Kôji Suzuki Aus dem Englischen von Katrin Marburger
Immer wenn ihr Sohn mit seiner Fa...
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Kôji Suzuki Aus dem Englischen von Katrin Marburger
Immer wenn ihr Sohn mit seiner Familie aus Tokio zu einem längeren Besuch da war, pflegte Kayo frühmorgens mit ihrer Enkelin Yuko spazieren zu gehen. Ihr Ziel war stets das Kap Kannon an der östlichsten Spitze der Miura‐Halbinsel. Die Run‐ de um die Landzunge herum und zurück nach Hause war keine drei Kilometer lang und damit genau das Richtige für einen ge‐ mütlichen Spaziergang. Wenn sie die große Aussichtsplattform erreichten, von der aus man einen fantastischen Blick hatte, zer‐ rte Yuko stets ungeduldig an der Hand ihrer Großmutter und bestürmte sie mit Fragen. Dabei zeigte sie auf alles weit draußen auf dem Meer, das ihre Neugier weckte. Kayo wimmelte ihre Enkelin nicht ab, sondern gab geduldig Antwort auf alles, was sie wissen wollte. Yuko war am Vortag angekommen, um einen Teil der Sommer‐ ferien bei ihrer Großmutter zu verbringen. Sie erklärte, sie müsse erst in einer Woche nach Hause zurückfahren. Kayo freute sich riesig, so viel Zeit mit ihrer Enkelin verbringen zu dürfen. Die entferntesten Ecken der Bucht von Tokio jenseits des Bal‐ lungsgebiets von Tokio und Yokohama lagen im Dunst. Obwohl man nur selten klare Sicht über die ganze Bucht hatte, wurde rasch deutlich, dass sie größer war, als man auf den ersten Blick glaubte. Die Berge der Boso‐Halbinsel jenseits des Uraga‐Sundes dagegen waren deutlich zu sehen ‐ hohe, scharfe Umrisse, die vom Nokogiriyama bis zum Kanozan reichten.
Yuko ließ das Geländer los und streckte die Arme aus, als woll‐ te sie in der Luft irgendetwas fangen. Eine lange, schmale Sand‐ bank erstreckte sich vom Kap Futtsu auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht ins Meer. Man hatte wirklich das Gefühl, sie be‐ rühren zu können, wenn man nur die Hand weit genug aus‐ streckte. Kap Futtsu und Kap Kannon markierten quasi die Einfahrt zur Bucht von Tokio. Zahlreiche Frachtschiffe pendelten in zwei ge‐ trennten Fahrrinnen zwischen den beiden ins Meer ragenden Landzungen hin und her. Yuko winkte den Frachtern zu, die von ihrem Platz auf der Aussichtsplattform aussahen wie Spielzeug‐ boote. An den Stellen mit starker Strömung waren die Fahrrin‐ nen mit gestreiften Bojen markiert. Jede Flut füllte die Bucht mit Wasser vom offenen Meer, das sich mit der Ebbe wieder zurück‐ zog. Aus diesem Grund heißt es wahrscheinlich so oft, dass der gesamte Müll aus der Bucht von Tokio an Kap Kannon und Kap Futtsu angespült wird. Man stelle sich die Bucht von Tokio wie ein riesiges Herz vor, an dem die Landzungen zu beiden Seiten genau wie Herzklappen funktionieren und den Unrat herausfil‐ tern, der durch den sanften Strom der Gezeiten im Wasser he‐ rumgetrieben wird. Die Ähnlichkeit geht über den Kreislauf des Meerwassers hi‐ naus: Die Flüsse Edo, Ära, Sumida und Tama dienen als Blutge‐ fäße, die die Bucht von Tokio mit frischem Wasser versorgen. Unter dem angespülten Treibgut findet sich alles Mögliche, von alten Autoreifen, Schuhen und Kinderspielzeug bis hin zu den Trümmern leckgeschlagener Fischerboote und hölzernen Tür‐ schildern mit Adressen aus weit entfernten Städten wie Hachioji. Viele Menschen wundern sich darüber. Wie um alles in der Welt gelangen all diese Sachen ins Meer? Die Liste ließe sich endlos fortsetzen: Bowlingkegel, Rollstühle, Trommelschlägel und sogar
Damenunterwäsche. Jedes Stück Treibgut, das auf die Küste zuschwamm, faszinierte Yuko. Auch die Fantasie von Strandgutsammlern wird von den an‐ gespülten Dingen angeregt und treibt mitunter seltsame Blüten. So kann man sich beim Anblick eines auf dem Wasser schau‐ kelnden Motorradbeiwagens gut einen heißen Ofen vorstellen, der einen Pier entlangrast und schließlich ins Meer stürzt. Eine Plastiktüte voller gebrauchter Spritzen dagegen riecht womög‐ lich nach kriminellen Machenschaften. Jedes Stück Treibgut, das an Land gespült wird, hat seine eigene Geschichte. Jeder, der auf ein besonders faszinierendes Exemplar stößt, täte gut daran, noch einmal zu überlegen, bevor er es aufliest, denn sobald sol‐ che Fundsachen in unachtsame Hände geraten, werden ihre ver‐ borgenen Geheimnisse gelüftet. Das ist gut und schön, wenn dabei eine harmlose, herzerwärmende Geschichte herauskommt. Dagegen kann es einen ganz schön durcheinander bringen, wenn etwas so Grauenhaftes zutage tritt, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Wenn du das Meer liebst, ist das erst recht ein Grund, einen kühlen Kopf zu bewahren. Du hebst etwas auf, das wie ein Gummihandschuh aussieht, nur um festzustellen, dass es in Wirklichkeit eine abgehackte Hand ist. Nach so einem Erlebnis willst du vielleicht nie wieder am Strand spielen. Wie sollst du jemals vergessen, was für ein Gefühl es war, als dir dämmerte, dass du gerade eine abgehackte Hand aufgelesen hattest? Mit derartigen beiläufigen Bemerkungen pflegte Kayo ihrer Enkelin Angst einzujagen. Jedes Mal, wenn Yuko darum bettelte, dass ihre Großmutter noch eine ihrer Gruselgeschichten erzählte, erfand Kayo ein Abenteuer zu einem Stück Treibgut. Sie wusste, dass Yuko in der kommenden Woche wahrscheinlich jeden Tag
um eine neue Gruselgeschichte bitten würde, sobald sie zu ihrem Morgenspaziergang aufbrachen. Doch Kayo kannte eine Menge Geschichten ‐ und was für welche! Jener überraschende Fund, den sie vor zwanzig Jahren eines Morgens am Strand gemacht hatte, war wie ein Zündfunke für ihre Fantasie gewesen und es bis heute geblieben. Seither konnte sie um jedes beliebige Stück Treibgut, das am Ufer schwamm, bizarre Geschichten erfinden. »Es war bestimmt schon einmal ein Schatz dabei, oder?« Yuko wollte wissen, ob jemals etwas richtig Wertvolles angespült wor‐ den war, nicht nur die üblichen gruseligen Sachen. Alle mögli‐ chen Schiffe, von winzigen Booten bis hin zu riesigen Frachtern, pflügten eifrig durch die schmalen Fahrrinnen unten in der Bucht. Yuko war der Gedanke gekommen, dass doch sehr gut einmal eine Schatztruhe oder Ähnliches aus einer der Kabinen gefallen sein konnte. »O ja, das wird wohl so sein«, orakelte Kayo gedehnt. »Das will ich«, verlangte Yuko, machte allerdings keinerlei Anstalten zu erklären, was sie damit meinte. »Du könntest schon einen Schatz haben«, erwiderte Kayo. Es war Idar, dass mit diesem Angebot eine Bedingung verknüpft war. »Wenn was?« »Wenn du mir nächste Woche auf meinen Spaziergängen Ge‐ sellschaft leistest.« »Ja klar, mache ich.« »Dann bekommst du deinen Schatz an dem Morgen, bevor du wieder nach Tokio fährst.« »Versprochen?« Um den Handel zu besiegeln, leisteten sie einen Schwur, indem sie sprachen: »Ehrenwort, Hand aufs Herz.« Kayo wusste nicht genau, ob Yuko mit dem Schatz, den sie für
sie bereithielt, zufrieden sein würde. Ja, sie war sich nicht einmal sicher, ob er für ihre Enkelin auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Schatz haben würde. Sie musste sichergehen, dass Yuko das wirklich verstand, und dafür musste sie ihr noch eine Menge weiterer Geschichten erzählen. Nur so würde das Mädchen sich spontan und lebhaft vorstellen können, in welcher Situation die Worte entstanden waren, die sie ihr mitgeben würde. Eines stand für Kayo jedoch fest: In dem langen Leben, das Yu‐ ko noch vor sich hatte, musste einmal ein Tag kommen, an dem der Schatz seinen wahren Wert offenbaren würde.
Yoshimi Matsubara setzte abrupt ihr Wasserglas vom Mund ab. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus hob sie es gegen das Neonlicht und ließ es etwas über ihrer Augenhöhe kreisen. An der Wasseroberfläche waren einige Bläschen zu sehen; außerdem entdeckte Yoshimi unzählige tanzende Staubpartikel, die zwi‐ schen den Bläschen zu hängen schienen. Sie war nicht sicher, ob der Staub aus dem Leitungswasser stammte oder vor dem Ein‐ füllen bereits im Glas gewesen war. Yoshimi hielt es für besser, keinen zweiten Schluck zu trinken, und schüttete das Wasser mit angeekelter Miene in den Ausguss. Das Wasser schmeckte hier eindeutig anders. Vor drei Monaten waren sie aus ihrer Wohnung in Musashino in dieses sechsstö‐ ckige Gebäude gezogen, das auf einer zugeschütteten Mülldepo‐ nie erbaut worden war. Sie lebte also schon lange genug hier, konnte sich aber einfach nicht an das Leitungswasser gewöhnen. Nur aus alter Gewohnheit hatte sie den ersten Schluck so unvor‐ sichtig getrunken. Wenn ihr der Geruch des Wassers in die Nase stieg, der an Chlor erinnerte und doch ganz anders war, konnte sie meist nicht weitertrinken. Yoshimis Tochter Ikuko, die nun fast sechs Jahre alt war, un‐ terbrach sie in ihren Gedanken.
»Mami, ich möchte draußen ein Feuerwerk machen«, rief sie vom Sofa im Wohnzimmer. Ihre Freunde im Kindergarten hatten ihr ein paar Wunderkerzen geschenkt, und nun wartete sie un‐ geduldig darauf, dass ihre Mutter mit rausging und ihr half, sie anzuzünden. Yoshimi, die immer noch das leere Glas in der Hand hielt, war zu sehr in Gedanken, um auf die Bitte ihrer Tochter zu reagieren. Gerade überlegte sie, welche Stationen das Wasser auf seinem Weg vom Fluss Tone zu ihrem Wasserhahn wohl passierte. Wäh‐ rend sie im Geiste den Weg des Wassers verfolgte und mit der Wasserversorgung damals in Musashino verglich, hatte sie unerklärlicherweise plötzlich Bilder von stinkendem schwarzem Schlamm vor Augen. Sie wusste nicht genau, wann die Müllde‐ ponie zugeschüttet worden war und wann auf dem Neuland diese Wohnungen entstanden waren. Sie konnte auch nicht sa‐ gen, wie sich die Wasserrohre zwischen den Inseln hindurch‐ schlängelten. Aus einer Landkarte, welche die Entwicklung der Bucht von Tokio zeigte, ging hervor, dass Ende der Zwanziger‐ und Anfang der Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts das Land, auf dem sie nun lebten, noch nicht existiert hatte. Bei dem Gedanken daran, wie ungesund der Boden unter ihren Fü‐ ßen war ‐ die Ansammlung des Mülls von mehreren Generatio‐ nen ‐, lockerte Yoshimi ihren Griff um das Glas. Ihre Tochter unterbrach sie erneut in ihren Gedanken, diesmal allerdings schon vorwurfsvoller. Es war ein Sonntagabend Ende August, und je dunkler es wurde, desto drängender wurden Ikukos Bitten an ihre Mutter, mit ihr nach draußen zu gehen und die Wunderkerzen anzuzünden. Ohne das Wasser abzudrehen, drehte Yoshimi sich zum Wohnzimmer um. »Aber wo um alles in der Welt sollen wir denn hier in der Ge‐ gend ein Feuerwerk machen?« Sie wies ihre Tochter daraufhin,
dass der Park am Kanal vor ihrem Haus wegen Umgestaltungs‐ arbeiten geschlossen war, und wollte Ikuko ihre Bitte schon ab‐ schlagen, weil es in der Nachbarschaft sonst keinen Platz gab, an dem sie ein Feuerwerk hätten machen können. Plötzlich fiel ihr jedoch ein, dass sie noch nie auf dem Dach ihres Wohnblocks gewesen war. Mit einer Schachtel Streichhölzer, einer Kerze und einer Plastik‐ tüte verließen sie die Wohnung im dritten Stock und gingen zum Fahrstuhl. Sie drückten auf den Knopf für »aufwärts« und warte‐ ten. Als der Aufzug kam und die Türen sich öffneten, imitierte Ikuko einen Liftboy mit einer unangenehm hohen Stimme: »Gu‐ ten Abend, gnädige Frau. Welches Stockwerk, bitte?« »Sechster Stock, bitte«, ging Yoshimi auf das Spiel ein. »Sehr wohl, gnädige Frau.« Mit einem leichten Nicken wandte Ikuko sich um und wollte auf den Knopf für den sechsten Stock drücken, musste jedoch feststellen, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Yoshimi kicherte, als sie sah, wie die Kleine sich abmühte. Ikuko stand auf den Zehenspitzen und reckte den Arm, so hoch es nur ging, doch mit ausgestrecktem Zeigefinger schaffte sie es nur bis zum Knopf für den dritten Stock. Inzwischen hatten sich die Türen des Fahr‐ stuhls automatisch geschlossen. »Wirklich schade«, bemerkte Yoshimi, während sie selbst den Knopf für den sechsten Stock betätigte. Anstelle einer Antwort zog Ikuko einen Schmollmund. Der Knopf des Fahrstuhls fühlte sich irgendwie rau an, und Yoshimi wischte sich unbewusst den Finger am Saum ihres Lei‐ nenrocks ab, um die hartnäckige Empfindung loszuwerden. Je‐ des Mal, wenn sie den Aufzug benutzte, deprimierte sie die schwärzlich‐blasige Oberfläche der Knöpfe. Irgendjemand hatte alle, vom Erdgeschoss bis zum sechsten Stock, mit einer Zigarette
angeschmort. Keiner der ursprünglich weißen Knöpfe war ver‐ schont geblieben, nur das »Rauchen verboten«‐Schild an der Sei‐ te war erstaunlicherweise unversehrt. Immer wenn Yoshimi sich fragte, warum jemand so etwas tat, lief ihr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Sie dachte sich, dass hier jemand, der eigentlich auf die Gesellschaft wütend war, seinen Frust an ande‐ ren Menschen ausgelassen hatte. Am meisten Angst machte ihr dabei, dass dieser Mann (denn sie konnte sich nur einen Mann als Täter vorstellen) den Fahrstuhl des Wohnblocks benutzte, in dem sie lebten. Als allein erziehende Mutter wurde sie die na‐ gende Angst davor, »was alles passieren konnte«, niemals los. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie wieder einen Mann brauchte ‐ von Männern hatte sie ein für alle Mal die Nase voll. Während ihres zweijährigen Zusammenlebens hatte sie sich von ihrem Mann nicht ein einziges Mal beschützt gefühlt. Vor vie‐ reinhalb Jahren hatten sie sich getrennt; ein Jahr später war die Scheidung rechtsgültig gewesen. Die Nachricht, dass die Schei‐ dung vollzogen war, hatte Yoshimi mit großer Erleichterung aufgenommen. Sie war von Natur aus unfähig, sich an das Zu‐ sammenleben mit einem Mann zu gewöhnen. Das schien in ihrer Familie zu liegen: Auch ihrer Mutter und Großmutter war es ähnlich ergangen, sodass sie nun schon in der dritten Generation eine Tochter allein großzog. Sie spürte, wie Ikuko ihre Hand um‐ klammerte. Sie konnte sich vorstellen, dass ihre Tochter in etli‐ chen Jahren einmal heiraten und ein oder mehrere Kinder haben würde, doch dabei wurde sie das Gefühl nicht los, dass auch Ikukos Ehe nicht von Dauer sein würde. Als der Fahrstuhl anhielt und die Türen sich öffneten, konnten sie über die Bucht von Tokio blicken. Sie verließen den Aufzug und schauten auf beiden Seiten den Korridor hinunter. Links und rechts lagen jeweils vier Wohnungen; es gab allerdings kei‐
nerlei Anzeichen dafür, dass sie bewohnt waren. Das Haus war vor vierzehn Jahren erbaut worden, und nun war auch hier zu spüren, dass Japans »Wirtschaftsblase« geplatzt war. Einige Jahre zuvor war plötzlich ein Projekt für den Bau eines riesigen Wolkenkratzers mit so genannter intelligenter Gebäude‐ technologie aufgetaucht, woraufhin sich Grundstücksspekulan‐ ten auf den Wohnblock und die benachbarten, an verschiedene Geschäftsleute verpachteten Gebäude gestürzt hatten. Die Mieter vor die Tür zu setzen war jedoch schwieriger als erwartet gewe‐ sen. Die Versuche hatten sich ohne Erfolg endlos hingezogen, bis schließlich mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft auch das Bauprojekt hinfällig gewesen war. Damals waren etwa die Hälfte der achtundvierzig Wohneinheiten in dem Gebäude bereits ver‐ kauft gewesen. Auch der anschließende Wiederverkauf der Wohnungen war nicht leicht, sodass letztendlich zwanzig von ihnen weit unter Marktwert vermietet wurden. Davon hatte Yos‐ himi zufällig durch einen Freund erfahren, der im Immobilienge‐ schäft tätig war. Sie hatte immer davon geträumt, eine Wohnung mit Blick aufs Meer zu haben. Deshalb hatte sie die Chance da‐ mals ergriffen, um sich den lang gehegten Traum zu erfüllen. Ihr Wunsch war so übermächtig gewesen, dass sie ihre Mietwoh‐ nung in Musashino aufgab, wo sie so lange gelebt hatten, und in eine völlig andere Umgebung auf einem Stück neu gewonnenen Landes zog. Sie hatte es einfach nicht mehr ertragen können, in einem Haus zu wohnen, in dem der Geruch ihres Exmannes im‐ mer in der Luft hängen würde. Außerdem hatte sie gedacht, dass es nun, da ihre Mutter gestorben war, für sie und ihre Tochter praktischer sein würde, im Stadtteil Minato zu leben, wo der Kindergarten viel besser zu erreichen war. Der Verlag, für den Yoshimi arbeitete, lag auch ganz in der Nähe, im Stadtteil Shim‐ bashi. Der größte Vorzug des neuen Wohnorts würde also sein,
dass sie die Zeit, die sie durch den kürzeren Arbeitsweg einspar‐ te, ihrer Tochter widmen konnte. Doch nachdem sie umgezogen waren, stellte Yoshimi fest, dass viele Eigentümer die Wohnungen als Geldanlage erworben hat‐ ten und die meisten Einheiten in Büros umgewandelt worden waren. Daher war der Wohnblock abends nahezu menschenleer. Etwa fünf oder sechs Mieter lebten allein in ihren Wohnungen. Die einzige Familie im ganzen Gebäude wohnte im dritten Stock, in Nummer 405 ‐ Yoshimi und ihre Tochter. Der Hausmeister hatte Yoshimi erzählt, früher habe eine Familie mit einer Tochter in Ikukos Alter im ersten Stock gelebt. Nach einem tragischen Unglück in der Familie oder etwas Ähnlichem seien sie aber im vergangenen Jahr weggezogen. Seitdem hatte der Wohnblock keine Kinder mehr gesehen, bis Yoshimi und Ikuko vor drei Mo‐ naten eingezogen waren. Yoshimi suchte in dem verlassenen sechsten Stock nach einer Treppe, die aufs Dach hinaufführte. Gleich rechts neben dem Fahrstuhl fanden sie den Aufgang nach oben. Yoshimi stieg als Erste die steilen Stufen hinauf und hielt dabei die nachfolgende Ikuko an der Hand fest. Direkt vor dem Maschinenraum des Fahrstuhls befand sich eine schwere Eisentür, die unverschlossen zu sein schien. Yoshimi versuchte, an dem Knauf zu drehen und die Tür aufzustoßen, die auch überraschend leicht nachgab. Die Fläche, die sie dort oben vorfanden, war eigentlich zu klein, um den Namen Hausdach zu verdienen ‐ sie war nur dreißig oder vierzig Quadratmeter groß. An allen vier Ecken standen Betonpfeiler, und ringsum lief ein halbhohes Geländer. Als Ikuko sich dem Rand näherte, brachte Yoshimi es nicht fertig, sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Sie hatte das Ge‐ fühl, dass allein das Gewicht ihres Kopfes die Kleine über das Geländer ziehen würde, wenn sie darüberschauen und nach un‐
ten spähen sollte. Und hier, auf dieser Plattform oben in der Luft, zündeten sie in der zunehmenden Dämmerung des ruhigen, windstillen Abends ihre Wunderkerzen an. Die roten Funken hoben sich deutlich gegen den dunkler werdenden Abendhimmel ab. Rechterhand unter ihnen spiegelten sich die Straßenlampen flackernd im Ka‐ nal. Auf der anderen Seite konnten sie die beinahe fertig gestellte Rainbow Bridge sehen, die Shibaura mit Daiba verbinden sollte. Im rötlichen Schein der Lampen leuchtete die Hängebrücke so hell, dass sie beinahe mehr wie ein Feuerwerkskörper wirkte als Ikukos Wunderkerzen. Während Yoshimi die Aussicht von dort oben genoss, quiekte Ikuko vor Freude über die hübschen kleinen Wunderkerzen, die sie in die Luft hielt. Als alle zwanzig oder dreißig nur noch ver‐ kohlte Stäbchen waren, machten sie sich auf den Rückweg in ihre Wohnung. In diesem Moment entdeckten sie es. Sie sahen es, als sie sich zu der steilen Treppe umwandten. Die Wand, hinter der sich die Treppe nach unten befand, war zugleich eine Wand des Auf baus, auf dem der Tank für die Wasserversorgung des Ge‐ bäudes ruhte. Neben einem kleinen Rinnsal am Fuß dieser Wand bemerkten sie einen kleinen Gegenstand, der wie eine Tasche aussah. Jemand musste sie verloren haben, obwohl es eher aus‐ sah, als wäre sie absichtlich dort hingelegt worden. Wer ausge‐ rechnet aus diesem Haus konnte auf das Dach heraufgekommen sein und eine Tasche zurückgelassen haben? Ikuko nahm sie in die Hand. Kaum hatte sie die Tasche erblickt, war sie mit einem Aufschrei hinübergerannt und hatte sie aufgehoben. »Da ist Kitty drauf«, murmelte sie, obwohl es schwierig war, in der Dunkel‐ heit etwas zu erkennen. Als Ikuko die Tasche gegen das Licht hielt, das von den Straßenlampen heraufschien, war zu erkennen, dass sie Recht hatte: Die Tasche war ein billiges Vinylding mit
einem Kitty‐Motiv auf der Seite. Der hellrote Kunststoff wurde durch Ikukos festen Griff ganz zerknautscht. Die Kleine strich die Tasche glatt und öffnete den Reißverschluss, um zu sehen, was darin war. »Gib her«, fuhr Yoshimi sie an und riss ihrer Tochter die Tasche aus der Hand. Als Yoshimis Mutter noch gelebt hatte, waren sie zu dritt oft im Hügelland rund um Musashino spazieren gegangen. Dabei hat‐ ten sie häufig verloren gegangene oder weggeworfene Sachen gefunden und mit nach Hause genommen. Kein Wunder, dass die Generation ihrer Mutter der Meinung war, heutzutage wüss‐ ten die Menschen den Wert der Dinge nicht mehr zu schätzen. An dieser Haltung war auch nichts auszusetzen. Trotzdem konn‐ te Yoshimi es nicht ertragen, wenn ihre Tochter im Abfall he‐ rumwühlte. Darüber hatte sie sich mit ihrer Mutter immer wie‐ der gestritten. Ein ums andere Mal hatte sie Ikuko erklärt, war‐ um man Fundsachen nicht einfach aufhob. Sie hatte versucht, ihrer Tochter beizubringen, dass es falsch war, etwas mitzuneh‐ men, das ihr nicht gehörte, ganz gleich, was es war. Yoshimis Mutter hatte angesichts solcher Strenge stets die Stirn gerunzelt und ihrer Tochter vorgeworfen, sie übertreibe. Nun, da sie Ikuko die Tasche weggenommen hatte, stand Yos‐ himi vor dem Problem, was sie damit machen sollte. Von außen konnte man fühlen, dass die Tasche etwas Eckiges enthielt. Yos‐ himis Gewissenhaftigkeit verbot ihr jedoch, sie aufzumachen und nachzusehen, was es war. Sie beschloss, dass es das Beste wäre, den Hausmeister um Rat zu fragen. Der Hausmeister war ein Witwer namens Kamiya. Seit er vor zehn Jahren aus Altersgründen seine Stelle bei einer Speditions‐ firma aufgegeben hatte, war er in diesem Wohnblock, in dem er auch lebte, als Hausmeister tätig. Die Arbeit wurde zwar nicht
gut bezahlt, aber aufgrund der freien Unterkunft war das Ganze dennoch ideal für einen alten, allein stehenden Mann. Kaum hatte Yoshimi ihm die Tasche ausgehändigt, öffnete Herr Kamiya sie und leerte den Inhalt auf die Theke zwischen seinem Büro und der Eingangshalle. Drei Spielzeuge, wie Kinder sie mit in die Badewanne nehmen, waren darin: ein Plastikfrosch zum Aufziehen, dessen vier Beine sich bewegten, wenn man ihn auf‐ zog, ein kleiner Bär mit einem Rettungsring und ein hellroter Plastikbecher mit dem gleichen Kitty‐Motiv wie auf der Seite der Tasche. Als Ikuko das Spielzeug sah, schrie sie auf und streckte die Hand danach aus, zog sie jedoch sofort zurück, als sie den wütenden Blick ihrer Mutter bemerkte. »Wie merkwürdig«, sagte Herr Kamiya nachdenklich. Ihn ers‐ taunte weniger, dass jemand eine Tasche auf dem Dach zurück‐ gelassen hatte, als vielmehr, warum ausgerechnet in diesem Wohnblock die Spielsachen eines Kindes gefunden wurden. »Sie könnten einen Zettel aufhängen und versuchen, den Besit‐ zer auf diese Weise zu finden«, schlug Yoshimi vor. »Ja, aber die kleine Ikuko ist das einzige Kind im ganzen Haus. Nicht wahr, Ikuko?« Kamiya hatte gedacht, Ikuko würde ihm beipflichten, doch sie stand stumm neben ihrer Mutter und starr‐ te die Kitty‐Tasche und den roten Becher an. Ihre Miene zeigte nur zu deutlich, was sie beschäftigte: Sie wollte die Tasche mit‐ samt dem Spielzeug behalten. Ihr verlangender Blick ärgerte Yoshimi so sehr, dass sie die Kleine an der Schulter packte und zwang, ein paar Schritte von der Theke zurückzutreten. »Sie haben einmal erwähnt, dass früher eine Familie im ersten Stock gewohnt hat...«, sagte Yoshimi. »Ja, das stimmt.« Herr Kamiya schaute überrascht auf. »Sagten Sie nicht, die Leute hätten ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren gehabt?«
»Ja, richtig, aber das ist zwei Jahre her.« »Zwei Jahre? Ich dachte, Sie hätten erwähnt, die Familie wäre letztes Jahr ausgezogen.« Der Hausmeister bückte sich und begann, seinen Knöchel zu kratzen. »Hm, ja ... ausgezogen sind sie letzten Sommer.« Genau das hatte Kamiya ihr auch vor etwa drei Monaten er‐ zählt. Und er hatte etwas von einer Familientragödie gesagt, we‐ gen der die Leute weggezogen seien. Yoshimi vermutete, dass die Tasche ihnen gehört hatte und sie sie bei ihrem Umzug auf dem Dach vergessen hatten. Andererseits war es nicht sehr wahrscheinlich, dass die Tasche mitsamt Inhalt ein ganzes Jahr lang in Wind und Wetter dort oben gelegen hatte. Sie war weder fleckig noch verstaubt, sah vielmehr brandneu aus, als wäre sie erst an diesem Tag gekauft worden. »Also schön. Ich versuche es mal und lege die Tasche für eine Weile hier aus. Mal sehen, ob wir den Besitzer finden.« Mit die‐ sen Worten wollte der Hausmeister das Gespräch beenden. Schließlich handelte es sich nur um eine billige Tasche, und es war ihm völlig gleichgültig, ob der Besitzer auftauchen würde oder nicht. Yoshimi rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Sie fingerte in ihren kastanienbraunen Locken herum und überlegte, ob sie aus‐ sprechen sollte, was sie eben gedacht hatte. »Wenn der Besitzer nicht auftaucht, Ikuko, dann kannst du die Tasche haben, ja?«, schlug Herr Kamiya vor und lächelte Ikuko an. Mit energischem Kopf schütteln lehnte Yoshimi ab. »Nein, das wäre nicht richtig. Wenn der Besitzer sich nicht meldet, werfen Sie die Tasche bitte weg.« Damit verließ Yoshimi hastig das Büro des Hausmeisters und schob Ikuko vor sich her, als müsste sie
die Kleine von etwas Ansteckendem oder Giftigem fern halten. Eine Sache bereitete Yoshimi noch Kopfzerbrechen, als sie und Ikuko im Aufzug nach oben fuhren. Sie hatte es vermieden, die so genannte »Tragödie« anzusprechen, die angeblich in jener Familie geschehen war. Schließlich wollte sie nicht den Eindruck erwecken, sie gehörte zu den Menschen, die sich mit Vorliebe über das Unglück anderer unterhielten. Dennoch ließ die Frage sie nicht los, und sie wollte zu gerne wissen, was genau damals passiert war. Der nächste Tag war ein Montag. Am Morgen brachte Yoshimi mehr Zeit als üblich damit zu, sich die Haare zu kämmen. Aus dem Wohnzimmer konnte sie die Titelmelodie einer Kindersen‐ dung im Fernsehen hören. Für sie war das ein Signal ‐ sie wusste nun, dass sie noch reichlich Zeit hatte, bis sie sich auf den Weg zur Arbeit machen musste. Gegen neun Uhr würde sie Ikuko zum Kindergarten bringen, dann direkt vor dem Kindergarten in einen Bus steigen und zwanzig Minuten später im Verlag in Shimbashi ankommen. Die Zeit und Mühe, die sie der Arbeits‐ weg hier kostete, waren nichts im Vergleich zu dem anstrengen‐ den Pendeln damals, als sie noch in Musashino gewohnt hatten. Allein aus diesem Grund hatte sich der Umzug schon gelohnt. Wären sie in Musashino geblieben, hätte sie Ikuko nicht in den Kindergarten bringen und selbst sicherlich nicht arbeiten gehen können. Zwar konnte sie jederzeit einen anderen Job finden, aber es war unwahrscheinlich, dass sie noch einmal eine so gute Stel‐ lung bekommen hätte wie ihre jetzige im Lektorat eines Verlags‐ hauses. Die Arbeit dort erlaubte ihr nicht nur, sich der Welt der Bücher ‐ einem ihrer Steckenpferde ‐ hinzugeben, sondern es gab auch keine Überstunden, und man hatte nur wenig mit den Kol‐ legen zu tun. Obendrein war die Bezahlung angemessen. Ikuko kam mit einer rosafarbenen Haarschleife herein und bat
ihre Mutter, ihr damit die Haare zurückzubinden. Der Knoten, den sie selbst gerade gebunden hatte, war wieder aufgegangen, sodass ihr beinahe schulterlanges Haar offen herabhing. Als sie ins Haar ihrer Tochter fasste, staunte Yoshimi wieder einmal, wie offensichtlich es war, dass das Kind ihre Gene hatte. Ihre beiden Gesichter in dem dreiteiligen Spiegel sahen nahezu identisch aus: die gleichen kastanienbraunen Locken, die gleiche helle Haut und die gleichen Sommersprossen unter den Augen. Das eine Gesicht war das einer Frau von Mitte dreißig, das ande‐ re das eines knapp sechsjährigen Mädchens. »Nudeln ...« Yoshimi erinnerte sich, wie damals auf der Ober‐ schule einmal ein Junge gesagt hatte, ihr Haar sehe aus, als hätte ihr jemand eine Schüssel Nudeln über den Kopf geschüttet. Da‐ mals hatte sie alles an sich gehasst: ihre Naturlocken, ihr Gesicht, ihre Sommersprossen und ihren mageren Körper. Und doch ‐ wie viele Jungen auf der Oberschule hatten ihr gesagt, dass sie verrückt nach ihr waren? Ihr war es nie in den Sinn gekommen mitzuzählen. Sie konnte einfach nicht verstehen, was sie an ihr fanden. Die einzige Erklärung war, dass ihr eigenes Schönheits‐ ideal sich grundlegend von dem anderer Menschen unterschied. Jeder hatte ihr gesagt, wie hübsch ihr Gesichtchen mit den Som‐ mersprossen sei und wie schön sich das rötliche Braun ihrer Haare dagegen abhebe, eine Haarfarbe, die man bei einer Japane‐ rin normalerweise nicht erwartete. Sie verstand es wirklich nicht. Als die Jungen merkten, wie gleichgültig sie reagierte, machten sie sich hinter ihrem Rücken über ihr rotbraunes Haar lustig. Es gab eine Menge Mädchen, die besser zurechtkamen; sie konnten sagen, was sie wollten, ohne auch nur im geringsten Gefahr zu laufen, dass später über sie gelästert wurde. Hiromi, eine von Yoshimis Klassenkameradin‐ nen auf der Oberschule, war ein klassisches Beispiel dafür.
Als ihr Haar wieder zusammengebunden war, sagte Ikuko ein rasches »Dankeschön« zu ihrem Spiegelbild, aber nicht zu ihrer Mutter. Dann flitzte sie wieder ins Wohnzimmer, um fernzuse‐ hen. Yoshimi konnte an Aussehen oder Wesen der Kleinen keine Ähnlichkeit mit ihrem Exmann erkennen. Wenigstens das war ein Glück. An der körperlichen Vereinigung von Mann und Frau hatte sie noch nie etwas finden können. Die einzige Beschrei‐ bung, die ihr dazu einfiel, war »Quälerei«. Und dabei wurde überall so viel über Sex geredet. Sie konnte es einfach nicht be‐ greifen. Es war, als stünde eine unüberwindliche Barriere zwi‐ schen ihr und den anderen Menschen. Sie unterschieden sich in allem von ihr, ob es nun darum ging, was schön oder hässlich war, oder um eine Definition von Schmerz und Lust. Ihre Wahr‐ nehmung der Welt war größtenteils völlig anders als die der meisten Menschen. Als ihr Mann gemerkt hatte, dass seine Frau nicht gewillt war, seine Bedürfnisse zu befriedigen, griff er oft zu Selbsthilfemaß‐ nahmen und warf anschließend die gebrauchten Kosmetiktücher einfach unter das Sofa. Einmal hatte Yoshimi mit den Fingerspit‐ zen in klebrige Körperflüssigkeit gefasst, als sie am nächsten Morgen, ohne aufzupassen, ein zusammengeknülltes Tuch auf‐ hob. Sie hatte die dümmlichen Gesichtszüge ihres Mannes vor sich gesehen, sodass kein Raum mehr für den Wunsch geblieben war, ihn zu verstehen. In solchen Momenten zitterte sie vor Ab‐ scheu und Verachtung am ganzen Körper. Die vertraute Stimme einer Fernsehansagerin aus dem Wohn‐ zimmer erinnerte Yoshimi daran, dass es jetzt Zeit war, sich auf den Weg zum Kindergarten zu machen. Ikuko stieß die Tür auf und rannte zum Fahrstuhl, um vor ihrer Mutter den »Abwärts«‐Knopf zu drücken. Unten im Erdgeschoss führte der einzige Weg aus dem Gebäude am Büro des Haus‐
meisters vorbei. Yoshimi und Ikuko sahen gleichzeitig, dass die rote Tasche, die sie gefunden hatten, auf der Theke lag. Der Reißverschluss war geschlossen, und an der Tasche hing ein Zet‐ tel mit der Aufschrift: FUNDSACHE Informationen über den Besitzer bitte an den Hausmeister. Nach Herrn Kamiya fragen. Auch wenn der Hausmeister ihrem Vorschlag entsprechend gehandelt hatte, hielt Yoshimi es für ziemlich unwahrscheinlich, dass der Besitzer auftauchen würde. Der September brachte keine Erholung von der brütenden Sommerhitze; vielmehr wurden Rekordtemperaturen gemessen. Die hellrote Tasche mit dem Kitty‐Motiv lag drei Tage lang un‐ verändert auf der schwarzen Theke des Hausmeisterbüros. Jedes Mal, wenn Yoshimis Blick morgens und abends im Vorbeigehen darauf fiel, hatte sie eine unerklärliche Wahnvorstellung: Die hellrote Tasche schien Flammen zu symbolisieren. Und wie zum Beweis, dass dieses Trugbild Wirklichkeit war, ließ in dem Au‐ genblick, als der Hausmeister die Tasche von der Theke herun‐ ternahm, die Gluthitze des Spätsommers plötzlich nach. War der Besitzer gekommen, um seine Tasche abzuholen? Oder hatte der Hausmeister sie weggeworfen? Wie auch immer, es spielte keine Rolle mehr. Yoshimi hatte mit der Tasche nichts mehr zu tun. Stattdessen bereitete ihr nun etwas anderes Sorgen. Sie litt unter Depressionen, weil sie Stress am Arbeitsplatz hatte. Nach sechs Jahren stand das Lektorat eines weiteren umfangreichen Romans eines Autors an, den Yoshimi wegen seiner Neigung zu Gewalt‐ szenen noch gut in Erinnerung hatte. Ihr Vorgesetzter hatte ihr die Korrekturfahnen ausgehändigt, sobald sie am Morgen zur
Arbeit gekommen war. Zu ihren Aufgaben gehörte es, Fehler im Manuskript zu finden. Dazu musste sie den Text wieder und wieder gründlich durchle‐ sen. Als sie vor sechs Jahren das erste Manuskript dieses Autors bearbeitet hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, dass es sie trau‐ matisieren würde. Sie war so schockiert gewesen, dass sie beina‐ he einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Die brutalen Sze‐ nen des Romans brannten sich in ihr Gedächtnis ein und verfolg‐ ten sie sogar in Form von Albträumen. Sie war kurz davor, psy‐ chologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um mit den Folgen ihrer Arbeit an dem Roman fertig zu werden. Mehrfach wurde sie in Wellen von einer kräftezehrenden Übelkeit befallen; sie verlor den Appetit und nahm prompt ungefähr vier Kilo ab. Au‐ ßerdem vermochte sie häufig nicht mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden. Sie beschwerte sich bei dem Lektor, der für das Projekt verant‐ wortlich war, und fragte ihn, warum der Verlag ein Werk von einem solchen Autor im Programm habe. Ziemlich von oben he‐ rab erklärte der Lektor ‐ ein Mann von Mitte zwanzig ‐, dass es keinen Grund zur Klage gebe; das Werk des Autors verkaufe sich gut, und das sei alles, was zähle. Diese Bemerkung erinnerte Yoshimi wieder einmal daran, wie hoch die Barriere war, die sie von anderen Menschen trennte. Ihr war unbegreiflich, dass jemand bereit war, gutes Geld zu bezah‐ len, um einen so abscheulichen Roman zu lesen. Die breite Masse jenseits der Barriere tickte völlig anders als sie. Und als wäre das alles noch nicht genug gewesen, stieß sie ein Jahr später erneut auf den Roman ‐ in einer Taschenbuchausgabe, die bei einem anderen Verlag erschienen war, stand er zu Hause im Bücherre‐ gal ihres Mannes. Als Yoshimis Blick darauf fiel, packte sie regel‐ rechtes Grauen, und sie sah im Geiste ihren Mann vor sich, wie
er von dem Buch zu blutrünstigen Fantasien angeregt wurde. Solche Momente hatten sie in ihrem Entschluss bestärkt, sich von ihm scheiden zu lassen. Am Morgen des folgenden Tages, einem Sonnabend, sah Yos‐ himi die rote Kitty‐Tasche wieder. Diesmal fand sie das Ding unerwartet in der Mülltonne der Wohnanlage. Sie war hinausge‐ gangen, um nicht brennbaren Abfall zu entsorgen, und hatte den Deckel der großen Plastikmülltonne angehoben. Die rote Tasche lag eingeklemmt zwischen zwei schwarzen Müllsäcken. Auch wenn Yoshimi einen Augenblick lang stutzte und die Tasche anstarrte, war es doch nicht weiter schwierig nachzuvollziehen, wie sie hierher gekommen war. Der Hausmeister hatte sie weg‐ geworfen, weil er es für ausgeschlossen hielt, dass der Besitzer jemals auftauchte. Als wäre nichts geschehen, stopfte Yoshimi ihren Müllsack, der randvoll mit sortiertem Abfall war, oben auf die Tasche und klappte den Deckel der Mülltonne wieder zu. Damit war die Sache dann wohl erledigt. Die Müllabfuhr wür‐ de die Tasche abtransportieren, zusammen mit dem übrigen nicht brennbaren Abfall, der zur Aufschüttung von weiterem Neuland bestimmt war. Am ersten Sonntag im September gingen Yoshimi und Ikuko in einen Laden in der Nachbarschaft, um ein paar Sachen einzukau‐ fen. Sie stellten fest, dass Feuerwerkskörper nun, gegen Ende der Sommersaison, im Preis stark reduziert waren. Ja, sie waren so billig, dass Yoshimi Ikukos Betteln unmöglich mit dem Argu‐ ment begegnen konnte, sie seien zu teuer. Wenn die letzten Feuerwerkskörper aus den Regalen des Ladens verschwanden, war das ein Zeichen dafür, dass die ersterbende Glut des Som‐ mers erloschen war. Da Yoshimi den Sommer liebte, konnte nicht einmal sie der Verlockung der allerletzten Feuerwerkskörper widerstehen, löste ihr baldiges Verschwinden doch eine gewisse
Wehmut in ihr aus. Daher fand sie es ganz natürlich, dass Ikuko den Wunsch äußerte, an diesem Abend noch einmal Wunderker‐ zen anzuzünden. Genau zur gleichen Zeit wie eine Woche zuvor begaben sie sich auf das Dach. In dem Moment, als sie den Türknauf anfasste, um die Tür nach draußen zu öffnen, beschlich Yoshimi eine schreck‐ liche Vorahnung. Etwas Rotes flackerte vor ihrem geistigen Auge vorbei. Als sie die Tür aufstieß, schaute sie unwillkürlich nach rechts. Sofort fiel ihr Blick auf einen Gegenstand, als hätte sie gewusst, dass er dort war. Etwas leuchtend Rotes erhellte den dunkelgrauen, wasserdichten Belag des Flachdaches. Obwohl man in der Dämmerung ebenso wenig erkennen konnte wie in der Vorwoche, sprang die grelle Farbe einem ins Auge. »Oh ...« Yoshimi erstarrte mit offenem Mund; dann wich sie, ohne ein Wort zu sagen, zurück und tastete hinter ihrem Rücken hektisch nach ihrer Tochter. Ikuko aber duckte sich blitzschnell, schlüpfte unter den Armen ihrer Mutter hindurch und lief zu der Kitty‐Tasche hinüber, die genau an der gleichen Stelle lag wie eine Woche zuvor. »Halt!« Yoshimis Stimme zitterte. Eine unbeschreibliche Furcht überkam sie. In dem Moment, als Ikuko die Tasche aufheben wollte, hatte Yoshimi sie eingeholt und fegte die Tasche zur Seite, außer Reichweite von Ikuko. Die Kitty‐Figur an der Seite verlor die Form, als die Tasche sich auf dem Beton ein paar Mal über‐ schlug. Kein Zweifel ‐ es war dieselbe Tasche, die sie vor einer Woche auf dem Dach gefunden hatten, die Tasche, die drei Tage lang auf der Theke zum Büro des Hausmeisters gelegen hatte, bevor sie zusammen mit anderem Abfall in die Mülltonne ge‐ worfen worden war. Genau diese Tasche lag nun hier vor ihnen. Unbeirrt streckte Ikuko erneut die Hand danach aus, doch Yos‐ himi schlug darauf.
»Ich habe Nein gesagt, und das heißt auch Nein!« Das Herz klopfte ihr vor Angst bis zum Hals. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter die Tasche anfasste. Das lag an ihrem instinkti‐ ven Abscheu vor Dingen, die ihr nicht gehörten. Ikuko starrte die Tasche sehnsüchtig an, hob dann den Blick zu ihrer Mutter und wandte sich wieder der Tasche zu. Ihr Gesicht verzog sich, und sie brach in Tränen aus. So viel zu ihrem Feuerwerk. Tröstend strich Yoshimi ihrer Tochter mit kreisenden Bewegungen über die Schultern, wäh‐ rend sie zur Treppe zurückgingen und die Tür hinter sich schlos‐ sen. Nichts auf der Welt hätte sie dazu bringen können, die Ta‐ sche anzurühren. Der Gedanke, sie erneut dem Hausmeister zu geben, war ihr ebenso unangenehm, und es widerstrebte ihr im Innersten, je wieder auf das Dach hinaufzugehen. Yoshimi hätte zu gerne gewusst, wie so etwas passieren konnte. Die Tasche hatte in der Mülltonne gelegen ‐ wie um alles in der Welt hatte sie zurück auf das Dach gefunden? Ihre Schläfen schmerzten. Die Wörter »zurück auf das Dach gefunden«, die sie unbewusst gewählt hatte, verliehen der Tasche quasi ein Eigen‐ leben. Sobald sie wieder in der Wohnung waren, versuchte Yoshimi, die Kette an der Tür vorzulegen, doch sie stellte fest, dass sie ihre Hände nicht unter Kontrolle hatte. Auch ihre Beine zitterten. Als sie ihre Sandalen ausziehen wollte, fiel eine herunter und warf ein Paar von Ikukos Stiefeln um. Mit vorwurfsvoller Miene stellte Ikuko Sandalen und Stiefel wieder ordentlich hin. Ihr war deut‐ lich anzusehen, dass sie noch immer voller Sehnsucht an die Kit‐ ty‐Tasche dachte. Yoshimi stieg als Erste aus der Badewanne, trocknete sich ab und verließ das Badezimmer. Gedämpft hörte sie die Stimme
ihrer Tochter durch die Tür. Ikuko würde erst aus der Wanne kommen, wenn sie die Spielsachen aufgeräumt hatte, mit denen sie im Wasser geplantscht hatte. Sie war auch dazu erzogen wor‐ den, nach dem Baden immer den Stöpsel der Wanne zu ziehen. Ein Handtuch um den Körper gewickelt, nahm Yoshimi eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank im Essbereich und goss sich ein Glas ein. Sie hatte es sich zur Regel gemacht, jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Glas Milch zu trinken. Das war gut für eine regelmäßige Verdauung. Als sie ausgetrunken hatte, machte Ikuko immer noch keine Anstalten, aus der Wanne zu steigen. Yoshimi beugte sich vor und wollte ihrer Tochter gerade sagen, dass es jetzt genug sei, als sie Ikuko mit sich selbst reden hörte. Sie konnte allerdings nur Bruchstücke verstehen. »Das kommt, weil ich immer allein spiele ... Das kann dir jeder sagen ... Teddy... nicht fair... Mi ... ist... nie ... denke ich.« Das »Mi ...« fiel Yoshimi auf ‐ damit meinte Ikuko wahrschein‐ lich eine Freundin. Doch soweit sie wusste, begann keiner der Namen von Ikukos Freundinnen im Kindergarten oder in der Nachbarschaft mit »Mi«. Aber mit wem führte Ikuko dann ihr Fantasiegespräch? Ein Junge aus dem Kindergarten hieß Mikihi‐ ko, doch Ikuko nannte ihn immer bei seinem Familiennamen. Yoshimi öffnete die Badtür. In dem Bad, das mit Einbaumöbeln ausgestattet war, gab es eine Badewanne und eine Toilette nach westlichem Vorbild. Auf dem Wasser in der cremefarbenen Wanne schwamm eine Waschschüssel aus Plastik. In der Schüs‐ sel befand sich ein nasses kleines Handtuch, das wie eine Säule emporragte. Es sah ein bisschen aus wie eine Jizo‐Statue am Stra‐ ßenrand, aber eine, die den Kopf zur Seite geneigt hatte. Ikuko, die das Handtuch nass gemacht und in diese Form gewrungen hatte, schien sich nun damit zu unterhalten, als wäre es ein Spielkamerad. Aus dem Wasserhahn lief ein dünnes Rinnsal in
das Badewasser und verband die Öffnung des Hahns und die Wasseroberfläche durch eine dünne Wassersäule. Als die kleine Waschschüssel, die in der Wanne schwamm, dieses Rinnsal be‐ rührte, schaukelte sie ein wenig und begann sich zu drehen. »Ikuko, was machst du denn da? Komm raus.« Ikuko saß so in der Wanne, dass sie der Tür den Rücken zu‐ wandte, als sie ihrer Mutter antwortete. »Meine Freundin ist so gerne ganz allein in der Badewanne. Sie kommt nie, nie heraus.« Yoshimi fragte sich, wer »meine Freundin« sein mochte. »Das spielt keine Rolle. Du kommst jetzt raus«, wiederholte sie laut. Ikuko stellte die Schüssel ins Waschbecken und stand unter großem Geplätscher auf. Yoshimi wickelte sie in ein Badetuch und nahm sie in den Arm. Obwohl die Kleine so lange im Bade‐ wasser gesessen hatte, fühlten ihre Schultern sich merkwürdig kalt an. Kurz darauf schlief Ikuko auf ihrem Futon ein, das Bilderbuch, das sie angeschaut hatte, aufgeschlagen vor sich. Yoshimi über‐ legte, ob sie noch eine Weile aufbleiben und lesen sollte, ent‐ schied sich aber dafür, das Licht auszumachen und ins Bett zu gehen. Sie schlief ein, sobald sie sich die leichte Sommerdecke über die Brust gezogen hatte. Nach zwei Stunden kam sie schon wieder zu sich. Ihre Hand, die zur Seite ausgestreckt lag, konnte den vertrauten, warmen Körper neben sich nicht mehr spüren. Panisch warf Yoshimi sich herum und tastete nach Ikuko, doch sie fühlte sie nicht. Augenb‐ licklich war sie hellwach. Sie setzte sich halb auf, suchte den Fu‐ ton ab, auf dem Ikuko geschlafen hatte, und rief ihre Tochter beim Namen. Das kleine Nachtlicht am Fußende des Futons reichte aus, um ihr zu zeigen, dass das Zimmer leer war ‐ Ikuko war nicht da.
»Ikuko, Ikuko!« Yoshimi versuchte, lauter zu rufen. So etwas war vorher noch nie passiert. Ikuko hatte gewöhnlich einen sehr festen Schlaf. Sobald sie sich ins Bett gekuschelt hatte, schlief sie immer tief bis zum nächsten Morgen, ohne in der Nacht auch nur einmal aufzuwachen. Nur selten musste sie aufstehen, um zur Toilette zu gehen. Nachdem sie im Wohnzimmer und im Essbereich nachgesehen hatte, wollte Yoshimi gerade ins Bad schauen, doch das Licht dort war aus; Ikuko war offensichtlich nicht darin. Im gleichen Augenblick hörte Yoshimi jemanden mit kleinen Schritten drau‐ ßen durch den Korridor gehen. Sie stürzte zur Tür, wo sie feststellte, dass die Kette nicht vorge‐ legt war. Hatte sie das vergessen, als sie vom Dach zurückge‐ kommen waren, oder hatte Ikuko die Kette aufgemacht? Ohne darauf zu achten, dass sie nur ein Negligee trug, eilte sie auf den Flur hinaus. Dort sah sie, wie am Fahrstuhl die Zahlen der Stockwerke aufleuchteten, eine nach der anderen. Die Ziffer vom vierten Stock ging aus, die Fünf leuchtete auf und erlosch wieder. Als die Sechs aufleuchtete, blieb der Aufzug stehen. Im obersten Stockwerk, wo niemand wohnte. Dort oben war gerade jemand ausgestiegen, und Yoshimi vermutete stark, dass dieser Jemand Ikuko war. Das war ja auch verständlich: Die Kleine konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Kitty‐Tasche auf dem Dach liegen geblieben war, überlegte Yoshimi. Sie wollte die Tasche scheinbar unbedingt haben, wusste aber ganz genau, dass ihre Mutter ihr niemals erlauben würde, etwas aufzuheben, das jemand anders weggeworfen hatte. Daher hatte sie gewartet, bis Yoshimi eingeschlafen war, bevor sie sich auf den Weg aufs Dach machte. Obwohl Yoshimi bezweifelte, dass Ikuko ihre Angst vor der Dunkelheit überwinden konnte, drückte sie auf den Knopf, um den Aufzug aus dem sechsten Stock herunterzuholen. Die
Kabine setzte sich oben in Bewegung, fuhr in den dritten Stock herunter, und die Tür öffnete sich. Yoshimi zog ihr Negligee en‐ ger um sich, als sie hineinging. Sie drückte den Knopf für den sechsten Stock, musste jedoch feststellen, dass der Aufzug entge‐ gen ihrer Erwartung sanft nach unten glitt. Sie trat ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand lehnte; dann schob sie die angewinkelten Ellbogen dichter zusammen, um ihre Brust zu bedecken. »O nein, es will noch jemand einsteigen.« Jemand musste in einem der unteren Stockwerke den Aufzug angefordert haben, bevor Yoshimi oben auf den Knopf gedrückt hatte. Wer immer es auch war, er musste sich im Erdgeschoss befinden. Bestimmt kam einer der Männer, die allein im vierten oder fünften Stock wohnten, betrunken nach Hause. Es war schon nach ein Uhr nachts. In diesem Moment hasste Yoshimi den Fahrstuhl, der ihr keinen Ausweg bot, denn sie fürchtete sich davor, von einem Betrunkenen angepöbelt zu werden. Plötzlich blieb der Aufzug stehen. Yoshimi schaute auf die An‐ zeige der Stockwerke ‐ sie war in der ersten Etage. Warum denn hier?, fragte sie sich, riss sich jedoch zusammen. Sie würde sich nie daran gewöhnen, spätabends oder nachts mit dem Aufzug zu fahren; es war ihr zu unheimlich. Die Fahrstuhl‐ tür öffnete sich, doch es stand niemand davor. Yoshimi zuckte zusammen; dann ging sie langsam zur Tür und spähte hinaus, zweimal nach rechts und zweimal nach links. Der dunkle, verlas‐ sene Korridor schien sich unendlich weit zu erstrecken. Offenbar war dort niemand. Wer um alles in der Welt hatte dann den Auf‐ zug nach unten geholt? Als die automatische Tür sich zu schlie‐ ßen begann, trat Yoshimi rasch zurück. Sie war sich ziemlich sicher, dass sich unmittelbar vor dem endgültigen Zuschnappen der Tür irgendetwas oder irgendjemand rasch in die Kabine
stahl. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein, aber plötzlich schien es in dem engen Fahrstuhl kälter zu werden. Sie war nicht mehr allein ‐ irgendetwas war mit ihr im Aufzug! Yoshimi spürte einen Atemhauch auf ihrem Unterleib, der sich anfühlte wie der Hauch, der an einem kalten Wintertag in der Luft als weiße Wol‐ ke zu sehen ist. Nun fuhr der Fahrstuhl aufwärts und hielt im sechsten Stock. Auf dem Absatz der Treppe, die auf das Dach hinaufführte, schaltete Yoshimi alle Lichter in dem Dachaufbau ein. Zwei Neonröhren an der Decke erwachten flackernd zum Leben. Durch die Helligkeit ermutigt, eilte sie die restlichen Stufen zum Dach hinauf. Sie stieß die Tür weit auf und ließ sie offen, damit das Licht von drinnen die Dachfläche erleuchtete. »Ikuko!«, rief sie. Doch so sehr sie auch die Augen anstrengte, sie konnte die kleine Gestalt ihrer Tochter nirgends entdecken. Sie schaute über das Geländer an der Westseite des Hauses, aber im Licht der Straßenlampen unten war nirgendwo ein dunkler Punkt zu er‐ kennen, der ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt hätte. Er‐ leichtert atmete sie auf ‐ Ikuko war nicht in den Tod gestürzt. Auf den anderen drei Seiten des Hauses befanden sich im sech‐ sten Stock überall Balkone. Selbst wenn Ikuko dort hinunterge‐ fallen wäre, wäre sie nicht tot gewesen. Aber wo war sie nur hingegangen? Yoshimis Kehle war wie zugeschnürt. Wer weiß?, dachte sie. Ikuko könnte auch irgendwo im Haus sein. Durfte sie das zu hoffen wagen? Mit solchen Gedanken wandte sie sich wieder dem Dachaufbau zu, aus dem das weiße Neonlicht herausschien. Mitten auf dem Aufbau thronte auf einigen Eisenträgern der cremefarbene Wassertank. Im Licht, das von unten heraufschien,
ragte er in den klaren Nachthimmel wie ein aufrecht stehender Sarg. Aus diesem Wasserspeicher bezogen alle Wohnungen un‐ ten ihr Leitungswasser. Im Schatten der Eisenträger konnte man zwei Seile oder etwas Ähnliches erkennen. Als Yoshimi genauer hinschaute, sah sie schwach einen kleinen Schatten, der unter dem Tank spielte. Merkwürdigerweise war nur der Schatten sichtbar, aber nicht, wer ihn verursachte. Vor Yoshimis innerem Auge tauchte jedoch sofort ein kleines Mädchen auf, das unter dem Tank kauerte. »Ikuko, bist du das da oben?« Es kam keine Antwort. Um über den Rand des Dachaufbaus zu spähen, würde Yoshimi die steile Aluminiumleiter erklimmen müssen, die an der Betonwand des Aufbaus befestigt war. Sie führte über zwei Meter senkrecht nach oben, sodass Yoshimi für den Aufstieg beide Hände und Füße brauchen würde. Obwohl es für jemanden von ihrer zierlichen Statur normalerweise schwie‐ rig war, wie eine Spinne an der Wand hochzukrabbeln, hievte sie sich hinauf, da sie unbedingt wissen wollte, was dort oben los war. Als sie auf halbem Wege nach unten schaute, um zu sehen, wie weit sie schon gekommen war, erspähte sie einen dunklen Gegenstand in der Nähe des Wasserrohres, das an der Wand des Dachaufbaus entlanglief. Er lag genau dort, wo er am Vorabend hingefallen war, nachdem sie ihn Ikuko aus der Hand geschlagen hatte. Yoshimis Gedanken überschlugen sich. Irgendetwas passte nicht zusammen; etwas Entscheidendes war ihr entgangen. Das dort oben auf dem Tank konnte unmöglich Ikuko sein, fol‐ gerte sie. Als ihr das klar wurde, hätte sie mit dem rechten Fuß beinahe eine Leitersprosse verfehlt. Es konnte auch nicht Ikuko gewesen sein, die mit dem Aufzug in den sechsten Stock hinauf‐ gefahren war ‐ ihre Tochter war zu klein, um an den Knopf für den sechsten Stock heranzukommen. Ein Schauder lief Yoshimi
den Rücken hinunter. Als sie nach oben schaute, sah sie, wie der Schatten allmählich Gestalt annahm. Kein Zweifel ‐ irgendetwas oder irgendjemand war dort unter dem Tank! Yoshimi hörte, wie die Gelenke ihrer Knie knackten, als würde sie sich überstrecken. Wenn das da oben nicht ihre Tochter war, wer war es dann? Sie musste nur noch ein wenig höher klettern, um über die Kan‐ te schauen zu können, doch der Mut verließ sie. Vor ihrem geis‐ tigen Auge flimmerten alle möglichen Bilder vorbei, und vor Angst wurde sie so starr, dass es schwierig wurde weiterzuklet‐ tern, egal, ob nach oben oder unten. In diesem Augenblick hörte sie die Stimme, nach der sie sich am meisten sehnte. Sie rief unmittelbar unter ihr: »Mami!« Yoshimi versagten die Kräfte. Sie war so erschöpft, dass sie sich nur noch mit Müh und Not an der Leiter festklammern konnte. Unter ihrem linken Arm hindurch sah sie Ikuko im Schlafanzug dort unten stehen. »Mami, Mami, was machst du denn da oben?« Aus Ikukos weinerlicher Frage klang ein leiser Vorwurf. Am nächsten Morgen nahm Yoshimi zur gewohnten Zeit ihre Tochter an die Hand und ging mit ihr zum Fahrstuhl. Als sie nach unten fuhren, fiel ihr auf, dass das Kabel, an dem die Kabi‐ ne auf‐ und abwärts gezogen wurde, ein etwas anderes Geräusch machte als am Vorabend. Sie hätte allerdings nicht genau sagen können, worin der Unterschied bestand. Fest stand nur, dass sich das Geräusch deutlich verändert hatte. Unwillkürlich fasste Yos‐ himi Ikukos Hand fester. Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, während der sie sich immer wieder gefragt hatte, ob Ikuko gelogen hatte oder ob ihr eigenes Verhalten einer fixen Idee entsprungen war. Ikuko hatte steif und fest behauptet, sie sei im Bad gewesen, als ihre Mutter
ohne erkennbaren Grund plötzlich aus der Wohnung gestürzt sei. »Es war so schwierig für mich, ganz alleine die Treppe hinauf aufs Dach zu steigen, Mami. Was hast du bloß da oben ge‐ macht?« Als sie ihre Mutter an der Wand des Dachaufbaus hatte hängen sehen, hatte Ikuko das Herz bis zum Hals geschlagen. Der Vor‐ wurf in ihrer Stimme kam von ihrer Panik, weil Yoshimi sie al‐ lein gelassen hatte. Als kleines Baby hatte Ikuko immer hyste‐ risch geweint, wenn sie aufwachte und merkte, dass sie allein war. Das alles konnte die Kleine unmöglich erfunden haben. Es musste so gewesen sein, wie sie es gesagt hatte. Yoshimi war auf den Flur hinausgestürzt, ohne in Betracht zu ziehen, dass ihre Tochter vielleicht ins Bad gegangen war, ohne das Licht anzuma‐ chen. Als sie die Leuchtanzeige der Stockwerke am Aufzug sah, hatte sie sofort an das Flachdach oben gedacht. Da es keine ande‐ re plausible Erklärung gab, musste Yoshimi ihrer Tochter wohl glauben. Doch es war ihr nicht nur peinlich, dass sie sich wie eine Wahnsinnige aufgeführt hatte ‐ irgendetwas an der Sache überzeugte sie noch nicht. Warum hatte der Fahrstuhl im ersten Stock angehalten? Niemand hatte davor gestanden, aber Yoshimi erinnerte sich noch genau an das Gefühl, dass dort etwas oder jemand in den Aufzug geschlüpft war, und daran, wie kalt es plötzlich geworden war. Als die Tür des Fahrstuhls zur Seite glitt, sah Yoshimi die Mor‐ gensonne, die bis weit in den Eingangsbereich hereinschien. Es war, als wollten die kraftvollen Sonnenstrahlen die Düsternis der vergangenen Nacht verjagen. Nicht weit von Yoshimi entfernt stand der Hausmeister mit einem Besen in der Hand. »Guten Morgen«, grüßte er mit breitem Lächeln. Yoshimi deu‐ tete ein Kopfnicken an und ging an ihm vorbei, ohne ihn anzuse‐
hen. Plötzlich hielt sie jedoch inne und wandte sich an ihn. »Ver‐ zeihung.« »Ah, wenn es um die Tasche geht...«, begann Kamiya. »Nein, das ist es nicht.« Yoshimi war sich noch nicht ganz sicher, ob sie ansprechen sollte, was ihr durch den Kopf ging. Kamiya ließ die Hand mit dem Besen sinken und fragte freund‐ lich: »Sie sind wohl auf dem Weg zum Kindergarten?« »Es geht mich eigentlich nichts an, ich weiß, aber Sie haben neulich erwähnt, dass sich in der Familie, die im ersten Stock gewohnt hat, eine Art Tragödie abgespielt hat. Was ist denn da genau ...?« Yoshimi brach ab. Das fröhliche Lächeln des Hausmeisters ver‐ schwand, und er setzte eine Miene auf, die angemessener war, um vom Unglück anderer Menschen zu berichten. »Ach, das? Tja, das ist vor zwei Jahren passiert. Das kleine Mädchen war ungefähr im gleichen Alter wie Ikuko heute. Es hat irgendwo hier in der Nähe gespielt und ist spurlos verschwunden, wissen Sie.« Yoshimi legte Ikuko die Hände auf die Schultern und zog ihre Tochter enger an sich. »Wenn Sie sagen, die Kleine ist spurlos verschwunden, meinen Sie damit, sie ist entführt worden?« Der Hausmeister neigte den Kopf zur Seite. »Ich glaube nicht, dass es um Lösegeld ging. Die Polizei hat eine offene Ermittlung durchgeführt, verstehen Sie.« Solange nicht auszuschließen war, dass jemand aus finanziellen Gründen entführt worden war, ermittelte die Polizei stets ver‐ deckt. Andernfalls ging sie an die Öffentlichkeit und informiert die Presse. Auf diese Weise kam sie schneller zu einer größeren Anzahl von Hinweisen. »Das heißt also, dass sie ...« Der Hausmeister schüttelte den Kopf. »Sie haben sie nie gefun‐
den. Fast ein Jahr lang haben die Eltern die Hoffnung nicht auf‐ gegeben, dass die Kleine noch zurückkommen würde. Die Fami‐ lie, Kawai war ihr Name, war auch am meisten dagegen, dass die Wohnungen hier im Haus verkauft werden. Die Eltern hatten das Gefühl, wenn die Wohnungen abgerissen würden, hätte ihre Tochter kein Zuhause mehr, wohin sie zurückkehren könnte. Irgendwann haben sie dann wohl resigniert. Auf jeden Fall sind sie letzten Sommer nach Yokohama gezogen.« »Und der Familienname war Kawai?« »Ja. Das kleine Mädchen hieß Mitchie. Ein reizendes Ding. Tja, aber es gibt eben böse Menschen auf der Welt, so viel steht fest.« »Sagten Sie >Mitchie« »Ihr richtiger Name war Mitsuko, aber wir haben sie >Mitchie< genannt.« Mi, Mitchie, Mitsuko ... Die imaginäre Spielgefährtin, mit der Ikuko in der Badewanne gesprochen hatte! Allmählich nahm das Ganze Konturen an; mit diesem Namen passte alles zusammen. Die Figur, die Ikuko aus dem ausgewrungenen Handtuch ge‐ formt und in der Waschschüssel aufgestellt hatte und mit der sie geplaudert hatte wie mit einer Freundin, die Figur, die sie »Mi« genannt hatte ... Yoshimi spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Sie leg‐ te die Hände an die Schläfen, lehnte sich mit den Schultern an die Wand und atmete schwer aus. »Ist Ihnen nicht gut?« Yoshimi wich der besorgten Frage des Hausmeisters aus, indem sie auf ihre Armbanduhr sah. Es blieb keine Zeit für Erklärun‐ gen. Wenn sie sich nicht beeilten, würden sie den Bus verpassen. Yoshimi verbeugte sich leicht vor dem Hausmeister und eilte rasch aus dem Haus. Um nähere Informationen über das Verschwinden der kleinen
Mitsuko Kawai zu erhalten, konnte sie im Büro die auf Mikrofi‐ che gespeicherten Zeitungsarchive durchforsten, wenn es sonst gerade nichts zu tun gab. Auch ohne ein genaues Datum würde sie bestimmt sehr schnell einen entsprechenden Bericht finden, wenn sie die Zeitungen von vor zwei Jahren gründlich durch‐ suchte. Da Mitchie offenbar nie gefunden worden war, war sie wahrscheinlich entweder von einem Perversen entführt worden oder in den Kanal gefallen. Wie auch immer, die arme Kleine war bestimmt tot, und ihre Leiche lag unentdeckt an einem unbe‐ kannten Ort. Gegen acht Uhr am Abend desselben Tages ließ Yoshimi sich gerade ein heißes Bad ein, als das Telefon klingelte. Ohne das Wasser abzudrehen, eilte sie ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Es war der Hausmeister. »Sie müssen entschuldigen; ich habe mir gerade den linken Knöchel verstaucht.« Yoshimi hatte keine Ahnung, warum der Hausmeister ihr das erzählte; daher fiel ihr zunächst keine andere Antwort ein als »Oh.« Warum rief er sie nur an? Erst nachdem er ihr erzählt hat‐ te, wie sein Missgeschick passiert war, kam er schließlich auf den Punkt. »Ich habe ein Paket für Sie.« Jetzt verstand Yoshimi, worauf er hinauswollte. Der Hausmeis‐ ter nahm oft Pakete für sie an, weil sie tagsüber selten zu Hause war. Nun erklärte er, dass er ihr wegen seines verstauchten Knö‐ chels das Paket nicht hinaufbringen könne. Ob es ihr etwas aus‐ mache, es selbst in seinem Büro abzuholen, wenn es etwas Drin‐ gendes sei? Yoshimi wusste, wer das Paket geschickt hatte, und es hätte durchaus warten können. Trotzdem dankte sie dem Hausmeister für seine Mühe und sagte, sie werde das Paket so‐ fort holen.
Als sie zu Herrn Kamiyas Büro kam, sah sie schon einen Karton auf der Theke stehen. Der Hausmeister stand dahinter und lehn‐ te sich mit den Ellbogen darauf. Wie sie vermutet hatte, war das Paket von ihrer Freundin Hiromi. Deren Tochter kam bald in die Grundschule, und Hiromi war so nett, Ikuko Kleider und Schuhe zu schicken, aus denen ihre Kleine herausgewachsen war. Yoshimi fand das Paket erstaunlich schwer und verstand gut, dass der Hausmeister es mit seinem verstauchten Knöchel nicht tragen konnte. »Sind Sie sicher, dass Ihr Knöchel nicht schlimmer verletzt ist?« Yoshimi heuchelte Anteilnahme, indem sie die Au‐ genbrauen zusammenzog. »Tja, so zeigt Mutter Natur einem dummen alten Mann, dass er nicht mehr der Jüngste ist«, sagte der Hausmeister lachend. Yoshimi hatte im Laufe des Tages im Archiv ihres Verlags alle Zeitungen von Juli bis Oktober des vorletzten Jahres durchgese‐ hen, aber keinen Artikel über den Fall Mitchie gefunden. Die Zeitangabe »vorletztes Jahr« war wohl zu vage ‐ Yoshimi wollte das genaue Datum wissen. Daher fragte sie den Hausmeister erneut, auch wenn sie eigentlich nicht damit rechnete, dass der alte Mann sich so weit zurückerinnern konnte. »Einen Moment, bitte«, entgegnete Kamiya und bückte sich un‐ gelenk, um im Schrank unter der Theke etwas zu suchen. Schließlich holte er ein dickes, ziemlich lädiertes Notizbuch he‐ raus und ließ es mit einem dumpfen Schlag auf die Theke fallen. Auf dem Deckel stand, mit schwarzem Filzstift geschrieben, »Haustagebuch«. Offenbar pflegte Kamiya täglich in dem Buch festzuhalten, was sich im Haus ereignete, um seinem Arbeitgeber Bericht erstatten zu können. Nun murmelte er etwas vor sich hin, während er mit angefeuchtetem Finger die Seiten umzublättern begann. »Ah, da haben wir es. Schauen Sie.« Er drehte das Notizbuch zu Yoshimi um und schob es ihr herü‐
ber. Die aufgeschlagene Seite trug das Datum des 17. März von vor zwei Jahren. Nun war September ‐ um genau zu sein, spra‐ chen sie also über etwas, das nicht vor zwei, sondern vor zweieinhalb Jahren geschehen war. Sogar eine Tageszeit war in dem Notizbuch vermerkt. Die Behörden waren zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Anlass mehr gab, das Verschwinden von Mitsuko Kawai aus Wohnung 205 als Entführung mit Löse‐ geldforderung zu behandeln. Ab 11 Uhr 30 wurde daher nicht länger verdeckt ermittelt. Yoshimi beschloss, sich das genaue Datum und die Uhrzeit zu merken. Als sie dem Hausmeister das Notizbuch zurückgeben wollte, schoss ihr plötzlich das Bild des cremefarbenen Wassertanks auf dem Dach durch den Kopf, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Oder doch ‐ ein anderer Eintrag etwas weiter oben unter dem gleichen Datum war der Auslöser gewesen: »Reinigungsarbeiten an Wasserspeicher und Hochtank; Prüfung der Wasserqualität.« Da war es ‐ der Hochtank. Der Tank, der wie ein riesiger Sarg in den nächtlichen Sternenhimmel geragt hatte. Die fraglichen Rei‐ nigungsarbeiten waren am selben Tag durchgeführt worden, an dem Mitsuko Kawai verschwunden war. Zwei von der Haus‐ verwaltung engagierte Fachkräfte waren gekommen und hatten in dem Tank gearbeitet. Yoshimi stieß einen stummen Schrei aus. »Der Wassertank auf dem Dach ...« Sie hielt inne, um Atem zu holen. »Ist der Deckel des Wassertanks auf dem Dach normaler‐ weise verschlossen?« Der Hausmeister neigte verwirrt den Kopf zur Seite. Ihm war nicht klar, warum Yoshimi das Gespräch auf den Wassertank lenkte. Doch als er die Aufzeichnungen zu den Reinigungsarbei‐ ten an jenem 17. März überflog, hellte sich seine Miene auf. »Ach so, das hier. Ja, selbstverständlich ist der Deckel normalerweise
sorgfältig verschlossen«, versicherte er Yoshimi. »Wann wird der Tank geöffnet? Nur, wenn er gereinigt wird?« »Natürlich«, bestätigte Kamiya. Yoshimi legte die Hände um ihr Postpaket. »Ist der Tank seitdem noch einmal gereinigt worden?« »Sie sehen, dass wir hier keine Hausmeisterfirma haben, daher ...« »Ist er noch mal gereinigt worden?«, wiederholte Yoshimi, die ihre Ungeduld nicht länger bezähmen konnte. »Tja, es ist höchste Zeit, dass wir wieder mal hineinsteigen. Ist immerhin zwei Jahre her, nicht wahr?« »Ich verstehe.« Als Yoshimi ihr Paket hochhievte, taumelte sie ein paar Schritte rückwärts, bevor sie aus Kamiyas Büro wankte. Bei ihrem unsi‐ cheren Gang war es ein Wunder, dass sie ihre Wohnung erreich‐ te, ohne unterwegs zu stürzen. Yoshimi achtete sorgfältig darauf, nicht in das Badewasser zu fassen, als sie den Stöpsel aus der Wanne zog und zusah, wie der Wasserspiegel langsam sank. Ihr war nicht mehr danach, ein Bad zu nehmen. Ikuko hatte weinerlich immer wieder gefragt, war‐ um sie heute nicht badeten. Sie schien überhaupt keine Ruhe geben zu wollen; erst vor einem Augenblick war sie endlich ein‐ geschlafen. Das Wasser sah vollkommen sauber aus, doch Yos‐ himi stellte sich unwillkürlich vor, dass kleine Partikel darin he‐ rumschwammen. Sie öffnete den Küchenschrank, nahm die Flasche Sake heraus, die sie zum Kochen benutzte, und schenkte sich ein Glas ein. Eigentlich vertrug sie keinen Alkohol, doch sie hatte das Gefühl, ohne einen Drink heute Abend nicht einschlafen zu können. Sie gab sich Mühe, an etwas anderes zu denken. Der Roman,
den sie im Verlag gerade lektorierte, eignete sich so gut wie alles andere, um sich abzulenken. Sie würde sich nur einige der ab‐ stoßenden Szenen in dem Buch ins Gedächtnis rufen müssen, um ihren Gedankenfluss zu unterbrechen. Doch es gelang ihr einfach nicht; ihre wilden Fantasien kreisten immer wieder um dasselbe: die rote Tasche, die sie auf dem Dach gefunden hatten, die ver‐ misste Mitsuko, den flüchtigen Schatten unter dem Tank, den Aufzug, der unerklärlicherweise im ersten Stock stehen geblie‐ ben war. Am Abend zuvor hatte das tröpfelnde Wasser das Bad ihrer Wohnung mit dem Wassertank auf dem Dach verbunden. Während Ikuko badete, hatte sie mit Mitsuko geredet, als wäre das Mädchen im Raum gewesen. Das alles ließ nur einen Schluss zu ... Doch Yoshimi zwang sich, diesen Gedanken zu verdrängen und sich stattdessen eine Szene aus dem ekelhaften Roman vor‐ zustellen. In jener fiktiven Welt, die vor Blut starrte, war ein Ver‐ brecher von einer rivalisierenden Gang entführt, eingesperrt und mehrfach brutal zusammengeschlagen worden ... Durch puren Zufall war der Tank auf dem Dach genau an dem Tag gereinigt worden, an dem die kleine Mitsuko verschwunden war. Was für ein absurder Gedanke, dass dies kein Zufall gewesen sein sollte! Ja, wenn sie es sich recht überlegte, gab es für alles eine vernünf‐ tige Erklärung. Was die rote Tasche betraf, so hatten Nachbars‐ kinder sie bestimmt in einer Art Ritual auf dem Dach liegen las‐ sen. Vielleicht auch, um einem Ufo ein Signal zu geben, oder aufgrund irgendeiner anderen kindlichen Fantasie. Sicherlich hatten die Kinder die Tasche in der Mülltonne entdeckt, heraus‐ gefischt und rasch wieder auf das Dach gelegt. Der Aufzug war im ersten Stock stehen geblieben, weil jemand, der dort wohnte, ihn geholt hatte, um nach unten zu fahren. Als der Aufzug im dritten Stock hielt, verlor dieser Jemand die Geduld und be‐ schloss, die Treppe hinunterzugehen. Daher war niemand mehr
zu sehen, als sich die Tür des Fahrstuhls öffnete. Indem sie die einzelnen Begebenheiten so voneinander trennte, versuchte Yoshimi, sich die Ereignisse zu erklären. Sosehr sie sich jedoch bemühte, ihren Gedankenfluss zu unterbrechen, die einzelnen Fragmente fügten sich jedes Mal sofort wieder zu‐ sammen, ebenso wie Schlangen ihre abgetrennten Körperteile wieder zusammensetzen und dadurch ihre ursprüngliche Größe zurückgewinnen konnten. Schon vor einiger Zeit hatte Yoshimi die Wahrheit erkannt, doch sie hatte sie sich nicht eingestehen wollen. Alles lief nur auf eine mögliche Erklärung hinaus: Ohne jeden Zweifel befand sich Mitchie in diesem Moment in dem Wassertank oben auf dem Dach. Yoshimi versuchte, diesen Ge‐ danken zu verdrängen, doch vor ihrem inneren Auge lief ein Film ab. Während die Männer, die den Tank reinigten, in der Mittagspause fort waren, fiel das kleine Mädchen entweder in den Tank oder wurde absichtlich hineingestoßen. Der verwesen‐ de Leichnam. Die Kitty‐Tasche, die Mitsuko so fest umklammert hatte. Der mit Wasser gefüllte Sarg. Dieses Wasser hatten sie in den letzten drei Monaten getrunken. Sie hatten damit gekocht, Kaffee zubereitet und im Sommer Getränke damit gekühlt. Wie oft hatten sie in heißem Badewasser gelegen, das von verfaulten Zellen nur so wimmelte? Wie oft hatten sie sich Hände und Ge‐ sicht damit gewaschen? Yoshimi presste die Hände vor den Mund. Der Geruch des Sa‐ ke vermischte sich mit dem Magensaft, der ihr hochkam. Sie stürzte ins Bad, beugte sich über die Toilettenschüssel und über‐ gab sich. Ihre Augen waren blutunterlaufen. In Hals und Nase verspürte sie ein stechendes Brennen. Als sie die Spülung betä‐ tigte, strömte das Wasser vor ihren Augen in die Toilette und schwemmte ihr Erbrochenes mit sich fort, bis nichts als klares Wasser mehr zu sehen war. Doch das Wasser, das herunterrann,
um die Toilette zu reinigen, war in Wirklichkeit voller Hautzel‐ len, die sich abschälten ‐ es wimmelte von Härchen, feinen, flau‐ migen Härchen. Yoshimi war immer noch übel, aber in ihrem Magen war nichts mehr, das sie hätte erbrechen können. Während sie sich den Mund mit Toilettenpapier abwischte, musste sie immer wieder husten, weil es sie im Hals würgte. Sie blieb zusammengekauert sitzen und wartete darauf, dass ihr Atem wieder ruhiger ging. In diesem Moment hörte sie es. Das Geräusch von Wasser, das langsam neben ihr in die Badewanne tropfte. Yoshimi hatte gedacht, sie hätte den Hahn fest zuged‐ reht, doch eine winzige Menge schien noch hindurchzurinnen. Auf dem Boden kniend, umklammerte Yoshimi mit beiden Ar‐ men die Toilettenschüssel. Verzweifelt schluckte sie ihren Spei‐ chel hinunter und wehrte sich dagegen, dass ihre Wahnvorstel‐ lungen Wirklichkeit wurden. Halluzinationen! Ganz eindeutig. Sie wurde von Halluzinationen heimgesucht. Nun sah sie die Leiche eines kleinen Mädchens in dem fauligen Wasser treiben, das sich in der Wanne gesammelt hatte. Das inzwischen violette Gesicht war hässlich aufgedunsen und beinahe doppelt so groß wie normalerweise. Als Yoshimi den Mund öffnete, um »Stopp!« zu schreien, fiel sie nach hinten auf den nassen Fußboden. Ein roter Plastikbecher schwamm neben der Brust der Leiche. Ein grüner Aufziehfrosch aus Plastik flitzte mit zappelnden Beinen über die Wasseroberfläche. Er stieß gegen die Schulter der Lei‐ che, prallte ab, stieß erneut dagegen und riss dabei mit seinen Plastikfüßen jedes Mal ein kleines Stückchen Fleisch aus dem Leichnam. Die hellrote Tasche mit dem Kitty‐Motiv schaukelte auf und ab, im festen Griff der Hand, deren Knochen schon zu sehen waren. Yoshimi hatte den Atem angehalten und rang nur ab und zu keuchend nach Luft. Der Gestank, der ihr in die Nase stieg, erin‐
nerte an faulende Küchenabfälle. Als sie versuchte, sich von dem Verwesungsgeruch der Leiche abzuwenden, der das Bad erfüllte, stieß sie mit dem Kopf an die Tür, sank in sich zusammen und schlug mit der Wange auf dem kalten Holzboden des Flurs auf. Sofort verlor sie das Bewusstsein. Irgendwann drang aus weiter Ferne eine Stimme durch die wattige Grenze zwischen bewusst und unbewusst, ein Stimm‐ chen wie das Zwitschern eines kleinen Vogels. »Mami, Mami!« Yoshimis Augen nahmen den Umriss von Ikuko in ihrem abge‐ tragenen Schlafanzug wahr. Als die Kleine ihre Mutter im Na‐ cken berührte, kippte ihre zitternde Stimme, und sie begann zu schluchzen. Eine kleine Hand strich neben Yoshimis Ohr auf und ab. Für Yoshimi war dies das einzig Reale ‐ die Wärme und der Druck von Ikukos winziger Hand. Dieser kleine, lebendige Kör‐ per genügte, um ihre Wahnvorstellungen zu vertreiben. »Hilf Mami mal hoch, Schatz ...« Ihre Bitte war nichts als ein heiseres Flüstern. Ikuko schob ihrer Mutter die Hände unter die Achseln und hievte sie mit aller Kraft hoch. Nachdem sie Yoshimi aufgesetzt hatte, stützte diese sich mit einer Hand auf den Rand der Badewanne, und es gelang ihr, allein aufzustehen. Das Trägerkleid, das sie als Nachthemd trug, war von der Taille abwärts tropfnass. Ein Blick auf die Ba‐ dewanne zeigte ihr, dass unzählige Wassertröpfchen an den glänzenden, cremefarbenen Wänden hingen. Zu wissen, dass sie halluziniert hatte, schützte sie noch nicht vor weiteren Wahnvor‐ stellungen. Schluchzend schaute Ikuko zu ihrer Mutter auf und murmelte nur: »Mami ... Mami ...« Sie würde stark und belastbar sein müs‐ sen, um diesem Kind eine gute Mutter zu sein. Wenn sie sich
jedoch betrachtete, fand sie sich erbärmlich; schon jetzt war sie so labil, dass sie beim geringsten Anlass die Nerven verlor. Von Ikukos Schluchzen angesteckt, begann auch sie zu weinen. Als sie über die Kanalbrücke gingen, widerstand Yoshimi der Versuchung, sich noch einmal zu dem Wohnblock umzudrehen. In der Hand trug sie eine Tasche mit ihren Wertsachen und Klei‐ dung zum Wechseln. Jedes Mal, wenn sie die Tasche von einer Hand in die andere wechselte, tauschte auch Ikuko die Seiten, um die freie Hand ihrer Mutter fest zu umklammern. Ihr Verhalten musste einen seltsamen Eindruck gemacht haben. Sie konnte jedoch unmöglich auch nur einen weiteren Tag in einer Wohnung leben, in der das Leitungswasser nicht zu benut‐ zen war. Heute Nacht wollte sie gut schlafen, selbst wenn es nur ein einziges Mal war. Den Wassertank konnten sie morgen un‐ tersuchen. Sie hatte den Hausmeister davon überzeugt, den Tank zu öffnen und den Inhalt zu überprüfen. Das konnte jedoch nur im Tageslicht geschehen. Jenseits des Kanals fühlte sich der Boden unter ihren Füßen si‐ cherer an als auf der neu aufgeschütteten Insel. Als Yoshimi ein freies Taxi auf sich zukommen sah, winkte sie es heran. Sie half Ikuko auf den Rücksitz und beugte sich vor, um selbst einzustei‐ gen. Dabei streifte ihr Blick flüchtig das Dach des Wohnblocks. Bedrohlich ragte dort der cremefarbene Wassertank empor, auch wenn er aus der Entfernung sehr klein wirkte. Ob die kleine Mit‐ suko immer noch vergnügt in ihrer verschlossenen, viereckigen Badewanne herumplanschte? Wie auch immer, im Moment hatte Yoshimi nur eines im Sinn, und das war, heute Nacht gut zu schlafen. Als sie auf den Rücksitz glitt, nannte sie dem Taxifahrer den Namen eines Hotels.