DuMont's Kriminal-Bibliothek
Leslie Thomas wurde 1931 in Newport, Großbritannien, geboren. Neben zahlreichen Romanen v...
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DuMont's Kriminal-Bibliothek
Leslie Thomas wurde 1931 in Newport, Großbritannien, geboren. Neben zahlreichen Romanen veröffentlichte er mehrere Kriminalromane, in denen Dangerous Davies, ein Detective der Londoner Polizei, Verbrechen aufklärt. Mit seinem skurrilen Helden Dangerous Davies stellt sich der Autor nicht nur in die beste Tradition des britischen Humors, er liefert darüber hinaus auch eine exzellente Studie des Lebens in einem der ärmeren Londoner Stadtviertel Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Von Leslie Thomas ist in der DuMont's Kriminal-Bibliothek bereits erschienen: »Dangerous Davies . . . Bis über beide Ohren« (Band 1045).
Herausgegeben von Volker Neuhaus
Leslie Thomas
der letzte Detektiv
DuMont Buchverlag Köln
Für Eric Hiscock, der mich von Anfang an ermutigt hat
Umschlagmotiv von Pellegrino Ritter Aus dem Englischen von Irmgard Andrae
© 1976 by Leslie Thomas © 1991 der deutschsprachigen Ausgabe by DuMont Buchverlag Köln Editorische Betreuung: Petra Kruse 3. Auflage 1995 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Die der Übersetzung zugrundeliegende Originalausgabe erschien 1987 un ter dem Titel »Dangerous Davies. The last detective« bei Methuen London Ltd, London Satz: Froitzheim Satzbetriebe, Bonn Druck und buchbinderische Verarbeitung: Clausen & Bosse GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 3-7701-2355-7
Celia: Nun, der Anfang, der ist tot und begraben.
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Kapitel 1
D
ies ist die Geschichte eines Mannes, dem ein unaufgeklärter, 25 Jahre zurückliegender Mord an einer jungen Frau keine Ruhe l i e ß . . . Der Mann war ein Sonderling, versoffen, häufig ratlos, und man lachte ihn gern aus - alles schlechte Eigenschaften für einen Detektiv. Aber er war auch geduldig und hartnäckig. Die Leute nannten ihn Dangerous Davies - denn er galt als ungefährlich. Bei der Londoner Polizei hieß er intern nur DER LETZTE DETEKTIV, weil er immer erst dann eingesetzt wurde, wenn die Aufgabe besonders gefahrvoll war oder sonst niemand da war, den man hätte schicken können.
Kapitel 2
ber dem Friedhof wurde es hell. Der Tag brach unvermittelt an - die Dämmerung fiel anscheinend aus - und beleuchtete eine nicht besonders aufregende Szene. Ein Goldregenbaum tropfte beharrlich vor sich hin, Katzen strichen nach Hause, und der Schläfer auf dem Grab des seligen Basil Henry Weggs, vormals Bürger dieser Gemeinde (>Er liebte alle Menschen<), reckte und streckte seine schmerzenden Glieder mit Bitterkeit im Herzen. Die ganze Nacht über hatte er vergeblich gewacht. Niemand hatte versucht, den Friedhof in die Luft zu sprengen. Nicht, daß er das wirklich erwartet hätte. Es wäre nicht nur sinnlos, sondern auch schwierig, ja praktisch unmöglich zu bewerkstelligen gewesen. Aber schließlich mußte in irgendeiner sichtbaren Form auf den gekritzelten Zettel mit der Drohung, den jemand beim Polizeirevier abgegeben hatte, reagiert werden, und natürlich hatten sie ihn dazu losgeschickt. Es war eine zwar unbequeme, aber nicht besonders unheimliche Nacht geworden. In seinen braunen langen, dicken Wintermantel eingehüllt und auf dem harten Grabstein ausgestreckt, hatte Davies sich vorzustellen versucht, wie es hier wohl am Morgen des Jüngsten Tages zugehen würde. Er malte sich aus, wie sich die Grabsteine ächzend auftun würden, sah die Insassen herausklettern und sich die Augen reiben. Aber nichts war passiert, was ihn nicht sonderlich überraschte - er war wohl nicht dazu auserkoren, jemals bei einer großen Sache dabeizusein. Als mit dem ersten Tageslicht die ohnehin geringe Aussicht auf Attentäter oder Gespenster endgültig dahinschwand, nickte er ein wenig ein und erwachte erst wieder, als der Friedhofsaufseher ihm kurz nach acht einen heimtückischen Stoß versetzte. Davies öffnete blinzelnd die Augen. »Übernachten auf den Grabsteinen ist verboten«, sagte der Mann. »Wie kann man erwarten, daß jemand den verdammten Friedhof respektiert, wenn's nicht mal die Polizei tut?«
Ü
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Davies stand steifbeinig auf. Sein Mantel war klatschnaß. Der Wärter wischte mit der Hand die Grabplatte ab, als würde es sich um ein Polstersofa handeln. »Ist das Ihre Schrottmühle da vor dem Eingang?« fragte er. »Mein Wagen? Ja.« »Und was ist das für ein Ding auf dem Rücksitz?« »Ein Hund. Er wohnt da.« Es fiel dem Mann sichtlich schwer, sich damit zufriedenzugeben, aber er hakte nicht weiter nach. Statt dessen sagte er: »Sie können da nicht parken. Direkt vor dem Eingang.« »Ich dachte nicht, daß hier jemals einer rauskommt. Mich wundert, daß Sie überhaupt abschließen.« »Das muß sein. Damit keiner reinkommt, Landstreicher und dergleichen.« Er warf Davies einen mißtrauischen Blick zu. »Sind Sie echt von der Polizei?« fragte er argwöhnisch. »In dem Mantel da?« Davies besah sich seinen langen, nassen Mantel, der bis auf die Füße herabhing. Die Schuhspitzen lugten unter dem Saum hervor wie unter einer Bettdecke. »Ist aber gut zum Gräberbewachen, der Mantel«, sagte er ernsthaft. »Schön warm bis auf die Knöchel. Ich hab' ihn auf der amtlichen Versteigerung für nicht abgeholte Fundsachen erstanden.« »Kein Wunder, daß den niemand haben wollte«, brummte der Friedhofswärter. Er schniefte in der kühlen Morgenluft. »Also, was ist, gehen Sie jetzt? Ich habe schließlich viel zu tun.« »Kann ich mir denken«, meinte Davies, »aufräumen und so.« »Stimmt genau. Verschwinden Sie jetzt endlich?« »Bin schon dabei. Es hat ja in der Nacht nicht gekracht, keine Bomben oder so etwas.« »Bomben? Sie sind wohl verrückt?« Der Mann konnte seine Verachtung kaum mehr zügeln. »Wer sollte denn hier mit Bomben um sich werfen?« »Was weiß ich.« Davies zuckte die Achseln und machte sich auf den Weg. »Guten Morgen.« Während er auf das Tor zusteuerte, schneuzte der Wärter sich mit den Fingern und beobachtete, wie sich der braune Mantel zurückzog. »Gut, daß ich den Heini los bin«, murmelte er so, daß man es gerade noch hören konnte. Davies war schon fast am Ausgang angelangt. Er blieb vor einem Grabstein stehen, der zerborsten und halb in der Erde ver-
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sunken war. »Hier«, rief er, »den können Sie auch mal aufrichten.« »Und Sie können mich auch m a l . . . « , entgegnete der Mann unfein. Um zehn Uhr hatte Davies ungeachtet seines unbequemen Nachtdienstes eine Vorladung als Zeuge vor Gericht. (Die Königin gegen Joseph Beech wg. versuchter widerrechtlicher Aneignung eines Taubenhauses.) Vor Gericht auszusagen, war ihm derart unangenehm, daß er sich jedesmal wünschte, die Kneipen hätten schon zur Frühstückszeit geöffnet. Vorher brachte er noch den Lagonda und seinen trägen Bewohner in die Wellblechgarage, in der er beide unterzustellen pflegte. Der Hund knurrte mißmutig, als er ihn unter seiner Segeltuchplane aufweckte, um ihn zu füttern. Kitty war ein großes, schweres Vieh, ein Mittelding zwischen einem Bernhardiner und einem Yak, und litt an Asthma. Sein Atem ging rasselnd, und er mußte sich dauernd räuspern. Während er fraß, versuchte Davies, die Schmutzreste aus dem verfilzten Fell herauszuzupfen, worauf Kitty mit einem drohenden Grollen tief in der Kehle reagierte. Also ließ er es sein. »Undankbarer Köter«, sagte er gekränkt, »dann wird's eben nichts mit der Hundeausstellung.« Ein paar 1 0 0 Schritt vom Gerichtsgebäude entfernt gab es ein Café, das in der tristen Farbe von Worcestersauce gestrichen war. Es nannte sich ZUM KUPFERKESSEL, obwohl der Kessel schon vor langer Zeit gestohlen worden war. Das paßte zu der Nachbarschaft. Die Besitzer hießen Mr. und Mrs. Band und waren auch die reinsten Banditen, aber ihr Tee war gut und lockte viele Kunden an, die sich des ständigen Interesses der Polizei erfreuten. Davies hatte einmal aus Gutmütigkeit einem Mann, der es anscheinend nötig hatte, einen Tee und ein Schmalzbrot spendiert. Der Kerl befand sich, wie sich später herausstellte, wirklich in einer Notsituation, weil er nämlich am Tag zuvor einen bewaffneten Raubüberfall auf ein Postamt versucht hatte, der allerdings schiefgegangen war. Möglicherweise wäre Davies' zwar gutgemeinte, aber unangebrachte Hilfsaktion sogar unbemerkt geblieben, wenn nicht der Mann, nachdem er geschnappt und vor Gericht gestellt worden war, von der Anklagebank aus seinem Wohltäter in aller Öffentlichkeit gedankt hätte.
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Davies trank die große Steinzeugtasse aus und zuckte zusammen, als der Wirt hinter der schmuddeligen Theke das 5-PenceStück, das er ihm hinschob, prüfend zwischen die Zähne klemmte. Das tat er bei ihm jedesmal, und der Witz hing Davies allmählich zum Hals heraus. Dafür wurde ihm im Gericht ein herzlicher Empfang zuteil. Schon in der Eingangshalle begrüßten ihn Missetäter jeglicher Couleur - all die Trunkenbolde, Langfinger, Streithähne, Schläger, Vandalen und Exhibitionisten - wie einen alten Bekannten. »Morgen, Dangerous!« »Gott segne dich, Dangerous.« »Jetzt haben sie mich doch noch geschnappt, Dangerous.« Lächelnd und nach allen Seiten nickend, schritt er durch ihre Mitte wie ein erfolgreicher, beliebter Fabrikdirektor. Die Kollegen von der uniformierten Polizei zogen eifersüchtig die Augenbrauen hoch. Der Gerichtssaal kam ihm manchmal vor wie ein Bauerntheater, in dem das Publikum, die Polizisten, die Zeitungsreporter und die Zeugen mehr schlecht als recht ihre Rollen spielten: gespannt auf jede kleine Enthüllung wartend, mit wissendem Kopfnicken jeden neuen Schuldbeweis quittierend und immer bereit, jeden faden Scherz, wenn er vom Richtertisch kam, mit Lachen zu belohnen. Manchmal stimmte selbst der Beschuldigte in das Gelächter ein. Dann war Davies in Versuchung, ihn aufzuklären, daß auf diese Weise bei dem erhabenen Trio des Gerichts nun wirklich kein Blumentopf zu gewinnen war. Die Prozesse wegen Trunkenheit waren schon erledigt, und durch den Saal schwebten noch die Alkoholfahnen. Eine Richterin hielt sich ihr Taschentuch vor die Adlernase. Der Gerichtsdiener verzog angewidert das Gesicht, dann riß er sich zusammen und rief den >Fall Joseph Beech, Sir, Nummer 23< auf. Davies seufzte. Er zog den Mantel aus wie jemand, der sich zögernd zu einem Ringkampf bereitmacht, und schlurfte in seinem alten, schlechtsitzenden blauen Anzug zur Zeugenbank hinüber. Er beugte sich vor, um mit der Hand auf der Bibel den Eid zu leisten. Sein Anzug hing vornüber wie eine drohende Lawine, und der Richter blickte ihn fast ebenso mißbilligend an wie den Angeklagten Joseph Beech, der inzwischen die
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Treppe von den Arrestzellen her heraufgeführt worden war und jetzt, wie von einem Zauberstab berührt, von seinem Platz auf der Anklagebank aufsprang. Er brüllte »Schuldig!«, bevor ihn irgend jemand überhaupt gefragt hatte. Davies sprach den Eid und machte dann seine Aussage: »Aufgrund erhaltener Information begab ich mich zum Haus Whitley Crescent Nr. 23 und fand dort den Beschuldigten vor, der vom Hauseigentümer, einem Mr. Wallace, festgehalten wurde. Dieser äußerte: >Ich habe den Bastard eben erwischt, wie er mein Taubenhaus klauen wollte.<« »Sag ihnen, von wem du die Information hattest, Dangerous«, rief der Mann auf der Anklagebank ungeduldig dazwischen. »Alles zu seiner Zeit, Mr. Beech«, erwiderte Davies betreten. »Los, mach schon, sag's ihnen«, beharrte der Angeklagte. Davies schickte einen hilfesuchenden Blick zum Richtertisch. »In Gottes Namen, Mr. Davies, verraten Sie es uns endlich«, sagte der Vorsitzende Richter ungeduldig. Anscheinend wurde jeder Auftritt von Davies als Zeuge zu einer Art Farce. »Verzeihung, Sir«, sagte Davies höflich. »Ich erhielt die Information tatsächlich von dem Angeklagten selbst. Ich hätte dies selbstverständlich in meiner Aussage erwähnt, wenn er mir Zeit dazu gelassen hätte.« »Vom Angeklagten selbst? Er hat Sie darüber informiert, daß er das Taubenhaus zu stehlen beabsichtigte?« »Jawohl, Sir. Vor einigen Jahren, Sir, sagte ich zu ihm, falls er wieder den Drang zu einer Straftat verspüren sollte, möge er mich vorher anrufen, damit ich ihn davon abbringen könne. Ich hielt es für ein Mittel, Sir, ihm das Gefängnis zu ersparen.« »Ich auch«, bestätigte Beech selbstzufrieden. »Ich rufe ihn immer an, und er kommt dann und hält mich zurück. Aber diesmal kam er zu spät, der andere Typ hatte mich schon gekrallt.« »Ich war in der Badewanne«, sagte Davies entschuldigend. »Schon gut, schon gut«, rief der Richter gereizt. »Wir wollen kein Drama daraus machen.« Er warf Davies einen kurzen Blick zu und wandte sich dann an Joseph Beech. »Das kostet Sie möglicherweise drei Monate Gefängnis.« Joseph Beech seufzte zufrieden auf. »Das wird 'ne schöne Abwechslung. Das letzte Mal im Knast hab' ich ein Modell vom Buckingham-Palast gemacht, aus Holz. Ein bewegliches Modell. Es war echt gut, stimmt's, Dangerous?«
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Auf dem Revier ging er in den stickigen CID-Raum, das Büro der Kriminalabteilung, um seinen Bericht über die Nacht auf dem Friedhof zu schreiben und den Fußballtotoschein auszufüllen. Er hatte sich kaum hingesetzt, als auch schon das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. »Dangerous«, sagte der Sergeant vom Dienst, »in Kilburn läuft ein Westinder Amok, oder wie auch immer man es nennen soll. Er sitzt jedenfalls in seiner Bude und droht damit, das Haus in Brand zu stecken. Der Streifenwagen fährt gleich los - sie wollen, daß du mitkommst.« »Wer sonst?« seufzte Davies. Er knöpfte den Mantel wieder zu und ging nach draußen, wo die zwei Polizisten ihn schon im Auto erwarteten. Sie brauchten nur drei Minuten bis zur angegebenen Straße mit den heruntergekommenen Mietshäusern und billigen Pensionen. Vor der Haustür hielten sich bereits vier Polizisten von einem anderen Revier auf. Eine Handvoll Schaulustiger stand erwartungsvoll herum. Davies stapfte die morschen Stufen hinauf. »Was ist hier los«, erkundigte er sich, »eine Polizeiparade? Worauf wartet ihr noch - auf die Musik?« »Wir sind bei der Lagebesprechung, Dangerous«, sagte der Sergeant förmlich. »Mir scheint eher, ihr wartet auf mich, damit ich mir wieder den Schädel einschlagen lasse«, sagte Davies. »Wo steckt er?« »Ganz oben. Genau gegenüber der Treppe. Allem Anschein nach ein richtiger Berserker.« »Ist er bewaffnet?« »Der ist mit Fäusten bewaffnet, und mit was für welchen!« Die Stimme mit dem wollüstigen Unterton gehörte der Hauswirtin des Wüterichs, einer schniefnasigen Irin mit einem boshaften Schielauge. » E r ist doppelt so groß wie Sie«, fuhr sie genießerisch fort. »Und schwarz. Sie sind stärker, wenn sie schwarz sind.« Davies sah sie wenig begeistert an. »Warum kommt er nicht herunter? Was macht er überhaupt da oben?« »Betrunken«, sagte sie prompt. »Eine Flasche Whisky und eine Flasche Rum pro Tag. Ich hab' ihn gewarnt, er würde noch als Alkoholiker enden.« »Voraussichtlich«, stimmte Davies zu. »Haben Sie mal einen Eimer, junge Frau?« »Hab' ich«, sagte sie. »Brauchen Sie auch einen Aufnehmer? Um das Blut aufzuwischen?«
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»Bloß den Eimer«, stöhnte Davies. Sie schlurfte nach drinnen und kam mit einem Eimer wieder heraus. »Wie heißt er?« fragte Davies den Sergeant. »Bright«, erwiderte dieser nach einem Blick in sein Notizbuch. »Pomeroy Bright.« »Pomeroy?« wiederholte Davies. »Die heißen wohl nie einfach nur Bill oder Ben? Okay. Geben Sie mir den Eimer, Gnädigste.« Die Irin gab ihn ihm. Davies lehnte sich erst einmal gegen die Treppenstufen und rief nach oben: »Pomeroy, hier ist die Polizei. Kommen Sie bitte herunter.« Die höfliche Bitte wurde mit einem üppigen Schwall von karibischen Schimpfwörtern beantwortet. Davies spürte, wie sich seine Augenbraue nach oben zog. »Ich glaube nicht, daß er freiwillig kommt«, flüsterte er dem Sergeant zu. »Pomeroy«, rief er noch ein Mal. »Du hast keine Chance, Junge. Komm runter, und laß uns hier unten in Ruhe über alles reden. Warum bist du nicht vernünftig!« »Weil ich verdammt noch mal nicht vernünftig sein will, Mann«, war die Antwort. »Ich warte nur drauf, daß ihr mich holen kommt. Komm nur rauf, Mann, komm rauf!« »Verflucht«, murmelte Davies. Zu dem Sergeant sagte er: »Ich gehe rauf. Sorg dafür, daß deine Sturmtruppen dicht hinter mir sind und nicht zwei Bushaltestellen weit weg.« »Wir fangen dich auf«, war die zweideutige Zusage. »Wozu soll der Eimer gut sein?« »Was glaubst du denn? Vielleicht zum Melken? Er soll das abfangen, was der Idiot von oben herunterwirft. Das nennt man Lernen aus Erfahrung. Du bist sicher, daß er keine Kanone hat?« »Sicher bin ich nicht, aber ich glaube es nicht.« Ein schöner Trost! Davies atmete einmal tief durch, hielt sich den Eimer wie ein Visier vors Gesicht und sagte: »Auf geht's.« Er stürmte die Treppen hoch wie ein Büffel. Der Eimer verstärkte sein Kriegsgeheul, sein Mantel flatterte um seine Fußknöchel. Die Hauswirtin wich zurück und bekreuzigte sich schnell, während die Polizisten, von dem plötzlichen Ausbruch überrascht, zögerten und dann vorsichtig hinterherstiefelten. Davies warf sich gegen die Tür, die zu seiner Überraschung gleich aufsprang. Sie war nicht verschlossen gewesen. Pomeroy
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Bright erwartete ihn in zwei Schritt Entfernung. Er war ein Riese, und er hielt einen ausgewachsenen, gerahmten Wandspiegel in der Hand wie einen Kricketschläger. Davies' Erscheinung hinter dem Eimer überraschte ihn so sehr, daß er einen Augenblick wie versteinert war. Davies blieb im Türrahmen stehen und ließ, als kein Angriff erfolgte, den Eimer sinken - und genau in diesem Moment holte Pomeroy mit dem Spiegel aus und traf mit einem waagerecht geführten Schlag den Kopf seines Gegners. Das letzte, was Davies, der sich von seiner schützenden Rüstung entblößt hatte, erblickte, war das ungewohnte Spiegelbild seiner schreckverzerrten Miene. Dann ging er zu Boden und geriet unter die Stiefel seiner Polizeikameraden, die hereinstürmten, um den Westinder zu überwältigen. Als alles vorbei und seine blutende Stirnwunde notdürftig verbunden war, halfen zwei fröhliche Sanitäter ihm hinunter auf die Straße, wo ihn der halbherzige Applaus eines inzwischen zahlreicheren, dankbaren Publikums erwartete. Der Unfallwagen brachte ihn zum Krankenhaus. Er spürte, daß sein rechtes Auge langsam zuschwoll. »Keine Sorge«, tröstete ihn der Mann vom Rettungswagen, »der Spiegel ist heil geblieben, also machen Sie sich keine Sorgen, daß es ein Unglück gibt.« Der Sommer war nicht leicht für ihn gewesen, nicht nur, weil es in London außergewöhnlich heiß und trocken gewesen war. Im Spätsommer - oder Frühherbst, wie Davies, von Natur aus Pessimist, die Jahreszeit nannte - hatte sein Leben sich privat und beruflich noch mehr verschlechtert, als selbst er, der geborene Pechvogel, es je erwartet hätte. Seine langjährige liebevolle Beziehung zu einer konservativen Witwe in Cricklewood hatte ein jähes Ende gefunden, weil er in angetrunkenem Zustand irrtümlich in das Bett ihrer minderjährigen Tochter geklettert und dort zu seiner Überraschung mit offenen Armen empfangen, später jedoch von der konservativen Witwe dort entdeckt worden war. Sein möbliertes Zimmer im BALI H I , Furtman Gardens, London N.W., einer düsteren Pension, die sich im Besitz einer Mrs. Fulljames befand, war nicht gerade das Paradies. Seine Frau Doris wohnte getrennt von ihm in einem eigenen Zimmer ebenfalls
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dort und pflegte ihn bei den gemeinsamen Mahlzeiten über den Tisch hinweg trotzig anzustarren. Zu den anderen Pensionsgästen gehörten ein Mr. Harold Smeeton - der perfekte häusliche Alleinunterhalter-, der manchmal zum Dinner als Clown oder Maharadschah verkleidet erschien, Mod Lewis, ein arbeitsloser walisischer Philosoph, Minnie Banks, Grundschullehrerin und dünn wie ein Strich, sowie ein Schwarm von ständig wechselnden Logiergästen jeglicher Konfession und Profession. In seinem Beruf hatte Davies, wie er sich eingestehen mußte, noch keine Glanzleistungen vollbracht. Brandstiftung, begangen an einem Beichtstuhl in der katholischen Kirche St. Fridewide, Entwendung eines Taubenhauses und noch unrühmlichere Vergehen wie An-Türen-Klopfen-und-Wegrennen, das waren nicht gerade große Verbrechen. Man hätte die Frage aufwerfen können und da er ein ehrlicher Mensch war, stellte er sie sich gelegentlich auch-, warum ihn die Londoner Polizeibehörde in ihrer Kriminalabteilung behielt; vielleicht nur, weil in seinem Bezirk sonst keiner zur Verfügung stand, der bei riskanten Einsätzen den Prügelknaben spielte. Niemand in London war wohl schon mehr Treppen hinuntergeworfen worden als Davies. Man bediente sich seiner auch für die langweiligen Routineaufgaben, bei denen er auf endlosen Straßen die Türen abklappern und den Leuten die ewig gleichen, meist vergeblichen Fragen stellen mußte. Infolge dieser Vorstadtspaziergänge war er einer Unmenge Leuten bekannt und kannte selbst eine recht ansehnliche Zahl von ihnen. Er war von Natur aus vertrauensselig, sein Mißtrauen mußte immer erst geweckt werden, und die Steinwüste, die er zu durchwandern hatte, erschien seinem unschuldigen Blick freundlicher, als sie war. Selbst noch in angetrunkenem Zustand war er jedermanns Freund und Helfer. Im Augenblick aber trank er zuviel, sogar nach seinen eigenen Maßstäben; außerdem war er schon zweimal das Opfer wütender Angriffe von Kitty, seinem eigenen Hund, geworden. 33 Jahre alt und hochgewachsen, wie er war, bewohnte er den ganzen Londoner Winter hindurch, ja, bis ins Frühjahr hinein, seinen langen braunen Mantel. Gleich nach dem ersten Nachtfrost zog er wieder ein. Man konnte ihn am Steuer seines Lagonda Tourer von 1937 sehen, dessen Verdeck bei Wind und Wetter offenstand und wie ein aufgeklapptes Gebiß hämisch grinste, da es schon seit 1940
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klemmte. Der Wagen erregte nicht nur den Neid so manchen Liebhabers, sondern rief fast ebensoviel Empörung darüber hervor, daß solch ein Juwel nicht besser gepflegt wurde. Er war zerbeult und verrostet, die schönen großen Messinglaternen wackelten wie die Häupter zweier Bauchrednerpuppen. Die Karosserie hatte eine dunkelbraune Patina angenommen, die Polster waren schmutzig und zerlöchert. Auf dem Rücksitz lebte der riesige struppige Hund, der so ungepflegt und verkommen war wie das restliche Innere. Davies' Aktionsradius, wenn man es so nennen konnte - im Polizeijargon sein >Territorium<-, erstreckte sich wie eine ausgebreitete Hand in Richtung auf den Nordwesten von London. Zum Glück war er nicht allein verantwortlich, sondern hatte zahlreiche Kollegen zur Verstärkung. Es war ein dicht besiedelter, rußiger Stadtteil mit häßlichen Industriebauten. Sackgassen verloren sich in Fabrikgrundstücken, und die Fabrikgebäude überragten die Gleisanlagen. Ein Kraftwerk mit seinen orientalisch anmutenden Kühltürmen hockte mitten in dem Gewirr wie ein dicklicher Riese, der sich erschöpft niedergelassen hat. Im Winter war die Luft feucht, und im Sommer leuchtete die Sonne selbst an den klarsten, besten Tagen kaum heller als schmutziggelb. Kam einmal im Frühling ein junger, unerfahrener Kuckuck vom Lande angereist, machte er sich schnell wieder davon, weil es hier kein Auskommen für ihn gab. Blumen und Bäume sprossen, um zu kämpfen und früh zu sterben. Der Dunst der verschiedenen Fabriken, in denen Suppen, Generatoren, Heimorgeln, Rattengift, Fahrräder und Schuhwichse hergestellt wurden, vereinigte sich zu einer einzigen großen Rauchglocke. Ruß hing in der Luft, und dem Staub blieb sonntags kaum Zeit, sich zu setzen, ehe er am frühen Montag wieder aufgewirbelt wurde. Vor langer, langer Zeit war die Gegend einmal wegen ihrer wildwachsenden Brunnenkresse berühmt gewesen. In der Mitte von all diesem lag, wie der ausgestreckte Arm eines alten Mannes, der Grand Union Canal, der in keiner Weise mehr großartig war. Der grünliche, unbewegte Wasserweg teilte das Stadtviertel in zwei Hälften, die durch schlichte, zierliche Brücken miteinander verbunden wurden. Fast parallel zu dem Kanal verliefen gerade und ungelenk wie Abflußröhren einige kümmerliche Geschäftsstraßen. Die Bewohner waren meist Iren,
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Inder, Pakistani, Westinder, Afrikaner und ein paar eingeborene Briten. Den wenigsten gefiel es hier. Es war ein Ort, wo man lebte und arbeitete, das war alles. Bis ihn die Unfallstation des Krankenhauses mit einem zugeschwollenen Auge, einer genähten Stirnwunde und anhaltenden Kopfschmerzen entließ, war es Abend geworden. Er meldete sich beim Revier, wo kaum jemand von seinen Verletzungen Notiz nahm, und ging dann in die Kneipe Z U M W I C K E L K I N D , W O er auf dem abendlichen Heimweg mit Mod Lewis, seinem Hausgenossen und Freund, soviel Bier wie möglich zu sich zu nehmen pflegte. Der Waliser war nach Modest, dem Bruder von Tschaikowsky, benannt worden und liebte es, als Philosoph bezeichnet zu werden. Mods Stärken waren sein Hang zur Loyalität - seit zwölf Jahren hielt er ein und demselben Arbeitsamt die Treue und sein großes, ebenso ungewöhnliches wie nutzloses Wissen, hatte er doch schon mindestens jedes zweite Buch der Stadtbibliothek gelesen. Mod musterte Davies' blaues Auge mitleidig, doch ohne Verwunderung. »Wir haben wohl mal wieder wie üblich den Angriff angeführt«, seufzte er. »Wieder mal in die Bresche gesprungen«, gab Davies traurig zu. Er musterte sein Auge und die verpflasterte Stirn im Spiegel gegenüber der Bar. »Das Auge ist noch gar nichts, du solltest mal meinen Körper sehen. Die blauen Flecken, die meine Kollegen mit ihren Stiefeln hinterlassen haben, kann ich gar nicht zählen. Ich bin so eine Art menschliche Zugbrücke. Sie warten, bis ich flachliege, und dann rennen sie alle hinüber.« Es war zwar nicht der Zahltag für die Arbeitslosenhilfe, aber Mod spendierte ihm trotzdem ein Bier, das er dankbar, wenn auch nicht ohne Schmerzen, hinunterschlürfte. Der Barraum war schmal wie eine Schlucht, kaum breiter als ein Korridor. Die Fenster zur Straße hin waren aus Milchglas und verziert mit eingeritzten viktorianischen Mustern. Zu dieser frühen Abendzeit waren die Läden auf der anderen Straßenseite noch erleuchtet, so daß die Vorübergehenden auf dem Heimweg von der Arbeit wie Schattenfiguren vorüberglitten. Eine ordinäre Frau trat ein und steckte eine Münze in den Musikautomaten. Sie spielte immer denselben Schlager, V I V A E S P A Ñ A , und wenn sie ein paar Gläser gekippt hatte, sang und tanzte sie gewöhnlich dazu. Sie blinzelte Davies zu, als hätten sie eine Liebesaffäre oder ein
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Geheimnis miteinander. Die Musik übertönte die Ausrufe des Zeitungsverkäufers an der Ecke, der die Abendausgabe mit dem üblichen »Neue Tragödie! Neue Tragödie!« an den Mann brachte. Es nahm nie jemand Anstoß an der stereotypen Behauptung, für die es ja auch fast täglich einen traurigen Anlaß gab. »Weißt du«, sagte Mod, der Philosoph, und nahm das Bierglas langsam und mit so viel Kraftaufwand vom Mund, als sei es dort angeklebt gewesen, »egal, wie verletzt du bist, du hast eine fabelhafte Art zu trinken, Dangerous. Einfach fabelhaft.« Davies bedankte sich mit wohlgesetzten Worten. » J a , wirklich«, fuhr Mod fort. »Ich hab' dir zugesehen, wie du das Glas hebst. Das sah aus wie ein Vogel im Flug.« Davies war an Mods poetische Bilder gewöhnt. Er zollte ihm Beifall, indem er sein Glas erneut hob, was Mod gebührend bewunderte. Danach waren die Gläser leer, und Davies bestellte eine neue Runde. » E s ist ein Jammer, dich in diesem Zustand zu sehen, nachdem deine Unterlippe gerade erst geheilt ist.« Mod nahm das nächste Bier dankbar entgegen, als wäre es ein unerwartetes Geschenk. »Sie sah scheußlich aus. Wie der Schnabel einer Teekanne. Bei Tisch war es richtig peinlich anzusehen, wie du versuchtest, deine Suppe zu trinken.« »Das sagst du mir jetzt!« Davies zog die Unterlippe herunter und untersuchte sie im Spiegel. »Na ja, alter Junge, ich wollte nicht taktlos sein - und unsere Mitbewohner auch nicht. Genaugenommen ist es nichts Besonderes mehr, wenn du ramponiert zum Essen erscheinst. Heute abend werden sie einmal mehr von deinem neuen Äußeren fasziniert sein.« Davies zuckte die Achseln. »Berufspech. Mein halbes Polizistenleben habe ich damit verbracht, flach am Boden liegend irgendeinem potentiellen Mörder ins Gesicht zu sehen.« Mod schielte über den Rand seines Bierglases. »Wenn du mich fragst - gerade deswegen behalten sie dich. Eigentlich bist du kein Detektiv, das weiß ich genau.« »Du erwähntest es bereits.« »Nichts für ungut, Dangerous. Aber das mußt selbst du zugeben. Wann hätten sie dich je einen anständigen, normalen Fall aufklären lassen? Entweder lassen sie dich herumlatschen und an 1000 Türen klopfen, oder du sollst beim Ergreifen irgendeines
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Wahnsinnigen vorneweg laufen. Wo hast du dir denn zum Beispiel, wenn ich mal fragen darf, die Teekannenschnauze geholt?« »Raufhandel«, sagte Davies, »eine Massenschlägerei. Damit muß man halt in so einer Gegend rechnen. Hast du je darüber nachgedacht, wie viele Leute hier miteinander im Kriegszustand leben? Da gibt es außer den protestantischen und katholischen Iren noch verfeindete afrikanische Stämme, Inder und Pakistani, Juden und Araber. Bei denen habe ich mir übrigens die dicke Lippe geholt - bei den Juden und Arabern. Irgendein Idiot bei der St. Saviour's Hall hatte die Anmeldungen durcheinandergebracht und den Saal am selben Abend an die örtliche El-FatahGruppe und an die jüdische Jugendbrigade vermietet. Und ich war genau dazwischen.« Wieder zog er die Unterlippe herunter und betrachtete sich im Spiegel. »Sieht wieder aus wie früher«, sagte er. Er fing an, Hunger zu verspüren. »Wie spät ist es?« »Die Uhr dort über deinem Kopf zeigt halb sieben«, bemerkte Mod. »Ach ja, die Uhr. Hab' ganz vergessen, daß sie da ist.« Die ordinäre Frau hatte inzwischen soviel getrunken, daß es in ihren Waden und dicken Oberschenkeln zuckte. Sie stieß schrille spanische Laute aus. Das Lied V I V A E S P A Ñ A , das sie heute bereits zweimal abgenudelt hatte, landete schon wieder auf dem Plattenteller. »Laß uns gehen, bevor die Flamenco-Fanny den Fußboden löchert«, schlug Davies vor. »Einverstanden«, stimmte Mod zu. »Außerdem zieht mich mein leerer Magen, wenn schon sonst nichts, zu Mrs. Fulljames hin.« Schweigsam und müde trotteten die Leute an den staubbedeckten Fenstern der bescheidenen Lädchen vorbei nach Hause. Es war ein warmer Herbsttag gewesen, und Rauchwolken hingen über den Fabriken und färbten sich im Sonnenuntergang hinter den Kühltürmen des Kraftwerks glutrot. Die Dächer der Wohnhäuser hingen wie verdurstete Zungen herab, schmutzige Ligusterhecken schlängelten sich um winzige Vorgärten, trübe Glasscheiben brüteten über niedrigen Fenstersimsen. Viele der Vorübergehenden waren Inder, Westinder oder Iren. In der Bingospielhalle gingen pünktlich um sieben die Lichter an.
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in Furtman Gardens, war ein etwas größeres, schwerfällig wirkendes viktorianisches Haus mit einer Araucarie im Vorgarten. Mod schloß die Haustür auf, und sie gingen hinein. Die anderen Bewohner saßen schon in trübsinniger Erwartung um den Abendtisch. Doris, Davies' Angetraute, starrte auf ihren leeren Teller, als werde im nächsten Moment eine unsichtbare Schrift darauf zum Vorschein kommen; Minnie Banks, die magere Lehrerin, saß mit gesenktem Haupt wie eine Sicherheitsnadel da, während Mr. Smeeton, der Alleinunterhalter, sich mit Lederhosen und bayrischen Hosenträgern schon für seinen abendlichen Auftritt, offenbar die Darbietung eines Schuhplattlers, kostümiert hatte. Die Tischrunde war selten sehr angeregt gewesen, heute jedoch schien die Stimmung noch gedrückter zu sein als sonst. Anscheinend waren alle auf Davies' Ankunft gespannt. Er und Mod murmelten etwas zur Begrüßung und nahmen unter allgemeinem Schweigen ihre Plätze ein. Plötzlich segelte Mrs. Fulljames aus der Küche herein und blickte Davies voll offener Verachtung an. »Ich dachte immer, Sie sind ein Kriminalist«, begann sie ihre Kriegserklärung. »Dachte ich zumindest.« »Das ist ein allgemeines Mißverständnis«, sagte Davies und nahm sein Gesicht aus der Schußlinie. »Nun werde nicht unhöflich!« rief Doris von der anderen Seite des Tisches aus. »Ich weiß ja, wer das sagt, Mrs. Davies«, sagte Mrs. Fulljames von oben herab. Dann wandte sie sich schwerfällig wieder Davies zu. »Kriminalist«, wiederholte sie. »Um welche Angelegenheit handelt es sich?« »Angelegenheit? Angelegenheit? Es geht um ein V e r b r e c h e n ! Und das direkt vor Ihrer Nase! Ein Kriminaler - also wirklich!« Ihr Busen hob sich, als würde sie mit Dampf aufgepumpt. »Ich hab' bei der Polizei angerufen, und man hat mir gesagt, ich solle es Ihnen melden, sobald Sie nach Hause kommen. Ich hab' genau gehört, wie die Idioten gekichert haben - wie die Schulmädchen. Er meinte, es hätte keinen Zweck, einen Bullen herzuschicken, wenn schon einer im Haus sei.« Davies zog umständlich sein Notizbuch hervor und leckte an der Spitze seines Polizeibleistifts. »Das Zeugs können Sie wieder wegstecken«, krächzte Mrs. Fulljames. »Zum Schreiben haben wir jetzt keine Zeit. Ein Brotpudding wartet auf mich in der KüBALI H I ,
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che.« Sie warf einen besorgten Blick über seine Schulter hinweg. Durch die offene Küchentür drang eine Dampfwolke wie ein Gespenst, das sich bemerkbar machen will. Sie schwankte einen Augenblick zwischen Polemik und Plumpudding und entschied sich dann für den letzteren. Nach einer weiteren schwerfälligen Kehrtwendung walzte sie in die Küchenregionen. Davies steckte sein Notizbuch ein und warf einen Blick in die Runde. »Um was handelt es sich denn?« Doris spielte die Rolle der hilfreichen Gattin. » E s ist etwas im Haus gestohlen worden, darum geht es. Ein Diebstahl.« »Mein Gott, ich hätte nicht gedacht, daß es hier etwas zu stehlen gibt.« Davies war ehrlich überrascht. »Das Messingbett«, antwortete Doris triumphierend. »Das antike Bettgestell in Mr. Sahidars Zimmer. Es ist weg. Eine Antiquität.« Sie gehörte zu denen, die immer noch ein letztes Wort hinterherschicken mußten. Davies blickte sich am Tisch um. »Und ich sehe, daß Mr. Sahidar nicht mehr unter uns weilt. Gehe ich recht in der Annahme, daß er und das Bett zusammen verschwunden sind?« »Weg, alle beide«, schniefte Doris. »Und das aus deinem Nachbarzimmer. Ich würde ja nichts sagen - aber Wand an Wand mit dir! Ich kann nur sagen, ich schäme mich für dich.« »Mrs. Davies«, sagte Davies, »Sie können kaum von mir erwarten, daß ich die ganze Nacht Wache halte, nur für den Fall, daß einer der Gäste mitsamt seinem Bett das Weite sucht. Das passiert schließlich nicht jeden Tag. Übrigens, gestern war mein Nachtquartier der Friedhof.« »Wir wissen jedenfalls nur, daß das Bett weg ist«, jammerte sie. »Als Mrs. Fulljames heute morgen hineinging, fand sie nichts vor als einen Haufen Bettzeug und den Gestank von Weihrauch. Das Bettgestell war 100 Pfund wert. Es war Mr. Fulljames' Bett.« Die übliche Pause folgte, dann fuhr sie fort: »Als er noch lebte.« »Eine Reliquie«, murmelte Davies. »Ein antikes Stück«, rief Mrs. Fulljames, die mit einer bedrohlich aussehenden Kanonenkugel von Brotpudding hereinkam. Sie war so schwer, daß sie sie eher zu stoßen als zu tragen schien. »Antik, Herr Polizist.« Sie machte sich mit einem riesigen Messer, einer wahren Mordwaffe, über den Pudding her. Davies drückte sich beiseite und erwartete beinahe, daß der Pudding zu schreien anfing. Mrs. Full-
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james füllte die Teller, Davies kam zuletzt an die Reihe und bekam die übriggebliebenen Brocken. Dann verschwand sie in der Küche und kehrte mit gekochten Kartoffeln, Karotten und einer Flasche Oxosuppenwürze zurück. »Unbezahlbar«, murmelte sie, »das Bett.« Niemand antwortete. Minnie Banks sah ängstlich drein. Mod schob den Pudding auf seinem Teller herum, und Mr. Smeeton in seinem Trachtenkostüm starrte zur Decke, als ob er dort die bayrischen Alpen sähe. Plötzlich ließ Mrs. Fulljames den Kopf in die Dampfwolke über ihrem Teller sinken und begann zu weinen. »Es war das Bett von Mr. Fulljames«, schluchzte sie, »dem verstorbenen Mr. Fulljames.« Doris beugte sich hinüber und streichelte ihre Hand. Aber die sentimentale Anwandlung war nur allzuschnell vorüber. »Wie?« kläffte die Witwe Davies an, »wie nur?« Davies kämpfte mit einem heißen Bissen Pudding. Er schluckte tapfer und fühlte, wie die glühende Lava ihren Weg in sein Inneres nahm. »Weiß ich nicht«, sagte er schmerzerfüllt. »Woher soll ich das wissen. Mr. Sahidar war ein Perser. Vielleicht ist er ja mit dem Bett aus dem Fenster geflogen.« Mrs. Fulljames sah ihn wütend an, wobei die halbe Möhre, die ihr wie eine Drachenzunge aus dem Mund hing, den Ausdruck noch verstärkte. »Ich gehe davon aus«, sagte sie, während sie die Karotte mit ihrem Löffel von der Lippe nahm und neben den anderen auf ihrem Teller zur ewigen Ruhe bettete, »ich gehe davon aus, daß Sie die Ermittlungen umgehend aufnehmen werden. Noch heute abend!« »In einer Stunde«, versprach er. »Ich werde dafür sorgen, daß dies Haus von Polizisten nur so wimmeln wird.«
Kapitel 3
I
nspector Vernon Yardbird schaute aus seinem Bürofenster im vierten Stock des Polizeireviers mißmutig auf die zerklüftete Dachlandschaft hinaus. Die Gegend war ihm seit 30 Jahren vertraut, nur daß er in dieser Zeit vom Raum der normalen Schutzleute im Keller, der sich direkt neben den Häftlingszellen befand, in die oberste Etage befördert worden war. Seiner Meinung nach hätte er noch viel weiter befördert werden müssen. Weniger vertikal als vielmehr horizontal - nämlich zu Scotland Yard. Schon sein Name legte dies nahe. Alle berühmten Polizisten schmückten sich mit dem Namen von Scotland Yard: Hatstick vom Yard, Harborough vom Yard, Todhunter vom Yard. Was könnte sich besser anhören als Yardbird vom Yard? Ein fürwahr guter Klang. Leider hatten andere seine Perspektiven anders eingeschätzt. Er war immer ein gewissenhafter, peinlich korrekter Polizist gewesen, dem es jedoch nach allgemeiner Ansicht an Phantasie fehlte. Jetzt erwartete er einen Mann vom Special Branch. Er hielt nicht viel von dieser Abteilung. Während des Sommers hatte er sich häufiger einen Blick aus dem Fenster gegönnt. Jenseits der vordersten Dächerreihe gab es ein Studentinnenheim, dessen Bewohnerinnen sich an heißen Tagen auf dem Dachbalkon sonnten. Er hielt nicht viel von Studentinnen, hatte aber nichts dagegen, sie persönlich zu überwachen, wofür er sich mit einem Feldstecher ausgerüstet hatte. Jetzt aber war es damit vorbei. Mit der Sommersonne waren sie verschwunden, und auch der kurze Nachsommer hatte sie nicht wieder herausgelockt. Nun hing - nach ein paar schönen Tagen - die neblige Herbstluft schwer über den Dächern. Er hielt nicht viel vom Herbst. Im Erdgeschoß war der Sergeant vom Dienst bemüht, eine ältliche, jedoch sehr energiegeladene Witwe zu beruhigen, die sich
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beschweren wollte, weil ihre Nachbarn sie durch den beinahe ununterbrochenen Gebrauch der Klosettspülung terrorisierten. Er sah den Mann vom Special Branch hereinkommen und unterbrach mit einer höflichen Bemerkung die pausenlose Folge von Spülvorgängen für einen Moment, um den Besucher bei Inspector Yardbird anzumelden. Er wurde oben erwartet. Yardbird kannte ihn nicht persönlich: Detective Sergeant Herbert Green. Was für ein Name für jemanden vom Yard! Dort hatten sie wohl nichts als Emporkömmlinge, und dieser Green war sicher einer von ihnen. Für solche Leute hatte er nichts übrig. Neuerdings kam der Nachwuchs zum Teil sogar von der Universität. Er hielt nichts von Universitäten. Green war ein blasser, schüchterner junger Mann. Nachdem er eingetreten war, legte er mit einer entschuldigenden Geste eine Akte auf Yardbirds Schreibtisch. »Ramscar«, sagte er. »Cecil Victor Ramscar. 45 Jahre alt.« »Ach, der ist mir längst bekannt«, rief Yardbird ungeduldig. »Geboren, getauft, zur Schule gegangen, Mitglied bei den Pfadfindern und schließlich sein erster Bankraub - und das alles hier in der Gegend innerhalb von zwei Quadratmeilen.« »Gut«, sagte der Sergeant leichthin. »Dann wissen Sie ja, nach wem Sie suchen sollen.« »Also ist er wieder hier? Der Mistkerl. Wir dachten schon, wir wären ihn für alle Zeiten los! Hat vor ein paar Jahren das Weite gesucht.« »Stimmt. Er ist in Australien gewesen und in Amerika. Hat seine Finger in allerhand dreckigen Sachen gehabt, aber jetzt ist er wieder da. Er ist nicht auf dem normalen Weg eingereist, sonst wäre er uns wohl sofort aufgefallen. Aber wir nehmen an, daß er sich in Ihrem Distrikt aufhält. Vermutlich ist er hier vor Anker gegangen.« »Weswegen wird er gesucht?« »Wissen wir nicht.« Yardbird blickte gereizt auf. »Verdammt guter Anhaltspunkt, muß ich schon sagen.« Green zuckte die Achseln. »Eigentlich gar keiner«, stimmte er zu. »Aber wir haben nichts gegen ihn in der Hand. Wir könnten ihn wegen illegaler Einreise belangen, wenn wir ihn denn schon hätten, aber selbst das wäre möglicherweise schwer zu beweisen.« »Was wollen Sie dann von ihm?«
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»Wir wollen ihn aufspüren und dann im Auge behalten.« »Und weswegen?« »Im Moment wegen nichts. Wir vermuten aber, daß er gerade etwas ausheckt.« Ein Schlag gegen die Tür war zu hören - kein Klopfen mit der Hand, sondern eher ein dumpfer Aufprall aufs Holz. Auf Yardbirds »Herein« trat eine der Kantinenfrauen mit zwei Teetassen in der Größe von Nachttöpfen ein, die auf ebenso massiven Untertassen standen. Green bemerkte den roten Fleck auf ihrer Stirne und kombinierte ganz richtig, daß sie den Kopf zum Anklopfen benutzt hatte. Sie stellte die Tassen auf Yardbirds Schreibtisch und schlurfte wieder hinaus. »Was führt Ramscar denn im Schilde?« »Wir nehmen an, er geht mit der Mode und verlegt sich auf ein paar nette kleine Flugzeugentführungen, Verschleppungen, Geiselnahmen und dergleichen. Er war in Australien und in Kalifornien an organisierten Verbrechen in größerem Stil beteiligt und ist sicher nicht umsonst nach London zurückgekommen. Vermutlich hat er sich mit einer Terroristengruppe zusammengetan. Für Geld natürlich, nicht etwa aus Überzeugung. Vielleicht ist er die Schlüsselfigur hinter den jüngsten politisch motivierten Entführungen.« Yardbird rümpfte die Nase. »Viel wissen Sie nicht, oder? Eine Menge >wenn<, >aber< und >vielleicht<.« »Das ist alles, was wir zur Zeit haben«, meinte Green achselzuckend. Es war zwar nicht alles, was sie wußten, aber den Rest brauchte Yardbird nicht zu erfahren. »Vorerst benötigen wir nichts weiter als Ramscars Aufenthaltsort.« »Warum besorgt Ihre Abteilung das nicht selbst? Sie haben doch weiß Gott Leute genug.« »Natürlich könnten wir ein paar Männer losschicken«, räumte Green ein, »aber man hielt es für zweckmäßig, jemanden von diesem Revier zu beauftragen. Jemanden, der sich hier auskennt.« »Man hielt es für zweckmäßig?« erkundigte sich Yardbird. »Wer hielt es für zweckmäßig?« »Der Polizeipräsident.« Green spielte vergnügt seine beste Karte aus. »Oh, der Polizeipräsident. Nun, da hat er gewiß recht.« Green trank seinen Tee auf einen Zug und stellte die schwere Tasse zurück auf Yardbirds Schreibtisch. »Mein Gott«, sagte er,
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»für diesen Tee braucht man wirklich ganz schön dicke Tassen.« Er grinste Yardbird mit Verschwörermiene an. »Es schadet nichts, wenn bei diesem Fall eine absolute Geheimhaltung nicht möglich ist. Ich denke sogar, je ungeschickter die Ermittlungen angestellt werden, desto besser ist es. Wenn sie so durchgeführt werden, daß Mr. Ramscar ein bißchen gestört wird, sich Sorgen macht, vielleicht seine Deckung verläßt oder vorzeitig seine Karten aufdeckt, dann ist unser Ziel in etwa erreicht.« »Genügt ein Mann?« »Haben Sie jemanden, der dafür geeignet ist? Der die Sache garantiert so ungeschickt angeht, daß sich die Wellen ein bißchen kräuseln?« Yardbird nickte und griff zum Telefon. »Schafft mir Detective Constable Davies her«, sagte er. Der alltägliche Fabrikrauch hatte sich hinter den Horizont verzogen und einen leicht verwundert dreinblickenden Himmel zurückgelassen. Davies war auf dem Weg zur Revierwache. Es kam nicht oft vor, daß er zum Inspector bestellt wurde. Er hatte es nicht eilig, obwohl man offenbar seit dem späten Nachmittag erfolglos versucht hatte, ihn zu erreichen, während er am Kanal die Enten fütterte. Jetzt, am frühen Abend, waren nicht allzu viele Menschen auf der Straße; die meisten waren von der Arbeit heimgekehrt und noch nicht wieder ausgegangen, um sich zu vergnügen. Sogar die Hauptstraße war nahezu verlassen, so daß Davies sich fühlte, als würde er einen Landspaziergang machen. Im Vergleich damit erschien ihm der Friedhof, an dem er vorbei mußte, reichlich dicht besiedelt. Das große Tor war zur Nacht geschlossen worden. Er fragte sich erneut, welchen Grund diese Sicherheitsmaßnahme für die Toten wohl hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit wollte gewiß keiner hinein, und hinaus ging erst recht niemand. Er blieb am Tor stehen und betrachtete die grüne Wildnis, die dabei war, den in Stein verewigten sentimentalen Kitsch zu verschlingen. Dann legte er grüßend die Hand an die Stirn, murmelte »Gute Nacht allerseits« und setzte seinen Weg zur Polizeiwache fort. Unterwegs spielte er mit der angenehmen Vorstellung, Inspector Yardbird habe ihn zu sich gerufen, um ihm ein spektakuläres Verbrechen, vielleicht einen Mordfall, zu übertragen. Davies hatte sich schon oft ausgemalt, wie er bei seinen Ermittlungen
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vorgehen würde. Nicht, daß sie ihn jemals dazu auffordern würden - jedenfalls nicht, ehe nicht die gesamte Truppe der Metropolitan Police dem Typhus zum Opfer gefallen war. Und selbst dann würden sie wohl eher jemanden aus - na sagen wir - Devonshire zuziehen, als ausgerechnet ihm einen Fall anzuvertrauen. Ohnehin war ein Mord in dem Bezirk weder an diesem Tag noch in den letzten Wochen passiert. Den letzten hatte ein streitsüchtiger Pakistani an einem wortkargen Iren mit einem orientalischen Dolch, einer überaus auffälligen Tatwaffe, mitten auf der Straße vor dem Arbeitsamt verübt. An den diesbezüglichen Ermittlungen war Davies kein besonders großer oder rühmlicher Anteil vergönnt gewesen. Zwar wurde er mit einigen Fragen zum Arbeitsamt geschickt, aber er ging bei seiner Untersuchung mit soviel Bescheidenheit vor, daß man seine Absicht mißverstand und ihm nach einstündiger Wartezeit einen Job in einer Wäscherei anbot. Außerdem hatte er sich vor den Ohren der drängelnden Arbeitslosen vom Leiter des Arbeitsamts zurechtweisen lassen müssen, weil er nicht die korrekte Bezeichnung >Amt für soziale Sicherheit< benutzt hatte. Damals hatte er sich - nicht zum ersten Mal in seinem Berufsleben - vorgenommen, künftig mit mehr Autorität aufzutreten. Er redete sich gern ein, daß er bei seinen Untersuchungen besonders gewissenhaft vorgehe, aber wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß er zwar gewöhnlich viel Zeit aufwendete, aber trotzdem nicht allzuviel Erfolg hatte. An der letzten Straßenecke vor der Wache traf er eine Frühaufsteherin unter den Prostituierten, die sich wie üblich vor dem Lorbeergebüsch in der Hoffnung postiert hatte, daß der dekorative Rahmen ihre zweifelhaften Reize steigern werde. Zu dieser Tageszeit traf man sie hier regelmäßig an. Sie hieß Beryl Suggs, aber er nannte sie immer Venus, weil sie ihn, wie er sagte, an den Abendstern erinnerte. »Hallo, schon 'nen Freier gehabt?« sagte er voller Anteilnahme. »Nichts los bis jetzt, Dangerous«, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln. Die giftig roten Lippen entblößten eine Reihe schlechter Zähne. Sie reckte die Nase in die verpestete Abendluft, als wittere sie eine Spur. »Gleich kommt einer«, prophezeite sie. »Du bist heute spät dran. Sonst sehe ich dich immer am Nachmittag, wenn du die Enten füttern gehst.«
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»Ich darf draußen bleiben, bis es dunkel wird«, sagte Davies verschmitzt. Venus lachte, und er ging weiter auf die vertrockneten Lorbeerbüsche vor der Wache zu. Jemand hatte mit Farbe >Säubert die Polizei< quer über das Schild am Haupteingang gesprüht. Er fuhr mit dem Finger über ein staubiges Lorbeerblatt, und ihm kam der Gedanke, daß die große Säuberung ganz gut hier ihren Anfang nehmen könnte. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und überprüfte, ob er Notizbuch und Bleistift bei sich hatte. Er wollte sich nicht wieder ohne diese Utensilien erwischen lassen. Schon einmal war er ausgerechnet in Gegenwart seines Vorgesetzten in die Situation gekommen, Vorübergehende nach Schreibzeug und einem Stückchen Papier fragen zu müssen. Als das nicht von Erfolg gekrönt war, hatte er erst den Inspector und - als dieser eisig jede Hilfe verweigerte - dann die beschuldigte Person selbst darum bitten müssen, die zum Glück bereit war, ihm mit Bleistift und Papier gefällig zu sein. An der Tür angelangt, richtete Davies sich kerzengerade auf wie jemand, der gesucht wird und sich selbst ans Messer liefert; dann trat er auf eine Weise ein, die Selbstbewußtsein ausdrücken sollte. Der Sergeant vom Dienst war an der Theke damit beschäftigt, einem Zeitungsreporter die Liste der Verkehrsunfälle des Tages vorzulesen, die dieser gelangweilt in sein Notizheft schrieb. »Anthea Mary Draycott, mit Doppel-t«, diktierte der Sergeant. »Geringfügig verletzt... 'n Abend, D a n g e r o u s . . . Marienkrankenhaus . . . ambulant.« Ein älteres Paar saß auf der Wartebank, offensichtlich waren sie unruhig und niedergedrückt, wie sich sogar Leute, die nichts auf dem Gewissen haben, bei der Polizei nun einmal fühlen. Ein weiteres Augenpaar warf ihm über den Rand der Milchglasscheibe, die das Verhörzimmer abtrennte, einen gehetzten Blick zu. Auf dem hölzernen Fußboden im Korridor befand sich eine noch frische Blutlache; also hatte wohl, folgerte Davies - wobei er diesmal sogar richtig l a g - , Police Constable Westermans Nase wieder einmal geblutet. Davies folgte der Blutspur und fand im CID-Büro den nasenblutenden Kollegen über das Waschbecken gebeugt. Westerman verdrehte die Augen und flehte: »Bring mir die Schlüssel, Dangerous.«
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Die Zellenschlüssel hingen wie üblich am Haken. Davies, der wußte, was von ihm erwartet wurde, holte sie und ließ sie zwischen Kragen und Hals Westermans massigen Rücken hinuntergleiten. Der Constable schrak ein wenig zusammen, als er das kalte Metall auf dem Rücken spürte, aber sein Nasenbluten hörte auf. »Danke, Dangerous«, sagte er. Er sah aus, als hätte er Erdbeermarmelade genascht. »Komisch, aber der Schlüsselbund hilft.« »Erwarte nur bitte nicht von mir, daß ich ihn wieder heraushole«, erwiderte Davies. »Du solltest dir das Gesicht waschen. Man könnte sonst denken, wir folterten auch unsere eigenen Leute.« Westerman beugte sich runter und wusch sein Gesicht im Bekken. »Ich bin nur froh, daß du hereingekommen bist und nicht der alte Yardbird. Ich hätte ihn nicht bitten mögen, nicht schon wieder, diesen verdammten Sklaventreiber.« »Ist er oben?« fragte Davies. »Ich soll mich bei ihm melden.« »Richtig, ja, das hätte ich fast vergessen. Er ist schon nach Hause. Er wartet nie länger als bis sechs, das weißt du ja. Aber er hat beim Sergeant etwas für dich hinterlassen.« Er betrachtete die untere Hälfte seines roten Gesichts im Spiegel. »Danke für die Schlüssel, Dangerous. Ich geh' jetzt zum Lokus und fische sie wieder raus.« Davies ging zur Theke der Wache zurück. Der Zeitungsmann war nicht mehr da. Der Sergeant hatte einen stattlichen Aktenordner vor sich liegen. »Der ist für dich, Dangerous«, sagte er. »Heute nachmittag aus dem Kriminalarchiv gekommen. Ramscar, Cecil Victor. Schon von ihm gehört?« »Andeutungsweise. Was hat er angestellt?« »Zwei Jahre, drei Jahre, dann fünf Jahre«, antwortete der Sergeant. »Jedenfalls, der ganze Kram ist für dich. Yardbird hat gesagt, du sollst es lesen, >durcharbeiten< nennt er es, und morgen früh zu ihm kommen. Er war ein bißchen sauer, daß er dich nicht heute nachmittag zu fassen bekommen hat, aber der Alte ist ja eigentlich immer sauer.« »Hast du eine Ahnung, worum es geht?« »Ramscar ist hier schon vor Jahren als Halbstarker aufgefallen. Ein übler Bursche. Dann verschwand er, stieg woanders groß ins Geschäft ein. Anscheinend ist er jetzt wieder hier, und du sollst ihn finden.«
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Davies' Miene hellte sich auf. »Nicht übel«, sagte er, »jedenfalls eine Abwechslung. Endlich mal ein richtiger Ganove. Besser als ein geklautes Taubenhaus.« Der Sergeant lachte, führte seinen Becher zum Mund und versuchte, mit dem Lachen den heißen Tee abzukühlen. »Wieviel hat er bekommen, der Typ, der sich das Taubenhaus gegriffen hat? Wie hieß er noch gleich?« »Beech, Joe Beech«, sagte Davies. »55 Jahre, Klempner. Hat die drei Monate Haft bekommen, die er wollte. Er plant, noch ein zweites bewegliches Modell vom Buckingham-Palast zu basteln.« Er griff nach dem Aktenordner und verzog angesichts des Gewichtes sein Gesicht. Dann machte er sich zum Dienstzimmer auf. Der Sergeant rief ihm nach: »Was soll das bloß sein, ein bew e g l i c h e s Modell vom Buckingham-Palast?« »Frag mich nicht«, gab Davies zurück, »ich bin ja bloß ein schlichter Polizist.« Die Kriminalbeamten dieses Reviers beklagten sich ständig über ihr gemeinsames Arbeitszimmer, das das schlimmste im ganzen Gebäude war - selbst wenn man die Häftlingszellen mit einrechnete. Es war kalt, grün angestrichen und fensterlos, wenn man von einem ewig schmutzigen Oberlicht absah. Wer sich da einschloß, konnte leicht die Uhrzeit vergessen. Die Jahreszeiten machten sich durch nichts weiter bemerkbar als durch die toten Fliegen, die im Winter von der Decke fielen, und das Surren ihrer quicklebendigen Nachkommen im Frühling. Ein paar Tische und Stühle der einfachsten Art standen herum, außerdem zwei schäbige Schreibpulte und ein paar ramponierte Schränke für die Habseligkeiten des Personals. Es gab eine schwachbrüstige Gasheizung und daneben einen Gaskocher mit Teekessel und einer Ansammlung von Bechern. Als Wandschmuck dienten eine Zielscheibe mit Wurfpfeilen, ein Kalender der Molkereigenossenschaft mit dem Bild eines Milchmädchens samt stumpfsinniger Kuh sowie eine gerahmte Darstellung D A S M A R T Y R I U M D E S H L G . P E T R U S . Der Heilige befand sich, kopfüber am Kreuz hängend, in einer äußerst unbequemen Lage. Sein hilfloser, leidender Gesichtsausdruck wurde so manches Mal von den Mienen der hier tätigen Beamten noch übertroffen. Im Moment war außer Davies niemand im Zimmer. In der Kantine, die noch geöffnet war, hatte er sich mit einem Becher Kaffee und drei nicht
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sehr appetitlichen Teilchen versorgt. Als er sich setzen wollte, stieß er mit dem Kopf an die tief herabhängende Deckenlampe. Sie pendelte unheilverkündend hin und her wie eine stumme Glocke. Als sie endlich zur Ruhe kam, schlug er Cecil Victor Ramscars Akte auf. Er fing von hinten an. Alles, was man über Ramscar zusammengetragen hatte, jede Erkenntnis, jeder Verdacht, jegliche Nachforschung und alle registrierten Fingerabdrücke waren hier versammelt. Auf den Aufnahmen aus den Gefängnissen wurde er beim Zurückblättern immer jünger; auf der letzten war er ein schon ziemlich abgebrühter Knabe aus der Hockeymannschaft von Borstal. Der erste Bericht - Entwendung von Kleiderbezugsscheinen - war von 1945, der letzte - Bewaffneter Raubüberfall, begründeter Verdacht, aber Mangel an Beweisen - von 1968. Danach gab es nichts mehr, nur die Notiz: Wohnhaft vermutlich in Oakland, Kalifornien. Information durch F B I (Az. F B I 384 A), Januar 1972. Aus der Zeit vor 25 Jahren gab es ein einzelnes Blatt in Schreibmaschinenschrift. Davies beugte sich vor, um bei dem schlechten Licht besser lesen zu können. Die Überschrift war mit der Hand geschrieben worden: Protokoll der Aussagen von Cecil Victor Ramscar. Betr.: Vermißtenfahndung Celia Norris (wahrscheinlich nicht mehr am Leben). Die Akte war auf den 15. August 1951 datiert. Davies las die Aussagen sorgfältig durch. Ramscar, wie bei den meisten seiner in der Akte festgehaltenen Aussagen, stritt alles ab. Es ging um seinen Aufenthalt am 2 3 . Juli 1951 und um die folgenden Tage. Ramscar sagte aus, er sei beim Pferderennen gewesen und habe die Nacht des 2 3 . Juli mit zwei Stripperinnen in einem Hotel in Newmarket verbracht. Davies hob die Augenbrauen. Ramscar räumte ein, Celia gekannt zu haben, da ihr Vater ein Geschäftspartner von ihm gewesen sei, stritt aber ab, sie in der Woche vor dem 2 3 . Juli - oder jemals nach diesem Datum gesehen oder mit ihr gesprochen zu haben. Die Aussage war von der Polizei überprüft und nicht angezweifelt worden. Gestempelt und unterschrieben war die Akte von einem Kriminalbeamten, dessen Namen nicht zu entziffern war. Davies starrte auf die Schrift. Er hatte niemals von einem Fall Celia Norris gehört. Er erhob sich langsam und ging zur Eingangshalle an die Theke.
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Der Diensthabende war ein Mann mit Glatze, den, wie Davies wußte, nur noch wenige Monate von seinem Ruhestand trennten. » B e n « , fragte er, »du bist doch schon seit Adam und Eva hier. Hast du je von einem Fall Celia Norris gehört? Im Juli '51 spurlos verschwunden?« Ben machte die übliche Handbewegung, als striche er sich das Haar aus der Stirn. »Oh ja, ich kann mich daran erinnern, Dangerous. Junges Mädchen, 16 oder 17, war auf dem Heimweg vom Jugendklub - mit dem Fahrrad, glaube ich. War einfach weg. Wie in Luft aufgelöst.« »Und sie wurde niemals gefunden?« »Keine Spur. Nicht die kleinste. Ich erinnere mich nicht an die Einzelheiten, aber ich glaube, ihre Kleider tauchten schließlich irgendwo auf.« »Wurde es als Mordfall behandelt?« »Nein, jedenfalls nicht am Anfang, erst später. Man nahm eben an, sie sei von zu Hause ausgerissen - wie so viele Mädchen. Vielleicht mit einem Mann. Sie war früher schon mal weggelaufen, und ihr Elternhaus war auch nicht gerade ein Grund zum Jubeln. Jetzt fällt's mir ein, ihr Vater war so ein kleiner Ganove, immer in Diebstähle und Hehlerei verwickelt. Hab' schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, vielleicht sitzt er hinter Gittern.« »Und die Sache wurde niemals aufgeklärt?« »Mein Gott, nein, es gab ja nicht mal einen Verdächtigen, wenn ich mich richtig erinnere. Die üblichen Festnahmen, natürlich, aber es kam nichts dabei heraus. Es gab ein ziemliches Aufheben, Aufregung in der Presse und so'n Quatsch. Die Kripo, die wir hier damals hatten, konnte nicht mal ein Kreuzworträtsel lösen, geschweige denn so was. Sie griffen sich ein oder zwei von ihren Lieblingsverdächtigen, mußten sie aber wieder entlassen, und so verlief das Ganze mehr oder weniger im Sande. Es muß noch eine Akte darüber geben. Wundert mich, daß du nie davon gehört hast. Wie kommst du überhaupt darauf?« Davies blieb keine Zeit zur Antwort. Die Pendeltüren flogen auf, und eine Frau stürzte herein; in der einen Hand hatte sie einen großen Kochtopf, mit der anderen hielt sie sich den Kopf. »Der Scheißkerl hat' s schon wieder getan!« schrie sie Ben an. »Schlägt mir mit dem Kochtopf auf den Schädel! Mitten auf den verdammten Schädel!« Davies wich zurück. Als die Frau die Hand vom Kopf nahm, sah man eine beträchtliche Beule. Der
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Sergeant öffnete seufzend sein großes Protokollbuch. »Mrs. Goodly«, sagte er beim Schreiben. »Vera. Hawthorn Street. Welche Hausnummer war das noch?« » 2 7 . « Das Ritual war ihr offenbar vertraut. »Der Scheißkerl. Der kann was erleben.« Davies machte sich davon. Er nahm sich einen Schlüssel vom Brett hinter der Theke und ging den Korridor entlang bis zu einer Tür mit der Aufschrift A R C H I V . In diesem Moment, schon in diesem frühen Stadium, spürte er, wie etwas in ihm zu keimen begann. Schwach nur, aber es regte sich. Er knipste das Licht an und blickte auf die Reihen der Aktenschränke aus Blech. Da war sie und hatte eine ganze Aktenbox für sich: Norris, Celia, 1951. Seine innere Spannung wuchs, als er sie herabnahm, auf den Tisch legte und den quietschenden Deckel öffnete. Er nahm den Inhalt heraus, Hunderte von beschriebenen Blättern, Protokollen, vergilbten Zeitungsausschnitten und Fotografien. Ein Briefumschlag enthielt das vergrößerte Foto eines Mädchens, das Eis aß. Sie machte ein Schelmengesicht; sie hatte bemerkt, daß ein bißchen Vanilleeis auf ihr Kinn getropft war, und lachte darüber. Auf der Rückseite stand: Celia Mary Norris. 153 cm, 49 kg. 17 Jahre. Während der nächsten zwei Stunden saß er in dem einsamen Zimmer über die Papiere gebeugt. Vom Korridor her vernahm er hin und wieder Geräusche, die ihm zeigten, daß der übliche abendliche Betrieb auf der Wache weiterging - die Betrunkenen lärmten, Drohungen wurden ausgestoßen, es wurde lamentiert, und zweimal hörte er sogar das Rasseln der Zellentüren. Als er endlich bei der letzten, ohne Ergebnis abschließenden Eintragung angekommen war - die ganze Sache war im Sande verlaufen, nicht zu Ende geführt, aufgegeben worden-, war es auf der großen Uhr am jenseitigen Ende des Korridors bereits zehn. Er faltete die Dokumente zusammen und legte sie wieder in die Dose. Dann gab er den Schlüssel bei dem Sergeant, der Ben inzwischen abgelöst hatte, an der Theke ab. Draußen regnete es. Er hüllte sich fester in seinen dicken Mantel und trottete schwerfällig zum W I C K E L K I N D . Die Flamencotänzerin, die sich gerade bei ihrer Darbietung den Fuß verstaucht hatte, lag auf dem Boden. Mod war dabei, sie aufzuheben, aber als er Davies erblickte, ließ er sie wieder fallen. »Herrgott noch
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mal, wo warst du bloß?« rief er aus. »Ich sitze hier herum und muß mir selbst mein Bier spendieren.« Davies bestellte zwei Pints, trotzdem sah Mod ihn weiter vorwurfsvoll an. »Verdammt schönen Abend hab' ich gehabt«, maulte er. Er nickte in Richtung der immer noch schreienden Frau, die gerade von drei starken Männern zur Tür geschleppt wurde. »Hab' Stunden damit verbracht, dem verrückten Weibsstück etwas über Spanien beizubringen. Sie hat noch nie etwas von Franco oder Don Juan Carlos gehört. Alles, was sie kennt, ist das V I V A ESPAÑA-Geplärre. Granada, denkt sie, ist ein Fernsehsender.« Dann stutzte er und warf einen prüfenden Blick auf Davies, der still vor sich hin lächelte. »Irgend etwas ist passiert«, sagte Mod beunruhigt. »Du hast mal wieder was angestellt, Davies. Raus mit der Sprache!« Davies lächelte verschämt in sein Glas. »Ein Mord«, sagte er, »ich hab' mir einen Mordfall an Land gezogen.« Mod riß vor Erstaunen den Mund auf. »Einen eigenen Mordfall?« flüsterte er. » D i r haben sie einen Mord gegeben?« »Das nicht«, berichtigte Davies. »Sie haben ihn mir nicht gegeben. Ich . . . ich hab' ihn mir sozusagen einfach genommen.« » D u . . . was hast du?« Davies grinste: »Ich sag' ihnen einfach nichts davon.«
Kapitel 4
D
as Frühstück im BALI H I in Furtman Gardens wurde nicht gemeinsam eingenommen. Minnie Banks, die magere Lehrerin, versuchte noch schnell, ein paar katastrophale Schulhefte zu korrigieren, die sie heute zurückgeben wollte. Dabei trank sie ihren Tee, der ebenso dünn war wie sie. Mod blätterte den GUARDIAN auf, setzte sich vor seinen Toast hin, blickte ihr über die Schulter und bemerkte: »Aha, Sie unterrichten die künftigen Arbeitslosen.« »Das müssen Sie gerade sagen!« Ihre Stimme war so mickrig wie ihre Figur. »Wann haben Sie denn jemals einen Handschlag getan, Mr. Lewis?« Mod breitete mit der Miene eines arroganten Firmenchefs seine Zeitung aus. » E s gehört ziemlich viel Können und Erfahrung dazu, arbeitslos zu bleiben«, meinte er. » E s scheint mir fraglich, ob Ihre Schüler je das erforderliche Niveau erreichen werden.« Davies kam die Treppe herunter, was Mrs. Fulljames in der Küche hörte, wo sie ihr Frühstück allein und im geheimen zu verzehren pflegte. »Ist mein Bett schon irgendwo aufgetaucht, Sherlock Holmes?« rief sie. »Die Ermittlungen sind im Gange«, rief Davies steif zurück. »Sie werden von etwaigen Ergebnissen in Kenntnis gesetzt werden.« »Da bin ich aber gespannt!« gab sie zurück. »Übrigens, wer hat denn versucht, den Friedhof in die Luft zu sprengen?« »Niemand«, seufzte Davies. Er goß sich Tee ein und bestrich ein Stück steinharten Toast mit Marmelade. Mrs. Fulljames erschien an der Tür zu ihrer Festung mit der Teetasse in der einen und dem DAILY MIRROR in der anderen Hand. »Das hätte ich Ihnen vorher sagen können«, höhnte sie. »Wie will man schon einen Friedhof in die Luft sprengen? Wie soll das gehen?« Davies legte seinen Toast hin. »Ein Mißverständnis«, sagte er müde. »Wir hatten eine Warnung bekommen, aber sie war unle-
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serlich geschrieben, eigentlich nur gekritzelt. Ich dachte, es wäre von >sprengen< die Rede, und es wäre damit Sprengstoff gemeint. Aber >sprengen< war schlecht geschrieben, es sollte >Sprünge< heißen und bezog sich auf die alten Grabsteine. Das konnte man schließlich nicht wissen. Den Grabsteinen ist übrigens auch nichts passiert, nur ich hab' mir 'ne Lungenentzündung geholt.« »Polizisten! Bei den Pfadfindern wären Sie besser aufgehoben«, lachte Mrs. Fulljames höhnisch, während sie sich in die Küche zurückzog. »Gott allein weiß, was passiert, wenn hier mal einer ermordet wird.« Davies fing Mods Blick auf und grub seine Zähne in den Toast. Er hoffte, Mrs. Fulljames würde das Krachen und Mahlen hören. Aber wenn es so war, dann machte es jedenfalls keinen Eindruck auf sie. Nach dem Frühstück fütterte er Kitty, der sich wie gewöhnlich auf dem Rücksitz des Lagonda ausgestreckt hatte, ließ dann aber Wagen und Hund in der Wellblechgarage stehen und machte sich gedankenverloren zu Fuß auf den Weg zum Revier. Es war ein grauer Morgen. Die meisten Leute waren schon an ihrem Arbeitsplatz, nur an den Bushaltestellen warteten noch ein paar Nachzügler; die Fenster des Cafés ZUM KUPFERKESSEL waren vom Dampf beschlagen, in den Läden gähnten die Kaufleute hinter ihrer Theke. Aus dem Wartezimmer einer Arztpraxis vernahm man unterdrücktes Husten, ein Milchmann, der auf seiner Runde war, schepperte mit seiner wackligen Ladung, und zwei kleine Schulschwänzer zwängten sich gerade durch den Zaun an den Bahngleisen. Die große Stadt war zu manchen Tageszeiten so leer wie ein Dorfplatz. Auf der Wache wurden gerade ein paar nächtliche Missetäter von den Haftzellen zum Schnellgericht gebracht. Ein paar Gesichter unter den entweder wegen >Trunkenheit<, >Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung< oder >Trunkenheit und ungebührliche Aufführung< Festgehaltenen waren ihm bekannt, und sie sahen ihn an wie einen lieben alten Freund. »Guten Morgen allerseits«, sagte er und drängte sich zu seinem Arbeitsraum durch. Sie brummten einen Gruß und stolperten steifbeinig zur Tür. Als sie draußen waren und sich in der kalten Morgenluft fröstelnd auf den kurzen Weg zum Gerichtsgebäude machten, holte der Sergeant vom Dienst eine Dose Raumspray hervor und sprühte es verschwenderisch in die Runde. »Yardbird
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will dich um zehn Uhr sprechen, Dangerous«, rief er. » E r war scheißwütend, daß er dich gestern nicht mehr erreicht hat. Er wollte wissen, wo du dich herumgetrieben hättest.« »Ermittlungen«, rief Davies zurück. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, also ging er in die Kantine und besorgte sich eine Tasse schwarzen Kaffee und zwei kleine Kuchen. Dann ging er wieder in sein Dienstzimmer und nahm die Akte Cecil Victor Ramscar aus seinem Fach. Er wollte sie eigentlich nur noch einmal kurz durchsehen, aber er las sich an der Stelle, wo es um das Verschwinden von Celia Norris ging, fest. Er spürte ein seltsames Schuldgefühl dabei, als ob er auf etwas Verbotenes blicken würde. Genauso schuldig fühlte er sich, als er heimlich den Schlüssel zum Archiv nahm, um sich die Akte Celia Norris zu holen. Wieder spürte er in dem Moment, in dem er sie aufschlug, eine unerklärliche Spannung. Sie lachte ihm von dem Foto entgegen, mit dem Eiskremtropfen auf dem Kinn. Er strich gedankenverloren mit dem Daumen über den Rand all der Protokolle und Dokumente. So viel Papier, und doch war der Täter nie gefunden worden! Am Aktendeckel war ein Blatt mit dem Inhaltsverzeichnis und einem Resümee festgeklammert. David biß geistesabwesend etwas von seinem Kuchen ab und vertiefte sich wieder in die Lektüre. Der Kuchen schmeckte scheußlich und blieb am Gaumen kleben; er legte das angebissene Stück in einen Aktenbehälter, den er wahllos aus dem Regal zog. Eines Tages würde eben jemand ein Stück Kuchen in jener Akte finden. Er las sich die Zusammenfassung durch. Celia Norris hatte den Nachmittag, der wohl der letzte ihres Lebens werden sollte, damit verbracht, Zukunftspläne zu schmieden. Am 2 3 . Juli war sie um vier Uhr nachmittags in die Stadt zum Jugendarbeitsamt gegangen, um sich nach den Möglichkeiten zu erkundigen, Krankenschwester zu werden. Danach war sie nach Hause gegangen. Ihr Elternhaus lag in der Hunter Street, dicht bei den Kühltürmen des Kraftwerks. Sie aß etwas und radelte dann zum Jugendklub der katholischen Kirche St. Fridewide. Um 10 Uhr - oder kurz danach - hatte sie von dort aus mit dem Fahrrad den Heimweg angetreten. Ihr Freund, William Lind, war nicht mitgekommen, weil es noch eine Sportsache zu besprechen gab; außerdem hatte er einen platten Reifen und mußte zu Fuß heimgehen, weshalb er sie ohnehin nicht begleiten konnte. Um
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nach Hause zu kommen, hätte sie auf der Hauptstraße bis zur Ecke Hunter Street fahren müssen; oder sie hätte den Weg abkürzen können, wie sie es öfters tat - sie war anscheinend keine ängstliche Natur-, indem sie über den alten Treidelpfad am Kanal entlang bis zur Hauptstraße und dann den gewohnten Weg weiterfuhr. Nach diesem Abend hatte sie keiner mehr gesehen. Das Fahrrad wurde niemals gefunden. Ihre Kleider wurden entdeckt, aber es fehlte die Unterhose. Ein Lippenstift, den sie immer in der Tasche ihres Kleides hatte, fehlte ebenfalls. Ein Jugendlicher namens Andrew Parsons, als Wäschefetischist der Polizei bekannt, wurde verhaftet; der Wärter der rund um die Uhr geöffneten öffentlichen Toilette in der High Street hatte beobachtet, daß er sich dort an Mädchenkleidern zu schaffen machte, und ihn angezeigt. Die fraglichen Kleidungsstücke, ein grünes Baumwollkleid, weißer Büstenhalter, weiße Söckchen und braune Schuhe, wurden als diejenigen identifiziert, die Celia Norris an dem Abend, an dem sie verschwand und vermutlich starb, getragen hatte. Parsons, der nachts oft ziellos herumstreunte, sagte aus, er habe die Sachen eines Nachts um ein Uhr auf der Toilette hinter dem Wasserkasten gefunden. Die Schuhe hätten im Wasserkasten gesteckt. Soweit er sich erinnerte, sei es der 2 4 . Juli gewesen. Als er drei Wochen später aus der Zeitung erfuhr, daß der Beschreibung nach die Kleider dem vermißten Mädchen gehörten, war er so erschrocken, daß er beschloß, sie dahin zurückzubringen, wo er sie gefunden hatte. Die Polizei verhörte ihn zwei Tage lang und ließ ihn dann laufen. Er wurde eine Zeitlang ergebnislos beschattet. Das Auftauchen dieser Kleidungsstücke und die Tatsache, daß die Unterhose fehlte, bezüglich der Parsons - bei dem man während der Hausdurchsuchung nicht weniger als 234 diverse weibliche Wäschestücke in einem Schrank gefunden hatte - schwor, er habe sie weder an sich genommen noch gesehen, veränderte die Lage. Aus der oberflächlichen Suche nach einem Teenager, der schon früher ausgerissen war, wurde die Fahndung nach einer Leiche und einem Mörder. Beide wurden nicht gefunden. Ebensowenig wie Celias Fahrrad. Passiert war es allen Angaben zufolge gegen zehn Uhr an einem Sommerabend - es war zudem ein warmer Sommerabend-, und dennoch hatte sich niemand gemeldet, der ein Mädchen in einem
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grünen Kleid auf einem Fahrrad gesehen hatte. Aber das war an diesem wenig belebten Ort und zu dieser Zeit - nach Einbruch der Dämmerung - nicht so außergewöhnlich, wie es auf den ersten Blick schien. Die Leute pflegten sich nicht auf diesen abgelegenen Straßen aufzuhalten, und es war noch zu früh für die Heimkehrer aus den Kneipen und Kinos. Fernsehen war damals noch eine fesselnde häusliche Errungenschaft. Der Polizeistreifenwagen, der die früher üblichen Fußstreifen abgelöst hatte, patrouillierte regelmäßig durch die High Street und überwachte auch den Fußweg am Kanal, aber weder Police Constable Frederick Fennell noch sein Kollege P. C. James Dudley, die mit ihrem Streifenwagen bis Mitternacht in der Gegend unterwegs waren, hatten das Mädchen gesehen oder irgend etwas Auffälliges bemerkt. Celia Norris hatte vor dem katholischen Jugendklub ihr Fahrrad bestiegen und sich in Nichts aufgelöst. Davies erinnerte sich plötzlich an Yardbird und öffnete die Tür, um auf die Uhr am Ende des Korridors zu sehen. Noch sieben Minuten Zeit. Sein Kaffee sah noch unappetitlicher aus als der Kuchen und war außerdem kalt. Er probierte einen Schluck und verzog das Gesicht. Dann zog er einen Totoschein aus der Tasche - er hatte in dieser Saison begonnen, sein Glück damit zu versuchen - und schrieb auf die Rückseite des Zettels die Namen all derjenigen, die im Fall Celia Norris ausgesagt hatten: Elizabeth Norris, die Mutter; Albert Norris, ihr Vater; William Lind, Freund; Ena Brown, eine Freundin; Roxanne Potts, dito; sämtliche Mitglieder des Jugendklubs; David Boot, Leiter des Klubs; Andrew Parsons, der Wäschefetischist, und schließlich der Mann, mit dem für Davies das Ganze begonnen hatte: Cecil Victor Ramscar, ein Freund der Familie Norris. Es gab noch ein paar andere Aussagen von Leuten, die dachten, sie hätten etwas Wichtiges beobachtet, und als letztes der negative Bericht von P . C . Fennell und P. C. Dudley, die in jener Nacht Streife gefahren waren. Die Uhr im Korridor zeigte jetzt drei Minuten vor zehn. Es blieb ihm immer noch Zeit. Er entnahm der Akte den Umschlag mit Fotografien, die während der Nachforschungen zusammengestellt worden waren: Schnappschüsse, jetzt vergilbt, Momentaufnahmen eines Lebens, dem nur noch eine kurze Frist vergönnt war. Celia und ihre Mutter. Celia mit ihrem Hund. Celia am Strand mit einem Jüngling mit scharfgeschnittenem Gesicht und
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einem Zeitungshelm auf dem Kopf, wahrscheinlich William Lind, und schließlich ein Foto, das er am Abend zuvor, als er den Umschlag zum ersten Mal geöffnet hatte, übersehen hatte. Es zeigte Celia und noch ein anderes Mädchen allem Anschein nach bei einem Jahrmarktsbesuch. Beide trugen Sommerkleider und lachten. Zwischen ihnen stand ein Mann im Blazer mit offenem Hemdkragen und gebräuntem Gesicht, der ebenfalls lachte. Er war 25 Zentimeter größer als die Mädchen und hatte jeder von ihnen einen Arm um die Taille gelegt. Davies eilte hinaus zur Theke und bat den Sergeant um sein Vergrößerungsglas, das er für besonders kleingedruckte Schrift zu benutzen pflegte. »Vergiß Yardbird nicht, Dangerous«, mahnte ihn der Sergeant. »Nein, nein. Ich bin schon auf dem Weg«, antwortete Davies und kehrte schnell zu dem Foto zurück. Er begutachtete es mit der Lupe und konnte jetzt deutlich erkennen, daß der Mann die beiden Mädchen nicht bloß in einer freundschaftlichen Geste umfaßt hielt, sondern die Finger ausstreckte und die Unterseite ihrer Brüste berührte. Davies stülpte die Unterlippe vor. Das, dachte er, war denn ja wohl David Boot, der Jugendklubleiter. Inspector Yardbird hatte sich breitbeinig, die Schultern gestrafft, die Hände napoleonisch hinter dem Rücken verschränkt, ans Fenster gestellt. Mißmutig schaute er auf die zerklüftete Dachlandschaft hinaus, als plane er einen Eroberungsfeldzug. Zwar hatte er Davies' Klopfen beantwortet, blieb jetzt aber volle zwei Minuten mit dem Rücken zum Zimmer stehen, bis ein diskretes Räuspern ihn veranlaßte, sich seinem Untergebenen zuzuwenden. »Freut mich, daß Sie kommen konnten«, sagte er ironisch. »Gestern waren Sie nicht aufzufinden. Wo waren Sie denn? Im Kino?« »Ermittlungen, Sir«, sagte Davies. Yardbird rümpfte die Nase. »Na, dann habe ich heute ein paar weitere Ermittlungen für Sie. Und diesmal handelt es sich um eine wichtigere Sache als jede, die Sie bisher untersucht haben. Viel wichtiger. Mir scheint, Sie sind in der letzten Zeit etwas ins Hintertreffen geraten.« Da mußte man ihm leider zustimmen. » J a , Sir, den Eindruck hatte ich auch. Als ob man mich übersehen hätte.«
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Yardbird setzte sich auf die Schreibtischkante und ließ den linken Fuß baumeln. Er sah, wie sich im Studentinnenheim etwas hinter einem Fenster bewegte, und er versuchte, genauer hinzuschauen, ohne daß Davies es bemerkte. »Oh«, lächelte Davies liebenswürdig, »sind dort gegenüber immer noch die Mädchen, Sir?« Yardbird fuhr wie von einem Insekt gestochen herum. »Mädchen? Zum Kuckuck, was für Mädchen?« Er drehte sich um und setzte sich an seinen Schreibtisch. Der Inspector rieb sich das Gesicht. »Ich weiß nicht, Davies, ich weiß wirklich nicht. Da ziehe ich Sie für eine wirklich große Sache an Land, aber ich weiß nicht einmal, ob ich mir oder Ihnen damit einen Gefallen tue. Ich muß immer noch an unser Gartenfest denken. Erst wurden die blöden Lose für die Tombola von dem Wind durch die ganze Gegend geblasen, und als Sie sie endlich wieder eingesammelt hatten, hatte jemand Ihnen die Einnahmen geklaut.« »Ich war nicht der richtige Mann für die Tombola«, gab Davies zu. »Sie lief wirklich nicht so gut.« »Der Commissioner dachte, Sie wären ein Clown, den wir engagiert hätten. Ich kann es Ihnen leider nicht ersparen, Davies: Es war mir sehr peinlich, muß ich schon sagen.« Er seufzte und schob das Kinn tiefer in seinen Uniformkragen. »Andererseits, ich bin immer dafür, jemandem noch mal eine Chance zu geben. Das ist es, was ich Ihnen gebe - noch eine Chance. Haben Sie sich gestern noch mit der Akte Ramscar beschäftigt?« »Jawohl, Sir.« »Ein übler Kerl«, murmelte Yardbird. »Den gab's schon, als ich noch als junger Polizist zu dieser Abteilung gehörte. Er hatte überall die Finger im Spiel, bei jeder Art von Verbrechen - Diebstahl, Körperverletzung, Zuhälterei, Erpressung von Schutzgeldern und so weiter. In die damaligen Bandenkämpfe der Londoner Unterwelt war er auch verwickelt. Ein Schwerverbrecher. Mr. Ramscar hat schon manch eine Kniescheibe durchlöchert, kann ich Ihnen sagen.« »Die Akte ist ziemlich dick, Sir«, stimmte Davies zu. »Was hat er jetzt angestellt?« »Nichts«, erwiderte Yardbird, »nichts, was unsere fabelhaften Spezialisten vom Yard ihm beweisen könnten. Aber sie sind ganz scharf auf ihn. Sie wissen, daß er aus dem Ausland zurück ist, wo er in ziemlich happige Sachen verwickelt war, und sie nehmen an,
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daß er aus einem bestimmten Grund zurückgekommen ist: nämlich, um ein politisches Verbrechen vorzubereiten. Er geht nun mal gern mit der Mode. Jedenfalls wollen sie wissen, wo er steckt, aber ohne gleich eine ganze Armee auf ihn anzusetzen. Jemand soll ihn lediglich ausfindig machen. Der Jemand sind Sie. Es wird vermutet, daß er hierher zurückgekommen ist, in unsere Gegend. Jetzt sollen Sie ihn suchen.« »Aha. Einfach suchen.« »Genau. Schauen Sie mal in seinen damaligen Schlupfwinkeln nach, machen Sie sich an seine alten Freunde heran. Stellen Sie viele Fragen. Es schadet nichts, wenn er ein bißchen zu flattern anfängt. Ich stelle Sie von allen anderen Pflichten frei. Ich erwarte von Ihnen nur regelmäßig Bericht. Sie werden nicht lange dazu brauchen, ein bis zwei Wochen höchstens.« »Jawohl«, sagte Davies, »ich verstehe.« Yardbird blickte auf. Er erwartete, daß Davies sich verabschiedete. »Sonst noch was?« fragte er. »Sie sind ja jetzt im Bilde.« »Nein . . . nein, sonst nichts, Sir. Nur noch eins: Darf ich meinen eigenen Wagen benutzen?« Yardbird, der weder den Lagonda noch den Hund je zu sehen bekommen hatte, nickte. »Wenn er anständig aussieht. Wenn er nicht dem Ansehen der Polizei schadet. Und . . . noch etwas.« »Ja, Sir?« »Halten Sie die Spesen niedrig. Wenn Sie zum Westend müssen, nehmen Sie lieber den Bus. Und nicht zu viele Getränke in diesen Klubs. Denken Sie daran, wir sind keine Spezialeinheit.« Davies bedankte sich und ging. Unten im CID-Büro war ein Polizist namens Myers damit beschäftigt, 300 Pornobilder durchzublättern. Zwei Kollegen schauten ihm über die Schulter, um bei der Suche nach Indizien behilflich zu sein. Davies nahm die Ramscar-Akte und machte sich daran, sie noch einmal durchzugehen. Als er zu der Aussage zum Fall Celia Norris kam, las er sie Wort für Wort. Dann atmete er tief durch und fraß sich durch den Rest der Geschichte. Aber das Bild wurde er nicht mehr los: ein lachendes Mädchengesicht mit einem Tropfen Eiskrem am Kinn. Davies verspürte nur wenig Lust, Ramscars Fährte aufzunehmen. Der würde wohl kaum, wenn er sich verbergen wollte, gerade an seinen ehemaligen Lieblingsplätzen zu finden sein, obwohl er sicher Kontakt zu seinen früheren Komplizen aufnehmen würde.
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Davies dachte sich, wenn er nur auffällig genug herumwanderte und viele dumme Fragen stellte, werde Ramscar schon von selbst zu ihm kommen. Am Nachmittag ging er zum Windhundrennen im Park Royal und setzte seinen Einsatz auf ein paar klägliche Verlierer. Er fing ein Gespräch mit mehreren zwielichtigen Typen an, in dessen Verlauf er Ramscar erwähnte und sein Foto herumzeigte, doch niemand schien ihn zu kennen. In der Herrentoilette sprach er, das Foto schwenkend, einen Miturinierer an, der daraufhin erbleichte und wie ein Frosch die Rinne entlanghüpfend und immer noch Wasser lassend die Flucht ergriff. Nachdem er glücklich den Ausgang erreicht hatte, rannte er auf den nächsten Polizisten zu und zeigte Davies an. Der erste Tag war also nicht besonders hoffnungsvoll verlaufen. Um fünf Uhr ging Davies zum Revier zurück; er konnte nicht anders, es zog ihn wie ein Magnet zu der Akte über Celia Norris hin. Er mußte sich ständig schuldbewußt umsehen und fühlte sich an seine Kinderzeit erinnert. Als Junge hatte er heimlich die Illustrationen in der Rubrik Erste Hilfe bei Unfällen studiert, immer in der Angst, seine Mutter könne ihn dabei erwischen, mit welcher Faszination er das Bild einer Frau, die gerade künstlich beatmet wurde, betrachtete. Sein Inneres krampfte sich zusammen, als er von neuem diese Geschichte ohne Schluß las und die Fotos betrachtete. Er ertappte sich bei einer unwillkürlichen Handbewegung, um dem lachenden Mädchen das Eiströpfchen vom Kinn zu wischen, und fuhr erschrocken auf, als ihm sein sonderbares Verhalten bewußt wurde. Schließlich konnte er nicht widerstehen, stellte die Akten an ihren Platz, schlich sich hinaus und begann den Weg abzuschreiten, den Celia Norris vor 25 Jahren genommen hatte. Obwohl es am Rand des Distrikts, vor allem zur Londoner Innenstadt hin, allerlei Abbrüche und Neubauten gegeben hatte, war die Gegend um die High Street und den Kanal so gut wie unverändert. Einen großen Teil der Fläche bedeckte der Friedhof, der für eine gewisse Dauer angelegt war, wie Friedhöfe es nun einmal zu sein pflegen. Der Kanal zerschnitt das Stadtviertel in zwei Teile und hatte so dazu beigetragen, daß sich nicht allzuviel veränderte. Drüben auf der anderen Seite waren kleine Werkstätten und größere Fabriken in den 50er und 60er Jahren so gut ausgelastet gewesen, daß niemand auf die Idee gekommen war, sich mit
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Investitionen zu befassen. Jetzt, in der Rezession, hatten die Betriebe keine Lust zu Modernisierungen und Erweiterungen. Die enge, dichtbebaute High Street ging ungefähr in dieselbe Richtung wie der Kanal, verlief dann aber am oberen Ende kurz vor dem Kraftwerk in einer scharfen Kurve und überquerte den Wasserweg. Bestehendes und Beständiges umschlossen sie von allen Seiten - im Süden war es der Friedhof, im Norden das Kraftwerk, im Westen der Kanal und im Osten die stattlichen drei- und vierstöckigen Häuser aus der viktorianischen Zeit, zu denen das BALI H I , Furtman Gardens, gehörte. Ursprünglich hatte es CRANBROOK VILLA geheißen, war dann aber umgetauft worden, als Mrs. Fulljames sich in Rosano Brazzi, den Filmhelden aus SOUTH PACIFIC, verliebt hatte. Es würde noch mindestens ein halbes Jahrhundert vergehen, ehe man hier ans Abreißen ging. So war also die Szenerie weitgehend dieselbe wie an jenem warmen Abend im Juli 1951, als Celia Norris sich mit dem Fahrrad auf den Heimweg vom Jugendklub machte. Allerdings herrschte jetzt häßliches Oktoberwetter. Davies verließ die Polizeiwache, lehnte freundlich dankend das Angebot eines kostenlosen Schäferstündchens mit Venus, dem Abendstern, ab und ging zu Fuß zur Kirche St. Fridewide. Der Jugendklub lag noch immer - wie schon damals - auf dem Kirchengelände. Das Mädchen mußte am Haupteingang losgeradelt sein. Nachdenklich legte er den Weg von hier zum südlichen Ende der High Street zurück. Der Friedhof war etwa vier Hektar groß und zog sich an der Hauptstraße entlang. Es war alles totes Land, beziehungsweise das Land der Toten. Davies ging in gleichmäßigem Tempo - später wollte er die Strecke noch einmal mit dem Rad abfahren-, beschleunigte aber seine Schritte, als er am Friedhofseingang vorbeikam. Er hatte keine Lust, dem Pförtner Rede und Antwort zu stehen wegen der Verwechslung von >Sprüngen< und >sprengen<. Der Mann würde seine Meinung schonungslos äußern. Vielleicht sollte man ihn einmal mit Mrs. Fulljames bekannt machen. Am Ende des Friedhofs befand sich die friedhofsübliche Grabmalhandlung, die mit einer einladenden Ausstellung von Kreuzen und weinenden Engeln um die Laufkundschaft warb. Hier war also der Anfang der High Street. Die modernen, großen, glänzenden Läden, die in den Jahren des Aufschwungs, in den 60ern, gegründet worden waren, hatten sich in den breiten Durchgangs-
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Straßen in Kilburn, Paddington und Cricklewood angesiedelt. Hier in der High Street hingegen gab es noch die kleinen Läden, Tabakbuden, Schnellimbisse, kleinen Cafés, billigen Kleiderläden, natürlich die Wettbüros und einige größere Grundstücke, die von den Verkaufshallen der Gebrauchtwagenhändler besetzt worden waren, die in der offenen Einfahrt standen und ebenso selbstgefällig wie ihre glänzenden Autos die Kunden angrinsten. Die Lokalzeitung, der CITIZEN, logierte ziemlich beengt in einem Haus, das der einzige berühmte Sohn dieses Stadtteils, Miles Shaltoe, einmal bewohnt hatte. Dieser hatte mehrere Anfang des 19. Jahrhunderts sehr beliebte Romane geschrieben, woran eine Tafel an der Hauswand unter dem Schild NORTH WEST LONDON CITIZEN erinnerte. Es gab auch einige Damenfriseure, darunter einen, der mit dem Namen ANTOINETTE: PARIS, SCHWEIZ
UND HEMEL HEMPSTEAD warb. Dazwischen verstreut waren die zahllosen kleinen Kneipen, darunter das WICKELKIND in bevorzugter Lage neben der öffentlichen Bedürfnisanstalt. Dann gab es noch zwei Kinos, von denen das feinere nur indische Filme zeigte, einen westindischen Bongoklub und einen echt englischen Bingoklub, ein Leihhaus, das schon seit 1896 existierte, und den Massagesalon HEILENDE HÄNDE, der erst vor kurzem eröffnet worden war. Trotz aller Versuche, der alten Straße mit Farbe und Kunststoff ein frisches Aussehen zu geben, war sie gebrechlich, hatte sich selbst überlebt und sehnte sich nach dem Gnadentod durch die Abrißbirne. David durchwanderte sie wie schon so oft in den fünf Jahren, die er hier zugebracht hatte. Heute sah er prüfend zu den oberen Fenstern hoch und fragte sich, ob irgend jemand an dem fraglichen Sommerabend Celia Norris von dort aus gesehen hatte. Die oberen Stockwerke waren fast alle erleuchtet, die Vorhänge zugezogen, und dahinter gab es, wie er wußte, die unterschiedlichsten Bewohner. Da waren die Geschäftsräume von Madame Tarantella Phelps-Smith, Hellseherin - erstklassige Zukunftsberatung-, der Klub der Kriegsveteranen ZUR GEFLÜGELTEN SIEGESGÖTTIN, der unvermeidliche Billardsaal und der Gottesdienstraum der Quäker, der sicherlich von dem Gestank des Curry-Imbißladens im Erdgeschoß verpestet wurde. Überall war die dämmrige Abendluft schwer von den unterschiedlichsten Gerüchen - von Guinness-Bier, Pommes frites, Schweiß und Schmutz. Ein einzelner städtischer Baum stand an
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der Abzweigung der Jubilee Road, einer der Straßen aus der viktorianischen Ära. Der Baum war vom Rotary Club gespendet, wie man aus einer Plakette erfuhr, und zur Erinnerung an die Krönung Elisabeths II. gepflanzt worden. Der Stamm hatte zum Schutz einen Eisenkäfig, sah aber dennoch aus, als hätte ein Dauerblitz ihn allmählich zerspalten. Davies brauchte 40 Minuten, um von einem Ende der High Street zum anderen und wieder zurück zu gehen. Sie war jetzt sehr belebt. In Bussen, Autos und zu Fuß strebten die Leute von der Arbeit, in Gedanken schon bei Feierabend, Essen, Fernsehen oder vielleicht sogar bei der Liebe, nach Hause. Er lenkte seine Schritte zum WICKELKIND und ging in die langgezogene Bar. Mod hielt sich, wie vorauszusehen war, an einem kleinen Glas fest, für das sein Geld gerade noch gereicht hatte. Er freute sich, daß Davies kam, weil er auf dessen privaten Mordfall gespannt war - und weil er sein Bier fast ausgetrunken hatte. »Den Anfang habe ich gemacht«, sagte Davies nach dem ersten tiefen Zug, »der Anfang ist vollbracht.« »Was hast du herausgefunden?« »Nichts.« Mod nickte angesichts der Logik dieser Antwort. »Hältst du mich auf dem laufenden, Dangerous? Du weißt, ich habe viel Zeit zum Nachdenken. Vielleicht fällt mir was ein.« »Ich werd' dir alles erzählen«, versprach Davies. Er sah sich suchend um. »Ist sie heute nicht da? Die Flamenco-Fanny.« »Nein. Ich glaube, sie hat sich gestern abend bei ihrem Sturz den Knöchel gebrochen. Wenn wir Glück haben.« Auf dieses Stichwort hin öffnete sich die Tür, und die ordinäre Frau humpelte mit einem unförmigen Gipsverband und einer Krücke herein. »Olé, olé!« rief sie. »Oh Scheiße«, sagte Davies. Trotz der Belästigung durch die ordinäre Frau, die den ganzen Abend auf ihrem Gipsbein in der Kneipe herumstampfte, gelang es Davies nur mit Mühe, Mod zum Aufbruch und zu einem Spaziergang am Kanalufer entlang zu überreden. »Wenn ich deinen Dr. Watson spielen soll, wäre ich dir dankbar, wenn du deine Untersuchungen nicht gerade in die Ausschankzeiten legen würdest«, murrte Mod. »Nimm's mir nicht übel, aber ich kann mir kaum vorstellen, daß irgendwelche I n . . .
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Indizien, sieh mal, ich bring's trotz Bier noch heraus, nach 25 Jahren noch hier am Kanalufer herumliegen.« Ein Mann, der gegenüber der Kneipe in einem Ladeneingang herumlungerte, sah sie herauskommen und folgte ihnen im Dunkeln in etwa 50 Metern Entfernung. Als er sie in die enge Gasse zwischen dem Pfandhaus und dem Massagesalon einbiegen sah, schlüpfte er zwischen den danebenliegenden Geschäften hindurch und kletterte über einen Zaun, um zum Kanal zu gelangen. Er rannte über den lehmigen Uferweg, lief grußlos an einem Mann vorbei, der hier mitten in der Nacht angelte, und bog von der Kanalseite her in die Gasse ein, auf der Davies und Mod ihm gerade entgegenkamen. »Ich suche keine Indizien, mir geht's um die Lokalitäten«, erklärte Davies geduldig. »Sie könnte auf ihrem Heimweg diese Abkürzung genommen haben und über den alten Treidelpfad zur Brücke geradelt sein. Ich will mir nur die Gegend ansehen, das ist alles.« Der Mann, der ihnen gefolgt war, tauchte vor ihnen auf. Sie sahen die Gestalt mit hochgeschlagenem Mantelkragen als schwarze Silhouette auf sich zukommen. Davies verspürte instinktiv ein Gefühl der Unruhe, als ob seine neue Aufgabe ihn wachsamer gemacht hätte. Es war fast unmöglich, aneinander vorbeizukommen, ohne sich zu berühren, und wie es in solch einer peinlichen Lage üblich ist, murmelten sie einen unterdrückten Gruß. »Guten Abend«, sagte Davies. »Gute Nacht«, fügte Mod hinzu. »Nacht«, sagte der Mann und warf sie mit seiner Bierfahne fast um. Davies konnte nicht mehr von ihm erkennen als ein blasses, dreieckiges Gesicht, das aus dem Kragen herausragte, und eine Brille mit stechenden Augen dahinter. Der Mann war schon fast an der Ecke der High Street angelangt, ehe es Davies auffiel, daß die Brille keine Gläser gehabt hatte. Der Weg machte eine kleine Biegung, dann lag das stille Wasser des Kanals im Laternenlicht vor ihnen. Der feuchte, faulige Geruch legte sich ihnen schwer auf die Brust. Sie blieben stehen und sahen sich um. Wenn Celia diesen Weg genommen hatte, dann hatte sie von ihrem Fahrrad aus denselben Anblick in demselben Licht vor Augen gehabt. Die Hängelaterne über der Brücke hatte es schon damals gegeben. Sie schwebte noch im-
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mer dort oben, als habe sie etwas im Wasser verloren und brauche eine Ewigkeit, um es zu finden. Davies und Mod standen in den Anblick versunken da und lauschten auf das eintönige Plätschern des Wassers an der alten Uferbefestigung, als zu ihrer Rechten plötzlich eine schattenhafte Gestalt auftauchte. Sie scheuten wie junge Pferde. Der Mann schrie erschreckt auf. »Oh . . . o h . . . Entschuldigung«, brachte er schließlich hervor. Er stand aufrecht hinter einer Hecke, etwa anderthalb Meter über ihnen auf einer Böschung. Davies und Mod sahen ihn an, als wenn er der Leibhaftige wäre. Davies fand mit Mühe seine Stimme wieder. »Keine Ursache«, lachte er nervös. »Wir sind nur ein bißchen erschrocken. Wir hatten Sie nicht gesehen.« »Konnten Sie auch nicht - von da unten. Wetten, daß ich mich hier verstecken kann?« Er machte die Probe aufs Exempel, indem er sich wieder duckte. »Hallo, kann man mich jetzt sehen?« »Nein, kein bißchen. Nichts zu sehen«, tat Davies ihm den Gefallen. »Was machen Sie überhaupt da oben?« Mods Frage war zweifellos berechtigt. »Mein Schrebergarten.« Der Mann erhob sich und zeigte über die Schulter ins Dunkle. »Die einzige Möglichkeit, dorthin zu kommen. Wo ich so spät von der Arbeit zurück b i n . . . Ich hole mir bloß ein bißchen Gemüse.« »Gut, daß Sie wissen, wo die Beete sind«, meinte Davies. »Alles schön in geraden Reihen angepflanzt. Eine Taschenlampe hab' ich auch, aber die Batterie ist alle. Ich bin sowieso fertig. Für heute reicht's.« Sie blickten zu ihm auf, während er dastand wie ein Redner vor seinem Publikum. »Sind die gut, die Parzellen hier?« fragte Davies. »Nicht schlecht. Nicht so gut wie drüben beim Kraftwerk, aber auch nicht schlecht. Hier ist es immer ein bißchen feucht, wegen des Kanals. Beim Kraftwerk kriegen sie den Nebel von den Kühltürmen. Die Ernte ist an beiden Stellen ganz gut.« Er hievte einen Sack über die Hecke. Davies und Mod gingen zu ihm und faßten mit an. Er bedankte sich, wünschte freundlich gute Nacht, schulterte den Sack und ging auf die Gasse zu. »Der hat wohl viele Mäuler zu füttern«, bemerkte Mod.
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Sie gingen weiter am Ufer entlang. Die Luft wurde immer feuchter. Das Kanalwasser, das bei Tage fast schwarz war, glich in dem schwachen Laternenlicht einem klaren tropischen See. Kurz vor der Brücke saß Pater Harvey, der Priester von St. Fridewide, am Ufer und angelte. »Jetzt wundere ich mich über nichts mehr«, sagte Davies zu ihm. »Dahinten war einer, der trotz der Dunkelheit im Garten arbeitete, und Sie sind beim Fischen. Schon was gefangen?« »Wenn ich was fange, sind Sie Zeuge eines göttlichen Wunders«, brummte der Pfarrer. »Ich habe bloß ein wenig Ruhe gesucht. Leider sind die Kanalufer heutzutage eine zwielichtige Gegend, wo ein unverheirateter Priester nicht einfach herumstehen oder -gehen kann, ohne Gefahr zu laufen, mißverstanden zu werden. Deshalb gehe ich angeln.« Davies kicherte in der Dunkelheit. »Ich sollte Sie wegen unerlaubten Angelns mitnehmen«, sagte er. »Jesses, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich könnte mich vielleicht damit verteidigen, daß ich Seelen fische.« »Dann müßten Sie aber die Hostien als Köder nehmen«, meinte Mod. Davies erklärte, wer Mod war; der Pater nickte herauf, und Mod nickte hinunter. »Oben in der Gasse haben wir einen Mann mit einer Brille ohne Gläser getroffen«, sagte Davies. Man hörte den Pfarrer seufzen. » E s gibt viel Armut hier.« »Oder war es vielleicht eine Art von Verkleidung?« »Könnte sein«, stimmte Pater Harvey bei. »Da ist dieser Sündenpfuhl oben an der Ecke eröffnet worden, sogar mit behördlicher Genehmigung. Der sogenannte >Massagesalon<. Höllenwerk unter dem Deckmantel der Heilbehandlung. Vielleicht war er auf dem Weg dorthin und wollte nicht erkannt werden. Das Leihhaus und der Massagesalon - in dem einen verpfänden sie ihre Sachen, in dem anderen ihre Seelen.« »Guter Witz, Sie sollten zur Polizei gehen.« »Danke, mein Sohn.« Sie schwiegen eine Weile und starrten auf das bewegungslose Wasser, als ob jeden Moment ein Hecht anbeißen könnte. Dann fragte der Pfarrer: »Sie haben wohl noch nicht herausgefunden, wer meinen Beichtstuhl angezündet hat?« »Nein«, räumte Davies ein, »wir sind noch nicht viel weitergekommen. Aber ich glaube nicht, daß es ein Fall von Kirchenschändung ist.« Er sah, wie der Pater die Nase rümpfte.
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»Ich hätte es meinen Schäfchen ja als ein Zeichen des Himmels erklären können. Oder der Hölle. Aber ich glaube eher, ein paar Lausbuben brauchten ein Versteck zum Rauchen. Wie Jungs so sind.« » E s wird nicht leicht sein, das herauszukriegen«, warf Mod ein. »Sie können Ihre Gemeinde nicht wie sonst bei der Beichte aushorchen, schließlich ist kein Beichtstuhl mehr da. Es ist wie die Sache mit dem Huhn und dem E i . « Der Pfarrer zeigte keine Reaktion. Er starrte auf das Wasser, als ob es da ein Problem zu lösen gäbe. »Wissen Sie, Dangerous«, sagte er schließlich, ohne den Blick zu heben, »wenn Sie das Trinken auf die Hälfte reduzieren könnten, würden Sie einen guten Seelsorger abgeben. Sie sind einfach nicht zum Polizisten geboren.« »Das denken anscheinend die meisten«, seufzte Davies bekümmert. »Aber jetzt bin ich zufällig mit einem sehr wichtigen Fall beschäftigt.« »Oh, und worum geht es? Dürfen Sie darüber reden?« »Ich glaube schon. Ich denke, Sie können schweigen.« »Berufspflicht«, sagte der Priester. Davies hockte sich neben ihn auf den feuchten Boden. Mod blieb stehen, als ob er Wache halten müsse. Davies fragte: »Pater, erinnern Sie sich an Celia Norris?« »Celia Norris«, nickte der Pfarrer. »Soviel ich weiß, wurde sie ermordet. Das muß lange her sein.« »25 Jahre«, sagte Davies. »Ich habe den Fall wieder aufgenommen.« »Jesses«, sagte Pater Harvey. »Ich fing damals gerade hier an. Ich habe das Mädchen kaum ein paar Wochen lang gekannt. Ich kann mich nicht mal an ihr Gesicht erinnern.« Davies konnte es um so besser. »Die Sache wurde niemals aufgeklärt. Der Fall wurde einfach aufgegeben.« »Sie sind doch jetzt nicht etwa hier auf der Suche nach Fußspuren?« »Nicht direkt. Ich wollte nur mal den Schauplatz ein wenig anschauen und sehen, ob mir etwas einfiele.« »Sie war im Jugendklub. Und es wurde nichts, gar nichts von ihr gefunden.« »Doch«, sagte Davies, »ihre Kleider. Außer i h r e r . . . ihrer Unterwäsche.«
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»Ach ja, ihr Schlüpfer. Ja natürlich, jetzt erinnere ich mich wieder.« Der Pfarrer zuckte ein paarmal nachdenklich mit der Angel. »Vielleicht hatte sie gar keinen an.« »Pater Harvey!« Davies war schockiert. Mod pfiff durch die Zähne. »Was soll's, ich sagte ja schon, es gibt hier viel Armut. Das war vor 25 Jahren nicht anders.« Davies studierte das Gesicht des Priesters. In der Silhouette sah seine Nase länger aus als bei Tageslicht. »Wissen Sie, wo die Mutter, Mrs. Norris, jetzt wohnt?« »Ja. Lassen Sie mich überlegen. In der Hunter Street, beim Kraftwerk. Sie kommt noch manchmal zur Kirche.« »Dave Boot«, fuhr Davies fort. »Erinnern Sie sich an Dave Boot, Pater, den Mann vom Jugendklub? Was für ein Mensch war er?« »Muskeln«, antwortete Pater Harvey bestimmt. »Nur Muskeln. Dafür machte er alle diese verrückten Übungen. Jesses, er machte mich beinahe neidisch. Ich hatte selbst ein paar ganz schöne Muskeln, damals, aber die mußte ich unter der Soutane verstecken. Der geistliche Stand verlangt doch so manches Opfer. Ich muß zugeben, es gab Zeiten, da hätte ich sogar einen Bischofsornat freudig für ein Turnhemd geopfert.« Davies lachte melancholisch. Mod, der keinen Mantel trug, scharrte vor Kälte mit den Füßen. Davies verstand den Hinweis. »Wir machen uns mal wieder auf den Weg, Pater.« »Na gut«, sagte der Pfarrer. »Ich halte Ihnen beide Daumen für Ihren verstaubten alten Mord. Da ist ein Mensch nicht nur tot, er ist schon sehr lange tot. Der Fall ist ausgebrannt, Dangerous. Sie sollten lieber nicht in der Asche herumstochern.« » E s ist keine offizielle Untersuchung«, sagte Davies. » E s ist mein Privatvergnügen - in meiner Freizeit.« »So etwas wie ein Hobby?« fragte der Priester und blickte ins Wasser. »So könnte man es nennen. Eine Art Hobby.«
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Kapitel 5
E
r fing mit den Ermittlungen in der Hunter Street an. Sie war eine von den Straßen, die sich um die Kühltürme des Kraftwerks drängten wie ein Insektenschwarm. Der Dampf aus den Türmen sorgte für ein ständiges leichtes Nieseln. Als Entschädigung dafür breitete die Sonne, wenn sie überhaupt hervorkam, über der melancholischen Gegend die schönsten Regenbogen aus. Davis stand vor dem kleinen Reihenhaus, das genauso aussah wie all die anderen, außer, daß es noch dringender nach einem neuen Anstrich verlangte. Das Törchen hing schief in den Angeln. Vor Monaten hatte jemand Gott herausgefordert und seinen Christbaum in den winzigen Vorgarten gepflanzt, in der Hoffnung, daß er Wurzeln schlagen werde. Aber Gott hatte gewonnen, der Baum war vergilbt und vertrocknet. Jetzt zitterte er in der ersten Herbstkälte. Davies klopfte an die Tür, die daraufhin etwas von ihrem Anstrich verlor. Eine ganze Batterie verschiedener Schlösser wurden von innen entriegelt, ehe eine schmale, magere Frau sich sehen ließ. »Was wollen Sie?« »Mrs. Norris?« »Die bin ich. Was wollen Sie?« »Ich . . . ich würde gern einen Augenblick mit Ihnen sprechen. Über Ihre Tochter.« »Josie. Was hat Josie angestellt?« »Nein, nicht Josie, Celia.« Die Augen rollten ihr fast aus dem Gesicht. »Celia?« flüsterte sie. »Wer sind Sie?« »Ich bin bei der Polizei.« »Sie haben . . . haben Sie unsere Celia gefunden?« »Nein. Leider nein.« »Dann hauen Sie ab, und suchen Sie weiter«, sagte sie schnell und verbittert. »Hauen Sie ab.«
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Die Türe wurde vor ihm donnernd zugeschlagen, wobei sie noch mehr Farbe verlor. Er prallte zurück und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Wenn im Laufe offizieller Nachforschungen eine Tür auf diese Weise geschlossen würde, gab es Polizeimethoden, sie wieder zu öffnen, wobei man zunächst die höfliche Bitte ein zweites Mal vorbrachte. Aber in diesem Fall, wo es sich bloß um ein Hobby handelte, war das weitaus schwieriger. Er ging durch das Törchen auf die Straße und wanderte in Gedanken versunken die Straße hinunter. Von der Kraftwerksseite her näherte sich ein Motorroller. Er schlingerte um die Ecke, schlidderte an ihm vorbei und wurde heftig abgebremst. Die Fahrerin, ein zierliches dunkelhaariges Mädchen, nahm den gelben Sturzhelm mit der Aufschrift RETTET DAS ALTE BUENOS
AIRES ab und schüttelte ihre Locken. E s fehlte nichts außer dem Eiskremfleck am Kinn. »Josie«, sagte Davies, »Sie sind Josie Norris.« »Eins zu Null für Sie«, sagte sie. »Wer sind Sie denn? Ich hab' Sie vor unserm Haus gesehen.« »Ich bin von der Polizei«, bekannte er. »Police Constable Davies. Ihre Mutter hat mich rausgeschmissen.« »Das paßt zu ihr«, nickte das Mädchen. »Wollen Sie meinen Alten einbuchten? Er hat doch gesagt, er beabsichtige, anständig zu werden.« »Mit Ihrem Vater hat es nichts zu tun. Es geht um Celia.« »Mein Gott«, flüsterte sie. »Sie haben sie doch nicht etwa gefunden?« »Nein. Aber wir hoffen, etwas zu finden.« »Hoffen? Hoffen?« Sie war skeptisch. »Und ich hoffe, ich krieg' für meinen alten Roller einen nagelneuen Rolls Royce. Wenn ich 18 bin.« »Und wie lange dauert das noch?« »Acht Monate und drei Tage. Dann bin ich frei. Heutzutage ist man mit 18 frei.« »Das hab' ich schon mal gehört. Ich muß das wohl irgendwie verpaßt haben.« »Sie wollten mit meiner Mutter sprechen, oder?« »Ja. Können Sie das irgendwie hinkriegen?« »Wenn Sie es ernst meinen«, sagte sie nachdenklich. »Ich meine, wenn Sie sie nicht nur wie eine Zitrone ausquetschen
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und dann alles einfach wieder hinwerfen. Das hat sie schon zu oft über sich ergehen lassen müssen.« »Ich meine es ernst«, nickte Davies. Zögernd fügte er hinzu: »Meiner Meinung nach hat man nie richtig nachgeforscht.« »Warum dann jetzt auf einmal?« Er klammerte sich an eine Notlüge. »Weil es neue Informationen gibt. Ein Häftling hat ausgepackt.« »Was hat er gesagt?« »Das darf ich Ihnen nicht sagen.« Sie sah ihn von der Seite an. »Na gut«, sagte sie, »ich sorge dafür, daß sie mit Ihnen spricht. Kennen Sie das LYONS-CAFÉ in der High Street, neben dem Blumenladen?« »Kenn' ich.« »Können Sie um drei Uhr da sein? Sie hat Ihnen wohl die Tür vor der Nase zugeschlagen, weil mein Vater zu Hause war. Sie wird da sein.« Das kindliche Gesicht über der gelben Öljacke blickte ihn vertrauensvoll an. »Aber hören Sie, Chef... Sie müssen versprechen, sie nicht reinzulegen.« »Versprochen«, sagte Davies. Das Tageslicht stahl sich früh davon, als hätte es für heute die Nase voll. Nieselregen - der echte vom Himmel, nicht der von den Kühltürmen - näßte die Schaufenster; Busse nach Cricklewood rauschten durch die Pfützen. Davies drückte sich gegenüber dem LYONS in den Schatten und versteckte sein Gesicht hinter seinem riesigen Mantelkragen. Er fühlte sich in seinem Inkognito sicher und war ziemlich erschüttert, als drei ihm unbekannte Vorübergehende ihn bei seinem Namen anredeten und ihm einen »Guten Tag« wünschten. Auch Mrs. Norris hatte ihn früher bemerkt als er sie; sie stand plötzlich vor ihm und sagte: »Hier bin ich.« Sichtlich verstimmt folgte er ihr über die Fahrbahn ins Café. Sie nickte in Richtung eines Ecktisches, wie um klarzustellen, daß sie die Situation im Griff hatte. Also schlängelte er sich folgsam zu dem Marmortischchen durch, während sie sich an der Selbstbedienungstheke anstellte. Er beobachtete sie aufmerksam. Sie war hochgewachsen, aber ihr Rücken war schon ziemlich gebeugt, obwohl sie erst in den Fünfzigern sein konnte. Ihr Gesicht wirkte erschöpft und ausdruckslos, die Augen fixierten starr den Nacken der Frau vor ihr in der Schlange, nur manchmal ließ sie sie kurz
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umherschweifen, um dann wieder starr nach vorne zu blicken. Davies setzte sich und knöpfte den Mantel auf. Am Nebentisch aß ein Inder Spaghetti und eine doppelte Portion Pommes frites, die er reichlich mit brauner Sauce übergoß. Dabei summte er leise eine Melodie vor sich hin - sicher ein schwermütiges Lied aus den fernen blauen Hügeln-, das er hin und wieder unterbrach, um geräuschvoll seinen Tee zu schlürfen. Mrs. Norris kam mit dem Tee und sah ihn scharf an. »Also«, seufzte sie müde, als sie sich gesetzt hatte, »was ist jetzt mit unsrer Celia?« » E s haben sich neue Erkenntnisse ergeben, Mrs. Norris«, sagte er mit der Amtsmiene, die er manchmal vor seinem Schlafzimmerspiegel probte. »Jemand hat geredet. Ich kann Ihnen nichts Näheres sagen, außer, daß er gesungen hat.« »Warum können Sie mir nichts sagen?« »Die Einzelheiten müssen noch überprüft werden.« Ihm war unbehaglich zumute. »Ohne vorgefaßte Meinung.« »Ohne vorgefaßte Meinung«, schnaubte sie in ihren Tee. »Das haben sie schon vor 25 Jahren gesagt. Sind das dieselben Meinungen wie damals?« Er nickte mitfühlend. »Jedenfalls, Mrs. Norris, kann ich mir vorstellen, was Sie damals durchgemacht haben.« »Nein, das können Sie nicht«, flüsterte sie und versteckte Augen und Nase beinahe in der Teetasse. »Keiner kann das. Sie war so eine gute Tochter, Mr. Davies. Sie brachte mir immer Blumen mit, das tun nicht viele Kinder. Und dann taten die so, als wäre sie so etwas wie eine Nutte, nur weil sie ihre Unterhosen nicht finden konnten.« Sie schneuzte sich, und als sie die Augen hob, sah Davies, daß ihr Make-up verlaufen war. »Nicht weinen, Mrs. Harris«, sagte er hilflos. »Nicht hier.« » E s geht schon wieder«, sagte sie. »Die Tränen kommen einem nicht mehr so leicht, wie Sie vielleicht denken - nach so langer Zeit.« Nach einer Weile blickte sie ihn ohne große Hoffnung an. »Was haben Sie denn herausbekommen?« »Ich habe gerade erst angefangen. Aber ich glaube, nach so langer Zeit sprechen die Menschen Dinge aus, die sie damals vielleicht nur g e d a c h t haben oder von denen ihnen damals nicht klar war, d a ß sie sie wußten.« Sie nickte. »Die Leute ändern ihre Ansichten. Das weiß ich nur zu gut.«
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»Wieso?« fragte er. »Inwiefern?« »Na, wissen Sie, zuerst zeigen sie Mitleid und all den Schmus, und dann gehen sie einem aus dem Weg, und der Klatsch und Tratsch geht los. Über meine Tochter... Und das geht heute noch so. Sie wissen ja, daß sie schon einmal von zu Hause weggelaufen war, sie hatte eben ihren Dickkopf. Eine von den verdammten Sonntagszeitungen hat die ganze Sache vor ein paar Jahren wieder aufgerührt. >Was geschah mit Celia?< war die Überschrift. So ein Typ kam an die Haustür und wollte mich ausfragen. Ich hab' ihm einen Eimer Seifenwasser über den Kopf gegossen.« »Sie möchten vielleicht die Antwort gar nicht erfahren, ist es so?« »Doch, ich will sie wissen, aber nicht auf die Art. Nicht aus den blöden Zeitungen. Die waschen bloß schmutzige Wäsche. Man müßte es irgendwie im stillen anfangen. Das ist der einzige Weg, wie Sie oder sonst jemand noch etwas herausfinden können.« »Als sie das erste Mal weglief«, fragte Davies, »war das mit einem Mann?« »Ich weiß es nicht.« Daß es so war, kränkte sie heute noch. »Als sie zurückkam, wollte sie nicht darüber sprechen. Sie hätte eine Abwechslung gebraucht, sagte sie. Von da an hab' ich sie nie mehr gefragt.« Das Café war jetzt, am Nachmittag, fast leer. Essensgeruch strömte aus der Küche und hing über der Theke mit den Mittagsgerichten, die keine Abnehmer gefunden hatten. Ein Pennbruder kam herein, nahm höflich den Hut ab und strich sein Zottelhaar mit der Hand zurück; dann setzte er sich an einen Tisch dicht bei der Theke. Von dort aus betrachtete er mit Kennermiene das appetitlich beleuchtete Essen. Er wußte, wann der beste Augenblick zum Zuschlagen war. »Schusterpastete für zehn Pence? Das ist nicht mal der halbe Preis«, offerierte die Frau hinter der Theke. Der Tippelbruder schüttelte den Kopf. »Hab' bloß sechs«, antwortete er. »Na gut, sechs Pence«, seufzte die Frau. »Kein Wunder, daß alle denken, du bist Millionär.« Davies sagte: »Die sollten mal eine Pennerpastete für Schuster anbieten.« Mrs. Norris konnte darüber nicht lachen. » E s gibt eben auch noch gute Menschen«, war ihr einziger Kommentar. Sie sah Davies wieder an.
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Schließlich sagte er: »Mrs. Norris, könnten Sie es ertragen, die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen? Alles, was an dem fraglichen Tag passiert ist. Ich habe die Aussagen gelesen, aber ich möchte es von I h n e n hören.« »Von mir aus«, sagte sie müde. »Kann ich noch eine Tasse haben?« Er stand auf. »Ich könnte auch noch eine gebrauchen.« »Das geht sicher auf Polizeikosten?« fragte sie unbefangen. »Ich frisiere das ein bißchen, dann mache ich noch einen Schnitt dabei«, sagte er. Er ging zur Theke, um den Tee zu holen. »Hallo, Dangerous«, begrüßte ihn der Penner. Als er mit den zwei Tassen zurückkam, begann sie, ohne daß er sie hätte auffordern müssen. » E s war am 2 3 . Juli. Am Vormittag blieb sie zu Hause, um mir zu helfen. Sie war immer so hilfsbereit. Es war ziemlich warm, wir hatten die ganze Woche schönes Wetter gehabt. Am Nachmittag ging sie zum Arbeitsamt. Das war damals nur ein kleines Büro, nicht der große Palast, den sie jetzt haben.« »Die Zeiten ändern sich«, nickte er. »Sie wollte Krankenschwester werden, nicht wahr?« Mrs. Norris nickte. »Und sie wäre eine gute geworden. Sie war so ein hilfsbereiter Mensch.« Ihre Stimme war so monoton, als wiederhole sie etwas, was sie schon oft erzählt hatte. »Sie sprachen mit ihr über den Beruf, aber als sie nach Hause kam, mußte sie ja gleich wieder weg zu dem bescheuerten Jugendklub. Sie sagte, sie würde mir am Abend alles erzählen. Bloß, sie kam ja nie mehr zurück.« »Sie mochten den Jugendklub nicht?« fragte er. »Ich weiß nicht.« Sie schüttelte den Kopf. » E s wurde nie darüber gesprochen, aber irgendwas war faul daran. Pater Harvey führte die Aufsicht nicht so, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Er war ja damals noch neu hier. Aber ich glaube, er fühlt sich schuldig. Und er weiß, was ich davon halte.« »Sie mochten auch Mr. Boot nicht?« legte ihr Davies die Worte in den Mund. In ihren Augen flackerte so etwas wie ein Fünkchen von Zutrauen auf. Es erstarb gleich wieder. »Nein, ganz und gar nicht. Sie haben ja wohl die Fotos gesehen.« » J a , eins von Mr. Boot mit Celia und noch einem Mädchen bei einer Art Gartenfest.«
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» E n a Brown. So hieß sie damals. Jetzt heißt sie Ena Lind.« »Lind? Lind? Wer hieß denn noch Lind?« Er versuchte, sich an die Namen in den Akten zu erinnern. »Bill Lind, Celias Freund«, sagte sie mit monotoner Stimme. »Sie gingen zusammen. Wie das so ist in dem Alter. Nichts Ernsthaftes.« »Und er hat die Freundin geheiratet, E n a ? « »Ja. Ungefähr drei Jahre später. Das stand auch in dem Zeitungsartikel. Sie sagten, sie wären >durch die Tragödie zusammengeschweißt< oder so ähnlich. Blödsinn, zusammengeschweißt! Schwanger war sie, ganz einfach. Sie haben jetzt eine Mietwohnung im Hochhaus. Sie sieht aus wie eine Nutte, und er guckt weg, wenn er mich auf der Straße sieht. Tut so, als ob er mich nicht kennt.« »Und Sie mochten Mr. Boot nicht?« »Nein, aus dem hab' ich mir auch nicht viel gemacht.« »Wissen Sie, wo er abgeblieben ist?« »In Finchley oder Mill Hill oder irgendwo in der Gegend. Er hatte eine Art Disko, stand in der Zeitung. Und jetzt besitzt er einen von diesen neuen Sexläden, ich hab' die Reklame gesehen. So etwas liegt ihm.« »Also immer noch in der Jugendarbeit tätig, was?« bemerkte Davies. Er machte eine Pause. Sein Tee wurde langsam kalt. Er trank ihn aus und verzog das Gesicht. »Haben Sie schließlich, hm . . . die Kleider zurückbekommen?« »Von der Polizei? Ja, die hab' ich bekommen. Ich hab' sie immer noch. Es war ja nicht viel, es war so warm an dem Tag. Bloß ein grünes Sommerkleid, einen B H , ihre weißen Socken und die Schuhe. Und was alle wissen - ihr Lippenstift, so ein kleines Ding von Woolworth, und ihr Schlüpfer waren nicht da; jeder weiß das.« Ihre Stimme klang hart. »Und Sie haben die Kleider noch, Mrs. Norris?« » J a , aber ich hab' sie weggepackt. Ich zeig' sie niemandem. Auch Ihnen nicht.« »Ja. Das kann ich verstehen. Und d e r . . . der junge Mann, der die Sachen in der Toilette gefunden und nach Hause geschleppt hat, kannten Sie den?« »Diesen Parsons? Der arme Teufel. Die Polizei drehte ihn durch die Mangel. Sie wollten halt irgendwen vorzeigen. Aber der war's nicht, Mr. Davies. Ich kannte ihn vorher nicht, aber seitdem
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ist er mir öfters über den Weg gelaufen. Er macht jetzt Musik bei der Heilsarmee. Ich hab' ihn auch im Supermarkt gesehen. Er nickt mir jedesmal zu.« »Was hat Ihr Mann von all dem gehalten?« »Wie meinen Sie das, >gehalten« »Wie hat er reagiert?« Sie dachte nach. »So wie immer, wenn's Ärger gibt - er hat rumgebrüllt, nach der Polizei geschrien, daß sie was tun sollte . . . « Sie lachte bitter. »Genaugenommen war das wohl das einzige Mal in seinem Leben, daß er was von der Polizei wollte. Natürlich war er traurig, bestimmt, aber er kann es eben nicht zeigen. Manchmal bin ich nachts aufgewacht und hab' ihn unten weinen hören. Es hat ihn schon getroffen, genau wie mich.« »Was ist er für ein Mensch, Ihr Mann?« »Bert Norris ist schon in Ordnung. Meistens jedenfalls.« Man merkte, daß sie ihre Worte sorgfältig wählte. » E r ist bloß ein Waschlappen, das ist alles. Kein Freund der Arbeit, weiß Gott. Er hat auch schon gesessen, wie Sie sicher wissen. Wegen dummer Kleinigkeiten. Er will immer der Größte sein. Er war schon so, als wir heirateten, aber ich hab' immer gedacht, er wächst da raus. Damals hat er Lebensmittelkarten frisiert. Heute sind es Autopapiere.« » E r geht mit der Zeit«, bemerkte Davies. »Lieben Sie ihn?« Sie blickte ihn ungläubig an. » L i e b e n . . . ? Ob ich ihn liebe? Mein Gott, was für eine komische Frage von einem Bullen. Ich weiß nicht... Ich wohne in demselben Haus mit ihm, wenn Sie das damit meinen. Lieben kann man den nicht - das Wort paßt einfach nicht zu Bert. Nicht zu meinem Mann.« »Mit Cecil Ramscar ist er befreundet, oder?« Der Rest von Überraschung, der sich noch von der vorigen Frage auf ihrem Gesicht spiegelte, lebte wieder auf. »Ramscar? Der ist vor Jahren abgehauen. Nie wieder von ihm gehört.« » E r ist wieder da«, sagte Davies auf gut Glück. »Also das ist es«, murmelte sie. »Ich dachte mir doch, daß irgendwas im Busch war.« »Meinen Sie Ihren Mann?« Sie wich seiner Frage aus. »Ramscar - der kam immer und lungerte bei uns herum, wenn Celia daheim war. Er war immer mit den Pfoten an ihr zugange, tatschte herum, aber das versuchte
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er schließlich bei jeder zwischen acht und 80. Er fand sich toll. Bei mir hat er's auch ein- oder zweimal versucht.« Er merkte, daß ihr die Sache peinlich war. » I c h . . . natürlich war ich damals noch jünger, nicht so ein Suppenhuhn wie j e t z t . . . « Davies hob die Hand, um zu widersprechen, aber sie legte ihre Hand auf seine und brachte ihn so dazu zu schweigen. Die Finger fühlten sich an wie getrocknete Feigen. »Er hat manchmal zu Bert gesagt, er hätte am liebsten Celia und mich zusammen im Bett. So war er eben. Schweinkram. Hatte nur eine große Klappe.« »Glauben Sie, daß er für Celias Tod verantwortlich ist?« »Gott allein weiß das.« »Die Polizei konnte ihm nichts nachweisen.« »Konnte sie bei Jack the Ripper auch nicht«, erwiderte sie trokken. Sie sah von der leeren Tasse auf. »Ich muß los«, sagte sie, »die Läden machen gleich zu. Wenn Sie noch was wissen wollen, sagen Sie Josie Bescheid. Sie arbeitet bei ANTOINETTE, das ist der Friseurladen neben der Uhr in der High Street.« »Gut«, sagte er, »mach' ich. Es tut mir leid, daß ich Ihnen Kummer bereiten mußte. Ich hoffe, ich kann in der Angelegenheit was erreichen.« Er dachte einen Augenblick nach, während sie nach Mantel und Handtasche griff. »Wenigstens«, fuhr er fort, »sind die Leute noch die gleichen. Die meisten, die damals hier wohnten, sind immer noch da oder zumindest nicht weit weg.« Ihr Gesicht wurde weicher. »Nein, die Leute ziehen nicht oft von hier weg. Es ist eigentlich ganz nett und gemütlich hier.«
Kapitel 6
A
n diesem A b e n d ging D a n g e r o u s mit M o d zum W I C K E L K I N D und ließ sich ordentlich vollaufen. M o d war ungewöhnlich redselig und ließ sich belehrend über die vergifteten Pfeile bestimmter G e b i r g s s t ä m m e in I n d i e n , die sexuellen T a b u s der frühen I n k a s und die Geschichte der S t r a ß e n b a h n e n in L i v e r p o o l a u s . A u f ihrem s c h w a n k e n d e n H e i m w e g zu M r s . F u l l j a m e s trafen sie ein P f e r d , d a s bekümmert die S t r a ß e heraufgetrabt k a m . E s gehörte dem stadtbekannten L u m p e n h ä n d l e r . M o d s a g t e , m a n müsse es der Polizei m e l d e n , und meldete es augenblicklich D a n g e r o u s , der etwas in sein Notizbuch schrieb. Schließlich b a n d e n sie d e n Gaul an den Türklopfer des nächstbesten H a u s e s und gingen schlafen.
Am nächsten T a g machte D a n g e r o u s sich auf die Suche nach D a v e B o o t . D e r S e x l a d e n war nicht schwer zu finden. Er hieß O-LA-LA. Q u e r über d a s Schaufenster lief ein Aufkleber, der S o n d e r a n g e b o t e a n k ü n d i g t e . D a v i e s , der solch ein Geschäft noch nie betreten hatte, zog die A u g e n b r a u e n hoch und höher. Hinter dem L a d e n t i s c h wiegte sich ein g e r t e n s c h l a n k e r J ü n g l i n g im R h y t h m u s der gedämpften M u s i k . D a v i e s sprach ihn an: » W a s gibt's im Sonderangebot?« » A l l e s , S ü ß e r « , erwiderte der K n a b e . » A b s o l u t a l l e s . H ä n g t natürlich davon a b , was S i e suchen, o d e r ? « » D a s weiß ich nicht g e n a u « , s a g t e D a v i e s . » O h , was ihr T y p e n für P r o b l e m e habt!« staunte der Verkäufer. » N e h m e n Sie doch den j a p a n i s c h e n Kitzler, t a d e l l o s , nur etwas a n g e s t a u b t . « » S i n d die Gummifrauen auch h e r a b g e s e t z t ? « erkundigte sich Davies. » J a , aber nur die älteren. D i e werden b r ü c h i g . « » W o ist D a v e B o o t ? «
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D e r plötzlich scharfe T o n , den er a n s c h l u g , erschreckte den h o c h n ä s i g e n J ü n g l i n g sichtlich. » D a v e B o o t ? Ach s o , Mr. B o o t . Er ist in der D i s k o . « « D e t e c t i v e C o n s t a b l e D a v i e s . « D a n g e r o u s zeigte seinen Ausweis. »Schaffen Sie ihn her, l o s . « D e r j u n g e M a n n strich sich die Tolle a u s der hübschen Stirn und beschäftigte sich mit dem Telefon. D a v i e s sah sich weiter im L a d e n um, schob einen V o r h a n g zur Seite und betrat d a s Hinterzimmer. Zu seiner Ü b e r r a s c h u n g sah er sich einer erst halb aufgeb l a s e n e n G u m m i d a m e g e g e n ü b e r , an der noch die Fußpumpe hing; sie lehnte am Schreibtisch. Er konnte nicht widerstehen, trat auf die P u m p e , ließ wieder los, pumpte weiter und sah fasziniert zu, wie die F r a u vor seinen A u g e n l e b e n s n a h e F o r m e n ann a h m . Sie wuchs zu L e b e n s g r ö ß e , dann zur Ü b e r g r ö ß e und schließlich zu R i e s e n p r o p o r t i o n e n . D a v i e s starrte wie gebannt und pumpte weiter und weiter. Die F r a u wurde immer dicker. Ihre A u g e n , ihre B a c k e n , ihre B r ü s t e blähten sich auf. Er konnte d a s G u m m i z e u g knistern hören. Er pumpte weiter. Ihr schwellendes Hinterteil stieß einen Stuhl um. » H a l t ! « D e r Schrei k a m von der Tür her. E i n g r o ß e r , dicker M a n n im knappsitzenden J e a n s a n z u g stürzte herbei und zog ein Ventil a u s einer Hinterbacke. Die F r a u schrumpfte erschreckend zusammen. » W e n n sie geplatzt w ä r e , hätten Sie zu T o d e kommen k ö n n e n « , s a g t e der M a n n . » S c h ö n e r B l ö d s i n n . G a n z schön verrückt, was Sie d a g e m a c h t h a b e n ! « D a v i e s s a h traurig auf die z u s a m m e n s i n k e n d e Gestalt. »Jetzt weiß ich, wie Gott zumute i s t « , s a g t e er. Er drehte sich mit einem kalten B l i c k um. » E i n s c h ö n e s Geschäft haben Sie d a . « »Wir erfüllen nur ein B e d ü r f n i s « , war die a r r o g a n t e Antwort. » W a s wollen S i e von m i r ? « » I c h bin Detective Constable D a v i e s . « » D a s hat T a r q u i n mir g e s a g t . Ich bin D a v e B o o t . Worum geht's denn?« » K a n n ich mich setzen? Ich bin außer Puste vom P u m p e n . « B o o t hob den Stuhl auf, den die F r a u umgestoßen hatte. Davies ließ sich erleichtert d a r a u f nieder, während B o o t hinter seinem Schreibtisch Platz n a h m . D e r J ü n g l i n g Tarquin schaute durch den V o r h a n g und fragte, ob Kaffee gewünscht werde. B o o t wollte ihn fortschicken, aber D a v i e s s a g t e , er hätte gern einen.
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» N a gut. Zwei K a f f e e « , s a g t e B o o t . » A b e r nicht mit dem F i n g e r u m r ü h r e n « , rief D a v i e s ihm nach. B o o t runzelte die Stirn. » I c h h a b e viel zu tun. W a s wollen Sie von m i r ? « » I c h a u c h « , s a g t e D a v i e s leichthin. » F u r c h t b a r viel zu tun. Ich möchte, d a ß Sie mir etwas über Celia Norris e r z ä h l e n . « Vor Ü b e r r a s c h u n g wurde B o o t b l a ß . » C e l i a . . . Celia N o r r i s ? « brachte e r schießlich hervor, » M e i n Himmel, d a s ist J a h r e h e r . « » A b e r Sie erinnern sich doch, o d e r ? « » J a , natürlich. A b e r warum . . . warum denn j e t z t ? « » F ü r M o r d gibt's keine S a i s o n . « » J a , a b e r . . . a c h , k o m m e n Sie schon. Was soll d a s jetzt? Die Polizei ist doch d a m a l s alles d u r c h g e g a n g e n . Herrgott noch m a l , d a s dauerte ewig. Ich wurde völlig entlastet. Sie hatten n i c h t s . . . « » I c h h a b e nicht g e s a g t , d a ß etwas g e g e n Sie vorliegt. Ich frage nur, ob Sie sich erinnern können. Es will Sie ja n i e m a n d verhaften.« » D a s will ich verdammt noch mal auch m e i n e n « , s a g t e B o o t und fiel wieder in seinen alten Ton zurück. » I c h g l a u b e , ich vers t ä n d i g e lieber meinen Anwalt. Ich k a n n kein A u f s e h e n g e b r a u chen, schließlich bin ich G e s c h ä f t s m a n n . « »Wie ich s e h e « , s a g t e D a v i e s und sah auf die abgeschlaffte Gummifrau. B o o t folgte s e i n e m B l i c k . » U n d hier gibt's nichts, w e s w e g e n Sie mir an den K a r r e n fahren k ö n n e n . E s ist alles l e g a l . J e d e n f a l l s rufe ich jetzt meinen Rechtsanwalt a n . « » D a s können Sie g e r n tun.« D a v i e s g a b sich selbstsicherer, als er sich fühlte. » A b e r Sie verschwenden nur Ihr Geld. Niemand setzt Sie unter D r u c k , Mr. B o o t . Wir h a b e n den Fall Celia Norris wieder a u f g e n o m m e n , d a r u m muß ich bei allen P e r s o n e n nachfrag e n , die d a m a l s a u s g e s a g t h a b e n . D a s ist a l l e s . « B o o t beruhigte sich. » M e i n e t w e g e n , wenn d a s alles ist. Weiß der Kuckuck, was dabei r a u s k o m m e n soll. Ich h a b e d a m a l s alles gesagt.« Tarquin k a m durch den V o r h a n g geschlüpft, n a c h d e m er kurioserweise d a r a n wie an einer Tür angeklopft hatte, und brachte ein Papptablett mit zwei Plastikbechern voll Kaffee. Er bedachte D a vies mit einem listigen L ä c h e l n . » H i e r , Inspector, d a s ist I h r e r . « D a v i e s und B o o t n a h m e n die B e c h e r . D e r J ü n g l i n g verzog sich.
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» I c h h a b ' ihn nicht u m g e r ü h r t « , rief er noch, »jedenfalls nicht mit dem F i n g e r . « D a v i e s starrte in den B e c h e r und fragte sich, welcher G e g e n stand wohl als Löffel gedient hatte, d a n n stellte er den Kaffee auf den Tisch, o h n e zu trinken. » I c h n e h m e a n , Sie erinnern sich an den fraglichen A b e n d « , s a g t e er, wobei er sich v o r b e u g t e , » a n dem sie v e r s c h w a n d . « » H m , natürlich e r i n n e r e ich mich. Ist verdammt l a n g e h e r . . . wie viele J a h r e ? « »25. « » N a a l s o . A n f a n g der 50er J a h r e . D a s ist nicht g e r a d e gestern. A b e r trotzdem, ich k a n n mich an die S a c h e noch recht gut erinnern. So etwas k a n n m a n ja wohl nicht v e r g e s s e n . « » I c h hatte gehofft, Sie könnten sich jetzt auf Einzelheiten bes i n n e n , die d a m a l s nicht so wichtig schienen. Sie haben ja inzwischen Zeit g e h a b t , darüber n a c h z u d e n k e n . « B o o t s a h ihn unter schweren L i d e r n hervor a n . » W a s ich wußte, h a b ' ich d a m a l s g e s a g t . J e d e Einzelheit. Mein Gott, wir haben das lange genug durchgekaut.« D a v i e s nickte. » I c h h a b e Ihre A u s s a g e n g e l e s e n . Sie hatten sie im J u g e n d k l u b noch g e s e h e n , d a n n fuhr sie mit dem F a h r r a d weg, und d a s w a r ' s . Sie wußten nicht einmal etwas von ihrem Verschwinden, bis eine ihrer F r e u n d i n n e n es Ihnen einige T a g e später e r z ä h l t e . « » G e n a u s o war e s . So h a b e ich es d a m a l s g e s a g t , und so s a g e ich es h e u t e . « D a v i e s ü b e r l e g t e . E r griff geistesabwesend nach dem Kaffee und n a h m einen Schluck. D e r Schreck zeigte sich deutlich auf seinem Gesicht, als ihm klar wurde, was er getan hatte. B o o t lachte hämisch. » M a c h e n Sie sich keine S o r g e n wegen dem Kaffee. Allenfalls hat er ihn mit einem J a p a n i s c h e n Kitzler u m g e r ü h r t . « D a v i e s zog eine G r i m a s s e . E r schob den B e c h e r s o weit von sich, d a ß er nicht wieder a u s Versehen d a n a c h greifen konnte. Vertraulich neigte er sich dann B o o t zu. »Wissen S i e , A u s s a g e protokolle sind so trocken wie ein T e r m i n k a l e n d e r . Ich tat dieses zu dieser Uhrzeit, d a n n j e n e s zu j e n e r . E i n e M e n g e K n o c h e n und kein Fleisch dazwischen, wenn Sie verstehen, was ich meine, Mr. B o o t . S i e enthalten nichts von d e m , was die M e n s c h e n f ü h l e n . D a s ist e s , worauf es mir ankommt. Was haben die Menschen für Celia Norris empfunden? Was h a b e n Sie für sie e m p f u n d e n ? «
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» E m p f u n d e n ? « B o o t zuckte die Achseln und breitete die H a n d flächen a u s . »Nichts. G a r nichts. Sie war eben nur eines von den M ä d c h e n im K l u b . « » W a r sie nicht Ihr Typ o d e r w a s ? « B o o t wurde wütend. » M a n n , verpissen Sie sich. Ich will meinen Anwalt. Ich hätte ihn vorher rufen s o l l e n . « »Nicht n ö t i g « , beruhigte D a v i e s ihn. » I c h g e h e ja schon. Ich wollte Sie einfach mal k e n n e n l e r n e n . L a s s e n Sie mich nur noch eine F r a g e stellen, d a n n verschwinde i c h . « B o o t schmollte und g a b keine Antwort, a b e r D a v i e s tat s o , als h a b e er d a s nicht bemerkt. »Wie würden Sie Celias Verhalten beschreiben, was Sex anbel a n g t ? Sie war 1 7 . G l a u b e n S i e , sie war noch J u n g f r a u ? « Z u seiner Ü b e r r a s c h u n g dachte B o o t erst nach. » K e i n e Ahnung. Wie Sie wissen, behielten die M ä d c h e n d a m a l s ihre J u n g fräulichkeit ein bißchen l ä n g e r als h e u t e . « » D a s d e n k ' ich a u c h . « » J a , ich auch. A b e r sie waren alle g a n z v e r s e s s e n darauf. Wissen S i e , e s waren eben . . . F l i r t b i e n e n . « » F l i r t b i e n e n « , lächelte D a v i e s . » O h , M r . B o o t , d a s ist ein hübsches altmodisches Wort, d a s muß ich mir a u f s c h r e i b e n . « Er holte umständlich sein Notizbuch hervor und malte liebevoll in Druckbuchstaben d a s Wort FLIRTBIENE, während B o o t u n g e d u l d i g zus a h . D a v i e s bewunderte sein Werk, als wäre es ein p r e i s g e k r ö n t e s Kunstwerk. » F l i r t b i e n e n « , wiederholte er. » W u n d e r b a r . « » N a , sie war j e d e n f a l l s e i n e « , s a g t e B o o t , dem es schon leid tat, d a ß er überhaupt etwas g e s a g t hatte. S o , als ob er unter e i n e m Z w a n g s t ü n d e , fuhr er fort: » S o l c h e n a n n t e n wir d a m a l s S c h a r f m a c h e r , erinnern Sie sich, M r . D a v i e s ? « » T a t e n wir d a s ? « explodierte D a v i e s . » W i r s a g t e n s o w a s ? U n d warum n a n n t e n wir sie wohl s o ? S c h a r f m a c h e r , eine Minute, d a s möchte ich mir auch a u f s c h r e i b e n . « B o o t schluckte m ü h s a m , während D a v i e s d a s Wort direkt unter Flirtbiene schrieb. » M e i n e G ü t e « , s a g t e er d a n n ruhiger. » D a s versetzt einen echt in die alten Z e i t e n , nicht wahr, M r . B o o t ? « »Nicht mich p e r s ö n l i c h « , murmelte B o o t . » S o drückte m a n sich d a m a l s eben a u s . D a s müßten Sie doch w i s s e n . « »>Flirtbiene<, S c h a r f m a c h e r « , s a g t e D a v i e s und m a s s i e r t e sich das Kinn. »Celia Norris.« » G e n a u d i e « , s a g t e B o o t trotzig. » C e l i a N o r r i s . «
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» U n d warum würden Sie so von ihr s p r e c h e n ? « » I c h hatte doch A u g e n im K o p f « , sagte B o o t entschlossen. » I c h konnte schließlich s e h e n , was für eine sie war. Sie hatte da einen Freund...« » B i l l L i n d « , soufflierte D a v i e s . » D e r gute alte Bill L i n d . « B o o t s a h ihn unbewegt an. » G e n a u der. D e n armen Trottel hat sie fast um d e n Verstand gebracht. A b e r die waren d a m a l s alle s o , die M ä d c h e n . Heute sind sie wenigstens ehrlich. Und sie b r i n g e n was.« » B r i n g e n w a s ? « fragte D a v i e s mit h o c h g e z o g e n e n A u g e n brauen. »Sicherlich wissen s e l b s t S i e d a s . Die j u n g e n Leute sind heute offener u n d ehrlicher, was Sex angeht. Sie haben nicht diese H e m m u n g e n , die wir hatten.« » H a t t e n wir H e m m u n g e n , Mr. B o o t ? « D a v i e s betrachtete die zwei Wörter, die er aufgeschrieben hatte, als hätte er ein A n a g r a m m vor sich, d a s es aufzulösen galt. » U n s e r e Celia Norris. Eine Flirtbiene«, sagte er grinsend. » E i n e Flirtbiene. G e n a u « , nickte B o o t gereizt. »Und E n a Brown? Die auch?« B o o t war weiß wie eine Wand g e w o r d e n . » E n a B r o w n « , murmelte er, » j a , die a u c h . « Im W I C K E L K I N D war ein Vertreter des spanischen Fremdenverk e h r s b ü r o s g e r a d e d a b e i , der ordinären F r a u e n s p e r s o n , die sich beim F l a m e n c o den F u ß g e b r o c h e n hatte, ein Geschenk zu überb r i n g e n . D a n a c h überreichte der Musikautomatenvertreter ein ähnliches P r ä s e n t . Geadelt wurde die Z e r e m o n i e durch die Anwesenheit der L o k a l p r e s s e und einiger M ö c h t e g e r n - P r o m i n e n t e r , die unbedingt ihr F o t o in der Z e i t u n g gedruckt sehen wollten. D e r Kneipenwirt lächelte begeistert im Hintergrund. D a v i e s und M o d machten sich relativ früh auf den Weg zum A b e n d e s s e n im B A L I H I in Furtman G a r d e n s . »Ich g l a u b e , da ist mir ein r u h i g e s E s s e n in dem öden R a u m lieber als das falsche T h e a t e r , d a s wir in der B a r zu sehen b e k o m m e n h a b e n . Eitelkeit, Eitelkeit, alles ist Eitelkeit und R e k l a m e . « » G e s c h ä f t « , verbesserte D a v i e s . E r hatte M o d g e r a d e von seinem B e s u c h bei D a v e B o o t erzählt. » K a n n s t du dir so einen L a den vorstellen - vom B o d e n bis zur D e c k e voll mit Schweinkram.«
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» W a h r s c h e i n l i c h verdient er g a n z nett d a r a n « , nickte M o d . » A n g e b l i c h gibt e s i n A r a b i e n L e u t e , die S c h a t t e n a n P i l g e r auf d e m g l ü h e n d e n W e g nach M e k k a v e r k a u f e n . Sie h ä n g e n eine D e c k e an vier Pfosten auf o d e r mieten sich ein Stück M a u e r , und d a n n knöpfen sie den M e n s c h e n Geld dafür a b , d a ß sie in der Hitze ein p a a r Minuten im Schatten stehen dürfen. A n g e b o t und N a c h f r a g e . « Im B A L I H I f a n d e n sie a m Tisch e i n e n n e u e n Z i m m e r m i e t e r vor, einen I n d e r n a m e n s M r . P a t e l . M o d quetschte ihn sofort nach den S t a m m e s s i t t e n a n d e r N o r d w e s t g r e n z e I n d i e n s a u s , wozu M r . P a t e l a b e r nichts s a g e n k o n n t e , da er aus Tottenh a m s t a m m t e . D i e d ü n n e M i n n i e B a n k s kicherte über d a s M i ß v e r s t ä n d n i s wie ein S c h u l m ä d c h e n , w ä h r e n d M r . S m e e t o n , heute im H a r l e k i n k o s t ü m , interessiert aufhorchte. » E i n e von m e i n e n Nummern ist eine Art Z a u b e r k u n s t s t ü c k « , s a g t e er. » I c h könnte gut j e m a n d e n mit einem Turban a l s A s s i s t e n t e n und komische F i g u r g e b r a u c h e n . Hätten Sie Interesse?« M r . P a t e l lehnte höflich ab mit der B e g r ü n d u n g , d a ß er in s e i n e m B e r u f als D o z e n t für M e t a l l u r g i e ziemlich ausgelastet sei und ü b e r d i e s auch keinen T u r b a n besitze. A u ß e r d e m entschuldigte er sich dafür, d a ß ihm die Stammessitten der indischen N o r d w e s t r e g i o n e n u n b e k a n n t s e i e n . D a s mußte erst einmal verdaut werden. E s folgte ein unbeh a g l i c h e s S c h w e i g e n . D o r i s ließ ihre G a b e l fallen, worauf alle e r s c h r a k e n . D a n n s a g t e D a v i e s diplomatisch: »Wahrscheinlich sind die S t a m m e s s i t t e n d e r N o r d w e s t r e g i o n e n von L o n d o n um e i n i g e s primitiver.« » E r ist P o l i z i s t « , s a g t e M r . S m e e t o n spöttisch und nickte mit d e m H a r l e k i n k o p f in D a v i e s ' R i c h t u n g . » A b e r v e r d a m m t unfähig. W a s m a n s o h ö r t . « M r . P a t e l lächelte höflich. »Wie s c h ö n , wenn in einer H a u s gemeinschaft so offene Worte erlaubt s i n d . « » P o l i z i s t « , s c h n a u b t e M r s . F u l l j a m e s , die g e r a d e mit einem d a m p f e n d e n H e x e n k e s s e l in den H ä n d e n aus ihrer H ö h l e auftauchte. » P o l i z i s t ! « » S a g e n Sie bloß nicht, es ist schon wieder ein B e t t vers c h w u n d e n « , stöhnte D a v i e s . » N e i n . A b e r d a s a n d e r e ist noch nicht wieder a u f g e t a u c h t « , fauchte sie. » E s war eine Antiquität. S i e haben wohl auch den
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R a d a u in der Nacht verschlafen. Die Schreckensschreie und all d a s . D i e g a n z e S t r a ß e war wach - a b g e s e h e n von I h n e n . « » W a s war d e n n letzte Nacht l o s ? « » E i n Pferd war a n M r s . Connellys Türklopfer a n g e b u n d e n . D a s hat wohl j e m a n d für einen Witz g e h a l t e n . « M o d und D a v i e s warfen sich über den Tisch einen verstohlenen B l i c k zu. » E i n P f e r d ? « wiederholte D a v i e s . » I c h bin Polizist und kein Pferdeknecht.« » E s h a n d e l t sich u m ein V e r b r e c h e n « , beharrte M r s . Fulljames und schöpfte d a s L a m m r a g o u t auf die Teller. D a v i e s s a h , d a ß Mr. Patel es - e b e n s o wie M o d - skeptisch betrachtete. » K e i n e S o r g e , M r . P a t e l « , tönte M o d s unsichtbare Stimme geisterhaft hinter der Dampfwolke h e r v o r , » d a s Fleisch ist vom Schaf, nicht von einer heiligen K u h . « » V i e l e n D a n k « , murmelte Mr. Patel. » W a r d a s eine A u f r e g u n g ! « M r s . Fulljames war immer noch bei dem Pferd. » D e r Gaul trampelte d a u e r n d g e g e n M r s . Connellys Haustür und brüllte o d e r wieherte o d e r wie man d a s nennt. Als die a r m e F r a u im Nachthemd ru n t e r k a m , marschierte er schnurstracks in ihr H a u s . Sie war wie versteinert. Wer wollte ihr d a s auch v e r d e n k e n ? « » J a , wahrhaftig, wer w o h l « , s a g t e D a v i e s und starrte v e r s o n n e n in den b r o d e l n d e n S u d . » W i e s o hast du nichts g e h ö r t ? « beschwerte sich Doris. » M e i lenweit sind die L e u t e aufgewacht von dem Geschrei und dem schrecklichen G e t ö s e , d a s d a s Pferd machte. Nur du nicht.« » E s ist schnurstracks r e i n m a r s c h i e r t « , wiederholte Mrs. Fullj a m e s und setzte sich, so d a ß die weißen Schwaden ihr Gesicht verschleierten. D i e S z e n e glich allmählich einer S é a n c e . » U n d wie d a n n M r . C o n n e l l y runterkommt, um zu s e h e n , was los ist, da tritt ihn d a s B i e s t auf den F u ß . Jetzt ist er für einen Monat k r a n k g e schrieben.« » M i n d e s t e n s einen M o n a t . Wir kennen doch Mr. C o n n e l l y « , stichelte D a v i e s . » U n d was ist a u s dem Pferd g e w o r d e n ? H a b e n sie es e r s c h o s s e n ? « » E s g e h ö r t d i e s e m schrecklichen M e n s c h e n aus der Stadt, wie heißt er gleich, S c r i b b e n s ? D e m L u m p e n h ä n d l e r . D e r wurde verständigt und holte es schließlich a b . Was für ein g e m e i n e r Streich! Die a r m e F r a u ! «
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Es wurde still am Tisch, w ä h r e n d alle a ß e n und die Dampfwolken sich l a n g s a m v e r z o g e n . D a n n s a g t e M r . P a t e l : » P o l i zist. I n t e r e s s a n t . U n d welches V e r b r e c h e n , wenn Sie uns d a s v e r r a t e n k ö n n e n , beschäftigt S i e i m M o m e n t ? « » A u ß e r m e i n e m v e r s c h w u n d e n e n B e t t « , fügte M r s . Fullj a m e s giftig hinzu. » N u n « , D a v i e s z ö g e r t e , » e s ist ein M e n s c h verschwunden, sozusagen.« E s war der T a g , a n d e m die Geschäfte schon mittags g e s c h l o s s e n w u r d e n , doch der D a m e n s a l o n ANTOINETTE war noch g e öffnet. D a v i e s wartete auf der a n d e r e n S t r a ß e n s e i t e , halb hinter der Telefonzelle versteckt, bis J o s i e endlich g e g e n zwei U h r h e r a u s k a m . Wie üblich war er leicht a u s der F a s s u n g g e bracht, als sie o h n e Z ö g e r n auf ihn zusteuerte. » W i e h a b e n S i e mich e n t d e c k t ? « fragte er verstört. » E n t d e c k t ? D e r h a l b e v e r d a m m t e L a d e n hat S i e g e s e h e n « , lachte s i e . » S i e würden sich w u n d e r n , wie b e k a n n t Sie in dieser G e g e n d s i n d , D a n g e r o u s . Z u m B e i s p i e l M a r i e - d a s ist m e i n e liebste K o l l e g i n - , ihren B r u d e r h a b e n S i e vor J a h r e n m a l h o c h g e h e n l a s s e n , weil er Schrott geklaut hatte. A b e r weg e n i r g e n d w e l c h e r F o r m a l i t ä t e n g i n g e s d a n n noch mal gut a b . S i e hatten Ihr Notizbuch v e r l o r e n o d e r s o w a s . « D a v i e s seufzte. » J a , ich e r i n n e r e m i c h « , g a b e r zu. » M a r i e s L e u t e auch. S i e s a g t , sie lachen sich heute noch halbtot d a r ü b e r . « » V i e l e n D a n k . « Inzwischen schlenderten sie ohne bestimmtes Z i e l a n d e n g e s c h l o s s e n e n L ä d e n vorbei die S t r a ß e hinunter. » U n d die D a u e r w e l l e n k u n d i n hat erzählt, d a ß Sie eines Nachts in ihr H a u s g e k o m m e n sind, weil die Tür offen stand. U n d d a ß d a n n ihr A l t e r k a m und I h n e n eins mit dem Stuhl ü b e r g e z o g e n hat, weil er d a c h t e , S i e w ä r e n ein E i n b r e c h e r . « » J a , d a s weiß ich noch. D e r Stuhl ist dabei k a p u t t g e g a n gen.« » B e r t h a - d a s ist die A N T O I N E T T E - , also B e r t h a und fast alle K u n d e n und A n g e s t e l l t e n k e n n e n Sie o d e r h a b e n schon v o n I h n e n g e h ö r t . H a b e n Sie nicht bemerkt, wie die sich alle an den F e n s t e r n d r ä n g e l t e n , weil sie z u s e h e n wollten, wie Sie versucht h a b e n , sich hinter der Telefonzelle zu v e r s t e c k e n ? «
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» N a j a , ich dachte mir, daß Sie für so einen kleinen L a d e n erstaunlich viel Kundschaft h a t t e n « , g a b D a v i e s zu. »Ich dachte halt, es gibt an m a n c h e n T a g e n b e s o n d e r s viel zu tun.« » S i e h a b e n mit meiner Mutter g e s p r o c h e n , o d e r ? « sagte sie plötzlich. »Ja.« » S i e hat a n s c h e i n e n d Vertrauen zu Ihnen gefaßt. Kümmern Sie sich immer noch um die S a c h e mit unsrer C e l i a ? « D a v i e s runzelte die Stirn. »Natürlich. Ich g e h e dem Fall erst seit ein p a a r T a g e n n a c h . « » W a s soll d a s schon bringen - nach 25 J a h r e n ? « Josie zuckte die A c h s e l n . » I c h h a b ' ein p a a r Butterbrote dabei. Ich wollte mit dem B u s zum S t a u s e e rauffahren. Mein R o l l e r hat einen Platten. Ich möchte am Ufer in der S o n n e sitzen. Wenn schon mal schönes Wetter i s t . « D a s war es wirklich. Die O k t o b e r s o n n e war schon am Vormittag hin und wieder h e r a u s g e k o m m e n , und jetzt lachte sie vom blauen Himmel wie im B i l d e r b u c h . » S i e k ö n n e n mitkommen, D a n g e r o u s , wenn Sie w o l l e n « , s a g t e J o s i e . » I c h schaffe meine B r o t e sowieso nicht a l l e i n . « » N a g u t « , s a g t e er. Sie g i n g e n a n den verschlossenen L a d e n fronten vorbei. D i e weißen Kühlturmriesen s a h e n im S o n n e n schein wie frisch g e w a s c h e n aus. D a v i e s und J o s i e g i n g e n einträchtig n e b e n e i n a n d e r her. Im B u s , der wie gerufen k a m , setzten sie sich unten hin, o h n e miteinander zu sprechen. Sie stiegen beim S t a u s e e a u s , der in der klaren Luft außerhalb des Fabrikrauchs friedlich d a l a g . D r e i kleine B o o t e , eins d a v o n mit einem roten S e g e l , glitten über die stille Wasserfläche. D a v i e s und J o s i e suchten sich eine B a n k mit Aussicht auf den See und setzten sich. J o s i e packte ihre Butterbrote aus und g a b ihm eins a b . Es war mit K ä s e und G u r k e n belegt. » I h r e M u t t e r « , s a g t e D a v i e s k a u e n d , » s i e ist wohl nie darüber hinweggekommen, oder?« » M a n braucht kein M a i g r e t zu s e i n , um d a s zu m e r k e n « , antwortete s i e , o h n e ihn a n z u s e h e n . » S i e wird d a s nie v e r g e s s e n können. J e d e s J a h r , wenn der T a g im Juli kommt, wird sie fast verrückt.« S i e hielt i n n e , als überlegte sie, ob sie noch mehr s a g e n sollte. D a n n fuhr sie entschlossen fort: » I c h weiß, es klingt komisch, wenn ich d a s s a g e , a b e r e s . . . es ist für sie fast so etwas wie ein L e b e n s i n h a l t g e w o r d e n . «
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Davies sah sie von der Seite an und pfiff leise durch die Zähne. »Wie seltsam, das so zu sehen«, sagte er. »Das hab' ich ja gesagt«, wehrte sie ab. »Wirklich, Dangerous . . . Macht es Ihnen was aus, wenn ich Sie so nenne? Wie ist eigentlich Ihr richtiger Vorname?« »Percival«, log er. Sie sah ihn nachdenklich an. » D a n g e r o u s . . . « , sagte sie langsam und grub die Zähne in ihr Sandwich. Sie hatte ein feingeschnittenes, hübsches Gesicht und weichfallendes Haar. Ihr Mantel stand offen, und darunter deuteten sich ihre kleinen Brüste unter dem weiten Pullover an. Die Sonne schien auf ihr blasses Großstadtgesicht. »Was denn, Josie?« »Dangerous, ist dir die Sache w i r k l i c h wichtig?« »Ja.« »Warum? Ich meine, warum gerade jetzt? Diesen ganzen Blödsinn, von wegen, jemand im Gefängnis hat etwas Neues gesagt, den glaube ich ganz einfach nicht, selbst wenn meine Mutter es tut.« »Ich hab' es eben nicht gern, wenn eine Sache einfach aufgegeben wird«, verteidigte er sich. »Findest du nicht, daß ich es aufklären sollte?« Er zögerte. »Wenn ich kann.« »Wem soll das nützen, Dangerous?« fragte sie ruhig. Sie klappte ihr Sandwich auf und murmelte: »Ohne Gurke.« Dann wandte sie ihm das kleine Gesicht wieder zu. »Wer hat was davon? Etwa Celia oder meine Mutter? Oder tust du es für dich?« Ein Schuldgefühl durchzuckte ihn. » E s ist nicht für jemanden«, widersprach er. »Das einzige, was mich interessiert, ist, daß ein Mensch immer noch unbehelligt herumläuft, der Blut an den Händen hat.« »Getrocknetes Blut«, verbesserte sie. » E r erinnert sich vielleicht schon gar nicht mehr daran. Hast du schon mal einen Mordfall bearbeitet?« »Nein.« Er mochte sie nicht ansehen. »Das ist der erste.« »Hat der Inspector - oder wie dein Vorgesetzter heißt - dir den Auftrag gegeben? Oder machst du das auf eigene Faust?« » E s war meine Entscheidung«, murmelte er. Er drehte sein Butterbrot in der Hand herum und wählte sorgfältig die Stelle, an der er zubeißen wollte. »Das hab' ich mir gedacht. Es ist also so etwas wie ein Hobby.«
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Das hatte auch Pater Harvey gesagt. Das Wort zum zweiten Mal zu hören, verletzte ihn. » E s ist kein Hobby«, sagte er wütend. »Ich werde herausfinden, wer Celia getötet hat.« »Reg dich bloß wieder ab«, sagte Josie. Sie sah ihn ruhig an. »Ich frage mich ja nur, ob jemand was davon hat. Ich möchte am liebsten nichts damit zu tun haben, das kann ich dir gleich sagen. Aber meine Mum denkt, du könntest etwas erreichen.« Sie blickte auf und griff nach seinem Arm. »Mein Gott«, rief sie, »das kleine Boot ist gekentert, Dangerous. Da schwimmt einer im Wasser.« »Das machen sie mit Absicht«, antwortete Davies, der aufschaute. »Die Leute rufen uns an - und die Feuerwehr und Gott weiß wen sonst. Wir sagen ihnen dann immer, sie sollen sich keine Sorgen machen, es gehört einfach zum Segeln dazu. Die Segler finden es toll.« » D i e laßt ihr also in Ruhe«, sagte sie anzüglich. »So ist es. Aber eines Tages ertrinkt einer dabei, dann gibt's ein großes Geschrei, und alle fragen, warum wir nichts unternommen haben.« Sie seufzte und warf den Rest ihrer Brotscheibe einem hungrigen Vogel hin. Der Piepmatz flog erschrocken weg und kam dann scheu zurück; er konnte sein Glück kaum fassen. »Wie weit bist du denn gekommen?« fragte sie. »Hast du schon was gefunden?« »Nur Kleinigkeiten. Es wird eine Weile dauern. Willst du mir helfen?« Sie löste ihren Blick von dem Vogel. »Na gut. Aber link nicht meine Mutter. Das hat man mit ihr 25 Jahre lang gemacht.« Sie zögerte, ob sie weitersprechen sollte. »Sogar jetzt noch - ich weiß, es klingt verrückt-, aber sie glaubt anscheinend jetzt noch, du könntest ihr Celia zurückgeben - und zwar lebendig.« »Mein Gott, nein.« »Mein Gott, doch«, sagte sie. »Merkst du, worauf ich hinaus will? Ich war immer nur eine Art Ersatz für sie, verstehst du? So etwas wie eine Zweitausgabe von Celia. Sie bekam zwar bald nach Celias Tod noch ein Baby, aber es kam tot zur Welt. Das war auch nicht gerade ein Trost.« »Kann ich mir denken«, nickte Davies. Der Segler hatte sein Boot wieder aufgerichtet und kletterte hinein. Er trug gelbes Ölzeug und eine Schwimmweste. Davies sagte: »Du hast vorhin eine seltsame Bemerkung über deine Mutter g e m a c h t . . . «
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»Daß Celia ihr Lebensinhalt ist? Ja, ich weiß, es klingt komisch, aber es sieht wirklich manchmal so aus. Wenn das nicht passiert wäre, dann wäre Celia eines Tages erwachsen gewesen, hätte geheiratet und wäre von zu Hause weggegangen wie jeder normale Mensch. In gewisser Beziehung hat meine Mutter eine engere Beziehung zu ihr, seit sie tot ist. Wenn sie tot ist. Ich kann mich anstrengen, so viel ich will, Dangerous, ich werde doch nie ihren Platz ausfüllen.« Er berührte ihre Hand mit dem angebissenen Butterbrot. »Ich verstehe.« Sie lächelte kindlich zurück. Noch immer wärmte die Sonne ihre Gesichter. »Schade, daß du Celia nicht gekannt hast«, meinte er. »Nicht gekannt!« Sie lachte bitter. »Ich hab' mein ganzes Leben mit ihr zugebracht, Kumpel.« »Du magst sie nicht besonders gern, oder?« »Da gibt's niemanden zum Gernhaben oder Hassen. Ein Gespenst kann man nicht lieben. Ich habe sie nie gesehen, nie sprechen hören, für mich ist sie nur ein Name. Aber ein Name, der ständig auftaucht, wenn du weißt, was ich meine. Wenn meine Mutter tauschen könnte, würde sie Celia haben wollen und nicht mich. Damit muß ich leben, verstehst du.« Davies nickte. »Ich verstehe«, sagte er wieder. Und nach einer Pause: »Glaubst du, daß deine Mum weiß, wer es getan hat?« »Ich glaube, sie meint, sie wüßte es.« Josie wischte sich ein Bohnenstückchen vom Kinn. »Zum Beispiel Cecil Ramscar?« »Sie hat nie etwas davon gesagt.« »Und was glaubst du?« »Weiß der Himmel. Ich war vor 25 Jahren noch nicht dabei. Aber er schon. Er hat ja einen Kranz geschickt.«
Kapitel 7
A
uf dem Rückweg zum Revier dachte er über Ramscar nach. Als er dort ankam, entdeckte er, daß jemand den Aktenordner in den Schrank mit den Teebeuteln, den Trophäen von Polizeisportfeten und den Kanistern mit Tränengas eingeschlossen hatte. Den Schlüssel hatte ein Kollege eingesteckt, der sich gerade beim Gericht aufhielt. Davies ging gleich hinüber. Das Gericht hatte an diesem Tag viel zu tun; wie üblich waren eine Menge Leute mit Einkaufskörben, Taschen und erwartungsfrohen Mienen erschienen, um eine Weile zuzuhören. Davies stahl sich so leise wie möglich hinein, stolperte aber sogleich über eine Schubkarre, die als Beweisstück für den gerade anstehenden Fall herumstand. Alle drehten sich nach ihm um. Die Zuschauer lachten, die Polizisten und Richter seufzten, und der Mann auf der Anklagebank riß erstaunt den Mund auf. Peinlich berührt erkannte Davies ihn wieder: Es war der Mann, dem er neulich mitten in der Nacht geholfen hatte, einen Sack voll Gemüse über die Gartenhecke zu wuchten. Er verdrückte sich zur Seite, wo der Beschuldigte ihn nicht sehen konnte. Der Angeklagte wurde gerade in den Zeugenstand gebracht, um in seiner Sache auszusagen. Während er mit biederer Stimme die Eidesformel vorlas, blickte Davies sich suchend nach dem Sergeant um, der den Schrankschlüssel in der Tasche haben mußte. Der Kollege saß am Ende einer Reihe von Polizisten, die alle darauf warteten, im Laufe des Nachmittags als Zeugen aufgerufen zu werden. Darum bemüht, nicht zu stören, schlich Davies geduckt wie ein Soldat durchs feindliche Feuer zu dem Sergeant hin, ging neben ihm in die Knie und bat ihn flüsternd um den Schlüssel. Plötzlich bemerkte er, daß es ringsum still geworden war und die Götter am Richtertisch mißbilligend auf ihn herabsahen. Publikum und Zeugen waren aufgesprungen, um einen Blick auf den Zwerg in dem aufgebauschten Regenmantel zu erhaschen, der so auffällig unauffällig durch den Raum gehuscht war.
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»Sie sind doch Mr. Davies?« fragte der Vorsitzende, der genau wußte, daß dem so war. »Jawohl, Euer Ehren«, erwiderte Davies, immer noch am Boden hockend. »Dauert es noch lange?« »Nein, Sir. Verzeihung, Sir. Es geht nur um den Schlüssel zum Schrank im Polizeirevier.« Er sah den uniformierten Sergeant flehend an, der in seinen Taschen wühlte und schließlich den Schlüssel zum Vorschein brachte. Davies trat immer noch gebückt den Rückweg durch den Saal an. »Mr. Davies«, rief der Vorsitzende. »Sie brauchen wirklich nicht weiter den Glöckner von Notre Dame zu spielen. Sie können gehen wie ein normaler Mensch.« Gelächter erhob sich. Davies, der am liebsten im Boden versunken wäre, richtete sich in voller Länge auf und verbeugte sich vor dem Richtertisch. Dann tat er einen Schritt zurück und wäre über die Schubkarre gestolpert, hätte ihn nicht eine Hand am Kragen gepackt und ihn gezwungen, sich auf einen leeren Stuhl zu setzen. »Setzen Sie sich«, zischte der Gerichtsdiener wütend, »setzen Sie sich bloß hin.« Davies sank erleichtert auf den Sitz. Der Prozeß wurde fortgesetzt. Der Beschuldigte appellierte an die Gefühle des Gerichts. »Eure Lordschaft, die Parzelle hat immer der Familie gehört. Mein Vater und mein Großvater haben sie besessen. Dann ich. Es war wie ein heiliges Vermächtnis. Ich hab' sie übernommen - um der Tradition willen-, aber dann wurde ich krank und hatte monatelang nur das Krankengeld und konnte die Pacht nicht zahlen. Und da kommt die Stadt und nimmt sie mir einfach weg. Nach so langer Z e i t . . . « Davies ertappte sich dabei, wie er teilnahmsvoll nickte. »Mein Stück Land«, schluchzte der Angeklagte, »sie haben es einfach einem anderen gegeben.« Der Vorsitzende beugte sich vor. »Und Sie glauben also, das gibt Ihnen das Recht, in der Nacht die Beete abzuernten?« »Ich hab' sie doch selbst gedüngt«, grollte der Mann. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Gerichtssaals, und ein verspäteter Zeuge wurde eingelassen. Davies, vom Wachtmeister durch einen Rippenstoß ermuntert, ergriff die Gelegenheit, hinauszuschlüpfen, während der Gartengauner wieder seinen Platz auf der Anklagebank einnahm. Ohne recht zu wissen,
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weshalb, bedachte Davies ihn mit einem langen, nachdenklichen Abschiedsblick. Als Davies zur Revierwache zurückkehrte, war der Eingang von einem Haufen aufgeregter Jungen verstopft. Sie stritten sich lauthals um den Besitz einer Schildkröte, die unbeteiligt auf dem Tresen herumkroch. Der Sergeant vom Dienst stoppte den Lärm mit einem einzigen scharfen Kommando. Davies zog unwillkürlich die Schultern ein. »Also - wer hat das Mistvieh zuerst gefunden?« wollte der Sergeant wissen, worauf der Tumult wieder losging. Durch den Lärm hindurch rief er Davies zu: »Der Yard hat noch einige Akten über Ramscar geschickt, Dangerous. Du sollst sie dir ansehen und dann zu Yardbird raufgehen. Sie sind in deinem Fach.« Davies kämpfte sich durch die rangelnde Horde hindurch. Ein paar von den Kleineren hatten angefangen zu weinen. Er machte die Tür des Büroraums hinter sich zu. Ein Polizist, der seit Menschengedenken nur den Verkehr geregelt hatte, saß am Tisch und beugte sich kauend über den Packen Pornofotos, den Detective Sergeant Myers so gründlich untersucht hatte. »Hallo, hallo, hallo«, sagte Davies herzlich. »Immer eifrig den Verkehrssündern auf der Spur, was?« Der Kollege grinste verlegen, stand aber auf und legte die Bilder in ihre Schachtel zurück. »Ihr hier habt's gut, Dangerous«, seufzte er. »Ich krieg' den lieben langen Tag nichts zu sehen als die beschissenen Autofahrer und Kindergartentanten.« Betrübt schlurfte er hinaus. Davies nahm die neue RamscarAkte aus seinem Fach und öffnete sie. Sie enthielt Berichte und Fotos aus Australien und Amerika. Er blätterte das Material gewissenhaft durch, überflog den Text und vertiefte sich in die Fotografien, auf denen Ramscar im Laufe der Jahre immer dicker und augenscheinlich wohlhabender wurde. Ein einzelnes Foto befand sich in einem Umschlag mit der Aufschrift: Zurück ans Kriminalarchiv New Scotland Yard, London. Es war ein Hochzeitsbild von Ramscar. Davies versuchte einen Pfiff durch die Zähne - ein Kunststück, das ihm meistens mißlang; er brachte auch jetzt nur ein schwaches Zischen zustande. Das Bild trug auf der Rückseite ein Datum: 14. Mai 1965. Davies drehte es langsam wieder um. Die Aufnahme zeigte eine unbewegliche, von den Füßen bis zum Lächeln in Posen erstarrte
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Hochzeitsgruppe. In der Mitte stand Ramscar, ein Mann in den Dreißigern, mit einer stattlichen Blondine am Arm, deren Brautstrauß, Hut und Frisur von einem stürmischen Luftzug gezaust wurden. Die Hosenbeine der Männer standen steif wie Fahnen im Wind. Ramscar hatte nicht nur eine Blume im Knopfloch, sondern hielt auch schelmisch eine zwischen den Zähnen. Rundherum gruppierte sich eine Clique aus der Londoner Unterwelt mit ihren Damen, darunter auch Mrs. Norris. Sie stand mit gleichgültigem Gesichtsausdruck neben einem unscheinbaren Mann, der - wie er zu Recht annahm - Albert Norris war. Im Vordergrund stand eine zierliche Kleine mit einem Häubchen, die einen Blumenstrauß in der Hand hielt und verlegen grinste, wie kleine Mädchen es bei Hochzeiten zu tun pflegen. Zuerst achtete Davies kaum auf sie, dann sah er genau hin und betrachtete das Foto noch einmal unter dem Vergrößerungsglas, das er sich wieder ausgeliehen hatte. Kein Zweifel - es war Josie. Nach einer Weile klappte er den Aktenordner zu und brachte ihn vier Treppen hoch zu Inspector Yardbird. Er klopfte an und mußte volle zwei Minuten warten, bis Yardbird antwortete. Der Inspector hatte am Fenster gestanden, wie man an der frischen Zigarettenasche auf dem Fußboden erkennen konnte; auf dem Flachdach des Studentinnenheims stand eine junge Frau und blickte auf die Straße hinunter. Inzwischen saß Yardbird wieder an seinem Schreibtisch und tat so, als sei er in seine Schreibarbeit vertieft. »Ramscars neue Akte, Sir«, sagte Davies und legte die Mappe auf den Rand des Schreibtischs. »Ich habe sie durchgesehen.« »Na und, irgendwas Neues?« Yardbird blickte von dem Bericht, den er so geflissentlich schrieb, kaum auf. »Das eine oder andere.« Davies zuckte die Achseln. »Ich habe schon eine ziemlich genaue Vorstellung von ihm. Jetzt brauche ich ihn nur noch zu finden.« »Das war's, was Sie von Anfang an sollten, Davies. Sie müssen ja nicht seine Lebensgeschichte schreiben, wir wollen nur wissen, wo er steckt«, sagte Yardbird mit gleichgültiger Bissigkeit. »Ich habe Erkundigungen eingezogen, Sir. Nach allen Seiten. Es sollte nicht mehr allzulange dauern, bis ich ihm über den
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Weg laufe.« Er machte eine Pause und entschloß sich dann, weiterzureden, obwohl Yardbird immer noch schrieb und seine Augen auf den Bericht geheftet hatte. » E r hat praktisch überall Ärger gemacht, wo er auftauchte.« »Wie wir wissen«, seufzte Yardbird. »Alle möglichen schmutzigen Sachen. Das hab' ich Ihnen doch schon ganz am Anfang gesagt.« Davies stand auf und nahm die Mappe wieder an sich. »Dann behalte ich dies noch, zusammen mit unseren eigenen Akten. Da steht genügend drin, um ihn an den Galgen zu bringen.« Endlich blickte Yardbird auf. »Was reden Sie denn da, Davies?« fragte er seufzend. »Mein Gott, Sie sind manchmal so geschwätzig wie ein altes Weib. Sehen Sie nicht, daß ich bis über die Ohren in Arbeit stecke?« »Verzeihung«, sagte Davies und ging auf die Türe zu. »Was war das überhaupt? Was haben Sie gerade gesagt?« Für die Antwort, die ihm herausrutschte, hätte Davies sich später am liebsten geohrfeigt. » E r war schon einmal fast reif für den Galgen. Erinnern Sie sich an den Mordfall Norris?« »Mordfall? . . . was für ein Mord?« »Norris, Celia Norris. 17 Jahre. Juli 1951. Niemals aufgeklärt.« Yardbird legte den Stift hin. »Jetzt hören Sie mal zu, Davies«, sagte er gereizt. »Hören Sie verdammt noch mal auf, wieder alles durcheinanderzubringen. Ich habe Sie losgeschickt, um eine Person ausfindig zu machen, und nicht, damit Sie die Weltgeschichte neu schreiben. Ich hatte ja gleich meine Zweifel, ob Sie der Sache mit Ramscar gewachsen sein würden; ich sehe jetzt, wie recht ich damit hatte.« »Nein, Sir«, protestierte Davies. »Ich werde Ramscar finden.« »Also gut, Mann, dann finden Sie ihn. Machen Sie, daß Sie loskommen, und finden Sie ihn! Und hören Sie auf, in der alten Scheiße herumzurühren, für die sich niemand mehr interessiert.« Davies schloß die Tür von außen. »Selber Scheiße«, murmelte er. »Zufällig interessiere ich mich dafür.« Der Nachmittag war reichlich kühl für jemanden, der strippen will. Davies tat die Frau auf der Bühne leid, die das übliche Ritual abspulte. Ihr Gesicht war leer, ihre Bewegungen nie ganz im Einklang mit der schrillen Musik, die irgendwo zwischen den farbigen Lämpchen, die die Vorstellung in ein trübes Licht tauchten, her-
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vorschallte. Das Publikum auf den zerschlissenen Stühlen war auch nicht gerade Spitzenklasse. Es bestand aus drei warm angezogenen Herren, die sich wie Maulwürfe in ihre Mäntel eingerollt hatten, und einem vierten, der behäbig schnarchte. Dann war da noch ein Fleischergeselle, dessen Lieferfahrrad Davies schon draußen aufgefallen war; er saß in seiner fleckigen, gestreiften Schürze da und taxierte die Frau fachmännisch. Außerdem sah Davies noch zwei langhaarige Jugendliche, die er schon mehrfach vor Gericht angetroffen hatte. Lediglich die Anwesenheit einer Rotkreuzschwester verwunderte Davies ein wenig. »Wozu ist die da? Für den Fall, daß jemand vor Aufregung in Ohnmacht fällt?« fragte Davies den Rausschmeißer. »Nö, das is' keine richtige Schwester. Die da könnte einem nicht mal 'n Pflaster auf den Hintern tun. Die is' 'ne Nummer in der Show.« »Was für eine Nummer denn? Vielleicht Mund-zu-Mund-Beatmung?« »Nö. Die zieht sich die Klamotten aus. Schwarze Strümpfe und so 'n Zeug. Schwestern-Strip is' 'n Knüller.« Er warf einen verächtlichen Blick in Richtung Publikum. Ein kleiner, farbloser Mann mit Affenarmen war ausgeschickt worden, Albert Norris zu suchen. Jetzt kam er zurück, trottete quer über die Bühne, wobei er fast mit dem ausschwenkenden Po der Künstlerin kollidierte, und näherte sich ihnen wie ein dressierter Schimpanse. »Abgehauen«, sagte er, »ab durch die Hintertür.« Davies drängte sich zwischen den apathischen Zuschauern hindurch, die aus ihrer schläfrigen Verzückung nicht einmal aufblickten, betrat rasch die Bühne mit einer entschuldigenden Verbeugung gegenüber der hüllenlosen Dame, und entdeckte den Ausgang direkt neben der wackligen Seitenkulisse. In der Eile schloß er die Türe nicht ganz, was mit lautem Gezeter der Stripperin quittiert wurde. »Tür zu! Mach doch die verdammte Tür zu!« Eine Entschuldigung murmelnd, drehte er sich noch einmal um, aber die Dame war ihm schon, nackt wie sie war, fast bis auf die Straße gefolgt, machte eine rüde Bemerkung und schmetterte die Tür zu. Er befand sich in einer Lieferantenzufahrt hinter mehreren Läden und sah gerade noch, wie Norris an deren Ende um die Ecke
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auf die Hauptstraße bog. Davies beschleunigte unauffällig seinen Schritt. Norris war zwar klein, aber in seinem karierten Mantel kaum zu übersehen. Als Davies in die Hauptstraße einbog, blickte Norris sich gerade um, um zu sehen, ob ihm jemand folgte. Er blieb stehen, betrat dann ein Kino und schloß sich einer Schlange von Senioren an, die sich wegen der verbilligten Karten für die Nachmittagsvorstellung an der Kasse angestellt hatten. Als Davies das Foyer erreichte, war Norris bereits drinnen. Davies löste eine Eintrittskarte. Im Vorführraum konnte er, nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die vielen leeren Sitze erkennen. Die Handvoll Zuschauer saß in der Mitte wie auf einer Insel zusammen - so als würden sie sich zum Schutz aneinanderdrängen. Davies schlich leise näher. Als er die kleine Kolonie erreichte, sah er, daß sie aus lauter alten Leuten bestand, die sich leise wiederkäuend mit entrückten Gesichtern dem Schauspiel widmeten, das jetzt auf der Leinwand begann. Die einzige Ausnahme war die karierte Gestalt von Albert Norris, die sofort ins Auge fiel. In der Reihe vor ihm war noch ein Sitz frei. Davies drängte sich an der Reihe von dürren, harten Knien und Händen vorbei und setzte sich auf den freien Platz. Dann drehte er sich um und sah Albert Norris an. »Können Sie gut sehen?« erkundigte er sich höflich. »Wozu läufst du mir nach?« fragte Norris grob. »Ruhe! Psst!« tönte der Chor der Alten. »Verzeihung«, entschuldigte Davies sich in die Runde. Er sah zwei Minuten lang dem Film zu, dann wandte er sich wieder an Norris, dem Wieselgesicht zwischen all den dünnen Kaninchengesichtern. »Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten«, flüsterte er. »Schsch!« »Pst!« »Haltet die Klappe«, empörten sich die alten Leute. Die Greisin, die neben Davies saß, stieß ihm ihren spitzen Ellbogen in die Rippen. Er blickte Norris unverwandt an. »Unterhalten?« fragte Norris. »Über was denn?« »Über alles mögliche. Zum Beispiel Ramscar.« Selbst im Halbdunkel war zu sehen, wie sich Norris' Ausdruck veränderte. Dann aber wurde Davies an der Schulter gepackt, und als er sich umdrehte, stand ein alter Mann mit wütendem Gesicht neben ihm; die Melone hing ihm schief und drohend auf dem Kopf.
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»Warum geht ihr Schwulis nicht und setzt euch woanders hin?« fragte er. »Müßt ihr hierher kommen und anständigen Menschen den Film verderben?« Ein Chor von entrüsteten Stimmen feuerte ihn von allen Seiten an. »Wenn ihr Händchen halten und Süßholz raspeln wollt, dann geht doch in den Park«, fuhr der Sprecher fort. »Wenn ihr euch jetzt nicht rausschert, werden wir nachhelfen.« »Jagt sie raus«, rief eine Stimme. »Komm, Liebling, gehen wir lieber«, sagte Davies laut. »Das soll wohl komisch sein«, erboste Norris sich. Er stand auf und zwängte sich zwischen den alten Herrschaften durch. Davies folgte ihm. Die Greise knufften sie und droschen mit Stöcken und Regenschirmen auf sie ein. »Tunten!« »Warme Brüder!« Davies legte zärtlich den Arm um Norris' Taille, während ihnen die altmodischen Schimpfwörter nachgerufen wurden. Norris schüttelte ihn wütend ab. Von Zischeln und Kichern begleitet, gingen sie zum Ausgang. Sie marschierten mit einem Abstand von einem Meter - wie Freunde, die sich gestritten haben - den Fußweg am Kanal entlang. Es dämmerte allmählich, und die Häuser und Hinterhöfe der Läden und kleinen Fabriken auf beiden Ufern bildeten eine düstere Kulisse. »Wo ist Ramscar?« fragte Davies. »Woher zum Teufel soll ich das wissen?« gab Norris zurück. Davies fand, daß Josie außer der geringen Körpergröße nichts von ihrem Vater geerbt hatte. Seine Augen hatten einen stechenden Blick. Davies starrte auf das trübe Wasser des Kanals. Norris sagte: »Wenn Sie nicht aufhören, mich und meine Frau und meine Tochter zu belästigen, dann werde ich mich über Sie beschweren. Auch ein Bulle darf die Leute nicht einfach schikanieren, oder hat man Ihnen das nicht beigebracht?« »Schikanieren?« sagte Davies langsam. »Schikanieren? Dies ist das erste Mal, daß Sie mich mit Ihrer Gesellschaft beehren, Mr. Norris.« »Aber Sie haben sich schon an meine Frau herangemacht und an Josie. Ich höre ja, was da läuft. Und mir gefällt das verdammt
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noch mal ganz und gar nicht. Ich bin raus aus allem, ich hab' schon zwei Jahre lang kein Ding mehr gedreht. Nein, stimmt nicht, es sind jetzt schon vier Jahre. Sie haben also keinen Grund...« »Dann wissen Sie also, worum es mir geht?« »Um unsere Celia, meinen Sie«, sagte Norris. Er wandte Davies sein hartes, schmales Gesicht zu. »Sie ist nun mal tot, und keiner weiß, wer's getan hat. Also kommen Sie mir nicht mit dem Quatsch, daß die ganze alte Geschichte wieder aufgerührt werden soll. Es ist verdammt grausam, ja ekelhaft, was ihr Bullen euch manchmal so leistet.« »Hat Ramscar es getan?« fragte Davies ruhig. »Herrgott, nein. Nein, nein, nein. Er war's nicht.« Norris war stehengeblieben und packte Davies heftig am Ärmel. »Nun hören Sie mal zu, Freundchen. Es war nicht Ramscar. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Er war in Newmarket. Denken Sie, ich hätte das verschwiegen? Sie war schließlich meine Tochter!« Davies sah aufmerksam in das verbitterte Gesicht. »Wo ist Ramscar jetzt?« fragte er. Norris setzte sich ärgerlich wieder in Bewegung. »Ich sag' Ihnen doch, ich weiß es nicht. Er hat sich vor Jahren ins Ausland abgesetzt. Man sollte denken, das hätte inzwischen sogar die Polizei mitgekriegt.« »Ich habe gehört, er ist wieder da«, gab Davies zurück. Auf dem Kanal schwamm eine Ente g e l a s s e n umher und kreuzte mit ihrem Partner im Kielwasser unter der Brücke durch. Davies fragte sich, ob Enten jemals kalte Füße bekommen. »Gut, dann wissen Sie mehr als ich«, sagte Norris. »Ich hab' nichts von ihm gehört. Fragen Sie besser jemand anderen als gerade mich.« »Was ist aus seiner Frau geworden?« fragte Davies. Norris war ehrlich erstaunt. »Seiner Frau? Allmächtiger Gott, das dauerte doch nur einen Monat. Zum Kuckuck, die Frau - die hatte ich total vergesssen. Gott weiß, wo sie abgeblieben ist. Ich jedenfalls nicht.« »Wie hieß sie?« Norris blieb stehen und hielt die schmalen Hände mit den Handflächen nach oben. »Weiß ich nicht, Mr. Davies, weiß ich nicht. Elsie oder Mary oder so, ich weiß es nicht mehr. Ich kannte sie kaum. Es ist schließlich eine beschissene Ewigkeit her.«
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» 1 4 . Mai 1965«, sagte Davies nachdrücklich, aber zu seiner Enttäuschung machte die präzise Zeitangabe auf Norris keinen Eindruck. Alles, was er sagte, war: »Kann gut sein.« »Was machte sie, diese Elsie oder Mary? Wovon lebte sie?« »Gütiger Himmel, das weiß ich doch nicht. Wenn ich es gewußt habe, hab' ich es vergessen.« »Ging sie auf den Strich?« Norris überlegte. »Nein, bestimmt nicht. In dieser Hinsicht war Cecil anspruchsvoll.« Er blieb abrupt stehen, als sei ihm plötzlich klargeworden, daß er zuviel redete. Sie waren an der Stelle angelangt, wo die gewölbte Brücke mit der Lampe sich über den Kanal spannte und in der anderen Richtung die enge Gasse zum Pfandhaus und zum Massagesalon in der High Street führte. Es war der ideale Platz, um eine Pause zu machen. Sie gingen auf die Brücke und schauten auf die wenig einladende Wasserfläche hinab. »Warum hat Ramscar einen Kranz geschickt?« fragte Davies. Norris nickte schwach. »Meine Alte vermutlich. Oder Josie. Eine von beiden hat geplappert.« »Warum der Kranz?« »Sie sind so superschlau, Sie mit Ihren bescheuerten Fragen und Antworten. Cecil wollte keinen Kranz schicken. Er ist ja nicht blöd. Er hatte einen anderen Typ, einen verkifften Trottel namens Rickett, beauftragt, ein paar Blumen zu schicken. Aus Mitgefühl, so wie man jemandem Blumen schickt, wenn man ihn aufmuntern will. Cecil wollte bloß nett sein, und Rickett sollte sie halt schicken. Aber dieser Blödmann hat sich besoffen und aus Versehen einen Kranz geschickt. Cecil war sauwütend und ließ Rickett aufmischen.« »Aufmischen?« »Aussortieren. Der kann heute nicht mehr richtig gehen.« »Mr. Norris«, sagte Davies, »bitte berichten Sie mir jetzt der Reihe nach, was an dem Tag passierte, als Celia verschwand.« Norris sank in sich zusammen. »Ach du mein Gott, ist das wirklich nötig?« stöhnte er. »Sie haben das doch alles schon von meiner Frau gehört. Ich hätte ja nicht mal was dagegen, wenn es Ihnen wirklich um unsre Celia ginge. Aber Sie schnüffeln ja nach was ganz anderem herum. Ich weiß das, Freundchen, ich weiß das.« Davies machte eine abwehrende Bewegung. »Ich ermittle im Fall der vermißten und wahrscheinlich ermordeten Celia Norris«, sagte er förmlich. »Sagen Sie mir jetzt bitte, was sich an dem Tag abspielte.«
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Norris stützte sich auf das Brückengeländer und stierte ins Wasser, als gäbe es da etwas zu sehen. »Was geschah an dem Tag?« »Also, ich arbeitete damals für eine Autofirma. Im Westend«, sagte Norris widerwillig. »Ich sah sie noch am Morgen, kurz bevor ich zur Arbeit mußte, und danach nie wieder. Das ist alles. Ich hab' das damals alles den Bullen erzählt. Aber die haben ja nie richtig gesucht, oder?« Seine Stimme war leiser geworden, und die letzten Worte flüsterte er beinahe. Davies sagte: »Wir haben noch nicht aufgegeben. Deshalb muß ich Ramscar sprechen.« »Also doch«, sagte Norris, dessen Mißtrauen sofort wieder geweckt worden war. »Sie wollen um jeden Preis Cecil finden. Ist das Ganze nicht vielleicht nur ein schlauer Plan von einem Bullen, wie man an Cecil herankommt, was? Sie sind wohl nicht zufällig hinter ihm her und benutzen dazu unsere Celia?« Überrascht bemerkte Davies, wie Norris' magere Gestalt aus der Fassung geriet. Sein Gesicht zitterte. Er wendete sich jäh ab, beugte sich über die Brüstung, legte den Kopf in die Armbeuge und weinte. Davies trat verlegen einen Schritt zurück. Er streckte zaghaft eine Hand aus und zog sie wieder zurück. Norris schluchzte immer noch. Ein kleines Mädchen und ein etwas älterer Junge tauchten auf dem Fußweg auf und kamen auf die Brücke zu. Als sie Norris erblickten, blieben sie neugierig stehen, um ihn zu beobachten. Davies machte abwehrende Gesten mit der Hand, aber sie ließen sich davon nicht beeindrucken. »Was ist mit dem da los, Mister?« fragte der Junge. Das Mädchen hatte sich unter Norris' schmerzgebeugte Gestalt gekauert, um von unten in sein Gesicht zu spähen. Es war beinahe so, als ob sie in einen Kamin hinaufschaute. » E r ist traurig«, murmelte Davies. »Geht endlich weiter.« »Warum ist er traurig?« wollte das Mädchen wissen. Sie war kleiner als der Junge, ihr Gesicht war mit Marmelade verschmiert, und sie sah sehr bestimmt aus. Davies zuckte die Achseln. » E r hat etwas Wertvolles im Kanal verloren«, sagte er, ohne nachzudenken. Norris richtete sich langsam auf. Seine Augen waren rot, das Gesicht tränenfeucht und verquollen. »Sie finden das wohl zum Lachen?« sagte er. »Typisch Bulle.«
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Kapitel 8
G
ladstone Heights war eine hübsche Wohngegend auf einem steilabfallenden Hügel oberhalb des Stadtteils. Die am Hang errichteten Wohnblocks verfügten über eine schöne Aussicht, und als müßte dieser Vorzug gefeiert werden, ließen die Hausfrauen ihre Wäsche hoch oben in der - beinahe - sauberen Luft wie Fahnen und Wimpel flattern. Drunten sah man die Straßen, die fächerförmig zusammenliefen; man sah den Kanal, eine mattschimmernde Klinge, die die Stadtlandschaft durchschnitt, die zusammengeduckten Häuser auf beiden Seiten und die Fabriken, wo Plastik, Schmiedeeisen und Stahl, Farbe und Düngemittel, Kosmetika und Bohnen in Dosen gemacht wurden. Da unten wurde unbarmherzig geschuftet, und jeder Schornstein schickte skrupellos seine eigenen Qualmwölkchen in den Himmel. Über dem Ganzen vollführten die Staubkörnchen ihren Tanz in der Luft. Man konnte die Mietwohnungen nur über einen steilen Fußweg erreichen, da die Straße - mit Rücksicht auf die Natur - ziemlich weit unten aufhörte. Davies ließ den Lagonda mit Kitty auf dem Parkplatz zurück und begann den Aufstieg. Vornübergebeugt wie ein hochgewachsener Sherpa nahm er den Asphaltberg in Angriff. Die Aussicht wurde mit jedem Schritt beeindruckender. Angeblich kam Mr. Gladstone in seiner Amtszeit als Premierminister gern hierher, um seelische Erquickung und ländliche Erfrischungen zu genießen. Heute fingen die Wiesen und Bäume erst etwa 16 Kilometer weiter entfernt an. Ena und William Lind wohnten im am höchsten gelegenen Block. Es war schon Davies' zweiter Aufstieg. Das erste Mal hatte er in der Wohnung niemanden angetroffen und enttäuscht den steilen Rückweg angetreten, wobei er sich ausmalte, daß ein Wärterhäuschen unten mit Telefonverbindung zum Gipfel eine lohnende Investition für den Steuerzahler wäre.
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Dieses Mal war er wenigstens sicher, jemanden anzutreffen, weil er sich die Lage der fraglichen Fenster an der hochragenden Wand gemerkt hatte und jetzt sehen konnte, daß sie einem freundlichen Leuchtturm gleich ein Licht aussandten. Von dort oben könnte man gut Lichtsignale hinunter in die Stadt schicken, dachte Davies. Zum Ausgleich für den anstrengenden Fußmarsch gab es in jedem Wohnblock einen Fahrstuhl. Dankbar wartete Davies im Erdgeschoß. Mit ihm wartete ein Mann, der sich darüber beschwerte, daß der Wind durch die Türen und Gänge blies. »Da oben kann man manchmal den Wind in den Hosenbeinen pfeifen hören, aber echt«, jammerte er. »Da zieht es in jeder Ecke. Was für eine Zumutung für zivilisierte Menschen, ich bitte Sie.« » E s ist halt sehr hoch oben«, stimmte Davies zu. »Stellen Sie sich mal auf den Berg mit dem Gesicht nach Osten, dann kommt der Wind direkt aus Rußland und kriecht Ihnen die Beine hoch. Da liegt kein höherer Berg mehr zwischen uns und dem Ural. Und an solch einen Ort verfrachten sie uns.« Der Fahrstuhl, eine Art blecherner Keksschachtel, kam herunter und öffnete sich. Eine Frau mit Einkaufstasche kam heraus und schlug den Mantelkragen hoch, bevor sie sich ins Freie wagte. Sie erwiderte den Gruß des alten Mannes, war aber wegen des Kragens kaum zu verstehen. »Das war wohl nicht zufällig Mrs. Lind, oder?« fragte Davies auf halber Höhe im Lift. »Mrs. Lind? Nein, das war Mrs. Cotter. Mrs. Lind - die ist was Besseres.« Der alte Herr sah ihn mit einer Spur von Interesse an. »So, so, Sie wollen Mrs. Lind besuchen.« »Ja.« »Viertes Stockwerk, Nummer 36.« Davies bedankte sich und stieg im vierten Stock aus. Als letztes hörte er den Mann murmeln: »Möcht' ich auch mal.« Trotzdem war Davies überrascht, als auf sein Klingeln hin die Tür von einer Frau in einem leopardengemusterten Hosenanzug geöffnet wurde. Ihr Gesicht war sorgfältig zurechtgemacht und ihr blondes Haar wie eine Sahnetorte aufgeschichtet. In einer Hand hielt sie ein großes Glas Pfefferminzlikör, unter dem anderen Arm klemmte eine Nummer der V O G U E . Aus dem Inneren der Wohnung wehten ihm ein intensiver, aber unaufdringlicher
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Parfümduft und Töne von Elgars Musik entgegen. Es war elf Uhr morgens, ein Montag. »Oh, hallo«, sagte sie. »Kann ich etwas für Sie tun?« Ihr Akzent war ein gemäßigtes Cockney. »Unter Umständen ja.« Davies bemühte sich um eine gepflegtere Sprache als sonst. »Ich bin Detective Constable Davies. Dürfte ich ein wenig von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen?« »Ein Detektiv? Aber das ist ja unheimlich aufregend!« Sie schaffte es, ihren überraschten Ausruf mit einem Schnurren zu unterlegen, das an eine Katze erinnerte. Es folgte eine schnelle, wohlgeübte Serie von Bewegungen. Sie ließ ihn ein, streckte den Kopf aus der Tür, warf kurze Blicke nach rechts und nach links und zog dann schnell die Tür hinter sich zu. Sie sah, daß er sie beobachtet hatte. »Werde ich verfolgt?« fragte er, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen. Sie lachte tief und kehlig. »Sozialer Wohnungsbau«, sagte sie. »Hier weiß man nie, wer seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckt.« Sie führte ihn herein. Er war überrascht. Alles war lindgrün. Die Wände, die tonnenschweren Vorhänge, die schwellenden Sitzpolster, der Teppichboden. Auf dem Sofa lag eine grüne Katze. »Wir nennen es das Grüne Zimmer«, erklärte sie. »Möchten Sie einen Crème de menthe?« »Hm.« Davies zögerte. »Doch, ja gern. Es ist zwar ein bißchen früh in der Woche, a b e r . . . « » E s ist niemals zu früh«, lächelte sie und öffnete ein Cocktailschränkchen, dessen Beleuchtung nebst Musik sich dabei von selbst einschaltete. »Ich liebe die Grüne Göttin.« »Sehr hübsch«, stimmte Davies wenig überzeugend zu. Ein Farbfernseher in einem grünen Gehäuse stand in einer Ecke, neben dem Cocktailmöbel sah er einen Stereoturm. Er blickte sich nach den Lautsprechern um, aber sie waren geschickt verborgen. »Elgar ist so geheimnisvoll, finde ich«, sagte sie, als sie mit den Gläsern hereinkam und dabei mit dem Kopf in Richtung Musik nickte. » J a , das ist er wohl. Beziehungsweise, er war es.« » E r ist es. Ich sitze hier und höre ihm zu, höre nur zu und frage mich, was er uns sagen will.« »Mein ganzes Leben ist so.«
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»Ach ja, Ihr Leben als Polizist.« Sie rückte näher heran und reichte ihm sein grünes Glas. Er spürte die Wärme ihres Körpers. »Legen Sie doch Ihren Mantel ab«, sagte sie. »Ich hab' es gern warm und gemütlich hier drinnen. Die Zentralheizung muß man ganz weit aufdrehen, wenn man überhaupt etwas davon spüren will.« Er schälte sich aus seinem unförmigen Mantel, unter dessen Gewicht sie beinahe ins Stolpern kam, als sie ihn ins Schlafzimmer brachte, das durch die geöffnete Tür hindurch ganz in Rosa schimmerte. »Hat jemand Sie beim Heraufkommen gesehen?« rief sie. »Ein älterer Herr und eine Frau mit Einkaufskorb.« Sie schnalzte mit der Zunge und kam wieder herein. »Die sind schrecklich neugierig, wissen Sie. Haben Sie ihnen gesagt, daß Sie zu mir wollten?« »Hm, ja: dem Mann. Als er mir den Weg zeigte. Komischer alter Knabe. Behauptete, der Wind käme geradewegs vom Ural.« »Also Mr. Bentley«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Der alte Affe. Entschuldigung, aber wirklich! Redet daher wie ein Professor, dabei hat er eigentlich gar keine Ahnung. Geradewegs vom Ural! Was ist übrigens ein Ural?« »Ein Gebirge in Rußland, soviel ich weiß.« »Dann hat er vielleicht sogar recht«, räumte sie ein. »Ich habe seine Frau davon sprechen hören, aber sie ist strohdumm, richtig bescheuert, wenn Sie bitte nochmals entschuldigen. Sie sagte, der Wind käme vom Urinal. Also der hat Sie gesehen.« »Leider j a . « »Dann weiß es heute abend das ganze Haus. Hier gibt's keine Privatsphäre. Aber warum setzen wir uns nicht? Mach Platz, Lindy!« Sie schob die Katze unsanft zur Seite. »Lindy - ein passender Name«, meinte Davies. Er zögerte. »Eine lindgrüne Katze habe ich noch nie gesehen.« » E r ist ein Kater. Kostet eine Stange Geld, ihn färben zu lassen«, seufzte sie. »Aber man hat einen Gesprächsstoff, wenn Gäste zum Essen kommen.« »Kann ich mir vorstellen«, sagte Davies. Er trank sein Glas aus. Sie war ihm auf dem Sofa ziemlich nahegerückt. Er saß mit den Händen auf den Knien da wie im Eisenbahnabteil. »Vielleicht sollte ich erklären, weswegen ich hier bin«, sagte er. »Ach j a ? « sagte sie, als wäre das nicht wichtig. Sie lächelte gewinnend, als er sich halb zu ihr umwandte. Ihre Zähne waren glatt
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und raubtierähnlich, eine weiße Ausgabe ihrer Fingernägel. »Ich habe keine Angst«, fügte sie hinzu. »Ich weiß ja, ich hab' keine Sünden begangen. Jedenfalls nicht in dem Sinn, daß es die Polizei interessieren würde.« Sie beugte sich so plötzlich vor, daß ihre schweren Brüste, die in dem Oberteil des Hosenanzugs kaum Platz hatten, sich nach vorn drängten, als wollten auch sie ihn anschauen. »Mein Mann hat doch wohl nichts angestellt?« »Keine Bange, er hat keine Scherereien.« »Das dachte ich mir«, sagte sie enttäuscht. » E r ist gar nicht imstande, Scherereien zu machen. Worum geht es denn dann?« »Erinnern Sie sich an Celia Norris?« Sie zeigte nicht sofort eine Reaktion. Er beobachtete sie, doch es war ihr nichts anzumerken, außer daß ihr Busen ein wenig bebte. Sie hatte das Gesicht abgewendet und starrte den Kater an, der sich, auf dem grünen Teppich sitzend, hysterisch leckte. Vielleicht unternahm er den verzweifelten Versuch, sich von der Fellfarbe zu befreien. »Mit der Sache wird sich die Polizei doch wohl kaum noch beschäftigen!« bemerkte sie schließlich in dem ihr eigenen affektierten Tonfall. »Das ist ja wohl inzwischen ein ziemlich alter Hut: Celia Norris.« Davies faltete die Hände in der Luft wie ein Versicherungsvertreter, der ein weiteres Verkaufsargument vorbringt. »Ach nein, nicht wirklich«, sagte er. »Sehen Sie es doch mal so: Da läuft immer noch jemand frei herum, der das Mädchen umgebracht hat. Ich versuche, herauszufinden, wer dieser Jemand ist.« »Aber das ist Jahre her!« Empörung spiegelte sich auch auf ihrem Gesicht wider, wo unter dem sorgfältig aufgetragenen Makeup plötzlich tiefe Falten sichtbar wurden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust wie eine Waschfrau und drückte damit ihren Busen bis fast zum Kinn hoch. »Jahrzehnte.« Sie stand auf und ging im Zimmer auf und ab. »Was soll das jetzt noch nützen?« Davies hob die Augen und sah, wie gereizt sie war. Seine ernste Miene rief sie zur Besinnung. Sie setzte sich wieder, nicht anmutig, nicht mit der einstudierten Bewegung von vorher, sondern mit einem überaus unjugendlichen schwerfälligen Plumps. »Die Sache taucht immer wieder auf«, seufzte sie. »Und ich fürchte, daran wird sich verdammt auch in Zukunft nichts ändern.« »Bis sie aufgeklärt ist«, bemerkte Davies.
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»Meinetwegen, wie Sie wollen. Bis sie aufgeklärt ist.« »Die Angelegenheit ist vor ein paar Jahren aufgerollt worden, nicht wahr? In der Zeitung.« »Ach das. Ja, das stimmt.« Sie zögerte. »Na gut, sie haben mir 200 Pfund angeboten, und ich habe sie genommen. Mein Mann schäumte natürlich vor Wut, aber das war zu erwarten. Er ist ja so ein vertrockneter Idiot, das wissen Sie ja.« »Nein, weiß ich nicht.« »Mein Gott, ist das ein Schlappschwanz! So was gibt's nicht noch mal. Wenn der in der Nase bohrt, hat er den Rest seines Lebens Gewissensbisse.« Davies beobachtete den Kater. Er hatte aufgehört, sich verzweifelt abzulecken, und spielte nur noch mit der grünen Zunge an seinen Pfoten herum. »Ihr Mann, das heißt B i l l . . . « »William«, berichtigte sie nachdrücklich. »Er möchte William genannt werden. Wissen Sie jetzt, was ich meine?« »Ja, ich verstehe. Also gut, Ihr Mann, William Lind, als Sie alle noch Teenager waren - ist ja bei Ihnen noch nicht lange her -, also da war er Celia Norris' fester Freund, oder?« Sie nickte. »Was immer das hieß.« Sie lachte spitz. »Die hat keine Ahnung, was ihr erspart geblieben ist.« Gleich darauf sah sie ihn schuldbewußt an. »Ich hab' es nicht so gemeint«, sagte sie. »War er denn immer so - vertrocknet?« » J a , immer. Der war schon als Kind so zimperlich.« »Aber Sie haben ihn geheiratet. Es kam doch ein Baby?« Sie lächelte schwach. »Sie haben sich wohl schlau gemacht. Das Baby hab' ich verloren. Ich war schon immer der Verlierer.« » E s tut mir leid. Das war taktlos von mir.« Er schämte sich ein wenig. »Schon gut«, seufzte sie. »Jedenfalls, ich hab' ihn geheiratet, da haben Sie recht. Ich kannte ja seine Art, dachte doch, er hätte wenigstens was im Oberstübchen. Ein bißchen Verstand. Ich dachte, er würde es zu etwas bringen. Ein bißchen besseres Leben.« »Und das hat er nicht geschafft?« »Ha!« Ihr Schnaufen klang fast wie das eines Mannes. »Wenn Kranführer für Sie eine gute Stellung ist.« Davies schaute auf sein Glas und war ein wenig erstaunt, daß es leer war. Sie bemerkte den Blick, bot ihm aber nichts mehr an.
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»Ich erwarte jemanden in ein paar Minuten«, sagte sie wie zur Erklärung. »Eine Freundin natürlich, Clare. Wir gehen drei- oder viermal die Woche zusammen in die Stadt. Einkaufsbummel, Kino und so. Ganz harmlos.« »Davon bin ich überzeugt.« Davies fragte sich unwillkürlich, warum sie das so betont hatte. »Ich will Sie nicht mehr lange aufhalten. Ich wollte Sie eigentlich nur bitten, mir in ein paar kurzen Worten zu berichten, was sich an jenem Abend zugetragen hat. Damals, als Celia verschwand. Einfach das, woran Sie sich noch erinnern können.« Sie seufzte. «Na gut, ich habe es schon so oft erzählt, daß es auf einmal mehr nicht ankommt. Sie war im Jugendklub und spielte Tischtennis mit B i l l . . . « »William?« »Hinter seinem Rücken nenne ich ihn immer Bill.« Sie zuckte mit den Achseln. »Und dann fuhr sie mit dem Rad nach Hause. Das war ungefähr um zehn Uhr. Danach hat sie niemand mehr gesehen.« »Bill - oder William - blieb noch wegen eines Treffens der Fußballmannschaft da, nicht wahr?« Ein Ausdruck von Verachtung erschien auf ihrem geschminkten Gesicht. »Fußball! Der hat nie Fußball gespielt und war bei keinem Mannschaftstreffen dabei. Hatte wohl Angst, einen Tritt abzubekommen. Nein, es ging um etwas anderes. Vielleicht ein Korbballmatch, das könnte schon eher sein. Er sah gern zu, wenn die Mädchen Korbball spielten.« »Und warum?« »Wollte wohl einen Blick unter die Röcke riskieren.« »Ah, so war das.« Sie sah ihn mißtrauisch an. »He, denken Sie bloß nicht, er war's. Ich habe für ihn verdammt nicht viel übrig, aber so was würde er nie tun. Sexgeschichten - auf keinen Fall.« »Wieso Sexgeschichten?« »Also, man muß ja wohl kein Detektiv sein, um zu sehen, daß sie nicht wegen ihres Geldes umgelegt wurde, die Celia. Aber Bill Lind war's nicht. Er war ja noch länger im Klub, noch eine gute halbe Stunde. Er war's auf keinen Fall.« Sie wandte sich ihm zu und sagte mit Bestimmtheit: »Wir sprechen von einem Mann, der nicht mal in die Badewanne steigen würde, ohne vorher seine B a dehose anzuziehen.«
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»Seine Badehose?« »Seine bescheuerte Badehose. Das hab' ich noch nie jemandem erzählt, nicht mal meiner Freundin Clare. Es wäre mir zu peinlich. Am Anfang wollte er sogar die Tür abschließen, aber das hab' ich mir nicht gefallen lassen. Nicht in meiner eigenen Wohnung, wenn niemand da ist außer uns beiden. Da ist er eben auf die Badehose verfallen. Er sitzt in der Wanne, als wäre es der Badestrand von Brighton. « Davies hätte es zum Lachen gefunden, wenn sie nicht so ein unglückliches Gesicht gemacht hätte. » E r stammt eben aus so einer Familie«, seufzte sie. »Seine Mutter konnte nicht mal das Wort >Hühnerbrust< in den Mund nehmen.« Sie stützte das Gesicht in die Hände; Davies sah sie stumm an. Am liebsten hätte er sie mitleidig gestreichelt. Statt dessen sagte er: »Was für ein Mensch war dieser Boot? Dave Boot?« Sie hob langsam den Kopf. Gerade wollte sie antworten, als von der Eingangstür her ein melodischer Gong ertönte. »Das ist Clare«, sagte sie. Während sie aufstand, setzte sie dasselbe Lächeln auf, mit dem sie ihn hereingelassen hatte. »Ich kann Sie ja anrufen. Im Polizeirevier?« »Ich gebe Ihnen die Nummer«, sagte er und schrieb sie auf einen Zettel. »Wir sollten eine Zeit vereinbaren. Ich bin nicht gern länger im Büro, als es unbedingt sein muß. Es ist so trostlos.« Sie lächelte und war wieder ganz die holde Gastgeberin. »Ja gut. Heute abend um acht. Ich rufe dann auf dem Heimweg aus einer Telefonzelle an.« »Acht Uhr? Kommen Sie nicht nach Hause, um mit Ihrem Mann zu Abend zu essen?« »Oh nein«, sagte sie. Während sie sich zur Tür wandte, ertönte die einschmeichelnde Melodie ein zweites Mal. Irgendwie paßte die Klingel zu ihr, dachte Davies. Sie blieb an der Tür stehen, bevor sie aufmachte. »Ich tue nicht viel für ihn«, sagte sie über die Schulter gewandt, »aber er tut ja auch nicht viel für mich.« Weil sie versprochen hatte, ihn um acht Uhr anzurufen, mußte er auf das Dinner bei Mrs. Fulljames verzichten und sich mit einem miesen Sandwich im Büro begnügen. Er überlegte gerade, ob er auch die Kruste aufessen sollte, als das Telefon klingelte.
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Ena kicherte leicht beschwipst. Man konnte die Portweinfahne förmlich riechen. »Hören Sie«, sagte sie vertraulich, »ich dachte erst, es ginge leichter am Telefon, aber ich hab' es mir überlegt. Es macht mir verdammt noch mal nichts aus, es Ihnen von Angesicht zu Angesicht zu erzählen. Können wir uns irgendwo treffen?« »Jetzt gleich?« »Ja doch, ehe ich es mir wieder anders überlege.« »Na gut. Wo sind Sie?« »In der Telefonzelle am Bahnhof Willesden Green. Clare ist nach Hause gegangen.« »Ich kann in zehn Minuten dasein.« »Dann kommen Sie in die Kneipe gegenüber, zum L A H M E N E L E F A N T E N . E S macht mir nichts aus, auf Sie zu warten, ich bin ja nicht hochnäsig. Ich such' schon mal einen Tisch, aber ich bestelle noch nichts. Ich warte auf Sie, Sie können dann bestellen.« »Gut. Ich bin gleich da.« Er mußte seinen Mantel, der über einem Stuhl hing, mit zwei Händen hochnehmen. Der Stoff war vom Regen durchnäßt und doppelt so schwer wie sonst. Es war ein Gefühl, als würde man sich ein nasses Walroß auf den Rücken packen. Am Ausgang winkte er dem Sergeant, wobei es ihm schwerfiel, den Arm zu heben. Der Lagonda stand - wie gewöhnlich mit offenem Verdeck - im Regen. Kitty hatte sich unter der grünen Plane auf dem Rücksitz verkrochen und lag da wie ein schlecht zugedeckter Kadaver. Als der Motor brummend ansprang, fing Kitty an zu knurren. Der Wagen mit den großen Lampen glitt sanft durch die im Nieselregen öde daliegenden Straßen zum L A H M E N E L E F A N T E N hin. Unterwegs dachte Davies darüber nach, wieso Ena, wenn sie ihren Mann so sehr verachtete, dennoch von ihren angeblichen Dinnerpartys redete. Sie saß in der Lounge vor einem niedrigen Tischchen, in einen Pelzmantel aus gefärbtem Kaninchen eingehüllt. »Einen doppelten Portwein mit einmal Zitrone«, sagte sie. »Sie sind ja naß wie ein Schwamm.« »Mein Wagen ist nicht wasserdicht«, erklärte er und ging zur Bar. Als er ihren doppelten Portwein mit einer Zitrone und einen Scotch für sich selbst auf das Tischchen stellte, fragte er: »Keinen Crème de menthe?«
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»Die wüßten hier wohl kaum, was das ist. Wenn's nicht das ist, was die Masse verlangt, kennen sie sich nicht aus. Sind sowieso alles dämliche Iren.« Davies kämpfte sich wieder aus dem Mantel, prüfte die Tragfähigkeit des Kleiderhakens an der Wand und entschied sich, nichts zu riskieren. Also legte er das Ungetüm auf den Stuhl neben sich. Ena Lind sah ihn skeptisch an. »Irgendwie sind Sie ein bißchen ungepflegt. Haben Sie niemanden, der sich um Sie kümmert?« »Na j a « , sagte er nach dem ersten Schluck. »Ich bin gewissermaßen verheiratet. Wir wohnen im selben Haus - eine Art Pension-, aber wir leben nicht zusammen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Klar verstehe ich das. Sehr gut sogar.« Sie sah sich um. Zu dieser Abendstunde füllte die Bar sich schnell mit Gästen und dichtem Tabakrauch. »Wenn die Menschen noch ein echtes Zuhause hätten«, murmelte sie, »wären die Lokale nicht so voll.« »Wie wahr. Wenn es bei einer Abstimmung die Alternative Wohnzimmer oder Tresen gäbe, ich wette, die Kneipen würden gewinnen. Noch ein Glas?« »Das haben Sie aber schnell ausgetrunken!« » J a , das erste kippe ich immer in einem Zug runter.« »Das seh' ich.« Sie leerte ihr Glas. »Na gut dann. Aber diesmal bin ich dran. Keine Widerrede.« Sie legte ihm eine Pfundnote in die Hand und drückte seine Finger zu. Ihre Hand lag angenehm trocken auf seiner feuchten Haut. Er nickte. »Einverstanden. Vielen Dank.« »Nehmen Sie für sich einen doppelten«, schlug sie vor. »Den hätten Sie doch sonst auch genommen? Erspart Ihnen vielleicht eine Lungenentzündung.« Er grinste dankbar und ging die Getränke holen. Als er zurückkam, hob er sein Glas. »Cheers, Ena!« »Zum Wohl. Auf Celia Norris«, erwiderte sie ungezwungen. Er sah sie verstört an, was ihr nicht verborgen blieb. »Warum nicht? Was ist schon dabei? Es ist schließlich ewig her, und sie ist nun einmal tot. Vielleicht freut sie sich, wo immer sie jetzt auch sein mag, wenn wir auf ihre Gesundheit trinken.«
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»Von mir aus«, stimmte er zu. »Ich habe mir nur gedacht, es käme ein bißchen zu spät. Also«, er hielt sein Glas in die Höhe, »auf Celia Norris!« » J a « , bekräftigte sie und hob ihr Glas noch ein wenig höher. »Auf unsere h ü b s c h e Celia.« »Was soll das nun wieder heißen? Wieso betonen Sie das so?« fragte er. »Weil sie das war«, erwiderte Ena Lind mit geheuchelter Überzeugung. »Wirklich hübsch. Nette kleine Figur, niedliches kleines Gesicht, ein paar Pickel, aber trotzdem süß. Ein niedlicher Popo. Die Jungens sahen begeistert zu, wenn sie Tischtennis spielte. Und beim Korbball waren sie ganz außer sich, weil sie dann einen Blick auf ihren Hintern werfen konnten.« »Nur die Jungen?« »Ein paar von den Männern natürlich auch. Das meinten Sie doch, oder?« »Ja. Männer - wer zum Beispiel?« »Trinken wir noch einen. Bevor ich das erzähle, muß ich erst ein paar Hemmungen über Bord werfen.« »Das ist doch mal eine feine Entschuldigung. Na gut. Dasselbe noch mal?« »Dasselbe noch mal«, lächelte sie. Sie war eigentlich noch recht attraktiv, eine reife Vierzigerin. Ihre Zähne waren groß und blendendweiß, das Gesicht voll und glatt, die Falten mit Puder zugedeckt. In dem ordinären Kaninchenpelz sah sie beinahe elegant aus. Sie spürte seine Blicke und öffnete ein wenig den Pelz, so daß sich ihre vollen Brüste dahinter abzeichneten. Sie lächelte, er wandte sich ab und ging die Getränke holen. Für sich selbst brachte er einen doppelten Scotch mit. »Ist das Ihr übliches Getränk?« fragte er, als er den doppelten Portwein mit einmal Zitrone vor ihr absetzte. »Das und Crème de menthe«, sagte sie. »Wenn ich ausgehe, trinke ich fast immer Portwein, weil er mich wärmt. Grün wirkt so kalt, finden Sie nicht?« Er setzte sich. »Und jetzt erzählen Sie. Was war mit den Männern?« »Eigentlich gab es nur einen - einen, der nicht nur hinschaute«, sagte sie. »Raten Sie mal, wer das war! Los, zeigen Sie mal, ob Sie ein guter Detektiv sind.« Er tippte auf Ramscar.
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Vor Überraschung sprangen ihre schmalen Augenbrauen regelrecht in die Höhe. »Also, daß Sie das sagen«, flüsterte sie. »Ramscar. Heiliges Kanonenrohr, den hatte ich ganz vergessen.« Sie dachte einen Augenblick nach. » J a . . . also, Sie k ö n n t e n schon recht haben. Ich muß sagen, ich habe das nie so gesehen. Es stimmt schon, er strich immer so ein bißchen um Celia herum. War ein toller Hengst. Konnte seine Pfoten nicht bei sich behalten, wenn Sie wissen, was ich meine. War ein Freund von Celias Vater - und ein Betrüger. Ist er wahrscheinlich noch. Nein, Ramscar hab' ich nicht gemeint.« Ihre Stimme klang träumerisch, als hätten die alten Erinnerungen neue Illusionen herbeigezaubert. »Dann war es Boot«, holte Davies sie in die Realität zurück. »Diesmal stimmt's. Dave Boot. Er hat Celia gehabt.« » G e h a b t ? Sex mit ihr gehabt?« »Was sonst? Er hat sie gehabt, und er hat mich gehabt und noch ein paar von den Mädchen aus dem Klub. Wir waren alle 15, als wir in den Klub eintraten, und nach zwei Jahren hatte er so ziemlich bei allen die Runde gemacht. Wir fanden ihn damals hinreißend. Einfach umwerfend. Es macht mir jetzt nichts mehr aus, darüber zu sprechen, so lange, wie es her ist.« Melancholisch fügte sie hinzu: »Ich könnte heute noch schwach bei ihm werden. Wenn ich ihn mit diesem Waschlappen, mit dem ich verheiratet bin, vergleiche. Oh, Dave war ein echter Mann. Sie wissen schon: Turnhemd, Muskeln, blondes Haar. Und im Sommer schön braun, weil er immer zur Welsh Harp hinauffuhr und sich in die Sonne legte; seine Arbeit fing ja erst abends an. Ich hab' ihn einmal durch Zufall da oben getroffen, als ich allein am Wasser entlanglatschte. Er hatte rings um sich lauter kleine Blechstücke, wie die Deckel von alten Keksdosen, aufgebaut. Damit sollte, sagte er, der Sonnenschein bis zum letzten Strahl eingefangen und reflektiert werden. Wir schwärmten alle für ihn. Es gab nicht viele, die er in seiner Zeit im Klub nicht gehabt hat. Nur um die Pickligen und die Dicken machte er einen Bogen. Wir waren immer im Bilde, wer von uns gerade dran war, und wir stritten uns um ihn.« »Ein Supermann«, murmelte Davies. »In dem Ruf steht er heute noch«, nickte sie. »Ich habe sein Bild in unsrem Käseblatt gesehen. Er hat jetzt eine Disko in Finchley. Ich habe schon mal dran gedacht, einfach bei ihm aufzukreuzen und ihn zu überraschen. Aber er würde mich nicht wie-
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dererkennen. Der vernascht auch heute noch nur Teenager, darauf würde ich wetten. Kann ich noch was zu trinken haben? Hier, diesmal zahle ich wieder. Ich will ja nicht schnorren. Bitte!« Er nickte unwillig über die Unterbrechung, nahm das Geld und ging zum Tresen. Der Barkeeper blinzelte ihm zu, zielte mit dem Blick auf Ena und ihren prachtvollen Bug, der wie ein Eisbrecher arbeitete, und machte grinsend das Zeichen mit dem hochgereckten Daumen. Davies ignorierte ihn. Er nahm für sich wieder einen Doppelten und brauchte für den kurzen Weg zurück an ihren Tisch etwas länger als sonst. Er mußte wohl ein wenig aufpassen. Er wollte sie jetzt nicht verlieren. Einen Augenblick lang dachte er, als er wieder neben ihr saß, er habe sie schon verloren. Sie nippte an ihrem Glas und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Ihr Gesicht war friedlich und entspannt. Er stieß sie an. »Was ist los?« fragte sie und öffnete ein Auge. »Oh, Entschuldigung, Ena. Ich dachte, Sie wären eingenickt.« »Nein, nein. Ich habe mich nur noch mal in die damalige Zeit zurückversetzt. Ich war bei Dave.« » E r . . . er hatte also wirklich Sex mit Celia? Sie sind sich offenbar ziemlich sicher.« »Nicht ziemlich sicher. Völlig sicher. Ich war ja dabei, Mann, ich war dabei. Er hatte uns beide gleichzeitig, jedenfalls beim ersten Mal.« »Oh.« »Na ja, wir waren beide noch Kinder und dachten, er wäre der Märchenprinz.« Sie hatte die Augen wieder geschlossen, als versuche sie, sich Boots märchenhafte Muskeln in Erinnerung zurückzurufen. »Wir beide, Celia und ich, waren eben Freundinnen, die miteinander kicherten und sich zusammen ausmalten, was er wohl Aufregendes mit uns anstellen würde. Und eines Tages tat er es eben. Einfach so. Es war schon ein Schock, aber ein schöner Schock, wenn Sie wissen, was ich meine.« Sie blickte ihn an und wartete offensichtlich darauf, daß er in irgendeiner Form bestätigte, daß er sie verstanden habe. Seine vom Whisky getrübten Augen blickten sie aufmerksam an, dann nickte er. »Komischerweise war es an einem Nachmittag. Es muß in den Ferien gewesen sein, weil wir damals noch zur Schule gingen. Wir waren zur Kirche runtergegangen, wo auch der Jugendklub war, um irgend etwas zu tun - helfen, einen Basar vorzubereiten oder
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so etwas. Wir haben in der Sakristei so eine Art Bude zusammengebaut, und Pater Harvey, der damals erst neu gekommen war, hat uns geholfen und stellte sich dabei so ungeschickt an, wie er es immer noch tut. Aber schließlich ist er weggegangen, um zu beten oder so, und Dave hat auf einmal seine Arme um uns gelegt. Celia bückte sich, um etwas aufzuheben, und da gab er ihr wie aus Spaß einen Klaps auf den Po, und ich habe gelacht und mich gebückt, damit er mir auch einen Klaps geben konnte. Und ich habe wohl so etwas Ähnliches gesagt wie: >Die eine nicht ohne die andere, Dave.< Also hat er mir auch einen Klaps gegeben. Damit hat es wohl angefangen. Wir sind aus der Sakristei nach draußen gegangen und dann alle drei über das Gras in den Jugendklub gerannt. Er hatte den Schlüssel für einen Abstellraum. Ich weiß noch, mir war so heiß, und ich war so aufgeregt, ich fühlte mich, als würde ich fliegen! Natürlich auch Angst, entsetzliche Angst. Aber ich konnte auch sehen, daß es Celia genauso erging - dieses Gemisch aus Angst und Spannung-, und ich sagte mir: >Sie soll nichts kriegen, was ich nicht kriege<, und so war es dann auch.« Es war so eine Art Selbstgespräch gewesen. Jetzt schwieg sie und sah Davies an. Er beugte sich vor wie ein bettelndes Hündchen. Ihre Miene zeigte an, sie wartete darauf, daß er endlich etwas sagte. Also sagte er: »Ich bin nur froh, daß er es nicht in der Sakristei getan hat.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er dachte wohl, Pater Harvey könnte zurückkommen. Es war bestimmt nichts Religiöses. Er war nicht besonders fromm, unser Dave.« Der Alkohol machte Davies langsam schläfrig, aber er schaffte es noch, die Augenbrauen hochzuziehen. »Soll ich weitererzählen?« fragte sie schelmisch. »Ich wette, Sie möchten es hören.« »Würde ich schon gern«, gab er zu. »Dann brauche ich noch was zu trinken, glaube ich. Es ist nicht so leicht für mich«, setzte sie entschuldigend hinzu. Davies erhob sich vorsichtig, als wollte er den Fluß der Erinnerungen nicht stören. Er hatte kein Geld mehr, aber der Wirt kannte ihn persönlich und bedeutete dem Barkeeper, weiter auszuschenken, was diesen zu anzüglichen Witzen über die Bestechlichkeit von Polizisten veranlaßte. »Mann, verpiß dich«, murmelte Davies und wankte zu Ena zurück.
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»Also echt«, sagte sie, »es tut mir gut, darüber zu reden. Es ist Jahre her, daß ich mit jemandem darüber sprechen konnte - über alle Einzelheiten.« Sie lächelte einladend. Der Portweindunst, den sie ausatmete, vermischte sich auf halbem Weg mit seiner Whiskyfahne zu einer unsichtbaren, aber kräftigen alchimistischen Verbindung. Er beabsichtigte lediglich, ihr zuzunicken, um sie zu ermuntern fortzufahren, doch sein Kopf schien plötzlich schwer wie Blei zu sein, kippte nach vorne und kollidierte mit ihrer Schulter. Sie tätschelte ihn zärtlich. »Schlaf nur nicht ein, bevor ich zu Ende bin. Das ist keine Gute-Nacht-Geschichte.« Er zwang sich, auf die kaninchenfellgepolsterte Schulter zu verzichten, und verwünschte die Wirkung des Alkohols. »Ich höre«, murmelte er, »ich bin ganz Ohr.« »Das solltest du auch. Jetzt kommt erst der wirklich lasterhafte Teil. Wie er uns gebumst hat.« Sie kicherte. »Nicht, daß wir damals schon solche Wörter gebraucht hätten. Nicht in unsren Jugendtagen.« Sie schlürfte gierig ihren doppelten Port mit einmal Zitrone. Dieses Gesöff hatte offenbar eine weniger ermüdende Wirkung als der Scotch - das zu bemerken, war Davies gerade noch möglich. »Soll ich weitererzählen?« fragte sie. »Ich kann's kaum abwarten.« »Also, wie gesagt, wir gingen hinüber zum Abstellraum, und dort zog er uns beide aus. Wir standen einfach da wie die Idioten, ließen die Arme hängen und wagten nicht, einander anzusehen. Und er zog uns aus. Erst ein Kleidungsstück von Celia, dann eins von mir. Celia trug ihren ersten B H , aber ich war ihr um zwei Größen voraus, und ich weiß noch, daß ich ganz stolz darauf war. Er ließ sich reichlich Zeit dafür, der Dave, dieser Teufelskerl. Ich weiß noch, daß die Sonne durchs Fenster schien und ich hinsah, weil ich zu nervös war, ihm auch nur ins Gesicht zu sehen. Dann standen wir da, splitternackt, Celia und ich, und zitterten wie vor Kälte. Natürlich war es die Aufregung, sie machte mir eine richtige Gänsehaut. Wir fühlten uns wohl beide ein bißchen hilflos, wie wir so dastanden und er uns ansah. Celia mußte lachen, sie konnte nicht anders, und ich kicherte mit. Aber er sagte, wir sollten aufhören zu lachen, und er war so ernst und streng, daß wir still waren. Wir hätten alles getan, was er von uns verlangte. Ich erinnere mich, daß ich gespannt war, was jetzt passieren würde, und ob ich vielleicht schwanger werden würde. Aber das war nur so eine Idee. Er hatte uns bis dahin nicht gestreichelt, unsere
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Haut nicht berührt, schon gar nicht intim, nur unsere Kleider ausgezogen, und dann zog er plötzlich seine Trainingshose aus - er trug immer einen Trainingsanzug, manchmal einen blauen, manchmal einen roten - und dann seinen Slip, und dann kam sein großes Dingsda zum Vorschein. Es schien uns damals riesengroß zu sein, und sogar heute noch, wo ich mich eigentlich an alles Gute gern erinnern sollte, sogar heute denke ich noch, es konnte einen einschüchtern. Wir wußten immer noch nicht, was wir tun sollten. Celias Gesicht war knallrot, und meins fühlte sich brennendheiß an. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und streckte die Hand aus, um es anzufassen. Ich war wie von den Socken, kann ich dir sagen, aber sie tat's wirklich. Sie streichelte es am oberen Ende mit der Hand, und dann nahm sie es in die Finger und drückte es. Ich dachte mir: >Los, E n a , da kannst du nicht zurückstehen, und faßte seine Dinger an.« »Dinger?« fragte Davies verwirrt. »Mein Gott, du weißt doch. Was untendrunter ist. Die Hoden. Ist das eindeutig genug?« »Ach so, ja. Sehr eindeutig.« »Also, ich faßte zu. Ziemlich fest, weil ich mir nichts wegnehmen lassen wollte, und Herr im Himmel, er ging beinahe an die Decke! Ich wußte ja damals, unschuldig wie ich war, noch nicht, wie empfindlich Männer da unten sind. Der arme Dave. Er hätte am liebsten gebrüllt, aber er mußte ja leise sein, damit uns keiner hörte. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Wie ein Horrorfilm ohne Ton, stell dir das bloß vor. Ich war echt erschrocken und schämte mich, besonders, weil Celia sich so geschickt anstellte. Aber nach einer Weile fühlte er sich besser, bis auf die Tränen, und er fing an, an uns herumzuspielen und wir an ihm, und schließlich verfrachtete er uns auf das Trampolin und nahm uns alle beide.« »Trampolin?« fragte Davies durch den Nebel hindurch. »Genau. Erst verbrachte er ein paar Minuten mit Celia und dann ein paar Minuten mit mir. Was das für Staub aufwirbelte auf dem alten Ding! Ich erinnere mich deutlich an den Staub in dem Sonnenstrahl, der durchs Fenster schien.« Sie hielt inne, als wäre der Sonnenschein das Wichtigste an ihrer Geschichte. »Das war's dann«, sagte sie. »Das erste Mal. Danach passierte es hin und wieder, nicht regelmäßig, nur ab und an. Und nie mehr mit Celia zusammen.«
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»Wann war es zu Ende?« Die Frage fiel Davies gerade noch rechtzeitig ein. »Nach Celia. Nachdem sie verschwunden war. Danach hat er es mit mir nie wieder gemacht. Vielleicht dachte er, es wäre irgendwie unfair, die eine ohne die andere . . . « Die Gläser waren leer. Im Vertrauen auf seinen Kredit schlingerte Davies für eine letzte Runde zur Bar. Es war eine Minute vor Schankschluß. Als er zurückkam, waren ihr die geschminkten Augenlider schon wieder zugefallen, und es sah so aus, als schliefe sie. Auch er hatte Mühe, seinen Blick unter Kontrolle zu behalten. Aber bei dem Geräusch, mit dem er die Gläser auf die Tischplatte setzte, öffnete sie die Augen wieder. »Fandest du das interessant?« fragte sie wie jemand, der einen öffentlichen Vortrag gehalten hat. »Sehr informativ« erwiderte er zurückhaltend. »Und es gab noch andere?« »In Massen. Celia und ich sahen ihn eines Abends im Klub, wie er es mit einem Mädchen namens Roxanne Potts trieb. Er hatte sie quer über das Sprungpferd gelegt.« » E r scheint so ziemlich alle Turngeräte benutzt zu haben?« »Dave war ein guter Turner«, sagte sie ganz ernsthaft. Sie tranken schnell aus, standen auf und steuerten dann auf die Tür zu. Sie war etwas wackelig auf den Beinen, half ihm aber trotzdem, den vor Nässe schweren Mantel über Arme und Schultern zu ziehen. Plötzlich sagte sie unerwartet: »Aber du hast doch nicht Dave in Verdacht, den doch nicht? Jemanden ermorden - so was würde er nie tun.« Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Nachtluft war feucht und schwer. Er brachte sie im Auto nach Hause. Sie lehnte sich während der Fahrt eng an ihn. »Kann man das Verdeck nicht zumachen?« fragte sie lallend. »Seit dem Krieg nicht mehr. Es klemmt, und ich habe keine Zeit, es in Ordnung zu bringen.« »Was ist das für ein Ding unter der Decke auf dem Rücksitz? Hoffentlich keine Leiche?« »So etwas Ähnliches. Es ist mein Hund Kitty. Er ist so gut wie tot, er bewegt sich so gut wie nie. Nur beim Husten und beim Essen.« »Wie alt bist du?« wollte sie plötzlich wissen.
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»33 oder 3 5 , ungefähr. Ich bin nicht sicher.« »Dann bin ich älter als du. Mindestens drei Jahre.« »So geht es vielen«, sagte er tröstend. Er parkte den Lagonda da, wo der Kletterpfad zu den Wohnblocks anfing. Er hatte keine Lust, mit hinaufzugehen, aber er konnte sie nicht gut allein nach oben stolpern lassen. Sie torkelten aus dem Auto und begannen, die Arme freundschaftlich umeinander gelegt, den mühseligen Aufstieg. »Ist da nicht noch Licht im Fenster?« fragte Davies und schaute an der Hauswand hoch, die schwarz vor dem Sternenhimmel aufragte. »Er läßt es immer an. Damit ich den Heimweg finde. Er hätte Leuchtturmwärter werden sollen.« Zu sprechen bereitete ihnen unerhörte Mühe. Sie atmeten den Sprit in die Nachtluft aus wie zwei fauchende Drachen und waren dankbar, als sie endlich beim Hauseingang anlangten. Davies gab ihr ein Küßchen auf die volle Wange. »Nacht, Ena. Ich trudele jetzt heim.« »Warte«, verlangte sie ruhig. »Bring mich noch mit dem Lift rauf. Nur bis zur Wohnungstür. Er schläft bestimmt schon. Er läßt zwar das Licht an, aber dann geht er schlafen.« Er beäugte sie mit soviel Mißtrauen, wie er aufbringen konnte, aber ihr Gesicht war offen und unschuldig wie zuvor. Er führte sie am Arm zum Aufzug. Die Blechschachtel kam angerattert, und sie stiegen ein. Sie drückte auf einen Knopf, und die Tür schloß sich, aber man spürte keine Aufwärtsbewegung. Als Davies sich fragend nach ihr umsah, hatte sie ihren Mantel aufgeknöpft und war gerade mit der Bluse beschäftigt. Ein Protest blieb ihm im Halse stecken, während sie in ihrem Vorhaben mit einer unglaublichen Geschwindigkeit fortfuhr. Ihr rosa Büstenhalter war vorne geschlossen, sie hakte ihn im Nu auf, ihre Riesenbrüste kullerten heraus, dann packte sie seinen Hinterkopf und begrub sein Gesicht in dem warmen duftenden Fleisch. Seine Protestschreie erstickten darin, aber er konnte kurze gekeuchte Forderungen verstehen. »Ich will dich! Ich muß unbedingt mal wieder einen richtigen Mann haben. Einen richtigen!« »Ich bin nicht frei! Ich bin versprochen!« kreischte Davies verzweifelt unter ihrem Würgegriff, doch sie zog nur seinen Kopf gewaltsam an den Haaren zur Seite. Ihm schwanden fast
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die Sinne. Er bemerkte, daß sein Wille schwach, aber sein Fleisch stark war. »Gefallen sie dir nicht? Sind sie dir nicht schön genug?« »Doch, doch«, jammerte er. »Sie sind wirklich schön, E n a , super. Und so groß. Aber pack sie weg, Ena, bitte!« Als Antwort knallte sie seinen Kopf wieder an ihren Busen, hielt ihn am Haar fest und wischte sein Gesicht auf und ab, als wäre es eine Art Handfeger. Dann ließ sie ihn mit einer Hand los und wühlte in seiner Hose. Mit einem Triumphschrei bekam sie das Gesuchte mit einem fürchterlichen Griff zu fassen, und plötzlich wurde ihm klar, warum Dave Boot vor so vielen Jahren laut aufgeschrien hatte. Ihre Faust war eisern . . . Er schlug um sich wie ein Pinguin, der das Gleichgewicht verloren hat. Mit einer Hand ertastete er die Bedienungsknöpfe des Fahrstuhls und drückte auf alle zugleich. Dreimal fuhr der Lift hinauf und hinunter, während er gegen ihr zorniges Verlangen ankämpfte. Sie verloren die Balance, fielen gegen die metallenen Seitenwände und schließlich zu Boden. Da saßen sie und stierten sich an wie zwei Boxer, die sich gegenseitig k.o. geschlagen hatten. Die zwei weißen Ballons baumelten immer noch direkt vor seiner Nase, und die rötlichen Brustwarzen glotzten ihn boshaft an. Aber das war noch gar nichts im Vergleich zu der Wut in ihren Augen, als sie mit Fingernägeln und Handtasche auf ihn losging. Er versuchte aufzustehen, doch sie warf ihn gegen die Wand. In Panik drückten seine Finger wieder irgendwelche Knöpfe, und diesmal sauste der Lift im Schnellgang nach unten, wodurch sie wieder hinfielen, als er im Erdgeschoß aufschlug. Diesmal kam Davies als erster auf die Füße. Er fand den Knopf, der die Tür öffnete, und drückte ihn in panischer Angst. Die Tür ging auf. Draußen stand ein vor Nässe triefendes Ungeheuer und bellte wie wild. Mit untrüglichem Instinkt hatte Kitty den Kampf geahnt, seine Lethargie abgeschüttelt und sich den Berg hochgeschleppt. Jetzt veranlaßte derselbe untrügliche Instinkt ihn, sich auf Davies zu stürzen, er warf ihn um, fletschte vor seinem Gesicht die Zähne und biß ihn schließlich in den Arm. Erst als Davies flach am Boden lag, sah der Hund, was er getan hatte, warf sich auf den hingestreckten Körper und bereute seinen Irrtum mit entsetzlichem Gejaule. Ena Lind, in Tränen aufgelöst, schaufelte ihre Brüste zurück in die dafür vorgesehenen Kleidungsstücke und stampfte wütend die
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Betontreppe hoch. Türen öffneten sich, Fenster wurden aufgerissen, was sie nicht davon abhielt, vom ersten Treppenabsatz aus ihren letzten Schuß abzufeuern. »Geschieht dir recht, du Versager«, kreischte sie, »ich hoffe, der verdammte Hund bumst dich!« »Bitte, meine Dame«, murmelte Davies, den Kopf an die kalte Wand gelehnt, »bringen Sie ihn nicht auf Ideen.«
Kapitel 9
Z
u den zahllosen Eigenschaften, die Davies zum Detektiv so ungeeignet machten, gehörte auch, daß er in kritischen Momenten weder Mißtrauen noch Vorsicht in genügendem Maße besaß. Über diese Defizite nachzudenken, hatte er hinreichend Gelegenheit im Krankenhaus, nachdem zwei Männer ihn mit Hilfe einer Mülltonne beinahe ins Jenseits befördert hätten. Die Einladung, sich überfallen zu lassen, lag auf der Fußmatte, als er, den Angriffen von Ena Lind und Kitty nur knapp entronnen, spätabends die Tür vom BALI H I aufschloß. Das Gebiß des Hundes war zum Glück so abgenutzt und altersschwach wie der Rest von ihm und hatte nur eine schmerzende Stelle an einem Arm hinterlassen; was ihn auf dem Heimweg zu Mrs. Fulljames heftiger plagte, war die aufwühlende Erinnerung an Enas verführerische Brüste. Er hatte sich, bevor er den Lagonda und Kitty für die Nacht in der Garage parkte, einen langen therapeutischen Schluck aus der Scotchflasche verordnet, die er im Auto versteckt hielt. Dann tauchten sie vor seinen benebelten Augen auf - diese Brüste, weiß und weich wie Schlagsahne, dicke, spitz zulaufende Luftballons. Zum Anfassen nahe schaukelten sie vor seinen Augen hin und her, erhitzten und verstörten zugleich - trotz der Kälte der Nacht - sein Gemüt. Seine Hände waren feucht, als er vor der Haustür nach dem Schlüssel suchte, und er mußte wieder daran denken, wie knapp er einem Notzuchtverbrechen entgangen war. Mit peinlichen Situationen war er wohlvertraut, aber vergewaltigt zu werden, das war doch eine neue Erfahrung und nicht gerade das, was ein Detective Constable der Metropolitan Police gerne eingestand, nicht einmal vor sich selbst. Den Zettel auf der Fußmatte mußte er mit nach draußen nehmen, denn das abendliche »Licht aus« wurde bei Mrs. Fulljames wirklich wörtlich genommen. Im Schein der Straßenlaterne ent-
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zifferte Davies die mit Bleistift geschriebene Mitteilung: Für eine wichtige Information kommen Sie um 23.45 Uhr zur Kanalbrücke. Er fragte sich, ob die Nachricht etwa auf Umwegen von Pater Harvey gekommen sei. Aber dazu paßte die Zeitangabe nicht. In der römisch-katholischen Kirche war es sicher üblich, die Uhrzeit in der althergebrachten 12-Stunden-Form zu schreiben; vielleicht sagte man dort sogar »Nach der Abendmesse«. Aber wenn sie auch anonym war - die Aufforderung wirkte vertrauenswürdig. Jemand versuchte, ihm zu helfen. Jemand wollte ihm Informationen geben oder verkaufen. Der Gedanke an einen Hinterhalt oder eine Falle kam ihm - wie üblich - nicht, was einer der Hauptgründe dafür war, daß seine Laufbahn bei der Polizei von ständigen Verletzungen gekennzeichnet war. Davies dachte eben von seinen Mitmenschen immer nur das Beste. An seiner Uhr, die er diesmal ausnahmsweise bei sich trug, war das Glas bei der Rangelei im Fahrstuhl ziemlich zerkratzt und beschädigt worden. Er hielt sie in den Lichtschein, um die Zeiger von den Kratzern unterscheiden zu können, und stellte fest, daß er nur fünf Minuten Zeit hatte, wenn er pünktlich am Treffpunkt beim Kanal sein wollte. Er mußte zu Fuß gehen, denn er wußte, daß weder der Lagonda noch Kitty sich gerne stören ließen, hatte man sie erst einmal für die Nacht zur Ruhe gebracht. Er schlug den feuchten Mantelkragen hoch und marschierte in Richtung High Street, von wo die kleine Gasse zum Kanal hinunterführte. Sie sahen ihn schon kommen, als er die erleuchteten Schaufenster der Hauptstraße passierte. Vorher hatte man sich mit starken Worten über die Formulierung gestritten, ehe man den Zettel durch den Briefschlitz warf. Der eine meinte, es sei unklug, » 2 3 . 4 5 Uhr« zu schreiben, doch der andere war der Ansicht, die offizielle Formulierung werde weniger Mißtrauen erregen. Niemand werde einen schweren Jungen verdächtigen, argumentierte er, sich mit der 24-Stunden-Einteilung herumzuschlagen. Das klang gut. Davies war überzeugt, daß die Botschaft etwas Offizielles betreffen müsse, wobei seine Überlegung tatsächlich von der Form der Zeitangabe ausging. Vielleicht kam sie doch von Pater Harvey, vielleicht benutzte er außerhalb seiner Arbeitszeit die übliche Zeitangabe. Dieser Gedanke beschäftigte ihn noch, als er zwischen dem Leihhaus und dem Massagesalon, die jetzt beide
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dunkel und verlassen dalagen, in die Gasse einbog. Hier begannen die Verfolger, sich näher an ihn heranzupirschen. Sie liefen auf Zehenspitzen und trugen die Mülltonne zwischen sich wie zwei abfallsammelnde Nachtgespenster. Davies vernahm von alldem nichts bis zu dem Augenblick, da die Tonne mit metallischem Dröhnen über seinen Kopf gestülpt wurde und er bis zu den Schultern und Armen in einem dunklen, stickigen, nach Curry stinkenden Gefängnis steckte. Seine Hände wedelten hilflos herum: Die Tonne paßte ihm wie angegossen. Er drehte sich verwirrt und erschrocken um sich selbst, aber die Dunkelheit und der Gestank drehten sich mit. Der zweite Akt begann, als sie unter dem Gartenzaun zwei Axtstiele hervorzogen und die Mülltonne damit bearbeiteten. Davies hatte panische Angst wie noch nie in seinem Leben. Die Schläge prasselten und donnerten auf das Metall und schmetterten seinen Kopf hin und her, so daß er gegen die Seiten der Tonne prallte wie der Klöppel einer Riesenglocke. Nach dem ersten schnellen Paukenwirbel traten die Angreifer angesichts seiner Hilflosigkeit einen Schritt zurück und führten nun satte lange Schläge, die bei jedem Treffer eine tiefe Delle in der Tonne hinterließen. Auch seine Hände bearbeiteten sie und prügelten sie immer wieder gegen seinen Körper. Nur seine Beine sparten sich die Angreifer für später auf. Davies vollführte Pirouetten wie ein Ballettänzer. Er nahm trotz allem noch wahr, daß seine Fußgelenke arbeiteten wie Zahnräder. Jeder der Männer schlug noch ein letztes Mal zu, dann faßten sie ihn von zwei Seiten und schleppten das hilflose Bündel zum Kanal hinunter. Der eine nahm seinen Axtstiel mit. Sie stellten Davies am Uferrand auf, und während einer ihn halbwegs aufrecht hielt, holte der andere mächtig aus und versetzte ihm von hinten einen gewaltigen Schlag gegen die Beine. Er taumelte nach vorn und fiel ins Wasser, das ihn gnädig empfing. Die zwei Männer verschwanden und sammelten unterwegs noch den anderen Axtstiel ein. Vielleicht würden sie ihn ja noch einmal brauchen. Es war Pater Harvey, der das mißtönende Geläut von den Schlägen auf die Abfalltonne hörte. Das taten zwar auch noch andere Leute, aber es war dies keine Straßengegend, wo man sich gleich um jeden nächtlichen Lärm kümmerte. Der Priester hatte noch spät an seinem Schreibtisch gesessen und war in Gedanken und, wenn diese ihn nicht weiterbrachten, ins Gebet - vertieft, da
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er sich gerade mit der Skizze eines Beichtstuhls beschäftigte, den er selbst zusammenbauen mußte. Die Brandstiftung, der das bisherige Möbelstück zum Opfer gefallen war, hatte die Feuerversicherung und die kirchliche Obrigkeit in eine geizige Stimmung versetzt; infolgedessen fehlte es der Gemeinde seit Wochen an einem geeigneten Platz, wo man seine Schuld abladen konnte, so daß sich die unvergebenen Sünden seiner Gemeinde unerträglich angehäuft hatten. Deshalb war der Pater auf die Heimwerkeridee verfallen und zerbiß sich gerade die geistliche Unterlippe über seinem Entwurf, als er die Mülltonne läuten hörte. Er ging zur Tür, eruierte die Richtung, aus der der Lärm kam, und griff nach seiner Angelrute. Sie war einerseits ein guter Vorwand, um sich so spät noch am Wasser zu befinden, andererseits war sie im Notfall auch eine treffliche Waffe. In dem Augenblick, als er das Kanalufer erreichte, hörte er einen schweren Gegenstand ins Wasser klatschen und sah in der Nähe der Brücke die zwei davonrennenden Gestalten. Er eilte unerschrocken in diese Richtung und erreichte die Brücke gerade noch rechtzeitig, um im Licht der Brückenlaterne die auf der Seite liegende Tonne langsam wie ein U-Boot untergehen zu sehen. Sein erster Gedanke war, daß ein paar jugendliche Rowdies sich einen Jux gemacht und sie in das schwarze Wasser geworfen hatten. Aber bevor er sich abwandte, blickte er noch einmal hin und sah ein paar Hosenbeine und Stiefel gurgelnd und blubbernd an die Oberfläche kommen. Pater Harvey war in seiner Jugend in Irland einer der besten Schwimmer von Dingle in der Grafschaft Kerry gewesen - was nicht so großartig war, wie es sich anhörte, da seine Altersgenossen, die zumeist Fischerjungen waren, es vorzogen, immer einen Schiffsrumpf zwischen sich und dem Meer zu haben und niemals freiwillig ins Wasser gingen. Jetzt zögerte er keinen Augenblick, die hinderliche Soutane und die schwarzen Lackschuhe, die er als Hauspantoffeln trug, auszuziehen. Erst als er im Hemd und langer Unterhose dastand, kamen ihm Bedenken. Er schaute noch einmal über die Brüstung, um festzustellen, ob es inzwischen nicht zu spät war und er ganz umsonst springen würde. Da waren sie wieder, dieselben Beine und zappelnden Stiefel. Er murmelte ein Stoßgebet, bekreuzigte sich und plumpste dann mit geschlossenen Augen in die dunkle Brühe. Er prustete, spritzte und bekam die Mülltonne mit den Beinen zu fassen wie ein Ritter, der
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auf sein Pferd springt. Sie sank - mit Davies, der in der Falle saß, dem Pfarrer im Reitsitz oben drauf - sofort unter. So gluckerten sie zusammen in die kalte schwärzliche Tiefe. Die Eiseskälte und der Gestank nahmen Pater Harvey augenblicklich den Atem, aber seine wild fuchtelnden Arme erwischten die Hosenbeine und hielten sie eisern fest. Er wußte, daß, falls er sie losließ, er sie kein zweites Mal mehr finden würde. Endlich erreichte er die Oberfläche. Das Dankgebet, das er zum Himmel sprach, mußte er unterbrechen, weil sein Mund voll Kanalwasser war. Dann kämpfte er sich mit der Mülltonne und ihrem Inhalt im Schlepptau zum Ufer hin, das zum Glück kaum mehr als eine Armeslänge entfernt war. Für einen Geistlichen war er erstaunlich kräftig, und vor allem war er fest entschlossen, sich trotz aller Stoßgebete zum Himmel nicht darauf zu verlassen, daß die Vorsehung für ihn ein Wunder arrangieren würde. Er erreichte das Ufer, klammerte sich fest und rief, so laut es seine nassen Stimmbänder erlaubten, um Hilfe. Ein Mann hörte ihn, der über Nacht seinen Schrebergarten bewachte - es war so allerlei aus den Gemüsegärten verschwunden, seit die Preise hochgegangen waren und die Presse haarklein über den verurteilten Gemüsedieb berichtet hatte. Der Mann eilte ans Wasser. Er hatte zum Glück starke Arme, war er es doch gewohnt, den schweren Londoner Lehmboden umzugraben. Er zog erst Pater Harvey und dann - mit dessen Hilfe - auch die Tonne an Land. Zusammen zerrten sie den Insassen heraus, den der gute Pater mit einem unterdrückten Schreckensruf erkannte. »Dangerous«, sagte er, dem bewußtlosen, blutüberströmten Gesicht, das er aus Mangel an sauberem Wasser nicht einmal abwaschen konnte, zugewandt, »Dangerous, im Namen aller Heiligen, was haben Sie denn vor?« Drei Tage später ging Pater Harvey Davies im Park-Royal-Krankenhaus besuchen. Man hatte ihm den Magen ausgepumpt, seine Wunden genäht und verbunden und die Augen so weit wie möglich geöffnet. »Kein Wunder, daß das verdammte Wasser überall in Sie reingeflossen ist«, bemerkte der Pfarrer, »Sie sind ja durchlöchert wie ein Sieb.« Er sah sich schuldbewußt im Krankensaal um, weil er geflucht hatte. » J a , aus mir tröpfelt's jetzt noch überall«, gab Davies verträumt zu.
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»Oh, Sie sind kräftig und zäh, das muß man Ihnen lassen. Ich dachte schon, wir müßten Ihre Leichenfeier vorbereiten. Schon dort am Ufer habe ich überlegt, welcher Konfession Sie wohl angehören. Ich wußte es zwar nicht, trotzdem habe ich Ihnen vorsichtshalber das Sterbesakrament verpaßt. Wenn wir Gottesmänner was kennen, dann sind das die Sakramente.« Davies lächelte schwach. »Vielleicht wäre es besser gewesen, Sie hätten es mit Mund-zu-Mund-Beatmung versucht.« »Jeder tut, was er kann«, erwiderte der Pfarrer ruhig. »Es ist jedenfalls ein Vergnügen, Sie noch eine Weile hier unten bei uns zu behalten. Dafür, daß Sie droben gute Aussichten haben, möchte ich meine Hand nicht ins Feuer legen, zumal Sie Polizist sind.« »Wenn Sie nicht zufällig mitten in der Nacht schwimmen gegangen wären, befände ich mich jetzt schon dort«, sagte Davies und streckte seine Hand aus, die der Priester - nicht ohne sich vorher insgeheim umzuschauen - in die seine nahm. »Das war eine schlimme Sache«, meinte er. »Sicher ist die Polizei schon dabei, die Gegend durchzukämmen, was immer man sich darunter vorzustellen hat.« »Die werden höchstens mal kurz nachschauen«, sagte Davies mit Bestimmtheit. »Ein Angriff auf einen Kollegen, besonders wenn ich es bin, ist nichts Wichtiges. Der Inspector, Yardbird heißt er, hat sich wahrscheinlich halb totgelacht und die Jungs aufgefordert, beim Heimweg von der Arbeit ein wenig die Augen offenzuhalten.« »Nächstenliebe beginnt selten im eigenen Hause. Haben Sie eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?« »Eine Ahnung schon.« Davies' zugeschwollene Augen funkelten. »Ich muß die Kerle - oder den Kerl - nur noch finden.« » E s ist ein Wunder, daß sie Ihnen nicht schon den Schädel eingeschlagen haben, ehe es ans Ertränken ging. Ihr Dickkopf ist härter, als ich dachte.« Davies versuchte zu lächeln, was ihm allerdings große Schmerzen bereitete. »Einer von meinen Kollegen hat mir erzählt, die Abfalltonne gehört dem indischen Restaurant. Sie war voll mit angetrocknetem Curry. Zäh wie Gummi, der Currybrei, zumal der von dieser Drecksbude, aber mir hat er das Leben gerettet.« Seine Augen in dem aufgeplatzten, zugenähten Gesicht sahen Pater Harvey an. »Sie sind ein anständiger Kerl, Pater. Danke.
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Wenn ich mit dieser Bande fertig bin, finde ich auch heraus, wer den Beichtstuhl in Brand gesetzt hat.« »Einstweilen denke ich über ein Provisorium nach. Die ungebeichteten Sünden stauen sich turmhoch, aber meine Oberhirten sind nicht sehr verständnisvoll und die Versicherung ebensowenig. Falls Sie zufällig erfahren sollten, daß irgendwo ungenutzt brauchbares Holz herumliegt, könnten Sie es mir ja sagen. Ein paar ausgezeichnete Bretter lagern beim Sargtischler Swindell auf dem Hof, aber das wäre vielleicht ein bißchen unmoralisch. Wenn ich da immer zwischen feinstem Zedernholz sitzen müßte, würde ich mich unbehaglich fühlen. Ich kann noch lange genug im Sarg liegen, wenn es erst einmal so weit ist.« »Immer noch besser, als in einem Abfalleimer herumgeschüttelt zu werden«, sagte Davies. »Übrigens, haben Sie irgendwelche Unkosten gehabt? Ich meine, die durchnäßten Kleider und was sonst noch . . . ? « Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Mein Unterzeug war am Morgen schon wieder trocken, ich hatte es neben die Kirchenheizung gehängt. Nur meine Soutane muß gereinigt werden; ich hatte sie zwar vor dem Sprung ins Wasser ausgezogen, aber einfach in die Gegend geworfen, und sie ist in eine Pfütze gefallen. Leider berechnen sie sie bei der chemischen Reinigung immer als Maximantel. Ich schicke Ihnen die Rechnung.« Mrs. Fulljames und Doris betraten gemeinsam den Krankensaal in knautschigen, knisternden Plastikregenmänteln, die eine in rosa, die andere in himmelblau. Außerdem trugen sie durchsichtige Überschuhe aus demselben Material - so, als wären ihre Füße kostbare Ausstellungsstücke. Sie blieben unsicher an der Türe stehen, während die Regentropfen von ihnen herabrannen wie Schmelzwasser im Frühling. Von dort hielten sie nach Davies Ausschau, indem sie die Augen zusammenkniffen und die Köpfe schief legten, als ob sie sich einen guten Überblick über seine Verletzungen verschaffen müßten. Er saß halb aufgerichtet im Bett und war gespannt zu erfahren, wozu sie gekommen waren. »Schöner Schlamassel, wie Sie aussehen«, fauchte Mrs. Fulljames von der Tür aus. » J a , echt ein Schlamassel«, bekräftigte Doris loyal. Davies glaubte zu hören, daß seine Wirtin mit den Fingern schnipste, jedenfalls näherten die zwei Plastikdrachen sich ihm
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gleichzeitig mit rasselndem Panzer. Doch blieb er fürs erste verschont, da sich eine heisere Stimme vom anderen Ende des Saales meldete und Mrs. Fulljames' Aufmerksamkeit auf sich zog. »Oh, sieh mal, Doris«, rief sie erfreut, »das ist doch der nette Mr. Wellington, unser früherer Milchmann.« »Ja, Mr. Wellington«, bestätigte Doris. Wenn sie lächelte, hatte Davies manchmal das Gefühl, einen kurzen Blick auf die jugendliche Doris zu werfen. Aber das ging schnell vorbei. »Warum er wohl hier ist?« »Laß uns hingehen und den Ärmsten besuchen«, sagte Mrs. Fulljames. Sie vollführte eine schwerfällige Wendung wie ein tiefliegender Frachtsegler und steuerte das hinterste Ende des Saales an. Doris folgte gehorsam, ohne ihrem Exgatten auch nur den kleinsten Blick zu gönnen, worauf er sich zu seinem Erstaunen dabei ertappte, so etwas wie Eifersucht zu verspüren. Er richtete sich in seinem Bett ein wenig auf und sah, daß sich der Milchmann in erwartungsfroher Wiedersehensfreude aufgesetzt hatte. Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie zurückkamen. »Was für ein interessanter Mann«, seufzte Mrs. Fulljames, als ob das eine ausreichende Entschuldigung für den Abstecher wäre. »Und immer höflich, nicht wahr, Doris? Und so weit herumgekommen.« »Das pflegt bei Milchmännern so zu sein«, bemerkte Davies schmerzgeplagt. Doris starrte sein zerschundenes, zusammengeflicktes Gesicht an. » E r hat deine Smarties gegessen«, sagte sie lakonisch, als wolle sie es schnell hinter sich bringen. »Ich hab' dir Smarties mitgebracht, aber Mr. Wellington hat sie bekommen.« Wider alle Vernunft fühlte Davies sich schon wieder gekränkt; er machte ein böses Gesicht. Der Schmerz, der folgte, war ihm eine Lehre, es nicht wieder zu tun. »Trotzdem vielen Dank«, murmelte er. »Die gute Absicht ist auch etwas wert.« »So ist es!« rief Mrs. Fulljames überlaut. Sie beugte sich über sein Bett, als bereite sie sich genießerisch auf eine Operation an seinem Körper vor. »Und er ist so interessant!« echote Doris - immer noch ein wenig schuldbewußt - »Und er hat so viele Dinge gemacht.« »Zum Beispiel meine Smarties gegessen«, grollte Davies. Mrs. Fulljames hielt wie eine Verkehrspolizistin eine Hand hoch. Ein Rest von Regenwasser, der sich in den Falten ihres rosa Plastikärmels gehalten hatte, tropfte auf die Bettdecke. »Wir
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schicken Ihnen neue«, sagte sie in der für sie typischen Art, die keine Widerrede duldete, »also Schluß mit dem Gejammer. Sie sehen mir sowieso nicht so aus, als ob Sie mit Smarties viel anfangen könnten.« »Du wirst sicher durch einen Schlauch ernährt«, befand Doris, »ein Smartie geht nicht durch einen Schlauch.« »Außerdem wissen Sie hoffentlich, was Sie getan haben?« fragte Mrs. Fulljames. »Soviel ich weiß«, sagte Davies matt, »habe ich mir eine Mülltonne über den Kopf stülpen, mich entsetzlich zurichten und in den Kanal werfen lassen.« » J a , und die Haustür offengelassen«, sagte Doris streng. »Dein Schlüssel steckte noch.« »Oh?« »Und jemand ist hereingekommen und hat den Garderobenständer gestohlen«, fuhr Mrs. Fulljames fort, vielleicht aus Besorgnis, Doris könne es an Nachdruck fehlen. »Mein antiker Garderobenständer.« »Antik? Das Ding antik!« erlaubte sich Davies, Zweifel anzumelden. » E s hat Mr. Fulljames gehört. Als er noch lebte.« Damit war für Doris die Authentizitätsfrage geklärt. »Vielleicht ist ja dieser Perser - der das Bett geklaut hat - wieder durch das Haus geschlichen«, sagte Davies müde. »Jetzt werden Sie auch noch zynisch! Ich wette, Sie machen sich hinter meinem Rücken über das Ganze auch noch lustig. Aber ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Wann kommen Sie hier raus?« »Weiß der Teufel. Die Nähkünstler versammeln sich morgen wieder um mich. Vielleicht möchten sie mich als Demonstrationsobjekt hierbehalten.« »Aber wie lange? Sag es Mrs. Fulljames«, verlangte Doris. »Weiß ich doch nicht.« Er vollbrachte das Kunststück, flüsternd zu explodieren. »Wollen Sie Ihr Zimmer behalten? Das ist das Problem.« Davies war entsetzt. »Mein Zimmer? Sie würden doch wohl nicht mein Zimmer weitervermieten?« »Eine Geldfrage, Mr. Davies. Wir müssen schließlich alle leben. Das sollten selbst Sie wissen.« »Sie rühren mich zu Tränen. Aber geben Sie es nicht weg, ich zahle die Miete.«
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»Dann ist es ja gut«, sagte Mrs. Fulljames wie jemand, dem ein Stein vom Herzen gefallen ist. »Über den Kleiderständer reden wir später weiter. Ich fühle mich dazu jetzt nicht in der Lage.« »Ich auch nicht«, stöhnte Davies und rutschte unter die Bettdecke. Wie zum Zeichen eines Waffenstillstandes zog sie aus den Falten ihres Plastikumhangs eine Zeitung hervor. »Die Abendzeitung. Zwar von gestern, aber hier drin spielt das wohl keine Rolle.« »Nicht die geringste«, sagte er erschöpft. »Hier ist absolut nichts von Bedeutung.« Sie waren schon dabei, sich zur Tür zurückzuziehen, als Doris plötzlich mit einer Bewegung, die an ein pickendes Huhn erinnerte, auf ihn zukam und ihn auf die aufgeschürfte Wange küßte. Eine letzte kleine Wasserlache ergoß sich von ihrem Hut in sein Gesicht. »Wiedersehen«, sagte sie, und dann, ehrlich besorgt: »Du hast doch alle Versicherungen pünktlich bezahlt, oder?« Mod Lewis kam unauffällig durch die Tür wie ein Dieb. »Ich lasse mich nicht gern hier sehen«, flüsterte er, als er auf Zehenspitzen bei Davies' Bett angelangt war. »Ich war hier mal Aushilfspförtner, weißt du, gerade als hier eine Diebstahlserie lief. Jemand hat den Patienten die falschen Zähne geklaut. Immer bei Nacht, verstehst du.« Er rollte dramatisch mit den Augen. »Alle wurden verdächtigt, sogar die Ärzte. Und alle hatten am Schluß einen schlechten Nachgeschmack im Mund. Besonders die Patienten.« Er ging um Davies' Bett herum, als habe die Pförtnertätigkeit ihn mit medizinischen Kenntnissen ausgestattet. »Na ja, nicht übel«, sagte er nach einem anerkennenden Blick auf die geschwollene Wange. »Gute Arbeit, diese chirurgischen Nähte. Es wird gut ausheilen. Sieht schon nicht mehr ganz so schlimm aus.« »Bist du denn schon einmal hier gewesen?« » J a , Mann, natürlich. Gleich am nächsten Morgen, sowie ich davon erfuhr. War eine gute Entschuldigung, nicht zur Bücherei zu gehen. Du warst ein jämmerlicher Anblick, Davies, hab' noch nie solch ein Gesicht gesehen. So verschwollen, daß dein Kopf mich an den alten Globus erinnerte, den wir in der Schule hatten. Der sah auch so zerdeppert aus. Ich hab' eine Stunde oder noch länger bei dir gesessen. Du warst bewußtlos, und so hatte ich nie-
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manden, mit dem ich reden konnte. Da hab' ich mich damit unterhalten, auf deinem Gesicht die Flüsse und die Verkehrslinien zu Wasser, zu Lande und in der Luft aufzuspüren - die Eisenbahnstrecken waren natürlich am interessantesten.« »Na siehst du, ich bin niemals langweilig«, sagte Davies. »Könntest du wohl eine Nachricht von mir an eine junge Frau weitergeben?« »Aha, Josie«, sagte Mod, seiner Sache sicher. »Sie kommt heute abend her. Sie hat es im Lokalblatt gelesen und ist dann ins WICKELKIND gekommen. Nettes kleines Mädchen, ein bißchen knochig und ein bißchen zu jung für dich. Sie wäre gern heute morgen schon hergekommen, aber ich hab' ihr gesagt, ich würde nachschauen, ob du passabel aussiehst.« »Und?« »Na j a « , meinte Mod skeptisch, »du bist nicht gerade schöner geworden, seit wir das letzte Mal darüber gesprochen haben. Wer war es diesmal?« »Ramscar - oder seine Leute. Wer sonst? Er will mich umbringen, nehme ich an.« »Davus sum, non Oedipus«, zitierte Mod melancholisch. »Sagt Terenz, ein römischer Dichter.« »Was bedeutet das?« »Ich bin nur ein einfacher Mensch, nicht dazu auserkoren, Rätsel zu lösen. Ich las die Worte gestern und mußte daran denken, wie gut sie hier passen.« Er hatte bisher gestanden, zog sich aber jetzt das Besucherstühlchen heran. »Irgendwem hast du ganz schön auf die Hühneraugen getreten, so viel ist sicher.« »Tolpatschig, wie ich nun mal bin.« »Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, ob sie dich nicht genau deswegen auf Ramscars Spur gehetzt haben? Vielleicht wollte man niemanden, der a l l z u . . . sagen w i r . . . geschickt vorgeht.« »Alle meine Besucher sind heute so charmant«, seufzte Davies. »Sag mal, gibt jemand meinem Hund zu fressen?« »Mr. Smeeton, unser erstklassiger Alleinunterhalter«, berichtete Mod. »Erst habe ich es versucht, aber das Scheusal hat mich gebissen. Mr. Smeeton, den ich dann losgeschickt habe, war gerade auf dem Weg zu einer Party. Als Hund kostümiert. Er hat übrigens versprochen, dich zu besuchen.«
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»Aber doch hoffentlich nicht im Kostüm?« »Vielleicht doch, er wollte nämlich auf dem Weg zur Arbeit hereinschauen, du weißt ja, was das bedeutet. Auf jeden Fall irgendeine Verkleidung.« »Ich kann es kaum erwarten.« Einen Augenblick schwiegen beide, wie das an Krankenbetten so oft passiert. Mod druckste herum. »Du hast sicher von dem verschwundenen Garderobenständer gehört«, sagte er schließlich. Davies hatte das Gefühl, er habe eigentlich etwas anderes sagen wollen. »Weißt du, sie waren beide schon hier, Mrs. Fulljames und Doris«, erwiderte er. » E s war entsetzlich. Und sie hat einfach meine Smarties verschenkt. Was wolltest du mir sonst noch sagen?« »Ach, eigentlich nichts. Ich hätte bloß gern gewußt... ich will mich ja nicht in Polizeiangelegenheiten einmischen. Ich wüßte nur gern, wie es steht. Die Sache mit Celia.« Davies hatte sich in den Stunden, in denen er hilflos auf dem Rücken lag, systematisch damit beschäftigt. »Ich drehe dauernd irgendwelche Steine um und stoße auf seltsame Dinge, sehr schmutzige Sachen zum Teil, aber nichts paßt zum anderen. Zwei Stunden, bevor ich zusammengeschlagen wurde, dachte ich, eine Spur zu haben, von einer Sache, die schon seit Jahren stinkt; inzwischen hat sich ja wohl gezeigt, daß ich recht habe.« Mod fuhr nachdenklich fort: »Wie du, Davies, normalerweiseentschuldige - durch den Porzellanladen stolperst... vielleicht hast du ja mehr als einen Sumpf aufgerührt.« »Hör zu, Mod«, sagte Davies, »wenn es mir ein bißchen bessergeht, erzähle ich dir, was ich bisher herausgebracht habe. Es ist vieles, aber nicht viel, wenn du weißt, was ich damit meine. Vielleicht siehst du einen Zusammenhang, der mir bisher entgangen ist.« Der Waliser nickte. »Höchstwahrscheinlich. Inzwischen bin ich schon für dich tätig gewesen. Ich dachte, solange du hier festsitzt, könnte ich eine Zeitlang den Fall Norris übernehmen.« »Und was hast du gemacht?« »Ach, eigentlich habe ich noch nichts unternommen, überhaupt nichts. Und ich will mich ja auch nicht einmischen, verstehst du, oder jemanden bloßstellen. Aber ich bin da über etwas gestolpert. Ich sage dir jetzt nicht, was es ist, es würde bei dir nur einen Argwohn wecken, der sich vielleicht als ganz falsch erweist. Je-
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denfalls ist es kein erfreulicher Verdacht, soviel kannst du mir glauben. Ich werde dir die richtige Richtung zeigen, und du kannst dann deine eigenen Schlüsse ziehen.« Davies starrte ihn an. »Also gut, was hast du in Gottes Namen gefunden?« »Ich habe den Bericht über Celias Ermordung im Archiv des Lokalblatts, des CITIZEN, nachgeschlagen. Das hast du sicher auch getan?« » J a , war einer meiner ersten Schritte. Die Zeitungsausschnitte sind alle in einer Mappe. Ich habe sie von vorn bis hinten durchgelesen.« Mod stand auf. »Also, wenn sie dich hier entlassen, dann geh, und nimm dir das Archiv noch mal vor. Mal sehen, ob du dann das siehst, was ich denke, daß ich es sehe. Alles klar?« »Kannst du es mir nicht jetzt erzählen?« bettelte Davies. »Los, Mod. Du bist doch mein Freund.« »Danke, trotzdem nein. Du mußt es dir selbst ansehen. Es ist nämlich ein Wespennest. Wiedersehen, Dangerous. Wenn ich wiederkomme, geht's dir hoffentlich schon besser.« »Elender Schuft«, murmelte Davies. Doch Mod lachte nur und ging. Mr. Smeeton, der erstklassige Alleinunterhalter, erschien am Abend auf der Bildfläche, wie Mod vorausgesagt hatte, ganz in braun gekleidet, mit Hufen an den Füßen und einem lebensgroßen Pferdekopf unter dem Arm. »Ich habe einen Partner engagiert«, vertraute er Davies schon von der Mitte des Saales aus an. Ringsum verstummten die Besuchsgespräche. »Ich habe ihn draußen gelassen. Er ist das Hinterteil.« »Was sonst?« sagte Davies. »Schön, daß Sie expandieren und Angestellte beschäftigen können. Sie sollten allerdings bei der Wahl des Hinterns äußerst vorsichtig sein. Könnte riskant werden.« » E s ist eine anständige Show«, erwiderte Mr. Smeeton sittsam, »und ich beschäftige nur anständige Leute.« Er legte den Pferdekopf, der mit seinen Glasaugen in die Gegend stierte, auf die Bettdecke, um Davies zu mustern. »Ekelhaft«, flüsterte er, »wirklich ekelhaft. Ich hatte mal einen Bekannten bei einer Messerwerfernummer, der hat die Frau des Messerwerfers verführt.
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Als ich ihn dann im Krankenhaus besucht habe, sah er ungefähr so aus wie Sie.« »Zu meiner Nummer gehört eine Mülltonne«, sagte Davies, »und anschließend ein atemberaubender Sprung in eiskaltes Wasser.« »Davon habe ich gehört«, sagte der Unterhaltungskünstler unbeeindruckt. »Und Sie haben die Haustür aufgelassen, und der Garderobenständer wurde gestohlen. Wir haben bei Tisch nichts als Klagen darüber zu hören bekommen, seit Sie hier liegen. Eine hartherzige Frau, diese Mrs. Fulljames. Sie könnte niemals auf der Bühne als Pensionswirtin auftreten, es fehlt ihr für die Rolle an Gutherzigkeit. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, daß sie einen Liliputaner hochheben würde, damit er an die Klokette langen kann.« Lachen tat weh. Davies wurde schnell wieder ernst. »Nein, das Bild paßt nicht gerade zu Mrs. Fulljames. Übrigens, vielen Dank, daß Sie für Kitty sorgen.« » E s ist mir ein Vergnügen«, sagte Mr. Smeeton liebenswürdig. Er stampfte mit den Hufen auf den Boden. Es klang so echt, daß die Leute wieder aufmerksam wurden. »Ich muß jetzt gehen, um acht beginnt meine Vorstellung. Hoffentlich kommen Sie hier bald wieder raus.« Er hob den Pferdekopf hoch und drehte an einem der Augen. »Bis bald dann. Hals- und Beinbruch!« Als er mit dem Pferdekopf unter dem Arm durch die Tür ging, kam Josie gerade herein. Ihr Gesichtchen sah abgehärmt aus, ihre Bewegungen wirkten verkrampft. »War der bei dir, der Typ mit dem Pferdekopf?« fragte sie. »So ist es. Alle versuchen, mich zum Lachen zu bringen.« Sie sah ihn an, setzte sich auf das Stühlchen, nahm seine beiden Hände in die ihren und brach in Tränen aus.
Kapitel 10
A
m Sonntagabend regnete es wie üblich. Die Musiker der Heilsarmee bildeten vor dem Eingang zu ihrem Missionssaal einen Halbkreis, ihr eigenes kleines Stonehenge, kehrten dem Rest der Stadt und der Welt die blaugekleideten Rücken zu und versenkten sich in ihr Spiel. In dieser Jahreszeit spielten sie fast nur für sich selbst. Im Sommer hielten sich die Leute gern auf der Straße auf, standen um sie herum und begleiteten die Lieder von der göttlichen Liebe mit guten Ratschlägen und obszönen Witzen, ja, ein Mann war sogar so weit gegangen, zu ihren Rhythmen einen Turnschuh-Shuffle vorzuführen. Aber jetzt, in der feuchten Herbstdämmerung, gab es nur zwei Menschen, die den wackeren Musikanten und ihrer frohen Botschaft Gehör schenkten. Der eine von beiden war ein stadtbekannter Trottel, dem es Spaß machte, das Orchester hinter dem Rücken des echten Kapellmeisters zu dirigieren. Seit Jahren kannte er jede Hand- und Armbewegung auswendig und gab meisterhaft den Takt an. Er hatte sich eine alte, ausgediente Offiziersmütze der Heilsarmee besorgt, die seinem hageren Gesicht einen asketischen, frommenZug verlieh. Für ihn war der Sonntagabend der Höhepunkt der Woche, nicht, weil es ihn nach der Botschaft von der Erlösung verlangte, sondern weil dies der einzige Abend in der Woche war, an dem er nicht allein war. Der andere Zuhörer war Dangerous Davies. Man hatte ihn aus dem Krankenhaus entlassen mit dem wohlgemeinten Rat, in Zukunft besser auf sich aufzupassen. Er war noch am selben Abend zur Polizeiwache gegangen, um seinen offiziellen Bericht über den Überfall zu schreiben. Seine Kameraden hatten sich um ihn versammelt, seine Verletzungen begutachtet, an ihnen herumgefingert, als sei er ein Anschauungsobjekt, und sich in historische Erinnerungen an eigene oder fremde
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rühmlich empfangene Wunden vertieft. Da war es fast besser, wieder hinaus in den Regen zu kommen. Er hatte seine Schritte in die sonntäglich leere High Street gelenkt und plötzlich die Klänge der Musikkapelle vernommen. Davies freute sich immer, wenn er der Heilsarmee über den Weg lief. Selbst an diesem so trüben und grauen Abend strahlten die Musikanten so etwas wie Wärme aus, als würde der heiße Atem, den sie durch ihre Blechinstrumente pusteten, von einem himmlischen Feuer gespeist. In diesem Augenblick, als er nach dem mehrtägigen Krankenlager neben der Telefonzelle stand und die Straßenlampen durch das Sprossenfenster hindurch ein schwarzes Gitter auf sein zerschundenes Gesicht zeichneten, fiel ihm ein, daß sich seine Mutter vor vielen Jahren sehnlichst gewünscht hatte, bei der Heilsarmee mitzumachen. Aber sein Vater, dem der Kapotthut nicht gefiel, hatte es nicht erlaubt. Jetzt waren beide schon lange tot und begraben. Ob sein Vater - fragte er sich - zur Strafe seiner Sünden auf ewig das Gesicht seiner Frau unter General Booths blau-rotem Bänderhut ertragen mußte? Davies beobachtete Andrew Parsons, der aus seiner Tuba tiefe, weiche Töne hervorpumpte. Er war ein untersetzter Mensch mit ernsten, festen Gesichtszügen - die jeder hat, der Tuba spielt, da man dabei nicht lachen kann - und eckigen Schultern. Wie er da so breitbeinig stand, hatte er nicht mehr viel von dem Jüngling mit den schwarzen Ringen unter den Augen an sich, der weibliche Kleidungsstücke von den Wäscheleinen der gesamten Umgegend gestohlen hatte. Das freute Davies. Auf ein Zeichen hin verstummte die Musik, und der Kommandant kündigte der kleinen Gruppe die Andacht an. Gleichsam als Anerkennung seines Offiziersrangs reichte man ihm einen Regenschirm in den blau-roten Farben der Heilsarmee, den er in die Höhe hielt wie die Priester von der Konkurrenz das Kruzifix, während er mehrere Gebete sprach und dann mit der Predigt begann. Naheliegenderweise wählte er als Einstieg - und das sicher nicht zum ersten Mal, dachte Davies - das Bibelwort, daß, wo zwei oder drei in Christi Namen versammelt sind, dieser mitten unter ihnen sein werde. Ohne ihre Musik schien die kleine Gruppe in sich zusammenzusinken und im Nieselregen dahinzuschmelzen. Als dem Pseudodirigenten im Hintergrund die Predigt zu lang dauerte, begann er dazwischenzurufen: »Spielt doch weiter!« und »Hör auf zu labern!«, bis ein Fagottspieler sich nach ihm
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umdrehte und in höchst unchristlichem Ton drohte, ihm das Maul zu stopfen. Auch Davies fand allmählich, daß im Wasser nicht viel Wahrheit liegt, weshalb er sich in die Telefonzelle verdrückte und so tat, als telefoniere er, während er Parsons im Auge behielt. Der Prediger steigerte seine Lautstärke - wohl in der Hoffnung, bis zu ihm oder irgend jemandem hinter den erleuchteten Fenstern durchzudringen. Aber obwohl er den Mund so weit aufriß, daß es hineinregnete, hörte ihm keiner zu. Er war ein Rufer in der Wasserwüste. Schließlich fing die Kapelle wieder an zu spielen, und als ob auch Gott aufatme, daß die Predigt zu Ende war, ließ der Regen nach und trockneten die Gesichter der Musiker wieder. Nach dem Schlußgebet verließ Davies seine Telefonzelle gerade in dem Moment, als Parsons mit dem Hut herumging. »Hoffentlich hat's Ihnen gefallen, Sir. Möchten Sie nicht auch etwas spenden?« Er tat so, als könne er ein Eintrittsgeld verlangen. Davies warf einen Blick in den Hut. Der Einfaltspinsel hatte zwei Milchflaschendeckel hineingeworfen. Davies ließ das Zweipencestück hineinfallen, das er in der Hand gehalten hatte, um seinem vorgetäuschten Telefongespräch einen realistischeren Anstrich zu geben. Parsons, der aus Erfahrung nichts gegen die Blechdeckel eingewendet hatte, blickte erst die zwei Pence und dann Davies so vorwurfsvoll an, daß dieser noch ein Zehnpencestück opferte. Die Münze lag da wie ein Silbermond in einem schwarzen Himmelszelt. »Vielen Dank, Sir«, sagte Parsons nach einem Blick in den schwarzen Hut. »Wir sammeln nämlich für einen neuen Versammlungssaal.« Das Geld wurde fromm gezählt, und nach einem weiteren Humptata-Choral und einem kurzen Gebet löste sich die Gruppe auf. Die Musiker verschwanden einzeln, ihre Instrumente wie Kindlein im Arm tragend, in der feuchten Dunkelheit; nur die stattliche Frau, die das Banner getragen hatte, befühlte das Fahnentuch und seufzte: »Wieder mal klatschnaß. Braucht die ganze Woche zum Trocknen.« Davies drehte sich um und ging Parsons nach. »Schade, daß nicht ein paar mehr Leute da waren«, sagte er im Plauderton, als er die vierschrötige Gestalt eingeholt hatte. Parsons schaute sich nach ihm um und grinste ein wenig bitter. »Kann
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man bei diesem Wetter nicht erwarten«, meinte er philosophisch. » E s braucht unsere ganze Glaubensstärke, um es draußen auszuhalten. Ein geheizter Saal wäre besser.« »Aber ich fand es schön, trotz des Regens. Die Katholiken würden ihre Messe wohl kaum unter solchen Bedingungen abhalten. Kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen.« »Wohl wahr«, räumte Parsons ein. »Bei solchem Wetter würden ja ihre Kerzen und der Weihrauch nicht brennen.« Nach einer Weile fragte er: »Sind Sie gläubig?« »Nein, Polizist.« Parsons schien kaum überrascht. Er nickte und ging weiter. »Hab' ich mir gedacht. Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Aber Ihr Gesicht hat sich verändert.« »Das kommt vom Alter«, antwortete Davies. Sie standen vor ein paar bröckligen Stufen, die zu einem der schmalen viktorianischen Häuser hinaufführten. Die Gardinen waren in jedem Fenster anders. »Wohnen Sie hier?« fragte er. » J a , ganz oben.« »Kann ich einen Augenblick mit reinkommen? Ich möchte Sie etwas fragen.« Auch diesmal war Parsons nicht besonders überrascht. Vielleicht ließ er sich nie überraschen. »Ja, wenn Sie wollen«, sagte er und stieg die Stufen hinauf, während er mit der Tuba rummanövrierte, um an seinen Schlüssel zu gelangen. » E s geht wohl um eine Glaubensfrage, oder?« Er schien nicht übermäßig erbaut. »Nein, leider geht es um ein Verbrechen.« Parsons schloß behutsam auf. »Meinetwegen«, sagte er und drückte mit der Stirn die Tür auf, so daß es für einen Augenblick so aussah, als müßte er sich auf der rotweiß gemusterten Glasscheibe ausruhen. »Aber machen Sie bitte keinen Lärm, ich möchte nicht, daß meine Hauswirtin merkt, daß ich jemanden mitbringe. Und schon gar nicht jemanden von der Polizei. Sie liebt euch nicht besonders.« »Meine ist genauso«, sagte Davies wahrheitsgemäß und schlich hinter Parsons her durch die Haustür. Sie stiegen schnell, aber lautlos die halbdunklen Treppen hinauf, dann kam ein Korridor, in dem schwer der Dunst von Essen lag, und schließlich, nachdem Parsons noch eine Türe aufgeschlossen hatte, ein typisches möbliertes Zimmer, das reinlich, aber verwohnt aussah.
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»Sie sind nicht verheiratet?« Davies setzte sich in einen kalten Lehnsessel, während Parsons sich bückte, um den Gasofen anzuzünden. »Dann säße ich nicht hier«, erwiderte Parsons, den nichts aus der Fassung zu bringen schien. »Ich wohne hier seit 30 Jahren.« »Praktisch von Jugend an.« Davies lehnte sich zurück. Es war, als säße er auf dem feuchtkalten Schoß einer Riesenfrau. »Dann haben Sie schon hier gewohnt, als Sie damals dieses Problem hatten.« »Was für ein Problem?« »Das wissen Sie ganz genau, Andrew. Wegen Celia Norris.« Parsons richtete sich langsam auf, wobei er Davies noch immer den Rücken zukehrte, während die Gasflamme aufzischte. Ihre Augen trafen sich im Spiegel, der über dem Kamin hing. »Oh mein Gott«, sagte er mutlos, »laßt ihr mich denn nie in Ruhe?« »Ich weiß, Mann, ich weiß.« Davies' Mitgefühl war echt. »So was wird man nie los.« » E s weiß doch fast keiner mehr was von den Dummheiten, die ich damals gemacht habe. Ich denke immer, irgendwann muß es doch vergeben und vergessen sein. Wie heißen Sie überhaupt?« Er wandte sich von der Wand und dem Spiegel ab. «Detective Constable Davies.« »Ach, Sie sind der berühmte Dangerous Davies.« »Mich kennen wohl alle«, seufzte Davies. » E s kann ja wohl nichts von Bedeutung sein, wenn die Sie herschicken und nicht einmal einen Schutzmann.« »Eine Formalität.« Davies versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Wirklich nur eine Formalität. Es hat sich etwas ergeben, was den Fall Celia Norris betrifft, das ist alles. Vielleicht ist es ein neuer Anhaltspunkt.« » N a c h . . . wieviel Jahre liegt das jetzt zurück? Nach 25 Jahren? Man sollte doch annehmen, die Anhaltspunkte sind genauso tot und begraben wie die Norris«, murmelte Parsons. Er setzte sich Davies gegenüber in den anderen, ebenso schäbigen Sessel, so daß beide sich die spärliche Wärme teilten. Er hatte nur eine einzige Gasflamme angezündet. »Man ändert vielleicht seine Meinung in dem einen oder anderen Punkt oder spricht Dinge aus, die man früher nicht geäußert hätte.« Davies mußte nicht nur Parsons, sondern auch sich selbst Mut machen.
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»Mag sein«, sagte Parsons müde. »Aber sehen Sie's mal von meinem Standpunkt aus. Ich habe damit leben müssen und versucht, es zu verdrängen. Und die anderen Leute hier haben es jetzt endlich vergessen, und ich möchte nicht, daß sie daran erinnert werden.« Er blickte auf, und in seinen Augen lag ein Ausdruck von hilfloser, trotziger Verzweiflung. »Ich habe zwei Jahre gebraucht, diese Tuba spielen zu lernen.« » E s tut mir wirklich leid. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wenn wir das jetzt erledigen, ist die Sache ausgestanden, aus und vorbei, und kein Mensch wird etwas davon erfahren.« »Bis zum nächsten Mal.« » E s wird kein nächstes Mal geben. Jedenfalls nicht, wenn wir den Fall jetzt mit Ihrer und der Hilfe von anderen Zeugen aufklären können. Dann wird er ein für allemal ausgestanden sein. Es ist unangenehm für Sie, ich verstehe das gut, aber es dauert nicht lange.« Parsons seufzte und knetete seine Hände. Dann stand er auf und räumte seine Tuba in den Kleiderschrank, als solle sie nichts von dem erfahren, was jetzt von ihrem Herrn und über ihn gesagt werden würde. Parsons setzte sich wieder hin. »Ich trinke nicht, deshalb kann ich Ihnen nichts anbieten.« »Vergessen Sie's. Ich spiele auch mit dem Gedanken, es demnächst aufzugeben.« » E s ist ein Übel«, sagte der Heilsarmist streng. »Ein großes Übel. Der Alkohol zerfrißt Ihre Eingeweide.« »Zugegeben. Also, würden Sie mir jetzt bitte erzählen, was sich Ihrer Erinnerung nach zugetragen hat. Ich habe mir Ihre damalige Aussage durchgelesen, so wie die von allen anderen, aber ich bitte jetzt alle Zeugen, sie noch einmal zu wiederholen; vielleicht kommt etwas dabei heraus, das einen neuen Hinweis ergibt.« »Meinetwegen, aber vorher noch eins, Mr. Davies. Ich bin damit fertig, verstehen Sie? Sie wissen schon - das mit der Unterwäsche. Das ist vorbei, und ich bin darüber hinweg. Ich war ja damals noch ein halbes Kind und so schrecklich allein. Man kann sich ja bei einem Jugendlichen kaum vorstellen, daß er isoliert ist, aber es war wirklich die einsamste Zeit meines Lebens. Jetzt, mit der Heilsarmee, meiner Tuba und dem allem habe ich genug, was mich beschäftigt. Nichts da mehr mit Unterwäsche.«
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»Reden Sie nur weiter«, drängte Davies. »Ich verstehe das alles sehr gut. Wir alle tun ja Dinge, die wir später im Leben bedauern. Ich will mich da nicht ausnehmen . . . « »Oh«, sagte Parsons, »was haben Sie denn angestellt?« Davies wußte aus leidvoller Erfahrung, wohin es führen konnte, wenn er sich von dem Beschuldigten ausfragen ließ. Er sagte fest: »Lassen wir das. Fangen Sie einfach an, und schildern Sie, woran Sie sich erinnern.« Es dauerte 20 Minuten. Wie er die Kleider des Mädchens in der öffentlichen Toilette gefunden hatte, nicht jedoch den Schlüpfer. Wie er sie an sich genommen und erst später aus der Zeitung erfahren hatte, daß sie Celia Norris gehörten. Wie er sie zu der Toilette zurückgebracht hatte und dabei von dem Wärter ertappt worden war. Zwar sprach hier ein Erwachsener von einer viele Jahre zurückliegenden Jugendverirrung, aber die Geschichte war heute noch genauso tragisch und mitleiderregend wie damals. Parsons sprach tonlos, er hielt den Kopf auf die Knie gesenkt und hob nicht ein einziges Mal den Blick. Als er es zum Schluß doch tat, waren seine Augen tränenfeucht. »Gut, Mr. Parsons. Es tut mir leid.« Davies stand auf und klopfte ihm auf die jetzt kraftlos herabhängende Schulter. »Danke, daß Sie mir die Geschichte noch einmal erzählt haben. Ich wollte einfach noch einmal hören, was da auf der Toilette passiert ist.« »Genügt das jetzt? Ist das jetzt endlich alles?« »Nun, ich hoffe es. Versprechen kann ich es nicht. Vielleicht gibt es noch einen oder zwei unklare Punkte. Man weiß ja nie.« Es schien ihm unangebracht, dem Mann die Hand zu reichen, statt dessen sagte er: »Einstweilen vielen Dank«, und ging auf den Korridor hinaus. Er war schon drei Treppen tiefer, als Parsons ihm von oben etwas nachrief. Die Stimme war tränenerstickt und zitterte bei dem Versuch, zu schreien und gleichzeitig leise zu sein. »Verschwinden Sie nur, wo Sie hingehören - auf den Müll!« Davies hob beschwichtigend die Hand und ging weiter. Parsons schloß seine Tür von innen und lehnte sich schluchzend dagegen. »Nächstes Mal tun Sie wenigstens eine anständige Summe in die Kollekte«, flennte er, »Sie mieser Bulle.« Er schleppte sich zu seinem Bett und zog die steife Heilsarmeekluft aus. Den Uniformrock und die Hosen hängte er sorgfältig über einen Stuhl. Dann bemerkte er, daß die Gasflamme aus-
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gegangen war, und er schlotterte vor Kälte, hatte er doch nichts am Leibe als seinen Büstenhalter und das Seidenhöschen. Als Davies am nächsten Morgen zum Polizeirevier kam, war die Putzfrau gerade dabei, die Glasscheibe von dem Schaukasten abzuwischen. Die Eingangsstufen waren frisch geschrubbt, und der Messingtürgriff erstrahlte in ungewohntem Glanz. Es war fast so, als hätten sie alles geputzt, um ihn willkommen zu heißen. »Die pure Zeitverschwendung«, sagte die Putzfrau und mühte sich mit dem Schmutz auf der Glasscheibe der Tafel ab. »Kaum hat man's sauber, ist es wieder schwarz. Dies war schon immer ein besonders schmutziges Revier, Mr. Davies.« »Wenigstens kann man jetzt durch das Glas wieder sehen«, lobte Davies. Sie warf einen schnellen prüfenden Blick auf sein entstelltes Gesicht, verzichtete jedoch auf einen Kommentar. Wahrscheinlich dachte sie - und das nicht ganz zu unrecht-, so etwas gehöre zum Beruf. Er ging näher heran, um die wieder zum Vorschein gekommenen Steckbriefe zu studieren. »Höchste Zeit, daß hier mal geputzt wurde«, scherzte er, »wenn das hier stimmt, fahnden wir heute noch nach Jack the Ripper.« »Viel Glück, kann ich da nur sagen. Kaum zu glauben, daß ihr überhaupt manchmal jemanden schnappt. Bei dem, was ihr hier Arbeit nennt.« Drinnen war der diensthabende Sergeant gerade dabei, das Aussehen eines entlaufenen Hundes zu rekonstruieren. Er hatte eine Schautafel mit Hunderassen von der Wand abgenommen und hielt sie einer drahtigen alten Dame hin, damit sie ihm den Typ zeigen konnte, der ihrem vermißten Liebling am ähnlichsten sah. » E r hat einen Kopf wie dieser h i e r . . . und warten Sie . . . der Körper ist wie bei dem da . . . und dann hat er einen süßen buschigen Schwanz wie dieser h i e r . . . und lange Beine - wie die von dem da.« »Insgesamt ergibt das ein Kamel«, brummte der Sergeant und schrieb geduldig mit. Ein Augenpaar spähte über die Trennwand des Vernehmungsraums. Zwei verlorengegangene Kinder, die auf der Bank im Flur saßen, spielten ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST.
Police Constable Westerman hatte wieder mal einen Anfall von Nasenbluten und lag lang ausgestreckt und blutüberströmt wie ein Krawallopfer im CID-Büro, während jemand losgegangen war,
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die Zellenschlüssel zu holen, die man ihm ins Hemd schieben mußte. »Der Chef will dich sprechen, Dangerous«, sagte er tapfer, während das Blut weiter floß. »Fühlst du dich besser?« Es rührte Davies, daß der erste, der sich nach seinem Befinden erkundigte, jemand war, der selbst so übel dran war. »Danke, schon viel besser«, das Lächeln bereitete ihm Schmerzen, »aber dir geht's wohl nicht so besonders.« Westerman wagte es nicht noch einmal, das blutbefleckte Taschentuch von Mund und Nase zu nehmen; also rollte er nur tragisch mit den Augen. Davies stieg die Treppe hinauf, klopfte an Superintendent Yardbirds Tür und durfte nach zwei Minuten eintreten. Yardbird sah ihm in das verunstaltete Gesicht, verzog aber keine Miene. Vermutlich hätte er mehr Reaktion gezeigt, wenn Davies in einem neuen Anzug angekommen wäre. » E s freut uns alle sehr«, sagte Yardbird. » J a , Sir. Freut mich auch«, sagte Davies. Jede einzelne Narbe tat ihm weh. »Übrigens, so was passiert jedem Polizisten mal.« Yardbird erhob sich vom Schreibtisch und trat wie zufällig ans Fenster. Die Dächer lagen da wie Eisschollen auf dem Meer, nichts rührte sich in dem Mädchenwohnheim. »Nützliche Erfahrung für Sie, Davies.« »Ja, Sir. Hervorragend.« »Und es zeigt, daß Sie ihn aufgestört haben, den Ramscar. Scheint nervös zu werden. Beim Yard ist man froh darüber. Wetten, er hat Sie beschatten lassen, seit Sie auf seiner Spur sind.« Davies nickte. Er mußte an den Mann mit der Brille ohne Gläser denken. »Denke ich auch, Sir«, murmelte er. »Wenn Sie die Augen aufgemacht hätten, wären Sie ihm nicht auf den Leim gegangen. Was, zum Teufel, haben Sie sich bloß dabei gedacht, sich denen praktisch selbst auszuliefern, indem Sie einen Zettel im Briefkasten ernst nehmen. Und dann auch noch allein hingehen - das war ja wohl das Allerdümmste. Manchmal gebe ich bei Ihnen die Hoffnung auf, Davies.« »Ich auch, Sir«, mußte Davies zugeben. »Na ja, Ende gut, alles gut. Wir wissen jetzt wenigstens, daß sie den Köder geschluckt haben.« » J a « , nickte Davies, »obwohl ich der Köder bin.«
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»Hören Sie, Davies«, Yardbird wandte sich vom Fenster ab, »Sie können es hinschmeißen, wenn Sie wollen. Ich hole mir jemand anderen. Daran habe ich ohnehin schon gedacht.« »Nein, nein, Sir. Ich komme schon zurecht«, protestierte Davies. »Ich habe jetzt mit Mr. Ramscar eine kleine Rechnung zu begleichen. Niemand stülpt mir eine Mülltonne über den Kopf, ohne dafür zu bezahlen.« »Also gut«, sagte Yardbird, »dann nehme ich an, Sie konzentrieren sich jetzt auf diesen Fall und graben nicht alte Mordgeschichten aus.« »Bestimmt.« »Gut. Lieber Himmel, wenn alle in der Londoner Polizei nur herumrennen und in ungelösten Verbrechen herumstochern wollten, könnten die Ramscars sich in dieser Welt sauwohl fühlen. Es wäre das totale Chaos. Werden Sie sich um Gottes willen über Ihre Prioritäten klar. Ich hoffe, Sie verlangen nicht auch noch Krankenurlaub?« »Ich bin ja schon wieder auf den Beinen«, sagte Davies ruhig. »Wenn alles vorbei ist, kann ich vielleicht Urlaub nehmen und mich anständig auskurieren. Ich würde gern meinen Onkel in Stoke-on-Trent besuchen.« »Genehmigt«, sagte Yardbird und setzte sich wieder an den Schreibtisch. »Tut Ihnen bestimmt gut. Jetzt aber marsch, suchen Sie Ramscar.«
Kapitel 1 1
A
n diesem Abend trug Dave Boot seine schönste Haarpracht, ein rötliches Kunstprodukt, das sein farbloses Gesicht mit einer orangefarbenen Aureole umgab. Seine Gestalt schwankte in den aufleuchtenden violetten Blitzstrahlen, während die Musikanlage ihre Schlager mit den volkstümlichen Weisheiten und der üblichen Light-Show heraushämmerte. Er registrierte zufrieden, daß der Saal gut gefüllt war, was nicht ganz unerwartet kam, da montags der Eintritt kostenlos war und er darauf kalkulierte, an der Bar wieder wettzumachen, was er am Eingang einbüßte. Er sah sich vom Podium aus um. Wie groß die Teenies heutzutage waren! Ihre Schatten schwankten vor der blutroten Rückwand des Saales wie Bäume im Wind. Auf einmal arbeitete sich der höchste und breiteste Baum von allen durch die schwofende Menge nach vorne, und Boot erkannte, daß es Dangerous Davies war. Jetzt zuckte Boot sowohl innerlich wie äußerlich zusammen. Er beobachtete, wie Davies sich näherte; augenscheinlich versuchte er zu tanzen, geriet jedoch dauernd aus dem Takt und malträtierte die Schienbeine seiner Umgebung derart, daß die Betroffenen sich mit Treten und Schubsen revanchierten. Er zog ein zierliches, blasses dunkelhaariges Mädchen hinter sich her. Jetzt näherten sie sich den farbigen Flashlights rings um das Podium, die auch Boot anstrahlten. Dieser beugte sich wütend hinab. »Was haben Sie hier zu suchen?« fragte er. Davies schaute zu ihm auf und grinste von einem Ohr zum anderen. »Ich bin ein Oldie, mein Bester. Der Hit von Anno dazumal.« Er schlug eine Art Volte und joggte mit Josie von dannen. »Also das ist Mr. Boot«, flüsterte sie, »der Freund von Celia.« Er wußte nicht genau, wie sie das meinte; von ihm hatte sie nichts erfahren. »Der sieht ja absolut bescheuert aus mit seiner Pe-
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rücke«, fügte sie hinzu, »wie eine wildgewordene Schießbudenfigur. Ich finde das hier alles grauenhaft, Dangerous.« »Und ich dachte, alle jungen Leute mögen das, diesen Pop. Ich wünschte, ich könnte was damit anfangen. Dann wüßte ich wenigstens am Montag, wohin ich gehen kann.« Josie rümpfte im Halbdunkel verächtlich die kleine Nase. »Ich kann Pop nicht ausstehen«, sagte sie, »ich steh' auf Folk.« »Aha. Was ist das genau?« »Folk. Folkmusik. Ich hab' 83 LPs. Es gibt da einen astreinen Klub, die TRUCK DRIVERS. Dahin gehe ich immer.« Davies nickte. » J a , in Kilburn, ich hab' das Schild gesehen. Ich dachte, es wäre ein Fernfahrercafé.« Sie mußte lachen. »Ein Fernfahrertreff, das ist eher das hier. Der Chauvi mit seinem Karottenhaar. Schau ihn dir da oben nur an!« »Ich denke, wir sollten uns jetzt leise verdrücken. Der Hund hat den Hasen gewittert und der Hase den Hund. Er ist nun aufgestört. Mehr will ich gar nicht. Laß uns noch irgendwo was trinken gehen und uns später um Mr. Boot kümmern. Danke für den Tanz, Josie.« Er rief für Josie ein Taxi, ehe er sich wieder um Boot kümmerte. Während er dem Fahrer Geld gab, machte Josie ihm hinter der Glasscheibe ein Zeichen, doch ehe er die Tür noch einmal öffnen konnte, hatte sie schon die Fensterscheibe heruntergekurbelt. Ihr schmales Gesicht erschien in der Fensteröffnung wie in einem Rahmen. »Dangerous«, sagte sie besorgt, »bitte, bitte setz dich nicht wieder in die Tinte. Und betrink dich nicht. Und geh nicht so spät nach Hause.« »Wird gemacht.« Sie streckte den Kopf durch das Fenster und gab ihm einen verrutschten Kuß auf die Oberlippe. Er tätschelte ihr ungeschickt die Wange und winkte ihr nach, als das Taxi anfuhr. Dann ging er zur Disko zurück, mischte sich - nicht gerade unauffällig - unter die Teenager, die sich in den schummrigen Ecken herumlümmelten, und sah sich um. Aber Boot war nicht mehr da. »Heute ist er früh nach Hause«, meinte die Garderobenfrau. »Er nimmt sich öfters am Montag den halben Abend frei, weil es ja keinen Eintritt kostet. Aber er ist gerade erst weg. Vielleicht erwischen Sie ihn noch auf dem Parkplatz.«
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Davies eilte hinaus. Hinter dem Haus dämmerten die Autos reihenweise vor sich hin. Nur ein Motorradfahrer im Plastikhelm beugte den glatten Eierkopf vornüber und malträtierte den Kickstarter seiner Maschine. Davies lief um die Autos herum, um sicherzugehen, daß Boot sich nicht irgendwo versteckte. Er hatte nicht weniger als drei Liebespaare aufgestört - in einem Auto lag ein Mädchen auf dem Rücken und hatte die Füße ekstatisch gegen die Decke gestemmt -, als plötzlich der Motorradfahrer an ihm vorbeidonnerte und Davies im Schein der Parkplatzleuchten die orangeroten Locken erkannte, die aus der Tasche auf dem Gepäckträger herauswehten. Boot war vom Platz verschwunden, bevor Davies auch nur »Halt!« schreien konnte. Er hastete zu seinem Lagonda, riß die Tür auf, ließ den Motor an - und weckte den Hund auf. Kitty fing vorwurfsvoll zu husten an. Auf dem Weg zur Ausfahrt rief ihm jemand »Dreckiger Spanner« nach. Er bog in die Straße ein und sah Boot unten an der Kreuzung vor der roten Ampel halten. Boot hatte ihn auch bemerkt und bretterte, dicht gefolgt von dem keuchenden Lagonda, die Hauptstraße hinunter. Aus der Gegenrichtung kam viel Verkehr, erstaunlich viel für einen Abend am Wochenanfang, dachte Davies. Er konnte Boots Rücklicht gerade noch erkennen und wunderte sich, als es plötzlich absackte und zu schwanken begann. Boot war in rasendem Tempo von der Straße ab und in den Parkplatz der Untergrundstation Neasden eingebogen. Er selbst wurde an einer Straßengabelung durch den Verkehr behindert, der, wie ihm jetzt klar wurde, vom Wembley-Stadion her kam. Inzwischen hatte Boot genügend Vorsprung, um sein Motorrad abzustellen und in der Station zu verschwinden. Davies zog in größter Eile die Plane über den zähnefletschenden Kitty und machte sich an die Verfolgung. Er hielt sich nicht erst mit einer Fahrkarte auf, sondern rannte die Treppe hinab zum Bahnsteig. An dessen entferntem Ende stand Boot, den Sturzhelm wie eine Trophäe unterm Arm, und wartete in aller Ruhe auf den roten Zug, der eben einfuhr. Davies sah ihn einsteigen und lief die Zugwagen entlang, die alle total überfüllt waren. Er erreichte die Tür, bei der Boot eingestiegen war, und quetschte sich rücksichtslos mitten in die Menge der bemäntelten, bemützten und mit Schals versehenen Leiber. Es gab Protest, weil er so drängelte und angeblich kein Platz mehr war, aber da schlos-
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sen sich auch schon automatisch die Türen, und jede weitere diesbezügliche Diskussion war beendet. »Na, Kumpel, was hältst du von den Sturmspitzen?« fragte der Mann neben ihm. »Mies«, sagte Davies auf gut Glück. »Waschlappen.« Boot war nicht in der Nähe. Er sah sich auf Zehenspitzen um, bis seine Nachbarn, die er dabei anrempelte, riefen, er solle gefälligst nicht so rumhampeln. Der Mann, der von den Stürmern angefangen hatte, sah ihn abweisend an, da seine Frage eigentlich seinem hinter Davies stehenden Begleiter gegolten hatte; dieser schob Davies jetzt beiseite, und beide vertieften sich, nach einem geringschätzigen Blick in sein Gesicht, weiter in ihre Unterhaltung über das Spiel. England hatte im Wembley-Stadion gespielt und das, so viel bekam Davies mit, nicht gerade ruhmreich. »So ein Wichser, der Schiedsrichter«, sagte der Fan dicht neben Davies' linkem Ohr, »und die Linienrichter auch. Alles Wichser.« »Hey, Mann, das bringt doch nichts, die Idioten Wichser zu nennen«, kritisierte der neben dem rechten Ohr. »Die beschissenen Stürmer sind die Wichser. Und die Abwehr auch.« Der erste erwiderte, er solle das Maul halten, woraus ein Wortwechsel entstand, der sofort in einen Faustkampf überging, während Davies zwischen den beiden Kontrahenten eingezwängt war. Der eine hatte die Initiative ergriffen und dem anderen die Englandrosette abgerissen, die er ihm nun in den Mund zu stopfen versuchte. Davies' Fußknöchel bekam einen Tritt mit, ein zweiter traf einen anderen der Umstehenden an einem empfindlichen Körperteil, jedenfalls gab es Zetergeschrei und einen neuen Ausbruch der Feindseligkeiten. Davies fühlte sich wie ein von hungrigen Krokodilen umzingelter Elefant. Er turnte hin und her, um sich herauszuhalten, während um ihn herum der Nahkampf tobte. Jemand hatte seinem Gegner einen Schal um den Hals gelegt und zog daran, worauf dieser beängstigend rot anlief. Davies wollte eigentlich vermeiden, als Polizist einzugreifen, aber als er es mit einem lauten Zuruf dennoch versuchte, bekam er als einzige Reaktion einen Kniestoß in den Unterleib. Die Schlacht tobte jetzt in dem ganzen überfüllten Wagen, Arme und Fäuste, Köpfe und Flüche flogen hin und her. Davies konnte nicht einmal seinen Dienstausweis zücken, weil seine Hand in einer anonymen Achselhöhle festsaß wie in einem Schraubstock.
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Das Chaos löste sich dann schnell und schmerzlos auf, da der Zug an der nächsten Station hielt und das Getümmel sich zumindest teilweise auf den Bahnsteig ergoß, wo die Schlacht mit noch mehr Enthusiasmus entbrannte. Als die Türen sich wieder schlossen, war ungefähr ein Drittel der Fahrgäste ausgestiegen. Im Zug flaute das Handgemenge langsam ab, bis nur noch gehässige Blicke ausgetauscht wurden. Ein älteres kleines Männlein, das unter dem Schal und der Rosette fast verschwand, war bei der Rangelei in eine Ecke gedrängt worden; jetzt hockte er auf dem Boden und versuchte, die Einzelteile seiner Brille wiederzufinden. »Ich will mich ja nicht beklagen«, jammerte er, »aber verdammt noch mal, eigentlich sollten die doch alle für England sein.« Hinter ihm stand jemand und beobachtete Davies. Es war Boot. Davies ging zu ihm hinüber. Die Männer rundum unterhielten sich jetzt einsilbig oder diskutierten halbwegs vernünftig den Spielverlauf. Er sprach Boot an: »Nehmen Sie öfter die Bahn?« »Nur, wenn es in Wembley Fußball gibt. Dann sind die Straßen überall verstopft. Wohin fahren Sie denn?« »Ich begleite Sie«, antwortete Davies offen. »Hören Sie mal, Sie können nicht mit mir nach Hause gehen. Ich wohne bei meiner Mutter«, sagte Boot unerwartet. »Und ich möchte nicht, daß meine alte Dame von der Polizei belästigt wird.« »Wo wohnen Sie?« »Da müssen Sie schon warten und sehen, wo ich aussteige.« Der Zug hielt an der nächsten Station und spuckte noch mehr Leute aus. Einige schwenkten lustlos lärmend ihre Rasseln, wie um sich der trüben, regnerischen, fahl erleuchteten Bahnhofsatmosphäre zu erwehren. »Mir ist es egal, ich kann Ihnen meine paar Fragen auch hier stellen«, sagte Davies, dem es in Wirklichkeit nicht egal war. Boot durchschaute den Bluff. Seine Augen nahmen einen listigen Ausdruck an. Beide waren sich bewußt, daß ihre Mitfahrer ihre Zeitungen entfaltet hatten, um dahinter versteckt gespannt zuzuhören. »Also los«, forderte Boot ihn heraus, »schießen Sie los.« Dazu konnte sich Davies angesichts der Zeitungslauscher nicht entschließen. »Ich kann warten«, sagte er, »ich warte, bis wir aussteigen.«
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»Und was ist mit Ihrem Mordfall?« fragte Boot laut. Hinter den Zeitungsseiten kamen sogleich Augen und Ohren hervor. »Daß Sie aber auch in eine so scheußliche Affäre verwickelt sind!« Davies sah ihn wütend an. »Halten Sie den Mund«, flüsterte er heiser, »so fallen wir nur auf.« »Grausig, so ein Mord«, fuhr Boot ungerührt fort. »Vor allem, wenn man so tief drinsteckt wie Sie.« »Ich schleife Sie an der nächsten Station raus und verhafte Sie«, zischte Davies. »Ich meine es ernst.« »Aus welchem Grund?« fragte Boot etwas leiser. »Sie haben nichts gegen mich in der Hand. Was wollen Sie mir denn anhängen - vielleicht Frechheit gegenüber einem Bullen in der Londoner U-Bahn?« Die Auseinandersetzung wurde an der nächsten Haltestelle durch den gewichtigen Eintritt eines Fahrkartenkontrolleurs unterbrochen. Er steuerte sofort, als habe ihm jemand einen Tip gegeben, auf Davies zu. »Fahrausweise bitte«, rief er jovial, worauf ein allgemeines Kramen in den Taschen begann. »Ich habe keine«, murmelte Davies. »Ich h a t t e . . . ich hätte aber bezahlt.« »Die übliche Ausrede. Alle wollen auf einmal bezahlen, wenn sie geschnappt werden«, dröhnte der Kontrolleur. »Deshalb verlieren die Londoner Verkehrsbetriebe so viel Geld. Daran sind Leute wie Sie schuld.« »Ich wußte noch nicht, wie weit ich fahren würde«, erklärte Davies schnell, und indem er dem Mann seinen Mund dicht fast liebevoll - ans Ohr hielt: »Ich bin Polizist.« »Ach, so ist das? Auch das hab' ich schon öfters gehört«, rief der Aufseher belustigt. »Na, kann ich dann mal den Dienstausweis sehen?« Der ganze Wagen war jetzt in gespannter Erwartung, ob Davies solch ein Papier vorzeigen könnte. Diejenigen, die schlechte Plätze hatten, stellten sich auf die Sitze oder machten Klimmzüge an den Halteschlaufen. Boot verfolgte Davies' Nöte mit einem schadenfrohen Lächeln. »Dienstausweis?« sagte Davies. »Wenn es unbedingt sein m u ß . . . « Sowie er die Hand in die Jackentasche steckte, wurde ihm klar, daß da nichts war. Er erinnerte sich, den Ausweis zuletzt auf seinem Nachttisch im BALI H I gesehen zu
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haben. Die Hand kam leer zurück. Die andere Hand wanderte erst in die andere Tasche, dann in die beiden Manteltaschen. »Ich hatte ihn«, behauptete er verzweifelt. »Jemand hat ihn mir gestohlen.« Der Kontrolleur lachte höhnisch. »Sie haben keinen Ausweis, Sie haben keine Fahrkarte, und Sie wissen nicht einmal, wohin Sie fahren wollen. Hab' ich das zutreffend wiedergegeben, Sir?« Davies nickte kläglich. »Leider ja. Aber ich bin wirklich Polizist, ehrlich.« » E r ist ein Freund von mir«, schaltete Boot sich ein. »Ich kann bestätigen, was er sagt. Und ich habe eine Fahrkarte.« »Sie sind Polizist, Sir?« fragte der Bahnbeamte und sah Boot mit dem Respekt an, den er Davies verweigert hatte. »Nein, aber ich kann mich ausweisen.« Boot griff in seine Tasche. »Hier ist die Visitenkarte meiner Firma. Und hier ein Brief des Bezirksbürgermeisters von Neasden bezüglich einiger karitativer Aktivitäten, mit denen ich mich befasse. Darin steht auch meine Adresse.« Instinktiv versuchte Davies, einen Blick auf die Anschrift zu ergattern, aber der Kontrolleur sah ihn mißgünstig an und drehte sich mit dem Brief um. »Ach ja, Mr. Boot! Jetzt erkenne ich Sie wieder. Von der Zeit her, als ich in Willesden zum Boxen ging. Kann mich gut an Sie erinnern, Mr. Boot.« Er sah Davies geringschätzig an. »Also gut, wenn Sie mir die Richtigkeit seiner Worte bezeugen, werde ich mich damit zufriedengeben. Er muß aber das Fahrgeld bezahlen, das kann ich ihm nicht ersparen.« »Ich sorge dafür, daß er an der Sperre zahlt, wenn wir aussteigen. Wir wissen noch nicht, wie weit wir fahren.« »Von mir aus, dann verlasse ich mich darauf«, sagte der Kontrolleur. Dann wendete er sich dem bleichen Davies zu. »Also, ich vertraue Sie der Obhut von Mr. Boot an.« Er hob seinen dikken roten Zeigefinger. »Und denken Sie daran - Sie haben jetzt eine moralische Verpflichtung!« An jeder Station stiegen Fahrgäste aus, kaum jemand stieg zu. Als ein paar Sitzplätze in der Nähe frei wurden, wies Boot, der die Situation sichtlich genoß, mit den Augen in die Richtung, und Davies folgte ihm verdrossen. Nach einer Weile blieben in ihrer Nähe nur noch eine schlampig aussehende Frau sowie zwei Männer mit Englandrosetten übrig, die sich am anderen Ende des Wagens feindselig schweigend anstarrten.
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Als sie die nächste Station passierten, stutzte Davies und orientierte sich auf der Übersichtskarte. Der Zug fuhr gerade unter der Themse durch und steuerte seine Endhaltestelle beim ELEPHANT AND CASTLE an. Boot hatte eine Zeitung hervorgezogen und sich schweigend darin vertieft. Davies saß unruhig daneben. Endlich stand die schlampig aussehende Frau auf, sammelte ihre Habseligkeiten zusammen und stieg aus. So blieben nur noch die zwei Männer, und die saßen weit weg. »Also gut«, seufzte Boot und faltete die Zeitung zusammen. »Worum geht's denn eigentlich?« »Auf alle Fälle haben Sie Ihren Spaß gehabt«, erwiderte Davies grimmig. »Ich habe Sie davor bewahrt, als Schwarzfahrer aus dem Zug zu fliegen. Sie wären vielleicht sogar verhaftet worden.« »Ja, ja, schon gut, Mann. Wo steigen wir jetzt eigentlich aus?« »Ich steige überhaupt nicht aus. Sie können von mir aus tun, was Sie wollen. Ich hab' es Ihnen ja gesagt, ich will keinen Bullen, der mir nach Hause nachläuft und meine alte Dame aufregt. Sie haben ja wohl keinen Haftbefehl, oder?« »Sie ist Ihnen wohl sehr wichtig, Ihre Mutter?« »Komischerweise j a « , sagte Boot scharf. »Sind Sie damals auch immer nach Hause zu Mutti gelaufen, damals in der guten alten Zeit - wissen Sie noch? Sind Sie zu ihr nach Hause gegangen, nachdem Sie es mit Roxanne Potts auf dem Sprungbrett getrieben hatten?« »Wen, zum T e u f e l . . . ? « »Roxanne Potts. Mit dem Namen können Sie doch etwas anfangen.« Boot sah plötzlich erbärmlich aus. »Mein Gott, Sie haben sich ja ins Zeug gelegt, um das alles auszugraben. Roxanne Potts. Sie muß inzwischen über 40 sein.« »Damals war sie 15«, sagte Davies ruhig. »So alt wie Ena und die arme Celia Norris. Erinnern Sie sich an das Trampolin? Niemand könnte Ihnen vorwerfen, Sie hätten die Turngeräte nicht ausgenutzt.« Er machte eine federnde Bewegung mit den Händen. »Davy rauf, Davy runter, Davy . . . « »Hören Sie doch auf, Sie Bastard«, fauchte Boot. Er sah sich um, ob die beiden Männer am anderen Ende des Wagens zuhörten. Sie waren aufgestanden, um an der Endhaltestelle auszusteigen. Als der Zug hielt, drehten sie sich neugierig nach Davies und Boot um, stiegen dann aus und schlugen die Mantelkragen hoch.
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Als sie außen am Fenster vorbeikamen, schielten sie über die Kragenecken hinweg noch einmal nach den zwei Sonderlingen, die noch im Zug saßen. »ELEPHANT AND CASTLE«, sagte Boot und war im Begriff aufzustehen. »Endstation.« Davies zog ihn zurück auf den Sitz. »Nicht für mich«, sagte er. »Jetzt sind wir so weit miteinander gefahren, jetzt müssen Sie mir eine Weile zuhören, und dann möchte ich hören, was Sie zu sagen haben. Ich schlage vor, Sie bringen es jetzt hinter sich, Booty, später wird es nur noch schlimmer für Sie.« Boot setzte sich wieder. »Hier können wir nicht bleiben«, wandte er ein, »der Zug bleibt hier für die Nacht stehen.« »Dann warten wir, bis sie uns rauswerfen. Es ist warm und gemütlich, und wir sind ungestört. Hier kann man gut reden.« »Wer hat Sie auf mich gehetzt? Roxanne Potts?« »Ich hatte noch nicht das Vergnügen, Roxanne kennenzulernen. Raten Sie weiter.« »Diese E n a ? « »Diese Ena, jawohl. Damals Ena Brown, jetzt Ena Lind. Sie hat den feschen Bill Lind geheiratet und wohnt in einer Dachgeschoßwohnung, wo ihr die ganze Welt zu Füßen liegt. Stellen Sie sich vor, sie hat einen Kater, der grün ist.« »Manchmal könnte man glauben, Sie sind besoffen, dabei sind Sie's gar nicht«, stellte Boot fest. »Sie glauben das nicht, das mit dem grünen Kater? Ich nehme Sie mal mit hin, wenn Sie ihn sehen wollen. Lohnt sich, echt.« »Nein danke. Das erspare ich mir lieber.« »Aber Ena würde den flotten Dave gern wiedersehen. Sie könnten ein Turnhemd und einen Minislip anziehen, damit sie gleich weiß, was Sache ist. Und wenn Sie ein Trampolin mitbringen - falls das in den Aufzug paßt-, könnten Sie die alten Zeiten wieder aufleben lassen.« »Dafür können Sie mich nicht belangen, Davies. Es ist eine Ewigkeit her.« »Der Mord auch. Dafür könnte ich Sie belangen.« Boots Gesicht erstarrte, als würde ihm mit einem Mal der Ernst der Situation klar. »Und Mord ist eine Wunde, die die Zeit nicht heilt.« Davies war nahe an ihn herangerückt und hatte die letzten Worte fast beschwörend gesprochen. »Also verraten Sie mir jetzt lieber, was Sie wissen, Booty.«
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»Ich hab' schon gesagt, ich hatte nichts damit zu tun. Ich hab' sie nicht getötet.« Boot betonte jedes einzelne Wort. »Ehrlich.« »Um so wichtiger ist es dann, daß Sie mir sagen, wie Sie in die Sache verwickelt sind«, drängte Davies. »Sonst könnte ich denken, Sie hätten die Tat doch begangen.« Ein Schaffner kam den Bahnsteig entlang geschlendert - es war ein apathischer Westinder, den sein Schicksal in diese kalte Stadt verschlagen hatte. Er sollte eigentlich den Zug kontrollieren, aber gerade vor dem Wagen, in dem sie saßen, blieb sein Blick an einem neuen Kinoplakat hängen. Er blieb stehen, malte der Diva mit dem Kuli einen üppigen Schnurrbart und setzte seinen Weg fort, ohne Boot und Davies zu entdecken oder von ihnen bemerkt zu werden. Boot berichtete flüsternd von den Teenagern, die ihn in seinen Jugendtagen verführt hatten. Davies hörte zu und wartete ab. Die Türen des Zuges glitten zusammen, wie um sich schlaftrunken zu umarmen, dann setzte der Zug sich in Bewegung. Boot blickte kurz auf, aber nun, da er einmal angefangen hatte zu beichten, war er durch nichts mehr aufzuhalten. Und was Davies anging, so hätte er Boot nicht unterbrochen, selbst wenn der Zug nach Addis Abeba abgefahren wäre. Schließlich hatte Boot alles erzählt, was er wußte, woran er sich erinnerte oder woran er sich erinnern wollte. Er hatte dabei Davies keinen Augenblick lang angesehen. Die meisten Menschen wenden die Augen ab, wenn sie etwas Heikles aus ihrer Vergangenheit preisgeben. Am Ende seines Berichts angekommen, blickte er auf, als fürchte er, Davies könne eingeschlafen sein. Aber das breite, zernarbte Gesicht war ihm immer noch aufmerksam zugewandt. Der dicke braune Mantel, in dem der Polizist steckte, hatte sich über seinen Schultern zusammengeschoben wie ein Haufen feuchter Erde. »Wir fahren«, sagte Boot und deutete auf die Dunkelheit, die hinter dem Fenster vorbeirumpelte. »Gott weiß, wo wir jetzt landen.« »Kein Problem«, gähnte Davies. »Dies Dings hier kann wohl kaum London verlassen. Aber Sie waren noch nicht fertig?« »Doch.« Boot zögerte. »Ich glaube, ich habe alles gesagt, Herr Wachtmeister.« Vor Zorn schwoll in Davies' Gesicht eine Ader wie eine frische Narbe. »Laß den Wachtmeister-Scheiß sein, Booty«, donnerte er, wobei er aufsprang, den anderen am Kragen packte und ihn hoch-
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riß. »Reden wir mal von deiner Boxerzeit.« Boots Gesicht verzerrte sich, und er versuchte, etwas zu sagen, doch Davies hob ihn hoch und warf ihn durch den ganzen Wagen. Er landete krachend auf dem Boden vor den Türen. »Schon gut, Herr Kontrolleur, ich verbürge mich für ihn. Ich passe auf, daß er sein Fahrgeld bezahlt«, brüllte Davies ihn an. Boot, der immer noch auf dem Boden saß, sah ihn mit verzerrtem Gesicht an. »Jetzt wollen Sie es mir wohl heimzahlen«, flüsterte er. »Genau wie alle Bullen. Es geht Ihnen nur um sich selbst. Sie wollen mich aufmischen, weil ich Sie bloßgestellt habe.« Davies grinste plötzlich amüsiert. »Nein, Booty, das nicht. Dich doch nicht, wo wir doch gerade so ein gutes Gespräch haben.« Er ging hin und half Boot mit übertriebener Hilfsbereitschaft vom Boden auf, klopfte ihn ab und führte ihn zu seinem Platz zurück. »Aber«, sagte er, als sie beide wieder saßen, »aber ich möchte dir etwas sagen - und es ist nur zu deinem eigenen Besten. Wenn dir nicht noch ein bißchen mehr von der Geschichte einfällt - und zwar das, was du bisher weggelassen hast-, schmeiße ich dich das nächste Mal bis zum anderen Wagenende. Bis ganz dahinten. Und dann komme ich und mach' dich fertig, dafür, daß du mich vor all den Fußballfans zum Idioten gemacht hast. Alles klar?« Boots Kopf bewegte sich hoch und runter wie bei einer Marionette. »Was denn weggelassen?« fragte er. »Den fraglichen Abend, Booty«, sagte Davies, der Boot jetzt so nahegerückt war, daß seine Nase fast dessen Ohr berührte. »Den Abend vom 2 3 . Juli 1951.« Er grinste und fing an zu singen: »In der Sommernacht, da ich dich fand, ein Zauber erfüllte die L u f t . . . « »Celia?« fragte Boot. »Ins Schwarze getroffen. Celia«, bestätigte Davies. Er spürte, daß er vor Spannung eine leichte Gänsehaut bekommen hatte. Boot sah, wie er die Fäuste ballte. »Genau die meine ich.« »Wir haben es gemacht. Sex, meine ich. Sie hat sich mir immer an den Hals geworfen, alle taten das. Mein lieber Mann, manchmal war ich am Rande der Erschöpfung.« »Schreckliches Schicksal«, brummte Davies. »Und sie war am schlimmsten. Quengelte ständig, sie sei an der Reihe. A l s o . . . also an diesem Abend sagte ich, sie sollte
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den anderen sagen, sie ginge heim, und dann in den Lagerraum kommen. Und sie kam auch.« »Warum hast du sie umgebracht, Booty?« »Ich habe sie nicht umgebracht!« schrie er verzweifelt. Der Aufschrei hallte seltsam in dem leeren Wagen wider. Der Zug schlingerte und ratterte auf seiner Reise ins Nichts. Davies packte Boot wieder an der Jacke, zog ihn hoch und warf ihn bis zum anderen Wagenende. Er lag auf dem geriffelten Holzfußboden, sah sich um und rang nach Atem. »Na also, habe ich etwa zuviel versprochen?« sagte Davies zufrieden. Er ging - sich mit dem Fahrtrhythmus in den Hüften wiegend - auf Boot zu. Dieser richtete sich auf und versteckte den Kopf zwischen den Händen wie ein verängstigter Junge auf dem Schulhof. Davies hängte sich über ihn in die Halteriemen. »Was ist«, sagte er, »soll ich dich zurückwerfen?« Boot, der immer noch am Boden saß und das Gesicht zwischen den Händen verbarg, jammerte: »Ich hatte ihren Slip. Den mußte ich dann loswerden. Aber ich habe sie nicht getötet, Davies. Ehrlich nicht. Sie war gesund und munter, als sie von mir wegging. Das heißt, als sie mit dem Rad wegfuhr.« »Und ließ dich mit dem berühmten Höschen in der Hand zurück«, sagte Davies. Die Gänsehaut verstärkte sich. Er hatte etwas herausgefunden! »Sie rannte einfach weg, ohne Hose«, murmelte Boot. »Wir hatten Streit, eine Meinungsverschiedenheit...« »Worüber, Booty?« »Herrgott, es ist 25 Jahre h e r . . . « »Worüber?« »Ich wollte, daß sie etwas tun sollte, Sie wissen schon was, doch sie wollte nicht. Sie spielte auf einmal die fromme Katholikin und sagte, es wäre eine Sünde. Ich lachte sie deshalb aus, es war wirklich nur Spaß, aber sie wurde plötzlich total verrückt... und . . . « »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Davies. »Sie sagten, ich wisse es. Aber ich habe nicht die blasseste Ahnung. Worum ging der Streit?« »Sie sind ein gemeiner Bastard. Sie wollen ja nur, daß ich es sage.« Er sah erschrocken hoch, als er Davies' feuchte Schuhsohle an seinem Hals direkt unter seinem Adamsapfel spürte. »Stimmt, ich möchte, daß Sie es sagen. Ich bin, was solche Sachen angeht, etwas beschränkt.«
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»Ich wollte, daß sie . . . sie sollte mir einen blasen«, sagte Boot und barg den Kopf wieder in den Händen. Dann sah er auf und erkannte den Ausdruck ungläubiger Wut in Davies' Blick. »Sie wissen doch . . . « , murmelte er, »blasen. Sie wissen doch, was das ist.« »Was der Wind tut.« »Oh Gott, hören Sie auf. Sie sollte ihn in den Mund nehmen. Aber sie weigerte sich.« »Kann ich ihr nicht verdenken«, sagte Davies. Äußerlich war er noch ruhiger geworden. »Ich würde Sie auch nicht ablutschen wollen.« Boots Gesicht zitterte. »Das war schon alles. Sie wurde wütend und schlug mir direkt ins Gesicht, da faßte ich sie an den Armen, damit sie aufhört. Es war alles nur ein Spaß, aber sie nahm das alles todernst. Sie gab mir einen Tritt, einen unter die Gürtellinie! Dann rannte sie weg. Ich sah sie noch auf ihr Rad steigen und losfahren. Das war das Letzte, was ich von ihr gesehen habe.« »Und Ihnen blieb bloß das Höschen. Als Andenken.« »Das ist alles. Mehr war nicht«, flehte Boot. »Da können Sie denken, was Sie wollen.« Davies trat einen Schritt zurück und setzte sich. »So viele Jahre ist das her.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Und Sie erinnern sich immer noch, wie schmerzhaft das Mädchen Sie getreten hat. Und alles wegen solch einem harmlosen Lutscher . . . « Boot jaulte auf, als der Riese sich plötzlich auf ihn stürzte. Davies hob ihn hoch und schleuderte ihn gegen die schwankenden, röhrenförmigen Wände. Dreimal schmetterte er ihn gegen die Wand. Dann drehte er sich um und warf das Bündel durch den halben Wagen. Boot lag stöhnend am Boden. Nach einer Weile richtete er sich auf dem Ellbogen auf und heulte: »Du . . . du beschissener Heuchler. Das tust du nur, weil dir in deinem ganzen Leben noch keine einen geblasen hat!« Vermutlich rettete nur die Tatsache, daß der Zug plötzlich rukkelte, ihm das Leben. Davies stolperte und wurde dann ruhig. Er ließ sich auf den nächsten Sitz fallen und saß unbeweglich da. Ihm war auf einmal kalt. Er bemerkte die Sturzseen, in denen der Regen die Fensterscheiben herabrann. »Sehen Sie«, rief er Boot am anderen Wagenende zu, »es gießt in Strömen. Wir sitzen hier wenigstens gemütlich im Trockenen.«
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In diesem Augenblick öffnete sich geräuschvoll die Tür zum nächsten Wagen, und ein schmächtiger Kerl im Arbeitsoverall streckte den Kopf herein. Er betrachtete die Szene, als passiere so etwas nicht zum ersten Mal. »Heh«, fragte er, »was machen Sie denn hier? Der Zug ist in der Waschhalle.« Er verbeugte sich wie jemand, der eine kurze, aber bedeutende Rede gehalten hat, und zog sich zurück. Fünf Minuten später erschien er wieder mit zwei kräftigeren Genossen. »Hier«, sagte er, »die sind's. Der eine is' ganz blutig, die ha'm sich geprügelt.« Davies hatte inzwischen Boot in den Sitz neben sich gedrückt und ihm liebevoll den Arm um die Schulter gelegt. » K l . . . kleine Meinungsverschiedenheit«, teilte er dem Trio mit, »ha'm nur paar Bierchen gezischt, ha'm uns gezankt. Jetz' is' alles wieder gut. Sin' wieder Freunde, nich', Booty?« Der Kopf in seiner Armbeuge, dem von hinten kräftig nachgeholfen wurde, nickte. »Un' jetz' geh'n wir brav nach Hause. Danke, meine Herren.« »Hier lang«, befahl einer der Männer barsch. »Sie müssen durch den ganzen Zug gehen, bis zum Ende, da können Sie raus. Und daß Sie sich nicht übergeben, sonst muß es noch jemand wegmachen. Unbefugte haben keinen Zutritt, das wissen Sie hoffentlich.« »Unbegut..., Unbetuch... weiß schon, aber ich kann's nicht sagen.« Davies grinste dümmlich. »Komm, Alter, wir ziehen Leine. Sag diesen Herrschaften schön gute Nacht.« Er zog Boot in die Höhe, stellte ihn auf die Füße und stolperte mit ihm durch den Mittelgang und in den nächsten Wagen. Die Bahnarbeiter folgten ihnen mit einer Wagenlänge Abstand. Davies begann, trunken zu singen, und Boot fiel nach einem weiteren Kniff in den Arm ein: »Lustige Burschen, gute Gesellen, trinkt auf treue Brüderschaft . . . «
Kapitel 12
A
m nächsten Abend zelebrierten Davies und Mod im WIKKELKIND ein echtes Besäufnis. Mod dozierte lebhaft und lehrreich über die Denkfehler in Darwins Evolutionstheorie, präsentierte eine logische Erklärung für das Wunder des Moses, wo dieser Wasser aus dem Felsen fließen läßt, und berichtete davon, daß es im London der Jahrhundertwende in reichen Häusern Mode war, Goldfische in den gläsernen Toilettenspülkästen schwimmen zu lassen. Das Thema Mord wurde nicht berührt, beziehungsweise erst um Mitternacht, nachdem der irische Wirt und seine zwei wackeren Schankgehilfen sie wie nasse Säcke auf die Straße geworfen hatten. »Ist es in diesem Moment erlaubt, nachzufragen, ob du meine Recherchen bezüglich der Berichterstattung der Lokalpresse über das damalige bedauerliche Ereignis nachvollzogen hast?« fragte Mod in der gestelzten Sprache, deren er sich befleißigte, wenn er betrunken war. Er rappelte sich hoch, darauf vertrauend, daß seine Füße ihn tragen würden. Er irrte sich. Davies lehnte sich so breitbeinig an die Backsteinwand des Wirtshauses, als fürchte er, sie werde plötzlich nachgeben. Er entdeckte Mod sehr, sehr tief unter sich in horizontaler Lage ausgestreckt. »Dein Anblick ist wirklich peinlich, Mod Lewis«, tadelte er. »Warum wälzest du dich im Morast?« »Weil ich nicht aufstehen kann, Dangerous«, antwortete Mod sachlich. »Ich glaube, meine Beine haben sich selbständig gemacht. Und das nach so vielen Jahren. Schade, sie werden mir fehlen. Waren gute Kameraden, meine Benekens.« Er sah zu Davies auf und versuchte, die Entfernung zwischen ihnen zu schätzen. »Mein Freund, glaubst du, du könntest zu mir herkommen und mich aufheben?« Davies kalkulierte seinerseits, wie viele Schritte es sein mochten. »Nein«, fand er, »ich glaube nicht, daß ich das schaffe. Zu
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weit weg. A b e r . . . paß auf, Mod, nicht verzagen... Wenn du hierhin robbst, und ich halte mich an dem Abflußrohr fest, dann kannst du dich hochziehen und mich und das Rohr als Stütze benutzen. Die Hauptsache ist ja, daß du erst mal auf die Beine kommst.« »Tolle Idee. Alle Achtung«, murmelte Mod. Wie ein Feigling, der sich zu einer unvermeidlichen Heldentat genötigt sieht, maß er den Abgrund zwischen sich und Davies' Füßen. Dazu zählte er die Steinplatten ab, indem er jeder einzelnen wie zum Gruß zunickte. Er stützte sich auf beiden Händen ab, und es war ihm zu riskant, auch nur einen Finger zu heben. »Glaubst du wirklich, daß ich es schaffen kann, Dangerous?« flüsterte er ängstlich. »Mod«, sagte Davies, der sich an das Abflußrohr klammerte, »ich weiß, daß du's schaffst, Junge, bestimmt.« »Der Glaube«, murmelte Mod, »kann Berge versetzen. Und ein Berg bin ich ja wohl, ein Bierberg. Also gut, ich flitze los.« Er flitzte zwar nicht gerade, sondern kroch auf allen vieren über die kalten Steine, wobei er zweimal ausrutschte, bekam aber schließlich doch Davies' Fußknöchel zu fassen. Von dort arbeitete er sich langsam empor wie jemand, der die Eiger-Nordwand erklettert, indem er sich an den Taschen, dem Gürtel und den Knopflöchern von Davies' geräumigem braunen Mantel hochangelte. »Vorsicht mit dem Mantel«, rief Davies. »Du kriegst ihn noch kaputt.« Mods Gesicht tauchte etwas unterhalb seines eigenen auf, und so wußte Davies, daß Mod seine größtmögliche Höhe erreicht hatte. »Jetzt halte dich am Rohr fest!« Sie klammerten sich aneinander wie Männer auf einem Felsensims über einem lebensgefährlichen Abgrund. Mods Hände ertasteten das rauhe Metall und suchten verzweifelt Halt. Die Röhre wankte unter der vermehrten Last - zusätzlich zu den sechs Metern Metallrohr mußte sie auch Davies' Gewicht tragen -, aber Mod dachte, was da so wackelte, sei er selbst. »Jetzt noch die andere Hand, und ich hab' es geschafft, Alter. Nur noch ein Schritt.« Davies spornte ihn an, den Versuch zu wagen. Er tat es, wäre fast über Davies gestolpert und klammerte sich mit der freien Hand an das Rohr. Es war ein solides Abflußrohr, aber alt und mürbe. Unter dem Gewicht und Zug der vier Hände gab es knirschend nach und löste sich von der Wand. Davies und Mod spürten es im gleichen Moment und schrien unisono auf vor Schreck. Sie blickten
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hoch und sahen, wie das ganze senkrechte Rohr samt der Dachrinne, an der es befestigt war, wie ein ehernes Kreuz über ihnen schwankte. Es pendelte hin und her, wie um sein Gleichgewicht bemüht, dann krachte es herunter und ringelte sich wie ein Drahtseil quer über die Fahrbahn. Das alte Gußeisen ließ beim Zerspringen einen schönen Ton erklingen. Davies und Mod drückten sich an die rohrlose Wand. Ringsum ging oben über den Geschäften das Licht an, Fenster wurden geöffnet, und, was noch bedrohlicher war, hinter ihnen in der Kneipe konnte man jemanden an den Türschlössern und Sicherungsketten hantieren hören. Auf der anderen Straßenseite rief irgendein Schwachkopf: »Schrapnell! Schrapnell auf die Straße geflogen! Die Kanonen sprechen!« Ein unvermuteter Schrecken führt zu einer Adrenalinausschüttung, die selbst den schläfrigsten Betrunkenen hellwach macht; dieser geheimnisvolle chemische Antrieb kam Davies und Mod zu Hilfe und ließ sie Reißaus nehmen. Sie waren sogar wieder soweit bei Verstand, daß sie um die Wirtshausecke herum durch ein Seitengäßchen zur nächsten größeren Straße liefen. Über die Dächer schallte ihnen das Stimmengewirr nach - und bald darauf auch das Sirenengeheul des Polizeiwagens. »Die haben die Jungs aus dem Bett geholt«, meinte Davies. »Sie müssen wohl gedacht haben, es wäre ein Einbruch.« Sie machten sich auf weichen Knien auf den Weg zu Mrs. Fulljames' Pension. Dann begannen sie zu lachen; erst war es ein unterdrücktes Kichern, dann brach es aus ihnen heraus, und sie zogen vor Lachen ächzend und prustend durch die nächtlichen Straßen. Erst in der Nähe vom BALI Hl kehrte ihre natürliche Wachsamkeit wieder zurück, und sie unterdrückten ihre Heiterkeit und schlichen behutsam weiter. Vor ihnen bewegte sich etwas in der Dunkelheit, und dann sahen sie, daß das nachtwandelnde Pferd des Eisen- und Lumpenmannes direkt auf sie zukam, so als sei es erfreut, im Dunkel der Nacht auf ein mitfühlendes Wesen zu treffen. »Muß man anbinden«, lallte Davies und schielte an dem großen schwarzen Pferdegesicht in die Höhe. »Gefährdet den Verkehr.« »Also, welche Hausnummer ist heute dran?« flüsterte Mod verschwörerisch. »Dieselbe wie letztesmal?« »Nein, jemand anders.« »Dangerous - warum nicht Mrs. Fulljames?« Mod war begeistert von seinem Einfall.
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Davies ließ sich mitreißen. »Tolle Idee, Mod. Aber dann müssen wir machen, daß wir wegkommen. Diese Frau kennt kein Erbarmen. Sie reißt dir das allerletzte Smartie aus dem Munde weg.« Mod machte Davies und dem Pferd ein Zeichen, und sie schlichen zu dritt an den Ligusterhecken entlang bis zum Eingang vom BALI H I . Erst jetzt bemerkte Davies, daß der Gaul kein Halfter hatte. »Verflixt, wir brauchen etwas, womit wir ihn festbinden können.« Er sah sich suchend um. »Moment mal, Dangerous, denk doch mal nach. Es muß doch nicht die Türklinke sein. Warum schieben wir ihn nicht einfach ins Haus?« Davies' verklärte Miene leuchtete in der Dunkelheit. »Eine Superidee«, flüsterte er. »Wir schubsen ihn rein und zischen ab.« Sie stöberten in ihren Taschen, bis Mod seinen Schlüssel fand. Dann gingen sie auf Zehenspitzen zur Tür; das Pferd - als Dritter im Bunde - schien sich der konspirativen Situation bewußt zu sein und schlich leise wie auf Zehenspitzen hinterher. Der Schlüssel drehte sich, und die große altmodische Haustür sprang auf. Davies gab dem Pferd einen freundschaftlichen Klaps; es wußte offenbar genau, was es zu tun hatte, und trat lautlos ein. Sie zogen die Tür leise zu und suchten das Weite - erst gemessenen, wenn auch unsicheren Schrittes, dann im Trab und schließlich in wildem lärmendem Galopp. Hingerissen von der Tollkühnheit ihres Handstreichs, torkelten sie bis zur MONDSCHEINSERENADE, einer über Nacht geöffneten Kaffeebude dicht beim Bahnhof. Sie gehörte einem Mann namens Burney, der immer irgendwo saß: entweder in seinem Kiosk oder im Knast. Er war ein alter Freund von Davies. »Notfalls könnte Mr. Burney uns ein Alibi geben«, flüsterte Mod ihm ins Ohr. Davies schüttelte den Kopf. »Dem würde keiner glauben, der hat sein Glaubwürdigkeitsstadium schon längst hinter sich. Seine Aktie wird an der Börse nicht gehandelt.« Mod war schon beim zweiten Becher Kaffee. »Hör mal, ich weiß, wo wir ein gutes Alibi kriegen könnten. Bei Mr. Chrust vom CITIZEN, dem würde jeder glauben. Außerdem mußt du ohnehin zu ihm. Weißt du noch, was ich dir gesagt habe? Über den Mordbericht?«
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» E r wohnt über der Redaktion.« Davies bebte immer noch vor Lachen und vom Alkohol. » E r wird nicht begeistert sein, wenn wir ihn wecken. Wir sagen einfach, es handele sich um eine dringende Untersuchung. Und wenn er später angibt, daß wir bei ihm waren, wird es niemand bezweifeln. Und wer merkt sich schon die genaue Uhrzeit? Los, gehen wir!« Ihre Schritte hallten durch die stille Nacht. »Mod«, sagte Davies, »alter Freund, ich habe mir die Zeitungsausschnitte zu dem Mord noch mal angesehen - und zwar genau. Nichts, rein gar nichts. Vielleicht hattest du einen in der Krone und hast etwas über einen ganz anderen Mord gelesen?« »Hör zu«, sagte Mod und blieb abrupt stehen. Vorsichtig setzte er den Fuß auf den Boden. Er war genau wie Davies immer noch benebelt, obwohl die Unsicherheit sich langsam legte. Der Kaffee tat spürbar seine Wirkung. »Zuhören mußt du schon. Ich hab' von den alten Ausgaben vom CITIZEN gesprochen, nicht von irgendwelchen Ausschnitten. Du wirst nie ein anständiger Detektiv, so wahr du ein Loch im Arsch hast.« »Das gehört zur Anatomie«, wehrte Davies sich. »Also kränke mich nicht in meiner Berufsehre. Oder sollen wir uns duellieren? Mit Fäusten?« Er deutete auf seine großen Fäuste. »Nein. Jetzt nicht. Wir sind ja schon beinahe da.« Er deutete mit dem Kopf auf das Haus des NORTH-WEST LONDON CITIZEN in der High Street. Das vorspringende Schaufenster war voll Fotos von lokalen Würdenträgern, Amateuropernsängern und Preisträgern von Schulwettbewerben. Der Fotoreporter des CITIZEN hatte grundsätzlich die Anweisung, auf jedem Foto so viele Personen wie möglich zu versammeln, denn je mehr Leute sich dort selbst abgebildet sahen, desto höher stieg die Auflage oder sie hielt sich doch zumindest. Der Fotograf, ein Mann, der vom Gehorchen mehr verstand als von seinem Beruf, hatte einmal sogar die Chance verschenkt, einen Schaufensterdieb, den er beim Einbruch überraschte, auf dem Film festzuhalten. Er hatte den Auslöser nicht gedrückt, weil er fand, für einen allein lohne es sich nicht. » E r wohnt im ersten Stock«, sagte Mod und meinte den Besitzer und Redakteur Mr. Chrust. »Hoffentlich ist er nicht taub.« Das war Mr. Chrust allerdings nicht. Sie hatten erst viermal an der Tür geklingelt, als oben schon zwei Rechtecke hell wurden. Die Gardinen wurden aufgezogen und die beiden Fenster hochge-
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schoben. Zwei Frauen mittleren Alters in Nachthauben beugten sich heraus. Selbst von unten konnte Davies erkennen, daß die runden Mondgesichter einander ähnelten wie ein Ei dem anderen. »Verzeihung, meine Damen«, rief er hinauf, »ist Mr. Chrust zu Hause?« »Wer will das wissen?« fragten sie einstimmig. »Polizei«, erwiderte Mod. Da er sich keiner Amtsanmaßung schuldig machen wollte, zeigte er auf Davies. »Der da.« Beide Köpfe verschwanden, als hätte jemand an einer Strippe gezogen, und man hörte ihre Stimmen, wie sie Mr. Chrust aus dem Bett holten, weil die Polizei nach ihm fragte. Es dauerte anscheinend ziemlich lange, bis Mr. Chrust überzeugt und angezogen war, denn die zwei Teiggesichter erschienen wieder an den Fenstern und schauten volle zwei Minuten auf Mod und Davies herunter, bis Mr. Chrust endlich auftauchte. Dann verschwanden sie wie dienstbare Geister und ließen ihn die Verhandlungen von der Fensterbank aus allein führen. »Mr. Davies, sind Sie es?« Er spähte nach unten. » E s handelt sich also wirklich um eine Polizeiangelegenheit?« »Ja, Mr. Chrust«, erwiderte Davies bescheiden. Es war ihm unbehaglich zumute. » E s tut mir leid, daß wir Sie und . . . hm, Mrs. Chrust gestört haben.« »Wir sind nicht gestört worden«, erwiderte Mr. Chrust vieldeutig. Er war schrumplig wie eine Erdnuß und hatte ein paar kurze Borsten im Gesicht und auf dem sonst kahlen Schädel, der dadurch wie eine Pusteblume aussah. »Ich bin gleich unten.« Durch das Oberlicht über der Haustür sahen sie ein schwankendes Licht, dem eine Schattenprozession folgte, die Treppe herabkommen. Dann ging im Erdgeschoß die Lampe an, und die Tür wurde geöffnet. Mr. Chrust stand da in einem seidenen Kimono mit einem feuerspeienden Drachen auf der Brust. Mit ihm waren die zwei Damen in wollenen Morgenröcken und Nachthäubchen herabgekommen. »Mrs. Chrust ist letzten Februar leider verstorben«, beeilte Mr. Chrust sich zu erläutern, als sie hereinkamen. Er wollte wohl kein Mißverständnis riskieren. »Diese beiden Damen sind ihre Schwestern; sie kümmern sich um meine Bedürfnisse. Die Wohnung oben ist sehr geräumig, wissen Sie.« Davies nickte dem Zwillingsmond an Mr. Chrusts Firmament zu. Ihm fiel ein, daß der Witwer denken mochte, der Besuch habe
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etwas mit dem Unzuchtsparagraphen zu tun; deshalb beeilte er sich, nach dem Zeitungsjahrgang 1951 zu fragen. Mr. Chrust lächelte so erleichtert, daß die Borsten in seinem Gesicht einen kleinen Tanz aufführten. »Wenn Sie uns einfach zeigen, wo sie sind«, sagte Davies, »dann werfen wir schnell einen Blick darauf und gehen wieder. Es ist äußerst dringend, verstehen Sie. Bitte, gehen Sie doch wieder ins B e t t . . . in die Betten.« »Aber selbstverständlich«, sagte Mr. Chrust beflissen. Er scheuchte die beiden Häubchendamen die Treppen hinauf, wie ein magerer Schäferhund die fetten Mutterschafe auf eine Bergwiese treibt. Als sie außer Sicht waren, drehte er sich um. »Ich will ja nicht neugierig sein, Mr. Davies«, flüsterte er, »schon gar nicht bei einem Dienstgeheimnis. Aber wir von der Presse wüßten doch immer gerne, was los ist, vor allem, wenn es direkt unter unserer Nase geschieht. Vielleicht, wenn es Ihnen möglich ist, könnten Sie mir einen kleinen Hinweis...« »Nur zu gern, Mr. Chrust«, antwortete Davies. Der Alkohol verlieh ihm immer noch Mut. »Aber jetzt, Mr. Chrust, gehen Sie schön wieder ins Bett, ehe man Sie d o r t . . . ehe Sie sich erkälten. Gute Nacht. Wir machen die Tür zu, wenn wir gehen.« »Ich bitte darum«, nickte Mr. Chrust und ging rückwärts die Stufen hoch. »Die Schwägerinnen machen sich sonst Sorgen.« Er stieg die Treppe hinauf. Die aufgeregten Schreie der Damen, die das obere Stockwerk erfüllten wie das Gurren von Tauben unter dem Dach, legten sich. Davies und Mod konnten deutlich ein dreimaliges Quietschen von eisernen Bettfedern hören. Mod zog die Augen hoch und meinte: »Wetten, der hat eine Story, die er nicht in seinem Blättchen druckt.« Davies bedeutete ihm zu schweigen und ging nach hinten durch in das Büro, wo in einem Regal die gebundenen alten Zeitungsjahrgänge standen. Sein suchender Zeigefinger hielt bei 1951 an. Mit Mods Hilfe zog er den schweren Folianten heraus und wuchtete ihn auf den Tisch. Die Spannung verstärkte die vom Alkohol erzeugte Unruhe in seinem Innern. Seine übereifrigen Finger zitterten, und Mod half ihm, die Zeitungsseiten umzublättern, bis sie bei dem Datum anlangten, das sie suchten. Vorsichtig nahm Davies die Titelseite in die Hand. Celias junges Gesicht, vom Alter des Papiers vergilbt, blickte ihm entgegen. Der Artikel war nicht länger als etwa 15 Zentimeter; die Über-
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schrift lautete: Junges Mädchen vermißt. Davies studierte den Text sorgfältig, aber, soweit er sehen konnte, enthielt er keine neuen Informationen. »Das ist doch der Zeitungsartikel in unsrer Akte«, beschwerte er sich bei Mod, der abseits stand. »Was ist daran Besonderes?« »Es geht nicht um den Artikel«, erwiderte Mod zurückhaltend. »Es geht um die Seite. Lies mal die kleine Notiz in der letzten Spalte. Ganz unten.« Davies las. Die banale Überschrift lautete: Polizist nimmt Abschied. In drei kurzen Absätzen wurde gemeldet, daß ein anscheinend sehr beliebter Polizist, Sergeant David Morris, in den Ruhestand versetzt und von den Kollegen mit einer großen Feier im Lokal STURGEON ROOMS verabschiedet worden sei. »Schön, es gab also eine Abschiedsparty für einen pensionierten Bullen. Na und? So was kommt alle Tage vor.« »Ein Mord aber nicht - jedenfalls nicht am selben Abend«, sagte Mod heiser. » E s war derselbe Abend, Dangerous.« »Ja. Gut. A b e r . . . « »Auf Seite drei ist ein Bild«, half Mod, die Situation auskostend, ihm weiter. Davies schlug die Seite um und betrachtete das Foto. Die Bildlegende lautete: Eine Gruppe von Polizisten beim Abschied von Sergeant D. Morris. Die Überschrift lautete: Polizei sagt Prosit! Unter dem Bild stand ein Text mit den Namen der Beamten, die für den Fotografen und für die Nachwelt ihre Gläser erhoben hatten. »Schön und gut. Aber ich weiß noch immer n i c h t . . . « »Lies die Namen«, sagte Mod. »Na los, lies schon.« Davies las sie vor. Bei zwei Namen mußte er so heftig schlukken, daß er einen Hustenanfall bekam. » P . C. James Dudley und P.C. Frederick Fennell«, stammelte er. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Genau diese beiden befanden sich angeblich mit dem Streifenwagen auf der High Street, als das Mädchen verschwand.« »Angeblich«, sagte Mod. »Ich habe die Dienstprotokolle und Berichte mit den Unterschriften der beiden gesehen. Da sie in Wahrheit bei der Party waren, haben sie gelogen.« »Und niemand hat die Unwahrheit bemerkt. Oder es wollte sie keiner bemerken.«
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Auf der Treppe wurde ein Schatten sichtbar. Es war Mr. Chrust. »Wie steht es denn, meine Herren?« fragte er bescheiden. »Kommen Sie voran? Leider sind die Damen so in Aufregung, daß sie nicht wieder einschlafen können.« »Schon fertig, vielen Dank, Mr. Chrust.« Davies' Gedanken waren meilenweit, ein Vierteljahrhundert, von seiner Stimme entfernt. »Wir gehen gerade.« Er und Mod klappten den Band wieder zu und schoben ihn wie einen Ziegelstein in die Lücke auf dem Regal. Mr. Chrust ging hin und leuchtete mit seiner Handlampe über die Rückenschilder, um zu kontrollieren, ob sie ordentlich eingereiht waren. »Wir schlummern über unserer historischen Vergangenheit.« Er drückte sich gern blumig a u s . . . »So ist es.« Davies war in Gedanken noch immer bei dem, was er gerade erfahren hatte. Ehe er die Haustüre schloß, rief er nach drinnen: »Vielen Dank. Tut mir leid, daß wir Sie stören mußten. Gute Nacht.« Zu seiner Überraschung tönte es über ihm »Gute Nacht«, und er sah, als er aufblickte, die zwei molligen Damen, die sich, jede von einem hellen Fenster eingerahmt, neugierig hinauslehnten. Auf dem Heimweg zur Pension BALI H I in Furtman Gardens stellten sich die ersten Schuldgefühle ein, so daß ihre Schritte langsamer wurden und sie an den Straßenecken länger zögerten, als die noch immer spürbare Benebelung durch den Alkohol es rechtfertigte. Sie erwähnten das Pferd mit keinem Wort, bis sie an der letzten Kreuzung standen, wo sie in Furtman Gardens einbiegen und dem, was dort auf sie wartete, ins Auge sehen mußten. An dieser Stelle lehnte Mod sich gegen die Ligusterhecke, so daß der Staub wie Pollen herunterrieselte, und schüttelte ängstlich seinen Kopf. »Dangerous«, krächzte er, »ich kann nicht weiter. Ich hab' Schiß.« Davies suchte Halt an der Hecke, so wie man sich an einer Mauer festhält, und zerkratzte sich die Hand an den harten Zweigen. Daraufhin stellte er fest, daß er auch ohne Hilfe stehen konnte. Stolz auf diesen Fortschritt, drehte er sich zu Mod um. »Wir gehen nach Hause«, befahl er streng. »Und zwar zusammen. Wir löffeln die Suppe miteinander aus, Mod. Wir haben ja auch ein Alibi. Aber wenn ich ohne dich ankomme, denkt jeder, du bist es gewesen - und zwar du allein.«
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Mod, von der Logik überzeugt, nickte kläglich. »Ich wünschte, du würdest mir nicht immer was zu trinken spendieren, Dangerous«, murmelte er. »Wenn du nicht so viel spendieren würdest, würde ich nicht so viel trinken. Los denn, was soll's. Ran an den Feind.« Vor Mrs. Fulljames Haus standen ein Feuerwehrzug, ein Polizeiauto, ein Pferderettungswagen und der Karren des Knochenund Lumpenmannes. Auf jedem drehte sich ein rotes oder blaues Blinklicht, sogar auf dem Knochen- und Lumpenfahrzeug, das zwar selbst über keinerlei Navigations- oder Positionslampen verfügte, von einem mitleidigen Tiersanitäter aber ein überzähliges blaues Signallicht geliehen bekommen hatte. Schon von weitem konnten sie die versammelte Menschenmenge sehen und die schattenhaften Gestalten, die sich zwischen den zuckenden, heulenden Blinklichtern hin- und herbewegten. Es sah aus der Entfernung aus wie ein kleiner, fröhlich belebter Rummelplatz. Davies und Mod näherten sich mit geziemender Vorsicht bis auf wenige Meter. Das sichtlich euphorisch gestimmte Pferd wurde eben von seinem Besitzer an die Deichsel des Wagens gespannt. Es blinzelte das Blinklicht an, blieb aber ruhig. Der Pferdesanitäter musterte ungerührt die zerbeulte Tür seines Fahrzeugs. Auch die Haustüre vom BALI HI beklagte den Verlust ihres unteren Teils. Die Feuerwehr setzte gerade den Fußweg unter Wasser, vermutlich aus einer Art Pflichtgefühl heraus, da man sie nun einmal gerufen hatte und sie sonst nichts tun konnte. Rundum standen Polizisten und Zuschauer, die versuchten, sich das Lachen zu verbeißen. Das Erkerfenster im ersten Stock stand offen; dort, vor einem orangeroten Licht im Hintergrund, standen Doris und Mrs. Fulljames, deren eindrucksvolle Schattenfigur den Eindruck erweckte, als wolle sie demnächst in die Tiefe springen oder eine Ansprache halten. Mit untrüglicher Witterung bemerkte sie Mod und Davies im gleichen Augenblick, als diese im Lichtkreis der Unfallstelle auftauchten. »Haben Sie den Gaul in mein Haus gelassen?« kreischte sie hysterisch auf. »Waren Sie beide das?« Ihre Gesichter, auf denen sich Erstaunen und gekränkte Unschuld spiegelten, blickten hoch zu ihr. Sie ließ ihnen keine Zeit, zu gestehen oder zu leugnen. »So ein Mist«, schrie sie, »überall Pferdemist!«
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Einige der Umstehenden, meistens Nachbarn, die es mit Mrs. Fulljames nicht verderben wollten, wandten sich ab und versteckten sich in der Menge, weil sie ihr Lachen nicht unterdrücken konnten. »Im ganzen Flur, auf der Treppe, im Wohnzimmer, überall Pferdeäpfel!« rief sie und beugte sich vor Wut so weit vor, daß Warnrufe laut wurden - vermutlich fürchteten die unten Stehenden wenigstens ebensoviel um ihre eigene wie um die Sicherheit von Mrs. Fulljames. »Holt lieber ein Sprungtuch«, sagte Davies zu einem gebannt nach oben starrenden Feuerwehrmann, »sie kann jeden Moment rausfliegen.« Doris hatte von ihrem Fensterplatz aus das kurze Gespräch bemerkt. »Hörst du Mrs. Fulljames nicht einmal zu?« rief sie herunter. »Hast du gar kein Mitleid? Das Biest hat die Anrichte im Eßzimmer zerstört. Eine Antiquität war das. Echt antik!« »Ich wette, die hat Mr. Fulljames gehört«, flüsterte Davies dem sprachlosen Feuerwehrmann zu. »Die hat Mr. Fulljames gehört«, kreischte Doris wie ein Papagei. »Dem verstorbenen Mr. Fulljames.« Mrs. Fulljames schob Doris rücksichtslos zur Seite und lehnte sich drohend aus dem Fenster, was ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit Mussolini bei entscheidenden Phasen seiner Reden verlieh. »Mr. Davies, Mr. Lewis«, fragte sie streng, »haben Sie das Pferd hier hereingebracht? Ja oder nein? Ich will es wissen.« »Mrs. Fulljames«, beschwichtigte sie Davies, »warum machen Sie solch eine Szene? Ich war in äußerst dringenden Polizeiangelegenheiten unterwegs, und Mr. Lewis hat mich begleitet.« Die Vermieterin kniff ärgerlich den Mund zusammen und knallte das Schiebefenster zu. Davies' Kollege von der Polizei, der sich um das Pferd gekümmert, seinen Namen und den des Besitzers aufgeschrieben hatte, kam zurück: »Wohnst du hier, Dangerous?« Davies nickte und blickte vielsagend zu dem Fenster, das so nachdrücklich geschlossen worden war, hinauf. »Scheint ein gemütliches kleines Plätzchen zu sein«, sagte der Polizist. »Bißchen still vielleicht, aber gemütlich.« Davies zuckte mit den Schultern. »Hier ist nie was los.« Dann wandte er sich an Mod. »Wir sollten nachsehen, ob unsere Betten noch da sind. Gute Nacht, Sergeant«, fügte er höflich hinzu. »Gute Nacht, Dangerous. Ich bin froh, wenn heute nacht endlich Feierabend ist. Wir hatten vorhin schon zwei Rowdies, die beim Pub die Dachrinne heruntergerissen haben.«
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Kapitel 13
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rs. Edwina Fennell lebte in einem heruntergekommenen Wohnwagen auf einer schlammigen Wiese, etwa 15 Kilometer entfernt von den Straßen und Fabrikhöfen, wo ihr Mann als Polizist seine Runden gedreht hatte. Das heißt, wenn er sich nicht gerade im Bett der Wahrsagerin aufhielt, die in der High Street wohnte und den Leuten aus der Hand die Zukunft las. »Da drüben«, sagte der Landarbeiter, den Davies nach dem Weg gefragt hatte, und wies mit einem Finger, dem man ansah, daß er noch vor kurzer Zeit intensiven Kontakt mit Mist gehabt haben mußte, die Richtung. »Der Boden ist ein bißchen feucht, aber seien Sie bloß froh, daß noch kein richtiger Winter ist. Dann ist sie manchmal völlig von der Außenwelt abgeschnitten.« Davies begann, den Sumpf zu durchqueren. An manchen Stellen wirkten die Kuhfladen fester als die Erde drumherum. Plötzlich fühlte er sich an die Eingangsdiele vom BALI H I erinnert, wie sie in der Nacht nach dem Abtransport des Pferdes ausgesehen hatte. Die Erinnerung daran und der kalte Wind, der über das offene Land fegte, ließen ihn schaudern. Die Gegend war flach und häßlich, es gab keine Hügel und kaum einen Baum, nur lehmige Wiesen unter einem lehmfarbenen Himmel. Er war froh über seinen dicken alten Überzieher, der dem eisigen Wind trotzte. Er blickte vom Boden auf und stellte fest, daß er erst die Hälfte des Weges zu Mrs. Fennells Wohnwagen, der da radlos wie ein verlassenes Schiffswrack im Wind vor sich hindümpelte, zurückgelegt hatte. Unter diesen Umständen überraschte es ihn, an der schäbigen Eingangstür des Wohnwagens eine beleuchtete elektrische Klingel vorzufinden. Er drückte drauf und erzeugte eine wohlklingende Melodie, nicht weniger anmutig als diejenige, die seinen Besuch in der eleganten Wohnung von Ena Lind angekündigt hatte. Es gab keine Türstufe, so daß ihm nichts anderes übrig-
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blieb, als im Morast stehenzubleiben. Der Wagen war allerdings schon so tief eingesunken, daß sich Edwina Fennell, als sie endlich öffnete, ungefähr auf derselben Höhe befand wie er. »Tut mir leid, daß es so lang gedauert hat«, schniefte sie, »ich hab' es so satt, daß ständig jemand läutet.« Davies schaute sich verwirrt um; hatte er etwa auf seinem Weg eine belebte Großstadtstraße übersehen? Ringsum war jedoch nichts als der trostlose Morast. » J a « , antwortete er zurückhaltend, »es ist schon ein bißchen lästig, wenn man dauernd zur Tür gehen muß. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Ich bin Detective Constable Davies und komme von dem Revier, bei dem Ihr Mann war.« »Ach so«, sagte sie, schien aber nicht besonders interessiert zu sein. » E r ist aber nicht hier. Nicht mehr.« »Ich verstehe«, sagte Davies. Sie blieb steif in der Türöffnung stehen, die dünnen Arme über der verwaschenen Schürze verschränkt. »Ich hätte gerne auch mit Ihnen ein paar Worte gesprochen, Mrs. Fennell. Würden Sie . . . könnte ich vielleicht reinkommen? Ich versinke hier langsam. Das Wasser steht mir schon in den Schuhen.« »Dann treten Sie aber die Füße ab«, sagte sie und gab den Eingang frei. Er zog seine Schuhe mit einem schmatzenden Laut aus dem Matsch. Drinnen lag ein Stück Kokosmatte an der Tür. Weil er dachte, die Fußmatte würde es übelnehmen, wenn er seine Schuhe an ihr abputzte, zog er diese unter leisen Selbstgesprächen aus und ließ sie draußen stehen, als vollzöge er ein frommes Ritual. Also betrat er den Wohnwagen auf Strümpfen. Die Temperatur war drinnen kaum höher als draußen. Der Raum war kalt und klamm, die Leitungen waren schadhaft und die Plastikmöbel ungepflegt. Es gab eine unbenutzte Petroleumlampe und ein Uraltgrammophon mit einem Haufen brüchiger Schallplatten. Alles glänzte vor Feuchtigkeit. Mrs. Fennell war damit beschäftigt, aus drei großen Paketen mit geschnittenem Weißbrot und einem ansehnlichen kalten Braten einen Stapel Sandwiches herzurichten. Sie war ein Aschenbrödel von über 60. Es war ihr offenbar unmöglich, ihm unbefangen ins Gesicht zu sehen. Sie zog sich hinter ihre Sandwichbarrikade zurück und begann, Brotscheiben mit Butter zu bestreichen. » E s ist manchmal ziemlich matschig hier draußen«, sagte sie gedankenverloren und brach dann zu seiner
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Überraschung in Gekicher aus. »Manchmal höre ich die Türklingel und denke, es ist einer von meinen Tausenden von Anbetern gekommen. Aber wenn ich aufmache, sind sie verschwunden; wahrscheinlich im Schlamm versunken.« »Ja, es ist wohl ein wenig feucht«, sagte Davies gequält. Erfragte sich, ob seine Schuhe noch da sein würden, wenn er wieder gehen wollte. Er deutete mit dem Kopf auf die Sandwiches. »Sieht aus wie ein Picknick.« »Für die Füchse«, antwortete sie. »Ich mache es jeden Tag für die Füchse zurecht. Sie kommen, wenn es dunkel wird, und sitzen da und warten. Sie sind so hübsch. Und irgendwie ist es s o . . . würdelos, falls Sie wissen, was ich meine, ihnen das Fleisch einfach vorzuwerfen. Deshalb richte ich alles schön mit Brot an, und jeder bekommt seinen eigenen Teller. Sie sollten sie mal beim Essen sehen - ein einzigartiger Anblick, besonders bei Vollmond.« Davies beteuerte, das glaube er gern. Er hoffte ein wenig, daß sie ihm ein Sandwich anbieten würde, aber offenbar kam sie nicht auf die Idee. »Was führt Sie eigentlich her?« erkundigte sie sich. »Was wollten Sie von Fred Fennell?« Aus Erfahrung wußte er, wenn eine Frau ihren Mann mit Vorund Nachnamen nennt, hängt der Haussegen schief. »Ach, eigentlich nur ein paar Informationen aus seiner Zeit bei der Polizei. Ich überprüfe einen Fall, der lange zurückliegt, und dachte, ich könnte von seinen Erinnerungen profitieren.« »Da gibt's nicht viel zu profitieren«, sagte sie verächtlich. »Er hat den Verstand verloren. Er ist in der Klapsmühle, Mr. Davies. In der Heilanstalt, in St. Austin's in Bedford.« Davies sah seine Felle davonschwimmen. »Oh, das tut mir leid.« »Ihm aber nicht. Ihm gefällt's, sehr gut sogar. Er hält sich für Peter den Großen. Jedenfalls bei meinem letzten Besuch.« »Wann war das?« »Voriges Jahr.« Sie säbelte wild an dem Brot herum. »Genau vor einem Jahr.« »Warum gehen Sie nicht mehr hin?« »Warum, warum, warum.« Sie biß die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. »Ich habe es nicht aushalten können. All den Horror da drinnen. Ich konnte es nicht ertragen, wie er dem russischen Hof seine Befehle verkündete und all das. Es war mir einfach zuviel. Ich gehe nicht mehr hin.«
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Inzwischen waren die Sandwiches fertig. Die Füchse bekamen heute wohl ein Festmahl, dachte Davies. » E s ist schrecklich dort«, sagte sie. »So schrecklich, man kann es nicht beschreiben. Sie werden's ja sehen, falls Sie hingehen.« Er stand auf. Der Bratengeruch und der Duft nach frischem Brot waren umwerfend. »Ich gehe dann«, sagte er. »Was soll ich ihm sagen, falls er fragt, wann Sie ihn besuchen?« Sie zögerte, während ihre Finger die Krümel von der Messerklinge strichen. »Sagen Sie i h m . . . Sagen Sie, ich komme nach der Revolution. Dann ist er zufrieden.« Kaum hatte Davies das Grundstück der Anstalt St. Austin's erreicht, als er auch schon das Schuldgefühl bekam, das die Gesunden normalerweise in der Nähe von Geisteskranken befällt. Er fuhr mit dem Lagonda langsam und vorsichtig durch den Torbogen der Einfahrt und grüßte jeden, der ihm begegnete, mit einem freundlichen Kopfnicken. Zunächst befand er sich in einem weitläufigen Gelände mit Sportplätzen und kleinen Wäldchen, aber schon hier hatte er das Gefühl, er habe ein fremdes Land betreten. Weit entfernt sah man die Anstaltsgebäude, die zwischen Bäumen und Büschen hockten wie Riesen beim Würfelspiel. Er spürte, daß er im Niemandsland war. Vor ihm lag eine weitere, höhere Mauer. Der Herbst hatte die Baumkronen schon ausgedünnt. Durch einen Streifen weißer, schwankender Birken hindurch sah er Menschen, die hin und her liefen. In der Krone einer Eiche, die in der Straßenbiegung stand, bemerkte er Männer mit einem dicken Seil, die versuchten, einen Ast abzusägen. Sie winkten ihm aus ihrer luftigen Höhe zu, und er winkte freundlich zurück. Hinter der Kurve sah er vor sich einen Fußballplatz, auf dem gerade ein Spiel im Gange war; ein richtiges Spiel mit richtigen Toren an beiden Seiten, Markierungsfähnchen an den Ecken, Mannschaften in regulären Trikot-Hemden, kurzen Sporthosen, Socken, Schuhen. Ein Unparteiischer, korrekt in Schwarz gekleidet, tänzelte hin und her und überwachte das Spiel. Der Anblick wärmte Davies das Herz. Es war ein Mittwochmorgen, und er freute sich für die Leute, daß sie zu dieser Stunde an diesem Wochentag Fußball spielen durften. Er fuhr langsamer und hielt in Höhe des einen Tores an - nur ein paar Meter von der Seitenlinie entfernt, die von einem
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schwarzgekleideten, fähnchentragenden Linienrichter überwacht wurde. Er lächelte Davies zu und balancierte aus Jux auf der weißen Linie entlang wie ein Seiltänzer. Davies lachte herzhaft über die Pantomime und fragte: »Na, gutes Spiel?« »Prima«, antwortete der Linienmann und bemühte sich, nicht zu fallen. Er breitete die Arme weit aus, um das Gleichgewicht zu halten, und schickte sich an, sich vorsichtig umzudrehen und zurückzugehen. »Zwei gute Teams«, sagte er dabei, »Weltklasse.« »Oh«, sagte Davies betreten. »Brasilien und England«, verriet ihm der Schwarze, »spielen um die Weltmeisterschaft.« Plötzlich konzentrierte sich das Spiel vor dem diesseitigen Tor. Ein dicker Stürmer im gelben Dress trieb den Ball nach vorn, stieß den Torwart, der sich ihm in den Weg stellte, ohne Skrupel mit beiden Händen zur Seite, vollstreckte mühelos und tanzte dann freudestrahlend zu seiner Mannschaft zurück, um ihre Küsse und Umarmungen entgegenzunehmen. »Foul! Foul!« schrie Davies empört und fuhr von seinem Sitz auf. Der Linienrichter drehte sich erschrocken um. »Glauben Sie?« »Er hat den Torwart gefoult«, erklärte Davies. Einer von den Roten stand in der Nähe und hörte zu. »Kein Tor!« brüllte er über den Platz. »Ein Foul! Der hier sagt, es war ein Foul!« Der Linienrichter starrte ihn mit offenem Mund an. Davies bekam eine Gänsehaut: Quer über das Fußballfeld stürmten 22 schreiende, streitende, rangelnde Spieler auf ihn zu, während die beiden anderen schwarzen Trauerklöße hilflos hinterherzockelten. Kitty spürte, daß irgend etwas passierte, kroch unter seiner Plane hervor und jaulte beim Anblick der roten und gelben Gefahr laut auf. Das weckte Davies aus seiner Erstarrung. »Muß leider weg«, rief er bedauernd und trat aufs Gaspedal. »Spielt schön weiter!« Der Lagonda flitzte los. Aus sicherer Entfernung sah er im Rückspiegel, wie sie da in bunten Haufen standen und sich gegenseitig angifteten. Der Unparteiische saß melancholisch unter einem Baum, der eine Linienrichter kickte den Ball ziellos hin und her, und der andere übte immer noch sein akrobatisches Kunststück auf dem Hochseil.
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Davies merkte, daß er zitterte. Kitty vergrub sich wieder unter der Persenning. Die Straße führte zu einer hohen Mauer mit einem Tor, das mit seinem Spitzbogen wie der Eingang zu einer Burg oder einem Gefängnis aussah. Es war verschlossen. In dem hölzernen Torflügel war ein Türchen. Davies parkte sein Auto und ging darauf zu. Die düstere Atmosphäre legte sich ihm auf die Seele. Eine bleierne Stille hielt die Mauern, die halb versteckten Dächer und den grauen Himmel darüber in ihrem Bann. Die kleine Tür hatte einen eisernen Ring, der sich in der Hand unangenehm anfühlte. Er drehte ihn und war fast überrascht, wie leicht die Türe aufging. Der Anblick, der sich ihm bot, war wie aus einem Bilderbuch, wie eine Szene aus Alice' Spiegelland: Soweit das Auge reichte, erstreckte sich ein Schachbrett aus gnadenlos ordentlich angelegten Rasenflächen und Blumenbeeten. Sie wurden zwar offensichtlich mit sehr viel Mühe und Aufwand gepflegt, doch wirkten sie so, als ob sie nie die Sonne gesehen hätten. Vor dieser Kulisse hielt sich eine einzelne menschliche Gestalt auf, eine Frau, die gebückt am Rande eines Beetes kauerte und den Blick fest auf den Boden gerichtet hielt. Davies trat schüchtern ein. Weder ein Schild noch ein Wegweiser wiesen ihm den Weg. Wenige Meter entfernt von ihm war die Frau in den Anblick einer Handvoll Gänseblümchen versunken, die sie mit einer Eßgabel ausgegraben hatte. »Verzeihung, Madam«, sprach Davies sie an. Sie richtete sogleich ihr altes, aber irgendwie zeitloses Gesicht mit den funkelnden Augen auf ihn; was er dann sah, war die Mündung einer Schußwaffe, einer keineswegs harmlos aussehenden Pistole, die sie an ihre blaue Schürze gedrückt hielt. »Hände hoch«, sagte sie ruhig. Davies hob die Hände über den Kopf. Er fühlte, wie das Blut aus seinen Armen wich und sich im Magen sammelte. Er starrte auf die Pistole. Sie sah echt aus. »Ich habe Sie gesehen«, sagte sie, während sie sich langsam erhob. »Ich habe Sie gleich entdeckt, als Sie reingekommen sind.« »Oh . . . oh, j a « , nickte Davies krampfhaft. Wie er so mit erhobenen Armen dastand, hatte er das Gefühl, seine Hose finge an zu rutschen. »Ich möchte gerne zum Direktor, Doktor Longton. Wissen Sie . . . « »Hoch die Hände!« drohte sie. » L o s , marsch.«
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Er sah sich verzweifelt um, aber in dem ummauerten Garten gab es weit und breit keinen Menschen. Es schien fast so, als sei er in eine eigens für ihn präparierte Falle getappt. Sie drückte ihm die Pistole ins Kreuz, und er marschierte mit erhobenen Händen los. Sie schob ihn durch einen weiteren Torbogen in einen breiten gepflasterten Korridor mit Fenstern und Türen zu beiden Seiten. Ein Mann mit einem Notizblock in der Hand kam aus einem Büro heraus. Davies wollte ihn ansprechen, aber der Mann war in seine Notizen vertieft und achtete nicht auf die Revolverfrau und den Mann, den sie vor sich herstieß. Es tauchten noch andere Personen auf, einige davon in weißen Kitteln, aber seine ungewöhnliche Art der Fortbewegung erregte nicht das geringste Aufsehen. Einige wünschten der Kidnapperin sogar einen guten Morgen. Nach einer Weile kamen sie zu einer Halle, wo gerade eine Gymnastikstunde gegeben wurde. Ein Turnlehrer machte den etwa 30 Teilnehmern eine Übung vor, die diese begeistert nachmachten. Die Frau trieb Davies mit der Pistole quer durch den Saal, ohne daß irgend jemand davon Notiz nahm. Schließlich blieben sie vor einer kleinen pummeligen Frau mit resolutem Gesicht stehen. »Chefin«, sagte die Revolverlady, »ein Eindringling. Er will zu Dr. Longton.« Die Aufseherin hatte für Davies, der immer noch die Hände hoch hielt, nur einen flüchtigen Blick übrig. »Er ist in seinem Büro«, sagte sie, »wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihn noch.« Davies bekam mit der Pistole noch einen Schubs in den Rücken und wurde im Laufschritt den nächsten Korridor entlanggetrieben bis zu einer weiteren Türe. Die Schießwütige klopfte mit dem Knauf ihrer Waffe an, und eine freundliche Stimme, wie die Stimme eines Menschen, der mit Gott und der Welt zufrieden ist, antwortete: »Nur herein, nur herein.« Davies hielt, obwohl enorm erleichtert, immer noch krampfhaft die Arme hoch, während die Frau ihn in den Raum schob. Doktor Longton lächelte verständnisvoll. »Ah, wie ich sehe, sind Sie zum Hintereingang hereingekommen.« Dann wandte er sich an die Frau und sagte: »Ist gut, Marie. Ich übernehme jetzt. Vielen Dank.« Die Frau ging wortlos hinaus. Davies fragte: »Kann ich die Hände jetzt herunternehmen?« Er ließ die Arme sinken. »Ich dachte, die Pistole wäre echt.«
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»Oh, das ist sie auch«, sagte der Direktor. »Marie braucht das. Wir haben versucht, ihr eine Spielzeugwaffe zu geben, aber sie hat sie nicht akzeptiert. Also haben wir diese beschafft, damit sie zufrieden ist. Wir haben den Mechanismus entschärft, und die Patientin hat natürlich keine Munition. Die Schußwaffe ist ihr Statussymbol, falls Sie verstehen, was ich meine.« » J a , ich verstehe.« Davies stellte sich vor und schüttelte dem Arzt die Hand. » E s war ein kleiner Schock, sonst nichts. Es war so unerwartet.« »Wir hier erwarten stets das Unerwartete«, beendete der Arzt das Thema. »Sie wollten Mr. Fennell besuchen?« »Ja. Ich habe mit seiner Frau gesprochen...« »Schade, daß s i e ihn niemals besuchen kommt. Er ist darüber sehr traurig.« Davies nickte schwach. Er wollte in kein Fettnäpfchen treten. »Sie sagt, sie möchte nicht kommen.« Dr. Longton kratzte sich an der Nase. Er war schlank und ein wenig gebeugt. »Jammerschade«, sagte er. »Ich glaube, es war zu viel für sie. Dies alles h i e r . . . « »So geht es den meisten Menschen. Besonders den Patienten.« »Das kann ich nachfühlen.« »Mr. Fennell geht es im Augenblick gar nicht schlecht. Er hat sehr gute Tage. Es wird jedenfalls nicht schlimmer mit ihm. Seine Wahnvorstellung, ein gekröntes Haupt zu sein, macht sich seltener bemerkbar. Er freut sich bestimmt über Ihren Besuch, Mr. Davies. Und wenn Sie seine Frau dazu bringen könnten, herzukommen - es würde ihn glücklich machen.« Davies nickte skeptisch. »Ich kann sie ja noch mal aufsuchen«, versprach er, »mal sehen, wie sie reagiert.« »Fein. Ich habe dafür gesorgt, daß Sie mit Mr. Fennell allein sprechen können. Wenn das Gespräch im Aufenthaltsraum stattfände, würden die anderen Patienten Sie alle mit ihren Sorgen überfallen. Es sammelt sich hier so manches an Kummer an. Wir haben ein kleines Sprechzimmer, wo Sie sich unterhalten können.« Er zögerte, dann gab er sich einen Ruck. »Ich will mich ja nicht in Polizeidinge einmischen - aber können Sie mir wenigstens andeuten, worum es geht? Ich muß natürlich an meine Patienten denken.« Davies nickte wieder. »Natürlich. Verstehe. Also, es geht um einen Mord. Aber es ist nicht so dramatisch, wie es klingt - der
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Fall liegt 25 Jahre zurück. Mr. Fennell war damals in dem betreffenden Revier beschäftigt und war an den Ermittlungen beteiligt.« »Es ist fraglich, ob er sich so weit zurückerinnert.« Der Arzt dachte nach. » E s wäre gut, wenn Sie ein bißchen Fingerspitzengefühl mitbrächten. Sie müssen behutsam vorgehen. Wenn er sich nicht erinnern kann, wäre ich dankbar, wenn Sie es dabei beließen und nicht weiter in ihn dringen wollten.« »Bestimmt«, versicherte Davies. »Ich will-ja keinen Schaden anrichten.« »Vielen Dank. Und ziehen Sie bitte das Gespräch nicht zu sehr in die Länge. Es ist ein großes Erlebnis für den Patienten, Besuch zu bekommen - und emotional sehr anstrengend.« Er dachte nach. »Das wäre alles. Ich bringe Sie hin.« Der kurze Weg, den sie zurücklegten, war der schlimmste Alptraum, den Davies je wachend erlebt hatte. Jede Türe, durch die sie gingen, wurde zweifach auf- und wieder zugeschlossen, jeder Korridor führte tiefer und tiefer hinein in das Inferno. Er hörte Menschen kreischen und schreien. Das Schlimmste aber waren die bleichen, verwirrten Gesichter, die sie durch die Glasscheiben anstarrten. Endlich kamen sie zu einem ruhiger gelegenen Nebenraum. »Er wartet drinnen auf Sie«, sagte Longton leise. »Was ich vergessen habe, zu fragen, Mr. Davies: Kennt er Sie eigentlich?« »Nein, wir sind uns nie begegnet. Er war schon nicht mehr da, als ich in meinem Distrikt anfing.« »Aha«, sagte der Arzt. Er klopfte höflich an, und von drinnen rief eine zittrige Stimme: »Herein.« Davies folgte dem Doktor, der sein Lächeln wieder aufgesetzt hatte, wie man an den Falten in seinem Nacken erkennen konnte. Ein uralter, aschfahler Mann saß zitternd auf einem Holzstuhl an einem einfachen Tisch. » B e such für Sie, Mr. Fennell. Das ist Mr. Davies«, sagte Dr. Longton. Fennell stand unschlüssig auf. In seinem Gesicht zuckte es, dann konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten. »Oh, danke, daß Sie gekommen sind«, sagte er, die Hände ausstrekkend, »lieber alter Freund, danke, daß Sie gekommen sind.«
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Kapitel 14
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adame Tarantella Phelps-Smith, erstklassige Hellseherin und Handleserin, wirkte in der Stadt wie ein exotischer Schmetterling. Im Laufe der letzten Jahre hatte man weniger von ihr zu Gesicht bekommen, nicht nur, weil sie seltener ausging, sondern auch, weil sie mit zunehmendem Alter zu schrumpfen schien. Beryl Adams - so hatte sie geheißen, bevor sie von einer alten Wahrsagerin auf einem Jahrmarkt in Hackney Marshes die magischen Kräfte empfing - war immer ein schillernder Farbtupfer in der sonst so eintönigen Nachbarschaft gewesen. Sie schwebte in bunten, fließenden Gewändern wie in einem farbigen Meer. An den Fingern trug sie Ringe und Glöckchen an den langen, gedrehten Spitzen ihrer gestickten Pantoffeln. Davies hatte sie als groß und schlank in Erinnerung; sogar ihr Gesicht war langgezogen - mit hoher Stirn und schmalem Kinn. Ihre Augen waren groß, die Augenbrauen hoch und fein geschwungen, und ihr Mund bildete ein aufrecht stehendes Oval, als ob das Leben ihr in jedem Moment eine Überraschung zu bieten habe. Früher hatte man sie an den unterschiedlichsten Plätzen der Stadt antreffen können, wo sie den Leuten allerlei Zaubermittel verkaufte und auf Wunsch die Zukunft voraussagte - in diesen grauen, staubigen Vierteln gab es viele Menschen, die immerfort auf Besserung ihrer Verhältnisse hofften. Aber mit den Jahren war ihre Ausstrahlung ebenso wie ihr Augenlicht schwächer geworden, und zu der Zeit, als Davies von Berufs wegen auf sie aufmerksam wurde, beschränkte sie ihre Beutezüge auf kurze Ausfälle zum Spirituosenladen und zum Schnellimbiß. Sie war so bucklig und ihr Rücken so krumm, daß ihre langen Arme fast den Erdboden berührten. »Das kommt davon, daß ich mich so viele Jahre lang über die verfluchte Kristallkugel gebeugt habe«, klagte sie. »Ein Berufsleiden. Bergleute bekommen eben diese eine Krankheit, wie heißt
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sie doch gleich, und Wahrsagerinnen einen Wirbelsäulenschaden.« »Sie haben viel zu tun?« »Nein. Aber ich muß in Übung bleiben. Wer rastet, der rostet.« »Ja, ja, Polizisten bekommen Plattfüße und einen steifen Hals«, sagte Davies mitfühlend. »Gestern habe ich Fred Fennell besucht.« Madame Tarantella schien nicht überrascht. »Fred Fennell«, sagte sie verträumt, als sei es erst wenige Tage her, daß sie ihm aus der Hand gelesen hatte, als sie nackt unter ihrer bunten Steppdecke beieinanderlagen, »der liebe Fred. Wie geht es ihm? Vermutlich wird er auch älter.« »Genau wie wir alle«, sagte Davies. Ihr Zimmer befand sich über dem Kleidergeschäft von Mr. Blake, der jeden zweiten Arbeiter in der Gegend, meist gegen wöchentliche Ratenzahlung, eingekleidet hatte. Während sie da saßen, konnte man hören, wie die Artikel in den Ständern herumgeschoben wurden, die an der Decke direkt unter Madame Tarantellas Fußboden befestigt waren. Madame Tarantella selbst saß in ihrem Pilotensitz, wie sie ihn selbst nannte, einem kleinen Korbstuhl, der sich wie ein Kind an ihre Röcke zu schmiegen schien. Das Zimmer war ihrem Metier entsprechend düster, mit schweren, troddelverzierten Vorhängen und beleuchteten Schautafeln mit den Tierkreiszeichen an der Wand. Auf dem Tisch mit der Kristallkugel stand eine schmutzige Kaffeetasse, ein Aschenbecher voll ausgedrückter Zigarettenkippen und die aufgeschlagene Tageszeitung mit den Wettergebnissen. »Sie müßten doch eigentlich immer auf den Gewinner setzen«, bemerkte Davies mit einem Blick auf die Zeitung. Er saß in dem Klientensessel und hatte wegen der schwülen Atmosphäre in dem kleinen Zimmer den Mantel aufgeknöpft. »Beim Pferderennen? Ach, verdammt, Dangerous!« seufzte sie. »Wenn ich den Sieger voraussehen könnte, säße ich nicht hier. Wann immer ich dem Kristall die Frage nach Epsom oder Sandown Park stelle, führt er mich an der Nase herum und zeigt mir die Verlierer. Hellsehen können ist zwar eine Begabung, aber bei 50 Pence pro Beratung wird man nicht reich. Der Reichtum, den ich prophezeie, ist immer der von anderen Leuten.« Sie schaute Davies nachdenklich an. »Hätten Sie vielleicht gerne eine Beratung, wo Sie schon mal hier sind?«
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Davies lächelte geheimnisvoll. »Mir sind schon zwei dunkle Unbekannte über den Weg gelaufen. Davon hab' ich noch die Narben.« »Sie werden sie nochmals treffen. Sehen Sie sich vor!« warnte sie. »Aber ein Tier wird Sie retten. Haben Sie einen Polizeihund?« »Nein, nicht gerade einen Polizeihund, aber ich habe Kitty, den Köter, der sich in meinem Auto häuslich niedergelassen hat.« Sie nickte. »Ah ja, das Zotteltier hab' ich schon mal gesehen. Es könnte mal ein Bad vertragen. Sorgen Sie gut für ihn, Dangerous, denn eines Tages werden Sie ihn brauchen.« Sie schien in Versuchung, einen schnellen Blick in den Kristall zu werfen, ließ es aber doch sein. »Und was hat Fred Fennell Ihnen erzählt?« » S i e . . . Sie kannten ihn wohl recht gut? Er hat so was erwähnt.« »Ach Mann, Dangerous«, sagte sie kollegial, »Sie und ich betreiben doch dasselbe Geschäft. Wir leben von der Menschenkenntnis. Sie wissen, daß er mein Liebhaber war, sonst säßen Sie nicht hier. Aber es ist schon so lange her.« » E s geht ihm nicht schlecht - körperlich, meine ich. Gemessen an den Umständen.« »Also ist er in einer Heilanstalt«, sagte sie schnell. »Ich hatte es im Gefühl, daß er krank ist, aber ein Irrenhaus, das habe ich nicht gesehen.« »Nun, dort ist er jedenfalls. In Bedford.« »Ach je. Der arme Fred. Er war immer so stark und männlich, wissen Sie. Wie oft hat er in diesem Zimmer gestanden mit nichts am Leibe als seinen Uniformstiefeln. Ein schöner Anblick.« »Das glaube ich gern«, sagte Davies. Er wollte, daß sie nicht den Faden verlor. »Und dann seine Frau. Ein richtiger Drache. Sie hatte eine fixe Idee in bezug auf Tiere. Nachts zog sie los, um Hunde und Katzen zu vergiften. Ihre Familie mußte sie mit Gewalt vom Zoo fernhalten. Es hieß von ihr, sie sei mal bei Leuten eingeladen gewesen, die einen Goldfisch hatten, und sie hätte versucht, ihn zu erwürgen.« »Das war sicherlich nicht einfach mit ihr«, räumte Davies ein. »Sie hat sich anscheinend geändert, denn jetzt füttert sie Füchse mit belegten Broten. Es sei denn, sie benutzt vergiftete Butter. So etwas hätte ich von ihr nie gedacht.«
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»Eine schreckliche Frau. Sie hat Fred manche Träne gekostet. Ich hatte ihn sehr gern, Dangerous. Nur - ich konnte keine gemeinsame Zukunft für uns sehen.« »Und wenn nicht Sie, wer sonst? Erinnern Sie sich an den Fall Celia Norris; er liegt viele Jahre zurück. Sie wurde vermißt.« »Ach, die. Ja, weiß ich noch. Ich hab' ja noch ihr Fahrrad.« Davies fiel fast vom Stuhl. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er starrte sie an. Sie strich versonnen mit den Fingerspitzen über die kristallene Kugel. »Ihr Fahrrad?« stammelte er. »Genau. Es ist unten im Schuppen. Da ist eine Menge Gerümpel, aber das Rad ist dabei, das weiß ich.« Davies versuchte, Ruhe zu bewahren. » W i e . . . wie kommt es denn hierher?« Er zwang sich, langsam zu sprechen. »Wie?« »Fred hat es mitgebracht. Jetzt kann man ja ruhig darüber sprechen. Wenn er im Irrenhaus sitzt, kann man ihm nichts anhaben, und mich könnten Sie wohl auch nicht so leicht einlochen.« »Ich will Sie doch überhaupt nicht einlochen«, sagte Davies verzweifelt. »Niemand will das. Erzählen Sie weiter.« »Es war damals, als die Sache mit der kleinen Norris passiert ist. Am selben Abend, an dem sie verschwunden ist. Fred war hier oben, ich weiß es noch wie gestern. Wenn er Streifendienst hatte, kam er immer ein halbes Stündchen, manchmal auch länger, herauf. Er fuhr immer mit einem bestimmten Kollegen, und sie richteten es gewöhnlich so ein, daß einer von beiden sich für ein Weilchen verdrücken konnte. Natürlich wechselten sie sich dabei ab. Der andere ging auch immer irgendwohin, ich bin aber überfragt, wohin, und Fred kam zu mir. Es fing damit an, daß er sein Schicksal erfahren wollte - jedenfalls sagte er das. Es war aber nur ein Vorwand, er wollte mich eben kennenlernen. Ich war damals noch jung und sah recht gut aus. Und nachdem er mir einmal seine Hand gereicht hatte, das war ja mein Beruf, konnte ich sie nicht wieder loslassen. Das passiert eben selbst uns, die wir besondere Kräfte besitzen, Dangerous.« Davies nickte aufmerksam. Er wäre am liebsten mit ihr im Zimmer herumgetanzt, zwang sich aber, still zu sitzen. »Fred hatte an dem Abend schon ein paar hinter die Binde gegossen. Bei einem Polizeibesäufnis, aber inoffiziell, denn eigentlich hatte er ja Dienst. Schlitzohren waren die damals. Ich hätte keinem Polizisten über den Weg getraut, das können Sie mir glauben - Fred natürlich ausgenommen.«
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»Sind komische Burschen dabei«, nickte Davies. Er wollte sie nicht unterbrechen. Sie starrte auf die Zeitung, als könnte sie aus den Tabellen und Wettinformationen Freds jugendliche Erscheinung hervorzaubern. » J a « , fuhr sie schließlich fort, »an dem Abend hatte er schon ein paar gekippt und wollte nur für einen Augenblick heraufkommen. Dann ging er runter, und bald danach kam er wieder und brachte das Fahrrad. Seitdem steht es hier, all die Jahre lang.« »Warum hat er es hergebracht?« » E r hatte es gefunden und wußte nicht, wem es gehörte. Es lag bei der Mauer vom Friedhof. Er hat es im Gras liegen sehen und halt hergebracht. Er war sehr schlau, der Fred, für einen einfachen Polizeimann, der nie befördert wurde. Ja, er war gerissen! Er hatte sich ausgedacht, er wollte das Rad hier aufbewahren, und wenn sie ihm auf die Schliche gekommen wären oder wenn seine Frau Verdacht geschöpft und ihm gefolgt wäre oder jemanden auf seine Spur gehetzt hätte, dann wollte er behaupten, er sei hier, weil ein gestohlen gemeldetes Rad aufgetaucht sei. Ich hätte dann bestätigt, ich hätte es gefunden, und keiner hätte das widerlegen können. Es war einfach eine Vorsichtsmaßnahme, verstehen Sie.« »Aber - wußte er denn nicht, wessen Rad das war?« »Nein, natürlich nicht. Er hat gedacht, es sei halt irgendein Rad. Verloren oder vielleicht weggeworfen von jemandem, der es gestohlen hatte. Erst später, als das große Trara losging, ist ihm klar geworden, daß es der Norris gehörte. Und da war es zu spät, da hat er viel zuviel Angst gehabt, damit rauszurücken.« Davies wagte kaum, den Mund zu öffnen. »Tarantella«, flüsterte er und streckte eine Hand aus. Er ergriff ihre Hand. Sie fühlte sich kalt und leblos an. »Kann ich es mal sehen, das Rad?« » E s ist im Schuppen.« Sie erhob sich. »Ich zeige es Ihnen. Es gibt Berge von Gerümpel da unten, dahinter muß es sein.« Sie führte ihn über eine Hintertreppe zu einem kleinen Hof mit einem Blechschuppen. »Das übrige Haus gehört Mr. Blake von der Kleiderfirma«, erklärte sie, während sie einen verrosteten Riegel zurückzog, »aber der Schuppen gehört zu meiner Wohnung. Den habe ich mitgemietet.« Im Hof war es feucht und kalt. Davies zog den Mantel enger um sich und merkte dabei, daß sein Herz wie verrückt klopfte. Aufkommendes Triumphgefühl und Angst vor Enttäuschung
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hämmerten wie zwei Trommelschlegel in seiner Brust. Ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. »Ich bewahre meine alten Kostüme und Requisiten hier auf«, sagte sie. »Man muß mit der Mode gehen, sogar in diesem Gewerbe.« Sie schob zwei bunte Ofenschirme zur Seite. »Und hier sind meine spiritistischen Geräte, der Schalltrichter und die Rauchmaschine. Das habe ich aufgegeben, es war mir zu gruselig.« Sie räumte den Durchgang frei und reichte die einzelnen Stücke nach hinten. »Hier ist es ja, ich sehe es schon. Ganz dahinten. Wollen Sie es rausziehen, Dangerous?« »Und ob ich das will«, dachte er. Er schob sie sanft zur Seite und kletterte über den Krimskrams hinweg. Plötzlich hielt er mitten in dem Staub und Chaos inne - da war es. Celias Rad. Er schluckte vor Aufregung. Seine Arme, die sich nach dem Lenker ausstreckten, zitterten. Sein Gesicht war schweißbedeckt. Dann berührte er das kalte, staubige Metall. Es war kein Traum! Er hob und zog das Rad unter dem Gerümpel hervor. Es war ausgesprochen leicht. Er wußte, daß es das richtige war. Es war ihm ebenso vertraut, wie es seiner unglücklichen Eigentümerin vertraut gewesen war. Er faßte den Sattel an, auf dem sie die letzten Minuten ihres 17jährigen Lebens verbracht hatte. Trotz seiner Ungeduld hob er es vorsichtig über den übrigen Plunder hinweg und legte es auf den Boden. Madame Tarantella sah es ungerührt an. »Die Reifen sind platt«, bemerkte sie knapp. Davies wußte nicht recht, was er als nächstes tun sollte. Er wischte mit den Fingern den Staub fort. Dann stellte er das Rad aufrecht und öffnete die Satteltaschen. Der Schock warf ihn fast um. In der einen Tasche sah er die vergilbten, zerbröckelnden Überreste eines Blumenstraußes. »Die waren drin, als er es herbrachte«, sagte Madame Tarantella über seine Schulter. »Chrysanthemen und Iris. Es war eine Karte dabei, die habe ich weggeworfen. Ich nehme an, sie hat sie auf dem Friedhof geklaut.« »Ihre Mutter hat gesagt, sie brachte ihr immer Blumen mit«, murmelte Davies. »Ich hatte mich schon gefragt, wo sie die wohl gepflückt hat.« »Blumen«, sagte Mod nachdenklich. »Sich vorzustellen, daß die noch da sind . . . « Er schaute in sein Glas. Er und Davies versuchten, dem wütenden und mißtrauischen Blick des Wirtes auszuwei-
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chen. Vermutlich ahnte er, wer seine Dachrinne heruntergerissen hatte. »Sie muß regelmäßig auf dem Heimweg vom Jugendklub auf dem Friedhof gewesen sein«, sagte Davies. »Wegen der Blumen für ihre Mutter. Ich habe mich schon gefragt, wo man in dieser Gegend Blumen pflücken kann.« »Das bedeutet, sie ist über die Mauer oder das Tor geklettert. Es war ja spät am Abend«, sagte Mod. »So ist es.« »Und das an dem fraglichen Abend ohne ihr Unterzeug.« »Anscheinend.« »Und wo stehen wir nun?« Davies seufzte. » J a , wo stehen wir? Wir haben drei neue Verdächtige. Bei keinem von ihnen paßt alles so ganz zusammen, aber wir müssen sie alle irgendwie in Betracht ziehen. Fangen wir von vorne an: unser Freund Boot. Dieser Boot hat ein paar ganz schön unartige Sachen gemacht, unter anderem auch mit Celia. Aber er sagt, er habe sie nicht getötet.« »Feine Entlastung«, murmelte Mod, halb in sein Bier versunken. Beim Wiederauftauchen erinnerte er an einen Fischotter, der beim Schwimmen nur mit dem Kopf aus dem Wasser ragt. »Genügt dir denn sein Wort?« »Nein. Aber er hat wohl alles ausgepackt, neulich, oder doch zumindest fast alles. Als ich mit ihm fertig war, jammerte er vor der Haustür von seiner Mama - er wollte ganz schnell reingelassen werden. Kein schöner Anblick, sage ich dir. Ich glaube nicht, daß er es getan hat, trotz verschiedener Verdachtsmomente - es sei denn, er ist noch verlogener, als ich annehme. Aber über eines will er nicht reden: Er will nicht verraten, was er mit dem Schlüpfer gemacht hat. Er sagt, er kann sich nicht erinnern.« »Und das glaubst du ihm?« grollte Mod. »Wenn du das schluckst, dann wirst du wohl alles schlucken.« »Ich könnte noch ein Bier schlucken«, sagte Davies gedankenverloren. Mod wagte sich in das Blickfeld des Wirtes und bestellte noch zwei Bier. Der Wirt ließ mißgelaunt die Gläser vollaufen und knallte sie auf die Theke. »Trinken, das kann ich ja verstehen«, sagte er vorwurfsvoll, »aber Vandalismus - nein!« Mod und Davies wechselten unschuldige Blicke. » E s gibt halt Leute, die merken nicht, wenn sie genug haben«, sagte Davies laut zu dem Wirt, der ihnen schon wieder den Rücken zukehrte.
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Dann wandte er sich Mod wieder zu. »Nein, ich bin sicher, es wird ihm schon noch einfallen, was er damit gemacht hat. Vielleicht hat er zusammen mit ihr den Klub verlassen - nach so langer Zeit kann sich niemand daran erinnern, ihn gesehen zu haben -, aber es kann auch niemand das Gegenteil bezeugen. Es ist ja schon 25 Jahre her. Möglich wär's, daß er sie bis zum Friedhof begleitet hat und es dann passiert ist. Gott alleine weiß das. Nur, ich glaube es nicht, Mod. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er es gewesen ist. Aber ich behalte ihn im Auge, und ich glaube nicht, daß er sich besonders wohl in seiner Haut fühlt.« Das ordinäre Weib mit dem Gipsverband stürmte, VIVA ESPAÑA singend, wie ein Büffel herein und stürzte sich auf die Jukebox. Sie hätte die betreffende Taste auch mit geschlossenen Augen gefunden. Kaum daß der erste Ton erklang, wackelte sie mit den Hüften und schob sich tanzend an der Bar entlang, wobei sie die Hände wie Holzklötze über dem Haupt zusammenschlug. »Dann Ramscar«, fuhr Davies beharrlich fort, »der könnte es wirklich gewesen sein. Das Alibi kann er sich verschafft haben, kein Problem. Und er macht sich dauernd bemerkbar, obwohl keiner weiß, wo er steckt. Er weiß, daß ich ihm auf der Spur bin. Wer sonst als der liebe Cecil hätte den Mülltonnenüberfall organisieren sollen? Idee und Ausführung, alles trägt seine Handschrift.« Mod beobachtete die ordinäre Flamencotänzerin mit gelassener Verachtung. »Eines Tages«, prophezeite er, »wird sie hier mitten in der Kneipe tot umfallen, und dann werde ich auf ihrer Leiche ein Tänzchen aufführen. Aber sag mal, was ist mit Parsons? Dem geheilten Reizwäschefetischisten? Vielleicht haben dich ja die Brüder von der Heilsarmee schanghait?« »Richtig, mit Parsons bin ich auch noch nicht fertig. Ich muß ihn dieser Tage noch mal ausquetschen. Und dann haben wir noch Bill Lind.« »Ah ja, der Freund. Ich habe mich schon gefragt, wo der bleibt.« »Madam«, rief Davies dem rasenden Weib zu, »wenn Sie nicht endlich aufhören, muß ich Sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in Gewahrsam nehmen.« »Ach Quatsch«, erwiderte die Señorita, »ich reiße jedenfalls nicht anderer Leute Abwasserrohre herunter.«
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»Bill Lind«, sagte Davies und wandte sich schleunigst wieder Mod zu. »Nun, ich warte ab, bis er sich bei mir meldet. Er kommt bestimmt.« »Und«, schrie die Frau streitsüchtig und wandte sich ihnen ohne jegliche andalusische Grandezza zu, »ich bringe auch nicht so ein beschissenes Pferd in so eine beschissene Villa. Und ich springe nicht in den beschissenen Kanal mit einem beschissenen Abfalleimer auf meinem beschissenen Kopf.« Die Antwort wartete sie gar nicht erst ab. Sie stapfte zur Tür, klatschte noch einmal die Hände über dem Kopf zusammen und entschwand mit einem letzten koketten Hüftschwung unter dem schlampigen Rock. »Eine typische Gebärde im hispanischen Tanz«, bemerkte Mod und schlug die Hände über seinem spärlich bewachsenen Schädel zusammen. »Und was nun Fred Fennell angeht«, fuhr Davies fort, »und Celias wiedergefundenes Fahrrad, so ist das eine seltsame Geschichte. Hat er sie umgebracht, nachdem er - schon etwas angeheitert - in den Armen der Madame Tarantella nicht befriedigt worden war? Er hat sich, wie wir wissen, nur ein paar Minuten bei ihr aufgehalten. Er und James Dudley haben sich ihre hübsche, gemütliche kleine Arbeit in dem Streifenwagen bequem eingerichtet: Erst ging der eine seinen privaten Lustbarkeiten nach, dann der andere; eine einfache, bequeme Einteilung. Und sie verkürzte die einsamen Stunden. An jenem Abend sind sie beide, wie wir wissen, auf der Party gewesen und haben gepichelt, obwohl sie eigentlich auf Streife sein sollten. Das ist nicht so ungewöhnlich. Bei der Polizei geht es manchmal ja recht gemütlich zu.« »Vielleicht ist er aus der Wohnung gekommen«, kombinierte Mod, »die Straße runter bis zum Friedhof gegangen und ist da auf Celia gestoßen, wie sie gerade mit einem gestohlenen Blumenstrauß und ohne Unterzeug über die Mauer kletterte. Dann ist es eben passiert. Und danach könnte er das Rad unauffällig zu der Tarantella gebracht haben.« »Klingt nicht schlecht«, stimmte Davies zu. »Gar nicht übel. Aber genausogut hätte es auch der andere Bulle tun können, der Dudley. Es ist doch so: Keiner hat Celia mehr von dem Moment an gesehen, als sie den Klub verlassen hat. Die Leute wurden gefragt, ob sie ein Mädchen auf einem Rad gesehen hätten. Nun,
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sie saß aber gar nicht auf ihrem Rad, das stand schließlich an der Außenmauer vom Knochengarten. Vielleicht war sie auch in dem Polizeiauto - zusammen mit Dudley.« »Und was ist aus dem geworden?« fragte Mod. Er hatte ausgetrunken, drehte sein Glas und schob es dann unruhig hin und her. Davies ermannte sich, dem Wirt einen schönen Blick zuzuwerfen, woraufhin ihnen dieser zwei weitere Maß abfüllte. »Dudley, James Dudley, ist mit seiner Familie nach Australien ausgewandert, schon vor 20 Jahren. Wollte angeblich gern am Meer leben. Sie hatten an Torquay gedacht, aber das konnten sie sich nicht leisten. Also wurde er Polizist in Sydney und arbeitete dort bei der Sittenpolizei. Vor acht Jahren ist er bei einem Brand in einem Freudenhaus umgekommen.« »Starb also in Ausübung seines Dienstes?« fragte Mod. »Außerhalb des Dienstes. Sie hatten ihn gefeuert, wegen Annahme von Bestechungsgeldern.« »Oh je«, sagte Mod bedauernd, als gehe es um einen guten Bekannten. Davies breitete die Hände aus. »Das ist alles. Alles, was ich weiß, Kumpel.« »Celia«, grübelte Mod. »Kommt in WIE ES EUCH GEFÄLLT vor, und in Spensers FAERIE QUEENE. Kommt vom lateinischen Wort CAELIA, das heißt DIE HIMMLISCHE. Hab' ich nachgeschlagen.« »Muß toll sein, in der Bibliothek zu wohnen«, murmelte Davies. »So so. Die Himmlische.« Mod sah auf die Wanduhr. »Gleich ist Polizeistunde. Und wir müssen heute pünktlich nach Hause.« Er sprach so laut, daß der Wirt ihn hören konnte. »Sonst schiebt man wieder alle möglichen Katastrophen und Unfälle uns in die Schuhe.« Leiser setzte er hinzu: »Weißt du, was ich glaube, wo sie begraben ist?« »Da, wo sie alle begraben sind«, seufzte Davies. »Auf dem Friedhof«, antwortete Mod. »Denke ich auch.«
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Kapitel 15
D
r a u ß e n vor d e r K n e i p e wartete J o s i e auf ihn und sah aus wie ein h e r u m l u n g e r n d e s K i n d . Z u m Schutz vor d e m abendlichen N i e s e l r e g e n trug sie einen Ölmantel und auf dem Kopf einen Südwester. » H a s t du e r r a t e n , d a ß ich es w a r ? « fragte s i e , als s i e , sich unter dem R e g e n d u c k e n d , die S t r a ß e h i n u n t e r g i n g e n . M o d hatte sich v e r a b s c h i e d e t und war in der a n d e r e n R i c h t u n g davongetrottet. » I c h h a b e dich für einen kleinen M a t r o s e n von einem Rettungsboot g e h a l t e n « , erwiderte D a v i e s . »Wohin g e h e n wir d e n n ? « » I c h will dir etwas z e i g e n « , s a g t e sie und strebte zielbewußt weiter. Wie zerbrechlich sie ihm v o r k a m ! » I c h h a b e bei der Arbeit nach dir A u s c h a u g e h a l t e n , a b e r du warst wohl nicht in der Nähe.« Er wußte nicht, warum er sich ihr g e g e n ü b e r eigentlich schuldig fühlte. » I c h hatte viel zu t u n « , s a g t e er. » W e i t e r e Nachforschung e n . I m m e r noch auf Mr. R a m s c a r s Spur - d a s heißt, es gibt gar keine Spur. Ich war weiß Gott viel u n t e r w e g s , in e i n e r Heilanstalt, in e i n e m Stripschuppen und a n d e r e n H ä u s e r n , von denen ich m e i n e r Mutter nicht unbedingt erzählen würde. Ich w a r . . . «
» R a m s c a r hat meine Mutter b e d r o h t « , unterbrach sie ihn. »Sie k a n n jetzt nicht mehr mit dir r e d e n . « » R a m s c a r ! « Er blieb mitten auf der S t r a ß e s t e h e n , a l s wollte er den Verkehr r e g e l n . E i n B u s k a m wie ein blitzender, gefährlicher D r a c h e fauchend auf sie los. J o s i e zog ihn hinüber auf die andere Seite. » R a m s c a r ? « wiederholte er, als sie den B ü r g e r s t e i g erreichten; die d r o h e n d e Faust des B u s f a h r e r s bemerkte er nicht. »Wo versteckt er s i c h ? Weißt du e s ? « Sie zuckte die A c h s e l n und g i n g weiter. » D a s weiß keiner. Er schickt bloß B e f e h l e . Mein Alter ist halbtot vor A n g s t , er geht nicht mal mehr aus d e m H a u s . Die w i s s e n , d a ß er mit dir gesprochen h a t . «
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» S a g deinen E l t e r n , sie sollen sich nicht m u c k s e n « , sagte D a vies. Er war beunruhigt. »Wir sollten euer H a u s beobachten lassen.« »Nein, nein, d a s wäre noch schlimmer. K e i n e S o r g e , sie trauen sich nicht m e h r a u s dem H a u s . Ich muß ihnen s o g a r d a s E s s e n bringen.« » R a m s c a r « , murmelte er. »Ich wüßte wirklich g e r n e , wo er ist.« Plötzlich dachte er wieder d a r a n , wie zart und verletzlich sie war. »Was ist mit d i r ? « »Ach, mit m i r ? « lachte sie. »Ich h a b ' vor dem keine A n g s t . Ich würde ihm s a g e n , er soll a b h a u e n . Er und seine B a n d e . « Sie drehte sich im R e g e n zu ihm um. D a s runde Gesichtchen wurde von der viel zu g r o ß e n Hutkrempe e i n g e r a h m t . Sie s a h unbekümmert, n a i v , selbstsicher und u n g e h e u e r verletzlich a u s . E i n e zweite Celia. »Verhalt dich still«, sagte er. » U n d wenn es irgendwie Ä r g e r gibt, rufst du mich sofort an o d e r gibst auf der Wache B e s c h e i d . Verstanden?« Sie grinste ihn a n . » Z u B e f e h l . K e i n e A n g s t , D a n g e r o u s , auf mich hat er es nicht a b g e s e h e n . A b e r du darfst natürlich den g r o ßen B r u d e r spielen, wenn du möchtest.« Sie zog einen Schlüsselbund aus der M a n t e l t a s c h e . » L a ß uns in den F r i s e u r s a l o n g e h e n . Da gibt's etwas, d a s du sehen solltest.« »Was ist e s ? « »Wart es a b . Es ist ein H a m m e r , du wirst schon s e h e n . « Sie schloß die Haustür auf und führte ihn die schmale Treppe zum ersten Stock hinauf. Der noch n a s s e S a u m ihres R e g e n m a n t e l s streifte fast seine N a s e . » D u bist mir a u s dem Weg g e g a n g e n « , beschwerte sie sich, w ä h r e n d sie die Treppen hochstiegen, » d u wolltest mich wohl nicht treffen. Und d a s hatte nichts mit R a m s car zu tun.« Er fühlte sich innerlich a u s g e h ö h l t , alt und schwerfällig. » I c h sag' dir doch, ich hatte viel zu tun. U n d d a n n , J o s i e . . . Du bist 17.« Sie blieb eine Stufe über ihm stehen und sah ihn widerborstig an. » 1 7 ist nicht sieben. Mit 17 darf man alles. Denk an C e l i a . « »Schon gut, schon g u t « , s a g t e er. Sie stieg weiter hinauf, knipste, oben a n g e k o m m e n , d a s Licht an und g i n g in den D a m e n s a lon. Er folgte ihr und sah sich um. Die Stühle standen aufgereiht wie eine B a t t e r i e von F l a k g e s c h ü t z e n , und zu j e d e m gehörte eine
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T r o c k e n h a u b e wie ein a u s g e s c h a l t e t e r Scheinwerfer. » Z i e h den ollen M a n t e l a u s « , s a g t e s i e . » W e n n ich dich j e m a l s heirate, Dang e r o u s , d a n n geht der M a n t e l als erstes über B o r d . « Er überhörte diese B e m e r k u n g und setzte sich m ü d e auf einen der Stühle. Sein B l i c k blieb an den B u c h s t a b e n haften, die in Spiegelschrift auf der F e n s t e r s c h e i b e zu s e h e n w a r e n . J o s i e war i r g e n d w o im H i n t e r g r u n d verschwunden. Er rief ihr zu: »Warum n e n n t sie sich ANTOINETTE VON P A R I S , D E R S C H W E I Z UND H E M E L
H E M P S T E A D ? Wieso P a r i s und S c h w e i z ? « Er konnte nicht s e h e n , womit sie dort hinten im Schatten beschäftigt war. » A c h , d a s ist bloß ein G a g « , rief sie. » S i e war einm a l zum Wintersport in der Schweiz, a b e r der S c h n e e war nichts für s i e , weil sie immer auf die N a s e fiel. A l s o blieb sie in ihrem Hotel und frisierte die a n d e r e n G ä s t e . W a s in P a r i s war, weiß ich nicht - vielleicht hat sie da einmal j e m a n d e m die H a a r e gewaschen und g e l e g t . Wahrscheinlich sich s e l b s t . « » W a s machst du d a h i n t e n ? « Von s e i n e m Stuhl a u s betrachtete er sich im S p i e g e l ; wie blaß und m a s s i g er a u s s a h , dachte er. Sie antwortete: » N u r noch eine Minute. Vor dir an der W a n d ist ein Lichtschalter, D a n g e r o u s . Wenn ich es s a g e , knipst du ihn an. A b e r nicht, ehe ich es s a g e . « » K i n d e r e i e n « , murrte er. »Wie g e h t ' s K i t t y ? « fragte sie aus d e m Schatten. » S c h l i m m e r Husten und schlimme L a u n e . « »Wie g e h t ' s M o d ? M o d m a g ich g e r n . « » D u hast ihn doch g e r a d e selbst g e s e h e n . « » S t i m m t , D a n g e r o u s . Jetzt. D e n Schalter!« Er tat, was sie ihm a u f g e t r a g e n hatte, lehnte sich in seinem Stuhl vor und schaltete a n . Es wurde dunkel, im nächsten Moment a b e r flammte ein Strahler an der D e c k e auf und beleuchtete etwa fünf Schritte von ihm entfernt, am E i n g a n g , den Fußboden. E r wartete. J o s i e hüpfte wie eine kleine T ä n z e r i n in den L i c h t k r e i s . Er schrie entsetzt auf, als er sie s a h . Sie trug die K l e i d u n g ihrer ermordeten Schwester: d a s g r ü n e S o m m e r k l e i d , die weißen Söckchen und die braunen S p a n g e n s c h u h e . Da stand sie im Lichtschein und lachte: Celia Norris! »Nein . . . nein! G r o ß e r G o t t « , s a g t e e r und versuchte sich noch tiefer i n d e n Stuhl zurückzuziehen. » W a r u m . . . w i e s o . . . wozu hast du d a s g e t a n ? «
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»Ich h a b e die S a c h e n g e f u n d e n « , s a g t e J o s i e triumphierend, »ich habe h e r a u s g e f u n d e n , wo meine Mutter sie versteckt hat. Dann habe ich sie anprobiert, und sie paßten. H a a r g e n a u , D a n g e rous. « Sie drehte sich a n m u t i g im K r e i s . Ihm hatte es immer noch die Sprache v e r s c h l a g e n . » E s ist wie eins dieser P h a n t o m b i l d e r « , lachte s i e , d a n n b e u g t e sie sich vor, um ihn im Dunkeln zu erkennen. » S c h a u s t du mich noch a n ? « » J a , ich s c h a u e dich noch a n . « Er konnte kaum die Lippen bewegen. In s e i n e m I n n e r e n zitterte e s , als sei er ein Vulkan. » D a n n paß a u f « , lachte s i e . Er wußte nur zu gut, was sie vorhatte. Sie machte eine Pirouette und ließ den kurzen R o c k hochfliegen. »Nichts d r u n t e r « - ihr Kichern wirkte regelrecht unheimlich -, » a u c h kein S l i p . « Er starrte sie verzweifelt an. Sie drehte sich l a n g s a m e r ein zweites Mal um sich selbst und zeigte ihre schlanken B e i n e von den F e s s e l n und den weißen Söckchen und Schuhen bis h i n a u f zu den g r a z i ö s e n Schenkeln. Sie hob zierlich das R ö c k c h e n und vollführte noch eine D r e h u n g . Die Konturen des kleinen P o p o s wechselten im Licht und Schatten. Noch eine Umdrehung. D a v i e s ' B l i c k fiel auf den leicht gewölbten B a u c h und den Schatten von dunklem H a a r am A n s a t z der B e i n e . » H ö r a u f « , brüllte er und s p r a n g auf. Mit dem Kopf stieß er klirrend an den über ihm h ä n g e n d e n H a a r t r o c k n e r . Er hörte sie lachen und rief wieder: » S c h l u ß jetzt, J o s i e . Hörst du nicht, Schluß damit!« Sie g e h o r c h t e , stand still und kam d a n n aus dem Lichtkreis auf Zehenspitzen auf ihn zu. Sie stand in dem dünnen Kleidchen vor ihm. E r schloß krampfhaft die A u g e n . » D u solltest n i c h t . . . « , murmelte er. » U m H i m m e l s willen . . . « »Hatte ich nicht g e s a g t , du solltest den Mantel a u s z i e h e n ? « erwiderte sie. A l s sie sich über ihn b e u g t e , roch d a s Kleid nach Mottenkugeln. Er wollte es a n f a s s e n , den Stoff anfühlen, a b e r die Hände v e r s a g t e n ihm den Dienst. Sie nestelte an den Knöpfen seines M a n t e l s und schlug ihn auf, d a n n kletterte sie ihm auf den Schoß und kniete mit ihren dünnen K n i e n auf s e i n e r H o s e , ihr Körper wie e i n e G e r t e , ihre schlanken A r m e um seinen dicken Hals, ihre A u g e n intensiv auf sein Gesicht gerichtet. D a s war zuviel für ihn. Er erlaubte seinen A r m e n , die immer noch in den lächerlichen Ä r m e l n d e s Mantels steckten, sich um sie zu l e g e n , und seinen F i n g e r s p i t z e n , ihre Hüften a n z u f a s s e n . Die Weichheit
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des Baumwollstoffs berührte ihn wie ein Schock - so dünn war er, d a ß er ihre Hüftknochen darunter fühlen konnte wie die Revolver eines C o w b o y s . » O h v e r d a m m t . . . « , stöhnte er, » v e r d a m m t , verdammt, verdammt.« D a r a u f schmiegte sie ihr Gesicht an d a s s e i n e , zarte Haut an rauhe Haut, und ihren schmalen K ö r p e r an seine B r u s t . Seine H ä n d e glitten an dem Kleid h e r a b und umfaßten die weichen nackten R u n d u n g e n . Sie zitterten beide, während er sie an sich drückte, und er spürte ihre j u n g e n T r ä n e n über sein Gesicht rinnen. Er schob sie von sich und s a h sie a n . D a s tränenverschmierte Gesicht, d a s g r ü n e K l e i d . Hatte Celia an j e n e m A b e n d auch g e w e i n t ? Auf dem R e v i e r war die g e s a m t e Truppe damit beschäftigt, Anzüge a n z u p r o b i e r e n , die aus einem vereitelten Raubüberfall stammten. D i e A t m o s p h ä r e erinnerte an die A n p r o b e in einem belebten H e r r e n k o n f e k t i o n s g e s c h ä f t ; B e m e r k u n g e n über Stoffqualität, Schnitt und Stil flogen l ä s s i g hin und her. D a v i e s setzte sich still hin und schrieb einen kurzen und weitgehend fiktiven Bericht über seine Nachforschungen in der S a c h e R a m s c a r . » S c h a d e , d a ß unter den S a c h e n kein M a n t e l ist, D a n g e r o u s « , s a g t e einer der j u n g e n d y n a m i s c h e n K o l l e g e n , fesch im Nadelstreifenanzug. » D e i n e r setzt j a schon M o o s a n . « » I c h fühle mich wohl d r i n « , erwiderte D a v i e s gleichgültig und legte seinen Bericht in die für Inspector Y a r d b i r d bestimmte M a p p e . » I c h h a b e mich nun mal darin n i e d e r g e l a s s e n . An einen a n d e r e n könnte ich mich nicht g e w ö h n e n . « Er ließ sie weiter nach ihrer F a ç o n glücklich werden und g i n g wieder l o s , Richtung Friedhof. Es war d a s ideale Wetter, um Tote zu b e s u c h e n . E i n zerrissener Himmel hing in Fetzen über der E r d e , ein H i m m e l , d e r zwar schwarz war, a b e r immer wieder a u f g e r i s s e n wurde durch kleine W o l k e n l ö c h e r , durch die grelle S o n n e n s t r a h l e n fielen. E i n braus e n d e r Wind j a g t e die dunklen Wolken über d a s Firmament. W a g n e r hätte d a r a u s Musik gemacht. D a v i e s d a g e g e n pfiff nur d a s einfache, frische Seemannsliedc h e n F R I S C H AUF NUN, M Ä N N E R , Z U M R U H M GEHT D I E F A H R T , wäh-
rend er den L a g o n d a auf dem halbkreisförmigen Platz vor dem Friedhofstor parkte. D e r pflichteifrige Pförtner k a m sofort aus seiner m a u s o l e u m s ä h n l i c h e n B e h a u s u n g n e b e n d e m T o r heraus
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und deutete auf den W a g e n . Kitty, der T r ä g e r vieler Kleinstlebewesen, e r h o b sich stumm und steif auf dem Rücksitz, blickte in die R u n d e und s a n k von L e t h a r g i e überwältigt wieder in sich zusammen. Der Wärter zeigte noch einmal a n k l a g e n d auf das Auto. » K ö n nen Sie die K a r r e nicht w o a n d e r s l a s s e n ? Sie versaut ja unseren guten Ruf. U n d der H u n d , o d e r was immer d a s ist, stinkt bis hierher.« »Ich bin wohl schon an ihn g e w ö h n t . « D a v i e s lächelte begütigend. » I c h bin nur für eine Minute hier. Ich möchte Sie etwas fragen.« Er war s e h r in Versuchung hinzuzusetzen: >Könnten Sie mir ein p a a r G r ä b e r öffnen?< A u s Taktgefühl unterließ er dies dann j e d o c h . »Was für F r a g e n ? « wollte der M a n n wissen. Er stand zwischen einem g r o ß e n L o r b e e r s t r a u c h und einer Trauerweide. D a v i e s erschauerte bei d e m G e d a n k e n , wie b e s o n d e r s üppig die B ä u m e und Sträucher auf diesem B o d e n g e d i e h e n . D e r Aufseher murrte: »Ich hoffe, Sie wollen nicht die g a n z e Nacht hier herumlungern wie letztes M a l . « Er lachte, aber es klang eher wie ein K n u r r e n . »Wer hätte je d a v o n g e h ö r t , daß ein Friedhof in die Luft g e sprengt werden s o l l ? « » A c h j a « , s a g t e D a v i e s , » g u t , d a ß Sie darauf zu sprechen kommen. Es h a n d e l t e sich leider um einen Irrtum der B e h ö r d e n . « Der M a n n war schon auf dem W e g e , sich schützend vor den nächstgelegenen e i n g e s u n k e n e n Grabstein zu stellen. » W a s wollen Sie d a n n ? « »Ich hätte g e r n mal einen B l i c k auf Ihr Verzeichnis geworfen, den K a t a l o g der N e u z u g ä n g e oder wie man d a s in Ihrem B e r u f nennt.« D a v i e s lächelte breit, als bitte er um eine Liste von Lotteriegewinnen. » S o was h a b e n Sie doch, o d e r ? « » H a b e n wir, klar. Wie sollten wir sonst wissen, wer wer i s t ? « » L o g o « , sagte Davies. »Ist d a s eine offizielle P o l i z e i a k t i o n ? « » K l a r « , flunkerte D a v i e s . » D e n k e n S i e , ich mache das zum Vergnügen?« Der Wärter drehte sich um und ging ins H a u s . D a v i e s sah sich derweilen unter den G r a b s t e i n e n , diesen letzten Z e u g n i s s e n irdischer E x i s t e n z e n , u m . E i n i g e waren ziemlich alt und verwittert, so daß m a n n a h e h e r a n g e h e n mußte, um die Inschrift lesen zu können. D a s G e r ä u s c h von Schlüsseln hinter seinem R ü c k e n ließ
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ihn z u s a m m e n f a h r e n . » H i n t e n r u m « , s a g t e der Wärter, »in die Registratur.« Auf dem kurzen Wege dahin wurde er ein wenig mitteilsamer. Vielleicht war er einer von d e n e n , die nicht schweigend neben einem a n d e r e n h e r g e h e n k ö n n e n , nicht einmal auf einem Friedhof. » S c h e i ß k ä l t e heute m o r g e n « , s a g t e er. D a v i e s erinnerte sich, d a ß er schon beim v o r i g e n M a l über das Wetter geflucht hatte. Vielleicht lag es n a h e , zu fluchen, wenn m a n zwischen denjenigen arbeitete, die e i n e n nicht m e h r hören k o n n t e n . M e h r s a g t e der M a n n d a n n auch nicht mehr, sondern schloß die Tür zur R e g i s t r a t u r auf und führte D a v i e s in einen l a n g g e s t r e c k t e n , eiskalten R a u m mit R e g a l e n voll schwerer B ü cher. A u ß e r d e m war da ein Schreibtisch mit g r ü n e r F i l z a u f l a g e , d a r a u f ein Tintenfaß und d a v o r ein gespenstisch leerer Stuhl. Davies stellte sich den Tod als K n o c h e n m a n n vor, wie er des Nachts hier über sein Hauptbuch gebückt s a ß . A l s der Pförtner ihn aufforderte, Platz zu n e h m e n , lehnte D a v i e s a b . » W e r war e s , o d e r w a n n war e s ? « fragte der M a n n . » W e r , weiß ich nicht. A b e r i r g e n d w a n n im Juli 1 9 5 1 . « » I r g e n d w a n n ! Sie wissen nicht, w e r , nicht wo und nicht einmal genau w a n n ! « »Wir tappen da noch im d u n k l e n « , g e s t a n d D a v i e s . Er zupfte nachdenklich an seiner N a s e . » W e n n ich mal fragen darf - wie l a n g e vor einer B e e r d i g u n g wird denn d a s G r a b a u s g e h o b e n ? « E s überraschte ihn, daß der M a n n so wenig I n t e r e s s e für die Nachforschungen aufbrachte. » U n t e r s c h i e d l i c h . Wenn g r o ß e r A n d r a n g herrscht, g r a b e n wir auch mal ein p a a r T a g e im v o r a u s , a b e r n o r m a l e r w e i s e am Tag d a v o r . H ä n g t von der Nachfrage a b . « » W e n n d a s so i s t « , entschied D a v i e s , » m ü ß t e ich die Bestattungen a m 2 4 . , 2 5 . und 2 6 . Juli 1 9 5 1 n a c h p r ü f e n . « D e r Mürrische nahm den gewohnten beleidigten Gesichtsausdruck an und seufzte, ließ sich aber h e r a b , in den R e g a l e n nach dem betreffenden B u c h zu suchen. D a v i e s s a h ihm zu und stellte sich v o r , d a ß geschmackvoll gestaltete Schildchen wie A B E N T E U E R , L I E B E o d e r G E S C H I C H T E N , D I E DAS L E B E N SCHRIEB d i e s e un-
gewöhnliche B ü c h e r e i ein wenig beleben würden. D e r M a n n kam mit e i n e m dicken Wälzer zurück. DRITTES QUARTAL 5 1 . E r knallte das B u c h auf den Tisch. » B i n ich froh, d a ß Sie nicht ein Winterquartal v e r l a n g e n - dieses hier ist schon verteufelt s c h w e r . «
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Davies deutete mit einem Nicken sein Verständnis für die harten A r b e i t s b e d i n g u n g e n an. Er setzte sich, ohne nachzudenken, auf den leeren Stuhl und b e g a n n gespannt zu blättern. Unter dem 2 4 . Juli fand er drei E i n t r ä g e , zwei am 2 5 . , d a n n wieder drei am 26. Er lieh sich von dem Wärter einen Bleistift und schrieb die Namen in sein Notizbuch, d a s er ausnahmsweise bei sich hatte. » L i e g e n diese G r ä b e r alle mehr o d e r weniger b e i e i n a n d e r ? « Der M a n n nickte. Jetzt endlich keimte in seinem Gesicht eine Spur von I n t e r e s s e auf. »Wozu wollen Sie d a s alles w i s s e n ? « » R o u t i n e s a c h e « , erwiderte D a v i e s nicht sehr überzeugend. »Wo liegen diese G r ä b e r ? « Der Wärter s a h ihm über die Schulter, um die laufenden Nummern festzustellen. » A n der Nordwestecke. In dem Teil, der nicht mehr benutzt w i r d . « »Direkt a n der M a u e r ? « » J a , m e h r o d e r weniger. Innen direkt a n der M a u e r wachsen B ü s c h e , d a n n kommt ein Fußpfad, d a n n diese G r ä b e r . « »Wo werden die Geräte aufbewahrt, Spaten und d e r g l e i c h e n ? « L a n g s a m b e g a n n der M a n n aufmerksam z u werden. » D i e Geräte? D a s ist eine komische S a c h e , wissen S i e . Die Geräte g e h ö ren eigentlich in den Werkzeugschuppen, aber sie werden oft draußen v e r g e s s e n . Die Trottel, die hier arbeiten, lehnen den Spaten einfach g e g e n die M a u e r o d e r lassen ihn in der E r d e stekken. Die h a b e n kein I n t e r e s s e an ihrer Arbeit und keinen Stolz; bei F e i e r a b e n d h a u e n sie einfach ab und lassen die Geräte für den nächsten T a g l i e g e n . Die Hälfte aller Gärten in der Nachbarschaft werden mit S p a t e n u m g e g r a b e n , die vom Friedhof geklaut worden s i n d . « » E s wird immer b e s s e r « , s a g t e D a v i e s sich. » A l s o , wenn d a m a l s jener Teil des F r i e d h o f s in drei T a g e n s o z u s a g e n achtmal beackert wurde, d a n n wurden wahrscheinlich die Spaten über Nacht draußen g e l a s s e n . « »Schon möglich.« »Na g u t « , s a g t e D a v i e s sich e r h e b e n d , »vielen D a n k . D a s war alles.« Jetzt hätte der M a n n g e r n e N ä h e r e s gewußt, aber Davies hüllte sich in sein S c h w e i g e n wie in seinen M a n t e l , d a s heißt, er g a b nur nichtssagende Antworten. A l s sie sich wieder dem T o r h a u s näherten, b e m e r k t e er in ein p a a r 100 Metern E n t f e r n u n g jenseits der grabsteinbesetzten M a u e r einen knallgelben S t r a ß e n b a g g e r .
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» W a s wird denn da g e m a c h t ? « fragte er. » S i e b a u e n die S t r a ß e a u s . D a z u mußten sie u n s e r e M a u e r verlegen und auch ein p a a r G r ä b e r . F i n d ' ich nicht richtig, daß man die G r ä b e r a u s b u d d e l t . « » S c h e u ß l i c h e A r b e i t « , stimmte D a v i e s zu. » I n den alten Zeiten mußte m a n die Arbeiter erst unter Whisky s e t z e n « , erzählte der Wärter, offenbar froh, sich als Friedhofshistoriker produzieren zu k ö n n e n . » W e g e n dem G e s t a n k und so. Jetzt gibt's ja allerhand Chemikalien dafür. A b e r ich finde es trotzdem nicht richtig.« Sie waren beim Tor a n g e l a n g t . »Ist hier schon m a l j e m a n d von A m t s w e g e n exhumiert w o r d e n ? « fragte D a v i e s so beiläufig wie möglich. D e r M a n n war ehrlich schockiert. » A b e r nicht d o c h , d a s hier ist ein a n s t ä n d i g e r Friedhof. Vielleicht vor meiner Zeit, aber nicht, seit ich hier b i n . « »Wird schwierig sein, acht E x h u m i e r u n g s b e s c h l ü s s e zu erwirken, stelle ich mir v o r « , s a g t e D a v i e s und g i n g auf seinen Wagen zu. » A c h t ! « D e r A u f s e h e r fiel fast in Ohnmacht. »Acht Leute ausg r a b e n ! Nur über meine L e i c h e ! « » D a s h a b e ich mir g e d a c h t « , s a g t e D a v i e s . » T r o t z d e m schönen Dank.« O h n e eine Antwort wandte der a n d e r e sich zu s e i n e m H a u s um und g i n g zurück, nicht o h n e sich noch einmal argwöhnisch nach D a v i e s u m z u s c h a u e n . » V e r r ü c k t « , s a g t e er, »total verrückt.« D a v i e s kletterte in den L a g o n d a und ließ nachdenklich den Motor a n . A b e r er legte keinen G a n g ein. I r g e n d etwas stimmte nicht. Er drehte sich um, lehnte sich hinüber und hob vorsichtig einen Zipfel der P l a n e auf dem Rücksitz hoch. Kitty lag behaglich ausgestreckt und knabberte an einem g r o ß e n K n o c h e n . » H ö r m a l « , s a g t e D a v i e s zu M o d . » W e n n wir richtig kombiniert h a b e n , wenn a l s o unser M ö r d e r Celia auf dem F r i e d h o f beim Blum e n k l a u e n überrascht hat o d e r als sie g e r a d e über die M a u e r geklettert ist, wenn er sie d a n n u m g e b r a c h t und sie in einem frisch a u s g e h o b e n e n G r a b verscharrt hat - dann müssen wir acht Gräber öffnen.« » W a s für eine g r o ß e A u f g a b e . « Sie zuckelten g e r a d e ohne Eile zum A b e n d e s s e n ins B A L I H I , F u r t m a n G a r d e n s . Ihr übliches Bier
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am F e i e r a b e n d war a u s g e f a l l e n , weil Mod sich ziemlich lange bei der Arbeitsvermittlung aufgehalten hatte, wo er unerwartet in B e d r ä n g n i s g e r a t e n war. Es bestand die Gefahr, daß man ihm einen J o b verschaffte, und er hatte es erst in letzter Minute g e schafft, d a s zu v e r h i n d e r n . Mod, der niemals einen Mantel trug und auch noch nie einen besessen hatte, trabte in seiner a b g e s c h a b t e n braunroten Tweedjacke mit offenem H e m d k r a g e n durch die G e g e n d . D a v i e s hingegen steckte in s e i n e m b r a u n e n Mantel wie in einem g r o ß e n K o kon. » D a s P r o b l e m i s t « , dozierte D a v i e s , » e g a l , wie sehr es an den H a a r e n h e r b e i g e z o g e n scheint, die Gelegenheit war da und die Requisiten ebenfalls. Es war g e n a u der Abschnitt des Friedhofs, der d a m a l s benutzt wurde, es g a b mehrere vorbereitete Gräber, und höchstwahrscheinlich lag ein Spaten d a n e b e n herum. Es kann gut sein, d a ß er sie vergewaltigt hat - o d e r was auch immer und dann getötet. D a n a c h brauchte er nur in einem von den Gräbern einen halben Meter E r d e auszuheben, um sie da zu verscharren. Am nächsten T a g kam d a n n ein S a r g darauf, und d a s G a n z e wurde zugeschüttet - fertig. Und d a s alles mitten in der Nacht und in aller R u h e . N i r g e n d s ist man so ungestört wie hinter einer Friedhofsmauer.« »Wer, um H i m m e l s willen, würde dir die E r l a u b n i s g e b e n , acht Gräber zu ö f f n e n ? « »Niemand. D e s h a l b frage ich g a r nicht erst.« Mod sah ihn besorgt an. » G l a u b nur nicht, ich würde dir helfen, sie heimlich a u f z u g r a b e n , denn dazu bin ich nicht bereit. Ich kann mir keine schwere körperliche Tätigkeit zumuten. Wenn ich es könnte, hätte ich längst eine A r b e i t . « Sie waren beim B A L I H I , Furtman G a r d e n s , a n g e l a n g t . A m Kleiderständer in der D i e l e hing ein Zettel mit einer Nachricht für Davies: » M r . William L i n d möchte Sie im Polizeirevier sprechen.« Es wurde jetzt a b e n d s schon früh dunkel und ungemütlich. Auf seinem Weg zum R e v i e r b e g e g n e t e D a v i e s nur fünf M e n s c h e n , von denen drei mit ihren Hunden unterwegs waren. Es fiel ihm wieder einmal auf, wie leer selbst in dieser dichtbesiedelten Gegend die S t r a ß e n a b e n d s w a r e n . In m a n c h e n L ä n d e r n war der Abend die Zeit für die P r o m e n a d e , zum Sehen und Gesehenwerden, aber hierzulande verschwanden die L e u t e , kaum hatten die
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S i r e n e n den F e i e r a b e n d verkündet, wie die Maulwürfe in ihren L ö c h e r n . Selbst an einem w a r m e n S o m m e r a b e n d wie dem, an dem C e l i a Norris zum letzten M a l g e s e h e n wurde, hielten sich nur wenige M e n s c h e n d r a u ß e n auf. E i n G r u n d war natürlich das F e r n s e h e n ; a u ß e r d e m g a b es hier nur w e n i g e Orte, wo m a n sich im F r e i e n aufhalten konnte. E i n p a a r kleine P a r k s und die einsam e n K a n a l u f e r . D i e L e u t e taten wohl d a s s e l b e wie im Winter, sie g i n g e n in die K n e i p e o d e r blieben zu H a u s e . Nur mit d e m Unterschied, d a ß sie im S o m m e r die F e n s t e r offen ließen. Venus, der A b e n d s t e r n , winkte ihm wie gewöhnlich v o m E n d e der S t r a ß e , auf der sich auch die Polizeiwache befand, zu. Sie sah so e i n s a m und heimatlos a u s , wie nur eine Nutte a u s s e h e n kann. Im Vergleich zu der Trostlosigkeit d r a u ß e n wirkte d a s Polizeigeb ä u d e mit s e i n e r hellen B e l e u c h t u n g im I n n e r n ungewohnt freundlich. D e r d i e n s t h a b e n d e S e r g e a n t versuchte, hinter seiner T h e k e verschanzt, die ältere D a m e zu trösten, die wieder einmal erschienen war, weil sie von lüsternen M ä n n e r n mit l a n g e n Fing e r n verfolgt worden war. » M e i n P r o b l e m ist, H e r r Wachtmeister, d a ß ich von hinten so j u g e n d l i c h w i r k e « , j a m m e r t e sie. » D e s halb laufen sie mir n a c h . « »Vielleicht sollte sie es mal mit dem R ü c k w ä r t s g a n g probier e n « , murmelte der S e r g e a n t , n a c h d e m sie entrüstet und neues Unheil prophezeiend wieder g e g a n g e n war. » D a s würde abschreckend wirken. D a n g e r o u s , dein K u n d e wartet im Vernehmungsraum.« D a v i e s b e d a n k t e sich und ging in d a s schwach erleuchtete Verh ö r z i m m e r . D o r t s a ß B i l l L i n d und biß sich auf die L i p p e . Er e r h o b sich, als D a v i e s h e r e i n k a m , stieß dabei seinen Stuhl um und e r s c h r a k entsetzlich bei dem G e r ä u s c h . D a r a u f wirkte er so eingeschüchtert, als h a b e er eine schwere Verfehlung b e g a n g e n . Er fummelte an dem Stuhl herum, um ihn aufzustellen. D a v i e s setzte sich ihm g e g e n ü b e r an den Tisch, den M a n t e l um sich gebreitet wie einen W i g w a m . » M r . L i n d « , sagte er g e l a s s e n . » W a s k a n n ich für Sie t u n ? « » N u n , M r . D a v i e s , ich h a b e g e h ö r t . . . d a s heißt, m e i n e Frau hat es e r w ä h n t . . . d a ß Sie die S a c h e mit Celia Norris bearbeiten.« D a v i e s s a h sich um, ob die Tür g e s c h l o s s e n war. D i e Metropolitan Police duldete weder die A u s ü b u n g von Privatgeschäften noch von H o b b i e s in den A m t s r ä u m e n . D i e Tür war zu. E i n Polizist g i n g d r a u ß e n vorbei und blickte g e w o h n h e i t s m ä ß i g über den
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Milchglasrand in den V e r n e h m u n g s r a u m . A b e r auch dieses Haupt schwebte v o r b e i , und D a v i e s konnte sich wieder Bill L i n d s angespanntem Gesicht zuwenden. »Worum g e h t ' s , M r . L i n d ? « » B l o ß dies h i e r « , antwortete L i n d , zog aus der Tasche eine Plastiktüte und e n t n a h m ihr Celias hellgrünen Schlüpfer. D a v i e s wäre fast rücklings vom Stuhl gefallen. » D a s ist von ihr, von C e l i a « , s a g t e L i n d . » E s hat zwischen Mottenkugeln g e l e g e n . « »Full h o u s e , b e i n a h e « , s a g t e D a v i e s laut, wenn auch mehr zu sich selbst, als er die H a n d d a n a c h ausstreckte. » E s hat anscheinend alles zwischen Mottenkugeln gesteckt.« » W a s . . . was soll d a s h e i ß e n ? « fragte Lind. » V e r g e s s e n S i e ' s . Woher h a b e n Sie d a s ? « » G e f u n d e n « , s a g t e L i n d . » E i n f a c h s o , Mr. D a v i e s . I n der Satteltasche von m e i n e m F a h r r a d . Am T a g , nachdem sie verschwunden war. Ich m a c h e auf, und da ist d a s D i n g . « »Woher wußten s i e , d a ß es von Celia w a r ? « fragte D a v i e s . » O h , Sie wollen mich wohl aufs Glatteis f ü h r e n ? « fragte L i n d mit e r h o b e n e m Z e i g e f i n g e r . In seiner triumphierenden Selbstgerechtigkeit war er n a h e d a r a n , D a v i e s mit dem F i n g e r zu drohen. »Ich habe sie ja oft im K l u b g e s e h e n - beim Tischtennis oder Korbball und d e r g l e i c h e n ; d a n n guckten natürlich alle J u n g e n s hin, wollten einen B l i c k riskieren. J u n g e n in diesem Alter . . . « » J a , j a , n a t ü r l i c h « , stimmte D a v i e s zu. » A b e r Sie waren doch ihr fester F r e u n d , M r . L i n d , Sie g i n g e n doch miteinander, wie man so s a g t ? « »Na j a , g e w i s s e r m a ß e n « , sagte L i n d ausweichend. D a v i e s konnte sich vorstellen, wie er züchtig verhüllt in der B a d e w a n n e saß. » A b e r d a s hat nichts damit zu tun, daß ich weiß, dies hier ist von Celia. So was g a b es nicht zwischen uns. S e h e n S i e , ich war damals ein kleiner K a v a l i e r , verstehen S i e , ich hatte viel für Keuschheit übrig. H a b ' ich übrigens heute noch. Meine B e z i e hung zu ihr war . . . rein, g e w i s s e r m a ß e n . « » A u ß e r wenn sie Tischtennis oder Korbball spielte. D a n n haben Sie g e g u c k t wie die a n d e r e n B u r s c h e n ? « Auf L i n d s bleichen W a n g e n bildeten sich zwei rote Flecke. » A l s o wirklich, M r . D a v i e s . Ich bin nicht h e r g e k o m m e n , um mich von I h n e n beschimpfen zu l a s s e n « , betonte er förmlich. » I c h bin g e k o m m e n , weil ich helfen wollte.«
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» D a n n hatten Sie wohl einen weiten W e g « , s a g t e D a v i e s trokken. » S i e h a b e n 2 5 J a h r e dazu gebraucht. Warum h a b e n Sie diesen G e g e n s t a n d nicht d a m a l s zur Polizei g e b r a c h t , M r . L i n d ? Es war I h n e n b e k a n n t , d a ß nach der K l e i d u n g gesucht w u r d e . « » D a s wußte ich nicht, nicht gleich zu A n f a n g . Weil m a n sich ja eine Z e i t l a n g g a r keine ernsthaften S o r g e n um sie g e m a c h t hat«, warf L i n d eilig ein. » I c h h a b e den . . . d i e s e s hier behalten, hauptsächlich, weil es von ihr war und weil i c h . . . es e b e n aufheben wollte. K ö n n e n Sie d a s v e r s t e h e n ? « » W a r u m sind Sie d a m a l s nicht zur Polizei g e g a n g e n ? « wiederholte D a v i e s mit Nachdruck. » E s wäre d a s einzig Richtige gewes e n , d a s muß I h n e n doch klar g e w e s e n s e i n . « L i n d legte d a s Gesicht in seine F i n g e r . Er hatte merkwürdig zarte H ä n d e für einen Kranführer. » I c h hatte A n g s t . D i e Bull e n . . . die Polizei k a m und verhörte j e d e n v o n u n s . Ich war zu T o d e e r s c h r o c k e n und d a c h t e , wenn ich dies hier vorzeigte, würden sie sofort d a r a u s schließen, d a ß i c h e s g e t a n hätte. Damals wurde m a n für M o r d noch g e h ä n g t , M r . D a v i e s . Ich wollte nicht w e g e n e i n e s Irrtums g e h ä n g t werden. D e s w e g e n s a g t e ich damals nichts . . . Ich wünschte fast, ich hätte auch jetzt g e s c h w i e g e n . « D i e letzten Worte überhörte D a v i e s . » W o h a b e n Sie dies Wäschestück aufbewahrt? B e z i e h u n g s w e i s e v e r s t e c k t ? « » A u f d e m D a c h b o d e n . In einem alten Koffer, unter anderen alten S a c h e n . « » S i e leben in einer Mietwohnung. Seit w a n n gibt es da einen Dachboden?« » I m H a u s von meiner Mutte r « , s a g t e L i n d und hatte wieder diesen leicht triumphierenden U n t e r t o n . » S i e h a b e n mir ja keine Zeit g e l a s s e n , d a s zu erklären. B e i meiner Mutter auf dem Dachb o d e n . Ich v e r b r i n g e ziemlich viel Zeit bei m e i n e r Mutter, vielleicht ziehe ich demnächst s o g a r für d a u e r n d zu ihr. M e i n e Frau fällt mir auf die Nerven, verstehen S i e . Vor 14 T a g e n etwa hat sie sich s o g a r mit einem M a n n g e p r ü g e l t - und zwar auf der Treppe vor unsrer Wohnung. D i e N a c h b a r n r e d e n auch schon schlecht über s i e . « D a v i e s spürte einen K l o ß in der K e h l e , den er m ü h s a m herunterwürgen mußte. Er zog sich in seinen Mantel zurück, damit m a n ihm nichts ans a h . » A u f welche Weise ist dies Wäschestück d e n n in I h r e Satteltasche g e k o m m e n ? « fragte er.
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» I r g e n d j e m a n d hat es h i n e i n g e t a n , aus Scherz oder was weiß ich. S o l a n g e m a n noch nicht wußte, daß ihr etwas zugestoßen war, dachte ich, sie selbst könne es gewesen sein. Sie machte sich gern über mich lustig.« » S i e war überhaupt eine kleine . . . Flirtbiene, s t i m m t ' s ? « » S o hätte ich mich nie ausgedrückt. D a s war nicht meine Haltung F r a u e n g e g e n ü b e r und ist es auch heute nicht. D a s war ja d a s Problem.« Davies nickte. » S e h r ritterlich, bestimmt. Na gut, ich werde all dies in einem Protokoll z u s a m m e n f a s s e n . Sonst noch w a s , Mr. Lind?« Er hatte die F r a g e o h n e viel Hoffnung geäußert, war aber im nächsten A u g e n b l i c k froh, sie gestellt zu h a b e n . L i n d r a n g sich halb dazu durch, noch etwas zu s a g e n , überlegte es sich a n d e r s , nahm dann D a v i e s ' erwartungsvollen B l i c k wahr und faßte sich schließlich ein Herz: » J a , schon, g e w i s s e r m a ß e n . « »Und das wäre gewissermaßen?« »Vielleicht ist es nichts, M r . D a v i e s . A b e r meine Mutter meint, daß sie vor zehn o d e r zwölf J a h r e n , als sie einmal unter einem der R e g e n d ä c h e r im G l a z e b r o o k P a r k s a ß - Sie kennen doch diese kleinen hölzernen U n t e r s t ä n d e , die s o z u s a g e n in einzelne Abteile unterteilt s i n d - , a l s o , sie hat da g e s e s s e n und sich von ihrem E i n kaufsbummel a u s g e r u h t , und da hat sie g e h ö r t , wie sich in dem nächsten Abteil direkt hinter der Trennwand zwei F r a u e n unterhielten.« Er blickte auf, um festzustellen, ob Davies ihm zuhörte. Dessen A u g e n waren fest auf ihn gerichtet. » U n d meine Mutter sagt, sie hat g e h ö r t , wie die eine F r a u der a n d e r e n erzählt, daß ihr Mann Celia g e s e h e n hat, wie sie mit einem M a n n auf dem Fußweg am K a n a l e n t l a n g g e g a n g e n ist. D e r Kerl hatte den A r m um sie gelegt. Und diese F r a u meint, ihr M a n n hat es der Polizei g e meldet, als die d a m a l s überall rumgefragt hat. A b e r sie hat nie mehr von der S a c h e g e h ö r t . Ist d a s nicht komisch, Mr. D a v i e s ? « Davies schloß die A u g e n , um sein laut p o c h e n d e s Herz zu beruhigen. » D i e s e F r a u « , fragte er. » K a n n t e Ihre Mutter s i e ? « »Sie sah die zwei F r a u e n aufstehen und w e g g e h e n « , sagte L i n d . »Und sie k a n n t e eine von ihnen flüchtig. A b e r sie wußte nicht, welche es war, die d a s g e s a g t hatte. Die F r a u , die sie k a n n t e , hieß Mrs. Whethers und wohnte in der Nähe vom K e n s a l Green E m pire, das heißt d a m a l s . Es ist viele J a h r e her. Vielleicht wohnt sie dort nicht m e h r . «
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Kapitel 16
A
ls D a v i e s auf der Wache d a s F o r m u l a r mit s e i n e m Dienstbericht ausfüllte, schämte er sich doch ein wenig. Er mußte auf die G e l b e n Seiten im Telefonbuch zurückgreifen und passende A d r e s s e n von B u c h m a c h e r n , Nachtklubs und d e r g l e i c h e n heraussuchen, um h a l b w e g s glaubhaft zu b e h a u p t e n , er h a b e sich dort nach R a m s c a r u m g e s e h e n . Von seinem Gewissen getrieben, hatte er s o g a r tatsächlich einige Nachforschungen in dieser Hinsicht angestellt, die sich a b e r e r w a r t u n g s g e m ä ß als vergeblich erwiesen hatten. Nach wie vor war er der M e i n u n g , R a m s c a r werde eines T a g e s von sich a u s zu ihm k o m m e n . Inzwischen konnte er selbst a n nichts a n d e r e s d e n k e n als a n Celia Norris. E r heftete den B e richt für Y a r d b i r d z u s a m m e n , wobei er sich bedrückt fragte, wie l a n g e er d e m Inspector S a n d in die A u g e n streuen k ö n n t e ; dann zog er l o s , um M r s . Whethers aufzusuchen. M r s . Whethers, eine F r a u mit freundlichem rotem Gesicht, kam g e r a d e aus ihrem H a u s , um sich zum S e n i o r e n n a c h m i t t a g im K e n s a l R i s e P a v i l l o n zu b e g e b e n . E i n F u c h s mit G l a s a u g e n ruhte auf ihren Schultern, als wäre er dort h i n a u f g e s p r u n g e n , um dann zu sterben. Sie trug ihn stolz wie der J ä g e r seine B e u t e . Ihr Wintermantel hatte a n s c h e i n e n d schon viele Winter g e s e h e n , aber der Z a h n der Zeit schien ihn dicker statt d ü n n e r g e m a c h t zu h a b e n , so d a ß er jetzt einem G e w a n d a u s verfilzten H o b e l s p ä n e n glich. Er schlenkerte bei j e d e m Schritt um ihre alten W a d e n , als sie den g e w o h n t e n Weg zur Hauptstraße einschlug. D a v i e s beobachtete, wie sie a u s ihrem Gartenpförtchen kam, und folgte ihr bis zur B u s h a l t e s t e l l e an der H a u p t s t r a ß e , wo er sie a n s p r a c h . » M r s . W h e t h e r s « , s a g t e er auf gut Glück, » k ö n n t e ich Sie wohl einen M o m e n t s p r e c h e n ? « Im A l t e r verflüchtigt sich bei m a n c h e n L e u t e n die Neugierde; nichts ist mehr wichtig. Offensichtlich war sie weder überrascht noch b e s o n d e r s interessiert. » W e n n Sie von der Versicherung
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sind oder von den K o n s e r v a t i v e n oder den Z e u g e n J e h o v a s - kein B e d a r f « , s a g t e sie a b w e h r e n d . » I c h brauche auch keine Waschmittel.« Davies lächelte sie a n . »Nichts von dem. F a h r e n Sie von hier mit dem B u s ? « Sie rümpfte die N a s e : » N e i n , j u n g e r M a n n , ich warte hier, um zu sehen, ob L l o y d G e o r g e vorbeikommt. A l s o , ich h a b ' keine Zeit, mit I h n e n zu r e d e n . Ich bin auf dem Weg zu meinem K l u b . « » K a n n ich nicht m i t k o m m e n ? « Sie sah ihn skeptisch a n . » D e r ist für Leute über 60. Sie sehen allerdings ziemlich verbraucht a u s , könnte mir vorstellen, man läßt Sie rein. W o h e r zum Kuckuck haben Sie diesen scheußlichen Mantel?« »Von einer V e r s t e i g e r u n g « , erwiderte er lahm. » J u n g e , da hat m a n Sie aber übers Ohr g e h a u e n « , sagte sie fachmännisch. » E c h t eingeseift. Was wollen Sie übrigens von mir?« »Ich bin Polizist - in Z i v i l . « »Zivil n e n n e n Sie d a s ? « Sie musterte d a s anstößige Kleidungsstück noch e i n m a l . » D a n n schon e h e r R ä u b e r z i v i l . « » D e r B u s k o m m t « , s a g t e er froh über den Themenwechsel. » D e n B u s s p a r e ich m i r « , s a g t e sie e n e r g i s c h . » I c h wollte nur mal verschnaufen. Jetzt muß ich aber g e h e n . Um halb drei fängt es a n . « Sie humpelte in ziemlich r a s c h e m T e m p o d a v o n . D a v i e s eilte ihr nach. » I c h hätte Sie gern was gefragt, mehr will ich nicht.« »Ich wüßte nicht, was die Polizei von mir will«, sagte sie. Ihr Atem kam stoßweise. » A u ß e r d e m will ich zur Tanzstunde nicht zu spät k o m m e n . « Sie blieb stehen und sah ihn a n ; sie wußte wohl, daß es für sie zu a n s t r e n g e n d war, gleichzeitig zu reden und zu gehen. » A l s o , wenn die Polizei F r a g e n an mich hat, dann kommen S i e am besten mit mir und warten, bis ich einen Moment Zeit habe und s e h e , ob ich sie beantworten k a n n . « Da war nichts zu m a c h e n . Sie schob ihr schlimmes B e i n vor sich her; ihm blieb nichts übrig, als neben ihr herzutraben, bis sie am Ziel waren. Es machte ihm nicht allzuviel a u s . Er war schon zufrieden, d a ß er sie überhaupt gefunden hatte, und erleichtert, daß sie überhaupt noch am L e b e n war. Der Seniorentreffpunkt war ein G e m e i n d e s a a l , der sein spitzes Wellblechdach schüchtern g e n Himmel reckte. Auf einer schlich-
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ten Steintafel neben der abgewetzten Pforte stand: M a r y Ann Smith. E r b a u t mit Gottes Hilfe. 1 5 . D e z e m b e r 1919. D a v i e s trat im Schlepptau von M r s . Whethers ein. D e r Saal war voll von v e r g n ü g t e n alten L e u t e n , die in E r w a r t u n g der T a n z s t u n d e schon A r m e und B e i n e schlenkerten. E i n e korpulente, vollbusige D a m e um die 50 mit einer F e d e r b o a , die zärtlich ihren H a l s umspielte, und einer R o s e im H a a r stand als L e h r m e i s t e r i n bereit. » K o m m e n Sie her, bilden Sie einen K r e i s « , rief die D a m e und wedelte mit den H ä n d e n . » H e u t e ist der argentinische Tango d r a n . « Die Alten hauchten: » A a a h ! « D e r R o c k der Tanzlehrerin war - überlegte sich D a v i e s - dem T a n z entsprechend dem Rock eines weiblichen G a u c h o s nachempfunden. Er bedeckte ihre kurzen W a d e n nur zur Hälfte. Sie hatte B e i n e wie Baumstämme. Die alten L e u t e , etwa 20 F r a u e n und sieben gebügelte und geschniegelte M ä n n e r , stellten sich im K r e i s e auf, um der Demonstration zuzuschauen. Sie w a r e n runzlig und voller F a l t e n , ihre H ä n d e zitterten, und sie hatten M ü h e , zu verstehen, was gesagt wurde, a b e r ihre A u g e n funkelten. T a n z e n war ein sehr beliebtes N a c h m i t t a g s p r o g r a m m . » F r ö h l i c h k e i t , d a s ist die H a u p t s a c h e ! « verkündete die B e treuerin. » U n d Leidenschaft! D a r u m dreht es sich beim argentinischen T a n g o . Ich möchte, d a ß Sie sich der Musik und dem Gefühl der Leidenschaft g a n z h i n g e b e n . Mr. B r a g g , d a s Grammophon bitte.« E i n uralter M a n n löste sich diensteifrig aus dem K r e i s und schleppte sich zu dem Steinzeitplattenspieler hin. D e r Greis sah so zerbrechlich a u s , d a ß D a v i e s ihm am liebsten geholfen hätte, die Platte aufzulegen. Er schaffte es zwar, mußte a b e r nach Luft r i n g e n , als er die Kurbel des A p p a r a t e s zu drehen b e g a n n . In dem kahlen, winterlichen, schmucklosen S a a l breitete sich quäkend die Stimme S ü d a m e r i k a s a u s , die so viele J a h r e zuvor unter fernen Gestirnen g e s u n g e n hatte. Die Tanzlehrerin führte den Grundschritt des T a n g o vor, das Vorwärtsgleiten und a n s c h l i e ß e n d e E i n k n i c k e n mit den Beinen und dem Rumpf. D a v i e s , der die kleinen alten L e u t e sämtlich ü b e r r a g t e , war nicht zu ü b e r s e h e n , a b e r sie schien von seiner Anwesenheit nicht sonderlich überrascht. Plötzlich hielt sie in ihrer B e w e g u n g inne und bat ihn vorzutreten. Er spürte, wie ihm
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unter seinem Mantel heiß und kalt wurde, aber die Umstehenden krächzten e r m u t i g e n d e Worte und schoben ihn nach vorn. »Vielleicht w ä r e es b e s s e r « , schlug die D a m e vor, indem sie ihn musterte, » w e n n Sie zum T a n z e n d i e s e s . . . diese Hülle a b l e g t e n . « » J a , n a t ü r l i c h . . . e i n v e r s t a n d e n « , sagte Davies. E r wand sich aus dem M a n t e l . D e r zerbrechliche Mr. B r a g g wollte ihm diesen abnehmen und g i n g unter dem Gewicht sofort zu B o d e n . Zwei andere M ä n n e r traten vor und trugen den Mantel und Mr. B r a g g , der laut beteuerte, d a ß ihm nichts fehle, aus dem R i n g . Davies wurde a n g e w i e s e n , die zu kurz g e r a t e n e D a m e in die Arme zu s c h l i e ß e n , wobei sie kokett mit den A u g e n rollte. Dazu mußte er sich in F o r m eines F r a g e z e i c h e n s z u s a m m e n k r ü m m e n , was den ersten Versuch seines L e b e n s , T a n g o zu tanzen, noch schwieriger ges taltete. Die Mollige war erstaunlich kräftig und schob und z o g ihn mit sich wie eine schnaufende R a n g i e r l o k einen Güterwagen. I r g e n d w i e fand er sich nach einer Anzahl von Schritten zu ihren F ü ß e n mit einem Knie auf dem B o d e n wieder, was sich zur Not als eine k a v a l i e r s m ä ß i g e Geste deuten ließ. »Sie sind äußerst u n g e s c h i c k t « , sagte sie laut und machte sich aus seinen H ä n d e n l o s , »ungewöhnlich ungeschickt für einen Mann in Ihrem Alter. Was suchen Sie überhaupt h i e r ? « » K r i m i n a l p o l i z e i « , murmelte er v e r l e g e n . Alle hörten es und tuschelten m i t e i n a n d e r , wie ungeschickt die Polizei sei, d a s wisse man j a . Nur M r s . Whethers klatschte B e i f a l l , als er die Tanzfläche freimachte, vermutlich, weil sie sich für seine Anwesenheit verantwortlich fühlte. »Die meisten L e u t e hier könnten d a s auch nicht b e s s e r « , flüsterte sie ihm zu. » D ä m l i c h e alte K n a c k e r . « Nach einer R e i h e weiterer Instruktionen wurden die Z u s c h a u e r aufgefordert, ihre P a r t n e r für den ersten T a n g o v e r s u c h zu wählen. Die sieben alten H e r r e n g i n g e n weg wie warme G i g o l o s ; M r s . Whethers schnappte sich D a v i e s und schleppte ihn auf die Tanzfläche. Die heisere Musik b e g a n n von n e u e m , und er rollte und schlingerte mit ihr los wie ein Schiff durch stürmische W o g e n . Ihr Parfüm war ihm vertraut - Mottenkugeln! Nach dem T a n z wurde applaudiert und gelacht. Teetassen wurden herumgereicht; die T a n z d a m e zog ihren Mantel an und verschwand, da ihre Arbeit getan war. D a v i e s saß auf einem harten Holzstuhl - K n i e an K n i e mit M r s . Whethers. » A l s o , jetzt k a n n ' s l o s g e h e n « , s a g t e s i e .
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S i e hatte für ihr Alter ein e n e r g i s c h e s Gesicht, nicht so rötlich und a u f g e d u n s e n wie die einiger a n d e r e r , s o n d e r n durchzogen von g e r a d e n L i n i e n , was den E i n d r u c k erweckte, als würde ihr K o p f von D r ä h t e n g e h a l t e n . D e n T e e t r a n k e n sie a u s enorm dikken T a s s e n . Er fragte sich, ob die alten Herrschaften, die ja an allem ihre Kraft erprobten, echtes P o r z e l l a n mit den Z ä h n e n zermalmt h ä t t e n ? » E r i n n e r n S i e sich an Celia N o r r i s ? « fragte er. » J a « , s a g t e sie wie aus der Pistole g e s c h o s s e n . » S i e wurde nie gefunden. Nicht d a s kleinste F i t z c h e n . « » R i c h t i g , M r s . Whethers. Jetzt soll ich die g a n z e Angelegenheit wieder a u s g r a b e n . « » W i e s o d a s ? « fragte sie. » E s liegt eine l a n g e Zeit zurück.« » S o l c h e D i n g e ziehen sich oft l a n g e h i n . « A l l g e m e i n e Redensarten machten sich immer gut. » J e d e n f a l l s , es ist mir zu Ohren g e k o m m e n , d a ß Ihr M a n n d a m a l s bei der Polizei ausgesagt hat...« » M e i n v e r s t o r b e n e r M a n n , j a . E r hieß B e r n a r d . E r hätte einen E i d d a r a u f a b g e l e g t , a b e r die ließen ja nie wieder von sich hören, kein e i n z i g e s W o r t . « » F ü r die T o m b o l a « , s a g t e eine unsichtbare Stimme in seinem R ü c k e n . M r s . Whethers wühlte in einer H a n d t a s c h e von der G r ö ß e e i n e r K a t z e und brachte zwei Z e h n - P e n c e - S t ü c k e zum Vorschein. » S i e sollten auch ein p a a r L o s e k a u f e n « , riet sie. »Sie erwarten nun m a l , daß j e d e r mitmacht.« Es hörte sich a n , als spräche sie von einem Stamm von I n s u l a n e r n mit seltsamen Gebräuchen. D a v i e s g r u b in seinen M a n t e l t a s c h e n . E i n e durchsichtige Greisin hielt ihm d r o h e n d ein B ü n d e l L o s e e n t g e g e n wie ein Hexenmeister sein Z a u b e r b u c h . D a v i e s reichte zwei Zehn-PenceStücke. » S i e müssen auch e i n e n G e w i n n s p e n d e n « , erklärte M r s . Whethers. » E i n P ä c k c h e n T e e o d e r eine D o s e B o h n e n oder ein P a k e t K u c h e n m i s c h u n g . « » D a s h a b ' ich nicht m i t g e b r a c h t « , s a g t e D a v i e s . » I c h wußte, d a ß ich etwas v e r g e s s e n hatte . . . « D i e T o m b o l a f r a u s a g t e : » A l s o , i r g e n d etwas m ü s s e n Sie spend e n . So ist die R e g e l . Stimmt d o c h , M r s . W h e t h e r s ? « M r s . Whethers nickte g r i m m i g . » W e n n Sie nichts rein tun, können S i e nichts r a u s k r i e g e n , selbst wenn Sie d a s g r o ß e L o s gewinnen. H a b e n Sie keine P f u n d n o t e ? «
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Davies stieß bis in die entferntesten Taschen seiner Kleidung vor. » D o c h , ich h a b ' noch ein Pfund. H i e r . « »Gut, tun S i e ' s rein. D a s ist ein sehr schöner Gewinn. Darum werden sich alle r e i ß e n . « Davies g a b der wartenden Sammlerin den Geldschein und wandte sich wieder M r s . Whethers zu. Diese war aufgestanden und humpelte auf und ab wie ein lahmer Kapitän auf seiner Brücke. » D a s muß s e i n « , erläuterte sie im Vorbeigehen. » E s schläft immer ein. M e i n schlimmes B e i n , meine ich. Ich muß d a s Blut wieder in Schwung b r i n g e n . « Davies seufzte und e r h o b sich, um an ihrer Seite zu bleiben, aber sie schob ihn von sich. » S e t z e n Sie sich h i n « , sagte sie brüsk, »es kommt gleich wieder in G a n g . S o l a n g e können Sie mit Ihren Fragen warten. B e z i e h u n g s w e i s e bis nach der V e r l o s u n g . « Frustriert setzte D a v i e s sich. Er konnte verstehen, warum manche Polizisten beschuldigt wurden, ihre Z e u g e n eingeschüchtert zu haben. M r s . Whethers nahm wieder auf ihrem Stuhl Platz und streckte ihm ihr s t ä m m i g e s , k r a n k e s B e i n e n t g e g e n . » F ü h l e n Sie mal«, sagte sie e i n l a d e n d , » d a s Blut fließt wieder, d a s können Sie fühlen.« Er tat ihr den Gefallen. » O o o o o o o o , M r s . Whethers! D a s ist ja mal ein netter j u n g e r M a n n ! « kicherte eine z a h n l o s e alte Hexe in der benachbarten G e s p r ä c h s r u n d e . » S a g e n Sie ihm, er soll mich auch mal s t r e i c h e l n . « Die Alten wollten sich ausschütten vor L a c h e n , aber zum Glück fing jetzt die Verlosung an. » A u f los geht's l o s « , ließ ein Rentner in einer soßenfleckigen J a c k e sich v e r n e h m e n . Er rief die Nummern a u s , und die alten L e u t e d r ä n g t e n sich eifrig vor. um die Preise in E m p f a n g zu n e h m e n , die sie selbst gestiftet hatten. »97, rot!« rief er, und D a v i e s stellte fest, d a ß es die Nummer war, die er in der H a n d hielt. » G e h e n S i e « , eiferte M r s . Whethers, »sehen Sie n a c h , was wir g e w o n n e n h a b e n . « Der Ausrufer hielt die Pfundnote in den F i n g e r n . Als er D a v i e s nach vorn k o m m e n s a h , vertauschte er schnell den Geldschein mit einer großen B ü c h s e S c h n e c k e n k o r n . » S i e können d a s Pfund nicht b e k o m m e n « , s a g t e der M a n n mit den Flecken bestimmt. »Was man rein tut, k a n n man nicht g e w i n n e n . « Er drehte sich zu dem Rat der Alten um. » D a s ist doch die S p i e l r e g e l , s t i m m t ' s ? « »So ist die R e g e l « , schrie der Chor. D a v i e s kehrte - versehen mit dem Schneckenkorn und sportlichem Applaus - zu M r s . Whe-
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thers zurück. » S i e hätten d a s L o s mir g e b e n s o l l e n « , flüsterte sie u n g e h a l t e n . » F ü r einen B u l l e n sind Sie ziemlich schwer von B e griff.« » D a s s a g e n a l l e « , bekannte D a v i e s . E r beugte sich vor. »Jetzt erzählen S i e , was Ihr M a n n g e s e h e n h a t . « R i n g s u m hatte sich die M e n g e in Grüppchen aufgelöst, die die T o m b o l a diskutierten. Die Pfundnote hatte w u n d e r s a m e r w e i s e der Ausrufer selbst gew o n n e n . E n d l i c h kam M r s . Whethers zur S a c h e . » M e i n M a n n , Mr. Whethers, war an dem A b e n d auf dem H e i m w e g . G e g e n zehn Uhr. Es war noch nicht g a n z dunkel, es war ja S o m m e r . U n d da hat er d a s M ä d c h e n g e s e h e n . Sie ist mit einem M a n n durch die G a s s e zum K a n a l r u n t e r g e g a n g e n . « D a v i e s nickte beglückt. » D e r M a n n trug einen dunklen A n z u g und keinen Hut. Und er hatte seinen A r m um sie g e l e g t , um ihre T a i l l e . D a s ist e s , was er gesehen hat.« » U n d Sie m e i n e n , er hat alles dies bei der Polizei ausgesagt, Mrs. Whethers?« » A l s die g a n z e A u f r e g u n g l o s g i n g und so viel in der Zeitung s t a n d , hat mein B e r n a r d es mir erzählt, aber er ist damit nicht zur Polizei g e g a n g e n . Er fand, daß m a n seine N a s e nicht in fremde A n g e l e g e n h e i t e n stecken soll. L e b e n und leben l a s s e n . Aber d a n n wurde in der Nachbarschaft so allerlei erzählt, auch über d a s , was Mr. H a r k n e s s g e s e h e n hatte, und plötzlich k a m ein Polizist und stellte F r a g e n . U n d der s a g t e so etwas wie >Das Gesetz nimmt s e i n e n Lauf<, die m a c h e n ja i m m e r solche Redensarten. U n d d a n n haben wir nie wieder was d a v o n g e h ö r t . « D a v i e s ' Herz fing wieder an zu s c h l a g e n . » M r . H a r k n e s s « , sagte er. » W e r war Mr. H a r k n e s s ? « » E i n g a n z alter M a n n . Wir haben der Polizei auch von ihm erzählt, a b e r er war d a m a l s schon so k r a n k , und trinken tat er auch, und d e s h a l b h a b e n sie sich wohl für ihn nicht interessiert. Ich m e i n e - wie l a n g e ist d a s h e r ? « » 2 5 Jahre.« » N a a l s o , d a n n war er d a m a l s schon 7 6 , der alte H a r k n e s s . Sie dachten wohl, bei ihm hätte es keinen Z w e c k . A n g e b l i c h hatte er j a was g e s e h e n , a b e r e r war e b e n alt und k r a n k . . . « » H a t t e er F a m i l i e ? Wohnt die vielleicht noch h i e r ? « » U m g e z o g e n . Nach B r i s t o l o d e r s o . Ich k a n n t e sie nicht näher. Ich weiß es nur v o m H ö r e n s a g e n . «
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Rund um sie her rüstete man sich zum Aufbruch. Die alten Leutchen s a m m e l t e n ihre S i e b e n s a c h e n zusammen und bewegten sich zum A u s g a n g . E i n M a n n fragte D a v i e s , ob er eine Verwendung für d a s S c h n e c k e n k o r n h a b e , und war - eine negative Auskunft erwartend - bereit, ihn davon zu befreien. Davies ging langsam mit M r s . Whethers zur Tür. »Was wir nie verstehen konnten, Mr. Whethers und ich«, sagte sie, » w a r , warum wir nie mehr etwas gehört h a b e n . Nicht d a s kleinste b i ß c h e n . « Davies wußte, wo man M o d an einem n o r m a l e n Nachmittag fand: um 3 Uhr in der Stadtbücherei, wo es an diesem kalten Novembernachmittag a n g e n e h m geheizt war. D a v i e s war bei a n d e r e r Gelegenheit schon in der Bibliothek g e w e s e n , aber er hatte sich nie so richtig k l a r g e m a c h t , d a ß sie nicht nur ein Ort der Weisheit, sondern auch der B e h a g l i c h k e i t war. Mod hatte sich dort seit J a h ren fortgebildet. Die E i n g a n g s h a l l e diente zugleich als kleines Museum der Heimatgeschichte. E s g a b die unterschiedlichsten Ausstellungsstücke, darunter das F r a g m e n t eines römischen W a n d m o s a i k s und die K l i n g e einer Axt, die angeblich a u s dem frühen Mittelalter stammte - wenn sie auch mehr nach spätem Woolworth auss a h - , einen S p a t e n , den ein zweitrangiges Mitglied des K ö n i g s hauses zum Pflanzen eines E r i n n e r u n g s b a u m e s benutzt hatte, welcher a b e r schon viele J a h r e vor dem A b l e b e n d er Königlichen Hoheit a b g e s t o r b e n war, ein p a a r Kaufmannsbücher aus dem 17. Jahrhundert und einen Polizeihelm, der, wie Davies bemerkte, beträchtlich eingebeult war. An den W ä n d e n g a b es eine Auswahl schief h ä n g e n d e r , vergilbter F o t o g r a f i e n . Sie zeigten Gruppen von Stadträten und B ü r germeistern, die in Hut und Haltung an A d m i r a l Nelson erinnerten, die Eröffnungsfeiern verschiedener öffentlicher G e b ä u d e , darunter die B ü c h e r e i selbst, B i l d e r von Jubiläums- und K r ö nungsfesten. D a n n g a b es noch welche aus der Kriegszeit mit den B o m b e n s c h ä d e n in d e r H i g h Street und der örtlichen K o m p a n i e der Heimwehr, die in D e c k u n g am Ufer des K a n a l s l a g , als erwarte sie, Hitler werde die Invasion Großbritanniens ausgerechnet über diesen W a s s e r w e g b e g i n n e n . An der Türe zur eigentlichen B ü c h e r e i stand eine Zimmerpalme, d a s einzig E x o t i s c h e weit und breit. An solch einem Win-
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tertag wärmte es einen direkt, d a r a n v o r b e i z u g e h e n . Davies fühlte d a s A u g e der B i b l i o t h e k a r i n auf seinem Mantel und war sich klar d a r ü b e r , d a ß er als potentieller B ü c h e r d i e b eingestuft wurde. In der hintersten E c k e des L e s e s a a l s s a ß M o d an e i n e m Tisch im milden Schein einer Schreiblampe. » W u n d e r b a r « , s a g t e D a v i e s . »Gemütlichkeit ist das halbe Leben.« » P s t « , flüsterte M o d bibliotheksgerecht gedämpft. »Willst du nicht Platz n e h m e n ? « D a v i e s setzte sich ihm g e g e n ü b e r an den Tisch. Er fühlte sich wie zu B e s u c h bei einem bedeutenden G e s c h ä f t s m a n n in d e s s e n g r o ß e m Arbeitszimmer. M o d beugte sich gönnerhaft vor, stützte die E l l b o g e n auf den Tisch und legte nachdenklich die Fingerspitzen a n e i n a n d e r . » U n d was k a n n ich für dich t u n ? « erkundigte er sich leise. » Z u m Teufel, du hörst dich an wie der Aufsichtsratsvorsitz e n d e von Shell International p e r s ö n l i c h « , protestierte Davies. » E i n feines L e b e n hast du, muß ich schon s a g e n . Wärmst dich hier und lebst von der Stütze, w ä h r e n d L e u t e wie ich im Reg e n durch die S t r a ß e n l a t s c h e n . « » I c h bilde m i c h « , s a g t e M o d schlicht. » D u r c h B i l d u n g wird u n s e r e Welt bereichert, nicht durch H e r u m l u n g e r n auf der Straße.« »Vielleicht hast du recht. W a s liest du d a ? « Er zeigte auf die a u f g e s c h l a g e n e n B ü c h e r , d e r e n Seiten wie geöffnete Handflächen auf dem Tisch l a g e n . M o d beugte sich verschwörerisch vor. » E s gibt in diesem L a n d noch G e r i c h t e « , flüsterte er, » d i e als Strafe den Pranger o d e r e i n e Fahrt auf einem W a g e n voll Stallmist verhängen k ö n n e n . H a s t du j e m a l s etwas so E r s t a u n l i c h e s e n t d e c k t ? « » S c h o n oft«, murmelte D a v i e s und zog Celia Norris' Schlüpfer aus der T a s c h e . Er n a h m ihn a u s der Plastiktüte. »Wie findest du d a s ? « M o d war e r s c h l a g e n . » M e i n Gott, du hast ihn gefunden!« D a v i e s hob die N a s e hoch. »Wir b e k o m m e n l a n g s a m eine g a n z e S a m m l u n g . Wir h a b e n d a s F a h r r a d und dieses Objekt was uns jetzt nur noch fehlt, sind die L e i c h e und der Mörder.« » W o h e r hast du d a s ? « M o d flüsterte - teils aus Ehrfurcht, teils aus B i b l i o t h e k s g e w o h n h e i t . » E s riecht nach Mottenkugeln.«
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» D a n a c h riecht der g a n z e F a l l . U n s e r Freund Bill Lind hat sich nach all d i e s e n J a h r e n entschlossen, das Kleidungsstück herauszurücken. Er behauptet, j e m a n d habe es heimlich in seine F a h r r a d tasche gestopft, und meiner Meinung nach ist d a s die Wahrheit. Ich g e h e j e d e Wette ein, d a ß D a v e B o o t es gewesen ist. Und unser Bill hat d a s D i n g all die J a h r e hindurch auf M a m a s D a c h b o den versteckt.« »Warum hat er es denn a u f g e h o b e n ? Als R e l i q u i e ? « » D a s bestreitet e r . « »Warum riecht e s dann nach Mottenkugeln, D a n g e r o u s ? E r muß doch die Absicht gehabt h a b e n , es irgendwie zu konservieren.« » E r sagt, es war in einem Koffer voll alter Kleider und Mottenkugeln auf dem D a c h b o d e n . Du weißt, wie die Leute hier sind, die werfen n i e m a l s etwas w e g . « »Was hast du jetzt v o r ? Willst du die acht E x h u m i e r u n g e n beantragen?« Davies grinste g e q u ä l t . »Ich könnte mich ebensogut um die B e förderung zum Chief Inspector b e w e r b e n « , sagte er. » A u ß e r d e m , ich habe meine M e i n u n g g e ä n d e r t . M o d . Ich glaube nicht mehr, daß sie auf dem F r i e d h o f l i e g t . « »Warum n i c h t ? « » J e m a n d hat sie g e s e h e n , wie sie den Weg beim P f a n d h a u s in Richtung K a n a l hinunterging. An dem fraglichen A b e n d , zusammen mit einem M a n n . Dafür gibt es einen Z e u g e n . « »Donnerwetter, einen Z e u g e n ? « Davies hob beschwichtigend die H a n d . » A l s o , e s g a b einen Zeugen, einen Mr. B e r n a r d Whethers. L e i d e r hat er sich dahin verabschiedet, wo wir ihn nicht mehr verhören k ö n n e n . Er ist tot. Es gab auch noch j e m a n d a n d e r s , einen alten M a n n n a m e n s Harkness, aber der lebt auch nicht mehr. Er war schon 76 und d a s vor 25 J a h r e n . « »Die können beide nicht mehr viel b e z e u g e n « , s a g t e Mod melancholisch. »Mr. Whethers hat eine A u s s a g e g e m a c h t , behauptet seine Witwe. Er ist nicht freiwillig damit r a u s g e k o m m e n , aber es sprach sich herum, und vermutlich auf d a s Gerücht hin ist die Polizei bei ihm aufgetaucht. Es dauert meist nicht l a n g e , bis wir so etwas spitzkriegen, wenn wir uns umhören. A b e r diese A u s s a g e ist nicht in den Polizeiakten vermerkt, was unerklärlich ist. Ich habe es
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nochmal nachgeprüft, aber da ist nichts in der A k t e , nicht einmal ein H i n w e i s . « M o d s a h ihm über die B ü c h e r hinweg in die A u g e n . »Schon wieder. I r g e n d etwas stinkt da bei der P o l i z e i . « » D e r M a n n , den Mr. Whethers mit Celia g e s e h e n haben will, trug - so hat er g e s a g t - einen dunklen A n z u g und keinen Hut. D a s könnte auch auf einen Polizisten zutreffen, u n s e r e n Freund P . C . D u d l e y zum B e i s p i e l ; immerhin war es schon recht dunkel, und Mr. Whethers befand sich in einiger E n t f e r n u n g . Die Uniform wirkt im Dämmerlicht wie ein dunkler A n z u g , und den H e l m hatte er vielleicht unter dem A r m , o d e r er l a g im Wagen. Auf der Polizeischule bringen sie dir bei, du sollst den Helm abn e h m e n , wenn du mit dem B ü r g e r ins G e s p r ä c h k o m m e n willst.« » A c h , ist d a s s o ? « fragte M o d voll I n t e r e s s e . » I c h hatte bisher erst einmal mit einem B u l l e n o h n e Helm zu tun, und den hatte ich selbst ihm vom Kopf g e s c h l a g e n . . . A b e r was nützt dir die Auss a g e eines toten Z e u g e n , zumal, wenn es d a r ü b e r k e i n e Aufzeichnung g i b t ? « Plötzlich flüsterte er: »Tu sie w e g . « D a v i e s verstand zu spät, was er meinte. E i n e g e s t r e n g e Bibliothekarin kam vorbei und erblickte d a s g r ü n e E t w a s . Geistesgeg e n w ä r t i g n a h m M o d es in die H a n d und tat s o , als putze er sich gewaltig die N a s e damit. D a n n klappte er sachte die B ü c h e r auf dem Tisch zu, reckte sich a u s g i e b i g und v e r k ü n d e t e , d a ß er für heute g e n u g gearbeitet h a b e . L ä s s i g knipste er die L e s e l a m p e aus und stellte die B ü c h e r wieder an ihren Platz. D a v i e s , der ihm zus a h , hatte fast den E i n d r u c k , als nächstes werde er eine Schranktür öffnen und a u s einem wohlassortierten Spirituosenvorrat die Drinks servieren. D i e B i b l i o t h e k s a n g e s t e l l t e n nickten ihnen freundlich zu, als sie dem A u s g a n g zustrebten. »Vielleicht solltest du ihnen s a g e n , daß sie jetzt zuschließen k ö n n e n « , s a g t e D a v i e s . M o d runzelte die Stirn. » D u kannst dich ja g e r n lustig machen, a b e r die T a t s a c h e , d a ß ich mich hier aufhalte, ist der Grund dafür, d a ß der L e s e s a a l dieser Stadtbücherei täglich geöffnet wird. Ich bin s o z u s a g e n die treibende Kraft. Ab und zu kommt eine K o m m i s s i o n von Stadtvätern und schnüffelt hier rum, d a n n muß ich vorher losrennen und ein p a a r B e k a n n t e auf der S t r a ß e aufs a m m e l n , damit sie sich ein Weilchen hier hinsetzen und sich in die B ü c h e r vertiefen. Dafür ist m a n mir hier d a n k b a r , D a n g e r o u s .
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Das Geld des S t e u e r z a h l e r s wird nicht verschwendet, s o l a n g e Mod Lewis hier liest.« Mit dieser Art von L o g i k setzte D a v i e s sich g a r nicht erst auseinander. Er zeigte auf den ausgestellten Polizeihelm. » H a s t du den vielleicht so e i n g e d e l l t ? « »Der ist vom G e n e r a l s t r e i k « , s a g t e M o d , ohne hinzusehen. »Vom Sturm g e g e n die Polizei beim Uhrturm. Nein, ich war nicht dabei, d a s a b e r nur, weil ich d a m a l s noch nicht auf der Welt war. Sonst hätte ich bestimmt mitgemacht; ich weiß einen wohldurchdachten Angriff auf die Polizei durchaus zu schätzen.« Davies s a g t e : » M o d , hör zu, ich möchte die g a n z e S a c h e mit dir durchsprechen, von A n f a n g an. L a ß uns von der katholischen Kirche bis zum F r i e d h o f g e h e n , über die High Street, dann zum Kanal runter und am Ufer entlang. Vielleicht fällt uns dabei etwas ein.« Mod e r g a b sich in sein Schicksal. » N a g u t « , nickte er, n a c h d e m er schnell n a c h g e r e c h n e t hatte, »selbst wenn wir l a n g s a m gehen und n a c h d e n k e n , k ö n n e n wir noch rechtzeitig beim W I C K E L K I N D sein, wenn es geöffnet wird.« » A b g e m a c h t « , versprach D a v i e s . Sie marschierten los. E i n e bleiche W i n t e r d ä m m e r u n g hatte sich über die Stadt gelegt. Schaufenster und W o h n u n g e n waren erleuchtet, aber schon wenige Meter über d e m B o d e n deckte der Novembernebel alles zu. Auf der S t r a ß e fuhren die ersten R ü c k k e h r e r von der Arbeit, und an den B u s h a l t e s t e l l e n warteten die M e n s c h e n in langen Schlangen. Davies überlegte sich nicht zum ersten M a l , welche ö k o n o mischen Z w ä n g e die Inder und die Leute aus der Karibik dazu gebracht hatten, hier zu leben und sich in diesem Klima für den Bus anzustellen. W ä h r e n d sie da s t a n d e n , v e r s c h w a m m e n ihre Gesichter wie die der E i n h e i m i s c h e n im Nebel, und kein Schlangenbeschwörer o d e r C a l y p s o s ä n g e r ließ sich blicken. Davies schlug den g r o ß e n M a n t e l k r a g e n hoch, der sich wie ein Riesenarm um seinen Hals legte. M o d zog o h n e zu murren den Jackenkragen hoch, so gut es g i n g , und schob die H ä n d e in die Taschen. Sie verließen die Hauptstraße und g i n g e n bis zur katholischen Kirche. Sie war so dunkel und verschlossen, als hätte der Glaube Bankrott g e m a c h t . E i n kleines Streifchen Licht kam a u s P a t e r Harveys H a u s . D a v i e s g i n g auf dem K i e s w e g d a r a u f zu, während Mod, der mit der Kirche nichts zu tun haben wollte, ihm nur wi-
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derwillig folgte. D a v i e s hatte sich v a g e v o r g e n o m m e n , kurz mit d e m Pfarrer zu sprechen, bevor sie sich auf die Tour des Nachd e n k e n s b e g a b e n ; durchs F e n s t e r konnten sie s e h e n , d a ß er damit beschäftigt war, ein p a a r g r o ß e Holzbretter zusammenzunageln. Er h ä m m e r t e mit wütenden S c h l ä g e n und noch wütenderer Miene drauf los. Sein geistliches G e w a n d hatte er nach Art einer Waschfrau, die den R o c k rafft, mit dem Gürtel hochgesteckt. Wenn jetzt j e m a n d am F e n s t e r klopfen würde, wäre vermutlich ein H a m m e r s c h l a g auf des P a t e r s D a u m e n die F o l g e . A l s o kehrte D a v i e s um. M o d hatte von weitem die ungewöhnliche Werkelei ebenfalls erblickt. » W a s macht er d a ? « flüsterte er, als sie weitergingen. » E i n e A r c h e ? Meinst du, er weiß etwas, was wir nicht wissen?« » E s wird ein selbstgemachter B e i c h t s t u h l « , s a g t e D a v i e s . » I c h würde ja d e n k e n , die B e i c h t e mit ihrem D r u m und Dran gehört zu den D i n g e n , die m a n n i c h t selbst m a c h e n kann - so wie F e d e r b a l l s p i e l e n o d e r die L i e b e . Nicht, als ob ich mit beidem so viel E r f a h r u n g h ä t t e « , fügte er nach einer Weile hinzu. D a v i e s zeigte auf ein dunkles, rechteckiges G e b ä u d e hinter der K i r c h e . » D a s ist der J u g e n d k l u b « , s a g t e er. » D a s H a u s ist neu, a b e r es steht auf d e r s e l b e n Stelle wie d a s alte. Wir k ö n n e n davon a u s g e h e n , d a ß Celia ihren Weg von hier a u s antrat. D a s R a d muß hier im Hof g e s t a n d e n h a b e n . S i e fuhr durch dieses Tor und dann weiter zum Friedhof, um die bewußten B l u m e n für ihre Mutter zu holen.« Sie folgten der Spur wie zwei schnüffelnde B l u t h u n d e . Am F r i e d h o f s e i n g a n g stand der Pförtner, um durch d a s vergitterte Tor und die neblige A t m o s p h ä r e n a c h d r a u ß e n zu s p ä h e n . »Gott b e w a h r e , S i e schon w i e d e r « , s a g t e er und s a h sie mit demselben B l i c k a n , mit dem er vermutlich auch die berüchtigten Grabschänder B u r k e und H a r e bedacht hätte. »Hoffentlich h a b e n Sie nicht wieder den stinkenden H u n d d a b e i . « D a v i e s befürchtete, er k ö n n e Kittys M u n d r a u b entdeckt haben; der total zerbissene K n o c h e n lag noch immer auf dem Rücksitz des L a g o n d a . Wann immer er versucht hatte, ihn dort wegzunehm e n , hatte Kitty wütend geknurrt. » A b e r n e i n « , versicherte er, » h e u t e bin ich o h n e H u n d . Nur mal frische Luft schnappen. Dies ist Mr. M o d e s t L e w i s . « » K o m i s c h e r Ort zum L u f t s c h n a p p e n « , s a g t e der M a n n , ohne M o d zu beachten. » A l s o die Luft h i e r . . . «
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»Mr. Lewis ist ein berühmter P a t h o l o g e « , fügte Davies wichtig hinzu. D a s beeindruckte den F r i e d h o f s m a n n augenblicklich. »Sehr erfreut, I h r e B e k a n n t s c h a f t zu m a c h e n , S i r « , sagte er wie jemand, der e i n e n K o l l e g e n aus derselben Zunft begrüßt. Er streckte seine fledermausgraue, in der Dunkelheit weißlich schimmernde H a n d durch d a s Türgitter. M o d , wie immer bereit, eine Rolle zu akzeptieren, ergriff s i e , begutachtete sie sorgfältig und gab sie ihm zurück. » E i n e kalte H a n d « , diagnostizierte er und runzelte die Stirn. » O h « , s a g t e der M a n n mit einem Anflug von B e s o r g n i s . »Ist d a s . . . Gibt es i r g e n d etwas, d a s ich für Sie tun k a n n , Mr. L e w i s ? Wir b e k o m m e n nicht allzuoft B e s u c h von P a t h o l o g e n . Möchten Sie vielleicht etwas b e s i c h t i g e n ? « »Nichts, g a r n i c h t s « , erwiderte M o d . » A b e r passen Sie auf Ihre Hände auf. Sie sind sehr k a l t . « » M a c h ' ich, bestimmt«, versprach der M a n n ängstlich. » I c h wärme sie sofort am F e u e r a u f . « Er schob die H ä n d e in die Achselhöhlen und eilte d a v o n . Mod grinste sich eins. » D a s hat S p a ß g e m a c h t « , s a g t e er, als sie weiter ihrer Spur folgten. »Weißt du, ich g l a u b e , ich wäre gern Pathologe g e w o r d e n . Stell dir vor, du machst eines T a g e s eine Obduktion, und da findest du die eingesperrte S e e l e eines Menschen. U n d sie flattert d a v o n wie ein befreiter Schmetterling. D a s wäre doch ein D i n g , w a s , D a n g e r o u s ? « » F a l l s du erst mal beim K ö r p e r a n f a n g e n willst«, sagte D a v i e s ironisch, » k a n n ich dir einen menschlichen Oberschenkelknochen überlassen, falls es mir gelingt, ihn Kitty zu entreißen. D e n hat er nämlich geklaut, als wir letztes M a l hier w a r e n . « » D u liebe Z e i t « , s a g t e M o d kopfschüttelnd, » w a s der Hund alles anrichtet. Es ist dir wohl klar, d a ß i r g e n d e i n e a r m e Seele jetzt ohne S c h e n k e l k n o c h e n durch die Ewigkeit humpelt.« Sie waren an der F r i e d h o f s m a u e r stehengeblieben. Irgendwo hier mußte die Stelle sein, wo P. C. Frederick Fennell d a s herrenlose F a h r r a d gefunden hatte. Es war ein ungepflegtes Stückchen E r d e , wo G r a s b ü s c h e l und Unkraut, aber auch Gänseblümchen und L ö w e n z a h n Wurzeln g e s c h l a g e n hatten, die im S o m m e r s o g a r hin und wieder eine verirrte B i e n e anlockten. D a s Licht der Straßenlampen schimmerte auf die E f e u r a n k e n , die von der B a c k steinmauer h e r a b h i n g e n . » D e r E f e u muß d a m a l s auch schon dagewesen s e i n « , s a g t e M o d . » W e n n er doch sprechen könnte!«
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» L i e b e r wäre es mir, bestimmte M e n s c h e n würden den Mund a u f m a c h e n « , murrte D a v i e s . » D i e wüßten mehr als der E f e u . « Er g i n g weiter in Richtung Hauptgeschäftsstraße. In den Kaufhäusern
WORLD
STORES,
DAVID
G R E I G ' S und H O M E AND COLONIAL
wurden g e r a d e die Lichter gelöscht. D i e Vorübergehenden huschten noch schnell in die Z i g a r e t t e n l ä d c h e n , und an der Ecke pries J o b , der Z e i t u n g s v e r k ä u f e r , mit G r a b e s s t i m m e seine düsteren E r e i g n i s s e in der Dunkelheit an. » T r a g ö d i e heute abend! Riesentragödie!« Im G e h e n sprach D a v i e s über die - wie er es polizeiüblich formulierte - E r k e n n t n i s s e betreffs des Verschwindens und der mit h o h e r Wahrscheinlichkeit a n z u n e h m e n d e n E r m o r d u n g der Celia Norris. M o d g i n g n e b e n ihm, brummte nur hin und wieder etwas und hörte im übrigen zu. Zwischen dem P f a n d h a u s und dem Mass a g e s a l o n b o g e n sie um die E c k e und tauchten bald d a r a u f in die feuchte Dunkelheit beim K a n a l ein. D a v i e s kletterte auf die B ö schung der K l e i n g ä r t e n und ließ den B l i c k über die R e i h e n von R o s e n k o h l und Wirsing schweifen. E i n i g e B o h n e n s t a n g e n standen aufrecht da und hielten Nachtwache. Er k a m zurück, und sie tasteten sich weiter auf dem F u ß w e g v o r a n . D a v i e s redete in einem fort, w ä h r e n d M o d in das ölige W a s s e r starrte, als ob dort ein Hinweis o d e r eine L ö s u n g zu finden sei. So wanderten sie die 800 Meter bis zur B r ü c k e , die über den K a n a l führte, d a n n machten sie kehrt. Niemand bemerkte sie a u ß e r den g r i e s g r ä m i g e n Lag e r h a l l e n , Geschäftshäusern und den p a a r kleinen Reihenhäus e r n , die dem W a s s e r ihre Rückseite zuwandten. J e m a n d hatte s o g a r ein kleines B o o t am Ufer festgemacht. Es g a b halt überall Romantiker. Wieder auf der S t r a ß e a n g e l a n g t , juckte es M o d in der Nase, wenn er an d a s WICKELKIND mit seinen freundlichen Lichtern d a c h t e , und so eilten sie dieser Quelle des L a b s a l s e n t g e g e n . Nach den üblichen drei G l a s B i e r b e g a b e n sie sich zum BALI H I , Furtm a n G a r d e n s , wo M r s . Fulljames Kutteln mit Zwiebeln auftrug und Mr. Smeeton in einer bretonischen Volkstracht erschien. » H e u t e im F r a n z ö s i s c h e n K l u b « , murmelte er verschlossen. Mr. P a t e l erklärte Minnie B a n k s und D o r i s , die ihm beide hingerissen zuhörten, wie Metall zu einer G a b e l geformt wird. Nach d e m E s s e n g i n g D a v i e s in sein Z i m m e r . Er verhängte die Nachttischlampe mit einem U n t e r h e m d - da M r s . Fulljames Lichtverschwendung in den Schlafzimmern mißbilligte - und
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schrieb sorgfältig alles auf, was er über den Fall Celia Norris wußte. D a n n schrieb er auf ein zweites Blatt - d a s er sich von Minnie b o r g e n mußte, weshalb es die Aufschrift K E N S A L G R E E N PRIMARY SCHOOL trug - alles, was er zu wissen glaubte, und auf ein drittes B l a t t a l l e s , was er gern gewußt hätte. Die B l ä t t e r faltete er zusammen und steckte sie in seinem K l e i d e r s c h r a n k in einen Schuh - einen einzelnen Schuh, der ihm nach einer S c h l ä g e r e i bei einem irischen Wohltätigkeitsfest geblieben war. Gegen zehn U h r b e k a m er Lust auf einen S p a z i e r g a n g zum WICKELKIND, b e v o r es g e s c h l o s s e n wurde. D e r A b e n d d u n s t hatte sich zum Nebel verdichtet. Er blieb nur ein p a a r Minuten in der Kneipe, hauptsächlich, weil diese Frau schon wieder VIVA E S P A Ñ A sang, und machte sich d a n n gleich auf den R ü c k w e g . Nach wenigen Schritten auf der nebligen S t r a ß e , neben dem einzigen B a u m weit und breit, wurde er von drei, vielleicht auch vier M ä n n e r n angefallen. Er b e k a m S c h l ä g e auf den Kopf und fühlte, daß sie von allen Seiten k a m e n . Trotz des Schreckens und der Schmerzen registrierte er, d a ß etwas ihm bekannt v o r k a m : Die S c h l ä g e kamen von e i n e m Axtstiel. G e r a d e als er zu B o d e n g i n g , merkte er, daß seine A n g r e i f e r über irgend etwas e r s c h r a k e n . Die S c h l ä g e hörten auf. A u f a t m e n d registrierte er, d a ß sie wegrannten und daß sich a n d e r e , schwerere Schritte näherten. E i n heißer, feuchter Atem wehte über sein z e r s c h u n d e n e s Gesicht. Er riß sich zusammen, öffnete ein A u g e und blickte in d a s besorgte Gesicht des L u m p e n h ä n d l e r g a u l s , d a s sich über ihn beugte.
Kapitel 17
I
n der Notfallaufnahme des K r a n k e n h a u s e s auf der T r a g e lieg e n d , öffnete D a v i e s die A u g e n und schenkte dem jungen Arzt, der seine Verletzungen abtastete, ein m ü h s e l i g e s Lächeln. » K ö n n t e ich bitte in mein gewohntes Z i m m e r k o m m e n ? « fragte er. Nur wenige F u ß entfernt von ihm lag auf e i n e m Rollbett, wie er erst jetzt b e m e r k t e , noch ein hilfloser Patient. A l s er sich halb nach ihm umdrehte, kam ihm d a s Gesicht, d a s er verschwommen w a h r n a h m , irgendwie bekannt vor. D e r M a n n hatte gespürt, daß er h e r ü b e r s c h a u t e , und schob seinen K o p f an den R a n d , um ihn seinerseits a n z u s e h e n . E s war J o s i e s Vater.
» H a l l o , Mr. N o r r i s « , murmelte D a v i e s , » w e s h a l b sind Sie denn hier?« » A u s d e m s e l b e n G r u n d wie S i e , Sie Vollidiot«, sagte Mr. Norris nicht allzu höflich. » I c h h a b ' Ihnen g e s a g t , Sie sollten die Finger davon lassen.« » W a r e s bei I h n e n auch R a m s c a r ? « » D e r W e i h n a c h t s m a n n w a r ' s nicht. Ich hatte Sie gewarnt. Hoffentlich h a b e n sie I h n e n ordentlich was v e r p a ß t . « D e r j u n g e Arzt blickte reichlich pikiert. » D i e Notfälle hören bitte auf, sich zu streiten«, s a g t e er unwirsch. »Wir sind hier nicht beim K a f f e e k r ä n z c h e n . « Er wandte sich an zwei K r a n k e n t r ä g e r , die g e r a d e h e r e i n k a m e n . » D e n d a « , s a g t e e r und wies auf Davies, » v e r b i n d e n und beobachten. D e n a n d e r e n zum O P , in einer halben S t u n d e . « D a v i e s g a b e s einen Stich ins Herz. E r mußte a n J o s i e denken. » E s tut mir leid, Mr. N o r r i s « , flüsterte er. » M i r auch. D e r R a m s c a r macht einen fertig, ehe m a n sich's versieht. Ich bleibe hier drin, so l a n g e es geht. Wenn ich rausk o m m e , h a b e n S i e ihn vielleicht mit Hilfe der a n d e r e n Greifer zu fassen g e k r i e g t . Obwohl ich da meine Zweifel h a b e , beträchtliche Zweifel.«
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Davies b e g a n n selbst zu zweifeln. Oberhalb des Gürtels fühlte er sich total z e r s c h l a g e n , trotzdem wußte er, daß sie ihn nicht so schlimm verletzt hatten wie d a s vorige M a l . Er beschloß, für das Lumpenhändlerpferd einen g r o ß e n Kohlkopf zu kaufen, sobald er das K r a n k e n h a u s v e r l a s s e n durfte. Dieser G e d a n k e war die letzte R e g u n g seines Bewußtseins bis zum folgenden T a g , als er am späten Nachmittag davon aufwachte, d a ß eine b l a s s e , rundliche Schwester ihn fragte, ob er eine Bettpfanne und ein wenig Milchbrei h a b e n wolle. Den B r e i lehnte er a b . Es war ein g r o ß e s Glück, d a ß weder D o r i s noch M r s . Fulljames ihn besuchen k a m e n . D a s wäre mehr g e w e s e n , als er e r t r a g e n hätte. Aber M o d k a m g e g e n A b e n d , setzte sich neben d a s Bett und schaute bestürzt auf sein b a n d a g i e r t e s Gesicht. »Ich möchte a n n e h m e n « , sagte er mit der Geschraubtheit der Waliser, » d a ß sich um die U r h e b e r dieser neuerlichen Ausschreitungen g e g e n deine P e r s o n das Netz der Polizeifahndung zu dieser Stunde s c h o n z u s a m m e n z i e h t . « Davies g r i n s t e , was ihn sogleich zusammenzucken ließ. » F ü r mich steht außer Zweifel, daß die Metropolitan Police sich zu umfassender Inaktivität veranlaßt g e s e h e n h a t « , sagte er. » S i e haben einen S e r g e a n t hergeschickt, um alle die s p a n n e n d e n Einzelheiten von mir zu h ö r e n , und der Polizeiarzt ist d a g e w e s e n und hat mich a n g e s e h e n . D e r Aufwand ist phantastisch, das kannst du mir glauben. M e i n e G ü t e , sicher haben sie inzwischen so viele Männer auf die J a g d geschickt, d a ß sie eine ganze Telefonzelle abriegeln k ö n n t e n . « » E i n e S c h a n d e ist d a s « , lamentierte M o d . » S i e wissen wohl g a r nicht, was sie an dir h a b e n . Natürlich hast du sie so sehr d a r a n gewöhnt, d a ß du dich k . o . schlagen läßt, daß der Reiz des Neuen verblaßt ist.« Auch J o s i e k a m . Sie saß auf dem R a n d des B e t t e s und sah ihn mitfühlend a n , s a g t e a b e r nichts. Er kam sich vor wie ein B o g e n schütze, der durch eine Schießscharte blickt. » D u bist ja jetzt voll beschäftigt mit K r a n k e n b e s u c h e n « , versuchte er zu s p a ß e n . »Wie geht es deinem alten H e r r n ? « »Schlecht.« Sie zuckte die A c h s e l n . »Schlechter als dir, und das will wahrhaftig etwas heißen. Mein Gott, dir haben sie mindestens vier K i l o m e t e r Mullbinden um den Kopf gewickelt.«
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» E s tut mir leid, J o s i e « , murmelte er. Sie sah ihn nachdenklich an und legte ihre H a n d auf die B e t t d e c k e . » M a c h dir keine Vorwürfe, D a n g e r o u s « , sagte sie leise. » E r hat all die J a h r e im trüben gefischt, erst mit R a m s c a r , d a n n mit a n d e r e n , die genauso schlimm waren. F r ü h e r o d e r später mußte er damit auf die Nase fallen. Du hast nur deine Pflicht als B u l l e g e t a n . « » W a s ist mit deiner M u t t e r ? « » H a t A n g s t . Sie hat ja den Alten von der Türschwelle aufgesammelt. Er war aufmachen g e g a n g e n . Ich h a b e sie zu ihrer Schwester nach L u t o n verfrachtet.« » I s t L u t o n weit g e n u g w e g ? « fragte D a v i e s . »Weit genug von Ramscar?« » M u ß einfach. D i e nächsten n a h e n Verwandten wohnen in A u s t r a l i e n . « Sie lachte über den Witz, aber ihr Gesicht war voller A n g s t . » E s muß doch mal a u f h ö r e n « , s a g t e s i e , » s o n s t bringen sie noch j e m a n d e n um. U n d auf dich sind sie wohl b e s o n d e r s scharf, D a n g e r o u s . « Sie legte plötzlich ihren Kopf auf die weiße Bettdecke. Ihr spitzes Gesichtchen war bleich. Er berührte ihre dünne Schulter, und sie streckte die H a n d a u s und umfaßte seine Finger. » G l a u b s t du, es ist nur w e g e n R a m s c a r ? « fragte sie. Ihr Kopf lag noch immer auf seinen B e i n e n . » O d e r hat es etwas mit Celia zu t u n ? Will j e m a n d , daß du a u f g i b s t ? « »Vielleicht s o g a r b e i d e s « , seufzte er. »Vielleicht ist d a s ein und d a s s e l b e . Vielleicht hat es doch R a m s c a r g e t a n . Je mehr ich herausfinde, desto unklarer erscheint mir a l l e s , J o s i e . Glaubst du, d a ß dein Vater weiß, wo sich R a m s c a r versteckt h ä l t ? « S i e lachte g e z w u n g e n . » W e n n e r ' s weiß, wird ihn in seinem jetzigen Z u s t a n d nichts und niemand dazu b r i n g e n , es zu verraten. Es ist ein Wunder, d a ß sie es überhaupt geschafft h a b e n , ihn wieder z u s a m m e n z u n ä h e n . Er sieht wie eine Flickendecke aus. Sein Gesicht ist für alle Zeiten versaut, und er war schon vorher keine S c h ö n h e i t . « Sie s a h ihm ins Gesicht und brachte erst stockend, d a n n schneller w e r d e n d , so als ob sie aus einem Schlaf erwacht sei, ihre F r a g e hervor: » D a n g e r o u s , hast d u i r g e n d e t w a s über Celia h e r a u s g e f u n d e n ? W a s mit ihr passiert i s t ? « Er hatte ihr bisher nichts erzählt. Jetzt überlegte er einen Augenblick und sagte d a n n : » I c h h a b e ihr F a h r r a d g e f u n d e n , Josie, und den Slip.« Sie fiel b e i n a h e vom Stuhl. » W a s hast du g e f u n d e n ? « » D a s R a d und den S l i p « , wiederholte D a v i e s leise.
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» H e r r i m Himmel! Wie hast d u . . . ? « » H ö r zu, J o s i e « , s a g t e er. Er versuchte, sich ihr zuzuneigen, aber d a s schmerzte zu sehr. » H ö r zu, ich habe alles mögliche g e funden. Ich erzähle es dir so bald wie möglich, d a s verspreche ich. Nicht jetzt, wir sind hier nicht allein, und ich fühle mich im M o ment nicht g e r a d e super. A b e r ich werde dir demnächst g e n a u sagen k ö n n e n , w a s mit deiner Schwester g e s c h e h e n ist. Vielleicht sogar, w e r e s gewesen ist.« Sie starrte ihn immer noch ungläubig an. » I c h . . . ich k a n n ' s nicht g l a u b e n « , s a g t e sie. » E h r l i c h nicht.« »Du hast g e d a c h t , ich schaffe es nicht?« » N e i n . . . nein, so ist es nicht. Ich dachte einfach, niemand schafft d a s . Du hast auch d a s F a h r r a d ? « » J a , und s o g a r noch immer in fahrbereitem Z u s t a n d . E i n ' b i ß chen quietschend, a b e r sonst g a n z in O r d n u n g , und a u ß e r d e m die Reste der B l u m e n , die sie deiner Mutter mitbringen wollte. Sie hat sie auf dem F r i e d h o f g e k l a u t . « Sie war a n s c h e i n e n d zu sehr erschüttert, um diese Mitteilungen verarbeiten zu k ö n n e n ; g a n z l a n g s a m stand sie auf. »Ich muß jetzt gehen«, sagte s i e . » I c h muß über d a s alles n a c h d e n k e n . « Sie sah ihn unsicher a n . » U n d du bist s i c h e r . . . « , s a g t e s i e , »ich m e i n e , du sagst d a s nicht einfach s o . . . « »Ich bin s i c h e r « , nickte D a v i e s , »vollkommen sicher. B i s bald, Josie.« » B i s b a l d « , stotterte sie. Sie beugte sich leicht vor und küßte ihn auf d a s Stückchen W a n g e , d a s der Verband frei ließ. Mit einem schwachen L ä c h e l n sagte sie: » D u bist schlauer, als ich g e dacht h a b e . « » D a n k e . M a n c h m a l bin ich selbst überrascht.« Sie verließ den R a u m , o h n e sich noch einmal umzusehen. Er spürte an dem H ä m m e r n in seinem S c h ä d e l , d a ß d a s Gespräch ihn angestrengt hatte. Er schlief ein wenig und lag dann mit offenen Augen in der Dunkelheit der Nacht und dachte an Celia Norris und ihre R e i s e in die Ewigkeit vor 25 J a h r e n . Er versuchte noch einmal, j e d e B e w e g u n g der braunen Schuhe, j e d e n Tritt in die Pedale auf dem Weg vom J u g e n d k l u b zum Friedhof zu rekonstruieren. Er s a h sie unbekümmert - ohne Slip - über die M a u e r steigen, um die B l u m e n von einem G r a b zu holen. Er wußte, daß sie dazu fähig g e w e s e n war, und er konnte sich gut vorstellen, daß auch Josie dazu fähig wäre. Und was kam d a n a c h ? A u ß e r h a l b
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der M a u e r stand d a s Polizeiauto, oder es näherte sich g e r a d e , als sie zurück über die M a u e r kletterte. Am Steuer saß ein Polizist, der kurz zuvor bei der geselligen Veranstaltung Alkohol getrunken hatte; allein, weil sein K o l l e g e sich g e r a d e bei seiner hellseh e n d e n Geliebten aufhielt. Was tat dieser Polizist n u n ? Stieg er a u s und stellte sich an die M a u e r , während sie herabkletterte? K o n n t e er s e h e n , daß diese 1 7 j ä h r i g e unter ihrem dünnen Kleid nichts a n h a t t e ? Sprach er sie streng an und n a h m sie mit in d a s A u t o , o h n e d a s F a h r r a d zu b e m e r k e n , d a s dort zwischen U n k r a u t und L ö w e n z a h n versteckt l a g ? F u h r e n sie l a n g s a m durch die H i g h Street in dieser schwülen S o m m e r n a c h t ? U n d schlug der a n g e t r u n k e n e Polizist während der F a h r t d e m j u n g e n M ä d c h e n vor, mit ihm zum K a n a l u f e r hinu n t e r z u g e h e n ? Versuchte er, sie zu ü b e r r e d e n , oder drohte er ihr? D a v i e s sah sie durch die D ä m m e r u n g g e h e n , ein Polizist ohne Helm oder Mütze, wie Mr. Whethers ihn g e s e h e n hatte. Sie ging e n hinunter bis zum E n d e der G a s s e und zum K a n a l u f e r . Und d a n n g e s c h a h e s . D e r Polizist vergewaltigte Celia und ermordete sie. D i e L e i c h e versteckte er. A b e r nicht ihre K l e i d e r . Versteckte die L e i c h e . . . a b e r nicht die K l e i d e r . Plötzlich richtete sich D a v i e s in seinem B e t t so abrupt auf, daß sein S c h ä d e l vor S c h m e r z e n dröhnte und er sich mit einem Schrei - h a l b vor S c h m e r z , halb im Triumph - an die Stirn faßte. Vom a n d e r e n E n d e des S a a l e s rief eine Stimme: » F e h l t I h n e n w a s ? Soll ich die Schwester r u f e n ? « » N e i n , nein, nicht nötig, d a n k e . « D i e Schwester war d a s letzte, was er brauchen konnte. Er sah auf die Uhr. Es war erst zehn, im K r a n k e n h a u s machten sie frühzeitig F e i e r a b e n d . Er rutschte m ü h s a m a u s dem Bett und stopfte sein Kopfkissen unter die D e c k e . In seinem Kopf pochte es, als wäre ein K o b o l d e i n g e s c h l o s s e n und versuchte, sich durch den Verband zu s p r e n g e n . D e r K r a n k e n s a a l hatte einen Vorraum, dort hatten sie letztes M a l s e i n e K l e i d e r aufbewahrt. Mit einem Kopf, der sich wie eine Kohlrübe anfühlte, tappte er mit großen S c h m e r z e n , aber auch voller Hoffnung über den gebohnerten F u ß b o d e n . D i e Hoffnung erfüllte sich: An einem e i s e r n e n Wandhaken hingen e i n s a m , aber vereint, sein A n z u g und Mantel; die Schuhe befanden sich darunter in einem offenen Schließfach, nur S o c k e n , U n t e r z e u g und O b e r h e m d fehlten. Er n a h m die Sachen
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an sich und g i n g in die Toilette, wo er sie über den P y j a m a zog. Den treuen, alten M a n t e l k r a g e n zog er, so gut es g i n g , über die verbundenen O h r e n , d a n n schlich er in den Flur hinaus. Es war niemand zu s e h e n . D i e Nachtschwester befand sich in einem Nebenraum, und der H a u s e i n g a n g war nur wenige Schritte entfernt. Im Nu war er an der Tür und trat in die Kälte hinaus. Sein Z i e l , d a s möblierte Z i m m e r von Heilsarmist A n d r e w P a r sons, war zwei Kilometer entfernt. Kein Taxifahrer war so optimistisch, in dieser schäbigen G e g e n d auf Kundschaft zu warten; er überlegte s c h o n , ob er zu F u ß g e h e n oder sich ein F a h r r a d aneignen sollte, als in der F e r n e die Lichter von einem B u s auftauchten. Die Haltestelle war direkt vor dem K r a n k e n h a u s . Im Pförtnerhäuschen kümmerte m a n sich nicht um ihn, und er richtete seine Schritte so ein, d a ß er g e r a d e rechtzeitig für den B u s an der Straßenkante a n k a m . Erleichtert stieg er ein, fand wie durch ein Wunder ein p a a r Münzen in der Manteltasche und setzte sich dankbar und glücklich hin. Er glaubte zu wissen, wo Celia Norris sich befand. An der nächsten Haltestelle stieg ein L i e b e s p a a r ein und setzte sich ihm g e g e n ü b e r . Schenkten sie sich erst g e g e n s e i t i g ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, so wandte sich ihr Interesse nach und nach Davies zu. Z u e r s t studierten sie den schweren B a n d a g e n helm auf seinem Kopf, indem sie j e d e Windung und Spirale mit den Augen nachzeichneten. D a n n fiel der Blick des M ä d c h e n s auf seine F u ß g e l e n k e . Er folgte diesem B l i c k und s a h , d a ß ihm der Pyjama aus den H o s e n b e i n e n heraushing und unmittelbar darunter seine nackten F ü ß e sichtbar wurden. Er lächelte dünn. »Nachtschicht«, sagte er laut, als sei damit alles geklärt. Sie nickten stumm, starrten ihn aber weiterhin a n , bis er in der High Street a u s s t i e g . D a s letzte, was er von ihnen s a h , waren ihre Gesichter, die sie e b e n s o wie der Schaffner, den sie auf den seltsamen Aufzug aufmerksam gemacht hatten, an die Fensterscheibe preßten. D a v i e s winkte ihnen zu, während er die Straße überquerte. Er hielt sich so weit wie möglich im Schatten der hohen Mietshäuser, bis er den E i n g a n g von Andrew P a r s o n s ' H a u s erreichte. Er hatte so seine B e d e n k e n , als er klopfte, die sich gleich darauf auch bestätigen sollten. Die F r a u - sie trug einen Kittel mit B l u menmotiven-, die ihm die Türe öffnete, konnte einen Schrei nur
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m ü h s a m unterdrücken. D a ß er unter seinen Verbänden ein Lächeln versuchte, machte alles nur noch schlimmer, aber zum Glück g e l a n g es ihm, sein A n l i e g e n v o r z u b r i n g e n , bevor sie den beabsichtigten g e l l e n d e n Schrei h e r a u s g e b r a c h t hatte. »Ich möchte bitte zu Mr. P a r s o n s von der H e i l s a r m e e . Es ist ein Notfall.« Z u m Glück war sie bereit, d a r a u f e i n z u g e h e n . » S i e h t in der Tat wie ein Notfall a u s « , meinte sie. » I c h k a n n ihn rufen. Er und seine Spezis sind oben und machen K r a c h . « Sie g i n g zur Treppe und brüllte » M r . P a r s o n s ! « in die Finsternis hinauf. Sie mußte noch zweimal rufen, ehe ein Lichtstrahl zeigte, d a ß oben eine Tür geöffnet worden war. » M r . P a r s o n s , da will j e m a n d zu Ihnen. Er s a g t , es ist ein Notfall.« » N o t f a l l ? « fragte P a r s o n s . »Wer ist es d e n n ? « » F r a g e n Sie mich doch nicht«, schrie sie zurück. » A u s s e h e n tut er wie der UNSICHTBARE M A N N . « Sie drehte sich zu Davies um. » G e h e n Sie rauf. Ich k a n n mir doch hier nicht die S e e l e aus dem Leibe schreien.« D a v i e s b e d a n k t e sich und stieg die Stufen hinauf. A l s er am ersten T r e p p e n a b s a t z a n g e k o m m e n war, rief P a r s o n s aus dem dritten Stock herunter: » W e r kommt d a ? « D a v i e s trällerte: » D e r G e n e r a l B o o t h , damit d a s klar ist, jetzt sagst du endlich m a l , was wahr ist.« Sein spontaner R e i m gefiel ihm a u s n e h m e n d gut. Er hörte ein kurzes Stöhnen und schloß d a r a u s , daß P a r s o n s ihn erkannt hatte. D i e s e r kam die finstere Treppe heruntergestolpert. » M r . Dav i e s . . . « D a n n bemerkte e r i m H a l b d u n k e l D a v i e s ' Aussehen. » A c h du meine Güte, was ist p a s s i e r t ? « » E i n A r b e i t s u n f a l l « , s a g t e D a v i e s . » I c h möchte mich ein bißchen mit Ihnen unterhalten. D e s h a l b bin ich extra hergekommen. K a n n ich raufkommen, A n d y ? « » N e i n , um Gottes willen«, flehte P a r s o n s . »Nicht jetzt. Nicht in mein Z i m m e r . Die K a p e l l e ist bei der P r o b e . « Wie um dies zu bestätigen, ertönte eine gedämpfte Trompete durch die offene Z i m m e r t ü r , d a n a c h ein quietschender Flötenton. » N a gut, M a n n « , flüsterte D a v i e s . » E n t w e d e r Sie antworten auf meine F r a g e ohne Ihre v e r d a m m t e n Ausflüchte und L ü g e n , dann
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können Sie h i n g e h e n und weitermachen, o d e r wir g e h e n zusammen rauf und b e r e d e n es da vor den a n d e r e n . « Parsons hatte d e n K o p f sinken l a s s e n . Er murmelte vor sich hin, vielleicht betete er auch. » J a ? Was für eine F r a g e ? « »Gut.« D a v i e s stellte sich auf die Treppenstufe neben ihn. » W o haben Sie die Klamotten w i r k l i c h g e f u n d e n ? Doch nicht im öffentlichen K l o . L o s , s a g e n Sie schon! E s war nicht dort, o d e r ? « »Nein. L i e b e r Gott, ich wußte j a , daß es eines T a g e s herauskommen würde. Ich v e r s u c h e , e s abzubüßen. Die A r m e e . . . « » W o ? « fragte D a v i e s streng. »Nicht in d e m W C . D a h i n habe ich sie gebracht, als mir klar wurde, daß sie v o n dem toten M ä d c h e n stammten. A b e r d a ß ich sie da gefunden hätte, war g e l o g e n . Ich war so verwirrt und durcheinander, Mr. D a v i e s . « »Wo?« wiederholte D a v i e s unerbittlich. D a s Herz blieb ihm fast stehen, als P a r s o n s s a g t e : » A m K a n a l . Sie l a g e n einfach herum, da h a b ' ich sie geklaut. A b e r als ich dann von dem Mädchen hörte, b e k a m ich es mit der A n g s t und brachte sie zum Männer-WC. D a b e i wurde ich d a n n erwischt. Ich konnte ja nicht s a gen, woher ich d a s Z e u g hatte, ich war doch g e r a d e auf B e w ä h rung, weil ich W ä s c h e von der L e i n e gestohlen hatte und solche Sachen. Die wollten mir den M o r d an dem M ä d c h e n in die Schuhe schieben, M r . D a v i e s , a b e r d a s war ich doch n i c h t . . . Ich bin dann bei m e i n e r Geschichte geblieben. U n d sie haben mich nicht k l e i n g e k r i e g t . « D i e letzten Worte k l a n g e n b e i n a h e triumphierend. D a v i e s packte ihn beim K r a g e n und schüttelte ihn. P a r sons unterdrückte einen Aufschrei. » D a m a l s . . . Sie wissen d o c h . . . hätten sie einen dafür a u f g e h ä n g t . « »Das ist d a s , was sie alle s a g e n « , murmelte D a v i e s und mußte an Lind d e n k e n . » A l s o , wo g e n a u , Mr. P a r s o n s ? Millimetergenau.« Auf P a r s o n s ' Gesicht stand der Schweiß. » J a , ja - g a n z g e n a u . Am E n d e des D u r c h g a n g s , wo früher die alte Holzhütte aus dem Krieg stand. G e n a u d a . Ich g i n g da l ä n g s , Richtung K a n a l , und da lagen die S a c h e n . D e r S a t a n führte mich in Versuchung, und ich habe sie a u f g e h o b e n . Gott, wie oft ich diesen Augenblick der Schwäche bereut h a b e . « Davies merkte an dem stechenden Schmerz im Gesicht, daß er gelächelt hatte. » W u n d e r v o l l « , flüsterte er, »wundervoll. Am Ende des D u r c h g a n g s . D a s heißt am R a n d e der K l e i n g ä r t e n . «
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» J a , g e n a u « , bestätigte P a r s o n s . » B e i den S c h r e b e r g ä r t e n . « » G u t « , s a g t e D a v i e s . » S i e k ö n n e n jetzt zu Ihrem Humtata zur ü c k g e h e n . Weiter viel V e r g n ü g e n . A b e r verdrücken Sie sich nicht nach auswärts zu irgendwelchen Musikfestivals oder dergleichen. Ich muß wissen, wo ich Sie finden k a n n . « »Ist d a s jetzt a l l e s ? « » J a . Wieso, haben Sie noch etwas auf dem H e r z e n ? « » O h nein, nein. Ich g e h e d a n n a l s o . « » D ü r f e n S i e « , s a g t e D a v i e s . » S p i e l e n Sie einen Choral für mich.« P a r s o n s rannte erleichtert die Treppe hinauf. Oben beugte er sich über d a s G e l ä n d e r und rief laut g e n u g für die Zuhörer in seinem Zi m m e r : » A u f W i e d e r s e h e n , M r . D a v i e s . Gott s e g n e Sie. Ich werde für Sie in Ihrer Not b e t e n . « Es war schon halb zwölf, als D a v i e s Mr. Chrust und seine zwei S c h w ä g e r i n n e n aus ihrem Schlummer über dem Zeitungsbüro weckte. D i e s e l b e n Lichter wurden angeknipst, und dieselben Gesichter erschienen wie beim ersten M a l . Sie k a m e n angeschlurft und öffneten ihm die Türe. Ihre gute Kinderstube hinderte sie offenbar d a r a n , zu f r a g e n , warum er b a n d a g i e r t wie eine Mumie bei ihnen erschien. Er brauchte sie nicht l a n g e zu stören. Er mußte nur in der neuesten Nummer des CITIZEN den Bericht über die Verurteilung des G a r t e n d i e b e s n a c h l e s e n . G e o r g e Tilth, 47 J a h r e , wohnhaft H a r r o w G a r d e n s . D a v i e s schrieb sich die Angaben auf, bedankte sich bei Mr. Chrust und wünschte den Damen eine gute Nacht. D a n n machte er sich auf den W e g zu Mr. Tilth. Er war erleichtert, festzustellen, d a ß die F a m i l i e Tilth noch nicht im Bett war. In dem bescheidenen R e i h e n h a u s brannte noch Licht, und auf sein Klopfen öffnete ein voll a n g e k l e i d e t e r Mr. Tilth, der p a s s e n d e r w e i s e eine üppige Topfpflanze im A r m hielt. »Vermutlich erinnern Sie sich nicht an m i c h ? « b e g a n n Davies. » N u n , ich s e h e Sie ja überhaupt nicht. M a n k a n n Sie ja unter all dem E r s t e - H i l f e - Z e u g s g a r nicht e r k e n n e n . Wer wollen Sie denn sein?« » P o l i z e i « , s a g t e D a v i e s . «Detective C o n s t a b l e D a v i e s . « D e r M a n n wurde kalkweiß. » I c h h a b e nichts g e t a n , Herr Wachtmeister!« protestierte er. Er sah auf die Topfpflanze in seinen A r m e n wie eine F r a u auf den S ä u g l i n g an ihrer B r u s t . »Die gehört mir. Ich habe sie selbst g e z o g e n . «
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»Schon gut, schon g u t « , versuchte D a v i e s ihn zu beruhigen. »Ich bin nicht d e s w e g e n g e k o m m e n . Sie sind j e m a n d , der sich auf Gärten versteht; da brauchte ich ein p a a r I n f o r m a t i o n e n . « » I n f o r m a t i o n e n ? Gärtnerischer A r t ? « » J a , so könnte m a n s a g e n . K a n n ich einen Augenblick reinkommen?« » G u t « , nickte Mr. Tilth. » I c h habe nichts zu v e r b e r g e n , Mr. Davies. A b e r vielleicht können Sie einen Moment warten.« Davies sah sich um, während a u s dem Wohnzimmer des Hauses hastige, wenn auch gedämpfte B e w e g u n g e n zu vernehmen waren. Er war in Versuchung hineinzuplatzen, aber er durfte jetzt nicht alles kaputt m a c h e n . Schließlich tauchte Mr. Tilth wieder auf. Statt der früheren B l ä s s e überzog jetzt eine verlegene R ö t e sein Gesicht. »Jetzt können Sie reinkommen. Ich wollte für S i e nur ein bißchen O r d n u n g m a c h e n . Nachts um diese Zeit erwartet m a n ja keinen B e s u c h , n o r m a l e r w e i s e . « » N o r m a l e r w e i s e « , stimmte D a v i e s zu. Er trat ein. Trotz seiner Maske bemerkte er den T r e i b h a u s g e r u c h . Er g i n g in den Wohnraum, wo der Tisch mit Z e i t u n g e n , Blumentöpfen, Pflanzen und Häufchen von K o m p o s t bedeckt war. »Ich topfe g e r a d e A b l e g e r e i n « , s a g t e Mr. Tilth. » M a c h t viel Schmutz.« Davies sah sich schnell um, während er auf einen Stuhl zusteuerte. E i n W ä s c h e g e s t e l l , auf dem Handtücher zum Trocknen hingen, stand in der Z i m m e r e c k e . Der Platz war strategisch nicht schlecht gewählt, aber doch nicht gut g e n u g , um die dahinter versteckte P a l m e völlig zu verdecken. Davies setzte sich. »Mr. Tilth«, s a g t e er fest, » m e i n B e s u c h hat nichts mit dem zu tun, wofür sich die Polizei bei Ihnen bisher interessiert hat. D a s möchte ich von v o r n e h e r e i n klarstellen.« Er zögerte, dann korrigierte er sich: » N e i n , d a s stimmt nicht g a n z . Es hat doch damit zu tun.« In d a s Gesicht des M a n n e s trat ein Ausdruck von B e stürzung. » A b e r nicht s o , wie Sie d e n k e n . Ich brauche Ihre Hilfe.« »Und wofür, Mr. D a v i e s ? « Mr. Tilth war noch keineswegs überzeugt. »Ihre P a r z e l l e . U n t e n a m K a n a l . « »War mal m e i n e « , s a g t e Mr. Tilth, »ist nicht mehr. Wie ich vor Gericht g e s a g t h a b e , die Stadt hat sie mir w e g g e n o m m e n . Nach so vielen J a h r e n A r b e i t . «
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» J a . G e n a u d a n a c h wollte ich f r a g e n . Sie hatten den Garten schon 1 9 5 1 , stimmt d a s ? O d e r noch früher.« » S c h o n in den 40er J a h r e n « , bestätigte der M a n n , und ein Ausdruck von Stolz trat in seine A u g e n . » I n den schweren T a g e n , als E n g l a n d allein stand. U n d vorher hatte ihn mein alter Vater. Ich h a b e es den Richtern g e s a g t , der G a r t e n , d a s ist unser Vermächtnis.« » E r i n n e r n Sie sich, wie im K r i e g d a s H o l z h a u s da unten am Kanal gebaut wurde?« » U n d o b , M e n s c h ! Wir hatten da unser Setzlingsbeet, und die wollten a u s g e r e c h n e t an der Stelle ihre B u d e aufbauen. Was habe ich mich gestritten mit dem Offizier von der Heimwehr, Hauptm a n n o d e r was er war! Ich h a b e ihm g e s a g t , d a ß ich mehr leistete für den S i e g als er und seine blöden Z i n n s o l d a t e n . U n d er wollte mir e i n r e d e n , meine Kartoffeln und K o h l k ö p p e müßten vor den Deutschen geschützt werden. S c h ö n e r B l ö d s i n n ! « D a v i e s ließ ihn a u s r e d e n . » W a n n ist es a b g e b r o c h e n worden?« fragte er d a n n . » E i n p a a r J a h r e nach K r i e g s e n d e . Vielleicht ' 4 7 o d e r ' 4 8 . « D a v i e s hörte seine Hoffnungen mit e i n e m Seufzer ihr Leben a u s h a u c h e n . »Nicht s p ä t e r ? S a g e n wir . . . 1 9 5 1 ? « » N e i n . Mit Sicherheit nicht. M e i n Vater ist '49 g e s t o r b e n , und da stand es schon nicht mehr. Ich weiß n o c h , wie ärgerlich ich w a r , als d a s H o l z h a u s a b g e r i s s e n w urde, weil ich es für die Geräte und solche S a c h e n benutzt hatte. Im J a h r '49 war es jedenfalls nicht mehr d a , denn d a m a l s h a b e n wir unseren Schuppen gebaut und die R a h m e n für die F r ü h b e e t e . U n d wir h a b e n sie auf dem B e t o n f u n d a m e n t von dem D i n g z u s a m m e n g e k l o p p t . « » S c h a d e « , murmelte D a v i e s . D e r M a n n sah ihn zum ersten Mal ein wenig n e u g i e r i g an. Er schnaufte nachdenklich. » U n d d a s war ' 4 9 « , wiederholte er, »eindeutig.« D a v i e s stand müde auf. Sein Gesicht tat ihm weh. D e r Schmerz ließ ihn z u s a m m e n z u c k e n . » N a g u t « , s a g t e er, » e s war nur so ein Einfall.« » D a s muß ja ein toller Einfall g e w e s e n s e i n, Mr. D a v i e s , wenn Sie d e s h a l b in diesem Z u s t a n d h i e r h e r k o m m e n . « Er warf einen b e s o r g t e n B l i c k auf die P a l m e in der E c k e , die wie ein vorwitziges Kind a u s ihrem Versteck hinter dem Wäschegestell hervorlugte. » S i e sind nicht doch w e g e n etwas a n d e r e m g e k o m m e n ? «
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»Nein, n e i n « , versicherte Davies ihm. » S o n s t war nichts.« Während er auf die H a u s t ü r z u g i n g , fragte er sich, warum ihn der Mann, wenn es im Wohnzimmer gewisse Peinlichkeiten g a b , nicht in die Küche geführt hatte. Vielleicht sah es da noch schlimmer aus. An der Haustür standen sie noch einen Augenblick zusa m m e n . Er spürte die Nachtkälte auf dem Dreieck zwischen A u g e n , Nase und Mund, d a s der Verband freiließ. » A n der Stelle wollte im Garten nichts so recht w a c h s e n « , sagte der M a n n , seinen E r i n n e rungen n a c h h ä n g e n d . » E s war nicht nur der Betonfußboden. Den hätten wir ja vielleicht weggeschafft. A b e r darunter war ja noch ein R a u m , wissen Sie . . . « Der A r m e s p r a n g vor Schreck in die Luft, weil er sich angegriffen wähnte, als D a v i e s ihn mit beiden H ä n d e n packte und » E i n Raum? Unten d r u n t e r ? « brüllte. » L a s s e n Sie mich los!« flehte Mr. Tilth. D a v i e s stellte ihn wieder hin. S e i n e A u g e n glühten in dem zur Hälfte b a n d a g i e r t e n Gesicht. Der Gartenfreund zitterte wie E s p e n l a u b . » J a , eine Art Keller. Es war wohl die K o m m a n d o z e n t r a l e der Heimwehr. Oder ihr Luftschutzraum. Es war eine Falltür d a r ü b e r , ein E i s e n d e c k e l , wie von einem Gulli.« »Und als d a s H o l z h a u s a b g e b r o c h e n wurde, blieb d a s F u n d a ment b e s t e h e n ? U n d der R a u m ist noch d a ? Und die Falltür auch?« »Alles noch d a « , bestätigte der M a n n . Seine Neugier war inzwischen größer als die A n g s t . » W a r u m ? « » L o s « , s a g t e D a v i e s und faßte ihn wie ein Kind bei der H a n d . »Gehen wir.« »Was, jetzt? Mitten in der N a c h t ? « »Genau der richtige Moment. L o s , k o m m e n Sie s c h o n . « » I c h . . . ich muß meinen Mantel anziehen und der F r a u B e scheid s a g e n « , s a g t e Mr. Tilth. Er ging rückwärts hinaus, den Blick auf den vor E i f e r sprühenden D a v i e s geheftet. E i n e F r a u e n stimme rief etwas von o b e n . » I c h hole meinen M a n t e l « , antwortete der M a n n , »ich g e h e a u s . « »Holen sie dich a b ? « fragte die F r a u , als sei es d a s , was sie erwartet hatte. »Halt den M u n d , zum Teufel!« rief Mr. Tilth zurück. »Ich soll der Polizei helfen.«
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» D a s s a g e n sie einem i m m e r « , g a b die F r a u stoisch zurück. Sie kam zwei Treppen von oben herunter, so d a ß D a v i e s ihre dünnen W a d e n in dicken Filzpantoffeln sehen konnte. » D e r Polizei bei der Aufklärung h e l f e n « , höhnte s i e , » s o n e n n e n sie d a s . « » M r . Tilth wird nicht f e s t g e n o m m e n « , rief D a v i e s ihr zu, »er verfügt über wertvolle I n f o r m a t i o n e n , weiter nichts. Wir sind bald zurück.« A l s sie auf die Straße hinaustraten, wurde über ihnen ein Fenster h o c h g e s c h o b e n . » D a s ist nur ein v e r d a m m t e r Trick, M a n n « , schrie s i e , » g i b bloß nichts zu!« » G e h endlich ins B e t t , zum Donnerwetter!« befahl der Gartenfreund. » N a g u t « , rief sie zornig, »bilde dir bloß nicht ein, d a ß ich wieder auf dich warte, bis du aus dem G e f ä n g n i s kommst. S a g nicht, ich hätte dich nicht g e w a r n t ! « » D u m m e G a n s « , kommentierte Mr. Tilth. D a n a c h wurde es still. D e n Weg von ungefähr zehn Minuten durch die leeren Straßen legten sie schweigend zurück. D a v i e s spürte, wie sein M a g e n sich verkrampfte. Er beschleunigte seinen Schritt. Sie überquerten die Hauptstraße und g i n g e n d a n n zum K a n a l hinunter. Es war so dunkel, d a ß sie d a s Wasser nicht sehen konnten, sie rochen es nur und hörten es leise gluckern. Weiter unten sah m a n die Lampe auf der B r ü c k e wie ein Leuchtfeuer auf S e e ; sie warf einen gelben Schein auf die schwarze Wasserfläche, und ihr Licht reichte fast bis zu der H e c k e , die die K l e i n g ä r t e n einfriedigte. »Ich bin froh, daß Sie bei mir s i n d « , s a g t e Mr. Tilth. » D e r Richter hat g e s a g t , wenn ich noch einmal hier erwischt werde, krieg' ich mindestens drei M o n a t e . « Er sah D a v i e s a n , und trotz der Dunkelheit konnte man seinen fragenden Ausdruck erkennen. » E s ist doch echt in O r d n u n g , o d e r ? « » M a c h e n Sie sich keine S o r g e n « , sagte D a v i e s ausweichend. » E s dauert nicht l a n g . « » I c h wünschte, ich wüßte, was wir hier zu suchen h a b e n . « » N a , j e d e n f a l l s nicht R ü b e n oder R o s e n k o h l « , s a g t e Davies. » D i e s m a l nicht.« D e r M a n n zeigte ihm bereitwillig die Stelle, wo m a n am leichtesten durch die H e c k e kriechen konnte, und zwängte sich dann hinterher. D e r Garten lag im Stockdunkeln, ein unwirtlicher Ort, wo m a n s e i n e n a s s e n , kalten F ü ß e bis an die K n i e spürte. Seltsam,
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wie die Stadt und ihre Mens chen sich in Nichts aufgelöst hatten. Als befände man sich inmitten einer Moorlandschaft. D a vies sah sich nach dem hinteren E n d e des Grundstücks um. » E r hat sein Treibhaus drauf g e b a u t « , sagte Mr. Tilth verächtlich. » E i n wackliges altes D i n g . « Davies folgte l a n g s a m dem Gartenpfad. D a s Gewächshaus stand da wie ein g e s t r a n d e t e s Schiff; ein schwaches Licht fiel durch die G l a s w a n d . R u n d u m war der B o d e n lehmig, aber Mr. Tilth scharrte mit der Schuhspitze ein wenig E r d e weg, so daß Davies den B e t o n darunter fühlen konnte. »Wo war der E i n g a n g , die F a l l t ü r ? « flüsterte er. » U n g e f ä h r hier. D a s G l a s h a u s steht d a r ü b e r . « Mr. Tilth öffnete die quietschende Tür, die so altersschwach war wie das Balkengerüst, d a s schon bei der bloßen B e r ü h r u n g zu wackeln begann. »Verdammte B r u c h b u d e « , entrüstete sich der frühere Besitzer. »Total morsch. D a s Holz fault am E n d e einfach d u r c h . « »Ist die Falltür da d r i n n e n ? « fragte Davies ungeduldig. Er hielt die T a s c h e n l a m p e hinein. Sie beleuchtete einen kleinen Urwald von Topfpflanzen. » E i n C h a o s , d a s h a b e ich mir g e d a c h t « , beanstandete Mr. Tilth. » S e h e n S i e nur mal diese F a t s i a , Mr. D a v i e s . E i n e Schande. Hat m a n so etwas schon g e s e h e n ? « Er zog an einem großen Blatt, d a s sich ihm wie eine H a n d entgegenstreckte und sich gehorsam von seinem Stengel löste. Er sah auf den B o d e n . »Holzfußboden. Ich dachte, vielleicht hat er ihn auszementiert, aber das war ihm wohl zu m ü h s a m . « »Ein G l ü c k « , s a g t e D a v i e s . »Wo ist denn nun die F a l l t ü r ? « »Lassen Sie mich mal sehen. Soviel ich mich e r i n n e r e , an der Rückwand.« Er bückte sich mit der T a s c h e n l a m p e . » S o w a s , lauter P e l a r g o n i e n zum Überwintern. Na, die werden den Frühling nicht e r l e b e n . « Er fing a n , einen Weg freizuräumen, indem er die Töpfe lieblos zur Seite schob. E i n paar Saatkisten folgten, dann g a b es einen kurzen K a m p f mit den morschen B o denbrettern. D i e A b r a u m h a l d e wuchs zu stattlicher Höhe. Schließlich richtete M r . Tilth sich auf und s a g t e kurz und bündig: » D a . « Davies fiel fast vornüber, als er in seinem langen Mantel über die Bretter, Kisten und Blumentöpfe kletterte. Mr. Tilth richtete die T a s c h e n l a m p e nach unten. Sie beleuchtete eine
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quadratische rostige Metallplatte von etwa einem Meter L ä n g e , die tief in den B o d e n e i n g e l a s s e n war. D a v i e s befiel eine bange A h n u n g . »Wir brauchen H a c k e und S c h a u f e l « , flüsterte er. » K ö n nen Sie d a s b e s c h a f f e n ? « » I c h müßte d a s Schloß vom Geräteschuppen aufbrechen«, s a g t e M r . Tilth erwartungsfroh. »Dann los.« » G u t . D a u e r t keine Minute. D e r Schuppen ist g e n a u s o morsch. D i e s e r D u m m k o p f kümmert sich um nichts!« Er verschwand, während D a v i e s sich in g e b e t s ä h n l i c h e r Haltung vor dem E i s e n d e c k e l auf die K n i e niederließ. Er beugte sich vor, klopfte mit der Faust d a r a u f und wich d a n n unwillkürlich zurück, als erwarte er, daß j e m a n d öffne. Von d r a u ß e n hörte man d a s G e r ä u s c h von splitterndem Holz und d a n n ein zufriedenes B r u m m e n . M r . Tilth erschien in der Türöffnung mit einem Spaten und einer Spitzhacke. » L a s s e n Sie mich m a c h e n « , schlug er vor, »ich weiß, wie d a s geht. U n d Sie mit Ihrem G e s i c h t . . . « D a v i e s dachte über die L o g i k dieses V o r s c h l a g s nicht weiter nach. Er machte Platz und ließ den M a n n mit der praktischen nächtlichen E r f a h r u n g ans Werk. Auf d e m e n g e n R a u m mußte m a n arbeiten wie ein B e r g m a n n . G a n z e L a d u n g e n steiniger Erde k a m e n h e r a u s g e f l o g e n , während Mr. Tilth die R ä n d e r der Metallplatte freilegte. Schließlich hielt er inne und rief über die Schulter zurück: » D a ist eine Art Metallring an einem E n d e . Wenn wir die Spitze von dem Pickel darin e i n h a k e n , k ö n n e n wir versuchen, ob sie sich a n h e b e n l ä ß t . « Eifrig reichte D a v i e s ihm die Spitzhacke. Er war in Schweiß g e b a d e t , wozu die Treibhausluft, seine dicke K l e i d u n g , die Mullv e r b ä n d e und die A u f r e g u n g g l e i c h e r m a ß e n beitrugen. Mr. Tilth n a h m d a s Werkzeug und versuchte, es anzusetzen, während Davies zwischen seinen B e i n e n hindurch - die einzige p a s s e n d e Öffnung - die Szene beleuchtete. D i e Eisenspitze ließ sich schließlich in den R i n g schieben, und D a v i e s hörte es knirschen, als der Ring sich in seiner Halterung bewegte. » A l s o , jetzt versuchen wir's«, schlug Mr. Tilth vor. »Ich zuerst.« Er legte seinen kleinen, aber muskulösen K ö r p e r kräftig ins Z e u g , a b e r die Platte rührte sich nicht. Er versuchte es noch einmal mit g r ö ß t e r A n s t r e n g u n g , ehe er es a u f g a b . » K l e m m t fest«, keuchte er. » I s t zu l a n g e nicht geöffnet w o r d e n . «
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»Wir versuchen es z u s a m m e n « , schlug D a v i e s vor. Er schaffte sich neben M r . Tilth mühsam Platz, indem er die Töpfe und Kisten noch mehr zur Seite schob. Jetzt waren ihnen nur noch zwei vollbeladene B ä n k e zu beiden Seiten im Wege. Mr. Tilth richtete sich auf und kippte eine davon schwungvoll um, so d a ß eine weitere Lawine von Blumentöpfen sich auf den B o d e n e r g o ß . Davies tat es ihm mit d e r a n d e r e n B a n k nach. »Geschieht dem Macker recht«, murmelte der enteignete Gärtner hocherfreut. Jetzt hatten sie Platz g e n u g , um beide an der H a c k e anzufassen. Die Falltür lag an allen Seiten frei, aber sie war bis tief in die E r d e festgerostet. Die H a c k e steckte mit der Spitze in dem verrosteten Ding. » L o s « , sagte D a v i e s , »versuchen wir e s . « Sie stemmten sich beide g e g e n den Hackenstiel, um die Platte aufzuheben. Nichts rührte sich. Sie ließen los und r a n g e n keuchend nach A t e m ; d a n n probierten sie es von n e u e m , und diesmal bewegte sich etwas. » E i n e n A u g e n b l i c k « , sagte D a v i e s . Sie ruhten sich a u s . » B e i m nächsten Mal kommt s i e . « So war es d a n n auch. Sie fühlten, wie die Platte erzitterte und sich nach oben bewegte. D a v i e s zitterte vor Aufregung kaum weniger. » W e i t e r « , rief er, » h a u ruck!« Plötzlich löste sich der Stiel von der H a c k e . Sie hatten sich g e rade mit ä u ß e r s t e r Kraft d a g e g e n g e s t e m m t , als d a s g e s c h a h , und wurden jetzt heftig zurückgeschleudert. D a v i e s flog mit seinem ganzen, nicht g e r a d e g e r i n g e n Gewicht g e g e n die dünne Wand, Mr. Tilth folgte ihm. D a s morsche Holz bog sich, krachte, barst und splitterte um sie herum, während die Glasscheiben sich wie Gletscher über die Gerümpelhaufen schoben. Mit einem Seufzer fügte sich d a s G e w ä c h s h a u s , o d e r was d a v o n noch übrig war, in den a l l g e m e i n e n Z u s a m m e n b r u c h , neigte sich zur Seite und sank erschöpft auf die E r d e . Es machte dabei so wenig L ä r m , als hätte es diesen M o m e n t seit J a h r e n herbeigesehnt. Es legte sich einfach hin, wobei ein Teil der Glasscheiben zerbrach, die meisten aber nur wegrutschten. D a v i e s und Mr. Tilth fanden sich unter einem Haufen von Wrackteilen wieder. » M e i n lieber M a n n « , sagte Mr. Tilth, was dem C h a o s um sie herum völlig u n a n g e m e s s e n war. » D a s hat ihm verdammt noch mal den R e s t g e g e b e n . « D a v i e s schaufelte sich frei. Er und der Gärtner rappelten sich hoch und b e s a h e n sich den Trümmerhaufen, der an eine Zeppelinkatastrophe erinnerte.
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» L o s , k o m m e n S i e « , s a g t e D a v i e s und hinkte u m d a s Ruinenfeld herum auf die R ü c k s e i t e . Tilth, dem der polizeilich genehmigte R a c h e f e l d z u g offenkundig e i n e n R i e s e n s p a ß machte, wischte sich den S t a u b aus den A u g e n und k a m hinterher. » O h , gut!« s a g t e D a v i e s . Mr. Tilth folgte s e i n e m B l i c k . Da die Hütte in die e n t g e g e n g e s e t z t e Richtung gestürzt war, lag die Metallplatte fast frei. Sie mußten nur mit den Schuhen ein p a a r Holz- und Glassplitter zur Seite schieben, damit sie so offen da lag wie zuvor. » H o l e n Sie bitte die H a c k e « , s a g t e D a v i e s wie in einem Traum. » D i e H a c k e nützt uns nichts mehr. D e r M a n n sorgt nicht mal für a n s t ä n d i g e s Werkzeug. Macht nichts, wir h a b e n sie ja gelokkert. Was wir jetzt brauchen, ist ein bißchen D r a h t . Da hängt einer a u ß e n am Schuppen. Warten Sie einen M o m e n t , Mr. Davies, nur einen M o m e n t . « D a s D r a h t s e i l , mit dem er gleich d a r a u f zurückkam, war dick und stark. Sie befestigten es an dem R i n g und b e g a n n e n dann, d a r a n zu z e r r e n , wie eine R i e g e beim Tauziehen. Sie merkten, wie d a s E i s e n verrutschte, knirschte, sich wieder bewegte. Noch einmal ein kräftiger R u c k , d a n n hörten sie, wie die g a n z e Platte zur Seite glitt. Vor ihnen im Dunkeln war ein L o c h . » W a s j e t z t ? « fragte Mr. Tilth. Er s a h mit E r s t a u n e n , daß D a v i e s auf einmal stocksteif dastand, als könne er sich nicht zum nächsten Schritt entschließen. » J a , was j e t z t ? « s a g t e er, und die Stimme zitterte ihm bei den wenigen Worten. Sie hatten die T a s c h e n l a m p e auf den B o d e n gelegt; nun griff er d a n a c h und ging auf d a s schwarze Loch in der E r d e zu, d a s sie geöffnet hatten. Mr. Tilth trat verwirrt zurück wie j e m a n d , der Z e u g e e i n e s ihm u n b e k a n n t e n geheimnisvollen Rituals wird. D a v i e s stand am R a n d e der Grube und sah hinunter, ohne mit der L a m p e hineinzuleuchten. D a n n tat er e s . D a s Licht glänzte weißlich auf den K n o c h e n . E i n a r m e s , verlassenes Häufchen kalter feuchter K n o c h e n . D a v i e s kniete nieder und sah g e n a u e r hin. Die L a m p e zitterte in seiner Hand. Er fühlte, wie eine g r o ß e Traurigkeit ihm die K e h l e zuschnürte. Tränen Schossen ihm in die A u g e n . » O h C e l i a « , flüsterte er, »was für eine G e m e i n h e i t . «
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Kapitel 18
A
m nächsten M o r g e n blieb die Stationsschwester an seinem Bett stehen und s a g t e : » N a a l s o , Sie sehen viel besser aus als gestern. W a s eine Nacht voll Schlaf doch ausmacht!« Er zog die A u g e n b r a u e n so hoch es g i n g ; immerhin war er nicht vor drei U h r m o r g e n s ins Bett g e k o m m e n . Sie konnte von seinem Gesicht nur d a s kleine Dreieck zwischen A u g e n und Kinn sehen, was eigentlich zu wenig ist, um festzustellen, d a ß jemand besser aussieht. Er hielt es für eine der üblichen Krankenhausfreundlichkeiten. Nichtsdestoweniger s a g t e der Arzt, der ihn zwei Stunden später untersuchte, er dürfe nach H a u s e und müsse nur jeden T a g zum Verbandswechsel zur A m b u l a n z k o m m e n . Davies verabschiedete sich nur zu g e r n . Mod s a ß in der Stadtbücherei - wie üblich in der hintersten Ecke des L e s e s a a l s - wie ein Erzbischof inmitten seiner B ü c h e r . Von weitem schon, während er noch die E i n g a n g s h a l l e durchquerte und d e m Heimwehrfoto an der Wand d a n k b a r zulächelte, sah D a v i e s , wie eine j u n g e Bibliothekarin Mod eine T a s s e Kaffee an seinen Platz brachte. Im V o r b e i g e h e n z o g er die mißbilligenden Blicke der B ü c h e r e i angestellten und der wenigen L e s e r auf sich; Menschen mit einem Kopfverband waren hier anscheinend unerwünscht. M o d sah ihn kommen und lächelte ihm gratulierend zu. »Geht's dir b e s s e r , mein S o h n ? « flüsterte er und trank seinen Kaffee, o h n e d a s offene B u c h beiseite zu schieben. » S c h ö n , daß du wieder d r a u ß e n bist.« Davies setzte sich und starrte durch den Sehschlitz in seinem Mullverband. » I c h h a b e sie g e f u n d e n « , sagte er. »Ich meine die Leiche.« Der Kaffee schwappte über den T a s s e n r a n d auf die B u c h s e i t e . Schuldbewußt wischte M o d hastig mit dem Ärmel darüber. »Wo?« fragte er.
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D a v i e s berichtete ihm, wie und wo sich alles ereignet hatte. » I c h erinnerte mich an d a s F o t o von der Heimwehr draußen im E i n g a n g . D a r a u f ist d a s H o l z h a u s zu s e h e n , d a s unten am Kanal stand. Es ist längst a b g e b r o c h e n , aber es hatte eine Art Kellerr a u m , einen betonierten U n t e r s t a n d . Da hat er sie versteckt. Tief unten.« M o d s B ü c h e r e i g e f l ü s t e r zischte über den Tisch: » W a s hast du mit ihr g e m a c h t ? « » D a g e l a s s e n « , s a g t e D a v i e s einfach. » I c h habe die Deckplatte wieder d r ü b e r g e l e g t und sie dort g e l a s s e n . D e m Gartenfan, dem Mr. Tilth, h a b e ich g e s a g t , wenn er ein Sterbenswörtchen verlauten läßt, kläre ich die Herkunft der Z i m m e r p a l m e in seinem W o h n r a u m auf. D a s hat ihm A n g s t g e m a c h t . D e r wird schweigen wie ein G r a b . « » U n d du willst nichts u n t e r n e h m e n ? K e i n e A n z e i g e m a c h e n ? « D a v i e s schüttelte den Kopf, was für ihn immer noch eine schmerzliche Geste war. » I c h will es riskieren, M o d « , sagte er. » I c h h a b e s i e , a b e r i h n h a b ' ich noch nicht.« » E s sieht mehr und mehr nach u n s e r e m F r e u n d und Helfer Police Constable D u d l e y a u s « , murmelte M o d . » U n d der ist tot, den kannst du nicht mehr f e s t n a g e l n . « Er strich über die kaffeefeuchten Seiten seines B u c h e s und klappte es zu. »Mit diesem E x e m p l a r hier beschäftigt sich in den nächsten J a h r e n sowieso keiner. U n d d a n a c h ist es nicht mehr wichtig, o d e r ? « » K l i n g t wie gemünzt auf u n s e r e n F a l l « , s a g t e D a v i e s . » M o d , ich weiß nicht, was ich als nächstes tun s o l l . « » M a n sollte doch d e n k e n , sie hätten solche Stellen wie diesen unterirdischen R a u m kontrolliert, als die Suche nach dem Mädchen lief«, s a g t e M o d nachdenklich. »Mit S p ü r h u n d e n zum Beispiel. Z e i g e n sie immer im F e r n s e h e n . « D a v i e s s a g t e : » N a j a , a m A n f a n g , ungefähr einen M o n a t lang, hat keiner ihr Verschwinden richtig ernst g e n o m m e n . Schließlich war sie 1 7 , kein kleines Kind mehr, und sie war auch früher schon mal w e g g e l a u f e n , v e r g i ß d a s nicht. Es wurden zwar Nachfors c h u n g e n angestellt, aber nicht b e s o n d e r s gründlich. Vielleicht hat ja P. C. D u d l e y dafür g e s o r g t , d a ß g e r a d e er selbst die Suche in diesem U m k r e i s durchführen k o n n t e ; d a s wäre nicht weiter schwierig g e w e s e n . Ü b e r l e g e mal, zu Mr. Whethers k a m s o g a r ein Polizist ins H a u s , aber a n d e r e r s e i t s hat nie j e m a n d , soweit wir wissen, seine A u s s a g e zu Protokoll g e n o m m e n o d e r sich um das
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gekümmert, was d e r a n d e r e Alte, Mr. H a r k n e s s , g e s e h e n hatte oder g l a u b t e , g e s e h e n zu h a b e n . War dieser Polizist etwa wieder P . C . D u d l e y ? Es ist doch s o , Mr. Whethers hat sich nicht von sich a u s g e m e l d e t . D e r Polizist kam aus e i g e n e m Antrieb aufgrund der Gerüchte, die in der G e g e n d verbreitet w u r d e n . « »Vielleicht wollte n i e m a n d im Polizeirevier, daß gewisse Tatsachen a n s Licht k a m e n . « D a v i e s s a h ihn ruhig an. » J a « , sagte e r l a n g s a m , » d a r a n habe ich nicht g e d a c h t . D a s könnte s e i n . « »Nach L a g e der D i n g e war es doch so - die halbe Mannschaft war an dem A b e n d sinnlos betrunken. Von den zwei M a n n , die im Dienst sein sollten, hatte der eine alle H ä n d e voll damit zu tun, eine W a h r s a g e r i n zu b e g l ü c k e n , und der a n d e r e war mit Vergewaltigung und Mord beschäftigt. Die L o n d o n e r Polizei bietet Ihnen eine aussichtsreiche K a r r i e r e . « D a v i e s machte ein mürrisches Gesicht. » S c h o n gut, schon gut. Da ist ziemlich viel w e n n und a b e r d a b e i . « Nach einer Pause fragte er: » H a s t du vielleicht schon dein Stempelgeld bekommen?« » S o z i a l h i l f e « , berichtigte Mod. »Nein. B e k o m m e ich morgen.« » D a c h t e ich mir. Ich h a b ' mit dem G e d a n k e n gespielt, dir vorzuschlagen, d a ß wir was trinken g e h e n . « » I c h begleite d i c h « , sagte Mod und klappte seine B ü c h e r zu. » U n d , falls du mir ein bißchen was pumpen kannst, werde ich mir die E h r e g e b e n , dich einzuladen. Ich zahle es dir m o r g e n zurück.« Er warf einen skeptischen B l i c k auf D a v i e s ' Gesicht. »Ich k a n n mir nicht vorstellen, wie du ein B i e r g l a s durch die kleine L u k e in deinem Verband bugsieren willst.« » D a n n muß ich eben ein paar Kurze t r i n k e n « , erwiderte D a vies. Er wartete, bis M o d seine B ü c h e r an ihren Platz zurückgebracht hatte. »Weißt du, es gibt schon E r s t a u n l i c h e s « , sagte Mod, während sie h i n a u s g i n g e n . » D i e Zeit von 3000 bis 500 vor Christus, d a s sind 2 5 0 0 J a h r e , war eine Periode von fast ununterbrochenem F r i e d e n und Fortschritt in B r i t a n n i e n . « » F r e u t mich zu h ö r e n « , s a g t e D a v i e s trocken. » D e r Grund war die T a t s a c h e , d a ß alle alles hatten, was sie brauchten. Es g a b nur ein paar S t ä m m e , aber viel L a n d für ihre Bedürfnisse und viel R a u m für die fremden E r o b e r e r . Es wird auch behauptet, d a ß die L e u t e aufhörten, die Kriegsgötter zu
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v e r e h r e n , für die sich nur die M ä n n e r interessiert hatten, und sich den Fruchtbarkeitskulten zuwandten, a l s o den Göttern der Frauenbewegung.« » U n d ich wette, die Polizei war korrupt«, meinte D a v i e s . Im V o r b e i g e h e n strich er zärtlich über d a s Heimwehrfoto an der Wand. M o d nickte weise dazu. » W a s hast du als nächstes v o r ? « fragte er. » N u n , auf j e d e n Fall möchte ich d a s a l l e s , o d e r fast a l l e s , Josie berichten.« » F a s t a l l e s ? Du erzählst ihr nicht, d a ß du die L e i c h e gefunden hast?« » N e i n , d a s s a g e ich ihr nicht.« Sie g i n g e n die d u n k l e , v e r l a s s e n e Straße hinunter. Es war halb zwölf, und nur die Katzen waren in der Stadt unterwegs. Einmal mehr schienen im U m k r e i s von Kilometern die M e n s c h e n nach H a u s e g e g a n g e n zu sein und ihre Türen vor der Nacht verschlossen zu h a b e n . D i e B ü r g e r l a g e n in ihren B e t t e n . Die Stadt überließen sie der Dunkelheit. J o s i e s A b s ä t z e klapperten rhythmisch auf dem gepflasterten B ü r g e r s t e i g , während D a v i e s ' g r o ß e Schritte im R i n n s t e i n nur gedämpft zu hören waren. Er g i n g dort unten, um ihrer beider Kopfhöhe halbwegs in E i n k l a n g zu b r i n g e n , obwohl er trotz dieser M a ß n a h m e noch zu ihr hinuntersehen mußte. Sein Mantel hing ihm weit wie ein Zelt von den Schultern, während sie klein und handlich wie ein gut geschnürtes B ü n d e l war. Sie g i n g e n n e b e n e i n a n d e r , o h n e zu sprechen o d e r sich zu berühren. Er hatte ihr nicht g e s a g t , d a ß er die Ü b e r r e s t e ihrer Schwester gefunden hatte. K u r z vor ihrem H a u s g a b es einen der zahllosen F u ß w e g e , Abkürzungen, Durchschlupfe und P l a n u n g s k o m p r o m i s s e , die die Straßen in diesem Stadtteil miteinander v e r b a n d e n . An dieser Stelle a n g e k o m m e n , faßte sie seine g r o ß e H a n d und zog ihn mit sich in den Schatten. Sie lehnte sich mit dem R ü c k e n an ein Zaungitter. Er stand wie üblich v e r l e g e n vor ihr, s a h sie an und berührte sie, indem er seine H ä n d e g a n z leicht um ihre Taille legte. Sie s a h ihn enttäuscht a n . » O h , D a n g e r o u s « , s a g t e s i e , » d u benimmst dich n i e m a l s wie ein Teenager.«
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»Ich habe mich nicht einmal wie ein T e e n a g e r b e n o m m e n , als ich einer w a r « , g e s t a n d er verschämt. » U n d jetzt bin ich viel zu alt, um vor einem Z a u n zu s c h m u s e n . « » M e i n G o t t « , seufzte s i e , » d u stehst da wie eine Schaufensterpuppe von Woolworth. P r o b i e r ' s mal mit K ü s s e n . Nun mach schon.« Er beugte sich leicht vor, und sie hob ihr Gesicht, um ihn zu küssen. M a n hatte ihm ein wenig mehr von dem Verband a b g e nommen, so d a ß sein Gesicht freigelegt worden war, wenn er auch immer noch einem M a n n glich, der a u s dem Fenster schaut. B e i m K ü s s e n schmiegte sie ihre dünne Gestalt dicht an ihn und knöpfte seinen Mantel auf. Er schlug ihn schützend um sie. Sie hatten an dem A b e n d eine halbe Stunde damit verbracht, seine Notizen auf dem von Minnie B a n k s gestifteten Schulpapier durchzusehen. »Ich bin froh, d a ß du mir alles g e s a g t hast. Über Celia. D a s heißt«, fügte sie hinzu, »wenn es alles w a r . « » E s sind noch weitere Untersuchungen n ö t i g « , sagte er und schaute auf ihren dunklen H a a r s c h o p f hinab. »Weitere U n t e r s u c h u n g e n « , lachte sie leise. » D u redest wie ein Polizist. Du kannst wohl nicht a n d e r s . « D a n n sagte sie: »Erinnerst du dich, d a m a l s am S t a u s e e hast du g e s a g t , du heißt eigentlich P e r c i v a l . D a s stimmt nicht, o d e r ? « » D a s war g e l o g e n « , s a g t e er. » I c h heiße P e r e g r i n e . « »Ach M a n n , hör a u f « , seufzte sie. Es entstand ein l a n g e s friedliches Schweigen unter dem Mantel. D a n n s a g t e s i e : » D a n g e r o u s , ich muß dir etwas s a g e n . « Er lachte leise und strich über d a s weiche H a a r . » W a s d e n n ? « »Ich habe etwas entdeckt.« »Nämlich?« »Mein Vater weiß tatsächlich, wo R a m s c a r ist.« Er schob sie von sich und versuchte, von ihrem Gesicht mehr als den hellen U m r i ß zu e r k e n n e n . » W o ist e r ? « »Ich h a b e g e s a g t , er weiß e s , nicht ich. Ich wollte es dir eigentlich nicht s a g e n . A b e r jetzt denke ich, du solltest es vielleicht e r f a h r e n . « »Was hat er dir g e s a g t ? « »Ich h a b e dir noch nicht erzählt, daß er gestern im K r a n k e n haus einen Herzanfall hatte. E i n e F o l g e der Aufregung bei dem Überfall. Nicht sehr schlimm, aber doch s o , daß er zu Tode er-
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schrocken ist. Er glaubt, d a ß er den nächsten nicht überleben wird. Ich h a b e ihn vorhin besucht, da war er völlig aufgelöst. Er war in d e r V e r f a s s u n g , alles zu beichten. Er b e g a n n mit diesem >Mein liebstes Kind<-Schmus.« Sie lachte bitter auf. » U n d das nach all diesen J a h r e n . « Sie hob die A u g e n bis in die Höhe von s e i n e m K i n n . » R a m s c a r führt etwas im S c h i l d e , eine g r o ß e Sache, meint mein Alter. U n d d a s schon b a l d . « » W a s für eine S a c h e ? « » W e i ß ich nicht. D e r Alte weiß es auch nicht. A b e r ich glaube, er hat eine A h n u n g , wo R a m s c a r sich versteckt hält. Deswegen fühlt er sich im K r a n k e n h a u s auch s i c h e r e r . « » D a m i t hat er wahrscheinlich recht«, nickte D a v i e s . Er sah ihr ins Gesicht. » K a n n s t du den Ort für mich h e r a u s f i n d e n ? « Sie antwortete nicht gleich, s o n d e r n v e r k r o c h sich tiefer in seinen M a n t e l . » I c h ü b e r l e g e es m i r « , s a g t e sie nach einer Weile, » a b e r ich k a n n nichts v e r s p r e c h e n . « » W e n n wir wissen, wo er steckt, k ö n n e n wir die g a n z e Sache a u f k l ä r e n « , s a g t e D a v i e s . » W e n n wir ihn k r i e g e n . « » M ö c h t e s t du nicht deine H ä n d e einen A u g e n b l i c k in meinen Ausschnitt stecken, D a n g e r o u s ? Wenn ich die Knöpfe aufmache?« Wie immer traf ihn der plötzliche Wechsel des Gesprächsthem a s unvorbereitet, und ihm fiel keine Antwort ein. S i e knöpfte trotzdem ihr Kleid l a n g s a m auf und n a h m seine H ä n d e und schob sie hinein; er konnte ihre kleinen B r ü s t e unter etwas Gestricktem fühlen. Er beugte sich vor und küßte ihr Gesicht. » W a s hast du unter dem Kleid a n ? « fragte er. » E i n U n t e r h e m d « , antwortete sie. » M e i n e Mutter besteht bei diesem Wetter auf einem wollenen H e m d . Jetzt ist sie in Luton, a b e r ich ziehe es trotzdem a n ; versprochen ist versprochen. Sie hat es selbst gestrickt, s u p e r l a n g . Es reicht mir fast bis zu den K n i e n , D a n g e r o u s . Hier, los, zieh mal d r a n . « Er mußte lachen und tat ihr den Gefallen. Er zog mit beiden H ä n d e n an dem Hemd - und zog und z o g , während immer mehr d a v o n hervorquoll. Josie kicherte. » I c h h a b ' s ja g e s a g t , du kannst es meterweise aufrollen, wie einen Stoffballen.« E n d l i c h war d a s Objekt hochgehievt und unter dem Kleid um ihre Taille z u s a m m e n g e s c h o b e n , was ihr eine seltsame Figur verlieh. Sie lachte und bewegte sich wie eine B a u c h t ä n z e r i n , bis es wieder in die Tiefe gerutscht und an ihren K n i e n hängengeblieben
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war. D a v i e s drückte sie an sich. »Willst du nicht mit ins H a u s k o m m e n ? « fragte s i e . » E s ist keiner d a . « »Ich dachte, du wohnst so l a n g e bei den N a c h b a r n « , sagte er besorgt. » D u hältst dich hoffentlich nicht allein in dem H a u s a u f . « »Tue ich n i c h t « , versicherte sie. » I c h wohne bei den Fieldings zwei H ä u s e r weiter. A b e r ich habe den S c h l ü s s e l . « » D u brauchst mehr S c h l a f « , s a g t e er sanft. Er legte die A r m e beschützend um s i e . » W e n n d a s alles vorbei ist, nehme ich mir Urlaub.« »Nimmst du mich m i t ? « »Wenn du möchtest. Ich war mal als Kind in Stoke-on-Trent. Da wollte ich immer noch einmal h i n . « »Klingt t r a u m h a f t « , s a g t e sie. » I c h habe noch eine Woche Urlaub übrig. Stoke-on-Trent!« »Du gehst jetzt b e s s e r « , s a g t e er. Sie küßten sich l a n g e , und er half ihr, d a s seltsame U n t e r g e w a n d wieder an seinen Platz zu stopfen. D a n n g i n g e n sie die Straße entlang zu dem H a u s , in dem man sie a u f g e n o m m e n hatte. Er sagte »Gute Nacht«, und sie ging hinein. Er war nur ein p a a r Schritte g e g a n g e n , als die Tür sich wieder öffnete und J o s i e h e r a u s k a m . » D a n g e r o u s « , rief sie. Ihre Stimme k l a n g a n d e r s als sonst. » D a s K r a n k e n h a u s hat angerufen. Er hat wieder einen Herzanfall gehabt. Ich muß gleich h i n . « Er wartete in dem ihm so schmerzhaft vertrauten K r a n k e n h a u s bis zwei Uhr. D e r Warteraum war kalt und trostlos. A l s sie hereinkam, sah er, d a ß ihre A u g e n vom Weinen g r a u verschmiert waren. » A b g e d a m p f t « , s a g t e s i e . » S e c h s Minuten nach e i n s . « Er hatte sich oft gewundert, d a ß man ausgerechnet d a s Geburtsgewicht und die Sterbezeit eines M e n s c h e n so g e n a u registrierte. Warum nicht die Geburtszeit und d a s Sterbegewicht? » E s tut mir leid. J o s i e « , s a g t e er und zog sie liebevoll an sich. » E r hat mich mit Celia verwechselt«, sagte sie achselzuckend. Er telefonierte nach einem Taxi, und bis dieses eintraf, s a ß e n sie nebeneinander im Wartezimmer. Sie sprachen nicht viel, weder dort noch im Taxi, d a s sie zum H a u s ihrer Nachbarn brachte. Als sie a u s g e s t i e g e n war und j e m a n d schon von innen die Tür des Hauses öffnete, küßte sie ihn ungeschickt auf die W a n g e . » R a m s car ist auf einem B a u e r n h o f n a m e n s B r a c k e n F a r m « , s a g t e s i e , »Richtung U x b r i d g e . «
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D e r Ort lag etwa 15 Kilometer entfernt in der R e g i o n zwischen Stadt und L a n d , einer G e g e n d mit Schweinefarmen und Schrottplätzen zwischen kleinen, schlecht bestellten F e l d e r n und übrigg e b l i e b e n e n H e c k e n r e i h e n . D a v i e s holte sich den L a g o n d a und fuhr in den bitterkalten Stunden kurz nach Mitternacht hinaus. Kitty knurrte zuerst entrüstet vor sich hin; er n a h m es wohl übel, zu dieser Stunde geweckt worden zu sein, v e r s a n k d a n n aber wied e r in s e i n e n asthmatischen Schlummer unter dem Segeltuch. Davies s a g t e keiner M e n s c h e n s e e l e , w a s er vorhatte. Die Idee kam ihm g a r nicht erst. Er wollte allein auf seine R e c h n u n g kommen. Um nicht bei der Polizei a n f r a g e n zu m ü s s e n , hatte er die Feuerwehr von Uxbridge angerufen und erfahren, wo sich die B r a k ken F a r m befand - am E n d e eines schmalen W e g e s , der von der L a n d s t r a ß e nach Oxford abzweigte. Er fuhr d a s letzte Stück ohne Licht und steuerte den L a g o n d a vorsichtig zwischen Abfallhaufen, A u t o w r a c k s und a n d e r e m Stadtrandmüll hindurch. A l s er in der Nähe eines Z i g e u n e r l a g e r s v o r b e i k a m , schlugen die Hunde a n . Er fluchte leise. Vor sich konnte er Lichter s e h e n , ein hochgel e g e n e s erleuchtetes F e n s t e r sah a u s wie ein Wachtturm. Er stellte den W a g e n bei einem Gatter ab und schlich zu F u ß weiter. Alles um ihn her roch nach M o d e r . Schlüpfriger Lehm schmatzte unter seinen S o h l e n . A u f dem Hofplatz waren zwei g r o ß e A u t o s g e p a r k t . D a s H a u s wirkte s o g a r im D u n k e l n stattlich, a b e r v e r n a c h l ä s s i g t . A u ß e r dem h o c h g e l e g e n e n A u s g u c k waren zwei F e n s t e r im E r d g e s c h o ß hinter roten V o r h ä n g e n hell erleuchtet. Er schlich in den Hof und faßte prüfend die Kühlerhaube des einen Autos a n . Sie war e b e n s o wie die der anderen noch warm. Er nahm sich vor, an eines d e r F e n s t e r z u g e l a n g e n , vermutete a b e r , d a ß d a s H a u s von a u ß e n bewacht wurde. Tatsächlich k a m j e m a n d um die H a u s e c k e , w ä h r e n d D a v i e s sich noch im Schatten der Autos befand. D e r M a n n zündete sich eine Zigarette an und schimpfte vor sich hin. D a v i e s ließ sich auf alle viere nieder und kroch zu einer Türe hin, hinter der er ein ländliches Klosett vermutete. Es war aber ein K o h l e n s c h u p p e n . S e i n e Aug e n hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er konnte einen Kohlenhaufen auf dem B o d e n e r k e n n e n und eine H a n d s c h a u f e l an der Wand. Jetzt hörte man die Schritte des M a n n e s n ä h e r k o m m e n und an der offenen Tür des Schuppens v o r b e i g e h e n . D a v i e s n a h m die Schaufel zur H a n d . E s war eine g a n z n o r m a l e K o h l e n s c h i p p e , ge-
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schmiedet a u s e i n e m einzigen Stück B l e c h , das für den Griff zu einer kurzen R ö h r e z u s a m m e n g e b o g e n war. D a v i e s schob diese R ö h r e g l e i c h s a m vor sich her, als er sein Versteck verließ. D e r Mann stand nur etwa vier Schritte entfernt, rauchte und starrte in die wesenlose schwarze Nacht. D a v i e s war mit einem Sprung hinter ihm und drückte ihm den Schaufelstiel ins K r e u z . D e r M a n n erstarrte, trotzdem fühlte er den Druck der R ö h r e nur zu gut. »Wirf deine K n a r r e h i n « , sagte D a v i e s , »hinter dich.« Der Mann langte achselzuckend in seine Tasche und ließ seinen R e v o l ver auf D a v i e s ' g r o ß e n Z e h fallen. D a v i e s bückte sich und hob ihn auf. »Gut s o , jetzt g e h e n wir zusammen ins H a u s . « Nun fand der M a n n die Sprache wieder. » M e n s c h , die ganze B a n d e ist da d r i n « , flüsterte er, als stehe er auf D a v i e s ' Seite. »Wenn's eine Schießerei gibt, ich will nichts a b k r i e g e n . Ich h a b ' mit der g a n z e n S a c h e nichts zu tun.« »Wie viele sind e s ? « »Sieben.« » E s stehen H u n d e r t e um d a s H a u s herum bereit. Du gehst vor. Marsch.« Sie legten den schmalen Weg durch den Vorgarten hintereinander zurück wie P a r t n e r bei einem Hochseilakt. U n g e f ä h r fünf Meter vor der Haustür stand eine leere Mülltonne, was Davies mit grimmiger F r e u d e bemerkte. Er befahl seinem G e f a n g e n e n flüsternd, stehen zu bleiben. » I c h muß dich jetzt ein bißchen hart anfassen, mein S o h n « , s a g t e er. » A b e r merk dir, wenn du irgendwas versuchst o d e r K r a c h schlägst, wirst du e r s c h o s s e n , ist d a s klar?« »Alles k l a r « , nickte der M a n n . Davies bückte sich und stülpte ihm die Mülltonne so rücksichtsvoll wie möglich über Kopf und Schultern. Der M a n n zuckte zusammen und stolperte kurz, fing sich dann aber wieder und stand still wie ein Roboter des B ö s e n . Davies schob ihn mit der Kohlenschaufel vor sich her. Er hatte zwar den Revolver, aber möglicherweise war dieser nicht g e l a d e n , und der M a n n wußte das. Sie steuerten zusammen auf die Haustür zu. Es war eine s c h ö n e alte, breite Türe. D a v i e s stellte zufrieden fest, daß sein M ü l l e i m e r g e f a n g e n e r ohne Probleme hindurchpaßte. Er drehte an dem Messingknauf, drückte die Tür auf und schubste den M a n n hinein. » H i e r kommt die Müllabfuhr«, rief er, »wer sich bewegt, krepiert auf der Stelle!«
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E i n e Gruppe von M ä n n e r n saß um einen runden Tisch und aß Fisch und Fritten. Sie hoben die Köpfe und stierten ihn an. Er e r k a n n t e R a m s c a r auf den ersten B l i c k . » S i e such' ich, R a m s c a r « , s a g t e er. » S c h e i ß e « , s a g t e R a m s c a r und spuckte ein Kartoffelstück aus. E i n kleiner, dunkelhäutiger M a n n , der ihm am Tisch am nächsten s a ß , sprang plötzlich auf und stürzte sich mit wildem Geheul auf D a v i e s . D i e s e r schlug ihm zwar die Kohlenschaufel über den Kopf, aber jetzt war der B a n n gebrochen. Sie kamen wie die Rugbyspieler angestürmt und fielen von allen Seiten über ihn her. Er merkte, daß er schwankte. Schüsse fielen, ein brennender Schmerz zuckte in seinen B e i n e n , dann waren da Lichter, die aber irgendwie nichts mit dem Feuerwerk zu tun hatten, das in seinem Schädel explodierte. J e m a n d rief: » H a u t a b , die B u l l e n sind d a ! « B e v o r er in den nun schon vertrauten Z u s t a n d der Bewußtlosigkeit v e r s a n k , s a h D a v i e s noch d a s Gesicht eines ihm unbekannten Polizeioffiziers über sich. » G e r a d e zur rechten Z e i t « , D a v i e s versuchte zu lächeln, » a l l e s in O r d n u n g ? « » A l l e s o k a y « , brummte der Inspector, » n u r , der K e r l , dem Sie mit der Schaufel eins ü b e r g e z o g e n h a b e n , ist ausgerechnet ein Botschafter aus S ü d a m e r i k a . « A l s D a v i e s im Rollstuhl auf der R e v i e r w a c h e auftauchte, blätterte der S e r g e a n t vom Dienst g e r a d e z u s a m m e n mit dem Lokalreporter im Tagesbulletin. Venus, die auf dem Weg zu ihrem A b e n d r u n d g a n g war, und die Putzfrau hatten ihm geholfen, den Rollstuhl die Stufen hinaufzutransportieren. » H i e r haben wir etwas I n t e r e s s a n t e s « , s a g t e der Sergeant. » D i e b s t a h l einer wertvollen Z w e r g p a l m e aus dem Botanischen Garten in Kew. Alle Polizeiwachen w e r d e n . . . « An dieser Stelle bemerkte er D a v i e s und kam hinter der T h e k e h e r v o r , um ihm die H a n d zu schütteln. » S c h ö n , daß es dir gutgeht, D a n g e r o u s . Der Alte ist o b e n . Ich helfe dir in den A u f z u g . « D e r S e r g e a n t und der R e p o r t e r bugsierten ihn in den Lift. Oben a n g e k o m m e n , klopfte er mit der Fußspitze an Inspector Y a r d b i r d s Türe und wurde nach der üblichen Wartezeit aufgefordert einzutreten. Er manövrierte den Rollstuhl durch die Tür. Im K r a n k e n h a u s hatten sie ihm einen neuen Kopfverband verpaßt und sein rechtes B e i n und den linken F u ß in Gips g e l e g t . An den Prellungen
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konnte m a n nicht viel m a c h e n , a u ß e r abzuwarten und sie heilen zu l a s s e n . D i e Schwestern hatten ihm zum Scherz eine J a h r e s karte für d a s K r a n k e n h a u s geschenkt. Y a r d b i r d blickte vom Schreibtisch auf. » A h , sehr schön. Ich finde, d a s h a b e n wir gut g e m a c h t , D a v i e s « , s a g t e er. D a v i e s bewegte vorsichtig den Kopf. » J a , Sir, d a s haben wir.« » N u n . . . nun, den R a m s c a r haben wir, und das war von Anfang an d a s Ziel meiner P l a n u n g , wie Sie sich sicher erinnern, Davies. D a r a u f k ö n n e n wir stolz sein. A n d e r e r s e i t s , einem ausländischen D i p l o m a t e n mit einer Kohlenschaufel auf den Kopf zu schlagen, war ja wohl eine sehr ungeeignete M a ß n a h m e . « » E s tut mir l e i d . « D a v i e s hob die Schultern. Schon die kleinste B e w e g u n g schmerzte. » I c h wußte nicht, wer das war. Ich dachte, er g e h ö r e zu der B a n d e . Niemand hat mir etwas g e s a g t . « »Wir konnten doch nicht Hinz und Kunz informieren, D a v i e s . « Yardbird g ä h n t e . » E s wäre ja sofort überall herumgetratscht worden. Wir wußten, d a ß R a m s c a r sich nur d e s h a l b ruhig verhielt, weil er ein dickes Ding drehen wollte, dicker als alles a n d e r e bisher. Wir wußten, er hatte sich auf etwas e i n g e l a s s e n , das wir A u s l a n d s i n t e r e s s e n n e n n e n , verstehen S i e ? « »Jawohl. Verstehe.« » S i e hatten sich jedenfalls entschlossen, ein hohes Tier aus Amerika auf dem Weg zum Flughafen zu kidnappen. D a s heißt, die B a n d e hat ihn natürlich tatsächlich entführt, und wir haben sie glücklicherweise f e s t g e n o m m e n . « » J a , in der Tat, d a s haben wir«, sagte D a v i e s . »Wie ich schon s a g t e , ein Pluspunkt für unsre A b t e i l u n g . « » J a , Sir, d a s sagten S i e . « »Ich habe Sie nur dazu bringen müssen, sich richtig auf den J o b zu konzentrieren, d a s hat d a n n Wunder gewirkt, nicht wahr, D a vies? D e n R a m s c a r haben wir.« Jetzt erst kam Yardbird hinter seinem Schreibtisch hervor. Er trat g e g e n eins der R ä d e r des Rollstuhls, wie um sicherzustellen, d a ß er in O r d n u n g war. » N a gut, wie g e s a g t , all d a s ist für Sie eine wertvolle E r f a h r u n g . « » S e h r wertvoll«, stimmte D a v i e s zu. »Wie l a n g e wird es d a u e r n ? « Er taxierte D a v i e s ' B l e s s u r e n mit einem v a g e n B l i c k . » 1 4 T a g e vielleicht?« »Zwei M o n a t e , s a g e n die Ärzte. Und dann noch eine Übergangszeit, bis ich meine B e i n e wieder richtig gebrauchen kann. Vielleicht g e h e ich nach Stoke-on-Trent.«
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»Wie schön für S i e « , murmelte Y a r d b i r d a b w e s e n d . » I n der Zwischenzeit sollten Sie sich G e d a n k e n darüber m a c h e n , wer die Messingbettstelle a u s Ihrer Unterkunft g e s t o h l e n hat. U n d den antiken K l e i d e r s t ä n d e r . Ihre Wirtin, diese . . . wie heißt sie gleich, Mrs. Brownjohn?« »Mrs. Fulljames.« » J a , richtig. E i n e b l ö d e , alte K u h . Hat mich beim D i n n e r der H a n d e l s k a m m e r a b g e f a n g e n und v e r l a n g t , d a ß endlich etwas g e schieht. Es sieht tatsächlich nicht allzu gut a u s , wenn einer unserer M ä n n e r direkt am Tatort wohnt und trotzdem die Aufklärung auf sich warten läßt. H a b e n Sie sich mit dem Fall denn wenigstens beschäftigt?« »Mit nichts a n d e r e m , könnte man s a g e n . « D e r S a r k a s m u s war verschwendet - Y a r d b i r d hörte g a r nicht zu. » U n d noch etwas, da Sie g e r a d e hier sind. D i e s e r idiotische H u n d , d e r I h n e n gehört. Hat bei der R a z z i a auf der B r a c k e n F a r m drei Polizisten g e b i s s e n . « D a v i e s nickte. » I c h weiß. E r hat etwas g e g e n die Polizei. E r hat mich auch m e h r m a l s g e b i s s e n . « » S i e m ü s s e n ihn wirklich b e s s e r beaufsichtigen. O d e r S i e lassen ihn einschläfern. Ist vielleicht ohnehin d a s beste. B r i n g t S i e sonst noch in S c h w i e r i g k e i t e n . « D a v i e s s a g t e : » I c h s o r g e dafür, d a ß er sich a n s t ä n d i g benimmt. Ich werde mich auch mit dem Bettgestell beschäftigen. K a n n ich jetzt g e h e n , S i r ? M e i n e A r m e streiken a l l m ä h l i c h . « » J a , j a , g e h e n Sie nur, ich h a b e höllisch viel zu tun. U n d . . . Davies...« »Ja, Sir?« » R e i ß e n Sie nicht d a u e r n d alte Wunden auf!« W ä h r e n d D a v i e s sich im K o r r i d o r a b m ü h t e , hörte er, wie Yardbird über den Scherz, den er gemacht hatte, herzlich lachte. P a t e r H a r v e y schob D a v i e s ' Rollstuhl a m K a n a l entlang. Davies war froh, d a ß sie endlich allein waren. D e r Weg durch die High Street hatte einem Triumphzug g e g l i c h e n . Viele M e n s c h e n , die D a v i e s nicht k a n n t e , die a b e r alles über ihn zu wissen schienen, d r ä n g t e n sich h e r a n , um sich nach seinen Verletzungen zu erkundigen und ihm die H a n d zu schütteln. Mr. Chrust erschien vor dem Z e i t u n g s b ü r o und zeigte ihm die neueste Nummer des CITIZ E N mit seinem Porträt im Rollstuhl auf d e m Titelblatt, und aus
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den F e n s t e r n im ersten Stock winkten die Schwägerinnen ihm vertraulich zu. M a d a m e T a r a n t e l l a Phelps-Smith stand in ihrer Haustür, p o s a u n t e ihre Glückwünsche heraus und ließ ermutigende Prophezeiungen hören: » S i e sind bald wieder gesund! Ihre Glücksfarbe ist b l a u ! « S o g a r seine F r a u D o r i s , die g e r a d e mit Mrs. Fulljames E i n k ä u f e erledigte, war aus dem B ä c k e r l a d e n hera u s g e k o m m e n und hatte ihm einen Krapfen mit Marmeladenfüllung g e s c h e n k t . »Wie der E i n z u g der Königin von S a b a « , hatte Pater H a r v e y g e s a g t . An der K a n a l b r ü c k e gesellte J o s i e sich zu ihnen und half mit, den Rollstuhl den abfallenden Weg zum Ufer hinab zu lenken. Im Gehen futterte sie ihre Lunchtüte leer. »Mein Geheimdienst hat mir z u g e t r a g e n , daß Sie eine dienstliche A u s z e i c h n u n g erhalten s o l l e n « , bemerkte der Pfarrer beiläufig. » D a n n sind Ihre Wunden nicht g a n z umsonst g e w e s e n . « »Ach w a s , Y a r d b i r d würde n i e m a n d e n für einen G e n e s u n g s u r laub, geschweige denn eine Auszeichnung v o r s c h l a g e n « , erwiderte D a v i e s . Es war für diese Jahreszeit in dieser Stadt ein Schönwettertag. E n t e n suchten sich auf dem Wasserspiegel die sonnigen Stellen. J o s i e leerte die Krümel aus ihrer Tüte in den Kanal. Die E n t e n schnatterten, als wäre es schon Frühling. » D e r V o r s c h l a g kommt von j e m a n d H ö h e r e m als Y a r d b i r d « , sagte P a t e r H a r v e y . » S o kam es mir jedenfalls zu Ohren. Wissen Sie, D a n g e r o u s , der Beichtstuhl dient nicht nur dem B e k e n n t n i s der S ü n d e n . M a n erhält auch dies und d a s an nützlichen Informationen.« »Wie steht's überhaupt mit dem B e i c h t s t u h l ? « fragte D a v i e s über seine Schulter. » D e r neue ist prächtig, ich habe noch nie so gute Beichten abgenommen. D e r , den ich selbst gebaut hatte, war leider noch schwächer als meine Schäfchen. M r s . B r y a n t , die immer ein wenig überschwenglich wird, wenn sie ihre S e e l e erleichtert, hatte ihren E l l b o g e n durch die Sperrholzwand g e r a m m t . Da habe ich dann den B i s c h o f angerufen und ihm die Hölle heiß gemacht, und sie haben mir einen provisorischen E r s a t z aus Plastikmaterial g e schickt - zur Ü b e r b r ü c k u n g , bis der richtige kommt. Dort, in dieser P l a s t i k s c h a l e , h a b ' ich was raunen hören von Ihrer bevorstehenden B e l o b i g u n g . « » B e l o b i g u n g « , grinste D a v i e s . » I c h bin doch der Trottel, der alles verkehrt a n g e f a n g e n hat. Wenn J o s i e nicht die Polizei a n g e -
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rufen und B e s c h e i d g e s a g t hätte, d a ß ich auf dem Weg zur B r a k ken F a r m war, d a n n wäre ich heute noch dort - b e g r a b e n im Kuhstall.« Er wurde still, als sie sich zu dritt - der P r i e s t e r , d e r Polizist und d a s j u n g e M ä d c h e n - der F u ß g ä n g e r b r ü c k e n ä h e r t e n ; dort drüben, nur fünf Schritte entfernt hinter der H e c k e , l a g Celia unter der Falltür b e g r a b e n . Er s a h sich nach J o s i e um. Sie löffelte g e r a d e einen Fruchtjoghurt aus einem Plastikbecher. »Ich dachte j a , du wärst so schlau, nicht o h n e die a n d e r e n B u l l e n loszuziehen«, s a g t e s i e . E i n E r d b e e r s t ü c k c h e n hing an ihrem K i n n , und wieder mußte er an Celia d e n k e n . Sie wischte es weg. » I c h d a c h t e , soviel Grips hättest du, D a n g e r o u s . A b e r als ich d a n n schon im Haus war, fiel mir ein, d a ß es mit d e i n e m Grips wohl d o c h nicht so weit h e r ist, und d a n n h a b e ich g a n z schnell die Nummer 999 angerufen.« Trotz des G e s p r ä c h e s kreisten D a v i e s ' G e d a n k e n um den Ort, an d e m sie sich b e f a n d e n , und die Traurigkeit, die von ihm ausg i n g , und auch die a n d e r e n konnten sich seiner Stimmung nicht entziehen. B e i der B r ü c k e kehrten sie um und g i n g e n schweigend d e n s e l b e n Weg zurück. D i e E n t e n s a h e n sie k o m m e n und s c h w a m m e n hungrig herbei. E i n e Wasserratte machte einen Kopfsprung in die trübe Flut. » D a n g e r o u s « , s a g t e J o s i e plötzlich, »wie alt ist D o r i s ? « » D o r i s ? Gott alleine weiß d a s . 30 o d e r s o . « »Und Mod?« » I n den Vierzigern, g l a u b e ich.« » G l a u b s t du. Weißt du von i r g e n d e i n e r P e r s o n in deiner Pension d a s g e n a u e A l t e r ? « »Nein . . . nein, d a s g l a u b e ich nicht.« » P a t e r H a r v e y . « Sie ließ nicht d a v o n a b . » W a s d e n k e n S i e , wie alt ich b i n ? « » A h , ein n e u e s Gesellschaftsspiel. J a j a , lassen Sie mich schätzen. Sie sind ja noch j u n g . 19 - o d e r vielleicht 2 0 . « » K o m i s c h « , s a g t e sie n a c h d e n k l i c h , » a l s mein Vater letzte Woche s t a r b , wußte ich nicht, wie alt er war. U n d bei meiner Mutter bin ich mir auch nicht sicher. Ich bin übrigens 1 7 . « D a v i e s starrte sie a n . » W o r a u f willst du h i n a u s , J o s i e ? « Sie mußte lachen. » H e i l i g e s K a n o n e n r o h r , D a n g e r o u s , du siehst in dem Rollstuhl a u s wie Chief I r o n s i d e . D e r vom Fernsehen.«
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Er fragte nicht weiter nach. Der Pfarrer schob den Rollstuhl bis zur Straße hoch und verabschiedete sich. J o s i e sollte ihn für den Nachmittag zur Stadtbücherei bringen, und Mod wollte ihn am Abend erst zum W I C K E L K I N D und d a n n zum BALI HI in Furtman Gardens schieben. Die S o n n e schien, es war kaum zu g l a u b e n , immer noch. Ü b e r den Kühltürmen des Kraftwerks schwebten Cherubim aus weißem Dampf. » W a s sollte d a s , die F r a g e r e i nach dem A l t e r ? « fragte er. Josie winkte einer Freundin zu. D a n n b e g a n n sie zu reden, während sie d e n Stuhl s c h o b . »Weil du etwas S e l t s a m e s g e s a g t hast, D a n g e r o u s . Am A b e n d vor der S a c h e mit der B r a c k e n Farm, als du mir alles über Celia erzählt hast. Oder jedenfalls meintest du, du hättest mir alles erzählt. E r i n n e r s t du dich, d a ß wir deine Notizen d u r c h g e s e h e n h a b e n ? « » J a , natürlich. W a s soll ich g e s a g t h a b e n ? « » E t w a s über die alte M r s . Whethers. Du hattest wörtlich aufgeschrieben, w a s sie berichtet hatte, stimmt d a s ? « »Richtig.« » D e r alte H e r r , Mr. H a r k n e s s . Wie alt, s a g t e s i e , war e r , als d a s mit Celia p a s s i e r t e ? « » 7 6 « , antwortete er, » u n d d a s war vor 2 5 J a h r e n . « » A b e r sie behauptet, sie h a b e ihn kaum g e k a n n t . Sie hätte nur gehört, d a ß er in der fraglichen Nacht etwas g e s e h e n habe und daß er k r a n k g e w e s e n sei. A b e r zu wissen, daß j e m a n d vor 25 Jahren 76 war, ist sehr ungewöhnlich. Nicht 75 o d e r sonst was. Genau 7 6 . « Sie war mit dem Rollstuhl mitten in der belebten Straße s t e h e n g e b l i e b e n , und Davies drehte sich unter Schmerzen halb nach ihr um. Sie ging um den Stuhl herum nach vorn und kniete sich hin, indem sie so tat, als müsse sie die Decke über seinen B e i n e n zurechtrücken. »Was hat sie - g a n z g e n a u - g e s a g t , diese M r s . Whethers? Hast du deine Zettel bei d i r ? « Davies steckte die H a n d in die Innentasche seines Mantels. »Meine L i e b l i n g s l e k t ü r e « , s a g t e er. E r b e g a n n , die vollgekritzelten S c h u l b o g e n durchzublättern. » H i e r , hier ist es. M r s . Whethers. Ah j a . Sie fragte mich, wie l a n g e die S a c h e mit Celia zurückliege, und ich s a g t e , 2 5 J a h r e und sie s a g t e . . . « » . . . d a ß M r . H a r k n e s s 7 6 war. Sie wußte sein g e n a u e s Alter, aber nicht, vor wie vielen J a h r e n der M o r d passiert ist. Komisch, nicht?«
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» S i e hat es a u s g e r e c h n e t , indem sie 25 J a h r e a b z o g , ohne auch nur einen A u g e n b l i c k n a c h z u d e n k e n . 7 6 . « » E b e n . W a s ich m e i n e « , s a g t e J o s i e und setzte den Rollstuhl wieder in B e w e g u n g , »ist, d a ß ich es seltsam finde, d a ß sie sein Alter wußte, obwohl sie ihn nicht gut k a n n t e . Wir h a b e n es vorhin an dir und P a t e r H a r v e y ausprobiert. Normalerweise weiß man d a s Alter von a n d e r e n M e n s c h e n nicht. M a n c h m a l nicht einmal von der e i g e n e n Familie oder von F r e u n d e n . « » D a r a u s f o l g t « , s a g t e er, » e s muß etwas B e s o n d e r e s a n Mr. H a r k n e s s d r a n sein, warum sie sich w e g e n s e i n e s Alters so sicher ist.« Sie nickte. » D e r G r o s c h e n ist gefallen. Ich g l a u b e , D a n g e r o u s , er ist noch am L e b e n . D a n n ist er 101 J a h r e a l t . «
Kapitel 19
M
od schob den K r a n k e n s t u h l den g a n z e n Weg von der B ü cherei bis zum Altenklub am K e n s a l G r e e n . Es war die schwerste Arbeit, die m a n ihm in 20 J a h r e n zugemutet hatte. Die S e n i o r i n n e n und Senioren übten g e r a d e unter der Anleitung der fülligen und feurigen Tanzlehrerin einen P a s o doble, bei dem sie mit den altersschwachen Füßen aufstampften und die arthritischen H ä n d e über dem Kopf zusammenklatschten. Mod war erstaunt über d a s Treiben. »Ich habe mich schon hin und wieder g e fragt, warum diese Leute nicht in die Bücherei k o m m e n « , sagte er. B e i m Anblick des Rollstuhls blieben alle mitleidsvoll stehen. » M e i n e G ü t e « , s a g t e die T a n z l e h r e r i n , » w a s haben Sie denn g e macht?« »Geübt«, sagte Davies. » I c h wußte, d a ß Sie sich irgendwann dabei wehtun w ü r d e n « , sagte sie fachmännisch. »Viel zu steif. Kein Gefühl für Rhythmus.« Sie wandte sich ihren Schülern zu: »Gut, meine lieben alten M e n s c h e n . G e n u g für heute. Wir wollen noch einmal kräftig applaudieren und d a n n Schluß m a c h e n . « Sie klopften die H ä n d e z u s a m m e n , und diejenigen, die durch die kurze P a u s e nicht schon wieder eingerostet w a r e n , stampften symbolisch ein p a a r m a l mit den F ü ß e n auf, dann verteilten sie sich zum Teetrinken in d e r H a l l e . M r s . Whethers schnalzte mitleidig mit der Z u n g e und spendierte für D a v i e s eine T a s s e T e e ; M o d mußte seine selbst bezahlen. D a n n rückten sie die Stühle zu einem D r e i e c k z u s a m m e n . » M r s . W h e t h e r s « , s a g t e D a v i e s , » e s tut mir leid, daß ich Sie noch e i n m a l b e l ä s t i g e , aber ich wollte Sie noch eine S a c h e fragen.« » S c h i e ß e n Sie l o s « , s a g t e sie munter. »Ich h a b ' es nicht g e t a n . « »Selbstverständlich nicht. A b e r , M r s . Whethers, könnte es sein, d a ß Mr. H a r k n e s s noch a m L e b e n i s t ? «
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S i e s a h ihn erstaunt a n . »Natürlich ist er am L e b e n « , rief s i e . »Ich bin davon a u s g e g a n g e n , d a ß Sie d a s wußten. Er ist im S o m m e r 101 g e w o r d e n ; es stand s o g a r etwas d a r ü b e r im C I T I Z E N ZU lesen. Er wohnt in B r i s t o l , bei seiner Tochter wohl, j e d e n f a l l s hat sie es der Z e i t u n g mitgeteilt.« » A l s o war e r vor 2 5 J a h r e n 7 6 « , nickte D a v i e s . » D a h e r wußten Sie d a s - weil er jetzt 101 ist.« Sie lächelte ü b e r l e g e n . » I n Kopfrechnen war ich immer g u t « , sagte sie. » U n d ich h a b e immer g e d a c h t , Sie sprechen von einem Verstorb e n e n . Ich muß sofort zu ihm f a h r e n . « » D a n n bringen Sie mal Ihr komisches F a h r z e u g in S c h w u n g « , lachte sie. » B e i einem M e n s c h e n über 100 weiß m a n n i e , ob er am nächsten T a g noch da ist. Wollen Sie erst noch ein L o s kaufen für die T o m b o l a ? « Die Kirche St. Fridewide hatte einen K l e i n b u s für gelegentliche G e m e i n d e a u s f l ü g e ; damit und mit P a t e r H a r v e y am Steuer reiste D a v i e s nach Bristol zu M r . H a r k n e s s . Z u m Glück wohnte der H o c h b e t a g t e in einer E r d g e s c h o ß w o h n u n g . M o d , der noch nie in B r i s t o l g e w e s e n w a r , a b e r trotzdem während der Fahrt einen g e lehrten Vortrag über die Stadt zum besten g e g e b e n hatte, half den Rollstuhl wacker schieben und ihn durch den kleinen Flur in das Wohnzimmer des alten Herrn zu schaffen. » E r ist noch beim A n z i e h e n « , s a g t e die ältliche Tochter. » E s dauert ein wenig, bei seinem Alter, verstehen S i e , aber er will sich nicht von mir helfen l a s s e n . Er s a g t , ich bin selbst nicht mehr die J ü n g s t e . « Sie hatte eine rundliche F i g u r und war g r a u gekleidet. E s war eine hübsche W o h n u n g . D a s g r o ß e F e n s t e r bot eine weite Aussicht auf d a s W e l l e n g e k r ä u s e l d e s H a f e n b e c k e n s von Bristol und d a s u m l i e g e n d e f l a c h e L a n d . M a n sah B r u n e i s berühmtes altes Dampfschiff, die GREAT BRITAIN, an ihrem L i e g e p l a t z . » D a s Schiff dort hat wie mein Vater mehr als ein J a h r h u n d e r t auf dem B u c k e l « , s a g t e s i e . » D i e beiden leisten e i n a n d e r Gesellschaft.« S i e fragte, ob sie ihnen einen Kaffee m a c h e n s o l l e . P a t e r Harvey hatte den W a g e n geparkt und war w e g g e g a n g e n , um einen Zechbruder a u s alten T a g e n , einen emeritierten Priester, zu besuchen. » M r . H a r k n e s s wird sich freuen, Sie zu s e h e n . E r war sehr aufgeregt, als ich ihm von Ihrem A n r u f berichtete. Er unterhält sich
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liebend g e r n über alte Zeiten. Ich habe ihm g e s a g t , d a ß Sie von der Polizei s i n d , d a s gefiel ihm noch besser. D a s ist heute ein großer T a g für ihn. Wahrscheinlich zieht er seine rote Samtjacke a n . « Sie g i n g zur Tür und lauschte. » D i e trägt er normalerweise nur an s e i n e m G e b u r t s t a g , obwohl ich m e i n e , mit 101 braucht er sie nicht m e h r zu s c h o n e n . « Sie hörten, d a ß sich draußen im Flur etwas tat. » I c h g l a u b e , da kommt e r « , s a g t e die F r a u . Sie hob warnend den Z e i g e f i n g e r . » E i n s muß ich Ihnen noch s a g e n , Mr. H a r k n e s s ist s c h w e r h ö r i g . « D e r Hundertjährige kam hereingeschlurft, klein wie ein Z w e r g , mit einem freundlichen, spitzen Gesicht, hellen porzellanblauen Augen und r o s i g e n B ä c k c h e n . E i n kleiner Tautropfen hing wie zur D e k o r a t i o n an seiner Nasenspitze. Er wischte ihn mit dem roten S a m t ä r m e l weg. » H a l l o , h a l l o « , begrüßte er sie. » I c h bin Charlie H a r k n e s s . Ich bin 101 J a h r e a l t . « Seine G e g e n w a r t allein machte einen schon froh. D a v i e s und Mod lächelten, und die Tochter wirkte ebenfalls zufrieden. »Setzt euch, setzt e u c h « , rief der alte M a n n heiter. »Ich bin ein bißchen kurz g e r a t e n . Für mich werden sie mal nicht viel E r d e wegschaufeln m ü s s e n . « Er kicherte amüsiert. Sie setzten sich grinsend hin. Er bat die Tochter um seine Morgenmilch mit einem kleinen S c h u ß . »Ich bin angeblich t a u b « , erklärte er, als die G a s t g e b e r i n verschwunden war. » A b e r ich höre nicht so schlecht, wie sie denkt. Ich tue nur s o , sonst brabbelt sie den g a n z e n T a g , und ich habe keine Lust zuzuhören. Ihr wißt j a , wie Frauen sind, wenn sie in die J a h r e k o m m e n . A b e r wenn Ihr deutlich g e n u g in mein linkes Ohr sprecht, kann ich g a n z gut verstehen, und meine Schrauben und Muttern h a b ' ich noch alle b e i e i n a n d e r . Ich werde schon begreifen, worüber ihr sprecht.« D a v i e s konnte ihn sich gut im Z e u genstand vorstellen. Mod schaute sich g e r a d e eines aus der Serie von E r i n n e r u n g s f o tos aus der Militärzeit an der Wand an. » S i e haben im Zululand gekämpft, Mr. H a r k n e s s ? « fragte er. » Z u l u l a n d ? Oh j a , da war ich im K r i e g . Nicht daß es viel g e nützt hätte. D i e sind doch jetzt alle hier in B r i s t o l . Letzten Sommer bin ich mal spazieren g e w e s e n , da war die g a n z e G e g e n d voll von Schwarzen. Wissen S i e , ich habe zu mir selbst g e s a g t , letztes Mal, als ich so einen K r a u s k o p f vor mir hatte, steckte er auf der Spitze meiner L a n z e . «
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D i e Tochter brachte ein Tablett mit K a f f e e t a s s e n und einem B e c h e r Milch. M r . H a r k n e s s roch d a r a n , u m s i c h e r z u g e h e n , daß sie d e n Scotch nicht w e g g e l a s s e n hatte. » I c h h a b e g e h ö r t , was du eben über die Schwarzen g e s a g t h a s t « , tadelte sie. » D a f ü r kannst du heutzutage ins G e f ä n g n i s k o m m e n , wenn du solche S a c h e n s a g s t . Wo doch Mr. D a v i e s von der Polizei ist!« »Teufel a u c h « , s a g t e der A l t e . » D a s G e f ä n g n i s will ich s e h e n , a u s dem ich nicht r a u s k ä m e . « E r s a h D a v i e s a n . » A c h j a , Sie sind von der Truppe. Hatt' ich v e r g e s s e n . W a s suchen Sie d e n n hier, junger M a n n ? « D a v i e s war erleichtert, daß er nicht n a c h e i n e m E i n s t i e g suchen mußte. » E t w a s , d a s vor ein p a a r J a h r e n g e s c h e h e n ist.« E r sprach dicht an dem linken Ohr. » U n d ich wüßte g e r n , ob S i e sich da an etwas e r i n n e r n . D a m a l s in L o n d o n . B e s i n n e n S i e sich an ein M ä d chen n a m e n s Celia N o r r i s ? « D e r N a m e s a g t e ihm nichts, d a s war deutlich zu s e h e n . » O h , ich h a b e z u m e i n e r Zeit g a n z schön viele M ä d e l s g e k a n n t . . . « , beg a n n der alte H e r r e r i n n e r u n g s s e l i g . » C e l i a Norris ist d a m a l s v e r s c h w u n d e n « , fuhr D a v i e s fort, » b e z i e h u n g s w e i s e : Wahrscheinlich wurde sie e r m o r d e t . « E r bemerkte, daß die Tochter e r s c h r a k und sich schützend n e b e n Mr. H a r k n e s s stellte, doch dieser schob sie aufgeregt von sich. » O h , d a s , d a s h a b e ich noch g e n a u im Kopf. An dem A b e n d bin ich nämlich in den K a n a l g e f a l l e n . « » W o r a n k ö n n e n S i e sich e r i n n e r n ? « d r ä n g t e D a v i e s erleichtert. » E r z ä h l e n Sie uns alles, was S i e noch w i s s e n . « » O h , wie gut, d a ß ich noch w e i ß . . . « , trällerte Mr. H a r k n e s s . » I c h h a b e d a m a l s einen guten Tropfen nicht verschmäht. Na, ich war ja auch ein J ü n g l i n g , g e r a d e mal in den S i e b z i g e r n . A b e r dieser A b e n d machte dem Saufen ein E n d e , j e d e n f a l l s dem richtigen S a u f e n . Weil ich nämlich in den verfluchten K a n a l gefallen und in den n a s s e n S a c h e n nach H a u s e gelaufen bin, und d a v o n b e k a m ich B r o n c h i t i s und L u n g e n e n t z ü n d u n g und weiß der Kuckuck was sonst noch. Ich s a g e euch, alle dachten, ich würde den Löffel abgeben.« » D a h a b ' ich mich um ihn g e k ü m m e r t « , unterbrach die Tochter. » H a b ' ihn g e s u n d gepflegt und ihm die F l a s c h e abgewöhnt. M e i n M a n n war g e r a d e verstorben, und ich hatte n i e m a n d e n m e h r als Mr. H a r k n e s s . Ich h a b e gut für ihn g e s o r g t , so gut, daß er über 100 g e w o r d e n ist.«
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» Z u m Teufel, gib nicht so a n , D u l c i e « , s a g t e Mr. H a r k n e s s verstimmt. » S i e möchten mit m i r sprechen, nicht mit dir. T r a g lieber die T a s s e n r a u s . « » N e i n « , s a g t e sie fest. » I c h möchte mitanhören, worum es geht. Es klingt mir alles ein bißchen a n r ü c h i g . « D a v i e s nickte ihr zu. Sie setzte sich hin und faltete die H ä n d e in ihrem breiten S c h o ß . Mr. H a r k n e s s ignorierte sie. » J a , ich erinnere m i c h « , s a g t e er. » M r . H a r k n e s s « , fragte D a v i e s und ging dabei so n a h e wie möglich an d a s zarte G r e i s e n o h r h e r a n , » w a s g e n a u haben Sie an dem A b e n d g e s e h e n ? E i n M ä d c h e n ? « » I c h war im L a b o u r C l u b . « Er wollte es auf seine e i g e n e Weise erzählen. Er schloß die A u g e n , um sich zu besinnen. » E s waren immer s c h ö n e S t u n d e n dort im L a b o u r Club. M a n konnte sich damals noch für ein, zwei Schillinge einen andudeln. L e i c h t . « Dulcie z o g hörbar die Luft ein, aber D a v i e s ' H a n d bedeutete ihr, jetzt nicht zu unterbrechen; der Atemzug verhauchte zu einem Seufzer. » U n d an d e m A b e n d war ich voll wie eine Haubitze. Es war heißer S o m m e r , und ich k a n n euch s a g e n , ich hatte g a n z schön getankt. D e s h a l b bin ich in den K a n a l gefallen. Total beduselt. Sternhagelvoll. Ich g i n g immer am Kanalufer entlang nach H a u s e , d a s war eine A b k ü r z u n g , und ich h a b ' mich v o r g e b e u g t , das weiß ich noch, um mich im Wasser zu sehen - auf der B r ü c k e , da, wo die L a m p e ist. O d e r wo sie war, ich weiß nicht, ob sie noch da ist.« Er hielt i n n e , als b e k ä m e er keine Luft mehr. Davies drehte sich zu der Tochter um. »Wird es zuviel? Ich möchte ihn nicht ü b e r a n s t r e n g e n « , flüsterte er. » H ö r e n Sie mir nicht z u ? « fragte der Alte. »Jetzt kommt d a s Interessante an der Geschichte.« »Ich bin g a n z O h r « , nickte D a v i e s . » A l s o , d a n n h ö r e n Sie gut zu. D a s nächste M a l , wenn Sie kommen, bin ich vielleicht schon tot und b e g r a b e n und kann Ihnen kein Sterbenswörtchen mehr erzählen, h a b ' ich r e c h t ? « » B i t t e r e d e n Sie doch weiter.« »Wo war ich d e n n ? Im W a s s e r ? Nein, ich guckte hinein. A b e r eine Minute später lag ich schon drin. E i n f a c h reingefallen. D a s ernüchterte mich ein bißchen. D i e K ä l t e spüre ich heute noch! Und stinken tut er, der K a n a l ! Da wirft doch j e d e r seine Scheiße rein. Tote K a t z e n und s o ' n Z e u g . «
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D a v i e s signalisierte Z u s t i m m u n g . » U n d als ich da im Wasser rumhing und mich am Ufer festhielt, da h a b ' ich sie g e s e h e n . « »Sie? Wen?« » D e n Polizisten und d a s M ä d c h e n « , erläuterte Mr. Harkness g e d u l d i g . » B e i m Ufer. Ich war g a n z im D u n k e l n , hielt mich am Ufer fest, und die g i n g e n auf dem F u ß w e g . Zuerst dachte ich, was für ein Glück, die Polizei. Ich m e i n e , meistens ist die ja nicht da, wenn m a n sie g e r a d e braucht. A b e r da stand er, und ich lag im W a s s e r . Ich wollte g e r a d e um Hilfe schreien, da sah ich, daß er d a s M ä d c h e n küßte. Ich dachte: >Oho, hier spielt sich ja was ab.< Ich blieb a l s o , wo ich war, mit dem Kopf über W a s s e r , und sie waren da am Ufer. Z u e r s t dachte ich, sie s c h m u s e n , a b e r ich war mir nicht sicher. D e n n er zog sie s o z u s a g e n irgendwie hinter sich her zur G a s s e , die zum L e i h h a u s führt.« » D a h i n , w o d a s alte H o l z h a u s d e r Heimwehr s t a n d ? « » J a , dahin. G e n a u dahin. Ich h a b e v e r g e s s e n , d a ß e s dort stand. Ich g l a u b e zwar, es war schon nicht mehr d a , a b e r früher hatte es an der Stelle g e s t a n d e n . « » U n d Sie sind sicher, d a ß Sie d a s trotz Ihres Z u s t a n d e s alles gesehen haben?« » S i c h e r ? Natürlich bin ich sicher. Sonst würde ich es Ihnen doch nicht e r z ä h l e n ! U n d als d a s g r o ß e T r a r a um d a s M ä d e l losg i n g , h a b e ich eigentlich erwartet, d a ß die Polizei zu mir k ä m e . Ich hatte Dulcie ja erzählt, was ich g e s e h e n h a t t e . « » U n d ich dachte, er phantasierte im F i e b e r . E r war ja so krank d a m a l s , L u n g e n e n t z ü n d u n g . Er stand mit einem F u ß im G r a b e . Es hat ein g a n z e s J a h r g e d a u e r t , bis er wieder r i c h t i g g e s u n d war. Da sind wir d a n n hierher g e z o g e n . D a s war auch gut s o , die Luft von Bristol hat ihn am L e b e n e r h a l t e n . « »Wie dunkel war e s ? « fragte D a v i e s . M o d saß da und hatte die B i l d e r a u s dem Z u l u k r i e g im A u g e . Plötzlich stand er auf und betrachtete eines aus der N ä h e , als wolle er nicht bei etwas laus c h e n , was ihn nichts a n g i n g . »Nicht sehr d u n k e l « , überlegte Mr. H a r k n e s s . » A u ß e r unter W a s s e r , da war es schwarz und stinkig. Es war wie g e s a g t S o m m e r und der Himmel ziemlich hell. U n d d a n n war da ja auch noch d a s Licht von der B r ü c k e n l a t e r n e . « » S i e sind sich also absolut sicher, daß es ein Polizist war mit einem M ä d c h e n . Nicht ein gewöhnliches L i e b e s p a a r ? «
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Mr. H a r k n e s s lachte herzlich. » O h nein, das war ein B u l l e . Ich habe so oft wegen Trunkenheit und E r r e g u n g öffentlichen Ärgernisses vor Gericht g e s t a n d e n , daß ich einen Bullen drei Meilen g e g e n den Wind riechen k a n n . A u ß e r d e m habe ich ja g e s e h e n , wer es war.« Er machte eine effektvolle P a u s e . D a v i e s - innerlich gespannt wie ein Flitzebogen - starrte ihn atemlos a n . Auch Mod widmete ihnen jetzt s e i n e g a n z e Aufmerksamkeit. B e i meinem Glück, dachte D a v i e s plötzlich mit Schrecken, fällt Mr. H a r k n e s s jetzt gleich tot um. » N a d e n n « , s a g t e Mr. H a r k n e s s , »soll ich verraten, wer es war?« » H m . . . j a , bitte s e h r « , nickte D a v i e s mit erzwungener R u h e , » d a s wäre sehr hilfreich.« » A l s o , ich kannte ihn, weil er mich so oft eingebuchtet hatte«, sagte der Alte. »Von den j u n g e n Bullen waren einige g a n z nett, aber d i e s e r war ein Mistkerl. Y a r d b i r d hieß er, Police Constable Yardbird.« Auf dem g a n z e n Heimweg in dem Kirchenauto mußte Mod den Rollstuhl festhalten, damit er nicht durch die G e g e n d schleuderte, wenn P a t e r H a r v e y bremste, beschleunigte oder um die E c k e n kurvte, was er alles mit mehr Temperament als Vorsicht tat. Auf der Hinreise nach Bristol war Davies schon bei einem plötzlichen Ampelstop von einem E n d e des Fahrzeugs zum anderen geflogen. D e s h a l b hielt Mod den Rollstuhl jetzt fest umklammert. » Y a r d b i r d « , wiederholte D a v i e s immer wieder. » Y a r d b i r d . Mein Gott, was m a c h e n wir jetzt? Er hätte g e n a u s o g u t behaupten k ö n n e n , es sei der Premierminister gewesen oder der Erzbischof von C a n t e r b u r y . « » D e r Weg der Pflicht ist k l a r « , sagte Mod sinnend. » D u mußt zu ihm g e h e n und ihn des M o r d e s bezichtigen.« D a v i e s z o g eine G r i m a s s e . » A b g e s e h e n von der T a t s a c h e , daß ich im M o m e n t nicht mal stehen, geschweige denn gehen k a n n , bezweifle ich, d a ß ich die nötigen Worte über die Lippen bringen würde. Nicht i h m g e g e n ü b e r . « E r versuchte e s , und seine Stimme zitterte: » I n s p e c t o r Y a r d b i r d , ich verdächtige Sie des M o r d e s an Celia Norris, b e g a n g e n am A b e n d des 2 3 . Juli 1951 auf dem K a n a l u f e r w e g i n L o n d o n N . W . 1 0 . . . « E r schüttelte mutlos den Kopf. » E r würde mich hinter Gitter b r i n g e n , noch ehe ich
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a u s g e r e d e t h ä t t e . « M o d schaukelte den K r a n k e n s t u h l sanft hin und her wie eine K i n d e r s c h w e s t e r ein u n r u h i g e s B a b y . » M r . H a r k n e s s wäre ein ausgezeichneter Z e u g e « , s a g t e er m e h r zum Trost als a u s Ü b e r z e u g u n g . » J a , wenn e r s o l a n g e l e b t « , stöhnte D a v i e s . » W e n n e r den Richter hören k a n n , w e n n sie einen Sauerstoffapparat bei der H a n d h a b e n , wenn, w e n n . . . M e n s c h , M o d , e r ist über 100, und d a s bedeutet auch, die C h a n c e ist eins zu hundert. E i n p a a r clevere E i n s p r ü c h e der Verteidigung, d a r a u f die V e r t a g u n g , eine offene Tür und ein kalter Luftzug im G e r i c h t s s a a l , und u n s e r Z e u g e ist kein Z e u g e m e h r , weil er g e s t o r b e n i s t . « M o d nickte voll Mitgefühl. Er stand auf und öffnete d a s F e n sterchen zur F a h r e r k a b i n e . P a t e r H a r v e y s a n g eine g r e g o r i a n i s c h e H y m n e , was g a r nicht so leicht ist, wenn m a n mit h o h e m T e m p o über die A u t o b a h n rast. M o d machte die K l a p p e o h n e ein Wort wieder zu. » I c h h a b e eine L e i c h e , ich h a b e a n d e r e Beweismittel wie zum B e i s p i e l d a s F a h r r a d , einen A u g e n z e u g e n und den mutmaßlichen Täter, und trotzdem weiß ich zum Teufel nicht m a l , warum ich eigentlich Kriminalpolizist g e w o r d e n b i n « , grübelte D a v i e s . » D a s h a b e ich mich auch schon oft g e f r a g t « , s a g t e M o d erbarm u n g s l o s . » S o l l ich einen Vorschlag m a c h e n ? « » D u willst, d a ß ich die g a n z e S a c h e v e r g e s s e ? « » N e i n , mein J u n g e , auf keinen F a l l . Nicht jetzt, wo du es fast geschafft hast. A b e r denk doch mal n a c h , gibt es nicht i r g e n d j e m a n d e n , mit dem du g e s p r o c h e n hast o d e r hättest sprechen sollen, der dir die letzten M o s a i k s t e i n c h e n liefern k ö n n t e , die noch fehlen?« D a v i e s verharrte in seiner M e l a n c h o l i e . D e n R e s t der Fahrt herrschte S c h w e i g e n , bis auf P a t e r H a r v e y s L o b g e s a n g , der e b e n s o wie die eingestreuten Flüche an die A d r e s s e a n d e r e r Autofahrer gedämpft zu ihnen d u r c h d r a n g . M o d zog ein antiquarisches E x e m p l a r von C l a r e n d o n s HISTORY OF THE R E B E L L I O N . DRITTER B A N D aus der Tasche und b e g a n n zu lesen. D a v i e s grübelte vor sich hin, doch er k a m zu keinem E r g e b n i s . Im B A L I H I in F u r t m a n G a r d e n s a n g e k o m m e n , rollte M o d Davies in d a s Vorderzimmer im E r d g e s c h o ß , d a s M r s . F u l l j a m e s ihm widerwillig, mitleidig und o h n e einen allzu h o h e n Mietzuschlag zur Verfügung gestellt hatte, bis er wieder die Treppen steigen konnte. Auf dem K a m i n s i m s lag ein Brief. E r war v o n Frederick
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Fennell in der Heilanstalt St. Austin's, B e d f o r d . Er lautete kurz: B e s u c h e n Sie mich. H a b e eine wichtige Information. Unter der Unterschrift war die Z e i c h n u n g eines M ä d c h e n f a h r r a d s . Z u m Glück war es nicht die Jahreszeit der Kirchenausflüge, so daß P a t e r H a r v e y schon am nächsten T a g mit dem Kleinbus vorbeikommen und D a v i e s zu Fred Fennell transportieren konnte. » F a l l s all dies j e m a l s zu einer offiziellen Polizeiaktion führt«, s a g t e er zu dem P f a r r e r , » s o r g e ich dafür, daß Ihre Unkosten erstattet w e r d e n . « P a t e r H a r v e y , der bisher für einen Priester relativ wenig Neug i e r d e gezeigt hatte, nickte großmütig und half M o d , den Rollstuhl über die improvisierte R a m p e in den B u s zu schieben. » I c h würde mich über eins dieser blauen Blinklichter auf dem Dach freuen. U n d über eine Polizeisirene. J a , die würde mir g e f a l l e n . « A l s sie in R i c h t u n g B e d f o r d fuhren, schaukelte M o d wieder einmal den Stuhl hin und her. » W a s versprichst du dir bloß hierv o n « , seufzte er schwermütig. »Noch einen Z e u g e n ? U n s e r Fall wird i m m e r b e s s e r , D a n g e r o u s . E i n A u g e n z e u g e ist über 100 und kann j e d e n M o m e n t abkratzen, und der andere glaubt, er ist P e ter der G r o ß e . « » K e i n sehr starkes A u f g e b o t « , g a b D a v i e s zu. » A b e r es muß doch noch was zu finden sein. I r g e n d etwas. I r g e n d w o . « P a t e r H a r v e y half beim Aussteigen und verschwand dann dankenswerterweise, um den K r a n k e n h a u s p f a r r e r aufzusuchen, den er a u s der Strafanstalt Wandsworth kannte - sie hatten dort einmal g e m e i n s a m an einer theologischen Podiumsdiskussion teilgen o m m e n . Mit dem Rollstuhl durch den H a u p t e i n g a n g zu kommen, war g a n z unmöglich, weswegen Mod laut D a v i e s ' Anweisung den Weg durch d a s rückwärtige Gartentor nahm. Die einsame Gärtnerin stocherte noch immer mit der Gabel in dem, was sie für Unkraut hielt, herum. D a v i e s hatte Mod d a r a u f vorbereitet, d a ß sie den Weg zum Anstaltsdirektor mit einer Pistole im Rücken zurücklegen müßten. E r hob beide H ä n d e , Mod hingegen nur e i n e , da die F r a u e i n s a h , daß er die a n d e r e benötigte, um den Rollstuhl zu schieben. D a v i e s schenkte ihr ein entwaffnendes L ä c h e l n , als sie sie beim Direktor ablieferte. D i e s e r führte sie zu Frederick F e n n e l l , der diesmal ruhig in demselben Sprechzimmer s a ß , in dem D a v i e s ihn beim ersten Mal angetroffen hatte.
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» G r o ß e r Gott, wie s e h e n Sie d e n n a u s « , rief F e n n e l l , als er D a v i e s erblickte. » I c h h a b e g e h ö r t , d a ß Sie e i n e A u s e i n a n d e r setzung h a t t e n . « » H ü b s c h a u s g e d r ü c k t « , s a g t e D a v i e s a n e r k e n n e n d : » D a s ist M o d L e w i s , mein derzeitiger Assistent. Von wem h a b e n S i e etwas über mich g e h ö r t ? « » T a r a n t e l l a , M a d a m e Phelps-Smith, hat mich b e s u c h t « , s a g t e F e n n e l l . Er wirkte ruhig und vernünftig. Sein Gesicht s a h nicht mehr so gehetzt a u s . Er lächelte, als er den D a m e n b e s u c h erwähnte. » S i e hat mir g e s a g t , d a ß sie I h n e n d a s F a h r r a d gezeigt hat. Da dachte ich, ich sollte Ihnen auch den R e s t e r z ä h l e n . « D a v i e s k o n n t e k a u m still sitzen. » J a , F r e d « , s a g t e e r langs a m , » d a s wäre sehr nützlich.« » M e i n e F r a u ist auch h i e r g e w e s e n « , fuhr F e n n e l l fort. » S i e ist nur g e k o m m e n , weil Sie bei ihr waren und sie dazu aufgefordert h a b e n . Ich bin I h n e n sehr d a n k b a r . D a s ist der Grund, w a r u m ich I h n e n etwas verraten will.« Er lächelte g e h e i m n i s voll. » D a s ist schon komisch, die g a n z e Zeit h a b e ich hier in dieser K l a p s m ü h l e gesteckt, und k e i n e r hat sich um mich g e kümmert, und plötzlich k o m m e n sie alle b e i d e . « Er seufzte. » I c h mußte der T a r a n t e l l a natürlich s a g e n , d a ß es zwischen uns beiden aus ist. Ich werde sicher schon bald hier r a u s k o m m e n und mit meiner lieben F r a u a n d e r s w o ein n e u e s L e b e n anfang e n . Sie hat mir ein p a a r s c h ö n e B r a t e n s a n d w i c h e s mitgebracht, als sie h e r k a m . « » D a s bedeutet, Sie sind wieder in G n a d e n a u f g e n o m m e n « , s a g t e D a v i e s , o h n e eine M i e n e zu v e r z i e h e n . » W a s wollten Sie uns noch e r z ä h l e n ? « » A l s Sie d a s vorige M a l k a m e n , war ich mir nicht so sicher, worauf Sie es a b g e s e h e n hatten. S i e hatten sich auch nicht so direkt g e ä u ß e r t . T a r a n t e l l a hat mir alles erklärt. J e d e n f a l l s , ich besitze etwas, das I h n e n vielleicht weiterhilft. Ü b r i g e n s , wie g e fällt Ihnen E d w i n a s kleiner L a n d s i t z ? « D a v i e s erinnerte sich an den W o h n w a g e n im S c h l a m m . » O h j a « , murmelte er, » s e h r l ä n d l i c h . « » I c h will ihn nämlich verkaufen. Ich will von hier weg, runter nach Cornwall, einen neuen A n f a n g m a c h e n . « E r fing D a v i e s ' B l i c k auf. » A c h , E n t s c h u l d i g u n g , schon wieder. So bin ich nun mal im A u g e n b l i c k . Es ist ja so vieles passiert. Ich fühle mich wie n e u g e b o r e n . «
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» S i e s e h e n wirklich viel besser a u s « , sagte Davies wahrheitsgemäß. » U n d d a s v e r d a n k e ich Ihnen. Es war, wie wenn die S o n n e aufgeht . . . A l s o , hören Sie zu. Ich habe etwas für S i e . E d w i n a hat es hergebracht. Ich habe ihr beschrieben, wo sie es bei meinen alten P o l i z e i u n t e r l a g e n finden würde. Hier, Mr. Davies - für S i e . « Er hielt ihm einen e i n g e s c h r i e b e n e n B r i e f hin. D a v i e s nahm ihn fragend in die H a n d , M o d sah ihm über die Schulter zu. » E i n g e s c h r i e b e n « , s a g t e F e n n e l l , »hier steht e s : L o n d o n N . W . 10, 2 0 . A u g u s t 1 9 5 1 . E r ist ungeöffnet.« » W a s ist d a r i n ? « fragte D a v i e s . » E i n e A u s s a g e von P . C . D u d l e y « , sagte Fennell schlicht und ergreifend. » E r war ein vorsichtiger M e n s c h , der D u d l e y , und wollte auf Nummer Sicher g e h e n . Er hat d a s hier aufgeschrieben, als der Fall Norris sich zum Mordfall entwickelte. Er hat alles aufgeschrieben und per E i n s c h r e i b e n an sich selbst geschickt. D a n n hat er den B r i e f ungeöffnet aufbewahrt, als B e w e i s , d a ß der Inhalt vor dem Datum des Poststempels geschrieben worden war. Kapiert?« » J a . A b e r wir wissen nicht, was drinsteht, es sei d e n n , wir machen ihn auf, und d a n n ist er als Beweismittel wertlos.« »Stimmt. A b e r er hat eine Abschrift gemacht. Die habe ich auch. Sie war versiegelt, aber ich habe sie geöffnet. B e i d e s kam aus A u s t r a l i e n , n a c h d e m Dudley im F e u e r u m g e k o m m e n war, von e i n e m Anwalt in M e l b o u r n e . Er schrieb dazu, Dudley hätte die B r i e f e bei ihm deponiert mit dem Auftrag, sie im Falle seines Todes an mich zu schicken. Er hatte wohl ziemliche S o r g e n , vielleicht plante er, Selbstmord zu b e g e h e n . Wie auch immer, der B r a n d hat ihm die E n t s c h e i d u n g a b g e n o m m e n . Und ich bekam das alles mit der P o s t . « Fennell lächelte v e r l e g e n . » D a s war etwa zu der Zeit, als ich meinen Verstand verloren h a b e . « Er sah plötzlich beschämt aus so als ob er d e n k e n würde. Mod wüßte eventuell nicht, warum er sich an d i e s e m Ort aufhielt. » D e r Briefumschlag geriet irgendwie unter meine a n d e r e n P a p i e r e , und, um die Wahrheit zu s a g e n , ich habe d a s alles zeitweise v e r g e s s e n . Ich hatte Mühe g e n u g , zu behalten, wer ich w a r . « Er lachte. » S i e werden es nicht g l a u b e n , aber ich dachte doch tatsächlich, ich sei Peter der G r o ß e . D a b e i ist der seit J a h r e n tot!«
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D a v i e s sah ihn beunruhigt a n , aber es war nur ein S c h e r z , über den Fennell selber grinste. » U n d hier ist der a n d e r e B r i e f . « E r streckte ihnen einen g r o ß e n U m s c h l a g mit einem Klecks von Sieg e l l a c k hin. D a v i e s n a h m ihn e n t g e g e n . E r war erstaunt, d a ß e r s o ruhig war. » E s geht u m den A b e n d , a n dem das M ä d c h e n verschwunden i s t « , s a g t e F e n n e l l nachdenklich. »Wir waren bei d e r A b s c h i e d s feier für D a v i e M o r r i s g e w e s e n und hatten mitgepichelt, obwohl wir noch Dienst hatten. M a n konnte sich d a m a l s m a n c h e , s a g e n wir, inoffiziellen D i n g e leisten. J e d e n f a l l s waren wir, D u d l e y und ich, mit dem W a g e n auf Streife. Ich verdrückte mich kurz zur T a r a n t e l l a , und als ich von ihr zurückkam, g i n g ich zu F u ß die S t r a ß e zum F r i e d h o f e n t l a n g , weil ich d a c h t e , d a ß D u d l e y dort auf mich warten würde. Wir pflegten uns dort zu treffen. D e r eine von uns parkte mit d e m W a g e n vor dem Tor zum Friedhof, und der a n d e r e g i n g ein Stündchen weg. A n diesem A b e n d war d a s A u t o nicht d a , aber d a s F a h r r a d lag an der M a u e r . Nun hatte ich schon l a n g e den G e d a n k e n im Hinterkopf, daß es gut w ä r e , ein B e w e i s o b j e k t in der H a n d zu h a b e n ; d a s wollte ich v o r z e i g e n , falls sich j e m a n d dafür interessierte, was ich in T a r a n t e l l a s Wohn u n g zu suchen hatte. Z u m a l meine F r a u schon Verdacht g e schöpft hatte. Ich wollte notfalls s a g e n , T a r a n t e l l a h a b e d a s R a d gefunden, und ich h a b e ihre M e l d u n g aufnehmen wollen. D a s R a d war ein recht solider B e w e i s , falls S i e wi s s e n , was ich m e i n e . Heute kommt mir d a s alles ziemlich kindisch v o r . . . und s o furchtbar weit w e g . « » U n d was war nun mit D u d l e y l o s ? « D a v i e s wollte nicht, d a ß er den F a d e n verlor. » K e i n e A n g s t , d a s kommt schon noch. Wir w a r e n j a d a m a l s noch j u n g und hatten alle möglichen Streiche im Kopf, und wir k a m e n immer damit durch. A l s o , d a s F a h r r a d . Ich brachte es zu T a r a n t e l l a s H a u s , und d a n n zog ich l o s , um D u d l e y und den Wag e n zu finden. Er stand in der H a u p t s t r a ß e , an der E c k e , wo der F u ß w e g zum K a n a l anfängt - vor d e m L e i h h a u s . D u d l e y s a ß v o r n e drin, aber er fühlte sich immer noch furchtbar schlecht. Er hat nie sehr viel v e r t r a g e n . Tatsächlich, wie S i e in seiner E r k l ä r u n g lesen k ö n n e n , war e r g e r a d e erst dort a n g e k o m m e n . Es war ihm so übel, d a ß er sich in der W o h n u n g s e i n e r F r e u n d i n hatte h i n l e g e n m ü s s e n . D a s hat er alles aufgeschrieben. Ich schickte ihn nach H a u s e und machte die restliche Streife allein. B e i m A b m e l -
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den in d e r W a c h e h a b e ich einfach für ihn mit unterschrieben. D a s war kein P r o b l e m , e s g i n g kinderleicht.« » D u d l e y s a ß a l s o im W a g e n , als Sie dort e i n t r a f e n ? « fragte D a vies seufzend. Ihn bedrückte der G e d a n k e an Mr. H a r k n e s s , der offenbar mit j e d e m S a t z etwas F a l s c h e s berichtet hatte. » J a , er s a ß d a . Ich weiß noch, wie schlecht er a u s s a h . D e r D u m m k o p f hatte R u m getrunken. A b e r . . . aber noch etwas war g e s c h e h e n . E t w a s . . . es steht in dem Brief. Sie müssen es selbst lesen. Obwohl wir fast immer zusammen auf Streife fuhren und u n s e r e kleinen A b m a c h u n g e n hatten, waren wir doch keine bes o n d e r s guten F r e u n d e . Wir hatten kein Vertrauen z u e i n a n d e r . « » U n d doch hat er die Schriftstücke an Sie schicken l a s s e n . « »Weil ich an dem A b e n d mit ihm zusammen war, d a s war der Grund. Ich steckte g e n a u s o in der S a c h e wie er, um was es sich nun auch g e h a n d e l t h a b e n m a g . L e s e n Sie nur. L o s doch, lesen Sie.« F e n n e l l s i n n e r e A n s p a n n u n g war nun stärker als seine m ü h s a m aufrechterhaltene G e l a s s e n h e i t . E r beugte sich vor, um zuzusehen, wie D a v i e s den d ü n n e r e n U m s c h l a g öffnete. D a v i e s las laut: » O b e n d r ü b e r steht: D i e s ist eine wörtliche Abschrift meiner E r k l ä r u n g v o m 2 0 . A u g u s t 1 9 5 1 , die sich als versiegeltes E i n schreiben in d e r Obhut von Maxley D a v i d s o n , F l i n d e r s Street, M e l b o u r n e , befindet. Die E r k l ä r u n g lautet f o l g e n d e r m a ß e n : Am A b e n d d e s 2 3 . Juli 1 9 5 1 hatte ich Dienst z u s a m m e n mit P. C. Frederick F e n n e l l ; wir fuhren Streife in dem B e z i r k um die High Street in L o n d o n N . W . 10. In den unweit g e l e g e n e n STURGEON ROOMS g a b es eine A b s c h i e d s p a r t y für einen K o l l e g e n , Davie M o r r i s , d e r in den R u h e s t a n d g i n g . Während unserer Streifenfahrt mit dem P o l i z e i w a g e n machten P . C . Fennell und ich einen Abstecher zu dieser Veranstaltung, wobei wir A l k o h o l zu uns n a h m e n . Ich t r a n k R u m , den ich nicht v e r t r a g e und von dem mir auch d i e s m a l übel wurde. P . C . Fennell verabschiedete sich von mir, um - wie er es oft tat - eine Freundin aufzusuchen. Wir verabredeten, uns wie üblich in einer Stunde am F r i e d h o f s e i n g a n g zu treffen. Wir hielten es s o , d a ß sich m a n c h m a l der e i n e , manchmal der a n d e r e von u n s für eine Weile freimachte. Wer beim W a g e n blieb, k a m damit zur v e r a b r e d e t e n Zeit an d a s Friedhofstor. Wir hatten dieses schon über ein J a h r l a n g praktiziert, und es hatte nie Probleme g e g e b e n .
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A n d i e s e m A b e n d j e d o c h g i n g e s mir von d e m R u m s o schlecht, d a ß ich mich nicht in der L a g e fühlte, den W a g e n zu u n s e r e m Treffpunkt zu f a h r e n . D a r a u f h i n bot P . C . Vernon Y a r d b i r d mir a n , für mich e i n z u s p r i n g e n . Er hatte ebensoviel getrunken wie wir a n d e r e n , a b e r es m a c h t e ihm a n s c h e i n e n d nichts a u s . Ich ließ mich von ihm vertreten und g i n g zu F r e u n d e n , die in der N ä h e wohnten, um eine T a s s e Kaffee zu trinken und mich ein wenig h i n z u l e g e n . Nach etwa e i n e r S t u n d e fühlte ich mich b e s s e r . Ich g i n g zu F u ß zum Friedhof, wo ich P . C . Y a r d b i r d mit dem A u t o zu finden hoffte. Er war a b e r nicht d a . Ich g i n g weiter bis zur High Street u n d fand den W a g e n dort vor d e m L e i h g e s c h ä f t . E s s a ß n i e m a n d d a r i n . Ich s a h , d a ß sich j e m a n d auf d e m Weg zum K a n a l hinunter b e w e g t e , sowie eine P e r s o n , die sich bei d e n K l e i n g ä r t e n aufhielt. Ich rief, und nach e i n e r Weile k a m P . C . Y a r d b i r d vom K a n a l her zurück. Er s a h verstört a u s , bleich im Gesicht und schweißbedeckt. A u f der W a n g e hatte er B l u t , als w e n n ihn j e m a n d gekratzt hätte, und er s a g t e mir, er wolle nach H a u s e , weil er wohl zu viel g e t r u n k e n h a b e . Ich b e d a n k t e mich für s e i n e Gefälligkeit und setzte mich hinters S t e u e r . A u f d e m B o d e n vor d e m Beifahrersitz lag ein Lippenstift. Ich steckte ihn in die T a s c h e , warf ihn aber später weg, damit meine F r a u ihn nicht entdeckte. E r s t am heutig e n T a g e - einen M o n a t s p ä t e r - , n a c h d e m d a s Verschwinden von Celia Norris eine Polizeiaktion a u s g e l ö s t hat, ist mir bewußt g e w o r d e n , d a ß der Lippenstift und die V e r f a s s u n g , i n der P . C . Y a r d b i r d sich an d e m fraglichen A b e n d befand, für den Fall von B e d e u t u n g sein könnten. D e r Lippenstift war einer von der S o r t e , die bei Woolworth verkauft wird und wie er im B e s i t z von Celia Norris g e w e s e n sein soll. D i e s e E r k l ä r u n g entspricht der Wahrheit.« D a v i e s s a h zu den a n d e r e n beiden auf. » U n t e r s c h r i e b e n von J a m e s H e n r y D u d l e y , P . C . , den 2 0 . A u g u s t 1 9 5 1 . « E r hielt den e i n g e s c h r i e b e n e n B r i e f in beiden H ä n d e n , als müsse er ihn wieg e n . » U n d d a s Duplikat d a v o n h a b e n wir hier in diesem Ums c h l a g . « D a n n setzte seine a n g e b o r e n e S k e p s i s sich wieder durch: » H o f f e ich j e d e n f a l l s . «
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Kapitel 20
E
ine kleine Feier in der Revierwache zu a r r a n g i e r e n , war g a r nicht so einfach. Immerhin, die Raumpflegerin hatte im Vern e h m u n g s r a u m a u s n a h m s w e i s e Staub gewischt und einen Trokk e n b l u m e n s t r a u ß auf den Tisch gestellt, was für D a v i e s , der an C e l i a s B l u m e n d e n k e n mußte, s o g a r einen tieferen Sinn e r g a b . Detective S e r g e a n t G r e e n vom Special B r a n c h half Mod d a b e i , den Rollstuhl die A u ß e n t r e p p e hinaufzuschaffen. Er war ihnen absichtlich bis d r a u ß e n e n t g e g e n g e k o m m e n . Auf der obersten Stufe beugte er sich zu D a v i e s ' Ohr h e r a b und fragte leise: » W a s haben Sie mit Y a r d b i r d g e m a c h t ? Er ist fuchsteufelswild. Er soll Ihnen d a s G e s c h e n k überreichen, a b e r irgend etwas liegt ihm im M a g e n . Er würde Sie wohl am liebsten e r d r o s s e l n . «
» A c h du meine G ü t e « , s a g t e D a v i e s bescheiden, »ich habe ihn wohl irgendwie in Verlegenheit g e b r a c h t . « » W e i ß der H i m m e l , Verlegenheit ist g a r kein Ausdruck dafür. A n s c h e i n e n d ist er vor einer halben Stunde in seinem Z i m m e r völlig durchgedreht und hat g e s a g t , er wolle Ihnen das G e s c h e n k nicht ü b e r g e b e n . Mein B o s s , B o b Carter, hat jedoch darauf bes t a n d e n . A b e r Y a r d b i r d will nicht verraten, warum er sich so aufregt.« » I c h v e r s t e h e « , s a g t e D a v i e s . » I c h g l a u b e , ich weiß, was ihn bedrückt, M r . G r e e n . « » W a s ist e s d e n n ? « » I c h s a g e es I h n e n später. Wollen Sie mir einen Gefallen t u n ? « »Nämlich?« » S o b a l d die kleine Z e r e m o n i e vorbei ist - wenn ich Ihnen ein Z e i c h e n m a c h e - , würden Sie d a n n Ihren B o s s , Detective Superintendent Carter meine ich, in den R a u m der Kriminalabteilung führen? Ich k o m m e d a n n gleich d a r a u f mit Inspector Yardbird zu I h n e n . Ich möchte ihm in Ihrer beider Gegenwart etwas mitteilen.«
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G r e e n nickte, o h n e z u antworten. E r war d a r a n g e w ö h n t , d a ß m a n c h e D i n g e einen unerwarteten Verlauf n a h m e n . E r überließ es M o d , den Rollstuhl in d a s V e r n e h m u n g s z i m m e r zu schieben. A n d e r T h e k e tauchte B e n , der D i e n s t h a b e n d e , schnell wie ein Blitz auf und zog ihn in eine E c k e . » U m es kurz zu m a c h e n « , flüsterte er, »ich weiß nicht, D a n g e r o u s , was du angestellt hast, a b e r der Alte hat eine Stinkwut. Seit heute früh, als er a n k a m . A n s c h e i n e n d hat sich einer über dich beschwert, j e m a n d n a m e n s B o o t . B e h a u p t e t , du hättest ihn terrorisiert und z u s a m m e n g e s c h l a g e n . J e d e n f a l l s hat er dich verpetzt. D a n n ist der Alte runter zum W a c h r a u m g e k o m m e n , hat sich den Schlüssel zu d e i n e m S c h r a n k besorgt und den g a n z e n Inhalt auf den B o d e n gefegt. U n d d a n n g i n g e r w e g , buchstäblich mit S c h a u m vor d e m M u n d und e i n e m F o t o v o n e i n e m j u n g e n M ä d chen i n der H a n d . Ich h a b e d a s zwar nicht g e s e h e n , a b e r P . C . W e s t e r m a n war drin; er hatte Nasenbluten. Er meint, es war ein F o t o von e i n e r j u n g e n F r a u . « E r sah ihn a u s d e n A u g e n w i n k e l n a n . » S a g m a l , D a n g e r o u s , hast d u dich auf o b s z ö n e B i l d e r verlegt?« D a v i e s lachte. » I n g ewisser Weise s c h o n . « B e n blickte skeptisch, s a g t e aber nichts mehr. E r half M o d , den Rollstuhl in den V e r n e h m u n g s r a u m zu f a h r e n , wo die K o l l e g e n mit S h e r r y g l ä s e r n in d e r H a n d h e r u m s t a n d e n und bei s e i n e m E i n tritt klatschten. Er winkte ihnen v e r l e g e n zu. D a n n traten D e t e c tive Superintendent Carter, Detective S e r g e a n t G r e e n vom Special B r a n c h und nach ihnen mit starrer M i e n e Inspector Y a r d b i r d herein. D a v i e s s a ß in dem Rollstuhl und fühlte, wie die R ä d e r von seinem Zittern vibrierten. M o d stand auf der einen Seite n e b e n ihm und J o s i e auf der a n d e r e n . D a n n s e g e l t e n z u s e i n e r Ü b e r r a s c h u n g D o r i s und M r s . Fulljames herein und überschütteten ihn mit K ü s s e n , e h e sie sich in den Hintergrund v e r z o g e n . Sie wirkten beide ziemlich h o c h n ä s i g und s a h e n über J o s i e hinweg, als wäre sie Luft. D a v i e s wußte, M r s . Fulljames war befriedigt, weil der K n o chen- und L u m p e n s a m m l e r a m selben M o r g e n d a s M e s s i n g b e t t gestell im BALI HI in F u r t m a n G a r d e n s abgeliefert hatte. D a v i e s hatte es auf seinem Hinterhof entdeckt, als er sich dorthin b e g e ben hatte, um dem Pferd den K o h l k o p f als B e l o h n u n g für seine L e b e n s r e t t u n g z u bringen. D a s Bett kaufte e r d e m H ä n d l e r a b ,
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der behauptete, es von einem a n s t ä n d i g a u s s e h e n d e n P e r s e r , der sehr in E i l e g e w e s e n war, ehrlich erworben zu h a b e n . D a v i e s bek a m es zum S o n d e r p r e i s - mit Polizeirabatt. D i e R e d e hielt Detective Superintendent Carter. Inspector Y a r d b i r d stand hinter ihm wie eine Wachsfigur. » D i e s ist eigentlich so etwas wie eine private V e r a n s t a l t u n g « , s a g t e Carter. » D i e Aufklärung der Verbrechen, die durch die Aktion auf der B r a c k e n F a r m in Uxbridge unterbrochen o d e r verhindert wurden, ist noch im G a n g e . Mr. R a m s c a r und G e n o s s e n werden sich, wie Sie alle wissen, vor Gericht verantworten müssen. A b e r ich d a c h t e , und diese Meinung wurde von a n d e r e n geteilt, daß wir persönlich und als K o l l e g e n Detective Constable D a v i e s , den wir alle als D a n g e r o u s D a v i e s k e n n e n , unsere A n e r k e n n u n g ausdrücken sollten. E i n e offizielle dienstliche B e l o b i g u n g wird wohl noch folgen, darüber h a b e nicht ich zu befinden. Heute aber feiern wir ihn in u n s e r e m engsten K r e i s e . Wir alle wissen, d a ß er in A u s ü b u n g seiner Pflicht schwer verletzt wurde, obwohl ich zu m e i n e r F r e u d e gehört h a b e , daß er bald wieder wird g e h e n könn e n . Ich hoffe, d a s b e s c h e i d e n e Geschenk seiner K o l l e g e n wird eine kleine E n t s c h ä d i g u n g für ihn sein. Ich bitte nun seinen unmittelbaren Vorgesetzten, Inspector Y a r d b i r d , der die P r o b l e m e eines P o l i z i s t e n d a s e i n s in diesem Teil von L o n d o n so viele J a h r e l a n g am e i g e n e n L e i b e erfahren hat, d a s Geschenk zu überreichen.« Y a r d b i r d starrte D a v i e s a n , während er vortrat. D a v i e s rollte s e i n e n Stuhl ein wenig vorwärts. Seine H ä n d e , die auf den R ä dern l a g e n , bebten. D e r Inspector j e d o c h zitterte noch mehr als D a v i e s , als er d i e s e m ein silbernes Marmeladentöpfchen mit Untersatz und Löffelchen überreichte. D a b e i sagte er kein Wort. D a v i e s b e d a n k t e sich von seinem Rollstuhl aus bei allen, schüttelte Carter die H a n d und hielt d a n n auch Y a r d b i r d die Rechte hin. Y a r d b i r d streckte eine eiskalte Hand a u s , die D a v i e s fest ergriff. Es g a b neuerlichen A p p l a u s , dann b e g a n n der S h e r r y wieder z u fließen. D a v i e s in seinem Stuhl stand unmittelbar neben Y a r d birds steifen H o s e n b e i n e n . Als dieser sich wegbewegen wollte, faßte D a v i e s ihn am S a u m seiner Uniformjacke und zog leicht d a r a n . Y a r d b i r d blickte hinunter in ein erstarrtes L ä c h e l n . » S i r « , s a g t e D a v i e s schüchtern, » k ö n n t e ich Sie kurz s p r e c h e n ? U n t e r vier A u g e n ? «
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Nachwort
V
ielleicht wäre D a v i e s wirklich b e s s e r Geistlicher g e w o r d e n , wie P a t e r H a r v e y von der katholischen G e m e i n d e seines Polizeibezirks einmal meint. J e d e n f a l l s prädestinieren ihn seine H a r m l o s i g k e i t , seine liebenswürdige B e s c h e i d e n h e i t , seine Menschenfreundlichkeit, seine Weltfremdheit und seine U n g e s c h i c k lichkeit eher zu einem Menschenfischer dieser Art als zu einem professionellen Polizeidetektiv. D i e s ist auch die M e i n u n g seiner Vorgesetzten, K o l l e g e n und seiner Klienten, der kleinen Kriminellen des h e r u n t e r g e k o m m e n e n Industriegebiets im Nordwesten L o n d o n s . In schöner Einmütigkeit n e n n e n sie ihn w e g e n seiner H a r m l o s i g k e i t » D a n g e r o u s « und wegen seiner E r f o l g l o s i g k e i t » d e n letzten D e t e k t i v « ; denn er ist wirklich der letzte und das letzte: A u f g a b e n von einiger B e d e u t u n g werden ihm nur anvertraut, wenn wirklich n i e m a n d a n d e r e r m e h r verfügbar ist. A n s o n sten ist er zuständig für a l l e s , was k e i n e r der K o l l e g e n ü b e r n e h m e n will - etwa das B e w a c h e n e i n e s F r i e d h o f s , auf dem irrtümlich ein B o m b e n a n s c h l a g erwartet wird, in einer kalten und regnerischen Frühjahrsnacht oder Frontalangriffe auf A m o k l ä u f e r und ähnliche A u f g a b e n , die einerseits u n a n g e n e h m und gefährlich sind, a n d e rerseits aber keinen R u h m e i n b r i n g e n . K e i n a n d e r e r Detektiv der L o n d o n e r Kriminalpolizei wird so oft so viele Treppen hinuntergeworfen wie D a v i e s . A n s o n s t e n ist er der M a n n für schäbigste B a g a tellfälle und e n d l o s e R o u t i n e r e c h e r chen entlang den H a u s t ü r e n . A b e r selbst hier gelingt es ihm, zu v e r s a g e n : A l s er einmal auf dem Arbeitsamt eine Auskunft einholen sollte, verhielt er sich so u n g e schickt, d a ß er statt d e s s e n mit dem A n g e b o t eines Aushilfsjobs in einer Wäscherei zurückkam. G e r a d e z u l e g e n d ä r ist seine O r g a n i sation einer T o m b o l a bei einem Gartenfest in G e g e n w a r t des Polizeichefs - erst flogen ihm die L o s e weg, und nach deren E i n s a m meln mußte er feststellen, d a ß ihm inzwischen d a s Geld aus den bislang erfolgten L o s v e r k ä u f e n gestohlen worden war.
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In seinem Privatleben ist er e b e n s o erfolglos und steht schon mit dreiundreißig J a h r e n vor einem Scherbenhaufen: Er ist g e schieden und lebt in einer dubiosen Pension unter den strengen A u g e n seiner ebenfalls dort wohnenden e h e m a l i g e n E h e f r a u und der resoluten Pensionswirtin Mrs. Fulljames. E i n z i g sein Auto könnte Neid erwecken, ein fast vierzig J a h r e altes, e h e m a l s edles Vorkriegskabriolett, bei dem sich jedoch seit den frühen Kriegsj a h r e n d a s Verdeck nicht mehr schließen läßt und auf dessen Hintersitz unter einer P e r s e n n i n g ein yakartiges Ungetüm von Hund lebt, mit d e m D a v i e s mehr in wechselseitigem H a ß als in L i e b e verbunden ist. J e d e n f a l l s ist er selbst das bevorzugte Ziel von Kittys u n b e r e c h e n b a r e n Attacken zum falschen Zeitpunkt. A u s dieser privaten wie dienstlichen Trostlosigkeit flüchtet er r e g e l m ä ß i g in den A l k o h o l . Selbst der gutmütige P a t e r H a r v e y meint, d a ß D a v i e s als Priester allerhöchstens halb so viel trinken dürfe. A b e r auch in seinem jetzigen B e r u f ist der übermäßige Alk o h o l k o n s u m höchst hinderlich, begeht Davies doch im nächtlichen Vollrausch persönlich mehr Ordnungswidrigkeiten und Straftaten, als er gleichzeitig in seinen Dienststunden aufklärt. Es versteht sich fast von selber, daß dieser » g e b o r e n e Verlier e r « sich mit der Untersuchung des einzigen Mordfalls seiner L a u f b a h n selbst betrauen muß: Er stößt auf ihn als Nebenprodukt einer wichtigen Untersuchung, die ihm höchst offiziell anvertraut wird, weil sie ihm auf den L e i b geschrieben ist. Scotland Y a r d sucht einen e h e m a l s in D a v i e s ' B e z i r k tätigen G a n g s t e r und B e rufsverbrecher, von dem man annimmt, daß er von einem langj ä h r i g e n Weiterbildungsaufenthalt im A u s l a n d zurückgekehrt ist und jetzt unerkannt in seinen früheren J a g d g r ü n d e n lebt, um von dort mit einem g r o ß e n Coup ins internationale Politgangstertum einzusteigen. K o n k r e t liegt allerdings g a r nichts g e g e n Cecil Victor R a m s c a r vor, und so wird j e m a n d benötigt, der so lange in der G r a u z o n e zwischen Subproletariat und Unterwelt herumtrampelt, bis er R a m s c a r auf die Füße tritt und ihn nervös macht - ein V o r g e h e n , d a s natürlich für d a s Subjekt der Untersuchung weita u s gefährlicher ist als für deren Objekt. D a v i e s ' Chef Y a r d b i r d kennt hierfür selbstverständlich keinen g e e i g n e t e r e n Detektiv als den ohnehin stets als Elefant im Porz e l l a n l a d e n a g i e r e n d e n »letzten Detektiv«. D a v i e s wird von allen R o u t i n e s a c h e n freigestellt, um in der erwünschten Weise nach R a m s c a r zu forschen.
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D i e s erweist sich als Glücksfall für ihn, obwohl er an dem ersten »richtigen K r i m i n e l l e n « , nach dem er fahnden darf, schon bald d a s Interesse verliert. Statt d e s s e n stößt er in der umfangreichen A k t e des schweren J u n g e n auf den Fall eines j u n g e n M ä d c h e n s , das vor fünfundzwanzig J a h r e n spurlos verschwunden ist, n a c h d e m es sich von einem J u g e n d a b e n d der Pfarrei mit dem F a h r r a d auf den Heimweg gemacht hat. R a m s c a r war in der S a che v e r n o m m e n worden, hatte a b e r ein Alibi. Heimlich verschafft D a v i e s sich die Akte » C e l i a N o r r i s « , die seinerzeit u n a b g e s c h l o s sen a b g e l e g t werden mußte. D a s F o t o des j u n g e n l a c h e n d e n Opfers mit dem Eiskremtröpfchen am Kinn fasziniert ihn, und die seit fast einem Mensc h e n a l t e r unvollendete Geschichte läßt ihn nicht m e h r a u s ihrem B a n n . Heimlich geht er ihr nach und sucht die L ö s u n g , die seinen K o l l e g e n d a m a l s e n t g a n g e n ist. D i e mit der linken H a n d betriebene Suche nach R a m s c a r dient ihm lediglich als T a r n u n g g e g e n ü b e r K o l l e g e n und Vorgesetzten, um den M ö r d e r von Celia Norris suchen zu k ö n n e n . D a b e i läuft sein Hauptauftrag durchaus im Sinne der Polizeioberen ab - wird doch D a v i e s w e g e n seiner Nachforschungen zweimal k r a n k e n h a u s r e i f g e s c h l a g e n . A b e r auch der inoffizielle F a l l » C e l i a Norris« weist für D a v i e s ' Talente bezeichnende A s p e k t e auf: Wenn er bei einem S e n i o r e n t a n z k r e i s recherchiert, muß er gleich vortanzen und v e r s a g t kläglich, ein in der U - B a h n Verfolgter verbürgt sich für ihn, der ohne F a h r k a r t e und Dienstausweis ist, g e g e n ü b e r dem Kontrolleur, und als D a n g e r o u s D a v i e s g a r eine I r r e n a n s t a l t besucht - und das noch durch den H i n t e r e i n g a n g -, muß der L e ser d a s Schlimmste befürchten. Da er diesen Fall ohne Wissen seiner Dienststelle verfolgt, ist er auf den Status eines Privatdetektivs beschränkt; A u s s a g e n , die nicht freiwillig gemacht werden, kann er nicht durch Druck erzwingen, auf G e s p r ä c h e , die man ihm verweigert, muß er verzichten. In dieser Situation k o m m e n ihm all die E i g e n s c h a f t e n zustatten, die ihn sonst bei seiner B e r u f s a u s ü b u n g b e h i n d e r n ; seine Mil i e u n ä h e , seine Gutmütigkeit, seine F ä h i g k e i t , Vertrauen zu erwecken, kurz die Z ü g e , die ihn nach M e i n u n g P a t e r H a r v e y s zum Priester qualifizieren. A l l e r d i n g s weckt er in einer weiblichen Z e u g i n so viel Z u t r a u e n , d a ß er nach g e m e i n s a m e m reichlichen A l k o h o l g e n u ß nur knapp einer Vergewaltigung entgeht, wobei sein Hund Kitty die A n g e l e g e n h e i t gründlich mißversteht und sie fast zum Schlimmeren wendet.
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A l s Privatdetektiv hat er natürlich auch wie Sherlock Holmes seinen D r . Watson, der sich ausdrücklich als solcher versteht. Es ist sein P e n s i o n s g e n o s s e , Freund und Saufkumpan Modest Lewis, g e n a n n t M o d , der sich seit vielen J a h r e n erfolgreich den Nachstell u n g e n d e s A r b e i t s a m t s in F o r m von S t e l l e n a n g e b o t e n zu entziehen weiß. A u ß e r h a l b der Öffnungszeiten ihrer g e m e i n s a m e n S t a m m k n e i p e ist er als ständiger B e n u t z e r des L e s e s a a l s der öffentlichen B i b l i o t h e k zu einer Säule der Gesellschaft g e w o r d e n ; dient er d o c h , in Notfällen von einigen schnell herbeigetrommelten K u m p a n e n unterstützt, g e g e n ü b e r den Aufsichtsbehörden als B e w e i s für die Notwendigkeit eines B i b l i o t h e k s l e s e s a a l e s einschließlich des dort beschäftigten P e r s o n a l s . Und dieser Dr. Watson, der a n d e r s als sein Vorbild ausdrücklich d a r a u f besteht, daß bei den g e m e i n s a m e n Nachforschungen auf die Schankzeiten der S t a m m k n e i p e Rücksicht g e n o m m e n wird, trägt d a n n - wiederum a n d e r s als sein Vorbild - E n t s c h e i d e n d e s zur L ö s u n g des F a l l e s bei, weniger durch seine in der Bibliothek erworbene weltu m f a s s e n d e H a l b b i l d u n g als durch seine Vertrautheit mit ihren Nutzungsmöglichkeiten. L e s l i e T h o m a s , 1931 in Newport, Monmouthshire, g e b o r e n , ist kein typischer Verfasser von Detektivromanen. A l s er 1977 mit Dangerous Davies The Last Detective seinen ersten Versuch in dieser Gattung vorlegte, war er bereits ein äußerst erfolgreicher Autor. S e i n e n Durchbruch hatte er 1966 mit dem R o m a n The Virgin Soldiers erzielt, von dem bis heute weltweit über zwei Millionen E x e m p l a r e verkauft wurden. Seitdem erschienen zahlreiche weitere R o m a n e , die ihn zu einem der beliebtesten Autoren G r o ß b r i t a n n i e n s machten - mit einer G e s a m t a u f l a g e von insgesamt 11 Millionen E x e m p l a r e n , was in etwa den Verkaufszahlen des deutschen Weltautors Günter G r a s s entspricht. S e i n e beiden Versuche auf dem Gebiet des Detektivromans - die Fortsetzung. Dangerous in Love ( 1 9 8 7 ) , wird ebenfalls in der » D u M o n t ' s Krim i n a l - B i b l i o t h e k « erscheinen - stellen einen neuen Typ des Detektivs vor. Am ehesten vergleichbar sind die Vertreter des von Ed M c B a i n b e g r ü n d e t e n P o l i z e i r o m a n s , zu denen auch mit A b w a n d l u n g e n G e o r g e s S i m e n o n und d a s schwedische A u t o r e n p a a r Sjöwall-Wahlöö g e h ö r e n . Charakteristikum ist die Vielfalt paralleler E r m i t t l u n g e n und die Arbeit in einem hierarchisch strukturierten T e a m . W ä h r e n d bei S i m e n o n und Sjöwall-Wahlöö aber das Hauptinteresse dem ersten des T e a m s , Jules Maigret und
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Martin B e c k , gilt, d e n e n auch E i n z e l e r m i t t l u n g e n erlaubt werden, ist es bei L e s l i e T h o m a s » d e r letzte D e t e k t i v « , der im Mittelpunkt steht. Selbstverständlich hat T h o m a s mit seinem trunksüchtigen, ständig verprügelten, ewig u n t e r l i e g e n d e n A n t i h e l d e n D a v i e s nicht mit der dialektischen B e z i e h u n g g e b r o c h e n , die im D e t e k tivroman zwischen Ermittler und Täter herrscht. Er hat mit ihr nicht brechen k ö n n e n und wollen, d e n n sie ist unverbrüchlich: D e m v o r n e h m e n A m a t e u r v e r b r e c h e r entspricht ein e b e n s o l c h e r Detektiv; im Milieu des a m e r i k a n i s c h e n B e r u f s v e r b r e c h e r t u m s recherchiert ein B e r u f s d e t e k t i v ; und der K l e i n b ü r g e r M a i g r e t k a n n e i n e n F a l l erst d a n n l ö s e n , wenn er im u n b e k a n n t e n G e g n e r den K l e i n b ü r g e r erkannt und dingfest g e m a c h t hat. D a n g e r o u s D a v i e s ist der Detektiv für d a s Milieu des L o n d o n e r Nordwestens, d a s in T h o m a s ' R o m a n in der für den Detektivrom a n charakteristischen Weise zum Greifen konkret aufgebaut wird: k l e i n e , s t i n k e n d e , s c h ä b i g e F a b r i k e n entlang einem ebensolchen K a n a l , ein d a m p f e n d e s Kraftwerk, I m b i ß b u d e n , K i n o s , zweifelhafte V e r g n ü g u n g s s t ä t t e n , viktorianische H ä u s e r , die bessere T a g e g e s e h e n h a b e n , und dazu E i n w o h n e r a u s aller H e r r e n L ä n d e r n , a b e r auch B r i t e n , die dieser U m g e b u n g nie mehr entk o m m e n werden. Und über all dem lastet die wirtschaftliche D e pression der siebziger J a h r e . In dieser Welt bewegt sich D a n g e rous D a v i e s wie ein Fisch im W a s s e r , d e n n es ist seine Welt, sein alltäglichster Alltag. H i e r löst er, d a n k ihrer Statik, die über fünfundzwanzig J a h r e alles fast u n v e r ä n d e r t ließ, den ein Vierteljahrhundert zurückliegenden M o r d a n d e m M ä d c h e n , d e s s e n eiskremverschmiertes L a c h e n ihn so faszinierte und für d a s er Gerechtigkeit will. U n d trotz aller zwerchfellerschütternden K o m i k , die der Antiheld und die ihm entsprechende U m g e b u n g s t ä n d i g unfreiwillig produzieren, wird deutlich, wie ernst es D a n g e r o u s D a v i e s mit s e i n e m A n l i e g e n ist, den Täter des u n g e s ü h n t e n Verb r e c h e n s a n d e m j u n g e n blühenden M ä d c h e n seiner gerechten Strafe zuzuführen. I n d e m ihm dies gelingt, beweist er zugleich den biblischen Grundsatz, den Gilbert Keith Chesterton als die G r u n d l a g e aller D e t e k t i v r o m a n e beschrieben hat: D i e Letzten werden die E r s t e n sein! Volker
Neuhaus