren (Lichtinput am Auge, Drucksensoren, die im Fuß aktiviert werden), uns in einem aktiven Suchprozess engagieren, einem vorsätzlichen Aufspüren der wahrnehmungsbezogenen Daten im Feld des Bewusstseins. Mit dem achtsamen Gewahrsein haben wir mehr als nur ein Bewusstsein der Empfindungen: Wenn wir sagen, dass wir uns selbst bei unserem sensorischen Erleben beobachten, dann birgt jene Beobachterposition ein Metabewusstsein in sich, an dem mehr Gehirnregionen beteiligt sind als die posterioren Wahrnehmungssäulen und die seitliche Präfrontalregion. Metakognition ist, ebenso wie die Selbstbe-
146
Facetten des achtsamen Gehirns
obachtung, mit der Aktivierung des mittleren Präfrontals verbunden. Auf diese Weise ist gezeigt worden, dass das achtsame Gewahrsein die mittleren Präfrontalregionen in höherem Maße aktiviert als Meditationsformen, bei denen es darum geht, den Fokus dauerhaft auf ein Ziel (ein im Innern gesprochenes Wort oder ein äußeres Objekt) gerichtet zu halten (Cahn & Polich 2006). Die metakognitive Dimension des achtsamen Gewahrseins umfasst verbindende, sekundäre Kortices mit komplexerem Aufbau, wie etwa jene in der mittleren Präfrontalregion, die für unser Zeugenbewusst-sein zuständig sind und es uns erlauben, uns des Gewahrseins selbst gewahr zu sein. Es sollte an dieser Stelle ebenfalls gesagt werden, dass Achtsamkeit viel mehr ist als eine Entspannungstechnik. Wir können gefestigt und klar werden, und wir können engagiert und handlungsbereit sein. Es ist das Gefühl von Präsenz und nicht die Entspannung, die die Essenz des achtsamen Gewahrseins ausmacht. Aber wie unterscheidet dieses mittlere Präfrontal das unmittelbare sensorische Erleben von einer Form des sensorischen Gewahrseins, die auch die Beobachtung der Erfahrung einschließt? Diese Frage ist es, um die es letztlich bei der Unterscheidung zwischen sich einer Sache bewusst (oder gewahr) sein und sich einer Sache achtsam bewusst (oder gewahr) sein geht. Die wichtigen positiven Auswirkungen klinischer Interventionen zeigen sich anhand der Praktiken des achtsamen Gewahrseins, und nicht anhand des einfachen Gewahr- oder Bewusstseins. Deshalb ist es außerordentlich wichtig für uns, die unterscheidende Komponente der Achtsamkeit zu verstehen. Ein achtsamer Gewahrseinsmodus könnte jenseits der seitlichen und hinteren Regionen verankert sein, die für einfaches Gewahrsein zuständig sind, und stattdessen mit den integrativen Aktivierungen der mittleren Regionen des Präfrontalkortex korreliert sein - den Bereichen, die wir bereits erörtert haben —, einschließlich des orbitofrontalen, des vorderen cingulären sowie des ventralen und medialen Präfrontalkortex. Diese mittleren Präfrontalregionen sind für die Metakognition (das Denken über das Denken) zuständig - dafür, sich des Gewahrseins gewahr zu sein. Sie ist außerdem von grundlegender Bedeutung für die
Sich die Nabe nutzbar machen
147
gesamte Bandbreite der mittleren Präfrontalregionen, die wir an anderer Stelle besprochen haben (vergleiche Anhang III). Eine Forschungsstudie über den framing effect (De Martino, Kumaran, Seymour & Dolan 2006) [der „Framing Effect" bezeichnet den Einfluss der Präsentationsart auf das Auswählen einer Option; Anm. d. Ü.] hat gezeigt, dass, wenn man Probanden zwei verschiedene Versionen eines Glücksspiel-Problems zeigte, diejenigen, die die verbale Manipulation durchschauten, für die Lösung der Aufgabe ihre mittleren Präfrontalregionen nutzten. Diejenigen, die auf die Manipulation hereinfielen (die auf Autopilot reagierten), kapierten den Trick nicht und aktivierten diese Mittellinienbereiche nicht. Bei dieser Studie wurden Stimuli zum Beispiel präsentiert als „wenn Sie auf diese Weise spielen, haben Sie eine 40-prozentige Chance, Ihr Geld zu behalten", statt „wenn Sie auf diese Weise spielen, haben Sie eine 60-prozentige Chance, Ihr Geld zu verlieren". Die Aktivierung dieser mittleren Präfrontalregionen (orbitofrontale und mediale Präfrontalkortices [OMPFC]; siehe Abbildung 2.3) schien die Versuchsperson aus der Automatik herauszuholen und in einen reflektiveren Zustand zu bringen, der eine breiter angelegte Sichtweise des vorhandenen Pro-blems in Betracht ziehen konnte. Auch wenn es sich hierbei nicht um eine Studie über Achtsamkeit handelte, so können wir doch sehen, dass die in dieser und in anderen Studien sichtbar gewordene Rolle der mittleren Präfrontalregionen jene zu sein scheint, der zufolge diese Regionen wichtig sind, um uns von Einflüssen von oben zu befreien, wie zum Beispiel früheren Erwartungen oder unseren eigenen emotionalen Reaktionen. Die mittleren Präfrontalregionen tragen entscheidend zur Selbstbeobachtung und zur Metakognition bei. - Wir können ein Bild von uns selbst in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben, und wir legen auch das Wesen der Aktivitäten unseres eigenen Geistes fest. Hier sehen wir den potenziellen neuronalen Beitrag zu der Vorstellung, dass das achtsame Gewahrsein mehr ist als einfach nur gewahr zu sein: In der Achtsamkeit nehmen wir aktiv unseren eigenen Geist wahr und sind uns unseres Gewahrseins gewahr.
148
Facetten des achtsamen Gehirns
Neuronale Dimensionen von Aufmerksamkeit Die Forschung fängt jetzt an, die aufmerksamkeitsbezogenen Netzwerke zu untersuchen, die am achtsamen Gewahrsein beteiligt sein könnten. Bisher liegen uns noch keine definitiven Daten vor, die Auskunft darüber geben könnten, wie das Fokussieren der Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment die neuronalen Schaltkreise auf eine bestimmte Weise nutzen könnte, noch warum diese potenziellen aufmerksamkeitsbezogenen Mechanismen zu so großen Verbesserungen im physiologischen, seelischen und zwischenmenschlichen Wohlbefinden führen sollten. Ein großer Teil der Forschung über Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Aufgaben, die ihrem Wesen nach aktiv sind - einem Stimulus Beachtung schenken, flexibel die Aufmerksamkeit verändern, wenn sich die Stimuli unerwartet verändern, mit konfliktreichen Informationsströmen umgehen. Das achtsame Gewahrsein hat eine andere Qualität; innerhalb eines achtsamen Zustands gibt es einen Prozess von Rezeptivität und Metabewusstsein, der sich ziemlich stark von den aktiven, reizgesteuerten Aufmerksamkeitsprozessen unterscheidet, die in diesen Untersuchungen erforscht werden. Dennoch könnte es hilfreich sein, diese Forschungen über aktive Aufgaben als Hintergrund zu haben, weil sie den Stand der Wissenschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt verkörpern. Die Vorstellung, dass es nicht nur eine Form von Aufmerksamkeit gibt, wird heute allgemein akzeptiert. Es gibt drei Aspekte dieses Prozesses, die den Energie- und Informationsfluss regulieren, über die heute allgemein Einigkeit herrscht: exekutiv, orientierend und warnend. Da der Geist selbst als verkörperter und relationaler Prozess definiert werden kann, der den Fluss von Energie und Informationen reguliert, ist Aufmerksamkeit für den Geist absolut zentral. Amir Raz’ und Jason Bühles Rezension (2006) verschiedener Arten von Aufmerksamkeitsnetzwerken zeigt die Komplexität des Zu-stands unseres Verstehens auf. Um es mit ihren Worten zu sagen: „Kortikale und subkortikale Netzwerke sind für verschiedene Aspekte von Aufmerksamkeit verantwortlich; ohne den modulatorischen Einfluss die
Sich die Nabe nutzbar machen
149
ser subkortikalen Bereiche würde das Gehirn nicht auf effektive Weise aufmerken" (S. 370). Diese Aufmerksamkeitssysteme haben kortikale Bereiche, die auf sie spezialisiert sind; die subkortikalen Regionen sind weniger untersucht worden, sie dienen aber als tief gehende Quellen von Motivation, Antrieb und Erregung im Gehirn. Diese subkortikalen Prozesse sind wahrscheinlich auch an der körperorientierten Arbeit des achtsamen Gewahrseins beteiligt. Wir gelangen zu der Empfindung von Achtsamkeit nicht nur als Fokus von Aufmerksamkeit, sondern als einer Seinsweise: Sie ist wahrscheinlich mehr als ein ReizReaktions-Aufmerksamkeitsprozess, für den die kortikalen Regionen zuständig sind. Raz und Buhle sagen des Weiteren, dass „in dem Maße, wie das Neuroimaging beginnt, die Auswirkungen der Praxis auf kortikale Substrate zu zeigen, kumulierte Ergebnisse nahe legen, dass diese Aufmerksamkeitsnetzwerke modifiziert werden können. Die Einführung eines Aufmerksamkeitstrainings in Kindergärten oder Kindertagesstätten könnte eine pädagogische Neuerung sein" (S. 370). Das Entscheidende dabei ist, dass die Aufmerksamkeit, die für den Geist eine so zentrale Rolle spielt, kein festgelegter Prozess ist. Wie bereits früher erwähnt, konnte bei unserer Pilotstudie im Mindful Awareness Research Center gezeigt werden, dass die Exekutivfunktionen der Aufmerksamkeit bei Erwachsenen und Jugendlichen mit genetischen Erkrankungen wie der Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung durch ein achtwöchiges Training in achtsamem Gewahrsein signifikant verbessert werden konnten (Zylowska, Ackerman, Futrell, Horton, Haie, Pataki et al., eingereicht). Lidia Zylowska und ihre Kollegen an der UCLA entwickelten ein achtwöchiges Pilotprogramm, in dem grundlegende Techniken der Achtsamkeitsmeditation vermittelt wurden, ähnlich denen, die wir in Kapitel 2 über das Schweigeretreat erörtert haben. Wie wir gesehen haben, gründet sich diese Form der Einsichtsmeditation auf dem allgemeinen Ansatz, dass man Menschen zunächst bittet, ihre Aufmerksamkeit auf den Atem zu konzentrieren. Wenn sie merken, dass ihre Aufmerksamkeit sich auf etwas anderes verlagert, wie das unweigerlich geschieht, dann sollen sie ihre Aufmerksamkeit sanft wieder zum
150
Facetten des achtsamen Gehirns
Atem zurückbringen. Wenn man sie wieder und immer wieder übt, dann scheint diese Praxis des Zurückbringens der Aufmerksamkeit zum Ziel des Fokus die „Ziel- und Aufrechterhaltungsfähigkeit" der geistigen Aufmerksamkeit zu entwickeln. Richtet man den Fokus auf den Körper, entweder mittels eines Body Scans oder indem man sich bei der Gehmeditation auf die Füße konzentriert, dann weitet sich die Aufmerksamkeit auf das körperliche Empfinden als Anker aus und befähigt denjenigen, seine Aufmerksamkeit neu auszurichten, wenn sie abschweift. Liebevolle-Güte-Übungen werden ebenfalls angeboten. Wie wir erörtert haben, ist es - wenn Achtsamkeit als Form der inneren Einstimmung angesehen wird - natürlich, diese absichtsvollen Zustände des Mitgefühls aus den Liebevolle-Güte-Übungen als eine Verstärkung des essenziellen Zustands der liebevollen Verbindung anzusehen - zu sich selbst und zu anderen. Nach einer achtwöchigen Gruppenerfahrung von jeweils zweieinhalb Stunden, wobei die Meditation jeweils zwischen fünf und fünfzehn Minuten dauerte, wurden die Aufmerksamkeitsfähigkeiten der Teilnehmer gemessen und mit dem Bezugswert vor der Intervention verglichen. Es zeigte sich, dass sich deren Exekutivfunktionen gegenüber dem Bezugswert entscheidend verbessert hatten. Da es sich hier lediglich um eine Pilotstudie handelte, gab es keine Kontrollgruppe, und wir können nicht sagen, dass diese Ergebnisse durch irgendetwas im Besonderen herbeigeführt wurden. Zukünftige Arbeiten sollten eine kontrollierte Blindversion verwenden, bei der man bestimmen kann, welche Kombination von Aspekten der jeweiligen Erfahrung -Gruppenunterstützung, Achtsamkeitsfähigkeiten, auf dem Campus der UCLA parken - zum deutlichen Erfolg dieser Pilotstudie beigetragen hat. Die Probanden berichteten nicht nur von einem erhöhten Wohlbefinden, sondern ihre Tests zeigten überdies eine verbesserte Fähigkeit, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren und Impulsen zu widerstehen. Die bedeutende Möglichkeit, die hier aufgezeigt wurde, ist, dass Aufmerksamkeit eine erlernbare Fähigkeit ist. Wenn man bedenkt, dass Aufmerksamkeit für den Geist und das Verhalten eine zentrale Rolle spielt, dann ist die Auffindung von Möglichkeiten, um die Aufmerksamkeit zu trainieren, ein wesentlicher
Sich die Nabe nutzbar machen
151
Aspekt im Bildungswesen wie auch in der Therapie. Ein Aufmerksamkeitstraining würde Mittel beinhalten, den Geist absichtlich darauf zu fokussieren, sich neue Muster einzuprägen, um auf Aufmerksamkeit abzuzielen und sie aufrechtzuerhalten. Computergestützte Techniken könnten sich dabei ebenso wie meditative Praktiken als effektive Methoden herausstellen, um die Aufmerksamkeitsnetzwerke im Gehirn zu trainieren (Raz & Buhle 2006; Wallace 2006). Wir werden im Folgenden die drei Dimensionen von Aufmerksamkeit besprechen, die in der wissenschaftlichen Literatur mehr oder weniger allgemein anerkannt sind. In Alarmbereitschaft sein In Alarmbereitschaft zu sein beinhaltet fortwährende Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und Wachheit. Diese Eigenschaften führen zu einer erhöhten und anhaltenden Bereitschaft, als Vorbereitung auf vorweggenommene Reize zu reagieren. Die Alarmbereitschaft kann phasenbezogen (auf eine bestimmte Aufgabe bezogen) oder sie kann intrinsisch oder stärkend sein (ein allgemeiner Zustand der Kontrolle des Erregungspegels). Wenn wir darüber nachdenken, wie wir unseren Geist bereit machen können, sich für das zu öffnen, was aufsteigt, dann wäre das wahrscheinlich eine Form der Alarmbereitschaft. Studien mit bildgebenden Verfahren unterstützen die Idee, dass die Frontal- und Parietalregionen, insbesondere diejenigen auf der rechten Gehirnseite, zur Aufrechterhaltung dieses Aspekts der Alarmbereitschaft wesentlich sind. Der rechte dorsolaterale Präfrontalkortex (DLPFC, der seitliche Teil, die rechte Seite) scheint als Überwacher der Leistungs- oder Erregungsebenen zu fungieren und reguliert sie als eine Form der exekutiven Aufmerksamkeit (siehe unten). Der Kortex des Cingulum anterior (ACC) und andere Präfrontalbereiche der Mittellinie könnten ebenfalls bei diesen regulativen Funktionen mitwirken und Flexibilität in den Reaktionen ermöglichen. Die rechte untere Parietalregion wird aktiv und versetzt uns sowohl bei inneren als auch bei äußeren Reizen in Alarmbereitschaft.
152
Facetten des achtsamen Gehirns
Orientierung Orientierung ist die Fähigkeit, bestimmte Informationen aus einer Vielzahl von Optionen in einem Prozess des Scannens oder der Selektion spezifisch auszuwählen. Die meisten Forschungen in diesem oftmals untersuchten Bereich sind in Bezug auf visuelle Stimuli ausgeführt worden, und so könnten die Ergebnisse bezüglich der Gehirnstrukturen für diese Wahrnehmungsmodalität recht spezifisch sein. Die Neuroanatomie der Orientierung beinhaltet Gehirnbereiche, die für die Form der jeweiligen Stimuli spezifisch sind. In Forschungsanordnungen, bei denen das Sehvermögen eine Rolle spielt, werden Bereiche wie Pulvinar thalami, oberer Parietallappen, oberer Hügel der Vierhügelplatte (Collicus superior), die Verbindung zwischen Temporal- und Parietallappen, und der obere Temporallappen ausnahmslos aktiviert. Der obere Parietalkortex soll Berichten zufolge bei absichtlichen Aufmerksamkeitsverschiebungen besonders wichtig sein (vergleiche Abbildung 2.3). Exekutive Aufmerksamkeit Die exekutive Aufmerksamkeit ist durch Merkmale wie selektive, überwachende und fokussierte Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Die Konfliktlösung zwischen konkurrierenden Stimuli ist ebenfalls ein wesentlicher Aspekt der exekutiven Aufmerksamkeitskontrolle. Diese Art von Exekutivfunktion wird als „willentliche Kontrolle" bezeichnet. Die allgemeinen Prozesse, die durch diese Form von Aufmerksamkeit reguliert werden, stehen mit „Planung oder Entscheidungsfindung, Fehlererkennung, neuen oder nicht gut gelernten Reaktionen, Bedingungen, die als schwierig oder gefährlich beurteilt werden, der Regulierung von Gedanken und Gefühlen und der Überwindung gewohnheitsmäßiger Handlungen" in Verbindung (Raz & Buhl 2006, S. 374). Hier können wir beginnen, uns die Kraft des achtsamen Gewahrseins vorzustellen, im Rahmen der exekutiven Aufmerksamkeitskontrolle automatisches, gewohnheitsmäßiges Denken zu entkoppeln.
Sich die Nabe nutzbar machen
153
Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren haben die Rolle des anterioren cingulären Cortex (ACC) als entscheidender Knotenpunkt im exekutiven Aufmerksamkeitsnetzwerk einbezogen. Der ACC kann als oberste Führungskraft des Gehirns angesehen werden, weil er die Aufmerksamkeitsressourcen zuteilt. Dorsale wie ventrale Aspekte des ACC spielen verschiedene Rollen, die Körper, Affekte und Gedanken miteinander verbinden. Im Allgemeinen dient der ACC dazu, die Verteilung eines Aufmerksamkeitsfokus zu bestimmen und sich an der Regulierung der emotionalen Erregung zu beteiligen. Hier sehen wir die physische Realität der anatomischen Verbindung zwischen Denken und Informationsverarbeitung bei der körperlichen und limbischen Erzeugung von Affekten. Der ACC könnte insbesondere dann beteiligt sein, wenn es zu einem Konflikt in der Aufmerksamkeitsreaktion kommt. Bei komplexeren Konflikten kann sich der ACC auch mit dem DLPFC verbinden - einer Verbindung, die auch die tieferen subkortikalen Systeme wie den Locus caeruleus und die ventralen tegmentalen Areale anzapft. Forschungen zur Achtsamkeitsmeditation zeigen, dass die Aktivierung des ACC dabei eine Rolle spielt (Cahn & Polich 2006). Die Meditation im Allgemeinen scheint die Induktion von Alpha- und Thetawellen auf dem EEG zu beinhalten, von denen einige meinen, dass sie von einem Empfinden der Stabilität und Beruhigung begleitet ist. Aus der Entwicklungsperspektive scheint die Phase zwischen drei und sieben Jahren eine äußerst wichtige Zeit für den Erwerb exekutiver Aufmerksamkeitsfunktionen zu sein, was die Idee auf den Plan bringt, dass Interventionen am besten zu dieser Zeit initiiert werden sollten. Wenn sich das Kind der Pubertät nähert, kommt es zu einem erneuten Wachstumsschub in den Synapsen, und zu dieser Zeit könnte es gleichzeitig zu einer Verringerung in der Effizienz der kortikalen Verarbeitung kommen (Casey, Tottenham, Listen & Durston 2005). Während der Entwicklungsjahre kommt es in den Präfrontalbereichen zu einer größeren Umgestaltung, im Zuge derer die neuronalen Verbindungen gestutzt werden und die durch diese Region ausgeführten Funktionen unter Stress labil und dysfunktional werden könnten.
154
Facetten des achtsamen Gehirns
Wenn wir dann allmählich dieser Phase entwachsen, werden komplexere metakognitive Fähigkeiten verfügbar, und diese könnten Teenager befähigen, auf wesentlich komplexere und letztlich selbstbeobachtende Weisen zu denken. Obwohl sich die Aufmerksamkeitsregulation während dieser frühen Jahre entwickelt, könnten auch Achtsamkeitsfähigkeiten von Nutzen sein, um, wie an früherer Stelle besprochen, Heranwachsenden und Erwachsenen dabei zu helfen, effektivere exekutive Aufmerksamkeitsmechanismen zu entwickeln (Zylowska et al., eingereicht). Wie wir gesehen haben, lautet die Argumentation, dass das Fokussieren von Aufmerksamkeit auf eine spezifische Weise neuronale Regionen anregen kann, die höchstwahrscheinlich entsprechende neuroplastische Veränderungen als Reaktion auf die Achtsamkeitspraxis mit herbeiführen. Rueda, Posner und Rothbart (2005) erklärten: „Die willentliche Kontrolle dient als Grundlage für die Entwicklung von reaktiverem Verhalten hin zu sich stärker selbst regulierendem Verhalten. Systeme willentlicher Kontrolle könnten zu dieser Entwicklung beitragen, indem sie die erforderliche Aufmerksamkeitsflexibilität bieten, um mit negativen Affekten umzugehen, potenzielle Handlungen im Lichte moralischer Prinzipien zu betrachten und Reaktionen zu koordinieren, die unter willkürlicher Kontrolle stehen (Rothbart & Rueda 2005)" (S. 575). Bei der Untersuchung der neuronalen Strukturen, die an einer solchen Selbstregulation beteiligt sind, spielt, wie wir gesehen haben, der ACC eine äußerst wichtige Rolle: „Der Hauptknotenpunkt des exekutiven Aufmerksamkeitsnetzwerks, der ACC, ist Teil des limbischen Systems und ist eng mit Strukturen verbunden, die an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt sind" (S. 578). Hinsichtlich seiner Entwicklung sagen Rueda und seine Kollegen, dass „diese Daten insgesamt nahe legen, dass der Gehirnschaltkreis, der den Exekutivfunktionen zugrunde liegt, stärker ins Zentrum gerückt und verfeinerter wird, wenn er an Effizienz gewinnt. Dieser Reifungsprozess beinhaltet nicht nur eine größere anatomische Spezialisierung, sondern reduziert auch die Zeit, die diese Systeme benötigen, um jeden der an der Aufgabe beteiligten Prozesse aufzulösen"
Sich die Nabe nutzbar machen
155
(2005, S. 586-587). Die Autoren diskutieren des Weiteren den Nutzen des Aufmerksamkeitsprozesstrainings, das zu Verbesserungen in der exekutiven Aufmerksamkeit führen kann (Sohlberg, McLaughlin, Pavese, Heidrich & Posner 2000), und postulieren, dass vorläufige Ergebnisse „darauf hindeuten, dass die Gehirnmechanismen, die mit Aufmerksamkeitskontrolle verbunden sind, durch Training verbessert werden können und dass diese Verbesserung einen Nutzen für Verhaltensmessungen von Kompetenz haben können. Aufgrund der Verbindung von Aufmerksamkeit und Selbstregulation öffnet die der exekutiven Aufmerksamkeit zugrunde liegende Plastizität des neuronalen Systems ein Fenster dazu, die Selbstregulation bei Kleinkindern zu fördern" (2005, S. 589). Die Überschneidung von Aufmerksamkeitsregulation und Exekutivfunktionen zeigt sich anhand der strukturellen und funktionalen Aspekte der mittleren Präfrontalbereiche. Zum Beispiel scheint der ACC an der Reduzierung negativer affektiver Zustände beteiligt zu sein, und er interagiert mit anderen Mittellinienstrukturen, wie den medialen und orbitalen Bereichen des Präfrontalkortex (siehe Abbildung 2.6). In Situationen, in denen es infolge eines Hirnschadens zu einer Dysfunktion des Cingulum anterior kommt, sind schwerwiegendere Veränderungen beschrieben worden, die jedoch qualitativ gewissen Aspekten eines angenommenen Low road-Prozesses (Siegel 1999) ähnlich sind. Devinsky, Morrell und Vogt haben erklärt: „Verhaltensänderungen als Folge von Läsionen des Cingulum anterior sind unter anderem: erhöhte Aggressivität ... emotionale Abstumpfung, herabgesetzte Motivation ... beeinträchtigte Mutter-Säuglingsinteraktionen, Ungeduld, eine herabgesetzte Schwelle für Angst- oder Schreckreaktionen und unangemessenes intraspezifisches Verhalten" (1995, S. 285). Nach einer Hirnverletzung zeigte die Erfahrung des Betroffenen, dass „die sozialen Folgen der kombinierten Schädigung des anterioren Cingulums und des Orbitofrontalkortex verheerend sein können ... es gab eine Trennung zwischen dem intellektuellen Verstehen der Bilder und dem autonomen Ausdruck bei Schädigungen des anterioren Cingulumkortex und des Orbitofrontalkortex ... der cinguläre und der orbitofrontale Kortex sind wichtig dafür, emo-
156
Facetten des achtsamen Gehirns
tionale Reize und autonome Veränderungen auf emotionale Reize zu verknüpfen, ebenso wie für die Verhaltensänderungen, die aus solchen Reizen folgen" (Devinsky, Morrell & Vogt 1995, S. 292). Wenn wir die Forschungsergebnisse über die Regionen des Cingulum anterior und des Orbito-frontalkortex mit der Rolle des medialen Präfrontalkortex verbinden, die das Bewusstsein eigener und fremder mentaler Prozesse ebenso wie die regulierende affektive Reaktion (Decety & Chaminade 2003; Frith & Frith 1999) ermöglichen, dann sehen wir, dass die Exekutivprozesse im Gehirn mit den Mittellinienstrukturen korrespondieren, die wir als „mittlere Präfrontalregionen" bezeichnet haben. Die Entwicklung dieser Bereiche scheint für das emotionale und soziale Funktionieren überaus wichtig zu sein, da sie einen zentralen Knotenpunkt dafür bilden, wie die selbst regulierenden Aspekte des Geistes mit Strukturen und Funktionen im Gehirn korrelieren.
Ein erster Überblick Man kann sehen, dass es in den neuronalen Funktionen eine gewisse Überschneidung zwischen den frontalen Aufmerksamkeitsnetzwerken der exekutiven und warnenden oder in Alarmbereitschaft versetzenden Fähigkeiten und den eher seitlichen und hinteren Orientierungsströmen gibt. Es besteht Uneinigkeit darüber, wie stark sich diese Systeme überschneiden oder interagieren, aber im Allgemeinen scheint es Über-einstimmung darüber zu geben, dass diese drei Domänen als organisierte Aspekte des heterogenen Wesens von Aufmerksamkeit fungieren. Wenn ein Mensch irgendeine Form von achtsamem Gewahrseinstraining absolviert, dann steht am Anfang das Erzielen und die Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit. Diese Funktionen würden unter die warnende (aufrechterhaltende) und orientierende (Ziel) Dimension von Aufmerksamkeit fallen. Natürlich muss der oder die Betreffende die Intention haben, ein solches Ziel erreichen und aufrechterhalten zu wollen, und darin liegt der exekutive Aspekt der Aufmerksamkeit.
Sich die Nabe nutzbar machen
157
Wenn sich das Aufmerksamkeitstraining weiterentwickelt, dann führt es bald zu einem eher rezeptiven Prozess, bei dem man sich der Natur des Geistes und des Gewahrseins selbst bewusst wird. Dieses offenere Gewahrsein mag nicht gut mit den aktiven, objektfokussierten Analysen von Aufmerksamkeit in der bisher bestehenden Literatur zusammenpassen, obwohl er wahrscheinlich den metakognitiven Funktionen des mittleren Präfrontals entspricht. Es sind weitere Studien zum achtsamen Gewahrsein vonnöten, um diese Aufmerksamkeitsprozesse gründlicher zu untersuchen, und es sind bisher noch keine Ergebnisse dazu bekannt, welche Aspekte der neuronalen Plastizität, der Veränderung in Reaktion auf Erfahrung durch das achtsame Gewahrsein genutzt werden.
Zustände und Merkmale - mühelose Achtsamkeit Im Laufe der Zeit wird das achtsame Gewahrsein zu einer Seinsweise oder einem Charakterzug einer Person, und nicht zu einer Praxis, die durch bestimmte Methoden wie Meditation, Yoga oder kontemplatives Gebet einen temporären Geisteszustand herbeiführt. Wir würden diese Bewegung von Zuständen zu Charakterzügen in Form von langfristigen Fähigkeiten der Person sehen. Aus dieser Forschungsperspektive würde ein solcher Übergang als Verlagerung von willentlichem Bemühen und „im Bewusstsein sein" zu einem Zustand der Mühelosigkeit angesehen werden. Worum es hier geht, ist, dass der offene und rezeptive Seinszustand, das hereinzunehmen, was ist, vor dem Gewahrsein eingeleitet werden könnte, dann jedoch Gewahrsein beinhaltet, wenn die Reflektion im Erleben einer Person von Moment zu Moment auftaucht. Dieser mühelose Prozess kann als „automatisch" angesehen werden, und wir könnten ihn so leicht als ein weiteres Beispiel des „am Schlafen Seins", ein Gefangener der Einflüsse von oben zu sein, missverstehen. Doch die Beteiligung der mittleren Präfrontalregionen als müheloses Charaktermerkmal hat eine ganz andere Qualität, als lediglich ein passiver Empfänger der alten, durch Erinnerung geformten Urteile von oben
158
Facetten des achtsamen Gehirns
herab zu sein. Die mittleren Präfrontalregionen sind lebendig, einnehmend, metakognitiv, selbstregulierend, verbindend und integrativ. Wie wäre es, wenn wir diese mittleren Regionen ohne Beteiligung der Seitenregion nutzen könnten, zumindest für den Moment, zu Beginn einer Erfahrung? Hier sehen wir den Nutzen, der darin liegt, Gehirnregionen zu unterscheiden, wie etwa die seitlichen und die mittleren Präfrontalbereiche. Wir könnten uns gut „ausgebildete" mittlere Präfrontalschaltkreise vorstellen, die durch die Achtsamkeitspraxis und das Leben gestärkt worden sind. Wenn diese etabliert sind, dann könnte ein achtsamer Zustand sogar ohne die seitliche Präfrontalregion (DLPFC) erreicht werden, die das Arbeitsgedächtnis zu jener Anfangszeit auf den Plan ruft. Dies könnte mühelose Achtsamkeit sein. Wenn wir das achtsame Gewahrsein üben und den Zustand entwickeln, bei dem wir unsere mittleren Präfrontalregionen mit absichtlichem Bemühen in der Übungssitzung nutzen, dann könnte es sein, dass dieser anfangs bewusste, seitlich präfrontal aktivierte Zustand die neuroplastischen Veränderungen induziert, die diesen Modus zu einem Charaktermerkmal werden lassen. Das Merkmal des achtsamen Gewahrseins könnte dann die eher mühelose Qualität haben, die durch die Beteiligung der mittleren Präfrontalregionen und ohne das Bemühen der aktiven seitlichen Präfrontalregion, diesen Zustand bewusst zu erzeugen, entsteht: Achtsamkeit ist einfach, selbst ohne unsere Bemühungen, sie herbeizuführen. Wenn wir uns erinnern, dass die mittleren Präfrontalregionen zutiefst integrativ auf den Körper, das Stammhirn, die limbischen Bereiche, den Kortex und die soziale Welt des Geistes anderer wirken, dann können wir begreifen, wie dieses mühelose achtsame Gewahrsein erzeugt werden könnte. Wenn das Gehirn eines Menschen mit der Praxis des achtsamen Gewahrseins wächst (was das Bemühen des seitlichen Präfrontalkortex beinhaltet), dann führt die Neuroplastizität zu einem vermehrten Wachstum der integrativen mittleren Präfrontalfasern. Und wenn sie mit der Übung wachsen, dann erreicht der Übende den Wesenszug eines mühelosen achtsamen Lebens.
Sich die Nabe nutzbar machen
159
In der Achtsamkeit fühlt es sich so an, als seien mannigfaltige Zustände daran beteiligt, die in unterschiedlicher Weise ineinander greifen, um diesen Fokus auf das gegenwärtige Erleben zu ermöglichen, ebenso wie die Loslösung von Urteilen von oben und von gewohnheitsmäßigen emotionalen Reaktionen, und schließlich ein Metabewusstsein, das ein tiefes Wissen um den gesamten fließenden Prozess erlaubt. Auch wenn wir die Vorstellung von einem Achtsamkeitsmerkmal als mühelos ansehen, bedeutet das nicht, dass wir uns nicht seiner Fülle im Moment bewusst sind. Mühelosigkeit und Gewahrsein sind keine Gegensätze. Auf diese Weise verringert die Bewegung von einem Zustand der Mühe zu einem Charaktermerkmal der Mühelosigkeit nicht das Gewahrsein, auch wenn es die Qualität der „sich gewahr seienden" Empfindung verändern kann. Wie wir besprochen haben, haben strukturelle (im Gegensatz zu funktionalen) Szintigrafien des Gehirns von Achtsamkeits-Meditierenden in einer Studie dickere mittlere Präfrontal- und rechte Inselrindenbereiche gezeigt (Lazar et al. 2005). Es könnte sein, dass die Praxis der Achtsamkeitsmeditation diese Regionen aktiviert und ihre anatomische Masse vergrößert hat; es könnte jedoch gleichfalls so sein, dass Menschen mit größeren Regionen in diesen Arealen mit größerer Wahrscheinlichkeit meditieren. Kortexdicke korrelierte mit den Jahren der Praxis, was die Möglichkeit stützt, dass es sich dabei tatsächlich um eine Folge der Achtsamkeitsmeditation handelt, und nicht nur um eine Begleiterscheinung. Eine erhöhte Kortexdicke könnte auf eine größere Verzweigung der Neuronen zurückzuführen sein, mit mehr Verbindungen zu anderen Neuronen, einem erhöhten Volumen, um Zellen in diesen Gehirnregionen zu unterstützen, oder einem verstärkten lokalen Blutgefäßsystem. Jeder dieser Faktoren, der möglicherweise an der „Verdickung" beteiligt war, würde für wichtige Dimensionen stehen, die das neuronale Funktionieren verbessern könnten. Auch wenn es sich bei diesen Ergebnissen nicht um eine vorausblickende kontrollierte Studie handelt, die vonnöten ist, so stimmen sie zumindest mit der Vorstellung überein, dass die wiederholte Aktivierung einer Reihe von Schaltkreisen die Konnektivität der Synapsen - und damit die Dicke - in diesen aktivierten Regionen verbessern könnte.
160
Facetten des achtsamen Gehirns
Durch die angereicherten neuronalen Verbindungen werden die Prozesse, die durch diese miteinander verbundenen Areale ausgeführt werden, leichter für das alltägliche Leben und das Leben von Moment zu Moment verfügbar. Was eine mühsame Praxis war, wird zu einer mühelosen Lebensweise. So kann ein Zustand zu einem Charaktermerkmal werden (siehe auch Anhang III, Entwicklungsbezogene Themen.)
Das Bewusstseinsrad des Geistes: Eine Metapher für Achtsamkeit Was ich für Studenten wie Patienten in der Vermittlung dieser weiträumigen Qualität des achtsamen Gewahrseins als hilfreich empfunden habe, ist, das „Bewusstseinsrad" des Geistes als visuelle Metapher für die Funktionsweise des Geistes zu betrachten. Wir haben hierüber in Kapitel 4 gesprochen, und an dieser Stelle werden wir die Bewusstseinsaspekte und ihre möglichen neuronalen Entsprechungen in diesem metaphorischen Bild des Geistes vollständiger beleuchten. Am äußeren Rand des Bewusstseinsrads finden wir alles, was in den Fokus unserer Aufmerksamkeit treten kann (Abbildung 6.1; siehe auch Abbildung 4.3).
Abbildung 6.1 Das Rad des Bewusstseins (Rand, Speichen und Nabe) und die Sektoren des Randes: die ersten fünf (äußere Welt), der sechste (Körper), siebte (Geist) und achte (Beziehungen).
Jeder Punkt am Rand steht für das potenzielle Objekt des Bewusstseins, vom eigenen Fuß bis hin zu den eigenen Gefühlen. Die Speichen, die von der zentralen Nabe ausgehen, symbolisieren unsere Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Punkt am Rand zu konzentrieren. Die Nabe im Zentrum des Bewusstseinsrads symbolisiert die Weite des Geistes, der sich in eine Speiche an einem bestimmten Punkt des Randes einklinken oder für das rezeptiv sein kann, was am Rand aufsteigt und in Richtung Nabe wandert. Der Rand Die ersten fünf Sinne bringen Informationen aus der Außenwelt herein und befähigen uns so, diese physische Domäne der Realität zu spüren. Wenn wir uns der ersten fünf Sinne gewahr werden, dann nehmen wir Punkte entlang dieses Sektors am Rande herein, der diese physische Ebene der erkennbaren Aspekte der Welt außerhalb unseres Körpers repräsentiert: Das sind unsere ersten fünf Sinne.
162
Facetten des achtsamen Gehirns
Unser sechster Sinn-Sektor am Rand schließt Empfindungen in unseren Gliedmaßen, die Bewegung unseres Körpers, die Spannung oder Entspannung unserer Muskeln, den Zustand unseres „inneren Milieus" einschließlich unserer Organe wie Lungen, Herz und Gedärme ein. Diese körperlichen Aspekte potenziellen Gewahrseins dienen als tiefe Quelle der Intuition und prägen unseren emotionalen Zustand. Die neuronalen Netzwerke um unsere inneren Organe herum beeinflussen ganz unmittelbar unser logisches Denken. Der hormonelle Zustand unseres Körpers und die Spannung unserer Muskeln in unseren Gliedmaßen, in Rumpf und Gesicht tragen unmittelbar dazu bei, wie unsere innere Welt unsere Gefühle prägt. Wir nutzen den Prozess der Interozeption, um diese wichtigen Inputs aus dem sechsten Sinn wahrzunehmen und sie über die Speichen aus der Nabe in unser sensumotorisches Bewusstsein zum sechsten Sektor des Randes zu bringen. Der siebte Sinn ermöglicht es, Aspekte des Geistes - Gedanken, Gefühle, Intentionen, Einstellungen, Konzepte, Bilder, Überzeugungen, Hoffnungen, Träume - von uns selbst und anderen in den Fokus der Aufmerksamkeit zu bringen. Diese Fähigkeit, den Geist wahrzunehmen, kann „Mindsight" genannt werden. Sie befähigt uns, tiefe Einsichten zu gewinnen und Empathie zu üben. Das achtsame Gewahrsein beinhaltet die metakognitiven Prozesse, die sowohl das Gewahrsein des Gewahrseins ermöglichen als auch, den Fokus der Aufmerksamkeit auf das Wesen des Geistes selbst zu richten. Diese reflektiven Praktiken entwickeln ganz unmittelbar unsere „Mindsight"-Fähigkeiten. Dieser siebte Sinn befähigt uns sogar, uns letztlich der geistigen Natur der ersten, mit der physischen Realität verbundenen sechs Sinne gewahr zu werden. Wenn wir unser Gefühl für den Geist entwickeln, wird uns zunehmend die Undurchsichtigkeit vorher transparenter Repräsentationen bewusst: Wir können wertschätzen, dass das Gewahrsein der Farbe einer Blume ein Produkt unseres Geistes ist. Statt eine Wertschätzung für sensorisches Erleben und Vergnügen zu zerstören, kann uns ein solches Metabewusstsein befähigen, uns an dem Geheimnis und der Majestät geistiger Schöpfungen zu erfreuen.
Sich die Nabe nutzbar machen
163
Ein achter „beziehungsbezogener" Sinn kann ebenfalls vorgeschlagen werden. Dieser Sektor des Randes steht für unseren Sinn für Beziehung, unsere Verbundenheit mit einem anderen Wesen. Wenn wir uns zum Beispiel auf einen anderen Menschen einstimmen, dann können wir uns des Resonanzzustands bewusst werden, der im Prozess des Sich-aufeinander-Beziehens erzeugt wird. Der achte Sinn bezieht sich darauf, wie wir uns bewusst sind, uns von einem anderen Menschen „gefühlt zu fühlen". Er ermöglicht uns außerdem, uns als Teil des größeren Ganzen zu fühlen. Menschliche Beziehungen, Gebet, Meditation und vielleicht sogar die Mitgliedschaft in einer Gruppe mit dem entsprechenden Sozialverhalten, wie es bei religiösen Ritualen oder sogar in der Leichtathletik vorkommt, könnte Menschen das Gefühl geben, dass sie „dazugehören" und einen Mitgliederstatus haben. Es könnte sein, dass wir, wenn wir uns mit Achtsamkeit auf uns selbst einstimmen, uns jener widerhallenden Verbindung unseres lebendigen Selbst und unseres Zeugenbewusstseins bewusst werden. Wir haben uns mit unserem Selbst angefreundet, und unser achter Sinn würde uns befähigen, uns jenes Gefühls bewusst zu werden. Wie wir gesehen haben, könnte diese Resonanz auch unser Gewahrsein unserer eigenen Intention einbeziehen. Diese absichtliche Einstimmung könnte im Herzen von Resonanzbeziehungen jeglicher Art stehen. Die Speichen Die Speichen des Bewusstseinsrads repräsentieren den absichtlichen Fokus der Aufmerksamkeit auf einem Aspekt des Randes. Bei der Gehmeditation fokussiert man eine Speiche der Empfindung auf die eigenen Füße und Beine. Wir können die Fähigkeit der Konzentration durch eine Praxis aufbauen, bei der wir uns jeweils auf ein gewähltes Objekt konzentrieren - den Atem, unsere Schritte oder die Bewegungen unseres Körpers im Tai-Chi oder beim Yoga. Wir können uns auch auf einen bestimmten Körperteil oder ein Bild konzentrieren. Den Geist zu fokussieren und zu dem Objekt zurückzukehren, wenn unsere Aufmerksamkeit abschweift, ist die Praxis, um unsere „Ziel-und Aufrechterhaltungsfunktion" der Konzentration zu entwickeln.
164
Facetten des achtsamen Gehirns
Wir stärken die Fähigkeit der Nabe, eine Speiche auf ein beabsichtigtes Ziel auf dem Rand zu richten. Diese Konzentrationsfähigkeit ist der Baustein des achtsamen Gewahrseins, ein notwendiges, aber nicht ausreichendes Merkmal. Starke Speichen zu haben ist wichtig, aber nicht ausreichend, um Achtsamkeit zu erzeugen. Ein Stimulus kann in unser Bewusstsein eindringen und unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. Das nennt sich „exogene Aufmerksamkeit" und tritt häufig in unserem geschäftigen Leben im Zusammenhang mit anderen Menschen und technischen Spielereien auf. Ein Mobiltelefon kann zu läuten beginnen, und der Klingelton kann in meine Ohren gelangen und meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und eine Speiche aus dem Rand ziehen, die ich nicht in Gang gesetzt habe. In einer Zeichnung würden wir das mit einer Betonung auf dem Punkt am Rand und dann einer weniger schwungvollen Speiche veranschaulichen. Das ist die Sogwirkung der exogenen Aufmerksamkeit - eine technologische Herausforderung unserer modernen Gesell-schaft. Beim Multitasking würden wir zahlreiche Speichen sehen, die gleichzeitig eingehende Daten aus verschiedenen Aspekten des Randes hineinziehen. Zusammen mit dem achtsamen Gewahrsein repräsentiert die Nabe des Geistes die Exekutivfunktionen, die uns befähigen, zu dem zurückzukehren, was wir zu tun beabsichtigt haben. Wir können eine andere Speiche aussenden, um unsere Aufmerksamkeit zu dem Objekt zurückzubringen, das wir als Fokus unserer Aufmerksamkeit haben möchten. Diese Fähigkeit, eine auf einen bestimmten Punkt gerichtete, selbst initiierte Aufmerksamkeit zu haben, wird manchmal als „endogene" Aufmerksamkeit angesehen, in dem Sinne, dass sie der eigenen Intention entstammt und nicht dem Sog einer exogenen Quelle. Andere verwenden diesen Begriff nur mit der Bedeutung „nach innen schauen" oder von einem Fokus der inneren Welt angezogen werden. Im Bereich der Aufmerksamkeitsforschung kommt es häufig zu Begriffsvermischungen (Raz & Buhl 2006), und so werden wir uns der visuellen Klarheit wegen eng an der Radmetapher orientieren. Hier verwenden wir den Begriff endogen, um uns auf die Einleitung eines Fokus von innen zu beziehen, unabhängig davon, auf
Sich die Nabe nutzbar machen
165
welchen Sektor des Rades die Speiche als Ziel des Aufmerksamkeitsfokus abzielt. Die Zielfunktion der Speiche wird durch die Exekutivfunktionen der Nabe initiiert. Die Nabe Die Entscheidung, unsere Aufmerksamkeit neu zu fokussieren, und die Fähigkeit, uns bewusst zu werden, dass unser Bewusstsein abgeschweift ist, scheinen essenzielle Aspekte des achtsamen Gewahrseins zu sein. Die Nabe des Bewusstseinsrades des Geistes birgt diese Fähigkeit in sich, das Ziel der Aufmerksamkeit im Auge zu behalten und dann den Fokus der Aufmerksamkeit zu ändern, um gewünschten Zielen zu entsprechen. Auf diese Weise können wir sagen, dass Achtsamkeit die Nabe des Geistes beinhaltet und dass Praktiken des achtsamen Gewahrseins die Nabe wahrscheinlich entwickeln bzw. stärken werden. Wenn wir achtsames Gewahrsein mit Anstrengung praktizieren, dann trainieren wir den Geist vorsätzlich immer wieder darauf, mit unserer Aufmerksamkeit zu unserem Ziel zurückzukehren (Konzentrationstraining des „Zielens und Aufrechterhaltens", das unsere auf einen Punkt ausgerichtete endogene Aufmerksamkeit stärkt), indem es den Prozess der Aufmerksamkeit selbst überwacht (achtsames Metabewusstsein). Diese punktgenaue Metabewusstseinspraxis bildet eine mögliche Grundlage für die Schaffung eines achtsamen Bewusst-seinszustands. Wiederholte Zustände achtsamer Aktivierung der Nabe können im Laufe der Zeit wahrscheinlich neuroplastische Veränderungen herbeiführen, die den exekutiven und integrativen Schaltkreis der Nabe transformieren. Diese Entwicklung und Stärkung der Nabe schafft die Möglichkeit, dass vormals mit Mühe in der Praxis erreichte Zustände zu mühelosen Merkmalen des Lebens werden. Das achtsame Gewahrseinstraining stärkt die Nabe des Geistes und macht Achtsamkeit zu einer Seinsweise anstatt zu einer bloßen Praxis.
166
Facetten des achtsamen Gehirns
Die Nabe nutzbar machen Achtsamkeit beinhaltet funktionale Fülle in der Form, dass wir unseren sensorischen Fluss, die Gefühle, die wir als Affekt bezeichnen, das Wesen unserer Gedanken und unser Empfinden von uns selbst prägen. Wie könnte eine spezifische Form des Gewahrseins eine solch weit gefächerte Bandbreite komplexer Prozesse umfassen? Was ist das Besondere an der Achtsamkeit, dass sie so große Auswirkungen auf die Fülle an menschlichen Aktivitäten hat, vom Bildungs- bis zum Rechtswesen, von der Kindererziehung bis hin zu Liebeserlebnissen? Achtsamkeit umfasst den zentralen Aspekt dessen, wie wir unseren Geist definieren, der den Kern unseres subjektiven Lebens bildet. Der verkörperte und relationale Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert - der Geist ist genau der Anteil, der durch Achtsamkeit geprägt wird. Bei diesem Seinszustand, dieser besonderen Form des Gewahrseins, geht es vor allem darum, den Fluss von Energie und Informationen zu regulieren - in unserem Körper und in unseren Beziehungen zu anderen. Exekutivfunktion und Selbstregulation Die Wissenschaft der Aufmerksamkeit verwendet das Konzept der Exekutivfunktion als einen Aspekt des Geistes, der eine breiter gefasste Vorstellung von der Selbstregulation steuert, und die Selbstregulation ist die Art und Weise, wie wir die zahlreichen Domänen unserer Existenz, von Erregungszuständen bis hin zu Reaktionsmustern, formen. Im Bereich der Psychopathologie ist die Selbstregulation ein äußerst wichtiges Konzept zur Untersuchung der Entwicklung von Wohlbefinden auf der einen und Geisteskrankheit auf der anderen Seite. Die Exekutivfunktionen beinhalten eine ganze Reihe von kognitiven und emotionalen Prozessen, die eine ausgeglichene Form der Selbstregulation erlauben. Gedanken und Gefühle sind im Gehirn miteinander verwoben, und daher ist es nicht weiter überraschend, dass eine integrative Funktion wie die Selbstregulation die Fähigkeit
Sich die Nabe nutzbar machen
167
beinhaltet, unsere zahlreichen Schichten mentaler Aktivitäten zu kontrollieren und zu beeinflussen - von der Art und Weise, wie wir Auf-merksamkeit schenken, bis hin zu der Modalität, wie wir fühlen. Hier sehen wir eine wichtige Überschneidung der Prozesse, die manchmal als getrennte Prozesse von Denken, Emotionen und Aufmerksam-keitsfokus angesehen werden. Im Gehirn selbst sehen wir, dass diese Dimensionen in einem Prozess zusammenfließen, der sich in dieser Exekutivfunktion zeigt, einer sich selbst regulierenden Dimension, die diese drei Aspekte unserer geistigen Welt steuert. Die Radnabe symbolisiert diese exekutive Selbstregulation. In unserer Pilotstudie des Meditationstrainings zum achtsamen Gewahrsein (Zylowska et al., eingereicht) stellten wir fest, dass die Exekutivfunktionen, die die Probanden befähigten, ihre Impulsivität zu hemmen und mehr kognitive Flexibilität zu erreichen, in erheblichem Maße verstärkt wurden. Man würde dies auf das flexible Wesen einer gestärkten „Nabe des Geistes" zurückführen, die die Essenz der Exekutivfunktion ist. Die Nabe des Geistes befähigt uns zu reflektieren. Innerhalb des reflektiven Gewahrseins können wir drei Dimensionen beschreiben: rezeptiv, selbstbeobachtend und reflexiv. Rezeptives Gewahrsein Die Nabe unseres Geistes steht auch für eine reflektive Form des Gewahrseins, in dem wir uns mit Absicht dafür entscheiden können, rezeptiv und offen für alles zu sein, was „einem in dem Moment in den Sinn kommt". Wie unterscheidet sich das von der exogenen Aufmerksamkeit, bei der unser Geist zu irgendeinem Reiz im Innern oder im Außen hingezogen wird? In diesem rezeptiven Zustand beabsichtigen wir, uns der Fülle des Gewahrseins gewahr zu sein und unsere fünf Sinne ebenso zur Kenntnis zu nehmen wie unseren körperlichen sechsten Sinn, unseren mentalen siebten Sinn und unseren relationalen achten Sinn. Durch die exogene Aufmerksamkeit werden wir von unserem beabsichtigten Aufmerksamkeitszustand abgelenkt, von unserem gegenwärtigen Gewahrsein weggezogen und verlieren uns im Objekt der Ablenkung.
168
Facetten des achtsamen Gehirns
Rezeptivität ist ein absichtlich herbeigeführter Zustand der Offenheit gegenüber allem, was auftaucht. Wir kennen bislang die spezifischen neuronalen Entsprechungen der Rezeptivität noch nicht, doch wir können von einem Gesamtzustand neuronaler Integration im Gehirn ausgehen, der Körper, Stammhirn, limbische Regionen und Kortex miteinander verbindet. Dieser könnte dazu beitragen, ein mögliches Bild dessen zu zeichnen, was in dieser Geistesverfassung geschieht. Wie wir erörtert haben, könnten die mittleren Präfrontalregionen eine zentrale Rolle bei einer solchen neuronalen Integration spielen. Ein solcher akzeptierender Zustand erzeugt eine Flexibilität in der Selbstregulation, die einen Menschen befähigen könnte, sich tief greifend aus alten, gewohnheitsmäßigen Arten der Anpassung und des Reagierens zu befreien. Rezeptivität könnte auf diese Weise direkt zu einer Unter-brechung der automatischen Einflüsse von oben auf die gegenwärtige Erfahrung beitragen. Mit Hilfe des achtsamen Gewahrseins können wir den Übergang von der Reaktivität zur Rezeptivität erreichen. Sich selbst beobachtendes Gewahrsein Dieser rezeptive Zustand wird begleitet von der eigenständigen, aber gleichermaßen wichtigen Fähigkeit zur Selbstbeobachtung. Diese Beobachtungsfunktion ist eine aktive Erforschung des Wesens von Erfahrung. Man hat durchgehend festgestellt, dass die Selbstreflektion, das Fokussieren der Beobachtung auf das Selbst, die Aktivierung der Regionen innerhalb der mittleren Präfrontalbereiche beinhaltet (den mittleren Präfrontalkortex und das anteriore Cingulum) (Beitman, Viamontes, Soth & Nitler 2006; Decety & Chaminade 2003). Die reflektive Beobachtung befähigt den Einzelnen, einen Beobachtungsprozess zu durchlaufen, bei dem die Inhalte des Geistes nicht nur im Bewusstsein platziert, sondern zusätzlich mit einem gewissen Forschungsinteresse angegangen werden. Wird dieser selbstreflektierende Zustand mit Rezeptivität kombiniert, hat er die Merkmale von Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe (COAL). Die Perspektive des sich selbst Verstehens innerhalb dieser COALVerfassung kann auf unmittelbare Weise Wege des Wissens erzeugen, die transformierend wirken können.
sich die Nabe nutzbar machen
169
Reflexives Gewahrsein Ein Begriff, der manchmal gegen das Wort reflektierend ausgetauscht wird, ist die Idee eines reflexiven Bewusstseins. Zu reflektieren, wie wir es hier definieren, schließt die Reflexivität als eine ihrer Dimensionen ein. Einige Autoren verwenden die Begriffe synonym; andere sehen die Reflektion als aktiven, bewussten und mit Mühe verbundenen Prozess an, während die Reflexivität, wie wir sie hier verwenden werden, automatisch, mühelos und nichtbegrifflich ist. Wie wir im vorhergehenden Kapitel besprochen haben, impliziert Reflexivität eine unmittelbarere Fähigkeit des Geistes, sich selbst zu kennen, ohne Mühe, ohne bewusste Beobachtung, ohne Worte. Diese reflexive Qualität hilft uns, das Wesen des Gewahrseins vom Gewahrsein zu verstehen: den Wiedereintritt in das Spüren der eigenen Prozesse, des Sich-bewusst-Seins, dass man seiner bewusst ist. Wir können das reflexive Gewahrsein als automatischeres Metabewusstsein innerhalb des größeren Rahmens der Reflektion ansehen. Das metakognitive Lernen, das aus der reflexiven Dimension des achtsamen Gewahrseins hervorgeht, könnte als Ergebnis dieser „Wiedereintrittsschleife" aufgefasst werden, die vor dem begrifflichen Verstehen neuronale Karten des Geistes erzeugt. Neuronale Entsprechungen von Metakognition zeigen die zentrale Rolle der mittleren Präfrontalregionen. Das Wachstum und die Umgestaltung dieses Bereichs im Laufe der Pubertät können uns helfen zu verstehen, wie diese reflexiven Funktionen auftauchen und dann vorübergehend während dieser wichtigen Phase der Veränderung im Leben eines Menschen gestört werden. Der gesamte Reflektionsprozess kann mehr begriffliche und linguistische Funktionen im Gehirn einschließen als die reflexive Komponente für sich genommen. Mit der Selbstreflektion kann jeder Aspekt des Selbst - der Moment, das Gedächtnis, jegliche Pläne für die Zukunft - beobachtet werden, und es können mentale Vermerke angebracht werden. Mit der Dimension der Reflexivität kommt ein direktes Wissen um den Prozess des Wissens. Es gibt keine bestimmte geistige Ver-
170
Facetten des achtsamen Gehirns
fassung, die beabsichtigt, reflexives Wissen zu generieren - es taucht einfach mit dieser Ebene der Metaverarbeitung auf. Der Prozess selbst ist das Objekt seines eigenen Wissens. Im Rahmen des größeren Bildes könnten Sie in der Lage sein zu sehen, dass das reflexive Gewahrsein des Gewahrseins die Erfahrung der Reflektion über das Selbst begleiten kann. Beide Prozesse sind ein fundamentaler Bestandteil dessen, wie wir „Mindsight" erzeugen, unsere Fähigkeit, den Geist selbst wahrzunehmen. Einstimmung und Aufmerksamkeit Wir können nun Folgendes darstellen: Der Prozess der Einstimmung schafft einen neuronalen Zustand von Integration, der die Grundlage für die rezeptive Dimension des reflexiven Gewahrseins bildet. Innerhalb der zwischenmenschlichen Integration - wenn wir dahin gelangen, uns von einem anderen Menschen „gefühlt zu fühlen" fühlen wir uns nicht nur mit dem anderen in Einklang gebracht, sondern unser Gehirn erzeugt wahrscheinlich einen Zustand, den Steven Porges als „Neurozeption" der Sicherheit bezeichnet hat (Porges 1998). Porges' Polyvagal-Theorie [ein neuer Ansatz zum Verständnis des autonomen Nervensystems; Anm. d. Ü.] geht davon aus, dass unser Nervensystem den Zustand von Bedrohung oder Sicherheit einer Situation bewertet und das den Vagus betreffende und das autonome Nervensystem aktiviert, um entweder mit offener Rezeptivität und „Sicherheit" oder mit zwei Aspekten von „Bedrohung" zu reagieren. Eine Reaktion auf eine Situation, die als Bedrohung gewertet worden ist, ist ein Kampf-Flucht-Zustand, bei dem die Aktivität des Sympathikus beschleunigt und so Bereitschaft zum Handeln geschaffen wird; die andere ist ein Zustand des Einfrierens, bei dem die Feuerung des Parasympathikus einen Kollaps herbeiführt. Wenn die Einstimmung zweier Menschen untereinander ein Gefühl von Sicherheit schafft, dann können wir davon ausgehen, dass die von Porges vorgeschlagene Aktivierung des von einer Myelinscheide umgebenen „gewieften" Vagus mit dem Weichwerden der Gesichtsmuskeln, einer Entspannung der Stimme und der Öffnung
Sich die Nabe nutzbar machen
171
des Wahrnehmungssystems für die Aufnahme von Input von außen einhergeht. Die Myelinisierung bewirkt eine schnellere Übermittlung der neuronalen Signale, und mit Hilfe der Neurozeption der Sicherheit aktiviert und unterstützt dieser Zweig des Vagusnervs die Öffnung und Annäherung des Menschen an andere. Dieser rezeptive Geisteszustand hat das qualitative Empfinden genau dessen, worüber wir sprechen, wenn wir uns die rezeptive Dimension des reflexiven Gewahrseins ansehen. Porges schlägt ein System des sozialen Engagements vor, das „ein System für das freiwillige Engagement mit der Umwelt mit speziellen Merkmalen darstellt, die mit prosozialem Kommunikationsverhalten in Verbindung gebracht werden" (1998, S. 850). Die Aktivierung dieses vagalen Systems könnte die Ausschüttung des Hormons Oxytocin und seine Verteilung innerhalb des Körpers mit dem Empfinden positiver Zustände beinhalten, die mit physischer Berührung und Nähe einhergehen. Wir können diese zwischenmenschlichen Mechanismen zu einer Sicht der inneren Abstimmung ausweiten, indem wir uns vorstellen, dass das, was wir als „System des SelbstEngagements" bezeichnen können, eine Form der zwischenmenschlichen Kommunikation aktiviert, die in einem ähnlichen Gefühl wie Porges' zwischenmenschliche Auffassung von „Liebe ohne Angst" (Porges 1998, S. 847) eingebettet ist. Liebe ohne Angst ist eine wunderbare Formulierung, die einen COAL-Geisteszustand in achtsamem Gewahrsein einfängt. Wenn wir dies noch einen Schritt weiterführen, dann könnten wir jetzt sagen, dass die innere Abstimmung denselben neuronalen Schaltkreis unter Einbeziehung des myelinisierten Vagus in einem Zustand der Sicherheit aktivieren könnte, wenn wir eine liebevolle Beziehung des Selbst-Engagements zu unserem eigenen unmittelbaren Erleben erzeugen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass das Gehirn tatsächlich in der Lage ist, eine Landkarte seines aktuellen Zustands in seinen Präfrontal-Mittellinienstrukturen abzubilden (Decety & Chaminade 2003; Decety & Jackson 2004), dann können wir uns ein Bild davon machen, wie diese innere Abstimmung die Aufmerksamkeit prägen könnte. Wir „kartieren" gleichsam unser sich erfahrendes Selbst innerhalb des neuronalen Feuerverhaltens der Repräsentationen
172
Facetten des achtsamen Gehirns
des gelebten Selbst in der mittleren Präfrontalregion. Wir beobachten dann diese absichtlich herbeigeführten Zustände, die wir detaillierter in Kapitel 8 beleuchten werden, auf eine Weise, die tatsächlich unser Wahrnehmungssystem für das ankurbelt, was im nächsten Moment passieren wird. Dieser innere Abgleichungsprozess des Beobachteten und Antizipierten erzeugt - ähnlich dem, was zwischen zwei Menschen in der Einstimmung passiert, in der sie eine Resonanz ihrer Zustände erleben - einen Zustand neuronaler Integration. Der Schlüssel hierfür könnte die Art und Weise sein, wie wir ein Gespür unserer Intention bekommen, das sich unmittelbar mit unserer Wahrnehmung der von Moment zu Moment gelebten Erfahrung verbindet; den Arten und Weisen, wie wir uns mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe (ohne Furcht) auf das Selbst einlassen. Durch diesen offenen, rezeptiven Teil der Reflektion werden wir frei, um mit unserem eigenen authentischen Erleben in Resonanz zu gehen. Wenn sekundäre Einflüsse diese Abgleichung verhindern, dann findet keine innere Einstimmung statt. Doch wenn sich das achtsame Gewahrsein von diesen Hindernissen von oben, die ein klares Spüren verhindern, befreien kann, wie wir ausführlich im nächsten Kapitel besprechen werden, dann geschieht Integration. Es findet eine innere Einstimmung statt, und die neurozeptive Bewertung ist die von „Sicherheit". Das könnte die Art und Weise sein, in der die innere Einstimmung Leiden lindert und ein stabilisierendes Gefühl von Verbundenheit mit der Erfahrung von Moment zu Moment auf der einen, und unserem authentischen Selbstgefühl auf der anderen Seite erzeugt. In diesem Bewertungszustand der Sicherheit wird die Aufmerksamkeit offen und rezeptiv. Das Gefühl eines solch offenen Zustands ist die Grundlage der Liebe. Tucker, Luu und Derryberry sprechen eine damit in Beziehung stehende Perspektive an, wenn sie feststellen, dass „Decety und Jackson (2004) nahegelegt haben, dass Empathie drei Hauptkomponenten erfordert: (1) ein Teilen des Affekts der anderen Person, (2) die Aufrechterhaltung einer getrennten Selbst-Repräsentation und (3) flexible Mechanismen der emotionalen Selbstregulation, um die Beteiligung unterschiedlicher Perspektiven des Selbst und der anderen zu erlau-
Sich die Nabe nutzbar machen
173
ben. Bei ihrer Durchsicht der Neuroimaging-Befunde zur empathischen Verarbeitung zitieren Decety und Johnson nicht nur Hinweise auf Gehirnaktivierungen, die die Erfahrung des anderen spiegeln, sondern auch solche auf eine Aktivität der frontalen Mittellinie (hinteres und vorderes Cingulum sowie Frontalpol), die offenbar sich selbst regulierende Mechanismen widerspiegeln, die für die Verschiebung der Perspektive vom Selbst zum anderen wesentlich zu sein scheint" (2005, S. 707). Wenn wir diese Analyse auf die Vorstellung anwenden, dass die Verschiebung der Perspektive vom Selbst zum anderen bei der Achtsamkeit eigentlich zwischen dem Selbst-als-beobachtend und dem Selbst-als-erfahrend geschieht, dann haben wir eine neuronale Formel für die Empathie sich selbst gegenüber bzw. für die innere Einstimmung. Hier sind die sozialen Schaltkreise des Gehirns auf das Erleben des Selbst als des „anderen" fokussiert, die verstanden und ohne Urteil entgegengenommen werden können und mit denen das beobachtende Selbst „resonieren" kann. Tucker und seine Kollegen bemerken auch, dass es dieselben sozialen Kortex und limbische Bereiche verbindenden Schaltkreise sind, die sich mit exekutiven Kontrollnetzwerken der Aufmerksamkeit verbinden, über die wir an früherer Stelle in diesem Kapitel im Zusammenhang mit dem Werk von Rueda, Posner und Rothbart gesprochen haben (2005). Zusammengefasst könnten wir sagen, dass die Achtsamkeit eine Form der inneren Einstimmung beinhaltet, die sich die sozialen Schaltkreise des Spiegelns und der Empathie zunutze machen könnte, um einen Zustand neuronaler Integration und flexibler Selbstregulation zu erzeugen. Das Gefühl von Sicherheit, das mit der inneren Einstimmung erzeugt wird, setzt dann ein rezeptives Gewahrsein in Gang, in dem die exekutive Aufmerksamkeit offen ist für alles, was im Feld der fortlaufenden Erfahrungen auftaucht. Das ist der reflexive Zustand des Gewahrseins, der den Kern der Achtsamkeit ausmacht.
174
Facetten des achtsamen Gehirns
Gewahrsein mit Intention Die reflexiven Qualitäten von Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflexivität sind jeweils Bestandteile des achtsamen Gewahrseins und werden nicht willkürlich erreicht, sondern mit Absicht hergestellt. Achtsamkeit bedeutet, dem gegenwärtigen Moment Aufmerksamkeit zu schenken, und zwar absichtlich. Auch wenn wir Akzeptanz ohne angestrebte Ziele erreichen mögen - eine nicht gesteuerte Form der Aufmerksamkeit -, so ist dies eine stark von Absicht geprägte Seinsweise. Statt einfach nur ein passiver Beobachter oder Kopist des Erlebens von Gewahrsein zu sein, könnte dieser absichtsvolle reflexive Zustand tatsächlich den Fluss des Gewahrseins selbst verändern. Auf diese Weise tragen Rezeptivität, Beobachtung und Reflexivität ausnahmslos zu den Veränderungen bei, die der Geist im Zuge des achtsamen Gewahrseins erfährt. Wenn wir an das Beispiel der autobiografischen Reflexion denken, einer Aktivität, die wir regelmäßig mit Patienten in der Therapie ausüben, dann können wir die Bedeutung dieses Charakteristikums des Gewahrseins mit Intention sehen. Wenn Menschen sich in ungelösten Problemen verlieren, dann ist das im Allgemeinen mit einem Abdriften in die Details ihres autobiografischen Gedächtnisses verbunden. Das hat eine exogene Qualität - die Vergangenheit, die die Person im Jetzt gefangen hält. Sie haben ihre Rezeptivität und Reflexivität verloren, selbst während sie mit Erkundungen beschäftigt sind, bei denen sie sich selbst beobachten. Im Gegensatz dazu können sich Menschen auch eines absichtsvolleren Zustands des achtsamen Gewahrseins bedienen, in dem sie mit Absicht rezeptiv und offen für das sein können, was im Moment auftaucht. In diesem reflektierenden Zustand können sie sich dafür entscheiden, ihre autobiografischen Gedächtnisspeicher in Anspruch zu nehmen, und das, was in ihr Bewusstsein gelangt, einladen, in seiner Gesamtheit hereinzukommen: Empfindungen, Bilder, Gefühle und Gedanken. In einem achtsamen Zustand können wir offen und mit Absicht den Rand des Geistes durchsuchen (SIFT), in der Bereit
Sich die Nabe nutzbar machen
175
schaft, all das durchzusehen, was in unser Bewusstseinsfeld gelangt. Die Beobachtung befähigt uns, das Selbst zu spüren und zu kennen. Die Reflexivität erzeugt ein Gewahrsein des Gewahrseins; die Rezeptivität erlaubt dem COAL-Zustand, Urteile aufzuheben. Die Heilung, die aus dieser reflektierenden Form des Gedächtnisses und der narrativen Integration einer achtsamen Erforschung hervorgeht, ist zutiefst befreiend.
Kapitel 7 Urteile über Bord werfen: Hierarchische Zwänge auflösen Das unmittelbare Erleben lässt das Gefühl entstehen, dass achtsames Gewahrsein den Einfluss des vormals Angelernten beim Empfinden der Gegenwart auflöst. Auf diese Weise verringern wir die Auswirkun-gen der automatischen Prozesse von oben nach unten, und so wird es uns zudem möglich, einen Zustand „nicht urteilenden" Erlebens zu erzeugen. Wir werden sehen, dass dieser Prozess außerdem die reflektierende Fähigkeit der „Beobachtung" beinhaltet, wenn wir die Automatik in unseren Reaktionen ausschalten.
Die Wissenschaft des „Von oben nach unten" In einem nützlichen Überblick über Kognition und das Gehirn haben Engel, Fries und Singer (2001) nahegelegt, dass
Urteile über Bord werfen
177
klassische Theorien der sensorischen Verarbeitung das Gehirn als passives, reizgesteuertes Instrument ansehen. Im Gegensatz dazu heben neuere Ansätze das konstruktive Wesen der Wahrnehmung hervor, indem sie sie als aktiven und in höchstem Maße selektiven Prozess ansehen. Es gibt sogar umfangreiche Beweise dafür, dass die Verarbeitung von Reizen durch Einflüsse von oben kontrolliert wird, die die intrinsische Dynamik von Netzwerken, an denen Thalamus und Kortex beteiligt sind, in erheblichem Maße prägen und ständig Vorhersagen über bevorstehende sensorische Ereignisse erzeugen. (S. 704) Diese Einflüsse von oben (top-down) tauchen in vielen Formen auf, wobei Forscher diesen Begriff und sein Gegenteil, von unten nach oben (bottom-up) bzw. von der Basis weg auf manchmal verwirrende Weise anwenden. Ich werde den Begriff von oben bzw. hierarchisch verwenden, um anzudeuten, wie tief verwurzelte Zustände im Gehirn sich auf auftauchende neuronale Schaltkreisaktivierungen auswirken und so unser Bewusstsein des Erlebens im gegenwärtigen Moment prägen können. Engel, Fries und Singer zufolge wird dies als „dynamizistische" Perspektive angesehen, bei der sich „von oben" bzw. „hierarchisch" auf einen Prozess bezieht, bei dem „groß angelegte Dynamiken einen vorherrschenden Einfluss auf lokales neuronales Verhalten ausüben können, indem sie örtliche Verarbeitungselemente ,unterjochen'" (Engel, Fries & Singer 2001, S. 705, Haken & Stadler 1990). Wir erleben hierarchische Einflüsse in jedem Moment unseres Lebens. Mit Hilfe des Prozesses der Achtsamkeit können wir aus den Automatismen erwachen, nicht von den großen Dynamiken „unterjocht" zu werden, die durch frühere Erfahrungen entstanden und in Glaubenssätzen in Form mentaler Modelle von Richtig oder Falsch und Urteilen von Gut und Schlecht eingeschlossen sind. Hierarchische Einflüsse kommen auch in weniger abstrakter Form, etwa als intensive emotionale Reaktionen oder körperliche Erwiderungen auf früheres Lernen, vor.
178
Facetten des achtsamen Gehirns
Diese Einflüsse von oben haben in unserer Evolutionsgeschichte einen sehr großen Überlebenswert gehabt in dem Sinne, dass sie das Gehirn befähigen, schnelle Bewertungen vorzunehmen und Informationen effizient zu verarbeiten, um dann Verhaltensweisen zu initiieren, die den Organismus überleben lassen. Generation für Generation war es so, dass je schneller die Urteile von oben erfolgten, es umso wahrscheinlicher war, dass wir als Spezies überleben konnten. Unsere persönliche Geschichte verstärkt hierarchische Prozesse vielleicht ebenfalls. Wenn wir in jedem Moment unseres Lebens Erfahrun-gen so angingen, als seien sie der erste Schritt eines Babys, dann würden wir nie zum Markt gehen. Wir müssen Berechnungen anstellen, Verallgemeinerungen vornehmen und Verhaltensweisen initiieren, die auf einer begrenzten Stichprobe von eingehenden Daten beruhen, die durch die Filter dieser mentalen Modelle geleitet worden sind. Unsere lernenden Gehirne bemühen sich, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu finden, Schlussfolgerungen zu ziehen und zu handeln. Was nun die Lebensthemen angeht, so können uns diese automatischen Filter, wenn sie zu dominant sind, davon abhalten, uns lebendig zu fühlen. Wenn der meiste Teil des Lebens in eine schon vorher existierende Kategorie der Realität eingebracht wird, dann kann dieses Leben zu einer stumpfsinnigen Routine werden, wenn wir unachtsam durch unsere Erfahrungen hindurchgehen. Die Hierarchie kann kleinere Unterschiede zum Verschwinden bringen, und nichts wird zum „außergewöhnlichen Objekt": Die subjektive Zeit wird nicht erweitert, sondern schrumpft. Ob man sich großartig amüsiert, könnte ganz wörtlich davon abhängen, dass wir es schaffen, diese Unterjochungen von oben aufzulösen und unsere Sensibilität für den Reiz des Neuen im Alltag zu verstärken. Im Gehirn könnten sich diese Einflüsse von oben in der Struktur des Neokortex zeigen. „Die Netzwerkarchitektur könnte eine ,implizite' Quelle der Einflüsse von oben darstellen, so wie zum Beispiel die Topologie der lateralen Verbindungen innerhalb der kortikalen Bereiche dafür bekannt ist, gespeicherte Vorhersagen zu verkörpern, die während der Evolution und durch erfahrungsabhängiges Lernen erworben worden sind" (Engel, Fries & Singer 2001, S. 714).
Urteile über Bord werfen
179
Prozesse von oben werden als „intrinsische Quellen kontextabhängiger Modulation der neuronalen Verarbeitung" definiert. Diese beeinflussen alle Ebenen des Systems, einschließlich der Planung, des Arbeitsgedächtnisses und der Aufmerksamkeit. Sie werden über die umfangreichen Neuronenverbände in ausgedehnten Bereichen in Aktion gebracht, zu denen unter anderem die limbische, die Parietalund die Frontalregion gehören. Diese Bereiche und ihre Repräsentationen auf höherer Ebene, die im expliziten wie impliziten Gedächtnis eingebettet sind (Fakten und autobiografisches Gedächtnis; Glaubenssätze und geistige Modelle), können die Synchronisation der inneren Rhythmen mit den äußeren Bedingungen (oder die Aktivierung/Koordinierung) der Verarbeitung neuer Wahrnehmungen und Informationen ständig beeinflussen. Wenn diese Aktivitäten „synchronisiert" werden, werden sie ganz wörtlich in der Strukturierung ihrer Aktivierungen durch die Wirkungen von oben geprägt. Darin besteht die Unterjochung. Der Hauptpunkt bei diesen Überlegungen ist, dass das neuronale Feuerverhalten großer Neuronenverbände durch vergangenes Lernen und inhärente Entwicklungsmerkmale, wie dem eigenen anlagebedingten Temperament, beeinflusst werden. Wenn man dann nach einer tieferen Essenz des eigenen Selbst zu greifen versuchte, würde man sich ganz unmittelbar gegen diese Einflüsse von oben stellen, da uns die Achtsamkeit dem reinen Bewusstsein der Erfahrung näher bringt. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass sowohl die „höheren" kortikalen Gedanken als auch die „niedrigeren" körperlichen und emotionalen Reaktionen Bestandteile dieser sekundären Verarbeitung von oben sind. Aus dieser Sicht würde sich „von unten nach oben" auf eine primäre sensorische Erfahrung beziehen, die auf das Selbstsein zurückgreift, oder noch elementarer, auf die Erfahrung unseres Kernselbst. Auf einer praktischen Ebene ist es so, dass wenn unsere vergangenen Einflüsse von oben eine Reihe von inneren „Geboten" erzeugen, wir durch diese Glaubenssätze ohne Metabewusstsein unterjocht werden und recht massiv über uns selbst und andere richten. Rezeptivität, Selbstbeobachtung und die Reflexivität der Reflektion tragen ausnahmslos dazu bei, Einflüsse von oben aufzulösen.
180
Facetten des achtsamen Gehirns
Die Wissenschaft der Verarbeitung „von unten nach oben" Auch wenn achtsames Gewahrsein mehr ist, als sich einfach nur unserer Sinne bewusst zu sein, ist der direkte Weg der Empfindung ein wichtiger Bestandteil des unmittelbaren Erlebens. Indem wir Einflüsse von oben auflösen und so das unmittelbare Erleben in den Fokus unserer Aufmerksamkeit bringen, bewegen wir uns auf eine solche Einfachheit zu und bekommen Zugang zum Selbstsein im Herzen des achtsamen Lebens. Wenn wir „zu unseren Sinnen kommen", wie Kabat-Zinn (2003b) bemerkt, dann werden wir in einer achtsamen Seinsweise gegründet, die unser Herz uns selbst und anderen gegenüber öffnet. Wenn man diese Erfahrung des vollständig Präsentseins im Moment von der Perspektive des Gehirns aus sieht, dann kann dies Licht auf die Verarbeitung von der Basis aus werfen und uns so aus dem Gefängnis des „Von oben herab" befreien. Jeder unserer acht Sinne hat einen primären neuronalen Schaltkreis, in dem wir (1) die Außenwelt über unsere ersten fünf Sinne wahrnehmen, (2) Interozeption unseres körperlichen sechsten Sinns haben, (3) „Mindsight" für die mentalen Prozesse unseres eigenen Geistes und die anderer in unserem siebten Sinn erlangen und (4) eine direkte Empfindung unserer Resonanz mit etwas Größerem als unserem alltäglichen, anpassungsfähigen Selbst in unserem achten Sinn haben. Innerhalb der Direktheit dieser acht Sinne zu leben, befähigt uns, in der physischen Welt, dem Körper, unserem Geist und unseren Beziehungen gegründet zu sein. Auf der einfachsten Ebene der Erfahrung bedingt die Verarbeitung von der Basis aus wahrscheinlich eine Verbindung der neuronalen Aktivität dieser acht Sinne mit unserem dorsolateralen (seitlichen) Präfrontalkortex, durch die wir uns des Kerns unseres Wesens bewusst werden, unseres selbstseienden Selbst. In diesem Kern zu leben vermittelt ein geerdetes Gefühl vollständiger Präsenz und Offenheit für das Aufsteigen dessen von Moment zu Moment, was sich vom Rand des Bewusstseinsrads aus anbietet. Hier ist die Nabe unseres Geistes weit und rezeptiv.
Urteile über Bord werfen
181
Die Bewegung von der Basis aus kann durch den unmittelbaren Fokus auf jeden der acht Sinne erreicht werden, aber vielleicht bestehen die effektivsten ersten Schritte darin, beim Körper zu beginnen (Ogden, Minton & Pain 2006). Wir spüren zum Beispiel unseren Atem, werden uns der Einatmung bewusst, dem Wechsel von der Ein- zur Ausatmung und dann der Ausatmung selbst. Innerhalb dieses rhythmischen Lebenszyklus', dieser allgegenwärtigen Schnittstelle unseres Körpers mit der Außenwelt, bringen wir Bewusstsein und schaffen eine Resonanz der Verbindung zwischen Aufmerksamkeit und körperlichem Selbst. Wir reiten auf der Atemwelle mit unserem Geist. Wir spüren das Wunder des Lebendigseins; wir spüren unsere Fähigkeit, die Luft zu fühlen, die uns auf dieser wundersamen Reise, die wir Leben nennen, erhält. Bald füllen die Geräusche, die uns umgeben, unser Bewusstsein aus und laden uns dazu ein, jeden der fünf Sinne zu „schmecken". In unserem MBSR-Training (Kabat-Zinn 1990) schmecken wir eine Rosine, eine einzige Rosine, mehr als fünf Minuten lang. Wer könnte die verschlungenen Falten einer getrockneten Traube erahnen? In einem Training an unserem Mindful Awareness Research Center veränderte sich nach der Rosinenübung etwas in meinem Gehirn, und als wir unmittelbar danach zum Mittagessen gingen, wurde der Salat auf meinem Teller zu einer Entdeckungsreise für meinen Gaumen, meine Ohren und meine Nase. Ich konnte nicht an der Diskussion am Tisch teilnehmen, konnte kaum sprechen, um die anderen wenigstens wissen zu lassen, warum ich nicht in der Lage war, mich in den verbalen Austausch einzubringen. Ich war da mit dem Salat, den Geschmacksnuancen und Geräuschen, mit den Gerüchen und Strukturen, die mit jedem Bissen langsam mein Bewusstsein erfüllten. Ich konnte nichts anderes tun als zu lachen - die Transformation war so vollkommen und so befreiend. Es war ein „langes Mittagessen", so kann ich jetzt sehen, denn ich aß einen Teller voller „außergewöhnlicher Objekte". Die Bewegung von der Basis aus bringt uns ins Jetzt. Ich brachte vor kurzem einer Patientin einige grundlegende Achtsamkeits-Reflektionsfähigkeiten bei (mehr darüber in Kapitel 13), und nachdem sie diese jeden Tag nur einige Minuten lang geübt hatte, sagte sie: „Toll! Dies
182
Facetten des achtsamen Gehirns
fühlt sich so an, als sei meine Seele gerade in meinen Körper zurückgekommen. Es ist erstaunlich! Wenn ich mich in meinem Kopf vollständig verloren fühle, dann ist alles, was ich tun muss, meinen Atem zu beobachten, und dann gleitet meine Seele mit einem Rauschen wieder in mich hinein. Es fühlt sich so anders an und so gut." Sich unseren Sinnen zuzuwenden bringt die Welt und unseren Körper in eine unmittelbare, einfache sensorische Fülle in unserem Bewusstsein. Wenn der Reichtum der Strukturen jener Welt von unten zu einem Teil unseres Lebens wird, dann schafft er bald eine Qualität von Erfahrung, die sich dafür anbietet, zu wissen, wann der siebte und achte Sinn ebenfalls mit unmittelbarer Einfachheit von der Basis aus gefühlt werden. Die Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Überzeugungen, Einstellungen, Intentionen und Wahrnehmungen des Geistes zu spüren ist eindeutig weniger in der physischen Welt gegründet als unsere ersten sechs Sinne. Also woher wissen wir, wann unsere Sinne so befreit wie möglich davon sind, durch die sekundären Kräfte von oben beeinträchtigt zu werden? Auf diese Frage gibt es keine leichte Antwort, weder aus der Erfahrung heraus noch vonseiten der Wissenschaft, aber das Bauchgefühl dazu ist dem Wissen verwandt, wenn unser Gewahrsein des geistigen Lebens oder unserer Beziehungen innerhalb unseres achten Sinns eine sehr stark geerdete Qualität hat. Es gibt nichts loszuwerden, keine getrübten Linsen zu reinigen, keinen Dschungel der Verteidigung und Anpassungen zu offenbaren. Einfach nur sein. Einfach nur diesen Gedanken, diese Emotion, dieses Gefühl von Verbundenheit haben. Auf diese Weise bringt das „S" des SOCK unseres Bewusstseinsstroms Daten aus dem Sektor des Randes ein, auf den wir uns gerade konzentrieren (siehe Abbildung 4.3). Achtsamkeit klärt die Ordnung von der Basis aus durch ihren komplexen Tanz von Rezeptivität, Selbstbeobachtung und reflexivem Gewahrsein. Ja, in die unmittelbare sensorische Erfahrung einzutauchen, kann ein Tor sein, um Achtsamkeitsfähigkeiten zu entwickeln. Auf diese Weise ist das achtsame Gewahrsein nicht „nur eine Aktivität von unten nach oben", denn es scheint, dass das Selbstsein allein die Versklavungen von oben nicht auflösen kann, die in unserem
Urteile über Bord werfen
183
Erwachsenenleben so vorherrschend sind. Beim achtsamen Gewahrsein entwickeln wir alle vier Ströme des Gewahrseins, die uns helfen können, direkt zu empfinden, zu beobachten, geistig zu erfassen und zu wissen. Achtsamkeit ist ein komplizierter Prozess, der Urteilsvermögen beinhaltet, das uns befähigt, die Hindernisse in Bezug auf das direkte Erleben auszumachen und hinter uns zu lassen. Mit achtsamem Gewahrsein können wir die Fülle des Lebens unmittelbar spüren und feiern, weil diese reflektive Fähigkeit weitaus mehr integriert als die herrliche Einfachheit der Empfindung von der Basis aus.
Kortex und Bewusstsein Wenn wir über das achtsame Gewahrsein sprechen, müssen wir uns anschauen, was es wirklich bedeutet, in unserem Leben „bewusst" zu sein. Neurodynamik Das Studium der Neurodynamik vermittelt uns äußerst nützliche Einblicke in die Art und Weise, wie umfangreiche und komplexe Systeme - beispielsweise das Gehirn - immer wieder verändernde Feuermuster erzeugen, die mit unserem subjektiven Erleben von Bewusstsein korrelieren könnten. Cosmelli, Lachaux und Thompson (im Druck) haben uns eine tief greifende Sicht auf diese Thematik gegeben: Eines der wichtigsten, noch offen stehenden Probleme in den kognitiven Wissenschaften ist, zu verstehen, wie das permanente bewusste Erleben mit dem Funktionieren des Gehirns und des Nervensystems zusammenhängt. Die Neurodynamik bietet einen leistungsfähigen Ansatz, weil sie einen kohärenten Rahmen bietet für Veränderung, Variabilität, komplexe räumlich-zeitliche Aktivitätsmuster und Mul-
184
Facetten des achtsamen Gehirns
tiskalenprozesse (unter anderen). Bewusstsein ist eigentlich ein dynamisches Phänomen und muss daher innerhalb eines Rahmens untersucht werden, der seine Dynamik einsichtig wiedergeben kann. Die Neurodynamik sieht das Gehirn als komplexes System mit sich selbst organisierenden Eigenschaften an. Als solch dynamische Einheit ist das Gehirn sowohl ein offenes (und kein geschlossenes) System, als auch chaotischer Aktivierungszustände fähig. Einer der wesentlichen Aspekte dieser Herangehensweise ist es, großräumige Veränderungsmuster in neuronalen Verbindungen zu untersuchen. In dieser Beziehung wird unser Verständnis des Bewusstseins, das sich noch ganz am Anfang befindet, komplexe Bewertungen elektrischer Aktivitätsmuster in weit verstreuten Regionen erfordern. Evan Thompson und der verstorbene Francisco Varela (2001) entwickelten zum Beispiel ein dreidimensionales Modell des Bewusstseins, das von Thompson und seinen Kollegen (Cosmelli, Lachaux & Thompson, im Druck) wie folgt zusammengefasst wurde: „Neuronale Prozesse, die relevant für das Bewusstsein sind, lassen sich am besten auf der Ebene großräumiger, kurzlebiger räumlich-zeitlicher Muster abbilden; die für das Bewusstsein entscheidenden Prozesse sind nicht an das Gehirn gebunden, sondern umfassen auch den in seine Umgebung eingebundenen Körper." Diese auftauchenden Prozesse zeigen, dass diejenige, die für das Bewusstsein unerlässlich sind, „mindestens drei Betriebszyklen umfassen", die Trennungen zwischen Körper, Gehirn und Welt überwinden. Hierzu zählen auch regulierende Zyklen, die zum Organismus gehören, die sensumotorische Kopplung zwischen Organismus und Umgebung sowie Zyklen intersubjektiver Interaktion. Dieser „letzte Zyklustyp hängt von verschiedenen Ebenen sensumotorischer Kopplung ab, für die insbesondere die so genannten Spiegelneuronensysteme verantwortlich sind, die ähnliche Aktivierungsmuster sowohl für selbst generierte, zielorientierte Handlungen zeigen, als auch dafür, wenn man jemand anderen dabei beobachtet, wie er dieselbe Aktion durchführt" (Rizzolatti & Craighero 2004).
Urteile über Bord werfen
185
In diesem Zusammenhang wird „Bewusstsein" als etwas gesehen, das sich über ein rein persönlich erfahrenes, von einem Gehirn ausgehendes Gewahrsein hinaus erstreckt und auch die Einbettung eines „sich bewusst seienden" Selbst in der verkörperten und relationalen Welt umfasst. Das überschneidet sich sehr schön mit unserer Definition des Geistes und ermöglicht uns auch zu sehen, inwiefern die „sensumotorische Kopplung" eine essenzielle neuronale Entsprechung des Gewahrseins sein könnte (siehe auch Kapitel 9). Wie verhalten sich sekundäre zu primären invarianten Repräsentationen? Wir haben gesehen, dass der aus sechs Schichten bestehende Kortex in unserem Gehirn neue Empfindungen von der Basis aus aufnimmt und diese primäre Form neuronalen Feuerverhaltens in der fünften und sechsten Schicht registriert. Selbst diese Inputs werden durch den Thalamus gefiltert, und so wissen wir, dass diese neuronalen Feuermuster schon recht weit entfernt von dem gespürten „Ding selbst" sind, sie vielmehr von Anfang an eine neuronale Übersetzung des sensorischen Inputs sind. Wir nennen sie „primär", weil es sich bei ihnen um den anfänglichen Input in den kortikalen Strom handelt, der lange vor dem Gewahrsein steht. Wir können Licht, Berührung, Geschmack, Klang und Geruch spüren. Wir können den Zustand unseres Körpers und die Position unserer Gliedmaßen spüren, ebenso wie die Spannung in unseren Muskeln und den Ausdruck auf unserem Gesicht. Wir können sogar den Geist selbst wahrnehmen, unmittelbar Gedanken und Bilder erleben, Hoffnungen und Träume, Erinnerungen und Sorgen in Bezug auf die Zukunft. Wir können möglicherweise sogar unsere Beziehungen spüren - in Resonanz oder in Dissonanz -, und zwar durch irgendeine kortikale Bewertung dieser inneren Zustände in unserem achten Sinn. Die primäre sensorische Erfahrung dieser acht Sinne, sogar noch vor dem Gewahrsein, beinhaltet ein neuronales Feuern der primären Bereiche, die sie verschlüsseln. Zu diesen primären Inputbereichen gehören der posteriore Kortex für die ersten fünf Sinne mit Ausnahme
186
Facetten des achtsamen Gehirns
des Geruchsinns; die somatosensorische Region und andere Bereiche des posterioren Kortex ebenso wie die Mittellinien-Präfrontalbereiche für interozeptive Daten, die aus dem neuronalen Feuerfluss durch die Inselrinde aufgenommen worden sind; die mittlere Präfrontalaktivierung, die ein Gefühl von Selbst-Gewahrsein der mentalen Prozesse erzeugt, einschließlich der Selbstbeobachtung und der Metakognition; und vielleicht die mit den Spiegelneuronen verbundenen Schaltkreise und Mittellinien-Präfrontalsysteme für ein Gefühl von Resonanz und Verbindung (siehe Anhang III). Um in das Bewusstsein einzutauchen, müssen diese „primären kortikalen Quellen" der acht Sinne dann in funktionaler Hinsicht mit dem seitlichen (dorsolateralen) Präfrontalbereich verbunden sein, damit wir uns ihres Inhalts bewusst werden. Das ist ein allgemeines Empfinden: Irgendetwas im Gewahrsein beinhaltet irgendeine Verbindung über diese seitliche Präfrontalregion. Der sensorische Prozess kann „unterhalb des Gewahrseins" passieren, in welchem Fall diese primären Bereiche aktiviert, aber nicht einfach mit dem Seitenbereich verbunden werden können. Die seitlichen und die Mittellinien-Präfrontalregionen arbeiten als Team zusammen, um das Gewahrsein zu befähigen, uns nicht nur eine spezifische Bewusstseinsqualität zu geben, sondern uns auch in die Lage zu versetzen, die nachfolgenden inneren und äußeren Reaktionen zu regulieren. Mit Gewahrsein können wir das Ergebnis unserer Reaktion wählen. Das macht das Gewahrsein nicht nur zu einem Faktor, der unser Wissen beeinflusst - das Gewahrsein verändert vielmehr die Richtung unserer zukünftigen Aktivierungen. Die Feststellung, dass der linke Präfrontalkortex durch die Achtsamkeitspraxis aktiviert zu werden scheint, ist ein wichtiges Faktum bei unserer Erforschung der Auflösung hierarchischer Prozesse (Davidson 2004, Davidson et al. 2003). Wir können Davidsons Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der narrativen Funktion der linken Hemisphäre in frühere Arbeiten von Michael Gazzaniga und anderen einordnen (Gazzaniga 2000). Obwohl die linke Hemisphäre häufig mit Logik, Sprache, Linearität und wörtlicher Verarbeitung assoziiert wird, scheint die linke Hemisphäre auch dominant für den
Urteile über Bord werfen
187
narrativen Antrieb zu sein, eine Geschichte der Ereignisse zu erzählen. In früheren Arbeiten (Siegel 1999, 2001b) ist die Ansicht vertreten worden, dass der Antrieb der linken Hemisphäre, zu erzählen, und die Dominanz der rechten bei der Speicherung des autobiografischen Gedächtnisses eine Integration von rechts und links erfordert, damit unsere Lebensgeschichten kohärent sein können. In Bezug auf das achtsame Gewahrsein können wir nahe legen, dass eine Verlagerung zu der Dominanz des linken Präfrontals im Zuge der Stressbewältigung durch Achtsamkeit nicht nur mit einem Annäherungszustand verbunden sein könnte, sondern auch die Einbeziehung des „beschreibenden und benennenden" Aspekts der narrativen Dimension der linken Hemisphäre bedeuten könnte. Unsere Lebenserfahrung wird ganz anders sein, wenn wir uns den Inhalten unseres eigenen Geistes nähern, statt sie zu vermeiden. In der Lage zu sein, mit Worten zu beschreiben, ermöglicht es uns, das, was in uns ist, anderen mitzuteilen, und dabei in vielen Fällen sogar effektiver uns selbst gegenüber zu sein. Die Erzählung beginnt als nichtsprachlicher Prozess (Damasio 1999) und scheint in der dem Gehirn innewohnenden Neigung eingebettet zu sein, zu sortieren, auszuwählen und die Myriaden von Repräsentationen innerhalb seiner neuronalen Netze zusammenzubringen. Lange vor den Worten erzeugt unser Gehirn bereits nonverbale Erzählungen, Anordnungen ausgewählter neuronaler NetzwerkFeuermuster, die dann dazu dienen, unser Weltempfinden zu ordnen. Selbst die Wahrnehmung ist auf der grundlegendsten Ebene ein Prozess des Zusammenfügens. Die Aufmerksamkeit hilft uns, den Prozess des Informationsflusses selektiv anzuleiten. Als Anordnungen neuronaler Repräsentationen in nonverbalen Clustern neuronaler Netze helfen uns diese nicht in Worte gefassten Erzählungen, die „Information" zu organisieren, die tatsächlich fließt. Im Gegenzug kann die bewusste Aufmerksamkeit, das Gewahrsein eines spezifischen sensorischen Bereichs, den Geist dann in die Lage versetzen, diese Anordnungen zu erproben und sie dann zu ordnen, indem er bestimmte auswählt und andere verwirft.
188
Facetten des achtsamen Gehirns
Wenn das Gewahrsein, das die Aktivierung der seitlichen Präfrontalregion einbezieht, mit der metakognitiven Flexibilität, Selbstbeobachtung und körperlichen Regulation der mittleren Präfrontalregionen gekoppelt wird, dann haben wir die Möglichkeit, tatsächlich automatische Cluster von Feuermustern zu entkoppeln. Mit diesem umfassenderen Empfinden des achtsamen Gewahrseins, das über das einfache Gewahrsein hinausgeht, können wir die früher etablierten Möglichkeiten, jene invarianten Repräsentationen von oben, die innerhalb des Gedächtnisses geschaffen worden sind, zu feuern, loslassen und unsere aktuellen Empfindungen gestalten und begrenzen. Das achtsame Gewahrsein ist umfassender als die bloße Aufmerksamkeit gegenüber dem gegenwärtigen Moment, ein einfaches Gewahrsein, das nicht unmittelbar unsere mittleren Präfrontalregionen einbezieht. Dies ist eine Hypothese, die durch eine empirische Untersuchung verifiziert werden sollte. Es scheint, dass sich der Empfindungen in der Gegenwart bewusst zu sein, wahrscheinlich nur darin besteht, dass man jemanden die Automatismen hierarchischer Einflüsse erleben lässt, ohne irgendeine Chance, einzugreifen, weil diese invarianten Repräsentationen ohne Metabewusstsein transparent sind - sie werden nicht als Aktivitäten des Geistes angesehen, sondern für „bare Münze genommen". Achtsames Gewahrsein erlaubt im Gegensatz dazu die Abkopplung von Automatismen (Automatismen beobachten und abkoppeln, kurz: YODA). Es könnte sein, dass die an der Achtsamkeit beteiligten Dimensionen von „Reflektion" Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflexivität beinhalteten, um die Fähigkeit zu schaffen, automatische, unveränderliche Einflüsse abzukoppeln, und sie könnten für das achtsame Gewahrsein essenziell sein. Dies kann uns helfen, die Rolle der „Beobachtung" als klar abgegrenzte Facette nur für Probanden mit Meditationserfahrung zu klären, weil sie mit der Entwicklung der Fähigkeiten stärker verfeinert und daher in einer Studie nachweisbar sein könnten. Bei der aktiven Beobachtung würden wir Folgendes erwarten: Die Beobachtung würde eine linkshemisphärische Neigung haben. Die Erzählerfunktion und der beobachtende „Zeuge" auf der linken
Urteile über Bord werfen
189
Seite des Gehirns könnten mit dem Annäherungszustand korrelieren; daraus könnte sich eine engagierte Beobachterfunktion ableiten, die vorher transparente hierarchische Einflüsse entdeckt und sich davon befreit. Mit dieser Sichtweise könnten wir dann eine Verschiebung des linken Präfrontals feststellen, das die Schichten des achtsamen Gewahrseins in die Lage versetzt, das automatische Feuern in anderen Bereichen des Gehirns zu entwirren.
Hierarchische Unterjochungen reduzieren Was liegt unterhalb der hierarchischen Einflüsse? Wie „sehen” wir eigentlich „unmittelbar"? Unseren Erkenntnissen nach besteht das Gewahrsein aus vier Strömen: Empfindung, Beobachtung, Begriffsbildung (Konzept) und Wissen. Wo würden dann die Einflüsse von oben diese Ströme prägen? Es scheint so, als sei die Beobachtung ein neutraler Zeuge, der eine klare, wenn auch unverbundene Vision ermöglichen könnte, die durch den inneren Prozess des Gewahrseins selbst erzeugt würde. Die Begriffsbildung ist mit Einflüssen aus den invarianten Repräsentationen angefüllt. Vielleicht gibt es in der kognitiven Achtsamkeit ein Bemühen, die Zwänge der voreiligen „Verhärtung der Kategorien" (Cozolino 2002) zu lockern, aber dennoch wird unser Wissensgerüst durch Sprache und die semantischen Strukturen erlernter Assoziationen geformt. Und die Empfindungen? Wie wir gesehen haben, wird der Weg von der unmittelbaren Empfindung zur zusammengesetzten Wahrnehmung durch hierarchische Vorurteile gefiltert, die unsere laufenden Erfahrungen gemäß dem gestalten, was vorher geschehen ist. Das nichtbegriffliche Wissen könnte ein tieferer Fluss von Repräsentationen sein, der unterhalb des Radars unveränderlicher Einflüsse fließt. Wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, ist das Selbstsein das reine Selbst, das unterhalb der hierarchischen Unterjochungen existieren könnte. Es könnte sein, dass das nichtbegriffliche Wissen tatsächlich auf diesen Seinszustand, dieses Selbstsein unserer Essenz, zurückgreift. Wenn das der Fall ist, dann könnte der wissende Strom
190
Facetten des achtsamen Gehirns
des Gewahrseins zusammen mit der direkten Empfindung, die vor der Wahrnehmung und dem Beobachter steht, der Weg sein, wie wir spüren können, was unterhalb des Einflusses der hierarchischen Unterjochungen liegt. Vorgefasste Ideen und Reaktionen - jene immer präsenten Einflüsse von oben darauf, wie wir die Realität erleben - aufzulösen, ist ein schwieriger Prozess. Selbst das Fallenlassen dieser Ideen erzeugt ein scheinbares Paradox. Das Problem wird zumindest mit dem direkten Erleben angegangen. Mit Zugang zum direkten Erleben in jenem achtsamen Zustand wurde eine nackte Essenz gefühlt, und andere Prozesse könnten dann als die mentale Aktivität des Geistes beobachtet werden, die sie in Wirklichkeit sind. Es ist eine lebenslange Herausforderung, und vielleicht macht die Architektur des Gehirns als einer sinnstiftenden, Muster entdeckenden und assoziativ vorwegnehmenden Maschine jene Herausforderung unvermeidlich. An diesem bestimmten Punkt in meiner eigenen Entwicklung habe ich die hierarchischen Einflüsse der verschiedenen Schichten meiner Bewusstseinsströme vollständig im Blick. Vielleicht werden sie eines Tages verschwinden und ich werde Ihnen davon berichten - aber wie mein lieber alter Professor Bob Stoller (1985) einmal geschrieben hat: „Vielleicht werde ich dann, in einhundert Jahren, auf meinem Gesäß sitzend wie ein Zen-Meister, endlich einen klaren Satz schreiben. Aber ich werde keine Worte haben". Genau jetzt, in diesem Moment, erlebe ich das genau so. Ströme in einem Tal. Ein wunderschöner Anblick, aber ein Konzept von unterschiedlichen Strömen; ein Konzept, das ich Ihnen durch diese Worte mitteilen kann. Kabat-Zinn (2003a) hat auf diese Herausforderung des begrifflichen Wissens in aller Deutlichkeit hingewiesen, als er beschrieben hat, wie ein Lehrer achtsamkeitsbasierter Interventionen persönlich Achtsamkeit praktizieren muss: Woher wird man wissen, wie man angemessen und spezifisch auf ihre Fragen antworten kann, wenn man sich nicht auf die eigene gelebte Erfahrung beziehen kann, nicht nur auf Bücherwissen und Konzepte, wenn es bei der Praxis aus-
Urteile über Bord werfen
191
schließlich darum geht, klar zu sehen und die Begrenzungen des begrifflichen Geistes zu transzendieren (sich nicht in ihnen zu verlieren oder von ihnen geblendet werden), während man natürlich den begrifflichen Geist oder die Macht und Nützlichkeit des Denkens innerhalb des größeren Kontextes des Gewahrseins nicht ablehnt? (S. 150) Die Herausforderung, innerhalb eines klinischen oder pädagogischen Rahmens zielgerichteter Aktionen mit einem Achtsamkeitsansatz zu arbeiten, scheint recht paradox zu sein. „Alles, was erforderlich wäre, wäre, ein Paar Linsen eine Zeit lang wegzuwerfen und ein neues Paar oder das, was wir die ,Nichtlinsen’ des ursprünglichen Geistes nennen könnten, in Bezug auf das zur Anwendung zu bringen, was sich von Moment zu Moment innerhalb der eigenen Erfahrung entfaltet, das heißt, durch die reine, nicht urteilende, nichtreaktive, nichtbegriffliche Aufmerksamkeit" (Kabat-Zinn, 2003b, S. 441-442). Hier sehen wir wieder die wichtige Vorstellung der Auflösung hierarchischer Einflüsse, um in einen Zustand reflektiven achtsamen Gewahrseins einzutreten. Ein solcher Zustand erfordert es, dass Menschen „mit Absicht eine Zeit lang ihren gewöhnlichen Bezugsrahmen, ihr kognitives Koordinatensystem aufheben, und einfach üben, ihren eigenen Geist und Körper zu beobachten" (S. 441). Genau dieses „kognitive Koordinatensystem" kann durch achtsames Gewahrsein aufgelöst werden. Ich weiß nicht, ob irgendjemand weiß, wie das tatsächlich zustande kommt. Aber ich würde mich gerne näher mit der Idee beschäftigen, dass die einzigartige Fähigkeit dieses Reflektionszustands mit seiner Rezeptivität, Beobachtung und Reflexivität genau das ist, was uns in die Lage zu versetzen scheint, uns aus unseren eigenen automatischen mentalen Prozessen von oben zu lösen. In jenem Moment der Beeinflussung von oben können wir uns vorstellen, dass Engels, Fries und Singers (2001) Vorstellung von Unterjochung zutreffen würde, in der die Macht der groß angelegten Anordnungen (die das Konzept in sich tragen) einen direkten Einfluss auf den manchmal vielleicht fragileren nichtbegrifflichen Wissensstrom ausübt und diesen zunichte macht.
192
Facetten des achtsamen Gehirns
Wir könnten uns vorstellen, wie wir uns in unserem Gehirn dieses nichtbegrifflichen Wissens bewusst werden, das seine Entsprechung in der Aktivierung der Zellanordnungen findet, die mit einer bestimmten Frequenz zu oszillieren beginnen, während sie ihr Feuerverhalten in einer Wiedereintrittsschleife verstärken, die letztlich in das Bewusst-sein treten kann, wenn genügend integrative Komplexität durch sie erreicht worden ist. Das erlaubt es dem „K” (knowing, Wissen), direkt gespürt zu werden, genug, um es zu fühlen, sich an es zu erinnern, mit dem SOCK zu kommen, und genügend von seiner Realität überzeugt zu sein, um Ihnen in Worten davon zu berichten. Wenn das C (concept, Konzept) die Bühne der neuronalen Anordnungen betritt, dann unterjocht der Widerhall jener hierarchischen, konzeptbasierten Schwankungen distaler Neuronen das Feuern der „K"-Anordnungen, und sie zerstreuen sich in funktionaler Hinsicht. Im Gehirn würde dies durch eingefleischte Muster von Zellverbindungen passieren, die sich durch die wiederholte Aktivierung früherer Erfahrungen verstärken - ich habe im Laufe der Zeit gelernt, wie man in Konzepten denkt. Ich habe es nicht nur gelernt, sondern ich bin „in der Schule und zu Hause emotional dafür belohnt worden", was die Neuroplastizität verstärkt, die die Verbindungen jener hierarchischen, invarianten begrifflichen Repräsentationen stärkt. Daran ist nichts falsch; es ist einfach die Realität der Stärke und des Automatismus der Einflüsse von oben. Wenn ich vollkommen achtsam sein kann, dann bin ich vielleicht in der Lage, jene Einflüsse direkt zu spüren. Es gibt einen Weg, bei dem sich diese Einflüsse in jenem bedingt offenen Zustand im Gewahrsein manifestieren, und dann scheinen sie sich, wenn der Geist sie zur Kenntnis genommen hat, einfach aufzulösen. Zu verstehen, wie eine geistige Kenntnisnahme dies ermöglichen kann, wäre ein aufregender Prozess. Ein Schlüssel könnte in der begrenzten Ressourcenfähigkeit der Aufmerksamkeit liegen: Wenn ich etwas zur Kenntnis nehme, dann verändere ich die Kraft automatischer Einflüsse, Dominanz auszuüben. Das achtsame Gewahrsein erzeugt Urteilsvermögen und kann so auf kraftvolle Weise das automatische Feuerverhalten entkoppeln.
Urteile über Bord werfen
193
Wenn wir anstreben, Freiheit von „Geboten" und automatischen Fehlansichten, die unser Leben beherrschen, zu erlangen, dann steht der Lernprozess, die Ansammlungen von Selbstsein, des reinen Gewahrseins, des nichtbegrifflichen Wissens, des Kernselbst zu verstärken, auf dem Unterrichtsplan. Wir können den Geist wirklich dazu trainieren, tiefere Wege, die Welt um uns und in uns zu erleben, zu verstärken. Wir müssen uns nicht von den Einflüssen von oben unterjochen lassen. Das ist der Prozess, um die Glaubenssätze zu überwinden und so zu den Grundlagen des Gewahrseins zu gelangen.
Zugang zum Selbstsein den Griff der persönlichen Identität lockern Der Geist fällt Urteile, während wir atmen. Das Festhalten an Urteilen loszulassen scheint im Kern einer nicht urteilenden Haltung zu stehen. Jeder Bewusstseinsstrcwn scheint das Loslassen von Urteilen auf einzigartige Weise zu unterstützen: „Nur spüren" ermöglicht es mir, die Erfahrung anzunehmen, wie sie ist. Ich könnte Empfindungen spüren - oder Beobachtung, Konzepte, oder sogar nichtbegriffliches Wissen spüren. Dennoch scheint die Beobachtung ebenfalls wesentlich dafür zu sein, um eine Dimension der Loslösung, eine Abkopplung dessen zu ermöglichen, was eine Kaskade von Reaktionen und Gregenreaktioner sein könnte, die ich jetzt einfach beobachten und nicht nur spüren könnte. Das scheint ein wesentlicher Beitrag der Achtsamkeit gegenüber dem einfachen Gewahrsein zu sein. Doch um all das zu erreichen, schien es mir, dass ich die mir von dem Lehrer mitgegebenen Konzepte brauchte, um alles anzunehmen, sogar die Worte, die dem präsenspartizipialen Wesen der geistigen Realität eine Stimme geben könnten - denken, fühlen, spüren. Statt mich in einer Erinnerung zu verlieren, könnte ich sagen (dies ist ein in Worten ausgedrücktes Konzept), „sich erinnern", und das Bild würde wie ein Luftballon hinwegschweben oder wie eine Seifenblase zerplatzen. Mit Worten beschreiben und benennen - begriffliche Prozesse -, das ist ein grundlegender Bestandteil des achtsamen Gewahrseins.
194
Facetten des achtsamen Gehirns
Und so haben mich das Gewahrsein von Empfindung, Beobachtung und Konzept in die Lage versetzt, Automatismen abzukoppeln. Doch während der Schweigeretreat-Woche wurde deutlich, dass diese drei Ströme mehr bewirkten, als mir jene Freiheit im Moment zu geben - sie öffneten einen unterirdischen Strom von Gewahrsein, jener Quelle nichtbegrifflichen Wissens, die irgendwie alles zusammenhielt. In der Stille hatte ich zunächst das Gefühl, ich könnte den Verstand verlieren, da all meine gewöhnlichen äußeren Ankerpunkte verschwunden waren und das Schiff meiner Psyche sich losgerissen hatte. Doch mit der Zeit schien es dann so, als könnte ich stattdessen meinen Geist finden. Dennoch fühlte es sich irgendwie vertraut an, so wie jemanden zu treffen, der einen „sein ganzes Leben lang geliebt hat", wie der Dichter Derek Walcott sagt, aber dennoch für selbstverständlich gehalten worden ist. Sich innerlich einzustimmen fühlte sich an wie eine Willkommensfeier, wenn man nach Hause zurückkehrt. Unsere persönliche Identität ist mit Anpassungen an eine lebenslange Liste von Erfahrungen aus unseren frühesten Tagen bis jetzt angefüllt. Die Erinnerungsschichten, die diese Ereignisse beinhalten und unser Weg, mit ihnen umzugehen, bilden ein Gerüst neuronaler Konnektivität im Gehirn, das dazu dient, unser Leben zu organisieren. Diese Organisationsstruktur, die wir „Ich" nennen, ist mit den hierarchischen Einflüssen angefüllt, die wir erforscht haben. Diese invarianten Repräsentationen sind durch emotionale Erregung verstärkt worden, welche die Neuroplastizität vergrößert. Sie sind darüber hinaus Teil einer Wiedereintrittsschleife, in der wir unser Verhalten auf der Grundlage einer bestimmten Identität ausleben, und die Welt reagiert auf eine bestimmte Weise auf uns. Wir reagieren dann unsererseits wieder auf das, wie andere uns behandeln, und das wiederum prägt unsere Verarbeitungsmuster und verfestigt unsere persönliche Identität noch weiter. Der Geist taucht aus dieser Erinnerungsmatrix auf und wird durch zwischenmenschliche und verkörperte Muster des Energie- und Informationsflusses geformt. Wir können dann sehen, dass sowohl die synaptischen Verbindungen (Erinnerung / Gedächtnis) als auch
Urteile über Bord werfen
195
die zwischenmenschlichen Reaktionen (soziale, interaktive Gewohnheiten) in einer persönlichen Identität zusammenlaufen, die wir dann als durchsichtigen Mantel mit uns herumtragen, der uns in unserer Lebensführung einschränkt. Das achtsame Gewahrsein ist eine Möglichkeit, um den Mantel der persönlichen Identität sichtbar zu machen, um unter seine Oberflächenstrukturen zu blicken. Aus dieser reflektiven Sichtweise können wir die Identität als das sehen, was sie ist, eine Organisationsstruktur, die uns zu überleben und uns an unser Leben anzupassen hilft. Unter diesem Mantel könnte ein Gefühl dessen zu finden sein, was Milan Kundera die „unerträgliche Leichtigkeit des Seins" genannt hat. Dessen Leichtigkeit könnte in der Tat so unerträglich sein, dass die meisten Menschen am Mantel der Identität festhalten, um zu vermeiden, dass sie vollständig in dem sitzen, was sich anfangs wie das Chaos des Selbstseins anfühlen könnte. Unsere persönliche Identität ist real, aber sie ist nicht alles. Dieses Bewusstsein kann Ihr Leben verändern. Auf das Selbstsein zurückzugreifen schafft Freiheit, da es uns ermöglicht, das Leben mit einem Gefühl von Neuheit und Emergenz zu erleben. Der eingeschränkte Zusammenhalt unserer persönlichen Identität kann die flexible Kohärenz des selbstseienden Selbst entstehen lassen. Die Macht des achtsamen Gewahrseins, physiologisches, psychologisches und zwischenmenschliches Wohlbefinden zu erzeugen, scheint aus dieser Freiheit zu entstehen, die einen aus dem Gefängnis der rigiden Identifikation mit den Gewohnheiten des eigenen Geistes herausholen kann. Diese identitätsgetriebenen Erinnerungen und Erwartungen, diese narrativen Lebensthemen und emotionalen Reaktionsmuster drängen uns häufig dazu, ihrem riesigen Gerüst zu entsprechen, das unsere Wahrnehmungen filtert und prägt. Hierbei geht es nicht um die Entfernung der Lebensgeschichte oder Identität eines Individuums, sondern vielmehr um die Schaffung einer kohärenten Lebensgeschichte, die den Menschen befähigt, sich aus den Zwängen der Vergangenheit zu befreien, statt sich des Zugangs zu den Erinnerungen dessen zu entledigen, was jene Person gewesen ist. „Tue dich an deinem Leben gütlich", sagen uns die Dichter. Achtsamkeit kann den Weg freiräumen, um genau das zu tun.
196
Facetten des achtsamen Gehirns
Mögliche neuronale Entsprechungen des Selbstseins Wer sind wir ohne Urteile? Wenn wir „einfach" nur neugierig, offen, akzeptierend und sogar liebevoll sind, wo ist unsere Identität dann hingegangen? Solche Fragen mögen zunächst seltsam erscheinen, doch es scheint so, das Einflüsse von oben wie Urteile, Erinnerungen, emotionale Reaktivität und Identität nicht so bereitwillig ihren Griff auf unseren Geist lockern. Was sind wir ohne sie? Der Nutzen dessen, Urteile über Bord zu werfen und Erfahrung mit Freiheit zu durchtränken, ist, dass das Leben sehr viel lohnenswerter, verbindlicher, aufregender, flexibler und psychisch gesünder wird. Wir haben die Grundidee gesehen: Dinge, wie sie sind, kollidieren mit anderen, wie unsere hierarchischen unveränderlichen Prozesse erwarten, dass sie sind. Wir schieben Empfindungen durch den Filter der Vergangenheit, um die Zukunft vorhersagbar zu machen. In diesem Prozess verlieren wir die Gegenwart. Aber weil die Gegenwart alles ist, was existiert, haben wir alles bei diesem Handel verloren. Es scheint genauso einfach zu sein. Doch es ist nicht so leicht, dies rückgängig zu machen, weil die Einflüsse von oben, die das Leben von der Basis aus unterjochen, als Sicherung eine starke neuronale Konnektivität besitzen - eine, die wesentlich mehr Macht hat als die Ungewissheit des Lebens im Hier und Jetzt. Und aus diesem Grunde erfordert achtsam zu sein Intention und Mut. Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, wie sich dieser Demontageprozess im Gehirn vollziehen könnte. Ein Gefühl dafür, wie Achtsamkeit hierarchische Einflüsse auflöst, entsteht, wenn wir die Sichtweise der groß angelegten Gruppierungen mit dem Wesen der Selbstidentität verbinden. Wir glauben, dass der gerichtete Fluss innerhalb des Kortex auf den Input aus den unteren Schichten durch einen neuen Zustand einer integrierten neuronalen Anordnung „gestört" werden könnte, die wir „achtsames Gewahrsein" nennen. Ein spezifischer neuronaler Befund könnte helfen, Licht darauf zu werfen, wie das geschehen könnte. Bei der transienten globalen Amne-sie (TGA) ist das Gefühl der persönlichen Identität eines Menschen
Urteile über Bord werfen
197
zeitweilig aufgehoben. In meinem Fall führte eine Kopfverletzung zur temporären Aussetzung des axonalen Feuerns in den Frontalbereichen des Kortex, was man als den Mechanismus ansieht, durch den das Bewusstsein vollständig intakt, die persönliche Identität aber nicht präsent ist. Das ist mehr als nur eine vorübergehende Orientierungslosigkeit, die auf eine Gehirnerschütterung folgt. In diesem Zustand gibt es Empfindungen ohne die Formen früherer, hierarchischer Erfahrun-gen, die durch den Mantel der Identität geprägt sind. Der funktionale Zustand zeigt, dass das Gehirn rohe, unmittelbare Empfindungen ohne die Zwänge persönlicher Identität erleben kann, die normalerweise das laufende Erleben filtern. Ein Schlag auf den Kopf kann die funktionalen Verbindungen lösen, welche Selbstidentität bewirken. Wenn wir über das Wesen der globalen Amnesie und die Art und Weise nachdenken, wie das achtsame Gewahrsein „unter" die hierarchischen Einflüsse der Selbstidentität gelangt, dann können wir spüren, wie jene neuronalen Bereiche innerhalb des Kortex gestört werden könnten, um so das normale neuronale Feuerverhalten außer Kraft zu setzen, das unsere laufenden Wahrnehmungen durch den Filter des Selbstseins beeinflusst. Wie in Kapitel 4 erwähnt, konnte sich der Fokus meiner Aufmerksamkeit, als ich vor vielen Jahren im Anschluss an einen Unfall jenen vorübergehenden Zustand globaler Amnesie erfuhr, klar auf die laufenden Empfindungen richten. Wir wissen, dass das Arbeitsgedächtnis, die „Tafel des Geistes", einen begrenzten Raum hat, um Repräsentationen vorn im Geist zu behalten. Dieser Prozess des Arbeitsgedächtnisses beinhaltet die seitlichen Teile des Präfrontalkortex (DLPFC). Wenn andere Regionen der Gehirnaktivitäten sich in funktionaler Hinsicht mit dieser seitlichen Präfrontalregion verbinden, und zwar über den filternden Bereich, den wir Thalamus nennen, dann treten die Repräsentationen jener weiter distal gelegenen Region in unser momentanes Bewusstsein ein. Vielleicht wirkt sich bei der globalen Amnesie der Beitrag der kortikalen Netzwerke des Selbst nicht länger auf die Filtertendenz aus, wenn Ströme neuronaler Inputs in diesen thalamokortikalen Durchlauf gelangen. Von jenem viel Raum einnehmenden Input befreit, kommen Empfindungen in ergiebigerer, roherer und relativ vorurteilsfreier Form.
198
Facetten des achtsamen Gehirns
Meine persönliche Erfahrung nach dem Unfall legt nahe, dass eine solche Hemmung der hierarchischen Einflüsse der Selbstidentität auf die laufenden Empfindungen möglich ist, zumindest bei einer funktionalen Störung. Aus diesem Grunde frage ich mich, ob man sogar eine Form des geistigen Trainings entwickeln könnte, bei dem dieselbe Art kortikaler Unterbrechung hierarchischer Einflüsse absichtlich herbeigeführt werden könnte. Wir könnten unser tiefes Empfinden eines Kernselbst, des Selbstseins, aufrechterhalten, während wir gleichzeitig die restriktiven Sinne eines „Ich" wahrnehmen (und uns davon befreien), die unser Leben ersticken und uns davon abhalten, in der Gegenwart vollständig präsent zu sein. Könnte das achtsame Gewahrsein tatsächlich eine funktionale Loslösung der groß angelegten Gruppierungen bewirken, die normalerweise unsere Selbst-Identität schaffen? Wenn man Geisteszustände als Gruppierungen weit verteilter Neuronencluster ansieht, dann können wir uns vorstellen, wie bestimmte Bewusstseinszustände (wie etwa die Achtsamkeit) direkt in diese Gruppierungen hierarchischer Einflüsse, wie der persönlichen Identität, eingreifen könnten. Wenn diese bestimmte Anordnung aktiviert wird, die nicht nur die seitlichen (für das Bewusstsein), sondern auch die mittleren (für Reflexivität, Selbstbeobachtung, Rezeptivität, Selbstregulation, Resonanz) Präfrontalbereiche einschließt, könnte es dann sein, dass die frontalen Bereiche, die bei der globalen Amnesie gestört sind, auch durch achtsames Gewahrsein verändert werden? Studien über kortikale Störungen mit Hilfe transmagnetischer Stimulation können diese Sichtweise darüber, wie das komplexe System unseres Gehirns seinen organisatorischen Strom verändern kann, unterstützen (Engel, Fries & Singer 2001; Meyer-Lindenberg, Ziemann, Hajack, Cohen & Berman 2002). Könnten diese regulativen Präfrontalbereiche solche groß angelegten Gruppierungen von Identität und andere hierarchischen invarianten Repräsentationen verändern? Wenn eine solche Verschiebung den thalamokortikalen Durchfluss verändern würde, von dem man annimmt, dass er das prägt, was in unser Bewusstsein eindringt, dann könnten wir uns vorstellen, wie sich unser bewusstes Erleben des Selbst entscheidend verändern könnte.
Urteile über Bord werfen
199
Auf welche theoretischen Ansichten können wir zurückgreifen, um diese Aussage zu stützen? James Austin (1998, 2006) hat im Rahmen seiner eingehenden Erforschung der Beziehungen zwischen zenbuddhistischer Praxis und Neurowissenschaft über einen relevanten, aber eigenständigen Prozess namens „Kensho" geschrieben. Als Neurologe verfügt er über berufliche Erfahrungen mit Störungen der neuronalen Funktionen; als Praktizierender des Zen hat er die subjektive Seite des Eintauchens in veränderte Bewusstseinszustände erfahren. Austin (2006) schrieb: Sobald man einmal über diese einfache Unterscheidung des Selbst in Sorna und Psyche hinausgeht, wird es leichter, einige Unterschiede zwischen Bewusstseinszuständen zu verstehen. Zum Beispiel verlassen die frühen, oberflächlichen Zustände der Vertiefung das Empfinden des physischen Selbst. Auf der anderen Seite verlassen die späteren Kensho-Zustände nicht nur das psychische Selbst, sondern ihre Ein-sichten transformieren den Rest unserer früheren existenziellen Konzepte in Bezug auf das, was die Realität ausmacht. Kensho hat es leichter für mich gemacht, mir die getrennten Abläufe des „Ich-mich-mein" innerhalb meines eigenen Selbst mit größerer Objektivität zu vergegenwärtigen, und darüber hinaus zu erkennen, wie tief ich überkonditioniert worden war. (S. 24-25) Austin beschrieb auch die zwei unterschiedlichen Schaltkreise im Gehirn, die er als „egozentrischen" und als „allozentrischen" Kreislauf bezeichnete. Er postulierte, dass die neuronalen Netzwerke, die für die Konstruktion eines autobiografischen narrativen Selbst wichtig sein könnten, während des Kensho-Zustands abgeschaltet sein könnten. Solche Schaltkreise könnten den Thalamus einschließen, der oben auf dem Stammhirn sitzt und als Relaisstation dient, durch die ein Großteil des Wahrnehmungs-Inputs hindurchgeht. Input aus den tieferen Strukturen unseres grundlegendsten Selbst, auf der Ebene des Stammhirns und des retikulären Aktivierungssystems, könnte diesen
200
Facetten des achtsamen Gehirns
Fluss dann unmittelbar blockieren und unsere Wahrnehmung eines egozentrischen oder allozentrischen Fokus verändern. Er wies darauf hin, dass die intralaminaren Kerne des Thalamus an der Schaffung des Hyperbewusstseins im Kensho beteiligt sein könnten, die eine Form von „Synchronie schneller Frequenz" in distaleren Regionen wie zum Beispiel dem Kortex verstärken. Diese Thalamus-Nuklei könnten dann den Prozess des Wiedereintritts gestalten, der eine Form von Resonanz innerhalb der Schleifen vom Kortex zum Thalamus und wieder zu Ersterem zurück fördert, und auf diese Weise das Funktionieren der egozentrischen und allozentrischen Netzwerke verändert. Diese Aussagen, so gab er zu, bedürften jedoch der empirischen Gültigkeitsprüfung. Newberg berichtete über ein Forschungsergebnis, dass in Momenten von „Gipfelzuständen" während der Meditation von Praktizierenden des Buddhismus und im Gebet von Nonnen eine allgemeine Abnahme der Aktivität in einer Gehirnregion stattfand, die uns hilft, unsere körperlichen Grenzen zu definieren, nämlich dem Parietalkortex (Newberg, D'Aquili & Rause 2002). Während die spezifischen Charakteristika dieser subjektiven Zustände in dieser Arbeit unklar sind, so deutet sie doch an, dass eine Entsprechung zur Verlagerung eines körperlichen Ich-Bewusstseins bei gewissen Praktiken feststellbar ist, indem man die kortikalen Regionen untersucht, die mit unserer Erfahrung von Identität in Verbindung stehen. Wir können uns auch allgemeinen Diskussionen der neuronalen Entsprechungen des Bewusstseins zuwenden, um weitere Einsichten zu gewinnen, wie es Walter Freeman (2000) in seiner faszinierenden Erörterung von Bewusstsein und Gehirn getan hat. In einem Absatz mit der Überschrift „Der Neokortex als Organ der Säugetier-Intentionalität" schrieb er: Neuere Untersuchungsergebnisse, die aus EEG-Aufzeichnungen aus der Kopfhaut von Freiwilligen gewonnen wurden ..., deuten an, dass das Zusammenwirken der Module jeder Hemisphäre ... zeigt, dass sensorische und limbische Bereiche jeder Hemisphäre schnell in einen kooperativen
Urteile über Bord werfen
201
Zustand eintreten können, der etwa eine Zehntelsekunde andauert, bevor er sich auflöst, um Platz für den nächsten Zustand zu schaffen. Die Kooperation hängt von dem Eintritt der gesamten Hemisphäre in einen globalen chaotischen Attraktor ab. (S. 229-230) Diese Aussagen deuten daraufhin, dass groß angelegte Gruppierungen in schneller Folge koordiniert werden, um ein Gefühl des Gewahrseins im Moment zu schaffen. Freeman (2000) sagte ferner, dass [seine] Hypothese sei, dass ein globales räumlich-zeitliches Muster in jeder Hemisphäre die Hauptentsprechung des Gewahrseins sei. Die interaktiven Populationen des Gehirns erschaffen ständig neue lokale Muster chaotischer Aktivität, die über weite Strecken übermittelt werden und den Bewegungsablauf des globalen Zustands beeinflussen. Auf diese Weise taucht der Inhalt des Sinns auf und wächst an Reichtum, Umfang und Komplexität ... So kann die gesamte Hemisphäre, indem sie aus den Myriaden sich verändernder Teile Einheit erreicht, nur jeweils ein globales räumlich-zeitliches Muster aufrechterhalten, aber jenes geeinte Muster springt ständig umher und produziert den chaotischen, aber zielgerichteten Bewusstseinsstrom. (S. 232) Wenn bestimmte Aspekte der frontalen Gruppierungen sich nicht in die „interaktiven Populationen", die in einen „kooperativen Zustand" eintreten, eingliedern würden, dann können wir uns vorstellen, dass eine achtsamkeitsinduzierte Form des absichtlichen Zugangs zum Selbstsein erzeugt werden könnte. Genauso wie eine transiente globale Amnesie das reine Bewusstsein permanenter Empfindungen ohne die hierarchischen Zwänge der Identität beinhaltet, könnte das achtsame Gewahrsein jene Aspekte der „Frontal-Module" davon abhalten, in die Gruppierungen permanenter bewusster Erfahrung integriert zu werden.
202
Facetten des achtsamen Gehirns
Das schnelle Empfinden direkter Erfahrung, dass sich Dinge im Bewusstsein verschieben, könnte mit Hilfe von Freemans Erörterung des richtigen Zeitpunkts veranschaulicht werden. Wenn unser Gehirn in jeder Zehntelsekunde in der Lage ist, Aktivierungszustände zusammenzusetzen, die ein Gefühl von „Jetzt-Bewusstsein" schaffen, dann wäre es recht gut möglich, schnell fluktuierende Versenkungen in, nehmen wir mal an, den vier Strömen des Gewahrseins zu haben. Das Bewusstsein könnte dann widerhallende Gruppierungen von fünf Runden der vier Ströme haben, die sich alle innerhalb von zwei Sekunden abspielen. Das subjektive Gefühl jener Zwei-Sekunden-Phase könnte wie eine gleichzeitige Präsentation jedes der vier Ströme erscheinen. Doch de facto könnte stattdessen, wenn Freeman Recht hat, ein Zehntel eines zweiten Profils auf irgendeinem Monitor erscheinen, so als ob es globale räumlich-zeitliche Sprünge gäbe anstelle des nahtlosen Flusses von Gewahrseinsströmen. Interessanterweise folgerte Daniel Stern in seiner Analyse eines Denkprozesses (2003), dass wir die Dauer des subjektiven Empfindens des gegenwärtigen Moments bei fünf bis acht Sekunden ansetzen können. Von einem neuronalen Standpunkt aus bedeutet das, dass wir mindestens fünfzig Umschreibungen von „Zuständen" haben könnten, die alle im gegenwärtigen Moment angesiedelt sind! Meinem Erleben der Gewahrseinsströme zufolge bedeutet das, dass ich in einem gegenwärtigen Moment zwischen 12 und 20 Runden jeden Stroms haben könnte, der mir ein tiefes Empfinden von Kontinuität und Klarheit in diesem „im gegenwärtigen Moment präsent sein” verleiht. Wenn der Fluss des Bewusstseins innerhalb des achtsamen Gewahrseins fließt, könnten wir in der Lage sein, unser inneres Erleben zu stabilisieren. Angesichts ständiger Stabilisierung könnten die Empfindungen lebhafter werden, die Details leichter absorbierbar und letzten Endes der Beschreibung und dem gegenseitigen verbalen Austausch zugänglich werden. Wenn man der Empfindung unterhalb der hierarchischen Ordnung näher kommt - jenem unverfälschten Selbst, das wir Selbstsein nennen, dann können wir uns vorstellen, dass das Gehirn jenen
Urteile über Bord werfen
203
Zustand synchronisieren kann —, und es so wahrscheinlicher werden lässt, dass jener Zustand auch in der Zukunft wieder erreicht wird. Beim achtsamen Gewahrsein können wir also vorschlagen, dass das Selbstsein kein „besserer" Zustand ist, der versucht, die persönliche Identität loszuwerden. Stattdessen können wir sagen, dass Achtsamkeit die Identität ausweitet, indem sie neuronalen Zugang zum direkten Erleben unterhalb der unveränderlichen hierarchischen Einflüsse gewährt. Auf diese Weise könnte das Merkmal der Achtsamkeit die großräumigen Gruppierungen der hierarchischen Schichten auflösen, so dass wir „gleichzeitig" Selbstsein und persönliche Identität erfahren können. Mit einem solchen Merkmal könnten unsere vorher restriktiven Persönlichkeitsmuster flexibler und letztlich transformiert werden. Das Zusammensetzen ausgewählter Module, die Selbstsein in das Gewahrsein hineinbringen, ist eine Fertigkeit. Diese erlernte Fähigkeit erfordert es nicht, aus dem täglichen Leben zu verschwinden, aber sie könnte es erforderlich machen, sich ihm auf neue Weise zu stellen.
Nicht urteilen Um Urteile über Bord zu werfen, müssen wir uns aus den Wiedereintrittsschleifen befreien, die die hierarchische Verarbeitung verstärken. Wir haben gesehen, dass die dynamische Definition hierarchischer Einflüsse sich auf die Art und Weise bezieht, in der diese „höheren" Prozesse, wie die Selbst-Identität, eine Übernahmemission, die als Unterjochung bezeichnet wurde, ausführen, bei der sie die „unteren" Wahrnehmungsprozesse im Augenblick formen. Dieses Formen geschieht in unserem Alltagsleben ständig und automatisch. Aber mit dem achtsamen Gewahrsein können wir davon ausgehen, dass etwas recht Tiefgreifendes geschieht. Über jenes „Im-Moment-Spüren" hinaus bezieht die Achtsamkeit die machtvollen Facetten des NichtUrteilens und der Beschreibung innerer Zustände mit ein, die mit dem Metabewusstsein und dem Wissen um den Geist als dem Geist selbst gekoppelt sind. Wir haben gesehen, dass die reflexive Kombi-
204
Facetten des achtsamen Gehirns
nation aus Rezeptivität, Beobachtung und Reflexivität wahrscheinlich das Wesen der groß angelegten Neuronenverbände, die am Bewusstsein beteiligt sind, massiv verändern kann. Indem sie uns Zugang zum Selbstsein verschaffen, können uns solche Verschiebungen befähigen, nicht an Urteilen festzuhalten. Diese Veränderung ist es, die die Automatismen hierarchischer Prozesse auflöst und sie als sichtbare statt als transparente geistige Aktivitäten verfügbar macht, die beobachtet und zur Kenntnis genommen werden können und sich so aus ihren unterjochenden Einflüssen befreien. Mit der Praxis einer solchen Abkopplung dieser automatischen Prozesse könnten wir uns vorstellen, die Konnektivität unter Zellen zu stärken, die benötigt wird, um einen solch kohärenten Zustand von Achtsamkeit zu schaffen. Wenn jemand, der mit dem achtsamen Gewahrsein befasst ist, weiterübt, dann könnte es wesentlich leichter sein, zu jenen Gruppierungen reinen Gewahrseins, dem von Selbstsein durchdrungenen, klaren Zugang zu einem Kernselbst, zu gelangen. Im Laufe der Zeit würde die Fähigkeit jener groß angelegten Gruppierung von Achtsamkeit effektiv, effizient und vielleicht (letzten Endes) mühelos eingreifen und die hierarchischen Einflüsse beseitigen, und so schließlich zu einem Charakterzug der „Persönlichkeit" des Betreffenden werden. In Forschungskategorien würde sich das in Form von dauerhaften Veränderungen bei so leicht beobachtbaren Merkmalen wie der Flexibilität des affektiven und kognitiven Stils und der Interaktionsmuster mit anderen ausdrücken. Hier würden wir sehen, dass die funktionalen Verbindungen, die Zellverbände über weit verteilte Gebiete hinweg erzeugen, der Schlüssel wären, um neuronale plastische Veränderungen im Gehirn zu identifizieren. Während wir erforschen, wie die innere Abstimmung und die neuronale Integration diese großen Gruppierungen verändern könnten, wären wir in der Lage, einen Blick darauf zu erhaschen, wie sie die Fähigkeit des Geistes fördern, dem reinen Gewahrsein unterhalb der hierarchischen Einflüsse, die uns von der Klarheit abhalten, näher zu kommen.
Urteile über Bord werfen
205
Worte „von oben" und die Poesie der Achtsamkeit Während sich diese Reise in die Achtsamkeit entwickelt hat, bin ich mir einer Sache stärker bewusst geworden, die ich früher nicht in Worte hätte fassen können, nämlich des Wesens von Präsenz. Vor einigen Jahren stieß ich zufällig auf das Werk eines irisch-katholischen Gelehrten, Philosophen und Dichters mit Namen John O'Donohue. Sein Werk Anam Cava: a book of Celtic wisdom (1997) brachte eine Saite in mir zum Erklingen. Seine Prosa las sich wie Poesie. Sie beschrieb in der Tiefe unsere Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Besonders bewegte mich seine Erörterung, wie wichtig das Alleinsein sei als ein Weg, um sich selbst zu sammeln und ein Gefühl von Balance wiederzuerlangen. Ich hatte das Glück, ein Seminar bei John O'Donohue besuchen zu dürfen, und am zweiten Tag jenes Retreats in Oregon erzählte ich die Geschichte, die sich am Vorabend ereignet hatte. Es war ein kalter Herbstabend und ich ging die ramponierten Stufen zu einem Felsenstrand hinunter. Der Himmel war mit Sternen besetzt, deren periodisches Leuchten durch die Wolkendecke hindurch sichtbar war. Während sich meine Augen an das trübe Sternenlicht gewöhnten, konnte ich den Rand der Flut sehen, die sich auf ihrem gewundenen Pfad den Strand herauf kilometerlang am Grund der steilen Klippen bewegte, die das Ufer umgaben. Als ich an einer Aushöhlung in den Felsen vorbeiging, hörte ich plötzlich ein Geräusch, und mein Herz klopfte so stark, dass ich aus meiner Sternengucker-Betäubung herausgerissen wurde. Ich wandte mich dem zu, was eine Höhle in der Klippe zu sein schien, und stellte mir einen Eindringling vor oder einen Bären oder irgendeine Art von Bedrohung. Meine Hand packte die Taschenlampe und mit dem Daumen übte ich Druck auf den Schalter aus. Während ich in die Dunkelheit starrte, wurde mir klar, dass der Schein der Lampe mir in Wirklichkeit eine klare Sicht noch weiter erschweren konnte. Ich würde die Anpassung meines Sehvermögens an das trübe Licht zunichte machen. Ich hielt die Taschenlampe vor mich und konnte mir vorstellen, wie der Strahl einen konzentrierten grellen Schein in die Höhle warf. Doch auch wenn jede begrenzte Sicht exquisite Details enthüllen würde, würde ich das große Bild der gesamten Szene verlieren.
206
Facetten des achtsamen Gehirns
Angst treibt uns dazu, einen fokussierten Lichtstrahl auf das vermeintlich Wissenswerte zu werfen, um uns sicher zu fühlen, um uns ein Gefühl von Wahrheit zu geben, um die Welt so zu haben, wie wir glauben, dass sie sein sollte. Wir haben Worte und Ideen, die das Bewusstseinsfeld eingrenzen und formen, die unsere Sinne abstumpfen lassen und unsere Vorstellung von dem, was scheinbar gewusst werden kann, prägen. Doch die eigentliche Wahrheit ist, dass jene „kognitiven Vorrichtungen" unsere Neuronen strukturieren und diese uns eine komplexe Welt zusammenreimen lassen, nur um uns dann genau in jenen Strukturen gefangen zu halten, die wir selbst produziert haben. Wenn wir heranwachsen, gehen wir mit jenen Spotlights von Aufmerksamkeit durch unser Leben, die sich selektiv nur auf das fokussieren, was wir tun müssen. Ohne die nächtliche Vision des Seins verlieren wir das reale, größere Bild aus dem Blickfeld. Wir verlieren die Essenz des Seins, den Kern des Gegenwärtigseins. Präsenz ist das nackte Gewahrsein der rezeptiven Weite unseres Geistes. Unterhalb der Schichten von Anpassung, um in der Welt zu überleben, bleibt eine kraftvolle geistige Vision, die uns befähigt, rezeptiv für all das zu sein, was ist. Es ist diese Präsenz, die die Achtsamkeit neu erschafft. Dies ist eine Neuschöpfung (re-creation), weil Kinder von früh auf diese Rezeptivität, diese Verspieltheit des Seins haben. Erholung (recreation) ist ihrem tiefsten Sinne nach eine Neuschöpfung eines spielerischen Zustands von Präsenz. Wenn wir Präsenz in anderen fühlen, dann fühlen wir die Weite die darin liegt, von ihnen aufgenommen zu werden. Und wenn wir in der Präsenz in uns selbst ruhen, dann werden andere und eigentlich die ganze Welt in unser Sein willkommen geheißen. Als ich diese Geschichte John und den anderen Mystikern - wie John seine Studenten nennt - vorgestellt hatte, da versammelten wir uns in dem kleinen Saal mit Blick aufs Meer und lachten über die Vorstellung, ich könnte von einer Bergziege angegriffen werden. Die Parallele zum Leben war klar: Wir malen uns eine Gefahr aus, und dann erzeugen wir unsere gedanklichen Konstrukte, um uns zu retten, unsere persönlichen Identitäten, um uns zu definieren und
Urteile über Bord werfen
207
einzuschränken, so dass wir wissen werden und in der Lage sind, das Ergebnis dieser wilden Reise, die wir das Leben nennen, vorherzusagen und zu kontrollieren. Solche Einflüsse von oben loszulassen, das ist die Kunst des achtsamen Gewahrseins. Die Rezeptivität von Präsenz erlaubt es uns, die Fesseln zu lösen, die uns automatisch unterjochen. Die Angst, die so häufig unausgesprochen bleibt, ist, dass wir ohne jene Struktur unseren Verstand verlieren, verrückt werden, Angreifern zum Opfer fallen und sterben werden. Worte sind die kognitiven Mittel, die wir verwenden, um uns unseren Weg durch die als unsicher erlebte Welt zu bahnen. Worte können uns befreien - als Symbole sind sie unerlässlich, um uns genügend von der Erfahrung zu distanzieren, um Muster in einem komplexen Universum zu vergleichen, gegenüberzustellen und zu offenbaren. Diese Muster mit Ideen zu sehen, die in unserem Geist vorhanden sind, ermöglicht uns auch, jene Einsichten anderen mitzuteilen. Auf diese Weise sind Worte ein wunderbarer Zugang zu Verständnis und Austausch. Dennoch können uns Worte auch verführen. Wenn wir ihre Grenzen nicht erkennen, wenn wir sie als real ansehen, dann können ihre hierarchischen Einflüsse auf unser Leben verheerend sein. Wir können zu der Überzeugung gelangen, dass „Intelligenz" etwas ist, mit dem wir entweder geboren werden oder nicht. Wir können glauben, dass „wir" gut sind und „sie" böse. Wir können sogar fühlen, dass das „Ich" etwas so Reales und Wichtiges ist, dass das „Du" keine Rolle spielt. Auf jede dieser Weisen sperrt uns unsere Linguistik ein, sie nimmt unseren Geist gefangen, sie vernebelt unsere Sicht. Doch Dichter haben einen Weg gefunden, Worte auf eine Art zu verwenden, dass sie unseren Geist befreien, unsere Sicht klären und Achtsamkeit im Moment erzeugen. Die Kunst des Dichters besteht darin, Präsenz in unser Leben zu bringen. Durch Dichtung spüren wir die Welt in einem neuen Licht. Ich habe die Direktheit der poetischen Worte auf dem Retreat gespürt - Worte, die nichts anderes zu „repräsentieren" schienen als die Essenz dessen, was sie sagten, irgendeine primäre Darstellung dessen, wovon sie sprachen. Und als ich mir die Zeit
208
Facetten des achtsamen Gehirns
nahm, mit mir selbst und der Reise am Meer entlang präsent zu sein, schienen die Worte, die auftauchten, direkt von irgendwo unterhalb der Schichten eines Alltags-„Ichs" zu kommen. Dichtung zu hören fühlt sich integrativ an. Die Wissenschaft der Sprache und des Gehirns zeigt, dass die rechte Hemisphäre eine dominante Rolle bei Worten mit doppeldeutigem Sinn einnimmt, während sich die linke auf verbale Sprache spezialisiert. Die Bildersprache, die durch Dichtung evoziert wird, scheint auch unmittelbarer die primären visuell-räumlichen Prozesse unseres Gehirns zu aktivieren, was ebenfalls eine Spezialität der rechten Gehirnhälfte ist. Auf diese Weise kann ein Dichter auf geschickte Weise einen integrierten Zustand induzieren, der die einfachen sekundären Unterjochungen schmelzen lässt, zu der der hierarchische Alltagsgebrauch von Worten werden kann. In mehreren Seminaren konnten Menschen, die sich einige Minuten lang auf den Atem konzentrierten, eine tiefere Wertschätzung für die Wirkung von Poesie entfalten (O'Donohue & Siegel 2004, 2005, 2006). Der achtsame Zustand scheint, selbst wenn nur ein Hauch davon durch einige Momente stillen Atembewusstseins oder die Reflektion über Poesie herbeigeführt wird, eine rezeptive Geistesgegenwart zu schaffen. Mit „Gegenwart" oder „Präsenz" meine ich ganz spezifisch den Zustand rezeptiven Gewahrseins unseres offenen Geistes für das, was auftaucht, während es auftaucht. Präsenz ist eine Einladung, unmittelbar zu erleben. In der Präsenz offenbart das achtsame Gewahrsein, dass hierarchische Zwänge, die die Empfindungen filtern, verzerren und einschränken, auf ein Mindestmaß reduziert werden. Ich möchte sagen, dass sie eliminiert werden, doch die Wahrnehmung ist, wie wir besprochen haben, nie „das Ding, wie es ist". Es gibt keine unfehlbare Wahrnehmung. Doch es scheint so, als ob das achtsame Gewahrsein es uns erlaubt, der klaren Sichtweise so nah zu kommen, wie wir können, dass es eine Art „Grund des Seins" oder einen gegründeten rezeptiven Zustand gibt, eine gewisse geistige Weite, die so frei ist von den Zwängen des hierarchischen Filters, wie es menschenmöglich ist. Die Dichtung könnte jene sekundären Einflüsse auflösen, weil die Worte der Gedichte nicht „für etwas anderes stehen". Gedichte haben Worte, und als linguistische Pakete müssen sie Symbole von etwas
Urteile über Bord werfen
209
anderem sein als den verschnörkelten Linien oder Schwingungen oder Klangwellen, aus denen sie bestehen. Doch ich spüre, was mit dieser Ankündigung gemeint ist, sie sind als Worte so direkt, wie sie es sein können. Genau wie die Präsenz als „reine" Form von Rezeptivität, wie nur der Geist sie aufbringen kann, besitzen auch poetische Worte jene grundlegende Essenz. Auf intime, integrative Weise transformieren Gedichte unseren Geist durch das unmittelbare Erleben. Um offen dafür zu sein, die Botschaft zu erfahren, müssen wir zumindest in dem Zustand sein, absichtlich empfangen zu wollen. Doch Gedichte können auch einen Zustand des rezeptiven achtsamen Gewahrseins aktivieren. Ich glaube, dass sie das durch die direkte Stimulation der vier Ströme des Gewahrseins tun, die in den Fluss unseres Bewusstseins fließen, um achtsame Präsenz zu erzeugen. Gedichte evozieren eine sensorische Unmittelbarkeit, die den Grund des achtsamen Gewahrseins bildet. Gedichte befähigen uns, klar zu beobachten, während sie zeigen, aber nicht erzählen. Die Bildersprache und die Empfindungen bei der Poesie scheinen alte Konzeptualisierungen in Wartestellung zu versetzen - und können unsere kognitiven Vorrichtungen an der Wurzel zum Bersten bringen, indem sie einen neuen konzeptuellen Erfahrungsrahmen schaffen. Und Gedichte bringen einen neuen Weg des Wissens in die Welt.
Eine optische Täuschung In unserem Alltagsleben dekodiert unser Gehirn Erfahrungsmuster in Konzepte, die ihrerseits das Wesen unserer Wahrnehmungen prägen. Sensorische Daten tauchen auf den unteren Ebenen unserer Kortizes auf und werden dann durch sekundäre Einflüsse der oberen kortikalen Schichten geprägt. Der Kortex scheint einen Drang zu haben, zu sortieren, zu selektieren und Daten-Bits in eine Sequenz zu bringen, um sich das zusammenzureimen, was er Moment für Moment erfährt. Das Konzept des Selbst ist ein solcher prägender Einfluss dieses Sortierprozesses. Unter normalen Bedingungen sehen wir weiterhin
210
Facetten des achtsamen Gehirns
das Selbst als getrennt, als klar definiert an. Aber wenn diese gewöhnlichen Inputs und Verstärkungen unserer hierarchischen Konzepte rückgängig gemacht werden, dann können wir vielleicht beginnen, deutlicher zu sehen, dass wir alle dieselbe grundlegende Verbindung zueinander teilen. Mit dieser Klarheit wird die Verbundenheit aller Dinge untereinander greifbar. Albert Einstein sprach von einer „optischen Täuschung" unseres getrennten Wesens - einer Täuschung, mit der wir zu kämpfen hatten, um „unseren Kreis des Mitgefühls zu erweitern". Lesen Sie, was Einstein in einem Brief einem Rabbi schrieb, der sich Hilfe dabei erbat, was er seiner Tochter sagen solle, die den Unfalltod ihrer Schwester verkraften musste (Einstein 1972): Ein Mensch ist ein Teil des Ganzen, was von uns „Universum" genannt wird, ein Teil, der in Zeit und Raum begrenzt ist. Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als etwas vom Rest Getrenntes, eine Art optischer Täuschung seines Bewusstseins. Diese Täuschung ist eine Art Gefängnis für uns; sie beschränkt uns auf unsere persönlichen Wünsche und die Zuneigung zu den wenigen Menschen, die uns am nächsten stehen. Unsere Aufgabe muss es sein, uns selbst aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir unseren Kreis des Mitgefühls so ausweiten, dass er alle lebenden Geschöpfe und die gesamte Natur in ihrer Schönheit umfasst. Niemand ist in der Lage, dies vollständig zu erreichen, doch das Streben nach einer solchen Errungenschaft ist bereits für sich genommen ein Teil der Befreiung und eine Grundlage für innere Sicherheit. (S. 165) Das könnte eine Realität sein, die durch die Linse des hierarchischen Modells der persönlichen Identität, die wir jeden Tag mit uns herumtragen, das Konzept eines getrennten Selbst, schwer zu begreifen. Indem wir uns dem selbstseienden Selbst unterhalb dieser Anpassungen nähern, indem wir einen Weg finden, uns auf unseren Geist einzustimmen, wird zunehmend ein Gefühl von Freiheit und innerer Sicherheit in unserem Leben verfügbar.
Kapitel 8 Innere Einstimmung: Spiegelneuronen, Resonanz und Aufmerksamkeit auf die Intention In diesem Kapitel werden wir in der Tiefe die möglichen neuronalen Entsprechungen des Resonanzprozesses erforschen, indem wir unsere Sichtweise der Achtsamkeit als Form innerer Einstimmung erweitern. Achtsamkeit beinhaltet, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere eigene Intention einstimmen. Natürlich ist die Achtsamkeit selbst ein intentionaler Zustand, so dass daraus die fast zungenbrecherische Aussage entsteht: eine Intention, die Aufmerksamkeit auf die der Intention zu richten, achtsam zu sein. Dies scheint eine geistige Verstärkung zu sein, die den Kern der Erfahrung bildet: die Intention, der Intention Beachtung zu schenken. Vom Standpunkt der Komplexität aus erzeugen solche Resonanzzustände eine besondere Bedingung, bei der sich das System auf eine maximale Komplexität zubewegen soll. In Beziehungen untersuchen wir die Art und Weise, wie zwei Menschen ihren gegenseitigen Inten-
212
Facetten des achtsamen Gehirns
tionen im Prozess der Einstimmung Beachtung schenken. Die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie, die dieser Perspektive zugrunde liegt, geht davon aus, dass ein offenes System, wenn es sich in einem solch eingestimmten, „resonierenden" Zustand auf Komplexität zu-bewegt, die größte Stabilität, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit erreicht. Wie wir gesehen haben, bekommen wir, wenn wir die anderen Charakteristika (nämlich kohärent und energetisiert) hinzufügen, die Eigenschaften flexibel, anpassungsfähig, kohärent, energetisiert und stabil (FACES). Der Begriff Kohärenz (coherence) selbst ist das Akronym für seine eigenen Merkmale: verbunden, offen, harmonisch, engagiert, rezeptiv, emergierend, noetisch, mitfühlend und empathisch (vgl. Anhang I). Die weniger bekannten Begriffe, emergierend und noetisch, bedeuten, dass etwas mit einem Gefühl von Frische und dem Reiz des Neuen als Emergenz [Emergenz bezeichnet das „Erscheinen" von Phänomenen auf der Makroebene eines Systems, die erst durch das Zusammenwirken der Subsysteme - die Systemelemente auf der Mikroebene - zustande kommen; Anm. d. Ü.] auftaucht; und dass wir mit der Noetik ein Empfinden eines tiefen, authentischen Wissens haben. Es gibt ein System neuronaler Kreisläufe, das Spiegelneuronensystem, das die Wahrnehmungsareale und die motorischen Areale bei der Erzeugung von Repräsentationen intentionaler Zustände miteinander verbindet. Dieses System bildet zusammen mit anderen Bereichen wie der Inselrinde, dem superioren Temporalkortex und den mittleren Präfrontalregionen den in sich zusammenhängenden „Resonanzschaltkreis" (Abbildung 8.1; siehe auch Anhang III, Resonanzschaltkreise). Man hat gezeigt, dass die Resonanzschaltkreise nicht nur Intention kodieren, sondern dass sie auch grundlegend an der menschlichen Empathie und der emotionalen Resonanz beteiligt sind, die das Ergebnis der geistigen Einstimmung zweier Menschen ist.
Mittlerer Präfrontalkortex Spiegelneuronensystem: Parietal- und Frontalbereiche
Oberer Temporalkortex
Rechte Seite
Abbildung 8.1 Der „Resonanzschaltkreis" besteht aus dem Spiegelneuronensystem (MNS), dem oberen Temporalkortex (STC), der Inselrinde (IC, auf dieser Abbildung nicht sichtbar; diese befindet sich unterhalb des Kortex, der diese Bereiche mit dem inneren limbischen System verbindet) und der mittlere Präfrontalkortex. (Siehe Abbildung 2.2 und Anhang III für spezifische Details.)
Ein System, das den Geist spiegelt Italienische Forscher haben das prämotorische Areal des Kortex eines Menschenaffen untersucht. Als der Affe eine Erdnuss verzehrte, feuerte ein einzelnes Neuron, das mit Hilfe einer implantierten Elektrode kontrolliert wurde (Gallese, Fadiga, Fogassi & Rizzolatti 1996). Gut, das war natürlich der Gegenstand ihrer Untersuchung, also war es keine große Überraschung. Was jedoch als Nächstes passierte, hat unsere neuronalen Einsichten in Bezug auf das Wesen des Geistes
214
Facetten des achtsamen Gehirns
grundlegend verändert. Als der Affe einen anderen dabei beobachtete, wie er eine Erdnuss verzehrte, feuerte dasselbe motorische Neuron! Das impliziert, dass das motorische Neuron vorn im Gehirn mit den Wahrnehmungsarealen im hinteren Teil des Gehirns verbunden war, in diesem Falle mit dem visuellen System. Niedrig gegriffen, ist das zumindest ein Beispiel für eine sensumotorische Integration eine interessante, aber nicht weiter überraschende Erkenntnis. Der aufregende Befund war allerdings, dass dieses integrierte System nur dann aktiv wird, wenn die beobachtete Bewegung zielgerichtet ist. Wenn Sie mit Ihren Händen vor dem Affen herumfuchteln, dann wird es nicht zu einer Aktivierung seiner Spiegelneuronen kommen. Die Spiegeleigenschaften implizieren, dass die Durchführung oder das Wahrnehmen einer vorsätzlichen Handlung, eines zielgerichteten Verhaltens, diese Schaltkreise aktiviert. Affen sehen, Affen tun. Als diese Spiegeleigenschaften beim Menschen von Marco Iacoboni und anderen, einschließlich der ursprünglichen Erforscher dieses Phänomens, Rizollatti und Gallese, entdeckt wurden, wurde deutlich, dass das menschliche Gehirn Repräsentationen vom Geist der anderen erzeugt (Gallese 2003, Iacoboni, im Druck, Iacoboni, Koski et al. 2001; Iacoboni, Woods et al. 1999; Rizzolatti & Craighero 2004; Gal-lese 2001; Rizzolatti, Fogassi & Gallese 2001). Auf neuronaler Ebene verankern wir in unserem Gehirn nicht nur das, was wir mit unseren physischen Augen sehen, sondern auch die geistige Intention dessen, von dem wir uns vorstellen, dass es im Geiste eines anderen vor sich geht. Das ist eine großartige Neuigkeit: Spiegelneuronen veranschaulichen das zutiefst soziale Wesen unseres Gehirns. Marco Iacoboni und ich arbeiten zusammen am Center for Culture, Brain and Development (Zentrum für Kultur, Gehirn und Entwicklung) an der UCLA (siehe Anhang I). Dort bieten wir ein Forschungs- und Bildungsprogramm für Studenten, Hochschulabsolventen und promovierte Studenten in interdisziplinärem Denken und Forschen an. Die Spiegeleigenschaften des Nervensystems sind für uns ein wichtiger Zugang, um das Wesen von Kultur zu untersuchen und herauszufinden, wie uns gemeinsame rituelle Verhaltensweisen innerhalb unserer Familien, Schulen und Gemeinden
Innere Einstimmung
215
befähigen, mit den inneren Zuständen der anderen, einschließlich deren Intentionen, in Resonanz zu gehen. Iacoboni weitete diese Ideen noch auf den Bereich der Empathie aus. Er und seine Kollegen konnten zeigen (siehe Carr, Iacoboni, Dubeau, Maziotta & Lenzi 2003), dass das Spiegelneuronensystem, das in verschiedenen Kortikalregionen, wie den Frontal- und den Parietallappen, angesiedelt ist und das unmittelbar mit der oberen Temporalregion verbunden ist, nicht nur in der Lage sein würde, intentionale Zustände von anderen zu repräsentieren, sondern dass es außerdem für die Grundmechanismen der emotionalen Resonanz zuständig sein könnte, die für Beziehungen so wesentlich sind. Diese äußeren kortikalen Prozesse der Wahrnehmung und Repräsentation von Intentionen verbinden sich mit den zentraleren limbischen und emotionalen Verarbeitungsprozessen und den Veränderungen im körperlichen Zustand durch die Inselrinde. Die Inselrinde dient als „Informationsautobahn", die auf Spiegelneuronenaktivierungen anspricht, indem sie das körperliche und limbische Feuerverhalten an das angleicht, was der Einzelne in einem anderen Menschen wahrnimmt. Die Inselrinde verbindet die Spiegelneuronenaktivierung in der Wahrnehmung mit Veränderungen im körperlichen und emotionalen Zustand, die wir in der Wissenschaft als „emotionale Ansteckung" bezeichnen und in der Alltagssprache als „emotionale Resonanz". Resonanz ist, das funktionale Ergebnis von Einstimmung, das es uns erlaubt, uns von einer anderen Person „gefühlt zu fühlen". Wir verwenden unsere ersten fünf Sinne, um die Signale eines anderen Menschen aufzunehmen. Dann nimmt das Spiegelneuronensystem diese „intentionalen Zustände" wahr und verändert über die Inselrinde den limbischen und körperlichen Zustand so, dass er dem entspricht, was wir in der anderen Person sehen. Das ist Einstimmung und sie erzeugt emotionale Resonanz. Das Spiegelneuronensystem wirkt unmittelbar mit der Inselrinde und anderen Regionen, wie dem oberen Temporalkortex, zusammen und erzeugt so das System, das wir als „Resonanzschaltkreis" bezeichnen (siehe Abbildung 8.1 und Anhang III, Resonanzschaltkreise). Spiegelneuronen verbinden die Wahrnehmung und die motorische Aktion unmittelbar miteinander
216
Facetten des achtsamen Gehirns
und interagieren eng mit diesen verbundenen Bereichen, um einen funktionsfähigen Schaltkreis zu erzeugen, der zu Verhaltensnachahmung, affektiver und somatischer Resonanz und der Abstimmung intentionaler Zustände führen kann. Der Input aus diesen Prozessen beeinflusst ganz unmittelbar die mittleren Präfrontalbereiche, die auf diese Weise in den Resonanzschaltkreis einbezogen werden. Das Phänomen der Empathie greift auf diese körperlichen und limbischen Verschiebungen in einem Prozess zurück, der als „Interozeption" bekannt ist und bei dem wir nach innen wahrnehmen -indem wir das einsetzen, was wir unseren „sechsten Sinn" genannt haben, so dass wir zu spüren vermögen, was wir in unserem eigenen Körper fühlen. Indem wir uns mit Hilfe des Präfrontalkortex, und zwar mittels des Inputs aus der Inselrinde zurück nach oben (indem wir Daten aus unserem limbischen System und verschiedenen Bereichen des Körpers weiterleiten), der Interozeption widmen, werden wir in der Lage sein, unsere Zustandsveränderungen zu interpretieren und dieselben dann anderen zuzuschreiben. Interozeption, Interpretation und Zuschreibung sind die vorgeschlagenen Schritte für die Empathie, die die Präfrontalregion in diesem „Insel-Hypothesen"-Modell von Iacoboni und Kollegen ausführt (Carr et al. 2003). Als Iacoboni und ich die klinischen Implikationen dieser Sichtweise mehr als 500 Fachleuten auf dem Gebiet psychischer Krankheiten in San Francisco vorstellten (Iacoboni & Siegel 2004), da wollte das Publikum nicht nur die wissenschaftliche Seite verstehen, sondern auch wissen, was man mit dieser Information in klinischer Hinsicht anfangen könne. Zumindest bestätigten diese Entdeckungen die Intuition eines Klinikers, dass Beziehungen im Leben eines Menschen und für dessen Wohlbefinden grundlegend sind. Doch diese Erkennt-nisse bestätigten auch, wie wichtig es für jeden von uns ist, dass wir auf unsere eigenen inneren Zustände eingestimmt sind, um uns auf andere einstimmen zu können. Dies ist der Ort, an dem sich Acht-samkeit, Empathie und Interozeption zu überschneiden scheinen. Jede dieser Qualitäten könnte die andere verstärken. Die Entdeckung der Spiegelneuronen zeigte außerdem Möglichkeiten auf, wie unser Gehirn in der Lage ist, Repräsentationen vom Geist anderer Menschen zu erzeugen.
Innere Einstimmung
217
Dies ist eine äußerst wichtige Sichtweise in Bezug darauf, wie wir auf der geistigen Ebene der Realität miteinander verbunden sind nämlich über unseren siebten Sinn, die „Mindsight". Empathie erfordert es, dass wir über unseren inneren Zustand nachdenken. Die Erzeugung von emotionaler Resonanz durch das Spiegelneuronensystem und verwandte Regionen verändert den limbischen und den körperlichen Zustand in der Weise, dass die Präfrontalregion diese Veränderungen reflektieren und so mitfühlende (mit einem anderen fühlen) und empathische (einen anderen verstehen) Reaktionen erzeugen kann. Wenn wir jene Resonanz spüren, wenn wir uns unseres Eingestimmtseins bewusst werden, dann könnte es da den achten Sinn geben, über den wir bereits gesprochen haben, in dem wir den Zustand unserer relationalen Resonanz spüren. Auf diese Weise bezieht der Resonanzschaltkreis alle acht Sinne ein und hat Anteil daran, einen kohärenten Geisteszustand zu erzeugen.
Spiegelneuronen und Achtsamkeit? Vier miteinander verbundene Dimensionen der Spiegelneuronen unseres sozialen Gehirns und verwandte, den Resonanzschaltkreis umfassende Regionen könnten es wahrscheinlich machen, dass dieses System an der Erfahrung des achtsamen Gewahrseins beteiligt ist. Soziale Schaltkreise und persönliche Reflektion Zunächst einmal scheint es vernünftig zu sein, davon auszugehen, dass wir den sozialen Schaltkreis des Gehirns verwenden, um Zustände achtsamen Gewahrseins zu erzeugen. Wie in Kapitel 1 besprochen, ist es unter der Voraussetzung, dass unsere Evolution als Spezies weitgehend durch unsere in hohem Maße sozialen Lebensund Überlebensweisen beeinflusst ist, wahrscheinlich, dass diese sozialen Netzwerke geschaffen wurden, lange bevor wir „Zeit" hatten, zu innerer Reflektion zu gelangen.
218
Facetten des achtsamen Gehirns
Unser Gehirn ist das soziale Organ des Körpers, und wie Menschen überlebt haben, ist bislang mit der Art und Weise in Verbindung gebracht worden, wie wir unseren Geist in einer sozialen Umgebung verwenden. Könnte dieses soziale Gehirn darin begründet liegen, wie wir in der Einsamkeit funktionieren? Gewiss hatten Psychologen wie Lev Vygotsky (1934/1986) und Schriftsteller wie John Dewey (1933) und George Herbert Mead (1925) die Idee vom sozialen Wesen unseres Geistes bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verfochten. Dewey und Mead erörterten die Bedeutung der Reflektion in unserem sozialen Leben. Dewey benutzte sogar den Begriff reflektive Intelligenz, um auszudrücken, wie wir unseren Geist erwecken und aufhören können, mechanisch und unbewusst zu leben (1933). Mit anderen Worten, diese Autoren legten nahe, dass wir bei der Beschäftigung mit dem Persönlichen das Soziale verwenden. Jüngere Arbeiten mit bildgebenden Verfahren weisen darauf hin, dass unsere Fähigkeit, ein Bild von unseren eigenen mentalen Prozessen zu haben und uns die mentalen Prozesse anderer vorzustellen, im Rahmen dessen, was wir „Mindsight" nennen, eng miteinander verknüpft sind (Siegel 1999, im Druck). Diese Ergebnisse unterstützen die Vorstellung, dass wir in neuronaler Hinsicht ein Gefühl von anderen in Schaltkreisen verankern, die denen ähnlich sind, in denen wir ein Gefühl von uns selbst erzeugen (Decety & Chaminade 2003; Keenan, Wheeler, Gallup & Pascual-Leone 2000). Und so können wir, während wir auf den Schultern von Giganten stehen, nach vorn schauen und uns vorstellen, dass das soziale Wesen unserer Gehirne etwas mit unserem Geist in der Einsamkeit zu tun haben könnte - unter anderem dann, wenn wir in Praktiken des achtsamen Gewahrseins vertieft sind. Sich um die Intention kümmern Ein zweiter wichtiger Gedanke, der auf die mögliche Rolle sozial bedingter Spiegelneuronen und des oberen Temporalkortex weist, ist, dass dieses System es uns ermöglicht, Intentions-Landkarten zu erzeugen. In einem sozialen Umfeld bilden wir die Intentionen von anderen
Innere Einstimmung
219
ab. Was wäre, wenn wir denselben Resonanzschaltkreis so auffassen würden, dass er uns befähigt, neuronale Karten unserer intentionalen Zustände zu erstellen? Achtsamkeit beinhaltet eine neugierige, offene, akzeptierende und liebevolle Einstellung gegenüber dem Gewahrsein des Gewahrseins. Darüber hinaus konzentrieren wir uns auf unsere intentionalen Zustände. So aktivieren wir das von uns vorgeschlagene „Selbst-Engagement-System", das uns befähigt, rezeptiv für unser eigenes Erleben zu sein und uns von Moment zu Moment auf uns selbst einzustimmen (siehe Anhang II). Während ich über diese Ideen in meiner Arbeit mit Patienten nachsann, konnte ich die Karten ihrer Intentionen in meinem eigenen Geist spüren. Ein Verständnis der transparenten und opaken Prozesse hilft bei der Erklärung dieses Phänomens. Wie in Kapitel 7 kurz erwähnt, wird die geistige Aktivität, wenn sie passiert, ohne dass wir sie als ein Ereignis des Geistes spüren, als transparent bezeichnet. Wenn die Metakognition uns befähigt, jene geistige Aktivität als Produkt unseres Geistes zu spüren, dann wird sie als opak bezeichnet. Das Bewusstsein für einen Prozess, wie eine Repräsentation der Intention zu schärfen, sensibilisiert unseren Geist und kurbelt den metakognitiven Prozess an, jene Erfahrung als geistige Aktivität zu identifizieren. Wir wissen jetzt, dass wir tatsächlich dahin gelangen können, interne Repräsentationen als die mentalen Landkarten zu spüren, die sie sind. - So wird das, was vorher ein transparentes, nahtloses Gespür von etwas war, zu einem opaken repräsentativen Prozess und als mentale Funktion, als Aktivität des Geistes beobachtet. Transparente Prozesse in opake Aktivitäten zu verwandeln, ist eine Möglichkeit, um „Einsicht" zu beschreiben. Mit Hilfe von Praxis und Führung können wir uns der Inhalte unseres eigenen Geistes als genau dessen bewusst werden: geistige Inhalte. Wie ein Vater eines jungen Patienten von mir einmal sagte, nachdem er diesen Unterschied in unserer Familiensitzung erlebt hatte: „Ich habe einfach nicht gewusst, dass meine Gefühle und Gedanken nur Aktivitäten meines Geistes sind und nicht all das, was ich bin!" Wenn dieses Metabewusstsein auftaucht, dann kommt die Kraft der Achtsamkeit zum Tragen, die hierarchischen Einflüsse eines
220
Facetten des achtsamen Gehirns
mechanischen, auf Autopilot geschalteten Lebens aufzulösen. Indem wir uns auf unser Innenleben einstimmen, werden unsere intentionalen Zustände opak. Diese Aufmerksamkeit der Intention gegenüber bezieht wahrscheinlich ganz unmittelbar die Spiegelneuronen und den oberen Temporalkortex ein. Innere Resonanz Eine dritte Dimension, die auf die mögliche Rolle der Spiegelneuronen verweist, ist, wie angesprochen, die der emotionalen Resonanz. Durch meine Ausbildung als Bindungsforscher weiß ich, dass Resonanz der Mechanismus ist, der der abgestimmten Kommunikation zwischen Eltern und Kind in einer sicheren Bindung zugrunde liegt. Wie wir bereits erörtert haben, kann das achtsame Gewahrsein als Parallelform der intrapersonalen Einstimmung angesehen werden. Wenn das wahr ist, dann könnte es sein, dass unsere eigenen Spiegelneuronen und die damit verbundenen Bereiche, die in der zwischenmenschlichen Kommunikation zur Anwendung kommen, uns befähigen könnten, mit uns selbst in Resonanz zu gehen. Sowohl zwischenmenschliche als auch intrapersonale Formen der Einstimmung könnten in ähnlicher Weise das Spiegelneuronensystem in den größeren Resonanzschaltkreis einbinden, der, wie wir dargelegt haben, die Inselrinde und die obere Temporalregion ebenso wie einige Aspekte der mittleren Präfrontalkortizes umfasst. Wenn die Einstimmung tatsächlich ein zentraler Mechanismus sowohl der Achtsamkeit als auch der Bindung wäre, dann könnte das als Erklärung dafür dienen, warum die Funktionen des mittleren Präfrontals, über die wir bereits gesprochen haben, gut entwickelt sein könnten, wenn sichere Bindungen vorhanden sind und Praktiken des achtsamen Gewahrseins geübt werden. Erinnern Sie sich, dass die mittlere Präfrontalregion ihren Input über die Inselrinde aus der limbischen und körperlichen Resonanz erhält, die über das Spiegelneuronensystem vermittelt wird. Es sind genau diese Bereiche, bei denen Lazar und seine Kollegen tatsächlich festgestellt haben, dass sie bei Individuen, die Achtsamkeitsmeditationspraktiken übten, dicker waren (Lazar et al. 2005).
Innere Einstimmung
221
Sensorische Implikationen motorischer Handlungen Der vierte Aspekt der Spiegelneuronen, der mir zu erkennen gibt, dass sie sehr eng an der Achtsamkeit beteiligt sein könnten, ist ein wenig bekannter Aspekt, der bei ihrem tatsächlichen Funktionieren im Gehirn offenkundig wird. Die Verknüpfung der Wahrnehmungsareale mit den prämotorischen Arealen ist es, die überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Wahrnehmung einer zielorientierten Handlung mit der Bereitmachung oder Ankurbelung des entsprechenden prämotorischen Planungsbereiches im Gehirn verbunden werden kann. Diese Verknüpfung ist die Repräsentation der Intention. Wie wir sehen werden, ist die Repräsentation der Intention von zentraler Bedeutung für das, was Forscher als das Herzstück der Emotion bezeichnen (Freeman 2000). So gibt uns die Art und Weise, wie wir uns auf unsere gegenseitigen Intentionen einstimmen, ein Gefühl von emotionaler Nähe. Wie wir uns auf unseren eigenen Zustand einstimmen, indem wir uns um unsere Intentionen kümmern, würde eine Art innerer emotionaler Nähe schaffen, so etwas wie „sich selbst zum besten Freund werden". Das ist die innere Einstimmung, die ein so kraftvolles Empfinden eines kohärenten Geistes vermittelt. Lassen Sie uns tiefer erforschen, wie dieses Empfinden im achtsamen Gewahrsein auftauchen könnte.
Innere Einstimmung Die Spiegelneuronen und die oberen Temporalregionen erzeugen Repräsentationen von Intention, indem sie auf zielorientierte Handlungen oder Ausdrucksformen reagieren. Die Gedächtnisforschung zeigt, in welcher Hinsicht das Gehirn ein verbindendes Organ ist, das Verbindungen zwischen weit voneinander entfernten Neuronenclustern schafft. Donald Hebb (1949) soll gesagt haben, dass „Neuronen, die zusammen feuern, sich auch miteinander verschalten" („What fires together, wires together"). Das soll heißen, dass bereits
222
Facetten des achtsamen Gehirns
bestehende Verbindungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft erneut aktiviert werden. Das ist die Grundlage für das Gedächtnis bzw. die Erinnerung. Doch das Gehirn ist auch eine „Antizipationsmaschine". Die Grundarchitektur des Gehirns als eines parallel distributed processors [das Parallel Distributed Processing (PDP) ist ein Theorieansatz der Informationsverarbeitung in neuronalen Netzen, welcher besonders die über die vernetzten neuronalen Elemente hinweg bestehenden Aktivationsmuster betrachtet, vgl. Konnektionismus; Anm. d. Ü.] ermöglicht es, aus Erfahrungen zu lernen und den nächsten Schritt in einer Abfolge von Reizen vorwegzunehmen. Im Laufe der Zeit lernt das Gehirn, wie solche Dinge wie die Schwerkraft funktionieren, so dass, „was hinaufgeht, auch wieder herunterkommt", eine erlernte Möglichkeit ist. Interessanterweise trifft das Gehirn von früh auf eine Unterscheidung zwischen unbelebten und belebten Objekten. Es gibt tatsächlich besondere Gehirnregionen, wie zum Beispiel im oberen Temporalkortex, die nur durch biologische Bewegung aktiviert werden. Diese obere, temporale Sulcusregion wird als Reaktion auf die Bewegung eines lebenden Organismus durch den Raum aktiviert - lebendige Organismen bewegen sich mit Intention (Weiteres zum oberen Temporalkortex in Anhang III, Resonanzschaltkreise). Das Spiegelneuronensystem und der obere Temporalkortex sind auf intentionale Akte eingestimmt. Dieser Resonanzschaltkreis führt seine mathematischen Ableitungen aus, indem er vorwegnimmt, was in der biologischen Bewegung als Nächstes passieren wird. Iacoboni (2005) hat diesen Prozess als „Prädiktor der Folgen eines motorischen Plans" (S. 634) beschrieben, was heißen soll, dass das Gehirn vorwegnimmt, worauf die sensorischen Veränderungen in der motorischen Bewegung des beobachteten Organismus beruhen. Wir können diese wichtige Funktion als SIMA bezeichnen (die sensorischen Implikationen motorischer Aktion). SIMA hilft dem Gehirn, seine Funktionen für das nächste vorweggenommene Ereignis anzukurbeln. Über die Verbindung zwischen Wahrnehmung und motorischer Aktion, die über das Spiegelneuronensystem geschieht, erzeugt SIMA in uns einen neuronalen Prozess, durch den wir uns nicht nur
Innere Einstimmung
223
darauf vorbereiten, vorwegzunehmen, sondern dieselbe Aktion auch selbst auszuführen! Auf diese Weise können wir als soziale Wesen so stark miteinander im Einklang sein. So lernen wir zu tanzen, uns auf einen Kuss einzulassen, an sozialen Ritualen teilzunehmen und uns empathisch aufeinander einzustimmen. Was würde passieren, wenn wir unser SIMA und die Einstimmung auf die Absichtsdimensionen unseres sozialen Resonanzschaltkreises einsetzen würden, während wir uns auf uns Selbst konzentrierten? Wir können davon ausgehen, dass wir, wenn wir ein Bild dessen, was jetzt passiert, mit einer automatischen Bereitmachung für das, was als Nächstes kommt, verbinden würden, das Gehirn einen intentionalen Zustand repräsentiert. So sind wir uns der Intention bewusst. Beachten Sie dabei, dass diese automatische Vorwegnahme eine Form der Ankurbelung und kein präfrontaler Planungsprozess ist. Die Ankurbelung bereitet uns auf das auftauchende Jetzt vor, das über dem „Horizont der Zukunft" (Stern 2003) seinen Höchststand erreicht. Im nächsten Jetzt entspricht das, was passiert, tatsächlich dem, was unser Spiegelneuronensystem vorweggenommen hat, und die Kohärenz zwischen jener Vorwegnahme und der Landkarte dessen, was sich tatsächlich ereignet hat, erzeugt einen Zustand tiefer Kohärenz. Wenn dieser ein Bestndteitl des achtsamen Gewahrseins ist, dann können wir ihn als „reflektive Koheränz” bezeichnen. SIMA würde diese Abgleichung zwischen dem, was jetzt gerade im Moment geschieht, und dem, was die Intention besagt, was im unmittelbar nächsten Moment passieren wird, berücksichtigen. Das ist keine Beschäftigung mit der Planung für die Zukunft, sondern der unvermeidliche Zustand des Gewahrseins von Moment zu Moment, wo jeder Moment mit dem abgeglichen wird, was in der unmittelbaren Vergangenheit geschehen ist. Ein solcher Prozess würde nur Zehntel von Millisekunden in Anspruch nehmen und er würde einen Zustand neuronaler Integration schaffen, der die mentale Empfindung von Kohärenz hervorbringt. Das ist die intrapersonale Einstimmung.
224
Facetten des achtsamen Gehirns
Atembewusstsein Ein Beispiel für eine intrapersonale Einstimmung wäre die Praxis des Atembewusstseins. Sie sind sich Ihrer Einatmung bewusst. Die Spiegelneuronen und der obere Temporalbereich nehmen als Teil des Resonanzkreislaufs automatisch - durch SIMA - die Ausatmung vorweg. Mit dem nächsten Taktschlag kommt tatsächlich die Ausatmung, und es kommt zu einer Entsprechung zwischen dem, was antizipiert wurde, und dem, was tatsächlich geschieht. Diese Entsprechung erzeugt Kohärenz. Natürlich ist das Gewahrsein des Ausatmens an die Antizipation des Einatmens gekoppelt, das, wenn es geschieht, SIMA mit dem Hier-und-Jetzt-Bewusstsein integriert und so reflektive Kohärenz erzeugt. Das könnte der Grund sein, warum der Atem ein so machtvoller und häufig genutzter Fokus des achtsamen Gewahrseins ist. Es ist auch interessant, festzustellen, dass jeder entspannte halbe Atemzug etwa das Intervall dauert, dass Stern (2003) als gegenwärtigen Moment definiert. Wir könnten einen ähnlichen Prozess für sich nicht bewegende Objekte der Aufmerksamkeit vorhersagen, wie einen Felsbrocken oder sogar ein mentales Bild einer Person oder Gottheit. In diesem Falle erzeugt das SIMA ein feststehendes Bild dessen, was durch jenen intentionalen Zustand vorweggenommen wird. Worum es hier geht, ist, dass die neuronale Repräsentation der Selbstintention es dem SIMAProzess mit Hilfe des achtsamen Gewahrseins ermöglicht, reflektive Kohärenz widerzuspiegeln. Wir sind aufmerksam für bzw. fokussieren unser Bewusstsein auf einen sehr spezifischen mentalen Prozess - unseren intentionalen Zustand. Dieser Bewusstseinsfokus erzeugt dann, wenn er sich in Klarheit vollzieht, ein System der doppelten Abgleichung (dual-matching system) bei dem wir eine neuronale Landkarte von Intentionen haben (die teilweise ein Produkt unserer Spiegelneuronen und unseres oberen Temporalkortex ist), und wir haben die sensorische Landkarte der ausgeführten Aktion in unserem Blickfeld. Unabhängig davon, ob sich jene sensorische Karte bewegt, wie in unserem Gewahrsein des Atems, oder ob sie feststehend ist, wie bei einem Bild, erzeugen wir eine Entsprechung zwischen der sensorischen Karte und dem intentionalen Abbild.
Innere Einstimmung
225
Des Weiteren haben wir tatsächlich eine rekursive Karte von uns selbst, die den Fokus der Aufmerksamkeit absichtlich auf unseren Intentionen hält. Einatmend, ausatmend haben wir eine Entsprechung von uns selbst als Fokus der Aufmerksamkeit, und das Abbild von uns selbst mit der Intention, aufmerksam zu sein, und den vorweggenommenen nächsten Schritt in der Abfolge: Während der Ausatmung werden wir für die Einatmung bereit gemacht, und dann kommt sie, und die Abbilder stimmen überein. Mit der Einatmung findet dieselbe vorwegnehmende Ankurbelung statt, Übereinstimmung stellt sich ein, und mit anhaltender intentionaler Aufmerksamkeit wiederholt sich dieser Ablauf. Jene übereinstimmenden Abbilder erzeugen Integration und ein tiefes Gefühl von Ganzheit und Harmonie. Das könnte der Grund dafür sein, warum etwas so „Einfaches" wie das Atembewusstsein in so vielen Kulturen als grundlegende Herangehensweise verwendet wird, um Wohlbefinden zu erzeugen. Der Atem ist ein grundlegender Bestandteil unseres Lebens. Die Atmung wird durch tiefe Stammhirnstrukturen initiiert und sie hat unmittelbare Auswirkungen auf unseren emotionalen Zustand. Dennoch kann der Atem auch intentional sein. Und aus all diesen Gründen bringt uns das Atembewusstsein zum Kern unseres Lebens. Wir kommen zu der Grenzlinie zwischen automatisch und absichtsvoll, zwischen Körper und Geist. Vielleicht schließen daher Wege zur Gesundheit den achtsamen Fokus auf den Atem ein - und zwar als Ausgangspunkt der Reise. Empfindung und Intention sind duale Repräsentationen, die kohärent aufeinander abgebildet sind. Folglich könnten wir uns vorstellen, dass die SIMA-Ankurbelung des Spiegelneuronensystems und verwandter Bereiche ein Mechanismus ist, durch den achtsames Gewahrsein, innere Einstimmung und geistige Kohärenz erzeugt werden könnten. Ein solcher resonanter Zustand könnte mit einem tiefen Empfinden von Fülle und Stabilität einhergehen, das mit jener resonanten und harmonischen Geistesverfassung, der Kohärenz, einhergeht.
226
Facetten des achtsamen Gehirns
Aufmerksamkeit auf die Intention Zwei der wesentlichen Elemente aller Praktiken des achtsamen Gewahrseins scheinen ein Gewahrsein des Gewahrseins selbst und die Ausrichtung des Fokus der Aufmerksamkeit auf die Intention zu sein. Wir haben den metakognitiven Prozess der Selbstüberwachung untersucht und gesehen, dass er mit der Aktivierung der mittleren Präfrontalregionen verbunden ist. Aber wie schenken wir wirklich der Intention Aufmerksamkeit? Wir können uns vorstellen, dass die Intention als mentaler Zustand der inneren Welt wahrscheinlich ebenfalls durch selbstreflektive mittlere Präfrontalschaltkreise bewertet wird. Wenn wir die Intention eines anderen Menschen vermuten, dann haben wir seinen (oder ihren) inneren Zustand durch die Wahrnehmung der Handlungsmuster dieser Person herausgefunden (Decety & Chaminade 2003; Decety & Jackson 2004; Frith 2002). Frith hat es so ausgedrückt: „Aktivität im Kortex des Cingulum anterior und des mittleren Präfrontalkortex wird mit dem Gewahrsein der eigenen Handlungen in Verbindung gebracht und geschieht auch dann, wenn wir über die Handlungen anderer nachdenken" (S. 481). Des Weiteren bringt er vor, dass „der Mechanismus, der dem Gewahrsein dessen zugrunde liegt, wie unsere eigenen Intentionen zu Handlungen führen, auch dazu verwendet werden kann, um die Intentionen zu repräsentieren, die den Handlungen anderer zugrunde liegen. Das gemeinsame System befähigt uns, geistige Zustände zu kommunizieren und auf diese Weise unsere Erfahrungen zu teilen" (S. 481). Intentionen erzeugen einen integrierten Zustand der Ankurbelung, eine Beschleunigung unseres neuronalen Systems, damit es den Modus einer spezifischen Intention erreicht: Wir können uns dazu bereit machen, zu empfangen, zu spüren, uns zu fokussieren oder uns auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Bei der Intention geht es nicht um rein motorische Aktionen. Wenn wir zum Beispiel die Intention haben, offen zu sein, dann wird unser Gehirn wahrscheinlich die Bereiche ankurbeln, die am Zustrom neuronalen Feuerns der Empfindungen aus den fünf Sinnen, der Interozeption des sechsten Sinns, der „Mindsight" des siebten Sinns und der relationalen Resonanz in unse-
Innere Einstimmung
227
rem achten Sinn beteiligt sind. Diese Intention, offen zu sein - nicht die Rezeptivität allein, sondern die Intention, rezeptiv zu sein ist für sich genommen etwas, das vom Geist wahrgenommen werden kann. Das ist die Wahrnehmung von Intention. Die Intention ist ein zentraler Organisationsprozess im Gehirn, der Kontinuität über den gegenwärtigen Moment hinaus erzeugt. Obwohl wir gesehen haben, dass eine Emotion im Wesentlichen als ein Prozess angesehen werden kann, der neuronale Integration widerspiegelt (Siegel 1999), scheint die Intention viele Eigenschaften zu haben, die sich mit dieser integrativen Funktion überschneiden. William Freeman (2000) hat diese Ansicht geteilt, als er konstatierte, dass „eine Möglichkeit, um die Bedeutung von Emotionen zu verstehen, darin besteht, sie mit der Intention, in der näheren Zukunft zu handeln, zu identifizieren und dann zunehmende Ebenen von Komplexität im Bereich der Kontextualisierung [dem Übernehmen von Ideen, Konzepten und religiösen Vorstellungen in einen anderen Kontext als den ursprünglichen; Anm. d. Ü.] festzustellen. In ihrer grundlegenden Form ist Emotion äußere Bewegung. Sie ist das ,Herausdehnen' von Intentionalität ..." (S. 214). Er sprach auch die neuronalen Dimensionen dieser Entsprechung von Emotion und Intention an, indem er sagte, dass der Frontallappen die Vorhersage zukünftiger Zustände und möglicher Ergebnisse, auf die das intentionale Handeln gerichtet ist, verfeinert und vervollkommnet. Die dorsalen und lateralen Bereiche des Frontallappens sind mit Logik und Beweisführung in der Vorhersage befasst. Die medialen und die ventralen Bereiche sind mit sozialen Fähigkeiten und der Fähigkeit zu tief gehenden zwischenmenschlichen Beziehungen befasst. Diese Beiträge können als Voraussicht und Einsicht zusammengefasst werden. (Freeman 2000, S. 225) Könnten diese medialen und ventralen Frontalbereiche also die Abstimmung der intentionalen Zustände dahingehend ermöglichen, dass sie eine „tief greifende Beziehung" sowohl zu anderen als auch zu
228
Facetten des achtsamen Gehirns
sich selbst ermöglichen? Hier sehen wir, dass Emotion, die mit Intention verwoben ist, der Einstimmung auf Intentionen mit emotionaler Resonanz entspricht. Wenn wir uns um die Intentionen der anderen kümmern, erzeugen wir gegenseitige Einstimmung. Indem wir uns um unsere eigenen Intentionen kümmern, erzeugen wir innere Einstimmung. Intentionale Zustände integrieren den gesamten neuronalen Zustand im Moment. Wenn wir uns auf die Intention in anderen oder uns selbst einstimmen, dann stimmen wir unseren Zustand auf denjenigen des „Wesens" ein, auf das wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren. Weil der Resonanzschaltkreis nicht nur intentionale Zustände aufdeckt, sondern sie auch im Selbst erzeugt, erzeugt die Aufmerksamkeit der Intention gegenüber Einstimmung. Wenn wir innehalten und reflektieren, wenn wir uns um unsere Intention kümmern, dann schaffen wir die Grundlage für innere Einstimmung. Wenn wir innehalten und uns die Zeit nehmen, offen für den intentionalen Zustand eines anderen Menschen zu sein, dann erzeugen wir gegenseitige Einstimmung.
Die große Bedeutung der Intention Warum sollte Intention in unserem Leben von so ausschlaggebender Bedeutung sein? Intentionen verknüpfen einen bestimmten Moment des Lebens, sie verbinden Handlungen des Jetzt mit Handlungen des unmittelbar nächsten Moments und erzeugen so den „Klebstoff", der unsere Aufmerksamkeit lenkt, Handlungen motiviert und zur Verarbeitung unserer Reaktionen beiträgt. Freeman (2000) erörtert die wichtigen Eigenschaften von Intention und Gewahrsein, indem er ihre grundlegende Rolle für die Definition von Emotionen und die Gestaltung unserer neuronalen Zustände definiert. Die entscheidende Rolle, die dieser Hypothese zufolge das Gewahrsein spielt, ist, überstürztes Handeln zu verhindern, und zwar nicht durch Hemmung, sondern durch das
Innere Einstimmung
229
Dämpfen chaotischer lokaler Fluktuationen, in der Weise, wie sie von Prigogine beschrieben wurde, nämlich durch andauernde Interaktionen, die als globale Beschränkung fungieren. So ist Gewahrsein ein Zustand höherer Ordnung, einer, der sich die Untersysteme zunutze macht, aus denen er zusammengesetzt ist, und die Wahrscheinlichkeit von chaotischen Übergängen in ihnen auf ein Mindestmaß verkleinert ... Dies ist der Teil der Intentionalität, bei dem die Folgen der gerade vollendeten Handlung organisiert und integriert werden, und eine neue in Planung ist, aber noch der Ausführung harrt. Das Bewusstsein hält vorzeitige Handlungen zurück und erhöht, indem es ihnen Zeit zum Heranreifen gibt, die Wahrscheinlichkeit, dass sich das langfristige Versprechen eines intentionalen Wesens in wohl überlegtem Verhalten ausdrückt. (S. 232—233) Wenn wir das Verhaltensmuster von jemand anderem erkunden, dann erzeugt unser Resonanzschaltkreis eine Integration der Wahrnehmungskarten und der motorischen neuronalen Landkarten - also das, was wir als Repräsentation ihres intentionalen Zustands bezeichnen. Das Gehirn macht sich die Muster entdeckenden Repräsentationen des Handelns zunutze, um ein Bild vom Geist der anderen Person zu erzeugen. Das Spiegelneuronensystem verbindet die Wahrnehmungsmuster zielorientierter Handlungen (Verhalten mit Intention und Vorhersagbarkeit) mit den motorischen Schaltkreisen des Individuums, so dass er oder sie bereit sein kann, eine ähnliche Aktion auszuführen. Der größere Resonanzschaltkreis befähigt uns auch zu wissen, „was im Geiste des anderen Menschen vorgeht", indem wir die Aktivierungen des neuronalen Netzes unseres eigenen Gehirns und Körpers untersuchen. Eine solche Nachahmung und ein solches Erspüren der Denkweise anderer haben einen unglaublichen Überlebenswert für uns als sozial vielschichtige Spezies. Wir nehmen die Bewegungen und den Ausdruck von anderen auf, nehmen die sensorischen Implikationen ihrer motorischen Aktionen (den SIMAProzess) vorweg und erzeugen dann Repräsentationen in unserem
230
Facetten des achtsamen Gehirns
Gehirn, die zeitübergreifende Muster von dem enthalten, was „war" um unser Gehirn für das hochzukurbeln, von dem wir annehmen dass es „als Nächstes" passieren wird. Was würde passieren, wenn wir von Moment zu Moment unseren Selbstzustand mit unseren Wahrnehmungen unseres eigenen, im Entstehen begriffenen Selbstzustand in Übereinstimmung brächten? Das Erahnen dessen könnte der sich entfaltende Prozess des achtsamen Gewahrseins sein. Wenn Achtsamkeit einen Fokus auf der eigenen Intention beinhaltet, dann könnten wir dies als eine Form von Gewahrsein ansehen bei der wir unsere eigenen mentalen Zustände mit uns selbst teilen Geistige Zustände zu teilen, ist die Erfahrung, die der sicheren Bindung zwischen Mutter und Kind zugrunde liegt, und eine Erfahrung, die Resilienz verleiht. Achtsamkeit kann als Weg angesehen werden, um eine sichere Bindung zu uns selbst zu schaffen. Im achtsamen Gewahrsein erzeugt die Aufmerksamkeit gegenüber der Intention in jedem Augenblick eine wichtige Resonanz von dem, was ist, und von dem, was vorweggenommen wurde. Die Bereitschaft für das unmittelbar nächste Ereignis ist tatsächlich das Objekt der Aufmerksamkeit. Das, was als Nächstes kommt, entspricht also jetzt dem, was sich im Gehirn antizipierend angebahnt hat. Diese Einstimmung auf unsere eigene Intention erzeugt meiner Meinung nach das widerhallende Gefühl von Erfahrungsfülle, während wir achtsam Tee schlürfen, spazieren gehen, atmen oder unseren Geist für das öffnen, was aufsteigt. Das ist die Kraft des achtsamen Gewahrseins, eine neue innere Welt zu erzeugen, die durch Kohärenz und den Reichtum direkten Erlebens geprägt ist.
Einige kleine Hinweise Einige Monate nach dem Schweigeretreat arbeitete ich als Mitglied des Lehrkörpers am bereits erwähnten Mind and Life Summer Research Institute, wo sich einhundertvierzig Wissenschaftler aus der ganzen Welt versammelt hatten, um wissenschaftliche Betrachtungsweisen der Kontemplation zu erforschen. Es wurden drei Vorträge über
Innere Einstimmung
231
Themen gehalten, die Daten aus Studien beinhalteten, bei denen es darum ging, in einen achtsamen Zustand des Atembewusstseins einzutreten (Brefczynski-Lewis 2006; Lazar 2006; Short 2006). Auch wenn die Autoren verständlicherweise eher nach Aufmerksamkeitsund Regulierungskreisläufen suchten, so stellten die Forscher bei allen drei Studien unabhängig voneinander fest, dass ein mit den Spiegelneuronen verbundenes Areal, die obere Temporalregion, einfach nur durch das Atembewusstsein aktiviert wurde. Andere Studien (Lazar, persönliche Mitteilung im Juni 2006) sollten außerdem zeigen, dass diese Areale zusammen mit den mittleren Präfrontalregionen aktiviert wurden (siehe Anhang III, Resonanzschaltkreise). Diese Aktivierung entspricht den von uns vorgeschlagenen Resonanzschaltkreisen. Diese aus bildgebenden Verfahren gewonnenen Untersuchungsergebnisse unterstützen die Annahme, dass das achtsame Gewahrsein - selbst das, was sich auf die Atmung beschränkt - tatsächlich unsere Resonanzschaltkreise im Gehirn, einschließlich der oberen Temporalbereiche, aktivieren könnte, und zwar zusammen mit der Inselrinde und den mittleren Präfrontalregionen. Es ist jedoch weitere Forschungsarbeit notwendig, um diese Annahme zu bestätigen und die empirischen Erkenntnisse zu reproduzieren. Bei derselben Zusammenkunft gab eine weitere Person einen Erlebnisbericht, der als Hinweis in diese Richtung dienen könnte, nämlich Achtsamkeit als eine Form von Beziehungsfähigkeit anzusehen. Eine kraftvolle Unterweisung geschah dort auf dem Podium, das ich mir mit zwei buddhistischen Mönchen teilte. Jemand aus dem Publikum hatte den Mönchen eine ziemlich direkte und persönliche Frage gestellt, die sie beschlossen, direkt zu beantworten, selbst nachdem wir ihnen einen höflichen Abgang ermöglicht hatten. Ihre aufrichtigen Gedanken über das kontemplative Leben und Leiden erfüllten den Raum mit einer Empfindung von Klarheit und Authentizität. Man konnte ihre Intention spüren, auf die mitfühlende Intention des Fragenden einzugehen. Und man konnte ihren Wunsch spüren, sich mit jedem im Raum zu verbinden. Die Rezeptivität ihrer Entgegnung und der intensive Fokus des Publikums waren elektrisierend. Nachdem sie geendet hatten, erhob ein Student seine Stimme. Seine Augen waren
232
Facetten des achtsamen Gehirns
tränenerfüllt, und er sagte etwa Folgendes: „Dieses Gefühl, das ich jetzt habe, nachdem Sie so tief aus dem Herzen über das gesprochen haben, womit wir alle ringen, gibt mir ein Gefühl tiefster Verbunden-heit mit Ihnen. Das fühlt sich genauso an, wenn ich meditiere, so klar und so voll." Ich habe später mit ihm gesprochen und konnte spüren, wie er diese Parallele bemerkt hatte: sich einerseits von den Mönchen gesehen zu fühlen und sie andererseits selbst zu sehen. Es schien mir, als spürte er diese Parallele zwischen der gegenseitigen und der intra-personalen Einstimmung. Wir können uns auch direkten Themen im Zusammenhang mit dem sozialen Schaltkreis im Gehirn zuwenden, um weitere Hinweise auf die relationale Sichtweise der Achtsamkeit zu bekommen. Mark Johnson und seine Kollegen (Johnson, Griffin, Csibra, Halit, Farroni, De Haan et al. 2005) haben sich mit Themen beschäftigt, die mit dem sozialen Schaltkreis zusammenhängen. Eine der wichtigsten Funktionen des Gehirns ist es, das Verhalten anderer Menschen zu identifizieren und dessen Bedeutung zu verstehen. Als Erwachsene haben wir Gehirnregionen, die auf die Verarbeitung und Integration sensorischer Informationen über das äußere Erscheinungsbild, Verhalten und die Intentionen anderer Menschen spezialisiert sind. Auch wenn eine Vielfalt von Regionen durch eine beliebige komplexe Wahrnehmungsaufgabe oder kognitive Aufgabe aktiviert werden kann, so scheint eine Untergruppe von Bereichen hauptsächlich für Berechnungen über soziale Stimuli zuständig zu sein, einschließlich des oberen Temporalsulcus (STS), der spindelförmigen „face area" (FFA) [eine Region innerhalb des Gyrus fusiformis, die für die Gesichtserkennung verantwortlich sein soll; Anm. d. Ü.] und des Orbitofrontalkortex. (S. 599) Sara Lazar (persönliche Mitteilung im Juni 2006) stellte fest, dass während der Achtsamkeitsmeditation sowohl der Orbitofrontalkortex als auch die obere Temporalregion und der Gyrus, der unmittel-
Innere Einstimmung
233
bar neben dem mit ihm in anatomischer und funktionaler Hinsicht verbundenen Sulcus (Furche) liegt, durchgängig aktiviert wurden (siehe Abbildung 8.2 sowie Abbildung A.l und A.2 in Anhang III, Resonanzschaltkreise). Dies unterstützt die Auffassung, dass die Achtsamkeit ein relationaler Prozess ist. Der STS ist, wie wir bereits erwähnt haben, zusammen mit dem Spiegelneuronensystem, der Inselrinde und dem mittleren Präfrontalbereich Teil des Resonanzschaltkreises. Des Weiteren haben Studien (Uddin, Kaplan, Molnar-Szakacs, Zaidel & Iacobini 2004) gezeigt, dass Spiegelneuronenbereiche in hohem Maße aktiviert werden, wenn Individuen ein sich allmählich veränderndes Gesicht sehen, das sich in ihr eigenes verwandelt. Das deutet darauf hin, dass das Spiegelneuronensystem über einen Kreislauf verfügt, der das „Selbst" abbildet. Dies passt in den Gesamtrahmen der Abbildung von Intention, bei der eine Entsprechung zwischen der Selbstabbildung und derjenigen von anderen hergestellt wird (Decety & Jackson 2004; Frith 2002; Gallese, Keyseis & Rizzolatti 2004; Ohnishi, Moriguchi, Mori, Hirakata, Imabayashi et al. 2004). Im Falle der Achtsamkeit und des Resonanzschaltkreises gehen wir davon aus, dass das Bewusstsein der Intention das beobachtete Selbst mit dem Beobachter abbildet. Die Abgleichung dieser beiden Karten - das Selbst als entstehendes und das Selbst als im Innern abgebildetes - markiert den Ort der Einstimmung der „beiden" Instanzen miteinander. Hier sehen wir die Resonanz der beiden Aspekte des Selbst und die Entstehung innerer Einstimmung.
Amygdala Oberer Temporalsulcus Spindelförmige „face area" Okzipitallappen
Abbildung 8.2 (Gesichtsverarbeitungsnetz ( C o z o l i n o 2 0 0 6 ; Neuabdruck mit ausdrücklicher G e n e h m i g u n g des Autors).
Innere Einstimmung
235
Eine Last, die von ihr genommen wurde Während des Schweigeretreats lernte ich eine 56-jährige Frau kennen, der vor kurzem ein gutartiger Tumor herausoperiert worden war, der zuvor wahrscheinlich schon über Jahrzehnte unter ihrer Stirn gewachsen war. Dieses Meningiom, ein pflaumengroßer Tumor an den Hirnhäuten, war langsam genug gewachsen, um ihr Gehirn zur Seite zu schieben, ohne dass ihr bewusst geworden war, dass etwas nicht stimmte. Nancy hatte Jahre damit zugebracht, nach innerem Frieden zu suchen. Dieser war ihr jedoch weitgehend verwehrt geblieben, trotz eines reichhaltigen und vielfältigen intellektuellen und emotionalen Lebens. Ihre Meditationspraxis bescherte ihr mehr Ruhe und wichtige Einsichten, aber erst als man ihr den Tumor entfernt hatte, erfuhr sie eine tiefgreifende Wandlung in ihrer Fähigkeit, die Weite ihres Geistes zu erfahren. Ihre Meditation wurde fruchtbarer und ihr Empfinden der Einstimmung auf ihre eigene innere Welt schien ohne Mühe aufzublühen. Nachdem ich ihr gegenüber meine Vermutung geäußert hatte, dass die Entfernung des Tumors sie tatsächlich befähigt haben könnte, die Integration wiederzuerlangen, die es der Person, die sie wirklich sein konnte, erlaubte, vollständiger zum Vorschein zu kommen, sagte sie: „Sie haben mir geholfen, etwas Mysteriöses zu verstehen. Ich bin mehr ich selbst geworden, als ich es je zuvor war. Nancy ist mehr Nancy." Diese inspirierende Frau sagte, nachdem sie unsere Mind-andMoment-Konferenz besucht hatte, Folgendes (Waring, persönliche Mitteilung im Februar 2006; siehe auch Anhang I): Ich habe die glückliche Gelegenheit gehabt, Dan davon zu berichten, dass mir ein fünf Zentimeter großes Meningiom aus dem mittleren Frontallappen entfernt worden ist und dass ich eine vollständige Stirnrekonstruktion hinter mir habe. Der Tumor und die Hyperostose, die dieser verursachte, quetschten mein Gehirn ein. Nachdem ich mich von der Operation erholt hatte, begann ich, eine ungeheure Weite, Ausgelassenheit, tief greifende Freude und einen starken Wissensdurst zu
236
Facetten des achtsamen Gehirns
erleben. Und Dan erklärte mir in seiner Weisheit, dass der Tumor auf jenen Funktionen gesessen hatte, die er fiir uns in seinem wunderbaren Vortrag über den Präfrontalkortex erhellt hat. Ich meditiere seit zwanzig Jahren. In meiner Praxis hat es viel Strebsamkeit und viel Selbstverurteilung gegeben. Doch seit mir diese Last genommen worden ist, bin ich viel eher in der Lage, mit einem ausgeglichenen und mich selbst akzeptierenden Bemühen zu meditieren. Ich bin immer erpicht darauf gewesen, die „intrapersonale Einstimmung" weiterzuentwickeln, um hier einmal Dans Sprache zu gebrauchen. Jetzt scheint das ganz von selbst zu passieren. Nancy bietet uns hier eine einzigartige Krankengeschichte (Waring, in Vorbereitung), die nahe legt, dass unsere Fähigkeit, in achtsame Zustände einzutreten, durch Druck auf das Gehirn, um nicht zu sagen, spezifischen Druck auf die mittlere Präfrontalregion, beeinflusst wird. Ihre Befreiung von diesem Tumor und das nachfolgende mühelose „Schwelgen in dem, was ist", ist ein weiterer Hinweis auf die Beteiligung dieser mittleren Präfrontalregion am achtsamen Gewahrsein.
Neuronale Entsprechungen des Selbst und des Bewusstseins Unser Selbstgefühl verändert sich, wenn wir achtsames Gewahrsein erleben. Dieses Gefühl von Kohärenz kann erforscht werden, indem wir uns ansehen, wie die Aktivität des Gehirns mit Dimensionen des Selbst in Verbindung gebracht worden ist. Das Gehirn gestaltet ständig die tiefen Schichten seiner eigenen Aktivität. Eine „neuronale" Landkarte ist ein Cluster neuronalen Feuerns bzw. ein neuronales Aktivierungs-Netzprofil, das für das „Ding" steht, das es abbildet. Antonio Damasio (1999) hat mindestens drei Ebenen von Abbildungen des Selbst identifiziert. Auf der elementaren Ebene haben wir „Karten erster Ordnung", die die tieferen Stammhirnstrukturen und deren fortlaufendes Feuern lebensbejahender Pro
Innere Einstimmung
237
zesse, wie es die Atem- und die Herzrhythmen sind, abbilden - das Protoselbst. Wir haben wenig Bewusstsein von ihnen, aber sie entsprechen in neurologischer Hinsicht unserem elementaren, reinen Erleben von Moment zu Moment. Als Nächstes haben wir „Karten zweiter Ordnung", in denen das Protoselbst zum Zeitpunkt 1 dem Protoselbst zum Zeitpunkt 2 gegenübergestellt wird. Dieses nannte Damasio das „Kernselbst" und es beinhaltet das Ereignis, das das Protoselbst im Laufe der Zeit innerhalb des Feldes der Aufmerksamkeit verändert haben könnte. Das wird Kernbewusstsein genannt und existiert im Hier und Jetzt. Schließlich haben wir noch eine „Karte dritter Ordnung", die dahingehend wirkt, dass sie die Veränderung im Kernselbst über die Zeit hinweg abbildet. Wie sich die Beschleunigung zur Geschwindigkeit verhält, so verhält sich das autobiografische Selbst zum Kernselbst. Ein autobiografisches Selbst beinhaltet eine Verbindung zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ähnlich der mentalen Zeitreise, die Endel Tulving als Teil des autonoetischen Bewusstseins, also des sich selbst kennenden Bewusstseins, skizziert hat (Tulving 1993). Wir bringen die Repräsentationen aus der Vergangenheit in einen Fokus, so wie sie in Verbindung zur Zukunft stehen und unsere gegenwärtigen Erfahrungen überlagern. Wir können davon ausgehen, dass das achtsame Gewahrsein für alle Schichten des Selbst und für alle Bewusstseinsformen offen ist. In diesem rezeptiven Zustand können wir mit dem Gefühl eines autobiografischen Selbst erfüllt werden, seine Funktion jedoch als eine Aktivität des Geistes sehen. Wir können also die Hier-und-JetztUnmittelbarkeit des sensorischen Erlebens spüren, die Derivate des Tanzes unseres Protoselbst mit der Welt. Tatsächlich sind alle Gewahrseinsströme, die den Fluss des Bewusstseins füllen, innerhalb der offenen Nabe der Achtsamkeit willkommen. Es wäre leicht zu sagen, dass die Achtsamkeit wie das Kernbewusstsein sei, im Hier und Jetzt existierend, und vielleicht wäre das ein guter Ausgangspunkt. Aber wenn man dort aufhört, erfasst man nicht das Empfinden, dass die Achtsamkeit eine integrierte, vielschichtige Dimension des Gewahrseins beinhaltet, die darüber hinausgeht, einfach nur im Moment zu spüren und die Verän-
238
Facetten des achtsamen Gehirns
derungen im Protoselbst abzubilden, wie es das Kernselbst tut. Wenn das Hier und Jetzt den kognitiven Fluss des Dort und Dann und des Was-wäre-wenn umfasst, dann könnte das unsere Kernerfahrung all jener Informationsflüsse sein. Der achtsame Zustand ist ebenso sehr mit Metabewusstsein durchtränkt wie mit dem Gewahrsein dessen, was ist. Ich vermute, wir könnten sagen, dass die Achtsamkeit nie einer Kognition begegnet ist, die ihr nicht gefallen hat. Über diese wichtige Offenheit der Achtsamkeit hinaus gibt es auch die Perspektive von Achtsamkeit, die durch die Aufmerksamkeit der Intention gegenüber erzeugt wird. Indem wir uns unserer Intentionen gewahr werden, erzeugt der Geist eine Repräsentation jenes intentionalen Zustands, der kein bloßes Gefühl ist, sondern als Aktivität des Geistes selbst gespürt wird. Lassen Sie uns der Vorstellung nachgehen, wie das Kernselbst durch das Spüren seiner eigenen Intentionen verändert wird. Hier sehen wir, dass eine resonante Qualität erzeugt wird, in der das Protoselbst (Zeitpunkt 1), das Ereignis (die eigene Intention mit Klarheit und Akzeptanz spüren) und das Protoselbst (Zeitpunkt 2, die Abgleichung und Vorwegnahme von Protoselbst 1, wie es seinen eigenen Zustand durch den SIMA-Prozess integriert) stehen. Das Kernempfinden ist hier ein Empfinden tief greifender Kohärenz: Es besteht eine Klarheit der Verbindung, eine deutliche Entsprechung in der Abbildung zweiter Ordnung der beiden Protoselbste und der Beobachtung der eigenen Intention. Das ist die widerhallende Fülle des Kernselbst innerhalb des achtsamen Gewahrseins. Mit einem COAL-Zustand ist diese Beobachtung der Intention ein geteilter intentionaler Zustand, ähnlich dem, was Gallese (2006) als „intentionale Einstimmung" für zwischenmenschliche Beziehungen und die Essenz unserer intrapersonalen Einstimmung genannt hat. Wir können Damasios Rahmen hier anwenden, um festzustellen, dass die Abbildung dieser Veränderungen im Protoselbst als Reaktion auf das Ereignis des Beobachtens der eigenen Intention zur Abbildung des Beobachtens und Auftauchens, des Beobachteten und Aufgetauchten führt, wenn diese kohärent koordiniert werden. Das ist die kohärente Resonanz achtsamer Zustände.
Innere Einstimmung
239
Ankurbelung und die Gegenwart Der SIMA-Prozess wird hier wichtig bei der Beschreibung, wie sich das Kernselbst auf dem achtsamen Gewahrsein abbildet. Wie wir im Zusammenhang mit dem Fokus auf dem Atem gesehen haben, spürt das Kernselbst seine eigene Intention, und dann bereitet der SIMAProzess des Resonanzschaltkreises das Kernselbst auf das vor, was im unmittelbar nächsten Moment geschehen wird. Das ist keine Planung oder eine Flucht aus der Gegenwart, um sich Sorgen um die Zukunft oder über die Vergangenheit zu machen - vielmehr ist dies die uns angeborene neuronale Eigenschaft des Priming (Ankurbelung). Die Ankurbelung zeigt, in welcher Hinsicht das Gehirn eine Antizipationsmaschine ist, die sich immer für den nächsten Moment bereit macht. Es scheint so, als ob dies eine grundlegende Eigenschaft neuronaler Schaltkreise ist - auf diese Weise lernen sie als parallel distributed processors aus Erfahrung. Im Gegensatz dazu ist die Planung eine präfrontale Erfindung, in der Repräsentationen vergangener Erfahrungen zu Konzepten abstrahiert werden, die es uns erlauben, über das nachzugrübeln, was passiert ist, und das zu durchdenken, was wir gerne in der Zukunft tun würden. Das ist in anatomischer, neurologischer und subjektiver Hinsicht etwas ganz anderes als die Priming-Empfindung des „Nächsten". Sensorische Implikationen motorischer Aktionen (SIMA) befähigen die Wahrnehmungskreisläufe dazu, unsere Intentionen zu spüren, das antizipatorische Ankurbeln einzuschalten, das uns für den nächsten Moment bereit macht, und dann ständig die Veränderungen im System zu überwachen, um die Ankurbelung für den unmittelbar nächsten Moment fortzusetzen. Das ist, in Begriffen des Gehirns ausgedrückt, das „Jetzt". Man kann dem Jetzt nicht näher kommen als auf diese Weise. Und wenn wir die Kraft der absichtlichen Einstimmung einsetzen, um ein System widerhallender Aktivierungen zu erhalten, dann haben wir dort die Ursprünge unserer neuronalen Synchronie.
Reflektive Kohärenz: Neuronale Integration und die Funktion des mittleren Präfrontalkortex Sich um Intentionen zu kümmern, könnte beinhalten, den Geist auf seinen eigenen Zustand einzustimmen. Genau wie die Achtsamkeit es uns erlaubt, die Aktivitäten des Geistes mittels unseres Urteilsvermögens als das zu spüren, was sie sind, so wird die Intention zu einer weiteren geistigen Aktivität - einer, die vielleicht komplexer ist, jedoch ebenfalls zum Bereich des mentalen Lebens gehört. Wie wir gesehen haben, könnte das Gewahrsein der Intention eine besondere Funktion haben, die darüber hinausgeht, dass es sich einfach nur um eine weitere Dimension handelt, um den Randsektor des siebten Sinns, die „Mindsight"-Sichtweise des Geistes selbst, wahrzunehmen. Das Gewahrsein der eigenen Intention könnte nämlich der Weg zu einer speziellen Form von innerer Einstimmung sein, einer sicheren Beziehung zu sich selbst, welche die neuronale Integration
Reflektive Kohärenz
241
Wie wir im vorhergehenden Kapitel detailliert gesehen haben, könnten für diese innere Einstimmung die sozialen Resonanzschaltkreise des Gehirns verantwortlich sein, einschließlich des Spiegelsystems und der damit verbundenen Bereiche, die das Selbst als beobachtetes und als beobachtendes Selbst abbilden. Diese Einstimmung erzeugt einen Zustand innerer Resonanz. Wir möchten im Folgenden zeigen, dass die wiederholte Aktivierung solcher eingestimmter Zustände zu neuroplastischen Veränderungen mit der strukturellen Folge einer neuronalen Integration führt. Bei einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind sieht man außerdem die Einstimmung auf den inneren Zustand — doch in diesem Falle auf den einer anderen Person. Wie wir gesehen haben, scheint etwas ganz Besonderes aufzutauchen, wenn sich der Geist auf die inneren Funktionsweisen eines Geistes einstimmt, insbesondere auf die tiefere Intention, die dem Verhalten zugrunde liegt. Wenn Eltern sich lediglich um das offenkundige Handeln kümmern, dann verpassen sie die Chance, sich auf den Geist ihres Kindes sowie auf die Gefühle und Intentionen, die sein Verhalten steuern, einzustimmen. Kinder blühen auf, wenn sie das Glück haben, Eltern zu besitzen, die sich auf ihre innere Welt fokussieren. Sowohl bei der intrapersonalen als auch bei der gegenseitigen Einstimmung stimmt sich ein Geist auf die affektiven und intentionalen Zustände eines anderen ein, und jeder profitiert davon.
Konvergenz finden Sowohl in Praktiken des achtsamen Gewahrseins als auch bei der sicheren Bindung scheint es Zielkriterien zu geben, die den unabhängig erfassten Funktionen des mittleren Präfrontalkortex entsprechen. Tucker, Luu und Derryberry (2005) haben wichtige Einsichten in einige der relevanten Dimensionen der Gehirnfunktion gegeben. Die Fähigkeit, die bewusste Aufmerksamkeit mit emotionaler Erfahrung zu verbinden, könnte fiir das empathische Erleben
242
Facetten des achtsamen Gehirns
wesentlich sein. Obwohl wir jetzt die erforderlichen neuronalen Netze und Kreisläufe analysieren können, scheinen diese neuronalen Mechanismen nicht ohne die entsprechende Entwicklungserfahrung funktionsfähig zu werden. (S. 707) Wir können sagen, dass die „Erfahrung", die in der Kindheit in Form der Bindung zu den Eltern benötigt wird, bis zu einem gewissen Maße mit der inneren Einstimmung in der Achtsamkeitspraxis gleichgesetzt werden kann. Die Autoren haben Werke zitiert, die die Ansicht stützen, dass nicht nur „Gehirnaktivierungen, die die Erfahrung des anderen zu spiegeln scheinen, sondern auch die frontale Mittellinienaktivität (Cingulum anterior und Cingulum posterior sowie der Frontalpol) die sich selbst regulierenden Mechanismen widerzuspiegeln scheint, die für die Verlagerung von Selbst-Anderen-Perspektiven wesentlich sind. Diese kortikolimbischen Netzwerke überschneiden sich in bedeutender Weise mit den Aufmerksamkeitskontrollnetzen des Gehirns" (Tucker, Luu & Derryberry 2005, S. 707; Rueda et al. 2005). Hier sehen wir, dass die Prozesse der Entwicklung von Aufmerksamkeits- und Einstimmungsfähigkeiten zu sich gegenseitig verstärkenden Ergebnissen führen, nämlich zu adaptiver Selbstregulation. Präfrontalschaltkreise sollen eine zentrale Rolle in vielen Dimensionen der Überwachung und anschließenden Koordinierung der Aktivität weit verstreuter Gehirnareale und Bereiche des Körpers spielen. Dieselben Regionen sind es, die die Aufmerksamkeit regulieren und die ein grundlegender Bestandteil des sozialen Schaltkreises im Gehirn sind. Tatsächlich weist eine große Anzahl von Forschungen darauf hin, dass diese sich selbst regulierenden Präfrontalregionen, insbesondere die mittleren Präfrontalregionen, für ihre Entwicklung von angemessenen Erfahrungen mit engen Bezugspersonen abhängen. Mit anderen Worten, Beziehungserfahrungen fördern die Entwicklung der Selbstregulation im Gehirn. Wenn Achtsamkeit als sichere Beziehung zu sich Selbst angesehen wird, dann können wir auch davon ausgehen, dass diese Form der inneren Einstimmung ebenso die gesunde Aktivierung und das nachfolgende Wachstum derselben sozialen und selbstregulativen Präfrontalregionen fördert.
Reflektive Kohärenz
243
Sieben Funktionen der mittleren Präfrontalregionen werden mit beiden Formen von Einstimmung assoziiert: die Körperregulation, eingestimmte Kommunikation, emotionale Ausgeglichenheit, Reaktionsflexibilität, Empathie, sich selbst kennendes Gewahrsein und Angstmodulation. Auch wenn sie bisher noch nicht im Bereich der Bindung untersucht worden ist, scheinen sich durch die Achtsamkeitspraxis auch noch die beiden verbleibenden Funktionen Intuition und Moral zu entwickeln (Kabat-Zinn 2003b; Ackerman et al. 2005). Diese Achtsamkeits-Einstimmungshypothese deutet darauf hin, dass die Einstimmung des Geistes auf seine eigenen mentalen Prozesse ein wesentliches Merkmal der Praktiken des achtsamen Gewahrseins ist. Die sozialen neuronalen Kreisläufe, die an dieser Einstimmung beteiligt sind, könnten die mittleren Präfrontalregionen einschließen, die Inselrinde, den oberen Temporalkortex und das Spiegelneuronensystem. Diese Regionen umfassen die Resonanzschaltkreise und befähigen einen Geist, mit dem inneren Zustand eines anderen zu „resonieren", und man nimmt an, dass sie im Kern der Erfahrung stehen, den Geist auf seine eigenen inneren Prozesse einzustimmen. Dieser Vorschlag würde die Aktivierung dieser Regionen vorhersagen, und letzten Endes auch die Stärkung der synaptischen Verbindungen in ihnen. Sara Lazars Feststellung von der stärkeren Dicke in den mittleren Präfrontal- und den Inselrindenregionen stimmen mit dieser Vorhersage überein. Des Weiteren unterstützen ihre Forschungsergebnisse und die anderer Forscher die Sichtweise von der Aktivierung der Resonanzschaltkreisbereiche (des oberen temporalen und des mittleren Präfrontalkortex) im achtsamen Gewahrsein des Atems, wie wir es im letzten Kapitel ausgeführt haben (BrefczynskiLewis 2006; Lazar 2006; Short 2006).
Wissenschaftliche Warnung Es handelt sich hier um verbindende Konvergenzen, die unseren Blick in eine bestimmte Richtung lenken. Es werden weitere Studien benötigt, um diese Vermutung zu bestätigen, nämlich, dass die
244
Facetten des achtsamen Gehirns
Resonanzschaltkreise im Allgemeinen und der soziale Schaltkreis im Besonderen am achtsamen Gewahrsein beteiligt sind (siehe Anhang III, Resonanzschaltkreise). Doch in der Wissenschaft müssen wir klare Hypothesen formulieren, die dann rigoros getestet werden können. Um solche Hypothesen aufzustellen, müssen wir unsere Vorstellungskraft einsetzen und auf den Daten aufbauen und die Implikationen bereits existierender Ergebnisse ebenso wie die neuen Möglichkeiten einbeziehen, wie wir das Wesen der Realität artikulieren könnten. Um die Wissenschaft voranzutreiben, ist es hilfreich, weite Bereiche einzubeziehen, so dass neue Fragen gestellt und entsprechende Studien entwickelt werden können, die die Fragen beantworten und ihre Vorhersagen beweisen oder widerlegen. Darin besteht das Vorgehen der Wissenschaft, das es uns ermöglicht, jene Fragen zu stellen, die letzten Endes auch beantwortet werden können. Ich werde einige elementare und überprüfbare Aspekte dieser Hypothese hervorheben, die vielleicht nützlich sein wird, um die notwendigen Studien zur Verifizierung oder Widerlegung ihrer Gültigkeit durchzuführen. Mit der Skizze einer Beziehung zwischen Einstimmung und Achtsamkeit können wir die erste Dimension unserer Hypothese überprüfen, nämlich, dass die innere und die gegenseitige Einstimmung neuronale Übereinstimmungen zeigen werden. Die erste Vorhersage wäre die Beteiligung der mittleren Bereiche des Präfrontalkortex (orbitofrontales, mediales und ventrales Präfrontal, Cingulum anteriore) entlang der damit verbundenen Inselrinde, des oberen Temporalkortex und des Spiegelneuronensystems. Es gibt jetzt in der Literatur Daten, die diese Sichtweise der gegenseitigen Einstimmung stützen (Carr et al. 2003; Gallese 2006). Unser Vorschlag erweitert die Vorstellung von der gegenseitigen Einstimmung in den Bereich der hypothetischen Vorstellung von der intrapersonalen Einstimmung. Das ist eine Dimension des Vorschlags, die durch zukünftige empirische Forschung untersucht, widerlegt oder bestätigt werden kann. Für die klinische Praxis müssen wir das Wissen der „objektiven" Wissenschaft mit der „subjektiven" Dimension der menschlichen Realität verbinden. Wissenschaftler lernen immer neue Dinge, und
Reflektive Kohärenz
245
wir können unseren Geist darauf vorbereiten, Subjektivität auf neue Weisen zu verstehen, wenn unsere wissenschaftlichen und persönlichen Einsichten miteinander verwoben werden. Vor dem Hintergrund dieser Kenntnisse werden wir unser Abenteuer in die tiefen Dimensionen von Erfahrung fortsetzen, indem wir uns weiter auf die möglichen Arten und Weisen einlassen, in denen Achtsamkeit Einstimmung und neuronales Funktionieren beinhalten könnte. Um das Wesen dieser intrapersonalen Einstimmung zu erforschen, werden wir diese Hypothese jetzt erweitern und uns in die möglichen neuronalen Entsprechungen dieser sozialen Facette des achtsamen Gehirns vertiefen.
Kohärenz spüren Wie würde sich die subjektive Empfindung der Selbst-Einstimmung anfühlen und wie könnte sie im Gehirn „aussehen"? Diese Formen der Einstimmung bedingen wahrscheinlich beide höchst komplexe Vorgänge im Gehirn, die schließlich als Zustand von Kohärenz in Erscheinung treten. Für das Gehirn hätte ein solcher Zustand die Qualität neuronaler Synchronie - das harmonische Feuern erweiterter neuronaler Gruppen, wenn sie in einem Zustand neuronaler Integration verbunden werden. Für den Geist haben wir den Zustand der Einstimmung als einen beschrieben, der auch jene Qualitäten besitzt, die den Begriff Kohärenz umschreiben: verbunden, offen, harmonisch, engagiert, rezeptiv, emergent, noetisch, mitfühlend und empathisch. Einstimmung erzeugt Kohärenz im Geist. Was den Aspekt des Geistes angeht, so kommen unterstützende Belege aus persönlichen Beschreibungen eines Zustands von Wohlbefinden und dem Gefühl von „Harmonie", die beide im Zuge von Praktiken des achtsamen Gewahrseins auftauchen. Als die elektrische Aktivität von Langzeit-Meditierenden während meditativer Zustände des objektlosen oder nichtreferenziellen Mitgefühls gemessen wurde, da zeigte sich im Unterschied zur Achtsamkeit ein hohes Maß an oszillatorischer Frequenz in Form von
246
Facetten des achtsamen Gehirns
Gammawellen, was auf hohe Ebenen von neuronaler Synchronie bei jener Praxis hinweist, wie von Antoine Lutz und seinen Kollegen (2004) berichtet wurde. Interessanterweise wurde bei diesen Probanden auch der prämotorische Bereich aktiviert, von dem wir jetzt annehmen können, dass er mit den Spiegelneuroneneigenschaften dieser Regionen in Verbindung steht. Bei einem hohen Maß an oszillatorischer Frequenz nimmt man im Allgemeinen an, dass dieses die postsynaptische Aktivierung von Neuronen, insbesondere im Kortex, widerspiegelt. Oszillatorische neuronale Synchronie entsteht infolge koordinierter Interaktionen zwischen weit verzweigten Regionen. Eine solch koordinierte Aktivität kann sich auf verschiedenen Ebenen abspielen, die Größe variiert von kleinen Gruppierungen bis hin zu größeren, und die Distanz variiert von kurzen Strecken bis hin zu groß angelegten. Auch wenn diese Studie nicht die Achtsamkeit zum Gegenstand hatte, so bietet sie doch wichtige Hinweise auf die neuronalen Entsprechungen des Mitgefühls, die einen integrierten Zustand widerspiegeln. Lutz, Dünne und Davidson (im Druck) haben nahe gelegt, dass sich die Verbindungsfähigkeit von Neuronen erhöht, wenn sie an einer solchen Koordination beteiligt sind. Ihre gemeinsamen Funktionen werden in jenem Moment verstärkt, und dies etabliert das „Hervorspringen" ihrer gegenwärtigen Aktivität im Vergleich zu anderen neuronalen Gruppierungen. Eine solche Integration über kurze Strecken soll innerhalb lokalisierter Netzwerke geschehen, die untereinander durch einzelne Synapsen verbunden sind, welche ein nahes, schnelles (ein paar Millisekunden dauerndes) Feuern miteinander verbundener Neuronen ermöglichen. Eine solche Integration über kurze Strecken würde sich innerhalb kortikaler Säulen vollziehen, die innerhalb einer Modalität verbunden sind, und uns dabei zu verstehen helfen, wie Wahrnehmungen „zusammengebunden" werden. Wir können uns auch vorstellen, wie die Auflösung der Verarbeitung von oben mit Störungen auf dieser Ebene der Synchronie über kurze Strecken einhergehen könnte, was zeigt, wie Achtsamkeit den sekundären Schub der Einflüsse unveränderlicher Repräsentationen stören könnte.
Reflektive Kohärenz
247
Eine großräumige Integration beinhaltet neuronale Gruppierungen, die weiter voneinander entfernt und durch mehrere Synapsen miteinander verbunden sind, so dass sie längere Übertragungszeiten erfordern. Ein Beispiel für diese langsameren (10 Millisekunden und mehr) integrativen Schleifen wäre, Bereiche des Kortex über die thalamischen Torschaltungen zu verbinden, über die wir früher gesprochen haben. So ermöglicht neuronale Integration Bewusstsein. Lutz, Dünne und Davidson (im Druck) haben die Komplexitäten größerer Integrations- und Oszillationsformen wortgewandt folgendermaßen dargestellt: Diese Bahnen entsprechen den großräumigen Verbindungen, die unterschiedliche Ebenen des Netzwerks in verschiedenen Gehirnregionen mit derselben Gruppierung verknüpfen. Der Mechanismus, der der Synchronie über lange Strecken zugrunde liegt, wird immer noch unzureichend verstanden. Man nimmt an, dass die Synchronisation über lange Strecken ein Mechanismus für die vorübergehende Bildung einer kohärenten Makrogruppierung ist, die multimodale Netzwerke selektiert und bindet, wie etwa Gruppierungen zwischen den Okzipital- und den Frontallappen, oder über die Hemisphären hinweg, die durch Dutzende von Millisekunden Übertragungszeit voneinander getrennt sind. Dem Phänomen der Synchronie über lange Strecken ist in der Neurowissenschaft beträchtliche Aufmerksamkeit geschenkt worden, da es neue Einsichten über die emergenten Prinzipien geben könnte, um neuronale und mentale Beschreibungsebenen miteinander zu verbinden. Wenn wir über die Macht des achtsamen Gewahrseins nachdenken, unser tiefes Empfinden des Selbst und unsere Wahrnehmungen der Welt um uns herum zu verändern, dann könnten wir gut beraten sein, auf diese Ebenen von Gruppierungen über kurze Strecken sowie großräumige Gruppierungen nachzudenken. Wir haben oben gesehen, dass kleinräumige Gruppierungen auseinander gesprengt werden
248
Facetten des achtsamen Gehirns
könnten, um die unmittelbaren Auswirkungen der invarianten Repräsentationen aufzuheben, die aus den höheren Schichten des Kortex herunterdrücken. Durch diese großräumigen Neuronenverbände und die Unterbrechungen in ihrer Integration könnten größer dimensionierte Verschiebungen in der Perspektive, die mit dem Selbstsein entstehen, erreicht werden, wie wir bereits in Kapitel 7 erörtert haben. Einsichten in die vorübergehende und relative Natur unserer persönlichen Identität zu haben, ein Gefühl für das Selbstsein unterhalb unserer historischen Anpassungen und geistigen Gewohnheiten zu bekommen - solche Dinge könnten durch diese großräumigen integrativen Verschiebungen erreicht werden, die mit der Reflektion auftreten können. Die Reflektion, so wie wir sie definiert haben, beinhaltet mindestens drei funktionale Aspekte: Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflexivität. Man kann annehmen, dass jeder dieser drei eigenständigen, sich aber gegenseitig verstärkenden Aspekte des reflektiven Kerns des achtsamen Gewahrseins groß- und kleinräumige integrative Gruppierungen im Gehirn verändern und auf diese Weise unser bewusstes Erleben umgestalten kann. Es wäre unwahrscheinlich, dass wir die kleinräumigen Verschiebungen, die die sekundären Einbrüche auf die primäre Empfindung verändern könnten, mit Hilfe eines funktionalen Scanners oder einer elektrischen Untersuchung der Gehirnaktivität sehen würden. Die Aktivität wäre wahrscheinlich zu klein und auf einen zu kleinen Fokus ausgerichtet, um entdeckt werden zu können. Die Unterbrechung der gewöhnlichen Formen der persönlichen Identität innerhalb des Gewahrseins könnte jedoch großräumige Veränderungen in der Anordnung über eine größere und diffusere Ebene hinweg beinhalten, als sie vielleicht mit sorgfältigen computergestützten elektrischen Messmethoden der Integration des Gesamtsystems gemessen werden könnten. Das könnten die Ebenen sein, auf denen Einflüsse von oben bewertet und möglicherweise bemerkt werden, wenn sie im Rahmen des achtsamen Gewahrseins aufgelöst werden. Ein Prozess der Synchronie auf große Entfernung ist von Engel, Fries und Singer (2001) beschrieben worden. In ihrer Schlussfolge-
Reflektive Kohärenz
249
rung deuten sie die Möglichkeit an, dass die „Verarbeitung von oben sich in der großräumigen Kohärenz über Bereiche oder Untersysteme hinweg spiegelt und dass solche Muster großräumiger Integration mit spezifischen Vorhersagen über bevorstehende Stimuli kovariieren können" (S. 715). Könnte der SIMA-Prozess, die Vorhersage der sensorischen Implikationen motorischer Handlungen, die wir für die Achtsamkeit vorschlagen, ein Weg sein, auf dem diese reflektive Form des Gewahrseins Kohärenz und Synchronie auf große Entfernung erzeugt? Ein solch koordiniertes Funktionieren beinhaltet eine Form der Phasensynchronie, die bei Makrogruppierungen weit verzweigter Regionen über große Distanzen hinweg vorhanden ist. Vielleicht entspricht dieser Mechanismus der Induktion neuronaler Integration dem Zustand mentaler Kohärenz in der Achtsamkeit. Mit Hilfe ausgeklügelterer Analyseformen dieser großräumigen integrativen Zustände wird sich wahrscheinlich klären lassen, wie die „neuronale Signatur" für die funktionalen Zustände des achtsamen Gewahrseins wirklich aussehen könnte. Wie Aftanas und Golocheikine (2002) dargelegt haben: „Die Ergebnisse verweisen auf die Idee, dass dynamisch sich verändernde innere Erfahrungen während der Meditation durch eine Kombination aus linearen und nichtlinearen EEGVariablen besser registriert werden und zusätzliche Einsichten in das integrative Funktionieren des zentralen Nervensystems im Hinblick auf veränderte Bewusstseinszustände geben" (S. 146). Diese integrativen Gruppierungen erzeugen unser grundlegendes Empfinden von Gewahrsein von Moment zu Moment. Das subjektive Wesen dieser Zustände der neuronalen Integration zu verstehen, kann uns helfen, uns auf das achtsame Gehirn zu konzentrieren.
Integration definieren Dieser Aspekt unserer Skizze in Bezug auf die neuronale Integration könnte auch empirisch erforscht werden, indem wir untersuchen, wie das Gehirn Zustände von Integration in Praktiken des achtsamen Gewahrseins schafft. Das wäre eine Messung des Zustands, eine vor
250
Facetten des achtsamen Gehirns
übergehende Funktion, die zur Zeit des Übens auftritt. Es könnten jedoch ausgeklügelte lineare und nichtlineare elektrische Messinstrumente benötigt werden, um die subtilen Verschiebungen bei der Integration als Merkmale des Individuums zu bewerten. Eine andere überprüfbare Dimension der Hypothese ist, dass diese Zustände integrativer Funktion zu Merkmalen würden, die sich in langfristigen Veränderungen zeigen, und zwar nicht nur in der Funktion über einen längeren Zeitraum, sondern auch in neuronalen Strukturen. Der Vorschlag hierzu lautet, dass der Zustand der neuronalen Koordination und Balance, der durch gegenseitige Einstimmung erzeugt wird, letztlich das Wachstum integrativer Fasern im Gehirn katalysiert. Im Gegenzug würden diese integrativen neuronalen Verbindungen dann eine größere Leichtigkeit bei der Aktivierung von Zuständen neuronaler Synchronie in der Zukunf unterstützen. Wenn Integration den Kern der Veränderungen in der neuronalen Plastizität bildet, dann wären wir in der Lage vorherzusagen, wo man diese integrativen neuronalen Verbindungen in strukturellen Bildern des Gehirns finden kann. Innerhalb der kleinräumigen integrativen Prozesse eng aufeinander abgestimmter Neuronen kann eine Unmenge von „Interneuronen" am Werke sein (Soltesz 2006). Für die großräumigere Integration könnten wir die Fasern untersuchen, die zu weit verstreuten Ansammlungen von Neuronenverbänden reichen, einschließlich der möglichen Rolle der Spindelzellen in den Präfrontalregionen, die eine schnelle neuronale Übertragung erlauben (Frith 2001; Nimchinsky, Gilissen, Allman, Perl, Erwin & Hof 1999). Was diese großräumige Integration angeht, so steht eine Zahl von Regionen hoch im Kurs. Eine davon ist der mittlere Präfrontalkortex, der den Körper, das Stammhirn, das limbische System und den Kortex zu einem funktionalen Ganzen verbindet, das auch die sozialen Signale aus anderen Gehirnen bzw. Körpern aufnimmt. Das ist eine recht umfangreiche Liste ganz verschiedener Bereiche, die zu einem funktionalen Ganzen verbunden werden, wodurch sich Integration bestimmt.
Reflektive Kohärenz
251
Zusätzlich könnte man auch andere integrative Schaltkreise in Betracht ziehen, die weit verstreute Bereiche miteinander verbinden, wie den dorsolateralen (seitlichen) Teil des Präfrontalkortex, den Hippocampus, den Balken und das Kleinhirn. Jede dieser Regionen schickt lange Fortsätze in weit entfernte Bereiche, wodurch diese in struktureller Hinsicht miteinander verbunden werden und was es ihnen erlaubt, eine Rolle bei der Schaffung funktionaler Integration zu spielen. Eine faszinierende Erkenntnis ist, dass innerhalb des Studiums der Neuroplastizität (Benes 1994; van Praag, Kempermann & Gage 2000) die Neuronen, die im Prozess der Neurogenese wachsen, diejenigen zu sein scheinen, die integrativ sind. Außerdem hat man festgestellt, dass sie für die kindliche Entwicklung wichtig sind (Siegel 1999). Martin Teicher (2002) ist zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt, als er die Befunde überprüft hat, dass Kindesmissbrauch und Vernachlässigung zu Schäden an den integrativen Neuronen im Gehirn führen und dass positive Beziehungen erforderlich sind, damit sie wachsen können.
Integratives Wohlbefinden Aus mathematischer Sicht, von der Komplexitätstheorie (auch Chaostheorie genannt) ausgehend, ermöglicht ein integrierter Zustand die flexibelsten, anpassungsfähigsten und stabilsten Zustände, die innerhalb eines dynamischen und komplexen Systems geschaffen werden können. Wenn wir diese Ideen in den Bereich subjektiven Erlebens übertragen, dann können wir sehen, dass dieses Modell auch Aussagen über das Wesen des Wohlbefindens macht und uns hilft, geistige Gesundheit als Dahinfließen eines Flusses zu definieren, der auf der einen Seite vom Ufer der Rigidität begrenzt wird und auf der anderen von Chaos (siehe Siegel 1999, 2001b, 2006). Diese Sichtweise nützt uns beim Verständnis der Symptome, die im Diagnostic and Stastical Manual of Psychiatric Disorders (Diagnose und Statistik-Handbuch psychischer Störungen, herausgegeben von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung) aufgelistet sind. Sie können als Beispiele für Chaos, Rigidität oder beidem angesehen werden (American Psychiatric
252
Facetten des achtsamen Gehirns
Association 2000). So kann etwa ein Mensch mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) in chaotische Zustände von Flashbacks und emotionaler Labilität geraten, ebenso wie in rigide Zustände von Vermeidung und Taubheit. Bei der manisch-depressiven Erkrankung kommt es zu chaotischen Zuständen in der manischen Phase und anschließend zur Rigidität mit damit einhergehender Depression. Wir haben den mentalen Fluss, der mit der Integration auftaucht, als flexibel, anpassungsfähig, kohärent, energetisiert und stabil beschrieben (FACES). Dieses Modell hilft uns dann zu sehen, wie sich das achtsame Gewahrsein durch die Förderung von Integration im Gehirn unsere angeborene Fähigkeit für Kohärenz und Wohlbefinden ganz unmittelbar zunutze machen könnte. Innere Einstimmung fördert die neuronale Integration im Gehirn, die ihrerseits mentale Kohärenz ermöglicht. Aber wie funktioniert die Integration im Gehirn selbst? Warum ist es gut, dass diese Ansammlungen unterschiedlicher Neuronencluster untereinander verbunden sind? Wie in Kapitel 2 erörtert, ist die übergeordnete Idee, dass die neuronale Integration Koordination und Ausgeglichenheit im Funktionieren des Gehirns einschließt. Dieses integrative Funktionieren kann auch auf verschiedene Weise überprüft werden, etwa indem man die Ausgeglichenheit und Koordination des autonomen Nervensystems durch Untersuchungen von Veränderungen in der Herzfrequenz bei achtsamen und nichtachtsamen Bewusstseinszuständen überprüft. Die beschriebenen Korrelate neuronaler Integration sind Kohärenz des Geistes und Empathie in Beziehungen. So können neuronale Integration, mentale Kohärenz und empathische Beziehungen als drei Aspekte der einen Realität des Wohlbefindens angesehen werden. Wir brauchen nicht zu versuchen, irgendeine davon auf die Form einer anderen zu reduzieren. Ob neuronal, subjektiv oder zwischenmenschlich - jede bildet eine gültige Dimension der Realität und kann nicht zu einer anderen vereinfacht werden.
Reflektive Kohärenz
253
Integration und zwischenmenschliche Beziehungen Ein damit verwandter Aspekt, der überprüft werden könnte, ist, dass die Einstimmung zur Entwicklung von integrativen Funktionen innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen führen könnte. Die intrapersonale Einstimmung und neuronale Integration wird mit verstärkter gegenseitiger (zwischenmenschlicher) Einstimmung in Verbindung gebracht werden. Jede Dimension wird die andere verstärken. Einzelfallberichte legen nahe, dass Achtsamkeitsmeditation die Fähigkeit des Menschen verstärkt, die Bedeutung von Gesichtsaus-drücken ohne verbale Hinweise aufzuspüren. Wenn das stimmen würde, warum sollte das so sein? Eine Möglichkeit ist, dass der in-terozeptive Fokus der Achtsamkeitspraxis diese Fähigkeit des „nach innen Schauens" entwickelt, die das Handwerkszeug ist, durch das wir unsere innere Welt spüren und die Ausdrücke von anderen erkennen können. Der Resonanzschaltkreis ist aktiv an einer solchen nonverbalen Wahrnehmung beteiligt, und es konnte sogar gezeigt werden, dass er auch daran beteiligt ist, wie wir auf unseren eigenen Gesichtsausdruck reagieren (Uddin et al. 2004). Es kann also vorgeschlagen werden, dass die Interozeption und die Spiegeleigenschaften bei der Entwicklung dieser erhöhten Sensibilität für die Signale anderer Hand in Hand arbeiten könnten. Mit einer so entwickelten Fähigkeit könnten wir die bezeugte Erkenntnis erklären, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen durch Praktiken des achtsamen Gewahrseins verbessern (siehe Anhang III, Beziehungen und Achtsamkeit). Ob es nun in unserem Alltagsleben, bei der klinischen Arbeit, beim Unterrichten oder in der wissenschaftlichen Forschung ist, wir können Eingang in diese Triade des Wohlbefindens durch jedes Möglichkeitsfenster finden, welches dann die Kohärenz des Geistes, die Empathie in Beziehungen und die neuronale Integration fördern kann. Mit anderen Worten, wir können uns darauf konzentrieren, Empathie in der Kommunikation zu fördern, und feststellen, dass sich dadurch auch eine erhöhte neuronale Integration und Kohärenz einstellen. Oder wir könnten uns auf das achtsame Gewahrsein konzentrieren,
254
Facetten des achtsamen Gehirns
das dann die Entwicklung von Empathie wahrscheinlicher macht. Achtsamkeitspraktiken beinhalten, dass man der liebevollen Güte Aufmerksamkeit schenkt und dass man die Intention fühlt, sich um das eigene Wohlergehen und das anderer zu kümmern. Hier sehen wir eine faszinierende Konvergenz zwischen der achtsamen intrapersonalen Einstimmung und der vorgestellten gegenseitigen Einstimmung. Was bewirkt eine solche achtsame Symbolik im Gehirn? Das führt uns zu einem anderen Aspekt, der überprüft werden kann: Werden Resonanzschaltkreise während des achtsamen Atembewusstseins und in Aspekten liebevoller Güte in der Meditationspraxis aktiviert? Studien der mentalen Symbolik haben jetzt deutlich gezeigt, dass der Akt der wahrnehmungsbezogenen Bilderzeugung nicht nur jene Gehirnregionen aktiviert, die an der Ausführung der vorgestellten Aktion beteiligt sind, sondern dass er auch langfristiges strukturelles Wachstum in jenen Bereichen produziert. Wenn man zum Beispiel einem Affen beibringt, mit seiner rechten Hand eine Harke zu verwenden, dann wird das Gehirnareal, das mit der Wahrnehmung der rechten Hand zu tun hat, stärker aktiviert, als es der Fall wäre, wenn man ihm dieselbe Handlung ohne den Gebrauch der Harke bei-brächte (Obayashi et al. 2001). Die Relevanz dieser Feststellung für unseren Vorschlag ist, dass, wenn wir uns darauf konzentrieren, uns auf unseren eigenen Geist oder den von jemand anderem einzustimmen, wir uns möglicherweise unsere Wahrnehmungsfähigkeiten zunutze machen, die in der Stärkung des neuronalen Schaltkreises enthalten sind und die dann das Erreichen einer stabileren intrapersonalen und gegenseitigen Einstimmung ermöglichen. Achtsamkeit und Empathie gehen Hand in Hand. Das zeigt, warum die liebevolle Güte ein grundlegender Bestandteil der Achtsamkeitspraxis ist - an beiden ist die innere Einstimmung beteiligt. Wenn die Einstimmung zu Integration im Gehirn führt, dann werden die gegenseitige Einstimmung (in sicheren Beziehungen oder imaginiert in der liebevollen Güte gegenüber anderen) und die intrapersonale Einstimmung (wobei die liebevolle Güte auf das eigene Selbst gerichtet ist, ebenso wie bei der Achtsamkeit, bei der man sich auf eigene Seinszustände einschließlich von Intentionen, körperlichen
Reflektive Kohärenz
255
Empfindungen und Gefühlen einstimmt) einander verstärken und mehr neuronale Integration produzieren. Dies könnten die neuronalen Dimensionen sein, die erklären, wie das achtsame Gewahrsein durch das Herbeiführen von Integration sowohl das innere Wohlbefinden als auch dasjenige in Beziehungen fördert.
Bindung und Erzählung Unsere Erörterung von Integration und Kohärenz des Geistes kann ausgeweitet werden, indem wir den Rahmen dessen untersuchen, wie unsere Identität durch Gedächtnis und Erzählung geprägt wird, was sich durch das Studium der Bindung ergibt. In früheren Arbeiten (Siegel 1999, 2001b; Siegel &Hartzell 2003) habe ich einen ausführlichen Überblick über die vier allgemeinen Muster narrativer Organisation gegeben, die mit gewissen Erfahrungen in unserem Leben als Adaptationsformen für die Art und Weise auftauchen, wie man uns erzogen hat. Wenn wir heranwachsen, dann reagieren wir auf die Einstimmung oder das Fehlen derselben, die uns entweder mit Offenheit oder verschiedenen Formen einer restriktiven und Zwang ausübenden geistigen Verfassung geboten werden (Hesse 1999; Main 2000; Phelps, Belsky & Crnic 1997; Sroufe et al. 2005). Neuere Studien haben gezeigt, dass unsere Bindungsmuster unmittelbar unsere Fähigkeit beeinflussen, negative Gedanken, wie sie mit verschiedenen Mustern auf funktionalen Hirnszintigrafien korrelieren, aufzulösen (Gillath, Bunge, Shaver, Wendelken & Mikulincer 2005). Insgesamt bestätigen diese Studien die Vorstellung, dass unsere Anpassungen an frühe Lebenserfahrungen unseren affektiven Stil, unsere narrativen Themen und die Art und Weise, wie wir uns anderen in zwischenmenschlichen Beziehungen nähern bzw. uns von ihnen zurückziehen, beeinflussen. Im achtsamen Gewahrsein haben wir die Gelegenheit, unter diese Schichten von Anpassung zu gelangen und die Möglichkeit zu verbessern, Veränderungen herbeizuführen. Unsere angeborene Konstitution - unser Temperament - wird sich ebenfalls auf unser Identi-
256
Facetten des achtsamen Gehirns
tätsgefühl auswirken. Auf diese Weise tragen sowohl Bindungsmuster als auch die Konstitution zu unserer „Persönlichkeit" bei. Hier werden wir kurz die Wissenschaft der Bindung erforschen, und das, was wir aus Forschungen darüber wissen, wie die narrativen Strukturen, die aus Bindungsgeschichten entstehen, die Art und Weise prägen, wie wir uns im Leben vorwärtsbewegen. Wenn unsere Eltern emotional nicht verfügbar sind, dann werden wir dazu neigen, uns zurückzuziehen, sie nicht mehr brauchen zu müssen. Wir vermeiden Abhängigkeit und entwickeln eine Erzählung, die unseren Verlass auf andere auf ein Mindestmaß beschränkt. Das nennt sich ängstlich vermeidende Kindheitsbindung und eine abweisende Geisteshaltung des Erwachsenen in Bezug auf die Bindung, oder einfach eine abweisende Haltung. Die innere Welt eines solchen Menschen neigt dazu, von anderen getrennt und von ihrem eigenen emotionalen und körperlichen Leben abgeschnitten zu sein. Hier würden wir spüren, dass der Mittelpunkt (die Nabe) dieser Person keinen leichten Zugang zu den Randpunkten des sechsten Körpersinns hat, ebenso wenig wie zu Aspekten des siebten Sinns (Emotion) oder des achten (Beziehung zu sich selbst und zu anderen). Die Erzählung hat eine eng gespannte Kohäsion, die Beziehungen und Emotionen davon ausschließt, jetzt oder in der Vergangenheit als wichtig angesehen zu werden. Diese narrative Organisation ist häufig durch das Insistieren gekennzeichnet, dass sich der- oder diejenige nicht detailliert an familiäre Erfahrungen erinnern kann. Hier ist das achtsame Gewahrsein eingeschränkt, weil die signifikante Vermeidung von Randelementen die Person daran hindert, die Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflexivität zu erlangen, die für die Reflektion wesentlich sind. Den Nachkommen werden dann keine eingestimmten Verbindungen angeboten, und so wiederholen sich diese erfahrungsbezogenen Muster über mehrere Generationen hinweg. Wenn die Einstimmung unserer engen Bezugspersonen auf uns nicht konsequent war und sie häufig mit ihrem eigenen Zustand in unseren eingedrungen sind, dann werden wir ein Kernselbst der Unsicherheit entwickeln. Die Bindungsbeziehung des Kindes wird in diesem Fall als ambivalent / ängstlich und der Geisteszustand des
Reflektive Kohärenz
257
Erwachsenen als geistesabwesend bezeichnet. Die Erzählung ist hier durch das Eindringen von Elementen aus der Vergangenheit in die Gegenwart gekennzeichnet, so dass die Person ein Gefühl der Verwirrung hat, insbesondere in Bezug auf Beziehungsthemen. Wir können uns in dieser Situation vorstellen, dass die Nabe des Geistes mit exogenen Randpunkten überflutet wird, die das Empfinden der Person, mit dem präsent zu sein, was ist, bestürmen, da sie von dem überwältigt wird, was war, und was er oder sie sich wünschen würde, dass es sei. Leider sind die Kinder eines solchen Menschen diesen inneren Eingriffen ausgesetzt, weil sie die Fähigkeit der Eltern stören, während der Interaktion mit dem Kind achtsam zu sein. Diese zudringlichen geistigen Vorfälle in Vater oder Mutter führen zu einer unbeständigen Einstimmung auf das Kind, und wieder einmal sehen wir, wie das Bindungsmuster an die nächste Generation weitergegeben wird. Bei einem dritten Bindungsmuster ist ein Elternteil die Quelle panischer oder Furcht einflößender Verhaltensweisen, die in dem Kind einen Zustand der Angst herbeiführen, den es nicht auflösen kann. Im Gehirn erlebt das Kind die gleichzeitige Aktivierung eines Kreislaufs, der es veranlassen würde, sich von der Quelle des Schreckens wegzubewegen, während der andere den Impuls erzeugt, sich auf die Bindungsfigur zuzubewegen, um Schutz und Trost zu erfahren. Das Problem bei dieser Situation ist natürlich, dass die Bindungsfigur selbst die Quelle des Schreckens ist. Das ist keine Doppelbotschaft vielmehr ist es der widersprüchliche Zustand des Kindes, der es veranlasst, eine desorganisierte Bindung zu haben. Der Kindheitszustand lässt schließlich eine Form von fragmentiertem Selbst entstehen, die Dissoziation genannt wird. Dabei findet eine Unterbrechung in der Kontinuität des Bewusstseins statt sowie eine Dissoziation gewöhnlich verbundener Elemente, wie diejenige von Anblicken und Geräuschen oder dem impliziten und dem expliziten Gedächtnis. Die Erzählung des Erwachsenen offenbart ein ungelöstes Trauma oder unaufgelöste Trauer — beides Leiden, die behandelt werden können. Leider ist es so, dass ohne Intervention unaufgelöste Zustände der Eltern zu Verhaltensweisen führen, die dem Kind Angst und Schrecken einflößen und sich über Generationen hinweg auswirken.
258
Facetten des achtsamen Gehirns
Wichtig an diesen Forschungsergebnissen ist die Tatsache, dass Eltern ihre Bindungshaltung als Erwachsene ändern können. Jede dieser drei Formen von Bindungsunsicherheit ist ein Beispiel für eine nichtkohärente Geistesverfassung, welche dann diese klassischen narrativen Muster entstehen lässt. Ich habe nahegelegt, dass diese narrativen Erkenntnisse wahrscheinlich einen Zustand von beeinträchtigter neuronaler Integration widerspiegeln (1999). Bei abweisenden Personen könnte der blockierte Zugang zu Prozessen der rechten Hemisphäre dazu führen, dass die linke eine Geschichte liefert, der es an der emotionalen, auf Metaphorik basierenden autobiografischen Reichhaltigkeit der rechten Gehirnhälfte mangelt. In geistesabwesenden Zuständen entsteht eine Einmischung des hyperaktiven episodischen Gedächtnisses, das aus dem „übrig gebliebenen Müll" nichttraumatischer, aber auch nichteingestimmter Kindheitserfahrungen besteht. Im Falle unaufgelöster Zustände scheint das Gehirn für schwerwiegende Desintegrationserscheinungen anfällig zu sein, bei denen der Präfrontalkortex seine integrierenden Funktionen selbst bei geringfügigen Stressoren abzuschalten scheint, was zu einer heftigen, plötzlichen und häufig auftretenden Reaktion führt, die limbisch gesteuert ist und dem Kind Angst einjagt. In diesem Zustand können viele der neun bereits erörterten Funktionen des mittleren Präfrontals vorübergehend ausgesetzt werden. Auch wenn wir alle für solche Zustände anfällig sind, könnten Eltern mit ungelösten Traumata besonders anfällig dafür sein, sich schnell, häufig und intensiv in sie hineinzubegeben, und sie besitzen zudem möglicherweise weniger Resilienz, um sich schnell zu erholen und sich dann um die Behebung solcher Zustände zu kümmern, die vonnöten ist, damit sie sich wieder mit ihrem Kind verbinden können (Siegel 1999; Siegel & Hartzell 2003). Die großartige Neuigkeit ist, dass Eltern, die dahin gelangen, die Bedeutung ihres Lebens zu verstehen, tatsächlich ihren Bindungsstatus verändern und Kinder aufziehen können, die in ihrer Gesellschaft aufblühen (Siegel & Hartzell 2003). Das Ergebnis nennt sich „verdiente" Sicherheit, bei der die Eltern schließlich einen kohärenten Geist und eine kohärente Erzählung erfahren. Eine solche Kohärenz wird mit Hilfe neuronaler Integration geschaffen. In diesem Fall kann die
Reflektive Kohärenz
259
Erzählung die positiven und die negativen Aspekte des autobiografischen Gedächtnisses in eine Geschichte einbetten, die die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Erfahrungen der Gegenwart anerkennt. In vielfacher Weise ähnelt die Evaluierung dieser Forschungsdaten, die aus dem Adult Attachment Interview (AAI; Erwachsenen-Bindungsinterview) abgeleitet sind, einer Bewertung der reflektiven Aspekte der Achtsamkeit. Das AAI ist ein Forschungsinterview, das die „Kohärenz" der Erzählung von Eltern bewertet (Main 2000; Siegel 1999). Wenn Eltern verstanden haben, wie sich ihre Vergangenheit auf ihre Gegenwart ausgewirkt hat, dann werden sie frei, um sichere Beziehungen zu ihren Kindern und anderen Menschen aufzubauen. Peter Fonagy und Mary Target (1997) haben eine „reflektive Funktion" dargelegt, mit der sich Eltern auf den Geist als einem wichtigen Bestandteil einer sicheren Bindung konzentrieren. Diese Funktion könnte der zur Kenntnis nehmenden und beschreibenden Facette des achtsamen Gewahrseins entsprechen. In einigen schwierigen oder traumatisierenden Bindungsbeziehungen könnte die Entwicklung solcher reflektiven Funktionen beeinträchtigt sein. Solche Beeinträchtigungen können durch eine nachfolgende „verdiente" Bindungssicherheit behoben werden (Siegel & Hartzell 2003). Die Folge von beständiger oder verdienter Sicherheit in einem Erwachsenen ist, dass er als Vater oder Mutter in der Lage ist, sich auf eine eingestimmte Kommunikationen mit dem Kind einzulassen. Wenn es Brüche in der Kommunikation gibt, wie es ausnahmslos in allen Beziehungen vorkommt, dann sind die Eltern „achtsam" genug, um diese zu beheben. Dies tun zu können macht den Kern der sicheren Bindung eines Kindes aus. Für mich als Bindungsforscher war es nur natürlich, die Achtsamkeit als zentralen Grundsatz in eine wissenschaftlich gegründete Herangehensweise an die Kindererziehung zu stellen. Jetzt, wo ich mich in das formale Studium des „achtsamen Gewahrseins" vertiefe, kann ich sehen, dass die Einstimmung zwischen Eltern und Kind die innere Einstimmung spiegelt, über die wir im Zusammenhang mit der Achtsamkeit gesprochen haben.
260
Facetten des achtsamen Gehirns
Es wäre ein interessantes Forschungsprojekt, die Grundannahme zu untersuchen, dass eine sichere Bindung nicht nur die neuronale Integration fördert, sondern darüber hinaus Achtsamkeitsmerkmale. Die gegenseitige Einstimmung in einer sicheren Bindung würde dann zur neuronalen Integration eines achtsamen Gehirns führen. Bei Menschen, die eine solche Integration erreicht hätten - sei es nun durch das Erreichen solch sicherer Zustände durch die Erziehung in den ersten Lebensjahren oder zu einem späteren Zeitpunkt durch das „Verdienen" von Sicherheit über die Selbstreflektion oder über positive, transformatorische Bindungsbeziehungen als Teenager oder Erwachsene —, würde man sehen, dass sie Achtsamkeit als ein Merkmal des Selbst besitzen. Wir würden folglich sehen, dass sogar das Selbstverständnis - der „Sinnstiftungsprozess", der darin besteht, eine kohärente Erzählung, die für eine sichere Erwachsenenbindung wesentlich ist, zu erzeugen — als ein Aspekt der inneren Einstimmung gesehen werden könnte, der für eine achtsame Lebensweise unerlässlich ist. Bei einem eingestimmten System beginnen zwei Komponenten miteinander zu „resonieren". Für zwei Menschen basiert die Einstimmung auf der Resonanz des Zustands jeder einzelnen Person. Da eine solche Einstimmung in Bindungsbeziehungen existiert, wird die neuronale Integration im Kind gefördert, indem sie durch den integrierten und achtsamen Zustand von Vater oder Mutter angeregt wird. Innerhalb der Selbstreflektion und der inneren Einstimmung gelangen wir dazu, mit unserem eigenen Seinszustand in Resonanz zu gehen. Binnen kurzer Zeit erzeugt der Einfluss der klaren und offenen Rezeptivität gegenüber dem unmittelbaren Erleb.en innere Resonanz, eine Phasenkoppelung der gelebten und beobachtenden Zustände. Um diesen Fließzustand in der Verbindung zu erreichen, müssen wir offen sein gegenüber dem, was ist. Wie wir erörtert haben, könnte uns die Neurozeption, die ein Gefühl von Sicherheit erzeugt, befähigen, in jenen rezeptiven Zustand einzutreten. In der Bindung müssen wir offen für unser Kind sein, jene Sicherheit in uns selbst und das Gefühl von „Liebe ohne Angst" in unserem Kind erzeugen. In der Achtsamkeit müssen wir offen für uns selbst sein, um den COAL-Zustand von Rezeptivität zu erzeugen. Unser beobachtendes
Reflektive Kohärenz
261
Selbst muss für unser „Selbst-als-Lebendiges" offen sein. Mit der Aufmerksamkeit auf die Intention entwickeln wir dann einen integrierten Zustand von Kohärenz. Bei den kohäsiven Zuständen unsicherer Bindung hält der Geist an alten Mustern fest, da er dem überholten Zustand eines „Einfach-nurÜberleben-Wollens" anhängt. Diese unflexible Kohäsionskraft macht einen Menschen für chaotische und rigide Zustände anfällig. Mit der Bewegung zur Kohärenz hin wird das System der Person flexibler. Hier sehen wir, dass die narrative Bindungsforschung uns helfen kann, uns zu vergegenwärtigen, wie Anpassungen an Erfahrungen aus der Vergangenheit, die in der Erinnerung und in unserer Lebensgeschichte eingeschlossen sind, uns in ihrem kohäsiven Bollwerk gefangen halten können.
Kohärenz und Kohäsion Kohärenz und Kohäsion unterscheiden sich sehr stark voneinander. Stellen Sie sich, um ein Gefühl für den Unterschied zu bekommen, folgendes mathematische Konzept vor: Ein kohäsiver Zustand wird als ein Satz von Gleichungen erzeugt, der strikt den Eigen- bzw. Fremdgruppenstatus jeder Variablen definiert, den er bewertet (Thagard 2002). Hier ist der Kreis, der gezogen wird, um die Grenzen des Satzes zu ziehen, klar und deutlich: Man ist entweder drinnen oder draußen, die Identität ist definiert, Gewissheit ist geschaffen. Im Gegensatz dazu kann man sich Kohärenz als eine Gleichung vorstellen, die die zur Diskussion stehenden Variablen in die numerischen Sequenzen der Gleichung selbst einschließt. Indem jeder neuen Variablen begegnet wird, verändert sie tatsächlich die Gleichung und die Form des „Selbst", das die Eigenschaften der Eigen- bzw. Fremdgruppenmitgliedschaft definiert. Das Bilden von Grenzen ist ein fortwährender Prozess. Hier sehen wir, dass die Kohärenz in ihrem Kern Flexibilität beinhaltet. In unserer Arbeitsdefinition von Wohlbefinden haben wir Flexibilität als Ausgangspunkt des FACES-Pfads festgelegt, zusammen mit
262
Facetten des achtsamen Gehirns
Anpassungsfähigkeit, Kohärenz, Energie und Stabilität. Achtsames Gewahrsein fördert die Kohärenz des Geistes. Indem wir über das Wesen kohäsiver Zustände in der persönlichen Identität reflektieren, können die rigiden Anpassungen wahrgenommen und verändert werden und so zu mehr Flexibilität und Kohärenz führen. Um emotionale Freiheit zu erreichen und das Bollwerk der persönlichen Identität durchlässiger zu machen, ist es nötig, dass man achtsam mit Erinnerungen umgeht. In dieser Situation ist eine kohäsive und nichtkohärente Gemütsverfassung mit dem Gefühl des Erstickens, der Restriktion und eng gespannten Grenzen verbunden, die unnachgiebig und undurchlässig für die auftauchende Erfahrung der eigenen geistigen Entwicklung sind. Einem solchen stagnierenden System fehlt das Gefühl von Harmonie, das mit Kohärenz einhergeht: Zustände von Rigidität oder sporadische Chaosausbrüche dominieren die zeitliche Landschaft. Im integrierten FACES-Strömen des Flusses des Wohlbefindens bewegt sich der Geist auf einem harmonischen Pfad, der auf der einen Seite von Rigidität und auf der anderen von Chaos begrenzt wird. Hier können wir sehen, dass Achtsamkeit Nichtreaktivität erzeugt, indem sie den Geist auf diesen kohärenten Fluss bringt. Mit den drei Elementen des Dreiecks des Wohlbefindens - neuronaler Integration, einem kohärenten Geist und empathischen Beziehungen - kann unser Leben zu einem harmonisch dahinfließenden Fluss werden. Wir erleben in einem solchermaßen integrierten Zustand „emotionales Wohlbefinden". Das ist reflektive Kohärenz. Achtsamkeit ruft eine widerhallende dynamische Interaktion zwischen diesen drei Dimensionen des Wohlbefindens hervor - der neuronalen, der geistigen und der Beziehungsebene. Unser sozialer Resonanzschaltkreis ist gut geeignet, um an diesem Dreieck des Wohlbefindens teilzuhaben, indem er die Landkarte der Intention mit der neuronalen Integration und der Art und Weise verbindet, wie wir uns aufeinander und auf uns selbst einstimmen. Achtsamkeit erlaubt Ruhe sogar angesichts von Traumata oder eingeschränkten Erinnerungsprozessen, die die Harmonie und Kohärenz des Selbst einschränken. Das ist ein entscheidender Aspekt des
Reflektive Kohärenz
263
Urteilsvermögens, den die Achtsamkeit erlaubt: Wir können lernen, neue Muster emotionaler Regulation zu erzeugen, indem wir uns den Dingen nähern, statt uns von ihnen zurückzuziehen. Von jenem stabilen inneren Platz der Ruhe aus können die Oberflächenprozesse von Chaos und Rigidität, von Dysregulation und defensivem Ausschließen gelebter Erfahrung weggeschmolzen werden, indem man sie „einfach" als Gewohnheiten des Geistes erkennt. So kann Gleichmut erzeugt werden, und die wahre Transformation kann beginnen. Das Geheimnis besteht darin, Ihren Geist und die fühlende Erinnerung vollständig zu öffnen. Viele Menschen mögen Achtsamkeit einfach als „in der Gegenwart sein" ansehen und sich dafür entscheiden, das Wesen von Erinnerung und Identität zu leugnen. Doch unsere gelebten Momente werden durch die Erinnerung unterjocht, und ihre Strukturen zu vermeiden, hält uns in kohäsiven Zuständen eingeschlossen, denen die Vitalität eines offenen, kohärenten Flusses fehlt. Unter dem Schleier der Selbstidentität, der die klare Sicht vernebelt, ruht eine geistige Weite, die in jedem von uns gegenwärtig ist. Das achtsame Gewahrsein macht jene Klarheit zu mehr als einer bloßen Möglichkeit, nämlich zu einer unmittelbar erlebten Realität.
Kapitel 10 Flexibilität des Fühlens: Affektiver Stil und eine Geisteshaltung der Annäherung Die Facetten der Achtsamkeit, bei denen wir nichtreaktiv sind und unsere Empfindungen, Gefühle und Gedanken beschreiben, können am besten untersucht werden, indem wir die Wege erforschen, auf denen wir Flexibilität in unseren Gefühlen und eine Geisteshaltung der Annäherung statt einer des Rückzugs erreichen. In der Forschungsliteratur sind die neuronalen Auswirkungen der Achtsamkeit auf die emotionale Regulation von Richard Davidson und seinen Kollegen sehr detailliert erforscht worden. Davidson (2002) hat eine Perspektive des „affektiven Stils" als einen Weg vorgeschlagen, auf dem das Achtsamkeitstraining neuronale Funktionen verändern und uns befähigen kann, nichtreaktiv zu werden. „Der affektive Stil bezieht sich auf gleichbleibende individuelle Unterschiede in der emotionalen Reaktivität und Regulation ... Es handelt sich dabei um einen Ausdruck, der eine große Bandbreite an Prozessen
Flexibilität des Fühlens
265
erfassen soll, die entweder einzeln oder in Kombination miteinander die Reaktion eines Individuums auf emotionale Herausforderungen, ihrer Disposition entsprechende Stimmungen und affekt-relevante kognitive Prozesse modulieren" (S. 1196).
Nichtreaktivität In der üblichen Auffassung von Achtsamkeit, die davon ausgeht, dass der Fokus der Aufmerksamkeit auf dem gegenwärtigen Moment liegt, und zwar absichtlich und nicht urteilend, kommt die Dimension der Nichtreaktivität nicht vor. Einige ziehen die Fähigkeit zur Gelassenheit oder die Gleichmäßigkeit der Reaktion unter Stress, ein Empfinden von Gemütsruhe und Klarheit als Ergebnis der Praktiken des achtsamen Gewahrseins in Betracht. Baer und seine Kollegen (2006) haben eine Synthese der Achtsamkeitsstudien vorgenommen, die zeigte, dass die Nichtreaktivität als nützliche unabhängige Facette auftauchte. Das bedeutet, dass angesichts der Vorstellung, dass die Achtsamkeit viele essenzielle Dimensionen hat, diese Form der Forschung die Nichtreaktivität als Kernmerkmal ansah statt nur als Ergebnis. In Wirklichkeit sind „Ergebnis" und „Prozess" seltsame Ideen, wenn es darum geht, das Wesen der Achtsamkeit zu erforschen. Der Prozess ist das Ergebnis: Hier sein, nur dies, dieser Moment, dieser Atemzug bedeutet Achtsamkeit; nur das heißt, achtsam zu sein. Wenn wir anfangen, diese Elemente auseinander zu dividieren, dann sehen wir bald den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Wenn wir jedoch eine größere Vision aufrechterhalten und die Prozessrealität der Achtsamkeit als Sein annehmen, und nicht als etwas, das wir erreichen wollen, dann können wir diese einzelnen Facetten erforschen. Der Nutzen, die individuellen Facetten zu sehen, liegt darin, dass uns das ermöglicht, die Erfahrung des achtsamen Gewahrseins und den neuronalen Schaltkreis, den die Achtsamkeit nutzt, zu integrieren. Erinnern Sie sich: Wir sagten, dass „der Geist entlang der neuronalen Feuerungsmuster im Gehirn reitet", um das bidirektionale Wesen von Geist und Gehirn zu verstärken. Die Akti-
266
Facetten des achtsamen Gehirns
vitäten des Gehirns tragen zu unserem geistigen Leben bei. Der Geist kann auch so gesehen werden, dass er das Gehirn benutzt, um sich selbst zu erschaffen. Lassen Sie uns mit diesen Ideen im Hinterkopf schauen, wie mit Hilfe von Achtsamkeit Nichtreaktivität entstehen könnte. Innerhalb des Gehirns haben wir gesehen, dass automatische Reaktionen wie das Denken oder Fühlen ohne Gewahrsein erzeugt werden können. Diese Koordination könnte teilweise über den anterioren eingulären Kortex (ACC) ausgeführt werden, der eine bedeutende Rolle bei der Aktivierung und Anpassung von Emotionen spielt. Der ACC hat Sektoren, die sowohl für den körperlichen Input und die Affektreaktion als auch für die Zuteilung von Aufmerksamkeitsressourcen zuständig sind, die die Richtung unseres Gedankenstroms bestimmen (Fellows & Farah 2005). Man hat gezeigt, dass das anteriore Cingulum während der Praxis des achtsamen Gewahrseins durchgängig aktiviert wird (Cahn & Polich 2006), was die enge Verbindung zwischen der Regulation unserer Aufmerksamkeit, unseres Denkens und den körperlichen Zuständen und Gefühlen aufzeigt. Wenn wir das neuronale Feuerverhalten in den Fokus unserer Aufmerksamkeit bringen, dann nehmen wir dafür zumindest den seitlichen Teil des Präfrontalkortex (DLPFC) in Anspruch, um uns mit all den anderen Bereichen zu verbinden, die aktiviert werden. Wenn die subkortikalen limbischen Bereiche feuern, dann erfahren wir möglicherweise die Erregung des Affekts bzw. eine emotionale Reaktion. Wenn diese neuronale Aktivierung ins Bewusstsein gelangt, dann nennen wir sie „Gefühl" oder unser subjektives Erleben von Emotion.
Was ist eine Emotion und wie regulieren wir sie? Aber wie reguliert das Gehirn seine emotionalen Reaktionen? Das erste Konzept, das wir direkt erklären müssen, ist, dass eine „Emotion" ein komplexes Gebilde und ein gleichermaßen schwieriges Studienthema ist. Die Emotion beinhaltet einen Prozess, durch den zielorientierte Verhaltensweisen organisiert und ausgeführt werden. Überdies wird
Flexibilität des Fühlens
267
eine Begutachtung der Bedeutung von Ereignissen vorgenommen, die Informationsverarbeitung („Kognition") wird geformt, die Wahrnehmung beeinflusst und die affektive Erregung aktiviert. Die Emotion bezieht auch unmittelbar mit ein, wie wir uns in der Gegenwart gegenseitig beeinflussen und wie wir durch Aktivierungen aus der Erinnerung beeinträchtigt werden. Mit anderen Worten, das, was wir „Emotion" nennen, ist eine dynamische und zentrale Funktion, die Verhalten, Bedeutung, Denken, Wahrnehmen, Fühlen, in Beziehung treten und Erinnern miteinander verbindet. Wenn wir von „Emotionsregulation" sprechen, dann beziehen wir uns auf die Überwachung und Modulierung dieses weiten Spektrums an Funktionen, von Gefühlen bis hin zur Kommunikation. Wenn wir von Nichtreaktivität als Facette der Achtsamkeit sprechen, dann sprechen wir in vielfacher Hinsicht diese breit angelegte Sichtweise der Emotionsregulation an (Adele & Feldman 2004). Auf der fundamentalen Ebene erzeugen wir Nichtreaktivität, indem wir die Schaltkreise in unserem Gehirn entwickeln, die es den Kreisläufen, die die niederen Affekte erzeugen, erlauben, von den höher modulierenden reguliert zu werden. Diese Balance zwischen der Emotionserregung und ihrer Regulation wird häufig als Beziehung zwischen der subkortikalen limbischen Amygdala und dem Präfrontalkortex konzeptualisiert (Goleman 1996). Achtsames Gewahrsein kann die Nichtreaktivität unmittelbar beeinflussen, indem es die Verbindungen zwischen Präfrontalkortex und limbischen Bereichen verändert (siehe Abbildung 2.7). Im Gehirn hat der Präfrontalkortex unmittelbare Verbindungen zu den unteren limbischen Bereichen. Diese Verbindungen ermöglichen es dem Präfrontalbereich, sowohl den Erregungszustand in diesen subkortikalen Regionen zu bewerten als auch ihre Feuerung zu modulieren. Wir haben bereits erörtert, inwiefern die „Integration" im Gehirn Koordination und Balance umfasst. Hier sehen wir, dass die integrativen Präfrontalbereiche das limbische Feuerverhalten koordinieren und ausgleichen können, so dass das Leben Bedeutung und emotionalen Reichtum haben kann, aber kein exzessives Feuern stattfindet, wodurch das Leben chaotisch wird, oder eine zu geringe,
268
Facetten des achtsamen Gehirns
wodurch es abgestumpft und deprimierend wird. Tatsächlich werden beim Unterrichten von Meditation entsprechende Konzepte als Aufgeregtheit und Dumpfheit angesprochen.
Emotionale Ausgeglichenheit üben Lutz, Dünne und Davidson (im Druck) haben die Angelegenheit folgendermaßen beschrieben: Spannung zwischen Stabilität und Klarheit drückt sich in den beiden Hauptmängeln aus, die eine Meditation behindern, nämlich „Aufgeregtheit" und „Dumpfheit". Wenn die Dumpfheit zum ersten Mal auftaucht, wird der Fokus auf dem Objekt beibehalten, aber wenn sie dann fortschreitet, wird die Klarheit des Objekts zunehmend behindert und eine Empfindung von Schläfrigkeit holt den Meditierenden ein. Wenn die Dumpfheit andauert, dann wird die Düsterkeit des Objekts den Meditierenden veranlassen, seinen Fokus auf es zu verlieren, oder im Falle einer krassen Düsterkeit wird der Meditierende einfach ganz schnell einschlafen. Im Gegensatz dazu wird sich, wenn Aufgeregtheit auftritt, die Klarheit des Objekts häufig verstärken, aber die Intensität des mentalen Zustands stört die Meditation, so dass leicht Ablenkungen auftauchen und der Fokus auf das Objekt verloren geht. Der ideale meditative Zustand - einer, der über das Anfängerstadium hinausgeht - ist ein Zustand, in dem weder Aufgeregtheit noch Dumpfheit auftreten; kurz gesagt, Stabilität und Klarheit sind vollkommen ausgeglichen ... Das subtile Maß an Dumpfheit oder Aufgeregtheit, auf das sie treffen, wird durch gleichermaßen subtile Anpassungen an die Klarheit (für die Dumpfheit) oder die Stabilität (für die Aufgeregtheit) des Meditationszustands korrigiert, bis sowohl die Stabilität als auch die Klarheit ihren maximalen, ausgeglichenen Zustand erreichen.
Flexibilität des Fühlens
269
Diese Beschreibung zeigt, dass selbst bei den frühen Meditationspraktiken der Fokus auf der Ausgeglichenheit der Erregungszustände liegt. Im Extremfall repräsentieren diese Zustände Chaos (für die Aufgeregtheit) und Rigidität (für die Dumpfheit). Nichtreaktivität in großem Ausmaß zu erreichen kann als Weg des Innehaltens angesehen werden, bevor man im Außen reagiert und dann eine Koordination und Ausgeglichenheit der neuronalen Schaltkreise erreicht, die an den „Beschleuniger- und Bremsfunktionen" des Gehirns beteiligt sind. Diese beiden Aspekte des autonomen Nervensystems, der sympathische und der parasympathische Zweig, funktionieren so, dass sie das System jeweils entweder aktivieren oder hemmen. Die Regulierung der beiden Zweige dieses Systems obliegt den mittleren Aspekten des Präfrontalkortex. Die Präfrontalregionen in der Mitte und auf der Seite spielen ebenfalls eine Rolle bei dem, was ich „Reaktionsflexibilität" genannt habe - die Art und Weise, wie wir vor dem Handeln innehalten und die verschiedenen Optionen in Betracht ziehen, die am geeignetsten sind, bevor wir dann reagieren. In beiderlei Hinsicht können wir sehen, dass „Nichtreaktivität" wahrscheinlich sowohl die innere affektive und autonome Ausgeglichenheit, als auch die interaktive Flexibilität umfasst. Diese und andere Dimensionen unserer inneren Homöostase werden durch die integrativen (koordinierenden, ausgleichenden) Funktionen des Präfrontalkortex erreicht. Von diesen Regionen können wir annehmen, dass sie wahrscheinlich während der Achtsamkeitspraxis aktiv sind und dass als Folge davon ihre Verbindungen wachsen und gestärkt werden.
Affektiver Stil und Resilienz Richard Davidson (2000) hat einige der zentralen Punkte im Zusammenhang mit der Affektregulation angesprochen, als er darlegte, dass
270
Facetten des achtsamen Gehirns
eine der Schlüsselkomponenten des affektiven Stils die Fähigkeit ist, negative Emotionen zu regulieren und insbesondere die Dauer des negativen Affekts zu verringern, sobald er auftaucht. Die Verbindungen zwischen dem PFC und der Amygdala spielen eine wichtige Rolle in diesem Regulierungsprozess ... Wir haben Resilienz als Aufrechterhaltung hoher Ebenen positiven Affekts und Wohlbefindens im Angesicht von Widrigkeiten definiert. Es ist nicht so, dass belastbare Individuen nie negativen Affekt erleben, sondern vielmehr, dass der negative Affekt nicht andauert. (S. 1207, 1198) Die Nichtreaktivität offenbart einen zentralen Aspekt von Resilienz. Wie könnte das achtsame Gewahrsein die Entwicklung einer solchen Resilienz fördern? Bei Tieren - (Affen in der Arbeit von Stephen Suomi [1997]) und Ratten in der Arbeit von Michael Meaney [2001]) - sehen wir, dass die Art und Weise, wie ein junges Tier von seiner Mutter genährt wird, die Entwicklung von Verhaltsflexibilität und sozialer Funktion unmittelbar beeinflusst. In Meaneys Arbeit beispielsweise deuteten Veränderungen in der Rezeptorenanzahl in verschiedenen Regionen, einschließlich der emotionsreaktiven Amygdala und tieferen Hirnstammstrukturen, sowie in den regulierenden Präfrontalbereichen darauf hin, dass häufig leckende, pflegende Mütter positive Veränderungen in den Gehirnen ihres Nachwuchses bewirkten. Meaney konnte sogar zeigen, dass diese Art von Körperpflegeverhalten auf spezifische Weise zur Aktivierung von Genen führte, die wiederum zur Proteinproduktion führten, welche Rezeptorveränderungen in bestimmten Gehirnregionen bewirkte. Körperpflegestudien mit verschiedenen Tieren zeigten, dass es nicht die Genetik der Mutter war, sondern ihr Verhalten, das den genetischen Ausdruck und das neuronale Ergebnis bestimmte. Das Wesentliche ist, dass diese „eingestimmten" pflegenden Handlungen die neuroplastischen Veränderungen induzierten, die eine erhöhte Resilienz in den Nachkommen bewirkte. Sroufe, Egeland, Carlson und Collins (2005) haben ausgedehnte Forschungen am Menschen durchgeführt, um zu untersuchen, wie die eingestimmte Kommunikation innerhalb der Bindung zwischen
Flexibilität des Fühlens
271
Kind und Eltern zur Entwicklung von Resilienz beim Nachwuchs führt. Jene Kinder, die in einem anstrengenden Zuhause groß wurden und sich trotzdem belastbar zeigten, haben in jedem Fall eine eingestimmte Beziehung gehabt, die von diesen Forschern als Quelle für die Entwicklung ihrer Resilienz angesehen worden ist. Allan Schore (2003a, 2003b) hat die möglichen neuronalen Entsprechungen von Bindungsergebnissen erforscht und nahe gelegt, dass abgestimmte Kommunikation zum Wachstum der Präfrontalregionen, insbesondere der Mittellinienbereiche führt (vor allem der Orbitofrontalregion). Meine eigene Arbeit hat sich auf die Wege konzentriert, in denen der Prozess der neuronalen Integration - für den teilweise die Präfrontalstrukturen zuständig sind, der jedoch auch großräumigere Dimensionen wie die beiden Hälften des Kortex und die zwischenmenschliche Kommunikation einschließt — die Kohärenz des Geistes, Empathie in Beziehungen und die allgemeine Resilienz in unserem Leben fördert (1999, 2006). Diese Ergebnisse deuten auf Folgendes hin: Resilienz kann durch Erfahrung erlernt werden. Der affektive Stil wird durch die Gene oder frühere Erfahrungen nicht zementiert, sondern kann als Fähigkeit angesehen werden, die mit Übung in Richtung Wohlbefinden geführt werden kann. Was wir über die Beziehung zwischen Betreuungsperson und Nachwuchs wissen, ist, dass Achtsamkeit und Fürsorge die Entwicklung von Resilienz fördern (siehe Anhang III, Entwicklungsbezogene Themen). Ich möchte anregen, Achtsamkeit als eine Form von „Aufmerksamkeit und Fürsorge" anzusehen, die auf einen selbst konzentriert ist. Auf diese Weise können wir Achtsamkeit als eine Form der intrapersonalen Einstimmung sehen, die ebenfalls Resilienz fördert. In den zwei vorhergehenden Kapiteln haben wir eingehender die Details dieser Einstimmung innerhalb der Achtsamkeit erforscht und gesehen, wie sie das Wachstum integrativer Fasern in den mittleren Präfrontalregionen fördern kann. Hier werden wir die Facette Nichtreaktivität ansprechen und uns vergegenwärtigen, was wir über Achtsamkeit und die Entwicklung des affektiven Stils wissen.
272
Facetten des achtsamen Gehirns
Annäherung und Rückzug Ein Hauptkonstrukt in der psychologischen wie neurobiologischen Literatur beschäftigt sich mit der Unterscheidung zwischen Annäherungs- und Rückzugstendenzen in unserem Geist, unseren Verhaltensweisen und unserem Gehirn. Die Annäherung treibt uns zu einem Gedanken hin, beschäftigt uns in einer Interaktion und scheint vorzugsweise die Aktivierung der vorderen Teile der linken Hemisphäre zu beinhalten. Der Rückzug zieht uns von etwas weg, löst uns aus einer Interaktion und zeigt eine Dominanz in der rechtsseitigen Aktivierung, insbesondere der vorderen Regionen. Heather Urry und ihre Kollegen (2004) haben diese beiden Zustände als neuronales Fenster zum Wohlbefinden definiert. Obwohl sich diese frühere Arbeit auf die Rolle des Affekts bei der Erklärung der Rechts-links-Unterscheidung konzentriert, weisen jüngere Arbeiten darauf hin, dass stabile individuelle Unterschiede in der relativen Aktivierung der Präfrontalregionen nicht wirklich ein Beispiel für eine hedonistische Tönung per se (positiv oder negativ) sind, sondern stattdessen mit der Neigung zusammenhängen, stabile annäherungsorientierte (linkshemisphärische) oder rückzugsorientierte (rechtshemisphärische) Verhaltenstendenzen angesichts geeigneter Stimulationsquellen an den Tag zu legen. (S. 368) Sie legen des Weiteren dar, dass die Beteiligung an zielrelevanten Vorgängen eine notwendige Dimension für das Erreichen von Wohlbefinden ist. In ihrer Studie treffen sie eine Unterscheidung zwischen eudaimonischen und hedonischen Formen des Wohlbefindens. Bei Eudaimonie [ein in der Philosophie häufig gebrauchter Begriff, der einen Zustand der Glückseligkeit und des seelischen Wohlbefindens beschreibt; Anm. d. Ü.] geht es mehr um ein Gefühl von Gleichmut als um die sinnliche Lust, wie es bei der Hedonie der Fall ist. Eine eudaimonische Form des Wohlbefindens umfasst die psychologischen
Qualitäten Autonomie, Beherrschung der Umwelt, positive Beziehungen, persönliches Wachstum, Selbstakzeptanz und Sinn und Aufgabe im Leben. Hedonisches Wohlbefinden konzentriert sich im Gegensatz dazu auf die Befriedigung im Leben, häufige Lustemotionen und sporadische unangenehme Emotionen. Unter Verwendung dieser beiden Konstrukte konnte in der Studie von Urry und Kollegen die Aktivierung des linken Präfrontals als wichtige Form der Geisteshaltung der Annäherung - statt lediglich als Quelle positiven Affekts - identifiziert werden. In ihrer Erörterung hoben sie hervor, dass die Assoziation zwischen frontaler Asymmetrie und Affekt eine lateralisierte Rolle des PFC bei der Umschreibung von Annäherung und Rückzug anregenden Tendenzen widerspiegelt, die ein wesentlicher Bestandteil affektiver Reaktionen sind. Der linke PFC ist als Reaktion auf appetitive Stimuli aktiv, die die Erfahrung des positiven Affekts wachrufen, weil diese Stimuli eine Grundtendenz induzieren, sich der Quelle der Stimulation anzunähern. (S. 370) Infolge der Dominanz der höheren linken Grundlinie wären solche Individuen daher motiviert, sich auf jene Ereignisse in ihrem Leben hinzubewegen, die potenziell Sinn und Lust in ihrem Leben erzeugen. Das könnte zu höheren Ebenen des Wohlbefindens beitragen. „Außerdem haben hemisphärenspezifische Analysen gezeigt, dass die Aktivierung des linken Präfrontals assoziiert wurde mit eudaimonischem, aber nicht hedonischem Wohlbefinden, nachdem man jene Abweichung, die mit veranlagungsbedingtem positivem Affekt assoziiert wurde, entfernt hatte" (S. 370). Mit anderen Worten, Annäherungstendenzen korrelieren mit Eudaimonie: Wir können uns auf quälende Ereignisse mit Gleichmut hinbewegen. Jetzt, wo wir beginnen, diese Arbeit mit anderen Dimensionen unserer Erörterung der Achtsamkeit zu verbinden, ist es hilfreich, sich die folgende Aussage aus der Studie von Urry et al. zu vergegenwärtigen:
274
Facetten des achtsamen Gehirns
Es ist uns unklar, warum unsere Untersuchungsergebnisse auf die frontozentralen Leitungen beschränkt waren. Diese Region liegt weit hinter den frontalen Regionen, die in der Vergangenheit in vielen Studien signifikante Verbindungen zum affektiven Stil gezeigt haben ... Mindestens eine Studie hat nahegelegt, dass Aktivität in dieser Region eine Aktivierung des supplementär-motorischen Areals widerspiegeln könnte ... was die Möglichkeit aufwirft, dass annäherungsbezogene Verhaltenstendenzen teilweise mit der tonischen Aktivierung in der supplementär-motorischen Region in Verbindung stehen. (S. 371) In Kapitel 8 haben wir die mögliche Rolle der Spiegelneuronen bei der Achtsamkeit erörtert, was mit diesem Resultat übereinstimmen würde, in dem Sinne, dass dieses supplementär-motorische Areal (SMA) mit Spiegeleigenschaften angefüllt ist (Decety & Grezes 1999). Könnte es sein, dass die Probanden in diesem Forschungsparadigma, bei dem diese „einfach" mit geschlossenen Augen ausruhten (haben sie sich auf ihren Atem konzentriert?), einen Annäherungszustand aktivierten und sich auf sich selbst einstimmten?
Grundlinienzustände Neurowissenschaftler haben einen Grundlinienzustand beschrieben, der die Aktivität bestimmter neuronaler Schaltkreise beinhaltet, die sich zeigt, wenn Individuen mit geschlossenen Augen ruhen. Gusnard und Raichle (2001) haben beschrieben, dass ein Standard- oder Grundlinienmodus zwangsläufig spezifische Schaltkreise beinhaltet. Diese Forscher (Raichle, MacLeod, Snyder, Powers, Gusnard & Shulman 2001) haben festgestellt, dass das Gehirn, obwohl es im Ruhezustand etwa 20 Prozent des vom Körper gebrauchten Sauerstoffs verbraucht, nur 2 Prozent des Körpergewichts ausmacht. Dieser Sauerstoffverbrauch ist nicht gleichmäßig verteilt, sondern betrifft vor allem Bereiche, die eine frontale und eine posteriore Region einschließen. Der posteriore
Flexibilität des Fühlens
275
Teil könnte für das Zusammenfügen von Informationen über die Welt insgesamt und möglicherweise für Aspekte des Selbst wichtig sein. Die Frontalregionen schließen Aspekte des mittleren Teils der Präfrontalregion ein, einschließlich der orbitofrontalen und medialen Präfrontalbereiche. Gusnard und Raichle vermerkten: Das orbitale Netzwerk besteht aus zytoarchitektonisch eigenständigen Bereichen, die eine Reihe von sensorischen Informationen aus dem Körper und der äußeren Umgebung empfangen. Diese Informationen werden über eine komplexe Anordnung von Verbindungen an den ventromedialen Präfrontalkortex weitergeleitet. Areale innerhalb des ventromedialen Präfrontalkortex sind stark an den limbischen Strukturen, wie der Amygdala, dem ventralen Striatum, dem Hypothalamus, dem periaquäduktalen Grau des Mittelhirns und den Edinger-Westphal-Kernen des Stammhirns, ausgerichtet. Solche anatomischen Beziehungen weisen darauf hin, dass diese medialen Bereiche für die Integration von viszeromotorischen Aspekten von Emotionen und Informationen, die aus der inneren und äußeren Umgebung gesammelt werden, zuständig sein könnten. (S. 692) Des Weiteren weisen die Autoren darauf hin, dass diese mittleren Präfrontalbereiche (OFC, vmPFC) „zur Integration emotionaler und kognitiver Prozesse beitragen könnten, indem sie emotionale Beeinflussungs-Signale oder -Marker in Prozesse der Entscheidungsfindung einfließen lassen". Erinnern Sie sich daran, dass von einer anderen Mittellinienstruktur (dem Kortex des Cingulum anteriore, ACC, ebenfalls gezeigt worden ist, dass sie diese Prozesse einbezieht (Bush, Luu & Posner 2000). Eine weitere, damit in Beziehung stehende Mittellinienregion, die an der Grundlinie aktiv ist, ist der dorsale Aspekt des mittleren Präfrontalkortex (dmPFC). Die mentalen Funktionen, die mit dieser Region in Verbindung gebracht werden, beinhalten die Überwachung des eigenen mentalen Zustands und die Berichterstattung dieser
276
Facetten des achtsamen Gehirns
inneren Zustände gegenüber anderen, der intentionalen Rede, selbst erzeugten Gedanken und Emotionen. Eine weitere Aktivität, die mit dem DMPFC assoziiert wird, ist unter anderem, dass man anderen bestimmte mentale Zustände zuschreibt. Frith und Frith (1999) haben postuliert, dass diese dorsomediale Präfrontalregion überaus wichtig für die mentale Repräsentation des Selbst sei. Diese interaktiven ventralen und dorsalen mittleren Präfrontalbereiche haben komplexe Beziehungen zueinander, wie sich an den folgenden Ausführungen von Bird und seinen Kollegen (Bird, Castelli, Malik, Frith & Hussain 2004) zeigt: Die Rolle, die dem medialen Frontalkortex zugeschrieben wird, ist die hierarchische Kontrolle über Verarbeitungsprozesse, die in anderen Teilen des mentalisierenden [d. h. mentale Zustände wahrnehmenden und kommunizierenden; Anm. d. Ü.] Schaltkreises stattfinden (Frith & Frith 2003). Es ist recht gut möglich, dass bei Erwachsenen, die sich normal entwickelt haben, eine solche Kontrolle von oben unnötig ist, um die Art von Aufgaben durchzuführen, die in dieser Studie verwendet werden, und dass sie nur für schnell modulierende Prozesse in komplexen, neuartigen sozialen Situationen notwendig ist. (S. 925) In diesen Studien hat die Grundlinienaktivität unter Aufgabenbedingungen, die keine Aktivierung des sozialen Schaltkreises erforderten, abgenommen. Das impliziert, dass die Abbildung von mentalen Prozessen, die „Mindsight", ein komplexes Zusammenspiel von Schaltkreisen beinhaltet, die sich als Reaktion auf neue sozial und psychologisch relevante Situationen auf beabsichtigte Aktivitäten einlassen.
Flexibilität des Fühlens
277
Verschiebung auf die linke Hemisphäre Das Thema des Standardmodus oder der Grundlinienaktivität des Gehirns verkompliziert Forschungsinterpretationen, denn wenn man Individuen eine Aufgabe gibt, dann geht man davon aus, dass der spezifische Fokus auf der äußeren Aufgabe die Aktivität dieser eher global konzentrierten, mental gelenkten Schaltkreise verringert. Wenn ein Wissenschaftler keine Verschiebung sieht, heißt das dann, dass die Aktivität diese Bereiche tatsächlich weiter in Anspruch nimmt? Wenn es zu einer Verringerung kommt, heißt das dann vielleicht, dass jene Bereiche einfach nur effizienter in der Vollendung einer gegebenen Aufgabe werden, selbst wenn sie eine geistige Orientierung hat? Aus diesen Gründen müssen wir Geduld und Respekt hinsichtlich der Herausforderungen sorgfältiger Gehirnforschungen mit bildgebenden Verfahren und der Interpretation ihrer Resultate aufbringen. Die Feststellung, dass die Achtsamkeitsmeditation mit der Aktivierung des anterioren Cingulums in Verbindung gebracht wird, ist ein guter Anfang (Cahn & Polich 2006). Und auch die vorläufigen Ergebnisse, dass die orbitofrontalen und superioren Temporalregionen durch das Atembewusstsein aktiviert werden, bieten einige aufregende Hinweise (Lazar, persönliche Mitteilung im Juni 2006). Selbst im Hinblick auf die Fülle an Meditationsformen innerhalb der buddhistischen Tradition haben Lutz, Dünne und Davidson (im Druck) erklärt: Die neuroelektrischen Signaturen dieser verschiedenen meditativen Techniken (Aufmerksamkeit fokussieren, Zazen, Vipassana-Meditation) sind noch keine feste Größe. Unser gegenwärtiges Verständnis deutet darauf hin, dass die Auswahl oder der Ausschluss bestimmter Inhalte (sensorische, motorische, interne Aufgaben) aus der Aufmerksamkeit mit der Aktivierung oder Hemmung spezifischer Gehirnareale einhergeht, wie sie durch spezifische Veränderungen in punktuellen oszillatorischen Gehirnmustern indiziert sind.
278
Facetten des achtsamen Gehirns
Selbst wenn wir die genaue Signatur noch nicht kennen mögen, so kennen wir doch ein wichtiges allgemeines Profil: Die Achtsamkeitsmeditation scheint eine linksseitige Verschiebung in der frontalen Aktivierung hervorzurufen. Unabhängige Disziplinen haben die Lateralität untersucht und gezeigt, dass die rechte Hemisphäre unangenehme, negativ geladene Affekte zu kodieren scheint (Davidson 2004). In Untersuchungen mit Kindern hatten Säuglinge, die von schwer depressiven Müttern aufgezogen wurden, eine Dominanzverschiebung zur rechten Hemisphäre hin, die sich bis in die frühe Kindheit fortsetzte und eine ähnliche rechtsseitige Dominanz in der Frontalaktivität bei ihren Müttern widerspiegelte (Dawson, Frey, Panagiotides, Yamada, Hessl & Osterling 1999). Eine andere, möglicherweise relevante Studienreihe beinhaltet das Untersuchen von Kindern, die unter extremer Schüchternheit leiden, ein Temperamentsmerkmal, das mit Rückzug von Neuem und einer erhöhten rechtsseitigen Aktivierung in neuen Situationen assoziiert wird. Jerome Kagan stellte fest, dass die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder behandelten, über das Entwicklungsergebnis bei schüchternen Kindern bestimmen konnte (1994). Jene Eltern, die auf die veranlagungsbedingten Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und ihnen eine sichere Basis und Verbindung geben konnten, während sie ihnen gleichzeitig dabei halfen, sich in die Welt hinauszubegeben, und sie liebevoll unterstützten, neue Dinge auszuprobieren, hatten Kinder, die aus ihren Rückzugstendenzen herauswuchsen. Selbst wenn sie vielleicht weiterhin erhöhte neuronale Angstsignaturen hatten, konnten sie sich anpassen; sie waren in der Lage, eine Haltung von Resilienz zu bewahren und sich Herausforderungen anzunähern. Jene Kinder, die nicht so viel Glück hatten, behielten ihre Angst und Unsicherheit bei. Der relevante Punkt hier ist, dass die Entwicklung des affektiven Stils der Annäherung eine erlernte Fähigkeit sein kann, die sich mit der Erfahrung entwickelt; in diesem Fall im Rahmen einer Bindungsbeziehung des Kindes zu den Eltern. Wie wir erörtert haben, stellten Richard Davidson und seine Kollegen eine Verschiebung in der Grundlinie von Langzeit-Medi-
Flexibilität des Fühlens
279
tierenden zu einer Aktivierung der vorderen linken Hemisphäre fest. Und bei noch nicht lange Praktizierenden wurde das Ausmaß der Linksverschiebung mit einer Verbesserung der Immunfunktionen im Anschluss an ein achtwöchiges Training in Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) korreliert (Davidson et al. 2003; Davidson & Kabat-Zinn 2004). Die elektrische Aktivität des Gehirns wurde vor und nach dem Trainingsprogramm gemessen, und die Immunaktivität als Reaktion auf eine Grippeimpfung wurde überprüft. Das Ausmaß der Erhöhung der Linksverschiebung war proportional zum Ausmaß der Immunreaktion. Es ist hilfreich zu skizzieren, wie diese Studie durchgeführt wurde. Vor und nach einem Training, das die Achtsamkeitsmeditation einschloss, gab man den Probanden die Aufgabe, negative wie positive Ereignisse in ihrem Leben aufzuschreiben. Die elektrische Aktivität wurde an der Basislinie und unmittelbar nach dieser Aufgabe gemessen. Bei den geübten Probanden war im Vergleich zu den Kontrollpersonen die linksseitige Frontalaktivierung im Anschluss an die Aufgabe sowohl für die positive wie für die negative Bedingung erhöht. Die Autoren vermuten, dass man bei einer mehr als achtwöchigen Übungszeit wahrscheinlich auch die Grundlinienverschiebung festgestellt hätte - wie es bei Studien von Langzeit-Meditierenden der Fall ist. Bei jenen nichtprospektiven Studien (siehe Davidson et al. 2003, für eine Übersicht) können wir nicht wissen, ob die Meditation zu der Verschiebung geführt hat oder ob die Verschiebung sie dazu gebracht hat, zu meditieren. Die Leistung der prospektiven MBSR-Studie besteht darin, dass diese Probanden in zwei Gruppen eingeteilt wurden, zu denen eine Kontroll-Untergruppe gehörte, und dass keiner der Teilnehmer je ein Meditationstraining absolviert hatte. Doch warum sollte das Aufschreiben eines negativen Ereignisses in Ihrem Leben den so genannten „positiven Affekt-Bereich" der linken Hemisphäre aktivieren? Hier kommt die Thematik der Annäherungsvermeidung ins Spiel. Wie Davidsons und Urrys Artikel nahe legen, könnte man sich das Konzept am besten als Annäherung (links) gegenüber Rückzug (rechts) vorstellen. Wenn man diese Erkenntnis
280
Facetten des achtsamen Gehirns
im Hinterkopf hat, dann scheint es so zu sein, dass man sich, wenn einem die Fähigkeit der Achtsamkeit gegeben wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit sogar negativen Ereignissen mit einer Annäherungshaltung nähert. Diese Annäherungsreaktion befähigt einen, sich sogar auf unangenehme Erfahrungen hinzubewegen, statt sich von ihnen zurückzuziehen. Das ist eine unkomplizierte Definition von Resilienz. Die Annäherung kann eine weitaus größere Anpassung darstellen und Sie befähigen, mit mehr Gleichmut durchs Leben zu gehen; und Gleichmut kann Sie wiederum befähigen, sich besser mit sich selbst zu fühlen und damit, durch Ihr Handeln etwas in der Welt bewirken zu können.
Affektiver Stil und Achtsamkeit Zusammengenommen deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass der Annäherungsmodus bzw. die Linksverlagerung während der Achtsamkeitsmeditation aktiviert werden und sie letzten Endes ein Teil des Übergangs vom Zustand zum Merkmal sein könnten, der mit verschiedenen Formen physiologischen, psychologischen und zwischenmenschlichen Wohlbefindens in Verbindung gebracht worden ist - Qualitäten, die für Praktiken des achtsamen Gewahrseins berichtet worden sind. Indem wir dahin gelangen, unserer inneren Welt mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe (COAL) zu begegnen, erlernen wir die Schritte der Annäherung - nämlich ganz wörtlich, alle Besucher im Feld des Bewusstseins willkommen zu heißen. Die Nabe unseres Geistes ist weit offen und rezeptiv für alles, was von irgendeinem Punkt auf dem Rand zu ihr kommt. Das eigentliche Achtsamkeitstraining in verschiedenen Praktiken, einschließlich der Sitz- und Gehmeditationen, auf die wir uns bei jenem Schweigeretreat konzentrierten, verbessert ganz unmittelbar die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu konzentrieren und dann den Geist zu öffnen. Wenn die Inhalte des Geistes zum Objekt der Aufmerksamkeit werden, dann wird bald deutlich, dass ihr mentales Wesen, das elementare Kommen und Gehen unserer Gedanken, Gefühle, Bilder
Flexibilität des Fühlens
281
und Empfindungen, etwas ist, das wir von einem geräumigen inneren Ort der Stabilität und Klarheit aus beobachten können. Das ist nicht dasselbe wie Entspannung; es ist vielmehr ein Ort der Gleichmut, der sich dafür anbietet, nicht aus der Aufmerksamkeit wegzugehen, sondern sich in den Raum im Innern auszudehnen. Der affektive Stil scheint durch Praktiken des achtsamen Gewahrseins zur Resilienz hin verändert werden zu können. Ganz wörtlich bedeutet das, dass die Neigung, die wir haben könnten, uns von quälenden Gefühlen wegzubewegen, durch eine offene Weite in unserem Geist ersetzt wird, sich auf eine Herausforderung hinzubewegen, voranzugehen und sich in der inneren und äußeren Welt zu engagieren. Mit dieser Annäherungshaltung können unsere Gefühle flexibler werden. Die Nabe des Bewusstseinsrads kann alles aus dem Randbereich mit einer offenen, gleichmütigen Haltung willkommen heißen - unbequeme Gefühle und Ängste, Erinnerungen oder Geschichten, soziale Herausforderun-gen oder Momente der Isolation. Mit affektiven Stilen der Resilienz werden unsere Gefühle flexibler. Wir erreichen die Achtsamkeitsfacette Nichtreaktivität in Form von Gleichmut, wenn wir uns unserer inneren Welt mit Akzeptanz nähern, statt uns vor ihr zu fürchten und sie zu vermeiden oder sie zu hassen und zu attackieren. Eine resiliente Seinsweise schließt die Fähigkeit ein, sich von negativen Zuständen zu erholen, und nicht, sie vollkommen aus unserem Leben zu eliminieren. Wir sind alle Menschen, und es geht hier um eine Flexibilität im Gefühlsbereich und nicht darum, diesen aus dem vollen Spektrum unseres Menschseins auszuschließen.
Mentales Zur-Kenntnis-Nehmen mit Worten beschreiben und benennen Eine Facette, die die emotionale Balance unterstützen könnte, ist die Fähigkeit, Worte zum Beschreiben unserer Gefühle zu verwenden. Ein wichtiger Aspekt des Schaffens von Flexibilität in unserem Gefühlsleben, eine Verlagerung des affektiven Stils hin zu Annäherung und Resilienz, kann auch in der Art und Weise gesehen werden, wie
282
Facetten des achtsamen Gehirns
wir geistige Vermerke über unsere innere Welt machen. Obwohl die verbale Aktivierung im Gehirn möglicherweise nicht mit jenen spezifischen Bereichen korreliert, die an der „Linksverschiebung" beteiligt sind (Richard Davidson, persönliche Mitteilung im August 2006), beinhaltet die Achtsamkeit selbst diesen elementaren Prozess des ZurKenntnis-Nehmens. Diese Facette der Achtsamkeit nennt sich „mit Worten beschreiben bzw. benennen". Im Bereich der Kindesentwicklung verwenden wir den Begriff Selbstgespräch, um die Art und Weise zu beschreiben, wie Kinder einen inneren Dialog entwickeln. Wenn es bei diesem Selbstgespräch um den Geist selbst geht, dann nennen wir dies Gedankensprache (mentalese) bzw. eine Sprache, die es uns ermöglicht, das geistige Wesen unserer inneren Welt zu beschreiben und zu benennen. Einige Kinder entwickeln diese Fähigkeit gut, andere nicht. Aus unterschiedlichen Gründen, von denen einige mit dem Temperament zusammenhängen und andere mit Erfahrungen innerhalb der Familie (Siegel & Hartzell 2003), entwickelt jeder von uns seine einzigartige Fähigkeit zum Dialog über den Geist. Ich verwende den Begriff reflektive Dialoge, um die Art und Weise zu bezeichnen, wie wir uns mit unseren Kindern über das Wesen ihres Geistes unterhalten. Es könnte sein, dass das Erleben solcher Unterhaltungen mit Kindern als Fähigkeit internalisiert wird, ihre inneren Zustände zu beschreiben, wenn sie heranwachsen (Siegel 1999; Vygotsky 1934/1986). Diese Fähigkeit spiegelt die Domäne der „Mindsight" wider, in der wir dazu gelangen, die Welt in mentalen Kategorien zu sehen, und uns auf unsere innere Welt und das mentale Leben von anderen konzentrieren. Unterschiedliche Forschungen in Psychologie und Neurowissenschaft kamen zu dem wichtigen Ergebnis, dass Menschen, die Worte verwenden, um ihre inneren Zustände, wie etwa ihre Emotionen und das, was sie wahrnehmen, zu beschreiben, flexibler und eher in der Lage sind, ihre Emotionen anzupassen und zu regulieren (Ochsner, Bunge, Gross & Gabrieli 2002). Achtsamkeit als Konstrukt wird mit den Facetten Nichtreaktivität einerseits und dem Beschreiben bzw. Benennen mit Worten andererseits in Verbindung gebracht, und das
Flexibilität des Fühlens
283
stimmt vollkommen mit der unabhängigen Forschung aus diesen Bereichen überein. Aber wie kann das Beschreiben von etwas uns dazu befähigen, Gleichmut angesichts von Stress zu bewahren? Warum sollte das Benennen einer nonverbalen inneren Dimension des Geistes mit einem Wort eigentlich eine gute Sache sein? Geistig etwas zur Kenntnis zu nehmen, scheint eine linksseitige Herangehensweise zu erfordern, bei der man sich auf einen inneren Zustand zubewegt und ihn benennt. Aber dann könnte die Modulation der emotionalen Erregung wiederum eine rechtsseitige Aktivierung beinhalten. Was Forscher an der UCLA bei Hirnszintigrafien beobachtet haben, ist, dass der Akt des Benennens der Art von intensiven Emotionen, die man auf einem Bild sieht, das limbische Feuern stärker in Balance hält als die Beobachtung ohne Beschreibung (Hariri, Bookheimer & Mazziotta 2000). Das klingt erstaunlich, scheint aber wahr zu sein. Doch lesen Sie hierzu einen Ausschnitt aus der Zusammenfassung der Studie von Hariri et al.: Wütende und ängstliche Ausdrücke aufeinander abzustimmen war mit erhöhtem regionalem zerebralem Blutfluss (rCBF) in der linken und rechten Amygdala verbunden, den primären Angstzentren des Gehirns. Dieselben Ausdrücke zu benennen, war mit einer verringerten rCBF-Reaktion in den Amygdalae verbunden. Diese Verringerung entsprach einer gleichzeitigen Erhöhung im rCBR im rechten Präfrontalkortex, einer neokortikalen Region, die an der Regulierung emotionaler Reaktionen beteiligt ist. Diese Ergebnisse können als Beweis für ein Netzwerk dienen, in dem höhere Regionen die emotionalen Reaktionen auf den elementarsten Ebenen im Gehirn abschwächen, und sie legen eine neuronale Basis für die Modulierung emotionaler Erfahrungen durch Interpretation und Benennung nahe. (S. 43) Eine verwandte Studie von Creswell, Way, Eisenberger und Lieberman (eingereicht) ergab, dass Individuen mit höheren Graden
284
Facetten des achtsamen Gehirns
an Achtsamkeitsmerkmalen bei einem Verfahren, bei dem sie die Emotion benannten, die sie auf einem fotografierten Gesicht sahen, eine stärkere aktive Präfrontalaktivierung hatten als jene ohne diese Merkmale. Der rechte ventrolaterale Kortex und der mittlere Präfrontalkortex wurden jeweils während dieser Benennungsaufgabe aktiviert. Diese präfrontale Aktivierung wurde von einer Verringerung in der Amygdala-Aktivierung als Reaktion auf Gesichter begleitet. Dieser Prozess wurde bei den Probanden ohne Achtsamkeitsmerkmale nicht in diesem signifikanten Ausmaß festgestellt. Wie in Anhang III im Zusammenhang mit den Funktionen des mittleren Präfrontals und der kindlichen Entwicklung detailliert dargestellt wird, legt dies nahe, dass Achtsamkeitsfähigkeiten eine effektivere Affektregulation fördern könnten.
Links und rechts integrieren Beachten Sie bei diesen Untersuchungsergebnissen, dass im Moment der affektiven Erregung und der Aktivierung der Amygdala der rechte Präfrontalbereich aktiver wurde. Hier sehen wir die Komplexität wissenschaftlicher Daten: Die Aktivierung der linken Hemisphäre würde eigentlich für den Gebrauch von Sprache erforderlich sein (erinnern Sie sich: Die linke Gehirnhälfte ist auf die vier L-Worte spezialisiert: Linguistik, Logik, Linearität und literales [wörtliches] Denken). Doch nach Ansicht dieser und anderer Autoren scheint die Emotionsmodulation eine Spezialität der rechten Gehirnhälfte zu sein; vergleiche Schore (2003a) für eine Zusammenfassung dieser Sichtweise. Insbesondere die Forschung über die Angsttilgung und Affektregulation hat gezeigt, dass der mittlere (ventromediale und ventrolaterale) Aspekt des Präfrontalkortex Vorhersagen direkt an die Amygdala sendet, die den hemmenden Transmitter GABA ausschüttet. Dennoch bezieht unser Arbeitsgedächtnis auch den seitlichen (dorsolateralen) Bereich des Präfrontalkortex ein, der keine direkten synaptischen Verbindungen zur Amygdala hat. Zusammengenommen können wir feststellen, dass man, um mental etwas zur Kenntnis zu nehmen, sich
Flexibilität des Fühlens
285
bewusst die linkshemisphärischen sprachlichen Prozesse innerhalb des Gewahrseins (die dorsolateralen Präfrontalregionen) zunutze machen muss, die sich dann mit den direkteren mittleren Präfrontal-Regulierungsschaltkreisen (insbesondere den Ventralregionen) auf der rechten Seite verbinden müssen. Eine solche bilaterale (hemisphärenübergreifende) Integration würde uns helfen, zu erkennen, wo die Koordination von Pro-zessen auf der linken und der rechten Seite zu einem flexibleren, anpassungsfähigen, kohärenten, energetisierten und stabilen Zustand (FACES) führen würde. Dieser FACES-Zustand taucht auf, wenn wir Integration erzeugen. Das mentale Zur-Kenntnis-Nehmen - Worte verwenden, um unsere inneren Erfahrungen zu beschreiben und zu benennen ist ein wunderbares Beispiel für die Art von beabsichtigter Integration, die Kohärenz in unserem Leben schafft. Aber wie prägt die linksseitige Erzeugung von Worten die rechtsseitige Emotionsmodulation? Wir kennen die Antwort darauf noch nicht. Eine Möglichkeit ist, dass die beiden aktivierten Gehirnregionen homologe Regionen sind. Eine solche Homologie der linken und der rechten Hemisphäre macht die Interpretation von Studien zu neurologischen Läsionen zu einer Herausforderung. So könnte zum Beispiel eine linksseitige Läsion entweder die Funktionen auf der linken Seite abschwächen oder diejenigen auf der homologen rechten Seite verstärken, wenn die übliche Hemmung verschwunden ist. Interessanterweise nimmt man an, dass linksseitige Sprachareale mit unserer Fähigkeit verbunden sind, Spiegelneuronen bei der Schaffung von Sprachmustern zu verwenden. Auch wenn dies noch nicht formal untersucht oder skizziert wurde, so können wir doch unsere frei umherschweifende Fantasie einsetzen, um uns die Möglichkeit vorzustellen, dass unsere linksseitigen sprachlichen Spiegelbereiche den rechtsseitigen emotionalen Resonanzbereichen entsprechen. Wenn das der Fall wäre, dann könnte der Sprachgebrauch auf der linken Seite die emotionale Erregung auf der rechten abdämpfen, und zwar über eine Koordination der Homologie über die ventromedialen und ventrolateralen Präfrontalbereiche, die solche regulatorischen und integrativen Funktionen ausführen könnten. Erinnern Sie sich daran,
286
Facetten des achtsamen Gehirns
dass Integration aus Koordination und Balance besteht. Die Komplexität der Vorgänge, durch die eine solche vorgeschlagene integrative Selbstregulation im Prozess der Benennung unserer Gefühle geschehen könnte, wird noch weiter erforscht werden müssen. Was immer der tatsächliche neuronale Mechanismus ist, in der Praxis ist es so, dass wir sowohl in den hier zusammengefassten neurowissenschaftlichen Studien als auch in der subjektiven Erfahrung der Achtsamkeit, wie sie in der Forschung ausführlich beschrieben wurde, feststellen, dass Nichtreaktivität und emotionale Ausgeglichenheit Hand in Hand mit der Facette des Benennens und Beschreibens innerer Zustände gehen. Es sind unterschiedliche Mechanismen, getrennte Facetten der Achtsamkeit, doch die eine unterstützt ganz eindeutig die Existenz der anderen. Diese Erfahrungen des mentalen Zur-Kenntnis-Nehmens lehren uns die Fähigkeit des Benennens, um uns zu helfen, unseren Geist in Balance zu bringen, statt ihn in das Gefängnis des mechanischen „von oben nach unten" einzusperren. Wir lernen, dass das, was sich vorher wie ein unveränderbares und quälendes Gefühl war, jetzt beobachtet und zur Kenntnis genommen werden kann. Und wir können leichter wieder zu unserem Gleichgewicht zurückfinden. Das ist die Essenz des affektiven Stils der Resilienz.
Kapitel 11 Reflektives Denken: Bildersprache und der kognitive Stil des achtsamen Lernens Die ersten beiden Jahre meines Studiums an der medizinischen Fakultät fand ich berauschend und aufwühlend zugleich. Ich liebe die Naturwissenschaften und fand diesen Teil interessant, wenn auch die Verlagerung vom Studium des Lebens in der Biologie zum Studium von Krankheit und Tod oft zu einer Achterbahn der Gefühle mit Seelenqualen und Verzweiflung wurde. Doch als die Zeit kam, Patienten zu empfangen, verliebte ich mich gewissermaßen in die Menschen, die ich da kennen lernen durfte. Die Gelegenheit, mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten in Verbindung zu treten und ihnen dabei zu helfen, die Ursachen ihres Ringens herauszufinden und die Komplexität ihres Lebens zu erforschen, war zutiefst bewegend. Als es dann aber an der Zeit war, die Geschichten, die ich von meinen Patienten zusammengetragen hatte, meinen Professoren vorzustellen, veränderte sich alles.
288
Facetten des achtsamen Gehirns
Immer wieder wurde mir gesagt, ich solle nicht die Gefühle der Patienten erörtern, denn das sei „nicht das, was Ärzte tun". Man drängte mich dazu, mich auf die körperliche Untersuchung zu konzentrieren und nicht auf das, was im Leben der Person vor sich ging. Auf eine Weise, die ich damals nicht in Worte fassen konnte, konditionierte man mich darauf, die Psyche meiner Patienten ebenso zu ignorieren wie meine eigene. Als junger, eifriger Student versuchte ich auf vielfache Weise, der Anordnung meiner Dozenten zu folgen und nicht zu fühlen. Doch bald stellte ich fest, dass ich mich leer fühlte, ohne ein Gefühl von Sinn in der Gegenwart, und dass ich den Kontakt zu meinen Idealen aus der Vergangenheit verlor. Ich hatte nicht gedacht, dass Arzt zu werden, sich so gestalten würde. Es schien keine Möglichkeit zu geben, einen Weg in eine Zukunft zu finden, die irgendeinen Sinn ergab. Ich verließ die Fakultät in der Hoffnung, einen neuen Beruf zu finden, und stellte mir in meiner Fantasie viele Berufe vor - im Bereich Tanz oder in der Lachsfischerei, im Zimmereihandwerk oder in der psychologischen Beratung. Ich hatte die Antragsformulare für Aufbaustudien in Pädagogik und Psychologie und probierte mich in verschiedenen Beschäftigungen aus. Ich erforschte diese Möglichkeiten auf einer Reise durch den amerikanischen Kontinent und kehrte schließlich in meinen Heimatort zurück, um mit Freunden zusammen zu sein, meiner Großmutter beizustehen, denn mein Großvater lag im Sterben, und darüber nachzudenken, wo ich mich hinbewegte. Während jener (freien) Zeit, um nach innen zu gehen, hörte der Nachbar eines Freundes von meinem beruflichen Wechsel und gab mir ein gerade veröffentlichtes Buch mit dem Titel Garantiert zeichnen lernen von Betty Edwards (Drawing on the right side of the brain, 1979). Ich war im Malen oder Zeichnen nie geschickt gewesen, aber irgendetwas an dem Buch zog mich an, und so vertiefte ich mich darin und fand einen ganz neuen Weg, die Welt zu spüren. Ob diese Vertiefung in das unmittelbare Sehen nun rechts oder links, oben oder unten passierte, dieser „rechte Modus", die Welt wahrzunehmen, war eine ganz andere Art, die Welt zu erfahren, als das, was ich im Rahmen des wissenschaftlichen Studiums am College und an der
Reflektives Denken
289
medizinischen Fakultät getan hatte. Es war auch ganz anders als der abgekoppelte und gleichgültige Zustand, den ich während der Konditionierung meiner Professoren, nicht fühlen zu dürfen, erlebt hatte. Jetzt fühlte ich mich lebendig und vollkommen präsent. Jahre später sollte ich das Gebiet der Achtsamkeit entdecken und neue Einsichten über das gewinnen, was ich in jenem Jahr erfahren durfte. In ihrem Buch On becoming an artist liefert Ellen Langer (2005) nicht nur Argumente für den psychischen und physischen Nutzen achtsamer Kreativität, sondern ihre Forschungen zeigen auch, wie man eine neue kreative Aufgabe (Malen, Fotografieren, Musizieren ja sogar Gartenarbeit oder Kochen) nutzen kann, um eine persönliche Renaissance herbeizuführen, die dem ähnlich zu sein scheint, was ich in meiner Zeit der Einstimmung auf mich selbst während jenes freien Jahres empfand. Langer glaubt, dass wir danach streben sollten, so oft wie möglich achtsam zu sein, und dass wir kreative Mittel nutzen sollten, um Hürden zu umschiffen und diesen flexiblen Zustand zu erreichen. Sie weist daraufhin, dass die Herausforderung, achtlos zu sein, darin besteht, dass uns nicht bewusst ist, uns in jenem Zustand zu befinden. Also können wir ihn nicht „in Ordnung bringen" oder im Wesentlichen wissen, wie man einen Weg finden kann, um „den Autopiloten abzuschalten". Gegen Ende meines zweiten Jahres an der medizinischen Fakultät, kurz bevor ich sie verließ, hatte jener Autopilot schließlich begonnen, sich so taub anzufühlen, dass ich so einfach nicht weitermachen konnte. Vielleicht fühlen andere Menschen ja eine Taubheit in ihrem alltäglichen, von Routine geprägten Leben, die ihnen ebenfalls als Weckruf dienen kann, um sich aus einer solch passiven Existenz zu befreien. Die „Kreativität", die darin lag, Abstand von den vorgeschriebenen Aktivitäten und Plänen anderer zu haben, machte mich frei, einen neuen Weg zu finden, die Welt, das Leben und meinen eigenen Geist zu erfahren. Sobald ich begann, die Taubheit zu fühlen, wurde deutlich, dass ich eine Pause machen musste. Ich musste weg von dem damaligen Ausbildungssystem, das die Bedeutung unseres subjektiven Lebens zu missachten schien, die Essenz dessen, wer wir jeweils als Patienten, Studenten und Dozenten waren. In dieser Abgrenzung
290
Facetten des achtsamen Gehirns
von dem geplanten Weg schien mich meine Reise zu einem kreativen Eintreten in meine eigene innere Welt zu bringen, die ich so lange ignoriert hatte. Um die Richtung in eine Zukunft voller Möglichkeiten zu finden, musste ich innehalten und mir zuerst die Zeit nehmen, herauszufinden, was ich wollte. Ich erinnere mich, dass ich, bevor ich die medizinische Fakultät verließ, das Gefühl hatte, es müsse einen anderen Weg geben, wie man Patienten behandeln könne, man sie also nicht einfach nur als „Hülse einer Krankheit" sehen dürfe. Nachdem ich mir jene Auszeit genommen und diese neuen Wege des Kennenlernens meiner inneren Welt erforscht hatte, beschloss ich, zum Medizinstudium zurückzukehren. Ich war für jegliche Erfahrung offen und mir bewusst, dass der Sozialisierungsprozess innerhalb der medizinischen Fakultät uns dazu drängen würde, „auf Automatik" zu gehen und einfach nur stumpfsinnig zu lernen, wie man diagnostiziert, Medikamente verabreicht und sie verteilt. Irgendwie schien mir der Perspektivenwechsel während jenes Jahres, der eine achtsame Erforschung gewesen sein mag, jedoch die Stärke und die Geistesgegenwart verliehen zu haben, mehr Bodenhaftung zu bewahren. Ich schien zumindest die Intention zu haben, auf meine eigene innere Welt und die meiner Patienten eingestimmt zu sein. Jahre später, als ich die Erforschung von Achtsamkeit vorbereitete, stieß ich auf die Schriften eines alten Klassenkameraden. Ronald Epstein (1999) schrieb einen beeindruckenden Beitrag zur Bedeutung der Achtsamkeit für den Kliniker. In diesem Beitrag legte er nahe, dass Mediziner sich auf die „achtsame Praxis" einlassen müssen, um sich vollständiger, nämlich mit reflektiver Präsenz, in die klinische Beziehung einbringen zu können. In einem weiteren Artikel (2001) schrieb Epstein noch etwas über das Leben an der Fakultät zu der Zeit, als wir dort waren: Die musikalische Praxis hat einen anderen Einfluss ausgeübt. Weil ich zuerst eine Ausbildung als Musiker und später eine als Arzt gemacht hatte, war ich angesichts meiner ansonsten hervorragenden medizinischen Ausbildung überrascht über einen auffallenden Mangel an Aufmerksamkeit für das Selbst des Ausübenden. Im Gegensatz
Reflektives Denken
291
dazu ist im Musikstudium, das genauso theoretisch und in technischer Hinsicht komplex sein kann wie jedes medizinische Fachgebiet, das Selbst des ausübenden Künstlers Gegenstand ständiger Untersuchung und Reflektion. (S. 64) Ich erinnere mich, dass ich es genoss, Ron zusammen mit einigen seiner engen Freunde auf dem Cembalo spielen zu hören. Man konnte die Fülle ihrer Präsenz spüren, während sie in die Musik eintauchten und über die Komposition miteinander verbunden waren. Warum konnte dasselbe nicht auch für die „nichtkünstlerischen" Berufe gelten? Wo war die Kunst in der Kunst der Medizin geblieben? Als ich die Fakultät mitten im Studium verließ, da beschäftigte ich mich mit Tanz und mit Zeichnen, um als „Selbst" ins Leben einzutauchen. Ohne es zu wissen, strebte ich nach einem Weg, präsent und verbunden zu sein. Nur allzu häufig lehrt uns unser Berufsleben, geistlose Verarbeiter von Informationen zu sein, abgetrennt von uns selbst und der Arbeit - achtlos zu sein. Doch diese Form der pädagogischen Vernichtung sollte bald zu einem Studienbereich werden, der auf der anderen Flussseite von dem angesiedelt war, wo Ron und ich diesen „auffallenden Mangel an Aufmerksamkeit für das Selbst" erlebten. Ellen Langer sollte bald Untersuchungen dazu durchführen, wie man das Selbst und den Geist in die Erziehung zurückbringt. Glücklicherweise hat sich die medizinische Fakultät ebenfalls verändert.
Achtsames Lernen Innerhalb der Pädagogik und der Psychologie hat Ellen Langer die Idee verfolgt, dass man das Lernen auf grundlegend andere Weise angehen kann, als sie üblicherweise praktiziert worden ist (Langer 1989/1997). Ihre Studie des achtsamen Lernens bietet uns eine Sichtweise der „Achtsamkeit", die Elemente aufweist, die oberflächlich gesehen der Tausende von Jahren alten Praxis des achtsamen Gewahrseins sowohl ähneln als auch davon abweichen. Mit Langers eigenen Worten (1997): „Wenn wir achtsam sind, sehen wir implizit oder explizit (1) eine Situation aus mehreren Perspektiven, (2) sehen
292
Facetten des achtsamen Gehirns
wir Informationen, die in der Situation als neu präsentiert werden, (3) kümmern wir uns um den Kontext, in dem wir die Information wahrnehmen, und (4) erzeugen schließlich neue Kategorien, durch die diese Information verstanden werden könnte" (S. 111). Diese Merkmale, nämlich multiple Perspektiven, der Reiz des Neuen, Kontext und neue Kategorien sind die Essenz des achtsamen Lernens. Langer hat die Hypothese vertreten, dass wir, wenn wir uns Situationen im Leben unvoreingenommen nähern, besser lernen, mehr genießen und länger leben werden. Sie zitiert eine große Zahl von Studien, um diese faszinierenden Ergebnisse zu stützen, und merkt an, dass Menschen, seien es Patienten in Pflegeheimen oder CollegeStudenten, mit einem besseren Gedächtnis und mehr Genuss reagierten, wenn pädagogische Darbietungen mit bedingten Aussagen gemacht werden. Statt Informationen mit Aussagen wie „die Nation ist" oder „diese Verträge erfordern immer" quasi absolut zu präsentieren, bietet der Lehrer oder die Lehrerin Sätze an wie „die Nation kann sein" oder „häufig können Verträge erfordern". Die Verwendung von Begriffen wie könnte, kann sein, könnte sein, beinhaltet möglicherweise, kann gelegentlich, könnte beinhalten, kann haben und könnte gewesen sein anstelle der Absoluta ist, sind und waren erzeugen das spezifische, bedingte Priming (Ankurbelung) des achtsamen Lernens. Diese bedingten Aussagen scheinen, wenn sie direkt in mündlichem oder schriftlichem Material gegeben werden, einen kognitiv achtsamen Zustand zu induzieren, der das eigene geistige Engagement des Studenten aktiviert. Das ist achtsames Lernen. Wenn das subtil klingt, dann vergegenwärtigen Sie sich Folgendes: Wenn unser Geist sich an etwas festhakt, das er als absolut ansieht, dann geht dies auf eine ganz andere Weise in unseren Gedächtnisspeicher ein als es der Fall wäre, wenn wir uns an die Kontexte und Bedingungen, in denen das, was wir gerade gelernt haben, vorsichtig herantasten würden. Wir können anregen, dass wir, indem wir uns mit dem Gehirn befassen, unsere Einsichten erweitern dürften, um zu verstehen, warum das so ist. Unsere effiziente neuronale Assoziationsmaschine erzeugt Erinnerungssysteme, die eine „Tatsache" nehmen
Reflektives Denken
293
und einen schnell zugänglichen Knoten neuronalen Feuerverhaltens erzeugen können, der einen Baustein im Gerüst unseres „semantischen" Weltwissens bildet. Doch bei einer bedingten Aussage muss jener neuronale Knotenpunkt weitaus komplexere Verbindungen haben, damit er den Kriterien für die Einbeziehung in das Wissensgerüst entspricht: Wir müssen in der Lage sein, die „Kann"- und die „Manchmal"-Bedingungen mit allen Momenten von Möglichkeit in Verbindung zu bringen, in denen dieser Punkt zutreffen kann oder nicht. Man kann annehmen, dass diese erweiterten neuronalen Verbindungen einer der möglichen Mechanismen ist, durch den die bedingte Präsentation des achtsamen Lernens ein komplexeres Geflecht neuronaler Verbindungen knüpft und sie so in der Zukunft für eine flexiblere und anpassungsfähigere Abfrage zugänglich macht. Das Schlüsselthema hier ist, dass jeder Prozess, durch den der Geist des Studenten einen „konditional" präsentierten Lernstoff verarbeiten muss, geeigneter sein wird, um zu seiner Bildung beizutragen. Er wird den Geist stärker beschäftigen, was möglicherweise ein Grund dafür ist, warum solche Praktiken mit mehr Genuss und höherer Lebensdauer in Verbindung gebracht werden.
Den rechten und den linken Modus integrieren Als ich begonnen habe, etwas über das achtsame Lernen zu erfahren, konnte ich nicht umhin, über meine eigene Zeit fernab der medizinischen Fakultät nachzudenken, als ich mich in jenen „rechten Modus" des Wahrnehmens vertiefte. Wir haben die Unterschiede im rechten und linken Modus der kognitiven Verarbeitung in Kapitel 2 erforscht und bemerkt, dass unsere Millionen Jahre andauernde Entwicklung als Wirbeltiere zu signifikanten Unterschieden in der Art und Weise geführt haben, wie wir in den beiden Seiten unseres Gehirns mit Wahrnehmung umgehen und Informationen verarbeiten. Das ist einfach nur eine biologische Realität unseres Nervensystems. Oft arbeiten die rechte und die linke Gehirnhälfte zusammen, aber ihre Beiträge zum Ganzen, so deutet die Wissenschaft an, sind recht unterschied-
294
Facetten des achtsamen Gehirns
lich. Hier werden wir weiterhin den Begriff Modus verwenden, um auf diese allgemeine Vorherrschaft im Beitrag jeweils einer Schicht der neuronalen Verarbeitung zum integrierten Ganzen hinzudeuten (siehe auch Anhang III, Lateralität). Der rechte Modus ist in der Lage, mit kontextabhängigem Denken umzugehen, das „große Bild" zu sehen und Mehrdeutigkeiten einzubeziehen. Der linke Modus ist geschickter in genauen Angaben, klar definierten Worten und ihren konkreten Anwendungsmöglichkeiten sowie bei aktiven Strategien für die Definition und Lösung von Problemen. Der linke Modus ist zielorientiert, er analysiert die Details und sucht eine Lösung. Es lässt sich feststellen, dass das achtsame Lernen, so wie Langer es definiert hat, auf die zusätzliche Verarbeitung des rechten Modus zurückgreift. Das bedeutet nicht den Ausschluss von faktischem Wissen (eine Spezialität des linken Modus) und vom Lösen von Problemen, die so häufig ein Fokus des konventionellen Bildungswesens sind, kann jedoch als Zusatz der eher prozessorientierten, das große Bild in einen Zusammenhang bringenden Perspektive des rechten Modus angesehen werden. Das achtsame Lernen beinhaltet Konzepte wie intelligentes Nichtwissen, flexibles Denken, das Vermeiden voreiliger kognitiver Festlegungen und kreative Ungewissheit. Diese können jeweils als Zusätze des rechten Verarbeitungsmodus zu den normalerweise dominanten Bemühungen des linken Modus, intelligente Sicherheit, klar definierte Analysewege, unbedingte Klarheit und ein Gefühl von Sicherheit und Vorhersagbarkeit zu erzeugen, gesehen werden. Das Gefühl, das sich bei diesen Begriffen einstellt, ist, dass wir unsere Arbeit als Lehrer mit einem aktiven Bemühen angehen können, das vollständige Selbst den linken und den rechten Modus - in das Lernen einzubringen. Diese wichtige Erweiterung dessen, wie wir die geistige Verfassung des Lernenden sehen, wird zusätzlich durch den Ansatz des achtsamen Lernens gefördert, der die Schüler ermutigt, ihre eigenen Perspektiven zu schaffen und explizit den Beitrag ihrer eigenen Denkweise über den Lernprozess umzusetzen. Die Vorgehensweisen beim achtsamen Lernen lassen Menschen bald erkennen, dass das Ergebnis ihrer Erfahrung (eine Unterrichtsstunde, ein Besuch im Krankenhaus) teilweise
Reflektives Denken
295
durch ihre eigene Einstellung geprägt wird. Statt unter dem Gefühl zu leiden, nicht auf den Prozess einwirken zu können, geben solche Hinweise Menschen die Freiheit, achtsam engagiert zu sein und das Gefühl zu haben, das Geschehen mitzubestimmen. Wenn wir ein Selbst-Gefühl in den Prozess des Lernens einbringen, können wir auch sagen, dass wir den rechten Modus einladen, an der Erfahrung teilzuhaben. Das ist der Titel einer Veröffentlichung in einer bedeutenden Neurologie-Fachzeitschrift: „Rechte Gehirnhemisphärendominanz für ein Gefühl des körperlichen und emotionalen Selbst" (Devinsky 2000). Viele Autoren sehen jetzt, dass ein sehr großer Teil unseres autobiografischen Gedächtnisses und tiefen Empfindens sogar eines sozialen und reflektiven Selbst Aspekte unseres rechten Verarbeitungsmodus beinhaltet. Unser gesamtes Selbst ist eine Integration von links und rechts - und das ist genau das, worum es geht. Wenn in der Bildung in Schulen, Hochschulen, bei Aufbaustudien oder berufsbezogenen Programmen wie der medizinischen Fakultät der eine oder der andere Modus weggelassen wird, dann wird die Integration, die für ausgeglichenes Lernen notwendig ist, fehlen. Achtsames Lernen lädt den gesamten Menschen ein, am Lernprozess teilzuhaben. Die Einladung besteht darin, sowohl den linken als auch den rechten Verarbeitungsmodus vollständig einzubeziehen, so dass, zumindest glaube ich das, deren Integration gefördert wird. Aus diesem neuronalen Grunde der vollständigen Beteiligung des Lernenden können wir annehmen, dass das achtsame Engagement eine solch andere Lernerfahrung unterstützen könnte. Während ich dies schreibe, sage ich mir, welches „achtsam" meine ich eigentlich? Und das ist genau der Punkt, den wir als Nächstes erforschen werden.
Warum sich um Ähnlichkeiten und Unterschiede kümmern? Gibt es wirklich Ähnlichkeiten zwischen achtsamem Lernen und achtsamem Gewahrsein? Langer (1989) hat sich direkt mit diesem Thema befasst:
296
Facetten des achtsamen Gehirns
Auch wenn es viele Ähnlichkeiten gibt, so sollten uns die Unterschiede in dem historischen und kulturellen Hintergrund, dem sie entnommen sind, und die durchdachteren Methoden, einschließlich der Meditation, durch die in den östlichen Traditionen ein achtsamer Zustand erreicht wird, zögern lassen, allzu ordentliche Vergleiche aufzustellen. (S. 77-78) Warum sollten wir uns überhaupt darum kümmern, dass es zwei Verwendungsweisen des Begriffs Achtsamkeit gibt, die sich auf ähnliche oder verschiedene Prozesse beziehen? Der erste Grund ist, dass beide Achtsamkeitsbestrebungen Menschen helfen können: Ähnlichkeiten in ihren Prozessen zu finden kann die wissenschaftlich fundierten Vorteile leichter verfügbar machen, und mehr Menschen wird geholfen werden. Das ist Grund genug, einen solchen Vergleich voranzutreiben. Doch es gibt noch einen zweiten: Die unterschiedlichen Dimensionen dieser beiden Formen von Achtsamkeit können als komplementär angesehen werden, so dass das Zusammenbringen verschiedener Bemühungen um ein breites Verständnis von „Achtsamkeit" uns unterstützen kann, tiefere Einsichten in unser Leben zu haben, als sie uns die Summe ihrer Bestandteile bescheren könnte. Ein dritter Grund ist, dass in der Praxis pädagogische, klinische sowie persönlichen Bemühungen, unser Leben zu verbessern, recht unterschiedliche „Möglichkeitsfenster" erfordern könnten, um Menschen in jenen Kontexten tatsächlich Zugang zu einem neuen Weg zu geben, Gewahrsein zu erfahren.
Kognitive und affektive „Stile" Die Idee der kognitiven Achtsamkeit entstammt den Welten der Sozialpsychologie und der Pädagogik. In jener Welt meinte Robert J. Sternberg (2000), dass Langers achtsames Lernen am ehesten als „kognitiver Stil" begrifflich gefasst werden könne statt als kognitive Fähigkeit, als Form von Intelligenz oder als Persönlichkeitsmerkmal.
Reflektives Denken
297
Sternbergs Sichtweise des achtsamen Lernens als eines „kognitiven Stils" statt als kognitiver Fähigkeit verbindet sich mit der Vorstellung, dass Stile bevorzugte Arten und Weisen sind, die eigenen kognitiven Fähigkeiten zu nutzen. ... Das heißt, sie stehen nicht für Fähigkeiten an sich, sondern dafür, wie Menschen ihre Fähigkeiten gerne im Alltagsleben nutzen möchten. Stile können unterschiedlicher Art sein: Denkstile, Lernstile, Unterrichtsstile, kognitive Stile. ... Diese Stile beinhalten wie die Achtsamkeit eine bevorzugte Art, die Welt im Allgemeinen und spezifische Probleme im Besonderen zu sehen. (S. 138) Sternberg bemerkte, dass es Beschreibungen verschiedener kognitiver Stile gibt, dass sich die Achtsamkeit jedoch nicht mit diesen überschneidet, sondern sie eine wichtige Ergänzung bietet, um eine solch bevorzugte Weise der Verarbeitung von Informationen zu beschreiben. Es sollte angemerkt werden, dass Langer selbst achtsames Lernen als mehr ansieht denn als bloße Kognition, da achtsame Unterscheidungen den gesamten Menschen einbeziehen (Langer 2005). Langers achtsames Lernen, so wie sie es versteht, „bezieht sich nicht nur auf die Erziehung, sondern auf alle Aspekte des Lebens". Es war ihre „Absicht, das formale Lernen zu korrigieren, sei es in der Schule, im Geschäftsleben oder beim Sport, wo der Unterricht de facto Achtlosigkeit fördert (Langer, persönliche Mitteilung 2006). Im Gegensatz dazu entstand das achtsame Gewahrsein aufgrund kontemplativer Praktiken aus der ganzen Welt über Tausende von Jahren hinweg. Richard Davidson hat, als er die Welt der Achtsamkeit, die sich entscheidend aus einer buddhistischen Tradition entwickelte, erforscht hat, den „affektiven Stil" untersucht, der direkt durch die Achtsamkeitsmeditation geprägt zu sein scheint. Indem wir das untrennbare Wesen von Affekt und Kognition, von Gefühlen und Gedanken erforschen, stellen wir vielleicht fest, dass sich die Schichten von Resilienz und Wohlbefinden in der einen Form tatsächlich mit den anfänglichen Ergebnissen der anderen überschneiden könnten.
298
Facetten des achtsamen Gehirns
Das achtsame Gewahrsein fokussiert uns in der Gegenwart und spricht nicht unmittelbar Lernen und Gedächtnis an. Das achtsame Lernen auf der anderen Seite untersucht die Art und Weise, wie wir uns in der Gegenwart fokussieren (auf Neues, Unterscheidungen und die Einbeziehung unterschiedlicher Sichtweisen) und prägt unmittelbar die Lust am Lernen und die Wirksamkeit desselben. Auch wenn sich beide historisch aus sehr unterschiedlichen Erfahrungen entwickelt haben und auch in der Praxis so erlernt werden, so könnten diese beiden „Stile" von Affekt und Kognition enger aufeinander abgestimmt sein, als man anfangs vermuten könnte.
Wesentliche Merkmale Achtsames Lernen setzt sich aus folgenden Bestandteilen zusammen: Offenheit für Neues, Wachheit für Unterscheidungen, Sensibilität für verschiedene Kontexte, implizites, wenn nicht explizites Gewahrsein, multiple Perspektiven und Orientierung in der Gegenwart. Diese Dimensionen können mit den Begriffen offen für Neues, Wachheit für Unterscheidungen, Kontextsensibilitäty multiple Perspektiven und Gegenwartsorientierung beschrieben werden. Wenn man Menschen zum Beispiel mit Hilfe bedingter Sätze unterrichtet, dann lernen sie besser, da sie wach für Unterscheidungen sein müssen, da sie neue Aspekte des Materials aufnehmen und auf die Gegenwart fokussiert bleiben müssen. Diese bedingte Herangehensweise an das Unterrichten ruft achtsames Lernen hervor und verbessert in hohem Maße die Gedächtnisleistung und das Vergnügen am Bildungsprozess. Wie wir gesehen haben, erhöht das Annehmen der Ungewissheit die Wachheit für Neues und für Unterscheidungen. Achtsamkeit ist zu Forschungszwecken operationalisiert worden, und man hat vier oder fünf Facetten gefunden (Baer et al. 2006), die wir bereits erforscht haben: (1) Nichtreaktivität gegenüber innerem Erleben; (2) Empfindungen, Gedanken und Gefühle beobachten / bemerken / sich darum kümmern; (3) mit Bewusstheit / (nicht) auf Autopilot handeln, Konzentration / Nichtablenkung; (4) mit Worten beschreiben
Reflektives Denken
299
/ benennen; (5) Nicht-Beurteilen von Erfahrungen. Diese können mit den Begriffen: nicht reagieren, beobachten, bewusst handeln, beschreiben und nicht urteilen zusammengefasst werden. Bei Nicht-Meditierenden im College-Alter (ab ca. 16 Jahren) ist die Beobachtung möglicherweise als unabhängige Facette nicht so stabil gewesen, doch der Vollständigkeit halber werden wir sie hier in unsere Analyse einbeziehen. Wenn wir uns diese Elemente nacheinander ansehen, dann können wir feststellen, dass sich einige von ihnen überschneiden, während andere recht unterschiedlich zu sein scheinen. Die Nichtreaktivität scheint, oberflächlich gesehen, keine Entsprechung zu Aspekten des achtsamen Lernens zu haben. Es wäre interessant, eine Studie durchzuführen, um zu sehen, ob die Befreiung, die Menschen dadurch erfahren, dass sie nicht durch innere Labilität eingeschränkt sind, tatsächlich viele der kognitiven Dimensionen fördern könnte in dem Sinne, dass das Individuum ein Gefühl von Gleichmut erlebt. Dieser Gleichmut würde beispielsweise eine Offenheit für Neues ermöglichen, so dass man sich einer Sache annähern kann, statt vor ihr zurückzuweichen. Ein solcher Zustand nichtreaktiver Ausgeglichenheit würde dann zu der präfrontalen Verschiebung auf die linke Seite führen, durch die man sich auf neue Situationen zubewegt. Wir könnten uns vorstellen, dass in einem solch offenen Zustand das Unterscheidungsbewusstsein der betreffenden Person und ihre Fähigkeit, andere Bezugsrahmen in Betracht zu ziehen, ebenfalls gefördert würden. Das alles würde die Orientierung in der Gegenwart unterstützen, weil es keinen affektiven Zustand geben würde, der zum Rückzug führen könnte. Offen für alles zu sein, was auftaucht - das wäre der reflektivachtsame Zustand, der das achtsame Lernen unterstützt. Tatsächlich hat Langer (2005) gezeigt, dass Menschen, die Dinge aus multiplen Perspektiven sehen, weniger zu blindem Reagieren neigen. Desgleichen hat sie gezeigt, dass Menschen, die weniger soziale Vergleiche anstellen, weniger zu Schuldzuweisungen und zu Neid neigen und zufriedener zu sein scheinen. Das Beobachten innerer geistiger Aktivitäten entspricht begrifflich ebenfalls nicht den vier kognitiven Dimensionen, aber es könnte ihre Umsetzung unterstützen. Wir könnten uns vorstellen, dass jemand
300
Facetten des achtsamen Gehirns
mit einer gut entwickelten Beobachterfunktion in der Lage wäre, automatische Konstrukte zu verwerfen und die Offenheit für Neues und andere Merkmale zu erzeugen, die widerspiegeln, dass der oder die Betreffende an der Gegenwart orientiert ist. Hier sehen wir, dass die Fähigkeit für inneres Wissen, welche im Zuge der Selbstbeobachtung entsteht, die kognitive Achtsamkeit unterstützen könnte - doch das Umgekehrte muss nicht zutreffen. Mit anderen Worten, sich in einer achtsamen Umgebung zu befinden, die bedingtes und selbstreferenzielles Lernen ermöglicht, führt möglicherweise an der Oberfläche nicht unmittelbar zu dem breiter angelegten inneren Gefühl, sich der eigenen Geistesaktivitäten im Innern bewusst zu sein. Es hat sich herausgestellt, dass achtsames Lernen tatsächlich das Gewahrsein innerer mentaler Prozesse verbessert (Langer 2005). Bedingte Präsentationen und der Fokus auf dem Zustand des Lernenden könnten Selbstbeobachtungsschaltkreise wachrufen, die dieses Ergebnis erklären würden. Mit Bewusstheit handeln überschneidet sich ziemlich stark mit allen Dimensionen der kognitiven Achtsamkeit. Diese Facette scheint in vielerlei Hinsicht fast identisch mit der Vorstellung zu sein, nicht „auf Autopilot zu sein" - was im Kern einen achtsam Lernenden ausmacht. Bewusst zu handeln scheint also eine gemeinsame Facette beider Formen von Achtsamkeit zu sein. Die Facette, innere Geistesaktivitäten mit Worten zu beschreiben / zu benennen bezieht sich, oberflächlich betrachtet, auch nicht auf die kognitiven Merkmale. Wenn eine Person das „Selbst" an der Erfahrung beteiligt, die das Herzstück des achtsamen Lernens ausmacht, beinhaltet dies eine Funktion des Selbstgewahrseins, von der wir uns vorstellen könnten, dass sie eine Überschneidung zwischen beiden Domänen widerspiegelt. Die Aufforderung an die Lernenden, sich als aktive Teilnehmer am Lernprozess zu beteiligen, sie zu der Betrachtung zu ermutigen, dass ihre Gemütsverfassung, ihre „geistige Haltung", wie Chanowitz und Langer (1981) sowie Dweck (2006) sie nennen würden, eine entscheidende Rolle bei der Lernerfahrung spielt und unmittelbar zu einer Form des Selbst-Gewahrseins führt. Diese Einladung, die Rolle des eigenen Selbst zu betrachten, könnte auf Fähigkeiten der Selbstbeobachtung aufbauen, die wir an frü-
Reflektives Denken
301
herer Stelle erörtert haben. Das eigentliche Training des achtsamen Gewahrseins durch Meditation entwickelt ganz eindeutig und direkt die Fähigkeit, die eigene innere Welt zu benennen. Es wäre interessant zu sehen, ob das achtsame Lernen ebenfalls die Entwicklung dieser Fähigkeit unterstützt. Der größte Unterschied zwischen beiden Herangehensweisen scheint, oberflächlich betrachtet, die Facette des Nicht-Urteilens zu sein. Beim achtsamen Gewahrsein beginnen, wie wir gesehen haben, Einflüsse von oben über Bord geworfen zu werden, indem diese beobachtet, als Aktivitäten des Geistes zur Kenntnis genommen und dann aufgelöst werden. Hierbei handelt es sich also um einen aktiven Prozess des Loslassens alter Denkgewohnheiten. Es ist in gewisser Weise ein Loslassen einer vorzeitigen „Verhärtung der Kategorien" (Cozolino 2002) und „kognitiver Verpflichtungen" (Chanowitz & Langer 1981). Oberflächlich betrachtet, impliziert die Sichtweise, dass achtsames Lernen ein aktives Bemühen beinhaltet, neue Kategorien zu erzeugen, dass diese beiden Formen einander zu widersprechen scheinen. Doch auf einer tieferen Ebene, einer, die wir als Nächstes erforschen werden, glaube ich, dass diese Auflösung alter Zwänge in Wirklichkeit eine gemeinsame und zentrale Dimension beider Formen von Achtsamkeit ist. Führten wir eine Studie mit Achtsamkeitsmeditierenden durch, würden diese vermutlich die Kriterien erfüllen, die auf eine Tendenz hinweisen, sehr geschickte achtsam Lernende zu sein. Wir würden feststellen, dass sie als Schüler die Einbeziehung bedingter und selbst-referenzieller Zustände unterstützen würden, die die vielen Aspekte des achtsamen Lernens evozierten. Als Lehrer, so können wir uns vorstellen, würden sie natürlich die hilfreichen Dimensionen des Lernens erzeugen, die das Lernen auf kognitiv achtsame Weise effektiver und angenehmer machen. Ich glaube, selbst mein eigener Unterricht ist in kognitiver Hinsicht achtsamer geworden, seit ich in die Erfahrung des achtsamen Gewahrseins eingetaucht bin. Wenn wir diese Analyse von Ähnlichkeiten und Unterschieden aus der anderen Richtung angehen, was würde dann auftauchen? Wenn wir die zum achtsamen Lernen gehörenden Aspekte - Offenheit für Neues, Wachheit für Unterscheidungen, Kontextsensibilität, multiple
302
Facetten des achtsamen Gehirns
Perspektiven und gegenwärtige Orientierung - untersuchten, würden diese dann den fünf Facetten der Achtsamkeit entsprechen? Offen für Neues zu sein entspricht genau der Erfahrung des achtsamen Gewahrseins. Das Gewöhnliche scheint irgendwie außergewöhnlich zu werden, wenn jeder Moment für sich einzigartig wird. Es ist interessant, festzustellen, dass der rechte Modus sich auf das Gewahrsein von etwas Neuem spezialisiert und tatsächlich das Individuum mit einer sensiblen und reaktiven rechten Hemisphäre dazu bringt, sich von Neuem zurückzuziehen. „Offen" für Neues zu sein würde erfordern, dass wir in der Lage wären, den Fokus nach links zu verschieben und uns diesen neuen Bedingungen anzunähern, statt vor ihnen wegzurennen oder zu versuchen, nicht zu spüren, wann sie präsent sind, wie es bei Engstirnigkeit (dosed-mindedness) der Fall ist, wo ihre Existenz geleugnet wird. Die Wachheit fiir Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Kontexten wird ebenfalls durch das achtsame Gewahrsein kultiviert. Doch die Erweckung des systemischen Zustands des Bewusstseins des Moments beim achtsamen Gewahrsein scheint nicht explizit die Verwendung des Zur-Kenntnis-Nehmens der Unterscheidung zu fördern, um neue auf Worten basierende Kategorien und Klassifizierungen zur Beschreibung der Unterschiede zu schaffen. Das ist eine Differenzierung, die wir als grundlegenden Unterschied zwischen beiden im Auge behalten müssen: Es ist der Unterschied zwischen dem einfachen Zur-Kenntnis-Nehmen und dem Loslassen im achtsamen Gewahrsein versus dem Wachsein für Unterscheidungen und dem Organisieren neuer Klassifizierungskategorien beim achtsamen Lernen. Mit Kontextsensibilität ziehen wir das Gesamtbild in Betracht und verstehen, dass das Umfeld, in dem ein Ereignis stattfindet, den Rahmen, von dem aus wir es verstehen können, verändert. Dieses Empfinden ist eine Spezialität des rechten Modus, der ebenfalls am achtsamen Gewahrsein beteiligt zu sein scheint. Wir gelangen dahin, das ineinander greifende Wesen der Realität zu sehen, die Verbundenheit aller Dinge und Ereignisse über die Zeit hinweg. Ein großer Teil des Lebens wird zu Verben anstelle von Substantiven: Ereignisse sind Geschehnisse und nicht nur unveränderliche Tatsachen. Beim
Reflektives Denken
303
bedingten Lernen wird der Schüler ermutigt, diese verbale Qualität des Wissens zu spüren, ganz ähnlich, wie die Präsenspartizipien zu den Verbformen werden, um die innere Welt zu benennen, die dem Geist Weite verliehen haben. Statt einen „Gedanken" als solchen zu benennen, trug der Versuch, ihn „denkend" zu nennen, dazu bei, den Geist zu öffnen, statt den Gedanken zu verfestigen. Geistige Aktivitäten als dynamische, fließende Entitäten zu sehen, die mit Ungewissheit gefüllt sind, ist etwas, das beide Formen von Achtsamkeit gemeinsam haben. Multiple Perspektiven anzunehmen, hat die Qualität einer metakognitiven Fähigkeit. Wenn wir untersuchen, wie wir dazu kommen, über das Denken nachzudenken, dann stellen wir fest, dass es erworbene Fähigkeiten gibt, die begriffliche „Vielfalt" und „Veränderung" genannt werden und die Individuen befähigen, zu spüren, dass jeder von uns eine andere Perspektive haben könnte und dass sogar der Standpunkt, den wir einnehmen, sich zu einer bestimmten Zeit verändern könnte. Bei dieser metakognitiven Sichtweise können wir dann die Perspektive nicht nur als sich verändernden Bezugsrahmen sehen, sondern auch als einen, der in Betracht gezogen werden muss, wenn wir uns die situativ eingebettete Bedeutung von Wissen ansehen. Wir werden uns des Gewahrseins gewahr, wir denken über das Denken nach, wir achten auf die Intention. Das Bewusstsein multipler Perspektiven kann dann ein Teil des metakognitiven Rahmens dafür sein, wie wir im Leben bewusst sind. Alle diese Dimensionen des achtsamen Lernens werden durch eine Gegenwartsorientierung auf der Ebene der Informationsverarbeitung und der Selbstrelevanz im Lernen unterstützt. Diese Orientierung auf die Gegenwart fühlt sich wie ein vollkommen einheitlicher Rahmen an, sich des gegenwärtigen Moments bewusst zu sein, mit dem rigoroser entwickelten achtsamen Gewahrsein, das mit zunehmender Übung bei einer Praxis des achtsamen Gewahrseins auftritt. Und damit kommen wir zur zentralen Idee dieser gesamten Analyse. Obwohl das achtsame Gewahrsein mit einer tiefen Praxis trainiert werden und das achtsame Lernen in einem Unterrichtsumfeld schnell wachgerufen werden kann, könnten diese beiden Herangehensweisen miteinander
304
Facetten des achtsamen Gehirns
kompatibel sein und sich gegenseitig verstärken. Die Entwicklung der einen Qualität unterstützt die der anderen auf faszinierende und praktische Weise.
„Seitliches Lernen" und „rechtwinklige Realität" Ellen Langer sieht das achtsame Lernen nicht als Ansatz von oben nach unten oder umgekehrt an, sondern als „seitliche" Einstellung zum Lernen (1979). Achtsame Bedingungen schaffen optimale Bedingungen für Lernende, um Informationen „auf bedingte Art und Weise" aufzunehmen. Diese Kontextabhängigkeit lässt Ungewissheit zu einem Freund werden. De facto ist es diese kreative Ungewissheit, die das Lernen zu bestärken scheint und sogar die Erfahrung des Lernens angenehmer macht. Jon Kabat-Zinn (2003b) hat vorgeschlagen, wir sollten Achtsamkeit als „rechtwinklige" Realität ansehen. Wir müssen unsere eingefleischten Wege, Ziele und Zielsetzungen anzustreben, verlassen, um den Prozess zur Essenz des Seins und nicht zu einem Tun werden zu lassen. Diese rechtwinklige Perspektive beschäftigt unser Gewahrsein auf eine neue Weise, indem sie die sekundären Versklavungen aufgrund von Plänen und Eventualitäten, von Bewertungen und Ergebnissen hinter sich lässt. Wie wir ebenfalls gesehen haben, ist das achtsame Gewahrsein wesentlich mehr, als einfach die Einflüsse von oben loszulassen und diejenigen von unten nach oben zu erfahren: Das achtsame Gewahrsein impliziert den essenziellen Aspekt des Metabewusstseins und der Aufmerksamkeit auf die Intention, die diese zu einer kraftvollen Dimension des im gegenwärtigen Moment Seins werden lassen. Wenn wir in der Tiefe spüren, was Langer und Kabat-Zinn sagen möchten, dann können wir uns vieler Dinge bewusst werden, die sie uns mitteilen. Natürlich gibt es tief gehende Unterschiede in Bezug darauf, wie man sich in jeder Welt bewegt. In der MBSR ist der tiefe Lernprozess der Achtsamkeitspraxis im Sitzen, in der Gehmeditation und bei den Yogaübungen empirisch und auf die Sinne bezogen. Beim
Reflektives Denken
305
achtsamen Lernen scheint es hingegen so zu sein, dass der Fokus darauf liegt, sich mit der Außenwelt zu beschäftigen. Es geht allerdings nicht so sehr darum, ein bestimmtes Testergebnis zu erreichen oder eine Fertigkeit zu erwerben, sondern Teil einer Lernerfahrung zu werden, in der der Reiz des Neuen und die Ungewissheit den Geist dazu veranlassen, neue Kategorien des Lernens zu erzeugen. Das sind sowohl hinsichtlich der Praxis als auch hinsichtlich des Fokus beträchtliche Unterschiede. Doch die Ähnlichkeiten der Prozessorientierung einerseits und des Haltens eines kontextsensiblen Aufmerksamkeitsfokus auf der Gegenwart andererseits scheinen zwingend zu sein. Bei beiden Formen der Achtsamkeit steht das Selbst im Zentrum der Erfahrung. Beim achtsamen Lernen ist es das Engagement des Selbst, dass für den Wirkungsgrad von zentraler Bedeutung zu sein scheint: verbesserte Merkfähigkeit, erhöhtes Vergnügen, bessere Gesundheit. Das Selbst im achtsamen Gewahrsein hat eine ganz andere Qualität. Indem man immer tiefer in die Achtsamkeit eintaucht, zeigt sich das reine Gewahrsein des Selbstseins der eigenen Erfahrung - das Gefühl eines geerdeten Selbst unterhalb der Schichten konstruierter Identität. Von diesem Ort im Kern, der Nabe des Bewusstseinsrads aus, wird es möglich, die Aktivitäten des Geistes als vorübergehende Gehirnwellen am Rand zu empfinden, die Moment für Moment aufsteigen. Ich bin mir nicht sicher, wie das tiefere Gefühl des Selbst offen in Unterrichtsstunden erlebt wird, die auf der Grundlage achtsamen Lernens beruhen. Doch ich denke mir, dass die Unterrichteten nicht nach dem Selbstsein greifen, zumindest nicht auf der Ebene bewusster Reflektion. Auf der anderen Seite ist das Lernen auf eine Weise, die falsche Identität auflöst, ein paralleler Prozess zum Selbstsein. Indem wir die natürliche Tendenz unseres Gehirns auflösen, an klaren und nicht veränderlichen Prozessen festzuhalten - über die Welt im Falle von Fakten und über unser Selbst hinsichtlich unserer persönlichen Identität -, nehmen wir die fließende Realität der Welt und unserer selbst wahr. Da der Fokus ein äußerlicher ist, könnte es sich lediglich um den Anflug eines Gefühls von Selbstsein handeln, wenn das achtsame Lernen Menschen aus dem früheren Zustand achtlosen Lernens aufweckt. Auf einer tieferen und vielleicht unbewussten Ebene jedoch
306
Facetten des achtsamen Gehirns
könnte uns dieser Hinweis auf einen flexibleren und anpassungsfähigen Geisteszustand wichtige Informationen über die Überschneidung positiver Ergebnisse bei beiden Formen von Achtsamkeit geben.
Hierarchische Denkweisen auflösen In Kapitel 7 haben wir über die Art und Weise gesprochen, in der achtsames Gewahrsein die Bedingungen schaffen könnte, die notwendig sind, um Urteile über Bord zu werfen und den Einfluss der Verarbeitung von oben aufzuheben. Die lange Praxis der Achtsamkeitsmeditation zeigt, dass fortwährendes Bemühen notwendig ist, um einen wirklich nicht urteilenden Zustand zu entwickeln. Ein solch rezeptiver Zustand hilft, Leiden zu lindern und das Wohlbefinden zu erhöhen. Beim achtsamen Lernen eröffnet der Prozess auch eine Möglichkeit, vorher fest verwurzelte Denkweisen aufzulösen, die unproduktiv oder sogar destruktiv sind. Langer weist darauf hin, dass Achtlosigkeit zu trivialen oder tragischen Ergebnissen führen kann, mit einer Reihe von Auswirkungen, unter anderem: Schaden für das eigene Selbstbild, unbeabsichtigte Grausamkeit gegenüber anderen, Kontrollverlust und ein verkümmertes Potenzial. Als Beispiel für Letzteres weist sie auf die Ergebnisse hin, wo Menschen, die nicht glauben, dass sie intelligent sind, auch entsprechend handeln werden. Eine solche Ansicht kommt auch in dem faszinierenden Werk von Carol Dweck (2006) zum Ausdruck, die ebenfalls zeigt, dass die Art und Weise, wie wir glauben, unseren eigenen Weg beeinflussen zu können oder nicht (Intelligenz, Persönlichkeit, Gesundheit), enorme Auswirkungen auf das Ergebnis hat. Wenn wir die geistige Haltung haben, dass unser „Selbst" ein Ergebnis des Schicksals ist, dann werden wir keine Mühe aufbringen, um die Ergebnisse zu ändern. Wenn wir auf der anderen Seite glauben, dass diese Merkmale erworben sind, durch Mühe geformt, dann können wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit gebrauchen und die notwendigen Fähigkeiten für Intelligenz oder Glück aufbauen. Die Vorstellung, dass „Prozesse" wie das Glück tatsächlich erlernbare Fähigkeiten sind, wird durch Praktizierende der kontemplativen
Reflektives Denken
307
Achtsamkeit geteilt (Ricard 2006). Bei diesen Formen des achtsamen Lernens ist der Mensch darum bemüht, aktiven Anteil am Lernen zu nehmen und automatische Beschränkungen zu entkoppeln, wie etwa Überzeugungen über das Altern oder über nachlassende Gedächtnisund Intelligenzleistungen, die uns in einem Gefängnis einsperren, das wir häufig nicht einmal sehen können. Bei beiden Formen von Achtsamkeit wird das Individuum ermutigt, mit mehr Klarheit und Vitalität zu sehen. Das Lernen wird lebendig, wenn wir die Entfaltung von Erfahrungen in jedem neuen Kontext als neu ansehen. Das ist eine Ansicht, die in der Tiefe von beiden Perspektiven geteilt wird. In vielerlei Hinsicht sind beide Formen ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Achtsamkeit uns helfen kann, die Welt durch eine „neue Brille" zu sehen. Langer (1997) hat uns das folgende Ergebnis vorgestellt: „Wenn man jemandem einen Satz zeigt, in dem ein Wort wiederholt wird, dann überlesen die Betreffenden fast immer das zusätzliche Wort." Langer fuhr fort: Als man einer kleinen Gruppe von Menschen mit Kopfverletzungen einen solchen Satz zeigte, fanden alle von ihnen das doppelte Wort in dem betreffenden Beispiel. Warum ist das so? Wir können nur vermuten, dass diejenigen, die einige ihrer vertrauten Fähigkeiten verloren haben, nicht länger in der Lage sind, die Welt als selbstverständlich hinzunehmen. (Erfahrene Meditierende fanden das doppelte Wort ebenfalls ohne Probleme.) (S. 138) Als ich jenen Absatz las, dachte ich natürlich an all das, was wir darüber gesagt haben, die Welt ohne die sekundären Einflüsse zu sehen, die unsere Wahrnehmungen unterjochen. Die Achtsamkeitsmeditation kann uns helfen, solche Einflüsse aufzulösen. Ein Kopfitrauma kann ebenfalls einen Zustand induzieren, in dem der sensorische Input mit neuen Augen gesehen wird. In dieser Hinsicht können uns sowohl die kognitiven als auch die reflektiven Formen der Achtsamkeit helfen, die hierarchischen Einflüsse invarianter Repräsentationen aufzulösen.
308
Facetten des achtsamen Gehirns
Mit den bedingten Präsentationen des achtsamen Lernens können wir Vorschläge dazu machen, wie der rechte Verarbeitungsmodus aktiviert werden könnte, um die eintreffenden Daten auf eine Weise zu verwenden, die sich vom dominanten linken Modus semantischer und faktischer Kodierung unterscheidet. Forschungen im Bereich des Gedächtnisses zeigen (Schacter 1996; Gazzaniga 2000), dass die linke Hemisphäre sich auf das faktische bzw. Tatsachengedächtnis zu spezialisieren scheint, während die rechte Symbolik, Emotionen und Bezüge auf das Selbst verwendet, wie zum Beispiel beim Festlegen eines emotional reichen autobiografischen Gedächtnisses. Wir können davon ausgehen, dass das achtsame Lernen die Erinnerungsprozesse des rechten Modus aktiviert, die von den Prinzipien gelenkt werden, die wir an früherer Stelle beschrieben haben, nämlich Ungewissheit, Kontextabhängigkeit und Selbstintegration. So könnte die Aktivierung des rechten Modus beim achtsamen Lernen der spezifische Weg sein, auf dem das Gehirn Veränderungen in den großräumigen Neuronenverbänden ausführen könnte, von denen wir gesagt haben, dass sie im Allgemeinen die Auflösung der Unterjochungen von oben bewirken. Das Lernen, das unter solch neuen neuronalen Bedingungen geschehen könnte, würde wahrscheinlich viel breiter angelegt sein, besser behalten werden und mit der Lernbewertung übereinstimmen, die Langer (1997) festgestellt hat.
Ungewissheit annehmen Beide Formen von Achtsamkeit würdigen die Ungewissheit. Dieser gemeinsame Respekt besteht nicht nur an der Oberfläche, sondern ist in die Tiefenstrukturen beider Herangehensweisen an die Achtsamkeit eingebettet. Die kognitive Ungewissheit fühlt sich natürlich anders an als die reflektive Ungewissheit, bei der sämtliche inneren Annahmen zur Disposition stehen. Lange Phasen des Schweigens, um unseren eigenen Geist ohne Struktur kennen zu lernen und uns auf ihn einzustimmen, ermöglichen uns, Ungewissheit aus erster Hand zu erfahren. Im achtsamen Gewahrsein wird der Geist wirklich zu einem
Reflektives Denken
309
Gasthaus, in dem alle Besucher, so ungewiss die Gästeliste auch sein mag, eingeladen und am Tisch willkommen geheißen werden. Beim achtsamen Lernen ist Ungewissheit die Befreiung von Kategorisierungen aus früheren Zwängen. Auch das kann sich etwas verwirrend anfühlen. Tatsächlich ist es so, dass wenn Fachleute sich an traditionelle Ansätze des nicht-bedingten Unterrichtens gewöhnt haben, ein pädagogischer Fokus auf dem Erleben des Schülers statt auf dem Ergebnis des Lernens oder den Resultaten irgendeines Leistungstests sich unangenehm anfühlen kann. Ich stelle mir vor, dass die Bemühungen, achtsames Lernen in Standard-Lehrplänen zu vermitteln, von Gefühlen des Zweifels und der Ungewissheit erfüllt sind. Diese werden dann mit einer Bewegung von oben angegangen, bei der diese Vorschläge durch die Brille der Konvention gesehen werden. Das ist lediglich eine Vermutung, sie könnte wahr sein oder nicht, und vielleicht sollten wir achtsam darüber reflektieren.
Kontrolle versus ausführendes Organ Dies bringt uns zu einem anderen entscheidenden Thema. Langer (1989, 1997) hat wiederholt den Begriff Kontrolle in ihren Schriften verwendet. „Achtsames Gewahrsein der verschiedenen Optionen gibt uns größere Kontrolle. Dieses Gefühl einer größeren Kontrolle ermutigt uns wiederum, achtsamer zu sein. Statt eine lästige Pflicht zu sein, hält uns Achtsamkeit in einer dauernden Eigendynamik beschäftigt" (1989, S. 201-202). Kontrolle ist per se etwas, worum es bei der reflektiven Achtsamkeit nicht geht. Hier stehen wir vor einem scheinbar riesigen und unüberwindlichen Konflikt. In einem Zustand achtsamen Gewahrseins zu sein bedeutet, die „Kontrolle" aufzugeben. Ich fasse das so auf, dass Langer mit dem Begriff „Kontrolle" eigentlich das Gefühl bezeichnen will, ausführendes Organ zu sein und etwas bewirken zu können - das Gefühl, im Zentrum von Intention und Willen zu stehen. Schließlich bedeutet das Anerkennen der sich immer wieder verändernden Kontexte der Welt, „Kontrolle" aufzugeben, aber dennoch ein Gefühl von Teilhabe an der dynamischen
310
Facetten des achtsamen Gehirns
Welt der Dinge zu erwerben. Wir werden zum ausführenden Organ der Intention, nicht zu einem Kontrolleur von Perspektiven. In diesem Sinne fühlt es sich tatsächlich so an, als ob diese beiden Formen von Achtsamkeit eine zentrale Position der Intention miteinander gemein haben. Auch wenn wir vielleicht den Begriff Kontrolle auf nichtachtsame Weise verwenden, so könnten wir doch, wenn wir den Kontext, die Unterscheidung und die Perspektive der Verwendung dieses Begriffs sehen, möglicherweise in der Lage sein, eine neue Kategorie zu entwickeln, in die wir ihn stellen können. Durch diese achtsame Herangehensweise wird das ausführende Organ zu einem gemeinsamen Thema, das auf eine fließende Weise vielleicht von diesen beiden Formen der Achtsamkeit geteilt werden kann. Das ist ein Bereich, der es wert ist, weiter erforscht zu werden.
Reflektives Denken Was wissen wir darüber, wie der Geist Gewissheit loslässt? Das Werk des Psychologen Stephen Kosslyn (2005) über einen Prozess, den er als „reflektives Denken" bezeichnet, könnte hilfreiche Einsichten in die Art und Weise bieten, wie wir hierarchische Einflüsse beim achtsamen Lernen und den Praktiken des achtsamen Gewahrseins auflösen. Wie an früherer Stelle erörtert, reagiert das Gehirn auf Erfahrungen mit dem Feuern von Aktivierungsprofilen neuronaler Netze. Diese Cluster von Feuermustern enthalten Informationen - ein neuronales Symbol für etwas, das für etwas anderes als es selbst steht. Wenn wir zum Beispiel einen Baum sehen, dann erzeugt unser Gehirn ein Aktivierungsprofil neuronaler Netze, das den Baum symbolisiert; es gibt keinen Baum in unseren Köpfen. Unsere ersten fünf Sinne reagieren mit Feuerverhalten, wenn wir sehen, riechen, berühren und, sofern wir es wollen, den Baum schmecken und hören. Die Empfindungen dienen dann als primäre Daten, als Feuereingaben von der Basis aus, die bald im Gehirn weiterverarbeitet werden. Das Gehirn reagiert auf sensorische Eingaben mit der Verarbeitung der Wahrnehmungen. Jene primären neuronalen Feuermuster
Reflektives Denken
311
werden zu Schichten nachfolgender neuronaler Übersetzungen kodiert. Kosslyn hat die Charakteristika der auftauchenden Wahrnehmungsbilder beleuchtet und uns so ermöglicht zu sehen, wie das Gehirn Wahrnehmungen erzeugt. Diese frühen neuronalen Wahrnehmungssymbole erzeugen mentale Repräsentationen, die wir „Bilder" nennen, die jedoch nicht auf die visuelle Modalität beschränkt sind. Stattdessen schließen Bilder in Ermangelung von deskriptiven Konzepten oder auf Worten basierender Etiketten sämtliche Verarbeitungsmodi ein. Wenn wir uns von den früheren Bildrepräsentationen zu den späteren begrifflichen und auf Sprache basierenden Kategorien hinbewegen, dann haben wir uns jetzt auf die Ebene der Beschreibung begeben. Kosslyns Vorschlag lautet, dass wir als Informationen verarbeitende Entitäten Empfindungen aufnehmen, Bilder erzeugen und dann jene Bilder im Langzeitgedächtnis ablegen. Zur Erreichung der höchstmöglichen Effizienz kategorisieren und klassifizieren wir dann die bildlichen Repräsentationen in einer deskriptiven Form, die es uns erlaubt, schnell Zugang zu den unermesslichen und potenziell überwältigenden Datenmengen zu bekommen, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Beschreibungen sind konstruierte Zusammenfassungen zahlreicher Bilder, die im Laufe der Zeit kodiert wurden. Das reflektive Denken ist Informationsverarbeitung, die Bilder verarbeitet und nicht Beschreibungen. Das steht im Gegensatz zu dem, was wir als begriffliches oder sprachliches deskriptives Denken bezeichnen. Auf Bildern basierende Informationsverarbeitung hilft, Erfahrungen im Langzeitspeicher abzulegen, die dann für einen schnelleren Zugang in deskriptiven Kategorien verarbeitet werden. Statt jede Situation zu betrachten, die es wert ist, kontextabhängige Bilder zu schaffen, um die Details ihrer Merkmale zu kodieren, übernimmt das deskriptive Denken die Führung, um auf diese Weise die Informationsverarbeitung effizienter zu gestalten. Kosslyns Gebrauch des Begriffs reflektives Denken hat in vielfacher Hinsicht einen Zugang zur Beschreibung dessen ermöglicht, was wir als die Auflösung hierarchischer Einflüsse im achtsamen Gewahrsein und jetzt beim achtsamen Lernen bezeichnet haben.
312
Facetten des achtsamen Gehirns
Kosslyn war der Auffassung, dass „reflektives Denken geschieht, wenn das, was im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, nicht ausreicht, um es jemandem zu ermöglichen, die Aufgabe direkt zu vollenden, und man so das Arbeitsgedächtnis verwenden muss, um neue Informationen auf der Grundlage dessen abzuleiten, was man weiß" (S. 851). Beim achtsamen Lernen können wir sagen, dass die bedingungsabhängigen Sätze und Bezugnahmen auf die eigene Geistesverfassung das reflektive Denken in Gang setzen. Das würde bedeuten, dass das Individuum sich auf die auf Bildern basierende Verarbeitung einlassen würde, statt nur automatische Klassifizierungen zu nutzen. Das Konzept des reflektiven Denkens könnte auf unsere Erörterung beider Formen von Achtsamkeit anwendbar sein, indem jene hierarchischen, vom Autopiloten gelenkten Geisteszustände aufgelöst werden. Die Beteiligung des reflektiven Denkens am achtsamen Gewahrsein und Lernen würde es ermöglichen, dass ein Fließzustand erreicht wird, während die Gedankenströme durch das Bewusstsein fließen, statt in irgendeine bestimmte frühere Klassifizierung gepresst zu werden. Kosslyn (2005) hat zusammengefasst, dass reflektives Denken geschieht, wenn die automatische Verarbeitung entweder nicht ausreicht oder nicht schnell genug ist, um eine Aufgabe zu erfüllen; das reflektive Denken bezieht das Arbeitsgedächtnis ein, und das Arbeitsgedächtnis stützt sich auf Repräsentationen, die dem bewussten Gewahrsein zugrunde liegen, nämlich mentale Bilder. Diese Ideen implizieren, dass das reflektive Denken in dem Maße wichtig ist, wie die Welt nicht vorhersagbar ist, und dass neue und unerwartete Ereignisse passieren. Während des reflektiven Denkens halten wir inne, um die Folgen verschiedener Handlungen oder Ereignisse zu untersuchen, und eine solche Verarbeitung hilft uns, neue Entscheidungen zu treffen. (S. 854) Einfach gesagt, das reflektive Denken verlässt sich auf mentale Bilder, statt auf Kategorien, die auf Sprache basieren, oder auf vorher konstruierte begriffliche Klassifikationen.
Reflektives Denken
313
Die Klassifikation zurückstellen Im achtsamen Gewahrsein nehmen wir im Geiste den Fließcharakter geistiger Aktivitäten zur Kenntnis und treten in einen Zustand der Reflektion ein, die wir mit den Begriffen Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflexivität gekennzeichnet haben. Diese achtsame Reflektion befähigt uns in vielfacher Weise, uns von den hierarchischen Einflüssen früherer Klassifikationen und Schlussfolgerungen des Geistes zu lösen. Beim achtsamen Lernen lädt die Präsentation bedingter Sätze und Perspektiven den Lernenden ebenfalls implizit und explizit ein, den Kontext und die Perspektive zu betrachten, um die einzigartigen Aspekte von Informationen in offener Weise einzubeziehen. Auch das ist im Wesentlichen ein Engagement des Geistes, um über die neuen Aspekte des Wissens zu reflektieren. Das Lernen wird umfassender in das Selbst integriert, ebenso wie in das umfassendere Gefühl der dynamischen, ungewissen und fließenden Aspekte der realen Welt. Beim reflektiven Denken, einem Prozess, der durch seinen Fokus auf Bilder statt auf deskriptiven Repräsentationen definiert wird, sehen wir diese Demontage von Klassifikationen ebenfalls. Kosslyn (2005) bemerkte dazu: Menschen neigen dazu, Wahrnehmungsinformationen als Beschreibungen neu zu kodieren, nachdem sie auf solche Informationen zugegriffen haben, und haben so mit zunehmendem Alter und zunehmender Erfahrung immer größere Mengen an deskriptiven Informationen im Langzeitgedächtnis. Diese Repräsentationen erlauben es uns, automatisch zu reagieren, ohne uns auf das reflektive Denken einlassen zu müssen. Dies ist eine gute Sache in der Hinsicht, dass es strapaziös wäre, über jede einzelne Entscheidung nachdenken zu müssen, vor die wir durch die Umstände gestellt werden. Doch es ist auch etwas Schlechtes in dem Sinne, dass wir häufig etwas Neues nicht wahrnehmen oder es uns nicht gelingt, unsere gewohnheitsmäßigen Reaktionen neu zu überdenken. (S. 860)
314
Facetten des achtsamen Gehirns
Das entspricht der vorgeschlagenen Verbesserung der Orientierung auf das Neue bei der reflektiven Achtsamkeit und der Sensibilität gegenüber Unterscheidungen beim achtsamen Lernen. Hier können wir die aufregende Konvergenz des achtsamen Gewahrseins, des achtsamen Lernens und des reflektiven Denkens spüren, die über ähnliche Mechanismen der Deklassifizierung verfügen.
Den Reiz des Neuen spüren Den Reiz des Neuen zu spüren ist ebenfalls ein gemeinsames Merkmal dieser drei Dimensionen des Gewahrseins. Das Gehirn hat einen natürlichen Drang, Muster zu entdecken. Als verbindendes Organ packt es jene Muster zu geistigen Modellen zusammen, welche die Welt automatisch in verallgemeinerte Schemata einordnen, die uns helfen, die riesige Datenmengen aus gegenwärtigen Empfindungen und dem Gedächtnis zu sortieren. Zum Teil erreicht das Gehirn das dadurch, dass es nach den unveränderlichen Merkmalen von Stimuli sucht, wie etwa der Form einer Katze, und dann eine Kategorie für jenes katzenartige Geschöpf erzeugt. „Katze" wird zum mentalen Modell für alle schnurrenden, unabhängigen kleinen Tiere mit Schnurrhaaren, die von Hunden gejagt werden - welche eine andere Kategorie von Tieren sind. Invariante Repräsentationen können dann unsere primären sensorischen Inputs dazu verdammen, sich an dieses vorher etablierte Klassifikationsschema anzupassen (Hawkins & Blakeslee 2004). Statt dass sich das Leben pulsierend und neu anfühlt, kann es, wenn man es übertreibt, stumpf werden und in Routinen versacken. Im Extremfall kann unser Gehirn diese unveränderlichen Merkmale, die man „Beschränkungen" nennt, schnell aufsuchen und alles schnell in die eine oder andere Kategorie einordnen. Das Ergebnis kann nicht nur die Lebensqualität einschränken, sondern auch die Flexibilität beim Lernen. Kosslyn (2005) führte hierzu aus, dass
Reflektives Denken
315
die Verarbeitung von Informationen, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind, außerordentlich unintelligent ist: Eine solche Verarbeitung erfordert lediglich, dass die Aktivierung der einen Repräsentation wiederum andere Repräsentationen in unterschiedlichem Maße aktiviert oder hemmt (so wie es durch die Art der Verbindung vorgegeben wird). Der Input aktiviert spezifische Repräsentationen, und wenn genügend Hinweise vorhanden sind, dann könnte nur eine einzige gespeicherte Repräsentation eines Konzepts möglicherweise allen aktivierten Repräsentationen gleichzeitig entsprechen. (S. 854) So kann es zu einer vorzeitigen Verhärtung der Kategorien kommen, wo wir nichts Neues mehr lernen, sondern alles durch die alte Brille sehen. Sich auf reflektives Denken einzulassen lässt uns die Dinge nicht nur ganz wörtlich auf eine neue Weise sehen, sondern hilft uns auch, das Langzeitgedächtnis zu reorganisieren und die Art zu verändern, wie wir Zugang zu jenen jetzt gelockerten Klassifikationen bekommen können. Das reflektive Denken hilft auch, das Langzeitgedächtnis neu zu programmieren und die Umstände zu beeinflussen, in denen das reflektive Denken in der Zukunft eingesetzt werden wird. Dadurch, dass wir „neue Informationen in das Langzeitgedächtnis einspeisen, gießt das reflektive Denken neues Wasser auf die Mühlen der Zwangsbefriedigung: Es gibt zusätzliche Hinweise, die zum Abrufen spezifischer Informationen verwendet werden können" (S. 855-856). In praktischer Hinsicht könnte das Spüren des Reizes des Neuen erfordern, dass wir uns Bildern statt auf Worten basierenden Kategorien zuwenden. Diese Bewegung hin zu Bildersprache und Symbolik könnte sich für Sie zum jetzigen Zeitpunkt recht unvertraut anfühlen. Wir haben die Idee vorgestellt, dass der rechte Gehirnmodus auf Bildersprache beruht. Wir haben darüber gesprochen, wie unsere vorsprachliche Welt bei unserer Entwicklung von der Aktivierung und dem Wachstum der rechten Hemisphäre in den ersten Lebensjahren dominiert war. Und wir haben erfahren, wie das Eintauchen in das
316
Facetten des achtsamen Gehirns
unmittelbare Erleben im achtsamen Gewahrsein uns in persönlichen Kontakt mit der Welt gebracht hat, die vor dem formulierten Wort liegt. Kosslyn (2005) vertrat in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass kleine Kinder noch nicht so viele gespeicherte Informationen haben, die es ihnen erlauben würden, automatisch zu reagieren, und sie daher häufiger werden reflektieren müssen. Es ist verlockend, zu spekulieren, dass es dieses Phänomen ist, das Reflektieren über das, was Erwachsene als gewöhnlich ansehen, welches die „kindliche Frische" des kleinen Kindes erzeugt, das sich an dem entzücken kann, was wir Erwachsene gewöhnlich finden, und dass es irritierend hartnäckig dabei sein kann, die Frage nach dem „Warum" zu stellen. (S. 856) Achtsames Gewahrsein und achtsames Lernen könnten eine wichtige Rückkehr zur Reflektion im Denken, Fühlen und Sein in unserem Leben sein.
Die Nabe Das achtsame Gewahrsein erweitert die reflektive Nabe unseres Geistes, in der wir einen beliebigen Aspekt aus dem Rand aufnehmen, vom Input aus der Außenwelt bis hin zu den inneren Tätigkeiten unseres Körpers und Geistes. Beim achtsamen Lernen ist der Schüler mit einem Aufnahmeprozess beschäftigt, der erfordert, dass das Selbst als aktiver Empfänger präsent ist statt nur als passives Behältnis. Diese Teilnehmer-Beobachter-Funktion nimmt das Gehirn wahrscheinlich auf eine andere Weise in Anspruch als das passive Lernen. Ganz ähnlich wie beim Unterschied zwischen automatischem und aktiv engagiertem Lesen bringt der Geist des Lernenden Neugier in das Geschehen ein. Das sind die „Warum"-Fragen des weisen Kindes,
Reflektives Denken
317
die Reflektion, die die Worte durchdringt, um zu der tieferen, nicht klassifizierten Bedeutung im Erlebten zu gelangen. Die Einbettung neuronaler Feuermuster in diesen stärker reflektiven Prozess ist wahrscheinlich vollständiger, und sie bietet sich eher für ausgiebigere, miteinander verwobene Repräsentationen des Selbst und alternative Möglichkeiten an. Beim achtsamen Lernen aktiviert die Einbeziehung des „könnte" und „deine Einstellung ist wichtig" wahrscheinlich Schaltkreise der Selbstbeobachtung und Konfliktlösung, die auch die reflektive Nabe des Bewusstseinsrads einbeziehen könnten. Im Geiste könnten wir das Gefühl haben, „ich muss hier sein, um dies zu hören - und was wäre, wenn es nicht so ist, sondern anders?". Diese Schaltkreise beinhalten mindestens jene Präfrontalregionen, die wir für die reflektive Achtsamkeit erforscht haben — die mittleren Aspekte und den seitlichen Teil des Präfrontalkortex. Der seitliche Teil (DLPFC) würde mehr für das Arbeitsgedächtnis engagiert werden. Die mittleren Bereiche würden für die Konfliktlösung aktiviert werden und für die Verbindung von Affekt und Kognition, einschließlich des Cingulum anterior und des Orbito-frontalkortex. Die medialen Präfrontalbereiche würden auch durch das Gewahrsein des eigenen Geistes aktiviert werden. Die Aufnahme multipler Perspektiven könnte auch noch andere mediale Bereiche der metakognitiven Verarbeitung einbeziehen. Diese „Mindsight"-Schaltkreise würden nicht nur an der Kodierung dieser bedingten, sich selbst aktivierenden Unterrichtswerkzeuge teilhaben, sondern sie wären auch aktiv an ihrer Registrierung durch den Hippocampus in das stärker integrierte Gedächtnis beteiligt, welches die rechte Hemisphäre in Verbindung mit der faktischen Kodierung der linken einbezieht. Die autobiografische Speicherung wird sich leichter wieder abrufen lassen, wie die Untersuchung unserer Lebensgeschichten zeigt. Wenn wir auf Bildern basierende Erkundungen jenseits deskriptiver Kategorien fördern, dann lassen wir uns ganz unmittelbar auf das reflektive Denken ein. Die Reflektion auf diese pädagogische Weise zu fördern wird die neuronalen Schaltkreise des Selbst in das Geschehen einbeziehen, die das Leben bedeutsamer und erfüllender machen.
318
Facetten des achtsamen Gehirns
Achtsame Integration Wir können bei unserer Erörterung des reflektiven Denkens, des achtsamen Lernens und des achtsamen Gewahrseins davon ausgehen, dass alle drei auf sich überschneidenden Prinzipien beruhen, die wahrscheinlich auch ähnliche neuronale Entsprechungen haben. Die aktive Auflösung invarianter Repräsentationen kann als neuronaler Prozess angesehen werden, der die kortikale Unterjochung hereinkommender Informationsströme aufhebt. Statt durch dieses frühere Lernen eingeschränkt zu sein, beinhaltet Achtsamkeit ein Gefühl von Frische und Fülle. Durch die „Verstärkung der Exzentrik" könnten das reflektive Denken und beide Formen von Achtsamkeit tatsächlich unser Gefühl von subjektiver Zeit erweitern. Das würde dadurch erreicht werden, dass sich die Dichte der Informationsbits erhöht, die jetzt mit „den Augen eines Anfängers" gesehen und frisch aufgenommen werden, denn jeder Moment ist sein eigener Kontext. Wir können uns vorstellen, dass das achtsame Gewahrsein die üblichen Gehirnmechanismen hemmen könnte, welche Erfahrungen klassifizieren und ganz unmittelbar die Qualität unserer „Frische" im Bewusstsein prägen, wie in Kapitel 6 erörtert. Offenheit für Neues ist eine charakteristische Eigenschaft des achtsamen Lernens. Die dem bedingten Lernen innewohnenden Eigenschaften erzeugen eine natürliche Betonung darauf, die einzigartigen Aspekte von Situationen zu erspüren, während sie auftauchen. Und im reflektiven Denken befreit die Bewegung zur Bildersprache hin die deskriptiven Kategorien der Informationsverarbeitung. Diese gemeinsamen Mechanismen mögen unterstreichen, wie wir dazu gelangen können, die beiden unterschiedlichen Weisen, wie diese Formen von Achtsamkeit evoziert werden, zu integrieren und auch von dieser unabhängigen Perspektive des reflektiven Denkens zu profitieren. Das achtsame Lernen scheint es den inneren Wissensstrukturen zu erlauben, sich zu lockern, indem jede Perspektive geachtet und angenommen wird und auch jede Bedingung als gleichermaßen möglich angesehen wird. Wenn sich das achtsame Gewahrsein durch die Ausrichtung nach innen entwickelt, dann liegt der Fokus zunächst
Reflektives Denken
319
auf einer Einstimmung auf die eigene innere Landschaft. Die Intensität, mit der wir uns unserer eigenen Veränderungen in der Perspektive bewusst werden, und die Vergänglichkeit des Lebens bei der Entfaltung von Moment zu Moment führen uns zu einer tief gehenden Akzeptanz der wesentlichen Elemente unseres Geistes. Das Zur-Kenntnis-Nehmen wird in der Achtsamkeit als selbstverständlich angesehen. Der Moment ist eine Bedingung, eine Perspektive, ein neuer Punkt in der Zeit, der innerhalb jenes besonderen Fokus unserer Aufmerksamkeit angenommen wird. Beim achtsamen Lernen ist das Ziel unserer Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Außenwelt ausgerichtet - aber das Selbst ist vollständiger Teilhaber daran. Beim achtsamen Gewahrsein entwickelt sich das, was als Aufmerksamkeit nach innen beginnt, zu einem weit geöffneten Geist hin, der bereit ist, die Fülle innerer und äußerer Ereignisse zu empfangen, während sie auftauchen. In Studienprojekten könnte erforscht werden, auf welche Weise sich der Fokus nach innen zum Beispiel dafür anbietet, mit Leichtigkeit das nach außen konzentrierte achtsame Lernen in einer Klassenzimmerumgebung zu vermitteln. Verwenden Praktizierende der Achtsamkeitsmeditation als Lehrer in ihrem Unterricht mit größerer Selbstverständlichkeit achtsame Lerntechniken? Haben Schüler, die mit achtsamem Lernen beschäftigt sind, leichteren Zugang zu ihrer inneren Welt, so dass sie Facetten jener Form von Achtsamkeit leichter in ihrem Leben offenbaren können? Können wir bildgebende Studien des Gehirns durchführen, die die Aktivierung des mittleren Präfrontalbereichs während des Lernens zeigen könnten, so wie sie für die Achtsamkeitsmeditation gezeigt worden ist? Und welche Rolle könnten die anderen Regionen des Resonanzschaltkreises für das achtsame Lernen spielen, bei dem die Aufmerksamkeit für die Intention der Frage Bestandteil dessen sein könnte, wie wir die Fragen interpretieren, die auf eine solche selbst verbundene Weise gestellt wurden? Diese Ideen achtsam mit der möglichen Überschneidung des reflektiven Denkens zu verbinden würde uns helfen, die Rolle der neuronalen Repräsentation in einem achtsamen Zustand zu erforschen. Gibt es eine Möglichkeit, wie wir die Aktivierung von Bilder-
320
Facetten des achtsamen Gehirns
Sprache bewerten können, ohne auf Klassifizierungen zurückzugreifen? Können wir lernen, wie man Menschen helfen kann, sich mit höherer Intention von deskriptiven Kategorien zu reflektiven Bildern hinzubewegen? Wenn wir diese tieferen Schichten der Verarbeitung verstehen, dann könnten wir das reflektive Denken, das achtsame Lernen und das achtsame Gewahrsein auf Weisen verbinden, die für die Kreativität recht nützlich sein könnten. Und wir könnten diese Wege zur Befreiung von Achtlosigkeit dann anwenden, um einer größeren Gruppe von Menschen zu helfen. Diese und viele weitere Fragen könnten der Fokus eines integrativen Programms sein, das darauf ausgerichtet ist, die zahlreichen reflektiven Mechanismen und Dimensionen von Achtsamkeit zu verstehen. Es wäre auch aufregend, Möglichkeiten zu finden, um diese lebensbejahenden, die Gesundheit fördernden Ansätze den vielen Menschen zugänglich zu machen, die von ihnen profitieren würden. Zusammen arbeiten, uralte Weisheiten, die klinische Praxis, neuronale Einsichten und inspiriertes Lehren könnten Hand in Hand gehen, um das Leben dieser und zukünftiger Generationen zu verbessern.
Teil IV Reflektionen über das achtsame Gehirn
Kapitel 12 Den Geist erziehen: Das vierte „R" und die Weisheit der Reflektion Von großer Bedeutung für die Darstellung der praktischen Auswirkungen des achtsamen Gehirns ist unsere Vorgehensweise bei der Bildung und Erziehung. Ein sehr großer Teil unserer schulischen Erfahrungen konzentriert sich auf den Erwerb von wichtigen Fähigkeiten und Wissen in Bezug auf die äußere Welt. Wir lernen lesen, schreiben und rechnen. Vielleicht stammt dieser Ansatz aus der Betonung, die unser Erziehungssystem auf ein Curriculum mit Inhalten legt statt auf eines, das sich auf den Prozess konzentriert, den Geist selbst zu kultivieren. Dennoch können wir sehen, dass persönliches Wohlergehen und prosoziales Verhalten es erfordern, dass wir die Fähigkeiten, uns selbst zu verstehen und Empathie zu zeigen, nähren; Qualitäten, die dadurch entstehen, dass wir lernen, reflektiv zu sein. Diese das Leben verbessernde Leichtigkeit des Geistes entwickelt sich als eine Fähigkeit, die Flexibilität und Resilienz in uns selbst und in unseren Beziehungen zu
324
Reflektionen über das achtsame Gehirn
anderen entwickelt. Die Grundzutaten des Wohlbefindens und eines mitfühlenden sozialen Lebens sind in der Tat lehrbar. Die Reflektion ist das übliche Medium, durch welches unser Gehirn solche Fähigkeiten unterstützt. Mit ihnen beginnen unsere Beziehungen aufzublühen, und unser Geist kann einen Zustand innerer Einstimmung und ein Gefühl von Harmonie erlangen.
Das vierte „R" der Erziehung Im Kern der Achtsamkeit steht die lehrbare Fähigkeit zur Reflektion. Diese erlernbare Fähigkeit ist nur einen Atemzug davon entfernt, als viertes „R" der Grundschule für Kinder im Laufe ihrer Entwicklung verfügbar zu sein. Wir haben das Lesen (reading) Schreiben ([w]riting) und Rechnen ([a]rithmetic) einst als Luxusgut für einige wenige Auserwählte angesehen, doch jetzt gelten diese Fähigkeiten als die drei Grundpfeiler der Schulbildung. Wäre es nicht sinnvoll, unsere Kinder etwas über den Geist selbst zu lehren und die Reflektion zu einem grundlegenden Bestandteil der Grundschulausbildung zu machen? Bildung und Erziehung sind Schlüsselkomponenten in der Entwicklung eines Kindes. Die Beziehungen, die Lehrer zu ihren Schülern haben, und die Erfahrungen, die sie ihnen bieten, prägen ganz unmittelbar die neuronalen Schaltkreise der nächsten Generation. Lehrer können auf diese Weise als „Neurobildhauer" unserer Zukunft angesehen werden. Wenn Kinder in den Kleinkindjahren ihr Zuhause verlassen, um in die Kindertagesstätte gebracht zu werden, oder als Drei- und Vierjährige, um in den Kindergarten zu gehen, dann beginnen sie mit ihrer langen Reise der Beziehungen zu Erzieherinnen und Lehrern oder Lehrerinnen. Diese wichtigen Verbindungen können das Selbstgefühl eines Kindes, seinen Glauben an seine Talente und seine Bereitschaft, sich angesichts von Herausforderungen um Erfolge zu bemühen, tief greifend prägen. Wichtige Studien zeigen, dass der Glaube des Lehrers an die Fähigkeit des Kindes, zu lernen, einen ganz unmittelbaren
Den Geist erziehen
325
Einfluss auf das tatsächliche Lernen des Kindes hat. Der Glaube eines Kindes an seine eigene Fähigkeit, seine Intelligenz mittels aufrichtigen Bemühens zu verbessern, kann viel ausmachen, wenn es darum geht, ob ein Kind sich in der Mittelmäßigkeit einrichten oder ob es nach Spitzenleistungen und dem Erreichen seines Potenzials streben wird (Dweck 2006). Was würde passieren, wenn sich Lehrer auch der wissenschaftlich belegten Tatsache bewusst wären, dass die Art und Weise, wie ein Mensch innerlich reflektiert, dafür prägend sein wird, wie er sich selbst und andere behandelt? Wenn Lehrern bewusst würde, dass die Einstimmung auf das Selbst - achtsam sein - die Fähigkeit des Gehirns verändern kann, Flexibilität und Selbstbeobachtung, Empathie und Moral zu erzeugen, würde es sich dann nicht lohnen, sich die Zeit zu nehmen, solche reflektiven Fähigkeiten zunächst Lehrern und dann, auf altersgerechte Weise, auch den Schülern zu vermitteln? Wir wissen, wie man Menschen das Lesen beibringt. Wir haben Strategien dafür, wie man Schreibfertigkeiten vermittelt. Wir engagieren uns aktiv für ein fortschrittliches Programm zum Unterrichten von Mathematik. Lehrer besitzen all diese Fähigkeiten selbst; sie Schülern zu vermitteln, erfolgt dann auf ganz natürliche Weise. Jede dieser drei Grundfertigkeiten fokussiert den Geist auf die äußere Welt: die Gedanken anderer in Büchern, Essays und Berichten, häufig über das, was wir im Außen gesehen haben, oder begriffliche Ideen und Fähigkeiten im Zusammenhang mit numerischen Verfahren. All diese Fähigkeiten sind wichtig. Doch wie es meiner eigenen Erfahrung nach nicht nur in der Grundschule und der weiterführenden Schule der Fall war, sondern auch im College und an der medizinischen Fakultät, fehlt häufig ein Fokus auf das Selbst und insbesondere auf den Geist in den Tausenden von Stunden, die wir in Unterrichtsräumen verbringen. Eine der vielen Kehrseiten der Abwesenheit des Selbst oder des Geistes ist, dass wir die Gelegenheit verpassen, „Mindsight" zu entwickeln unsere Fähigkeit, den Geist in uns und in anderen zu spüren. Ohne diese Fähigkeit ist unser inneres Leben verschwommen, und der
326
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Geist anderer fehlt häufig in unserem Gespür der Welt um uns herum. Dieser in der Erziehung fehlende Fokus auf die „Mindsight" wird durch technologiegesteuerte Medien gestützt, die Kinder mit Reizen bombardieren, denen es an Elementen mangelt, die Selbstverstehen oder Mitgefühl fördern. - Abwesendes Selbst, fehlender Geist, leere Empathie. Reflektion ist die Fähigkeit, durch die Selbsterkenntnis und Empathie im Curriculum verankert werden. Verschiedene Forschungszweige legen nahe, dass das Üben von sozialen und emotionalen Fähigkeiten in einem Kind Resilienz fördert und dass es sich dabei den neuronalen Schaltkreis der Exekutivfunktion zunutze machen könnte (Greenberg, eingereicht). Hier sehen wir die wichtige Überschneidung von sozialen, emotionalen, kognitiven und aufmerksamkeitsbezogenen Mechanismen — von denen jeder den anderen verstärkt. Wie wir gesehen haben, könnten die Präfrontalbereiche des Gehirns für jede dieser Dimensionen unseres geistigen Lebens verantwortlich sein. In neuronaler Hinsicht würde das vierte „R" der Reflektion (reflection) im Wesentlichen eine Schulung sein, durch die der Präfrontalkortex entwickelt wird. Dies ist unser „Cortex humanitas", die neuronale Nabe unserer Menschlichkeit. Außer dass die Reflektion ein Teil unseres präfrontalen Erbes ist, unterstützt diese integrative Region auch Beziehungen (relationships) und Resilienz oder Belastbarkeit (resilience) und gibt uns vielleicht noch ein fünftes und sechstes „R" der Grundbildung. Wir haben eine recht klare Vorstellung davon, wie man das präfrontale Wachstum fördern kann, wenn wir die Rolle der Einstimmung in der Neuroplastizität betrachten: Die gegenseitige Einstimmung in Erwachsenen-Kind-Beziehungen fördert die Entwicklung der Präfrontalfunktionen. Die vorgeschlagene Vermittlung achtsamen Gewahrseins würde sich dieselben Prozesse zunutze machen, die mit der neuronalen Integration im Präfrontalbereich verbunden sind, und einen reflektiven Geist, ein anpassungsfähiges, belastbares Gehirn und empathische Beziehungen fördern.
Den Geist erziehen
327
Der Aufbau reflektiver Fähigkeiten Wie vermitteln wir reflektive Fähigkeiten? Die Reflektion, wie wir sie mittlerweile definieren, hat mindestens drei Dimensionen: Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflexivität. Jedes dieser Elemente kann ein Fokus schulischer Übungen sein, die die Fähigkeit der Präfrontalregion nähren, offen zu sein, sich des eigenen Selbst bewusst zu sein sowie metabewusst zu sein - das Gewahrsein des Gewahrseins. Lehrer können diese drei Dimensionen durch eine Reihe von Herangehensweisen fördern, die auf das Alter ihrer Schüler und die Unterrichtsumgebung zugeschnitten sind. Letztlich nutzen diese reflektiven Fähigkeiten unsere präfontale Fähigkeit für exekutive Aufmerksamkeit, prosoziales Verhalten, Empathie und Selbstregulation. Die globalen Einsichten aus der Gehirnwissenschaft legen nahe, dass die Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, bestimmte neuronale Schaltkreise aktiviert. Mit der neuronalen Aktivierung wird das Potenzial geschaffen, die Verbindungen in jenen Regionen weiterzuentwickeln, die einen vorübergehenden Zustand zu einem langfristigeren Merkmal der jeweiligen Person werden lassen können. Die Erfahrungen, die wir als Lehrer vorgeben, fokussieren die Aufmerksamkeit der Schüler, sie aktivieren ihr Gehirn und schaffen die Möglichkeit, die neuronale Plastizität in jenen spezifischen Bereichen zu nutzen. Gekoppelt mit emotionalem Engagement, einem Sinn für Neues und optimaler Erregung der Aufmerksamkeit kann das Unterrichten mit Reflektion diese vorzüglichen Bedingungen nutzen, um neue Verbindungen im Gehirn aufzubauen. Unsere Studie der Spiegeleigenschaften im Gehirn legt nahe, dass die Art und Weise, wie wir als Lehrer mit diesem Engagement, dieser Emergenz und diesem Fokus auftreten, jene Zustände unmittelbar in unseren Schülern aktivieren wird. Was man sich als Pädagoge zu Beginn überlegen sollte, ist, wie man selbst diese Prozesse erfährt. Um Reflektion und innere Einstimmung in unseren Schülern zu entwickeln, müssen wir selbst mit der Seinsweise des achtsamen Gewahrseins vertraut sein.
328
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Ein Großteil dessen, was in den Familien, im Unterricht und in der Psychotherapie passiert und was Achtsamkeit in dem sich entwickelnden Menschen (Kind, Schüler, Patient) fördert, hat mit der Präsenz von Vater oder Mutter, Lehrer oder Therapeutin zu tun. Präsenz ist die Geistesverfassung, die mit allen Dimensionen von Reflektion einhergeht, die Qualität unserer Bereitschaft, zu empfangen, was immer der andere uns bringt, unsere eigene Teilhabe an der Interaktion zu spüren und uns unseres eigenen Gewahrseins bewusst zu sein. Wir sind offen dafür, Zeugnis abzulegen, uns zu verbinden, uns auf die inneren Zustände unserer Schüler einzustimmen. Das ist professionelle Präsenz, die beinhaltet, dass wir persönlich präsent sind. Die Einstimmung des Lehrers auf die Schüler schafft in ihnen das Fundament für Achtsamkeit. Wir sehen uns selbst in den Augen des anderen, und wenn jene Reflektion eingestimmt ist, dann haben wir ein authentisches Gefühl von uns selbst. Wenn unser Gegenüber Präsenz an den Tag legt, wenn seine reflektiven Fähigkeiten achtsames Gewahrsein erlauben, dann werden wir in jenem Moment mit Au-thentizität und Direktheit gesehen. Und deshalb ist achtsam mit uns selbst und präsent zu sein ein wichtiger Anfang. Wenn man sich erst einmal die Intention zu Eigen macht, offen und in der Gegenwart zu sein, dann gibt es spezifische Möglichkeiten, wie Menschen aller Altersgruppen ermutigt werden können zu reflektieren. Susan Kaiser Greenland (2006a) hat ein Programm organisiert (InnerKids; siehe auch Anhang I für weitere „Adressen"), in dem Kindergartenkinder und Kinder im Grundschulalter mit einfachen Übungen vertraut gemacht werden, die dazu beitragen, achtsame Reflektion aufzubauen. Als Mitglied ihres Beirats hatte ich die Gelegenheit, das Programm aus erster Hand beobachten und die gewaltige Aus-wirkung auf die Kinder sehen zu dürfen. Die Schüler haben eine einstündige Sitzung pro Woche in zwölf aufeinander folgenden Wochen während des Schuljahres, in der sie mit Spaß bringenden, dem Alter angemessenen, spielerischen „Gruppenspielen" beschäftigt sind, die als Form einer achtsamen Gewahrseinspraxis gestaltet sind und ihnen helfen sollen, sich ihrer inneren Prozesse stärker bewusst zu werden. Wie es
Den Geist erziehen
329
bei anderen Praktiken des achtsamen Gewahrseins (MAPs) der Fall ist, bauen diese Übungen wahrscheinlich die komplexe Triade der Reflektion auf, in der grundlegende Fähigkeiten wie die, sich zu öffnen, sich selbst zu beobachten und sich des Bewusstseins bewusst zu sein, gelehrt werden. Solche Gruppenerfahrungen sind unter anderem, dass die Kinder Instrumente spielen und den anderen zuhören, während sie darauf warten, an die Reihe zu kommen; dass sie ihre Hände in die Nähe von jemand anderem legen, sich aber nicht berühren; dass sie sich im Geiste ein Tier vorstellen und eine Idee dazu entwickeln, die sie gerne in ein Lied einbeziehen würden, während sie anderen zuhören, die ihre eigenen Ideen darbieten; und schließlich, dass sie „Zeit auf dem Boden" haben, in der sie die Auf- und Abwärtsbewegung eines Plüschaffen spüren, während sie flach auf dem Boden liegen und versuchen, ihren Affen durch das sanfte Schaukeln ihres Bauchs einzuschläfern. Jede dieser einfachen Übungen hilft, das Bewusstsein des Kindes vom Jetzt zu entwickeln, seine Empfindungen von Impulsen und seine Fähigkeit, sie unter Kontrolle zu halten, sowie das Bewusstsein seines sechsten Körpersinns einschließlich des Atembewusstseins auszubilden. In ihrem Pilotprojekt an vier verschiedenen Schulen stellte Kaiser Greenland signifikante Verbesserungen in mehreren Bereichen fest (Kaiser Greenland 2006b) - nachdem sie Daten aus den Berichten der älteren Kinder (von 9 bis 12 Jahren) über ihre eigenen Erfahrungen sowie Lehrerfragebögen von allen Kindern durchgesehen und die Ergebnisse dann statistischen Analysen unterzogen hatte. Auch wenn Berichte, die von Kindern stammen, in statistischer Hinsicht als weniger verlässlich angesehen werden, zeigten diese, dass die Schulkinder selbst Verbesserungen bemerkten insofern, als sie sich ihrer Verhaltensweisen stärker bewusst waren. Die verlässlicheren Daten der Lehrerberichte zeigten, dass die Kinder in dem Programm signifikante Verbesserungen bei einigen Eigenschaften der Domänen (nicht) „in Schwierigkeiten geraten", „in der Lage sein, die Sichtweise anderer zu sehen", (nicht) „leicht frustriert sein", „sich leicht anzupassen" und „sich auf andere einzulassen": Dies sind ganz eindeutig eindrucksvolle Ergebnisse, die in der Zukunft in einer ausführlicheren kontrollier-
330
Reflektionen
über das achtsame Gehirn
ten Studie wiederholt werden müssen. Was ist schon dran an diesen simplen Übungen? Ist es nicht einfach Schule wie gewöhnlich? Diese verspielten „Gruppenspiele" bieten Erfahrungen, die Fähigkeiten aufbauen, um die Reflektion zu verbessern. Sie lassen den Geist empfänglicher für Gefühle im Körper werden, für Inputs von Altersgenossen, für Empfindungen des Geistes. Sie erzeugen ein Umfeld aktiver Selbstbeobachtung und fördern die Reflexivität, da die Einstimmung auf den Atem jenen resonanten Zustand des Gewahrseins der Intention und des Gewahrseins selbst erzeugt. Wie wir im Mindful Awareness Research Center der UCLA sagen: „Einfache Lösungen für komplexe Probleme." Die Lösung besteht darin, dass eine solche Reflektion tiefere Fähigkeiten von Selbstregulation, Empathie und Mitgefühl fördert - mit anderen Worten, einen flexiblen und freundlichen Geist. Diese Spiele direkt zu beobachten hat mir das Gefühl gegeben, dass Kaiser Greenland und ihre Lehrer die neuronale Aktivität genau in den Regionen fördern, wo wir sie wachsen lassen müssen, um Reflektion, empathische Beziehungen und emotionale Resilienz zu fördern den mittleren Präfrontalbereichen, die es den neun Funktionen, über die wir gesprochen haben, ermöglichen, zum Vorschein zu kommen. Erinnern Sie sich daran, dass zu diesen Funktionen unter anderem die Körperregulation, eingestimmte Kommunikation, emotionale Ausgeglichenheit, Reaktionsflexibilität, Empathie, Einsicht, Angstmodulation, Intuition und Moral gehören (siehe Kapitel 2 und Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals). Ich kann mir vorstellen, dass die Inselrinde Daten in die kortikalen Mittellinienregionen hoch bringt, während bei dieser schulischen Erfahrung die Weisheit des Körpers zum Tragen kommt. Die Informationsverarbeitung des Körpers durch neuronale Netzwerke, die das Herz und die Eingeweide umgeben, ist eine wichtige Quelle der nonverbalen Einsicht. Mit dem Fokus auf ihren eigenen inneren Welten und denen anderer werden auch die mittleren Präfrontalregionen aktiviert und ihre Verbindungen gestärkt werden. Wenn Kinder in der Entwicklung dieser wichtigen Weisheitsschaltkreise bestärkt werden können, würden wir die Möglichkeit zu einer Transformation in der nächsten Generation schaffen.
Den Geist erziehen
331
Auch wenn wir noch auf detaillierte Studien des Gehirns warten müssen, um die hier vorgeschlagenen Entsprechungen und neuroplastischen Veränderungen zu bestätigen, so legt Mark Greenbergs Werk (eingereicht) über eine parallele Form des Trainings sozialer und emotionaler Fähigkeiten nahe, dass Exekutivfunktionen, die durch diese Regionen ausgeübt werden, sich tatsächlich durch schulische Programme, die in gewisser Hinsicht denen von Kaiser Greenland ähneln (siehe Anhang I), verbessern. Die übergeordnete Idee ist, dass das, was Lehrer bieten können, unmittelbar dazu beitragen kann, Fähigkeiten zu entwickeln, die das Leben verbessern: Das Leben kann flexibler, bedeutsamer und verbundener werden. Kinder können durch das Training reflektive Fähigkeiten entwickeln, die einen dauerhaften Einfluss auf die Förderung ihres Wohlbefindens haben. Mit der Reflektion wird den Schülern eine neuronale Fähigkeit geboten, dem Leben in sozialer, emotionaler und akademischer Hinsicht mit Resilienz zu begegnen. Was für ein Geschenk für eine gesunde Entwicklung!
Praktiken des achtsamen Gewahrseins Landkarten „Die Fähigkeit, freiwillig eine umherschweifende Aufmerksamkeit immer wieder zurückzubringen, das ist die eigentliche Wurzel von Urteil, Charakter und Wille ... Eine Erziehung, die diese Fähigkeit verbessern sollte, wäre die Erziehung schlechthin. Aber es ist leichter, dieses Ideal zu definieren als praktische Anweisungen zu geben, um es herbeizuführen (James 1890/1891, S. 401). Diese häufig zitierte Aussage von William James, dem Gelehrten und psychologischen Visionär des letzten Jahrhunderts, erinnert uns daran, dass Erziehung unsere Aufmerksamkeit darauf richten kann, Fähigkeiten des Geistes zu entwickeln, statt nur Tatsachen im Gedächtnis zu speichern. Es zeigt sich, dass James, auch wenn er der kontemplativen Praxis Achtung entgegenbrachte, anscheinend damals nicht bewusst war, dass viele Kulturen tatsächlich über Tausende von
332
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Jahren genau eine solche Erziehung entwickelt hatten, nämlich die Praktiken des achtsamen Gewahrseins. Wir haben in den Kapiteln 3 und 4 gesehen, dass die unmittelbare Erfahrung in den Prozessen der Achtsamkeitsmeditation, die aus der buddhistischen Vipassana-Tradition des „klaren Sehens" abgeleitet ist, diesen grundlegenden Schritt, „freiwillig eine umherschweifende Aufmerksamkeit immer wieder zurückzubringen", ermöglichte. In vielerlei Hinsicht ist dieser Prozess das Kernelement der Art und Weise, wie reflektive Fähigkeiten genährt werden. Andere Kulturen und sogar verschiedene Zweige des Buddhismus haben ihre eigenen Herangehensweisen an die Achtsamkeit. In seinem hervorragenden Text über Aufmerksamkeit und die Entwicklung des Geistes schrieb Allan Wallace (2006): Die moderne psychologische Darstellung der Achtsamkeit, die explizit auf den Beschreibungen von Achtsamkeit beruht, die in der modernen Vipassana-Tradition (kontemplative Einsicht) des Theravada-Buddhismus präsentiert werden, unterscheidet sich beträchtlich von der indo-tibetischen Buddhismus-Version. Dieser moderne Vipassana-Ansatz sieht die Achtsamkeit als nicht-unterscheidendes, „reines Gewahrsein" von Moment zu Moment an; die indo-tibetische Tradition charakterisiert Achtsamkeit hingegen als „das Objekt der Aufmerksamkeit im Gedächtnis behalten", der Zustand des Nicht-Vergessens, Nicht-abgelenkt-Werdens und Nicht-Schwebens. (S. 60) Hier sehen wir, dass unsere säkularen Anpassungen der Einsichten aus den kontemplativen Traditionen, in diesem Fall aus spezifischen Formen der buddhistischen Praxis und des buddhistischen Gedankenguts, die Variationen in der Herangehensweise „achtsam" annehmen müssen. Worum es hier geht, ist, die weiteste Vorstellung von dem zu verwenden, was es bedeutet, sich absichtlich dessen bewusst zu sein, was geschieht, während es geschieht - seien es nun sensorische Prozesse in der Gegenwart oder das Überdenken von Erinnerungen aus
Den Geist erziehen
333
der Vergangenheit oder Plänen für die Zukunft. Wie wir in unseren Diskussionen der Facetten des achtsamen Gehirns gesehen haben, charakterisiert der Akt, sich des Gewahrseins gewahr zu sein und der Intention Aufmerksamkeit zu schenken, eine breit angelegte Vorstellung von Achtsamkeit. Innerhalb des achtsamen Lernens spüren wir des Weiteren die zentrale Position, die das Annehmen von Ungewissheit einnimmt, während wir uns flexibel unserem Gewahrsein des gegenwärtigen Moments nähern. Auf jede Weise können wir spüren, dass das achtsame Gehirn ein universaler Bestandteil unseres menschlichen Erbes ist und nicht nur das Tätigkeitsgebiet einer Praxis oder Perspektive. Am Mindful Awareness Research Center (siehe Anhang I) haben wir Wege zusammengefasst, wie das, was wir Praktiken des achtsamen Gewahrseins (MAPs) nennen, gepflegt werden können. MAPs beziehen sich auf eine Reihe von Ansätzen oder Übungsformen (z. B. Meditation, Yoga, Tai-Chi, Qigong und andere), die darauf ausgerichtet sind, achtsames Gewahrsein zu kultivieren, die Aufmerksamkeit zu erhöhen, die Emotionen zu regulieren, Stress zu reduzieren und ein Gefühl von Wohlbefinden und Mitgefühl zu fördern. Das achtsame Gewahrsein selbst kann auch in andere Aktivitäten eingegliedert bzw. durch diese kultiviert werden. Das trifft zum Beispiel auf Kunst, Musik, Tanz, Schreiben, Psychotherapie, Berührung (z. B. Massage oder Akupunktur) und Sport zu. Tai-Chi Das Tai-Chi-Chuan beispielsweise ist eine uralte Praxis (Roth 1999), die eine tiefgründige philosophische Tradition mit einer dynamischen Form der achtsamen Bewegung verbindet. Bei der eigentlichen Praxis lernt man eine Abfolge von Schritten und Körperbewegungen, die es dem Praktizierenden abverlangen, dass er auf die Bewegungen konzentriert bleibt, während sie geschehen. Die Absichtlichkeit der Schritte und der innere Zustand, sich des Bewusstseins des Körpers gewahr zu sein, verstärken das grundlegend achtsame Wesen dieser anmutigen Praxis. In seiner vollständigsten Form verbinden sich hier
334
Reflektionen über das achtsame Gehirn
die tiefgründigen begrifflichen Vorstellungen des Taoismus und die nichtbegrifflichen Wissensformen mit der Selbstbeobachtung der eigenen dynamischen Praxis und der sinnlichen Fülle ausgeglichener Bewegungen. So beinhaltet die vollständige Tai-Chi-Praxis alle vier Ströme des Gewahrseins: Empfindung, Beobachtung, Begriffsbildung und Wissen. Doch selbst bei der einfacheren Form der achtsamen Bewegung sind die positiven Effekte dieser ebenso einfachen wie eleganten Praxis seit Generationen bekannt. Wie im ersten Kapitel erwähnt, hat Michael Irwin (2005) eine Entsprechung zwischen Verbesserungen in den Immunfunktionen und der Praxis des Tai-Chi in seiner Pilotstudie zu einer modifizierten Form des Tai-Chi festgestellt, als es einer Gruppe älterer Menschen vermittelt wurde. Yoga Eine weiteres MAP, das aufgrund seiner verschiedenen Stufen, die für unterschiedliche Altersgruppen modifiziert werden können, von Kindern und Jugendlichen vielleicht leichter akzeptiert wird, ist die Yoga-Praxis. Auch wenn viele Formen der Yoga-Praxis existieren, so ist der Gesamtansatz ebenfalls einer, bei dem man seine Aufmerksamkeit auf das Gewahrsein des eigenen Körpers, den Atem, auf Stille und Bewegung konzentriert. Diese achtsame Praxis verbindet die Aspekte der Reflexivität — das Gewahrsein des Gewahrseins - mit der Selbstbeobachtung, die das Gewahrsein des Körpers beinhaltet. Diese somatischen Empfindungen verankern den Praktizierenden in der Gegenwart und erlauben es der umherschweifenden Aufmerksamkeit, immer wieder zurück zum Körper oder zum Atem gebracht zu werden. In der Yoga-Praxis wird die Balance zu einem leicht erlebten Maß einer umherschweifenden Aufmerksamkeit: Wird man abgelenkt, so beginnt man zu schwanken; kehrt man zum achtsamen Gewahrsein zurück, zentriert man sich. Formale Studien des Nutzens des Yoga und anderer MAPs bei kleinen Kindern stecken buchstäblich noch in den Kinderschuhen, aber ihr Nutzen bei Erwachsenen scheint, wie wir erörtert haben, die positiven Auswirkungen dieser Praxis auf das Wohlbefinden zu unterstützen (Brown & Gerbarg 2005a, 2005b).
Den Geist erziehen
335
Beim achtsamen Lernen, das ausführlich im letzten Kapitel besprochen wurde, haben die Verwendung bedingter Aussagen und die Beteiligung des Studenten, zumindest in den Studien mit Erwachsenen, positive Auswirkungen auf den Genuss beim Lernen und die Wirksamkeit des Lernens. Hier kann der Lehrer anscheinend eine flexible Geistesverfassung aktivieren, in der die Sensibilität für Neues und die Unterscheidungen, die durch neue Kontexte auftauchen, zu einem Teil der Lernerfahrung werden. In all diesen MAPs brauchen wir kontrollierte Studien ihrer Wirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen, um die kurz- und langfristigen Auswirkungen auf eine Reihe von Resultaten einwandfrei festzustellen, vom emotionalen Wohlbefinden zu prosozialen Verhaltensweisen, ebenso wie die Auswirkungen auf die Physiologie und die langfristige physische und psychische Gesundheit. Die Arbeit der PATH- und CASEL-Programme (Greenberg, Weissberg, O'Brien, Zins, Fredericks, Resnick & Elias 2003; siehe auch Anhang I) zeigt durch die Forschung begründete Ansätze zur Unterstützung von schulischen Programmen, die Resilienz erhöhen und das soziale und emotionale Lernen fördern. Auch wenn diese Programme die „Achtsamkeit” nicht unmittelbar als ausgewiesene Fähigkeit lehren, so überschneiden sich ihre pädagogischen Programme doch in hohem Maße mit der allgemeinen Idee der MAPs als Praktiken, die nicht nur emotionale Intelligenz und prosoziales Verhalten fördern, sondern darüber hinaus auch die Selbsterkenntnis und Selbstregulation steigern. Ich bin im Leitungsgremium der Initiative für Bewusstheit und Konzentration im Lernen des Garrison Institute (siehe Anhang I) tätig. Der „Garrison Institute report on contemplation and education: A survey of programs using contemplative techniques in K-12 educational settings: A mapping report" (Bericht des Garrison-Instituts über Kontemplation und Erziehung: Eine Begutachtung von Programmen, die kontemplative Techniken in pädagogischen Umgebungen vom Kindergarten bis zum 12. Schuljahr verwenden: ein Funktionsbericht) bietet einen nützlichen Überblick über gegenwärtig in den Vereinigten Staaten durchgeführte Praktiken, die das Ziel verfolgen, Kontemplation im Bildungswesen zu fördern. Der Bericht trifft die folgende Feststellung (Garrison Institute Report 2005):
336
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Im Hinblick auf die Methodik haben kontemplative Programme für Kindergarten-Kinder bis hin zu Zwölftklässlern viel gemeinsam. Im Allgemeinen beziehen sie Achtsamkeit und andere kontemplative Techniken ein, um die Aufmerksamkeit zu trainieren und zu verfeinern, um emotionale Ausgeglichenheit zu fördern und auf diese Weise Schülern zu helfen, die Fähigkeit zur Selbstregulation zu entwickeln. Die Programme definieren jedoch die Begriffe Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Kontemplation auf einander widersprechende und häufig ungenaue Weise. Auf der programmatischen Ebene scheint ein theoretischer Rahmen für die Definition von Aufmerksamkeit zu fehlen; dasselbe gilt für eine allgemein akzeptierte Definition von Achtsamkeit. Trotz methodischer und pädagogischer Unterschiede kommen kontemplative Programme zu gemeinsamen Ergebnissen, die mit denjenigen des etablierten Bildungswesens übereinstimmen. Zu den wichtigsten kurzfristigen oder sofortigen Ergebnissen gehören die Verbesserung des Lernens und der akademischen Leistungen, die Verbesserung des sozialen Klimas in der Schule und die Förderung emotionaler Ausgeglichenheit und prosozialer Verhaltensweisen. Diese Programme haben außerdem Gemeinsamkeiten in Bezug auf die langfristigen oder endgültigen Ergebnisse. Hierzu gehört die Entwicklung von Eigenschaften wie Friedlichkeit, innere Ruhe, Mitgefühl, Empathie, Vergebung, Geduld, Großzügigkeit und Liebe. (S. 4) Insgesamt gibt uns der Garrison-Bericht einen wichtigen Überblick darüber, welche Ansätze zurzeit in Schulen in den Vereinigten Staaten eingeführt werden. Der Bericht spornt uns an, unsere Bemühungen, Programme zu entwickeln, die funktionieren, zu vereinen, und dieses Wissen dann mit anderen zu teilen. Auf einer Tagung, die vom Garrison Institute veranstaltet und von Mark Greenberg geleitet wurde, versammelten sich zahlreiche Wissenschaftler, um sich der Frage zu
Den Geist erziehen
337
widmen, wie sich exekutive Aufmerksamkeitsmechanismen entwickeln und welche Interventionen in der Schule durchgeführt werden könnten, um solche Präventivmaßnahmen im pädagogischen Umfeld zu unterstützen. Es wurde bei jener Tagung deutlich, dass wir, wenn wir unsere Bemühungen, Kindern zu helfen, auf eine solide Grundlage zu stellen, ein Verständnis der neuen Einsichten darein benötigen, wie sich das Gehirn als Reaktion auf Erfahrungen entwickelt, die wir als Erwachsene dem heranwachsenden Kind anbieten. Reflektion in der Schule zu lehren kann nützlich sein, aber wir müssen verstehen, wie die Entwicklungsstufe, auf der sich ein Kind befindet, die Anwendung der entsprechenden Lehrmethoden über die verschiedenen Entwicklungsphasen hinweg recht unterschiedlich ausfallen lassen wird. Etwas über die Entwicklung des Gehirns zu wissen, kann uns bei dem Verständnis helfen, wie wir effektive Programme entwickeln und durchführen können, um Reflektion in einer schulischen Umgebung zu fördern.
Mit dem Gehirn im Kopf unterrichten Wenn wir reflektive Fähigkeiten unterrichten wollen, dann müssen wir verstehen, dass die Reflektion bei Kindern eine andere Form annehmen kann, als es bei den vielschichtigeren Erscheinungsformen im Erwachsenenleben der Fall ist, wo der Kortex - insbesondere der Präfrontalkortex - weitaus komplexer ist. Das reflektive Denken ist möglicherweise bei Kindern, die von Natur aus Bilder verwenden, dominanter und leichter zugänglich. Dies ermöglicht es ihnen, die neuen Dinge in der Welt mit „neuen Augen" zu sehen. Bei Kindern steht die Notwendigkeit, die Zwänge von oben aufzulösen, möglicherweise nicht im Fokus der Reflektion, wie es häufig bei Erwachsenen der Fall ist. Stattdessen können ihnen Herangehensweisen, die ihnen ihre inneren Welten stärker bewusst machen, wie einfache Atembewusstseinsübungen, eine Grundlage der Selbsteinstimmung geben, die sie als Form der reflektiven Kohärenz weiterführen können, wenn sie heranwachsen. Schaltkreise, die sich bilden und verstärken, sind in
338
Reflektionen über das achtsame Gehirn
der Zukunft mit größerer Wahrscheinlichkeit verfügbar. Neuronen, die zusammen feuern, verschalten sich miteinander und überleben zusammen (Post & Weiss 1997). Das Grundprinzip der Gehirnentwicklung gibt uns Auskunft darüber, dass Erfahrung den Schaltkreis der Resilienz prägen kann. Studien mit Kindern und ihren engen Bezugspersonen zeigen zum Beispiel, dass die Beziehungen vor und während der Pubertät als Hauptform von Resilienz dienen, wenn das Kind in die stürmischen Jahre seiner Jugend kommt (Sroufe et al. 2005). Andere Untersuchungen zeigen, dass die Fähigkeit der Eltern, über ihr Innenleben und die innere Welt des Kindes zu reflektieren, eine wichtige Einflussgröße ist, um die Bindungssicherheit des Kindes vorherzusagen, die ihrerseits das Ausmaß an Resilienz und eine positive Entwicklung prognostiziert (Fonagy & Target 1997; Sroufe et al. 2005). Erinnern Sie sich daran, dass es nach der Geburt und in den ersten drei Lebensjahren zu einem schnellen, genetisch gesteuerten Wachstum der synaptischen Verschaltungen kommt. Die Verbindungen zwischen den beiden Hemisphären werden zu dieser Zeit zu wachsen beginnen, und sie werden noch weit bis ins Erwachsenenalter hinein ihre integrative Entwicklung fortsetzen (Gazzaniga 2000). Das Wachstum des verbindenden Balkens (Corpus callosum) wird die rechte Gehirnhälfte, die in diesen ersten Lebensjahren in Bezug auf Wachstum und Aktivität dominant ist, mit der linken verbinden, die nach dem dritten Lebensjahr aktiver wird. In der Kindergartenzeit reflektiert der Satz „lerne, deine Gefühle in Worte zu fassen" diese sich herausbildende Fähigkeit, eine Verbindung zwischen der verbalen linken und der nonverbalen und eher spontanen emotionalen rechten Gehirnhälfte herzustellen. In der Grundschule bilden sich Synapsen schnell als Reaktion auf die neuen Erfahrungen aus, die Kinder machen, wenn sie offen für neues Wissen und neue Fähigkeiten sind, einschließlich des Lernens von Fremdsprachen und musikalischen Fähigkeiten. Die Grundschuljahre sind eine Phase, in der Wissen aufgenommen wird und Fähigkeiten ausgebildet werden, denn das Gehirn des Kindes saugt in dieser Zeit in der Schule und zu Hause Erfahrungen wie ein Schwamm auf. Wissen wird rasch, aber mit Mühe erworben, denn das Kind besitzt
Den Geist erziehen
339
nicht die komplexe kortikale Struktur, um schnell neue Repräsentationen im Langzeitgedächtnis aufzubauen. Das reflektive Denken ist möglicherweise in dieser Zeit vorherrschend, denn Erfahrungen werden in Form von Bildern zu neuen Kategorien in dem neu entstehenden Wissensgerüst sortiert, das den Langzeitgedächtnisspeicher füllt. Im Anschluss an die Grundschuljahre kommt das Kind in die vorpubertäre Phase, in der sich das Gehirn nochmals verändert (Casey et al. 2005; Blakemore & Choudhury 2006). Das schnelle Wachstum der Synapsen, das in den ersten drei Lebensjahren stattgefunden hat, kehrt in der Präadoleszenz noch einmal zurück, und die kognitiven Funktionen können in dieser Zeit weniger effizient werden, da die rasante Schaffung neuer Verbindungen die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung reduzieren kann. Mit Beginn der Pubertät folgen auf das zweite genetisch programmierte Synapsenwachstum zehn lange Jahre der Umgestaltung des Gehirns, die auch die programmierte Zerstörung von Neuronen und nicht mehr verwendeter Verbindungen beinhaltet. Dieser Parzellierungsprozess, bei dem Verbindungen „gestutzt" werden (pruningj, wird als Prozess der neuronalen Umgestaltung im Sinne von „verwende es oder verliere es" angesehen, der durch Stress verschärft wird. Eine solche Phase der Veränderungen im Gehirn ist auch durch Verletzlichkeit gekennzeichnet, denn grundlegende neuronale Defizite, die bis zur Pubertät unerkannt geblieben sind, können während des „Stutzungsprozesses" offen gelegt werden. Viele der Veränderungen in den Exekutivfunktionen und der sozialen Wahrnehmung könnten auf diese kortikale Restrukturierung zurückzuführen sein, insbesondere in den Präfrontalbereichen (Blakemore & Choudhury 2006). In dieser Phase könnte es zu Instabilitäten in den neun Präfrontalfunktionen kommen, die wir besprochen haben (siehe Kapitel 2, S. 69-71 und Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals), einschließlich der emotionalen Ausgeglichenheit, Einsicht und Empathie. „Niedrigtouriges" Funktionieren mit einer vorübergehenden Außerkraftsetzung der integrativen Präfrontalfunktionen tritt in dieser Phase mit größerer Wahrscheinlichkeit auf. Wenn wir Kindern, bevor sie in die Pubertät kommen, ein Gefühl von
340
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Verbundenheit vermitteln und ihnen die sozialen und emotionalen Fähigkeiten der Reflektion mitgeben - Erfahrungen, die wichtige exekutive präfrontale Schaltkreise unterstützen -, dann könnten wir ihnen dadurch den Weg in die Pubertät erleichtern. Die Forschungsergebnisse im Hinblick auf Resilienz und Gehirnentwicklung unterstützen die Idee, dass es sinnvoll ist, Kindern reflektive Fähigkeiten zu vermitteln. Wir können davon ausgehen, dass das Erlernen solcher Fähigkeiten in der Jugend das Wachstum integrativer Neuronalfasern fördert, die Resilienz in den schwierigen Jahren sozialer und neuronaler Veränderungen verleihen, zu denen in es der Pubertät kommt, und die Forschungen zufolge mindestens bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren andauern. (Giedd 2004; Sowell, Peterson, Thompson, Welcome, Henkenius & Toga 2003). Meine persönliche Erfahrung als Kinderpsychiater und Vater ist, dass eine solche Reflektion auch durch die direkte Unterrichtung des Gehirns unterstützt werden kann. Wenn Menschen, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, etwas über die Entsprechungen zwischen Gehirnfunktion und Struktur, die neuronale Entwicklung und die Auswirkungen von Erfahrung lernen, ebenso wie darüber, wie sich ihr geistiges Leben entfaltet, dann entwickelt sich eine Art Urteilsvermögen, das Menschen hilft, ihren eigenen Geist in einem anderen Licht zu sehen. Die Aktivität des Geistes wird zu etwas, dass am Rand von der Nabe ihres Bewusstseinsrads aus gesehen werden kann, wenn sie sich vorstellen, wie der Geist Teile des Gehirns benutzt, um sich selbst zu erschaffen (siehe Kapitel 6, Seite 161). Die entstehende Gehirnstruktur hat auch unmittelbare Auswirkungen darauf, wie der Geist selbst funktionieren wird, wie zum Beispiel in der Labilität der Emotionen während der Umgestaltung des Präfrontalkortex in der Pubertät. Das Wissen, dass die mittleren Präfrontalregionen emotionale Ausgeglichenheit ermöglichen, kann jedem von uns helfen zu verstehen, wie seine vorübergehende Dysfunktion (wenn wir „durchknallen") zu beängstigenden Verhaltensweisen in anderen und in uns selbst führen können. Denken wir über diese neuronale Entsprechung nach, können wir diese Erfahrungen verstehen, anstatt sie zu rechtfertigen. Statt vermeintlich rationale Entschuldigungen für unangemessenes
Den Geist erziehen
341
Verhalten zu finden, scheinen solche neuronalen Einsichten tatsächlich zu helfen, mehr Mitgefühl und Einsicht uns selbst und anderen gegenüber zu haben. Auf diese Weise können wir eine Schulung über das Gehirn zu unserem Werkzeugkasten hinzufügen, um zur Entwicklung von Achtsamkeit beizutragen. Je mehr wir zu „klarem Sehen" über das Wesen unserer geistigen Realität gelangen können, umso mehr reflektive Kohärenz und empathische Beziehungen können wir füreinander fördern. Warum sollten Kinder - und Erwachsene - nicht lernen können, ihren eigenen Geist als flexibel zu erfahren? In der Lage zu sein, über unsere eigene innere Welt zu reflektieren, ist ein grundlegender Teil unserer Fähigkeiten und der Wissensbasis, die Wohlbefinden und ein sinnvolles Leben fördern. Selbst angesichts der Veränderungen in den Präfrontalfunktionen während der Pubertät, die die Kognition während und nach dieser Phase schnellen Wandels verändern, könnte es eine weise pädagogische Investition in eine fürsorgliche Prävention für das gesamte Leben sein, die Bahnen der Reflektion mit Praktiken des achtsamen Gewahrseins festzulegen, um das physiologische und geistige Wohlergehen sowie gute Beziehungen zu fördern. Wenn Kinder reflektiv sind, verfügen sie einerseits über das Handwerkszeug, um achtsames Gewahrsein im Moment zu erfahren. Andererseits ist ihnen damit zugleich das Geschenk präfrontaler Verstärkungen für schwierige künftige Zeiten gemacht worden. Jugendliche mit gut entwickelten reflektiven Fähigkeiten und einem achtsamen Gehirn können darauf vorbereitet sein, in neuen Kontexten flexibler zu sein, und sie können sich auch in zwischenmenschlichen Beziehungen engagieren, die wiederum lohnenswerter sein werden und ihr Wohlergehen und ihre Flexibilität unterstützen werden, wenn sie heranwachsen.
Als Lehrer präsent sein Die Lektionen des achtsamen Gehirns deuten darauf hin, dass unsere Präsenz als Person Auskunft darüber geben wird, wie wir uns auf uns selbst und auf andere einstimmen. Es ist diese Fähigkeit zur Reflek-
342
Reflektionen über das achtsame Gehirn
tion, von der einige Forscher vermuten, dass sie das wahre Attribut von Weisheit sein könnte (Staudinger 1996, 2003; Staudinger, Singer & Bluck 2001; Staudinger & Pasupathi 2003). Als Lehrer sind wir in einer einzigartigen Position, unseren Schülern und Studenten nicht nur unsere Fähigkeit anzubieten, ihnen Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln, sondern darüber hinaus unsere Essenz als Mensch. In dieser Verbindung können wir dem Wunsch unserer Studenten nachkommen, mehr zu lernen. Wie William Butler Yeats sagte: „Erziehung ist nicht das Füllen eines Eimers, sondern das Entzünden eines Feuers." Wenn wir unser volles Selbst, unsere authentische Leidenschaft für die Mysterien des Lebens und die Kraft der Verbindungen einbringen, dann können wir unsere Schüler und Studenten dazu inspirieren, ihr Gehirn neu zu verschalten. Achtsames Lernen lehrt uns auch, Material so darzubieten, dass es ein Empfinden von Kontext und Bedeutung des bedingten Wesens der Informationen wachruft. Diese Präsentation aktiviert unmittelbar das Selbst des Lernenden und verwebt wahrscheinlich das neue Material in einem weiteren Gerüst neuronaler Verbindungen als absolutes Wissen. Wir müssen Unsicherheit selbst annehmen, um in der Lage zu sein, unseren Schülern dieses achtsame Lernen zu vermitteln (Langer 1997; Napoli 2004; Ritchart & Perkins 2000; Thornton & McEntee 1993). Mit der Einstellung, dass wir alle lebenslang Lernende sind, ist eine solche Haltung nicht nur befreiend, sondern sie lädt den Schüler ein, sich mit uns in der Erfahrung des Lernens zusammenzutun, und das nicht nur bei der Einprägung vermeintlich „sicherer" Fakten. Lernen wird zu einem Verb, und das Gerüst, das es erzeugt, ist dann eine dynamische, lebendige Entität, die über eine rein statische Ansammlung von Namen und Orten, Fakten und Zahlen hinausgeht (Zajonc 2006). Außerdem erzeugen wir in unseren Schülern ein Bewusstsein, dass ihr Geist wichtig ist. Wer sie sind, ihre geistige Verfassung, die Bedeutung des Materials für sie - all das spielt eine Rolle dabei, wie sie lernen werden. Diese Merkmale ermutigen den Schüler, über seine Beziehung zu einer Art des Lernens nachzudenken, die die Erfahrung
Den Geist erziehen
343
angenehmer und effektiver machen wird. Eine solche Herangehensweise ruft wahrscheinlich die mittleren Präfrontalschaltkreise auf den Plan, die an unserem persönlichen und sozialen Selbst beteiligt sind. Sie verstärkt den Genuss und die Wirkungen der Erfahrung des Lernens und erleichtert den Zugang zu jenem Wissen. Wenn wir uns ganz speziell auf emotionale und soziale Fähigkeiten konzentrieren, dann helfen wir ihnen dabei, sie zur Neuverschaltung ihrer Gehirne zu inspirieren und ihre mittlere Präfrontalregion zu nutzen, so dass sie sich in diesen wichtigen Dimensionen ihres Lebens weiterentwickeln werden. Die Schule kann so viel mehr sein als ein Ort der Fakten, wenn wir Lehrer ihn dazu machen. Lehrer müssen sich ihrer Intentionen bewusst sein, achtsam mit ihrer Rolle umgehen und sich engagieren, soweit es ihnen möglich ist. Im Gegenzug werden auch sie sich inspiriert fühlen und in ihrer Arbeit leidenschaftlich engagiert sein. Mit reflektiven Fähigkeiten können Kinder, Heranwachsende und Erwachsene die Leidenschaft und Lust der Achtsamkeit heranziehen, um sich mit sich selbst und mit anderen zu verbinden, während sie sich durch Klassenzimmer und Schulhallen und all die Pfade ihres Lebens bewegen. Die Reflektion als viertes „R" kann ein elementarer Bestandteil der Erziehung und des Lebens sein, so einfach und zugänglich wie das Atmen.
Kapitel 13 Reflektion in der klinischen Praxis: Präsent sein und die Nabe kultivieren Die Implikationen unserer Reise in das achtsame Gehirn weisen auf die Wichtigkeit unserer eigenen reflektiven Präsenz als Fachleute hin. Ob wir nun Lehrer oder Kliniker sind, die Art und Weise, wie wir anderen zu wachsen helfen, wird unmittelbar durch unsere achtsame Präsenz geprägt werden. Sich in „achtsamer Praxis" (Epstein 1999) in den Heilberufen zu engagieren erzeugt in uns einen Zustand der Reflektion und der emotionalen Verfügbarkeit, die im Kern effektiver klinischer Arbeit stehen. Das achtsame Gewahrsein kann zu einem grundlegenden Teil der Bemühungen der Psychotherapie für die geistige Gesundheit werden, um das Leben von Menschen zu verbessern und das mentale Leiden auf direkte und indirekte Weise zu verringern (Germer, Siegel & Fulton 2005; Epstein 1995; Johanson & Kurtz 1991). Einige Ansätze nutzen formale Achtsamkeitsmeditationstechniken, wie zum Beispiel MBSR (Kabat-Zinn 1990) und MBCT (Segal, Williams & Teasdale 2002), während andere Anwendungen von Achtsamkeitsfertigkeiten wie bei der ACT (Acceptance and Commitment Therapy, Hayes 2004)
Reflektion in der klinischen Praxis
345
und der DBT (Dialogical Behavior Therapy, Linehan 1993) verwenden. Bei diesen Ansätzen könnte die Verfügbarkeit und Empathie des Therapeuten, die mit dessen eigener achtsamer Präsenz auftauchen, eine gemeinsame Quelle von Heilung in der Psychotherapie über die verschiedenen „Schulen" und spezifischen Orientierungen hinweg sein. Diese könnten als „indirekte" Auswirkungen eines achtsamen Therapeuten auf die Erfahrungen des Patienten angesehen werden. Solche indirekten Auswirkungen könnten sich aus der empathischen Offenheit des Klinikers ergeben, achtsam präsent für alles zu sein, was im geteilten Aufmerksamkeitsfeld der therapeutischen Erfahrung auftaucht. Doch das Unterrichten von Achtsamkeit an sich, innerhalb der formalen Meditationspraxis oder anderen diese Fähigkeit aufbauenden Übungen können den Patienten ganz unmittelbar nützliche Fähigkeiten vermitteln, mit deren Hilfe sie ihre Beziehung zu sich selbst transformieren, das Leiden an Symptomen reduzieren und eine neue Herangehensweise an das Leben selbst erreichen können. Direkte Anwendungen von Achtsamkeitsfertigkeiten lehren Menschen, wie sie reflektiver werden können. Die übergeordnete Idee dieser Herangehensweise, wie in Kapitel 12 besprochen, ist, dass die verschiedenen Facetten des achtsamen Gewahrseins kultiviert werden. Solche Praktiken ermöglichen es Individuen, Urteile über Bord zu werfen und flexiblere Gefühle gegenüber dem zu entwickeln, was vorher möglicherweise mentale Ereignisse waren, die sie zu vermeiden suchten oder denen gegenüber sie intensive Reaktionen von Abneigung hatten. Nichtreaktiv zu werden und Gleichmut im Angesicht von Stressfaktoren zu entwickeln unterstützt die Sichtweise, dass Achtsamkeit ganz unmittelbar die sich selbst regulierenden Funktionen des Gehirns prägt, indem sie die Reflektion des Geistes fördert.
Reflektion aufbauen - die Nabe kultivieren Wie in Kapitel 12 gezeigt, ist Achtsamkeit eine Fähigkeit, die gelehrt werden kann. In vielerlei Hinsicht ist dieses Lernen mit der Vorstellung der „Mindsight" bzw. unserer Fähigkeit, den Geist in uns selbst
346
Reflektionen über das achtsame Gehirn
und anderen zu sehen, gleichzusetzen. Die Schaltkreise der „Mindsight" können, genau wie es beim achtsamen Gewahrsein der Fall ist, durch reflektive Dialoge und den Aufbau von Fähigkeiten entwickelt werden. Reflektive Dialoge sind der Weg, auf dem wir als Teilnehmer an einer Unterhaltung unsere gegenseitige Aufmerksamkeit auf das Wesen des Geistes selbst konzentrieren. Indem wir Worte verwenden, die den Geist erhellen, wird durch die sprachlichen Repräsentationen unsere Fähigkeit der „Mindsight" entwickelt (Siegel 1999; Siegel, im Druck). Diese mentalen Ereignisse mit Worten zu beschreiben und zu benennen, ist eine Facette der Achtsamkeit, die durch reflektive Dialoge ganz unmittelbar gefördert werden kann. Wie wir gesehen haben, scheint die Fähigkeit des Benennens die Erregung der zum limbischen System gehörenden Amygdala und der rechten Hemisphäre mit der Aktivität der linken Hemisphäre auszugleichen und auf diese Weise einen flexibleren, integrierten Zustand zu schaffen. Wenn der reflektive Dialog internalisiert wird, kann das betreffende Individuum eine neue Quelle der Einsicht in seinem Geist entwickeln. Das Leben transformiert sich, wenn „Mindsight" entwickelt wird. Die Fähigkeit, mit allem „sein" zu können, was auftaucht, kann sehr stark dadurch unterstützt werden, dass wir „sehen", was da überhaupt auftaucht. Manchmal können Worte sehr hilfreich sein, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, diese dynamische, nonverbale Welt des Geistes zu sehen. Diese Dialoge könnten von zentraler Bedeutung sein, um Kindern und anderen Patienten in der Therapie zu helfen, das reflektive Denken zu entwickeln, das notwendig ist, um den Geist selbst zu spüren. Wenn reflektive Unterhaltungen bewusst mit den Prinzipien des achtsamen Lernens angeboten werden - mit dem Zustand des Lernenden, der bedingten Natur des Lernens und der Sensibilität für Kontexte und Unterscheidungen als Teil des Dialogs -, dann können reflektive Unterhaltungen neue Zustände achtsamen Gewahrseins erzeugen. Doch Worte allein sind häufig nicht ausreichend. Auf Begriffen basierende Worte sollten durch andere Ströme des Gewahrseins ergänzt werden: Empfindung, Beobachtung und Wissen.
Reflektion in der klinischen Praxis
347
Das Lehren von Achtsamkeit beinhaltet, die Fähigkeit des unmittelbaren sensorischen Erlebens zu entwickeln und den Fokus der Beobachtung auf der nonverbalen Welt zu halten. Wenn wir uns die vier Gewahrseinsströme vorstellen, dann spüren wir, wie achtsame Reflektionen in der Therapie genutzt werden können. Der Strom der Empfindung wird zu einem wichtigen Erdungspunkt, von dem aus wir den Geist aufwecken können, der häufig in Wellen der Sorge oder Depression, Angst oder Betäubung versinkt, die als „Symptome" die Nabe des Geistes übernommen haben. Zu lernen, in Empfindungen einzutauchen, kann beängstigend sein, insbesondere für diejenigen, die Traumata erlebt haben und es vermeiden, sich des Körpers bewusst zu sein. Hier sehen wir, dass die Balance aller Ströme in der eigentlichen klinischen Praxis relevant wird. Die Beobachtung ist entscheidend dafür, um Menschen zu befähigen, automatische mentale Prozesse zu entkoppeln, wie Rückblenden oder aufdringliche Erinnerungen, ebenso wie Gewohnheiten des Geistes, etwa abschätzige innere Stimmen oder emotionale Reaktivität. Zusätzlich kann das begriffliche Verstehen des Wesens dieser Prozesse und ihrer neuronalen Entsprechungen dazu beitragen, die stürmische Aktivität des Geistes zu befreien. Mit dem nonverbalen Teilen, sei es zwischenmenschlich oder im Innern, erhellt ein tieferes Gefühl eines nichtbegrifflichen Wissens über Heilung und Wohlergehen häufig den angeborenen Drang zu einem integrierteren Zustand geistiger Gesundheit. Das kann oftmals als Richtungsweisung empfunden werden, als „Hoffnungsschimmer" oder als ein Bild der Heilung. Dieses nichtbegriffliche Wissen lässt sich häufig nur schwer mit Worten ausdrücken, und es wird manchmal in Form von „Einsichten" gefühlt, die auftauchen, wie in Kapitel 3 besprochen, oder als Perspektivenverschiebung oder neue Gemütsverfassung anstelle eines unverblümten, auf Worten basierenden Gedankens, der leicht mitgeteilt werden kann. Psychotherapeutische Ansätze, die Achtsamkeit nutzen, bieten gut entwickelte, nonverbale Übungen an, die das Individuum befähigen, in die direkte Empfindung jenseits des Schleiers von Worten einzutauchen, die häufig den Schmerz des Geistes verbergen. Dieses sinnliche Eintauchen befähigt das Individuum, sich von den hierarchischen
348
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Versklavungen, die die Wurzel des Leidens sind, zu lösen. Bildersprache und Körperempfinden, intentionale Bewegungsübungen und das Spüren von Emotionen sowie die Erhöhung des Gewahrseins des gegenwärtigen Eintauchens in das unmittelbare Erleben sind ausnahmslos Techniken, die helfen, die Fähigkeiten der Achtsamkeit aufzubauen. Bei MBSR ist es zum Beispiel so, dass ein Fokus auf den Empfindungen, die dabei entstehen, wenn man sich für den Verzehr einer einzigen Rosine mehrere Minuten Zeit lässt, das Empfinden für den sensorischen Gewahrseinsstrom erhöht. In ähnlicher Weise befähigt das Durchspüren des Körpers (Body Scan) den Geist, seine Rezeptivität für die subtilen Empfindungen aus dem gesamten Sorna zu öffnen, die so häufig aus unserem alltäglichen Leben ausgeschlossen werden (Kabat-Zinn 1990; siehe auch in Anhang I die Hinweise auf Audio-CDs zu diesen Übungen). Die positiven Auswirkungen der Achtsamkeit können auch außerhalb der Therapie selbst erreicht werden. MAPs wie die Achtsamkeitsmeditation (Kornfield 1993; Kabat-Zinn 1990), Yoga (Brown & Gerbarg 2005a, 2005b), Qigong (Jones 2001; Chen 2004) und Tai-ChiChuan (Wall 2005; Irwin 2005) teilen alle einen tiefen Fokus auf die eigene Intention miteinander und sind mit dem Gewahrsein des Gewahrseins gekoppelt. Für einige Patienten könnte der Vorschlag, sich zu einem Kurs anzumelden, bei dem diese MAPs unterrichtet werden, eine wichtige Ergänzung zur Arbeit in den therapeutischen Sitzungen sein. Ich habe außerdem festgestellt, dass es außerordentlich nützlich gewesen ist, Menschen beizubringen, sich auf das Rad des Bewusstseins in ihrem eigenen Geist zu konzentrieren. Ich sehe das ganz wörtlich als Befähigung von Patienten dazu an, ihre mittleren Präfrontalregionen und die Inselrinde zu entwickeln (Lazar et al. 2005). Diese Fähigkeiten tragen dazu bei, ein Gefühl von Wohlbefinden zu entwickeln sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen und die physiologische Gesundheit zu verbessern, die aus der Weisheit dieser uralten Praktiken heraus entstehen. Bei einer meiner Gelegenheiten, reflektive Fertigkeiten direkt zu unterrichten, hatte ich es mit einem Mittelstufenschüler zu tun, der
Reflektion in der klinischen Praxis
349
schwere Anfälle von Reizbarkeit und Depression hatte. Eine zweite Meinung bestätigte meine Bedenken, dass er entweder eine schwere Depression haben könnte oder sich in den ersten Phasen einer manisch-depressiven Erkrankung befand. Ich war nahe daran, ihm Medikamente zu verschreiben, doch ich hatte mich kurz zuvor in diese Achtsamkeitsretreats vertieft und dachte daran, auszuprobieren, ihm als anfängliche Intervention das Meditieren beizubringen. Ich habe nichts gegen eine medikamentöse Behandlung und verschreibe Medikamente, wenn es notwendig ist. Doch wenn dies sicher und möglich ist - nachdem ich die Gefahren für den Betreffenden selbst und andere abgeschätzt und genau im Auge behalten habe, wie die Symptome auf die Behandlung reagieren würden -, warum sollte ich dann nicht zuerst eine nicht pharmakologische Intervention versuchen? Mit Erlaubnis seiner Eltern begannen wir eine konzentrierte Behandlung, die daraus bestand, dass ich ihm Fertigkeiten der Achtsamkeitsmeditation vermittelte und ihn ermutigte, an sechs Tagen der Woche aerobe Übungen zu machen. Aerobe Übungen scheinen nicht nur ganz unmittelbar bei Depressionen zu helfen, sondern sie erhöhen auch die neuronale Plastizität. Ausgleichssport, der Reiz des Neuen, emotionales Engagement und optimale Zustände der Aufmerksamkeitserregung sind jeweils Zutaten, die die neuronale Plastizität fördern. Wenn wir spezifische Techniken verwenden, um bestimmte Schaltkreise im Gehirn zu aktivieren, dann definieren wir, welche neuronalen Bereiche wir einzubeziehen und zu entwickeln versuchen. Bei einer bestimmten Sichtweise der Depression wird davon ausgegangen, dass sie die Abschaltung neuronalen Wachstums beinhaltet, was dem Depressiven das Gefühl gibt, das Leben sei im Innern „tot". Hier spürt der Geist, was den Synapsen fehlt. Wenn wir neuem Lernen gegenüber verschlossen sind, dann verschwindet die Vitalität. In Bezug auf die manisch-depressive Erkrankung (bipolare affektive Störung) nimmt ein Forscherteam an, dass der neuronale Schaltkreis, der den ventralen lateralen Präfrontalkortex mit der limbischen Amygdala verbindet, Defekte aufweist (Blumberg, Kaufman, Marin, Charney, Krystal & Peterson 2004). Erinnern Sie sich daran, das dies ein Teil desselben Schaltkreises ist, den sich diejenigen, die Achtsam-
350
Reflektionen über das achtsame Gehirn
keit als Charakterzug haben, auf einzigartige Weise zunutze machen (Creswell, Way, Eisenberger, Leiberman, eingereicht; siehe Anhang III, Entwicklungsbezogene Themen). Trotz meiner Überzeugung als Therapeut, dass dies funktionieren kann, weiß man eigentlich nicht, was die wesentlichen Elemente waren, die zu der Verbesserung geführt haben. Einzelfallberichte sind nur dann hilfreich, wenn man ihre maßgeblichen Beschränkungen in Betracht bezieht. Doch es stellt sich jetzt, nahezu ein Jahr später, heraus, dass seine Symptome, die nach den ersten vier Monaten mit Meditation und körperlicher Ertüchtigung praktisch verschwunden waren, nicht mehr wiedergekommen sind. Wird das andauern? Studien zu den Auswirkungen achtsamkeitsbasierter kognitiver Therapie zur Verhütung von Rückfällen (Segal, Williams & Teasdale 2002) legen nahe, dass die Symptome wahrscheinlich nicht zurückkommen werden. Dasselbe gilt für andere Probleme im Zusammenhang mit geistiger Gesundheit, beispielsweise für Zwangsneurosen (Baxter et al. 1992; Schwartz & Begley 2003). Wenn Menschen diese Fertigkeiten der Reflektion und Selbstregulation erlernen, werden diese zu lebenslangen Merkmalen einer neu entstandenen Resilienz. Der wichtige Punkt ist, dass Menschen sogar angesichts möglicher konstitutioneller Merkmale, die auf Schwierigkeiten mit Stimmung, Angst oder vielleicht Aufmerksamkeit hindeuten (Zylowska et al., eingereicht), häufig mit Praktiken des achtsamen Gewahrseins geholfen werden kann, die ihnen entscheidende neue Fertigkeiten vermitteln. Ich lehre vieler meiner Patienten etwas über das Gehirn und darüber, wie es dem entspricht, was in ihrem Geist und in ihren Beziehungen vor sich geht. Die Fähigkeit, sich die neurologische Dimension des Dreiecks des Wohlbefindens (kohärenter Geist, empathische Beziehungen und neuronale Integration) zu vergegenwärtigen, hilft, eine Haltung und Perspektive zu schaffen, die ein nützlicher Bestandteil des Urteilsvermögens sein könnte, das bei diesem Lernprozess auftaucht. Das Gehirn als etwas zu sehen, das zu Ihren Zwängen, Ihrer Drogensucht, Ihrer Depression und emotionalen Instabilität beiträgt, kann Ihnen helfen, eine aktive Rolle dabei einzunehmen, wie Ihr Geist in die Funktionen Ihres Gehirns eingreifen kann.
Reflektion in der klinischen Praxis
351
Erinnern Sie sich, dass der Geist das Gehirn nutzt, um sich selbst zu erschaffen, und dass wir uns so in bestimmten Situationen mit dem Geist verbünden können, um ein integrierteres Funktionieren im neuronalen System selbst zu kreieren. Sich von automatischen Reaktionen zu befreien, macht sehr viel aus und ist ein Beispiel dafür, wie wir tatsächlich die körperlichen Reaktionen verbessern können, von denen wir uns so abhängig fühlen. Zum Beispiel atmen viele, die wegen Angstzuständen in die Therapie kommen, hauptsächlich mit der Brust, was wir in Gefahrensituationen tun, um uns auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Nachdem man ihnen beigebracht hat, wie sie sich ihres Körpers bewusst werden und dann mit dem Bauch atmen können, eine grundlegende Yogatechnik, erleben viele eine starke Verringerung ihrer Angstgefühle. Es gibt verschiedenste Schritte, zum Beispiel bei der Behandlung von Zwängen und Stimmungsbeeinträchtigungen, die ganz spezifisch dazu beitragen können, sich aus den automatischen Verstärkungen zu lösen, die einen Angstanfall oder eine Dysphorie so weit verschärfen, dass sie sich zu einer ausgeprägten Funktionsstörung entwickelt. Letzten Endes geben wir, wenn wir Reflektion lehren, anderen ein lebenslanges Geschenk achtsamer Selbstregulation. Häufig ist auch wesentlich, dass man den Patienten nicht nur etwas über die Rolle des Gehirns in einem bestimmten Geistes- oder Verhaltensmuster lehrt, sondern ihnen darüber hinaus hilft, einen Zustand reflektiven Gewahrseins zu erreichen. Um diese rezeptive, sich selbst beobachtende und reflexive Fähigkeit zu erlangen, können Elemente der lange erprobten Achtsamkeitsmeditation außerordentlich nützlich sein. Denken Sie daran, dass der Begriff „Meditation" einfach Kultivierung des Geistes bedeutet, und so ist dies wirklich eine Übung, die hilft, geistige Fähigkeiten aufzubauen. In diesem Fall ist jene Fähigkeit eine Fähigkeit der Reflektion. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, in der Therapie Achtsamkeit anzuwenden. Eine bestimmte Übung zum Eintreten in einen Zustand achtsamen Gewahrseins ist zum Ausgangspunkt dessen geworden, was ich meinen Patienten und Schülern als Fähigkeit vermittle. Manche Menschen zeichnen meine Stimme während dieser
352
Reflektionen über das achtsame Gehirn
kurzen fünfzehnminütigen Meditationsübung auf. Es gibt viele verfügbare Aufzeichnungen von anderen, einschließlich einer, die leicht über die Website unseres Mindful Awareness Research Center bezogen werden kann (siehe Anhang I). Dies ist einfach nur eine Übung, die ich in der Praxis anwende, und ich danke sehr den vielen Menschen, deren Weisheit und Achtsamkeit mir geholfen haben, diese spezifische Übung zu artikulieren. Bitte probieren Sie sie selbst aus, und entwickeln Sie Ihren eigenen Stil - einen, der für Sie und Ihre eigene Praxis funktioniert. Dies ist eine einfache Übung, die ich bei Patienten verwende, und auch diejenige, die ich dem eben beschriebenen jungen Mann angeboten habe. Selbst diejenigen ohne Depressionen haben diese Übung als gute Möglichkeit empfunden, sich zu erden, und sie praktizieren sie jeden Tag ein paar Minuten lang, zumeist morgens.
Eine reflektive Übung Es ist hilfreich, in der Lage zu sein sich, Ihres eigenen Geistes bewusst zu werden. Dieses Bewusstsein kann sehr nützlich sein. Es passiert jedoch nicht viel im Leben, das uns dazu bringt, uns selbst kennen zu lernen. Deshalb werden wir jetzt einige Minuten damit verbringen, genau das zu tun. Richten Sie Ihren Körper aus. Es ist gut, mit geradem Rücken zu sitzen, wenn Sie können. Die Füße stehen flach auf dem Boden, die Beine sind nicht gekreuzt. Wenn Sie flach auf dem Boden liegen müssen, dann ist das auch in Ordnung. Und probieren Sie zunächst mit offenen Augen Folgendes aus. Versuchen Siey Ihre Aufmerksamkeit in das Zentrum des Raumes gehen zu lassen ... und nehmen Sie jetzt Ihre Aufmerksamkeit wahr, während Sie sie zur gegenüberliegenden Wand gehen lassen ... und jetzt folgen Sie Ihrer Aufmerksamkeit dabei, wie sie zur Mitte des Raumes zurückkommt ... und dann ganz nahe, so als ob Sie ein Buch auf Leseentfernung von sich hielten. Nehmen Sie wahr, wie Ihre Aufmerksamkeit zu sehr unterschiedlichen Punkten im Raum gehen kann.
Reflektion in der klinischen Praxis
353
Jetzt lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen gehen. Sie können Ihre Augen schließen, und während sie sich schließen, ein inneres Empfinden von Ihnen als Ihrem Körper im Raum und wo Sie im Raum sitzen bekommen. Und werden Sie sich der Geräusche um Sie herum bewusst. Jenes Empfinden von Lauten kann Ihr Bewusstsein füllen. (Halten Sie einige Momente lang inne.) Lassen Sie Ihr Bewusstsein jetzt den Atem finden, wo immer Sie ihn am deutlichsten spüren - ob es nun auf der Ebene Ihrer Nasenlöcher ist, wo die Luft ein- und ausströmt, auf der Ebene Ihrer Brust, wenn sie sich hebt und senkt, oder der Ebene Ihres Bauches, der nach innen und nach außen geht. Vielleicht werden Sie sogar wahrnehmen, wie Ihr gesamter Körper atmet. Wann immer das auf natürliche Art geschieht: lassen Sie einfach Ihr Bewusstsein auf der Welle Ihrer Einatmungreiten, und dann auf Ihrer Ausatmung (Pause) Wenn Sie zu bemerken beginnen, wie es häufig geschieht, dass Ihr Geist gewandert ist und sich in einem Gedanken, einer Erinnerung, einem Gefühl, einer Sorge verloren hat, wenn Sie das bemerken, dann nehmen Sie das im Innern sanft zur Kenntnis und kehren Sie sanft und liebevoll mit Ihrem Bewusstsein zum Atem zurück - wo immer Sie ihn fühlen - und folgen Sie der Welle der Ein- und Ausatmung (Pause) Während Sie Ihrem Atem folgen, werde ich Ihnen eine uralte Geschichte erzählen, die über Generationen weitergegeben worden ist Der Geist ist wie der Ozean. Und tief im Ozean, unterhalb der Oberfläche, ist es ruhig und klar. Und unabhängig davon, wie die Oberflächenbedingungen sind, ob Flaute oder raue See herrscht oder sogar ein schwerer Sturm heraufgezogen ist, tief im Ozean herrschen Ruhe und Gelassenheit. Aus der Tiefe des Ozeans können Sie auf die Oberfläche schauen und einfach nur die Aktivität dort wahrnehmen, wie im Geist, wo Sie aus der Tiefe des Geistes nach oben auf die Wellen schauen können, die Hirnwellen an der Oberfläche Ihres Geistes, wo all jene Geistesaktivität, Gedanken, Gefühle und Erinnerungen existieren. Sie haben die unglaubliche Gelegenheit, jene Aktivitäten einfach nur an der Oberfläche Ihres Geistes zu beobachten.
354
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Bisweilen kann es hilfreich sein, Ihre Aufmerksamkeit zum Atem zurückgehen zu lassen und dem Atem dabei zu folgen, wie er Sie an diesem tiefen, ruhigen Ort erdet. Aus dieser Tiefe Ihres Geistes ist es möglich, sich der Aktivitäten des Geistes bewusst zu werden und zu unterscheiden, dass jene nicht die Ganzheit dessen sind, der Sie sind, dass Sie mehr sind als nur Ihre Gedanken, mehr als ein bloßes Gefühl. Sie können diese Gedanken und Gefiihle haben und auch in der Lage sein, sie mit der Weisheit zur Kenntnis zu nehmen, dass sie nicht Ihre Identität sind. Sie sind ein Teil der Erfahrung Ihres Geistes. Einigen kann das Benennen der Art von mentaler Aktivität, wie „fühlen" oder „denken" „sich erinnern" oder „sich Sorgen machen", helfen, es diesen Aktivitäten des Geistes zu erlauben, als rein mentale Ereignisse bemerkt zu werden, die dann sanft wegschweben und aus dem Bewusstsein verschwinden können. (Pause) Ein weiteres Bild, das ich mit Ihnen während dieser nach innen gerichteten Zeit teilen werde, ist eines, das Sie als hilfreich empfinden könnten. Vielleicht werden Sie es als etwas ansehen, das Sie ebenfalls verwenden möchten. Sie können sich die Struktur des Geistes als etwas Ahnliches wie ein Bewusstseinsrad vorstellen, wo es einen äußeren Rand und Speichen gibt, die den Rand mit einer inneren Nabe verbinden. Im Bewusstseinsrad Ihres Geistes würde alles, was in Ihr Bewusstsein gelangen kann, einer der unendlichen Punkte auf dem Rand sein. Ein Sektor des Randes könnte unsere fünf Sinne - Berührung, Geschmack, Geruch, Hören und Sehen - einschließen, jene Sinne, die die Außenwelt in unseren Geist hineinbringen. Ein weiterer Sektor jenes Randes ist das Empfinden des Körpers, das Gefühl in unseren Gliedmaßen unseren Gesichtsmuskeln und das Gefühl der Organe in unserem Rumpf, unseren Lungen, unsern Herz, unsere Eingeweide. Der gesamte Körper bringt seine Weisheit hoch in unseren Geist, und dieser Körpersinn. dieser sechste Sinn, wenn Sie so möchten, fügt eine weitere Struktur hinzu, derer wir uns bewusst werden können. Eine weitere Ansammlung von Punkten auf dem Rand sind diejenigen, die der Geist direkt erzeugt, wie Gedanken und Gefühle, Erinnerungen und Wahrnehmungen, Hoffnungen und Träume. Und dieses Randsegment unseres Geistes ist unserem Bewusstsein ebenfalls
Reflektion in der klinischen Praxis
355
vollständig verfügbar. Es ist das, was wir unseren siebten Sinn nennen könnten: unsere Fähigkeit, den Geist selbst zu sehen, den Geist in uns selbst zu sehen und im Geist anderer. Wir könnten auch in der Lage sein, uns innerhalb unseres achten Sinnes „gefühlt" zu fühlen, indem wir fühlen, wie unsere eingestimmten Beziehungen mit anderen und uns selbst resonieren. Wir können wählen, ob wir ein Segment herausgreifen und gleichsam eine Speiche nach außen an jenen Punkt auf dem Rand ausrichten wollen. Wir können uns entscheiden, dem Gefühl in unserem Bauch Aufmerksamkeit zu schenken und eine Speiche dorthin zu „schicken". Oder wir können uns entscheiden, einer Erinnerung Aufmerksamkeit zu schenken und eine Speiche zu jenem Bereich unseres siebten Sinns zu platzieren, um jenen Teil unseres Geistes zu sehen. So stehen diese Speichen also dafür, sich auf einen Punkt am Rand zu konzentrieren. Und die Speichen strahlen von der Tiefe unseres Geistes aus, die die Nabe des Bewusstseinsrads ist. Und indem wir uns auf den Atem konzentrieren, können wir die Weite jener Nabe entwickeln. Indem sich die Nabe ausweitet, entwickeln wir die Fähigkeit, rezeptiv für alles zu sein, was aus dem Rand aufsteigt, uns selbst der Weite hinzugeben, der lichtvollen Qualität der Nabe, die jeden Aspekt unserer Erfahrung aufnehmen kann, genau so, wie er ist. Ohne vorgefasste Ideen oder ohne an Urteilen festzuhalten, bringt uns dieses achtsame Gewahrsein, diese rezeptive Aufmerksamkeit zu einem ruhigen Platz, von dem aus wir Bewusstsein erlangen und alle Elemente unserer Erfahrung wahrnehmen können. Die Nabe unseres Geistes ist genau wie die Tiefe des Ozeans unseres Geistes ein Ort der Ruhe und der Erkundung, wo wir das Wesen des Geistes mit Gleichmut, Energie und Konzentration erforschen können. Diese Nabe unseres Geistes steht uns immer zur Verfügung, genau jetzt. Und von dieser Nabe aus treten wir in einen mitfühlenden Zustand der Verbindung zu uns selbst ein und fühlen Mitgefühl mit anderen. Lassen Sie uns noch einige Momente lang auf den Atem konzentrieren, jene weite Nabe unseres Geistes für die Schönheit und das Wunder dessen öjfnen, was ist. (Pause)
356
Reflektionen
über das achtsame Gehirn
Wenn Sie dann bereit sind, können Sie einen spontanen und vielleicht tieferen Atemzug machen, wenn Sie möchten, und sich sanft darauf vorbereiten, Ihre Augen sanft wieder zu öffnen, diese Tiefe Ihres Geistes zu spüren, und wir werden unseren Dialog miteinander fortsetzen. Nach dieser reflektiven, zu neuen Fähigkeiten verhelfenden Übung beschreiben Menschen häufig, dass sie sich ruhig, heiter und klar fühlen. Diese einfache Übung, nur ein paar Minuten am Tag, scheint sehr viel im Leben zu bewirken. Eine Reihe von Patienten in meiner Praxis hat berichtet, dass sie weniger Angst fühlten, ein tieferes Gefühl von Klarheit hatten und Verbesserungen ihres depressiven Zustands bemerkten. Auf zwischenmenschlicher Ebene haben Paare beschrieben, dass diese Praxis das Wesen empathischer Kommunikation verbessert hat, ihnen mehr Zugang zur Einstimmung miteinander und zu jenem wichtigen Sinn, sich voneinander „gefühlt zu fühlen", gegeben hat. Die Achtsamkeitsmeditation verstärkt genau die Schaltkreise, die an Einsicht und Empathie beteiligt sind. Es gibt da etwas bei der Resonanz in der gegenseitigen und der intrapersonalen Einstimmung, das ein tiefes Gefühl von Wohlbefinden fördert. Ein Teenager in meiner Praxis war über irgendetwas in einer Sitzung recht aufgebracht gewesen, und, nachdem er sich von mir verstanden gefühlt hatte, sagte er: „Toll, ich fühle mich jetzt so viel besser, wo ich Ihnen davon erzählt habe - wie funktioniert das im Gehirn?" Der resonante Zustand, der mit der Einstimmung erzeugt wird, leitet sich aus der Integration ab und erzeugt einen kohärenten Geist. In vielfacher Weise erzeugt die innere Einstimmung jenes tiefe Gefühl, sich gefühlt zu fühlen. Mit Achtsamkeit, so glaube ich, gelangen wir dahin, uns in aufrichtiger Weise durch uns selbst gefühlt zu fühlen. Das ist innere Einstimmung. Die Erfahrung, den Tag mit achtsamer Reflektion und einer Übung wie dieser oder den vielen anderen, die zur Verfügung stehen (siehe Anhang I), zu beginnen, bewirkt sehr viel, selbst wenn man sie nur fünf oder zehn Minuten am Tag macht. Der Grund für diese
Reflektion in der klinischen Praxis
357
großartige Wirkung bei so geringem Zeitaufwand ist, so glaube ich, dass die intrapersonale Einstimmung einen in hohem Maße integrierten neuronalen Zustand erzeugt, der es dem Charakterzug der reflektiven Kohärenz erlaubt, für den Rest des Tages anzudauern. Was würde passieren, wenn wir die intrapersonale Einstimmung förderten jenen leuchtenden Raum von Möglichkeit für die Resonanz, der dann, wie alle Studien zeigen und die Erfahrung bewiesen hat, die gegenseitige Resonanz und das Mitgefühl miteinander fördert? Wie anders würde die Welt dann aussehen?!
Kapitel 14 Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie: Die neuronale Integration fördern Wie wir kurz im Vorwort besprochen haben, ist die interpersonelle Neurobiologie ein integrativer Ansatz, der auf ein großes Spektrum unterschiedlicher Wissensbereiche zurückgreift, um ein Bild der menschlichen Erfahrung zu erzeugen. Dieser Ansatz baut auf vielen Wissenschaftsdisziplinen auf, um Vorschläge zu machen, wie wir den Geist und sein Auftauchen im Moment sowie seine lebenslange Entwicklung definieren könnten. Der Geist taucht auf, wenn dieser Fluss sich im Menschen und unter Menschen vollzieht, und er entwickelt sich, wenn die genetisch programmierte Reifung des Nervensystems durch die laufenden Erfahrungen geprägt wird. Durch diese synthetische Analyse taucht die Perspektive auf, dass das geistige Wohlergehen innerhalb des Prozesses der Integration erzeugt wird, der Verbindung unterschiedlicher Komponenten eines Systems zu einem funktionalen Ganzen. Bei dieser Sichtweise, die zum
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
359
Teil aus der Komplexitätstheorie abgeleitet ist, sehen wir, dass wenn die Bestandteile eines Systems funktional miteinander verbunden werden - wenn sie integriert werden -, sie dann so definiert werden können, dass sie einen FACES-Fluss haben: flexibel, anpassungsfähig, kohärent, energetisiert und stabil. Außerhalb jenes Flusses kann die Person, Familie, Gemeinschaft oder Gesellschaft Chaos oder Rigidität erfahren. Im Fluss ist die Erfahrung von Kohärenz erfüllt: verbunden, offen, harmonisch, engagiert, rezeptiv, emergierend, noetisch, mitfühlend und empathisch. Diese Arbeitsdefinitionen des Geistes und des geistigen Wohlbefindens sind nützlich gewesen, um Lehrer und Therapeuten dahin zu bringen, eine mögliche Sichtweise eines gesunden Geistes in Betracht zu ziehen. Durch unser auftauchendes Verständnis des achtsamen Gehirns können wir auf diesen Ideen aufbauen, um einen Rahmen dafür zu schaffen, wie eine interpersonelle neurobiologische Herangehensweise an die Therapie geschaffen werden könnte.
Die Rolle der interpersonellen Neurobiologie, um Wohlbefinden zu verstehen und zu fördern Persönliche Transformation kann so definiert werden, dass sie die drei Schenkel unseres Dreiecks des Wohlbefindens beinhaltet: einen kohärenten Geist, empathische Beziehungen und neuronale Integration. Es besteht keine Notwendigkeit, diese drei Aspekte zu einem einzigen Aspekt der Realität zu vereinfachen, da sie sich gegenseitig verstärken. Natürlich könnten wir sagen, dass sie drei Aspekte einer Realität sind, da alle ein Teil des Energie- und des Informationsflusses des Wohlbefindens sind. Doch diese „drei Aspekte" haben einzigartige, nicht weiter reduzierbare Eigenschaften. Wenn Integration einen FACES-Fluss ermöglicht, dann ist ein nächster logischer Schritt, zu untersuchen, wie Integration innerhalb und zwischen diesen Domänen gefördert wird. Wenn wir auf der Ebene der physischen Realität beginnen, dann können wir sagen, dass wir nach einzelnen Aspekten eines Systems forschen, die dann mitein-
360
Reflektionen über das achtsame Gehirn
ander verbunden werden können. Bevor wir diesen Ansatz im Detail erforschen, lassen Sie uns über einige allgemeine Prinzipien sprechen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass dies die Erfahrung eines Therapeuten ist, eine Herangehensweise, um Möglichkeitsfenster zu finden, die Menschen helfen, sich auf einen Zustand des Wohlbefindens hin zu bewegen, indem sie Integration in ihrem Leben fördern. Ich biete Ihnen diese Sichtweise an, damit Sie darüber nachdenken können, nicht als Aussage darüber, wie man eine bestimmte Theorie in die Praxis umsetzt, sondern als einen Weg, wie man als Therapeut sein kann. Wenn Sie selbst Kliniker sind oder wenn Sie sich in psychotherapeutische Behandlung begeben haben, dann hoffe ich, dass diese Ideen und die nachfolgenden Geschichten über tatsächliche Erfahrungen hilfreich sein werden, um mögliche Wege der Veränderung zu beleuchten, die nützlich dafür sein werden, Ihre eigene Herangehensweise zu schaffen. In einem achtsamen Zustand können wir die Vorschläge anderer als einen möglichen Weg ansehen statt als Landkarte, die den einzig gangbaren Weg skizziert. Jeder von uns ist anders, unser Leben ist komplex, und ein Gefühl für mögliche Richtungen zu haben könnte hilfreicher sein, als sich irgendeiner Idee einer absoluten Wahrheit zu verschreiben.
Einstimmung Geteilte Aufmerksamkeit setzt Einstimmung in Gang. Wenn wir uns auf andere einlassen, dann verstärken wir gegenseitig unser Bewusstsein hinsichtlich der Elemente des Geistes einer Person, die zum gemeinsamen Zentrum der Nabe unseres Geistes werden. Wenn sich diese Verbindung weiterentwickelt, beginnen wir, mit den Zuständen der anderen zu resonieren und uns durch unsere Verbindung zu verändern. Einstimmung kann als Herzstück therapeutischer Veränderung angesehen werden. In dem Moment fühlen sich solche resonanten Zustände gut an, wenn wir uns nämlich von jemand anderem „gefühlt fühlen", und nicht länger allein, sondern in Verbindung sind. Das ist
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
361
das Herz empathischer Beziehungen, wenn wir ein klares Bild unseres Geistes im Geist des anderen spüren. Ein einfaches Akronym, um sich an dieses Merkmal zu erinnern, ist ISO, die englische Abkürzung für „innerer Zustand des anderen" (internal State of the otherj, ein Bewusstsein, das Sie als Therapeut von Ihrem Patienten haben und er von Ihnen hat. Jeder Mensch spürt seinen Geist klar im Ausdruck der anderen, indem er jene Verkörperung des eigenen authentischen Geistes in einer anderen Person erfährt. Hier sehen wir die Vorstellung der „verkörperten Simulation" des Spiegelneuronensystems (Gallese 2003, 2006), in dem unsere neuronalen Prozesse das integrieren, was wir mit der Bahnung des Körpers für Handeln und Emotion wahrnehmen. Eine andere Möglichkeit, wie man sich auf den Geist eines anderen einstimmen kann, ist über die „Erzählung des anderen" (NOTO, Akronym von narrative of the other). Indem wir die Erfahrungen des Patienten aufnehmen, erzeugen wir in unserem Geist eine Geschichte davon, wer er oder sie ist. In kleinerem oder größerem Umfang können wir zeigen, dass wir eine Erzählung des anderen in uns ha-ben. Wenn ein Patient von einer Reise nach San Francisco zurückkommt und ich bei seiner Rückkehr sage, bevor er spricht: „Wie war Ihre Reise zur Golden Gate Bridge?", dann wird er wissen, dass er in meinem Kopf existiert, selbst wenn wir gerade nicht „miteinander sind". In größerem Umfang zeigt sich ein NOTO in der Weise, in der etwa die Lebenserfahrungen einer Patientin meinen Geist füllen, ich ihre Kämpfe spüren kann, ich ihre Reise auf ihrem Weg durch die Zeit sehen und ich sie bei unseren Diskussionen wissen lassen kann, wie jene sich entwickelnde Geschichte in meinem Geist existiert, nämlich durch die Art, wie wir uns in dem Bemühen verbinden, die Bedeutung ihres Lebens zu verstehen. Wenn Patienten unser authentisches Anliegen spüren und unsere Fähigkeit, sie in der Gegenwart innerhalb von ISOs und über die Zeit mit NOTOs in uns zu verankern, dann gelangen sie dahin, sich von uns gefühlt zu fühlen und auf uns eingestimmt zu sein. Um eine solche unmittelbare Verbindung von Geist zu Geist zu erreichen, ist entscheidend, dass der Therapeut eine „offene Nabe" hat, in der er mit Achtsamkeit all das erfassen kann, was im Laufe der Therapie auf-
362
Reflektionen über das achtsame Gehirn
taucht. Diese Einstimmung fühlt sich nicht nur im Moment gut an, sie verändert wahrscheinlich auch die sich selbst regulierenden, integrativen Fasern des Gehirns, insbesondere in den mittleren Aspekten des Präfrontalkortex. Einstimmung auf zwischenmenschlicher Ebene und das Nähren der Einstimmung auf der inneren sind die zentralen Prozesse der Psychotherapie. Einstimmung in beiden Formen baut auf Integration auf.
„Der Haken des Gehirns" In der Achtsamkeit richten wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Intention. Wo die Aufmerksamkeit hingeht, dort feuern Neuronen. Und wo Neuronen feuern, dort können sie sich neu verschalten. Dieser Prozess kann mit dem Begriff SNAG („Haken", Akronym von stimulate neuronal activation and growth) zusammengefasst werden, was darauf abhebt, wie wir neuronale Aktivierung und neuronales Wachstum anregen. Im achtsamen Gewahrsein „verhaken" wir unser Gehirn, indem wir unsere Aufmerksamkeit in einer Weise auf unsere eigenen Intentionen fokussieren, die unsere mittleren Präfrontalregionen anregt und die Integration fördert. Diese präfrontale Aktivierung findet mit Hilfe der axonalen Fasern statt, die sich ausdehnen, um verschiedene ungleichartige Regionen miteinander zu verbinden: Kortex, limbische Bereiche, Stammhirn, den Körper selbst und sogar die soziale Welt anderer Gehirne. Das Wachstum der Präfrontalfasern bedeutet anatomisch, dass wir in funktioneller Hinsicht die neuronale Integration fördern. Hier wird angenommen, dass die innere Abstimmung das Gehirn aktiviert, um Integration zu fördern. Die gegenseitige Einstimmung hingegen katalysiert ähnliche neuronale Aktivierungen und entsprechendes Wachstum. Dann wird die Einstimmung zu einem zentralen Fokus unseres Verständnisses davon, wie Therapie das Gehirn verändern kann. An dieser Stelle wollen wir uns noch einmal die Liste der neun Funktionen des mittleren Präfrontals ins Gedächtnis rufen: (1) Kör-
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
363
perregulation, (2) eingestimmte Kommunikation, (3) emotionale Ausgeglichenheit, (4) Reaktionsflexibilität, (5) Empathie, (6) sich selbst kennendes Gewahrsein, (7) Angstmodulation, (8) Intuition und (9) Moral. Wie viele Punkte auf dieser Liste würden Sie unter den gewünschten Ergebnissen für Ihr eigenes Wachstum oder das anderer aufzählen? Aus dieser Perspektive können wir untersuchen, wie sich die gegenseitige Einstimmung in der Bindung, die innere Einstimmung in der Achtsamkeit, die Funktionen des mittleren Präfrontals und wirksame Psychotherapie in ihren gemeinsamen Handlungsmechanismen einander annähern könnten.
Die Bereiche der neuronalen Integration Damit eine Therapie, welcher Art auch immer, effektiv sein kann, müssen wir davon ausgehen, dass wir das Gehirn in Richtung neuronaler Integration aktivieren, um die Kohärenz des Geistes zu fördern und Empathie in Beziehungen zu wecken. Auf diese Weise konzentriert sich Therapie auf das Dreieck des Wohlbefindens. Die Strategie, die wir verwenden werden, um diesen dynamischen und individualisierten Prozess zu beschreiben, besteht darin, neun eigenständige Bereiche neuronaler Integration zu skizzieren, und wie man jeden von diesen in unserem Leben fördern kann (Siegel, im Druck). Diese Bereiche beinhalten folgende Integrationsformen: (1) Bewusstsein, (2) vertikal, (3) horizontal, (4) Gedächtnis, (5) erzählend, (6) Zustand, (7) temporal, (8) zwischenmenschlich und (9) „transpirational". [Der Begriff „transpirational" stammt von Siegel selbst und wird weiter unten erklärt; Anm. d. Ü.] Wenn wir uns auf die Bereiche der Integration innerhalb unseres neuronalen Systems konzentrieren, dann können wir die gleichzeitige Erzeugung von Empathie mit anderen und Kohärenz in uns spüren. Die folgenden Vignetten von Patienten (identifizierende Merkmale sind aus diesen Geschichten entfernt worden) können helfen, den Gebrauch dieses Ansatzes in der Psychotherapie zu veranschaulichen, indem wir die Prinzipien des achtsamen Gehirns auf die klinische Praxis anwenden.
364
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Die Integration von Bewusstsein Lieber Herr Dr. Siegel, wollte Sie nur wissen lassen, dass ich mich sehr viel besser fiihle ... ein bisschen mehr Klarheit über dieses Thema und eine weit bessere Sicht des Randes ... es ist erstaunlich - eine wirkliche Einsicht für mich als Therapeutin - dass sogar durch die Art, wie ich alles weiß und praktiziere (d. h. meine Atmung beobachten, COAL, SOCK), mein Geist immer noch durch das, was vor so langer Zeit passiert ist, „entführt" wird ... Ich fühle mich jetzt viel besser —jenes nette normale, ruhige Gefühl — ich glaube, weil ich in der Lage gewesen bin, dieses verdrehte Zeugs zu entwirren, und es mir anschauen kann, ohne mich selbst durch und durch zu verdrehen ... Ich habe es noch nicht ein einziges Mal vergessen und ich fühle, dass ich es wahrscheinlich nicht mehr vollkommen aus den Augen verlieren werde. ... Es ist wie, selbst wenn ich vergesse, erinnere ich mich, dass ich es vergessen habe, und das ist in Wirklichkeit so ähnlich, wie nicht zu vergessen ... ich kann es gar nicht abwarten, nächste Woche weiter an diesen Aspekten meines Selbst zu arbeiten ... danke, Dr. Siegel ... ich bin so dankbar für Ihre Führung ... dann also bis Mittwoch ... Beste Grüße, Mary. Das ist eine E-Mail von Mary, einer fünfunddreißig Jahre alten Psychotherapeutin mit einer schmerzlichen Geschichte in der Kindheit. Sie wurde von ihrem Stiefvater missbraucht, was zu beträchtlichen Schwierigkeiten mit posttraumatischem Stress und Dissoziation führte. Weil ihre Kindheitserfahrungen schreckenerregend waren, entwickelte sich ein desorganisiertes Bindungsmuster. Sie überlebte, indem sie ihr Bewusstsein teilte. - Einige Aspekte ihres Geistes erkannten die Geschehnisse an, ein anderer Teil war sich der missbräuchlichen Beziehung nicht bewusst. Im Verlauf der Therapie erlaubte ihr das Erkennen der Wahrheit ihrer Erfahrungen im Rahmen einer engen, verbundenen Beziehung
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
365
zu ihrem Therapeuten (mir), diese Erinnerungen auf neue Weise zu erleben. Die Nabe meines eigenen Geistes musste für alles rezeptiv sein, was auftauchte: Ich konnte Aspekte des Schreckens spüren, konnte ihre Fragmentierung und Hilflosigkeit spüren und wollte versuchen, präsent zu sein, so gut ich konnte, um diese überwältigenden Situationen „in Schach zu halten". Wenn Erinnerungen auf diese Weise geteilt werden, wenn Raum geschaffen wird, um die Empfindungen vollständig zu spüren und dann die reflektive Erfahrung zu haben, dass dieses Wissen ausgehalten, dass es zugelassen werden kann, dann kann sich das Wesen der Erinnerungen tatsächlich verändern. Wie wir im folgenden Abschnitt über die Gedächtnisintegration sehen werden, kann ein solcher zwischenmenschlicher Austausch das „Toleranzfenster" weiten, um schmerzliche Erfahrungen aus der Vergangenheit zu erkennen. Diese Expansion ist eine Erhöhung der Selbstregulation, die Fähigkeit, den eigenen Schmerz zu bezeugen und präsent zu bleiben, wenn jene implizite Erinnerung in ein breiter angelegtes Empfinden des persönlichen Lebens integriert wird. Der Schlüssel für mich als Therapeut besteht darin, für alles, was auftaucht, vollständig präsent zu bleiben - keine Urteile zu fällen, genau hier zu sein, im Moment, den Verschiebungen und Stabilisierungen verschiedener Zustände zu folgen, alles in der therapeutischen Erfahrung willkommen zu heißen. Mit Hilfe eines solchen achtsamen Ansatzes schien Mary sich zu verändern, als wir die Aufmerksamkeit zusammen auf die verschiedenen Arten und Weisen richteten, wie sie sich an das feindliche Familienumfeld angepasst hatte. Während sie in ihrer eigenen Therapie vorankam, stellte sie fest, dass es in ihrem täglichen Leben hilfreich war, Achtsamkeit zu praktizieren. Ich lehrte sie die Meditation, die ich im vorigen Kapitel angeboten habe, und sie fand, dass die Nabe eine nützliche visuelle Metapher sei, um in der Lage zu sein, etwas über die Elemente der Vergangenheit als Aktivitäten ihres Geistes zu wissen, sie aber nicht als die Gesamtheit dessen anzusehen, was sie ist. Dieses achtsame Urteilsvermögen fühlt sich in vielfacher Hinsicht wie der Eckpfeiler der Therapie an, nicht nur für Mary und andere Patienten, sondern auch für uns als Therapeuten. Wir spüren den Schmerz
366
Reflektionen über das achtsame Gehirn
unserer Patienten, aber wir müssen nicht zu jenem Schmerz werden. Die modulierende Fähigkeit zu haben, um offen zu sein, aber nicht zu unseren Patienten zu „werden", ist eine Gratwanderung zwischen dem Empathischsein und dem Entwickeln einer sekundären oder Ersatz-Traumatisierung. Vielleicht ist es eine theoretische Anordnung „überwachender Spiegelneuronen", wie sie im weitesten Sinne von Iacoboni als möglicher Bestandteil unserer präfrontalen Fähigkeiten angenommen wurde, die es uns ermöglicht, in Resonanz zu gehen, aber nicht zu jemand anderem zu „werden". Diese Fähigkeit bauen wir als Therapeuten auf, und sie befähigt uns im Allgemeinen, als Mensch präsent zu sein, aber uns nicht in den Erfahrungen der anderen zu verlieren (Iacoboni & Siegel 2006). Achtsamkeit als Therapeut, innerlich eingestimmt zu sein, so dass wir die Unterscheidungen zwischen Resonanz und Empathie wahrnehmen können, im Gegensatz zu Überflutung und Überidentifikation, scheint ein wesentlicher Schritt in unserer Arbeit zu sein. Die Integration des Bewusstseins kann, wie an anderer Stelle erörtert, sowohl durch direkte als auch durch indirekte Mittel gefördert werden. Bereits für sich genommen ist unsere offene Präsenz als Therapeut eine Einladung an andere Menschen, mehr Aspekte am Rand ihres Geistes zu erfahren. Wenn wir die achtsame Weite fühlen, alles anzunehmen, was im Feld des Gewahrseins auftaucht, dann werden die Patienten einen sich öffnenden Raum spüren, eine sie umhüllende Umarmung, die das enthalten kann, was zuvor unerträgliches Wissen, Emotion oder Erinnerung war. Wenn wir Aufmerksamkeit teilen, initiieren wir Einstimmung. Auf diese Weise ist Aufmerksamkeit mit anderen zu teilen der Beginn eines resonanten Zustands mit zwei Menschen. Wenn wir Aufmerksamkeit mit uns selbst „teilen" und die Weite der Nabe unseres Geistes entwickeln, um uns um unsere Intentionen zu kümmern, dann bringen wir uns in Einklang mit unserem reflektierenden und erlebenden Selbst. Direkte Anwendungen sind ebenfalls hilfreich. Hierzu gehören alle Praktiken des achtsamen Gewahrseins, die uns helfen, unsere Aufmerksamkeit auf die Intention zu konzentrieren. Wenn wir mit dem Gewahrsein des Atems beginnen, dann ist es erstaunlich, wie das
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
367
Innehalten, um nach innen zu reflektieren, eine natürliche Öffnung der Nabe initiieren kann. Das Gewahrsein sanft zum Atem zurückzubringen, wenn die Aufmerksamkeit abgedriftet ist, stärkt die Nabe und initiiert die reflexive Fähigkeit, sich des Gewahrseins gewahr zu sein. Durch Übung, und seien es nur zehn Minuten am Tag, scheinen Patienten die Fähigkeit der Selbstbeobachtung zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln, die dann den nächsten Schritt für sie vorbereitet, um ihren Geist für verstärkte Rezeptivität zu öffnen. In einer Sitzung kann das rezeptive Gewahrsein einfach dadurch katalysiert werden, dass wir dem Patienten vorschlagen, sich nicht nur des Atems bewusst zu werden, sondern all dessen, was in seinem Bewusstseinsfeld auftaucht. Indem er oder sie das zur Kenntnis nimmt, was auftaucht, und zwar in dem Moment, wo es auftaucht, wird die betreffende Person die Selbstbeobachtungsfähigkeiten verstärken, die Automatismen abkoppeln können - eine äußerst wichtige „YODA"Fähigkeit, um die nächsten Integrationsschichten zu fördern. Als Mary in ihrer Therapie Fortschritte machte, gelangte sie durch viele Anpassungszustände hindurch bis zu dem schweren Trauma zu einer Lösung ihrer Konflikte. Sie las mir einen Eintrag in ihrem Tagebuch vor, der zum Ausdruck brachte, wie die Achtsamkeit Klarheit in ihren Heilungsprozess getragen hatte: Von der Nabe meines Geistes aus kann ich mir all das Chaos, die Angst, Panik, Bedrohungen, Begegnungen mit dem Tod, Wünsche und Pläne, zu sterben, Schmerz, Geistesbindungen, das gesamte geistige Wissen oder Nicht-Wissen, das gesamte Wissen oder Nicht-Wissen des Körpers sowie die Anpassungszustände ansehen, die sich jetzt glücklich und freundlich am Rand befinden ... dort drüben am Rand kann ich die Zustände sehen und kennen. Aber in der Nabe bin ich jene Zustände nicht, ich bin nur das Wissen um diese Zustände - wie sie entstanden sind, wie sie mich gerettet haben, und wie sie sich jetzt zu einer Geschichte dessen entwickelt haben, was mit mir passiert ist, darüber, wie verrückt und gestört meine Familie war, und darüber,
368
Reflektionen über das achtsame Gehirn
wie ich es überlebt habe und zutiefst in der Lage bin, präsent zu sein, während ich mich, in vollem Gewahrsein von der Befreiung aus dem Gefängnis, das meine Kindheit war, vorwärts bewege ... vor so vielen Jahren ... schließlich die Bedeutung all dessen verstehend. Die Integration des Bewusstseins erlaubt es uns, Frieden innerhalb des Chaos zu finden, indem wir die Nabe des Geistes entwickeln. An jenem weiten Ort der Reflektion kann die Heilung beginnen, indem wir dahin gelangen, tief die Fülle unseres Lebens zu spüren, aus der Vergangenheit und im gegenwärtigen Moment, der uns für die Zukunft befreit. Eine solche Heilung wird durch viele der nachfolgenden Geschichten veranschaulicht werden. Die anderen Bereiche von Integration auf den folgenden Seiten sind in einer bestimmten Reihenfolge aufgelistet, weil dies ein lineares und logisches Format ist, aber sie ließen sich besser als Kreis erforschen, wobei jeder der folgenden sieben vielleicht die Integration des Bewusstseins einkreist. Der neunte und letzte Bereich - die „transpirationale" Integration - kann manchmal im Anschluss an die Integration der ersten acht auftauchen.
Abbildung 14.1 Integrationsbereiche
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
369
Vertikale Integration Sandra, 67 Jahre alt, Großmutter mit fünf Enkeln, hatte Angst vor dem Besuch beim Kardiologen. Sie sagte: „Irgendetwas stimmt mit meinem Herzen nicht, und ich will nicht wissen, was es ist." Während ihres vierten Besuchs bei mir hatte Sandra eine Panikattacke, als es an der Zeit war, sich während eines Body Scans auf ihren Brustkorb zu konzentrieren, was wir als Einführung in eine direkte Anwendung der Achtsamkeitspraxis machten. Als sie ihren Geist auf ihren Brustkorb konzentrierte, war es natürlich, anzunehmen, dass sie befürchten könnte, ihre geschätzten Beziehungen zu ihrer Familie zu verlieren. Doch was sich letzten Endes in der Therapie zeigte, war der unverarbeitete Verlust ihres Vaters, als sie ein kleines Mädchen war. Dies war etwas, worüber sie nie nachgedacht hatte, es hatte sich keine Erzählung, kein Prozess der Sinnfindung ereignet, kein Teilen des Verlusts mit ihren Brüdern, ihrer Schwester oder ihrer Mutter. Stattdessen hatte sie sich „vom Hals abwärts abgeschnitten", um nicht zu fühlen. Im Wirklichkeit, so haben wir dann begriffen, hatte sie große Angst davor, sich ihres gebrochenen Herzens bewusst zu werden. Bei den Empfindungen zu bleiben erlaubt es der Weisheit des Körpers, Zugang zum Geist zu bekommen. Die vertikale Integration ist ein Bereich, in dem wir den wichtigen Prozess beginnen können, unsere unverarbeiteten Verluste und kohäsiven Anpassungsprozesse zu entwirren, die uns ganz wörtlich von der Vitalität abgeschnitten haben, die darin liegt, vollständig in unsere Sinne eingetaucht zu sein. Kohärenz in unserem Leben zu schaffen und die Bedeutung unserer Lebensgeschichte zu verstehen beinhaltet, Zugang zum vollen Spektrum unserer Sinne vom Körper aus zu bekommen. Die vertikale Integration ist ein Weg, durch den dezentralisierte Schaltkreise in funktionaler Hinsicht in Verbindung miteinander gebracht werden — von Kopf bis Fuß. Hier konzentrieren wir uns darauf, wie der Input aus dem Körper durch das Rückenmark nach oben und über die Blutbahn in das Stammhirn, die limbischen Bereiche und den Kortex gelangt, um einen vertikal integrierten Schaltkreis zu bilden. Sie fragen sich vielleicht, was das bedeutet oder warum dies notwendig ist, da ja der
370
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Körper bereits mit dem Gehirn verbunden ist. Doch es ist möglich, neuronale Aktivierungen außerhalb unseres bewussten Gewahrseins zu haben. Somatischer Input in den Fokus unserer Aufmerksamkeit zu bringen verändert das, was wir mit dieser Information tun können: Bewusstheit erlaubt Wahl und Veränderung. Eine Reihe von Studien legt nahe, dass unser körperlicher Zustand ganz unmittelbar auf unsere Affekte einwirkt, die alle interagieren, um unser logisches Denken und unsere Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Negative Reaktionen gegenüber unseren körperlichen Inputs zu haben - oder es nach Möglichkeit vermeiden, sich ihrer gewahr zu werden -, führt zu einem beschränkten Zugang der Nabe zu beliebigen Punkten auf dem Rand. In dieser Situation können wir nicht achtsam sein, weil unsere Rezeptivität beeinträchtigt wird und wir unflexibel werden. In einem solch unintegrierten Zustand ist das Individuum für Rigidität oder Chaosausbrüche empfänglich, die weit von dem FACES-Fluss des Wohlbefindens entfernt sind. Bei Sandra war es so, dass sie eine kohäsive Anpassung entwickelt hatte, die ihre Körperempfindungen blockierte und sie rigide auf ein Leben ohne ein tieferes Gefühl von Sinn beschränkte. Ihre Panikattacken zeigten, wie dieser übermäßig kontrollierte kohäsive Zustand sie für einen Ausbruch ins Chaos in Form von Panik anfällig machte. In der Psychotherapie kann die vertikale Integration ein Fokus während einer Sitzung sein, indem wir mit dem Gewahrsein des Körpers beginnen, bei dem Sie dem Patienten oder der Patientin vorschlagen, sie sollten einfach die auftauchenden Empfindungen wahrnehmen. Ein Body Scan, ein Abtasten des gesamten Körpers, würde beinhalten, sich nach und nach von den Zehen bis hinauf zum Kopf zu bewegen, um es so den Gefühlen zu ermöglichen, das Gewahrsein des Patienten auszufüllen, und die Speiche der Nabe auf dem sechsten Sinn des Randes zu halten. Einfach nur spüren, „mit" den Empfindungen im Gewahrsein „bleiben", „damit gehen", wenn ein Gefühl auftaucht all das sind reflektive Pausen, die dem Geist helfen, sich auf die vertikale Integration zu konzentrieren. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass „nur spüren" etwas anderes ist als „nur zu bemerken", denn beide beinhalten wahrscheinlich unterschiedliche
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
371
Ströme des Gewahrseins: Spüren und Beobachten. Bei der vollständigen Integration ermutigen wir alle Gewahrseinsströme, in Balance gebracht zu werden. Bei restriktiven Anpassungen kann das Spüren abgewehrt werden, und im besten Fall kann eine abgekoppelte Form der Beobachtung zu einem Weg werden, wie sich ein Mensch seines Körpers bewusst ist: Indem er ihn zur Kenntnis nimmt, ihn aber nicht unmittelbar spürt. Wie wir in den Abbildungen 4.3 und 6.1 gesehen haben, kann davon ausgegangen werden, dass die Speiche, die sich mit einem Element des Randes verbindet, wie etwa mit einem Punkt auf dem sechsten Sinn des Körpers, einen beliebigen oder alle vier Ströme beinhaltet, die es wiederum den „Daten" vom Rand ermöglichen, in das Bewusstsein der Nabe zu treten. Jeder der Ströme ist wichtig, jeder spielt seine Rolle im achtsamen Gewahrsein. Für Sandra war es zunächst nicht möglich, die direkten Empfindungen zu spüren, ohne in Angst und Schrecken zu verfallen. Wir haben uns daher bei unseren Diskussionen zunächst auf das Konzept der Bedeutung des Körpers konzentriert. Als Nächstes sind wir sanft dazu übergegangen, ihr mit der Fähigkeit zu helfen, den Körper aus einer distanzierteren Perspektive zu beobachten, wie zum Beispiel, den Zustand des gesamten Körpers zu bemerken, statt unmittelbar die Empfindungen in ihrem Brustkorb zu spüren. Wissen ist ein Strom, der manchmal nicht direkt mit Worten angesprochen werden kann, sondern mehr als Einsicht auftaucht. Er kommt vielleicht als Verschiebung in der Perspektive oder als tiefe, nahezu unaussprechliche Empfindung von Klarheit. Bei Sandra war es so, dass sie erst, als wir mit dem Strom der Empfindung begannen - zuerst auf ihrem Fuß und ihren Knöcheln und dann auf ihrer Atmung -, bereit war, sich auf ihr Herz zu fokussieren. Wir haben die Fähigkeit, unser Bewusstsein zu verlagern, zu verhindern, dass die groß angelegten Gruppierungen eingehender Primärdaten das Bewusstsein von Empfindung schaffen. Vertikale Integration ist der intentionale Fokus der Aufmerksamkeit auf den Körperempfindungen. Klingt das zu strategisch, als dass man es in den Rahmen von Achtsamkeit einbeziehen könnte? Mein Gefühl in der
372
Rejektionen über das achtsame Gehirn
Therapie ist, dass wir, um Versklavungen von oben aufzulösen, wie die Tatsache, dass Sandra es vermied, sich ihres Körpers bewusst zu sein, auf den automatischen Drang des Gehirns achten sollten, sich nicht um irgendeinen Aspekt des Randes zu kümmern. Hier sehen wir, dass „dabeizubleiben" unseren Patienten und uns selbst hilft, gegen jene sekundären Kräfte vorzugehen, die uns davon abhalten, uns auf uns selbst einzustimmen. Wenn wir uns nicht gut damit fühlen, den Begriff Achtsamkeit für strategisches „Verhaken" (snagging) wie dieses zu verwenden, dann sind wir vielleicht besser damit bedient, die Reflektion mit ihren drei Komponenten der Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflexivität hervorzuheben. Mit Hilfe der Reflektion begann Sandra bald, ihre autobiographische Geschichte zu untersuchen. Langsam tauchten Aspekte vom Tod und Leben ihres Vaters auf, die sie nie zuvor in dieser offenen, integrativen Weise erkannt hatte. An einem bestimmten Punkt unserer Arbeit sagte sie, sie sei bereit, „zu meinem Herzen zurückzugehen", und wir probierten noch einmal den vollständigen Body Scan aus. In diesem Stadium nun konnte sie ihr Gewahrsein zu ihrem Brustkorb hinbewegen, ohne eine Panikreaktion zu zeigen, obwohl sie einen Tränenausbruch hatte und Traurigkeit empfand. Es tauchten Bilder von ihrem Vater auf, und sie war in der Lage, über ihre Trauer und ihre Sehnsucht nach ihm zu sprechen. Es war ihr gebrochenes Herz, vor dem sie sich gefürchtet hatte, und jetzt war sie in der Lage, sich ihm direkt zu stellen, und zwar aufgrund unserer gemeinsamen Anstrengung bei der Verarbeitung ihres Verlustes. Unsere sekundären Anpassungen können uns in unerlösten Zuständen von Trauma oder Verlust, Gefühlen von Angst, Vermeidung und Taubsein einsperren. Mit der vertikalen Integration reflektieren wir über unsere körperlichen Empfindungen und bleiben bei ihnen, um es ihrer natürlichen dynamischen Bewegung im Geist zu ermöglichen, sich auf natürliche Weise zu entfalten. Das ist der häufig erstaunliche Aspekt dieser Reflektion: Wenn wir innehalten und mit dem Gewahrsein der Körperempfindungen bleiben, dann scheint sich die Integration eines reflektiven Geistes fast wie von selbst zu vollziehen.
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
373
Horizontale Integration Ein fünfzig Jahre alter Rechtsanwalt kam auf Geheiß seiner Frau zu mir, die meinte, er leide wohl an irgendeiner Form von „EmpathieStörung". Als Bill und Anne zusammen ankamen, sagte sie, sie sei am Ende ihrer Kräfte. Er entgegnete, er wisse nicht, über welche „Kräfte" sie spreche. Nur Bill lachte darüber. Es wurde deutlich, dass sich Bill während der Paarsitzung Annes Gefühlen gegenüber unsensibel verhielt. Doch noch stärker vermittelte Bill den Eindruck, dass er sich seines eigenen emotionalen Lebens nicht bewusst war. In vielerlei Hinsicht schien Bills Bewusstsein von der Welt sehr stark auf das Physische beschränkt zu sein. Ihm fehlte ein Bewusstsein der subjektiven Welt des Geistes, also dem Arbeitsbereich des rechten Bewusstseinsmodus. Unsere beiden Hemisphären können nicht leicht miteinander sprechen. Die Qualitäten der linken Hemisphäre - linear, logisch, sprachlich, wörtliches Denken - können nicht direkt die holistische, auf Bildern basierende, nonverbale, emotionale bzw. soziale Verarbeitung der rechten Hälfte aufnehmen oder sich damit verbinden. Wenn sich Menschen nicht in einem Zustand der Hemisphärenabstimmung befinden, dann ist es leicht, sich beraubt zu fühlen - so wie sich Anne seit Jahren gefühlt hat. Humor ist wunderbar, aber nur, wenn Menschen sich dort einklinken können und sich nicht ausgeschlossen fühlen. Was den Menschen nicht bewusst ist, ist, dass unsere Bindungsgeschichte, wie in Kapitel 9 erörtert, Anpassungsmodi erzeugen kann, welche die beidseitige Integration verhindern und eine Hemisphäre über die andere dominieren lassen. In diesem Fall schien sich jeder der beiden auf eine Seite zu lehnen, nur schienen ihre einseitigen Stile nicht zusammenzupassen. Die Arbeit mit Anne und Bill erforderte, dass jeder von ihnen seine eigene Geschichte untersuchte und sich insbesondere darum bemühte, zu verstehen, wie ihre Anpassungen sie in der gestörten horizontalen Integration innerhalb ihres eigenen Geistes einsperrten. Bills „Wachstumsherausforderung", der Ort, auf den er sich bei seiner therapeutischen Arbeit konzentrieren sollte, bestand darin, sich der nonverbalen, ganzkörperlichen, emotionalen Strukturen der Elemente
374
Reflektionen über das achtsame Gehirn
des rechten Modus am Rand seines Gewahrseins stärker bewusst zu werden. Annes Herausforderung bestand darin, Worte zu finden, die ihr halfen, ihre innere Welt zu beschreiben und zu benennen, so dass sie mehr Gleichmut erzielen konnte. Das war eindeutig ein strategisches „Einhaken" ihrer beiden Gehirne innerhalb des Kontexts der Förderung achtsamen Gewahrseins. Anne und Bill profitierten beide davon, dass ihnen nun grundlegende reflektive Fertigkeiten vermittelt wurden. Meine Hoffnung war, dass beide durch die Entwicklung der integrativen mittleren Präfrontalfasern einen Weg finden würden, um ihr Toleranzfenster für Gefühle und Reaktionen auszuweiten, die vorher automatisch verschlossen wurden. Das war eine Erweiterung der Fähigkeit der Nabe, für all das rezeptiv zu sein, was am Rand auftauchte. Ich verbrachte Zeit damit, mit Anne und Bill das Fokussieren zu üben, damit er sich stärker seiner Bilderwelt und seiner sensorischen Welt bewusst werden konnte, und sie lernte, sich genügend zu distanzieren, um Einsicht in ihre Reaktionen zu erlangen, die sie in der Vergangenheit mit ihrer zwingenden Intensität einfach überschwemmt hatten. Als Anne und Bill neue Ebenen reflektiven Gewahrseins erreichten, konnten sie miteinander präsent bleiben und waren in der Lage, zu sagen, was sie wirklich in jenem Moment erlebten. Das Gefühl der Erleichterung angesichts jener gegenseitigen Einstimmung war im Raum spürbar. Die natürliche Entfaltung schien zunächst eine innere Einstimmung auf die Achtsamkeitspraxis zu beinhalten und die Bereitschaft, wieder zu versuchen, sich zu verbinden. Glücklicherweise waren sie in diesem Fall in der Lage, sich einander mit Freundlichkeit anzunähern, weil sie die tiefe Verpflichtung sehen konnten, die jeder hatte, die innere Arbeit zu tun und die zwischenmenschliche Dimension in Ordnung zu bringen. Das Beispiel von Bill und Anne zeigt, dass es viele Möglichkeitsfenster gibt, durch die man ein System betreten kann. Nach dieser anfänglichen Arbeit, ihnen zu helfen, sich aufeinander zu beziehen, mussten wir tief in das Wesen der Anpassungen eintauchen, die ihre jeweilige persönliche Identität gebildet hatten. Dieses Entschlüsseln von Emotion, Erinnerung, narrativen Themen und eingeschränk-
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
375
ten Seinsweisen ermöglichte es jedem der beiden, zu sehen, wer sie waren - Überlebende, die Verbindung miteinander suchten. Glücklicherweise haben sie einander jetzt in dem authentischen Zuspruch gefunden, nach dem sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatten. In Bills Geschichte erzeugten kalte und distanzierte Eltern eine emotional isolierte Kindheit. Mit den Anpassungen an jene familiäre Kultur, in der die Seele abwesend war, lernte Bill, Dinge durch die Linse des linken Verarbeitungsmodus zu sehen. Die Abwesenheit emotionaler Kommunikation in seiner Familie beraubte Bills rechte Hemisphäre ihrer interaktiven Nährstoffe und bewegte seine Entwicklung zur linken hin: logisches und lineares Denken, dem es an einem Gefühl für seine innere Welt fehlte. Wie Decety und Chaminade (2003) bestätigen: Unsere Fähigkeit, unsere eigenen Gedanken und diejenigen anderer zu repräsentieren, sind eng miteinander verbunden und haben ähnliche Ursprünge im Gehirn ... So ergibt es Sinn, dass Selbstgewahrsein, Empathie, Identifikation mit anderen und, allgemeiner gesehen, intersubjektive Prozesse zum großen Teil von den Ressourcen der rechten Hemisphäre abhängig sind, die sich zuerst entwickeln. (S. 591) Das therapeutische Ziel für Bill bestand darin, ihm zu helfen, seinen dominanten linken Modus und seinen relativ unterentwickelten rechten Seinsmodus zu integrieren. Übungen, die sich auf die nonverbale Welt konzentrieren, welche die Nabe seines Geistes für die ihm vorher nicht zugänglichen Sinne seines Körpers, für seine Seele und seine Beziehungen öffneten, schufen die Möglichkeit einer neuen Form von Freiheit, um seine innere Welt zu erleben und sich mit Anne zu verbinden. Die horizontale Integration schließt die Verbindungen beider Seiten des Nervensystems sowie der verbindenden Schaltkreise auf ähnlichen vertikalen Organisationsebenen in derselben Hemisphäre ein. In der bilateralen Dimension dieser Domäne verbinden wir zum Beispiel den logischen, sprachlichen, linearen und wörtlichen Output
376
Reflektionen über das achtsame Gehirn
der linken Seite mit der visuell-räumlichen Bildersprache, den nonverbalen, ganzheitlichen und emotionalen bzw. viszeralen Repräsentationen der rechten. Was durch diese horizontale Integrationsform entsteht, ist ein neuer Weg des Wissens, ein bilaterales Bewusstsein. Die horizontale Integration ermöglicht es uns, unser Gefühl von uns selbst zu erweitern, da unterschiedliche Verarbeitungsgeschichten von Wahrnehmungen und Gedanken, Gefühlen und Handlungen in Ausrichtung miteinander gebracht werden. Innerhalb der Nabe des Geistes kann es recht hilfreich sein, sich auf den fühlenden Sinn dieser drei Modi unseres Geistes zu konzentrieren. Wie wir gesehen haben, ist das Benennen mit Worten nicht nur ein Bestandteil der Achtsamkeit, sondern es hilft dabei, das Feuerverhalten in der Gehirnreaktion auf einen beunruhigenden emotionalen Ausdruck in anderen und uns selbst auszugleichen. Wenn wir uns bewusst machen, dass die rechte Gehirnhälfte auf Bildersprache und Symbolik spezialisiert ist, während die linke hervorragend mit Worten umgehen kann, dann können wir sehen, dass das auf Bildern beruhende reflektive Denken eine Dominanz des rechten Modus aktivieren könnte. Der rechte Modus hat auch eine integrierte Landkarte des Körpers, und so könnte es sein, dass wir beim Body Scan und der Konzentration auf den Atem in der Achtsamkeitspraxis auch diese rechtsseitige Funktion wachrufen. Die Gesamtheit der Achtsamkeit scheint eine bilaterale Integration zu beinhalten, die es uns ermöglicht, uns nicht in diesen Bildern oder den körperlichen Sinnen zu verlieren, sondern uns dafür zu öffnen, sie aufzusaugen, während uns gleichzeitig eine zur Kenntnis nehmende und beschreibende Funktion zur Verfügung steht. Einige Studien legen nahe, dass diese distanziertere Zeugenfunktion, die unsere Erfahrungen zur Kenntnis nimmt und erzählt, mit dem Funktionieren des linken Modus in Beziehung stehen könnte. Auf diese Weise spielen sowohl die rechte als auch die linke Gehirnhälfte eine Rolle im achtsamen Gewahrsein. Integration und nicht die Bevorzugung einer Seite gegenüber einer anderen scheint die Hauptrichtung des achtsamen Gewahrseins zu sein, ebenso wie des Auftauchens von Wohlbefinden in der Psychotherapie.
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
377
Gedächtnisintegration Bei der Gedächtnisintegration sehen wir, dass die frühen Phasen der Enkodierung innerhalb des impliziten Gedächtnisses (auch prozedurales oder Verhaltensgedächtnis genannt) in die nächsten Schichten des expliziten Gedächtnisses (auch deklaratives oder Wissensgedächtnis genannt) eingebaut werden. Dabei stellt sich das Gefühl ein, dass die impliziten Puzzleteile des Gedächtnisses in Form von Wahrnehmungen, Gefühlen, körperlichen Empfindungen und Verhaltensimpulsen mit unseren mentalen Modellen verwoben werden, um neue Cluster des deklarativen semantischen, das heißt das Weltwissen betreffende, und episodischen Gedächtnisses (das Ereignisse und Tatsachen aus dem eigenen Leben betrifft) zu produzieren. Vor ihrer Integration in das deklarative Gedächtnis können sich rein implizite Repräsentationen so anfühlen, als seien sie nur die Hier-und-JetztRealität unserer Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensimpulse. Mit der Gedächtnisintegration sind diese deklarativen Formen jetzt, wenn sie erinnert werden, mit dem Gefühl verbunden, dass etwas aus der Vergangenheit stammt. Diese Zusammenhänge wurden wichtig, als ich begann, mit einer sechsundzwanzig Jahre alten Betriebswirtschaftsstudentin namens Elaine zu arbeiten, die gegen Ende ihres Fachschulbesuchs unter heftiger Beklemmung litt. Man hatte ihr einen Job in einer neuen Firma angeboten, und sie hatte schreckliche Angst, dass sie auf die Nase fallen würde, wenn sie diese schwierige neue Position annahm. Als wir uns trafen, fühlte es sich so an, als habe sie keinen inneren Raum, in dem sie sich von den Aktivitäten ihres eigenen Geistes abschotten könne, um zu erkennen, dass es sich dabei einfach nur um mentale Ereignisse handelte, aber nicht um die Ganzheit ihres Seins. Mit diesen neuen Einsichten in das Wesen von Entwicklung und achtsamem Gewahrsein, die als Form der inneren Einstimmung gesehen werden, schien es mir so, als seien ihre selbstregulierenden Fähigkeiten nicht optimal, um sie zu befähigen, klar über diese Karriereentscheidung nachzudenken. Nach einer Bewertung, bei der ich medizinische Schwierigkeiten, wie endokrine Störungen oder Herz-
378
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Störungen, und psychiatrische Erkrankungen, wie Stimmungsstörungen, posttraumatischen Stress oder Zwangsneurosen, ausschloss, die zu ihrer Panik hätten beitragen können, schlug ich vor, dass es hilfreich für sie sein könne, ihren eigenen Geist ein wenig besser kennen zu lernen. Unter Verwendung der in Kapitel 13 auf Seite 352 vorgestellten Übung zur Entwicklung reflektiver Fertigkeiten lehrte ich sie die Grundfähigkeiten für die Achtsamkeitsmeditation, damit ich mit unserer Arbeit der Integration des Bewusstseins beginnen konnte. Wie wir gesehen haben, bedeutet Meditation einfach, den Geist zu kultivieren. In Bezug auf Elaine hatte ich den Eindruck, dass ihr zu helfen, die Nabe ihres Geistes zu entwickeln, wahrscheinlich das Wachstum ihrer Präfrontalfasern fördern würde. Elaine reagierte gut auf diese direkte Anwendung von Achtsamkeitsfertigkeiten. Ich schlug vor, sie solle versuchen, jeden Morgen etwa zehn Minuten lang zu „meditieren". Patienten sind manchmal besorgt über die erforderliche Sitzungszeit. Regelmäßigkeit ist wichtig, also wird der Vorschlag, sich eine kurze Zeit für die tägliche Meditation zu nehmen, diejenigen, die sich nicht auf lange Zeiten verpflichten können, wahrscheinlich eher zu aktiver Beteiligung an dem Plan anspornen, besonders im Falle von Studenten. Elaine fand das Meditieren sogar so hilfreich, dass sie nach dem Mittagessen in der Schule Momente fand, um einfach still zu sitzen und sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Hier ist ein Beispiel für eine kurze Anweisung: Wenn die auf den Atem gerichtete Aufmerksamkeit abschweift und Sie das bemerken, dann bringen Sie einfach Ihre Aufmerksamkeit sanft zum Atem zurück. Sich auf den Atem selbst zu konzentrieren schafft einen eingestimmten Zustand, der den Geist stabilisiert und nicht nur eine Beruhigung ermöglicht, sondern auch die Selbstbeobachtung auf den Plan ruft. Die Erfahrung, wiederholt den Fokus der Aufmerksamkeit zurück zum Atem zu bringen, baut Gewahrsein des Gewahrseins auf. Dies ist, wie William James gesagt hat, die „Erziehung [des Geistes] schlechthin". Als wir uns in der Sitzung vom einfachen Atembewusstsein zur Offenheit der Rezeptivität, zum Gewahrsein all dessen, was auftaucht, hinbewegten, bat ich Elaine, mir zu erzählen, was ihr in Bezug auf
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
379
ihren Job einfiel. Als sie begann, über Finanzen und Logistik zu sprechen, Dinge, über die wir bereits vorher ohne irgendeinen Nutzen gesprochen hatten, schlug ich vor, sie solle sich einfach ihres Körpers bewusst werden. Sie hielt inne und begann dann zu zittern. Sie packte ihren Arm und sagte: „Aua! Was ist denn da los?" Ich schlug vor, sie solle „einfach dabeibleiben" und schauen, wo es sie hinführte. Der Schmerz wanderte ihren Arm hoch und dann in ihren Kiefer hinein. Natürlich mussten wir uns, klinisch gesehen, Sorgen über Herzschmerzen machen, doch dies war ein äußeres Erleben auf ihrer Haut und nicht in ihrem Brustkorb. Sie griff dann nach ihrem Kiefer und begann zu weinen. Bald begann Elaine zu beschreiben, was in ihr vorging: Sie erinnerte sich daran, dass sie als kleines Kind von einem Dreirad gefallen war und sich die Schneidezähne abgebrochen und den Arm gebrochen hatte. Als sie bei den Empfindungen blieb (vertikale Integration) und die Bilder mit Hilfe von Worten beschrieb (horizontale Integration), gelangte sie dahin, die Erinnerung dessen zu untersuchen, was sich vorher wie eine Erfahrung im Hier und Jetzt angefühlt hatte, und sich dann, als die Sitzung fortschritt, in ein Gefühl der Erinnerung eines Ereignisses aus der Vergangenheit verwandelte. Das ist Gedächtnisintegration. Die impliziten Körperempfindungen von Schmerz und das gelernte mentale Modell: „Wenn du aufgeregt etwas Neues ausprobierst, dann fällst du auf die Nase, brichst dir die Zähne ab und brichst dir den Arm", waren als nur implizite Repräsentationen in Elaines Kopf verankert gewesen. Mit der Aufregung, die Schule abzuschließen und eine wunderbare Möglichkeit geboten zu bekommen, tauchte diese implizite Konfiguration auf und lähmte sie mit Panik. Indem sie sich durch die vertikalen und horizontalen Bewusstseinsschichten hindurchbewegte und die Gedächtnisintegration vollzog, konnte sie sich aus diesem hierarchischen Gefängnis der Vergangenheit befreien. Sie konnte nicht nur den neuen Job annehmen. Ihre alte Angst, in Bezug auf romantische Beziehungen sehr aufgeregt zu sein, schien sich ebenfalls zu zerstreuen, da sie Einsicht in diese mentalen Vorgänge entwickelte und sie als das spüren konnte, was sie waren - überholte Lektionen und Reste aus der Vergangenheit.
380
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Innerhalb des achtsamen Gewahrseins können wir diese Elemente des impliziten Gedächtnisses beobachten, die uns vorher mit ihrer sensorischen Fülle überschwemmt haben, aber jetzt als Elemente früherer Erlebnisse ausgemacht werden können. Eine solche Desidentifikation vom impliziten Gedächtnis als Totalität dessen, wer wir sind, kann die essenzielle erste Schicht sein, um das Gedächtnis zu seiner expliziten Form hin zu integrieren. Dies könnte ein grundlegender Schritt bei der Auflösung von Traumata sein, der es frei schwebenden impliziten Elementen, die sich vorher im Leben einer Person als Fragmente und Flashbacks eingemischt haben, ermöglicht, schließlich aufgelöst zu werden, indem sie in das größere autobiografische Gedächtnissystem integriert werden. Narrative Integration Für Anne und Bill, die ich im Absatz über horizontale Integration eingeführt habe, war es eine zutiefst heilsame Erfahrung, tief in ihre individuellen Lebensgeschichten einzutauchen. Einer der Vorteile der Partnerarbeit ist, dass sie die Entwicklung einer kollektiven Nabe fördert, in der die Randelemente der einen Personen von der Nabe der anderen aufgenommen werden. Dieses „Wir-Rad" des Bewusstseins scheint eine gemeinsame Achtsamkeit zu katalysieren, die zutiefst verbindend ist. In ihrem individuellen Leben konnten Anne und Bill den Schmerz spüren, mit dem der oder die andere gekämpft hatte, um sich an die Weise anzupassen, in denen ihren Grundbedürfnissen nach Einstimmung in ihren Ursprungsfamilien nicht entsprochen worden war. Eine unsichere Bindung in ihren verschiedenen Ausdrucksformen ist ein Ergebnis dessen, wie unser Bedürfnis nach Verbindung durch Anpassungen an das, was wir vermissen, überlagert wird. Wenn unsere engen Bezugspersonen unsere Psyche nicht wahrnehmen, wenn sie nicht auf unsere innere Welt eingestimmt sind und uns spiegeln, wer wir wirklich sind, dann stellt sich bei uns ein chronischer Zustand der Trennung vom klaren Bewusstsein des Geistes ein. Bill behielt die Anpassung an seine emotional distanzierten
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
381
Eltern auch als Erwachsener noch bei, ohne dass seine Nabe Zugang zu viel anderem als seinen ersten fünf Sinnen hatte: Er fühlte seinen Körper nicht, kannte weder seinen Geist, noch spürte er seine Verbindungen zu anderen oder zu sich selbst. Diese Blindheit für seinen sechsten, siebten und achten Sinn war daran abzulesen, dass er für jene Dimensionen in Anne ebenfalls nicht offen war. Er respektierte ihre körperlichen Signale nicht, hatte keine „Mindsight", die ihm Empathie für ihre innere Welt verliehen hätte, und er konnte die Abwesenheit von Resonanz zwischen ihnen nicht spüren. Er hatte Recht gehabt: Er kannte tatsächlich nicht „die Kräfte" oder „Spielregeln" dessen, was Beziehungen ausmacht. Was ihm fehlte, waren die entsprechenden integrativen Schaltkreise in seinem Gehirn. Bill verstand nicht einmal den Begriff der Einstimmung, als ich versuchte, ihn ihm zu beschreiben. Wir konnten verstehen, wie Anne denken konnte, dass Bill unter einer Empathie-Störung leide. Doch leider schien es so, dass Bills beeinträchtigte „Mindsight" nicht so sehr in seinen genetischen Anlagen wurzelte, sondern vielmehr eine Anpassung an seine Lebensgeschichte war, in der er ein vermeidendes Bindungsverhalten erfahren hatte. Glücklicherweise ist das ein Charakterzug des Individuums, der durch Erfahrung modifiziert werden kann - in diesem Falle innerhalb der Therapie. Annes Erzählung war ganz anders. Statt keinen Zugang zu Details des autobiografischen Gedächtnisses zu haben und darauf zu beharren, dass „Beziehungen keine Rolle spielten und spielen", wie es Bills ablehnender Haltung entsprach, zeigte sich in Annes Geschichte eine Beschäftigung mit ihrem übrig gebliebenen „Müll" aus einer zudringlichen und verzwickten Beziehung zu ihren Eltern. Die Alkoholsucht ihres Vaters und die Ängste ihrer Mutter nach ihrer Scheidung, als Anne zehn Jahre alt war, ließen Anne mit einem Gefühl der Unsicherheit gegenüber anderen zurück. Ihre Mutter verließ sich auf sie und behandelte sie wie eine Erwachsene, die sich nicht nur um ihre beiden jüngeren Geschwister kümmern sollte, sondern auch noch um die Mutter. Als Anne den „unabhängigen" Bill fand, war das für sie ein wahr gewordener Traum. Wie es so häufig der Fall ist, fühlen wir
382
Reflektionen über das achtsame Gehirn
uns von Menschen angezogen, deren eigene Anpassungsmuster die unseren vervollständigen. Doch wenn wir dann beginnen, uns auf die Integration hin zu bewegen und mehr Zugang zu einem primären Selbst unterhalb jener hierarchischen narrativen Themen zu erlangen, dann stellen wir fest, dass jene oberflächlichen Merkmale im anderen genau diejenigen sind, die wir nicht tolerieren können. Anne brauchte eine verlässliche Bindung und keine Trennung. Ihr anfängliches Angezogensein von Bills Mangel an Zudringlichkeit war verständlich, wenn man davon ausgeht, wo sie herkam, doch jetzt machte es sie zutiefst unglücklich. Als wir die beiden Erzählungen einzeln untersuchten, tauchten die Anpassungsmuster als Themen ihrer Lebensgeschichten auf. Dies sind die persönlichen Identitäten, die wir mit uns herumtragen. Mit Hilfe des achtsamen Gewahrseins ist es möglich, unter die Oberfläche zu gelangen. Indem Bill und Anne ihre entstehenden Reflektionsfähigkeiten, die sich unmittelbar durch das Achtsamkeitstraining als Fokus in der Therapie entwickelt hatten, zur Anwendung brachten, konnten sie jetzt auf ein primäres Selbst unterhalb jener Schichten sekundärer Anpassung zurückgreifen. Das ist der Weg, auf dem die narrative Integration mehr ist, als nur irgendeine Geschichte zu erfinden - sie ist ein tiefer körperlicher und emotionaler Prozess der Durchsicht des Mülls, in dem wir festgesteckt haben. Die narrative Integration ermöglicht es uns, aus vielen Fäden die Geschichte unseres Lebens zu weben. Dieser Bereich macht sich den einzigartigen Aspekt unserer Spezies als „Geschichten erzählendes Tier" zunutze. Unser Gehirn scheint einen linkshemisphärischen Drang zu haben, unsere elementare neuronale Fähigkeit des Sortierens, des in eine Reihefolge Bringens und Selektierens neuronaler Karten zu nutzen, um eine Geschichte zu weben, mit deren Hilfe die logischen Beziehungen von Ereignissen in unserem Leben erklärt werden können. Eine Geschichte kann als lineares Erzählen einer Abfolge von Ereignissen definiert werden, die sowohl die Handlungen als auch das innere, mentale Leben der Akteure der Erzählung einbezieht. Das achtsame Erzählen unserer Geschichte kann für die unaufgelösten Themen unseres Lebens außerordentlich heilsam sein.
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
383
Die Erzeugung einer Erzählung unseres eigenen Lebens beinhaltet ein „bezeugendes Selbst", das auch in der Lage ist, zu beobachten und zu kommentieren, so wie es den Facetten des achtsamen Gewahrseins entspricht. Bindungsstudien zeigen, dass einer der besten Prädiktoren einer Bindung des Kindes an die Eltern ist, dass die Lebensgeschichte des Elternteils das enthält, was wir als „narrative Kohärenz" bezeichnen. Eine kohärente Erzählung ist im Wesentlichen eine Geschichte, die unserem Leben in tiefer, viszeraler Weise einen Sinn verleiht, der über reine Rationalisierung und Minimierung hinausgeht (Siegel & Hartzell 2003). Diese restriktiven Anpassungen, das zu ignorieren, was wir bereits implizit wissen, können einen kohäsiven Erzählrahmen erzeugen, der sich ziemlich stark von Kohärenz unterscheidet; der uns auf die Themen unserer Geschichte des Selbst beschränkt und die wahre Integration abblockt, die es der Kohärenz erlauben würde, zum Vorschein zu kommen. Unsere Diskussionen hinsichtlich der reflektiven Kohärenz in Kapitel 9 erhellen das Wesen dieses narrativen Kohärenzprozesses: Mit Hilfe von Achtsamkeit erlangen wir Zugang zu dem vollständigen Rand unseres Geistes und sind in der Lage, all dem, was an Elementen aus der Erinnerung und fortlaufenden Empfindungen auftauchen mag, einen Sinn zu verleihen. Interessanterweise haben Bindungsforscher ebenfalls eine „reflektive Funktion" gefunden (Fonagy & Target 1997), die sowohl mit eingestimmten Beziehungen zwischen Kind und Bezugsperson als auch mit der narrativen Kohärenz bei den Eltern korreliert. In dieser Hinsicht ist die narrative Integration wahrscheinlich ein fundamentaler Bestandteil der reflektiven Kohärenz, die mit achtsamem Gewahrsein auftaucht. Die Erfahrung, die man in der Therapie machen kann, einen Übergang von einem rezeptiveren Zustand zu dem eigenen inneren Wesen zu schaffen, hilft einem Individuum, sich auf die „verdiente Sicherheit" einer Bindung hinzubewegen, in der die Erzählung kohärent wird. Dieser Prozess beinhaltet häufig einen Fließzustand des Offenseins für das, was ist, anstatt das Individuum durch Anpassungen und eigene Glaubenssätze in Bezug auf die vermeintlichen Geschehnisse einzuschränken. Die Parallele zwischen achtsamem
384
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Gewahrsein und narrativer Kohärenz gibt ganz klar reiche Einblicke in die potenzielle Rolle von Reflektion und neuronaler Integration, die im Herzen beider Phänomene steht. Sind Achtsamkeitsmerkmale bei den Eltern vorhanden, so kann man wahrscheinlich sowohl eine kohärente elterliche Erzählung als auch eine sichere Bindung bei den Kindern vorhersagen. Zukünftige Forschungen könnten die dazugehörige Hypothese untersuchen, dass die sichere Bindung bei den Kindern tatsächlich zu mehr Achtsamkeitsmerkmalen führt, wenn sie heranwachsen. Diese Vorstellung bildet sicher das Herzstück unseres Ansatzes in der therapeutischen Arbeit: dass wir, indem wir die gegenseitige Einstimmung in der sicheren Bindung fördern, gleichzeitig die innere Einstimmung des achtsamen Gewahrseins ermutigen. Obwohl manche die Praktiken des achtsamen Gewahrseins als „nur im Moment sein" interpretieren und so oftmals die Fokussierung auf Erzählungen in unserem Leben aus dem Blickfeld rücken, indem sie uns von den direkten Empfindungen im Jetzt wegziehen, habe ich festgestellt, dass die Kombination dieser beiden Wissenszugänge sehr kraftvoll sein kann. Unsere persönliche Identität zeigt sich häufig anhand unserer narrativen Themen, und diese als das zu sehen, was sie sind, scheint die Bewegung innerhalb der Achtsamkeit zu unterstützen, diese Einflüsse von oben aufzulösen. Desgleichen ist die Fähigkeit, Urteilsvermögen zu entwickeln, ein sehr wichtiger Bestandteil dessen, den mentalen Raum zu gewinnen, um in der Lage zu sein, thematische Elemente wahrzunehmen und sich nicht in ihren verführerischen Reiz hineinziehen zu lassen. Die bloße Erinnerung, insbesondere diejenige an traumatische Ereignisse, ist wenig hilfreich und kann sogar zu einer erneuten Traumatisierung führen. Sich mit dem Fokus zu erinnern, das Verständnis für Ereignisse aus der Vergangenheit zu erlangen und einen Weg zu finden, wie die schmerzhaften Empfindungen der Erinnerung umfassender toleriert und dann aufgelöst werden können, ist der Weg, wie narrative Integration helfen kann. Heilung in der Therapie beinhaltet, die Erinnerung auf eine Weise zu spüren, bei der wir die Beschaffenheit von Affekt und somatischen Empfindungen in einem integrativen Prozess erleben können, während wir uns von
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
385
den rohen und zudringlichen Qualitäten unaufgelöster Zustände zu der offenen und achtsamen Präsenz der Auflösung hinbewegen. Ein solcher Prozess der „Sinnstiftung" wird vollständig verkörpert; es geht nicht um eine intellektuelle Übung, bei der Worte verwendet werden, um Dinge „wegzuerklären", sondern vielmehr darum, neue Einsichten zu schaffen, die den alten Elementen der Erinnerung eine neue Bedeutung zuschreiben. Das „Sinnstiften" befähigt uns in Kombination mit dem Urteilsvermögen, das Gedächtnis vollständig in unsere Lebensgeschichte zu integrieren, damit wir uns freier in die Gegenwart hineinbewegen können. Unsere Lebensgeschichte ist nicht die ganze Geschichte dessen, wer wir sind. Indem wir unsere Bindungsgeschichten durcharbeiten, bekommen wir ein Gefühl für die „Geschichte" und beobachten sie als unsere Erzählung, und nicht als Gesamtheit dessen, wer wir sind. Von dem achtsamen Platz des Urteilsvermögens aus füllen alle vier Ströme des Gewahrseins unser sich selbst kennendes Bewusstsein aus und wir können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kohärent miteinander verbinden. Die Befreiung von Energie, die häufig von Gelächter begleitet ist, scheint bei Integrationen jeglicher Art aufzutauchen, und sie ist ansteckend. Anne und Bill konnten schließlich miteinander lachen, als Bill tatsächlich die „Spielregeln" von Beziehungen erlernte und Anne ihre eigene erweiterte Nabe entwickeln konnte, die sie befähigte, die Qualitäten in Bill wertzuschätzen, die sie so lange in Ehren gehalten hatte. Nicht länger allein, konnten beide schließlich das vollere Empfinden von Einstimmung entdecken - miteinander und mit sich selbst, nach dem sie sich seit Beginn ihrer Reise gesehnt hatten. Das ist narrative Integration und das Auftauchen eines kohärenten Geistes, das Auftauchen von Präsenz, Fülle und Rezeptivität gegenüber allem, was in uns selbst und in anderen auftaucht. Die großartige Neuigkeit für Anne und Bill war, dass sie den Mut hatten, zu jenen schmerzlichen Orten der Vergangenheit zu gehen, die es ihnen erlaubten, voller und achtsamer die Gegenwart zu betreten.
386
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Zustandsintegration Sandy, ein dreizehnjähriges Mädchen, kam zu mir, weil es sich vor den Kanten an Schreibtischen und vor Haien im Schwimmbad ihrer Nachbarn fürchtete. Sie war eine gute Schülerin, hatte viele Freunde und kam gut mit ihren Eltern aus. Doch in den vergangenen sechs Wochen hatten diese Ängste begonnen, sie zu plagen. Ich machte mir Sorgen darüber, dass sie die irrationalen Gedanken einer Zwangsneurose entwickeln könnte, und schloss die Möglichkeit einer Infektion durch Streptokokkenbakterien aus, die mit dem Beginn jener Erkrankung in Verbindung stehen können. Es gab nichts in jüngerer Zeit, das sich in ihrem Leben verändert hatte. Ich lehrte sie die Grundfertigkeiten des reflektiven Gewahrseins, und sie lernte schnell, in einen Zustand zu gelangen, wo sie ihren Atem spüren und sich der Bombardierung mit Gedanken und Sorgen bewusst werden konnte („so, als ob ich mich von außen beobachte"). Nach einigen Sitzungen und dank häuslicher Übung konnte sie diese irrationalen Gedanken als Aktivitäten ihres Geistes spüren und nicht als die Gesamtheit dessen, was sie war. Aber diese Einsicht allein veränderte noch nicht das Vorhandensein dieser Sorgen, sondern verringerte nur ihre Intensität. Sie hatte große Angst, obwohl sie wusste, dass diese Angst irrational war. Ich kombinierte eine Reihe unterschiedlicher Ansätze von Behandlungsmethoden für Zwangsneurosen und Angststörungen und gab ihr dann das Konzept des „Aufsehers" mit auf den Weg. Dieses Aufsehersystem besteht aus einer Reihe von Schaltkreisen im Gehirn, die abtasten, ob Gefahr im Verzug ist. Das Aufsehersystem hat für unsere Sicherheit gesorgt, so erörterten wir, indem es Gefahren abtastet, uns warnt, Angst zu haben und uns motiviert, etwas zu tun. Abtasten, warnen, motivieren (scan, alert, motivate, kurz: SAM). Wir sprachen darüber, dass Sandys Aufsehersystem zu viel Begeisterung für seinen Job zu haben schien. Ich sagte ihr Folgendes: „Ganz ähnlich wie mit einem Freund, der dein Interesse an, sagen wir, dem Fahrradfahren teilen kann, der aber sechsunddreißig Stunden lang fahren möchte, musst du mit ihm verhandeln, vielleicht
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
387
nur drei Stunden lang zu fahren. Der Aufseher hat dasselbe Interesse wie du, nämlich für deine Sicherheit zu sorgen." Wir begannen mit einem Programm, das das achtsame Gewahrsein verwendet, um Urteilsvermögen zu entwickeln. Das beinhaltet zunächst, die Aktivitäten des Aufsehers zur Kenntnis zu nehmen, sie aber nicht zu verändern. Die Vision eines Teils des Gehirns, in den eigenen Geist involviert zu sein, hilft dabei, wie wir vorher erwähnt haben, eine geistige Distanz zu schaffen, die dem Urteilsvermögen ähnelt. Im Zusammenhang mit den Achtsamkeitsübungen erweitert das die Fähigkeit, die Aktivitäten des Aufsehers nicht als Gesamtheit dessen zu sehen, wer die Person ist. Als Nächstes sollte Sandy den Aufseher an einem inneren Dialog beteiligen, ganz ähnlich wie beim Benennen innerer Geschehnisse, und dann in eine aktive Interaktion mit ihm gehen. „Ich weiß, du liebst mich und willst für meine Sicherheit sorgen, aber du übertreibst es." In einer dritten Phase arbeiteten wir daran, ihre Angewohnheit, ständig zu klopfen, und zwar stets mit einer geraden Zahl von Schlägen, allmählich zu reduzieren. Ihre automatische Motivation hinter diesem Ritual war, „sicher zu sein, dass nichts passierte", denn sie war davon überzeugt, dass etwas passieren würde, wenn sie es nicht täte. Sie können sich vorstellen, dass das Klopfen zu einem Ritual geworden war, das Sandy den ganzen Tag lang begleitete. Wenn sie zwölf oder vierzehn Mal in der Stunde geklopft hatte und nichts passiert war, dann überzeugte sich ihr Geist natürlich davon, dass es dieses Ritual war, welches sie gerettet hat. Es ist auch ziemlich schwer, sich in der Schule zu konzentrieren oder sich auf Freunde und die Familie einzulassen, wenn Sie in Panik sind und gezwungen sind, zu klopfen oder anderen Zwängen nachzugeben. Ein ähnlicher achtsamkeitsbasierter Ansatz für Zwangsneurosen (obsessive compulsive disorder, kurz: OCD) wurde bei einer Studie verwendet, die von Jeffrey Schwartz und seinen Kollegen durchgeführt wurde (Baxter et al. 1992; Schwartz 1998), um zu zeigen, dass eine „Sprechtherapie" die Funktionsweisen des Gehirns bei solchen Erkrankungen verändert, während gleichzeitig die Symptome reduziert werden. Sobald Menschen diese achtsamkeitsbasierte Fähigkeit erlernen, ist ein Rückfall im Vergleich zu den Patienten, die eine
388
Reflektionen über das achtsame Gehirn
medikamentöse Behandlung bekommen, weniger wahrscheinlich. Bei diesen kommen die Symptome häufig zurück, sobald die pharmakologische Intervention gestoppt wird. OCD ist ein Beispiel fiir eine beeinträchtigte Zustandsintegration in dem Sinne, dass die Betroffenen im Alltag einen sorgenfreien Geisteszustand mit allen Varianten haben können und dann auf der anderen Seite diesen „Aufseher" Und von Angst getriebenen Zustand haben. Eine meiner Patientinnen im Teenageralter prägte einen vielleicht noch nützlicheren Ausdruck für OCD: „Überaktive Aufseher-Stationierung" (overactive checker deployment). Um diesen Konflikt zwischen Zuständen zu verstehen, ist es hilfreich gewesen, Menschen etwas über die Fähigkeit des Gehirns zu vermitteln, übermäßig aktive Schaltkreise zu haben, die Zustände von Angst und Grauen erzeugen. Etwas über den Aufseher zu wissen und Achtsamkeitstechniken zu lernen, die das Urteilsvermögen entwickeln, kann die Unterdrückung, die von diesen inneren Stimmen ausgeht, transformieren und ein Gefühl der Verzweiflung in einen Sieg und in Emanzipation von einem solchen Gefängnis verwandeln. Indem wir uns unseres Lebens tiefer bewusst werden, kann das Bedürfnis nach Zustandsintegration auftauchen, wenn wir spüren, dass wir sehr unterschiedliche und oft konfliktgeladene Geisteszustände haben. Ein Geisteszustand beinhaltet einen Cluster neuronalen Feuerverhaltens, das eine vorübergehende, aber kraftvolle momentane Qualität an sich hat. Ein Zustand organisiert unsere weit verzweigte Verarbeitung als etwas Zusammenhängendes, das das Feuern des gegenwärtigen Moments mit sich selbst verbindet. Ein Zustand stabilisiert die umfangreichen neuronalen Cluster zu einer funktionalen Einheit. Wir haben auch Selbstzustände, in denen dauerhafte Muster feuernder Cluster existieren, wie ein „Ich", das Tennis spielt, ein Buch liest, Liebe macht oder wandern geht. Jedes dieser wiederholten Seinsmuster trägt eine im Entstehen begriffene Geschichte in sich, die häufig mit Regeln und einer leichter zugänglichen Erinnerung (implizit und explizit) für jenen Geisteszustand einhergeht. Die normale Pubertät ist zunächst von einer Spannung zwischen Zuständen erfüllt, die nicht ins Bewusstsein gelangen, dann aber mit einem Gefühl für diese Konflikte und schließlich mit einer Bewegung
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
389
hin zur Auflösung der Spannung zwischen Selbstzuständen einhergehen (Harter 1999). Bei einer gesunden Entwicklung geht es nicht darum, homogen zu werden, sondern sie beinhaltet das Anerkennen und Akzeptieren unserer verschiedenen Bedürfniszustände und biologischen Triebe, die innerhalb dieser unvereinbaren Geistesverfassungen wahrgenommen werden. Eine gesunde Entwicklung von diesem Rahmen aus beinhaltet, dass man dahin gelangt, die verschiedenen Selbstzustände des Seins zu akzeptieren und zu integrieren. Die Integration von Zuständen auf diese Weise scheint der COAL-Geisteshaltung zu entsprechen, einer elementaren Komponente des achtsamen Gewahrseins. Indem wir diese verschiedenen Seinszustände zu akzeptieren beginnen, lernen wir, uns selbst für die zahlreichen Arten und Weisen zu lieben, die wir sind, und nicht für irgendein idealisiertes Gefühl dessen, wie wir sein sollten. Zeitliche Integration Tommy war fast zwölf, als er sich wie besessen mit dem Tod befasste. Er war schon Jahre zuvor zu mir gekommen, weil er sich Sorgen wegen des noch nicht lange zurückliegenden Todes seines Onkels machte, dem er nahe gestanden hatte. Jetzt war er davon überzeugt, dass er bei einer Naturkatastrophe sterben würde. Doch selbst wenn er sich keine Sorgen über potenzielles Unheil machte, so meinte er, dächte er „die ganze Zeit" darüber nach, wie es wäre, wenn er alt würde und sich dann nur noch dem Tod gegenübersähe. Was immer es sei, so meinte er, er könne sich den Tod einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Wir sprachen über seine Sorgen, und er fragte, wie er denn „sicher sein könne, dass alles in Ordnung sei". Das war eine große Frage, eines der grundlegenden Themen, mit der wir uns als Menschen konfrontieren müssen. „Warum sind wir uns überhaupt dessen bewusst, dass wir sterben?", fragte er und hielt dabei seinen Blick auf mich geheftet. Ich wusste, dass dies eine präfrontale existenzielle Frage für uns alle ist. Warum müssen wir das wissen? Ich fühlte seine Pein, und nachdem wir einige Sitzungen lang über seinen Onkel und sein Leben
390
Reflektionen über das achtsame Gehirn
gesprochen hatten, bei dem er keine Erleichterung von seinen Sorgen fand, war es an der Zeit, ihn mit Achtsamkeitsfertigkeiten vertraut zu machen. Er reagierte gut auf die Meditationsübung (siehe Kapitel 13). Er meinte, er habe „sich noch nie so friedlich gefühlt, dies sei ganz unglaublich". Wir sprachen über den Ozean und das Gefühl, sich unter der Oberfläche zu befinden. Er könne seine Sorgen einfach als Hirnwellen auf der Oberfläche sehen und beobachten, wie sie in sein Bewusstsein hinein- und wieder herausschwebten. In den nächsten Sitzungen übten wir die Achtsamkeitsmeditation, wobei er zu Hause eine kurze Zeit übte, etwa zehn Minuten lang jeden Morgen. Schließlich kam Tommy an den Punkt, wo er seine Sorgen als Aktivitäten auf der Oberfläche seines Geistes sah und nicht als die Gesamtheit dessen, wer er ist. Von der Ruhe in den Tiefen seines Geistes aus konnte er beobachten und zur Kenntnis nehmen, dass diese Sorgen einfach in sein bewusstes Gewahrsein eindrangen und wieder verschwanden. Sie mussten ihn nicht vollkommen vereinnahmen. Er konnte sie einfach zur Kenntnis nehmen, anstatt sie zu beurteilen, und sie einfach wegdriften lassen, während er in dem Frieden in der Tiefe seines Geistes ruhte. Bald machte Tommy eine Entdeckung: „Mir ist klar geworden, dass ich nach meinem Tod nicht ganz verschwinden werde, wenn jemand um mich weiß und sich an mich erinnert, wie meine Familie oder meine Freunde. Gekannt zu werden gibt mir ein Gefühl von Entspannung. Ich muss mir keine Sorgen machen." Wir saßen ruhig da und reflektierten zusammen über diese tief gehende Einsicht. Seine Augen weiteten sich und er sagte: „Wenn ich gekannt werde, kann ich verschwinden. Und wenn ich sterbe, werde ich einfach nur ein Teil von allem." Ich nickte. „Darüber werde ich meditieren", sagte Tommy, und wir beendeten unsere Sitzung. Ich werde ebenfalls darüber meditieren, dachte ich. Patienten lehren uns so viel. Indem wir zusammenkommen, als Patient und Therapeut, als Schüler und als Lehrer, werden wir zu gemeinsamen Reisenden auf diesem Pfad des Lebens. Die Fragen
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
391
hören nie auf, sondern es gibt nur fortwährende Momente des Offenseins für alles, was auftaucht, sei es Schmerz oder Lust, Verwirrung oder Klarheit. Wenn sich der Präfrontalkortex in den ersten fünf Lebensjahren entwickelt, gibt er uns die Möglichkeit und die Last, die Zukunft zu spüren. Zu lernen, mit unserem Bewusstsein der Vergänglichkeit von Zeit zu leben, ist der Fokus der zeitlichen Integration. Drei Hauptaspekte von Zeit tauchen bei dieser Integration auf: Ungewissheit, Unbeständigkeit und Tod. Wir können vollständig in den Moment versunken sein, und dennoch kann unser Präfrontalkortex uns daran erinnern, dass „dies vorübergehend ist", wie es bei meinem Spaziergang im Wald während des Schweigeretreats der Fall war, wo ich mir sicher war, dass ich nicht vergessen würde, dass der Tod alles verändern würde. Eine solche präfrontale Sorge kann unseren Lebensgenuss „abklemmen" und die zeitliche Integration bei dieser Person in den Vordergrund rücken lassen und sie so zum Wachsen bewegen. Indem wir uns bewusst machen, wie sich Dinge ständig verändern, werden wir uns auch sehr stark der Tatsache bewusst, dass nichts sicher sein kann und nichts kontrollierbar ist. Insbesondere für die linke Hemisphäre kann sich dies erschreckend anfühlen in dem Sinne, dass nichts in seiner Reihenfolge beibehalten oder vollständig vorhergesagt werden kann. Vielleicht wird der Seinsmodus der rechten Hemisphäre benötigt, wenn wir dahin gelangen, in der Bequemlichkeit der Akzeptanz des achtsamen Gewahrseins zu ruhen, das uns hilft, direkt mit Themen zeitlicher Integration wie Ungewissheit und Unbeständigkeit umzugehen. Vielleicht ist dies die Lösung von Tommys rechtem Modus, dass gekannt zu werden uns ein Empfinden von Ganzheit im Universum verleiht, mit dem wir dem Tod mit mehr Gleichmut begegnen können. Selbst die Realität des Todes wird zu einem Bestandteil auf dem Rand unseres Bewusstseinsrads, die bemerkt und willkommen geheißen werden kann. Die zeitliche Integration ruft ganz unmittelbar eine achtsame Präsenz wach, sich diesen tief gehenden existenziellen Wirklichkeiten unserer präfrontalen Sorgen anzunähern, statt uns von ihnen zurückzuziehen.
392
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Gegenseitige (zwischenmenschliche) Integration Bevor wir uns Sorgen über das Sterben machen, beginnen wir das Leben mit der einfachen Erfahrung des Seins. Wir bekommen das erste Gefühl für unsere Ganzheit, die ein untrennbarer Bestandteil einer ungeteilten Welt im Mutterleib ist. Das kann als „Grund des Seins" bezeichnet werden. All unsere körperlichen Bedürfnisse werden erfüllt, und „einfach nur zu sein" ist ein natürlicher Weg. Doch sobald wir geboren sind, müssen wir „für unseren Lebensunterhalt arbeiten", und wir finden das Leben anders und schwierig. Wir sind jetzt kleine „Tuende" statt einfach nur „Seiende". Ganz gleich, wie viel Aufmerksamkeit uns unsere Bezugspersonen geben, wir finden, dass unser Körper jenes Gefühl, jenes Empfinden von Ganzheit verrät: Wir brauchen, wir wollen, uns tut der Bauch weh. Wenn wir frustriert sind, dann warten wir eine Zeit lang, die sich für uns wie eine Ewigkeit anfühlt, darauf, dass unsere Bedürfnisse von denjenigen erfüllt werden, von denen wir jetzt abhängen, um unser Leid zu lindern. Wir brauchen andere, wir sind darauf angewiesen, dass sie uns trösten. Sogar unser Überleben hängt von ihnen ab. Die Einstimmung auf andere ist ein Hoffnungsschimmer, der aus dem universellen Konflikt zwischen dem, was unser „Grund des Seins" war, und dem jetzigen, „ein Mensch in der Welt sein", hervorgeht. Wir halten verzweifelt an anderen fest. Hier sehen wir, dass die gegenseitige Integration es uns ermöglichen wird, uns in der Welt geerdet zu fühlen. Einstimmung ist kein Luxus; sie ist ein Erfordernis des Menschen, um zu überleben und aufzublühen. Indem wir unser Wesen auf das eines anderen einstimmen, indem wir Energie und Informationen untereinander austauschen, um zu resonieren, erzeugen wir einen eingestimmten Zustand - das Herzstück gegenseitiger Integration. Solche sicheren zwischenmenschlichen Einstimmungen erzeugen wahrscheinlich Zustände von Integration, die innere Einstimmung und Achtsamkeit als Charaktermerkmal fördern. Die neuronalen Entsprechungen von sicherer Bindung, Achtsamkeit und mittlerer Präfrontalfunktion überschneiden sich mit diesen relationalen, geistigen und neuronalen Dimensionen des Wohlbefindens.
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
393
Im achtsamen Gewahrsein treten wir in einen rezeptiveren Zustand ein, um uns mit anderen in jener lebensbejahenden Resonanz zu engagieren. Und wie wir gesehen haben, impliziert Achtsamkeit auch eine Einstimmung auf das Selbst. Dies bietet die Möglichkeit, dass das, was einmal vollkommene Abhängigkeit von anderen war, durch eine tiefe Form intrapersonaler Resonanz gestützt, wenn nicht sogar ersetzt wird. Wir werden zum besten Freund unserer selbst und im Gegenzug offen für rezeptive Beziehungen zu anderen. In all unseren klinischen Beziehungen bauen wir auf die zentrale Rolle der Einstimmung. Wie es bei Tommys Erkenntnis der Fall war, resoniert unser Geist - das ist sozusagen ein Tanz der tiefsten Aspekte unserer universellen Anliegen. Selbst Tommys Einsicht, seine Perspektivenverschiebung, ist genau die Essenz der Achtsamkeit als relationaler Form innerer Einstimmung: Wir werden mit uns selbst bekannt. Anne und Bill hatten festgestellt, dass ihre kohäsiven Anpassungszustände sie in ihrer Fähigkeit eingeschränkt hatten, offen aufeinander eingestimmt zu sein. Die Arbeit bestand für beide darin, in einen reflektiven Prozess der Integration über die zahlreichen Dimensionen von horizontal über vertikal, Gedächtnis und Erzählung einzutreten, die jeden von ihnen befähigen konnten, zum selbstseienden Selbst jenseits der rein narrativen Kohäsion zu gelangen. Aus jenem rezeptiven Raum heraus konnten sie ihre innere Einstimmung auf die Sehnsüchte nach Zugehörigkeit wiedererlangen, die im Laufe ihrer Kindheitsanpassungen verzerrt worden waren. Die Nabe ihres individuellen Geistes zu öffnen erlaubte ihnen, einen neuen Weg zu finden, sich in diesem Grund des Seins zu begegnen. Ihre rezeptiven Naben öffneten die Herzen, um sich in einer Art zu verbinden, die sie sich höchstens in ihren Träumen hätten vorstellen können. Marys Erfahrung des Missbrauchs in der Kindheit ließ in ihr auch ein Gefühl der Isolation von anderen zurück, die sie in einem Zustand der sozialen und inneren Trennung gefangen hielt. Die Nabe ihres Geistes war brüchig geworden. Indem sie ihren Weg zu dem grundlegenden Prozess der Integration des Bewusstseins fand und die Nabe ihres Geistes heilte, konnte sie die Gefühle von Verrat und Scham spüren, die so häufig die Herzen derjenigen erfüllen, die Opfer des
394
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Familientraumas sind. Wenn man sich zu dem Glauben hinbewegt, dass das Selbst fehlerhaft ist - eine Ansicht, die in der Scham eingebettet ist, die aus so tief greifenden Fehleinstimmungen und Misshandlungen entsteht -, dann wird Heilung dadurch erleichtert, dass man jenes toxische Gefiihi des Selbst als Element des Randes und nicht als Gesamtheit der eigenen Identität sieht. Für Mary machte eine erweiterte Nabe es möglich, dass sie die vielen Schichten von Integration in ihrem Leben willkommen heißen konnte, als sie dahin gelangte, ihren Erfahrungen Sinn zu verleihen und sich mit mehr Klarheit und einem Gefühl von Freiheit und offenen Möglichkeiten in die Gegenwart zu bewegen. Aus diesem offenen Raum in unserem Geist heraus, aus dieser reflektiven Nabe können wir uns vollständig auf andere einlassen. Die Schönheit des achtsamen Gewahrseins ist, dass es den Weg für eine direkte Verbindung im Innern und miteinander ebnet. Indem wir uns in Zuständen von Kohärenz in unserem eigenen Geist bewegen, indem wir den kohäsiven Würgegriff der restriktiven Erzählungen lockern und in den Strom eines FACES-Flusses des Wohlbefindens eintreten, werden wir frei, präsent zu sein. Diese Präsenz bringt uns zu jenem Grund des Seins, des Selbstseins unserer frühesten Existenz, wo wir in einem Fließen geben und empfangen, das so natürlich ist wie das Atmen. „Transpirationale" Integration Als ich, mit diesem Rahmen der Integrationsdomänen im Kopf, immer tiefer in die Arbeit mit meinen Patienten eintauchte, stellte ich fest, dass eine gemeinsame neue Form von Integration aufzutauchen schien. Diese Dimension von Integration fühlte sich so an, als ob sie allen anderen Domänen Leben einhauchte, daher der Begriff transpirationale Integration, um dieses Gefühl des „Durchhauchens" zu bezeichnen. „Transpiration" scheint das Gefühl zu beinhalten, dass die Person Teil eines viel größeren Ganzen war, das über das körperlich definierte Selbst hinausging. Menschen spüren nicht nur eine Verbindung zu anderen Menschen, sondern innerhalb der gegenseitigen Integration spüren sie auch einen tiefen Wunsch, an Belangen teilzu-
Das achtsame Gehirn in der Psychotherapie
395
haben, bei denen anderen geholfen wird. Dieses Gefühl, ein Teil von etwas in Zeit und Raum jenseits dieses Körperselbst zu sein, scheint Einsteins in Kapitel 7 erörterter Vorstellung von der optischen Täuschung unserer Getrenntheit zu entsprechen. Wie wir bereits erforscht haben, scheint das achtsame Gewahrsein nicht nur ein Über-Bord-Werfen von Urteilen zu beinhalten, sondern auch einen Zugang zum Selbstsein, der Menschen befähigt, das reine Selbst unterhalb der Anpassung zu spüren. Von diesem neuen Gefühl des eigenen tieferen primären Selbst aus kann ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen auftauchen. Ohne Reflektion können wir einer optischen Täuschung unterliegen, nicht nur hinsichtlich unserer Getrenntheit, sondern auch in Bezug auf bestimmte Regeln und mentale Modelle, mit denen wir zu einer persönlichen Identität gelangt sind, die unsere Reise im Leben prägt. Mit der Reflektion des achtsamen Gewahrseins können wir einen Blick auf eine tiefere Realität werfen - unsere Identität nicht ersetzend, sondern sie erweiternd. In ähnlicher Weise wird mit der „transpirationalen Integration unser Gefühl von uns selbst transformiert. „Transpiration" öffnet unseren Geist für eine andere Dimension von Wahrnehmung. Das Heilige durchdringt jeden Atemzug, unsere Essenz, jeden Schritt auf dieser Lebensreise. Indem wir Leben durch die zahlreichen Domänen von Integration einatmen, gelangen wir dahin, uns als über die zeitlichräumlichen Dimensionen hin ausgedehnt zu sehen, die unseren Blick auf den Horizont begrenzen. Die „Transpiration" gibt uns die Vision, über das hinauszusehen, was sich vor unseren Augen befindet, zu sehen, dass wir ein Teil dessen sind, was vorher war und was kommen wird, nachdem diese Körper längst aus der Dimension unseres Lebens verschwunden sind. Die „Transpiration" erlaubt es uns, zu sehen, dass wir einen ewigen Abdruck im Leben anderer und in der Welt, die wir hinter uns lassen, zurücklassen. Die „Transpiration" als Teil des Integrationsspektrums zu betrachten kann uns helfen, die Konvergenz ihres Auftretens in der kontemplativen und religiösen Praxis und ebenso ihre Präsenz in nicht konfessionsgebundenen Studien über Glück und geistige Gesundheit zu verstehen.
396
Reflektionen über das achtsame Gehirn
Achtsames Gewahrsein fördert die neuronale Integration. Heute brauchen wir stärker denn je eine wissenschaftlich begründete Sichtweise, die unsere Reflektion unterstützt, um Mitgefühl und die Sorge füreinander zu fördern. Die hier angebotene integrative Rolle des achtsamen Gehirns könnte ein Ansatz sein, der uns helfen kann, eine gemeinsame Basis zu finden, um die Reflektion in unserem Leben jetzt und bei zukünftigen Generationen zu fördern.
Nachwort Reflektionen über die Reflektion Wir sind am Ende unserer gemeinsamen Reise angelangt. Wir sind tief in Ideen, unmittelbare Erfahrungen, wissenschaftliche Erkundungen und einige Reflektionen über praktische Implikationen des achtsamen Gehirns gereist. Hier werden wir kurz einige Reflektionen über die Reflektion selbst berühren, indem wir die Beziehung zwischen Reflektion und Moral untersuchen, und die Art und Weise, in der wir Mitgefühl füreinander kultivieren.
Reflektion und Moral Wenn sich das achtsame Gehirn entwickelt, wird das Urteilsvermögen vervollkommnet und wir werden uns bewusst, dass das reine, primäre Selbst, das mit dem achtsamen Gewahrsein offenbart wird, eine tiefe Offenbarung enthält: Wir teilen eine Kernmenschlichkeit miteinander unterhalb all des geistigen Geplappers. Unterhalb unserer Gedanken und Gefühle, Vorurteile und Überzeugungen ruht ein geerdetes Selbst, das Teil eines größeren Ganzen ist.
398
Nachwort
Wir müssen kein Gefühl von etwas jenseits des Geistes wachrufen, sondern nur eine Realität, dass wir Teil einer Spezies, einer Reihe von Lebewesen, ein Teil der Natur sind. Dieses reine Gewahrsein - dieses Selbstsein - ist universell. Wir teilen dieses „selbstseiende Selbst" miteinander, jene gegründete Kernessenz unterhalb unserer Anpassungen, Überzeugungen und Erinnerungen. Von diesem natürlichen Gewahrsein des achtsamen Lebens, von diesem Urteilsvermögen aus gibt es einen Fluss aktiver Analyse, vielleicht von nichtsprachlicher Art, nämlich dass es „richtig" ist, die individuelle Souveränität aller Menschen, tatsächlich alle Lebewesen, wenn nicht die Gesamtheit unseres Planeten zu respektieren. Auf neuronaler Ebene ist das Entdecken einer aktiven Rolle des mittleren Präfrontalkortex in der Moral damit verwandt. Genau diese Region ist aktiv, wenn wir uns ethische Dilemmata vorstellen und moralische Handlungen initiieren. Durch den integrativen Schaltkreis in unserem neuronalen Kern gelangen wir zu einem Gefühl von uns selbst und von anderen sowie zu einer Empfindung von rechtem Handeln und von Moral. Sich selbst einzustimmen und Erfahrung mit COAL zu machen, gehört zum natürlichen Fluss achtsamen Gewahrseins. Und genauso gehört auch die Einstimmung auf die größere Welt lebender Wesen mithilfe einer liebenden Haltung zu diesem reflektiven Eintauchen in unser tieferes Selbst. Diese Reise ist ein Teil des Weges, um die Illusion unserer Getrenntheit aufzulösen. Wenn die Entwicklung des Resonanzschaltkreises durch Achtsamkeit gefördert wird, dann können wir uns vorstellen, dass wir stärker auf das innere Leben anderer und auf uns selbst eingestimmt werden. Bald wird dieser soziale Schaltkreis von allein Zustände von mitfühlender Sorge und empathischer Vorstellungskraft erzeugen. Wir werden den Schmerz anderer fühlen und handeln wollen. Wir nehmen die Signale anderer auf und erzeugen Bilder ihres Geistes in unserem eigenen. Mitgefühl und Empathie können als natürliche Folgen der Achtsamkeit angesehen werden, wenn diese als Beziehungsprozess betrachtet wird, der auf innerer Einstimmung beruht. Wenn wir uns selbst zum besten Freund werden, dann werden wir offen dafür, uns mit anderen zu verbinden.
Reflektionen über die Reflektion
399
Das Konzept des Urteilsvermögens umfasst auch eine Analyse des rechten Handelns - nicht als Urteil, sondern als moralische Richtung, die eine tiefe universelle Struktur hat. Wir könnten natürlich über die dazugehörige Philosophie debattieren, aber lassen Sie mich Ihnen eine bestimmte Perspektive vorstellen. Das achtsame Gewahrsein befähigt uns, tief die zugrunde liegenden Anpassungen eines sozialen und analytischen Geistes zu spüren, die unsere persönliche und unsere „Identität" in der Gruppe prägen. Diese sekundären Informationsflüsse bilden das hierarchische Gerüst eines autobiografischen Selbst, das uns oft prägt, ohne dass Gewahrsein vorhanden ist. Diese Identität erzeugt die Grundlinienperspektive, die bestimmt, wie wir uns der Welt nähern und uns aufeinander beziehen. Urteilsvermögen in seiner einfachen, reinen Vision eines gegründeten Kernselbst lässt das Gefühl entstehen, dass wir tatsächlich eine mitfühlende Art und Weise haben können: freundlich und fürsorglich gegenüber anderen und uns selbst gegenüber sein. Und wir können eine destruktive Art und Weise haben: grausam und sorglos sein. Hier können wir den breit angelegten moralischen Maßstab spüren, der aus der klärenden Praxis des achtsamen Gewahrseins auftaucht. Das ist die Lehre aller spirituellen Lehrer, von Christus bis Buddha, von Moses bis Mohammed. Im modernen Leben können diese Lehren unsichtbar sein. Diese Reise in die Facetten des achtsamen Gehirns zeigt auch, dass Mitgefühl füreinander eine biologische Notwendigkeit jenseits der Lehren der einen oder anderen Gruppe ist. Dies ist eine universelle Lektion, die in unseren Interaktionen miteinander auf lokaler und globaler Ebene so dringend benötigt wird. Ebendiese Thematik wirft auch die fundamentale Frage auf, die Matthieu Ricard, früher Mikrobiologe und in der Forschung tätig, jetzt schon lange buddhistischer Mönch, in seinem Buch über das Glück stellt (2006): „Macht dich das Glücklichsein freundlich oder macht dich das Freundlichsein glücklich?" Stattdessen zeigt die moderne Forschung über das „Glück" und die Führung eines sinnvollen Lebens, dass rücksichtsvoll und fürsorglich gegenüber anderen zu sein ein stabiles Anzeichen für ein zutiefst befriedigendes Leben ist (Seligman
400
Nachwort
2003). Freundlichkeit erzeugt ein äußerst sinnstiftendes Gefühl des Wohlbefindens in einem selbst und in den Menschen um Sie herum. Aber was steht einem solchen achtsamen Leben im Wege? Warum ist die Welt nicht einfach mit Menschen gefüllt, die allerorten Urteilsvermögen zeigen, über das Leben reflektieren und ihre Freundlichkeit miteinander teilen, und das Tag für Tag? Die sekundären Einflüsse von Erinnerung und Identität können zu automatischen Lebensweisen führen, in denen Überzeugungen als letzte Realitäten angesehen werden und Motivationstriebe geschaffen werden, diese Weltsichten an anderen auszuagieren. Es gibt kein Gewahrsein, dass jene Überzeugungen Aktivitäten des Geistes sind, keine Einsicht eines tieferen primären Selbst unterhalb von Angst und Projektion, Feindschaft und Hass. Die Zerstörung, die aus solchen achtlosen hierarchischen Unterjochungen entstehen kann, prägt weiterhin unsere Erde, so wie es seit Jahrtausenden der Fall gewesen ist. Wenn wir das Gefühl haben, dass unser Leben bedroht ist, wie Forschungen über die „Salienz der eigenen Sterblichkeit" [„Salienz" bedeutet in der Psychologie, dass ein Reiz, z. B. ein Objekt oder eine Person, aus seinem Kontext hervorgehoben und dadurch dem Bewusstsein leichter zugänglich ist als ein nichtsalienter Reiz; Anm. d. Ü.] zeigen (McGregor, Lieberman, Greenberg, Solomon, Arndt, Simon et al. 1998), dann intensivieren wir unseren angeborenen „Klassifizierer", der eine Rangordnung derer vornimmt, die wir als Mitglieder der In-Gruppe betrachten und die daher geschätzt werden, und derjenigen, die wir als Teil der OutGruppe ansehen und die des Verdachts und des Angriffs wert sind. In den intensiv aktivierten neuronalen Strukturen der Bedrohung beeinflussen unsere limbischen Regionen die kortikalen Urteile, und wir beginnen zu glauben, dass wir zweifellos bei unseren Bewertungen recht haben. Und „sie" haben Unrecht. Wenn der Einsatz in diesen intensiven Zeiten von Tyrannei und technologischem Fortschritt hoch ist, dann sind ein achtsames Gewahrsein dieser neuronalen Mechanismen und Reflektion notwendig, um sich aus ihren automatischen Reaktionen zu lösen. Die Reflektion ist nicht länger ein Luxus, sondern könnte für unser Überleben vielmehr eine Notwendigkeit sein.
Reflektionen über die Reflektion
401
Eine reflektive Integration Gewahrsein ist eine Fertigkeit, die wir zu entwickeln lernen können. Die Art und Weise, wie wir Gewahrsein in uns selbst und miteinander schaffen, hat das Potenzial, unser Gehirn zum Guten und zum Schlechten hin zu prägen. Achtsamkeit ist eine intentionale Erfahrung, die hilft, sich das zunutze zu machen, was wir die „Nabe" unseres metaphorischen Bewusstseinsrads genannt haben. Jenes reflektive Zentrum unseres Geistes hat viele Dimensionen. Drei davon sind Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflexivität. Rezeptiv zu sein, unser Gewahrsein für alles zu öffnen, was aus dem Rand unseres Rades aufsteigt, erzeugt ein geräumiges mentales Schwerkraftzentrum, das es Körper, Geist und Beziehungen ermöglicht, einen Zustand dynamischen Gleichgewichts zu erreichen. Eine zweite Dimension ist diejenige der Selbstbeobachtung, bei der wir die Inhalte unseres eigenen Geistes aktiv als mentale Geschehnisse und nicht als Gesamtheit dessen, was wir sind, zur Kenntnis nehmen und bewerten können. Dieses Urteilsvermögen ist eine entscheidende Komponente des achtsamen Gewahrseins, die uns den Weg freimacht. Gleichermaßen zentral ist die dritte Dimension des Reflektivseins: die Reflexivität. Dies ist die automatische Weise, in der ein reflektiver Geist ein Gewahrsein des Gewahrseins selbst hat. Zusammengenommen erlauben uns alle drei Dimensionen der Reflektion, Gleichmut zu erreichen und die automatische Verarbeitung zu entkoppeln, indem wir das Urteilsvermögen schaffen, das zusammen mit den anderen Dimensionen die zahlreichen Facetten der Achtsamkeit ergibt. Die Forschung hat Nichtreaktivität, das Handeln mit Gewahrsein, das Nicht-Festhalten an Urteilen, die Fähigkeit, die Inhalte unserer inneren Erfahrung zu beschreiben und zu benennen, und zumindest bei Meditierenden auch die Rolle der Beobachtung im eigenen Innenleben, mit einbezogen. Diese zahlreichen Facetten der Achtsamkeit haben Entsprechungen zu spezifischen Dimensionen der Gehirnfunktion, die wir erforscht haben. Indem wir die Achtsamkeit als Form von Beziehung mit dem Selbst ansehen, können wir die Stränge entwirren, welche die drei Fel-
402
Nachwort
der der Eltern-Kind-Bindung, der neuronalen Präfrontalfunktion und der Praktiken des achtsamen Gewahrseins miteinander verbinden. Die neun Funktionen, die aus der Aktivität des mittleren Aspekts der Präfrontalregion entstehen, sind sowohl der Prozess als auch das Ergebnis von Praktiken des achtsamen Gewahrseins. Sieben dieser neun Praktiken sind das Ergebnis sicherer Eltern-Kind-Beziehungen. Diese engen Verbindungen sind durch gegenseitige Einstimmung geprägt, die es dem Kind ermöglicht, sich gefühlt zu fühlen. Es ist unser zentraler Vorschlag, dass Achtsamkeit eine Form der intrapersonalen Einstimmung ist, bei der man beginnt, mit seinem eigenen inneren Zustand zu resonieren. Die verschiedenen Sichtweisen der Achtsamkeit von Forschern aus den Bereichen geistige Gesundheit, Bildung und Erziehung sowie die Perspektiven historischer und moderner kontemplativer Praktiken können gewisse Gemeinsamkeiten in dieser beziehungsbezogenen Sicht des achtsamen Gehirns finden. Vorheriges Lernen, das aus wiederholten Erfahrungen gewonnen und durch emotionale Werte bestärkt wurde, drückt die Wahrnehmung herunter, um die Details von unten einströmender Prozesse abzustumpfen. So unterjochen die Anordnungen neuronaler Netze von oben die primären Ströme und erzeugen in unserem subjektiven Erleben ein Gefühl von Eingesperrtsein. Wir fühlen uns von der Empfindung distanziert, weit weg vom direkten Erleben, gefangen durch unsere frühere Geschichte. Im Kleinen gehen wir am Garten vorüber und halten nicht inne, um die Blumen zu riechen. Im Größeren halten uns eingefleischte emotionale Reaktionen und deskriptive Informationspakete weit vom sensorischen Erleben entfernt. Und im ganz Großen erzeugt unsere persönliche Identität in noch restriktiverer Weise eine starre Geisteshaltung, die definiert, wer wir „sind", und das Leben wird auf versteckte Glaubenssätze und Muster eingeengt, die wir „Persönlichkeit" oder „Identität" nennen. Reflektiv zu werden befähigt uns, die Mauern dieser hierarchischen Gefängnisse zu durchdringen. Das reflektive Denken beruht auf der Bildersprache als fließender Sprache des Geistes, die die
Reflektionen über die Reflektion
403
automatische Weise unterbricht, in der wir als Erwachsene dazu neigen, durch unflexible deskriptive Zusammenfassungen von Erfahrung eingeschränkt zu werden. Diese Sichtweise geht in praktischer Hinsicht davon aus, dass persönliches Wachstum innerhalb unseres Selbst und unserer Beziehungen zumindest die Rolle der Bildersprache anerkennen sollte, um mehr Flexibilität in unserem Leben zu schaffen. Das achtsame Lernen umfasst ebenfalls einen flexiblen Geisteszustand; es erzeugt Respekt für Ungewissheit und die Wichtigkeit von Kontext und Perspektive. Die Kraft dieses Achtsamkeitsansatzes liegt darin, dass er Schüler leicht dazu inspirieren kann, engagierte Teilnehmer am Lernprozess zu werden. Das Gewahrsein des eigenen Geisteszustands ist bei diesem Ansatz zentral und hilft, alte, rigide Denkmuster aufzulösen, die das Selbst entweder einsperren oder es vollkommen aus dem Lernprozess ausklammern. Besteht Einstimmung zwischen Eltern und Kind, so sehen wir dieselben Facetten im Herzen einer sicheren Bindung. Die Achtsamkeit als eine Form innerer Einstimmung anzusehen befähigt uns, aufzuzeigen, wie diese reflektive Form des Gewahrseins eine solche Flexibilität erzeugt. Wenn unser Leben von „Wortkapseln" beherrscht wird, welche die Summe unserer Erfahrungen enthalten, dann ist es schwierig, sich auf die inneren Schichten der unmittelbaren sensorischen Realität einzustimmen. Wenn Beschreibungen und vorher erzeugte mentale Modelle schnell unsere Wahrnehmung von der Welt und von uns selbst formen, dann können wir keine Flexibilität erreichen, weil wir ein Leben führen, das durch die Vergangenheit definiert wird und nicht im Einklang mit der Gegenwart steht. Im Innern erfordert Einstimmung, dass wir diese Beschränkungen von oben loswerden und so nah an das „tatsächlich" gelebte Selbst herangehen wie möglich. Aber da das Gehirn ständig neuronale Aktivierungen filtert und diese in komplexe Schichten von Feuermustern übersetzt, die von der „tatsächlichen Realität" entfernt sind, wann und wo sagen wir dann, dass wir das „Hier und Jetzt" erreicht haben? Was ist das eigentliche Hier und Jetzt, das auftaucht und uns wissen lässt, dass wir angekommen sind?
404
Nachwort
Es entsteht ein berauschendes Gefühl, wenn der Fokus unserer Aufmerksamkeit auf den Wellen unseres eigenen intentionalen Flusses schwimmt und uns im gegenwärtigen Moment gründet, und wir wissen, dass wir jetzt hier angekommen sind. Reflektion öffnet den Korridor unter sekundären Mauern, unterhalb von Worten und Identitätswelten, so dass wir dann in einer offenen Präsenz des Geistes ruhen können. Präsenz ist nicht einfache Empfindung, obwohl sie sich einfach und sinnlich anfühlen kann. Präsent zu sein fühlt sich auf ein Art und Weise reflektiert an, die wir bereits beschrieben haben: rezeptiv, sich selbst beobachtend, reflexiv. Wir sind offen für das, was ist, und nicht (nur) für das, was aufgrund unserer angesammelten Erinnerungen sein sollte. Wir beobachten unser Selbst und erreichen Gleichmut durch aktives Gewahrsein - flexibel fühlen, benennen, links und rechts ausbalancieren, sich annähern, statt sich zurückzuziehen. Dies sind aktive reflektive Beschäftigungen mit den wilden Flüssen unseres eigenen unvorhersagbaren Geistes in einer unsicheren Welt. In diese aktiven Reflektionen eingebettet ist unser Metabewusstsein, das automatische Gewahrsein des Gewahrseins, das ein tiefes Wissen von dem Auf und Ab unseres eigenen aktiven Geistes ist, und nicht mit der Totalität unserer selbst identifiziert werden kann. Einstimmung im Innern entsteht, indem wir das primäre „Wer" unterhalb des sekundären Geplappers unseres geschäftigen hierarchischen Geistes spüren. Es ist diese innere Einstimmung auf unser primäres Selbst, welches das kraftvolle Gefühl erzeugt, zu Hause anzukommen. Worauf uns schon die Dichter aufmerksam gemacht haben: Wir leben weit von jener Person entfernt, die uns schon so lange geliebt hat, aber so blindlings ignoriert worden ist - unser primäres Selbst. Jenes Selbst willkommen zu heißen, ist ein Feiern des Lebens, zu dem uns die Achtsamkeit einlädt. Indem wir über unseren inneren Zustand nachdenken, wird der Resonanzschaltkreis, der sich entwickelt hat, um sich mit dem Geist anderer zu verbinden, so gebahnt, dass wir das tiefe Wesen unserer intentionalen Welt spüren. Wenn wir Wahrnehmung und Handlung miteinander verbinden, erzeugen wir die neuronalen Landkarten unse-
Reflektionen über die Reflektion
405
rer eigenen Intentionen und sensorischen Erfahrung von Moment zu Moment, indem wir eine innere Resonanz schaffen - die Essenz der Einstimmung. Nach innen zu reflektieren lädt uns dazu ein, die wortlose Welt der Empfindungen und Bilder zu würdigen. In unserem geschäftigen Leben ist das oft leichter gesagt als getan. Doch das „Tun" ist nicht der Modus, der hier verlangt wird - sein, menschlich sein, das ist der Geisteszustand, den wir uns vor Augen halten sollten. Als „seitliche" Form des Lernens, als Betonung des Prozesses gegenüber dem Inhalt oder einer „orthogonalen" Weise, die Realität zu sehen, als ein Loslassen statt eines Festhaltens, bietet uns die Achtsamkeit eine neue Weise, zu sein. Die Herausforderung für uns alle besteht darin, das Leben als Verb zu sehen anstatt als Substantiv. Wir können nicht am fließenden Fluss des Lebens festhalten, die Sicherheit von Fakten, die Universalität von Regeln garantieren. Im achtsamen Gewahrsein, innerhalb der reflektiven Nabe unseres Geistes können wir diese Wahrheit in unseren Herzen und unserem kollektiven Leben willkommen heißen. Es ist schwer zu beschreiben, aber vielleicht lässt sich das Gefühl am besten so ausdrücken: Sein ist einfach nur dies. Was immer hier - Sie, ich, unsere Patienten, Schüler, Verwandten, Freunde, Fremde, Gegner -, wir können die Fülle der Erfahrung fassen und auf den Wellen unserer Gewahrseinsströme innerhalb des reflektiven Raums der Nabe unseres Geistes reiten. Jene Weite kann geteilt werden, das Rad unseres Gewahrseins kann zu einer kollektiven, einer Gruppenerfahrung werden, die voller Ehrfurcht ist und die Illusion unserer Getrenntheit als das zeigt, was sie ist: eine Schöpfung unseres Verstandes, eine neuronale Erfindung. Auf dieser kostbaren und heiklen Erde ist Güte für unsere Beziehungen, was der Atem für das Leben ist. Mit Hilfe von Reflektion können wir im jeweils anderen einen Zugang zu einem Selbst nähren, das tiefer ist als die persönliche Identität, jenes Selbstsein des Seins, das wir alle miteinander teilen. Von diesem achtsamen Platz aus gibt es einen Weg, um unsere globale Gemeinschaft zu heilen - einen Geist, eine Beziehung und einen Moment nach dem anderen.
Anhang
Anhang I Institutionen, Organisationen, Programme Im Folgenden finden Sie eine Liste der im Text erwähnten Institutionen, Organisationen und Programme, mit denen ich unmittelbaren Kontakt hatte, in deren Beirat ich sitze, deren Lehrfakultät ich angehöre oder die ich mitverwalte. Es handelt sich dabei nur um eine partielle Auflistung der zahlreichen wichtigen Organisationen, die zur Entwicklung eines achtsamen Gehirns im Bildungs- und Erziehungswesen, in der Psychotherapie und im Alltag beitragen. Auf den Namen der Organisation folgt eine Internet-Adresse, und im Falle derjenigen Organisationen, bei denen ich mitarbeite, habe ich Zitate aus ihrer Unternehmensphilosophie und der Website entnommen. Diese Liste vermittelt einen Eindruck davon, wie verschiedene Elemente unserer Gesellschaft, von der akademischen bis zur kontemplativen Welt sich in Richtung Gewahrsein und Reflektion als einem wesentlichen Teil unserer kulturellen Evolution hinbewegen. Mindsight Institute www.Mindsightinstitute. com Das Mindsight Institute ist eine Bildungsinstitution, die sich darauf konzentriert, wie die Entwicklung von Einsicht und Empathie in Individuen, Familien und Gemeinschaften durch die Erforschung der
410
Anhang III
Schnittstelle von menschlichen Beziehungen und elementaren biologischen Prozessen verbessert werden kann. Unser Institut bietet fortlaufende Seminare, vertiefende Trainingsprogramme und Workshops für Fortgeschrittene an, in denen die Anwendung der interpersonellen Neurobiologie auf verschiedene pädagogische, klinische und gemeinschaftsbezogene Aktivitäten erforscht wird, um „Mindsight" und die Kultivierung des Wohlbefindens zu fördern. Mind and Moment Dieses Dreitagesseminar trug den Untertitel „Achtsamkeit, Neurowissenschaft und die Poesie der Transformation im Alltagsleben". Die Lehrer dieses interaktiven Ausschusses waren die Dichterin, Essayistin und Naturforscherin Diane Ackerman (Autorin von An alchemy of mind, Origami bridges und Die schöne Macht der Sinne. Eine Kulturgeschichte [München: Kindler, 1991; neu u. d. T. Die schöne Welt der Sinne; Hamburg/Wien: Europa-Verlag, 2002]); Jon Kabat-Zinn, ein wegweisender Forscher und Pädagoge im Bereich Achtsamkeit sowie Begründer des Programms „Stressbewältigung durch Achtsamkeit" (MBSR), (Autor von Gesund und stressfrei durch Meditation, Im Alltag Ruhe finden und Zur Besinnung kommen); der irische Philosoph, Dichter und Theologe John O'Donohue (Autor von Anam Cara. Das Buch der keltischen Weisheit, Echos der Seele. Von der Sehnsucht nach Geborgenheit [München: dtv, 1999] und Schönheit. Das Buch vom Reichtum des Lebens [München: dtv, 2004]) und Daniel J. Siegel, Psychiater und Pädagoge (Autor von Das achtsame Gehirn und Wie wir werden, die wir sind, Koautor von Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen). Das Programm hat eine große Reihe von Themen abgedeckt, die sich auf die Schnittpunkte von Praktiken des achtsamen Gewahrseins, Wissenschaft und den Künsten konzentrieren, mit besonderer Betonung auf der Kultivierung von Wohlbefinden, dem experimentellen Eintauchen in die Reflektion und Poesie und der Interaktion zwischen den Veranstaltern und den Teilnehmern. Das Ereignis wurde in hochauflösendem Format aufgenommen, und diese Aufzeichnungen sind über das Mindsight Institute erhältlich. Sie sind für verschiedene pädagogische Ziele und Umfelder geeignet.
Institutionen, Organisationen, Programme
411
Mindful Awareness Research Center (MARC) www.MARC.ucla.edu Als Bestandteil des Semel Institute for Neuroscience und Human Behavior der UCLA widmet sich das Mindful Awareness Research Center der Untersuchung, Bewertung und Verbreitung des achtsamen Gewahrseins - des Moment-zu-Moment-Prozesses des aktiven Beobachtens und Schlussfolgerns aus den eigenen physischen, mentalen und emotionalen Erfahrungen. Das achtsame Gewahrsein (auch als Achtsamkeit bekannt) ist ein uraltes Konzept mit einer über zweitausend-fünfhundert Jahre alten Geschichte und Entwicklung, die sehr große Auswirkungen auf die zeitgenössische Gesellschaft hat. MARC konzentriert seine Bemühungen auf die Identifizierung, Bewertung und Verbreitung der geeignetsten und effektivsten Praktiken des achtsamen Gewahrseins (MAPs), um das Wohlbefinden im Laufe des Lebens im klinischen und nichtklinischen Umfeld zu fördern, mit dem wachsenden Stress des täglichen städtischen Lebens fertigzuwerden und Menschen zu helfen, sich ihrer selbst stärker gewahr und zu mitfühlenden Individuen zu werden. InnerKids www. Inner Kids, org Gegründet im Jahr 2001, ist InnerKids ein nationaler Vorreiter darin, Kindern im Alter zwischen drei Jahren bis zur Mittelstufe achtsames Gewahrsein zu vermitteln. Achtsames Gewahrsein ist ein Zustand gegenwärtiger Aufmerksamkeit, bei dem man Gedanken, Gefühle, Emotionen und Ereignisse in dem Moment beobachtet, in dem sie geschehen, ohne auf sie in automatischer Weise zu reagieren. Die achtsamen Gewahrseinsaktivitäten von InnerKids berücksichtigen Entwicklungsunterschiede der Kinder, sie trainieren die fokussierte Aufmerksamkeit und Bewusstheit und erkennen Klarheit und Mitgefühl als Bestandteile des Prozesses an, aufmerksamer und bewusster zu werden. Jetzt, wo die Vorgänge auf der Welt immer komplizierter werden, ist es entscheidend, dass Kinder lernen, sie aus einer genaueren Perspektive zu sehen - etwas, das nur aus einem ruhigen und fokussierten Geist hervorgehen kann. Wir wissen aus einem Jahrtausend an Erfahrung in allen kontemplativen Traditionen, dass man Training und Übung braucht, um einen solchen Geist zu entwickeln.
412
Anhang I
Center for Culture, Brain, and Development (CBD) www. CBD. ucla. edu Die Foundation for Psychocultural Research, University of California Los Angeles (FPR-UCLA) Center for Culture, Brain, and Development (CBD) fördert Training und Forschung, um zu ergründen, wie die Kultur und soziale Beziehungen die Gehirnentwicklung beeinflussen, wie das Gehirn die kulturelle und soziale Entwicklung organisiert und wie die Entwicklung ein kulturelles Gehirn entstehen lässt. Gleichzeitig suchen wir zu verstehen, wie das Gehirn es macht, Kultur zu erwerben, zu nutzen und zu schaffen; wie Entwicklung auf neuronal vermittelten soziokulturellen Praktiken aufbaut; wie soziale Beziehungen kulturell durchdrungen sind; wie Kultur bei sozialen Interaktionen erworben wird; und wie Kultur und soziale Beziehungen durch neuronal potenzierte Entwicklungsprozesse konstruiert werden.
Weitere erwähnte Organisationen Garrison Institute - www.GarrisonInstitute.org Insight Meditation Society (IMS) - www.Dharma.org Mind and Life Institute - www.MindandLife.org Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) Spirit Rock Meditation Center - www. SpiritRock. org
Pädagogische Programme, die sich mit Aspekten der Reflektion befassen The Collaborative for Academic, Social, and Emotional Learning (CASEL) - www. CASEL. org PATHS (Providing Alternative Thinking Strategies) www.Prevention.psu. edu/projects/PATHS. html
Anhang II Glossar und Fachbegriffe Im Folgenden finden Sie eine Auflistung der genannten Akronyme, Abkürzungen und anderer Fachbegriffe. Akronyme COAL (curiosity, openness, acceptance, love) Neugierde, Offenheit, Akzeptanz, Liebe. Der Zustand der Achtsamkeit, der offen und empfänglich für alles ist, was im Feld des Gewahrseins auftaucht. COHERENCE (connection, openness, harmony, engagement, receptivity, emergence, noesis, compassion, empathy) Kohärenz, setzt sich zusammen aus Verbundenheit, Offenheit, Harmonie, Engagement, Rezeptivität, Emergenz, Noesis, Mitgefühl und Empathie. Das sind die Qualitäten, die den kohärenten Zustand eines integrierten Systems ausmachen.
414
Anhang III
FACES (flexible, adaptive, coherent, energized, stable) Flexibel, anpassungsfähig, kohärent, energetisiert und stabil. Wenn ein System integriert wird, dann kommt es mit diesen Qualitäten sehr weit. ISO (internal State of the other) Innerer Zustand des anderen. Die simulierten affektiven, intentionalen und physiologischen Zustände, die in einer anderen Person wahrgenommen und in einem selbst verankert werden. Ein ISO kann in den Signalen eines anderen wahrgenommen werden, was einem das Gefühl gibt, sich im Moment „gefühlt zu fühlen" beziehungsweise den eigenen Geist in dem eines anderen zu sehen. MAPs (mindful awareness practices) Praktiken des achtsamen Gewahrseins. Dieser Begriff, der von Sue Smalley vom UCLA Mindfod Awareness Research Center geprägt wurde, beschreibt das breite Spektrum an Aktivitäten, die Achtsamkeit in unserem Leben kultivieren können. NOTO (narrative of the other) Die Erzählung des anderen. Die Art und Weise, in der wir Geschichten voneinander „haben", die es uns ermöglichen, den anderen im Sinn zu behalten, selbst wenn wir mit jener Person in der Gegenwart nicht zusammen sind. Wir spüren uns selbst im Geist des anderen durch die NOTOs, die wir in den Geschichten hören, die uns andere erzählen und die insbesondere zeigen, wie sie uns gesehen haben, von innen nach außen. SAM (scan, alert, motivate) Abtasten, warnen und motivieren. Die Funktion dieser Prozesse besteht darin, Sicherheit zu gewährleisten. Bei Menschen mit Zwangsneurosen (OCD) und anderen Erkrankungen sind sie hyperaktiv. SIFT (sensations, images, feelings, thoughts) Empfindungen, Bilder, Gefühle, Gedanken. Das sind einige Grundelemente, die wir in unserem Geist an vorderer Stelle platzieren können, während wir unsere Erfahrungen durchgehen, um ein breites Spektrum an
Glossar und Fachbegriffe
415
Gewahrsein jenseits der häufig dominanten, auf Worten basierenden Gedanken zu stärken. SNAG (stimulate neuronal activation and growth) Die neuronale Aktivierung und das neuronale Wachstum anregen. Im täglichen Leben, der Pädagogik oder der Psychotherapie wird die Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren und unseren Geist beschäftigen, das Gehirn ganz unmittelbar stimulieren, so dass die neuronale Plastizität in den aktivierten Regionen gefördert wird. SOCK (Sensation, Observation, concept, knowing) Empfindung, Beobachtung, Konzept, Wissen. Das sind vier Ströme des Gewahrseins, die in jedem Fließen zu beobachten sind, das im Tal des gegenwärtigen Moments in einen Fluss des Bewusstseins mündet. Alle vier Ströme zu integrieren könnte für das Erleben von Achtsamkeit von grundlegender Bedeutung sein. VIERTES „R" Der Begriff bezeichnet die Idee, dass wir eine Grundausbildung erzeugen können, in der die Reflektion zu der elementaren Liste für Lesen (reading), Schreiben ([w]riting) und Rechnen ([a]rithmetic) hinzugefügt wird. Ein fünftes „R" könnte Resilienz bzw. Belastbarkeit (resilience) sein, ein sechstes Beziehungen (relationships).
Abkürzungen von Bezeichnungen der Gehirnbereiche (siehe Abbildungen und Diskussion in Kapitel 2) ACC Anteriorer cingulärer Kortex DLPFC Dorsolateraler Präfrontalkortex IC Inselkortex, auch bekannt als „Insel" MPFC Mittlerer Präfrontalkortex. Dieser hat Unterteilungen, zu denen unter anderem der ventrale (VMPFC) und der dorsale (DMPFC) gehören.
416
Anhang III
OFC Orbitofrontalkortex OMPFC Dies ist die Abkürzung für den orbitomedialen Präfrontalkortex, der Bündelung von OFC und MPFC. STG Superiorer temporaler Gyrus STS Superiorer temporaler Sulcus VPFC Ventraler Präfrontalkortex, einschließlich des ventrolateralen (VLPFC) und ventromedialen (VMPFC) Präfrontalkortex
Fachbegriffe Bewusstseinsrad Eine visuelle Metapher des Geistes, in der man sich ein Rad mit der Nabe, den Speichen und dem Rand vorstellen kann, die für verschiedene Aspekte der Aufmerksamkeitserfahrung, wie unten beschrieben, stehen (vergleiche die Abbildungen in den Kapiteln 4 und 6). Nabe Der zentrale Aspekt des Bewusstseins, der als Quelle der exekutiven Aufmerksamkeit dient. Es existieren verschiedene Aspekte des Gewahrwerdens oder Bewusstwerdens. Diese schließen ein, wie die Nabe auf gerichtete Weise Elemente aus dem Rand aufnimmt, wobei sie entweder durch die Anziehungskraft der Stimuli (exogene Aufmerksamkeit) oder den Geist selbst (endogene Aufmerksamkeit) gelenkt wird. Der Geist kann sich auch in einen rezeptiven Zustand hineinbegeben, in dem die Nabe dann eine Qualität von Weite hat, die mit Absicht für alles offen ist, was am Rand auftaucht, jedoch - im achtsamen Gewahrsein - einen reflektiven Bewusstseinszustand aufrechterhält. Das Urteilsvermögen, das aus dieser Reflektion entsteht, erlaubt es den Persönlichkeitsmustern und anderen Aktivitäten des Geistes, als vorübergehende Prozesse und nicht als die Gesamtheit dessen, was die Person ist, identifiziert zu werden.
Rand Die unendlichen Punkte möglicher Elemente, die zum Fokus unserer Aufmerksamkeit werden können. Der Rand lässt sich in mindestens vier Sektoren einteilen, zu denen die ersten fünf Sinne (Daten aus der Außenwelt), der sechste Sinn (Information aus dem Körper), der siebte Sinn (Elemente aus dem Geist selbst - Gedanken, Gefühle, Bilder, Erinnerungen, Überzeugungen, Intentionen) und der achte Sinn (Beziehungen - mit anderen, mit etwas, das größer ist als das alltägliche Selbst, oder mit dem Gefühl der Einstimmung auf sich selbst.) Speichen Das Lenken von Aufmerksamkeit vom Rand auf die Nabe (exogen) oder von der Nabe auf den Rand (endogen). Viele qualitativ unterschiedliche Speichen können durch den Filter der Ströme des Gewahrseins (siehe oben) geschickt werden, wo sie denselben Randpunkt des Bewusstseins mit der Nabe verbinden und ganz unmittelbar unsere Bewusstseinserfahrung prägen. Dreieck des Wohlbefindens Kohärenter Geist, empathische Beziehungen, neuronale Integration. Diese drei Elemente sind nicht aufeinander reduzierbar und bilden drei interaktive Komponenten des Wohlbefindens. Integration Die Verbindung abgegrenzter Elemente. Die neuronale Integration beinhaltet die synaptische Verknüpfung von in physischer und funktioneller Hinsicht verschiedenen Regionen zu einem funktionierenden Ganzen. Invariante Repräsentationen Dieser Begriff stammt von Jeff Hawkins und Sandra Blakeslee (2004). Er bezeichnet die kortikale hierarchische Beeinflussung eingehender Informationen von unten durch die Brille früherer Erfahrungen, denn diese neuronalen Prägungen aus der Erinnerung drücken aus den oberen Schichten der kortikalen Säulen nach unten.
418
Anhang II
Mittlere Präfrontalregionen Dieser Begriff bezieht sich auf die wichtigsten kortikalen Gehirnregionen, zu denen der anteriore cinguläre Kortex (ACC), der Orbitofrontalkortex (OFC) sowie der mediale und der ventrale Präfrontalkortex (MPFC und VPFC) gehören. Diese Regionen arbeiten häufig mit der Inselrinde (IC) zusammen. Neun Funktionen des mittleren Präfrontals Eine Durchsicht der Literatur (siehe Anhang III) zeigt neun Funktionen, die die kollektive Aktivität des mittleren Präfrontalkortex als Teil eines größeren dezentralisierten Schaltkreises. Diese komplexen Funktionen hängen von diesen Regionen ab, beziehen aber ein über weite Strecken verteiltes Schaltkreissystem ein, das über die reinen Präfrontalneuronen hinausgeht, die dazu dienen, das größere neuronale System zusammenzuschließen. Die neun Funktionen sind Körperregulation, abgestimmte Kommunikation, emotionale Ausgeglichenheit, Reaktionsflexibilität, Empathie, Einsicht bzw. sich selbst kennendes Gewahrsein, Angstmodulation, Intuition und Moral. Neurozeption (aus neuronal + perception = Wahrnehmung) Steven Porges' (1998) Begriff dafür, wie das Gehirn wahrnimmt, ob sich ein Individuum in einem Zustand von Gefahr oder Sicherheit befindet. Wenn Sicherheit bewertet wird, dann wird das soziale EngagementSystem durch den „intelligenten" myelinisierten ventralen Vagusnerv aktiviert. Die Gesichtsmuskeln entspannen sich und der Geist wird rezeptiv. Das ist der Zustand, den Porges als „Liebe ohne Angst" bezeichnet. Reflektion In diesem Text definiert als Prozess, der aus mindestens drei essenziellen Elementen besteht: Rezeptivität, Selbstbeobachtung und Reflektiertheit (Gewahrsein des Gewahrseins). Reflektive Kohärenz Der integrierte Zustand, der durch die Reflektion erreicht wird. Die Vorstellung hier ist, dass die Reflektion weniger integrierte Zustände, die möglicherweise kohäsiv und streng definiert,
Glossar und Fachbegriffe
419
oder zufällig und chaotisch sind, in einen kohärenten Zustand, wie oben definiert, überführen kann, der flexibler und anpassungsfähiger ist. Reflektives Denken Stephen Kosslyns (2005) Begriff für die auf Bildern basierende Informationsverarbeitung, die flexibler ist als das deskriptive Denken, das bestimmt, wie das Langzeitgedächtnis die laufende Wahrnehmung hemmt. Das deskriptive Denken beruht auf begrifflichen Konstrukten, zu denen Worte gehören können, und es ist weniger flexibel als die fließende Bildersprache, die das reflektive Denken kennzeichnet. Resonanzschaltkreise Die neuronalen Regionen, die bei Interaktionen aktiv sind, die Einstimmung, den gegenseitigen Einfluss zwischen einer Funktionseinheit und einer anderen beinhalten. Dazu gehören das Spiegelneuronensystem, der obere Temporalkortex, die Insel (oder Inselrinde) und der mittlere Präfrontalkortex (siehe Anhang III). Selbst-Engagement-System Ein von uns vorgeschlagener Mechanismus, durch den ein mit Porges zwischenmenschlicher „Liebe ohne Angst" (siehe oben „Neurozeption") vergleichbarer Zustand erzeugt wird, bei dem sich die Einstimmung auf das Selbst mit einem COAL-Empfinden der direkten Erfahrung des Moments verbindet. Selbstsein Ein philosophischer Begriff, der von Lutz, Dünne und Davidson verwendet wird, um ein Kernempfinden des Selbst unterhalb der gewöhnlichen persönlichen Identität zu beschreiben. Das selbstseiende Selbst ist ein Begriff, den wir geprägt haben, um das reine Empfinden des Selbst zu bezeichnen, das über Praktiken des achtsamen Gewahrseins zugänglich ist und das in einer weiten Geistesnabe ruht. Ströme des Gewahrseins Der Informationsfluss, der zur Bewusstheit beiträgt und der die Art der Daten filtert, die durch die Nabe des Geistes aufgenommen werden. Mindestens vier Ströme können, wie im Akronym SOCK skizziert, unterschieden werden: Empfindung, Beobachtung, Konzept und (nicht begriffliches) Wissen.
Anhang III Neurowissenschaftliche Anmerkungen
Die Funktionen des mittleren Präfrontals Wir verwenden einen synthetischen Ansatz, um diverse Ideen zu untersuchen - eine davon betrifft im Besonderen die faszinierenden Überschneidungen zwischen der sicheren Eltern-Kind-Bindung, dem achtsamen Gewahrsein und der präfrontalen Gehirnfunktion. In meiner eigenen klinischen Arbeit zeigte eine Patientin mit einem schweren Kopftrauma als Folge eines Autounfalls Beeinträchtigungen bei bestimmten Funktionen, die ein weites Spektrum umfassten: von der Regulation ihres Körpers bis hin zu ihrem moralischen Verhalten. Die nach dem Unfall durchgeführten Gehirnscans enthüllten unglücklicherweise Schäden an den Mittellinienstrukturen, einschließlich der Orbitofrontalregion, der ventralen und medialen Präfrontalbereiche und der frontalen Aspekte des anterioren cingulären Kortex.
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
421
Als ich mich der Forschungsliteratur zuwandte, stellte ich fest, dass diese Mittellinienbereiche häufig getrennt voneinander beschrieben und wegen ihres einzigartigen Beitrags zu mentalen Funktionen und Verhalten untersucht werden. Doch im Falle dieser Patientin schien es so, dass die klinischen Befunde Wege aufzeigten, wie wir anhand ihrer Erfahrung und der Forschungsliteratur als synthetisches Ganzes eine Reihe von Funktionen erkennen konnten, die sich aus dem Zusammenwirken dieser Bereiche als „Einheit" neuronaler integrativer Verschaltungen ergaben. Aufgrund ihrer anatomischen Mittellinienposition entlang der vertikalen und der horizontalen Ebene habe ich den allgemeinsprachigen Ausdruck „mittleres Präfrontal" verwendet, um die Position dieser verbundenen Regionen als Gruppe hervorzuheben. In formaler Hinsicht wird das Cingulum anterior häufig als „limbische Struktur" angesehen und nicht als Teil der Präfrontalregion. Doch diese Präfrontalbereiche können selbst als „fühlender Teil des denkenden Gehirns" betrachtet und entweder als oberster Teil des limbischen Systems oder als „limbischster" Teil der Präfrontalareale angesehen werden. Unabhängig davon, welche Perspektive wir wählen, aus der Literatur ist ersichtlich, dass von uns verwendete Begriffe wie „limbisch" oder „präfrontal" unser Verständnis einschränken können, wenn wir sie zu wörtlich nehmen, und dann zu erkennen beginnen, wie integrativ diese Regionen in Wirklichkeit sind. Wenn sie zu Clustern verbunden werden, dann zeigt die Forschung, dass jede der Regionen (orbitofrontal, medial und ventral präfrontal sowie anteriores Cingulum; siehe Abbildung 2.2) einen einzigartigen Beitrag zu den auf Seite 69 -71 beschriebenen neun Funktionen leistet. Doch es wird auch berichtet, dass sie in unterschiedlichen Kombinationen zusammenwirken. Es ist äußerst wichtig, sich klar zu machen, dass die „Funktionen des mittleren Präfrontals" bei den unterschiedlichsten Prozessen auf diese integrativen Bereiche angewiesen sind, von der Körperregulation bis hin zur Moral, und dass eine große Zahl an neuronalen Prozessen über diese Regionen hinaus daran beteiligt sind. Diese Funktionen werden in einem dezentralisierten Schaltkreis erzeugt, von dem diese mittleren Regionen nur ein Teil sind. Vielleicht ist die Rolle, die sie spielen, darin zu sehen,
422
Anhang III
dass sie Koordination und integrative Ausgeglichenheit schaffen, was wesentliche Voraussetzungen dafür sind, dass so komplexe Prozesse funktionieren können. Aufgrund ihrer integrativen Rolle und um die Idee vermitteln zu können, dass die Exekutivfunktionen durch alle diese mittleren Areale im Zusammenhang mit der seitlichen (dorsolateralen) Präfrontalregion und der Inselrinde vermittelt werden, habe ich den Begriff „mittlere" als nützlich empfunden, auch wenn er in der formalen wissenschaftlichen Terminologie nicht zu finden ist. Den Forschungsdaten zufolge scheinen diese mittleren Bereiche am Arbeitsgedächtnis, das sich darauf bezieht, etwas „unmittelbar vor seinem geistigen Auge zu haben", nicht so unmittelbar beteiligt zu sein wie die seitlichen Areale. So ist die Gliederung in mittlere versus seitliche Präfrontalbereiche auch hilfreich gewesen, um Themen wie den automatischen Aspekt der Achtsamkeit als Charaktermerkmal zu erforschen - wie wir dahin gelangen können, ohne bewusste Anstrengung achtsam zu leben —, versus der mühevolleren Qualität der Praktiken des achtsamen Gewahrseins, das in jenem Moment bewusst und absichtlich einen achtsamen Zustand erzeugt, der vorzugsweise eine stärkere seitliche Aktivierung beinhalten sollte als bei dem langfristigen Charaktermerkmal, wie im Text besprochen (siehe Seite 157-160). Für diejenigen, die sich für die tiefer gehenden Diskussionen über die entsprechenden Daten interessieren, gebe ich in diesem Teil des Anhangs eine Zusammenschau der Forschungspublikationen oder Rezensionen, die die Hypothese der „neun Funktionen des mittleren Präfrontals" stützen, über die wir im Text immer wieder gesprochen haben. Dies sind die Funktionen, die aus der Aktivität dieser integrativen Mittellinienregionen im Zusammenhang mit der Aktivität in anderen Gehirnarealen entstehen. Diese Funktionen scheinen auch beim achtsamen Gewahrsein aufzutreten, und soweit die Forschung bis zum jetzigen Zeitpunkt herausgefunden hat, sind zumindest die ersten sieben auch das Ergebnis einer sicheren Eltern-Kind-Bindung (die letzten beiden sind meines Wissens noch keiner formalen Untersuchung unterzogen worden). Die Funktionen selbst sind in ihren praktischen Auswirkungen in Kapitel 2 untersucht worden. Hier werde ich nur die Literaturangaben machen, die diese Auflistung wissenschaftlich
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
423
untermauern und die Zusammenfassung dieser Regionen unter dem Oberbegriff „mittlere Präfrontalregionen" veranschaulichen. Dieses weite Spektrum an Funktionen leitet sich aus der Fragestellung ab: „Welche Prozesse korrelieren mit der Aktivität der obitofrontalen, medialen und ventralen Präfrontalkortices sowie des vorderen cingulären Kortex?" (Das waren die Bereiche, die bei meiner Patientin nach ihrem Unfall geschädigt waren.) Die Integration dieser drei Regionen ergibt im Zusammenhang mit dem Input aus der zu ihnen gehörenden Inselrinde einen exekutiven Schaltkreis, dessen Funktionen von der Körperregulation bis zum sozialen Verständnis reichen. Critchley (2005) hat einen knappen und präzisen Überblick über diese große Bandbreite an Funktionen gegeben: Einflussreiche theoretische Modelle legen nahe, dass afferente Informationen aus dem Körper eine zentrale Rolle beim Ausdrücken emotionaler Gefühlszustände spielen. Feed-backRepräsentationen sich verändernder Zustände körperlicher Erregung beeinflussen das Lernen und erleichtern die gleichzeitige und die vorausblickende Entscheidungsfindung. Studien mit funktionellen bildgebenden Verfahren haben unser Verständnis der Gehirnmechanismen erweitert, die zu Veränderungen bei der autonomen Erregung im Verhalten verführen, sowie auch derjenigen, die auf interne FeedbackSignale reagieren und so subjektive Gefühlszustände beeinflussen. Insbesondere der Kortex des Cingulum anterior ist an der Erzeugung autonomer Veränderungen beteiligt, während die Inselrinde und der Orbitofrontalkortex wahrscheinlich darauf spezialisiert sind, Eingeweidereaktionen abzubilden. Unabhängig davon hat man erkannt, dass der ventromediale Präfrontalkortex Prozesse der inneren Selbst-Referenz unterstützt, die in Zuständen von Ruhe und Loslösung vorherrschen und vermutlich als Bezugspunkt für dynamische Interaktionen mit der Umgebung dienen. Läsionsdaten heben die integrierte Rolle dieser kortikalen Regionen autonomer und verhaltensbezogener Kontrolle weiter hervor. In Computer-
424
Anhang III
modellen zur Kontrolle werden Vorwärtsmodelle (Efferenzkopien) [Efferenzen sind Nervenfasern oder -bahnen, die der Weiterleitung von Informationen bzw. Substanzen von einer definierten Struktur weg dienen. In aktuellen Motoriktheorien wird angenommen, dass eine Kopie der Efferenzen dazu dient, die Bewegungen, die durch die Aktivierung der Muskulatur bewirkt werden, schon zu einem frühen Zeitpunkt zu antizipieren; Anm. d. Ü.] und inverse Modelle vorgeschlagen, um die Vorhersage und Berichtigung von Handlungen zu ermöglichen, und im erweiterten Sinne auch die Interpretation des Verhaltens anderer. Es wird angenommen, dass das neuronale Substrat für diese Prozesse bei motivationalem und affektivem Verhalten in der Interaktion des anterioren Cingulums, der Inselrinde und dem Orbitofrontalkortex liegt. Die Erzeugung viszeraler autonomer Korrelate der Kontrolle verstärken das empirische Engagement in Simulationsmodellen und untermauern Konzepte wie die somatischen Marker [von A. Damasio geprägter Begriff, mit dem dieser ein körperliches Signalsystem bezeichnet, das dem Menschen bei der Entscheidungsfindung hilft; Anm. d. U.], um die dualistische Kluft zu überwinden. (S. 493) Hier sehen wir, dass die „mittleren Präfrontalregionen" mit der Inselrinde zusammenwirken, um eine komplexe Reihe von Prozessen zu erzeugen. Wenn diese Funktionen zusammengebracht werden, wie es in der folgenden Liste von neun Dimensionen zusammenhängender Aktivitäten geschehen ist, dann können wir sehen, dass ein größerer Prozess am Werk ist, um sie zu erzeugen: Diese Mittellinienbereiche sind zutiefst integrativ. Sie verbinden über weite Strecken verteilte Bereiche miteinander, wie wir im Text ausführlich erörtert haben. Ganz wörtlich bedeutet das, dass diese neuronalen Schaltkreise für sich genommen nichts „Besonderes" sind, sondern vielmehr in dem größeren neuronalen System wirken und dort ein weites Spektrum mentaler und physiologischer Ergebnisse zeitigen, da sie in der Lage sind, das ausgedehnte Nervensystem, ja sogar die Feuermuster der neuronalen
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
425
Systeme anderer Individuen zu einem funktionalen Ganzen zu vereinen. Das ist die Definition von neuronaler Integration, der Spezialität dieser Regionen. Erinnern Sie sich, dass die neuronale Integration die Möglichkeit von Koordination und Balance schafft. Hier sehen wir, dass die Interaktion zwischen diesen wichtigen Regionen einen höchst komplexen Zustand erzeugt, der uns befähigt, ein solches Potenzial für alles zu haben, von der Körperregulation und der emotionalen Ausgeglichenheit bis hin zu Empathie und moralischem Verhalten. In unserem Gesamtvorschlag beleuchten wir dann die Überschneidungen zwischen einer sicheren Bindung und Praktiken des achtsamen Gewahrseins dahingehend, dass beide neuronale Aktivierungen erleichtern, die das Gehirn in Richtung einer neuronalen Integration „verhaken". Hauptkandidaten für diese neuronale Integration sind die mittleren Präfrontalbereiche. Da eine sichere Bindung durch die Erfahrung gegenseitiger Einstimmung gefördert wird, gehen wir davon aus, dass Achtsamkeit die Erfahrung dessen beinhaltet, was wir innere Einstimmung nennen. Wie wir erörtert haben, werden dieser Argumentationslinie zufolge beide Arten von Einstimmung das Wachstum integrativer Fasern der mittleren Präfrontalbereiche fördern, die, wie auf den Seiten 432-442 erörtert, Bestandteil eines größeren „Resonanzschaltkreises" sind. Durch diese Stimulation der neuronalen Plastizität, die dazu führt, dass integrative Fasern aktiviert werden und wachsen, werden die neuronalen Korrelate dieser Funktionen geschaffen und dies ermöglicht ihren Beitrag zum Wohlbefinden. Diese Ansicht kommt in der Vorstellung vom Dreieck des Wohlbefindens zum Ausdruck, das neuronale Integration, empathische Beziehungen und einen kohärenten Geist umfasst. Wie wir aus dieser Liste ersehen können, schafft die neuronale Integration aus der inneren und der gegenseitigen Einstimmung die Voraussetzungen dafür, dass Kohärenz und Empathie im Leben einer Person ihren Platz finden können. Im Folgenden finden Sie eine Übersicht der neun Funktionen des mittleren Präfrontals und einen Auszug aus den Untersuchungen und Rezensionen, die direkt oder indirekt die Annahme stützen, dass diese Funktionen mit der integrativen Aktivität dieser Bereiche übereinstimmen.
426
Anhang III
Die neun Funktionen des mittleren Präfrontals (mit ausgewählten Literaturhinweisen)
1.
Körperregulation
Critchley, H. D., Mathias, C. J., Josephs, O., O'Doherty, J., Zanini, S., Dewar, B.K., Cipolotti, L., Shallice, T., & Dolan, R. J. (2003). Human cingulate cortex and automatic control: Converging neuroima-ging and clinical evidence. Brain, 126, S. 2139-2152. Lane, R. D., Reiman, E. M., Ahern, G. L., & Thayer, J. F. (2001). Activity in medial prefrontal cortex correlates with vagal component of heart rate viability during emotion. Brain Cogn, 47, S. 97-100. Nauta, W. H. H. (1971). The problem of the frontal lobe: A reinterpretation. J Psychiat Res, 8, S. 167-187. Ongiir, D., & Price, J. L. (2000). The organization of networks within the orbital and medial prefrontal cortex of rats, monkeys and humans. Cerebral Cortex, 10 (3), S. 206-219. Porrino, L. H., & Goldman-Rakic, P. S. (1982). Brainstem innervation of prefrontal and anterior cingulate cortex in the rhesus monkey revealed by retrograde transport of HRP. Journal of Comparative Neurology, 205, S. 63-67.
2. Eingestimmte Kommunikation Bar-On, R., Tranel, D., Denburg, N. L., & Bechara, A. (2003). Exploring the neurological substrate of emotional and social intelligence. Brain, 126, S. 1790-1800. Beer, J. S., Heerey, E. A., Keltner, D., Scabini, D., & Knight, R. T. (2003). The regulatory function of self-conscious emotion: Insights from patients with orbitofrontal damage. Journal of Personality and Social Psychology, 85 (4), S. 594-604. Mah, L. W. Y., Arnold, M. C, & Grafman, J. (2005). Deficits in social
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
427
knowledge following damage to ventromedial prefrontal cortex. J. Neuropsychiatry Clin Neurosci, 17, S. 66-74. Nitschke, J. B., Nelson, E. E., Rusch, B. D., Fox, A. S., Oakes, T. R., & Davidson, R. J. (2004). Orbitofrontal cortex tracks positive mood in mothers viewing pictures of their newborn infants. Neuroimage, 21, S. 583-592. Schore, A. N. (2003). Affect dysregulation and disorders of the self New York: W. W. Norton. Trevarthen, C. (2001). Intrinsic motives for companionship in understanding: Their origin, development and significance for infant mental health. Journal of Infant Mental Healthy 2 (1-2), S. 95-131.
3. Emotionale Ausgeglichenheit Blumberg, H. P., Leung, H.-C., Skuklarski, P., Lacadie, B. S., Fredericks, C. A., Harris, B. C., Charney, D. S., et al. (2003). A functional magnetic resonance imaging study of bipolar disorder: State- and trait-regulated dysfunction in ventral prefrontal cortices. Archives of General Psychiatry, 60, S. 601-609. Bush, G., Luu, P., & Posner, M. I. (2000). Cognitive and emotional influences in anterior cingulate cortex. Trends Cogn Sei, 4, S. 215-222. Davidson, R. J., Jackson, D. C., & Kalin, N. H. (2000). Emotion, plasticity, context, and regulation: Perspectives from affective neuroscience. Psychological Bulletin, 126(6), S. 890-909. Happaney, K., Zelazo, P. D., Stuss, D. T. (2004). Development of orbitofrontal function: Current themes and future directions. Brain and Cognition, 55, S. 1-10. Phan, K. L., Wager, T., Taylor, S. E., & Liberzon, I. (2002). Functional neuroanatomy of emotion: a meta-analysis of emotion activation studies in PET and fMRI. Neuroimage, 2, S. 331-348. Tucker, D. M., Luu, P., & Pribram, K. H. (1995). Social and emotional self-regulation. Annals of the New York Academy of Sciences, 769 (1), S. 213-239.
428
Anhang III
4. Reaktionsflexibilität Carter, C. S., Botvinick, M., & Cohen, J. D. (1999). The contribution of the anterior cingulate cortex to executive processes in cognition. Rev Neurosci, 10, S. 49-57. Chambers, C. D., Bellgrove, M. A., Stokes, M. G., Henderson, T. R., Gara-van, H., Robertson, I. H., Morris, A. P., & Mattingley, J. B. (2006). Executive "brake failure" following deactivation of human frontal lobe. J Cogn Neurosci, 18, S. 444-455. Fellows, L. K. (2004). The cognitive neuroscience of human decision making: A review and conceptual framework. Cogn Neurosci Rev; 3 (3), S. 159-172. Gehring, W. J., & Fencsik, D. E. (2001). Functions of the medial frontal cortex in the processing of conflict and errors. J Neurosci, 21, S. 9430-9437. Gottfried, J. A., O'Doherty, J., & Dolan, R. J. (2003). Encoding predictive reward value in human amygdala and orbitofrontal cortex. Science, 301 (5636), S. 1104-1107. Schoenbaum, G., &C Setlow, B. (2001). Integrating orbitofrontal cortex into prefrontal theory: Common processing themes across species and subdivisions. Learning and Memory, 8 (3), S. 134-147. Turken, A. U., & Swick, D. (1999). Response selection in the human anterior cingulate cortex. Nat Neurosci, 2, S. 920-924.
5. Empathie Carr, L., Iacoboni, M., Dubeau, M. C., Maziotta, J. C., & Lenzi, G. L. (2003). Neural mechanisms of empathy in humans: A relay from neural systems for imitation to limbic areas. PNAS, 100 (9), S. 5497-5502. Decety, J., & Jackson, P. L. (2004). The functional architecture of human empathy. Behavioral and Cognitive Neuroscience Reviews, 3 (2), S. 71-100.
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
429
Heisel, A. D., & Beatty, M. J. (2006). Are cognitive representations of friends' request refusals implemented in the orbitofrontal and dorsolateral prefrontal cortices? A cognitive neuroscience approach to 'theory of mind' in relationships. Journal of Social and Personal Relationships, 23, S. 249-265. Shamay-Tsoory, S. G., Tomer, R., Berger, B. D., Goldsher, D., & AharonPeretz, J. (2005). Impaired "affective theory of mind" is associated with right ventromedial prefrontal damage. Cog Behav NeuroU 75, S. 55-67. De Waal, F. B. M., & Preston, S. D. (2002). Empathy: Its ultimate and proximate bases. Behavioral and Brain Sciences, 25, S. 1-20.
6. Einsicht (sich selbst kennendes Gewahrsein) Beer, J. S., John, O. P., Daonatella, S., & Knight, R. T. (2006). Orbito-frontal cortex and social behavior: Integrating self-monitoring and emotioncognition interactions. Journal of Cognitive Neuroscience, 18, S. 871-879. Beitman, B. D., & Nair, J. (Hrsg.) (2005). Self awareness deficits in Psychiatric patients: Assessment and treatment. New York: W. W. Norton. Frith, C. D., & Frith, U. (1999). Interacting minds - A biological basis. Science, 286(5445), S. 1692-1695. Wood, J. N., Knutson, K. M., & Grafman, J. (2005). Psychological structure and neural correlates of event knowledge. Cerebral Cortex, 75, S. 1155-1161.
7. Angstmodulation Hariri, A. R., Mattay, V. S., Tessitore, A., Fera, F., & Weinberger, D. R. (2003). Neocortical modulation of the amygdala response to fearful Stimuli. Biological Psychiatry, 53 (6), S. 494-501. Phelps, E. A., Delgado, M. R., Nearing, K. I., & LeDoux, J. E. (2004). Extinction learning in humans: Role of the amygdala and vmPFC. Neuron, 43, S. 897-905.
430
Anhang III
Morgan, M. A., Schulkin, J., & LeDoux, J. E. (2003): Ventral medial pre-frontal cortex and emotional Perseveration: The memory for prior extinction training. Behav Brain Res, 146, S. 121-130. Sotres-Bayon, E, Christopher, K., Cain, C. K., & LeDoux, J. E. (2006). Brain mechanisms of fear extinction: Historical perspectives on the contribution of prefrontal cortex. Biol Psychiatry, 60, S. 329-336.
8. Intuition Critchley, H. D., Mathias, C. J., & Dolan, R. J. (2001). Neuroanatomical correlates of first- and second-order representation of bodily states. Nat Neurosci, 2, S. 207-212. Damasio, A. R. (1994). Descartes error. New York: Grosset / Putnam. - Dt.: Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List, 1995. Damasio, A. R. (1999). The feeling of what happens: Body and emotion in the making of consciousness. Orlando, FL: Harcourt Brace - Dt.: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München: List, 2000. Lieberman, M. D. (2000). Intuition: A social cognitive neuroscience approach. Psychological Bulletin C126(1), S. 109-137.
9. Moral Anderson, W. W., Bechara, A., Damasio, H., Trandel, D., & Damasio, A. R. (1999). Impairment of social and moral behavior related to early damage in human prefrontal cortex. Nat Neurosci, 2, S. 1032-1037. Bechara, A., Damasio, H., & Damasio, A. R. (2000). Emotion, decisionmaking, and the orbitofrontal cortex. Cerebral Cortex, 10 (3), S. 295-307. Greene, J. D., Nystrom, L. E., Engell, A. D., Darley, J. M., & Cohen, J. D. (2004). the neural bases of cognitive conflict and control in moral judgment. Neuron, 44(2), S. 389-400. King, J. A., Blair, J. R., Mitchell, D. G. V., Dolan, R. J., & Burgess, N.
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
431
(2006). Doing the right thing: A common neural circuit for appropriate violent or compassionate behavior. Neuroimage, 30 (3), S. 1069-1076. Moll, J., de Oliveira-Souza, R., Eslinger, P. J., Bramati, I. E., Mourao-Miranda, J., Andreiuolo, P. A., & Pessoa, L. (2002). The neural correlates of moral sensitivity: A functional magnetic resonance imaging investigation of basic and moral emotions. Journal of Neuroscience, 22 (7) S. 2730-2736.
Lateralität Im Textteil sprechen wir über verschiedene Aspekte der Gehirnforschung, die sich mit dem Wesen der Lateralität beschäftigen. An dieser Stelle möchte ich hervorheben, wie wichtig es ist, das Maß an Komplexität zu würdigen, das bei der Durchführung von Studien zum Gehirn im Allgemeinen und bei Fragen der Asymmetrie im Besonderen deutlich wird. Ein methodisches Problem ist darin zu sehen, dass bildgebende Verfahren (funktionelle Magnetresonanztomografie [fMRI] und Positronenemissionstomografie [PET] sehr schwer auszuwerten sind. Die technische Seite der Auswertung des Aktivierungsgrads und die statistischen Methoden, die verwendet werden, um diese Unterschiede zu erfassen, können zu recht unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen. Davidson und seine Kollegen (Davidson et al. 2003) haben diese Probleme angesprochen und sich bemüht, Auswirkungen von Lateritalität unter Verwendung einer vorsichtigen Herangehensweise an ihre Ergebnisse zu klären. Im Allgemeinen müssen wir jedoch bei der Interpretation von Forschungsresultaten in Bezug auf die Lateralität zurückhaltend bleiben. Ein weiteres Problem, dessen man sich bewusst sein sollte, ist darin zu sehen, dass es auch innerhalb einer Hemisphäre viele wichtige Regionen mit funktionellen Unterschieden gibt, so dass zu sagen, „die linke Seite ist aktiv", nicht so eindeutig und spezifisch ist, wie es vom Wortlaut her erscheinen mag. Wir haben die Begriffe „linker Modus" oder „rechter Modus" verwendet, um Muster der
432
Anhang III
Informationsverarbeitung zu kennzeichnen, statt den Fokus auf die strikte Lateralität der an einer Aufgabe beteiligten Strukturen zu richten. Zum Beispiel kann ein Sektor des linken vorderen Stirnlappenareals aktiv sein, während ein anderer Teil des rechten ebenfalls aktiv ist. Die Gehirnfunktionen als Gesamtsystem und viele verschiedene Regionen können unterschiedliche Aktivität zeigen, die nicht dadurch bestimmt wird, auf welcher Seite des Gehirns sie sich befinden. Zum Beispiel gibt es anscheinend nicht sehr viele Überschneidungen (obwohl einige vorkommen können) zwischen linkshemisphärischen Regionen, die an Annährung und positiven Affekten beteiligt sind, und denjenigen, die bei der Produktion gesprochener Sprache aktiv sind (Richard Davidson, persönliche Mitteilung, August 2006). So sollten wir nicht annehmen, dass wir, weil wir uns in einem „Annäherungszustand" befinden, bei dem eine Verschiebung der elektrischen Aktivität zur linken Seite hin stattfindet, dadurch zwangsläufig auch unsere verbalen Zentren ankurbeln, aktiv zu werden. Insgesamt ist es hilfreich, sich die Integration, wie wir bereits erörtert haben, als wichtigen neuronalen Mechanismus vorzustellen, der das Auftauchen komplexer Funktionen ermöglicht. Innerhalb einer bestimmten Hemisphäre und zwischen der linken und rechten Seite könnte das Verbinden getrennter Bereiche ein Schlüsselprozess sein, den man im Auge behalten sollte, wenn es darum geht, Entsprechungen zwischen der Neuraifunktion und der geistigen Erfahrung zu suchen.
Resonanzschaltkreise und Spiegelneuronen Im Verlauf des Textes sprechen wir über die mögliche Rolle der sozialen Schaltkreise des Gehirns bei der Erfahrung der Achtsamkeit. Die Vorstellung, dass innere Einstimmung für das achtsame Gewahrsein von zentraler Bedeutung ist, lässt die Vorstellung aufkommen, dass wir unserer geistigen Erfahrung ganz direkt Aufmerksamkeit schenken: Wir werden uns des Gewahrseins gewahr und widmen uns der Intention. Als wir untersucht haben, wie es uns gelang, uns auf unsere
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
433
eigene Intention zu konzentrieren, haben wir uns Untersuchungen über die neuronalen Korrelate der Intention zugewandt und sind so zu der wichtigen Entdeckung des Spiegelneuronensystems gelangt, Spiegeleigenschaften im Nervensystem werden im Wesentlichen als die Arten und Weisen definiert, in denen unser soziales Gehirn Prozesse durchläuft, bei denen es die absichtlichen, zielgerichteten Handlungen anderer wahrnimmt und diese Wahrnehmung mit der Ankurbelung der motorischen Systeme, sich auf dieselbe Handlung einzulassen, verbindet. Dies ist die Ableitung des Begriffs „Spiegelneuron", in dem Sinne, dass wir das, was wir sehen, vorbereiten zu tun - die Handlungen anderer in unseren eigenen Verhaltensweisen zu spiegeln. Wir haben die neuronalen Korrelate des Wahrnehmens von Intentionen in anderen besprochen und wie sich das möglicherweise in das Selbst-Gewahrsein der eigenen Intention übertragen ließe, die im Kern der Achtsamkeit steht. Indem wir diese „Spiegel-Neuronen-Achtsamkeits-Hypothese" aufstellen, greifen wir auf den weiter gehenden Vorschlag zurück, dass die Achtsamkeit eine Form der inneren Einstimmung sei, die sich die sozialen Schaltkreise im Gehirn zunutze mache. Die Forschung kann sich bemühen, die Gültigkeit dieser Perspektive zu überprüfen, mit spezifischen Punkten, wie sie im Text vorgeschlagen werden. Als ich mich den bereits bestehenden Forschungsdaten zuwandte, habe ich respektvoll vorläufige Belege aufgespürt (diese wurden post hoc, das heißt nachträglich gesammelt, da dieser Vorschlag nicht das war, was die Forscher untersucht hatten), die zumindest einen kleinen Hinweis darauf geben konnten, dass es irgendeine empirische Stütze für diesen Standpunkt gab. Meine persönliche Erfahrung schien sich mit dieser Einstimmungshypothese vereinbaren zu lassen; jetzt suchte ich nach Belegen Dritter, die diesen Ideen ebenfalls Glaubwürdigkeit verleihen sollten. Letztlich müssen zukünftige Untersuchungen ein weitsichtiges Projekt schaffen, das mögliche Resultate postuliert und dann versucht, sie zu widerlegen, um herauszufinden, ob sie stichhaltig sind oder nicht. Dies sollte in der natürlichen Abfolge von Forschungsplanung, Durchführung und Datenanalyse stattfinden.
434
Anhang III
Im Hinblick auf bestehende Untersuchungen, wie sie im Text erörtert wurden, stimmte eine Reihe von Ergebnissen mit Bereichen bekannter Spiegelneuroneneigenschaften überein, die während der Meditation aktiviert werden. Zum Beispiel stimmten sowohl das supplementär motorische Areal (Urry et al., 2004) in der Achtsamkeitsmeditation als auch die prämotorische Aktivierung bei der von dieser unterscheidenden objektlosen Metta-Meditation (Lutz et al., 2004) mit Spiegelneuronenarealen überein. „Übereinstimmen" bedeutet hier einfach, dass diese Ergebnisse eine Funktion der Aktivierung von Regionen mit Spiegeleigenschaften sein könnten, doch natürlich könnte es sich am Ende bei ihnen auch um etwas anderes als um Spie-gelneuronenaktivierungen handeln. Die Darstellungen von Brefczynski-Lewis (2006), Lazar (2006) und Short (2006) über die Achtsamkeitsmeditation mit Atembewusstsein zeigten jeweils eine Aktivierung der verwandten Region des oberen Temporalkortex. Dieser posteriore Bereich schien sich auf den Scans mit Bereichen zu überlappen, die als oberer Temporalgyrus (STG) und als oberer Temporalsulcus (STS) bezeichnet werden. Der Kortex im Allgemeinen besteht aus vielen Falten, wobei der vorstehende Bereich Gyrus (Hirnwindung) und die eingestülpte Region Sulcus (Furche, Rinne) genannt wird. Bereits existierende Untersuchungen (Iacobini et al., 2001) haben gezeigt, dass die Imitation eine mögliche Beziehung zu Arealen mit Spiegeleigenschaften und dem STS hatten, während andere Studien (Britton et al., 2006) auf die Rolle des STG bei der Reaktion auf emotionale Gesichtsausdrücke hingewiesen haben. Bei der gegenseitigen Einstimmung reagieren wir auf Gesichtsausdrücke, was die Frage nach einer möglichen Überschneidung zwischen dieser Funktion des Gyrus bei der Wahrnehmung von Gesichtszügen und den eher nachahmenden Aspekten der Einstimmung des Sulcus aufwirft:. Natürlich sind weitere Untersuchungen notwendig, um die Rollen des oberen Schläfenlappens bzw. des Sulcus oder Gyrus bei der Achtsam-keitsmeditation und ihre möglichen Entsprechungen mit den Prozessen der Einstimmung und des Spiegeins auseinander zu dividieren. Decety und Chaminades Rezension (2003) der Untersuchungen zur Rolle des STG zeigen, dass dieser Bereich beteiligt ist an der
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
435
visuellen Wahrnehmung sozial bedeutungsvoller Körpergesten sowie an der Beobachtung von Handlungen, die biologische Komponenten beinhalten, wie die Wahrnehmung biologischer Bewegung, ähnlich wie beim STS, und darüber hinaus die Wahrnehmung von Sprache und menschlichen Klangbewegungen. Sie führten aus, dass das STG ein Teil des Temporalkortex sei, der ein wichtiger Bestandteil eines an der sozialen Kognition beteiligten Schaltkreises sei (der durch direkte und indirekte Verbindungen Input aus den ventralen und dorsalen visuellen Strömen erhält, ebenso wie aus der Amygdala, dem Orbitofrontalkortex und dem Präfrontalkortex). Dieser Aktivitätscluster wurde in beiden Hemisphären festgestellt, wenn man die Bedingungen des Nachahmens und des Nachgeahmtwerdens mit derjenigen des Selbsthandelns vergleicht. Diese Lateralisierung im STG ist ein faszinierendes Ergebnis und könnte ein Teil der neuronalen Basis sein, die durch die visuelle Modalität an der Unterscheidung zwischen Informationen in der ersten Person und der dritten Person beteiligt ist. Wir gehen davon aus, dass der rechte STG an der echten Analyse der Handlungen des anderen beteiligt sein könnte, während die linke Region an der Analyse der Handlungen des anderen im Zusammenhang mit der Intention des Selbst beteiligt sein könnte. (S. 587) Hier sehen wir, dass das STG eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Repräsentationen des Selbst, des anderen sowie von intentionalen Zuständen selbst zu spielen scheint. Im Allgemeinen scheint der obere Temporalkortex eine wichtige Rolle dabei zu spielen, wie wir dazu gelangen, ein Gespür für unsere innere Welt zu haben und Intentionen auf die ständigen Erfahrungen zu „projizieren". Ein wichtiges Thema, auf das Marco Iacoboni hinweist (persönliche Mitteilung im September 2006), ist, dass STS und STG sensorische Bereiche höherer Ordnung sind, die Neuronen mit komplexen visuellen, auditiven und multisensorischen Eigenschaften enthalten,
436
Anhang III
sie jedoch keine motorischen Eigenschaften haben. Aufgrund dieser nichtmotorischen Merkmale können sie nicht als „Spiegel" angesehen werden, da die Definition eines Spiegelneurons mit der Beteiligung der eigenen Handlungen beginnt, so dass ein Spiegelneuron motorische Eigenschaften haben muss. In Iacobonis Veröffentlichung über Nachahmung (2005) unterscheidet er aus genau diesem Grunde sehr klar die parietalen und inferioren frontalen Spiegelneuronenregionen von den Nachahmungsbeiträgen des STS. Durch die Verwendung der Begriffe Spiegelneuronensystem oder Spiegelneuronen drängt uns Iacoboni, uns in unserer Sprache darüber im Klaren zu sein, dass diese Ausdrücke sich auf die Neuronen beziehen, die speziell motorische Eigenschaften haben. Unmittelbar mit diesen Spiegelneuronbereichen verbunden sind die oberen Temporalregionen, in denen komplexe Wahrnehmungsprozesse stattfinden, unter anderem die Abbildung der Vorhersage der Folgen motorischen Handelns, also das, was wir in diesem Buch als SIMA (sensorische Implikationen motorischen Handelns) bezeichnet haben. Auf diese Weise ist der SIMA-Beitrag der oberen Temporalregion Teil eines in funktioneller Hinsicht komplexen Prozesses, bei dem sich verschiedene Schaltkreise direkt miteinander verbinden. Obwohl andere Autoren diesen verbundenen Wahrnehmungsschaltkreis als Teil des Spiegelneuronensystems auffassen könnten, werden wir hier Iacobonis Vorschlag folgen und „eine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Systemen treffen, die direkt miteinander kommunizieren (persönliche Mitteilung im September 2006). Bei einer weiteren Durchsicht der Literatur scheint es so zu sein, dass der Prozess der Verhaltensnachahmung unter Beteiligung der oberen Temporalregionen und der emotionalen bzw. physiologischen Resonanz an der die Inselrinde beteiligt ist, parallele Beziehungen zu den Spiegelneuronen hat. Bei der Nachahmung scheinen die oberen Temporalregionen für den komplexen SIMA-Prozess zu kodieren; bei der emotionalen Resonanz hingegen sorgt die Inselrinde für physiologische und affektive Verschiebungen, die jenen ähneln, die in einer anderen Person wahrgenommen werden. Aufgrund dieser Parallelfunktion bei wechselseitigem Tun (nachahmend, physiologisch, affektiv) können wir den Begriff „Resonanzschaltkreis" prägen, der
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
437
unmittelbar die Spiegelneuronen einbeziehe, auch wenn nicht alle seine Bestandteile motorisch sind, so dass er nicht als „Spiegel" auf diese formale Weise gekennzeichnet werden sollte. Bei unserer Erörterung haben wir diese Unterscheidung gewürdigt und beziehen uns auf diesen Resonanzschaltkreis, indem wir diesen Begriff entweder direkt verwenden oder von Bereichen sprechen, die „mit dem Spiegelneuronensystem verbunden sind" (siehe Abbildungen A.1 und A.2).
Abbildungen A.1 und A.2 Scans, die während einer Atembewusstseinsmeditation mit funktionellen hildgebenden Verfahren erstellt wurden, zeigen die Aktivierung des oberen temporalen Gyrus (Abbildung A.l ) sowie die Aktivierung der Inselrinde und des ventralen leils lies anterioren (iingulums (Abbildung A.2). Der obere Temporalkortex, die Inselrinde und die (Iiier gezeigten) Bereiche des mittleren Präfrontalkortex sind diesem lexi zufolge Elemente des „Resonanzschaltkreises", der durch das aktive Ciewahrsein aktiviert werden könnte. (Neuabdruck der Bilder mit ausdrücklicher G e n e h m i g u n g von Sara Lazar © 2 0 0 7 . )
438
Anhang III
Um den wissenschaftlichen Hintergrund des Gesagten noch ein wenig eingehender zu erforschen, möchte ich Ihnen eine weitere Sichtweise von Carr und seinen Kollegen (2003) anbieten. In ihrer Zusammenfassung der Beziehungen zwischen Nachahmung, Empathie und den verschiedenen frontalen und parietalen Spiegelneuronenbereichen und deren Beziehung zu den multimodalen Wahrnehmungssystemen des oberen Temporalkortex heißt es (bitte lesen Sie die Originalveröffentlichung für spezifische Literaturhinweise, die aus diesem verdichteten Zitat entfernt wurden): Im Primatengehirn stehen neuronale Systeme mit Emotionen und Handlungsrepräsentation in Verbindung. Das limbische System ist für die emotionale Verarbeitung und das Verhalten entscheidend, und der Schaltkreis frontoparietaler Netzwerke, der mit dem oberen Temporalkortex interagiert, ist für die Handlungsrepräsentation von entscheidender Bedeutung. Dieser letzte Schaltkreis besteht aus inferioren frontalen und posterioren Parietalneuronen, die während der Ausführung und auch der Beobachtung einer Handlung feuern (Spiegelneuronen und die superioren Temporalneuronen, die nur während des Beobachtens einer Handlung feuern). Anatomische und neurophysiologische Daten im nichtmenschlichen Primatenhirn und bildgebende menschliche Daten legen nahe, dass dieser Schaltkreis fiir die Nachahmung ausschlaggebend ist und dass innerhalb dieses Schaltkreises die Informationsverarbeitung wie folgt fließen würde: (1) Der obere Temporalkortex kodiert eine frühe visuelle Beschreibung der Handlung und sendet diese Informationen an die posterioren parietalen Spiegelneuronen (dieser privilegierte Informationsfluss aus dem oberen Temporal zum posterioren Parietal wird durch die stabilen anatomischen Verbindungen zwischen oberem Temporal- und posterioren Parietalkortex unterstützt). (2) Der posteriore Parietalkortex kodiert den genauen kinästhetischen Aspekt der Bewegung und schickt diese Information an inferiore frontale Spie-
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
439
gelneuronen (anatomische Verbindungen zwischen diesen beiden Regionen sind beim Affen gut dokumentiert). (3) Der inferiore Frontalkortex kodiert das Ziel der Handlung [sowohl neurophysiologische und bildgebende Daten unterstützen diese Rolle der frontalen Spiegelneuronen]. (4) Efferente Kopien der motorischen Pläne werden von den parietalen und frontalen Spiegelbereichen zurück zum superioren Temporalkortex geschickt, so dass ein Abgleichungsmechanismus zwischen der visuellen Beschreibung der beobachteten Aktion und den vorhergesagten sensorischen Folgen der geplanten nachahmenden Handlung auftreten kann. (5) Sobald die visuelle Beschreibung der beobachteten Aktion und die vorhergesagten sensorischen Folgen der geplanten nachahmenden Handlung abgeglichen sind, kann die Nachahmung initiiert werden. (S. 5497) Die geplante „nachahmende Aktion", die abgeglichen wird, ist das, was wir uns unter Resonanz vorstellen - die Abgleichung erfolgt für Verhaltensweisen bei der Nachahmung, für Affekt im Mitgefühl und in unserem Vorschlag für mentale Kohärenz mit einer Form der inneren Abstimmung, die aus der Resonanz mit dem Selbst entsteht. Im Wesentlichen interagieren diese oberen Temporalregionen direkt mit den motorischen Spiegelneuronen bzw. den Wahrnehmungen verarbeitenden Spiegelneuronen als Teil des SIMA-Prozesses, wie er detailliert in Kapitel 8 (siehe Abbildung 8.1) besprochen wird. SIMA könnte ein Aspekt der inneren Einstimmung sein, der einen inneren resonanten Zustand erzeugt, wenn wir uns um unsere Intentionen kümmern. Diese Schaltkreise, die dazu dienen, sich anderer und der eigenen Prozesse bewusst zu werden, werden von Decety und Chaminade (2003) weiter ausgeführt: Durch Neuroimaging-Studien wird energisch die Ansicht bekräftigt, dass es bei der Beobachtung von Handlungen, die durch andere Individuen produziert werden, und
440
Anhang III
während der Vorstellung eigener Handlungen zu einer spezifischen Beteiligung derjenigen neuronalen Strukturen kommt, die normalerweise an der tatsächlichen Erzeugung derselben Handlungen beteiligt wären. Das Modell gemeinsamer Repräsentationen könnte auch für die Verarbeitung von Emotionen angewendet werden (Adolphs 2002). In diesem Modell würde die Wahrnehmung von Emotionen dieselben neuronalen Mechanismen aktivieren, die auch für die Erzeugung von Emotionen zuständig sind. Ein solcher Mechanismus würde den Beobachter veranlassen, mit dem Zustand eines anderen Individuums zu resonieren, wobei der Beobachter die motorischen Repräsentationen aktivieren würde, die den beobachteten Stimulus ausgelöst haben, d.h., es würde eine Art umgekehrter Kartierung stattfinden. Während der Beobachter zum Beispiel jemanden beim Lächeln beobachtet, würde er auf einer unterschwelligen Ebene dieselben Gesichtsmuskeln aktivieren, die an der Produktion eines Lächelns beteiligt sind, und das würde das entsprechende Gefühl von Glück im Beobachter erzeugen. Es gibt Beweise für diesen Mechanismus im Erkennen von Emotionen anhand des Gesichtsausdrucks. Insgesamt hat man gemeinsame Repräsentationen auf der kortikalen Ebene bei Handlungen, Schmerzverarbeitung und dem Erkennen von Emotionen festgestellt, was uns eine neu-rophysiologische Grundlage für die Funktion der sozialen Kognition geben würde. (S. 594) In diesem Werk schlagen wir vor, dass derselbe sozial-kognitive Schaltkreis für die „intrapersonale Resonanz" der Achtsamkeit genutzt wird, wie es zum Beispiel geschieht, wenn wir Mitgefühl und Empathie für andere empfinden. Wir können davon ausgehen, dass dies auch eine Form der Empathie mit sich selbst beinhaltet; eine, die wie die Empathie selbst komplexer ist als Nachahmung oder Resonanz, wie sie von Decety und Jackson (2004) erforscht wurde, als sie darlegten, dass
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
441
Empathie keine einfache Resonanz des Affekts zwischen dem Selbst und anderem ist. Sie beinhaltet eine explizite Repräsentation der Subjektivität des anderen. Sie ist ein bewusst erlebtes Phänomen. Und was am wichtigsten ist, die Empathie benötigt auch die Emotionsregulierung, bei der der ventrale Präfrontalkortex mit seinen starken Verbindungen zum limbischen System, dem dorsolateralen und dem medialen Präfrontalbereich eine wichtige Rolle spielt. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass wir nicht annehmen, dass es ein einheitliches Empathiesystem (oder -modul) im Gehirn gibt. Vielmehr ziehen wir in Betracht, dass vielfache dissoziierbare Systeme an der Erfahrung von Empathie beteiligt sind. (S. 93) Auf dieselbe Weise sehen wir, wenn wir einen „Resonanzschaltkreis" beschreiben, zu dem nicht nur Spiegelneuronen plus Inselrinde und den oberen Temporalregionen gehören, auch, dass es sich hierbei um ein dezentralisiertes System handelt, das wahrscheinlich auch Aspekte des Präfrontalkortex, insbesondere die mittleren Bereiche, einschließt. Bemerkenswert ist eine in diesem Werk besprochene Studie von Creswell, Way, Eisenberger und Lieberman (eingereicht), die gezeigt hat, dass Individuen mit Achtsamkeitsmerkmalen bei einer Aufgabe, in der sie die Emotionen benannten, während sie einen affektiven Gesichtsausdruck sahen, eine stärkere Aktivierung als Kontrollen in zwei Regionen hatten - dem rechten ventrolateralen PFC und dem medialen PFC. Diese Aktivierungen waren mit einer Verringerung der AmygdalaAktivierung verbunden, die auf das anfängliche Anblicken der Gesichter folgte. Die Autoren gehen davon aus, dass sich die Achtsamkeitsfertigkeit des Benennens innerer Zustände in der stärkeren Präfrontalaktivierung und der damit einhergehenden verringerten AmygdalaAktivierung zeigen könnte. Diese Studie erweitert die Forschungsergebnisse von Hariri, Bookheimer und Maziotta (2000), wie sie im Text erwähnt wurden, und zwar in dem Sinne, dass festgestellt wurde, dass die Benennung zu einem ähnlichen Profil präfrontaler Aktivierung und Amygdala-Deaktivierung führte. Hier sehen wir, dass die Achtsamkeit als Charaktermaßstab mit effektiver Affektregulierung zusammenhängt.
442
Anhang III
Zusammengenommen deuten diese unterschiedlichen Sichtweisen darauf hin, dass Empathie für andere erfordern könnte, dass wir in der Lage sind, unsere eigenen Resonanzzustände zu modulieren, so dass wir nicht zu der anderen Person werden, sondern stattdessen ihre subjektiven Erfahrungen fühlen. Achtsamkeitsfertigkeiten könnten diese Fähigkeit sehr verbessern, indem sie gleichzeitig unseren Resonanzschaltkreis (für erhöhtes Mitgefühl und Empathie) und unsere präfrontalen, sich selbst regulierenden Schaltkreise (für die Affektregulation) aufbauen. Das Ergebnis wäre eine verbesserte Fähigkeit, offen gegenüber anderen zu bleiben, selbst wenn wir mit ihrem Leiden konfrontiert werden. Achtsames Gewahrsein selbst könnte sich diese Resonanzschaltkreise (Inselrinde, oberer Temporalbereich, Spiegelneuronen und mittlerer Präfrontalbereich) und die sich selbst regulierenden Schaltkreise (insbesondere den orbitomedialen und den ventrolateralen Präfrontalkortex) zunutze machen, indem es einen Zustand von SelbstEmpathie erzeugt, der aus der inneren Einstimmung entsteht. Wenn wir mit unseren eigenen intentionalen und affektiven Zustän-den resonieren und dies mit den reflektiven Fähigkeiten der Selbstbeobachtung und des Benennens kombinieren, dann können wir unsere Verbindung uns selbst und anderen gegenüber stärken. Insgesamt werfen diese Ideen viele zu untersuchende Fragen auf, die in zukünftigen Projekten erforscht werden können. Wenn Einstimmung für die Achtsamkeit elementar ist, dann könnten wir ihre Entsprechungen in der Gehirnfunktion in Bereichen erforschen, die zum sozialen Schaltkreis gehören, einschließlich der Regionen, die mit dem Spiegelneuronensystem verbunden sind. Wir könnten auch erforschen, auf welche Weise die Anregung der neuronalen Aktivierung und des neuronalen Wachstums durch innere Einstimmung die Sensibilität dieser sozialen Schaltkreise erhöhen könnte, um so Licht auf einige der neuronalen Verbindungen zu werfen, die Berichte von erhöhter Sensibilität für die Signale anderer und die Fähigkeit der Achtsamkeit, Mitgefühl und Empathie zu erhöhen, begleiten.
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
443
Beziehungen und Achtsamkeit Die Diskussionen hinsichtlich des achtsamen Gewahrseins, die in diesem Buch erläutert wurden, legen nahe, dass die Fähigkeit, sich innerhalb eines resonanten Prozesses auf sich selbst einzustimmen, jene mentalen Fähigkeiten und die ihnen entsprechenden neuronalen Schaltkreise aktivieren könnte, die eine gesunde Beziehung zu anderen Menschen in einem persönlichen und beruflichen Umfeld unterstützen könnte. Die Einzelfallberichte von Achtsamkeitslehrern und Praktizierenden deuten daraufhin, dass dies der Fall ist. Was wissen wir aus der empirischen Forschung? In einer hervorragenden Rezension von Achtsamkeitsstudien geben Brown, Ryan und Creswell (im Druck) eine knappe und aufschlussreiche Zusammenfassung der empirischen Daten, die diese Einzelfallberichte stützen: Auch wenn die Beweise in diesem Untersuchungsfeld noch dürftig sind, legen vorläufige psychometrische und Interventionsforschungen nahe, dass Achtsamkeit sowohl die Qualität romantischer Beziehungen und die Kommunikation verbessern könnte, die in diesen Beziehungen vorherrscht. Barnes, Brown, Krusemark, Campbell & Rogge (im Druck) stellten fest, dass höhere MAAS-Merkmale höhere Beziehungszufriedenheit und größere Fähigkeiten bei „nicht unglücklichen" Liebespaaren prognostizierten, konstruktiv auf Beziehungsstress zu reagieren. Eine zweite Studie glich diese Ergebnisse ab und erweiterte sie. Unter Verwendung eines Konflikt-Diskussionsparadigmas prognostizierten Merkmals-MAAS-Punktzahlen geringere emotionale Stressreaktionen auf Konflikte, und dieser Effekt wurde mit geringerem emotionalem Stress vor der Diskussion erklärt. Das bekräftigt frühere Forschungen, die bereits überprüft wurden, die zeigen, dass jene Menschen, die von ihrer Disposition her achtsamer sind, allgemein weniger anfällig für negative Stimmungen sind, und außerdem, dass diese größere Anfälligkeit im spezifischen Kontext von romantischen
444
Anhang III
Paarinteraktionen offenkundig ist. Die Ergebnisse zeigten, dass Achtsamkeit nicht nur die Auswirkungen von Stress bei Konflikten abpufferte, sondern sogar dazu beitrug, gegen Stress immun zu werden. Die Fähigkeit der Achtsamkeit, die Reaktivität gegenüber Konflikten zu hemmen, war ebenfalls in den kognitiven Urteilen offensichtlich, die jeder Partner gefällt hatte: Diejenigen mit höheren Achtsamkeitsmerkmalen zeigten einen positiven Wechsel in der Wahrnehmung des Partners und der Beziehung im Anschluss an den Konflikt oder bevor dieser entstanden war. Diese Studie unterstützte außerdem die Wichtigkeit, einen achtsamen Zustand angesichts schwieriger Unterredungen herbeizuführen, da in jenem Zustand Achtsamkeit mit besserer Kommunikationsqualität verbunden war, wie durch Bewertungen objektiver Personen festgestellt wurde. Es scheint also empirische Belege dafür zu geben, dass das Merkmal der Achtsamkeit intime Beziehungen verbessert. Was hat die Forschung hinsichtlich der Interventionen zur Herbeiführung von Achtsamkeitszuständen gezeigt, die dann im Leben jener Person innerhalb einer Beziehung allgemeingültig werden? Brown, Ryan und Creswell (im Druck) sagen, dass die beginnende Interventionsforschung auch die segensreiche Rolle der Achtsamkeit in romantischen Beziehungen belegt hat. In Anpassung des MBSR-Programms an ein für Paare konzipiertes Programm namens „Beziehungsverbesserung durch Achtsamkeit" zeigten Carson, Carson, Gil und Baucom (2004; siehe auch Carson, Carson, Gil & Baucom, im Druck), dass, bezüglich Wartelistenkontrollen, Interventionspaare (alle in „nicht unglücklichen" Beziehungen) eine signifikant größere Beziehungszufriedenheit, Autonomie, Partnerakzeptanz und geringere persönliche und Beziehungsnot - in einer Anschlussstudie unmittelbar nach dem Test und drei Monate danach - zeigten. Die Untersuchungs-
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
445
ergebnisse wiesen außerdem darauf hin, dass ein Mehr an täglicher Achtsamkeitspraxis mit vielen dieser positiven individuellen und Paarergebnisse zusammenhing. Diese Autoren legen nahe, dass eine der Möglichkeiten, die bei der Achtsamkeit gegen Leiden hilft, in einem Annäherungszustand besteht, der sie darin unterstützt, mit den negativen Gefühlen umzugehen, die mit der potenziellen oder tatsächlichen Erfahrung von Verlust und sozialer Ausgrenzung einhergehen. Die Arbeit von Creswell, Eisenberger und Lieberman (in Vorbereitung) wird zitiert, in der Personen mit Achtsamkeitsmerkmalen weniger auf Ausgrenzung zu reagieren schienen. Hier ist Browns, Ryans und Creswells (im Druck) Zusammenfassung jener faszinierenden Arbeit, die noch im Gange ist: Studenten nahmen an einem virtuellen Ballwurfspiel mit zwei anderen „Teilnehmern" (in Wirklichkeit ein Computer) teil, während sie einer funktionellen Magnetresonanztomografie unterzogen wurden. Im ersten Aufgabenblock wurde der Teilnehmer in das Ballwurfspiel einbezogen, während er im zweiten Block aus der Mehrzahl der Würfe ausgeschlossen wurde. Nach der Aufgabe berichteten die Teilnehmer über ihre Wahrnehmungen von sozialer Ablehnung während des Ausschlusses. Die Ergebnisse zeigten, dass MAAS-bewertete Achtsamkeit eine als geringer wahrgenommene Zurückweisung vorhersagte. Des Weiteren wurde diese Verbindung teilweise durch eine reduzierte Aktivität im dorsalen anterioren Cingulumkortex (dACC) ausgelöst, einer Region, die bei sozialer Bedrängnis aktiviert wird. Bei der Untersuchung von Möglichkeiten, wie man professionelle Beziehungen und die Bedeutung von Achtsamkeit in der klinischen Ausbildung verbessern kann, bewerten Brown, Ryan und Creswell auch die Arbeit von Shapiro, Schwartz und Bonner (1998), die zeigt, dass Achtsamkeitserziehung Empathie verbessern kann: „Eine Studie mit Medizinstudenten (Shapiro, Schwartz & Bonner 1998) kam zu
Anhang
dem Ergebnis, dass bezüglich Wartelistenkontrollen diejenigen, die ein MBSR-Programm durchliefen, im Laufe der Zeit eine größere Empathie zeigten, trotz der Tatsache, dass die Bewertungen nach dem Kurs in der letzten Prüfungsphase gesammelt wurden, die mit hohem Stress einherging. Diese Ergebnisse zeigen eine Möglichkeit auf, die in zukünftigen Forschungen zu prüfen ist, nämlich, dass Achtsamkeit die Qualität beruflicher wie persönlicher Beziehungen verbessern könnte." Von Interesse ist auch das unveröffentliche Ergebnis (Jonas Kaplan, persönliche Mitteilung im Oktober 2006), dass selbst von den Teilnehmern bewertete Berichte von Empathie bei denjenigen Individuen höher waren, bei denen die funktionelle Magnetresonanztomografie eine höhere Spiegelneuronenaktivierung als Reaktion auf affektive Hinweise zeigte. So führen diese vorläufigen Daten zu der Ansicht, dass eine verbesserte Resonanzschaltkreisfunktion, zumindest der Spiegelneuronenregionen, mit Empathie und der Fähigkeit, sich auf andere einzustimmen, in Verbindung stehen könnte. Vielleicht zeigen diese Ergebnisse einen Weg auf, durch den Achtsamkeitsfertigkeiten die Verbindungen zwischen Menschen verbessern könnten. Insgesamt wird es hilfreich sein, weiter die Wege zu verstehen, in denen Achtsamkeit als erlernte Fertigkeit oder als inhärentes Merkmal des Individuums, das auf intrapersonaler Einstimmung beruht, dann Beziehungserfahrungen erzeugen könnte, die die Erfahrung gegenseitiger Einstimmung weiter verstärken. Es werden weitere Studien vonnöten sein, um zu erforschen, auf welche spezifische Art und Weise die Achtsamkeit das zwischenmenschliche Wohlbefinden unterstützt. Wird die Sensibilität für die nonverbalen Signale anderer verstärkt? Verbessert Achtsamkeit die Fähigkeit, mitfühlend zu sein, die Gefühle anderer zu fühlen, ebenso wie empathisch zu sein, den Standpunkt des anderen zu verstehen? Wir sind an diesem Punkt auf vorläufige empirische Befunde angewiesen, die den Eindruck bekräftigen, dass Achtsamkeit gesunde Beziehungen durch eine Reihe von Mechanismen nähren könnte, unter anderem erhöhte Empathie, emotionale Ausgeglichenheit, Reaktionsflexibilität und eine Geisteshaltung der Annäherung.
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
447
Entwicklungsbezogene Themen Wir haben gesehen, dass Achtsamkeit eine Fertigkeit ist, die gelehrt werden kann. Selbst bei Patienten mit bekannter genetischer Belastung, einhergehend mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, zeigte eine früher zitierte Pilotstudie (Zylowska et al., eingereicht), die in Verbindung mit unserem Mindful Awareness Research Center entstand, dass Verbesserungen bei der Aufmerksamkeit erzielt werden können. Unveröffentlichte Forschungsergebnisse der Universität Kalifornien in Los Angeles (UCLA) von Way, Creswell, Eisenberger und Lieberman (2006) scheinen darauf hinzuweisen, dass die Veranlagung zum Charakterzug der Aufmerksamkeit mit einer genetischen Abweichung in einem bestimmten Neurotransmittersystem im Gehirn zusammenhängen könnte, von dem bekannt ist, dass es unter anderem individuelle Unterschiede in der Fähigkeit, aufmerksam zu sein, bewirkt. Die vorläufigen Befunde von Way und seinen Kollegen (2006) deuten an, dass die für das monoaminerge System verantwortlichen Gene, welches die Serotoninausschüttung reguliert (insbesondere die regulierende Region des Monoaminooxidase-AGens [MAOA-Gen], teilweise mit dem Auftreten von Achtsamkeitsmerkmalen bei einem Individuum korrelieren könnten. Die Tatsache, dass diese genetische Abweichung mit Achtsamkeit korrespondieren könnte, überschneidet sich mit Untersuchungen, die auf seine Rolle bei der Selbstregulation und Aufmerksamkeit verweisen (Caspi, McClay, Moffitt, Mill, Martin & Craig et al. 2002; Manor, Tyano, Mel, Eisenberg, Bachner-Mel-man, Kotler & Ebstein 2002; Parasuraman & Greenwood 2004). Entwicklungsbezogene Studien zeigen darüber hinaus jedoch auch, dass sogar angesichts bekannter genetischer Varianten die optimale Erziehung des Kindes und günstige Erfahrungen zu Beginn des Lebens das Ergebnis positiv beeinflussen könnten (siehe Kagan 1994 für verhaltensgehemmte bzw. schüchterne Kinder, und Stephen Suomi 1997 für die Arbeit mit nichtmenschlichen Primaten). So hat für schüchterne Kinder mit Rückzugstendenz (rechtshemisphärische Reaktivität) die elterliche Einstimmung auf ihr Temperament und ihre Bedürfnisse ohne übermäßiges Behüten oder Mangel an Sensibilität zu einem
448
Anhang III
Annäherungs-Verhaltensmerkmal ohne Beklemmungen und Rückzug geführt, als sie älter wurden. Die Arbeit mit Primaten zeigt ähnliche Ergebnisse: Trotz des Vorhandenseins einer genetischen Abweichung, die Verletzlichkeit verleiht, können optimale Bindungserfahrungen eine Form von Verhaltens-,,Impfung" bedeuten, die jenen Individuen verhilft, aufzublühen. Das allgemeine Prinzip ist, dass eine sichere Bindung als Quelle von Resilienz dienen könnte, selbst wenn man sich genetischen Abweichungen gegenübersieht, die mit Risiken verbunden sind. Richard Davidson (2006) hat nahegelegt, dass nicht mehr als ein Viertel des affektiven Stils einer Person genetisch festgelegt ist. In einem nicht optimalen oder sogar ausgesprochen traumatischen Umfeld, das neurotoxischen Stress verursacht, könnte das Vorhandensein solcher genetischen Risikofaktoren weitaus negativere Entwicklungsfolgen bewirken als bei Kindern ohne solche genetischen Abweichungen. In dieser Hinsicht sehen wir, dass Gene und Erfahrung bei der Schaffung von Entwicklungsbahnen für die Persönlichkeit zusammenwirken. Achtsamkeit kann eines jener Merkmale sein, die sowohl in genetischer als auch in empirischer Hinsicht Spannkraft verleihen können. Diese Forschungsergebnisse implizieren auch, dass bei einigen Individuen konstitutionsbezogene Abweichungen vorhanden sein könnten, die zu höheren oder geringeren Graden an angeborenen Achtsamkeitsmerkmalen führen, und möglicherweise auch zu Variationen hinsichtlich ihrer Empfänglichkeit für gegenseitige Einstimmung oder für Interventionen, die intrapersonale Einstimmung fördern. Die oben zitierte Temperamentforschung und Erfahrungen in der Psychotherapie deuten jedoch an, dass die Einstimmung sowohl auf inter- als auch intrapersonaler Ebene zu signifikanten Veränderungen in der Entwicklung führen. Wichtig ist, dass angesichts genetischer Faktoren, die zu konstitutionellen Schwierigkeiten in Bezug auf Achtsamkeit führen, oder angesichts empirischer Faktoren, die Hindernisse für die Achtsamkeit produzieren, der Aufbau reflektiver Fähigkeiten wichtig sein und solchen Individuen wirksam dabei helfen könnte, die wichtigen Fähigkeiten der Selbstregulation und der intrapersonalen Einstimmung zu entwickeln. Die These dieses Vorschlags lautet, dass das Trainieren solcher reflektiver Fähigkeiten das Gehirn „verhaken"
Neurowissenschaftliche Anmerkungen
449
und die neuronale Integration fördern wird, insbesondere, wie sie von den mittleren Präfrontalbereichen als Teil des Resonanzkreislaufs vermittelt wird. Ein Beispiel für diese Argumentationslinie könnte sein, das potenziell genetisch bedingte Auftreten von manisch-depressiven Erkrankungen zu betrachten. Eine jüngere Arbeit von Hilary Blumberg und ihren Kollegen (Blumberg et al., 2004) deutet an, dass bei dieser Erkrankung ein Teil der mittleren Präfrontalregion, der ventrale Präfrontalkortex, abnormale hemmende Verbindungen zu den unteren limbischen Regionen hat, die affektive Zustände erzeugen. Die Zusammenfassung ihrer wichtigen Arbeit lautet wie folgt: Die Defizite bei der exekutiven Kontrolle von Emotionen und Impulsen des erwachsenen Manisch-Depressiven implizieren eine Beteiligung des Nervensystems des ventralen Präfrontalkortex (VPFC), der diesen Funktionen, einschließ-lich des VPFC und seiner subkortikalen Verbindungsstellen Amygdala, Striatum und Thalamus, förderlich sein kann. Unterschiede in der zeitlichen Regulierung der wichtigsten entwicklungsbedingten Strukturänderungen innerhalb dieses neuronalen Systems deuten darauf hin, dass Abnormitäten in bestimmten Bausteinen dieses Systems in kritischen Entwicklungsphasen im Laufe von Krankheiten auftreten können. Unsere neueren Daten aus der neurofunktionellen Bildgebung legen nahe, dass Abweichungen von der Norm in den subkortikalen Komponenten dieses neuronalen VPFC-Systems von der frühen Pubertät an bei manisch-depressiven Erkrankungen sichtbar sein könnten, während VPFC-Defizite im Laufe der Pubertät fortschreiten und vor der späten Adoleszenz oder dem frühen Erwachsenen-alter schwer zu entdecken sein könnten. Dieses potenzielle neuroentwicklungsbezogene Modell für die manisch-depressive Erkrankung könnte wichtige Implikationen für das Erkennen früher Anzeichen der Krankheit ebenso wie für altersspezifische Behandlungsstrategien haben.
450
Anhang III
In dem einzigen Fallbericht, der in unseren Erörterungen in diesem Text beschrieben wird (S. 348-349), könnte es sein, dass das Unterrichten von Achtsamkeitsfertigkeiten - trotz der potenziellen genetischen Belastung durch eine Familiengeschichte manisch-depressiver Erkrankungen - dem jungen Heranwachsenden die Möglichkeit gegeben hat, das geistige Training zu nutzen, um dieselben „anormalen" mittleren Präfrontalregionen zu entwickeln und zu stärken, die ihn in Gefahr hätten bringen können. Es können Interventionen gedanklich vorgestellt und praktisch ausgeführt werden, die diese Ideen über das achtsame Gehirn nutzen, um ein fokussiertes empirisches Training anzubieten, das bei der Entwicklung der mittleren Präfrontalbereiche helfen könnte, die ihrerseits Achtsamkeitskompetenzen und eine effektivere Selbstregulation von Emotionen und Impulsen unterstützen. In der Zukunft müssten sorgfältige Studien durchgeführt werden, um zu demonstrieren, dass ein solches geistiges Training der Schlüssel zur Verbesserung der Lebenserfahrungen bei diesem jungen Mann und anderen sein könnte, mit der vorweggenommenen Steigerung bei vielen Präfrontalfunktionen, über die wir im Text immer wieder gesprochen haben. Die wichtige Botschaft lautet, dass der Geist dazu genutzt werden kann, um das Funktionieren des Gehirns in einer erstaunlichen Vielzahl von Situationen zu verbessern, die zur Reduzierung von Leiden beitragen und Übungshandwerkzeuge für die Entwicklung bereitstellen können, die eine gesunde Selbstregulation im Leben vieler Menschen fördern. Wenn ich diese theoretische Synthese hier anbiete, dann geht meine Hoffnung dahin, dass sie uns helfen wird, in vielen Bereichen unseres Lebens, persönlichen wie beruflichen ebenso wie in pädagogischen, klinischen und akademischen Unternehmungen, weiter zusammenzuarbeiten, den Geist zu nähren und einen Beitrag zu einer wissenschaftlichen Grundlage für die Kultivierung des Wohlbefindens zu leisten.
Dank Worte können die Dankbarkeit, die ich gegenüber den vielen Menschen empfinde, die mich auf dieser Reise zur Erforschung des Geistes und zum Verstehen von Achtsamkeit begleitet haben, nur annähernd zum Ausdruck bringen. Sue Smalley, Lidia Zylowska, Sigi Haie, Shea Cunningham, Deborah Ackerman, David Creswell, Jonas Kaplan, Nancy Lynn Horton, Diana Winston und andere Kolleginnen und Kollegen vom UCLA Mindful Awareness Research Center sind eine großartige Quelle der Inspiration und des Lernens gewesen. Peter Whybrow, unser Leiter am Semel Institute for Neuroscience and Human Behavior, ist eine große Unterstützung dabei gewesen, Achtsamkeit in jenes akademische Umfeld hineinzubringen. An der Foundation for Psychocultural Research (FPR) des UCLA Center for Culture, Brain and Development habe ich das Glück gehabt, Teil eines Wissenschaftlerteams zu sein, das sich der Aufgabe widmet, die üblichen Grenzen zwischen den Disziplinen zu überschreiten, und ich bin Robert Lemelson von der FPR und meinen wichtigsten Mitforschern dort, Patricia Greenfield, Mirella Dapretto, Alan Fiske und John Schuman, für ihre stete Zusammenarbeit dankbar. Marco Iacoboni ist ebenfalls ein fabelhafter Kollege gewesen, mit dem ich klinische Ansichten über das Spiegelneuronensystem austauschen und an Schulungsprogram-
452
Dank
men für Therapeuten in diesem neu entstehenden Bereich arbeiten konnte. - Am Mindsight Institute ist Erica Ellis bei der Verwaltung unseres Schulungsprogramms eine enorme Hilfe gewesen und hat bei der Erstellung der Literaturhinweise und bei der Schlussredaktion des Textes eng mit mir zusammengearbeitet. Jene Therapeutenkollegen, die gemeinsam mit mir die interpersonelle Neurobiologie am Institut untersuchen, sind eine fortwährende Quelle intellektueller Stimulation und Herausforderung, und sie sind ein wichtiger Resonanzboden gewesen, um diese komplexen Ideen über das achtsame Gehirn in eine zugängliche und hoffentlich nützliche Form für andere zu übersetzen. Ich bin besonders für die Mitarbeit der Mitglieder von GAINS, der Global Association for Interpersonal Neurobiology Studies, dankbar. Ich schätze auch sehr die laufende professionelle Zusammenarbeit mit Allan Schore und Lou Cozolino, und ich danke Lou für seine Erlaubnis, die wunderbaren Zeichnungen des Gehirns aus seinem hervorragenden Buch The neuroscience of human relationships (2006) verwenden zu dürfen. MAWS & Company haben die Illustrationen für die Abbildungen 4.1, 4.2, 4.3, 6.1 und 14.1 geschaffen, und ich bin dankbar dafür, wie klar diese Zeichnungen meine Ideen zum achtsamen Gewahrsein ausdrücken konnten. Eine überaus wichtige Quelle der Inspiration sind meine Patienten. Ihr Mut, sich mit der unmittelbaren Erfahrung von Gedächtnis und Emotionen zu konfrontieren, zu versuchen, einen Weg unterhalb der restriktiven persönlichen Identitäten zu finden, die sie über so lange Zeit unterjocht haben, verleiht meinem Berufsleben nach diesen vielen Jahren der Praxis immer noch Bedeutung und Sinn. Als sich diese Erkundung der Achtsamkeit zu entfalten begann, organisierte Rieh Simon ein Treffen auf seiner jährlichen NetworkerSymposium-Zusammenkunft, auf der er Diane Ackerman, Jon KabatZinn, John O'Donohue und mich zusammenbrachte. Es war Liebe auf den ersten „Ein-Blick", und die mannigfaltigen Beziehungen zwischen uns sind auf wunderbare Weise gewachsen. Unser Mind and Moment -Treffen im Februar 2006 war ein Höhepunkt meines Bildungsweges, und ich bin Diane, Jon und „O'John" für unsere gemeinsame Zeit zutiefst dankbar.
Dank
453
Beim Studieren der Achtsamkeit ermutigte mich Jon Kabat-Zinn, tiefer in die unmittelbare Erfahrung einzutauchen, und er führte mich zum Wissenschaftlertreffen des Mind and Life Lnstitute damit ich aus erster Hand eine Schweigewoche erleben konnte. Ich bin für seine Vorschläge dankbar und möchte mich auch bei Adam Engle, dem Vorsitzenden dieses Instituts, sowie bei Joseph Goldstein und Sharon Salzberg und den anderen Fakultätsmitgliedern der Lnsight Meditation Society bedanken, die dieses transformatorische Ereignis veranstaltet haben. Beim Schreiben des Buches waren mir die einfühlsamen Kommentare einer Reihe von Leuten, die frühere Entwürfe gelesen und mir ein wichtiges Feedback über den Ton des Buches gegeben haben, eine große Hilfe. Zu ihnen zählen Diane Ackerman, Erica Ellis, Bonnie Mark Goldstein, Daniel Goleman, Susan Kaiser Greenland, Jack Kornfield, Lynn Kutler, Rieh Simon, Marion Solomon und Caroline Welch. Rieh Simon hat nicht nur dieses und andere meiner Manuskripte gelesen, sondern er hat auch als Mitstreiter bei der schwierigen Aufgabe gedient, einen Bericht in der Ich-Form für ein Fachpublikum zu schreiben und mit Strenge und Klarheit die Wissenschaft des Geistes zu erforschen. Er ist nicht nur ein sozialer Feng-Shui-Meister, wie seine nunmehr dreißigjährige Erfahrung als Leiter des Psychotherapy Networker zeigt, sondern auch ein brillanter Herausgeber mit einer Vision für die größeren Themen zwischen den Zeilen des Textes und darüber hinaus. Ich danke ihm für seine überaus wichtige Unterstützung. Ich hatte das große Glück, mich zum Thema Achtsamkeit und Gehirn auf das Fachwissen einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen verlassen zu können, die verschiedene wissenschaftliche Details und Erkundungen in diesem Buch geprüft haben. Jack Kornfield und Daniel Goleman haben hilfreiche Klärungen gegeben, und ich danke ihnen für ihre bedachtsamen Kommentare zu diesem Text. Es hat mir auch viel Freude bereitet, mit Ellen Langer zusammen Ideen über achtsames Lernen und achtsames Gewahrsein zu erforschen. Ich bin dankbar für ihre Einsichten und ihre Bereitschaft, sich die Zeit zu nehmen, um bei unseren Diskussionen über eine große Anzahl von Themen zu sprechen. Richard Davidson hat mich ebenfalls sehr bei der Überprüfung gewisser Aspekte der Gehirnforschung unterstützt,
454
Dank
die im Zusammenhang mit seinen wichtigen Beiträgen zu dem in Entstehung begriffenen Feld der kontemplativen Neurowissenschaft stehen. Seine Weisheit und seine Güte werden sehr geschätzt. Meine tiefe Anerkennung gilt außerdem David Creswell, Susan Kaiser Greenland, Sara Lazar und Lidia Zylowska dafür, dass sie ihre unveröffentlichten Forschungsdaten mit mir geteilt haben, damit ich sie in dieses Buch einbeziehen konnte. Ihre Großzügigkeit hat dazu geführt, dass diese theoretische Synthese und begriffliche Integration des relationalen Wesens des achtsamen Gehirns innovatives Wissen in dieser aufregenden Disziplin bieten kann. Ich möchte außerdem Andrea Costella und Deborah Malmud dafür danken, dass sie dieses ungewöhnliche Projekt unterstützt und mit professioneller Hartnäckigkeit geführt haben. Dieses Buch ist kein typischer Text, da es tiefes persönliches Erleben mit wissenschaftlicher Analyse zusammenführt, und die beiden haben geholfen, es in Gang zu bringen. Mit Deborah Malmud habe ich auch mit Freude in meiner Eigenschaft als Serienherausgeber der „Norton Series on Inter-personal Neurobiology" zusammengearbeitet, und ich bin dankbar für ihre klaren Gedanken dazu, wie man diese neue interdisziplinäre Sichtweise in die akademische Welt, die Berufswelt und die Öffentlichkeit bringen kann. Schließlich möchte ich noch meiner Frau und meinen Kindern für ihre nie endende Unterstützung meiner exzentrischen Art und meiner Leidenschaft für diese Arbeit danken. Ich empfinde sehr viel Dankbarkeit dafür, dass ich bei meinen beiden Teenagern das Erwachen der Reflektion beobachten darf und sie mich ständig dazu herausfordern, stets vollkommen gegenwärtig zu sein. Ich habe das Glück gehabt, diese sich entwickelnden Ideen regelmäßig mit meiner Frau zusammen erforschen zu können. Sie hat mich viel über Achtsamkeit gelehrt, und ihre Einsichten waren mir eine enorme Hilfe bei dem Versuch, das achtsame Gehirn auf diesen Seiten lebendig werden zu lassen.
Literatur Ackerman, D., Kabat-Zinn, J., & Siegel, D. J. (März 2005), Presented at the Panel Discussion, 28th Annual Psychotherapy Networker Symposium, Washington, D. C. [Audioaufzeichnungen]. Erhältlich unter: www. PsychotherapyNetworker.org. Ackerman, D., Kabat-Zinn, J., O'Donohue, J., & Siegel, D. J. (2006). Mind and moment: Mindfulness, neuroscience, and the poetry of transformation in everyday life. Vorgestellt auf der „Mind and Moment"-Konferenz in San Francisco, Kalifornien [Audio- und Videoaufzeichnungen]. Erhältlich unter: www.mindsightinstitute.com. Adele, M. H., & Feldman, G. (2004). Clarifying the construct of mindfulness in the context of emotion regulation and the process of change in therapy. Clinical Psychology: Science and Practice, 11 (3), S. 255-262. Adolphs, R. (2002). Neural systems for recognizing emotion. Current opinion in Neurobiology, 12, S. 169-177. Aftanas, L. L., & Golochekine, S. A. (2002). Non-linear dynamic complexity of the human EEG during meditation. Neuroscience Letters, 330, S. 143-146. American Psychiatric Association (2000). Diagnostic and Statistical manual of mental disorders - Text revision (4th ed.). Washington, D. C: American Psychiatric Association Press.
456
Literatur
Anderson, N. B., & Anderson, P. E. (2003). Emotional longevity: What really determines how longyou live. New York: Viking. Armstrong, K. (1993). A history of God. New York: Ballantine Books. - Dt.: Geschichte des Glaubens. 3000 Jahre Glaubensgeschichte von Abraham bis Albert Einstein. München: Droemer Knaur, 1996. Austin, J. H. (1998). Zen and the brain. Cambridge, MA: The MIT Press. Austin, J. H. (2006). Zen-brain reflections. Cambridge, MA: The MIT Press. Baer, R. A. (2003). Mindfulness training as a clinical intervention: A conceptual and empirical review. Clinical Psychology: Science and Practice, 10 {2), S. 125-143. Baer, R. A., Smith G. T., & Allen, K. B. (2004). Assessment of mindfulness by self-report: The Kentucky inventory of mindfulness skills. Assessment, 11 (3), S. 191-206. Baer, R. A., Smith G. T., Hopkins, J., Krietemeyer, J., & Toney, L. (2006). Using self-report assessment methods to explore facets of mindfulness. Assessment, 13 (1), S. 27-45. Barnes, S., Brown, K. W., Krusemark, E., Campbell, W. K., & Rogge, R. D. (im Druck). The role of mindfulness in romantic relationship satisfaction and responses to relationship stress. Journal of Marital and Family therapy. Baxter, L. R., Schwartz, J. M., Bergman, K. S., Szuba, M. P., Guze, B. H., Mazziotta, J. C., et al. (1992). Caudate glucose metabolic rate changes with both drug and behavior therapy for obsessive-compulsive disorder. Archives of General Psychiatry, 49 (9), S. 681-689. Beitman, B. D., Viamontes, G. I., Soth, A. M., & Nitler, J. (2006). Toward a neutral circuitry of engagement, self-awareness, and pattern search. Psychiatric Annais, 36(4), S. 272-280. Benes, E M. (1994). Development of the corticolimbic system. In: Dawson, G., & Fischer, K. W. (Hrsg.), Human behavior and the developing brain. New York: Guildford Press, S. 176-206. Bishop, S. R., Lau, M., Shapiro, S., Carlson, L., Anderson, N. D., & Carmody, J., et al. (2004). Mindfulness: A proposed operational definition. Clinical Psychology: Science and Practice, 11 (3), S. 230-241.
Literatur
457
Bird, C. M., Castelli, F., Malik, O., Frith, U., & Husain, M. (2004). The impact of extensive medial frontal lobe damage on 'Theory of Mind' and cognition. Brain, 127(4), S. 914-928. Blakemore, S. J., & Choudhury, S. (2006). Development of the adolescent brain: Implications for executive function and social cognition. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 47, S. 296-312. Blumberg, H. P., Kaufman, J., Marin, A., Charney, D. S., Krystal, J. H., & Peterson, B. S. (2004). Significance of adolescent neurodevelopment for the neural circuitry of bipolar disorder. Annals of the New York Academy of Sciences, 1021, S. 376—383. Brach, T. (2003). Radical acceptance: Embracing your life with the heart of a Buddha. New York: Bantam Books. Brefczynski-Lewis, J. (2006). Result of the JMRI study on concentration meditation: "Attentional expertise in long-time Buddhist practitioners." Poster presentation at the Mind and Life Summer Research Institute, Garrison, New York. Britton, J. C., Taylor, S. F., Sudheimer, K. D., & Liberzon, I. (2006). Facial expressions and complex LAPS pictures: Common and differential networks. Neuro-Image, 31, S. 906-919. Brown, K. W. & Ryan, R. M. (2003). The benefits of being present: Mindfulness and its role in psychological well-being. Journal of Personality and Social Psychology, 84 (4), S. 822-848. Brown, K. W. & Ryan, R. M., & Creswell, J. D. (im Druck). Mindfulness: Theoretical foundations and evidence for its salutary effects. Psychological Inquiry. Brown, R. P., & Gerbarg, P. L. (2005a). Sudarshan kriya yogic breathing in the treatment of stress, anxiety, and depression: Part I - Neurophysiologic model. The Journal of Alternative and Complementary Medicine, 77(1), S. 189-201. Brown, R. P., & Gerbarg, P. L. (2005b). Sudarshan kriya yogic breathing in the treatment of stress, anxiety, and depression: Part II - Clinical Applications and Guidelines. The Journal of Alternative and Complementary Medicine, 11 (4), S. 711-717. Buchheld, N., Grossman, P., & Walach, H. (2001). Measuring mindfulness and insight meditation (Vipassana) and meditation based psychothe-
458
Literatur
rapy: The development of the Freiburg Mindfulness Inventory (FMI). Journal for Meditation and Meditation Research, 1, S. 11-34. Bush, G., Luu, P., & Posner, M. I. (2000). Cognitive and emotional influences in the anterior cingulate cortex. Trends in Cognitive Science, 4, S. 215-222. Cacioppo, J. T., Visser, P. S., & Pickett, C. L. (Hrsg.), (2006,). Social neu-roscience: People thinking about thinking people. Cambridge, MA: The MIT Press. Cahn, B. R., & Polich, J. (2006). Meditation states and traits: EEG, ERP, and neuroimaging studies. Psychological Bulletin, 132 (2), S. 180-211. Carr, L., Iacoboni, M., Dubeau, M.-C., Maziotta, J. C., & Lenzi, G. L. (2003). Neural mechanisms of empathy in humans: A relay from neural systems for imitation to limbic areas. Proceedings of the National Academy of Sciences, 100 {9), S. 5497-5502. Carson, J. W., Carson, K. M., Gil, K. M., & Baucom, D. H. (2004). Mind- fulnessbased relationship enhancement. Behavior Therapy\ 35% S. 471-494. Carson, J. W., Carson, K. M., Gil, K. M., & Baucom, D. H. (im Druck). Selfexpansion as a mediator of relationship improvements in a mindfulness intervention. Journal of Marital and Family Therapy Carson, S., & Langer, E. (2004). Mindful practice for clinicians and patients. In: Haus, L. (Hrsg.), Handbook of Primary Care Psychology. London: Oxford University Press, S. 173-186. Casey, B. J., Tottenham, N., Listen, C., & Durston, S. (2005). Imaging the developing brain: What have we learned about cognitive development? Trends in Cognitive Sciences, 9 (3), S. 104-110. Caspi, A., McClay J., MofFitt, T. E., Mill, J., Martin, J., Craig, I. W., et al. (2002). Role of genotype in the cycle of violence in maltreated children. Science, 297, S. 851-854. Chadwick, P., Hember, M., Mead, S., Lilley, B., & Dagnan, D. (2005). Responding mindfully to unpleasant thoughts and images: Reliability and validity of the Mindfulness Questionnaire. Unveröffentlichtes Manuskript. Chanowitz, B., &1 Langer, E. (1981). Premature cognitive commitment. Journal of Personality and Social Psychology, 41, S. 1051-1063.
Literatur
459
Chen, K. W. (2004). An analytic review of studies on measuring effects of external Qi in China. Alternative Therapy in Health Medicine, 10 (4), S. 38-50. Cosmelli, D., Lachaux, J. P., & Thompson, E. (im Druck). Neurodynamics of consciousness. In: Zelazo, P. D., Moscovitch, M., & Thompson, E. (Hrsg.), The Cambridge handbook of consciousness. New York: Cambridge University Press. Cozolino, L. J. (2006). The neuroscience of human relationships: Attachment and the developing social brain. New York: W. W. Norton. Creswell, J. D., Eisenberger, N. L., & Lieberman, M. D. (2006). Neu-robehavioral correlates of mindfulness during social exclusion. Manuskript in Vorbereitung. Creswell, J. D., Way, B. M., Eisenberger, N. L., & Lieberman, M. D. (eingereicht). An fMRI investigation of mindfulness and ajfect labeling. Critchley, H. D. (2005). Neural mechanisms of autonomic, affective, and cognitive integration. J Comp Neuroi, 493, S. 154-166. Csikszentmihalyi, M. (1990) Flow — The psychology of optimal experience. New York: HarperCollins. - Dt.: Flow. Das Geheimnis des Glücks. Klett-Cotta, Stuttgart 1992, 13. Aufl. 2007. Damasio, A. R. (1999). The feeling ofwhat happens: Body and emotion in the making of consciousness. Orlando, FL: Harcourt Brace. - Dt.: Ich fühle mich also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München: List, 2000. Davidson, R. J. (2000). Affective style, psychopathology, and resilience: Brain mechanisms and plasticity. American Psychologist, S. 1196-1214. Davidson, R. J. (2004). Well-being and affective style: Neural substrates nd biobehavioural correlates. Philosophical Transactions Royal Society London, B, 359, S. 1395-1411. Davidson, R. J. (2005). Presented at the 13th Annual Investigating the Mind: The Science and Clinical Applications in Meditation Meeting,Washington D. C. Davidson, R. J. (2006). First Annual Mani Bhaumik Award Lecture, University of California, Los Angeles, 16. November. Davidson, R. J., & Kabat-Zinn, J. (2004). Alterations in brain and immune function produced by mindfulness meditation: Three caveats. Comment. Psychosomatic Medicine, 66(1), S. 149—152.
460
Literatur
Davidson, R. J., Kabat-Zinn, J., Schumacher, J., Rosenkranz, M., Muller, D., Santorelli, S. F., et al. (2003). Alterations in brain and immune function produced by mindfulness medtiation. Psychosomatic Medicine, 65 (4), S. 564-570. Dawson, G., Frey, K., Panagiotes, H., Yamada, E., Hessl, D., & Osterling, J. (1999), Infants of depressed mothers exhibit atypical frontal electrical brain activity during interactions with mother and with a familiar, nondepressed adult. Child Development, 70(5), S. 1058-1066. Decety, J., & Chaminade, T. (2003). When the self represents the other: A new cognitive neuroscience view on psychological identification. Consciousness and Cognition, 12, S. 577-596. Decety, J., & Grezes, J. (1999). Neuromechanisms subserving the perception of human action. Trends in Cognitive Sciences, 3 (5), S. 172-178. Decety, J., & Jackson, P. L. (2004). The functional architecture of human empathy. Behavorial and Cognitive Neuroscience Reviews, 3 (2), S. 71-100. De Martino, B., Kumaran, D., Seymour, B., & Dolan, R. J. (2006). Frames, biases, and rational decision-making in the human brain. Science, 313 (5787), S. 684-687. Devinsky, O. (2000). Right cerebral hemisphere dominance for a sense of corporeal and emotional self. Epilepsy & Behavior: 1 (1, Part 1) S. 60-73. Devinsky, O., Morrell, M. J., & Vogt, B. A. (1995). Contribution of anterior cingulate to behaviour. Brain, 118, S. 279-306. Dewey, J. (1933). How tue think: A restatement of the relation of reflective thinking to the educativeprocess. Boston, MA: D. C. Health. - Dt.: Wie wir denken. Eine Untersuchung über die Beziehung des reflektiven Denkens zum Prozess der Erziehung. Zürich: Morgarten-Verlag, 1951. Dimidjian, S., & Linehan, M. M. (2003). Defining an agenda for future research on the clinical application of mindfulness practice. Clinical Psychology: Science and Practice, 10 (2), S. 166-171. Dweck, C. S. (2006). Mindset: The new psychology ofsuccess. New York: Random House. Edwards, B. (1979). Drawing on the right side ofthe brain. New York: Jeremy Tarcher.
Literatur
461
Einstein, A. (1972). Zitiert nach der New York Times. In: J. Kabat-Zinn (1990). Full catastrophe living: Using the wisdom of your body and mind to face stressy painy and illness. New York: Dell, S. 165. - Dt.: Gesund und stressfrei durch Meditation. Das grosse Buch der Selbstheilung München: O. W. Barth, 1991. Ekman, P. (2003). Emotions revealed: Recognizing faces and feeling to improve communication and emotional life. New York: Henry Polk & Co. - Dt.: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. München / Heidelberg: Elsevier / Spektrum /Akad. Verlag, 2004. Ekman, P. (2005). What the face reveals: Basic and applied studies of spontaneous expression using the facial action coding system (FACS). New York: Oxford University Press. Ekman, P., Davidson, R. J., Richard, M., & Wallace, B. A. (2005). Buddhist and psychological perspectives on emotions and well-being. Current Directions in Psychological Science, 14 (2), S. 59-63. Engel, A. K., Fries, P., & Singer, W. (2001). Dynamic predictions: Oscillations and synchrony in top-down processing. Nature Neuroscience, 2y S. 704-716. Epstein, M. (1995). Thoughts without a thinker: Psychotherapy from a Buddhist perspective. New York: Basic Books. - Dt.: Gedanken ohne den Denker. Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Krüger, 1996. Epstein, R. M. (1999). Mindful practice. Journal of the American Medical Association, 282 (9), S. 833-839. Epstein, R. M. (2001). Just being. The Western Journal of Medicine, 174 (1), S. 63-65. Feldman, G. L., Hayes, A. M., Kumar, S. M., & Greeson, J. M. (2004). Clarifying the construct of mindfulness: Relations with emotional avoidance, overengagement and change with mindfulness training Paper presented at the Association for the Advancement of Behavioural Therapy, Boston, Massachussetts. Fellows, L. K., & Farah, M. J. (2005). Is the anterior cingulate cortex necessary for cognitive control? Brain: A Journal of Neurology, 128 (4), S. 788-706.
462
Literatur
Field, B., Fitzpatrick-Hopler, G., & Spezio, M. (2006). Initiating research of Christian contemplative practices. Presented at Mind and Life Summer Research Institute, Garrison, New York. Fitzpatrick-Hopler, G. (2006, Juni). Christian contemplative practice: Centering prayer: Paper presented at Mind and Life Summer Research Insti-tute, Garrison, New York, Fivush, R., & Haden, C. A. (Hrsg.) (2003). Autobiographical memory and the construction of the narrative self: Developmental and cultural perspectives. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum. Fletcher, L., & Hayes, S. C. (2006). Relational frame theory, acceptance and commitment therapy, and a functional analytic definition of mindfulness. Journal of Rational Emotive and Cognitive Behavioural Therapy; 23 (4), S. 315-336. Fonagy, P., & Target, M. (1997). Attachment and reflective function: Their role in self-organization. Development and Psychopathology, 9 (4), S. 679-700. Freeman, W. J. (2000). Emotion is essential to all intentional behaviors. In: Lewis, M. D., & Granic, I. (Hrsg.), Emotion, development, and self-organization: Dynamic systems approaches to emotional development Cambridge, UK: Cambridge University Press, S. 209-235. Frith, C. D., & Frith, U. (1999). Interacting Minds - A biological basis. Science, 286{5445), S. 1692-1695. Frith, C. (2002). Attention to action and awareness of other minds. Consciousness and Cognition: An International Journal, 11 (4), S. 481-487. Frith, U. (2001). Mind blindness and the brain in autism. Neuron, 32 (6), S. 969-979. Frith, U., & Frith C. D. (2003). Development and neurophysiology of mentalizing. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci, 458, S. 459-473. Gallese, V. (2003). The roots of empathy: The shared manifold hypothesis and the neural basis of intersubjectivity. Psychopathology, 35 (4), S. 171-180. Gallese, V. (2006). International attunement: NA neurophysiological perspective on social cognition and its disruption in autism. Brain Research, 1079(1), S. 15-24. Gallese, V., Fadiga, L., Fogassi, L., & Rizzolatti, G. (1996). Action recognition in the premotor cortex. Brain, 119, S. 593-609.
Literatur
463
Gallese, V., Keysers, C., & Rizzolatti, G. (2004). A unifying view of the basis of social cognition. Trends in Cognitive Science, 8 (9), S. 396—403. Garrison Insitute Report. (2005). Contemplation and education: A survey of programs using contemplative techniques in K-12 educational settings: A mapping report. Gazzaniga, M. S. (2000). Cerebral specialization and interhemispheric communication: Does the corpus callosum enable the human condition? Brain, 123 (7), S. 1293-1326. Germer, C. K. (2005). Mindfulness: What is it? What does it matter? In: Germer, C. K., Siegel, R. D., & Fulton, P. R. (Hrsg.), Mindfulness and Psychotherapy. New York: Guilford Press. Germer, C. K., Siegel, R. D., & Fulton, P. R. (Hrsg.). (2005J. Mindfulness and Psychotherapy. New York: Guilford Press. Giedd, J. N. (2004). Structural magnetic resonance imaging of the adolescent brain. Ann. NY. Acad. Sci., 1021, S. 77-85. Gillath, O., Bunge, S. A., Shaver, P. R„ Wendelken, C., & Miklincer, M. (2005). Attachment-style differences in the ability to suppress negative thoughts: Exploring the neural correlates. Neuroimage, 28, S. 835-847. Goleman, D. (1988). The meditative mind: The varieties of meditative experience. Los Angeles: JP Tarcher. - Dt.: Meditation. Weinheim / Basel: Beltz, 1990; ern. als Wege zur Meditation. Innere Stärken durch östliche und westliche Lehren. München: Heyne, 1997. Goleman, D. (1996). Emotional intelligence. New York: Bantam Books.-Dt.: Emotionale Intelligenz. München: Hanser, 1996 Goleman, D. (2006). Social intelligence: The new science of human relationships. New York: Bantam Books. - Dt.: Soziale Intelligenz. Wer auf andere zugehen kann, hat mehr vom Leben. München: Droemer, 2006. Greenberg, M. T. (eingereicht). Promoting resilience in children and youth: Preventive interventions and their interface and neuroscience. Greenberg, M. T., Weissberg, R. P., O'Brien, M. U., Zins, J. E., Fredericks, L., Resnick, H., et al. (2003). Enhancing school-based prevention and youth development through coordinated social, emotional, and academic learning. American Psychologist, 58 (6/7), S. 466-474.
464
Literatur
Greenland, S. K. (2005). The use of mindfulness practices with trauma victims. Paper presented at the Children's Institute International Think Tank. Grossman, P. (im Druck). Mindfulness practice: A unique clinical intervention for the behavioral sciences. In: Heidenreich, T., & Michalak, J. (Hrsg.), Mindfulness and acceptance in psychotherapy. Tübingen: DVTG Press. Grossman, P., Niemann, L., Schmidt, S., & Wallach, H. (2004). Mindfulnessbased stress reduction and health benefits: A meta-analysis. Journal of Psychosomatic Research, 57(1), S. 35-43. Gusnard, D. A., Akbudak, E., Shulman, G. L., & Raichle, M. E. (2001). Medial prefrontal cortex and self referential mental activity: Relation to a default mode of brain function. Proceedings of the National Academy of Sciences, 98 (2), S. 676-682. Gusnard, D. A., & Raichle, M. E. (2001). Searching for a baseline: Functional imaging and the resting human brain. Nature Neuroscience, 2 S. 685-693. Haken, H., & Stadler, M. (1990). Synergetics of recognition. Berlin: Springer. Halpern, M. E., Guntiirkun, O., Hopkins, W. D., & Rogers, L. J. (2005). Lateralization of the vertebrate brain: Taking the side of model systems. Journal of Neuroscience, 25 (45), S. 10351-10357. Hariri, A. R., Bookheimer, S. Y., & Maziotta, J. C. (2000). Modulating emotional responses: Effects of a neocortical network on the limbic system. Neuroreport: For Rapid Communication of Neuroscience Research, 11 (1), S. 43-48. Harter, S. (1999). The construction of the self: A developmental perspective. New York: Guilford Press. Hawkins, J., & Blakeslee, S. (2004). On intelligence. New York: Times Books. Hayes, A. M., & Feldman, G. (2004). Clarifying the construct of mindulness in the context of emotion regulation and the process of change in therapy. Clinical Psychology: Science and Practice, 11, S. 255-262. Hayes, S. C. (2004). Acceptance and commitment therapy, relational frame therapy, and the third wave of behavioral and cognitive therapies. Behavior Therapy, 35 (4), S. 639—665.
Literatur
465
Hayes, S. C., Folette, V. M., & Linehan, M. M. (Hrsg.). (2004). Mindfulness and acceptance: Expanding the cognitive-behavioral tradition. New York: Guilford Press. Hayes, S. C., Strosahl, K. D., & Wilson, K. G. (1999). Acceptance and commitment therapy: An experiential approach to behavior change. New York: Guilford Press. Hebb. D. O. (1949). The organization of behavior: A neuropsychological theory New York: Bantam Books. Hesse, E. (1999). The adult attachment interview: Historical and current perspectives. In: Cassidy, J., & Shaver, P. R. (Hrsg.), Handbook of attachment. New York: Guilford Press, S. 395—433. Iacoboni, M. (2005). Neural mechanisms of imitation. Current Opinion in Neurobiology, 15, S. 632-637. Iacoboni, M. (im Druck). Mirroring people: Understanding others with mirror neurons. New York: Farrar, Strauss, & Giroux. Iacoboni, M., & Siegel, D. J. (2006). Mirror neurons and interpersonal neurobiology in psychotherapy. Presented at the New York University Biology of Mind Conference, New York. Iacoboni, M., Koski, L. M., Brass, M., Bekkering, H., Woods, R. P., Dubeau, M. C., Mazziotta, J. C., & Rizzolatti, G. (2001). Reafferent copies of imitated actions in the right superior temporal cortex. Proceedings of the National Academy of Sciences, 98 (24), S. 13995-13999. Iacoboni, M, Woods, R. P., Brass, M., Bekkering, H., Woods, Mazziotta, J. C., & Rizzolatti, G. (1999). Cortical mechanisms of human imitation. Science, 286(5449), S. 2526-2528. Irwin, M. (2005). Examining the ability of Tai Chi to improve psychological adaptation, health functioning and augmenting baseline and vaccinestimulated varicella zoster specific immunity in aging. Paper presented at the Mindful Awareness Research Center, University of California, Los Angeles. James, W. (1890/1891). The principles of psychology. Cambridge, MA: Harvard University Press. Johanson, G. & Kurtz, R. (1991). Grace unfolding: Psychotherapy in the spirit of the Tao-te ching. New York: Bell Tower-Harmony.
466
Literatur
Johnson, M. H., Griffin, R., Csibra, G., Halit, H., Farmoni, T., & De Haan, M., et al. (2005). The emergence of the social brain network: Evidence from typical and atypical development. Integrating cognitive and affective neuroscience and developmental psychopathology [special issue]. Development andPsychopathology, 17(3), S. 509-619. Jones, B. (2001). Changes in cytokine production in healthy subjects practicing Guolin Quigong: A pilot study. BMC Complementary and Alternative Medicine, 1, S. 1-8. Kabat-Zinn, J. (1990). Full catastrophe living: Using the wisdom of your body and mind to face stress, pain, and illness. New York: Dell. - Dt.: Gesund und stressfrei durch Meditation. Das grosse Buch der Selbstheilung München: O.W. Barth, 1991. Kabat-Zinn, J. (2003a). Mindfulness-based interventions in context: Past, present, and future. Clinical Psychology: Science and Practice, 10 (2) S. 133-156. Kabat-Zinn, J. (2003b). Coming to our senses: Healing ourselves and the world through mindfulness. New York: Hyperion Press. - Dt.: Zur Besinnung kommen. Die Weisheit der Sinne und der Sinn der Achtsamkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt. Freiamt: Arbor, 2005. Kabat-Zinn, J., & Kabat-Zinn, M. (1990). Everyday blessings: the inner work of mindfulparenting. New York: Hyperion Press. - Dt.: Mit Kindern wachsen. Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie. Freiamt: Arbor, 2006. Kagan, J. (1994). Galens prophecy: Temperament in human nature. Boulder, CO: Westview Press. Kaiser Greenland, S. (2006a). Siehe unter: www.InnerKids.org. Kaiser Greenland, S. (2006b). A quantitative program evaluation of courses taught by InnerKids in the winter!spring semester of2006for students aged 4 through 12. Paper in preparation. Keating, T. (2000). Open mind, open heart. New York: Continuum Intl. Publishing Group. - Dt.: Das Gebet der Sammlung. Eine Einführung und Begleitung des kontemplativen Gebetes. Münsterschwarzach: Vier-TürmeVerlag, 1987, 6. Aufl. 2006. Keating, T. (2005). The orthodoxy of centering prayer: Presented at the 13th Annual Investigating the Mind: The Science and Clinical Applications in Meditation Meeting, Washington, D. C.
Literatur
467
Keenan, J. P., Wheeler, M. A., Gallup, C. G., & Pascual-Leone, A. (2000). Selfrecognition and the right prefrontal cortex. Trends in Cognitive Science, 4, S. 338-344. Kempermann, G., Gast, D., Gage, F. H. (2002). Neuroplasticity in old age: Sustained fivefold induction of hippocampal neurogenesis by longterm environmental enrichment. Annais ofNeurology, 52 (2), S. 135-143. Kornfield, J. (1993). A path with heart. New York: Bantam Books. - Dt.; Frag den Buddha — und geh den Weg des Herzens. München: Kösel, 5. Aufl. 2000. Kosslyn, S. M. (2005). Reflective thinking and mental imagery: A perspective on the development of posttraumatic stress disorder [special issue]. Development and Psychopathology, 17 (3), S. 861-863. Langer, E. J. (1989). Mindfulness. Cambridge, MA: Da Capo Press. - Dt.: Aktives Denken. Wie wir geistig auf der Höhe bleiben. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991; ern. als Fit im Kopf, Aktives Denken oder wie wir geistig auf der Höhe bleiben. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 1993. Langer, E. J. (1997). The power of mindful learning. Cambridge, MA: Da Capo Press. - Dt.: Kluges Lernen. Sieben Kapitel über kreatives Denken und Handeln. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 2001. Langer, E. J. (2000). Mindful learning. Current Directions in Psychological Science, 9 (6), S. 220-223. Langer, E. J. (2005). On becoming an artist: Reinventing yourself through mindful creativity. New York: Ballantine Books. Lazar, S. (2006). Mind-body connection: Neural correlates of respiration during meditation. Presented at Mind and Life Summer Research Institute, Garrison, New York. Lazar, S. W., Kerr, C. E., Wasserman, R. H., Gray, J. R., Greve, D. N., Treadway, M. T., et al. (2005). Meditation experience is associated with increased cortical thickness. Neuroreport, 16 (17), S. 1893— 1897. Legrand, D. (im Druck). The bodily self: The sensorimotor roots of pre-reflexive self-consciousness. Phenomenology and the Cognitive Sciences, 5, S. 89-118.
468
Literatur
Linehan, M. M. (1993). Cognitive-behavioral treatment of borderlinepersonality disor-der. New York: Guilford Press. Lutz, A., Dünne, J. D., & Davidson, R. J. (im Druck). Meditation and the neuroscience of consciousness. In: Zelazo, P. D., Moscovitch, M., & Thompson, E. (Hrsg J. The Cambridge handbook of consciousness. Cambridge, UK: Cambridge University Press. Lutz, A., Greischar, L. L., Rawlings, N. B., Ricard, M., & Davidson, R. (2004). Long-term meditators self-induce high-amplitude gamma synchrony during mental practice. Proceedings ofthe National Academy of Sciences, 101 (46), S. 16369-16373. Main, M. (2000). The Adult Attachment Interview: Fear, attention, safety, and discourse processes. Journal of the American Psychoanalytic Association, 48, S. 1055-1096. Manor, I., Tyano, S., Mel, E., Eisenber, J., Bachner-Melman, R., Kotler, M., &C Ehstein, R. P. (2000). Family-based and association studies of monoamine oxidase A and attention deficit hyperactivity disorder (ADHD): Preferential transmission of the long promoter region repeat and its association with impaired Performance on a continuous Performance test (TOVA). Molecular Psychiatry, 7, S. 626-632. Marlatt, G. A., & Gordon, J. R. (1985j. Relapseprevention: Maintenance strategy in the treatment ofaddictive behaviors. New York: Guilford Press. Mayberg, H. (2005). Paths to recovery: Neural substrates of cognitive mindjulbased interventions for the treatment of depression. Paper presented at the 13th Annual Investigating the Mind: The Science and Clinical Applications in Meditation Meeting, Washington, D. C. Mayberg, H. (2006). Defining neurocircuits of depression. Psychiatric Annais, 36(4), S. 259-271. McGregor, H. A., Lieberman, J. D., Greenberg, J., Solomon, S., Arndt, J., & Simon, L., et al. (1998). Terror management and aggression: Evidence that mortality salience motivates aggression against worldview threatening others. Journal of Personality and Social Psychology, 74 (3), S. 590-605. Mead, G. H. (1925). The genesis of the seif and social control. International Journal of Ethics, 35, S. 251-277. Meaney, M. J. (2001). Maternal care, gene expression, and the transmission
Literatur
469
of individual differences in stress reactivity across generations. Annual Review of Neuroscience, 24, S. 1161-1192. Meyer-Lindenberg, A., Ziemann, U., Hajak, G., Cohen, L., & Berman, K. F. (2002). Transitions between dynamical states of differing stability in the human brain. Proceedings ofthe National Academy of Sciences, 99 (17), S. 19948-10953. Mikulincer, M., & Shaver, P. R. (2005). Attachment security, compassion, and altruism. Current Directions in Psychological Science, 14, S. 34-38. Mind and Life Summer Research Institute, Garrison Institute. (2006). The role of mental training in investigation the mind. [Brochure]. A. Engle. Napoli, M. 2004. Mindfulness trainign for teachers: A pilot program. Complementary Health Practice Review, 9 (1), S. 31-42. Natoli, D. (2006). The POISE approach to education. Paper presented at the Mind and Moment Conference, Los Angeles, CA. [Audio- und Videoaufzeichnungen] . Nelson, K. (2003). Seif and social functions: Individual and autobiographical memory and collective narrative. Memory, 11 (2), S. 125-136. Newberg, A., D'Aquili, E., & Rause, V. (2002j. Why God wont go away: Brain science and the biology of belief New York: Bantam Books. Nimchinsky, E. A., Gilissen, E., Allman, J. M., Perl, D. P., Erwin, J. M., Hof, P. R. (1999). A neuronal morphologic type unique to humans and great apes. Proc Natl Acad Sei, 96(9), S. 5268-5273. O'Donohue, J. (1997). Anam Cara: A book of Celtic wisdom. New York: HarperCollins. - Dt.: Anam Cara. Das Buch der keltischen Weisheit. München: dtv, 1997. O'Donohue, J. & Siegel, D. J. (2004). Poetry and the brain. Psychotherapy Networker Symposium [Audioaufzeichnungen], Oktober. O'Donohue, J. & Siegel, D. J. (2005). Poetry and the brain. Psychotherapy Networker Symposium [Audioaufzeichnungen], März. O'Donohue, J. & Siegel, D. J. (2006). Awakening the mind. Minsight Institute. [Audioaufzeichnungen], Oktober. Los Angeles: Mindsight Institute.com. Obayashi, S., Suhara, T., Kawabe, K., Okauchi, T., Maeda, J., Akine, Y., Onoe, H., & Iriki, A. (2001). Functional brain mapping of monkey tool use. Neuroimage, 14 (4), S. 853-861.
470
Literatur
Ochsner, K. N. (2004). Current directions in social cognitive neuroscience. Current Opinion in Neurobiology, 14 (2), S. 254-269. Ochsner, K. N., Bunge, S. A., Gross, J. J., & Gabrieli, J. D. E. (2002). Rethinking feelings: An fMRI study of the cognitive regulations of emotion. Journal of Cognitive Neuroscience, 14, S. 1215-1229. Ogden, P., Minton, K., & Pain, C. (2006). Trauma and the body: A sensorimotor approach to psychotherapy. New York: Norton. Ohnishi, T., Moriguchi, Y., Matsuda, H., Mori, T., Hirakata, M., & Imabayashi, E., et al. (2004). The neural network for the mirror system and mentalizing in normally developed children: An fMRI study. Neuroreport: For Rapid Communication of Neuroscience Research, 15 (9), S. 1483-1487. Parasuraman, R. & Greenwood, P. (2004). Molecular gentics of visuospatial attention and working memory. In: Posner, M. I. (Hrsg.), Cognitive neuroscience of attention. New York: Guilford Press, S. 245-259. Parks, G. A., Anderson, B. K., & Marlatt, G. A. (2001). Relapse prevention therapy. In: Heather, N., Peters, T. J., & Stackwell, T. (HrsgJ, Inter-personal handbook of alcohol dependence and problems. New York: John Wiley, S. 575-592. Pargament, K. I. (1997). The psychology of religion and coping: Theory, research, and practice. New York: Guildford Press. Pascual-Leone, A., & Hamilton, R. (2001). The metamodal organization of the brain. Progress in Brain Research 134, S. 1-19. Phelps, J. L., Belsky, J., & Crnic, K. (1997). Earned security, daily stress, and parenting: A comparison of five alternative models. Development and Psychopathology, 10, S. 21-38. Porges, S. W. (1998). Love: an emergent property of the mammalian autonomic nervous system. Psychoneuroendocrinology, 23 (8), S. 837-861. Post, R. M., & Weiss, S. R. B. (1997). Emergent properties of neural systems: How focal molecular neurobiologies alterations can affect behavior. Development and Psychopathology, 9, S. 907-930. Prigogine, I. (1996). The end of certainty: Time, chaos, and the new laws of nature. New York: Free Press. Raichle, M. E., MacLeod, A. M., Snyder, A. Z., Powers, W. J., Gusnard, D. A., & Shulman, G. L. (2001). A default mode of brain function. Proceedings of the National Academy of Sciences, 98 (7), S. 4259-4264.
Literatur
471
Raz, A., & Buhle, J. (2006). Typologies of attentional networks. Nature Neuroscience, 7, S. 367-379. Ricard, M. (2006). A guide to developing lifes most important skill: Happiness. New York: Litde, Brown. - Dt.: Glück. München: Nymphenburger, 2007. Ritchart, R., & Perkins, D. (2000). Life in the mindful classroom: Nurturing the disposition of mindfulness. Journal of Social Issues, 56 (1), S. 27-47. Rizzolatti, G., & Craighero, L. (2004). The mirror-neuron system. Annual Review of Neuroscience, 27, S. 169-192. Rizzolatti, G., Fogassi, L., & Gallese, V. (2001). Neurophysiological mechanisms underlying the understanding and the imitation of action. National Review of Neuroscience, 2, S. 661-670. Roth, H. D. (1999;. The original Tao: Inward training and the foundations of Taoist mysticism. New York: Columbia University Press. Rothbart, M. K., & Rueda, R. M. (2005). The development of effortful control. In: Mayr, U., Awh, E., & Keele, S. W. (HrsgJ, Developing individuality in the human brain: A tribute to Michael I Posner. Washington, D. C: American Psychological Association, S. 167-188. Rueda, M. R., Posner, M. I. & Rothbart, M. K. (2005). The development of executive attention: Contributions to the emergence of self-regulation. Developmental Neuropsychology, 28 (2), S. 573-594. Rutter, M. (1983). School effects on pupil progress: Research findings and policy implications. Child Development. 54 (1), S. 1-29. Santorelli, S. (1999). Heal thy seif: Lessons on mindfulness in medicine. New York: Crown, Random House. - Dt.: Zerbrochen und doch ganz. Die heilende Kraft der Achtsamkeit. Freiamt: Arbor, 2000. Salzberg, S. (1995). Loving-kindness: The revolutionary art of happiness. Boston: Shambala Press. - Dt.: Metta Meditation. Buddhas revolutionärer Weg zum Glück. Freiamt: Arbor, 2003. Schacter, D. (1996). Searchingfor memory: The brain, the mind and the past. New York: Basic Books. - Dt.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1999. Schore, A. N. (2003a). Affe et dysregulation and disorders of the seif New York: W. W. Norton.
472
Literatur
Schore, A. N. (2003b). Affect regulation and the repair of the self. New York: W. W. Norton. - Dt.: Affektregulation und die Reorganisation des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta, 2007. Schwartz, J. M. (1998). Brain lock: Free yourself from obsessive-compulsive behavior. New York: HarperCollins. Schwartz, J. M., & Begley, S. (2003). The mind and the brain: Neuroplasticity and the power of mental force. New York: Regan Books. Segal, Z. V., Williams, J. M. G., & Teasdale, J. D. (2002). Mindfulness-based cognitive therapy for depression: A new approach to preventing relapse. New York: Guilford Press. Seligman, M. (2003). Authentic happiness: Using the new positive psychology to realize your potential for lastingf ulfillment. New York: Free Press. - Dt.: Der Glücksfaktor. Warum Optimisten länger leben. Bergisch Gladbach: Ehrenwirth, 2005. Semple, R. J., Reid, E. F. G., & Miller, L. (2005). Treating anxiety with mindfulness: An open trial of mindfulness training for anxious children. Journal of Cognitive Psychotherapy, 19 (4), S. 379-392. Shapiro, S. C., Carlson, C. E., Asten, J. A., & Freedman, B. (2006). Mechanisms of mindfulness. Journal of Clinical Psychology, 62 (3), S. 373-386. Shapiro, S. L., Schwartz, G. E., & Bonner, G. (1998). Effects of mindfulnessbased stress reduction on medical and premedical students. Journal of Behavioral Medicine, 21, S. 581—599. Short, B. (2006). Regional brain activation during meditation slows time and practice effects: A Junctional MRI study. Poster presentation at the Mind and Life Summer Research Institute, Garrison, New York. Siegel, D. J. (1999). The developing mind. New York: Guilford Press. - Dt.: Wie wir werden, die wir sind. Neurobiologische Grundlagen subjektiven Erlebens und die Entwicklung des Menschen in Beziehungen. Paderborn: Junfermann, 2006. Siegel, D. J. (2001a). Memory: an overview with emphasis on the developmental, interpersonal, and neurobiological aspects. Journal ojAmerican Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 40, S. 997-1011. Siegel, D. J. (2001b). Toward an interpersonal neurobiology of the developing mind: Attachment, "mindsight", and neural integration. Infant Mental Health Journal, 22, S. 67-94.
Literatur
473
Siegel, D. J. (2003). An interpersonal neurobiology of psychotherapy: The developing mind and the resolution of trauma. In: Solomon, M., & Siegel, D. J. (Hrsg.), Healing trauma. New York: W. W. Norton, S. 1-56. Siegel, D. J. (2006). An interpersonal neurobiology approach to psychotherapy. Psychiatric Annais, 36 (4), S. 248-256. Siegel, D. J. (im Druck). Mindsight: Our seventh sense. New York: Bantam. Siegel, D. H. & Hartzell, M. (2003). Parenting from the inside out: How a deeper selfunderstanding can help you raise children who thrive. New York: Penguin Putnam. - Dt.: Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Kinder einfühlsam ins Leben begleiten können. Freiamt: Arbor, 2004. Sohlberg, M. M., Mc Laughlin, K. A., Pavese, A., Heidrich, A., & Posner, M. I. (2000). Evaluation of attention process therapy training in persons with acquired brain injury. Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology.; 22, S. 656-676. Solomon, M. F., & Siegel, D. J. (Hrsg.). (2003). Healing Trauma: Attachment, mind, body and brain. New York: W. W. Norton. Soltesz, I. (2006). Diversity in the neuronal machine: Order and variability in interneuronal microcircuits. New York: Oxford University Press. Sowell, E. R., Peterson, B. S., Thompson, P. M., Welcome, S. E., Henkenius, A. L., & Toga, A. W. (2003). Mapping cortical change across the life span. Nature Neuroscience, 6(3), S. 309-315. Sroufe, L. A., Egeland, B., Carlson, E. A., & Collins, W. A. (2005). The development of the person: The Minnesota study of risk and adaptation from birth to adulthood. New York: Guilford Press. Staudinger, U. M. (1996). Wisdom and the social interactive foundation of the mind. In: Baltes, P. B. & Staudinger, U. M. (Hrsg), Interactive minds: Lifespan perspectives on the social foundations of Cognition. Cambridge, England: Cambridge University Press, S. 276-315. Staudinger, U. M. (2003). Older and wiser? Integrating results on the relationship between age and wisdom-related Performance. Journal of Research on Adolescence, 13, S. 239. Staudinger, U. M., Singer, J. A., & Bluck, S. (2001). Life reflection: A socialcognitive analysis of life review. American Psychological Association Review of General Psychology, 5 (2), S. 148-160.
474
Literatur
Staudinger, U. M., & Pasupathi, M. (2003). Correlates of wisdom-related Performance in adolescence and adulthood: Age-graded differences in "paths" toward desirable development. Journal of Research on Adolescence, 13 (3), S. 239-268. Stern, D. N. (2003). The present moment in psychotherapy and everyday life. New York: W. W. Norton. - Dt.: Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 2005 Sternberg, R. J. (2000). Images of mindfulness. Journal of Social Issues, 56 (1), S. 11-26. Stoller, R. J. (1985). Observing the erotic imagination. New Häven, CT: Yale University Press. Suomi, S. J. (1997). Early determinants of behaviour: Evidence from primate studies. British Medical Bulletin, 53, S. 170-184. Svoboda, E., McKinnon, M. C., & Levine, B. (2006). The functional neuroanatomy of autobiographical memory: A meta-analysis. Neuropsychologia, 44 (12), S. 2189-2208. Teicher, M. H. (2002). Sears that won't heal: The neurobiology of child abuse. Scientific American, 286(3), S. 68-75. Thagard, P. (2002). Coherence in thought and action. Cambridge, MA: MIT Press. Thich Nhat Hanh (1991). Peace is every step: The path of mindfulness in everyday life. New York: Bantam Books. - Dt.: Ich pflanze ein Lächeln. Der Weg der Achtsam-keit. München: Goldmann, 1992; zuletzt 2007. Thompson, C. (2006). BeKnown: The call of God in interpersonal neurobiology. Inter-personal Neurobiology Applications Training, Los Angeles, CA. Thompson, E., & Varela, F. J. (2001). Radical embodiment: Neural dynamics and consciousness. Trends Cogn. Sei., 5 (10), S. 418-425. Thornton, L. J. II., & McEntee, M. E. (1993). Learner centered schools as a mindset and the connection with mindfulness and multiculturalism. Theory Into Practice, 34 (4), S. 250-257. Tse, P. U. (2005). Attention and the subjective expansion oftime, session 577.4, Minisymposium 577: Time and the brain: How subjective relates to neural time. Eagleman, D. M. (Chair). Paper presented at the Society for Neuroscience Annual Meeting, Washington, D. C.
Literatur
475
Tucker, D. M., Luu, P., & Derryberry, D. (2005). Love hurts: The evolution of empathie concern through the encephalization of nociceptive capacity. Development and Psychopathology, 17, S. 699-671. Tulving, E. (1993). Varieties of consciousness and levels of awareness in memory. In: Baddeley, A. & Weiskrantz, L. (Hrsg.), Attention, selection awareness, and control: A tribute do Donald Broadbent, London: Oxford University Press, S. 283-299. Uddin, L. Q., Kaplan, J. T, Molnar-Szakacs, I., Zaidel, E., & Iacoboni, M. (2004). Self-face recognition activates a frontoparietal "mirror" network in the right hemisphere: An event-related fMRI study. Neuroimage, 25, S. 926-935. Urry, H. L., Nitschke, J. B., Dolski, I., Jackson, D. C., Dalton, K. M., & Mueller, C. J., et al. (2004). Making a life worth living: Neural correlates of well-being. Psychological Science, 75(6), S 367-372. Van Praag, H., Kemperman, G., & Gage, E H. (2000). Neural consequences of environmental enrichment. Nature Neuroscience, 7, S. 191-198. Varela, E J., Thompson, E. T., & Rosch, E. (1993). The embodied mind: Cognitive science and human experience. Cambridge, MA: MIT Press. Vygotsky, L. (1986). Thought and language (Hrsg. A. Kozulin). Cambridge, MA: The MIT Press (Originalwerk 1934 veröffentlicht). Waldon, W. (Juni 2006). Evolving models of mind: From early Buddhism to Yogacara. Paper presented at the Mind and Life Summer Research Institute, Garrison, New York. Wall, R. B. (2005). Tai chi and mindfulness-based stress reduetion in a Boston public middle school. Journal of Pediatric Health Care, 194,S. 230-237. Wallace, B. A. (2006). The attention revolution: Unlocking the power of the focused mind. Boston: Wisdom. Walsh, R. (1980). The consciousness diseiplines and the behavioral sciences: Questions of comparison and assessment. American Journal ofPsychiatry, 137, S. 663-673. Walsh, R., & Shapiro, S. L. (2006). The meeting of meditative diseiplines and Western psychology: A mutually enriching dialogue. American Psychologist, 61 (3), S. 227-239. Waring, N. (in Vorbereitung). Turning toward the bandagedplace: A brain tumor odyssey.
476
Literatur
Way, B. M., Creswell, J. D., Eisenberger, N. I., & Lieberman, M. D. (2006, Associations between dispositional mindfulness and genetic Variation of MAOA. Unveröffentlichte Rohdaten, University of California, Los Angeles. Weissberg, R. P., Kumpfer, K. L., & Seligman, M. E. P. (2003). Prevention that works for children and youth. American Psychologist, 58 (6/7), S. 425-432. Wilson, E. O., (1998). Consilience: The unity of knowledge. New York: Knopf. Dt.: Die Einheit des Wissens. München: Goldmann, 2001 Zylowska, L., Ackerman, D. L., Futrell, J., Horton, N. I., Haie, S., Pataki, C., & Smalley, S. L. (eingereicht). Behavioral and cognitive change in ADHD using mindfulness, meditatiom Zajonc, A. (2006). Love and knowlege: Recovering the heart through contemplation. Teachers College Record, 108 (9), S. 1742-1759.