Ken Lipper
City Hall
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Eine Schießerei zwischen einem Polizisten und einem Drogendealer i...
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Ken Lipper
City Hall
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Eine Schießerei zwischen einem Polizisten und einem Drogendealer ist in New York nichts Besonderes. Diesmal jedoch fällt ihr ein unschuldiges sechsjähriges Kind zum Opfer. Der Vater hält Tag für Tag Mahnwache, und ganz New York teilt seine Entrüstung: Kann der Staat nicht einmal mehr die Kinder vor Kriminellen schützen? Die Empörung wächst, als bekannt wird, daß der Schütze, Tino Zapatti, zur Tatzeit eigentlich noch im Gefängnis hätte sitzen müssen. Nur aufgrund zweifelhafter Bewährungsregelungen war er vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Aufgebrachte Bürger fordern Konsequenzen, und ihr Protest macht auch vor der City Hall nicht halt, wo der Bürgermeister zunehmend nervöser wird. ISBN: 3-404-13822-8 Original: City Hall Aus dem Amerikanischen von Joachim Honnef Verlag: Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, 1996 Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Titelbild: Concorde Film, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Der Roman zum Film mit Al Pacino, John Cusack und Bridget Fonda nach dem Drehbuch von Ken Upper und Paul Schrader & Nicholas Pileggi und Bo Goldman. Eine Schießerei zwischen einem Polizisten und einem Drogendealer ist in New York nichts Besonderes. Diesmal jedoch fällt ihr ein unschuldiges sechsjähriges Kind zum Opfer. Der Vater hält Tag für Tag Mahnwache, und ganz New York teilt seine Entrüstung: Kann der Staat nicht einmal mehr die Kinder vor Kriminellen schützen? Die Empörung wächst, als bekannt wird, daß der Schütze, Tino Zapatti, zur Tatzeit eigentlich noch im Gefängnis hätte sitzen müssen. Nur aufgrund zweifelhafter Bewährungsregelungen war er vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Aufgebrachte Bürger fordern Konsequenzen, und ihr Protest macht auch vor der City Hall nicht halt, wo der Bürgermeister zunehmend nervöser wird.
1 New York. Das Ansehen der Regierung stand auf dem Spiel. Und die Stadt stand kurz vor der Explosion. Es begann alles fast routinemäßig mit einer Schießerei: ein Mord von zweitausend Morden pro Jahr; einer von einhundertfünfundsechzig pro Monat; einer von sechs pro Tag. Dieser war nur ein weiterer. Jeder Sonnenaufgang war ein Sieg für Edgar Bone. Der einzige Traum, den er noch hatte, war der, daß sein Sohn so lange überlebte, bis sie es sich erlauben konnten, aus Bushwick fortzuziehen. Bone wußte, daß die stumme Gleichgültigkeit der weißen Gemeinde weder Gesetz noch Ordnung in diesem Ghetto zuließ, solange die mörderische Gewalt in jenen Grenzen blieb, die durch Rasse und Armut scharf umrissen waren. Bone rief sich in Erinnerung, daß er eine Medaille, den Silver Star, in Vietnam erhalten hatte, wo er beinah für die selbstgefälligen Leute gestorben wäre, die ihn jetzt mißachteten. Edgar Bones Enttäuschung war mehr schmerzlich als bitter. Am Arbeitsplatz, als Staff Sergeant des Marine Corps und jetzt als Labortechniker im Kings County Hospital, hatte er mit Weißen gute Erfahrungen gemacht. Aber auf den Straßen spürte jeder Schwarze in New York täglich Mißtrauen und Gewalt. Tief in seiner Seele hatte Bone sich seinen Glauben an die Menschheit bewahrt. Und um der Hoffnungslosigkeit zu entgehen, die aus geistiger Isolation entstanden war, brauchte er diesen Glauben auch. An diesem regnerischen Montagmorgen begleitete er 3
seinen Sohn Robby zur Schule. Er knöpfte ihm den Regenmantel zu und öffnete vorsichtig die Wohnungstür. Die Glocken des Ghettos – das aufeinanderfolgende Klicken von Schlössern, die aufgeschlossen wurden, das Rasseln von Sicherheitsketten, die entfernt wurden – hallten im schwach beleuchteten Treppenhaus wider. Schaben, so groß wie Fünfundzwanzigcentstücke, teilten sich hochmütig die Wände. Die Bones gingen im Zickzack über die langen, engen Gänge der Mietskaserne namens Carver Houses und wirkten aus der Ferne wie cartoonartige Footballspieler, die sich einen Weg auf dem Spielfeld bahnten. Das Gehen im Zickzack war Teil eines tödlichen Spiels, um nicht auf Crackphiolen, Spritzen und gebrauchte Kondome zu treten, mit denen der Boden übersät war. In den Wohnungsbauprojekten der Stadt herrschte eine Art Modus vivendi. Des Nachts gehörten die Eingangshalle und die Treppenhäuser Cracksüchtigen, Junkies und Huren, während anständige Familien zu Gefangenen hinter verbarrikadierten Türen wurden. Am Morgen stahlen sich die Besetzer zurück in ihre Unterwelt und ließen ihre benutzten Utensilien zurück. Robby bog spielerisch scharf nach rechts ab und stolperte über eine schlafende Gestalt, die zu high gewesen war, um sich zurückzuziehen. Der Drogensüchtige fuhr zu Robby herum. Ausgebrannte rote Augen erhaschten einen Blick auf Bones gewaltige Hände und den muskulösen Körper, der über ihm aufragte, kurz bevor ihn ein Karatetritt auf den Steinboden zurückschmetterte. Der Drogensüchtige urinierte in seine Hose, und der Geruch von frischem Urin mischte sich in den dauernden Gestank, der jeden Winkel der Carver Houses durchdrang. Keiner der ordentlich gekleideten ›Leute des Tages‹, die 4
über die Wege zwischen den Mietskasernen zur Arbeit eilten, hatte ein ungewöhnliches Schicksal vorzuweisen. Sie schleppten sich durch das Leben und erfüllten Befehle als Teil des abgestumpften Dienstpersonals, das für New Yorks Krankenhäuser, Cafeterias, Regierungsbehörden und ganz allgemein ihre Brötchengeber schufteten. Die Zeit verstrich, ohne daß sie ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sahen. Sie begriffen, daß das Leben ihnen entglitten war, und so wandten sie nicht viel Energie für den Versuch auf, es vielleicht doch ein wenig zu beeinflussen. Jeder Tag war wie der vorherige. Zu viele freudlose Gesichter begannen den Tag mit der Hoffnung, daß er schnell vorüber sein würde: Einige betäubten die Monotonie mit einem frühen Wodka. Der gesellschaftliche Kontakt, den die Bewohner der Carver Houses mit der weißen Gemeinde pflegten, war weitaus geringer als der eines einzigen Botschafters der Vereinten Nationen. Es war die eine Sache, arm und geliebt zu sein, und die andere, arm und ungeliebt zu sein. Dies waren Kinder einer Stadt, die sie nicht liebte… und sie spürten es. Blicke schweiften hin und her. Bewohner der Carver Houses blieben nicht stehen, um mit jemandem zu sprechen, denn der Tod war ein Dauergast in diesen Sozialwohnungen und kam oft unvorbereitet. Schießereien wegen eines Fouls auf dem Basketballfeld, unbezahlte Schulden, der Verkauf schlechter Drogen in der vergangenen Nacht oder einfach das zufällige Anrempeln eines anderen. Das Prinzip war, zu schießen, bevor man von jemandem erschossen wurde. Edgar Bones Unterhaltung mit seinem sechsjährigen Sohn ging in väterliche Ermahnung über. »Dad, kann ich nach der Schule auf den Spielplatz gehen?« fragte der kleine Robby. 5
»Nein, tut mir leid, Sohn, das kannst du nicht. Der Spielplatz ist nichts für einen kleinen Jungen.« Ein paar Kilometer entfernt kämpfte Detective Santos in der verfallenen Umgebung des 101. Reviers gegen die Müdigkeit an. Nach der Rückkehr von seinem Streifendienst, der von Mitternacht bis acht Uhr dauerte, war er erschöpft. Santos ignorierte seine Müdigkeit, die nicht nur aus der körperlichen Anstrengung resultierte, sondern auch aus dem Gefühl der Sinnlosigkeit. Er stürmte an einem zu hohen Pult vorbei, das einst dazu gedient hatte, diejenigen einzuschüchtern, die gezwungen waren, zu dem gelangweilten Sergeant dahinter aufzuschauen. »Gehen Sie denn nie heim, Santos?« fragte der Sergeant. Es klang mehr ärgerlich als bewundernd. »Muß einen Informanten bei den Carver Houses treffen«, erwiderte Eddie Santos, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Der will was verpfeifen.« »Cops wie Sie sterben als erste, wissen Sie«, sagte der Sergeant grinsend. »Das ist eine nüchterne Tatsache.« »Man muß leben, bis man stirbt, Serge. Cops fressen entweder Scheiße oder servieren sie.« Eddie Santos war der härteste Cop in Brooklyn North, zu dessen Bereich Bushwick, East New York, Williamsburg und Red Hook, die übelsten Straßen der Stadt, zählen. In dieser Gegend gab es so viele Schießereien, daß man denken konnte, es wäre eine Revolution im Gange, wenn die Morde nicht so deutlich sinnlos gewesen wären. Santos war listig, pedantisch, fanatisch und gewalttätig. Auf New Yorks wilden Straßen fürchtete er keinen. Je gefährlicher der Verbrecher, desto größer war Eddie Santos’ Besessenheit, ihn zur Strecke zu bringen. 6
Eddies Ruf gründete nicht auf der Zahl seiner Festnahmen, eher auf der Wahrscheinlichkeit der daraus resultierenden Verurteilungen. In einer Stadt mit vierhundertachtundzwanzigtausend gemeldeten Straftaten pro Jahr und mit einhundertvierzigtausend Festnahmen, von denen nur fünfundvierzigtausendneunhundertvierzig zu Anklagen, neununddreißigtausend zu inoffiziellen Absprachen, (bei denen ein Angeklagter durch Schuldbekenntnis dem Gericht Prozeßzeit erspart und dafür eine milde Strafe zugesichert bekommt) und nur zweitausendeinhundertzwanzig zu Verurteilungen vor Gericht führten, war es bemerkenswert, daß Detective Santos sich mit seinen geduldigen Ermittlungen dreißig Prozent aller Verurteilungen an seine Fahnen heften konnte. Der Anblick von Eddie Santos’ Silhouette im Schein einer Straßenlampe – breite Schultern, schmale Hüften, stämmige Beine, die im Boden verankert zu sein schienen – jagte selbst den hartgesottensten Verbrechern Angst ein. In den Gangsterkreisen auf den Straßen hieß es, wenn Santos es auf einen abgesehen hatte, dann starb man entweder oder verbrachte eine harte Zeit im Knast. Santos haßte die Drogendealer und das Justizsystem, das sie wieder auf freien Fuß setzte und ihnen erlaubte, weitere junge Leben zu zerstören. Ihr häßlicher Bodensatz ging ihm ständig auf die Nerven. Das 101. Revier spielte jede Nacht Gastgeber für kleine Drogenhändler, Rauschgiftsüchtige, Prostituierte und Leute mit unerlaubtem Waffenbesitz, eine lange Reihe Aneinandergeketteter, die in Arrestzellen getrieben wurde, in denen es nach Erbrochenem, Urin und menschlichen Exkrementen stank. Ein paar Stammkunden wiesen fluchend auf eine Stahltür mit einem getönten Glasfenster, hinter der junge verdeckte Ermittler vom 7
Rauschgiftdezernat die Typen identifizierten, die ihnen bei aufgeflogenen Operationen Stoff verkauft hatten. Hellhäutige blonde Teenager stachen unter den überwiegend afro-amerikanischen Insassen der Zellen in Brooklyn North hervor. Als Vater einer Tochter regte sich Santos besonders über diese drogensüchtigen Teenager auf, die erst vor Wochen clean aus einem Bus gestiegen waren, nachdem sie irgendwo ausgerissen waren. An solche Mädchen machten sich regelmäßig gierige Dealer am Busbahnhof heran, versprachen diesen ängstlichen, einsamen Kindern Obhut und Freundschaft, nur um sie dann süchtig zu machen und zu einem kurzen Leben als Prostituierte zu zwingen. Santos wußte instinktiv, daß diese Zustände in New York nicht möglich gewesen wären, wenn nicht Korruption auf hoher Ebene in Politik und Justiz einen Schleier des Schutzes über ihre kriminellen Machenschaften ausgebreitet hätten. Und an diesem Morgen hatte Detective Eddie Santos eine Chance, etwas dagegen zu tun! Er fuhr mit seinem neutralen schwarzen FordPolizeiwagen durch den scheinbar ewigen Regen, bog vom Broadway in die Marcy Street ein und stoppte schlitternd vor einer Billardhalle, welche die ganze Nacht geöffnet hatte und aus der ein dünner, unrasierter und langhaariger Punker auftauchte und in Santos’ Wagen sprang. Obwohl Vinnie Zapatti mit Stiefeln, schwerem Metallgürtel und nietenbeschlagener Lederjacke protzte, wirkte er nicht wie ein harter Gangster, sondern mehr wie einer ihrer Botenjungen. ›Respekt‹ zollte man ihm, weil er der Neffe von Mob-Boß Paul Zapatti war. Deshalb war er auch von Interesse für Eddie, der Vinnie vor kurzem bei seinem dritten Drogenverbrechen erwischt hatte, was ihm 8
lebenslänglich einbringen konnte… es sei denn natürlich, er lieferte einen größeren Fisch in Detective Santos’ Netz. Dieser Fisch war sein Cousin Tino Zapatti, der erstaunlicherweise von einem Richter unter Zubilligung von Bewährungsfrist entlassen worden war, nachdem Detective Santos ihn wegen des Verkaufs von Kokain und wegen Besitzes einer geladenen Waffe vor einer Grundschule festgenommen hatte. »Wo treffen wir Tino?« fragte Santos eisig. »Ein paar Blocks von hier, bei der kaputten Bank vor den Carver Houses«, antwortete Vinnie fast im Flüsterton, während er sich gegen die Wagentür duckte. »Warum hast du dich so weit fort verpißt, Vinnie?« fragte Santos höhnisch. »Ich kann keine Bullen ertragen«, sagte Vinnie in dem halbherzigen und vergeblichen Versuch, sich mannhaft zu geben. »Aber wenn du Cops haßt, warum tust du dann böse Dinge? Cops interessieren sich für böse Dinge.« »Ein paar beschissene Unzen…« Santos schnitt ihm das Wort ab. »Nach dreimal ist Sense. Das ist jetzt das Gesetz. Drei Verurteilungen bedeuten lebenslänglich. Wiederholungstäter. Heutzutage kannst du nicht mehr dagegen anstinken, Vinnie.« »Sie werden mich finden. Mein Onkel wird mich finden.« »Zeugenschutzprogramm. Sie finden keinen. Es hilft uns… und es hilft Abschaum wie dir und Tino.« Vinnie wand sich wie der Köder am Haken, der dem sicheren Tod entgegensieht. »Sie lochen ihn nicht ein? Sie haben gesagt, daß Sie ihn nicht einlochen. Denn sonst werde ich ermordet.« 9
Vinnie wollte die Tür öffnen, um abzuhauen, doch Santos schloß seine große Hand hart um seine und riß ihn mit der anderen Hand am Kragen zurück. »Ruhe, Junge. Ich will nur ein wenig mit Tino plaudern. Ich hörte, er trägt wieder eine Waffe. Das ist ein Verstoß gegen die Bewährungsauflagen. Aber ich will ihn nicht einlochen. Ich will ihn nur ein bißchen unter Druck setzen, damit er mit mir redet… über gewisse Dinge, die er weiß. Wie du.« »Verscheißern Sie mich nicht. Tino ist auf dem Weg. Er weiß nicht, worum es geht. Sie stoßen zufällig auf uns.« Vinnie wimmerte fast. »Richtig?« »Da kommt unser Knabe«, sagte Santos mit gespannter Erwartung. Eine große, ungeschlachte Gestalt kam schnell den Broadway herunter und bog um die Ecke. Tino Zapatti blickte sich nervös und sichernd um. Der Reißverschluß seiner silberfarbenen Bomberjacke war nur ein Stückchen vom Saum her hochgezogen, und Tinos schwarzes Hemd klebte naß an seinem Körper. Mit den tiefliegenden Augen und der ausdruckslosen Miene wirkte Tino wie leblos. »Nun mach dir nicht in die Hose, Vinnie, wir werden nur kurz mit ihm plaudern.« Vinnie saß wie erstarrt da, als Santos ihm eine mächtige Hand um die Kehle legte und drückte. »Leben im Knast… oder steig aus dem Wagen… und dreh Tino so, daß er mit dem Rücken zu mir steht.« Santos schob ihn in den Regen hinaus; Vinnie zitterte. Edgar Bone und sein Sohn Robby tauchten aus ihrem Gebäude auf, und der Vater nahm schützend das Kind an die Hand, als sie auf den Broadway zugingen. Tino spürte, daß sich ihm jemand von hinten näherte. Er 10
drehte sich um und sah Vinnie. »Hey, Vinnie«, rief er in der üblichen Vertraulichkeit und klopfte ihm auf die Schulter. Alles an Tino strömte Tod aus. Als sich Vinnie umdrehte und Tino mitzog, spürte er nur Tod, seinen Tod – und er geriet in Panik. Er stürmte an Tino vorbei und sprintete hysterisch auf Eddie Santos zu, und so war Detective Santos unerwartet entblößt, von Angesicht zu Angesicht mit einer Mordmaschine. Ihre Blicke trafen sich in einem schrecklichen haßerfüllten Augenblick des Erkennens; Santos wußte instinktiv, daß Tino schneller die Waffe ziehen und sein Leben auslöschen würde. In Tino brannte das Feuer des Todes, als er mechanisch eine Neunmillimeterpistole aus dem Gürtel zog und ohne jedes Gefühl drei Kugeln aus nächster Nähe in Detective Eddie Santos’ Brust schoß. Eddie Santos’ Körper war wie gelähmt, als die Kugeln durch sein Fleisch schlugen. Aus seiner Brust sprudelte Blut wie aus einer geplatzten Wasserleitung, während das Leben aus ihm herausfloß. Eddie sackte in Zeitlupentempo auf den regennassen und blutigen Bürgersteig, und eine dämonische Kraft ließ Santos mit blutbefleckter Hand den Revolver aus dem Wadenholster ziehen. Er zog ihn in einer flüssigen Bewegung heraus und feuerte zweimal ab. Eine Kugel riß Tinos Kehle auf. Tino, mit einem wahnsinnigen Grinsen auf seinem blutbespritzten Gesicht, drehte sich wie ein Kreisel, sein Finger am Abzug krümmte sich und er feuerte in alle Richtungen. Carver Houses glich in diesem Augenblick Sarajewo, mit Aktentaschen, Lebensmitteln und Zeitungen, die überall auf dem zu Matsch aufgeweichten Rasen lagen, eine Neusaat von Gras war bei den Haushaltskürzungen der Stadt seit langem aufgegeben worden. Dutzende Männer und Frauen warfen sich so schnell auf Mutter 11
Erde, wie sie nur konnten, als die Schießerei zwischen Santos und Tino begann. Edgar Bone aber spazierte mit seinem Sohn an der Hand ahnungslos in dieses makabre Straßentheater. Und als der Vater die Explosion wahrnahm, erkannte er im Unterbewußtsein, daß die kleine Hand seines Sohnes in seinem Griff erschlaffte. Der Vater deckte das erschlaffte Kind mit seinem eigenen Körper, bis Stille herrschte. Er stemmte sich auf die Knie und nahm den Jungen auf die Arme, betete, daß er noch atmete, lebte. Sein Blick erstarrte in hilfloser Verzweiflung, als er spürte, daß ihm die Kugel in Robbys Stirn das Kind geraubt hatte. Bone stöhnte und schlug mit seiner mächtigen, blutenden Faust auf den rissigen Asphalt des Bürgersteigs. Tränen rannen über seine braunen Wangen. Blauweiße Streifenwagen näherten sich dem Broadway, fuhren durch obskure Querstraßen und entgegen der Fahrtrichtung durch Einbahnstraßen, und ihr Sirenengeheul schien Brooklyn zu zerreißen. Patrolcars näherten sich über Rasenflächen dem Mietshauskomplex, dessen Fassaden bereits Krater aufwiesen. Unablässig klang aus Funkgeräten: »Alle Einheiten. Zehn-dreizehn, Carver Houses. Patrolman braucht Unterstützung. MOF niedergeschossen. Member of the Force niedergeschossen…!« Police Commissioner Coonan erinnerte sich an jeden Zwischenfall, bei dem ein Cop im Dienst niedergeschossen worden war. Und er kochte vor Wut bei dem Gedanken, daß seine Männer ermordet worden waren, weil sie bei irgendwelchen vom Crack wahnsinnigen Mördern eine Sekunde zu lange gezögert hatten, zur Waffe zu greifen. Coonan haßte diese städtischen Anklagejurys, die seine Cops im nachhinein aus ihrem sicheren Gerichtssaal heraus der Brutalität oder 12
sogar des Mordes anklagten. »MOF niedergeschossen… Member of the Force niedergeschossen«, ertönte es weiterhin aus den Funkgeräten der Streifenwagen. Nach vierundvierzig Jahren bei der New Yorker Polizei, New Yorks Finest, wie die Polizisten genannt wurden, fühlte sich Coonan reif für den Ruhestand. Seine besten Cops würden ohnehin bald alle in Suffolk oder Greenwich arbeiten. Diejenigen, die blieben, würden bei Verbrechen wegsehen, weil sie wußten, daß die Gangster in der Überzahl waren oder schneller schossen, weil sie sich nicht an Vorschriften halten mußten. Bevor er seinen Streifenwagen verließ, bemühte sich der Commissioner, seine Fassung wiederzugewinnen. Die Jungs von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Hauptquartiers hatten die leitenden Beamten darauf hingewiesen, daß das Fernsehen ein kaltes Medium war, bei dem Zorn ungünstig wirkte, sogar angesichts eines sterbenden Cops. Ein stämmiger, rotgesichtiger Inspector zog Commissioner Coonan von der Menge fort, bei der jetzt die Atmosphäre des Schaugeschäfts herrschte: Reporter befragten Leute nach Einzelheiten, TV-Kameraleute schoben Fotografen und Radioreporter zur Seite, um in Position zu gelangen. Coonan fragte seinen Inspector, was geschehen war. »Es hat Detective Santos erwischt… vermutlich bei der Festnahme eines Drogendealers, die schiefging.« »Was ist mit seinen Helfern?« »Er war allein!« »Allein? Warum zum Teufel traf er sich allein mit Drogendealern?« 13
»Es gibt keine Eintragung von einem Einsatz, aber das muß nichts zu bedeuten haben«, sagte der Inspector mit mehr Hoffnung als Überzeugung. »Das gefällt mir nicht. Verstößt gegen die Vorschriften. Informieren Sie Internal Affairs.« Coonans Stimme verriet Besorgnis und Traurigkeit. »Jawohl, Sir.« »Wer war der Schütze?« »Das Hauptquartier brauchte nicht den Computer zu bemühen, denn ich nannte den Namen… Tino Zapatti.« »Der Zapatti?« »Ja, Paul Zapattis Neffe.« »Dann hat Santos wenigstens keinen Pfadfinder umgelegt.« Der Polizeichef war Politiker genug, um zu wissen, daß er es mit politischem Dynamit zu tun hatte. »Halten Sie die Presse hin. Ich werde mit dem Bürgermeister reden.«
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2 Während Edgar Bone in Bushwick seinen toten Sohn auf den Armen hielt, ging New Yorks Bürgermeister John Pappas, beschützt von seinen zwei ständigen Leibwächtern der Intelligence Unit, einige Kilometer entfernt die Steintreppe vor einem leuchtendweißen viktorianischen Rathaus hinunter. Der kalte, stürmische Dezemberregen hatte die Stufen der steilen Treppe glitschig gemacht. Vertraute Obdachlose hockten auf den Bänken des City Hall Park, und Staatsbeamte eilten zur Arbeit im nahen Rathaus und nahmen kaum die Rufe der paar Dutzend Demonstranten wahr, die Spruchbänder schwangen. Doch bei unterschiedlichen Gruppen an jedem Tag mußte Bürgermeister Pappas unwillkürlich daran denken, daß der City Hall Park das Chaos unseres Universums enthielt, bevor Gott die sieben Tage in die Reihe gebracht hatte. Im Gegensatz zu Gott war Bürgermeister Pappas jedoch ein Gefangener von begrenzten Mitteln. Wirtschaftlich harte Zeiten, Sparmaßnahmen und leere Kassen bedeuteten, daß er keine oder bestenfalls nur teilweise Lösungen für Probleme bieten konnte, die zu berechtigten Forderungen führten. Die heutige Demonstration war Gruppen genehmigt worden, die den Kontrast zwischen den hohen öffentlichen Erwartungen, die man in die Regierung setzte, und der niedrigen Toleranz für eigene kommunale Opfer widerspiegelten; Arbeiter gegen Entlassungen bei städtischen Krankenhäusern; Eltern, die moderne, sichere Schulen forderten; und Bauarbeiter, die gegen eine höhere 15
Besteuerung von Immobilien waren, wodurch vielleicht ihre Jobs und die Interessen der fetten Hauseigentümer bedroht waren, die in ihren Büros in der Park Avenue im Trockenen saßen. Als die Demonstranten ihn ausbuhten, setzte Bürgermeister Pappas mechanisch ein Lächeln auf und winkte ihnen, weil er wußte, daß ein besorgtes väterliches Auftreten oftmals so wichtig war wie eine politische Lösung von Problemen vor der nächsten Wahl, während er grollend zu dem Sicherheitsmann neben ihm sagte: »Unglücklicherweise kostet es einhundertfünfundsechzig Dollar Flugkosten, einen Senator in Washington anzubrüllen, und nur einen Subway-Token, um den Bürgermeister zu drangsalieren.« Bürgermeister Pappas ging weiter um die City Hall herum, hinter der er sich mit Frank Anselmo, dem Chef der Demokratischen Partei vom Büro New York, treffen sollte. Seit der Kongreßabgeordnete Biaggi und der Parteichef Esposito vom Bund auf Grund eines elektronischen Lauschangriffs verurteilt worden waren, bestand Anselmo darauf, alle ernsthaften Geschäfte im Freien von Angesicht zu Angesicht durchzuführen. In seinem Geschäftszweig, bei dem die Macht genauso von dem öffentlichen Auftreten wie von realen Taten abhing, trugen Berichte über ›Geheimhaltung‹ von wichtigen Dingen oder ›geheime Verhandlungen im Park‹ nur zu Anselmos Mystik und der Aura von Einfluß bei. Als der Bürgermeister um die Ecke der City Hall ging, sah er Anselmo unruhig im Schatten des Tweed Courthouse auf dem Weg des Parks auf und ab gehen. Bei diesem großen Mann Anfang Sechzig wirkte alles rundlich. Ein massiger Kopf ruhte auf leicht hängenden Schultern, die in lange Arme übergingen, die einen Bogen mit Anselmos Wanst bildeten. Anselmo beschrieb seine politische Philosophie 16
so, wie er aussah. »Politische Entscheidungen sind Punkte auf einer Ellipse; es sind keine rechten Winkel.« Er war anscheinend stets bereit, einen in die Arme zu schließen, aber seine lebhaften, wachsam blickenden Augen signalisierten, daß man für seine Zuneigung einen Preis zahlen mußte. Anselmo und Pappas waren enge persönliche Freunde, im wesentlichen politische Verbündete, manchmal jedoch auch Gegner. Der Parteichef und der Bürgermeister akzeptierten die Tatsache, daß Freundschaft zu einer schweren Belastung werden konnte, wenn man sie in berufliche Entscheidungen hineintrug, bei denen öffentliches Interesse, eigenes Interesse und das Überleben der Organisation die notwendigen Wegweiser waren. Und in diesen Grenzen hatte jeder der beiden seine eigenen Prioritäten und Beschränkungen. Der Bürgermeister hatte noch frische Begeisterung für Demokratie, und er wollte in die Köpfe und Herzen der Leute gelangen. Er bewunderte Leute mit Überzeugungen. Während nichts von alldem seinen praktischen Hang zu nötigem Kuhhandel behinderte, damit Dinge sofort in Angriff genommen werden konnten, blieb John Pappas stets diesen idealistischen Ansichten treu. Anselmo war andererseits überzeugt, daß die Demokratie inzwischen allzu sorglos war; Leute, die an etwas glaubten, waren seiner Ansicht nach selbstgerecht, oftmals konnte man unmöglich mit ihnen verhandeln, und so schränkten sie den kleinen praktischen Fortschritt ein, den Politiker erreichen konnten. Das Handeln war der Sauerstoff, den große Städte atmeten; diejenigen, die Loyalität verstanden oder deren eigene Interessen auf dem Spiel standen, waren stabile und berechenbare Partner oder Gegenspieler. Anselmo machte jetzt eine finstere Miene und sagte: 17
»Mr. Großes Tier. Jetzt, da du Bürgermeister bist, läßt du mich im Regen warten.« »Tut mir leid. Ein wichtiger Anruf aus Washington bezüglich…« Anselmo unterbrach ihn. »Scheiß auf Washington! Es geht um diese Mütter, die im Regen marschieren, damit ihre Kinder anständige Schulen bekommen.« Sein Zeigefinger deutete durch den Regen in Richtung der Demonstranten. »Die Mütter, die dich gewählt haben. Warum hast du das Programm zum Bau von Schulen abgewürgt?« Der stellvertretende Bürgermeister Kevin Calhoun, ein Zahlenmensch durch und durch, hatte Pappas überzeugt, daß New Yorks Schuldendienst nicht die hohen Kredite verkraften konnte, die nötig waren, um die Förderung des Baus von Schulen zu finanzieren, ohne die Kreditwürdigkeit zu verlieren, die von Standard & Poor’s und Moody’s verlangt wurde. John Pappas hatte zwar kaum von diesen Agenturen gehört, die in Wirklichkeit entschieden, wieviel die Stadt sich leihen konnte und zu welchem Zinssatz, um die städtische Anleihe von vier Billionen zu finanzieren, die erforderlich war, um jährlich öffentliche Arbeiten zu bezahlen. Aber wie jeder Bürgermeister vor ihm hatte auch John Pappas gelernt: Ganz gleich, was man ideologisch begann, links oder rechts, die Stabilität, die von diesen nichtstaatlichen Kreditwächtern verlangt wurde, zwang jeden Bürgermeister in die Mitte. »Ich liebe Schulen so sehr wie jeder andere zivilisierte Mensch. Aber ich habe kein Geld, so viele neue bauen zu lassen. Und Calhoun sagt, daß jede Schule heutzutage übermäßig teuer ausgestattet ist.« »Hast du etwas dagegen, daß Kinder in einem 18
ordentlichen Rahmen lernen?« entgegnete Anselmo. »Laß uns realistisch sein, Frank. Es geht nicht um Kinder oder Bildung… wir reden über Verträge und Geschäftemacher, die deiner Partei spenden.« Der Tonfall des Bürgermeisters wurde noch zynischer, als er fortfuhr: »Das Bauprogramm wies Boiler auf, mit denen ein Atomkraftwerk betrieben werden könnte; Klimaanlagen für Grundschulen, die im Sommer geschlossen sind; und dreifach verglaste schallgedämpfte Fenster in Gebäuden an ruhigen Seitenstraßen. Was haben diese Dinge alle gemein? Sie dienen nicht der Sicherheit, dem Komfort oder dem Bildungshunger der Kinder, nein, sie bringen nur hohe Gewinnspannen für die Geschäftemacher.« Anselmos Antwort klang angewidert. »Geschäftemacher, die ihren Beitrag zu einem Wahlkampf leisten, durch den du gewählt worden bist. Hast du das vergessen? Wo bleibt deine Loyalität? Du und unsere anderen Kandidaten brauchen sie, um im nächsten Jahr wiedergewählt zu werden, um Himmels willen.« Dann wurde sein Tonfall ernster. »Es gibt gewaltigen Druck von den Schulausschüssen und dem Eltern-Lehrer-Verband.« »Wir sind pleite. Du mußt dir das abschminken«, erwiderte Bürgermeister Pappas und senkte den Blick zu Boden, wie um anzuzeigen, daß ihm seine Rolle als Advokat des Teufels keine Freude bereitete. Loyalität! Anselmo glaubte fanatisch, daß Loyalität zur Partei das Fundament der Ordnung in diesem städtischen Hexenkessel war. Ohne eine dauerhafte Regierung würde die Politik in die Hände von Demagogen fallen, die die Regierung blockieren würden, ohne einem festen Wählerstamm verpflichtet zu sein. Anselmo bevorzugte keine bestimmte Wählerschicht, seine Rolle war es, 19
Wohltaten in ausgewogener Art zu verteilen, damit alle genug bekamen, um ein Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse zu haben. Anselmo erinnerte sich gern an seine Tage als Antragsteller für Carmine DeSapio, und er zitierte stolz seine politische Devise ›alles für meine Freunde, das Gesetz für meine Feinde‹. Es reichte für die Wähler, zu sagen: ›Wählt meinen Mann, er ist ein Demokrat‹, denn Wähler verstanden das stillschweigende Versprechen. Demokraten würden sich natürlich um ihre eigenen Leute kümmern, aber man konnte auch darauf zählen, daß sie für Jobs und Schulen für Arbeiterfamilien sorgten. Anselmo sprach verächtlich über verschwommene Politik: »Jeder marschiert zu seinem eigenen Trommler, einem anderen Trommler: freie Wahl kontra Recht zum Leben, multikulturelle Bildung kontra Schmelztiegel, Antiwachstum kontra Wirtschaftswachstum, rettet die Wale…« An diesem Punkt bekannte er wehmütig, daß der Bürgermeister von New York mehr Post über Tierschutz als über den Schutz von Kindern erhielt. Während Anselmo und der Bürgermeister über die fehlenden Gelder für den Bau von Schulen diskutierten, saß der Vizebürgermeister Kevin Calhoun in seinem kleinen Büro und arbeitete sich durch den Papierberg, den die Regierung jeden Tag neu schuf. Das Büro sah ungefähr so aus, wie während der vergangenen hundertfünfzig Jahre, mit hoher weißer Decke und dunkelroten Wänden, abgesetzt mit weißer Leiste. Calhouns antiker Schreibtisch und der kleine ovale Konferenztisch waren von offiziell aussehenden Dokumenten übersät, und Papiere mit dem Stempel ›vertraulich‹ waren an jeder Wand hoch gestapelt und ebenso in dem marmornen Kamin, der nicht mehr als Feuerstelle diente. Das einzige Zugeständnis an den 20
unruhigeren Zeitgeschmack bildeten vier Fernseher auf einem Tisch: Der Vizebürgermeister konnte die Programme der drei lokalen Kanäle und die CNNNachrichten gleichzeitig mitverfolgen. Es standen größere Büros in der City Hall zur Verfügung, doch dieses teilte eine gemeinsame Tür und Diele zur Toilette mit dem Büro des Bürgermeisters. Wenn Bürgermeister Pappas durch die Seitentür in ein Büro ging oder herauskam, sah er nur Calhoun. Der Bürgermeister stellte jedesmal die gleiche Frage mit einer Spur von Besorgnis: »Etwas Neues, Kevin?« Der Vizebürgermeister wußte, daß die nahe Anwesenheit an der Quelle der Macht die wahre Macht war. Er hatte Zugang zu der Regierungsmacht, und jeder Politiker wußte, daß Calhoun jeden Tag das erste und letzte Wort mit dem Bürgermeister sprach. Calhoun hatte fünfunddreißig Telefonanschlüsse, und jede Leitung blinkte ständig bei ankommenden Telefonaten. Vier erstklassige Assistenten und zwei Sekretärinnen widmeten sich erfahren und höflich den wichtigsten Anrufern. Trotzdem blieb Calhoun nervös und befürchtete, daß irgend etwas Wichtiges in diesem ausgeklügelten System verlorengehen könnte. Sum! Sum! Sum! Der beharrliche Ton der Gegensprechanlage drang in sein Bewußtsein. Calhoun unterbrach schnell seine Gedankenkette und nahm den Hörer ab. Peggy war schon seit elf Jahren seine Sekretärin – schon als er in einem Ausschuß des Kongresses gesessen hatte. Er konnte sich darauf verlasen, daß sie jederzeit wußte, welcher Anruf wichtig war und welcher nicht. »Es ist der Police Commissioner. Er sagt, es sei dringend. Und der Bürgermeister ist nicht da.« 21
»Stellen Sie ihn durch«, erwiderte Calhoun hastig. Der Polizeichef meldete sich steif und formell. »Guten Morgen, Sir.« »Ich hoffe, es sind gute Nachrichten, Commissioner«, sagte Calhoun gespielt forsch und lehnte sich zurück. »Ich befürchte nein, Sir. Ein Polizist wurde bei Carver Houses niedergeschossen. Der Gangster ist ebenfalls tot.« »Hat es mit Rassismus zu tun?« fragte Kevin routinemäßig. »Sowohl Cop als auch Gangster waren Weiße. Aber ein sechsjähriger schwarzer Junge wurde bei der Schießerei getroffen. Die Leute dort sind ziemlich aufgebracht. Das ist das neunte schwarze Kind, das in diesem Jahr bei Schießereien in Brooklyn durch Zufall ums Leben kam.« »Verdammt! Hören Sie, ich weiß, daß sich all Ihre Leute aufregen, wenn es einen Cop erwischt hat. Sagen Sie ihnen, sie sollen nachsichtig und besänftigend zu den Bürgern sein. Das letzte, was wir gebrauchen können, ist ein Rassenaufruhr.« Kevins Stimme verriet große Besorgnis. »Wir werden einen Deckel auf den Dingen halten«, erwiderte der Polizeichef mit kühler Stimme. »Ich fahre zum Kings County Hospital. Es wird einen Medienrummel geben, wenn die Presse den Rest der schlechten Nachrichten erfährt.« »Welche schlechten Nachrichten sind das?« fragte Calhoun. »Der Todesschütze war Tino Zapatti, der Neffe des Mafioso. Er traf sich allein mit dem Cop, als der Zwischenfall passierte. Der Detective war nicht im Dienst. Und es wird eine Menge Fragen geben.« »Der Bürgermeister und ich werden Sie im Kings 22
County Hospital treffen. Sie wissen, daß es seine Politik ist, am Bett jedes verwundeten Cops zu sein. Und danke für die Information, Coonan.« Calhoun knallte den Hörer auf die Gabel und eilte aus der City Hall, um den Bürgermeister zu suchen, der immer noch hitzig mit Anselmo über die fehlenden Gelder für den Bau von Schulen diskutierte. Anselmo kochte vor Zorn über Bürgermeister Pappas’ offenkundigen Verrat an Prinzipien der Partei. »Ich bediene die Maschinerie, die du leitest. Ich hätte jeden puertoricanischen Bürgermeister wählen lassen können, Juan«, sagte Anselmo und betonte Pappas’ anglisierten Vornamen. »Ich habe dich praktisch erschaffen! Und jetzt fällst du mir in den Rücken!« Anselmo stöhnte auf. Bürgermeister Pappas’ Werdegang bewies, daß Anselmo vermutlich nicht weit von der Wahrheit entfernt war. Juan Pappas war in Puerto Rico geboren. Sein Vater war der erste hispanische Bauleiter in Anselmos ganz italienischer Bastion von Bay Ridge. ›Señor Pappas‹, wie Anselmo ihn gern nannte, wurde schnell ein treuer Arbeiter für seinen demokratischen Klub und sorgte dafür, daß für die Bauvorhaben, die er leitete, hundertprozentige Unterschriftenlisten für die Anträge eingereicht werden konnten. Anselmo persönlich lehrte Señor Pappas’ sechsjährigen Sohn Juan, Unterschriften für Anträge mit einem abgesägten Besenstiel zu sammeln, mit denen er leicht Türklinken erreichen konnte, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, wie Frank Anselmo ihn stets drängte. Nachdem Juan die Erasmus-Hill-High-School absolviert hatte, besorgte ihm Anselmo ein vierjähriges Stipendium auf der Brooklyn Polytechnic University, mit einer diskreten Spende an den Dekan für den Bau seiner neuen wissenschaftlichen Fakultät. Während seiner Studienzeit 23
amerikanisierten Juans Freunde seinen Namen in John. Nach der Graduierung als Tiefbauingenieur wechselte John in den Staatsdienst und erhielt den geschätzten Posten eines Brückeninspektors. Da Anselmo ebenfalls den Leiter des Verkehrswesens ernannt hatte, der Pappas’ Chef wurde, erhielt er genügend freie Zeit, um politische Aufgaben für die Demokratische Partei zu erfüllen. Pappas kletterte auf der politischen Leiter hinauf. Nach Anselmos Vorschlag, das Angebot für einen Konstruktionsplan nach Maß zu schneidern, half Pappas, den Zuschlag für einen Einhundertfünfzigmillionenauftrag, die elektrischen Anlagen für die U-Bahn-Linie 59th Street Bridge, einer Firma zu geben, die angeblich von Paul Zapatti kontrolliert wurde, einem zwielichtigen Mann, der dem Vernehmen nach Speditionsfirmen, Wäschereien, Hotels und Gewerkschaften betrieb, die alle zweifellos finanzielle und personelle Unterstützung im Wahlkampf boten, was Anselmos politischen Einfluß auf New Yorks Parteiapparat verstärkte. Pappas’ politisches Geschick und seine Loyalität waren unbestritten. Als Pappas die politischen Gipfel erstieg, drohte GUS Georges, ein radikaler schwarzer Unterhausabgeordneter, mit einer vorgezogenen Bürgermeisterwahl, ein Affront gegen die Demokratische Partei. Anselmo erkannte, daß der Parteiapparat Georges diesmal vermutlich abschmettern konnte. Aber er war gerissen genug, um zu wissen, daß man sich den Verhältnissen in New York anpassen mußte. Er reagierte mit der Flexibilität von Wasser, das ruhig um die Felsen fließt, die ihm den Weg blockieren. Der Parteichef berief eine Versammlung mit einer Minderheit von Distriktleitern ein, die das exklusive Recht hatten, viele Wohlfahrtsprogramme der Stadt zu verteilen. Sie vertrauten Georges’ radikaler Politik noch weniger, als 24
Anselmo das tat. Jeder stimmte schnell zu, eine bekannte Größe zu nominieren, eine wählbare Person von einer Minderheit, mit bewährten Verbindungen zur Partei. John Pappas war der perfekte Mann! Anselmo ignorierte Aufschreie, Georges für seinen Angriff der Partei zu bestrafen. Statt dessen griff er zu politischer Bestechung, um Georges zum Teil der Familie zu machen. Der Radikale nahm lächelnd eine jährliche Spende von fünfundzwanzigtausend Dollar an, plus alles übrige, was noch bei der Gesetzgebung so anfiel, als die Parteiführung ihn zum Vorsitzenden des Ausschusses für öffentliche Bauarbeiten ernannte. Obwohl Pappas bei Insidern gut bekannt war, hatte die breite Öffentlichkeit noch nichts von John Pappas gehört, als dieser von der Partei nominiert wurde. Nach einem gut finanzierten und organisierten Wahlkampf mit einem Reformthema wurde Pappas zum ersten spanischamerikanischen Bürgermeister New Yorks gewählt. Das Ereignis wurde von verschiedenen Betrachtern unterschiedlich gesehen. Liberale gelobten, Pappas bei der Ausführung seiner Wahlversprechen zu folgen, um Fairneß in New Yorks verkalkten politischen Entscheidungsprozeß zu bringen. Insider applaudierten Anselmo für seinen brillanten Schachzug, Pappas zum Kaiser von seinen Gnaden zu krönen. Bürgermeister Pappas war vor kurzem fünfzig geworden und hatte erkannt, daß dies seine letzte Chance war, in seinem Leben etwas Besonderes zu leisten. Er war entschlossen, sein Amt zu nutzen, um dem Volk zu dienen und New York wieder zur größten Stadt der Welt zu machen. Anselmo und Pappas setzten ihre Verhandlung auf den Wegen des City Hall Park fort. Der Bürgermeister wußte, daß er zu Loyalität verpflichtet war und es ein 25
beträchtliches öffentliches und politisches Bedürfnis für Anselmos Schulbau-Programm gab, und so bot er einen Kompromiß an. »Frank, wir haben zu lange zusammengearbeitet, um aneinander vorbeizureden. Ich kann dir die Hälfte der Schulen im diesjährigen Jahreshaushalt geben, die andere Hälfte im nächsten Jahr. Aber kein Firlefanz! Es gibt noch genug Saft, um unsere Unternehmer zufriedenzustellen. Und wir werden vor dem Wahltag den Boden für eine neue Schule in jedem Distrikt ebnen, den du bestimmst. Geh meinen Weg, Frank. Es ist das Beste, was ich tun kann.« Anselmo erkannte schnell, daß dies in der Tat der beste Handel war, den er erreichen konnte. »Okay, aber was ist los? Jeder macht nur noch Kompromisse.« Vizebürgermeister Kevin Calhoun wurde naß, als er ohne Schirm im Regen auf sie zu eilte. Hinter Kevin bog die Limousine des Bürgermeisters und ein Begleitfahrzeug mit Sicherheitspersonal um die City Hall und stoppte auf dem Rasen, um schnell abfahrbereit zu sein. Etwas Dringendes erforderte die Anwesenheit des Bürgermeisters. Anselmo hob absichtlich die Stimme, damit Kevin ihn hören konnte. »Das Problem ist dieser junge Stellvertreter von Ihnen, nicht wahr? Warum sollte ich Scheiße von ihm hinnehmen?« Bürgermeister Pappas schloß Anselmo kurz in die Arme und flüsterte ihm ins Ohr: »Weil er mein Junge ist. Wie ich dein Junge war.« Anselmo und Pappas lächelten sich herzlich an, und 26
dann wandte sich der Bürgermeister Kevin zu. Vor zwölf Jahren hatte Kevin Calhouns Vater, ein namhafter Archäologieprofessor an der Columbia University, zynisch gelacht, als sein Sohn ihm erklärt hatte, daß er zum Personal des Kongresses gehen werde. »Vergeude nicht deine Zeit. Der Mensch hat fast alles getan, unterlassen und wieder getan. Politiker können ihr Ego befriedigen und ihre Taschen füllen, aber die menschliche Natur widersetzt sich grundlegenden Verbesserungen.« Kevin bewunderte seinen Vater wegen seines brillanten Engagements für die Toten und ihre Überreste, aber er wollte nicht seine Weltabgeschiedenheit teilen. Er suchte ein Leben, das mit Wärme und echten Gefühlen erfüllt war, die von menschlicher Begegnung kamen; die Leidenschaft, die auf die Teilnahme an höheren Zielen zurückzuführen war, anstatt auf das Wissen eines Zuschauers, selbst wenn sein hochfliegendes Ziel unerreicht bleiben würde. Der jüngere Calhoun war überzeugt, daß die Menschen sich läutern ließen, obwohl er sich nicht sicher war, wie er seine Energie am besten darauf lenkte, bei der Erfüllung dieses Glaubens zu helfen. Der Kongreß war anscheinend ein so guter Ort, einen Anfang in dieser Richtung zu machen, wie jeder andere. Kevin war enorm erfolgreich in Washington, Er stieg zum Vorsitzenden des wichtigen Bauausschusses auf. Ironischerweise verdankte er sein Ansehen nicht seinem leidenschaftlichen Engagement für die Öffentlichkeit, sondern seiner analytischen Begabung und dem einzigartigen Geschick, Budgets auszugleichen. Calhoun war die Arbeit in Washington leid, als er Bürgermeister John Pappas kennenlernte, der vor dem Kongreß sprach, um Gelder für sein Programm zu 27
bekommen. Die Hauptstadt war fast versessen darauf, Regierungsgelder für Hilfsprogramme zu beschränken. Mehr und mehr Kongreßabgeordnete betrachteten den Staatsdienst getrennt von moralischen Zielen; ihr Ziel war es, ihre Macht zu wahren. Mangels Zielen für die Öffentlichkeit dominierten in zunehmendem Maß leere Rhetorik und etliche Höflichkeiten auf den Fluren des Kongresses. Als der kürzlich gewählte Bürgermeister von New York vor dem Ausschuß sprach, integrierte er nicht nur Politik mit Moral, sondern seine glänzenden dunklen Augen spähten durch die Fernsehkameras förmlich in die Wohnungen der Leute; Profis erkannten schnell, daß dieser kleine spanisch-amerikanische Mann mit offenem Gesicht und gewelltem Haar und einem breiten weichen Lächeln nicht nur ein Programm hatte, sondern auch Führungsqualitäten besaß, die andere dazu bewogen, ihm zu folgen. »Wir dürfen uns durch die Beschränkungen der Regierung nicht behindern lassen. Der Mensch ist verbesserungsfähig, und die Regierung hat sowohl die Verpflichtung als auch die Mittel, um ihm zu helfen, sich zu vervollkommnen – angefangen mit unseren Kindern«, sagte der Bürgermeister vor dem Ausschuß. Kevin beobachtete fasziniert, wie Bürgermeister Pappas seine Punkte sammelte, wobei er sein ganzes Gewicht in die Worte legte – ein Footballstar im Yankee Stadion, der sich durchkämpfte. Kevin Calhouns Begeisterung für politische Arbeit wurde wiedererweckt. Er liebte Pappas’ missionarischen Eifer und seinen kraftvollen Auftritt. Und Calhoun spürte, daß er die Besonderheiten des Programms besser als jeder sonst durchsetzen konnte. Während Washington das Geld verteilte, mußte es nur zu den Städten und Staaten 28
geschleust werden, wo die Mittel ausgegeben und Programme durchgeführt werden. Kevin Calhoun hatte sich bereits entschieden, zur kommunalen Verwaltung zu gehen, als er die Kammer durchquerte und sich bei Bürgermeister Pappas vorstellte.
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3 Der Bürgermeister stellte seinen neuen Stellvertreter ein, um dessen Erfahrungen im Regierungsdienst zu nutzen und weil dieser sich begeistert seiner Arbeit für die Stadt und John Pappas widmete. Calhoun bildete einen starken Kontrast zu den Elite-New-Yorkern, die mit überschwenglichen Toasts in der Wahlnacht versprachen, dem neuen Bürgermeister dabei zu folgen, ›dem Status quo den Krieg zu erklären‹, nur um geschlossen seine kleine Armee beim ersten Schuß im Kampf zu verlassen. Anselmo und seine Distriktleiter waren heftig dagegen, treue Parteianhänger zugunsten von talentierten Seiteneinsteigern zu umgehen. Aber Pappas glaubte, daß er technisch versierte Spezialisten brauchte, um eine moderne Stadt zu führen, und er sagte sich, daß neue Gesichter schwerer zu bestechen waren – wenigstens kurzfristig. Pappas stellte bald fest, daß jeder den Bürgermeister bei Abendessen in Gracie Mansion beraten wollte, aber keiner seinen Lebensstil aufgeben wollte, um New York zu dienen. Bestimmte Ereignisse lehrten den Bürgermeister, daß die Öffentlichkeit ihn gewählt hatte, damit er ihr politischer Gladiator wurde. Er stand ganz allein in der Arena. Der Bürgermeister erinnerte sich mit Bitterkeit an seine wenig erfolgreichen Bemühungen, Mitstreiter zu finden, wann immer er unter der Isolation seines hohen Verwaltungsamts litt. »Wie geht es meinem Lieblingskritiker des Krankenhaussystems der Stadt?« fragte der Bürgermeister Richard Simmon, den Chef der Chirurgie im New York Hospital. 30
»Gut… gerade einen weiteren Ventrikel genäht… sieben Riesen«, erwiderte der Arzt mit offensichtlicher Befriedigung. »Vergessen Sie das Geld. Sie können in Ordnung bringen, was in dieser Stadt kaputt ist, wenn ich Sie zum Präsidenten der städtischen Krankenhausgesellschaft ernenne«, sagte Bürgermeister Pappas im Tone eines Mannes, der ein Geschenk überbringt. »Sie spaßen sicher«, sagte der Arzt mit schwacher Hoffnung in der Stimme. Nach einer bedeutungsvollen Pause fuhr er fort: »Es gibt bessere Leute für das Amt… ich werde mich umsehen.« »Aber ich brauche Sie!« sagte der Bürgermeister. »Ich würde das Amt gern übernehmen… aber ich kann nicht… das Landhaus, der Sportwagen… alles gehört der Bank. John, es ist nichts Persönliches«, sagte er auf eine entschiedene Art, die Pappas anwiderte. »Es ist nur persönlich, wenn Sie einen Porsche und ein Landhaus Ihrer Stadt vorziehen.« Bürgermeister Pappas legte den Hörer auf, enttäuscht… und mit einer bösen Vorahnung. Ein unbesiegter Bürgermeister Pappas rief bei der Children’s Welfare Alliance an. Die energische Vorsitzende, Norma Reid, kombinierte ihr persönliches Bedürfnis, neue Welten zu erobern, mit dem tiefen Glauben, daß das zusammengebrochene Wohlfahrtssystem in Ordnung gebracht werden konnte. Die Freundin des Bürgermeisters hatte ein erfolgreiches und nicht viel Geld kostendes Programm entwickelt, bei dem sozial bedürftige Mütter geschult wurden, wie sie ihre Kinder von klein auf ernähren, medizinisch versorgen und ausbilden lassen konnten. Aus der Perspektive des Bürgermeisters war am wichtigsten, daß sie keine Angst vor einem Wechsel hatte; 31
Norma Reid hatte den seltenen Schritt unternommen, einen Lehrstuhl an der Wagner School of Urban Affairs aufzugeben, um den politischen Kampf für eine Wohlfahrtsreform zu führen. Die perfekte Kandidatin für die Chefin von Sozialdiensten, dachte er. Nach ein paar persönlichen Worten und Dank für ihren Rat während des Wahlkampfs fuhr Bürgermeister Pappas fort: »… und wir drücken unsere Nasen nicht mehr an die Fensterscheibe. Du hast das Sagen bei den Sozialdiensten.« »Du brichst mir das Herz, indem du mir meinen Traum erfüllst, John. Ich darf dich doch noch John nennen, auch wenn du Bürgermeister bist, oder?« »Mach keine solchen Scherze. Wir sind seit fünfzehn Jahren befreundet. Was soll das Gerede von wegen, ich breche dir das Herz?« fragte er nervös. »Während des Studiums habe ich mir meinen Lebensunterhalt… auf der Straße verdient, weißt du. Wurde ein paarmal eingesperrt. Die Presse wird mich vernichten, wenn das bei einer Überprüfung meiner Vorgeschichte herauskommt. Ich kann mir die Schlagzeile schon vorstellen: ›Praktizierte die Wohlfahrtsvorsitzende auch, was sie predigt?‹« »Ich werde zu dir halten, was immer kommt«, sagte John Pappas entschieden. »Ich will nicht öffentlich Spießruten laufen… und du kannst dir das politisch nicht erlauben. Vergiß es!« Ihr Tonfall kündete nicht gerade von Kompromißbereitschaft. Bürgermeister Pappas sank müde in sich zusammen. Es war ihm klar, daß seine Macht mehr an scheinheilige Konventionen gebunden war als an Gerechtigkeit oder gesunden Menschenverstand. Das nächste Gespräch des Bürgermeisters war 32
demütigend. Er hörte am Telefon Tom Larson, Seniorpartner der renommierten Anwaltskanzlei Rice, Whitney & Patterson, den versammelten Anwälten und Mandanten in seinem Büro zuflüstern, daß dies ein wichtiger Anruf von ›seinem Freund, dem Bürgermeister‹ sei, und sie ihn bitte nicht stören sollten. »Wie kann ich helfen?« eröffnete Larson das Gespräch. »Eigentlich… wollte ich Sie einladen, Rechtsberater der Stadt zu werden.« »Großartig!« Aber die Idee war nicht so großartig, wie Larson es darstellte. »Ich kann nicht einfach die Kanzlei verlassen. Außerdem bin ich Anwalt auf privatem Gebiet… der falsche Mann für große Bürokratie, verfolgt von Reportern, ewigen Hearings ausgeliefert…« »Tom, ich kann nicht alles selbst machen.« Der Bürgermeister bettelte förmlich. »Sie verstehen nicht. Jemand wie ich greift nach einer Sternschnuppe, wenn er jung ist und was werden will. Ich habe mich mit vierundzwanzig auf Rice, Whitney festgelegt… und ich habe nicht vor, das mit fünfzig sausenzulassen. Das wäre ein Fehler.« Der Anwalt klang fast wie in Panik. »War ein Fehler von mir«, sagte der Bürgermeister und legte auf. Pappas begann die Bequemlichkeit zu schätzen, sich auf die dauerhafte Regierung zu verlassen, die Frank Anselmo mit seinen treuen Parteianhängern versorgte. Gleichzeitig suchte er seine Abhängigkeit von Anselmo auszugleichen, indem er den unabhängigen Vizebürgermeister zu seinem Vertrauten, Protegé und seinem moralischen Lackmustest machte. »Was gibt es?« fragte der Bürgermeister seinen Stellvertreter, als sie über den Rasen des City Hall Park zu 33
ihren Fahrzeugen eilten, die mit laufendem Motor warteten. »Schießerei in Bushwick. Detective, Dealer, sechsjähriger schwarzer Junge im Kreuzfeuer erwischt.« »Weiter!« drängte der Bürgermeister. »Der Junge ist tot. Und der Dealer.« »Der Cop?« Der Bürgermeister war stets tief betroffen, wenn ein Polizeibeamter in Erfüllung seiner Pflicht ums Leben kam. »Sieht schlecht aus. Er kommt vermutlich nicht durch.« »Sonst noch etwas?« »Der Schütze war der Neffe von Mafiaboß Paul Zapatti.« Der Bürgermeister ließ müde den Kopf sinken, als er das hörte. Sie stiegen in den Wagen, und Calhoun wandte sich an den Fahrer von der Intelligence Unit: »Voraussichtliche Ankunftszeit im Kings County Hospital?« »Wir werden in zwanzig Minuten dort sein«, antwortete George in militärischem Tonfall. Der schwarze Lincoln fuhr von der Zufahrtsstraße zur City Hall, und die beiden Beamten der NYPD-Intelligence Unit folgten im Wagen dichtauf. Georges’ Kollege Benny gab über Funk die voraussichtliche Ankunft im Kings County Hospital durch, wo sie ein sogenanntes Vorauskommando erwarten würde. Während die Fahrer gleichzeitig die Sirene einschalteten, hefteten sie das Rotlicht mit dem Magnetsockel aufs Wagendach. Bürgermeister Pappas beendete das Gespräch über die Schießerei mit einem geschäftsmäßigen Nicken. »Okay… welche Anrufe?« »Senator Marquand sagt, die Parteiversammlung findet 34
hier in New York statt, und Sie werden um eine programmatische Rede gebeten«, berichtete der Vizebürgermeister sachlich. »Gebeten? Nein, Sie haben mich festgenagelt. Man kann mit Versprechungen in der Politik nicht vorsichtig genug sein.« Calhoun schloß die Augen und träumte gar nicht so spöttisch: »Ich sehe eine große programmatische Rede. Dreißig Millionen Spanisch-Amerikaner hocken wie angewachsen vor ihren Fernsehern. Sie lassen ein paar spanische Phrasen einfließen. Erinnerungen an die alte Heimat, mit nationaler Tinte geschrieben. Eine neue Stimme der Macht. Jubelnde Latinos säumen die Straßen der spanischen Viertel von San Antonio, Miami und Los Angeles, alle auf der Suche nach einem Präsidenten mit ihrem Akzent. Und die Angelos stimmen in den Jubel ein, denn sie wollen auch tun, was richtig ist, wenn sie denken, es siegt und funktioniert. Und Sie werden dafür sorgen, daß es funktioniert.« Kevin sprach mit der Überzeugung, die Pappas so mochte, obwohl er die Phantasie mit etwas Skepsis dämpfte. »Und wenn ich zum Präsidenten gewählt bin, was sind dann Ihre weiteren Pläne?« »Ich werde den Traum weiterträumen, ganz gleich, was Sie sagen«, erwiderte Kevin. »Übrigens, was war mit dem Angelo dort draußen los?« Wenn man in der City Hall nach rechts oder links schaute, dann wurde klar, daß der Vizebürgermeister Calhoun von einem anderen Planeten stammen mußte. Es lag nicht einmal so sehr an seiner Bildung durch das Harvard College und die Kennedy School of 35
Gouvernment, die ihn von den anderen in der City Hall unterschied. Es lag an ihm, an seiner Persönlichkeit. Calhoun war weder Liberaler noch Konservativer, er war niemandem verpflichtet, und er ließ sich nie davon abbringen, das zu tun, was er für das Richtige hielt. Männer wie Anselmo waren unberechenbar berechenbar, denn ihr sprunghaftes Verhalten konnte stets auf einen gemeinsamen Nenner mit ihren eigenen Interessen gebracht werden. Kevin Calhoun hingegen wog jedes Thema allein auf seine Vorzüge für das öffentliche Interesse ab. Niemand konnte auf ihn zählen… und so mißtraute ihm jeder. Gewählte Amtsinhaber fürchteten Calhoun. Er gab sich nicht damit zufrieden, ihre stumme Einwilligung bei strittigen Themen zu bekommen. Er übte Druck aus, zwang sie, offen seiner Politik zuzustimmen, und setzte sie dadurch unnötigen politischen Risiken aus. Er pflegte eine ethische Theorie, die verlangte, daß Bürokratie und Bürger bemerkten, wie man Politik transparent machen konnte. Aber trotz tiefer Zweifel mußten gewählte Amtsinhaber mit ihm zurechtkommen, solange der Bürgermeister Kevin den Verwaltungsapparat der Stadt kontrollieren ließ. Ein gewählter Amtsinhaber war ein Blinder ohne Stock, wenn er keinen Zugang zu den bürokratischen Behörden hatte, die Dienste und Verträge in seinem Wahlkreis lieferten. Bürgermeister Pappas gefiel es, daß sein Stellvertreter klug, loyal und ein bißchen verträumt war… Es zahlte sich auch aus, daß jeder Calhoun die Schuld an Pappas’ Betonung seiner Unabhängigkeit von der politischen Maschinerie gab. Aber Bürgermeister Pappas wußte, daß er der Organisation nur so lange die Stirn bieten konnte, wie er Erfolg hatte. Wenn der Erfolg ausbleiben würde, brauchte er Anselmos Hilfe bei den strittigen Themen. Und für die Wiederwahl! 36
»Wir haben geteilt, und zwar so, daß wir die bessere Hälfte erhalten haben: Die Hälfte der Schulen in diesem Jahr, die andere Hälfte im nächsten… ohne teuren Firlefanz«, verkündete der Bürgermeister zufrieden. »Vielleicht hätten Sie etwas zurückhalten sollen«, sagte Kevin Calhoun. »Anselmo wird mehr verlangen. Er ist wie ein Faß ohne Boden.« »Ohne Boden oder nicht, er ist der Parteivorsitzende des Staats. Zwei Millionen registrierte Wähler in New York City. Und er kontrolliert ein paar Dutzend Mitglieder des Stadtrats. Wenn man etwas für die Leute erreichen will, muß man lernen, Anselmo nicht ans Bein zu pinkeln.« Der Bürgermeister war völlig überzeugt von seiner Ansicht. Calhoun war ebenso überzeugt, daß es falsch war, Anselmo von der Politik zu nähren, damit er stärker wurde und immer mehr verlangte. »Wir sollten besser versuchen, ihn an die Kandare zu nehmen, anstatt ihm mehr Macht zu geben. Drei Jahre lang haben Sie nachgegeben.« Der Bürgermeister ereiferte sich. »Ich soll mich vier Jahre lang in Kämpfen verschleißen und mich dann höchstens mit einem Stillhalteabkommen begnügen? Es gibt wirklich eine Menge Probleme in dieser Stadt. Ich bin gewählt worden, um einige davon zu lösen, und nicht, um bloß Vorschläge zu machen.« John Pappas sprach sehr eindringlich, und für seinen Stellvertreter war klar, daß er klein beigeben sollte. »Ich weiß, daß Frank Ihr Freund ist, aber Sie sind über ihn hinausgewachsen. Er ist verschlissen. Schmutz reibt sich zwangsläufig ab.« »Wie auch immer, Sie werden mit ihm arbeiten müssen. Es gibt hier viele Schwätzer… wir brauchen Anselmo, um etwas zu tun! Und das Wichtigste, Kevin, es gibt keine 37
Macht – und keine Träume –, wenn man nicht wiedergewählt wird.« Es war klar, daß dieses Thema der Unterhaltung jetzt beendet war. George wandte sich an den Bürgermeister. »Voraussichtliche Ankunft in vier Minuten, Sir.« Pappas neigte sich zu Kevin. »Wie alt war der Junge?« fragte er im Flüsterton. »Sechs.« »Und wie war unser Jahresbudget bis gestern abend?« »Fünfunddreißig Billionen Dollar.« »New York gibt wirklich viel aus, um seine Kinder zu töten«, bemerkte Pappas leise wie im Selbstgespräch. Der Bürgermeister ließ die Schultern hängen und sank auf dem Sitz zusammen. Er lehnte den Kopf zurück, schloß die Augen und hing seinen traurigen Gedanken nach. »Ankunft in einer Minute, Sir«, meldete George. Der Lincoln und das Begleitfahrzeug fuhren vor dem Kings County Hospital vor und stoppten gleichzeitig. Scheinwerfer von Fernsehteams leuchteten den Eingang des Krankenhauses aus, und Kameraleute gingen hastig in Position. Ungefähr zweihundert neugierige Zuschauer säumten den Eingang hinter hölzernen Polizeibarrieren. Eine Gruppe von Demonstranten rief im Sprechchor: »Stoppt den Genozid!« Scheinwerfer und Kameras wurden gedreht, um diese Demonstranten ins Bild zu rücken, und dann richteten sie sich wieder auf Bürgermeister Pappas, der aus seiner Limousine stieg. Es war üblich, daß Vizebürgermeister Calhoun dem Bürgermeister vorausging und herzlich von dem Leiter des sogenannten Vorauskommandos begrüßt wurde. 38
Fernsehjournalisten riefen: »Mr. Mayor, können Sie uns einen Kommentar zu der Schießerei geben?« Bürgermeister Pappas erwiderte, ohne seine schnellen Schritte zu verlangsamen: »Bitte, nicht jetzt… Es gibt keinen schmerzlicheren Moment für einen Bürgermeister, als den, wenn er verwundete Polizeibeamte und seine Angehörigen besucht.« Als der Bürgermeister durch die automatischen Glasschiebetüren ins Krankenhaus eilte, hörte er das Echo seiner Worte, die Reporter mit künstlich aufgeregter Stimme wiedergaben: »›Es gibt keinen schmerzlicheren Moment…‹ Dies waren die einzigen Worte des bekümmerten Bürgermeisters Pappas, als er an wütenden schwarzen Demonstranten vorbeiging… Bill, Susan, Dick live vom Kings County Hospital.« Der lange, labyrinthartige Gang im Krankenhaus, von dem Flure und Aufzugsschächte abzweigten, war voller Leute und wirkte wie ein Flüchtlingslager von Evakuierten in einem fernen Land. Leute unterschiedlicher Hautfarbe sprachen Kreolisch, Jiddisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch und gelegentlich Englisch mit hartem Akzent und bewegten sich eilig über den Flur. Ein einsamer Zeitungsstand verstärkte die an südliche Länder erinnernde Atmosphäre mit seinen Publikationen in vielerlei Sprachen ebenso wie der von zahlreichen Leuten umlagerte Informationsschalter mit Aufklebern in allen Sprachen. Menschen husteten, fieberten, trauerten, drogensüchtige Menschen, verlorene, entschlossene, betende, resignierte, hoffnungsvolle, trotzige, hilflose… und die Leute gingen einfach daran vorbei. Sehr wenige erkannten Bürgermeister Pappas, und selbst diese wenigen schenkten 39
ihm nur einen flüchtigen Blick. Der Leiter des Vorauskommandos hatte dafür gesorgt, daß ein Aufzug für den Bürgermeister und sein Gefolge freigehalten wurde. Sie fuhren in den zweiten Stock, wo es nur so von Leuten wimmelte. Da waren hochrangige Polizisten, an ihren polierten goldenen Abzeichen leicht zu erkennen, aber auch müde Beamte der Mordkommission, die nach der Nachtschicht im 101. Revier im Dienst bleiben mußten, Eddie Santos’ Familienangehörige und viel Krankenhauspersonal. Commissioner Coonan fing Bürgermeister Pappas ab. »Wie sieht es aus?« fragte der Bürgermeister. »Schlecht.« »Hat er Kinder?« »Zwei Mädchen, fünf und drei Jahre.« »Was sagt die Personalakte?« »Verdienstmedaille, Ehrenmedaille der Polizei… nie einen Tag krankgefeiert… härtester Cop von Brooklyn North.« »Wie geht es der Frau?« Commissioner Coonan blickte zu einer kleinen Frau um die zweiunddreißig mit olivfarbener Haut und attraktiver Figur. Zwei Kinder klammerten sich an ihren Rock. »Begrüßen Sie Elaine Santos.« Das Kings County Hospital hatte eine lange Tradition und beherbergte seit 1837 Leiden und Tod. Die hellen Poster an den Wänden konnten nicht die dunkle, bedrückende Atmosphäre vertreiben, die auf den engen Gängen herrschte. In dieser Stimmung, die etwas Bedrohliches hatte, drängten sich Polizisten und Bürger, aus einem alten gesellschaftlichen Instinkt heraus, zu Gruppen zusammen. 40
Bürgermeister Pappas schüttelte Elaine Santos die Hand. Während er ihr die Unterstützung der Stadt zusicherte, hob er nacheinander die beiden Kinder hoch und drückte sie an sich. Auf der anderen Seite des Gangs hielt Kevin Calhoun den Bürgermeister im Auge, während er Detective Florian von der Internal Affairs Division Unit, der Abteilung für interne Angelegenheiten der Polizei, ins Bild setzte. Kevin bemerkte, daß sich eine attraktive junge Frau dem Bürgermeister und Mrs. Santos näherte, ein großes irisches Mädchen um die Dreißig. Sie wirkte clever und durchsetzungsfähig, obwohl sie zugleich Herzlichkeit ausstrahlte. »Wer ist die Lady, die sich Mrs. Santos und dem Bürgermeister vorstellt?« fragte Calhoun jetzt Florian. »Sie ist eine von uns. Eine Anwältin der Detective Endowment Association. Ich glaube, sie heißt Marybeth Cogan. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wie lange es dauern wird, bis Sie sich nach ihr erkundigen.« Florian genoß es, jedem Gesprächspartner im Wissensstand voraus zu sein. »Jetzt brauchen Sie sich nicht mehr zu fragen«, sagte Calhoun mit einem Lächeln. »Welche Aufgabe hat Mrs. Cogan?« »In Fällen wie diesem beauftragt die DEA einen ihrer Ermittler, den Ruf des Cops und seine Pensionsrechte zu schützen.« Florians Tonfall erweckte den Eindruck, daß keiner außer ihm Bescheid wußte und alle Bemühungen von anderen, etwas herauszufinden, lächerlich waren. »Was ist passiert?« »Das weiß ich noch nicht.« Florian antwortete absichtlich ausweichend. »Santos traf sich mit einem gefährlichen Verbrecher, ohne einen Schattenmann 41
dabeizuhaben.« »Was machte er?« Calhoun wußte, daß er Florian jedes Wort einzeln entlocken mußte. »Er traf sich allein mit einem Drogendealer. Zu welchem Zweck, das weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, daß wir einen sterbenden Cop, einen toten Jungen und einen toten Neffen vom Kopf der Zapatti-Familie haben. Keine schönen Aussichten.« Florians gefühllose Kommentare bildeten einen so scharfen Kontrast zur Erscheinung und zum Auftreten von Bürgermeister Pappas, der die verängstigten Santos-Kinder auf den Armen hielt, daß es Calhoun kalt über den Rücken lief. »War Tino anerkannt im Clan?« fragte Calhoun. »Soll das ein Witz sein? Ein kleiner Scheißer, ein Nichts. Zu hitzköpfig für den Mob. Ein Psychopath, dem es Spaß machte, andere Leute leiden zu sehen. Es heißt, daß er die Grausamkeit seines Onkels ohne dessen Selbstkontrolle hatte. Ein so langes Strafregister.« Florian streckte die Hände weit aus. »Der Kerl gehörte nach Attica in Sicherheitsverwahrung. Statt dessen wurde er auf Bewährung freigelassen, gegen deren Auflagen er verstieß.« »Bewährung?« fragte Calhoun erstaunt. »Ist eine Strafe auf Bewährung nicht sehr hart in dieser Stadt?« erwiderte Florian spöttisch. »Der Bürgermeister wird sich für die Frau einsetzen…« Bevor Calhoun das weiter ausführen konnte, gab Florian eine Warnung. »Das würde ich an seiner Stelle nicht tun.« Calhoun musterte Florian schweigend, der fortfuhr: »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wir können Santos mit seinem glänzenden Ruf begraben. Gute Cops werden 42
schlecht, das passiert immer wieder. Und wir geben ihm obendrein das Begräbnis eines Inspectors. Dann wird uns eine Ermittlung in aller Stille sagen, was wirklich passierte… es ist zu früh, den Bürgermeister in der Öffentlichkeit in eine gefährliche Lage zu bringen.« Die Metalltüren des OP wurden geöffnet, und die Versammelten auf dem schmalen Flur zuckten zusammen. Eine Schwester in mittleren Jahren mit einer blaßgrünen Uniform und bauschiger Haube bemühte sich, einen Weg vor der Trage mit Eddie Santos zu bahnen, die eilig von vier Krankenschwestern getragen wurde. »Machen Sie Platz! Platz, bitte!« riefen die Schwestern. Eddie Santos lag reglos auf der Trage, umwuchert von den neuesten Errungenschaften der medizinischen Technologie. Ein Schlauch führte in seine Luftröhre, ein Urinkatheter regulierte seinen Ausfluß; Blut und Nährflüssigkeit in Dextroselösung flossen durch intravenöse Schläuche in seine Venen, und er war an einen Herzmonitor angeschlossen. Als der Bürgermeister und Mrs. Santos einen Blick auf den reglosen Eddie Santos erhaschten, der wie tot auf der Trage lag, rief Pappas in seiner Hilflosigkeit dem neben ihm stehenden Coonan zu: »Um Himmels willen, helfen Sie diesen Leuten, durchzukommen.« Coonan demonstrierte sofort, daß er seine früheren Erfahrungen bei der Verkehrspolizei nicht vergessen hatte, und bahnte wirkungsvoll einen Weg für das Krankenhauspersonal. Der Bürgermeister, ein Priester und Mrs. Santos durften mit zwei Ärzten und der Oberschwester in die Intensivstation. Plötzlich ertönte vom Herzmonitor ein widerlicher langgezogener Ton, und jeder, der den Monitor im Blickfeld hatte, sah die flache Linie darauf. 43
Die Ärzte gaben sich alle Mühe, Eddie Santos wiederzubeleben. Die Schwester riß das Laken von ihm, entblößte eine lange Reihe von Klammern, die sein Brustbein zusammenhielten, denn es war aufgebrochen worden, um das Loch in seinem Herzen zu nähen. Eine entschlossene Ärztin drückte rhythmisch die Handflächen tief in Eddies Fleisch, um frisches Blut in sein stillstehendes Herz zu pumpen. Ein Arzt versuchte durch Elektroschocks den Herzschlag wieder in Gang zu bringen. Die Wiederbelebungsversuche wurden eine Viertelstunde lang fortgesetzt, und dann erklärte ein erschöpfter Arzt: »Wir haben ihn verloren.« Der Priester trat vor, legte eine Stola an und nahm für die letzte Ölung ein Fläschchen aus der Tasche. Er öffnete den Verschluß, träufelte etwas Öl auf seinen Daumen und zeichnete damit ein Kreuz auf Santos’ Stirn. »Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in Seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes.« Elaine schluchzte, und Bürgermeister Pappas schloß sie sanft in die Arme. »Wir sind bei Ihnen, Elaine…« Und mit einem Blick zu Santos’ Kindern, die das Gesicht gegen das Fenster der Intensivstation drückten und deren Augen Furcht und Verwirrung widerspiegelten, fuhr der Bürgermeister fort: »Die Stadt kümmert sich um ihre Bürger.« Bürgermeister Pappas trat an Santos’ Bett, betete stumm und verließ eilig die Intensivstation, während der Priester weitersprach: »Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte Er dich auf.« 44
4 Paul Zapatti, der neunundsechzigjährige Don der ZapattiFamilie, schlenderte über die Strandpromenade von Coney Island auf seinem Weg zur Party des Gemeindevorstehers, die er anläßlich seiner Pensionierung bei Gargivlos gab. Zapattis Berater und die Leibwächter folgten aufmerksam, aber in respektvoller Entfernung mit ihrer schwarzen Limousine. Die fünf Mafiafamilien hatten Zapatti auserwählt, ihre politischen und juristischen Verbindungen in New York aufrechtzuerhalten. Die Mafia-Kommission war sich im klaren, daß Verbrechen ein gefährliches Geschäft sein konnte, wenn man nicht in der Lage war, Politiker und Richter in die Tasche zu stecken. Selbst hohe Gewinne aus kriminellen Unternehmungen konnten nicht über zwanzig Jahre Gefängnis hinwegtrösten. Sie wußten, daß Geld dauerhafter ist als Macht: Es ist ein wichtiges Element, Macht zu erreichen und zu erhalten – und wann immer es möglich war, nutzten die Verbrecherbosse bereitwillig ihre Bankkonten, um Schutz von den Mächtigen zu kaufen, damit sie ihre geschäftlichen Operationen weiterhin in relativer Sicherheit durchführen konnten. Zapatti rief sich in Erinnerung, daß er als Kind genau an dieser Stelle in Coney Island gelebt hatte, arm und mit hart arbeitenden Einwandererfamilien, die ihren Tag am Strand verbracht hatten. Und am Abend wurden die Kinder zu Fahrten auf den Karussells, den Autoscootern, der Raupe und dem Riesenrad mitgenommen, alles gekrönt von Nathan’s besten Hot dogs, Fritten und Schokoriegeln. Heute fühlte sich sogar Paul Zapatti unsicher auf dem 45
größten Teil von Coney Island, wo Waffen, Drogen und Straßengangs nur geschlossene Buden und Stände und rostendes Metall übriggelassen hatten. Wie ein alter nostalgischer Mann schüttelte Zapatti den Kopf über diese Veränderung, aber vernunftsgemäß wußte er, daß die gegenwärtigen Bewohner dieser Gegend bessere Kunden für sein Geschäft waren als ihre Vorgänger. Der wichtigste Mann der Mafia hielt sich für den Inbegriff des Kapitalisten; er war der seelenlose Händler, der Bedürfnisse in einer Konsumnische erfüllte, die durch menschliche Schwäche genährt wurde. Zapatti war wie ein Insekt, das eine Schwäche in der menschlichen Haut fand, sich hineingrub und die Kraft aus den lebenden Opfern saugte. Die Besiegten betäubten ihren Schmerz mit seinem Kokain; die Gierigen oder Armen ließen sich mit Zapattis Kredithaien ein; die Ungeliebten spielten mit seinen Huren; und die Gelangweilten fanden ihren Kitzel an seinen Spieltischen. Zapatti verachtete seine Kunden. Für ihn waren sie widerliche Kreaturen, ohne Respekt vor ihren Familien oder sich selbst. Sie führten ein Leben in Unordnung und voller schamloser Gewalt gegen sich selbst und die Gesellschaft. Aber Sünde war zuallererst das Fundament seines nicht konjunkturbedingten Geschäfts. Aufrichtigkeit, Freundlichkeit, Versöhnlichkeit, Ehre und Herzlichkeit standen nicht in Zapattis Wörterbuch. Er war ein wortkarger Einzelgänger, der für gewöhnlich teilnahmslos dasaß und andere ringsum beobachtete. Zapatti entschied Schicksale und traf geschäftliche Entscheidungen auf Grund seines Status, ohne jemals jemandem seine Aktionen zu erklären. Sein Spitzname beim Mob war ›Il Duro‹, der Harte, wegen seines kompromißlosen Bestrebens, die Mafia-Familie um jeden Preis zu erhalten. Menschenleben oder Tod bedeuteten 46
nichts für Zapatti, abgesehen davon, daß sie Instrumente zum Erreichen seiner Ziele waren. Von Zeit zu Zeit flüsterte New Yorks Unterwelt, daß Il Duro einen respektlosen Leutnant mit eigenen Händen ermordet hatte, um zu zeigen, daß er letzten Endes auf niemanden angewiesen war. Dunkle Wolken, die dem Sturm am frühen Morgen vorausgezogen waren, hingen immer noch über der Stadt. Als ein plötzlicher Wolkenbruch Zapatti ein paar Blocks von dem Restaurant entfernt erwischte, blickte er nicht einmal auf; er bewegte weiterhin seinen muskulösen Zweieinhalb-Zentner-Körper mit den kurzen, entschlossenen Schritten eines Eroberers, der die Elemente nicht zur Kenntnis nahm. Bevor sein Fahrer zu ihm gelangen konnte, tauchte ein schmächtiger, runzliger Sizilianer, ungefähr in seinem Alter und ein Überbleibsel aus der alten Nachbarschaft, bekleidet mit einem zweireihigen Anzug, der mindestens dreißig Jahre alt war, lautlos von DeLucas Fischmarkt auf und verneigte sich respektvoll. Wortlos öffnete der Mann seinen Schirm, hielt ihn über Zapatti und schritt treu hinter ihm durch den Regen, ein Gefolgsmann hinter einem mittelalterlichen Prinzen. Die lange, schwarze Limousine fuhr heran und stoppte scharf neben Zapatti. Ein schwitzender Consigliere sprang aus dem Wagen, der noch rollte, und rannte zu seinem Boß. »Mr. Zapatti, Tino ist tot! Schießerei mit einem Rauschgiftcop bei den Carver Houses. Sie sollten besser von den Straßen fernbleiben.« Zapattis Augen spiegelten kurz Schmerz wider, doch dann wurden sie sofort wieder ausdruckslos. »Wir lassen die Nigger in Bushwick verkaufen. Was, 47
zum Teufel, tat Tino da oben?« waren Zapattis erste Worte nach der Hiobsbotschaft. Die ausdruckslose Miene des Beraters spiegelte seine Gefühlskälte wider. Aber Furcht vor Zapatti machte auch ihn so unsicher wie jeden anderen auch, der es mit dem Boß zu tun hatte. Der im Gerichtssaal wortgewandte Anwalt geriet, ganz untypisch für ihn, ins Stammeln: »Das… das weiß keiner, Sir.« Zapatti stieg in den Wagen und schaltete den Fernseher ein, um die Lokalnachrichten zu verfolgen. Er sah ein Foto von sich selbst, es wurde zwischen denen von Tino und Eddie Santos eingeblendet, und der Reporter fragte: »Gibt es da eine Verbindung?« Zapatti schaltete den Fernseher aus und sagte schroff zu seinem Consigliere: »Finde heraus, was Tino in Bushwick gemacht hat. Wer ihn dort hingeschickt hat. Und ob der Cop Dreck am Stecken hatte. Dieser Ärger ist für niemanden gut.« Der Komplex der Carver Houses wirkte wie Disneyland, weil sich so viele Weiße dort herumtrieben. Zapattis Mitarbeiter entdeckten ihr Opfer und stoppten mit quietschenden Reifen neben dem am lustigsten gekleideten Zuhälter in Bushwick. Als sich ihm drei gutgekleidete junge Männer näherten, leierte der Dandy monoton herunter: »Ich habe euch Jungs gesagt, ich habe nichts gesehen und weiß noch weniger. Aber ich kenne meine verfassungsmäßigen Rechte.« Wortlos stießen zwei von Zapattis Männern ihn rücklings auf die Haube ihres Wagens. Der dritte ließ ein Zwölf-Zoll-Stilett aufschnappen und hielt die Spitze an die Hoden des Mannes. Mit kindlichem Grinsen sagte der Messermann: 48
»Du hältst uns für das falsche Team, Bruder. Wir sind von der anderen Seite.« Die Stimme des Zuhälters wurde schrill. »Rutsch nicht ab, ich brauch’ die Eier noch… ich will euch helfen.« »Aber hurtig. Meine Hand wird müde. Mit wem war Tino zusammen?« Er drückte die Klinge ein wenig tiefer; die grüne Hose des Pimps färbte sich im Schritt dunkelrot. »Eine meiner Puppen kannte Vinnie aus dem Billardraum bei Marcy. Er ging zu Tino, begrüßte ihn und rannte dann wie der Teufel weg, als die Schießerei begann. Martina warf sich auf den Bürgersteig, und so sah sie nicht, was passierte.« »Alles Gute, Bruder.« Der Zuhälter wurde auf den Bürgersteig geschleudert, wobei sein Schulterholster sichtbar wurde. »Keine schnelle Bewegung, Bruder, oder mein Freund verwandelt deinen Kopf in Staub.« Der Mann am Steuer bekräftigte die Drohung, indem er eine Schrotflinte mit verkürzten Läufen aus dem Wagenfenster stieß. Die Crew berichtete sofort Mr. Zapatti, und er reagierte mit dem Befehl: »Findet Vinnie!« Vinnie ging unruhig in dem kleinen Zimmer auf und ab, das seine Freundin ihm als Unterschlupf gesichert hatte. Er schrie, heulte und zitterte abwechselnd. »Ich bin so gut wie tot, Cookie. Es ist nur die Frage, ob mein Onkel oder die Cops mich zuerst schnappen.« »Es war Pech, wir werden einen Ausweg finden«, sagte seine Freundin ohne Überzeugung. »Du hast mir das eingebrockt. Du hast gesagt, eine 49
Koksauslieferung, und wir können von hier verschwinden. Bumm! Da schnappt mich der verrückte Eddie. Ich mochte Tino, und jetzt ist er tot. Jetzt sind wir beide tot!« Cookies Niedergeschlagenheit verwandelte sich in Trotz. »Ich war bereits tot, Vinnie. Ich habe die Haare von Leuten gewaschen, die stets an irgendwelche tollen Orte gingen: Hobe Sound, Paris, East Hampton. Und ich wußte, wohin ich gehen würde… zurück nach Brooklyn… Sam’s Pizzeria, Doc’s Bar. Joe’s Bowling… endlose Scheiße von den Jungs über Beute, Klauen und Rauben.« »Na und… du bist jung und schön. Diese häßlichen alten Weiber brauchten Haarwäschen… Gesichtsbehandlungen…« Vinnie verstand nie, wie das Erbe ihrer Mutter Cookies Vision von ihrer Zukunft beeinflußte: Alkohol, breite Hüften, Schmerbauch und lange, langweilige Nächte des Wartens auf den Ehemann, bis er aus dem Bett seiner Geliebten heimkehrte. Die Vorstellung, in ihrer Zukunft in einer solchen Hölle zu leben, bereitete Cookie mehr Furcht als der Tod. »Blödsinn! Wie lange dauert es, bevor ich aussehe wie meine Mutter?!« schrie Cookie. »Länger als ich noch leben werde, Baby!« Cookie beruhigte sich. Sie hielt den zitternden Jungen im Arm. »Wir finden einen Ausweg, Vinnie. Mach dir keine Sorgen, Baby«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Es gibt keinen Ausweg«, erwiderte er verzweifelt. »Es gibt immer einen!« sagte Cookie mit einer Zuversicht, die auf einen Plan schließen ließ. Bürgermeister Pappas sah deprimiert aus, als er in seiner Limousine vom Krankenhaus fortfuhr. 50
»Ich sollte Abe anrufen und ihm sagen, daß wir verspätet zu Ihrer Rede bei der Innenstadtvereinigung kommen werden«, sagte Calhoun und wartete auf eine Anweisung. »Sir, wie möchten Sie es haben?« fragte Calhoun, als der Bürgermeister keine Antwort gab. »Was?« fragte Pappas geistesabwesend. »Wo wohnt der Junge?« George nahm das Funkmikro. »Rainbow eins an Rainbow zwei. Geben Sie uns die Adresse des toten Jungen.« »In den Carver Houses. South 5th Street 515«, ertönte es verzerrt aus dem Lautsprecher. »5th Street, gleich beim Broadway«, informierte George den Bürgermeister. »Dorthin fahren wir«, sagte Pappas entschieden. »Wir haben kein Vorauskommando, keinen Schutz«, gab Calhoun zu bedenken. »Dort könnte ein Mob sein.« »Mir ist es gleichgültig, wer dort ist. Ich will dorthin. Und wir fahren dorthin. Wissen Sie, warum? Weil ich der Bürgermeister bin.« »Rainbow zwei – vergessen Sie die Innenstadtvereinigung. Merken Sie vor, Abe um Entschuldigung zu bitten«, improvisierte George. Bürgermeister Pappas war immer beliebt bei Wählern von Minderheiten gewesen. Aber heute wurde er von einer Mauer des Schweigens und gesenkten Köpfen begrüßt, als er zwischen kleinen Gruppen von Nachbarn hindurchging, die vor dem Mietshaus standen, in dem Bone gewohnt hatte. Pappas verstand durch seine eigene Erziehung, daß Schweigen das letzte Bollwerk von Selbstachtung für die Machtlosen ist. Diese Gemeinde hatte ein kollektives Urteil über Bürgermeister John Pappas gefällt, eine 51
Person, dem die Minderheit Macht gegeben hatte und die nicht einmal ihre Kinder vor dem Tod durch das System schützen konnte, das sie angeblich ernähren sollte. Als sich Pappas und Calhoun einen Weg durch den Dreck und Gestank des Treppenhauses bahnten, erinnerte sich der Bürgermeister an seine Kindheit und sagte in Gedanken: »Schrecklicher Hausmeister hier.« Edgar Bone, Robbys Vater, öffnete die Wohnungstür und starrte den Bürgermeister mit unbewegtem Gesicht an. Der Ausdruck seiner Augen war leer wie der eines Mannes, der das Leben nicht mehr versteht und nur noch als Körper existiert. Nach scheinbar endlosen Sekunden verneigte Bone sich leicht und sagte mit dünner Stimme »Euer Ehren.« Dann machte er steif kehrt und ging in das kleine Wohnzimmer. Der Bürgermeister folgte ihm. Innerhalb eines Morgens war dieser noch relativ junge Mann zu einem Greis geworden. Bones vorher noch forscher Schritt war zu dem langsamen, schleppenden Gang eines Opfers geworden. Beim Anblick des trauernden Vaters erkannte Bürgermeister Pappas, daß Bone nur Erinnerungen an Liebe geblieben waren; keiner weinte mit ihm, keiner berührte ihn tröstend. Der Bürgermeister wollte sagen »Ich mag Sie«, doch er erkannte, daß es als leere Floskel verstanden werden würde. John Pappas legte unbewußt einen Arm um den reglos dastehenden Bone. »Es war ein schrecklicher Unfall«, sagte Pappas leise. »Jemand ließ den Wolf frei, um mein Lamm zu fressen. Ich will Gerechtigkeit. Ich werde Gerechtigkeit bekommen«, sagte Bone mit der unerbittlichen Kälte eines Rächers. Als Bürgermeister Pappas die Wohnung verließ, glaubte 52
er die Verantwortung der Welt auf seinen Schultern zu spüren. Genauer gesagt, die Verantwortung für Robby Bones Tod.
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5 Walter Sterns schwarzer Mercedes fuhr an einem roten Schild vorbei, das absolutes Halteverbot verkündete, fuhr auf den Bürgersteig und parkte hinter dem Brooklyn County Courthouse: seine niedrige Zulassungsnummer verriet, daß er Richter des obersten Gerichts des Staats war, ein privilegierter Status für jeden nicht hiesigen Verkehrspolizisten, der das Fahrzeug selbst vielleicht nicht kannte. Richter Sterns bedächtige Art und sein Äußeres zeugten von dem, was er war: Als erstes tauchte eine verschrammte vierzig Jahre alte Aktentasche aus dem Wagen auf; dann folgte Stern mit seinem schwarzen Kaschmirmantel von Brooks Brothers über dem dunkelblauen Anzug aus Wolle, dem maßgeschneiderten weißen Charvet-Hemd; und schließlich war sein blasses, leicht fleischiges Gesicht zu sehen, mit randlosen Brillengläsern und dichtem, weißem, gewelltem Haar. Stern war bis vor kurzem der aristokratische Seniorpartner einer Anwaltskanzlei in der Wall Street mit fünfhundert Anwälten gewesen. Zum Erstaunen des juristischen Establishments wollte Stern seine Karriere mit öffentlichem Dienst für die Stadt krönen, die er liebte. Er war begeistert von Bürgermeister Pappas gebilligt worden, der ihn Frank Anselmo empfohlen hatte. Es war der Parteichef, der in Wirklichkeit Ernennungen von Richtern und die Auswahl von Richtern des Supreme Court diktierte, durch einen Pro-forma-Wahlausschuß, der von den lokalen politischen Ortsvereinen der Partei kontrolliert wurde. Nach zwei Jahren im Dienst hatte sich Stern bereits den Ruf erworben, ein harter, aber fairer Richter zu sein, obwohl ihn einige für etwas zu intellektuell hielten, zu 54
sehr der Rechtsakademie Yale verbunden, um auf der städtischen Richterbank zu sitzen. Richter Stern schloß sich auf der steilen Treppe vor dem Gerichtsgebäude dem Strom der Angestellten an, die vom Mittagessen zurückkehrten. Als er sich dem Eingang näherte, bemerkte er eine Traube von Reportern und Kameraleuten vom Fernsehen, die sich im Kreis um einen einzelnen Schwarzen drängten, der still in einer schattigen Ecke stand. In der Mitte des Kreises stand Edgar Bone mit grimmigem Gesicht. Bone rief bei den Reportern fast Anfälle hervor, weil sie es gewohnt waren, daß sich Leute vor ihren Fernsehkameras in Szene setzten, während dieser Mann kein einziges Wort in ihre Mikrofone sprach. Bones anthrazitfarbener Traueranzug war nur mit seinem Silver Star von Vietnam geschmückt, und sein Gesicht wurde für die Fernsehkameras von einem selbst gemalten Schild eingerahmt, auf dem das Bibelzitat stand: ›Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachjagen.‹ Ein Foto von Bones erschossenem Sohn war unter den Text aus dem Fünften Buch Mose geklebt, als scharfe Anklage eines namenlosen Angeklagten. Bone sah vor seinem geistigen Auge, wie Robbys kleiner Geist ihn an der Hand führte, um andere Kinder durch eine Säuberung des Systems zu retten. Edgar Bone hatte nichts mehr zu verlieren, und er wurde die gefährlichste Art Feind, mit einer unbezwingbaren Besessenheit, das System zu Fall zu bringen, das am Tod seines Sohnes schuld war. Gerechtigkeit würde das einzige passende Monument für seinen Sohn sein. Bone wählte die alte christliche Methode, als stummer Zeuge dazustehen, bis er das Gewissen des Mannes brach, der den Wolf freigelassen hatte, der sein Lamm gefressen hatte. Wie Gandhis Strategie des passiven Widerstands, die Indien von den Briten befreien sollte, würde es nur funktionieren, 55
wenn Bone einen moralischen Feind hatte; er wußte nicht, daß der Feind in der Gestalt von Richter Walter Stern ein anständiger Mann war. Diese biblische Verurteilung eines Richters stellte für New Yorks Medien ein Festessen dar. Als Stern die Treppe hinaufstieg, sah er schockiert, daß der sehr angesehene ehemalige Bürgermeister Ed Koch für die Fox News einen politischen Kommentar live von der Treppe des Gerichtsgebäudes gab: »Das unbändige Verlangen eines schmerzerfüllten Vaters nach Gerechtigkeit stellt eine direkte Herausforderung für das System dar, die keineswegs ignoriert werden kann. Wenn die Richter nicht unsere Kinder schützen können, wer dann? Sie sind der letzte Hafen von Unabhängigkeit in einer turbulenten Demokratie, ob man ein kleiner oder großer Junge ist. Richter Walter Stern hat uns enttäuscht! Er muß erklären, warum er einen Mafiagangster, einen psychopathischen Drogendealer auf Bewährung aus der Haft entlassen hat, der dadurch ein Kind und einen heldenhaften Polizeibeamten töten konnte. Ein einfacher Mann, Edgar Bone, fordert für uns alle, die Wahrheit zu erfahren.« Richter Stern sah sein Leben und seine Karriere enden. Stern wußte von diesem Moment an, daß er sein Schicksal nicht mehr selbst bestimmen konnte. Die Bestätigung erhielt er, als ihn eine Horde von Reportern entdeckte, ihn am Eingang unerwartet umzingelte und Fragen auf ihn einschrie, die er in dem Tumult nur teilweise verstehen konnte: »Tino Zapatti… Urteil ihm zuliebe… Bewährungsstrafe… Einfluß der Mafia…« Richter Stern konnte den Ring der aufgeregten Reporter nicht durchbrechen. Er suchte verzweifelt nach einem Fluchtweg, ein Fuchs, der blutdürstigen Hunden in einer Falle ausgeliefert war. Immer wieder rief er: »Kein Kommentar… bitte… kein Kommentar… was ist hier 56
los?« Peter Ragan, Richter Sterns vierzigjähriger treuer Assistent, der in der Halle wartete, um sich dem Richter zum Hearing anzuschließen, wurde auf den Tumult aufmerksam. Er alarmierte eine Phalanx von Gerichtsbeamten, die den Richter entschlossen von seinen Peinigern befreiten. Bone beobachtet das Martyrium des Richters, ohne auch nur zu blinzeln. Die Worte ›Gerechtigkeit, Gerechtigkeit‹ erfüllten die Luft. Gerichtsbeamte blockierten den Reportern den Weg, während Richter Stern fix und fertig mit Ragan in einen Aufzug flüchtete. »Besorgen Sie mir die Zapatti-Akte mit dem Bewährungsbericht«, war alles, was der Richter hervorbrachte, als er zitternd an der Wand im Aufzug lehnte.
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6 Das Pressebüro plante eine Pressekonferenz des Bürgermeisters für fünfzehn Uhr im Blauen Raum. Auf diese Weise konnte die City Hall die Rundfunkreporter für die 18-Uhr-Nachrichten und die Zeitungsreporter für die Schlagzeilen der Abendzeitungen mit der Geschichte jenes Ereignisses füttern, das jetzt beschönigend als ›CarverZwischenfall‹ bezeichnet wurde. Abe Bauman, der Stabschef des Bürgermeisters, der die interne Verwaltung in der City Hall kontrollierte, leitete die Konferenz umsichtig und vorsichtig. Der Blaue Raum war pulverblau mit weißen Zierleisten ringsum in Hüfthöhe und unter der Decke. Die hohen Fenster gingen auf den City Hall Park und die Skyline der 20er Jahre hinaus, zu der solche architektonischen Monumente wie das Woolworth- und das alte AT&TGebäude, jetzt zweitklassige Bürogebäude, gehörten. Der Blaue Raum sah leer groß und würdevoll aus, wirkte jedoch beengt, antiquiert und stickig, als er mit fünf Stuhlreihen mit Reportern, einer hölzernen Plattform mit sechs Fernsehkameras und Kameraleuten plus unzähligen Beleuchtungskabeln und Dutzenden Politikern in Dreierreihe vor den Wänden gefüllt war. Abe sprach über ein Funksprechgerät mit dem Fahrer des Bürgermeisters und erhielt die Ankunftszeit. »Zwei Minuten! Noch zwei Minuten! Nur Geduld!« rief er den Wartenden zu. Immer noch bestückten Fotografen ihre Kameras mit Filmen. Reporter zückten ihre Notizbücher, während andere mit Kassettenrecordern auf den Knien warteten. 58
Abe informierte Calhoun über Bones Mahnwache auf der Treppe des Gerichtsgebäudes und das unglaubliche Interesse der Medien daran. Calhoun schaltete den Fernseher im Wagen an, und sie blickten schweigend auf den Bildschirm. »Ziemlich harte Berichterstattung«, sagte Kevin schließlich. »So was habe ich noch nie gesehen. Die Story ist so bizarr – das unschuldige Kind, der Vater ein Kriegsheld, der Undercover-Cop ein Superheld, der Richter, dem das Herz blutet, der verurteilte Drogengangster, der auf Bewährung durch die Straßen spaziert, und der gottverdammte Pate Paul Zapatti, der über allem thront wie eine Kirsche auf dem Eisbecher.« Bürgermeister Pappas schüttelte resigniert den Kopf und trank einen Schluck Scotch. »Ich habe einen Freund gebeten, festzustellen, ob jemand Bone berät«, fuhr Calhoun fort. »Wenn man ihn anschaut und diese total leeren Augen sieht, könnte man denken, daß er ein bißchen verrückt geworden ist. Aber wenn man die Berichterstattung sieht, die er mit seiner Rolle des leidenden Mahners in Trab hält, fragt man sich, ob ihm ein PR-Guru der Republikaner etwas ins Ohr geflüstert hat. Haben Sie Sterns Gesicht gesehen? Es sah aus, als wäre er einem Geist begegnet.« »Oder einem Racheengel«, erwiderte Pappas. »Ja, was auch immer«, murmelte Kevin, »es zeigt, daß Bone weiß, was die marschierenden Protestler nicht gelernt haben – daß weniger mehr ist. Er steht einfach da und starrt, und sie können nicht genug von ihm kriegen. Sie halten ihm Mikrofone hin, und er sagt kein Wort. Kein Reporter ist jemals jemandem begegnet, der nicht in sein Mikrofon plappert, und so werden sie natürlich hysterisch wegen dieses ›biblischen‹ Phänomens.« 59
»Niemand sagt ihm, was er tun soll«, sagte Pappas leise. »Sie treiben sich zu lange mit Politikern herum, Kevin. Wir sind es, die auf unsere Berater von der Madison Avenue warten, damit sie uns sagen, wie wir die Gefühle zeigen, die wir den Leuten weismachen wollen. Aber manche Leute, auch einige einfache, gewöhnliche, können in ihrer Trauer instinktiv etwas Dramatisches tun, etwas – wie soll ich es sagen? – Majestätisches. Da ist das verzweifelte Verlangen, die emotionale Leere mit einem Ziel auszufüllen. Sie, Kevin, sind zu jung, um tiefes Leiden zu verstehen. Der Schmerz, seinen Sohn zu verlieren, ist einer der schlimmsten«, sagte Pappas in Gedanken verloren. »Sie haben Bone im Fernsehen gesehen, er wirkt wie ein Toter, der dort seine Mahnwache hält. Aber er ist nicht tot. Er ist nur untröstlich. Von Zorn erfüllt. Das war ich auch einmal, Kevin. Mit dem Tod ist es wenigstens aus. Der Tod schmerzt nicht. Aber einen Sohn zu beerdigen, das macht einen fertig, Kevin. Ich weiß genau, was Mr. Bone empfindet. Ganz genau! Als man meinen Sohn von Vietnam heimflog, mit all dem Salut und den Ehrengarden und gefalteten Flaggen und dem Zapfenstreich, den sie spielten, daß allen die Tränen kamen, da fühlte ich mich so wie Mr. Bone – untröstlich und von wildem Zorn erfüllt.« Kevin hatte Pappas noch nie so erlebt: völlig ruhig, fast wie erstarrt und leise sprechend, wobei sich seine Lippen nicht zu bewegen schienen. »Ich konnte mir immerhin sagen, daß Johnny für ein Ziel starb. Für ein unklares Ziel… ein zunehmend zweifelhaftes Ziel… aber wenigstens eine Art Ziel. Aber was kann Mr. Bone sich sagen? Warum starb sein Robby?« Plötzlich schien der Bürgermeister ins Leben zurückzukehren. Seine Brust schwoll an, und er spie die Worte heraus, als wären sie brennend: 60
»Robby Bone starb, weil er es wagte… weil er so tollkühn war zu denken, er könne im Regen über eine Straße um acht Uhr morgens in New York City zur Schule gehen.« Pappas verfiel in nachdenkliches Schweigen. »Die Frage, die wir beantworten müssen, Kevin«, fuhr er nach einer Weile fort, »ist, was Mr. Bone sich sagen kann. Was ich Mr. Bone sagen kann. Und was ich den Leuten von New York sagen kann. Und schließlich, was kann ich mir selbst sagen. Ich bin für die Stadt verantwortlich, die Robby Bone getötet hat.« Kevin suchte vergebens nach Worten, die den Schmerz seines Mentors mildern könnten. »Es tut mir leid, Kevin«, sagte Pappas, als er seine Stimme und Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. »Dies waren rhetorische Fragen. Nicht nötig, sie zu beantworten. Es gibt ohnehin keine Antworten. Aber danke für den Versuch. Ich danke fürs Zuhören. Ich habe nur laut gedacht, nach einigen Ideen für die morgige Traueransprache gesucht.« Abe eskortierte eine Gruppe von schwarzen Geistlichen aus Brooklyn in den Blauen Raum, und sie bildeten ein paar Schritte vom Podium entfernt einen kleinen Halbkreis. Ein schwarzer Reporter von The Sun neigte sich zu einem Kollegen auf dem Stuhl neben seinem, nickte zu den Geistlichen hin und sagte: »Da reihen sich die Enten auf.« Offenbar spielte er auf den Versuch des Bürgermeisters an, der Minderheitengemeinde zu zeigen, daß er bei der Handhabung des Carver-Zwischenfalls Unterstützung hatte. »Dreißig Sekunden«, kündigte Abe an. Polizisten in Zivil öffneten das Portal der City Hall, als 61
der Bürgermeister mit seinem Stellvertreter Calhoun an der Seite die Treppe hinauf und in die Halle des Rundbaus eilte. Leslie Christos, die Pressesprecherin des Bürgermeisters, tauchte an seiner Seite auf, als er über den schmalen Westflur und durch die Eisentür an dessen Ende ging, bei dem ein Mann des Sicherheitsdienstes auf Posten stand. »Wer wird Fragen stellen?« fragte der Bürgermeister jetzt Leslie. »Die Post.« »Sadler? Oder Marx?« »Sadler.« Leslie klang ein wenig frustriert. »Ich weiß, was kommt«, sagte der Bürgermeister. »›Ist Bewährung in dieser Stadt eine Strafe?‹« Leslie war auf diese Frage vorbereitet und las den Vorschlag einer Antwort von ihren Notizen ab. »Richter Stern hat Hervorragendes auf der Richterbank geleistet. Er hat zwei Jahre lang dieser Stadt als Richter gedient und einige der härtesten Strafen verhängt. Wenn der Bericht, den er von der Leonard Street erhielt, eine Aussetzung der Strafe auf Bewährung empfahl, dann mußte er für Bewährung entscheiden! Danach wird der Reporter sagen, daß ihm das nicht zwingend vorgeschrieben ist.« »Ich weiß, ich weiß«, erwiderte der Bürgermeister mit der Ungeduld eines Stars, der es nicht erwarten kann, die Bühne zu betreten. Im Blauen Raum hörte er Abe rufen »Scheinwerfer an!« Der Raum erstrahlte mit gleißender Helligkeit, als der Bürgermeister ihn betrat. Nachrichtenfotografen sprangen vor, Blitzlichter zuckten, die Geistlichen blinzelten bei dem blendenden Licht. Und die Kameraleute auf der 62
Plattform erhielten Handzeichen von den Reportern in den vorderen Sitzreihen, welche Aufnahmen sie machen sollten. Abe und Calhoun schauten sich in die Augen. Abe nickte zur Tür, und Calhoun hielt zwei Finger hoch – »gib mir zwei Minuten« – und ging in einer Ecke in Position, wo er den ganzen Raum im Blick hatte. Der Bürgermeister trat auf die Bühne, begrüßte die Geistlichen mit Handschlag und schloß den letzten in die Arme. Ein Fotograf rief »Nebeneinander stellen!«, und Bürgermeister Pappas, nach einem Blick zu Pressesprecherin Leslie, die zustimmend nickte, posierte mit dem Geistlichen für das Foto. Schließlich betrat der Bürgermeister das Podium, entfaltete ein Redemanuskript und steckte es dann impulsiv in die Tasche seines Jacketts. Der Bürgermeister sprach aus dem Stegreif: »Guten Morgen. Ich möchte Reverend Williams und Reverend Birch von der Abyssinian Baptist Church willkommen heißen, Reverend Spellman von A. M. E. Zion und meinen lieben Freund, Reverend Milton Parks von der First Church of Harlem. Danke, Reverends, Gentlemen, für Ihren Mut, hier mit mir zusammenzustehen.« Calhoun war zufrieden mit dem Ablauf der Prozedur, und er signalisierte Abe, daß er für ihr Treffen bereit war. Jeder stahl sich unauffällig durch verschiedene Seitentüren aus dem Blauen Raum und ging an Büros vorbei, wo alle Sekretärinnen und Sicherheitsbeamten wie angewachsen vor den Bildschirmen hockten und in Kanal 31 live Bürgermeister Pappas’ Pressekonferenz verfolgten. Sie trafen sich schließlich im Büro des Vizebürgermeisters. Kevin schaltete Kanal 31 ein und blätterte in einer Akte mit der Aufschrift ›Bewährungs-Abteilung‹. 63
»Wo ist der Bericht über die Bewährungsstrafe?« fragte Kevin, als er Abe die Akte zurückgab. Abe griff kundig in den Aktenhefter, nahm ein Formular heraus und überreichte es Calhoun. »Sieht okay aus«, bemerkte Calhoun. »Sehr okay. Aber da gibt es eine Vorstrafe. Kriminell erworbener Besitz, 4-C«, bemerkte Abe. »Bei 4-C kann man Bewährung zubilligen… wo ist das Problem?« »Kevin, es gibt solche 4-C und solche«, erwiderte Abe während er die Einzelheiten des Berichts überprüfte. »Sie tun, als wäre es nicht koscher«, sagte Kevin und blickte Abe fragend an. ›Koscher‹ war etwas, worin sich Abe auskannte, sogar besser als in den Berichten über Bewährungsstrafen, denn er hatte ein Leben als orthodoxer Jude verbracht und nur sechzehn Jahre im öffentlichen Dienst, einschließlich zweier Jahre in der Abteilung Bewährungsstrafen. »Ein Stück Fleisch ist koscher. Eine Frucht ist koscher. Bohnengerichte und viele Leckerbissen sind koscher. Aber dieser Bericht ist nicht koscher.« Abes Vortrag über den Talmud erweckte bei Kevin eindeutig den Eindruck, daß mit dem Bericht etwas nicht in Ordnung war, und so fragte er: »Sagen Sie es klipp und klar, Abe. Was stimmt nicht mit diesem Bericht?« »Er ist zu koscher«, antwortete Abe. »Was heißt das übersetzt?« »Die Jungfrau sieht mir zu schwanger aus«, sagte Abe, neigte sich über das Dokument und studierte es, als wären die Worte eine Lücke im Talmud. »Sehen Sie hier, der Prüfer hat dies unterzeichnet.« 64
»Und?« Kevin wartete auf eine nähere Erklärung. »Das ist viel Gewicht für einen 4-C. Was ist mit dem kleinen Beamten der Abteilung Bewährungsstrafen? Wo ist seine Unterschrift?« Calhoun schnappte sich den Bericht und versuchte die volle Bedeutung dieser Bemerkung zu verstehen. »Gewiß gibt es dafür eine Erklärung.« »Je mehr Fleisch, desto mehr Würmer«, antwortete Abe kühl mit einem Zitat aus dem Talmud. Unterdessen war auf dem Fernseher im Hintergrund die Fortsetzung der Pressekonferenz des Bürgermeisters zu sehen. John Pappas gelobte vollmundig, daß die Stadt bei ihrer Ermittlung jeden Stein umdrehen würde. »Diese schreckliche Tat ist bereits bekannt als der ›Carver-Zwischenfall‹. Aber ich sage Ihnen, dies ist kein Zwischenfall, der ungesühnt bleibt, solange ich Bürgermeister dieser Stadt bin. In der ganzen Stadt, in all ihren Teilen, Bushwick und Greenpoint, Jamaica und Harlem, Washington Heigths und Brownsville, gibt es Tote, erschossen auf den Straßen, und man beschuldigt uns, wir interessierten uns nicht dafür, weil dies asoziale Viertel sind. Mord und Totschlag sind Mord und Totschlag, ob nun auf der Park Avenue oder in einer Gasse in Williamsburg, und wir werden die Täter finden und einsperren. Wessen Kugel tötete das Kind? werden Sie fragen. Wir werden es herausfinden. Wichtiger noch: Wer gibt Eddie Santos seiner Frau und den Kindern zurück? Und Robby seinem Vater zurück? Fragen?« Calhoun schaute Abe an und schaltete abrupt den Fernseher aus. »Ich denke, dieser Bericht schreit förmlich nach einem Besuch bei der Abteilung Bewährungsstrafen.«
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7 Ein Politiker in der City Hall besuchte nur selten die ihm untergeordneten Bürokraten, die in dem weitläufigen Komplex von städtischen Verwaltungsgebäuden, Gerichtsgebäuden, Hafteinrichtungen und Computerzentren rings um die City Hall verstreut waren. Die Kommunikation zwischen den Politikern der City Hall und den einhundertachtzigtausend Bürokraten fand über das interne Computernetz oder durch besondere Anweisungen an die Abteilungschefs statt. Politische Wechsel in der City Hall mochten die Staatsbediensteten leicht nach rechts oder links verlagern, etwas schärfer oder lockerer in steuerlichen Dingen oder härter oder großzügiger in der Durchsetzung von Gesetzen, Vorschriften und Bestimmungen machen. Doch zum größten Teil funktionierte New York Citys Verwaltung autonom. Als der Vizebürgermeister sein Büro mit Abe verließ, nahm er ein Kuvert mit, das Pläne von Architekten enthielt. »Wenn wir durch die Chambers Street gehen, sollte ich beim Bauamt vorbeischauen«, sagte er ärgerlich. »Aus irgendeinem Grund werden Baupläne nicht rechtzeitig zu den Bauplätzen der Stadt geliefert.« Calhoun wedelte mit dem Kuvert, um zu betonen, wie einfach es war, ein Schriftstück weiterzuleiten. »Die Verzögerung kostet die Stadt eine Million pro Tag. Und dann gehen wir zur Leonard Street, um herauszufinden, warum Tino Zapatti frei herumlaufen durfte.« Es war klar, daß Calhoun letzteres für das Wichtigere hielt. 66
Kevin und Abe drehten den Kopf hin und her wie Zuschauer bei einem Tennisspiel, als sie versuchten, die Chambers Street zu überqueren, während zweihundert Fahrzeuge pro Minute westwärts von der Brooklyn Bridge heranbrausten. Hunderte von aggressiven Fahrern jagten ostwärts zur nahen Wall Street oder zur Auffahrt des Franklin D. Roosevelt Drive. Abes und Kevins forscher Gang und die ernsten Mienen wiesen darauf hin, daß sie sich mit wichtigen Dingen beschäftigten. Doch die Tausenden von Wagen mit normalen Leuten, die bei ihren täglichen Routinegeschäften in jede Richtung fuhren, schwächten den Eindruck ab, daß das Leben der Bürger vom Ausgang der Calhoun-Bauman-Mission abhing. Das neunundzwanzigstöckige städtische Gebäude war eine ehrwürdige Kathedrale der Bürokratie. Kevin und Abe eilten über einen langen, kahlen Flur, der von verkratzten Holztüren gesäumt wurde. Auf den Türen prangten Schilder von obskuren Abteilungen von Behörden und Agenturen, die toll klangen, bis jemand das Pech hatte, Kontakt mit einer davon aufnehmen zu müssen. Sie stoppten vor einer Tür mit dem Schild ›Bauprüfung‹. Eine lange Reihe gelangweilter Antragsteller war auf dem Gang und bewegte sich im Schneckentempo vorwärts. Die Baugesetze und die Verwaltungsvorschriften waren so kompliziert und entmutigend, daß Geschäftsleute und sogar normale Bürger ›Antragsteller‹ mit politischen Verbindungen anheuern mußten, um Routinegenehmigungen zu erhalten. Da beim Bauen Zeit Geld war, und da die Hypothek für das Grundstück bezahlt werden mußte, ob man nun baute oder auf die Genehmigung zum Start wartete, konnten Genehmigungen Leben oder Tod bedeuten. Mittelsmänner konnten korrupte Bürokraten und die politische Maschinerie mit 67
versteckten Geschenken und Beiträgen für Wahlkämpfe und Anselmos politische Abendessen schmieren. Abe und Kevin betraten ein Büro für zwei Personen, in dem vier Frauen in mittleren Jahren arbeiteten. Edna, mit Kittel und Schildpattbrille, saß hinter ihrem Schreibtisch, auf dem ordentlich Kuverts hoch gestapelt waren und gerade noch Platz für einen Teebecher mit ihrem aufgemalten Namen und Aufklebern grinsender Gesichter war. »Es ist der Vizebürgermeister. Ich muß auflegen«, sprach Edna aufgeregt in den Telefonhörer. »Was machen Sie denn hier?« Calhoun breitete die Blaupausen auf einem freien Stück Boden aus, wies auf die Entwürfe und fragte die vier Frauen mit ruhiger Stimme: »Warum werden diese Blaupausen nicht täglich zu den Bauplätzen geschickt?« »Täglich? Jeden Tag?« fragte Edna in erschüttertem Tonfall. »Was soll das heißen, können Sie das nicht? Die Verzögerung kostet die Stadt eine Million pro Tag«, erwiderte Calhoun mehr verwirrt als ärgerlich. »Das kann ich nicht, weil ich nicht genug von den großen Umschlägen habe und die Blaupausen nicht in die kleineren Umschläge falten kann. Die Architekten sagen, sie können auf den Knicken nichts lesen.« Jetzt wirkte Edna erfreut, weil sie ihr Dilemma mit höheren Leuten teilen konnte. »Warum haben Sie nicht genug große Umschläge?« fragte Calhoun. »Die da! Sie hat all die großen Umschläge, und ich will verdammt sein, wenn ich dort rüber gehen und bei ihr 68
betteln muß«, sagte Edna und blickte ärgerlich über die Schulter. »Was? Wer?« Kevin sah sie entgeistert an. »Sie. Tessie. Dort hinten. Sie will, daß wir alle bei ihr um große Umschläge betteln. Wer hat ihr erlaubt, daß sie alles an sich reißt?« Calhoun ging zu Tessie, und Abe folgte ihm. »Hören Sie nicht auf die Ziege. Die großen Umschläge wurden aus dem letzten Budget gestrichen. Man sagte, wir brauchen keine großen Umschläge, weil die Stadt nichts Großes mehr baut«, verteidigte sich Tessie. »Ich weiß. Mein Mitgefühl. Aber wo sind die verbliebenen großen Umschläge?« Calhoun zwang sich zu einem sanften Tonfall. »Die sind hinten im Regal, aber sie holt sie aus reiner Bosheit nicht«, sagte Tessie, und dann sprach sie im Flüsterton zum Vizebürgermeister. »Die ist boshaft und gehässig. Sie läßt uns nicht mal ihre Steckdose benutzen, wenn wir uns heißes Wasser machen wollen.« Tessie schwenkte einen Topf. »Wir müssen auf die Toilette gehen, um Wasser für Kaffee zu kochen. Ist das fair?« Tessie suchte Gerechtigkeit, aber Calhoun wollte nur verhindern, daß die Stadt eine Million Dollar pro Tag verlor. Calhoun lächelte zustimmend, nahm zwei Kartons mit großen Umschlägen und schickte sich an, zu Ednas Schreibtisch zu gehen. »Ist das zu glauben? Nur weil sie bei der Steckdose sitzt, bekommt sie die Umschläge?« Tessie regte sich auf, als Calhoun ihr die Umschläge wegnahm. Vizebürgermeister Calhoun knallte die Umschläge auf 69
Ednas Schreibtisch und überreichte ihr seine Visitenkarte mit der Anweisung: »Hier. Von jetzt an will ich, daß die Pläne jeden Tag geliefert werden. Verstanden? Und wenn Ihnen die Umschläge ausgehen, rufen Sie Abe an.« Abe gab ihr gehorsam seine Visitenkarte. »Okay, aber ich will nicht, daß diese Kartons als Papierkorb benutzt werden. Sie hinterlassen ihren Abfall immer auf meinem Schreibtisch. Zucker, Krümel. Sie denken, ich bin ihr Putzmädchen.« Edna schüttelte dem Vizebürgermeister fest die Hand, hob die andere Hand wie zum Schwur und versprach Calhoun feierlich, die Pläne täglich zu liefern. Dann gingen Abe und Calhoun zur Abteilung Bewährungsstrafen, um in dem Fall Carver Houses zu ermitteln. Staatsbeamte wurden auf Lebenszeit eingestellt – meist nur auf der Basis von Testergebnissen; aber zwanzigtausend ›vorläufige‹ Stellen, oftmals die am höchsten bezahlten, wurden als ›vorübergehend besondere Fähigkeiten‹ bezeichnet, und dafür waren keine Tests und Prüfungen nötig. Diese begehrten Posten wurden im allgemeinen mit politisch aktiven Mitgliedern von Anselmos Klub oder mit Loyalisten der City Hall besetzt. Und ›vorübergehend‹ wurde für gewöhnlich ›immer‹, es sei denn, der oder die Ernannte verlor den politischen Förderer. Außerdem hingen Beförderungen und leistungsbezogene Bezahlung im gesamten System des Staatsdiensts von der Beurteilung der Vorgesetzten und manchmal der Unterstützung von politisch verpflichteten Vorgesetzten ab, die oftmals selbst Anselmo für ihren Aufstieg zu Dank verpflichtet waren. Das Gebäude in der Leonard Street mit der Abteilung Bewährungsstrafen war nach dem Standard der Stadt relativ neu. Mangelhafte Wartung im Innern verlieh ihm 70
jedoch bereits dieses ungeliebte, dekadente Aussehen. »Sein Name ist Schwartz«, setzte Abe jetzt Kevin ins Bild. Larry Schwartz, Beamter im Staatsdienst und Leiter der Abteilung Bewährungsstrafen, war ein kampferfahrener Veteran vieler politischer und verwaltungsdienstlicher Kriege. »Ein Lantsman von Ihnen?« fragte Kevin. »Ja, ein Landsmann.« Abe korrigierte seine Aussprache. »Hören Sie auf, Jiddisch mit Shakespeare-Akzent zu sprechen.« »Okay, okay, kennen Sie ihn?« »Klar. Aber ich war lange fort von der Abteilung, als der Zapatti-Fall kam, und ich kenne keinen der Beamten, die später dort gearbeitet haben.« Abe und Kevin gingen an einem Bienenstock von Schreibtischen vorbei und gewannen offenkundig die Aufmerksamkeit der Drohnen. Kevin war deprimiert, als er durch die Abteilung ging. Er fühlte sich, wie er sich als Kind gefühlt hatte, wenn sein Vater über tote Zivilisationen, verstorbene Leute und die hoffnungslose Verfassung der Menschheit gepredigt hatte. Wenn Dante dieses Gebäude besucht hätte, dann hätte er seine Warnung aus dem Inferno in die Fassade an der Leonard Street gemeißelt: ›Gib alle Hoffnung auf, wenn du durch diese Pforte eintrittst.‹ Der Vizebürgermeister wußte nicht zu sagen, ob die bedingt Haftentlassenen oder die Beamten der Bewährungsabteilung, die durch ihre ständigen Depressionen erschöpft wirkten, die hoffnungsloseren Fälle waren. Beide führten Leben, die freudlos waren, nur mit dem Unterschied, daß sie auf verschiedenen Seiten des 71
Schreibtischs saßen. Politiker, die nicht in der Lage waren, in ihren Budgets Geld für den Bau von genügend Gefängniszellen zu finden, leierten immer wieder den Mythos herunter, daß mit der Wiedereingliederung von Häftlingen, die vorzeitig auf Bewährung entlassen wurden, Platz für neue geschaffen wurde; natürlich stellten sie nicht die Gelder oder erfahrenes Personal zur Verfügung, um ihre hehren Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Bedingt aus der Haft Entlassene und Bewährungshelfer waren durch politische Versäumnisse in einem Teufelskreis gefangen: Festnahme, Bewährung, Verbrechen, erneute Festnahme, Bewährung… Kevin empfand Mitleid mit diesen Leuten, die gezwungen waren, ein Leben lang mit Ritualen zu verbringen, die voraussagbar zu nichts führten. Calhoun und Bauman gelangten schließlich zu einem Büro, auf dessen Glastür in goldenen Lettern der Name Larry Schwartz stand. Als sie eintraten, stand der Abteilungsleiter eilfertig auf. Der drahtige, kahlköpfige Mann schien nicht glücklich über den hohen Besuch. »Bitte…« Calhoun forderte ihn mit einer Geste auf, wieder Platz zu nehmen. »Sie sind der erste Vizebürgermeister, der diese Abteilung betreten hat. Es war mal ein Polizeichef hier – aber der hatte sich in der Etage geirrt«, sagte Schwartz mit einer Spur von ›Was wollen Sie hier, es kann nicht gut für mich sein‹ in der Stimme. Keiner hatte bis jetzt die Initiative ergriffen und Platz genommen, und so brach Calhoun das Eis. »Darf ich mich setzen?« »Selbstverständlich. Und Abe, Sie sind ja bereits wie zu Hause.« 72
»Hallo, Larry.« Es war keine Freude in Abes Begrüßung. Alle setzten sich. »Ich weiß, warum Sie hier sind«, sagte Schwartz. »Ich habe heute bereits zwölf Anrufe bekommen. Mr. Zapatti…?« »Ja«, erwiderte Calhoun. »Warum mußte er auch mein Fall sein?« sagte Schwartz und wartete auf Calhouns Fragen. »Genau!« »Weil wir manchmal überlastet sind.« Schwartz zuckte die Achseln. »Und Sie übernehmen die zusätzlichen Fälle?« fragte Calhoun. »Die zusätzlichen besonderen Fälle.« »Wie zum Beispiel ein Mitglied der Zapatti-Familie?« Der Vizebürgermeister klang sarkastisch. »So in dieser Art. Hören Sie, Mr. Calhoun…« Schwartz hatte es satt, angegriffen zu werden. »Kevin reicht«, bot Calhoun an. »Jeder Fall, der hier eintrudelt und nach ›Beziehungen‹ aussieht, erweckt mein besonderes Interesse«, erklärte Schwartz. »Um zu vermeiden, daß Fehler gemacht werden.« Kevin reagierte auf Schwartz’ vage Erklärung mit einer Schärfe, die seine Unzufriedenheit verriet. »Sie haben einen Fehler bei diesem Fall gemacht«, sagte er. »Und das tut mir äußerst leid. Ich habe Kondolenzbriefe an Mr. Bone und Mrs. Santos geschrieben – wir haben die Anweisung, so etwas nicht zu tun – es könnte bei einem Prozeß gewertet werden –, aber ich habe darauf gepfiffen. 73
Ich habe einmal Mist gebaut, und es macht mir nichts aus, das zuzugeben. Aber ich baue lieber einmal Mist bei hundert Fällen, als zehn Männer in den Knast zu schicken, die es nicht verdienen.« Schwartz zog sich in bürokratisches Gerede zurück, um einer Nachforschung zu entgehen. »Sie klingen wie die Stimme der Erleuchtung, Mr. Schwartz«, sagte Kevin spöttisch. »Und Sie klingen, als wollen Sie mich verurteilen. Haben Sie da etwas hinzuzufügen, Abe?« Schwartz ließ durchblicken, daß Kevin der Feind für ihn war und er bei dem höflichen Wortgefecht quitt mit ihm war. »Nein, Larry, Sie haben Ihre Sache gut gemacht«, sagte Abe mit dem Verständnis eines Veterans für einen anderen, aber ohne Schwartz Trost zu spenden. »Jeder will wissen, wie diese Dinge passieren konnten«, sagte Calhoun, während er eine Erklärung suchte, die wenigstens für ihn selbst Sinn gab. »Wie lange sind Sie in diesem Job, Kevin?« Schwartz stellte die Frage als eine Botschaft von einem erfahrenen Berufssoldaten an einen Offiziersanwärter. »Drei Jahre.« »Und Sie streben an, bald ins Oval Office zu gehen?« »Sie sind ein scharfer Beobachter der politischen Szene«, sagte Calhoun mit einem Lächeln. »Diese Dinge passieren, weil wir mit Kriminellen überflutet werden, unerfahrene Sozialarbeiter haben, in einer Stadt, die aus allen Nähten platzt, in einer Welt, die nicht mehr Recht von Unrecht unterscheiden kann«, informierte Schwartz den Neuling mit der versteckten Warnung: ›Laß mich in Frieden, denk an die politischen Ambitionen von Bürgermeister Pappas.‹ 74
»Deshalb bin ich hier weggegangen«, sagte Abe und konzentrierte sich auf die Fakten. »Sie sind gerade noch rechtzeitig entkommen«, murmelte Schwartz. Calhoun stand auf, hielt dem Abteilungsleiter die Hand hin und sagte »Mr. Schwartz«, bevor er durch Schwartz unterbrochen wurde, der die gespannte Atmosphäre mit einer Zwanglosigkeit lockerte, die den Waffenstillstand signalisieren, zugleich jedoch klarstellen sollte, daß keiner von beiden glauben konnte, der Krieg sei vorüber. »Larry für Sie.« »Ich muß mich entschuldigen, Larry, ich kam her und wollte Dampf ablassen…« Calhoun wurde wieder unterbrochen, als sie beide versuchten, sich freundlich zu trennen. »Nicht nötig. Man braucht mehr als drei Jahre, um sich in dieser Abteilung auszukennen. Es gibt nur einen Mann, der ein guter Bewährungshelfer gewesen wäre… Kafka. Und der steht nicht zur Verfügung.« Schwartz’ Ironie wirkte echt, während er die Absurdität seines Jobs sowohl für sich als für den Vizebürgermeister betonte. Calhoun nickte und verabschiedete sich mit einem Lächeln. »Rufen Sie mich an, Abe, und denken Sie an mich, wenn irgendeine Stelle in der City Hall frei wird«, sagte Schwartz, doch er wußte, daß diese Worte eine leere Hoffnung waren. Als die Besucher die Tür hinter sich geschlossen hatten, sank Schwartz auf seinen Schreibtischsessel zurück. Es war ihm klar, daß Calhoun ein ernstzunehmender Gegner war. Er hatte erst die erste Runde überstanden.
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8 Zeitschriften bezeichneten Lenny Lasker als ›BillionärTycoon‹, obwohl er kaum einen Anspruch darauf hatte. Lasker war ein Immobilien-Vielfraß. Sobald ein Projekt abgeschlossen oder er auch nur vertraut damit war, gab Lenny es an Untergebene ab, während er sich ruhelos dem Rand eines neuen Abgrunds näherte. Er hatte ein schwarzes Loch in seiner Seele, das er nur vorübergehend füllen konnte, indem er alles und noch mehr beim nächsten großen Spiel riskierte. Jemand zu übertreffen und auszustechen, das war für Lenny wichtiger als der Erfolg an sich. Die Leute waren Lasker seit langem gleichgültig, sofern er sich überhaupt jemals für andere interessiert hatte. Er war besessen von Immobilien, aber seine Besessenheit galt nicht so sehr dem Bau, sondern mehr den geschäftlichen Transaktionen, Zahlen, Hypotheken und Renditen. Lasker hatte keine Freunde, nur Verbindungen. Verbindungen waren Leute, die er bestechen, denen er schmeicheln oder die er in Angst versetzen konnte, damit sie seine Gebote annahmen. Wer tatsächlich oder möglicherweise hinderlich auf seinem Weg war und sich widersetzte, war ein Feind, besonders diejenigen, die nicht durch Bestechung, Schmeichelei oder Angst zum Spuren gebracht werden konnten. Andere Leute waren belanglos, weil sie seinem Imperium nichts hinzufügen oder wegnehmen konnten. Seine Familie paßte in die letztere Kategorie. Er behandelte seine junge dritte Frau wie bewegliches Eigentum, nachdem er sie gezwungen hatte, einen knallharten Ehevertrag zu unterschreiben, und er 76
maßregelte seine Kinder, bis sie seiner Vorstellung von abhängigen Fischen entsprachen. Lasker wünschte Respekt, doch er erhielt nur Speichelleckerei. Wohlfahrtseinrichtungen umwarben ihn für Spenden, Geschäftsleute küßten ihm den Hintern, um Verträge zu ergattern, aber Lenny wurde nie zu Feiern von karitativen Organisationen eingeladen oder gebeten, in irgendeinen gesellschaftlichen Klub einzutreten. Deshalb haßte und beneidete er das Establishment und tröstete sich damit, es finanziell zu beherrschen. Wenn ein Kritiker Lasker beschuldigte, ein Monster zu sein, verteidigte er sich stets auf die gleiche Weise: »Ich habe fünfzehn Millionen Quadratmeter Büroraum in New York gebaut. Was haben Sie in ihrem Leben geleistet?« Und er stapfte davon, ohne auf eine Antwort zu warten. Jenseits vom East River schaute eine Wand von imposanten Wolkenkratzern und luxuriösen Apartmentgebäuden arrogant auf die verlassene Landschaft von Long Island City herab. Die Skyline von Manhattan schien sich für ihre einst stolze Schwester zu schämen, deren einzige Verbindung zu einer glorreichen Vergangenheit war, daß sie sich an ihre jetzt fiktive Bezeichnung als eine unabhängige Stadt klammerte. Laskers seltsames Gefolge, das aus einer Stretch- und zwei Baby-Limousinen bestand, brauste über die Queensborough Bridge, bog scharf nach rechts ab und fuhr über das alte Kopfsteinpflaster der gewundenen Straßen von Long Island City. Sie passierten verkommene Fabrikgebäude, die einst die besten Industriezweige des 19. Jahrhunderts beherbergt hatten: Amerika hatte seine Bleistifte, Papier, Büroklammern, Krampen, Draht, Kaugummi, Lederwaren und Glühbirnen aus diesen jetzt verlassenen Lagerhäusern bezogen. Und die verfallenen Piers, an denen die feinsten Segelschiffe angelegt hatten, 77
waren einst voller Rohmaterial der Welt gewesen. Long Island City hatte nur noch zwei Pluspunkte: Hunderte von kleinen Ausbeutungsbetrieben, in denen Tausende, überwiegend weibliche spanische Immigranten schufteten, und eine spektakuläre Aussicht auf Manhattans Goldküste. Lasker war hier, um ersteres loszuwerden und um letzteres zu erkunden. Lenny hatte bereits genug Land am Wasser zusammengekauft, um ein fünfhunderttausend Quadratmeter großes Bürogebäude für Banc-Exchange zu errichten, ein gigantisches Projekt aus einem staatlich finanzierten Konglomerat, das zur Umsiedlung von dreitausend Jobs nach Long Island City führen sollte. Aber das war nicht genug für Lasker. Er kochte vor Zorn, weil sein Kaufangebot von Meyer & Son abgelehnt worden war, einer maroden Bekleidungsfabrik, deren Abriß es Lenny ermöglicht hätte, zusätzlich hundertsiebzigtausend Quadratmeter zu bebauen. Lasker war erpicht darauf, Büroräume zu hohen Mieten an Anwaltskanzleien, Wirtschaftsprüfer, Börsenmakler und andere zu leasen, die Geschäfte mit Banc-Exchange machten oder dies wünschten. Die Limousinen fuhren über den Vernon Boulevard und bogen dann nach rechts auf den 44th Drive ab. Manhattan kam in ihr Gesichtsfeld. Jenseits der verlassenen Kaianlagen von Long Island City wirkte Manhattan bei jedem Tagesanbruch wie eine wiedergeborene Jungfrau. Lasker nahm zum ersten Mal Notiz von seiner Umgebung. Sein Blick schweifte aufgeregt von dem Lichtermeer jenseits des Flusses zu der entnervenden Dekadenz rings um ihn. Und alles in ihm gierte nach diesem Geschäft! Laskers kleiner Konvoi überraschte einen jungen Bauarbeiter, der mitten auf der Van Dam Street stand. Als er aus seinem Dösen aufschreckte, schwenkte er heftig 78
seine rote Warnflagge. Der kleine Konvoi hielt ungefähr zwanzig Meter vor seinem Ziel, einem Backsteingebäude mit einem verblichenen Schild: ›Meyer & Son, Established 1939‹. Ein riesiger Kran mit der Aufschrift ›New York Water Authority‹ an der Seite hob ein altes Stück Wasserleitung aus einem Graben. Die Reisenden stiegen aus den Wagen. Lasker blickte zu Meyers Fabrikgebäude und murmelte: »Welch eine Vergeudung.« Die beiden Leibwächter flankierten ihn, während sein Anwalt und sein PR-Mann hinter ihm gingen. Viele reichere und ehrwürdigere New Yorker erkundeten die Straßen der Stadt ohne Begleitung, und Laskers Gefolge diente mehr zur Befriedigung seines Egos als zu seiner Sicherheit. Lenny Lasker, der Clown und schlechte Schüler der Roosevelt High-School, konnte es sich endlich erlauben, eine eigene Gang zu kaufen. Sein Anwalt und sein Mann für die Öffentlichkeitsarbeit ließen potentielle Gegner zusammenzucken, denn Lennys Feindseligkeit hatte keine Grenzen. Er kämpfte stets bis zum Letzten, wenn ein Gegner schwächer war und er ihn vernichten konnte. Der PR-Mann machte Gegner in der Presse fertig, während der Anwalt sie mit schikanösen Klagen bluten ließ und in den finanziellen Ruin trieb. Obwohl Lenny tadellos gekleidet war wie immer, konnte sein dunkelblauer Bankieranzug nicht die Vulgarität und Brutalität verbergen, die sich darunter verbarg. Lasker setzte das erste Lächeln des Tages auf, als er sah, daß diese für gewöhnlich verlassene Straße voller Fahrzeuge war. Lichter zuckten auf Polizeiwagen, Feuerwehrwagen und verschiedenen städtischen Fahrzeugen. Städtische Finanzbeamte und Männer in blauen Overalls mit der weißen Aufschrift ›City Marshal‹ schleppten Kartons mit Dokumenten aus der Fabrik. Ein Inspector vom Gesundheitsamt in grüner Uniform 79
mit goldenen Tressen schrieb ruhig einen Strafzettel über fünfhundert Dollar aus, während fast hysterische Arbeiter in einer Mischung aus Spanisch und Englisch vergebens auf ihn einredeten. »Wir haben diese Beutel acht Jahre lang hier gestapelt, und keiner hat was gesagt. Und plötzlich sind Sie zweimal pro Tag wie nach der Uhr hier!« rief ein zorniger Arbeiter und gestikulierte mit den Armen, die bis zum Ellenbogen in Gummihandschuhen steckten. »Ganz einfach! Das Ordnungsamt erlaubt keinen Müll auf der Straße«, sagte der Inspector, ohne den Blick oder den Kugelschreiber von dem Protokoll zu nehmen. »Die Müllabfuhr nimmt die Säcke nicht mit, wenn sie nicht auf der Straße stehen«, schrie ein anderer wütender Arbeiter. »Gesetz ist Gesetz«, sagte der Inspector mit beherrschtem Tonfall und überreichte den Strafzettel. Eine lange Schlange von weiblichen Gefangenen, die mit Stricken an den Handgelenken gefesselt und dann ans nächste Glied der menschlichen Kette gebunden waren, erstreckte sich vom Fabriktor bis zu den wartenden Transportern der Einwanderungsbehörde. Die Tortur des Lebens hatte diese Opfer abgestumpft und gegen weitere Katastrophen gefeit. Es war unmöglich, eine Gefühlsregung in ihren braunen Gesichtern zu lesen, die resigniert die Maske der Verdammten trugen. Sie waren vor langer Zeit zu zwölf Stunden Arbeit in dreckigen Fabriken verurteilt worden und hatten genug verdient, um ihren minimalen Lebensunterhalt zu bestreiten und Geld an jemand zu schicken, den sie liebten; alte Eltern oder hungrige Kinder in einem fernen lateinamerikanischen Land, das sie Heimat nannten. Die Deportation der Ernährer bedeutete unermeßliche Härten für viele andere. 80
Der ranghöchste Beamte der Einwanderungsbehörde näherte sich Lenny am Fabriktor. »Guten Morgen, Mr. Lasker«, sagte er herzlich. Lasker blickte auf seine goldene Cartier-Uhr. »Noch nicht einmal sieben Uhr, und Ihr Jungs seid bereits bei der Arbeit. Beamte werden zu Unrecht für faul gehalten«, sagte er und klopfte dem Beamten anerkennend auf die Schulter. »Wir tun, was wir tun müssen«, erwiderte der Inspector nüchtern. Und im gleichen Atemzug rief er seinen Männern Kommandos zu: »In die Transporter mit ihnen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Er klang jetzt wie ein Polizeikommissar. Lasker konnte es kaum erwarten, in das heruntergekommene Fabrikgebäude zu gelangen. Er rannte fast. In großen Küpen emulgierte Farbe, und gigantische Rollen mit weißem Stoff standen still. Totems, die Zeugnis von einem grausamen Spektakel gaben. Städtische Inspektoren wandten die tödlichsten Waffen in moderner bürokratischer Kriegführung an, um Meyers Fabrik zu ruinieren: Beamte des Gesundheitsamts suchten im abmontierten Belüftungssystem nach der Legionärskrankheit; Feuerwehrleute prüften mit Lasergeräten jeden Zoll des Sprinkler-Systems so gründlich, daß sie mikroskopisch kleine Lecks entdecken konnten; und Beamte vom Bauamt mit Mundschutz und weißer Schutzkleidung rissen fröhlich Asbest von der hohen Decke des Gebäudes. Die hundertfünfzig Arbeiter, die die Säuberungsaktion der Einwanderungsbehörde überstanden hatten, saßen in demoralisiertem Schweigen an ihren stillstehenden Maschinen. Widerstand war sinnlos; ihr Schicksal war 81
besiegelt. Sie tauschten betrübt Blicke und fluchten verstohlen über die uniformierten Terroristen. Lasker bahnte sich einen Weg durch das Durcheinander und ging auf die Glastür eines Büros am Ende der Fabrikhalle zu. Ben Meyer und sein Sohn sahen ihn durch die Glastür kommen und erhoben sich abrupt hinter ihren alten, verschrammten Schreibtischen, die sich seit zweiundvierzig Jahren gegenüberstanden. Lenny Lasker spürte das Aufbegehren der beiden Meyers, und seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen und blickten drohend. Er beschleunigte seine Schritte. Der alte Meyer stürmte mit der Behendigkeit eines viel jüngeren Mannes aus dem Büro. Er eilte über den engen Gang, der sich wie ein Band zwischen den stillstehenden Nähmaschinen erstreckte. Die Wirkung war elektrisierend. Jeder Arbeiter sprang auf, und selbst der kühlste Vorarbeiter verfolgte gebannt den Auftritt. Als der zweiundachtzigjährige Meyer bei Lasker war, schlug er ihm ins Gesicht. »Du dreckiger Bastard stiehlst mein Lebenswerk«, stieß er zornbebend hervor. »Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben, diese Klitsche so lange in Betrieb zu halten, alter Mann«, schnarrte Lasker, während er sich mit einem Seidentuch einen Tropfen Blut wegwischte, der aus seiner Nase sickerte. »Nichts hat sich verändert«, brüllte Ben Meyer zornig. »Du und deine Gangster, die du hergebracht hast, ihr seid an allem schuld. Ihr seid Verbrecher. Korrupte Bastarde, ihr und die anderen!« Ben zitterte vor Wut. »Ihr versucht zu stehlen, was ihr nicht kaufen konntet. Mir wurde das Wasser abgedreht wegen ›notwendiger Reparaturen auf unbestimmte Zeit‹. Die Steuerprüfung 82
war hier. Auf einmal sucht man hier nach Asbest…« Ben verlor sich in seinem Alptraum. »Die Stadt hält sich zur Abwechslung mal an die Vorschriften«, sagte Lenny spöttisch. »Die Stadt würde geschlossen werden, wenn es nach den Vorschriften ginge«, entgegnete Meyer junior mehr angewidert als ärgerlich. Bens Blick irrte umher auf der Suche nach einem unparteiischen Richter. Er war zu lange in Amerika, um zu akzeptieren, was seine Angestellten instinktiv nach ihren jüngeren Erfahrungen mit bürokratischem Terrorismus wußten. »Max, reden Sie mit dem Alten, oder ich nehme mein Angebot zurück. Ich tue den Leuten den Gefallen, und das ist der Dank dafür.« Lasker war es gewohnt, den Leuten schamlos ins Gesicht zu lügen. Er schaute Meyer junior an. »Reg dich nicht auf, Vater. Denk an dein schwaches Herz.« Max legte sanft einen Arm um die hängenden Schultern des alten Mannes. »Zweihundert Menschen arbeiten hier. Was tun sie? Was tun wir? Dies ist unsere Existenz.« Bens Tonfall klang verzweifelt. »Nehmen Sie eine Million Dollar und gehen Sie nach Palm Beach«, sagte Lasker mit einem satanischen Grinsen. »Eine Million? Sie haben uns vor vier Wochen zwei Millionen geboten.« »Dann verkaufen Sie doch an jemand anders«, sagte Lasker herausfordernd. »Was noch übrig zum Verkauf ist«, murmelte Ben. »Also abgemacht?« drängte Lasker. 83
»Lassen Sie meinen Vater in Ruhe«, sagte Max. »Wir werden den Vertrag unterzeichnen.« Lasker schnippte mit den Fingern, und sein Anwalt trat mit einem Vertrag vor. Max stützte seinen alten Vater und führte ihn ins Büro. »Gewissenlos und skrupellos«, murmelte Max und ließ den Kopf hängen. Die Meyers kannten Not, doch sie hatten ihren Stolz nicht verloren. Lenny Lasker eilte aus der Fabrik, während sein Anwalt das Geschäftliche erledigte. Am Fabriktor blieb er bei einem Pappschild stehen, auf dem stand: ›Textilarbeiter gesucht‹ Lasker riß das Schild ab und warf es auf die Straße. Als die Limousine anfuhr, vergaß Lenny Lasker die heruntergekommene Fabrik, die er soeben erbeutet hatte. Seine Gedanken beschäftigten sich bereits mit neuen Büros an dieser Stelle, als Konkurrenz zu ihren reicheren älteren Schwestern jenseits des East River. Lenny sank zufrieden in die weichen, kastanienbraunen Polster, schaltete den Fernseher ohne Ton an und sah kurz ein paar Szenen aus der Wiederholung eines Baseballspiels. Dann drückte er auf eine Speichertaste des Autotelefons, die automatisch die Nummer von Anselmos Büro wählte.
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9 Anselmos Büro befand sich in einem umgebauten Gastronomiebetrieb. Der vordere Teil bestand aus einem spärlich möblierten Tanzsaal mit abgenutztem Fichtenholzboden. Schwere Holzbänke an den weißen Wänden gaben Zeugnis von drei Generationen, die ihre Initialen, Herzen und Liebesgedichte im Holz der Bänke hinterlassen hatten. An einer Wand hing eine riesige Fahne, die jeden darauf aufmerksam machte, daß dies der Bayridge Democratic Club und Ratsmitglied Frank Anselmo der Vorsitzende war. In kleiner Schrift am Fuß – als ob es die Ortsansässigen mit etwas sehr Fernem zu tun hätten – stand, daß Frank Anselmo ebenfalls Vorsitzender der Demokratischen Partei war. Ein Sternenbanner und Redepult standen unter der großen Fahne. Die Mitte des Raums war mit metallenen Klappstühlen gefüllt, die ständig für den Klub und Gemeindetreffen oder für alte Leute dort standen, die nur die Zeit totschlagen wollten. Jeder war im Bayridge Democratic Club willkommen, und Bewerber um städtische Jobs, Politiker, Gemeindeaktivisten, alte Bürger, Behinderte, Bonzen und Kriminelle ließen sich immer wieder mal dort blicken. Es gab keine Eintrittsregeln für diesen Klub außer einer: Bei Vorwahlen und an Wahltagen mußten alle dort sein, um ihre Stimme abzugeben. Anselmo operierte aus der ehemaligen Küche des Gastronomiebetriebes heraus. Sein Büro war ein Kunterbunt von Erinnerungen. Die Regale, in denen einst Töpfe und Pfannen gewesen waren, standen immer noch, waren jetzt jedoch mit Pokalen und Wimpeln gefüllt, die 85
anzeigten, daß jeder, der etwas zählte, hier vertreten war: Irländische Gesellschaft, jüdische theologische Gemeinschaft, Erzdiözese, Vereinigte Methodistenkirchen, Blindenhund, Söhne Italiens, Freunde des Maimonides Hospital, Kinderhilfswerk, Columbia University und buchstäblich Hunderte gleichfalls angesehener Institutionen, die Medaillen, Zertifikate und Pokale verliehen, was anzeigte, daß Anselmo ein wichtiger und großzügiger Mann war. Der alte Steinofen der ehemaligen Küche war jetzt kalt und dunkel, doch eine rote Rose in einer schlanken Glasvase stand darauf und wurde jeden Tag als Andenken an Anselmos Mutter durch eine frische ersetzt. Die Bürowände waren völlig bedeckt mit einer Sammlung in Museumsqualität, die signierte Fotos von Anselmo mit Präsidenten, Päpsten, Rabbinern, Sängern, Schauspielern, Filmstars, Nobelpreisträgern, Sportlern, Industriemagnaten und Mutter Teresa zeigten. Kein einziges Blatt Papier lag auf Anselmos Schreibtisch. Alles Wissenswerte war in seinem Kopf gespeichert. Auf der linken Seite des Schreibtischs standen gerahmte Fotos seiner Frau, Kinder und Enkel. Ganz allein auf der rechten Seite stand ein Foto, das den strahlenden jungen Anselmo wie in die Zukunft blickend mit John F. Kennedy zeigte. Anselmo signierte eifrig Fotos, die ihn mit Wählern zeigten, für den üblichen monatlichen Versand. Von Zeit zu Zeit hielt er eines der Fotos ins Licht der Leuchtstofflampe über ihm und lächelte breit bei einer angenehmen Erinnerung. Als sein rotes privates Telefon klingelte, legte er den Filzschreiber hin und nahm den Hörer ab. »Hallo?« meldete sich Anselmo in fragendem Tonfall. »Ich hab’s. Ich habe alles bekommen. Die Fabrik. Das 86
Land. Alles bis runter zur Wasserlinie«, sagte Lasker überschwenglich und sonnte sich immer noch in seinem Sieg über die Meyers. Er ärgerte sich über ihr verlängertes Aufbäumen, das gegen ›Laskers Gesetz‹ verstoßen hatte, wonach der Schwache willig dem Starken zu dienen hatte. Und insgeheim, so tief in seinem Innern, daß der Tycoon nicht verstehen konnte, warum er sich seinem Opfer gegenüber minderwertig fühlte, beneidete er den alten Meyer um seinen Stolz und Mut. »Lenny, ich habe nur getan, was richtig war. Der Platz war eine Feuerfalle. Es ist nur rechtens, daß die Stadt sich bei Zuständen einschaltet, die nicht den Vorschriften entsprechen«, sagte Anselmo nüchtern, ohne auf Laskers Begeisterung einzugehen. Anselmo mochte Lasker nicht besonders. Diese spießbürgerlichen Billionäre waren wurzellos. Man konnte nie wissen, auf welche Seite sie sich schlugen. Aber Politik war ein Geschäft, und Lenny hatte der Partei im vergangenen Jahr durch siebzig verschiedene juristische Personen seiner Gesellschaften dreihundertfünfzigtausend Dollar Spendengelder eingebracht. Anselmo erinnerte sich, wie Lenny einen Stapel Schecks auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, alles legale Spenden von Firmen wie die Yellowstone Boulevard Corporation, Sedgewick Towers Corporation, Riverdale Terrace Inc. und so weiter. Im nächsten Jahr fanden sowohl Bürgermeister- als auch Stadtratswahlen statt, und die Maschinerie würde Lasker wieder brauchen. »Es war wunderbar. Hundertprozentig legal«, schwärmte Lasker. »Geld hilft.« Anselmo lachte. »Billig, so gut wie geschenkt. Meyer stand so mit dem Rücken zur Wand, daß ich mein eigenes Angebot um eine 87
Million drücken…« Anselmo unterbrach ihn. »Sie haben bekommen, was Sie wollten, warum betrügen und demütigen Sie diese Leute? Zahlen Sie den vollen Preis.« »Sind Sie bescheuert?« fragte Lasker erstaunt, als hätte er den Vorschlag eines Irren gehört. »Man soll niemals auf stolze Leute pinkeln, wenn sie am Boden liegen«, warnte Anselmo mit dem Ernst von jemandem, der kostenlos einen guten Rat gibt. Er erinnerte sich an die unglaublichsten Fälle, in denen Zare von New York in den Ruin getrieben worden waren, weil sie kleine Leute, die Freunde oder Feinde gewesen waren, kurzsichtig schlecht behandelt hatten. Anselmo war ein Mann der Kompromisse. Für ihn war weniger mehr, wenn er das gewünschte Ziel erreichte. Unersättliche Leute wie Lasker waren gefährlich. »Jetzt muß ich die Zusammenlegung der Industriegrundstücke in Nutzung für Immobilien umwandeln. Und ich brauche die Stadt, damit sie bei Banc-Exchange eine U-Bahn-Station und eine Zufahrt zum Highway baut«, erinnerte Lenny Lasker nun Anselmo an ihre Abmachung. »Machen Sie sich keine Sorgen«, erwiderte Anselmo beruhigend. »Es ist mir ernst. Ohne die Umwandlung ist das Land tot. Es hängt viel von dieser Zusammenlegung und Umwandlung der Grundstücke ab«, sagte Lasker besorgt. »Sie können die Champagnerkorken knallen lassen, die Sache geht klar«, sagte Anselmo mit der Autorität eines Drahtziehers, der sein Wort gegeben hat. »Und es war kein Scherz von mir, Meyer den vollen Preis zu zahlen, den Sie versprochen haben. Das ist Wortbruch, Lenny. Wenn Sie Meyer nicht die zwei Millionen zahlen, gibt es keine Umwandlung der Grundstücke und keine 88
Infrastruktur.« Lasker wußte, daß Anselmo nicht bluffte. Die Drohung war eindeutig. »Okay, regen Sie sich nicht auf. Sorgen Sie nur dafür, daß der Bürgermeister mitspielt«, stimmte Lenny Lasker zu. Nach dem Telefonat widmete sich Anselmo mit großer Befriedigung wieder den Geschäften für das Gemeindeklubhaus. Dies war die Art Politik, die er liebte. Basisarbeit. Er war Führer und Politiker für die Wählerschaft. Leute aus seinem Bezirk kamen jede Woche zu ihm, ohne einen Termin abmachen zu müssen. Sie warteten auf den Klappstühlen und Bänken außerhalb seines Büros auf eine Audienz. Sie vertrauten ihm ihre Probleme an wie einem Priester, doch Anselmo konnte oftmals etwas Handgreifliches tun, um sie hier auf Erden zu lösen. Die Regierung war ein so ferner und bürokratischer Komplex, daß es wirklich eine Katastrophe war, wenn ein Normalbürger sich darauf verlassen mußte. Anselmo war der Navigator für die Armen und die Mittelklasse, ähnlich wie Anwälte mit politischen Verbindungen und Lobbyisten reichen Geschäftsleuten dienten. Anselmos Dienste waren gratis. Seine Belohnung waren eifrige Freiwillige, die Briefumschläge füllten und frankierten, Broschüren verteilten, Unterschriften sammelten, am Wahltag Telefondienst übernahmen und ältere oder behinderte Wähler zu den Wahllokalen fuhren. Dies waren die treuen Fußsoldaten, die als Infanteristen in Anselmos mächtiger politischer Maschinerie marschierten. Anselmo bat Clara, den nächsten Besucher hereinzuholen. Clara saß an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer von Anselmos Büro wie seit dreiunddreißig Jahren und 89
sah sich die Bittsteller mit dem Gebaren einer Zollbeamtin an. Sie munterte diejenigen auf, die nur einsam waren und Mitgefühl brauchten, oder ließ jemanden zu Anselmo, wenn sie annahm, daß ›der Boß‹ helfen konnte. Clara führte eine ältere Frau in Anselmos Büro. Gussie brauchte nicht vorgestellt zu werden, und Anselmo begrüßte sie mit einer Umarmung. Dann forderte er Gussie mit einer knappen Geste auf, Platz zu nehmen. Bei Lenny Lasker hatte sich Anselmo als eisenharter Boß gezeigt, doch jetzt gab er sich bei der beunruhigten Gussie als Freund und Ratgeber, als Gentleman, bei dem sie sich darauf verlassen konnte, daß er die Dinge auf die alte gute Art und Weise in Ordnung brachte. »Mein Vermieter wird mich rausschmeißen, Mr. Anselmo«, sagte sie, und sie wußte, daß er ihre letzte Rettung war. »Niemand wird Sie rausschmeißen, Gussie«, erwiderte Anselmo so überzeugt, daß sich ihr runzliges Gesicht kurz mit einem Lächeln aufhellte. Sie wurde jedoch schnell wieder ernst, als ihr klar wurde, daß noch nichts Konkretes entschieden war, das sie aus der Gefahr herausbrachte. »Er sagt, die Wohnung ist unterbelegt. Kann ich dafür, wenn meine Tochter auszieht? Hat sie nicht ein Recht auf ihr eigenes Leben?« Sie flehte einfach nach gesundem Menschenverstand und Gerechtigkeit in einer Welt, die von Vorschriften beherrscht wird. »Natürlich. Wie geht es Hélène? Arbeitet sie noch auf der Marinewerft?« Frank zierte sich nicht, Wähler an Gefallen zu erinnern, die er ihnen erwiesen hatte. »Ja, das hat sie Ihnen zu verdanken. Und was können Sie für mich tun?« Gussie sprach zu Anselmo mit der Demut einer Verehrerin, nicht mit der Erwartung einer Bittstellerin. 90
»Achten Sie nur darauf, daß sich Mr. Brill an das Gesetz hält. Sie sind dort unkündbar. Und wenn er ihnen etwas anderes sagt, rufen Sie mich einfach an. Ein Hausbesitzer wie Morty Brill sucht immer nach einer Möglichkeit, wie er die Mietgesetze umgehen und mehr Miete herausschlagen kann. Aber wie kann er auch ein Gesetz verstehen, das für Arbeitsleute wie Sie und mich gemacht worden ist?« Anselmos Name allein würde Brill vermutlich einschüchtern, denn er konnte nicht mehr darauf zählen, daß Gussie sich in dem Wirrwarr der Paragraphen und für ihren Fall zuständigen Behörden verirrte. Ein Telefonat, und ein Bürokrat, der von Anselmo abhängig war, würde Brill zur Rechenschaft ziehen. Der Hausbesitzer würde sich ein leichteres Opfer als Gussie suchen. Ihre Augen spiegelten Erleichterung und Freude wider. Sie ergriff Anselmos Hand. »Oh, danke, Mr. Anselmo. Möchten Sie in meinen Klub kommen und eine Rede halten?« Clara kam zu Anselmos Schreibtisch, neigte sich zu Anselmo und flüsterte in sein Ohr. Anselmo blickte über Claras Schulter und sah Schwartz von der Abteilung Bewährungsstrafen, der wartete und nervös an seinem Hut herumfingerte. Anselmo zeigte Clara an ›in einer Minute‹. »Welcher Klub ist das, Gussie?« »Der Terrible Tiles Club.« »Ah, die Fliesenleger. Dazu gehörte Ihr verstorbener Mann. Wie viele Mitglieder?« »Hundertzwölf«, sagte Gussie stolz. »Versprochen, meine Liebe!« Anselmos politische Neugier wurde zu gierigem Interesse, wenn er hörte, daß eine beachtliche Zahl potentieller Wähler sein gebanntes Publikum werden würde. »Sagen Sie mir nur, wann«, bat 91
er und schlürfte die Muttermilch der Politik. Anselmo ging dann hoheitsvoll zu Schwartz und täuschte Interesse an einer unangenehmen Aufgabe vor. »Hallo, Larry«, sagte er in begeistertem Tonfall. »Ich muß Sie sprechen, Frank.« Schwartz klang verzweifelt, und auf seiner Stirn glänzte Schweiß. »Nun, ich bin hier. Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?« Anselmo sprach leichthin, obwohl keiner von ihnen die Sache leicht nahm. »Nein, danke. Wir müssen reden. Sind Sie fertig?« Schwartz sprach weiterhin drängend. Anselmo ließ den Blick durch seinen Klub schweifen; ein paar Nachzügler baten noch um Gefallen; Parteiarbeiter leckten Kuverts an; jemand telefonierte; ältere Frauen räumten Papierteller mit Imbißresten weg. »Mit dem Geschäft der Politik ist man niemals fertig, Larry«, sagte Anselmo und wies schwungvoll zu den Leuten, die im Klubhaus arbeiteten oder warteten. »Machen wir einen Spaziergang.« Es klang wie ein Befehl. Anselmo und Schwartz gingen schweigend die Treppe hinunter, die von dem Gebäude zur Fifth Avenue führte. Sie gingen langsam zwischen morgendlichen Einkäufern, vorbei an betriebsamen Geschäften, in denen ›Alles für Mama und Papa‹ verkauft wurde, Salami aus Genua, frische selbstgemachte Pasta, Provolone, Babykleidung aus Mailand, Umstandskleidung, Kleidung in Übergrößen für Männer, Arbeitskleidung, Stiefel und Schuhe, italienische Zeitschriften und andere Notwendigkeiten des Lebens in dieser intakten Bastion eines italienischen Viertels. Ungefähr hundert Meter straßenabwärts betraten 92
sie Fino’s, ein Restaurant aus den siebziger Jahren, in dem täglich viele der hiesigen Händler um elf Uhr ein frühes Mittagessen einnahmen, damit sie während der betriebsamen Mittagsstunden ihre Gäste bedienen konnten. Mr. und Mrs. Fino begrüßten Anselmo mit der überschwenglichen Herzlichkeit, die New Yorker Gastronomen für Stammgäste reserviert haben. Aber Fino hatte nur Stammgäste, denn Bayridge, Brooklyn, hatte wenig Besucher und vermißte sie auch nicht sehr. Wie bei den Eliten in Charleston, South Carolina, drehten sich die Gespräche der Leute in Bayridge stets um einen Zusammenhang mit den Themen Großeltern, Eltern, Geschwister, Onkeln oder Kusinen und natürlich um Kinder. Mehrere Generationen lebten oftmals in den schmucken Zwei- und Drei-Familien-Häusern zusammen, die dieses alte Viertel prägten. Larry Schwartz wirkte bedrückt neben dem jovialen Anselmo, der Hände schüttelte und Scherze mit Freunden an der Theke und an Tischen austauschte. Keiner bei Fino’s würde zugeben, daß er Larry Schwartz mit Anselmo gesehen hatte. In dieser eng verknüpften Gemeinschaft kümmerten sich die Leute um ihre eigenen Angelegenheiten, besonders wenn ein Lokalmatador wie Frank Anselmo im Spiel war. Nach einer Zeit, die dem schwitzenden Schwartz wie eine Ewigkeit vorkam, setzten sie sich schließlich in eine Ecknische, die für Anselmo stets freigehalten wurde. Ein Kellner in Anselmos Alter mit einer chiantiroten Schürze stellte sofort Gläser und Kaffeetassen auf den Tisch und begrüßte Anselmo. »Wie geht es Ihnen, Mr. A.?« »Prima. Und Ihnen?« 93
Wie auf ein Stichwort begann der Kellner zu singen: Ich bin so heiß wie Kansas im August, So normal wie Heidelbeerkuchen. Mein Herz hat jetzt keinen Frust, denn ich brauch’ den Traummann nicht mehr zu suchen. Anselmo summte erst die Melodie mit und sang bei der letzten Zeile mit. Die Sänger brachen in Gelächter aus, während Schwartz den Mund aufklappte. Der verlorene kleine Junge in Schwartz wünschte zu schreien wegen seines verschwindenden Lebens. Konnte es sein, daß sein Schicksal in den Händen eines Verrückten lag? Anselmo war ein König in Fine’s, und er zeigte natürlich die Würde und Leichtigkeit, die man von ihm erwartete. Er ignorierte das sichtliche Unbehagen seines Gastes und wandte sich an den Kellner. »Apropos Heidelbeerkuchen, bring uns zwei Stück.« Anselmo schaute Schwartz an und sagte: »Mit Sahne?« »Ich möchte keinen Kuchen«, erwiderte Schwartz mit dem Trotz eines vernachlässigten Kindes. »Zweimal Heidelbeerkuchen mit Sahne«, bestellte Anselmo, ohne auf den Einwand seines Gastes einzugehen. Als der Kellner fortging und dabei den Refrain von dem ›Traummann‹ summte, wurde Anselmos Lächeln zu einer geschäftsmäßigen Grimasse. »Was ist los, Larry?« fragte er lauernd. »Sie wissen, was los ist«, sagte Schwartz schmollend. »Sie sehen schlecht aus, Sie sollten Urlaub machen«, 94
sagte Anselmo. Schwartz antwortete mit einer wehleidigen Litanei. »Ich will keinen Urlaub. Ich bin achtzehn Jahre in dem Job und habe mir die Urlaubszeiten aufgespart. Ich kann in einem halben Jahr in Pension gehen, wenn ich mir all die Stunden anrechnen lasse…« Schwartz schaute Anselmo bitter an, als er Gleichgültigkeit zeigte, und so bemühte sich Anselmo schnell um etwas Besorgnis. »Okay, was liegt Ihnen auf der Seele?« »Schaffen Sie mir den Vizebürgermeister vom Hals«, stieß Schwartz hervor, und es war nicht nur eine Bitte, sondern auch eine unausgesprochene Drohung darin. »Konnten Sie nicht mit ihm fertig werden?« »Es war leicht. Zu leicht«, erwiderte Larry Schwartz nachdenklich und im Flüsterton. Larry hatte genug Narben von bürokratischen Kriegen, um intuitiv zu wissen, daß Kevin Calhoun gefährlich anders war. Im Lokal erklang Hintergrundmusik aus Musicals. Wenn Frank Anselmo das Restaurant besuchte, spielte Fino stets ein Medly von jazzigen Rodgers-und-Hammerstein-Songs über die Stereoanlage. Der Kellner näherte sich im Rhythmus der Musik von der Theke her und servierte Heidelbeerkuchen mit Sahne. Er stellte sie mit einer tiefen Verbeugung auf den Tisch und zuckte zusammen, als Schwartz seinen Teller heftig von sich schob; Larry Schwartz starrte geistesabwesend und frustriert in die Ferne. Anselmo und der Kellner ignorierten die Störung ihres Rituals. Anselmo erhob sich, trat aus der Nische hervor, verneigte sich und sang mit guter Baritonstimme ein Solo: Wirf mir keine Blumen zu. 95
Hofiere meine Leute nicht zu sehr. Lach über meine Scherze nicht zuviel… Und er nahm den Kellner in den Arm, und sie sangen das Finale im Duett: Die Leute werden sagen, wir sind verliebt! Als der Kellner lachend davonging, um an einem anderen Tisch zu bedienen, ging Schwartz’ Verzweiflung in ärgerlichen Trotz über. »Was, zum Teufel, war das?« Sein Blick sagte: »Warum spielst du den Clown, während für mich alles den Bach runtergeht?« »Er und ich sind große Fans von Rodgers und Hammerstein. ›Wenn du durch ein Gewitter gehst, halte den Kopf hoch‹ – Larry«, sagte Frank Anselmo im Tonfall eines Ratgebers. Anselmo wußte aus Erfahrung, daß bei einem Problem keine Aktion besser war als eine Aktion, die keinen Einfluß auf den Ausgang hatte. Wenn man das Problem aussaß, löste es sich für gewöhnlich in Wohlgefallen auf. »Es ist nicht Ihre Unterschrift, die auf dem Bewährungsbericht steht«, gab Schwartz heftig zurück. Frank verstand die Drohung, und im scharfen Tonfall des Bosses warnte er: »Passen Sie auf, was Sie sagen.« Anselmo verzehrte sein Stück Kuchen schweigend, um klarzustellen, daß er sich nicht erpressen ließ. Unausgesprochene negative Konsequenzen für Ungehorsam wurden deutlich angedroht, als Anselmo nach dem 96
letzten Bissen Heidelbeerkuchen kalt sagte: »Und nehmen Sie Urlaub.« Dann griff er über den Tisch, trennte mit der Gabel einen großen Bissen von Schwartz’ Heidelbeerkuchen ab und aß ihn genüßlich. Larry starrte Anselmo nervös und verzweifelt an.
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10 Bürgermeister Pappas verstand, daß mächtige Männer gern vor ihrer Ankunft in New York angekündigt werden wollten, denn es gab ihnen das Gefühl, weniger anonym in der mächtigsten Stadt der Welt zu sein. Deshalb schickte er New Yorks Gegenstücke von römischen Triumphwagen und Trompetern, eine Eliteeinheit der Motorradpolizei mit vollem Sirenengeheul, um Senator und Mrs. Marquand vom LaGuardia Airport abzuholen und zu einer kleinen Dinnerparty zu ihren Ehren nach Gracie Mansion zu bringen. Senator Marquand kam sich ungemein wichtig vor, als er durch die Windschutzscheibe auf zwei Motorradcops schaute, die der Autokolonne auf dem Long Island Expressway im starken Verkehr den Weg auf der mittleren Spur frei machte und widerwillige Fahrer zwangen, sich nach links und rechts einzufädeln, während zwei Motorradfahrer am Schluß der Kolonne dafür sorgten, daß niemand zu nahe hinter der Limousine folgte. Der Senator grinste zufrieden wie ein kleiner Junge, der das lang erträumte Spielzeug bekommen hatte, als er seiner Frau im kultivierten gedehnten Tonfall des Südstaatlers sagte: »Dieser John Pappas weiß wirklich, wie man jemanden willkommen heißt.« Mrs. Marquands zustimmendes Lächeln verstärkte den Stolz ihres Mannes. Die Kolonne fuhr an den städtischen Basketballplätzen an der 96th Street Ausfahrt des Franklin Delano Roosevelt Drive vorbei, die voller jugendlicher Möchtegern-Meister aus dem Ghetto waren, die unter Flutlicht spielten. Die 98
Kolonne durchquerte Manhattans entmilitarisierte Zone und bog nach rechts auf die East End Avenue, die mit hohen, luxuriösen Apartmenthäusern gesäumt war. Die Eskorte führte die Kolonne auf eine Abzweigung der East End Avenue, und die hektische Stadt blieb zurück. Sie fuhren kurz über eine Straße, die sich wie eine Landstraße durch Grünflächen, Waldstücke und an Hecken vorbei nach Gracie Mansion wand. Gracie Mansion fühlte sich in der idyllischen Umgebung des Carl Schurz Parks heimisch, seit Archibald Gracie, ein in Schottland geborener Händler, das Herrenhaus 1799 als majestätisches Farmhaus auf einem flachen Hügel erbaut hatte, der zur weiten Biegung des East River hin abfiel. Im Jahr 1887 hatte die Stadt es im Austausch gegen Steuerfreiheit für die Familie Gracie zur Nutzung erworben, und 1942 hatte Bürgermeister Fiorella LaGuardia, ›Die kleine Blume‹, es zur offiziellen Residenz des Bürgermeisters bestimmt. Senator Marquand und seine Gattin schritten über das Kopfsteinpflaster der Zufahrtsstraße auf eine breite, hölzerne Veranda. Ein unglaublicher Ausblick auf den East River bot sich ihnen. An diesem klaren, kühlen Abend spürten sie unwillkürlich den scharfen Kontrast zwischen der eleganten Schlichtheit von Gracie Mansion und der brodelnden Vielschichtigkeit von Queens im Vordergrund jenseits des Flusses. Der Bürgermeister und seine Frau traten aus dem Eingangsportal auf die Veranda. Trotz des Winterabends trugen sie keine Mäntel. Sie empfingen die Marquands mit überschwenglichem Händeschütteln und Umarmungen. Ihre spontane Begrüßung und die herzlichen Worte endeten im diplomatischen Protokoll, dem Fremde bei solch offiziellen Anlässen normalerweise ausgeliefert waren. Der Washingtoner Abgesandte konnte jetzt die 99
echte Gastfreundschaft des Bürgermeisters genießen, während er über seine Vorstellungen sprach, den Parteitag der Demokraten in New York stattfinden zu lassen. In der Innenstadt, fern von der Festlichkeit in Gracie Mansion, wartete Richter Stern auf die Dunkelheit eines Winterabends, bevor er es wagte, das Gerichtsgebäude zu verlassen. Edgar Bone hingegen hielt immer noch Mahnwache, er war allein, abgesehen von einem japanischen Fernsehteam, das ihn als Teil einer Dokumentation über Gewalt in Amerika filmte. Richter Sterns sonst so selbstsicherer Gang war zu einem langsamen und gebeugten Schlurfen geworden. Als der Richter die breite Treppe vom Gerichtsgebäude hinunterstieg, schob er sich unwillkürlich näher zu Bone hin, bis er das Gesicht des Opfers deutlich sehen konnte. Dann blickte Stern gequält nach links und rechts und stahl sich die letzten Stufen der Treppe hinunter in die Dunkelheit, ein moderner Kain, der es nicht wagte, über die Schulter zu dem Dämon zu blicken. Macht war stets die Hauptsache bei Dinnerpartys in Gracie Mansion. Und heute abend war Senator Marquand an ihrer Achse. Er hatte die guten Nachrichten, die Bürgermeister Pappas wünschte: die Auswahl von New York City als Tagungsort des Parteitags der Demokraten und Pappas Krönung als politischer Programmredner. Protokollchef Warner Chapin hatte jede Einzelheit von Marquands Hintergrund studiert, bevor er die Einladungen geschrieben hatte. Die Gästeliste diente dem Zweck, die bekannten Interessen und den Geschmack des Senators zu befriedigen und zugleich die New Yorker Binsenweisheit zu berücksichtigen, daß man ist, was man tut: Richard 100
Jenrett von der Lebensversicherungsvereinigung war ein gebürtiger Sohn von South Carolina, dem Staat des Senators, und seine Familie zählte noch zum Mittelpunkt der Charlestoner Gesellschaft; Frank Stella aus Greenwich Village, ein Gründungsvater des Modernismus, unterstützte Marquand in seinem neu entdeckten Interesse an moderner Kunst; Professor Allen Brinkley war von Marquand auf Grund seines kenntnisreichen Werks über die Geschichte der amerikanischen Präsidentschaft konsultiert worden; Rand Araskog, Chairman der mächtigen ITT-Corporation, war der Besitzer des Madison-Square-Garden-Kongreßzentrums; und Torsten Wiese, Nobelpreisträger und Rektor der Rockefeller University, hatte vor kurzem Lob für seine Verteidigung von wissenschaftlicher Basisforschung vor Senator Marquands Ausschuß erhalten. Der Protokollchef konnte folglich erwarten, daß diese ausgewählten Gäste und ihre Gattinnen sich untereinander kannten oder sich schon bei New Yorker Dinner Partys oder beruflichen Aktivitäten zumindest begegnet waren. Diese intellektuellen Gäste würden auch in der Lage sein, bei jedem Thema, das der Senator zur Sprache bringen mochte, mitzureden oder – noch wichtiger – zuzuhören. Während bei typischen Dinnerpartys Gäste hauptsächlich mit ihren Tischnachbarn zur Linken und Rechten sprachen, konzentrierte sich die Unterhaltung in Gracie Mansion um den Bürgermeister und seinen Hauptgast. Senator Marquand saß da, als hätte er einen Ladestock verschluckt, etwas einschüchternd für Leute mit weniger Haltung, während er zuschaute, wie seine Lieblingsspeise, Charleston Shrimp Pilau, vom Küchenchef serviert wurde; zugleich hielt der Senator hof am Tisch. »… ich werde nie diesen Nachmittag im vergangenen Monat im Ausschuß vergessen. Die Fernsehkameras 101
fuhren herum, die Galerie war voll, und welches Risiko Sie eingingen…« Der Bürgermeister winkte lässig ab und sagte: »Kein Risiko, was der Mann sagte, war falsch.« Bei langjährigen Senatoren wie Marquand war jedoch ›richtig und falsch‹ Einschätzungen, die sich erst langfristig erwiesen. Deshalb waren die richtige Prozedur und das Protokoll so wichtig wie der wesentliche Inhalt der Rede. »Aber nein, Bürgermeister, mir macht es nichts aus, ob er von New York ist und einem Kabinettsmitglied Bescheid stößt. Der Minister für städtische Entwicklung ist die Hand, die Städte füttert…« »Nicht sehr gut«, erwiderte Bürgermeister Pappas neckisch. »Nun, Sie haben jetzt einen Feind fürs Leben«, erwiderte Marquand ernst und betonte die Bedeutung für Beziehungen in der Politik. Da war ein Zwischenton in der Unterhaltung zwischen dem Senator und dem Bürgermeister, daß er Pappas’ Streben nach einer Identität für eine Kandidatur zur Präsidentenwahl irgendwann in der Zukunft verstand, es jedoch für verfrüht hielt, jetzt schon eine Konfrontation zu suchen. Marquand war der Typ, der zu beschäftigt mit seinem Amt war, um selbst für die Präsidentschaft zu kandidieren. Aber er war ein Königsmacher, der glaubte, den Kurs am besten zu kennen. Eine der Regeln war, sich auf dem Weg so wenige Feinde zu machen wie möglich. »Die Größe eines Mannes beruht nicht auf den Freunden, die er sich macht, sondern auf den Feinden«, sagte Pappas und zeigte offen sein Bemühen, sich eine unabhängige Identität aufzubauen. »Größe und Profil bringen einen auch auf die Titelseite 102
von Time«, sagte Mrs. Marquand und befolgte damit die Anweisung ihres Mannes, ein wenig darauf hinzuweisen, daß Pappas in der Tat nationale Aufmerksamkeit gewann. »Sie sind zweifellos national bekannt geworden, Bürgermeister Pappas. Man nimmt Sie inzwischen sogar am Runden Tisch der Wirtschaft ernst«, fügte Araskog hinzu und bezog sich auf die führende Gruppe von Wirtschaftsexperten. »Und das mit der ›Größe‹, wer hat das gesagt?« meinte Mrs. Marquand scherzhaft, als wollte sie ihn auf Normalmaß zurückstutzen. »Ich sagte es soeben«, erwiderte Pappas. »Ich hatte einen akuten Anfall von Eigendünkel, aber hier ist der richtige Mann, um mich auf den Teppich zurückzuholen. Kevin, wir haben Sie vermißt.« Pappas’ Gesicht hellte sich auf, als sein Stellvertreter eintrat. »Verzeihen Sie, ich wollte nicht stören«, murmelte Kevin, während er sich bemühte, unauffällig auf einem Stuhl Platz zu nehmen, den ein Kellner diskret neben Bürgermeister John Pappas hingestellt hatte. »Kevin war heute sehr beschäftigt, darauf wette ich«, sagte Senator Marquand herzlich und bemüht, ihre persönliche Beziehung aus vergangenen Tagen in Washington wiederherzustellen. »Hallo, Senator«, sagte Kevin respektvoll und herzlich. Kevin Calhoun kannte die meisten Gäste, und der Bürgermeister machte ihn mit den anderen bekannt. Jenrette unterbrach Pappas’ Vorstellungsarie: »Ich kenne Kevin, wir telefonierten heute in der Sache Banc-Exchange. Ich weiß nicht, wie er Zeit für mich fand, wenn man bedenkt, was passiert ist.« »Ja, wir wollen keine verirrten Kugeln um den Madison 103
Square Garden«, sagte Senator Marquand boshaft. Er signalisierte damit Pappas, daß diese Art von Publicity den Chancen der Stadt zu einer kritischen Zeit schadete und die Sache so schnell und lautlos wie möglich bereinigt werden sollte. »Ignorieren Sie ihn, Kevin, der Senator wirft gern einen kleinen Anker an der Windseite aus«, erwiderte der Bürgermeister im gespielten Tonfall eines Schulmeisters, während er Marquand damit klarmachte, daß er die Botschaft verstanden hatte. »Tun wir das nicht alle? Aber sollten wir nicht zu dem brennenden Thema des Tages zurückkehren, zum Parteikongreß?« sagte Mrs. Pappas in dem Versuch, den Kongreß nach New York zu bekommen. Senator Marquand bemerkte ihren geschickten Themenwechsel und notierte im Geiste, daß Mrs. Pappas ein politischer Pluspunkt für ihren Mann bei einer zukünftigen nationalen Kandidatur sein würde. Bevor jemand antworten konnte, ergriff Calhoun das Wort und wandte sich an Senator Marquand. »Senator, wir werden diese Stadt für Sie auf den Kopf stellen. Wir werden die richtige Art Parteitag aufziehen…« »Welche Art ist das?« fragte Marquand. »Die Art, die zur Wiederwahl des Präsidenten führen wird. Wohin wollen Sie gehen, in zweitrangige Städte wie Chicago? An denen immer noch Erinnerungen an die Unruhen von ’68 haften? California? Wo man noch den Gestank des Feuers am South Central riecht? Miami? Miami ist Casablanca. Wir machen Sie zu einem Sieger, wir haben hier die Stadt von Weltklasse.« Ein peinlicher Moment des Schweigens wurde von Mrs. Marquand beendet, die aussprach, was alle bei 104
Kevins leidenschaftlichen Worten empfunden hatten. »Hey, ich liebe diese Begeisterung.« »Die Linien formieren sich nach links. Und versuchen Sie nicht, ihn uns wegzunehmen«, sagte Bürgermeister Pappas und legte stolz einen Arm um Kevins Schultern. Und um seine positive Reaktion auf das Essen zu bekräftigen, sagte Marquand: »Rufen Sie mich morgen früh an, Kevin. Ich brauche etwas Material in der New York Times; einen Leitartikel, der unsere mögliche Wahl New Yorks als Stadt des Parteikongresses preist. Der Präsident liebt einen guten Leitartikel in der Times.« »Den bekommen Sie, und lassen Sie mich sagen, Senator…« Calhoun war so in Fahrt, daß er weiterhin New York für den Parteikongreß preisen wollte, obwohl der Senator aufgestanden war und gehen wollte. Der Bürgermeister unterbrach seinen überbegeisterten Stellvertreter mit einem breiten Grinsen: »Die Wahl ist gefallen, Kevin. Wir bekommen den Kongreß. Lassen Sie diese Leute jetzt gehen, sie möchten den letzten Flug erwischen.« »Sie fehlen uns auf dem Capitol Hill, mein Freund. Das Stabspersonal spricht immer noch von dem Wunderkind Calhoun.« Marquand klopfte Kevin überschwenglich auf den Rücken und lächelte. Dann wandte er sich an den Bürgermeister und sagte nur halb scherzend: »Dieser Junge hat das Zeug, nach ganz oben zu kommen. Aber vergessen Sie nicht, John, daß wir ihm alles beigebracht haben, was er weiß.« Die zurückbleibenden Gäste des Bürgermeisters verabschiedeten sich herzlich von den scheidenden Gästen und gingen dann in das kleinere, weniger förmliche 105
Wohnzimmer links von Gracie Mansions Eingangsportal. Der Bürgermeister, seine Frau und Kevin ließen sich gleichzeitig mit ausgestreckten Beinen auf die Couches plumpsen, wie aus einer rebellischen Reaktion auf den indirekten Druck, den Senator Marquands perfekte Haltung während des Dinners auf sie ausgeübt hatte. Sie bemerkten ihre gleichzeitige spontane Reaktion und brachen in Gelächter aus. Dann wandte sich Mrs. Pappas mit einem mütterlichen Lächeln an Kevin. »Möchten Sie etwas essen, Kevin?« »Nichts, danke«, erwiderte er wie jemand, der keine Umstände machen wollte, obwohl er in Wirklichkeit vor Hunger fast umkam. »Kevin hat fleißig seine Arbeit verschlungen, und ich wette, daß er den ganzen Tag nichts Verdauliches gegessen hat«, sagte Bürgermeister Pappas, dem Kevins Tonfall nicht entgangen war. »Schatz, weise die Küche an, ihm einen Hamburger mit Zwiebeln auf Toast zu machen.« Mrs. Pappas warf einen liebevollen Blick zu beiden Männern und würdigte die Zuneigung und den Respekt, der sie in einer Vater-Sohn-Beziehung verband; sie spürte, daß der Bürgermeister einen jungen Schützling brauchte, weil ihm das half, die Lücke zu füllen, die durch den Tod ihres einzigen Sohns in Vietnam entstanden war. Als sie zur Küche ging, stellte der Bürgermeister seine übliche Frage: »Was gibt es Neues, Kevin?« »Tino Zapattis Kugel, nicht die des Cops, tötete das Kind.« Es folgte Schweigen. »Das ist alles«, sagte Kevin schließlich. »Sind das in diesen Tagen die guten Nachrichten?« Die Miene des Bürgermeisters verriet, daß er das erste 106
Unglück, den Fall Bone, nur als Eröffnung für eine lange Pechsträhne hielt. »Nun, ich halte es für gute«, sagte Kevin und berichtete von seinen vorherigen Schlüssen. »Ich habe Tinos Bewährungsbericht gesehen«, fuhr Kevin fort. »Musterhaft, aber da ist etwas sonderbar…« »Was?« fragte der Bürgermeister. »Er ist zu sehr abgesegnet.« »Von wem?« »Vom Aufsichtspersonal«, sagte Kevin und dachte an die unzähligen Male, an denen er erfolglos versucht hatte, die gleichen Leute an einer Teilnahme bei den täglich anfallenden Arbeiten der Stadt zu bewegen. »Der Bericht muß von einem ehrbaren Richter unterzeichnet sein«, bemerkte der Bürgermeister. »Walter Stern?« »Ja«, murmelte Calhoun wie ein Detektiv, der entschlossen am Tatort umherstreift, um Teile des Puzzles zu sammeln. »Gott sei Dank«, sagte der Bürgermeister mit einer Einfachheit, die Jahre des Trainings in einer zynischeren Welt der Politik verbarg. Der Bürgermeister stieß ein Seufzen unsicherer Erleichterung aus, mehr ein Stoßgebet, daß die Leute es dabei bewenden ließen, wenn ihnen klar wurde, daß die Strafaussetzung zur Bewährung einfach ein Fehler war, der ehrbaren Leuten unterlaufen war. Kevin unterrichtete den Bürgermeister als nächstes über Laskers unter hohem Druck erreichte Übernahme von Meyers Fabrik und betonte, daß das zusätzliche Land nicht unerläßlich für ein erfolgreiches Banc-Exchange-Projekt war, sondern nur dazu diente, Laskers Profit zu mehren. Calhoun sah Anselmos Handschrift hinter dem Druck der 107
städtischen Behörden, die bei Meyers & Son scharf durchgegriffen und ihn dadurch zum Verkauf an Lasker gezwungen hatten. Er stellte die Frage, ob die Stadt solch eine für sie nutzlose Bereicherung auf Kosten der Armen hinnehmen oder ihre Macht und ihre Maßnahmen für die benötigte Infrastruktur in dieser Gegend nutzen sollte, um Lasker zu zwingen, auf Meyers Besitz zu verzichten. Und er fügte hinzu, daß sich die Stadt mit ihrem derzeitigen Budget ohnehin keine neue U-Bahn-Station und keinen Zubringer zum Highway leisten konnte. »Ich treffe mich mit Frank Anselmo zum Frühstück«, sagte Kevin tatkräftig. »Ich werde versuchen, die Dinge zu klären.« »Wo?« »Bei Woerner’s.« »Das Stammlokal der Politiker in der Nähe der Brooklyn Barough Hall?« »Das ist es.« Bürgermeister Pappas bemerkte, daß sein Stellvertreter begierig auf die Konfrontation mit Anselmo war, und er wollte seinen Eifer dämpfen. »Wenn Sie nach Brooklyn gehen, sind Sie Frank Anselmos Gast. Pinkeln Sie ihm nicht ans Bein. Reden Sie ihm nur die Sache mit der Infrastruktur aus. Daran ist nichts falsch, es läßt sich nicht mit Meyers oder sonstwas in Verbindung bringen, aber im Augenblick können wir das nicht bezahlen. Treiben Sie Anselmo an den Rand des Abgrunds, aber nicht darüber hinaus. Und das heute abend war gute Arbeit.« »Sie meinen, es ging klar? Mrs. Marquand hörte nicht auf, über die Titelseite von Time zu reden«, sagte Kevin heiter. 108
»Ich nehme an, sie sammelt sie.« Der Bürgermeister lächelte. »Landesweites Interesse. Das ist die Muttermilch der Politik«, sagte Calhoun überschwenglich. »Was meinen Sie, Boß, haben wir die Wahl gewonnen? Bekommen wir den Parteikongreß?« »Es ist noch nicht schriftlich und besiegelt, aber ich denke, es ist entschieden. Sie haben den letzten Anstoß gegeben«, sagte der Bürgermeister bewundernd. »Ich dachte schon, ich hatte ihn mit dem Gerede über zweitrangige Städte überzeugt«, sagte der jugendliche Kevin im Ton größter Begeisterung. »Natürlich. Und wissen Sie, warum? Der Kongreß gehört hierher! Nach New York! Hier spielt die Musik.« Bürgermeister Pappas sprach mit der gleichen leidenschaftlichen Überzeugung, mit der Kevin beeindruckt hatte. Doch als ihm das klar wurde, lachte er verlegen über sich selbst. Jaime, der Mann vom Sicherheitsdienst, tauchte auf und tippte auf seine Armbanduhr. Der Bürgermeister hatte ihn gebeten, ihn an den Beginn der 23-Uhr-Nachrichten zu erinnern. »Die Bone-Story kommt auf Kanal sieben und zwei weiteren Sendern«, sagte Kevin und betätigte die Fernbedienung. Und da war der Hauptbericht auf Kanal sieben. Klick. Auf Kanal zwei. Klick. Und auf Kanal vier. »Genug«, sagte Pappas scharf. »Sie stürzen sich alle darauf wie auf einen billigen Anzug im Schlußverkauf«, bemerkte Calhoun. »Und es wird an uns hängen wie einer.« Der Bürgermeister seufzte in grimmiger Resignation. Jede Nacht um halb zwölf lieferte ein Leibwächter der 109
Intelligence Unit dem Bürgermeister die erste Ausgabe von Daily News, New York Post und New York Times. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren vermutlich die einzigen außer der kleinen Zahl von Leuten, die sich überhaupt dafür interessierten, die Leitartikel mit der Genauigkeit lasen, die normalerweise dem Studium religiöser Schriftenrollen vorbehalten war. »Hier im Leitartikel der Times: ›Richte oder werde gerichtet‹«, bemerkte Kevin besorgt. »›Die letzte feststellbare Spur von Korruption.‹ Wovon, zum Teufel, reden die? Richter werden nominiert und gewählt«, ereiferte sich der Bürgermeister. »Die Scheinprozedur. Sie wissen, daß de facto die Partei steuert, wer Richter wird«, entgegnete Kevin. Der Bürgermeister stimmte seinem Stellvertreter zu, daß der demokratische Traum zu einem Alptraum geworden war, an dem die Öffentlichkeit nicht schuldlos war. »Es brauchte nicht so zu sein, wenn die Zeitungen umfassender über die verdammten Lokalwahlen berichten würden und die Leute zur Wahl gehen würden. Es ist leicht zu jammern. Aber Bürger müssen für ihre Demokratie etwas Verantwortung übernehmen oder damit rechnen, daß andere sie ihnen abnehmen. Ein Machtvakuum wird stets durch die wenigen gefüllt, die sich genug engagieren, mit welchen Zielen auch immer. Wähler und ihre Zeitungen sollten erwachsen werden und ihre Pflicht tun oder mit dem Jammern aufhören.« Bürgermeister Pappas klatschte die Times auf den Lampentisch neben sich. »Aber müssen wir Teil des bürgerlichen Verfalls sein?« fragte Kevin vorsichtig. »Auf wessen Seite stehen Sie?« »Auf Ihrer, John. Und das werde ich immer. Ich spüre 110
eine Hängepartie. Vielleicht sollten wir uns ein bißchen von Walter Stern distanzieren…« Der Bürgermeister unterbrach ihn abrupt. »Distanzieren ist Scheiße. Man distanziert sich von seinen Feinden. Distanzierung ist eine Erfindung der 90er Jahre, um Freunde zu vernichten.« Der Bürgermeister schaute seinem Stellvertreter in die Augen, und sein Blick spiegelte seine tiefen Überzeugungen wider: »Sie sind gut, aber noch jung. Man läuft nicht von Freunden weg, wenn es Probleme gibt, nur weil es bequem für einen ist. Man ist zuerst Mensch, dann erst Politiker. Wir halten zu Richter Walter Stern.« »Wie Sie meinen«, war die einzige Antwort, die Kevin Calhoun einfiel.
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11 Obwohl Fino’s und Woerner’s Anselmos Stammlokale in Brooklyn waren, hätten diese Restaurants genausogut Leute von verschiedenen Planeten bewirtschaften können. Während in Fino’s Bayridges Fabrikarbeiter und ihre Familien verkehrten, wurde Woerner’s von allen durchreisenden Arten der politischen Nahrungskette besucht: kleine Anwälte, Lobbyisten, Fixer, Bezirksleiter, Richter des Supreme Court, gewerbliche Kautionssteiler, City Marshals, Mitglieder einer gesetzgebenden Körperschaft, Ratsmitglieder und jede Form von Anhängern und Mitläufern. Da all diese Stammgäste von Woerner’s Büro in der Nähe der Borough Hall hatten, tauchten immer wieder Boten auf, die Kuverts mit offiziell aussehenden Dokumenten brachten und abholten. Politik war das einzige Thema der Unterhaltung bei Woerner’s, besonders Klatsch darüber, wer in und out war, anstatt themenorientierte Diskussionen. Und Wohlstand schien pfundweise gewogen zu werden, denn an den Tischen von Woerner’s konnte man mehr betuchte Männer sehen als irgendwo sonst in Brooklyn. Es war nichts Beständiges am Kundenkreis bei Woerner’s. Sie frühstückten dort, wie es ihrer Position entsprach, wurden Tag für Tag von jedem im Restaurant taxiert und nach ihrer Rolle in der bürokratischen und politischen Machtstruktur der Stadt eingeschätzt. Wenn jemand eine Wahl verlor, angeklagt wurde, gefeuert wurde oder einer menschlichen Schwäche wie zum Beispiel einer chronischen Krankheit zum Opfer fiel, wurde er sofort eine unsichtbare Person für seine ›Freunde‹ bei Woerner’s. 112
Und sowohl Opfer als auch Täter akzeptierten diese Ächtung als Teil der natürlichen Ordnung in Woerner’s politischem Dschungel. In seinem diskreten, fast abgeteilten Bereich war Anselmo umgeben von Murray Safire, einem freundlichen Lobbyisten-Fixer, Lenny Lasker, dem Immobilienhai, und drei nicht klassifizierbaren Beauftragten, die zweifellos taten, was ihre Bosse in New Yorks Bürokratie wollten. Die Gruppe plauderte, während ihre Mitglieder ungeduldig auf das Eintreffen von Vizebürgermeister Calhoun warteten. Lenny paffte ständig an seiner Zigarette, und die anderen griffen regelmäßig durch seinen Rauchschleier, um sich ein Stück von dem Gebäck auf einem Tablett zu nehmen, das der eifrige alte Kellner immer wieder auffüllte. Als Anselmo Calhoun an der Tür entdeckte, winkte er ihn zu sich. Die Gruppe am Tisch rückte lautstark ihre Stühle zurecht, um Calhoun Platz gegenüber von Anselmo zu verschaffen. »Haben Sie sich verirrt?« fragte Anselmo, sichtlich verstimmt über Calhouns Verspätung, die er als Unhöflichkeit wertete. »Irgendwo gibt es einen Schlüssel in die Innenstadt nach Brooklyn, aber ich habe ihn leider nicht«, erwiderte Calhoun ruhig als Entschuldigung. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Safire statt einer Begrüßung. Als Calhoun am Tisch Platz nahm, sagte Anselmo: »Und warum nehmen Sie sich keinen Fahrer? Nach drei Jahren nutzt sich das Image des bescheidenen, sauberen Politikers ab.« Als die Gruppe bei Calhouns Einführung in den Humor bei Woerner’s lachte, brachte der alte Kellner wie auf ein 113
Signal hin Teller mit Spiegeleiern und Speck und Bratkartoffeln. Der Kellner wartete auf Calhouns Bestellung. »Was nehmen Sie?« fragte Anselmo. »Haferschleim mit Magermilch und Bananenscheiben, bitte«, bestellte Calhoun. Totenstille senkte sich über den Tisch, während der Kellner unbehaglich von einem Bein aufs andere trat und sich wie eine Zielscheibe des Spotts fühlte. »Was ist los?« fragte Calhoun in echter Verwirrung. »Lenny mußte soeben kotzen«, witzelte Anselmo. Und alle brachen in Gelächter aus, als Anselmo ein ›Männeressen‹ für Calhoun beim Kellner bestellte. »Bringen Sie ihm Schinken und Spiegeleier – und weil er der Junge des Bürgermeisters ist, nehmen wir hin, daß er eine Scheibe Toast dazu ißt, anstatt Brötchen mit Streichkäse.« Calhoun lächelte in wissender Belustigung über seine kleinen Schwächen und um zu zeigen, daß es ihm nichts ausmachte, von ihnen gutmütig verspottet zu werden. »Was gibt es Neues, Kevin?« fragte Anselmo schließlich. Calhoun zählte mindestens zehn städtische Probleme auf, bevor sein Blick auf die Schlagzeile der Zeitung fiel, die auf dem Tisch lag. ›Kreuzfeuer bei den Carver Houses ist nicht vorbei.‹ Anselmo bemerkte Calhouns Blick und unterbrach seine Ausführung. »Und ein kleiner Junge wurde erschossen.« »Und ein Drogendealer«, fügt Safire hinzu. »Und ein Cop«, sagte wiederum Anselmo. »Kein Wunder, daß uns heute der Vizebürgermeister in Brooklyn Gesellschaft leistet«, sagte Safire spöttisch. 114
»Aber er ist sehr willkommen«, sagte Anselmo und wandte sich Calhoun zu. »All diese schlechten Nachrichten«, schaltete sich Lenny ein und brachte das Gespräch auf das Geschäftliche. »Deshalb brauchen wir etwa Positives für die Stadt wie Banc-Exchange.« »Nichts dagegen, Lenny«, erwiderte Calhoun sofort. »So brauchen wir die volle Umwandlung des Industriegebiets in Büroflächen, eine U-Bahn-Station und eine Anbindung an den Brooklyn-Queens-Expressway. Kevin, waren Sie heute nachmittag bei der Ratsversammlung dabei?« fragte Anselmo. »Was die Infrastruktur anbetrifft…« Anselmo schnitt ihm das Wort ab. »Infrastruktur ist nur ein Modewort für die Notwendigkeiten des Lebens.« »Die Stadt hat fünfundzwanzig Billionen Dollar Schulden, Frank. Wir sind nicht in der Lage, U-BahnStationen und Zubringer zu bauen«, erwiderte Calhoun entschieden. »Dreizehntausend Arbeiter, und Sie wollen ihnen nicht mal eine U-Bahn-Station bauen?« fragte Lenny ungläubig. »Infrastruktur wird helfen, den Rest dieser verkommenen Gegend zu einer Goldküste von New York zu entwickeln.« »Oh, haben Sie zufällig ein paar Optionen auf den Besitz rund um Banc-Exchange, Lenny?« sagte Calhoun scharf. »Sie bekommen nie genug, nicht wahr, Lenny?« »Natürlich hat Lenny Optionen gekauft«, sagte Anselmo. »Und das hat jeder Planer in der Stadt getan, als das Projekt bekannt wurde. Ganz davon abgesehen, wer Geld damit verdient, ist es großartig für die Stadt, Mr. Vizebürgermeister. Aber wenn Sie nicht die 115
Möglichkeiten für eine glatte Anfahrt der Angestellten sorgen, wird Banc-Exchange die Sache fallenlassen und ihre Verwaltung und den Hauptsitz nach New Jersey verlegen.« Anselmo war zornig über Calhouns arrogante Ansicht, daß eine gute Tat für die Stadt ausschloß, daß Einzelpersonen sich selbst dabei Gutes taten. Die Vorstellung an sich erschütterte die Voraussetzung seiner politischen Maschinerie. »So sei es. Der Bürgermeister liebt Banc-Exchange, Frank, aber er kann sich keine Infrastruktur leisten.« Calhoun vertrat stur seinen Standpunkt. »Der Zug fährt ab, Kevin, aber Sie wollen nicht mitfahren«, warnte Anselmo seinen jungen Widersacher. »Sie meinen, Sie bekommen die Stimmen?« fragte Calhoun herausfordernd mit Bezug auf die an diesem Nachmittag stattfindende Abstimmung über BancExchange im Stadtrat. »Wir haben noch nicht gezählt«, erwiderte Anselmo und hob zynisch die Augenbrauen. »Warum? Ich dachte, Sie wären auf unserer Seite. Sie kommen mit Sicherheit ins Schwimmen. Infrastruktur bedeutet Jobs. Und Jobs bedeuten Wählerstimmen. Ich dachte, John Pappas liebt Wählerstimmen. Ich weiß, daß er im nächsten Jahre welche brauchen wird.« Kevin ließ sich nicht bremsen. »Er liebt Wählerstimmen, Frank. Aber keine Infrastruktur. Und die Stadt findet die Idee einer U-Bahn-Station und eines Zubringers prima, kann jedoch nicht dafür zahlen. Und wir haben noch nicht darüber gesprochen, warum Sie eine Fläche von rund hundertfünfzigtausend Quadratmetern über die Bedürfnisse von Banc-Exchange hinaus erschließen wollen.« Calhoun blickte auf und sah, daß Anselmo seinen Mantel anzog und mit seinem Gefolge im Schlepptau zur Tür 116
ging. »Hey, wohin gehen Sie?« »Ich habe einen Termin in Manhattan«, antwortete Anselmo kühl. »Die Versammlung ist beendet?« fragte Kevin mit echter Überraschung. »Ich hörte Sie ›nein‹ sagen«, erwiderte Anselmo. Calhoun erinnerte sich an Bürgermeister Pappas drängende Worte, Anselmo nicht über den Rand des Abgrunds zu treiben. »Kann ich Ihnen eine Mitfahrt anbieten?« fragte er in der Hoffnung, die Verhandlungen fortzusetzen. »Nein, danke, ich komme schneller mit der U-Bahn hin«, lehnte Anselmo ab. Und Calhoun spürte, daß Anselmo die Weichen für eine entscheidende Kraftprobe bei der Ratsversammlung an diesem Nachmittag stellen würde.
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12 Calhoun stieg die breite Marmortreppe des runden Treppenhauses in der City Hall hoch und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Er war ganz gespannt auf den Konflikt zwischen Banc-Exchange und Anselmo in der gesetzgebenden Kammer des Stadtrats, als er praktisch von einer jungen Frau verfolgt wurde, die noch schneller war als er. Als sie Kevin überholt hatte, stehenblieb, sich ihm zuwandte und ihn ansah, erkannte er sie als die D. E. A.-Anwältin, die mit dem Bürgermeister und Mrs. Santos auf dem Gang im Kings County Hospital gesprochen hatte. Da sie ihm den Weg blockierte, war Calhoun gezwungen, die Information auf ihrer Visitenkarte zu lesen, die sie ihm in die Hand drückte. »Detective Endowment Association, Koanwältin«, las er, während sie sich atemlos vorstellte: »Mr. Calhoun, ich bin Marybeth Cogan.« Calhoun musterte eine attraktive Frau mit einem unbedeutenden Titel, die ihm den Weg zu einer äußerst wichtigen Ratsversammlung blockierte, und er speiste Marybeth einfach mit einem ›sehr angenehm‹ ab und wollte sich an ihr vorbeischieben. Marybeth Cogan blockierte ihm jedoch entschlossen weiterhin den Weg und sagte empört: »Ich vertrete Detective Eddie Santos, und man beschmutzt den Namen meines Mandanten. Ich habe bereits jeden Weg bis zum Polizeichef hinauf versucht, und man hat mir jede Tür vor der Nase zugeknallt.« Beide gingen weiter, und Calhoun sagte abweisend: 118
»Warum tragen Sie die Sache nicht dem Syndikus vor?« »Damit sie begraben wird? Nein danke. Sind Sie nicht das Sprachrohr zum Bürgermeister? Sagen Sie ihm, daß ihn jemand auf den falschen Weg gebracht hat«, entgegnete sie scharf. Ihm entging nicht Marybeth’ Schönheit und ihr Temperament, und er verlangsamte seine eiligen Schritte und sagte: »Interessant. Können wir das in mehr Einzelheiten erkunden?« Er heftete den Blick auf die vielversprechenden Umrisse ihrer Brüste. »Vielleicht bei einem Kaffee oder etwas anderem?« »Ich rede von einem heldenhaften Cop und der Pension seiner Witwe«, fuhr sie ihn an und ignorierte seinen anzüglichen Blick. »Und ich bin auf dem Weg zu einer Ratsversammlung, bei der es um ein Entwicklungsprojekt geht, das um die sechshundert Millionen kostet und dreitausend Jobs schaffen kann. Also entschuldigen Sie mich bitte… wollen Sie in meinem Büro warten?« »Nein, Sie haben meine Karte. Ich erwarte, morgen früh etwas von Ihnen zu hören.« Marybeth eilte an ihm vorbei die Treppe hinunter. Ihre Energie und Entschlossenheit beeindruckten ihn, und er blickte ihr auf ihrem Weg bis zum Ausgang der City Hall nach. Calhoun hatte keine neuen negativen Berichte über Santos gehört seit der Spekulation, die am Tag der Schießerei entstanden war. Er zuckte die Achseln und eilte weiter zur Kammer des Stadtrats. Als Calhoun die Kammer durch hohe, mit Leder gepolsterte Türen betrat, wurde er von Captain Florian von der Police Internal Affairs Unit, der Abteilung interne Angelegenheiten, in eine Ecke geführt. Im Hintergrund 119
hörte Kevin die dröhnende Stimme des Ratsmitglieds Garrity, der einen irischen Heldengedenktag als Feiertag vorschlug, hauptsächlich für das Protokoll und seine nationalistischen irischen Wähler, wobei ihm kaum jemand zuhörte, während sich im Vordergrund kleine Gruppen von Ratsmitgliedern um Anselmo, Lasker und ihre Speichellecker geschart hatten und sich auf die Abstimmung in der Sache Banc-Exchange vorbereiteten. Calhoun war erleichtert, als er Abe und dessen Gefolgsleute aus dem Kreis des Bürgermeisters sah, die sich mit gleichem Eifer abstimmten. »Ich denke, wir werden ein Problem mit der BoneSchießerei haben«, sagte Florian leise und in verschwörerischem Tonfall. »Der tote Cop hatte vielleicht Dreck am Stecken.« »Woher haben Sie das?« fragte Calhoun. »Internal Affairs findet mehr und mehr Anzeichen dafür. Ich denke, wir sollten in die Offensive gehen. Es ist politisch immer besser, zum Besten der Polizei, wenn wir unsere faulen Äpfel selbst bekanntmachen«, sagte Florian mit der Selbstsicherheit eines Profis. Calhoun hörte im Hintergrund einen Änderungsantrag: »… Im Borough Queens, Block sieben-acht-vier, geplante Umwandlung von R-l bis R-12 in Mehrzwecknutzung. Im Borough Queens, Block sechsvier-vier, von industrieller Nutzung R-12 in Nutzung zu Wohn- und Bürobereich…« Der neue Singsang änderte nichts an der Gleichgültigkeit aller in der Kammer, die ihre Geschäfte oder Unterhaltungen fortsetzten. »Wir wollen keine Schlagzeilen über politische Korruption am Tag der Beerdigung des Cops«, sagte Calhoun. »Um Himmels willen, er hat eine Familie.« 120
»Vielleicht können wir warten, aber es ist das beste, diese Dinge schnell bekanntzugeben. Es sickert immer etwas durch«, konterte Florian. »Haben Sie genug Beweise?« »Ich denke, bis morgen werden wir alles endgültig bewiesen haben. Schicken Sie also den Bürgermeister aus der Stadt. Er möchte bestimmt keine Lobrede auf einen Cop halten, der am nächsten Tag als schmutzig entlarvt wird«, sage Florian leise und mit vorgehaltener Hand, damit keiner ihm etwas von den Lippen ablesen konnte. Florian zog sich in die Menge zurück, und Calhoun fragte sich, was da vorging. Jemand streute offenbar aus, daß Santos ein schmutziger Cop gewesen war, noch bevor es durch harte Beweise untermauert werden konnte. Aber warum? Wer? Calhoun hatte keine Zeit für weitere Überlegungen, denn der Präsident schlug zweimal mit seinem hölzernen Hämmerchen auf den Tisch, um die Abschlußdebatte und Abstimmung für die Gesetzesvorlage in puncto Banc-Exchange anzukündigen. Die zweigeschossige Kammer des Stadtrats mit seinen im georgianischen Stil mahagoni- und weißgetäfelten Wänden, goldenen Zierleisten und original Ölgemälden, die idealisierte Porträts der Gründerväter der Nation zeigten, konnte – wenn leer – den Eindruck erwecken, daß darin eine ordentliche, wohlerwogene demokratische Gesetzgebungsprozedur stattfand. Aber als sich Calhoun einen Weg hinab zu dem Mittelgang bahnte, um auf einem der reservierten Klappstühle neben einem der verschiedenen Mikrofone Platz zu nehmen, ging er durch die chaotische Realität der Demokratie. Ratsmitglieder und Zuschauer gleichermaßen ignorierten das Hämmern des Präsidenten und setzten ihre Argumente, Verhandlungen, Unterhaltungen und Proteste fort. 121
Die Gesetzgeber der Stadt und ihr Stab von Assistenten nahmen auf dem Podium aus Mahagoni Platz, das sich fünfzehn Meter lang an der Frontseite der Ratskammer befand. In der Mitte saß der Präsident auf einem roten Thronsessel höher als alle anderen, obwohl seine offizielle Rolle mehr zeremoniell als politisch entscheidend war. Alle auf dem Podium blickten hinab auf die gesamte Kammer, denn es befand sich auf einer erhöhten Plattform. Vorne und in der Mitte unterhalb des Podiums waren einundfünfzig gewählte Ratsmitglieder, die an Schreibpulten aus dem 19. Jahrhundert saßen. Da New Yorks Viertel ethnisch, rassisch, religiös, ökonomisch und sogar sexuell zum großen Teil balkanisiert waren, stellten die verfassungsmäßig vorgeschriebenen lokalen Wahlbezirke ein visuelles und politisches Mosaik von Abgeordneten. Unter diesen Umständen war es außergewöhnlich schwer, einen Konsens durch ideologische Übereinstimmung zu erreichen, ein Hindernis, mit dem die mehr gleichartigen demokratischen Gründungsväter nicht konfrontiert gewesen waren. Gesetze wurden erlassen, weil sie entweder so harmlos waren, daß sie bei niemandem Anstoß erregten – zum Beispiel die unbeanstandete Umbenennung eines Straßennamens –, oder weil die Krise so groß war, daß die Alternative ein Zusammenbruch war wie die Finanzkrise von 1977. Alle anderen Gesetze wurden erlassen, weil ein paar mächtige Führer eine Übereinstimmung erzwangen. Zum Beispiel hatte der Sprecher des Rats die absolute Macht, Komiteemitglieder und Vorsitzende zu bestimmen, die zusätzlich zu dem lumpigen Gehalt von fünfzigtausend Dollar eines Ratsmitglieds zwanzigtausend Dollar einbrachten. Nebeneinkünfte, Personal und Zugang zu Informationen waren ebenfalls Waffen unter seiner Kontrolle. Makler der Macht für Wahlen wie Anselmo 122
waren ebenso entscheidend für die Herbeiführung eines Konsenses, denn sie kontrollierten wichtige Quellen für die Finanzierung von Wahlkämpfen für Lokalwahlen. Links neben dem Podium befanden sich Reihen von metallenen Klappstühlen mit den Presseleuten, und fünf Fernsehkameras und Crews standen an dieser Seite der Kammer. Privilegiertes Führungspersonal, Lobbyisten und Antragsteller drängten sich bei der wichtigen Abstimmung für Banc-Exchange vor den Seitenwänden. Im Hintergrund und auf der Galerie saßen normale Bürger dicht an dicht hinter den Absperrseilen, bei denen stämmige, tüchtig wirkende bewaffnete Polizisten auf Posten standen. Der alte Meyers und sein Sohn Ben stachen unter den überwiegend minderjährigen Protestlern auf der Galerie hervor, die Fahnen schwenkten: ›Arbeit statt Wohlfahrt‹ und ›Schluß mit dem Wegrationalisieren der Fabrikarbeiter‹. Auf der anderen Seite der Galerie waren vertraute Gesichter aus Anselmos Klubhaus. Sie hielten Schilder mit Aufschriften wie ›Mittelklasse-Jobs – New Yorks gefährdete Sorte‹. Nach unablässigem Klopfen mit dem Hämmerchen und erfahrenem Zurückdrängen der Protestler durch die Polizisten herrschte vorübergehend Ordnung in der Ratskammer. Theatralisch rief der Präsident: »Die siebenhundertdreißigste Versammlung des Rats der Stadt New York tagt nun.« Und er wandte sich zu Ratsmitglied Anselmo, damit er als Vorsitzender des ›Land Use Committee‹ über das Banc-Exchange-Projekt berichtete. »… der Ausschuß empfiehlt die Inkraftsetzung des Banc-Exchange-Projekts, das dreizehntausend lebenswichtige Mittelklassejobs schaffen wird. Um das zu ermöglichen, empfehlen wir die Umwandlung von 123
sechshunderttausend Quadratmetern Industriegelände in die Nutzung als Geschäfts- und Bürogelände. Und wir empfehlen, daß die Stadt für dreißig Millionen eine UBahn-Station und für fünfzehn Millionen eine Zubringerstraße baut, um den Leuten den Verkehr zu und von diesem Gebiet zu erleichtern.« Calhoun neigte sich zu Abe und flüsterte ihm zu: »Da ist was im Busch.« »Ich habe das ernste Gefühl, daß die Infrastruktur kommt«, erwiderte Abe und schüttelte den Kopf. »Willkommen an Bord, Abe. Anselmo muß einige Stimmen dazugewonnen haben. Schnappen Sie sich Seymour. Sagen Sie ihm, das Büro des Bürgermeisters wünscht, daß er ein paar Takte zu der Gesetzmäßigkeit dieser Gesetzgebung sagt. Fangen Sie ihn mit einem Lasso ein, wenn es sein muß, aber erledigen Sie es sofort.« Abe flüsterte schnell dem Präsidenten ins Ohr, der daraufhin zweimal mit dem Hämmerchen klopfte. »Wir unterbrechen die Debatte für zehn Minuten, in denen Vizebürgermeister Calhoun zu den Versammelten über das Projekt Banc-Exchange sprechen wird.« Anselmo flüsterte dem Präsidenten schnell etwas ins andere Ohr; nach zweimaligem Klopfen mit dem Hämmerchen kündigte dieser an: »Mr. Lenny Lasker, der Entwickler des Banc-Exchange Projekts, wird ebenfalls gebeten, während der Pause der offiziellen Debatte Informationen zu geben.« Calhoun stand bereits vor dem Mikrofon im Mittelgang, und zum ersten Mal herrschte völlige Stille in der Kammer. »Mr. President, das Büro des Bürgermeisters lehnt die Umwandlung von Block acht-vier-sieben ab. Wir bitten um einen Aufschub zum weiteren Studium der Fakten.« 124
Die Leute auf der Galerie neigten sich auf ihren Plätzen vor. Lasker und Anselmo blickten sich betroffen an. Und der Präsident, der die Tagesordnung hochhielt, sagte: »Herr Vizebürgermeister, aber dieser Punkt ist bereits vom Planungssausschuß gebilligt worden.« »Es sind ein paar hundert Fabrikarbeiterjobs in Gefahr durch einen Nachtrag zu der gebilligten Gesetzesvorlage. Die Billigung bezog sich auf vierhundertfünfzigtausend Quadratmeter, nicht auf sechshunderttausend. Die Satzung der Stadt schreibt in solchen Fällen Hearings des Entwicklungsausschusses und nochmalige Erwägung vor«, fuhr Calhoun selbstsicher fort. Leonard Lasker erhob sich vor dem Mikrofon auf der anderen Seite des Mittelgangs. »Mr. President, dieses Gelände birgt eine Umweltgefahr in sich. Wir haben Glück gehabt, daß sich dort bisher keine Todesfälle ereignet haben. Dies ist eine Verzögerungstaktik seitens der früheren Besitzer, die weiterhin ihre Arbeiter opfern wollen. Und es würde eine Verzögerung geben, denn die Uhr meiner Beteiligung tickt bereits!« »Das mag sein«, rief Calhoun, »aber die Satzung der Stadt schreibt vor, daß wir nicht ohne ein Hearing des Ausschusses für wirtschaftliche Entwicklung Arbeiterinnen und Arbeiter zur Wohlfahrt schicken können, nur um Platz für Büroraum zu schaffen, der nicht deutlich in das ursprünglich genehmigte Banc-Exchange-Projekt integriert ist. So ist das Gesetz.« »Mr. President, bitte! Dies ist lächerlich! Wir brauchen Jobs. Die Stadt ist verzweifelt. Wo beschäftigen wir die Leute, die Steuern in dieser Stadt zahlen?« ereiferte sich Lasker mit gerötetem Gesicht. 125
»Es gibt Gesetze über die Umwandlung von Gewerbegebieten und Arbeitsplatzverluste«, beharrte Calhoun. »Mr. President, dies ist idiotisch. Wir haben bereits eine Beihilfe von fünftausend Dollar für jeden arbeitslos werdenden Mitarbeiter von Meyers & Son zurückgelegt«, sagte Lasker mit großzügiger Geste, während sein Anwalt an seinem Ärmel zupfte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Arbeiter buhten auf der Galerie im Chor. »Ich gebe zu bedenken, daß Mr. Laskers eigene Einlassung einen Aufschub erforderlich macht«, sagte Calhoun. »Es ist in dieser Sache nichts von einer Beihilfe in den Akten der Ausschüsse vermerkt.« »Mr. President, bitte! Das sind formale Spitzfindigkeiten. Dieser Mann tötet die Stadt mit formaler Haarspalterei. Seit er hier ist, hat er jede Chance auf Fortschritt gestoppt. Dieses Gelände war gesetzmäßig zum Sterben verdammt. Das ist das Gesetz!« schrie Lasker wütend. Stimmengewirr erfüllte die Kammer. Ratsmitglieder tauschten Blickte und fragten einander: »Was, zum Teufel, geht hier vor?« »Es gibt auch Gesetze zum Schutz der Schwachen vor den Reichen, und wer gibt Ihnen überhaupt das Recht auf das Gelände mit Ausblick auf den Fluß?« erwiderte Calhoun hitzig. Lasker ging bei der Erwähnung von Reichen förmlich in die Luft. »Wer sagt, daß Fabrikarbeiter und illegal beschäftigte Ausländer ein Recht auf den besten Ausblick auf die New 126
Yorker Skyline haben? Sie können sonstwo arbeiten. In Amerika bestimmen die Dollars die Aussicht. Und reich! Was heißt überhaupt reich? New York hat keine Reichen mehr. Wir sind pleite. Sie haben uns alle fortgeekelt. Und was haben Sie dafür vorzuweisen? Was? Sie haben kein Büro, kein Geschäft gebaut. Sie sind ein Nichts. Ein Schleimscheißer, der jedem Demonstranten und Bittsteller in den Arsch kriecht!« Der Blick des Präsidenten irrte nervös durch die Kammer; er klopfte ständig mit dem Hämmerchen. »Die Sitzung ist vertagt. Wir übergeben dies dem Exekutivausschuß«, rief er ohne viel Überzeugung. Lasker wurde von seinen Anwälten vom Mikrofon fortgezogen, während Meyers’ Arbeiter in Jubel ausbrachen. Kevin sah, wie die Menge aufgeregt schreiend auf ihn zu drängte, während Anselmo ihn zornbebend einen Moment anstarrte, dann eine leichte spöttische Verbeugung machte und langsam aus der Kammer ging. Calhoun wurde von Ben und Max Meyers und den Fabrikarbeitern umringt; Max und einige der Frauen weinten. Der Vizebürgermeister war von einer Freude erfüllt, die er nie zuvor in seinem politischen Leben empfunden hatte; Calhouns Laufbahn hatte sich endlich mit dem Leben gekreuzt. Ein politischer Techniker verwandelte sich vor aller Augen in einen Politiker und – Menschen. Bürgermeister Pappas erhielt donnernden Applaus für die Rede, die er soeben vor tausend Mitgliedern der katholischen Jugendbewegung in der Sporthalle des Manhattan College, Riverdale, Bronx, gehalten hatte. Er überließ das Rednerpult dem folgenden Redner mit großzügiger Reste, um zu seinem nächsten Termin in der 127
Öffentlichkeit zu eilen, als George ihm einen Telefonhörer reichte. Pappas zog sich hinter die Trennwand hinter dem Podium zurück, hörte dem Anrufer zu, murmelte »danke« und wählte sofort eine Nummer, als der Anrufer aufgelegt hatte. Während sich Calhoun in seinem neuen Status sonnte, machte Sergeant Hanley ihn mit Zeichen auf sich aufmerksam und wies auf eine Reihe besonderer Telefone, die für Ratsmitglieder reserviert waren. »Der Bürgermeister«, sagte Hanley, als er Calhoun den Hörer überreichte. »Was ist passiert?« fragte Pappas mit der Besorgnis eine Mannes, der die Fakten kannte und jetzt den Hintergrund der Geschichte hören wollte. »Die Frage sollte lauten, was ist nicht passiert?« sagte Calhoun, immer noch in Hochstimmung. »Okay, was ist nicht passiert?« Die Stimme des Bürgermeisters verriet Ärger über die Unreife seines Stellvertreters. »Ratsmitglied Frank Anselmo, Parteibonze und der letzte einer sterbenden Rasse, ist auf die Nase gefallen. Er bekam nicht seinen Willen«, sagte Calhoun überschwenglich. »Frank Anselmo stirbt nicht«, sagte der Bürgermeister kühl. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Kevin, treffen Sie mich auf dem Banc-Exchange-Gelände.« »Wann?« »Sofort!« Der Bürgermeister drückte auf die Gabel und überreichte George den Hörer. Calhoun traf auf dem Gelände von Banc-Exchange ein – eine einsame Gestalt auf einer riesigen Fläche am Wasser 128
und an verfallenen Piers, die mit Abfall, zerbrochenen Flaschen und rostenden Autokarosserien bedeckt waren – und wartete besorgt auf den Bürgermeister. Die Vorhut traf ein und parkte auf der Straße, die an die größtenteils verlassenen kleinen Fabriken und Lagerhäuser grenzte. Kurz darauf traf der Bürgermeister ein. Er sprang aus der Limousine und ging zu Kevin. Beide Männer schauten andächtig über das Gelände auf die prächtige Skyline von Manhattan. »Nun, was denken Sie?« fragte der Bürgermeister. »Welch eine Aussicht«, erwiderte Kevin und wischte die Haare zurück, die ihm der Wind ins Gesicht blies. »Aussicht!« sagte Bürgermeister Pappas. »Welch ein Poet; er sieht eine Aussicht! Die Aussicht ist das Unbedeutendste daran. Dies, mein Freund, ist keine Aussicht, dies ist Besitz, der umgeben ist von aufgegebenen Gebäuden und kleinen Fabriken, die keine Steuern einbringen und irgendwo sonst in der Stadt angesiedelt werden können. Banc-Exchange kann sich entfalten. Und keiner verliert etwas dabei.« »Dreißig Millionen Dollar für eine U-Bahn-Station und fünfzehn Millionen für eine Zubringerstraße, das ist eine Menge Steuergeld, um den Wert von Lenny Laskers Besitz zu steigern«, entgegnete Kevin. »Sie sind über den Elefanten gestolpert, während Sie einen Floh gejagt haben. Vergessen Sie Frank Anselmo. Halten Sie sich vor Augen, was die Steuerzahler langfristig als Gegenleistung erhalten«, sagte der Bürgermeister mit einem versteckten Hinweis, den Druck auf Frank Anselmo zu lockern. »Frank Anselmo ist kein Floh«, erwiderte Calhoun, der immer noch den Sieg über das alte Regime genoß. »Betreiben Sie keine Haarspalterei. Es geht darum, daß 129
Dinge erledigt werden. Ich werde mich selbst mit Frank Anselmo treffen. Und er wird uns die Stimmen geben, die wir für Banc-Exchange brauchen. Wenn der Zug aus der Station fährt, Kevin, wollen Sie darin sitzen.« Es klang wie eine Anweisung. »Aber Sie sagten nein zu der Infrastruktur.« Kevin erinnerte sich an ihr Gespräch in Gracie Mansion. Der Bürgermeister zuckte zusammen bei der Naivität seines Stellvertreters. »Ich sagte, geben Sie ihm keine Infrastruktur, aber ich sagte nie, ›Geben Sie ihm nicht Banc-Exchange‹. Wir und die Stadt brauchen das Projekt. Politik muß wirkungsvoll sein.« Calhoun hob frustriert die Hände, während Bürgermeister Pappas fortfuhr: »Sie hätten sich anpassen müssen, Kevin.« »Wie wollen Sie das bezahlen?« »Wir werden einen Weg finden«, sagte der Bürgermeister zuversichtlich. Er wies einen Mann der Vorhut an, Kevins Wagen zu fahren, und lud seinen Stellvertreter ein, mit ihm in seiner Limousine zur City Hall zu fahren.
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13 Die Premiere von Carousel in New York Citys Repertoiretheater war einem Zuschuß des Kulturministeriums zu verdanken, den der Gouverneur befürwortet hatte. Für die politische Elite und die Medien der Stadt war die Premiere so bedeutsam, wie es der Eröffnungsabend der Metropolitan Opera für die High-Society der protestantischen weißen Angelsachsen war. Im dunklen Zuschauerraum einer Aufführung im Lincoln Center konnte Bürgermeister Pappas die Einsamkeit und Verletzlichkeit in einem öffentlichen Amt vor sich selbst rechtfertigen: Es ist all das wert, wenn man diese eine große Chance nutzen kann, um etwas zu verändern, dachte er. Robert Moses und John D. Rockefeller erbauten das Lincoln Center auf dem Gelände verfallener Mietshäuser durch eine städtische, private Partnerschaft. Und sie verwirklichten ihren Traum, eine kulturell kritische Gesellschaft in Manhattan zu schaffen, die in ihrer Qualität und Mannigfaltigkeit ausreichte, ständig ein vielschichtiges Publikum anzuziehen. Die sterbende West Side verwandelte sich in den kulturellen Herzschlag eines New York City von Weltklasse. Kann Banc-Exchange eine kleine, aber nicht unbedeutende Chance sein, etwas positiv zu verändern? überlegte der Bürgermeister, während er zu Anselmo und dessen Frau Nettie schaute, die zwei Reihen vor ihm saßen. Frank und Nettie hielten sich bei der Aufführung an den Händen, und an manchen Stellen flüsterten sie den Text mit den Schauspielern auf der Bühne. Anselmo blickte zu 131
seiner Frau, lächelte sie an und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Als Billy Bigelow und Julie Jordan sangen ›If I Loved You‹, sah Bürgermeister Pappas im Widerschein der Bühnenbeleuchtung, daß sich eine Träne aus Anselmos Auge löste und die Wange hinabrollte. John Pappas schnippte mit dem Finger, und der Leibwächter der Intelligence Unit neigte sich vor, der hinter ihm und seiner Frau saß. »Ich möchte Frank Anselmo auf dem Balkon sehen. Jetzt gleich«, wies Pappas den Leibwächter an. Fünf Minuten später waren die Gentlemen in eine Unterhaltung auf dem windigen Balkon vertieft. Der Balkon bot einen Blick auf die Lincoln Center Plaza mit ihrem herrlichen Springbrunnen, und die Met mit ihrem Marc-Chagall-Wandgemälde und die Philharmonie schimmerten im Hintergrund. »Wir versäumen den besten Teil«, beklagte sich Anselmo. »Du kennst ihn sowie auswendig«, sagte Pappas und kniff seinem Freund spielerisch in die fleischige Wange. »Gefällt dir Billy Bigelow, John?« »Gute Stimme, keine Schauspielkunst. Was hältst du von Julie Jordan?« »Gute Schauspielkunst, keine Stimme. Meine Nettie kann besser singen. Als wir uns vor fünfundzwanzig Jahren kennenlernten, sang sie im Westbury Music Circus in Carousel«, sagte Anselmo und lächelte in der Erinnerung. »Ich erinnere mich, sie war im Chor. Nettie war damals etwas Besonderes… und ist es heute. Da wir von Aufführungen reden, Frank, ich möchte nicht noch einmal etwas über eine von dir wie gestern hören.« »Dein Junge hat mich in Verlegenheit gebracht«, sagte Frank völlig berechtigt. 132
»Du hättest weiterreden sollen. Eine öffentliche Kraftprobe ist niemals nötig.« Der Bürgermeister schwieg einen Augenblick und sprach dann weiter: »Es gibt Öl unter diesen freien Grundstücken, Frank. Städtisches Öl. Jobs!« »Hey, ich habe geholfen, Banc-Exchange anzuleiern. Du brauchst mir nichts über Politik zu erzählen«, sagte Anselmo. »Arbeitsplätze. Für die Leute dieser Stadt. Keine Verpachtungen und Vermietungen für Lenny Lasker und all deine gierigen Freunde«, sagte der Bürgermeister eindringlich. »Du hast keine Jobs ohne Entwicklung, und das bedeutet Vermietungen und Entwickler«, erwiderte Anselmo mit echtem Erstaunen. »Was ist mit dir los, John? Nur weil der Junge denkt, er kann dich zum Präsidenten wählen lassen, vergißt du, wen du hier vor dir hast?« »Du hast neuerdings eine kurze Erinnerung, Frank. Oder eine sehr begrenzte«, sagte der Bürgermeister. »Hast du vergessen, daß wir uns gegenseitig nutzen?« »Entschuldige«, erwiderte Frank und bedauerte, daß sich Freunde stritten. Der Bürgermeister spürte, daß diese Begegnung reine Zeitverschwendung war. »Sieh mal, die U-Bahn-Station kostet mich dreißig Millionen Dollar, der Zubringer fünfzehn Millionen. Der Etat der Stadt kann das nicht aufbringen. Ich muß es von Albany erbetteln, und meine anderen Finanzlöcher müssen im Augenblick dringender gestopft werden.« Er sah Frank Anselmos um Verständnis heischend an. »Ich habe eine Lösung«, sagte Anselmo munter. »Wie wäre es, dem Bund die Kosten für eine Nebenlinie der Amtrak-Eisenbahn ans Bein zu binden?« 133
»Sei nicht albern. Ein Kilometer Schienenstrang kostet um die hundert Millionen Dollar. Da werden sie keinen Nickel springen lassen. Hör mir zu. Banc-Exchange ist gut für die Mittelklasse. Gut für die Arbeitslosen. Gut für die ganze verdammte Stadt. Was die U-Bahn-Station, Zubringer und Infrastruktur angeht… hör damit auf, wir können uns das nicht leisten.« »Dann wirst du die ganze Sache vergessen müssen«, sagte Frank in sachlichem Tonfall. »Es geht um Stimmen, und ich habe im Stadtrat die Nase vorn.« In diesem Moment wurden die Türen geöffnet, und das Publikum strömte zur Pause heraus. »Ich liebe die Eröffnung des zweiten Aktes«, sagte Anselmo. »Es wird bald zur Abstimmung kommen«, warnte der Bürgermeister. »Dann laß sie uns nicht versäumen«, sagte Anselmo. »Okay, Frank, mach, was du willst. Ich wende mich an Albany. Im nächsten Jahr wird der Gouverneur sich für eine Zubringerstraße stark machen müssen – oder ich unterstütze ihn nicht für seine Wiederwahl. Und ich werde die Hälfte der Kosten für die U-Bahn-Station im Haushaltsjahr 1996 und die andere Hälfte 1997 zahlen. Du bekommst alles, du brauchst nur eine Weile zu warten.« »Bis zum nächsten Jahr? Das dauert zu lange«, entgegnete Anselmo. »Denk daran, Frank, du bist nur eine Parteigröße. Ich bin der Bürgermeister. Der Bürgermeister entscheidet.« Pappas ließ die Worte mit einer bedeutungsschweren Pause einwirken und fuhr dann fort: »Banc-Exchange, Frank. Auf meine Art oder nicht!« »Warum habe ich das Gefühl, daß du das größere Stück 134
Kuchen bekommst?« Frage Anselmo klagend. »Laß mich etwas fragen, Frank. Wenn ich dir weniger geboten hätte, wärst du höflich gewesen und hättest es angenommen?« Der Bürgermeister legte Herzlichkeit und Verständnis in seine Worte, anstatt sie herausfordernd zu sagen. »Selbstverständlich.« Anselmo lachte. »Dann hast du bekommen, was du wolltest«, sagte Pappas und schloß seinen Freund in die Arme. Und während sie sich umarmten, fügte der Bürgermeister hinzu: »Da ist noch eines.« »Und was?« fragte Frank Anselmo skeptisch und löste sich von Pappas. »Meine Ökonomen und Entwicklungsplaner sagten mir, es kostet dreieinhalb Millionen Dollar, den Meyers eine neue Fabrik bei unserem College Point Industrial Park zu errichten. Das ist nicht zu weit entfernt, und dieselben Mitarbeiter können dort arbeiten. Wieviel zahlt Lasker, was hattest du gesagt?« »Er hat sich die Fabrik und das Grundstück für eine Million unter den Nagel gerissen. Ich habe ihn zu zwei Millionen gezwungen, und das war nicht leicht.« »Erhöhen wir auf dreieinhalb Millionen, und du bekommst die ganze Gebietsumwandlung plus Infrastruktur zu unseren abgemachten Bedingungen. Das ist ein Paket, mit dem du leben kannst, Frank. Und es gibt keine Verlierer.« Bürgermeister Pappas betonte ›keine Verlierer‹ wie ein politisches Glaubensbekenntnis. »Lasker wird durchdrehen, wenn ich zustimme. John, wir brauchen ihn im nächsten Jahr für den Wahlkampf.« »Frank, dies ist ein Spiel der Könige. Seit wann diktieren die Bauern unsere Züge? Machen wir es sauber, 135
Frank.« Anselmo spürte die Aufrichtigkeit der Bitte des Bürgermeisters und wußte, daß er sie weder ablehnen noch darüber verhandeln konnte. »Ah.« Anselmo lächelte breit. »Lenny ist der Typ Abschaum, der immer über die Runden kommt.« Und Anselmo umarmte seinen Freund, den Bürgermeister, und drückte ihm einen schmatzenden Kuß auf die Wange. »Ich nehme an, du bist richtig erwachsen geworden, mein Junge«, flüsterte Frank John mit Stolz ins Ohr. Die Beleuchtung im Theater ging an und aus, um den Beginn des zweiten Akts anzukündigen. Als Anselmo die Tür zum Theater öffnen wollte, ergriff Pappas ihn am Arm. »Beantworte mir eine Frage, Frank«, sagte er. »Du hast diese Show dutzendmal gesehen…« »Hundertmal«, warf Frank ein. »… hundertmal, und sie rührt dich immer noch zu Tränen. Du bist ein erwachsener Mann. Genauer gesagt, du bist ein harter Hurensohn. Warum fängst du bei dem gottverdammten Carousel zu heulen an wie ein Baby?« Beide Männer blieben stehen. »Es ist nicht nur die Show, John, es ist die Situation. Man sieht diese Leute, die sehr durchschnittlich wirken. Sie sind keine Könige oder Politiker oder sonstwas. Julie arbeitet in einer Mühle, und Billy ist ein großer Trottel, der Mühe hat, erwachsen zu werden. Sie versuchen einfach von Tag zu Tag, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Aber wir wissen, daß das System gegen sie arbeitet, und Billy arbeitet gegen sich selbst. Sie sind durch seine tragischen Schwächen und Fehler zum Scheitern verurteilt. Sie können nicht gegen ihr Schicksal ankämpfen. Billy denkt, er ist endlich gerettet, als er sich verliebt und eine Tochter hat. Aber wir wissen, daß er am 136
Ende des Akts tot sein wird.« Anselmo und der Bürgermeister standen starr da und schauten sich an, getrennt durch Leibwächter von der Menge, die an ihnen vorbei in den Zuschauerraum drängte. Der Bürgermeister war tief in Gedanken versunken. »Das verleiht einem Broadway Musical verdammt viel Gewicht«, sagte er. »Meinst du, alle Leute haben tragische Schwächen?« »John, das ist etwas, das deine Leute und meine Leute gemeinsam haben. Spanier und Italiener. Wir wissen alles über tragische Fehler und Schwächen. Wenn das Schicksal die Umstände schafft, in denen sich diese Schwächen zeigen, fällt zwangsläufig der Vorhang«, erwiderte Anselmo sehr ernst. »Du meinst, du und ich, wir sind durch unsere tragischen Schwächen und Fehler zum Scheitern verdammt?« fragte Pappas neckend und stieß seinem Freund spielerisch in die Rippen. Anselmo schaute auf seine Armbanduhr. »Euer Ehren, ich weiß eines ganz sicher«, sagte er. »Okay. Ich werde es schlucken. Was weißt du ganz sicher?« Sie gingen durch die Tür in das volle Theater, und Anselmo wandte sich Pappas zu und lächelte zufrieden. »Ich weiß mit Sicherheit, daß dies eine wirklich schöne Party war, und ich bin mächtig froh darüber, daß ich hergekommen bin.« Pappas empfand noch das warme Nachglühen einer alten Freundschaft, als Calhoun auf ihn zueilte. Sie zogen sich ins Foyer zurück, als der Vorhang hochging. Calhoun hielt ein gefülltes Sektglas in jeder Hand. 137
»Banc-Exchange kommt also?« fragte Kevin aufgeregt. »Woher wissen Sie das?« Pappas sah ihn überrascht an. »Zusammen mit halb New York sah ich, wie Sie lächelten und Hände schüttelten und Anselmo umarmten. Da die Ankündigung einer Verlobung ausfällt, ist BancExchange die wahrscheinlichste Erklärung. Wie haben Sie ihn an Bord bekommen?« »Indem ich nicht ›nein‹ gesagt habe. Ich habe ihm nur die Infrastruktur ausgeredet. Und er wird dafür sorgen, daß Lasker die vollen Kosten für die Umsiedelung und den Bau einer nagelneuen Fabrik übernimmt.« »Aber das ist kein ›Nein‹. Lasker wird finanziell baden gehen.« »Er wird es zurückbekommen. Und mehr. Es wird nur etwas mehr Zeit kosten. Etwas für ihn, und etwas für mich. So müssen die Dinge laufen.« »Mehr für Sie, hoffe ich«, sagte Calhoun. »Mehr für die Stadt«, erwiderte Pappas mit einem geschäftsmäßigen Lächeln. Er wies auf die Sektgläser, die Calhoun hielt. »Ich nehme an, eines davon ist für meine Frau.« »Sie war vor einer Minute noch hier«, sagte Calhoun und wies auf eine Ecke des Foyers, die jetzt leer war, weil die meisten Leute ihre Plätze im Zuschauerraum wieder eingenommen hatten. »Aber jetzt sind beide für mich. Sie werden helfen, die Gedanken an Frank Anselmo runterzuspülen.« Pappas schüttelte den Kopf, als Calhoun ein Glas Sekt nach dem anderen leer trank. »Ich mag handfeste Trinker«, bemerkte der Bürgermeister. »Vielleicht wird es Sie aufheitern.« Bürgermeister Pappas’ Tonfall war fast scherzhaft, doch 138
Calhoun spürte die Ernsthaftigkeit hinter seinen Worten. »Dies ist Politik«, sagte Pappas. »Nicht mehr und nicht weniger. Das ist unsere Arbeit. Aber Sie wollen wählerisch sein. Sie lieben die zählbare Art von Politik, bei der sie mit Computern arbeiten können. Aber wenn Sie es mit der gemeinen Art Politik und einem Ebenbürtigen wie Frank zu tun haben, gefällt Ihnen das nicht. Sie wollen Ihre Spielzeuge aufsammeln und heimgehen. Ich sage Ihnen, wie es Ihnen ein Vater sagen würde, Kevin, dies ist eine Schwäche. Sie behandeln sie wie eine Tugend und kultivieren sie. Aber glauben Sie mir, Sie sollten sie wie einen Fehler behandeln und versuchen, ihn zu korrigieren. Wie sagte einer unserer Helden, Harry Truman: ›Wenn du Carousel nicht ertragen kannst, dann solltest du aus dem Theater verschwinden.‹« Kevin wollte darauf nichts erwidern, und so wechselte er das Thema. »Ich habe einen Entwurf für den Nachruf auf das BoneKind mit der abendlichen Post für Sie nach Gracie Mansion geschickt«, sagte er geschäftsmäßig. »Danke«, sagte Pappas, und seine Stimme klang plötzlich sehr schwer.
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14 Die Polizei hatte auf einen regnerischen Tag gehofft, damit die Leute bei Robby Bones Beerdigung zu Hause blieben. Statt dessen lud dieser zwar kalte, aber klare Tag Hunderte von stummen Trauergästen ein, dem Leichenwagen mit Robby Bones’ Sarg zu folgen, der in einer Prozession langsam von den Carver Houses zur Grace Church zog. Edgar Bone führte die Prozession mit langsamen, wie mechanischen, schlurfenden Schritten an und lehnte sich schwer an seinen alten Vater, der einen Arm um sein verlorenes Kind hielt und es in ohnmächtigen Zorn stützte. Bones einst heiter wirkendes ebenholzfarbenes Gesicht war jetzt eine Spur blasser; auf seiner tief gefurchten Stirn stand die grausame Erkenntnis geschrieben, daß sein Sohn tot war. Tausende weitere Schaulustige beobachteten die Prozession von den Bürgersteigen aus, und ihre Gesichter spiegelten Empörung darüber wider, daß ein schweres Verbrechen an dieser Gemeinde begangen worden war. Einzelne Gruppen von Jugendlichen stießen ihre Fäuste in die Luft als nutzloses Aufbegehren gegen eine Welt, die sie nicht verstehen konnten. Ein großer Chor in schwarzen Seidengewändern mit leuchtendrotem Besatz begrüßte die Trauergäste, als sie in die kleine Kirche zogen. Ein Solosänger begann ein altes Spiritual: Was dann? Was dann? Wenn das große Buch geöffnet ist, was dann? 140
Und eine Welt, die ihren Erlöser abweist Wird nach einem Grund gefragt werden. Was dann? Aber warum müssen diejenigen, die wie Bone nicht gesündigt haben, den Preis für die Sünder zahlen? dachte Calhoun, als er im Seitenschiff der Kirche stand und auf die Rede des Bürgermeisters wartete. Wehklagen übertönten das Spiritual, als ein kleiner weißer Sarg auf einem Wagen langsam in die Kirche gerollt wurde. Weinende Verwandte berührten den Sarg, als wollten sie damit Robby irgendwie sagen, wie tief sie ihn geliebt hatten und wie sehr sie ihn vermißten. Bürgermeister Pappas stand an der rechten Seite des Altars zwischen dem stellvertretenden Polizeichef Melvin Sanders, dem höchstrangigen schwarzen Beamten des New York Police Department, und Reverend Leonard Chapman, dem Pastor der Grace Church. Sanders neigte sich zu dem Bürgermeister, um ihm letzte Informationen zu geben. »Wir haben eine starke Überwachung, und keiner gelangt in die Kirche, ohne von mindestens einem Dutzend unserer Männer, die dieses Viertel und die Leute hier kennen, unter die Lupe genommen zu werden. Aber wir haben es nicht gewagt, einen Metalldetektor einzusetzen, und so können wir nicht sicher sein…« Sanders sprach nicht weiter, aber sein Blick sagte mehr als Worte. »Bleiben Sie hier oben beim Altar, weg vom Sarg!« »Irgendwelche Probleme auf der Route der Prozession?« fragte Pappas. »Alles ruhig. Wir haben nicht mal etwas von dem 141
üblichen Pöbel von Krawallbrüdern gehört.« »Gut«, sagte Pappas. »Aber manchmal ist der Zorn so groß, daß der Krawall ganz von selbst entsteht.« »Jawohl, Sir, und das sind die gefährlichsten Fälle. Wenn man nicht weiß, was man dagegen planen kann«, sagte Sanders und ließ seinen Blick über die Menge in der Kirche schweifen. Das New York Police Department hatte Erfahrung mit dem Schwelen von Zorn in Ghettos, mit der Stille des Rauchs über Funken, die beim geringsten Anlaß, bei einer unvorhersehbaren Provokation zu einer Feuersbrunst werden und die trauernde Menge in einen tödlichen Mob verwandeln konnte. »Sind Sie sicher, daß Reverend Chapman mich vorstellen wird?« fragte der Bürgermeister, als wäre es eine unverdiente Gunst. »Jawohl, Sir, gleich zu Beginn, vor dem Gottesdienst, aber nur mit einem einzigen Satz.« »Und wenn ich fertig bin?« »Dann verschwinden wir von hier.« »Auf welchem Weg?« fragte der Bürgermeister. Der stellvertretende Polizeichef wies zu einer Seitentür. Pappas schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er entschieden. »Ich gehe vorn raus. Der Bürgermeister muß vorne rausgehen.« Pastor Chapman ging in seinem schwarzen, seidenen Talar, der purpurn bestickt war, zur Kanzel, und der Chor sang die letzte Strophe. Was dann? Was dann? Wenn das große Buch geöffnet ist, was dann? 142
Und der Erlöser kommt wieder und hält Gericht, Und wir stehen vor Ihm, Was dann? Pastor Chapman betete stumm mit gesenktem Kopf, bis das letzte Echo des Lieds verhallt war. Als er aufschaute, fiel sein Blick zuerst auf den Sarg in der Mitte des Gangs direkt unterhalb von ihm. Sein Gesicht spiegelte Trauer um seine Gemeinde wider. Der Blick des Pastors schweifte über die Versammelten, heftete sich kurz mitfühlend auf vertraute Seelen, milderte ihren Schmerz, sprach ihnen stumm Mut zu, brach die schreckliche Spannung, die seine geliebte Kirche im Griff hielt. Schließlich sprach er mit tiefer und warmherziger Stimme. »Schwestern und Brüder… der Bürgermeister von New York, der Ehrenwerte John Pappas.« Trotz der Vorwarnung von Sanders war der Bürgermeister schockiert über die Knappheit der Vorstellung. Hinter der Kanzel spürte er die gewaltige emotionale Leere, die gefüllt werden mußte, und er wußte, daß die Standard-Beileidsbezeugung und das Gebet, das Calhoun für ihn vorbereitet hatte, nicht ausreichen würden. Aber was konnte er sagen? Der Bürgermeister blickte in die wie tot wirkenden Augen des Schwarzen in der ersten Bankreihe. Einen kurzen Moment stand der Bürgermeister wie erstarrt da, schaute in Edgar Bones Augen, in seine gepeinigte Seele, erfüllt von Erinnerungen an den Verlust seines eigenen Sohnes. Dann schaute er zu den Trauernden, die in ihrem Schmerz keine Hoffnung mehr hatten. John Pappas spürte, daß sie Gott um ein Zeichen auf Hoffnung im nächsten Leben anflehten; er wußte instinktiv, daß er das Fenster der Hoffnung wenigstens einen Spalt für sie in diesem Leben öffnen 143
mußte, und er begann aus dem Stegreif zu sprechen. »Was dann? Das Spiritual fragt uns – was dann? Was dann, wenn die Städte zu Kloaken werden, die Lichter ausgehen und die Amtsinhaber korrupt sind? Was dann, wenn die Straßen nicht mehr sicher sind, wenn ein Vater sein Kind an der Hand hält, und der Junge niedergeschossen wird wie auf einem Schlachtfeld, was dann?« Während er eine Pause einlegte, ertönte eine einzelne Stimme aus der Mitte der Versammelten: »Sag es schon!« »Leute haben mich gewarnt. Sie sagten ›Stellen Sie sich nicht hinter den Sarg. Sie können es nicht wagen, sich hinter den Sarg zu stellen.‹ Aber wie kann ich ihre Warnung beachten, wenn ein Herz nicht mehr schlägt – wenn ein Kind tot ist?« Pappas schaute Edgar Bone an, während er die Stufen hinab auf den Mittelgang ging. Als er auf den Sarg zuschritt, breitete sich ärgerliches Gemurmel in den Bankreihen aus. Die Aufsichtspersonen wirkten besorgt, und die Polizisten waren angespannt und nervös. Der Bürgermeister schien es nicht wahrzunehmen, als er zu dem Sarg mit Robby Bone ging. »Stellen Sie sich nicht hinter diesen Sarg, sagten sie, denn dieser kleine Junge war rein und unschuldig wie frisch gefallener Schnee. Aber ich muß hier stehen, und ich bin keineswegs unschuldig, und wenn dieser reine Schnee den Boden unter meinen Füßen berührt, wird er grau und schmutzig wie die Steine der Hölle.« Die Aufrichtigkeit aus tiefem, persönlichem Schmerz in der Stimme des Bürgermeisters und in seinem Handeln schien die Versammelten zu berühren. Einige Leute riefen »Ja!« und einer fügte leiser hinzu »Weiter!«. »Aber ich kann euch etwas sagen.« Pappas schaute sich 144
in der Kirche um. »Werdet ihr mir das erlauben? Ich habe das Gefühl, dieser Junge zu sein. Ich bin Robby Bone. O ja, er liegt hier, und ich stehe hier. Er ist tot, und ich lebe, aber ich kann euch sagen, meine Seele leidet, weil ich euch im Stich gelassen haben, weil ich euch nicht den Schutz gegeben habe, den ihr ersehnt, die sicheren Heime, die ihr schätzt, die Straße, die ihr gefahrlos benutzen könnt. Dies ist keine Stadt. Nicht für euch. Nicht für mich. Wir haben keine Stadt, solange wir nicht im Freien unbeschwert spazieren können. Solange wir nicht durch die Straßen schlendern können wie auf Boulevards und uns nicht in Parks versammeln können, damit wir Freude haben, unsere Familien sich treffen, unsere Kinder lachen und unsere Herzen sich vereinigen können. Nennt mich einen Versager, bis dieser Tag kommt. Aber ergreift bitte jetzt meine Hand, ja? Vertraut mir bitte für einen gefährlichen Moment, ja? Zusammen können wir den Weg finden, zusammen werden wir New York wiederherstellen, und der Antrieb für unsere Bemühungen wird dieses Kind sein, sein Geist, seine Unschuld, seine Erinnerung. Kann ich es schaffen? Kann ich euer Vertrauen gewinnen?« Die Kirche wirkte plötzlich wie lebend, als wäre ein elektrischer Strom hindurchgezogen. Calhoun und Sanders tauschten ungläubig Blicke und schauten zu Pappas, der anscheinend Kraft aus den Trauernden gewann. »Ich will es! Und ich werde es schaffen!« rief er. Die Versammelten lösten sich aus ihrer Erstarrung und fügten seinem Ruf eigene Rufe hinzu: »Das ist die Wahrheit!« – »Gelobt sei Gott!« – »Ja, wir werden es schaffen!« »Waren wir nicht einst groß, und können wir nicht 145
wieder groß sein? Ich stelle diese Frage Edgar Bone, und seine einzige Antwort ist Schweigen. Ich habe ihn enttäuscht, und ich habe euch enttäuscht. Ich weiß das. Aber kann nicht etwas von diesem süßen Jungen auf mich übergehen, mir Kraft und Wissen geben, damit ich den Mut habe, um diese Aufgabe zu erreichen?« Der Bürgermeister war völlig versunken in diesen Augenblick. Man spürte, daß John Pappas’ Gefühle in seinen Worten mitklangen, während er den rechten Arm hob und ihn wiederholt vorstieß wie jemand, der einen Speer wirft, wobei er rief: »Ja, dies ist der Palast, der die Stadt war. Ein Palast, in dem es keinen König, keinen Herzog, keinen Prinz gibt, nur Bürger, die einander verpflichtet sind, einen besseren Platz zum Leben zu erschaffen. Wir werden es tun. Wir werden eine neue Stadt auf der Seele dieses kleinen Kriegers aufbauen. Ich bin bei dir, kleiner Robby, ich bin du, und ich werde die Erinnerung an dich bewahren, bis der Palast, der die Stadt war, wieder erblüht. Ja! Ich habe mich entschieden zu kämpfen, zu kämpfen, bis diese Stadt, eure Stadt, unsere Stadt wieder ein Palast ist!« Der Bürgermeister neigte sich vor und küßte den kleinen Sarg. Alle in der Kirche waren aufgestanden, beteten und priesen Gott. Die Sicherheitsleute sahen ihren schlimmsten Alptraum Gestalt annehmen, als alle Versammelten auf die Gänge drängten und sich der Bürgermeister langsam einen Weg durch die Menge bahnte. Er ging allein durch den ganzen Mittelgang zum Portal der Kirche. Calhoun und die Sicherheitsleute waren auf die Seitengänge ausgewichen und trafen den Bürgermeister, als er gerade das Portal erreichte. Sie bildeten einen Schutzwall rings um ihn und verließen die Kirche. Die Ansprache des Bürgermeisters war über die 146
Lautsprecher außerhalb der Kirche übertragen worden. Eine Hundertschaft uniformierter Polizisten und Dutzende Cops in Zivil fragten sich angespannt, was als nächstes kommen würde. Die Menge war mehr traurig als wütend, als Bürgermeister Pappas hindurchging. Aus den Lautsprechern klang der Gesang des Chors auf die Straße. Ich möchte etwas tiefer graben, Ja, etwas tiefer graben. Ich möchte etwas tiefer graben In der Fundgrube von Gottes Liebe! Eine alte Schwarze wiederholte immer wieder, als der Bürgermeister sie passierte, »Gott segne Sie, Gott segne Sie.« John Pappas hörte die Worte, blieb stehen, legte beide Hände auf ihre schmalen Schultern und sagte in demütigem und bewegtem Tonfall: »Danke, vielen Dank.« Ein erschöpfter Bürgermeister Pappas sank mit geschlossenen Augen auf den Rücksitz der Limousine. »Das war eine feine Ansprache«, sagte Kevin Calhoun bewundernd. »Das war nichts«, erwiderte Pappas mit dumpfer Stimme. »Gott spielt mir einen makabren Scherz. Ich trat das Amt an, weil ich diesen Leuten helfen wollte, und jetzt halte ich Grabreden und beerdige ihre Kinder.«
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15 Zapatti fühlte sich in seinem Jagd- und Angelklub in Gravesend wie zu Hause. Dort war es praktisch so sicher wie im Kriegsministerium im Pentagon. Dicke Stahltüren säumten einen terrassenförmig angelegten Gang und blieben verschlossen, wenn sie nicht von innen mit einem speziellen Code für jedes Schloß geöffnet wurden. Die Wände und Decken waren verstärkt, um ein Eindringen zu verhindern, und Alarmanlagen warnten selbst bei dem schwächsten Versuch, in das Gebäude einzudringen. Teure elektronische Vorrichtungen, verstärkt durch tägliche Kontrollen durch Menschen, schützten gegen Lauscher und Kameraüberwachung. Und schließlich hatte Zapatti schwere tragbare Generatoren, die eingeschaltet wurden, wenn der FBI die Elektrizität unterbrach, die seine Festung sicherte, und von außen zu schwach für all die Sicherheitsanlagen wurde. Lenny Lasker war eine Schlange zwischen Mungos und tat, als genieße er das Mittagessen im Klub mit Paul Zapatti und Frank Anselmo. »Allmächtiger, das ist großartig«, sagte Lasker und drehte unsicher seine Gabel in der roten heißen Pasta putanesca. »Ich habe den Küchenchef von Rao’s in Manhattan abgeworben. Man muß seine Mannschaft gut beköstigen«, sagte Zapatti mit einem herablassenden Lächeln. Lenny wartete, bis das Geplauder über Essen nachließ, und stürzte sich dann auf ein Thema, das ihm zu schaffen machte. »Ich verstehe nicht, wie ihr so ruhig sein könnt«, sagte 148
er, bemüht, seinen Zorn unter Kontrolle zu behalten, »obwohl der Bürgermeister uns die Sache ausbaden läßt.« Weil Lasker auf eine dicke schwarze Olive starrte, die aus der roten Masse seiner Pasta putanesca hervorschaute, entging ihm der angewiderte und verächtliche Blick, den Anselmo und Zapatti tauschten. »Aber Lenny«, sagte Anselmo geduldig, als spreche er mit einem Kind, »was Sie als ›ausbaden‹ bezeichnen, bringt uns viel Geld ein.« »Minus ein paar Jahre und plus anderthalb Millionen Kosten«, sagte Lasker, nicht bereit, sich beschwichtigen zu lassen. »Aber Sie können ein paar Jahre leicht überstehen, Lenny«, sagte Anselmo noch beruhigender als zuvor. »Sie könnten hundert Jahre überstehen. Sie haben so viel Geld in Optionen für Land in dieser Stadt investiert, daß sie Queens kaufen könnten.« Aber Lenny war nicht besänftigt. »Ich habe Partner«, entgegnete er trotzig. »Was ist los mit euch? Ihr seid meine Partner.« »Richtig, Lenny«, sagte Anselmo. »Und ich war es, der im Stadtrat abgeschossen wurde. Ich war es, der vor seinen Kollegen und Wählern und jedem, der vor dem Fernseher saß, verbale Prügel bezog. Ein gutes Bild in der öffentlichen Meinung ist Macht. Und wenn man ein schlechtes abgibt, ist das ein Machtverlust. Wenn ich also nicht jammere, warum sollten Sie das tun, Lenny?« »Ich jammere nicht«, beteuerte Lasker. »Natürlich nicht«, sagte Zapatti. »Nun, Lenny, wenn es Ihnen nichts ausmacht… und wenn Sie zu Ende gegessen haben, möchten Frank und ich etwas unter vier Augen diskutieren.« 149
Anselmo und Zapatti sahen an Lenny Laskers Miene seine widerstreitenden Gefühle. Er war erleichtert, weil er nicht mehr so tun mußte, als schmecke ihm diese Pampe namens Pasta putanesca, und zugleich ärgerte es ihn, daß er mitten beim Essen weggeschickt wurde. Schließlich gewann die Erleichterung die Oberhand, und Lenny schob seinen Stuhl zurück. »Klar, Paul. Kein Problem. Ich habe ohnehin einen wichtigen Termin in der Stadt«, sagte Lenny eine Spur zu angeberisch. »Dann paßt es ja prima«, bemerkte Zapatti trocken. Die Männer erhoben sich, und Anselmo legte einen Arm um Lenny Laskers Schulter. »Lenny, denken Sie nur an das Sprichwort: Alles kommt zu demjenigen, der warten kann. So müssen wir einfach warten, und alles wird zu uns kommen. Okay?« »Okay, Frank, okay«, sagte Lasker mit der Überzeugung eines Generals, dessen eigene Waffen auf ihn gerichtet waren. Als er fort war, seufzten Anselmo und Zapatti, froh darüber, daß sie den unwillkommenen Gast los waren. »Das ist der Beweis, daß man siebenhundert Millionen Dollar haben und immer noch ein Arschloch sein kann«, sagte Anselmo und lachte. »Wenn er nicht auf sein loses Maul achtgibt, wird ihm mal jemand kostenlos ein neues Arschloch schnitzen«, fügte Zapatti hinzu. Beide Männer schwiegen, als der Kellner kam, um den Tisch abzuräumen, bevor er zwei doppelte Espressos brachte. »Sind wir wirklich sicher, daß mit Banc-Exchange alles unter Dach und Fach ist?« fragte Zapatti. »Absolut«, bestätigte Anselmo. »Wir haben alles bekommen, was wir wollten, es gibt nur eine kleine 150
Verzögerung und Lasker zahlt eine vernünftige Umsiedlungsgebühr.« »Bene, molto bene«, sagte Zapatti zufrieden. »Da ist noch etwas, das du für mich tun kannst, Frank«, fügte er hinzu. »Frag nur, Paul.« »Sorge dafür, daß mein Name aus den Zeitungen verschwindet«, sagte der Mafiaboß eindringlich. »Ja, richtig.« Anselmo lachte nervös. Für die Medien war diese Story ein gefundenes Fressen. Die Schlagzeile der New York Post hatte an diesem Morgen gelautet ›Cop auf Zapattis Abschußliste?‹ »Frank, das ist mir ernst«, sagte Zapatti. Anselmo hatte ein unbehagliches Gefühl, als ihm klar wurde, daß sein Freund es wirklich todernst meinte. »Aber wie soll ich das machen?« fragte er. »Mit vierzigtausend Dollar«, sagte Zapatti. »Aber diese Story ist Dynamit, Paul! Um Himmels willen, für vierzigtausend kannst du nicht mal ein Stadtteil-Käseblättchen zum Schweigen bringen.« Zapatti lächelte freudlos. »Laß mich eine Frage stellen. Hast du jemals gehört, daß ein Cop vierzigtausend Dollar besitzt?« »Aber sicher«, antwortete Anselmo versuchsweise. »Einer, der nicht krumm war?« »Nein«, sagte Anselmo. »Jeder regt sich über einen beschissenen Bewährungsbericht auf«, sagte Zapatti verächtlich. »Sie ignorieren das wahre Problem.«
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16 Es drohte ein Wetterumschwung. Die Sonne war am strahlendblauen Himmel aufgegangen, aber gegen acht Uhr war der Himmel bleigrau, und ein scharfer Wind setzte ein. Ein einsamer Dudelsackpfeifer löste sich aus der Polizeikapelle und ging auf die Kuppe des kleinen Hügels bis zu einem offenen Grab. Die letzten klagenden Töne des Trauerlieds verhallten in der kalten Luft. Kevin Calhoun schaute über das offene Grab hinweg zu Eddies Sarg, der mit Fahnen geschmückt war. Dann blickte er zu Elaine Santos. Ein schwarzer Schleier verbarg ihr Gesicht, aber er sah an den zuckenden Schultern unter ihrem dünnen schwarzen Mantel, daß sie weinte. Ihre Schwester stand neben ihr und hielt Elaines Kinder an den Händen – eigentlich noch Babies und zum Glück zu klein, um mehr zu begreifen als die Tatsache, daß ihrem Papa etwas Schlimmes widerfahren war und sie ihn nicht wiedersehen würden. Hunderte uniformierte Polizisten waren angetreten und standen still. Jeder trug einen Trauerflor an seiner angehefteten Dienstmarke, jedes Gesicht war ernst, keiner von ihnen war solche Anlässe gewohnt. Polizeichef Coogan beendete seine kurze Trauerrede. Der Commissioner war kein guter Sprecher, aber er war sichtlich berührt von der Tragödie, die einem seiner Männer widerfahren war, und seine Worte klangen überzeugend. »Wir brauchen Helden so sehr«, sagte er, »daß wir dankbar sind, einen wie Eddie Santos gehabt zu haben, wenn auch nur für eine viel zu kurze Zeit.« Er verstummte und nickte Calhoun zu. 152
Calhoun trat vor und senkte den Kopf. Er hielt den Blick auf den Sarg gerichtet und sprach leise. »Bürgermeister Pappas bedauert zutiefst, daß ihn die Pflicht zwingt, in diesem Augenblick vierhundert Kilometer entfernt zu sein, aber er ist in Gedanken hier, steht bei uns, nimmt Abschied von einem tapferen Mann, der sein Leben in Erfüllung seiner Pflicht opferte. Eddie Santos war noch so jung. Er sollte sein, wie er war – energiegeladen im Revier eintreffen, bereit, den Tag mit dem Kampf gegen das Verbrechen zu beginnen. Oder er sollte nach Hause zu seiner schönen jungen Frau und zwei prächtigen Kindern eilen, voller Liebe, voller Hoffnung. Es ist nutzlos zu versuchen, einen Sinn in dem Wahnsinn zu sehen, der uns an diesen traurigen Ort gebracht hat. Wir wollen statt dessen Eddies Energie und Liebe in Erinnerung behalten und sein Engagement für seine Arbeit und diese Stadt ehren. Wir werden Eddie in Erinnerung und in Ehren halten. Aber vor allem werden wir Eddie vermissen.« Der Dudelsackpfeifer begann eine neue und sogar noch klagendere Melodie zu spielen. Die Trommler der Polizeikapelle schlugen einen gedämpften, feierlichen Trommelwirbel. Plötzlich war der Himmel von donnerndem Dröhnen erfüllt, und fünf Polizeihubschrauber brausten über die Versammelten hinweg, mit einem freien Platz in ihrer Formation. Das ältere Mädchen, Linda, wies aufgeregt zu den Hubschraubern. Es drückte Elaines Hand und fragte: »Mommy, Mommy, bringen Sie Daddy in den Himmel?« Der Sarg wurde langsam in die Grube gesenkt. »Von der Erde bist du gekommen, und zur Erde kehrst du zurück«, sagte der Polizeigeistliche. Er nahm das goldene Kruzifix vom Sarg und gab es Linda. Die Fünfjährige schaute fragend darauf, während ihre dreijährige Schwester sie 153
neidisch beobachtete und sich fragte, warum man ihr nichts gab. Die Trauernden schritten hintereinander an Elaine vorbei, die ihren Schleier hob, damit sie jedem in die Augen sehen konnte. Der letzte in der Reihe war der Vizebürgermeister. »Danke für die Worte«, sagte Elaine ruhig. »Das ist das wenigste, was wir tun können«, erwiderte Kevin. Plötzlich trat Marybeth Cogan neben Elaine Santos. »Guten Morgen, Mr. Calhoun«, sagte sie kühl. »Wo ist der Bürgermeister?« »Er mußte heute morgen in Washington sein«, antwortete Calhoun. »Ein Detective, der im Dienst erschossen wurde, hat einen Anspruch auf ein Inspector-Begräbnis. Das schließt die Anwesenheit des Bürgermeisters ein«, sagte Marybeth. »Ich kann Ihnen versichern, daß die Abwesenheit des Bürgermeisters in keiner Weise sein Mitgefühl für Mrs. Santos und ihre Kinder schmälert«, sagte Calhoun so höflich wie er konnte. Er überreichte Elaine Santos seine Visitenkarte. »Mrs. Santos, wenn ich irgend etwas für Sie tun kann, rufen Sie mich bitte an.« Als ob ein Damm gebrochen wäre, ergriff Elaine Santos Calhoun am Arm. »Woher haben sie dieses Zeug in den Zeitungen?« fragte sie und kämpfte gegen Tränen an. »Die Kinder im Kindergarten erzählten meiner Tochter, daß ihr Vater ein Drogenhändler war.« »Wir werden tun, was wir können, um die Spekulationen zu stoppen. Wir setzen sofort unsere Presseabteilung darauf an.« 154
Marybeth war unerbittlich. »Was ist mit der Abteilung interne Angelegenheiten?« fragte sie. »Was treiben diese Clowns hier?« Calhoun folgte ihrem Blick. Am Rand der Menge standen zwei Männer mit kurzem Haarschnitt und schlecht passenden Mänteln und beobachteten offen die davongehenden Trauergäste. »Sie sind sicher nur hier, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen«, sagte Calhoun ohne innere Überzeugung. Marybeth blickte ihn vernichtend an und führte Elaine und die Kinder zum Wagen. Als Calhoun mit seinem Jeep vom Friedhof fuhr, sah er Marybeth Cogan vor der Bushaltestelle auf der Fresh Meadow Lane stehen. Er stoppte und öffnete die Beifahrertür. »Wohin wollen Sie?« rief er. Sie schaute ihn verächtlich an. »Was denken Sie denn? Ich nehme den Bus in die Stadt.« »Ich dachte, wir sind in der Stadt«, sagte er lächelnd. »Nicht, wenn man aus Queens stammt«, entgegnete sie. Er lehnte sich immer noch, den Fuß auf der Bremse, über den Beifahrersitz. »Fangen wir noch mal von vorne an. Wohin möchten Sie?« »Manhattan.« »Steigen Sie ein.« »Scheren Sie sich zum Teufel«, sagte Marybeth und war überrascht über sich selbst. »Es tut mir leid«, fügte sie sofort hinzu, »das war unhöflich, Verzeihung.« Calhoun zuckte die Achseln. »Nicht schlimm.« Sie blickte die Straße hinab, als sehne sie die Ankunft des Busses herbei. »Wissen Sie, nachher müssen Sie hier eine Stunde 155
warten«, sagte Calhoun. »Steigen Sie schon ein. Sie brauchen nicht mit mir zu sprechen, und Sie verlieren mindestens zwei Stunden, wenn Sie hier auf den Bus warten.« Er war darauf vorbereitet, daß sie weiterhin zögerte, doch sie überraschte ihn, indem sie sofort einstieg. Er bemerkte, daß der Beifahrersitz mit Zeitungen, Schriftstücken und leeren Kaffeebechern aus Plastik bedeckt war. Marybeth hielt sich anmutig erhoben, während er alles auf den Wagenboden fegte. »Wohin fahren Sie?« fragte Marybeth, als er sich in den Verkehr einfädelte. »Nun, ich wollte über den LIE fahren.« »Ich hasse den Long Island Expressway«, sagte sie. »Nehmen Sie den Grand Central. Der ist viel besser. Die Auffahrt ist am Astoria Boulevard.« »Das weiß ich«, sagte er, und sie verfielen in Schweigen. Sie fuhren über die breiten Boulevards von Queens. Dutzend Blocks hatte es den Anschein, als gebe es keine anderen Geschäfte als Autozubehörläden, hier und da ein Telefongeschäft oder ein kleines Familienrestaurant. Schließlich wandte sich Marybeth Calhoun zu. »Er war ein guter Cop, wissen Sie«, sagte sie. »Eddie Santos war ein guter Cop. Und entweder treiben Sie ein gemeines Spiel oder lassen zu, daß es getrieben wird.« »Niemand treibt irgendein Spiel«, protestierte Calhoun. »Sie haben immer eine Antwort, nicht wahr?« schnaubte Marybeth. »Miss Cogan, ich habe noch nicht einmal eine Frage, auf die ich antworten könnte«, sagte er ehrlich. Als sie bei einer roten Ampel stoppten, drehte sich Marybeth zu ihm und sagte: »Okay, ich habe eine Frage 156
an Sie.« »Schießen Sie los.« »Haben Sie Hunger?« »Ist das Ihr Ernst?« »Ja.« »Ich komme um vor Hunger.« »Ich auch. Wie wäre es mit einem Philly Steak Sandwich?« Bevor Calhoun etwas sagen konnte, fügte sie hinzu: »Schnell, biegen Sie bei diesem Imbiß dort ab – dem North-Star. Da gibt es die besten Philly Steak Sandwiches vom Big Apple. Oder Sie nennen sie vermutlich Philadelphia Steak Sandwiches.« Calhoun lächelte, als er mit dem Jeep über zwei Fahrspuren wechselte und auf den Parkplatz einbog. »Sie können sich auf einen echten Genuß freuen«, sagte Marybeth, als sie den Sicherheitsgurt löste. Calhoun regte sich nicht. »Kommen Sie nicht mit rein?« fragte sie. »Nicht, bevor Sie mich aufklären, was genau Sie treiben«, sagte er ernst. »Was meinen Sie damit?« »Ich meine«, sagte er und imitierte ihren Tonfall, »daß ich zwar nicht verhindern kann, von Ihnen beleidigt zu werden, aber ich kann mir verbitten, daß Sie meine Intelligenz unterschätzen. Ich kenne das North-Star Diner und seine Spezialitäten, und ich weiß, daß Sie eine starke Abneigung gegen vieles haben, wozu jedoch nicht der Long Island Expressway zählt.« »Wovon reden Sie?« fragte Marybeth. »Sie warten auf mich an der Bushaltestelle, sehen ausreichend reizend und verloren aus, um sicher zu sein, daß ich anhalte«, sagte er. »Und wir beide wissen, daß der 157
Grand Central Parkway ein großer Umweg ist. Wen, zum Teufel, werden wir also dort im North-Star treffen?« Ohne Zögern sagte sie: »Wir treffen Detective Albert Holly. Er und Eddie waren Partner vor zwei Jahren, als Tino Zapatti sich auf den Straßen herumtrieb.« Calhoun verarbeitete schnell die Information. »Danke«, sagte er, als er den Sicherheitsgurt löste und die Wagentür öffnete. Im Lokal wurde Calhoun Detective Holly vorgestellt. »Von welchem Revier sind Sie?« fragte Calhoun. »Vom einundfünfzigsten, City Island«, antwortete Holly matt. »Man versetzte mich dorthin, damit meine geistigen Wunden heilen, wie man es formulierte.« Während sie auf die bestellten Philly Steak Sandwiches warteten, erzählte ihnen Holly, der verzweifelt und ausgebrannt war, über seinen ehemaligen Partner. »Eddie war ein Pitbull«, sagte Holly bewundernd und bedauernd zugleich. »Pitbulls sind häßlich, aber sie sind nicht blöde«, erwiderte Calhoun offen heraus. »Was machte er ohne Unterstützung und Absicherung?« »Es war nicht das erste Mal, daß er Tino gestellt hatte, nur hatte er nie zuvor Probleme mit ihm gehabt«, sagte Holly, und er klang verwirrt bei dieser Einzelheit von Eddie Santos’ letzten Momenten. »Ich weiß es nicht. Tino muß ihm zuvorgekommen sein. So was gibt es.« »Ja, Pannen passieren«, stimmte Calhoun zu. »Aber warum sagte Santos keinem, daß er dorthin ging?« »Eddie hatte vermutlich das Gefühl, daß seine Vorgesetzten ihn nicht im Widerspruch zu einem Richter handeln lassen würden. So wurde es seine Privatsache. Eine Besessenheit, wissen Sie«, sagte Holly. »Er hatte 158
hieb- und stichfeste Beweise gegen Tino gesammelt, und da läßt dieser Richter ihn frei herumlaufen. Eddie regte sich so sehr darüber auf, daß ich ihn praktisch festbinden mußte, damit er nicht durchdrehte. Die ganze Sache stank. Tino Zapatti hätte unmöglich Bewährung bekommen, wenn nicht der Richter von jemandem gekauft gewesen wäre.« »Walter Stern hat landesweit einen guten Ruf«, stellte Calhoun fest. »Da sehen Sie, womit Eddie es zu tun hatte.« Nach einer Weile fuhr Holly fort: »Mir ist es verdammt egal, ob er einen guten Ruf hat. Jemand muß ihn geschmiert oder in der Hand gehabt haben. Ich wußte es, und Eddie wußte es. Wir waren beide stinksauer. Der Unterschied zwischen Eddie und mir war, daß er durchdrehte und die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollte. Wie ein Pitbull. Anders als ich. Ich war bereit zu tun, was man offenbar von mir verlangte: Ich kehrte zum Revier zurück und hielt mich raus. Und jetzt sind wir hier, zwei Jahre später. Eddie wurde von fünf Hubschraubern überflogen, und das war sehr eindrucksvoll. Andererseits liegt er unter der Erde, und das ist nicht sehr eindrucksvoll, sondern deprimierend.« Die Kellnerin servierte, und sie widmeten sich dem Philly Steak Sandwich. Nach einer Weile rülpste Holly leise. »Die haben die Zwiebeln und das Paprika nicht vorgegrillt«, sagte er entschuldigend. »Das ist weniger Philly als South Jersey«, pflichtete ihm Marybeth bei. Calhoun interessierte sich nicht für das Essen. »Ich werde noch einmal auf Sie zurückkommen«, sagte er zu Holly. »Bitte nicht«, protestierte Holly. »Lassen Sie mich bitte in Frieden. Vergessen Sie, daß wir uns jemals getroffen 159
haben.« »Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte Calhoun und blickte von Holly zu Marybeth. »Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie Eddie, Mr. Calhoun«, sagte Holly. »Lassen Sie die Sache auf sich beruhen. Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie meinen, Sie könnten zu Ende bringen, was Eddie zu beginnen versuchte.« Er wandte sich an Marybeth. »Und Sie sollten aufgeben. Lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich jemals irgend jemandem sagen werde. Dies hier war meine letzte öffentliche Äußerung zu diesem Thema. Und wenn Sie meinen Rat hören wollen, halten Sie sich aus dieser Sache heraus, vergessen Sie alles, was Sie gehört haben.« Er rülpste wieder und verabschiedete sich dann.
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17 Richter Stern führte den Vorsitz über einen Mordprozeß, als Calhoun den fast leeren Gerichtssaal betrat. Der ungeschlachte, langhaarige Angeklagte saß mit gesenktem Kopf am Tisch vor ihm und preßte seine massigen Hände gegen die Ohren, während sein Anwalt lakonisch zu seiner Verteidigung sprach. Der Angeklagte hatte eine sechsundzwanzigjährige Frau in einer Bar aufgelesen, sie mit achtunddreißig Messerstichen getötet und enthauptet, bevor er gebratenes und gekochtes Fleisch von ihr gegessen hatte. Der Pflichtverteidiger zitierte einen Psychologen als Gutachter, um die Behauptung des Angeklagten zu untermauern, daß er die Frau auf Grund von detaillierten Anweisungen von Gott umgebracht hatte, der ihm in Gestalt eines großen Schäferhundes erschien und ihm ständig Befehle in die Ohren bellte. Eine Handvoll älterer Prozeßsüchtiger, die praktisch in den Gerichtssälen zu Hause waren, murmelte empört und wurden von Richter Stern mit einem Klopfen des Hämmerchens zur Ordnung gerufen. Der Verteidiger begann aggressiv den jungen Ankläger anzuschnauzen, der nach einem Einspruch fortfuhr, Zeugen aufzurufen. Zwei große uniformierte Wächter eilten herbei, um die Würde dieser Verhandlung zu schützen. »Was bezwecken Sie damit, Mr. McKenar?« fragte Richter Stern den Staatsanwalt. »Der Zeuge legt das Gutachten der Verteidigung auf seine Weise aus, und unser Psychologe interpretiert es anders«, antwortete der Staatsanwalt monoton. 161
Während dieses Wortwechsels ging Calhoun über den Mittelgang zu der niedrigen hölzernen Barriere, die den offiziellen Gerichtsbereich von den leeren Sitzreihen abtrennte, die für Publikum reserviert waren. Er überreichte dem Gerichtsdiener eine Notiz, der sie an den Assistenten des Richters weitergab. Nach einem kurzen Blick auf die Notiz reichte der Assistent die Notiz zur Richterbank hinauf. Richter Stern schaute durch den Gerichtssaal zu Calhoun, der ihm höflich zunickte. Der Richter wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Verhandlung zu. »Soviel zu Sachverständigen«, sagte Stern. »Jeder legt dieselbe Tatsache anders aus, so oder so und noch anders. Ich werde über den Einspruch in meinem Amtszimmer nachdenken. Machen wir eine Pause bis vierzehn Uhr dreißig, einverstanden?« Ohne auf eine Antwort zu warten, klopfte er mit dem Hämmerchen und verließ die Richterbank. Er nickte seinem Assistenten, Peter Ragan, zu, der Calhoun mit einem Wink aufforderte, ihm ins Amtszimmer des Richters zu folgen. Als Ragan den Vizebürgermeister zum Amtszimmer führte, drückte er seine tiefe Besorgnis aus. »Dies ist wirklich eine Tragödie, Mr. Calhoun«, sagte der Assistent leise. »Richter Stern ist der vorsichtigste und gewissenhafteste Jurist, den ich mir vorstellen kann, und dieser ganze Meinungsstreit setzt ihm sehr zu. Er sagt es nicht, aber ich weiß, daß ihn Mr. Bones Mahnwache und die Umstände der ganzen Sache förmlich zerreißen«, sagte Ragan und klopfte an die Tür mit dem Namensschild aus Plastik: Richter Walter Stern. »Kommen Sie herein, kommen Sie herein«, sagte Walter Stern herzlich, als Ragan Calhoun in das Amtszimmer führte. 162
Es überraschte Calhoun, wie klein und schlicht das Zimmer war, ein besonders starker Kontrast zu dem Status des Benutzers. Ein alter Schreibtisch, zwei verschrammte Stühle und ein eingebeulter eiserner Aktenschrank waren die einzigen Möbelstücke. Diese spartanische Szenerie wurde noch betont durch ein Foto von Stern mit seinen Enkelkindern und einem anderen, das ihn als jungen Anwalt mit dem Richter des Supreme Court Hugo Black zeigte. »Die Majestät des Gesetzes wird nicht durch Äußerlichkeiten ausgedrückt, Mr. Calhoun«, sagte Stern mit einem müden Lächeln. Der Richter folgte Calhouns Blick zu dem Foto, das ihn als jungen Anwalt zeigte, und fügte hinzu: »Ich weiß, es ist kaum zu glauben – Peter hier hat große Mühe, sich das vorzustellen –, aber ich war tatsächlich mal jung.« Sein Lächeln ging in Wehmütigkeit über, und dann wurde er förmlich. »Mr. Calhoun, bitte verzeihen Sie mir. Habe ich Ihnen Peter Ragan, meinen Assistenten, vorgestellt? Dieser Mann hat einige meiner besten Urteilsbegründungen geschrieben. Er kam zu mir, als ich zum erstenmal den Vorsitz bei einer Diskussion über fiktive Rechtsfälle an der New York University hatte, und man kann sagen, daß wir seither unzertrennlich sind.« »Ja, Euer Ehren, wir haben uns draußen miteinander bekannt gemacht«, sagte Calhoun, doch er schüttelte Ragan noch einmal die Hand, um diese offizielle Vorstellung zu würdigen. Ragan sagte sofort, daß er einige Papiere bezüglich des laufenden Prozesses studieren müsse, und binnen Sekunden war die Tür hinter ihm geschlossen. »Mr. Calhoun, bitte nehmen Sie Platz«, sagte Richter Stern und wies auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. 163
»Ich werde nicht so tun, als könnte ich mir keinen Grund für diesen Besuch vorstellen«, fuhr der Richter mit ruhiger Stimme fort. »Aber ich bin mir nicht sicher, was genau ich tun kann, um Ihnen zu helfen.« Calhoun schaute Richter Stern mit ausdrucksloser Miene an. »Richter, Sie können mir erzählen, warum Tino Zapatti mit Bewährung davonkam.« Stern zeigte weder Überraschung noch Unbehagen bei Calhouns Worten. »Ich kann nur im Einklang mit dem Schuldspruch urteilen«, sagte er. »Mr. Zapatti wurde des verbotenen Besitzes vierten Grades für schuldig befunden.« »Man fand ein Kilo Rauschgift und eine Waffe in seinem Wagen – der vor dem Schulhof parkte, wo Zapatti seine dreckigen Geschäfte machte, Euer Ehren«, erwiderte Calhoun. »Haben Sie vor, den Prozeß wieder aufzunehmen, Mr. Calhoun?« fragte der Richter. »Es gab eine ellenlange Vorstrafenliste«, fuhr Calhoun unbeirrt fort. »Mr. Calhoun. Ich bin vom Staat New York als Richter des Supreme Court zugelassen. Sie sitzen hier und reden über einen Fall, der zwei Jahre zurückliegt. Ich habe erwartet, daß die Boulevardpresse sich damit beschäftigt, aber ich finde es äußerst unpassend, etwas von Ihnen darüber zu hören. Und ich werde den Bürgermeister darüber informieren.« »Ich bin im Auftrag des Bürgermeisters hier«, erwiderte Calhoun. Richter Stern fühlte sich jetzt sichtlich unbehaglich. »Nun, dann«, murmelte er, während er versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen. »Warum hat mich keiner über 164
Ihren Besuch informiert?« »Das tut mir leid, Euer Ehren, aber wir hielten es für das beste, wenn wir so wenig Aufsehen machen wie möglich. Wir alle sind Freunde, und wir versuchen nur herauszufinden, was das beste in einer sehr schwierigen Situation ist. Wir dachten, Sie sind vielleicht in der Lage und vielleicht bereit, uns zu helfen.« Walter Stern schien vor Calhouns Augen zu schrumpfen. Er sank in sich zusammen, und seine Schultern schienen unter einer plötzlichen Last nachzugeben. Er wies auf einen dünnen Aktenhefter auf seinem Schreibtisch. Calhoun las die umgekehrte Aufschrift: ZAPATTI, TINO. »Glauben Sie, ich habe schlafen können, seit diese Sache anfing?« fragte der Richter leise. »Und können Sie sich auch nur ein wenig vorstellen, wie es ist, wenn Mr. Bone mir überallhin folgt, wohin ich auch gehe? Und haben Sie auch nur eine Minute gedacht, ich weiß nicht, welchen Fehler ich begangen habe?« Calhoun sah, daß es dem Richter peinlich war, plötzlich von Verzweiflung übermannt zu werden. Und er bemerkte, wie nervlich angespannt Stern war, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte und ruhiger weitersprechen konnte. »Wissen Sie, Mr. Calhoun, es gibt gewisse Richtlinien«, sagte Richter Stern. »Ich mache nicht die Gesetze, nach denen ich urteile. Ganz im Gegenteil, das Geniale an dem Gesetz ist, daß fast jede Situation unter der Sonne bereits durch das Gesetz abgedeckt wurde. Ich habe Richtlinien durch bereits gefällte Urteile. Haben Sie das Symbol der Justiz vergessen, Mr. Calhoun? Es sind zwei Waagschalen. Und Waagschalen sind zum Wiegen, zum Abwägen, da. So mußte ich einerseits die Tatsache abwägen, daß ich es mit einem möglicherweise 165
gefährlichen Verbrecher zu tun hatte. Andererseits mußte ich die Tatsache berücksichtigen, daß es eine erste Verurteilung wegen einer relativ geringfügigen Straftat war, begleitet von einem äußerst positiven Bewährungsbericht. Bei einer ersten Verurteilung mit einer Empfehlung auf Bewährung sollte der Straftäter unter strenger Aufsicht in Freiheit bleiben.« Calhoun wartete auf etwas anderes, das ihm einen besseren Einblick in den Fall gab. Aber Richter Stern schob nur den geschlossenen Aktenhefter auf dem Schreibtisch zur Seite. »Ich habe mich geirrt«, sagte er offen. »Aber es gibt nichts, was Sie oder ich – oder der Bürgermeister – tun können, um das jetzt noch zu ändern.« Calhoun schob seinen Stuhl zurück. »Dann möchte ich nicht Ihre Zeit vergeuden, Euer Ehren«, sagte er steif. Richter Stern entging Calhouns kühler Tonfall, oder er war entschlossen, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Sie müssen dieses schäbige Amtszimmer verzeihen«, sagte der Richter geistesabwesend, während er Calhoun zur Tür führte. »Gerichtssäle sind großartig, aber hinter den Kulissen prägen städtische Rückständigkeiten nicht nur die Atmosphäre, sondern kriechen manchmal auch in das Justizsystem.« Richter Stern reichte Calhoun die Hand. »Bitte akzeptieren Sie meinen Dank, Mr. Calhoun – und übermitteln Sie ihn auch dem Bürgermeister –, weil Sie sich die Zeit genommen haben, herzukommen. Ich wünsche nur, ich könnte Ihnen mehr helfen.« Er zuckte mit den Schultern. Und er kehrte in den Gerichtssaal zurück, während Calhoun enttäuscht zum Ausgang ging.
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18 Elaine Santos stand hilflos dabei, als Captain Florian von der Abteilung interne Angelegenheiten Eddies Intimsphäre in seinem hübschen Haus an einer ruhigen Straße in Hollis, Queens, entweihte. Florian schien Elaines gequälte Blicke mit sadistischer Freude zu genießen, während er in den Schubladen von Eddies Schränken kramte oder unter den Dachbalken des Dachgeschosses suchte. Die Welt der Witwe wurde vollkommen durcheinander gebracht. Sie war von einem Augenblick zum anderen von der Witwe eines heldenhaften Polizisten zu einem hilflosen Opfer der Polizei geworden. Elaine war es gewohnt, Polizisten wie ihren Mann um sich zu haben, der die Welt streng in gut und böse, weiß und schwarz, Gesetz gegen Verbrecher eingeteilt hatte, aber in Florian sah sie nur das Böse. »Sind Sie zufrieden?« fragte sie schließlich, und es klang wie ein Aufschrei. »Haben Sie Eddies Millionen gefunden oder seinen Vorrat an Kokain oder was sonst ihre kranken Hirne für uns erfunden haben?« Elaine schaute Florian voller Verachtung an. »Gibt es ein Kellergeschoß?« fragte Florian ungerührt. »Sie haben den Hobbyraum gesehen.« »Den schäbigen Raum mit den vergammelten Kiefernbrettern und dem alten Billardtisch?« fragte Florian, anscheinend in dem wohlüberlegten Versuch, Elaine aufzuregen und zu provozieren. »Richtig, Captain.« »Mrs. Santos, ich erledige nur meinen Job. Es tut mir wirklich leid«, sagte er ohne echtes Gefühl. 167
»Es tut Ihnen leid? So ein Quatsch!« ereiferte sie sich. »Sie schnüffeln in Eddies Haus herum wie ein Nazi!« »Bitte, Sie wissen, daß dies das letzte ist, was ich wollte«, erwiderte Florian wenig überzeugend. »Warum verschwinden Sie dann nicht aus dieser verdammten Schnüffelabteilung und suchen sich einen ehrlichen Job?« schrie sie. Elaine kämpfte vergebens gegen den Zorn und die Müdigkeit an, die sich in endlos langen Nächten in ihr aufgestaut hatten, als sie wach gelegen und sich Sorgen um die anscheinend sehr düstere Zukunft ihrer beiden jungen Kinder gemacht hatte. Die Verzweiflung, die das Gefühl begleitete, einsam und isoliert von einem Schwarm von Feinden umgeben zu sein, die über Leben und Tod entscheiden, begann Elaine zu überwältigen. Als das Telefon klingelte, ging sie langsam zu der Nische zwischen Küche und Eßzimmer, um den Hörer abzunehmen. Einen Moment lang starrte Elaine auf die Schmutzflecken auf dem weißen Hörer und dachte, daß Eddie sie am letzten Wochenende hinterlassen haben mußte. Dann nahm sie den Hörer ab. »Hallo«, sagte sie schwach, und Tränen rannen über ihre dunkelbraunen Wangen. Florian baute sich im Eßzimmer auf, so daß er hören konnte, was gesprochen wurde. »Oh, es freut mich, eine freundliche Stimme zu hören, Marybeth«, sagte Elaine absichtlich laut, damit es Florian nicht entging. Sie fühlte sich ein wenig sicherer, weil Marybeth da war, um Eddies Pension und Ruf zu schützen, obwohl sie tief in ihrem Inneren nicht viel Hoffnung hatte, weil sie wußte, daß das ganze System gegen sie arbeitete. »Ja, der Captain war den ganzen Morgen hier bis jetzt«, fuhr sie fort. »Er hat alles von unten bis oben durchsucht. 168
Nein, natürlich sagt er mir nicht, was er sucht, er ist ein Schnüffler von der Abteilung interne Angelegenheiten«, antwortete Elaine auf Marybeth’ Frage. Während sich Florian Elaines Telefonat mit ihrer Anwältin der Detective Endowment Association anhörte, entdeckte er ein Foto an der Wand, das sein Interesse weckte. Es war ein gerahmter Schnappschuß von Eddie und Elaine mit einem älteren Paar, vor einem bescheidenen Häuschen am Ufer dessen, was wie ein See aussah. Captain Florian drehte das gerahmte Foto um und versuchte die verblichene Handschrift auf dem Karton der Rückseite zu entziffern: ›Lake Kerhonkson, 8. Oktober 1991‹. Als Florian das Foto wieder hinhängte, wandte sich Elaine mit einer verzweifelten Bitte an Marybeth. »Sie müssen etwas wegen Eddies Pension unternehmen. Sie versuchen, ihm die wegzunehmen, indem sie Eddie etwas anhängen.« Elaine hängte schließlich ein und ging durch das Haus. Der Captain war fort, und das Haus kam ihr unheimlich leer vor. Sie glaubte noch Florians Körpergeruch zu riechen, als sie seinen Wagen davonfahren hörte. Die Wintersonne ging bereits unter, als die Polizei bei dem Landhäuschen von Elaine Santos’ Eltern außerhalb von Kerhonkson, New York, eintraf. Ein halbes Dutzend Fahrzeuge fand sich dort ein und repräsentierte das halbe Dutzend Zuständigkeiten bei diesem Einsatz. Stämmige New York State Troopers mit Fellmützen standen stramm wie Soldaten neben lässigen Kriminalbeamten des New York Police Department in verknitterten Anzügen. Sie rauchten Zigaretten, während sie ihre Spurensicherer beobachteten, drei Männer und eine Frau in orangefarbenen Overalls mit den schwarzen Lettern CSU (für Crime Scene Unit) auf dem Rücken, die damit beschäftigt waren, die Umgebung um das Haus förmlich auseinanderzunehmen. 169
Eine Hälfte der Polizei von Kerhonkson, die aus zwei Beamten bestand, traf mit der ersten Welle von Beamten ein, die andere ungefähr zehn Minuten später, mit dem kleinen Bruder auf dem Beifahrersitz. Ebenfalls anwesend, jedoch unangekündigt, waren zwei FBI-Beamte von der Abteilung Organisiertes Verbrechen. Die Spurensicherer der Crime Scene Unit stellten in der Dämmerung helle Halogenscheinwerfer auf. Jeder Baum und Busch längs des Sees wurde plötzlich aus dem Schatten gerissen und stand in schuldig wirkender Nacktheit da. Die Techniker der Spurensicherung stellten weiterhin das bescheidene Häuschen auf den Kopf. Jedes Holzbrett und jeder Grashalm wurden untersucht, beschriftet und sichergestellt. Eine gezielte Indiskretion an die Presse führte dazu, daß eine Armada von Medienlimousinen dort eintraf. Da keine der konkurrierenden Dienststellen das Kommando hatte, streiften die Medienvertreter relativ unbeaufsichtigt herum. Weil sie keinerlei Fakten erhielten, setzte der natürliche Konkurrenzkampf unter Reportern die extremsten Spekulationen in Gang, weshalb die Durchsuchung stattfand und was man genau finden wollte. Ungefähr drei Stunden später, nachdem der Vorhof und die Veranda buchstäblich aufgerissen worden waren und die Durchsuchung mehr auf das Innere des Hauses konzentriert wurde, tauchten die Spurensicherer mit den orangefarbenen Overalls aus dem Haus auf, tauschten bedeutungsschwere Blicke und trugen eine kleine, verschrammte Stahlkassette. Weit außerhalb des Lichtkreises stand ein neutraler Wagen mit einem einzelnen Mann darin. Der Insasse war der Typ, der Verschwörungen, Fallen und finstere Operationen liebte, und so war er sehr selbstzufrieden, als er die erfolgreichen Sucher mit der Kassette sah. Dann 170
wählte Captain Florian eine Nummer. Ungefähr hundertfünfzig Kilometer entfernt, im Wohnzimmer seines Brooklyner Hauses, nahm Frank Anselmo den Telefonhörer ab. Er schaute sich New York One an, den Sender, der rund um die Uhr Nachrichten ausstrahlte. »Ich sehe es bereits«, sagte Anselmo zu Florian. Im Vordergrund sprach ein Reporter scheinbar atemlos; im Hintergrund gingen Polizisten in verschiedenen Uniformen in einem kleinen Holzhaus ein und aus, das in unheimliches Licht getaucht war. »… informierte Quellen berichten, daß vierzigtausend Dollar in bar in einer verschlossenen Geldkassette entdeckt wurden, die im Kamin dieses Landhäuschens versteckt war, das dem verstorbenen Detective Santos als Ferienhaus diente. Detective Santos wurde bei einer Schießerei, vermutlich im Zusammenhang mit Rauschgift, in Bushwick erschossen, bei der ebenfalls der dem organisierten Verbrechen zugerechnete Mobster Tino Zapatti und ein sechsjähriges unschuldiges Kind ums Leben kamen. Die Polizei stellt sich die Frage, wie kam Detective Santos an vierzigtausend Dollar geheimes Geld? Hier ist Frank Gannon, Reporter von New York One, live aus der Ulster County.« Marybeth stoppte mit quietschenden Reifen am Straßenrand, sprang aus dem Wagen und lief zu Elaine Santos’ Haustür. Die Frauen fielen sich verwirrt und tiefbetrübt in die Arme. Wortlos gingen sie ins Wohnzimmer, setzten sich vor den Fernseher und schauten sich die Fortsetzung der Reportage an. »Können Sie diesen Blödsinn glauben, Marybeth?« sagte Elaine. »Jetzt nennen sie den ›Zwischenfall bei den Carver Houses‹ schon den ›Fall Santos‹ – und sie fordern einen Ermittlungsausschuß zur Aufklärung von Korruption bei 171
der Polizei. Wir haben nach dem Tod von Eddies Vater nie diese alte Bruchbude betreten. Dort wimmelt es von Hornissen.« »Ja, von geschäftlichen Hornissen«, erwiderte Marybeth trocken. Elaine bemerkte den sarkastischen Tonfall und fragte: »Was machen die mit mir, Marybeth?« »Eine Vertuschung? Ein Ablenkungsmanöver? Beides?« überlegte Marybeth laut. Aber das war nur das grobe Bild. Marybeth stammte aus einer langen Linie irischer Polizisten, und sie identifizierte sich instinktiv mit Elaine Santos’ Alptraum: Witwen und Waisen von Polizisten hatten nur einen Trost – daß ihr Ehemann und Vater einen Heldentod in Erfüllung seiner Pflicht gestorben war, beim Schutz seiner Familie und der Allgemeinheit. Eddie Santos seiner Ehre zu berauben kam einer geistigen Ermordung seiner Frau und Kinder gleich. Und wenn er offiziell als korrupter Cop gebrandmarkt wurde, dann würden sie auch noch finanziell vernichtet werden, weil ihnen seine Pension versagt bleiben würde. Nach ihrem Jurastudium auf der Fordham Law School war Marybeth Cogan klargeworden, daß sie niemals eine Wall-Street-Anwältin werden würde. Die Firmen in der Wall Street wollten keine Absolventinnen einer katholischen Rechtsakademie, erst recht nicht, wenn sie aus Polizistenfamilien stammten. Marybeth Cogans Vater, Großvater und Urgroßvater waren Polizisten, und Miss Cogan wollte nur mit Polizisten zusammenarbeiten. Sie hatte ein ungewöhnliches Mitgefühl für das Leid anderer Leute, und Elaines Lage verstärkte noch ihre Bindung an die blaue Uniform: Marybeth war entschlossen, der Familie Santos zu helfen. Die Frauen saßen verzagt da und sahen, daß 172
Vizebürgermeister Calhoun auf der Treppe der City Hall eine improvisierte Pressekonferenz gab. Er gab eine kurze Erklärung aus dem Stegreif vor den Fernsehkameras ab und stellte sich anschließend den Fragen der Reporter. »Der Bürgermeister versteht die Bedeutung des Fundes der Polizei in der Ulster County, aber er möchte betonen, daß dies nur Spekulationen sind. Bis eine Verbindung zwischen Detective Santos und den vierzigtausend Dollar hergestellt werden oder bewiesen werden kann, woher das Geld gezahlt wurde, dürfen keine voreiligen Schlüsse gezogen werden«, sagte Calhoun. »Irgendwelche Fragen?« »Vierzigtausend Dollar in der Geldkassette eines Cops – der Mann muß irgend etwas Krummes getan haben!« sagte ein Rundfunkreporter halb fragend, halb feststellend. »Detective Santos war ein geachtetes Mitglied der Polizei. Bis die Ermittlungen abgeschlossen sind, können wir davon ausgehen, daß er nichts Unrechtes getan hat«, sagte Calhoun. »Wie kommt ein Detective an vierzigtausend Dollar?« fragte ein anderer Reporter anklagend. »Vielleicht war er sparsam«, antwortete Calhoun. »Was ist mit der Zapatti-Connection? Machte er Geschäfte mit Tino?« rief ein Pressereporter. »Detective Santos war ein altgedienter und erfahrener Polizeibeamter. Ein Teil seines Jobs war es, Kontakte zur Unterwelt herzustellen«, erwiderte Calhoun, um einen sachlichen Tonfall bemüht. »Was ist mit der Kassette? Kommt Ihnen nicht sonderbar vor, daß ein Cop vierzigtausend Dollar in einer Kassette versteckt aufbewahrt?« drängte ein anderer Reporter. 173
»Nichts ist sonderbar, bis wir die Fakten haben«, entgegnete Calhoun. Das Telefon klingelte. Elaine erhob sich wie in Trance, ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Eine heisere Männerstimme, die verzweifelt klang, ertönte: »Es gibt nur zwei Leute auf dieser Welt, die wissen, daß es nicht Eddies Geld ist, das man gefunden hat. Sie…« es folgte eine Pause, »… und ich.« »Wer spricht da?« fragte Elaine. Sie schnippte mit den Fingern, um Marybeth aufmerksam zu machen, wies auf den Hörer und auf die Treppe zu ihrem Schlafzimmer. Marybeth lief nach oben, nahm sehr vorsichtig den Hörer des zweiten Apparats ab und hörte mit. »Sie müssen mir sagen, wer Sie sind«, beharrte Elaine. »Woher soll ich sonst wissen, daß Sie nicht irgendein Perverser sind, der mir einen üblen Streich spielen will?« »Sie vergeuden Zeit«, antwortete die rauhe Stimme. »Es hat nichts zu sagen, wer ich bin. Sie brauchen nur zu wissen, daß ich die Person bin, die bereit ist, Ihnen zu helfen. Ich kann Ihnen die Pension und die Medaillen und alles sichern, das Ihnen und Ihren Kindern zusteht. Wollen Sie das?« Sein Tonfall wurde mit jedem Wort drängender. »Aber wer sind Sie?« fragte Elaine wieder. »Wollen Sie die Pension und alles andere oder nicht?« Die Stimme klang schroff. »Natürlich will ich das. Und vor allem will ich, daß Eddies Name reingewaschen wird«, erwiderte Elaine mit fester Stimme. »Das kann ich verstehen.« Die Stimme klang plötzlich weicher. »Ich will Ihnen helfen, aber Sie müssen mir ebenfalls helfen.« »Was heißt das?« fragte Elaine. 174
»Ich will raus aus der Stadt. Wenn ich hier weiter herumhänge, bin ich erledigt.« »Wir müssen verschwinden!« sagte Cookie verzweifelt im Hintergrund. »Was brauchen Sie?« fragte Elaine. »Zwei Flugtickets zu einem warmen Ort. Wir werden Ihnen das Ziel nennen. Und zehntausend Dollar cash.« »Zehntausend, um Himmels willen, ich kann nicht…« rief Elaine, doch dann schaltete sich Marybeth ein. »Wir reden von viel Geld. Was haben Sie dafür?« fragte Marybeth unschlüssig. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« Die Stimme des Anrufers verriet Furcht. Und im Hintergrund rief eine Frauenstimme nervös »Was ist los?« »Ich bin Marybeth Cogan von der Detective Endowment Association, die Anwältin der Familie Santos, und meine Aufgabe ist es, Eddies Pension zu schützen. Ich bin nicht von der Polizei.« Und dann fragte Marybeth noch einmal: »Was haben Sie zu bieten?« »Ich bin der Blödmann, der das Treffen für Eddie mit Tino arrangiert hat, damit Eddie erfahren konnte, was Tino über den Richter wußte.« »Und was war das?« drängte Marybeth. »Hat jemand den Richter bestochen?« »Ich sage nichts mehr. Ich muß sicher sein, daß ich abhauen kann, wenn ich ausgepackt habe«, erwiderte Vinnie mit zunehmender Niedergeschlagenheit. »Wir sind so gut wie tot, wenn wir nicht bald von hier verduften«, fügte Cookie aus dem Hintergrund hinzu. »Zehntausend und die Flugtickets. Ja oder nein?« Vinnie klang, als wollte er auflegen. »Ich nenne Ihnen das Ziel später.« 175
»Ihre Information ist wertlos, es sei denn, ich kann einen Zeugen präsentieren.« »Einen was?« »Einen Zeugen.« »Sie sind verrückt.« »Dann gibt es keinen Handel.« »Keine Cops!« »Keine Cops.« »Ich habe Ihnen einen Vorgeschmack gegeben, weil ich weiß, daß Sie mich brauchen«, sagte Vinnie halbherzig. »Also vermasseln Sie nichts. Ich werde Sie beobachten.« »Sie brauchen mich genauso«, sagte Marybeth. »Wo treffen wir uns?« Und Vinnie nannte ihr den Treffpunkt. Marybeth war ungewöhnlich praktisch veranlagt, was sie davon abhielt, in Sackgassen zu gehen. Ihr mißfiel zwar, daß der Vizebürgermeister sich hauptsächlich an Politik und Macht orientierte, im Gegensatz zu ihr, die etwas greifbar Gutes für eine Einzelperson tun wollte, aber sie wußte, daß er ehrbar und der glaubwürdigste verfügbare Zeuge war, den sie für ihr Treffen mit Vinnie bekommen konnte. Sie telefonierte mit Kevin Calhoun. Nach einem schwierigen Tag in der Bürokratie empfanden Marybeth und Kevin das Pulsieren ihrer Umgebung wie eine Erneuerung, als sie zusammen über den East River Drive zu dem Treffen mit Vinnie Zapatti am Spuyten Divil fuhren, der turbulenten Gegenströmung beim Zusammenfluß von Hudson und East River. Die Brooklyn und Williamsburg Bridge überspannten den East River wie eine Doppelkette natürlicher Perlen, die an einem schönen schwarzen Hals schimmerten. Fulton Landing 176
weckte mit seinen Lichtern Erinnerungen an ein einst erhabenes Brooklyn. Die Reklame von Pepsico blinkte ihre unmißverständliche Botschaft in Rot von Queens, daß die Produkte dieses Markenzeichens Spitze waren, während die Vereinten Nationen auf der Manhattan-Seite mit ihren Hauptquartieren aus Glas und Beton zurückblinkten, daß ihre Botschaft von ›Frieden‹ einer Welt, die vom Konsum geprägt war, schwerer zu übermitteln, aber wichtiger war. »Ein Cop, ein Gangster, ein Kind, ein perfekter Richter und ein Haufen Zapattis – das ist allerhand auf einmal«, sagte Calhoun, während er nordwärts fuhr. »Mit welchem Zapatti treffen wir uns?« »Big Paulie hatte zwei Brüder – John und Jimmy. Tino war Johns Sohn, Vinnie ist der Sohn von Jimmy.« »Warum haben Sie sich die Mühe gemacht, mich mitzunehmen?« stellte Calhoun schließlich die Frage, die ihn wirklich bei all dem Small talk beschäftigte. »Weil Sie die wichtigste Person in der Stadt sind, die ich kenne. Und wenn Vinnie Zapatti bereit ist, vor Ihnen zu reden, ist meine Mandantin gerettet«, antwortete Marybeth ernst. Calhoun seufzte skeptisch und deutete damit an, daß er die Aussichten für die Familie Santos nicht so rosig sah. Marybeth legte sein Seufzen als ein arrogantes Distanzieren von für ihn so unbedeutenden Dingen wie das Überleben der Familie Santos aus. Und sie drosch verbal auf ihn ein. »Wenn Sie so ein As sind, warum kandidieren Sie dann nicht für das Bürgermeisteramt, anstatt dem Bürgermeister die Tasche zu tragen?« »Ich betrachte es als eine Ehre, seine Tasche zu tragen, sie aber auch des Abends mit Dingen zu füllen, die für die 177
Stadt nötig sind«, antwortete Calhoun mit dem Selbstbewußtsein eines meisterhaften Musikers, der einen großartigen Virtuosen begleitet. »Der Königsmacher, der Mann hinter dem Thron«, sagte Marybeth spöttisch. »Sie mögen keine Politiker?« fragte Kevin Calhoun ruhig. »Sie sind kein Politiker. Politiker streben ein Amt an. Sie sind ein Statist«, gab Marybeth spöttisch zurück. »Mein Vater pflegte zu sagen, Anwälte sind wie Teenager. Bei beiden ist man machtlos. Aber wissen Sie was?« fügte Kevin entwaffnend hinzu. »Was?« »Manchmal können Teenager höllisch sexy sein.« Marybeth schwieg nach seinen Worten, die ein indirektes Kompliment sein sollten, weil sie nicht wußte, was sie sagen sollte, was selten vorkam. Die Häuser der Reichen am Sutton Place mit Blick auf den Fluß verrieten, wer die meisten Steuern in New York zahlte, aber bald gingen sie in die verfallenen Mietskasernen längs des Harlem River Drive über. Schließlich stoppten sie an den verlassenen und verkommenen Spuyten Divil Piers. »Wo sind wir?« fragte Calhoun und brachte das Gespräch wieder auf die vor ihnen liegende Aufgabe. »Dyckman Street. Die Nordspitze von Manhattan. Drugtown Central, New York City. Wenn Peter Stuyvesant klug gewesen wäre, hätte er diese Ecke verkauft oder verpachtet, bevor die Dominikaner die Kontrolle darüber gewannen«, sagte Marybeth mit einem Augenzwinkern. »Vinnie mag wohl gespenstische Orte. Hier sieht es aus 178
wie Montagnacht in Key Largo«, sagte Calhoun und bezog sich auf seinen liebsten Bogart-Film. »Vinnie verkörpert die Mafia. Für seinen Onkel ist er eine Witzfigur. Aber eine gefährliche. Ich finde, sie sind alle gefährliche Witzfiguren.« Marybeth’ Stimme klang verächtlich. »Ich würde diese Leute noch nicht abschreiben«, mahnte Calhoun. »Ich sagte, daß sie gefährlich sind«, entgegnete Marybeth, ärgerlich über seinen herablassenden Tonfall. Kalter Wind peitschte über die scheinbar verlassenen Piers, aber Marybeth und Kevin erkannten bald, daß sie nicht allein waren. Das Fiepen und Scharren Hunderter Ratten mit rotglühenden Augen und der Größe gut genährter kleiner Hunde schufen eine furchteinflößende Geräuschkulisse, als die Nager Müllsäcke aufrissen, die von Restaurantbesitzern illegal auf den Piers ›entsorgt‹ worden waren, um Gebühren zu sparen. Marybeth mahnte Kevin, sich gut von den Rattus rattus fernzuhalten, wie die zähe New Yorker Art wissenschaftlich genannt wurde, um sie von Rattus norvegicus, ihren europäischen Verwandten, zu unterscheiden, denn wenn sie sich in die Enge getrieben fühlten, konnten sie einen Menschen anspringen und ihm die Kehle aufreißen. Alte Kähne lagen vertäut an dreckigen Hellingen, halb verrottet und leer. Calhoun und Marybeth gingen hastig zu einem Pier mit einem verbitterten Schild, auf dem ›112‹ stand. »Was ist das? Ist hier der Treffpunkt?« fragte Marybeth mit wachsender Besorgnis. »Ja, hier ist der Treffpunkt. Und ein übler Platz… ich hätte Ihre Einladung nicht annehmen sollen«, erwiderte Calhoun nervös. 179
Sie schauten sich angespannt um. »Nichts«, murmelte Marybeth nach ein paar Minuten. »Meinen Sie, Vinnie hat es sich anders überlegt?« fragte Calhoun. »So muß es sein.« »Lassen Sie uns verschwinden.« Calhoun ergriff Marybeth am Arm, um sie zum Wagen zurückzuführen. »Nicht umdrehen!« ertönte Vinnies rauhe Stimme hinter ihnen. Er rieb sich über die geröteten, müden Augen, während er drohend durch die Finsternis spähte. Marybeth und Calhoun erstarrten. Und Marybeth wünschte, sie hätte mehr in der katholischen Schule gebetet. Wenn Jugend mit Wißbegierde, körperlichem Wohlbefinden und Optimismus erklärt wird, dann war Vinnie ungefähr fünfundachtzig Jahre älter als mit seinen einundzwanzig Jahren; er war ohne jedes Interesse, körperlich verfallen durch Drogen- und Alkoholmißbrauch und zitterte – zu Recht – um sein Leben. »Wer ist der Mann?« wollte Vinnie von Marybeth wissen. »Der Vizebürgermeister«, antwortete sie. »Der Vizebürgermeister? Wozu brauche ich denn den?« fragte Vinnie sarkastisch und drückte Calhoun einen Revolver auf den Rücken. Obwohl Vinnie bewaffnet war, verrieten seine zitternde Hand und seine Stimme, wie unsicher er war. Es würde nichts passieren, es sei denn, Vinnie geriet in Panik oder die Waffe ging durch einen unglücklichen Zufall los. »Spielen Sie nicht den Schlaumeier, Vinnie«, sagte Marybeth herausfordernd. »Ich bin die einzige Chance, die Sie haben.« 180
Vinnie hielt sich hinter ihnen und klopfte Calhoun nach Waffen ab. »Gehen wir!« befahl er unvermittelt. »Sagten Sie nicht, ich soll zu eins-eins-zwei kommen?« wandte Marybeth ein. »Ja, so konnte ich Sie vorher beobachten. Der richtige Treffpunkt ist eins-eins-neun«, sagte Vinnie mit offenkundiger Befriedigung über seine Cleverneß. »Los jetzt!« Ein paar Minuten später fuhr das ungleiche Trio mit einem Motorboot nahe der Küsten von Manhattan entlang. Vinnie Zapatti bediente stolz die Ruderpinne seines alten Boots mit Innenbordmotor und nassem Deck von einem leichten Leck. Calhoun und Marybeth kauerten dicht nebeneinander, froren in der Kälte und blickten unruhig zum Ufer. Als das schäbige Boot in die tückische Strömung bei Spuyten Divil geriet, schauten sie hinauf zu der klobigen, eisernen Eisenbahnbrücke, die über ihnen aufragte. Sie seufzten erleichtert auf, als sie schließlich in das ruhigere Wasser des Hudson River gelangten. »Ist das ein Sea-Rider?« fragte Calhoun, um zu versuchen, Vinnies Anspannung ein wenig aufzulockern, damit er nicht durchdrehte. »Sie haben vielleicht Sea-Riders in Ihrem Klub gefahren«, sagte Vinnie neidisch. »Dies ist kein verdammter Sea-Rider. Dies ist ein Stück Scheiße, das sie Surf-Rider nennen. Ich wünschte mir den Sea-Rider, aber mein Onkel wollte nicht dafür blechen.« »Mag Ihr Onkel Boote?« fragte Marybeth dümmlich. Calhoun blickte zu ihr, und sie zuckte mit den Schultern wie um zu sagen: »Haben Sie Verständnis für meine blöde Frage, ich bin nervös.« »Mein Onkel kann kein Beil von einer Klampe 181
unterscheiden«, sagte Vinnie. »Es ist mein Traum, mit einer Yacht runter zu den Inseln zu fahren.« Calhoun fand es beruhigend, daß Vinnie das Boot erfahren um einige Bojen lenkte. Vielleicht war doch etwas Realität hinter seiner verrückten Phantasie. Und vielleicht schaffte er es, sie nicht alle zu ertränken. »Das dort drüben ist Fort Lee, New Jersey.« Vinnie wies zum fernen Ufer. »Dort beerdigten sie Tino, nicht weit von der Stelle, wo Aaron Burr Alexander Hamilton umlegte.« Calhoun blickte zu Marybeth, übermittelte ihr stumm seinen Gedanken, daß dies zu surreal wurde, mitten auf dem Hudson River mit einem selbstmörderischen Verrückten zu sein, der Lektionen in Geschichte gab. »Was ist los?« rief Vinnie mißtrauisch. »Wir dachten gerade, daß Sie ein Fan von Geschichte sein müssen«, sagte Marybeth vorsichtig. »Ja«, bestätigte Vinnie bescheiden. »Ich kenne jeden Zoll dieses Flusses und beide Ufer. Aaron Burr wollte mehr Land südlich der texanischen Grenze, aber Hamilton wollte nicht mitspielen, und so putzte Burr ihn weg. Ich fahre gern um Nevis herum. Das ist die Insel, auf der Hamilton geboren wurde. Ich wette, das wußten Sie nicht.« »Da haben Sie recht, Vinnie«, gab Calhoun zu. »Ich wette, Sie wissen auch nicht, daß Hamilton ein Homo war«, sagte Vinnie stolz. »Sie sind voller Überraschungen, nicht wahr?« Calhoun bemühte sich um einen anerkennenden Tonfall. »Ich wäre jetzt vielleicht sogar auf Nevis, wenn mich der verrückte Eddie nicht bei meiner letzten Kokslieferung geschnappt hätte. Und selbst danach wäre ich 182
davongekommen, wenn Tino Eddie nicht umgenietet hätte«, sagte Vinnie klagend. »Ich hatte alles gut geplant. Nichts von alldem sollte passieren. Eddie wollte nur Informationen über den Richter.« »Woher wissen Sie das?« fragte Calhoun. »Weil ich an dem Morgen dabei war«, antwortete Vinnie. »Sie haben ihm die Falle gestellt?« »Hey, Mann, reden Sie keinen Scheiß. Ich habe ihm keine Falle gestellt.« »Sie wußten, daß Tino zehn bis zwanzig Jahre Knast drohten…« »Falsch, Arschloch!« sagte Vinnie. »Eddie war nicht da, um Tino festzunehmen. Er wollte nur Informationen über den Richter.« »Welche Informationen?« fragte Marybeth. Vinnie wurde sofort verschlossen. »Das erfahren Sie nur für zehntausend und die Flugtickets«, sagte er. »Tanzen Sie morgen damit an. Unser kleines Treffen ist vertagt.« Calhoun und Marybeth schauten sich nervös um und schluckten hart. Vinnie gab Gas, genoß ihren Moment der Panik und kehrte zu dem verfallenen Pier am Ufer Manhattans zurück. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Vinnie«, sagte Calhoun, als Vinnie darauf wartete, daß sie aus dem Boot stiegen. »Gehen Sie mit uns zur Polizei.« »Wir sprechen mit den FBI-Beamten, und Sie werden ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen«, fügte Marybeth hinzu. »Ich habe mein eigenes Zeugenschutzprogramm«, sagte Vinnie fest entschlossen. »Sie brauchen es nur für mich zu finanzieren.« 183
»Wir werden unser Bestes tun«, erwiderte Marybeth ruhig. »Ich will morgen das Geld und die Flugtickets. Ich habe keine Zeit, mich von Ihnen hinhalten zu lassen. Sie retten mich, und ich rette Eddies Familie, Miss Cogan. Frau Anwältin, ich rufe morgen mittag in Ihrem Büro an, damit wir das letzte Treffen abmachen.« Eine halbe Minute später war Vinnie von der Dunkelheit über dem Hudson River verschluckt. Nur das Plätschern von Kielwasser gegen das verfallene Pier zeugte davon, daß dort ein Boot gewesen war. Am nächsten Morgen wartete Cookie bei einer Telefonzelle in Sheepshead Bay auf den angekündigten Anruf von Vinnie, daß alles klar war, woraufhin sie sich in seinem Apartment treffen wollten, um für die lang erwartete Flucht in den Süden zu packen. Aus dem Radio in ihrem grünen Camaro schallte Tina Turners ›I’m a Dancer for Money‹, während Cookie mitsang und am Straßenrand aufreizende Tanzbewegungen dazu machte. Cookie drehte den Ton lauter, schnippte mit den Fingern den Takt und tanzte noch wilder, während ihre Besorgnis wuchs, weil Vinnie nicht anrief. Ein Wagen fuhr vorbei, und Cookie blickte unwillkürlich über die Schulter, um einen Blick auf die Insassen zu erhaschen, bevor er verschwand. Ein zweiter Wagen kam langsam die Straße herunter, und die Insassen begafften anscheinend die Fischerflotte in der Sheepshead Bay. Der Wagen näherte sich der Telefonzelle, wurde immer langsamer und stoppte fast. Ein Mann auf dem Rücksitz, Eddie ›The Sandman‹ Strafaci, kurbelte die Fensterscheibe herunter und feuerte aus nächster Nähe auf Cookies Kopf; er feuerte immer 184
noch, als Cookie auf die Telefonzelle zuwankte, deren Glas zerschossen war, und tot zusammenbrach. Matrose Ken Tuminski neigte sich über die Seite des Schleppdampfers, um in den Hudson River zu pinkeln. Kens Wasserstrahl versiegte, als er entdeckte, daß ein kleines, unbemanntes Boot auf den Schlepper zu trieb. Er alarmierte Kapitän Smith, den Schlepper längsseits des Bootes zu steuern, das anscheinend eine schwere Last am Heck hatte. Tuminski streckte den langen Landungshaken hinter das Heck des Bootes und zog Vinnie Zapattis aufgeblähten Körper an die Oberfläche. Fest um die Hände, Hüften und Beine war die Ankerkette des Bootes geschlungen. Kapitän Smith befahl seinem Matrosen, das herrenlose Boot an Ort und Stelle zu halten, und benachrichtigte die Polizei. Es war ungewöhnlich, daß die Sekretärin des Bürgermeisters Calhoun so früh am Morgen zu Hause anrief und ihn ohne irgendeine Erklärung anwies, sofort ins Büro des Bürgermeisters zu kommen. Um halb acht eilte Calhoun in die City Hall und die Treppe hinauf zum Büro des Bürgermeisters, und er spürte, daß etwas passiert sein mußte, denn es wimmelte in der Halle von Reportern und hohen Polizeibeamten. Als er am Schreibtisch des Sicherheitsmannes vorbeihastete, der den Zugang zum Flügel mit dem Büro des Bürgermeisters bewachte, vergaß Calhoun, Bobby zu begrüßen, doch der Mann von der Intelligence Unit vergaß ihn nicht. »Guten Morgen, Kevin«, sagte er nach einem Aufmerksamkeit heischenden Hüsteln. »Guten Morgen, Bobby«, erwiderte Kevin, blieb abrupt 185
stehen und schaute zurück. Kevin sah, daß Bobbys Blick zu dem Faxgerät schweifte, das gerade ein Fax ausspuckte. In diesem Augenblick tauchten Polizeichef Coonan und Captain Florian aus dem Büro des Bürgermeisters auf. Sie nickten Kevin grüßend zu und eilten an ihm vorbei. Calhoun neigte sich über das Fax und las: »Vincent Zapatti, aus dem Hudson River auf Höhe des Bootsbeckens 19th Street gefischt. Hände und Füße waren mit einer drei Zoll starken Ankerkette – wie bei Schiffsausrüstern erhältlich – gebunden. Erste forensische Untersuchungen lassen auf Folter und Ertrinken nach einem Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf schließen.« Kevin nahm das ganze Fax und las die Einzelheiten, einschließlich derjenigen über Cookies Ermordung. »Noch ein Zapatti; die Haie kreisen bereits«, bemerkte Bobby und wies auf die Reporter, die in den Blauen Raum zu einer Konferenz strömten. Abe verweilte kurz auf dem Weg zur Pressekonferenz bei Kevin und Bobby und sagte: »Ihr wißt, was der Talmud sagt, nicht wahr? Das letzte Hemd hat keine Taschen.« Calhoun hob die Augenbrauen. »Genauere Erklärung? Okay, ich gebe sie«, bot Abe an. »Tote reden nicht.« Kevin klopfte an die Tür des Büros von Bürgermeister Pappas, öffnete sie und trat ein. Pappas stand mit dem Rücken zur Tür am Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, und schaute in Gedanken versunken in den City Hall Park hinaus. Er wandte sich nicht um. Kevin ließ mit unbehaglichem Gefühl seinen Blick über die Wände des viktorianischen Büros schweifen. Die antiken Gemälde 186
aus dem frühen Amerika, eine Leihgabe des Metropolitan Museum of Art an den Bürgermeister, die mit Chintz bezogenen Konfektionsmöbel und ein großer Schreibtisch aus dem 19. Jahrhundert vor einem marmornen Kamin schufen eine behagliche, leicht nostalgische Atmosphäre. Drei aufgeschlagene Boulevardzeitungen, leuchtende Lämpchen auf Telefonen und Gegensprechanlagen erinnerten jedoch daran, daß gegenwärtig alles andere als behagliche Zeiten für den Bürgermeister herrschten. »Wo sind Sie gewesen?« fragte der Bürgermeister schließlich, ohne sich umzuwenden. »Beschäftigt«, antwortete Calhoun ausweichend. »Ja?« sagte der Bürgermeister nur und drängte Kevin, mit der Wahrheit herauszurücken, bevor er damit konfrontiert wurde. »Haben Sie die heute morgen eingegangenen Faxmeldungen gesehen?« fragte Calhoun, obwohl er die Antwort wußte. »Was ist damit?« Der Bürgermeister ging mit einer ungerauchten dicken Zigarre im Mundwinkel auf und ab. »Ich war gestern abend mit Vinnie Zapatti zusammen«, bekannte Kevin. Der Bürgermeister wandte sich abrupt um und heftete seinen Blick gespannt auf seinen Stellvertreter, als Kevin fortfuhr: »Er starb wegen des Bewährungsberichts über Tino Zapatti. Fünf Tote, und es gibt eine Verbindung, das ist alles, was ich weiß. Ich erfuhr es von Vinnie.« Kevin klang aufgeregt über die Spur und bereit, durch weitere Ermittlungen mehr herauszufinden. »Und das ist alles, was ich wissen möchte«, sagte Bürgermeister Pappas, und sein stählerner Blick spiegelte seine Überzeugung nach langer Erfahrung wider, daß ein Politiker niemals einen Vorhang zurückziehen sollte, 187
wenn er nicht genau wußte, was dahinter war. »Ich versuche nur, Sie abzusichern…«, verteidigte sich Kevin. »Sie versuchen, mir zu helfen? Für wen halten Sie sich? Für einen Meisterdetektiv in einem Fernsehkrimi? Der sich in der Stadt herumtreibt und mit bekannten Mobstern verkehrt? Sie sind meine rechte Hand. Sie sind die rechte Hand des Bürgermeisters. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?« John Pappas wirkte tief besorgt. Er versuchte Calhoun klarzumachen, daß er ein offizielles Amt hatte und keine Privatperson war, die ihre Neugier oder Ideale befriedigen konnte, ohne auf ihr Bild bei den Bürgern zu achten. Der Bürgermeister schloß die Augen und dachte nach. Dann öffnete er die Augen, wies auf das Porträt von LaGuardia, das an der Wand hinter seinem Schreibtisch hing, und sagte leise: »Mein Schreibtisch wurde von Fiorello LaGuardia benutzt, der kleinen Blume. Er war ein Meter dreiundfünfzig klein, las im Rundfunk Comics für die Kinder seiner Wähler vor und war der verdammt beste Bürgermeister, den diese Stadt jemals hatte. Wissen Sie, was LaGuardia sagte? ›Warum kommen jedesmal, wenn man etwas Gutes tun kann, die netten Leute dazwischen und vermasseln alles?‹« Er schwieg kurz und fügte dann hinzu. »Seien Sie nett, Kevin, aber vermasseln Sie nichts. Menschen werden öfter von ihren Freunden vernichtet als von ihren Feinden.« »Ich habe verstanden, Sir«, sagte Kevin, vermied es, dem Bürgermeister in die Augen zu blicken, und eilte aus dem Büro. John Pappas hatte nie zuvor so mit seinem schockierten Stellvertreter gesprochen. Kevin erinnerte sich an die Ermahnung seiner Mutter an seinen Vater: ›Das Leben ist 188
eine Symphonie, und du spielst nur eine Note darin.‹ Er fragte sich, ob er das größere Bild übersah, weil er besessen war, mögliche Korruption aufzuklären, die seiner Meinung nach mitten ins Herz der politischen Demokratie treffen konnte. Calhoun eilte in sein Büro, warf die Tür hinter sich zu und telefonierte. »Hallo…?« meldete sich Marybeth. »Ich habe Sie geweckt«, sagte Calhoun entschuldigend. »Sind Sie verrückt? Ich war die halbe Nacht wach und überlegte, wie ich zehntausend Dollar auftreibe. Der Fisch hat angebissen, ich brauche ihn nur noch an Land zu ziehen. Ich bin nahe am Ziel. Vinnie ist der Schlüssel zu Eddie Santos’ ehrenvollem Tod.« Sie klang voller Hoffnung. »Vinnie ist tot«, sagte Calhoun. »Was?« Calhoun glaubte vor seinem geistigen Auge, Marybeth’ schockierte Miene zu sehen. »Vinnie Zapatti. Man hat ihn heute morgen aus dem Hudson gefischt. Seine Freundin wurde in Sheepshead Bay ermordet.« Marybeth schwieg lange, bis sie wieder Worte fand. »Erzählen Sie weiter, Kevin.« »Wenn sich Vinnies Fuß nicht in dem Rettungsring verfangen hätte, dann wäre er unter der Verrazano Bridge hindurch und zurück zu seinen Vorfahren nach Sizilien geschwommen«, sagte Calhoun. »O Gott!«
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19 Calhoun fragte den Sergeant vom Dienst im 51. Revier nach dem Mannschaftsraum der Detectives der Mordkommission, und der Cop wies zu seiner Rechten auf eine kleine Tür, ohne von der Sportzeitung aufzublicken, in die er vertieft war. Der Vizebürgermeister betrat den Mannschaftsraum, ohne anzuklopfen. Vier Detectives saßen um einen runden Tisch, auf dem Aktenhefter, Playboy, The New York Post und The Daily Enquirer lagen. Hinter ihnen war eine große weiße Karte aus Karton an die Wand geheftet, und darauf war jeder Mordfall des Reviers vermerkt; einen Fall, der erfolgreich abgeschlossen war, hatte man mit einem roten X markiert. Während die Detectives weiter Kaffee tranken und rauchten, erhob sich Holly aus ihrer Mitte. »Wir sehen uns später«, sagte er, und alle drei Kollegen standen auf und entfernten sich schnell. »Ich habe heute nicht viel Zeit«, sagte Holly zu Calhoun. »Ich habe das mit Captain Gillardi geklärt. Er sagte, Sie können sich alle Zeit nehmen, die Sie brauchen.« »Sie bestimmen einfach über mich?« fragte Holly wütend. »Ja«, antwortete Calhoun. »Suchen Sie nach einer neuen Schuhgröße?« Holly neigte sich jetzt dicht zu Calhoun. »Zement-C«, sagte Kevin, ohne zu lächeln oder zurückzuweichen. »Ich kenne diesen Witz. Was ich eigentlich brauche, sind klare Auskünfte.« 190
Holly starrte ihn streitlustig an, als Calhoun fortfuhr: »Okay, ich sage es Ihnen ganz offen. Der Commissioner arbeitet für den Bürgermeister.« »Was wollen Sie?« fragte Holly, besiegt von dieser Offenheit. »Vertrauen Sie mir, oder lecken Sie mich am Arsch«, sagte Calhoun recht deutlich. »Aufstehen! Ich will sehen, vor wie vielen Leuten ich rede.« Und mit diesen Worten packte Holly Calhoun unter den Achseln und riß ihn vom Stuhl hoch. Dann suchte er ihn methodisch nach versteckter Elektronik ab. Als er feststellte, daß Calhoun sauber war, änderte sich Hollys Stimmung. Die Feindseligkeit verschwand, und nur Besorgnis und Angst blieben. Die beiden Männer setzten sich wieder und sahen einander an. »Eddie rief mich aus Manhattan South an«, begann Holly. »Am Abend vor der Schießerei?« »Ja, er wollte, daß ich mitkomme.« Holly blickte in der Erinnerung wie in weite Ferne. Calhoun musterte ihn und erkannte, daß er sich Vorwürfe machte, weil er seinen Partner im Stich gelassen hatte. »Sie sind nicht mitgegangen. Sie haben das Richtige getan«, sagte Kevin mit echtem Mitgefühl. »So ist es, ich bin nicht mitgegangen. Er hatte ohne Schatten dort oben nichts zu suchen. Der Schatten hätte ich sein sollen. Plus ein Haufen Jungs zur Unterstützung.« Holly schwieg, erlebte noch einmal seinen Alptraum und fuhr dann fort: »Aber Eddie war so ein Hitzkopf… der 191
Typ, der sich nie abkühlt; er wollte einfach nicht lockerlassen.« »Was? Was hatte Eddie herausgefunden?« »Es gab einen anderen Bericht zur Prüfung auf Bewährung. Danach hätte Tino Zapatti zehn bis zwanzig Jahre gekriegt.« Holly sprach zögernd; er wußte, welche Konsequenzen seine Worte hatten. »Was passierte damit?« fragte Calhoun überrascht. »Ich weiß es nicht.« »Wer schrieb den Bericht?« drängte Calhoun. Hollys Augen waren feucht, und er sagte wie im Selbstgespräch: »Ich habe dieses alte Boot. Das werde ich verkaufen. Ich werde das Geld Eddies Kindern geben.« Calhoun hatte Mitleid mit diesem gebrochenen Mann. »Behalten Sie das Boot, Holly, es ist gut für Sie«, sagte er sanft. Calhoun ging zur Tür. Holly rief ihm nach: »Mr. Calhoun!« »Ja?« »Der Bewährungshelfer…« Holly getraute sich nicht, weiterzusprechen. »Name?« Calhoun sah ihn aufmunternd an. »James Wakely«, sagte Holly zögernd. »Aber Sie werden ihn nicht in der Leonhard Street finden.« »Wo ist er?« »Im Norden. Dort arbeitet er jetzt.« Ohne Warnung, nach einem wohlüberlegten Trinkgeld für den Mann von der Pressestelle in Raum neun der City Hall, tauchte Mrs. Santos mit verschleiertem Gesicht und schwarzer Trauerkleidung auf der Treppe des Brooklyner 192
Gerichtsgebäudes neben Mr. Bone auf. Ohne jede Zeremonie heftete sie ihm Eddies Dienstmarke und seinen Silver Star von Vietnam an. »Eddie würde wünschen, daß Sie dies bekommen«, sagte Elaine schlicht. »Sie haben einen Sohn verloren, ich einen Mann. Wir sind kleine Leute.« Tränen rannen über ihre Wangen. Sie lehnte sich an Bone, um sich zu stützen, und aus dieser Haltung heraus blickte sie in die Fernsehkameras. »Wir sind beide Opfer der hohen Tiere, Opfer ihrer Politik, Korruption und Vertuscherei.« Die überraschten Fotografen baten Elaine, ihre Geste zu wiederholen. Sie versicherten ihr, daß dieses Foto auf der Titelseite jeder Zeitung erscheinen würde, Mrs. Santos heftete Mr. Bone noch einmal mit gleicher Dramatik Dienstmarke und Medaille an die Brust, bekreuzigte sich für die Abendnachrichten und verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war. Die verwitterten Mauern und Türme der Strafvollzugsanstalt Attica ragten trist und bedrohlich aus der grünen Umgebung. Nachdem das riesige Gefängnis Ende der 70er Jahre während der Aufstände von nationaler Prominenz besucht worden war, hatte man es wieder vergessen. Als die Medienvertreter fort gewesen waren, hatten die Wärter in aller Stille und manchmal brutal mit den Gefangenen abgerechnet. Gleichzeitig hatten die Behörden strukturelle Veränderungen eingeleitet, Vorschriften erlassen und Maßnahmen getroffen, die sicherstellen sollten, daß nie wieder ein Gefangenenaufstand stattfinden würde. Zorn und Frustration waren in Atticas Wände gesickert und hatten das Gefängnis mit Bösartigkeit und Verbitterung erfüllt, während Tausende Männer in aufeinanderfolgenden Generationen gezwungen waren, ihren Stolz und Zorn hinunterzuschlucken. 193
Das System in Attica hielt nichts von spontanen Besuchern; und VIP-Besucher hieß es noch weniger willkommen. Der Vizebürgermeister der Stadt New York und die Anwältin der Detective’s Endowment Association mußten deshalb fast eine Stunde in einem spärlich eingerichteten Empfangsraum warten, bis schließlich ein stellvertretender Direktor auftauchte und sie abschätzte. Es änderte nichts, daß sie ein Mitglied des Personals anstelle eines Gefangenen sprechen wollten; Außenseiter bedeuteten Ärger, ganz gleich wen sie zu sehen wünschten. Der stellvertretende Direktor brauchte fast eine weitere Stunde, um den Angestellten ausfindig zu machen und ein Treffen zu arrangieren. Schließlich traf ein Wärter ein und führte sie über eine Reihe langer Gänge mit Doppeltüren an jedem Ende. Die ersten beiden Türen öffnete der Wärter mit Schlüsseln, die nächsten beiden wurden elektronisch kontrolliert und nur nach Gesichtskontrolle von Wärtern geöffnet, die durch Fenster mit kugelsicherem Glas schauten. Schließlich gelangten sie an eine große und frisch gestrichene Eisentür mit einer Schalttafel in der Wand daneben. Der Wärter tippte auf fünf Tasten, und ein lautes Klicken hallte vom Betonboden wider. Der Wärter öffnete die Tür und forderte Kevin und Marybeth mit einer Geste auf, einzutreten. Sie betraten einen großen Raum, der von einem hohen Holztisch mit polierter Platte beherrscht wurde, der von einem halben Dutzend Holzstühlen mit Ledersitz umgeben war. Ein dicker grüner Teppich bedeckte den Boden von Wand zu Wand. Am fernen Ende des Raumes hing in einer Ecke ein Sternenbanner und in der anderen die Flagge des Staates New York. An der Wand zwischen den Fahnen hingen große gerahmte Fotos, die den Präsidenten und den Gouverneur zeigten. 194
Der junge Wärter sprach zum erstenmal mit ihnen. »Dies ist der Besuchsraum für VIPs«, sagte er mit einer Spur Ehrfurcht in der Stimme. »Wird nicht sehr oft benutzt«, fügte er entschuldigend hinzu, als er mit dem Finger durch die Staubschicht auf dem Tisch strich. »Nehmen Sie bitte Platz. Mr. Wakely sollte bald hier sein.« Kevin und Marybeth setzten sich an den großen Tisch. Die Geräusche des Gefängnislebens drangen nicht in diesen Raum. Nur die gedämpften Laute der gewaltigen Heizanlage und das Summen kilometerlanger Versorgungsrohre durchbrachen die Stille. Plötzlich wurde die Tür am fernen Ende des Raums geöffnet, und ein kleiner, nachlässig gekleideter Mann humpelte herein. »Ich habe euch Leuten gesagt, daß ihr nicht herkommen sollt«, sagte er ärgerlich, als er sich näherte. Er ignorierte Kevins ausgestreckte Hand. »Sie haben eine lange Fahrt für nichts und wieder nichts gemacht.« Marybeth betrachtete ihn kühl. »Ich hoffe für Sie, daß das nicht stimmt, Mr. Wakely. Denn wenn Sie uns die Wahrheit nicht jetzt sagen können, dann werden Sie unter Eid im Zeugenstand aussagen müssen.« Wakelys zog die Augenbrauen hoch und blickte kurz zu Calhoun. »Wollen Sie einem hohen Tier die Eier warm halten, Miss?« grinste er höhnisch. »Nein, danke«, fuhr Marybeth ihn an. »Ich komme gut ohne zurecht. Wollen Sie eine Vorladung bekommen, oder können wir weitermachen?« Wakely blieb einen Augenblick lang starr stehen. Dann setzte er sich auf der anderen Seite an den Tisch. Er sagte nichts, doch seine hängenden Schultern verrieten, daß er seine gespielte Lässigkeit verloren hatte. 195
»Was brachte Sie hier rauf, Mr. Wakely?« fragte Calhoun freundlich. Wakely ergriff die Rettungsleine und antwortete Calhoun. »Der Job, natürlich. Bewährungshelfer des Staates New York. Bessere Bezahlung, bessere Pension.« Es klang sarkastisch. »Schönere Umgebung«, fügte Marybeth hinzu. Entweder entging Wakely die Ironie, oder er entschied sich, sie zu ignorieren. »Meinen Sie?« fragte er mit schiefem Lächeln. »Was geschah mit Tino Zapatti?« fragte Calhoun offen heraus. »Er ist tot, nicht wahr?« antwortete Wakely mit einer Gegenfrage. »Ich meine, vor zwei Jahren«, sagte Calhoun ernst. Der Bewährungshelfer seufzte und knetete seine Hände. »Man könnte sagen, daß er Bewährung bekam, aber ich sitze seine Strafe ab«, sagte Wakely mit einem freudlosen Lachen. Dann wurde er todernst. »Als ich wegen der Bewährung protestierte, machte Schwartzie klar, daß ich, sofern ich nicht die Abteilung verlasse, als chronischer Nörgler abgestempelt und die Kündigung erhalten würde. Ich war geschockt. Und sauer. Ich war jung und idealistisch, und wollte mir solche Drohungen nicht gefallen lassen. Ich sagte, okay, dann gehe ich mit meinem Bericht an die Öffentlichkeit. Daraufhin erhielt ich Besuch von dem Kerl.« »Wer war das?« fragte Marybeth gespannt. »Nur ein Klugscheißer, Miss, seinen Namen nannte er mir nicht. Er tauchte in meinem Büro im sechsten Stock in der Leonard Street auf. Er war sehr zuvorkommend.« Wakely grinste ironisch. »Er sagte, er könne mir einen 196
besseren Weg als mit dem Aufzug aus meinem Büro zeigen, und er warf einen bezeichnenden Blick aus meinem Fenster, um seine Worte zu unterstreichen. So sagte ich mir, daß ich meine Position vielleicht überdenken sollte. Schwartzie half mir, diesen Job zu bekommen, und hier ist mein Büro im Erdgeschoß«, schloß Wakely mit bitterer Resignation. Das Justizsystem hatte ihn zum Opfer gemacht. »Welche Strafe haben Sie empfohlen?« fragte Calhoun. »Zehn bis zwanzig Jahre«, antwortete Wakely. »Es gab keine andere Möglichkeit, wenn Sie das Strafregister lesen. Zapatti wurde geschnappt, als er Drogen an Kinder auf einem Schulhof verkaufte. Er tat es nicht mal selbst, sondern ließ Kinder für sich dealen. Und es ist kaum zu glauben, aber er hatte auch noch eine geladene Waffe von einer vorherigen Schießerei in seinem Wagen. All das fiel im zweiten Bericht weg.« »Im zweiten Bericht?« wiederholte Marybeth. »Sie meinen, der gute Bericht, den der Richter benutzte, stammte nicht von Ihnen?« fragte Calhoun. »Muß ein Bericht gut sein, um zu stimmen?« sagte Wakely verächtlich. »Als ich den anderen Bericht sah, fiel ich fast um.« »Wer hat ihn geschrieben?« fragte Calhoun. »Wer hat das veranlaßt?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Wakely. »Sie haben nicht gefragt?« Marybeth blickte ihn skeptisch an. »So ist es, ich habe nicht gefragt«, erwiderte Wakely. »Als ich den Drang verspürte, aufs Land zu ziehen, vergaß ich glatt alle Fragen. Ich war zu beschäftigt, zu packen und mein Büro im sechsten Stock zu verlassen, 197
bevor mein früherer Besucher mir dabei geholfen hätte.« »Sie müssen einen Verdacht haben«, setzte Marybeth nach. »Miss, ich habe eine Familie, ich habe eine Pension zu erwarten und ich habe Rheuma. Das einzige, was ich nicht habe, ist ein Verdacht. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Sie sollten lieber gehen. Mein Rheuma sagt mir, daß es Schnee gibt. Sie sollten sich beeilen. Attica wird ziemlich schnell eingeschneit, und keiner sollte hier mehr Zeit verbringen als unbedingt nötig.« Ohne einen Händedruck oder ein Abschiedswort schob Wakely abrupt seinen Stuhl zurück, drückte eine Hand gegen seinen schmerzenden Rücken und schlurfte davon. Er ging durch eine Reihe von Eisentüren, die er geräuschvoll hinter sich abschloß. Kurz darauf kehrte der junge Wärter zurück, um Kevin und Marybeth zurück in die Freiheit zu führen. Wakelys Rheuma erwies sich als eine zuverlässige Wettervorhersage. Der Amtrak-Zug, in den Marybeth und Kevin in Buffalo stiegen, kämpfte sich langsam einen Weg durch einen heftigen Schneesturm, bis er an einer winzigen Station in Floyd, New York, hielt. Die Passagiere konnten entweder im Zug sitzen bleiben oder über einen schmalen, etwa zweihundert Meter langen Pfad durch den Schnee in das warme und erhellte Gasthaus von Floyd gehen. Ein älterer, korpulenter Schaffner stellte seine Laterne auf dem Bahnsteig ab, beantwortete Fragen von Fahrgästen und bot Hilfe an. »Wie lange bleiben wir hier?« fragte Calhoun. »Ungefähr eine Stunde, aber es kann auch länger werden«, antwortete der Eisenbahner mit dem Gleichmut, 198
der von ständiger Erfahrung mit Kräften kommt, gegen die man nichts ausrichten kann. »Eine Stunde?« Marybeth blickte deprimiert zu Kevin. »Sie wollen doch nicht in einem Tunnel ersticken, oder? Ein paar Kilometer voraus wird der Zugang zu einem freigegraben; erfreuen Sie sich unterdessen an dem Schnee«, sagte der Schaffner mit der leichten Resignation, die wohl die vernünftigste Reaktion auf die Launen von Mutter Natur war. »Ich habe Hunger. Schnee kann man nicht essen, jedenfalls werde ich nicht satt davon«, sagte Calhoun. »Gehen Sie dort drüben in das Gasthaus.« »Ist das gut?« fragte Marybeth. »Das war es in der vergangenen Woche, als wir eingeschneit waren«, sagte der Eisenbahner mit einem wissenden Lächeln. Eine freundliche Kellnerin, daran gewöhnt, beruhigend mit Gästen umzugehen, die sich wegen des Zwangsaufenthalts ärgerten, nahm die Bestellung auf. »Ich nehme einen Hamburger, Fritten und Coke«, sagte Marybeth, nachdem sie in der Speisekarte geblättert hatte. »Ich nehme den Zitronenpudding. Alles zum Mitnehmen«, erklärte Calhoun. »Wird erledigt«, sagte die Kellnerin mit herzlichem Lächeln. »Diese Leute sind so entspannt. Vielleicht liegt das an dem Dorfleben«, sagte Marybeth mit einem Anflug von Selbstironie: Sie selbst war höchst angespannt. »Mein Vater ist Archäologe und verbringt viel Zeit mit Ausgrabungen im Niemandsland«, sagte Kevin nachdenklich. »Er sagt immer, er wacht lieber neben der Straße in einem Schlafsack auf als in irgendeiner Stadt. 199
Einsamkeit in der Natur ist etwas ganz Besonderes, wenn man im Einklang mit sich selbst ist. Haben Sie sich jemals gefragt, weshalb wir in New York immer in Eile sind?« »Wir können auf das Leben der Leute in New York einwirken. Ganz gewiß können wir es für Eddie Santos’ Familie ändern. Jetzt haben wir Wakely gefunden, können Santos’ Namen reinwaschen und den Angehörigen zu der Pension verhelfen«, sagte Marybeth zufrieden. »Halt, nicht so schnell. Wir müssen Wakely auf Eis legen, bis wir diesen Bericht in die Hände bekommen«, erwiderte Calhoun und wies damit darauf hin, daß er ein größeres Programm hatte als nur der Familie Santos zu helfen. »Den Bericht brauchen wir nicht. Wir brauchen nur Hollys und Wakelys Aussage«, sagte Marybeth. »Das ist alles, was Sie brauchen«, erwiderte Calhoun, besessen von einem Ziel, von dem er sich nicht abbringen lassen wollte. »Ich muß an diesen Bericht herankommen, sehen, was darin steht, wohin es führt. Wenn wir Wakelys Aussage jetzt nutzen, werden einige interessierte Parteien sofort Dinge im Reißwolf verschwinden lassen.« »Und wie lange wird es dauern, bis Sie an den Bericht herankommen? Drei Monate? Ein halbes Jahr? Ein Jahr?« »Es wird nicht von heute auf morgen gehen. John Pappas ist auf dem Weg zum Weißen Haus, und es ist mein Job, sicherzustellen, daß keine Steine auf diesem Weg liegen.« Marybeth musterte ihn befremdet, als hätte er etwas Vulgäres gesagt. Sie konnte nicht verstehen, daß Ehrgeiz seine Gefühle für eine Familie mit großen Problemen übertraf. »Wie nobel von Ihnen. Und während Sie Ihren Chef unterstützen, soll Elaine zusehen, wie sie ihre Kinder 200
ernährt und kleidet, wie?« Marybeth hatte die Stimme erhoben. Ihre Blicke trafen sich für einen bedeutungsschweren Moment, als ihnen klar wurde, daß sie unterschiedliche Interessen hatten: Marybeth konzentrierte sich darauf, einer Person zu helfen, und zwar schnell, und Kevin hingegen war besessen von dem Ziel, das System zu säubern, mehr Moral hineinzubringen. »Es tut mir leid, wirklich«, sagte er sanft, aber ohne einen Rückzieher zu machen. »Ja, ich bin überzeugt, daß es Ihnen leid tut. Und was ist, wenn James Wakely es für gesünder hält zu verschwinden, während Sie Detektiv spielen? Dann haben wir nichts.« Marybeth ärgerte sich, weil er bereit war, russisches Roulett mit Elaine Santos’ Leben zu spielen. »Angenommen, im nächsten Monat gibt es eine andere Elaine Santos und einen Monat später noch eine. Und Monat um Monat trauern Witwen und Kinder von Polizisten an Särgen, sehnen sich nach ihren Ehemännern und Vätern, und was ist mit ihnen? Sie sind tot. Warum? Wir wissen es nicht, weil wir den Dingen nicht auf den Grund gegangen sind. Eddie Santos’ Pension zu verlieren, ist ein Risiko, das wir eingehen müssen, wenn wir die Wahrheit ausgraben wollen! Dies geschah nicht zufällig. Wir sind auf eine große Sache gestoßen. Schwartz hätte nicht ohne Schutz und Unterstützung gehandelt. Vielleicht war Anselmo der Organisator.« Calhoun war von einer Mischung aus Genugtuung und Aufregung erfüllt. »Ich brauche Sie nicht, um Wakelys Aussage zu bekommen«, kam Marybeth auf ihre Verpflichtung gegenüber ihrer Mandantin zurück. Dann fuhr sie ruhiger fort: »Sie sind wütend, weil Anselmo Sie bei BancExchange ausmanövriert hat. Bosse existieren, weil Politiker jemanden brauchen, der die Kuh schlachtet, 201
damit sie Steaks essen können. Kevin, es ist eine Gabe, zu wissen, wann man es bei etwas bewenden lassen sollte. Ihre Dämonen treiben Sie in eine Sackgasse.« »Sehen Sie, nur weil es zwei Berichte gibt, erklärte das nicht die vierzigtausend Dollar. Ich denke nicht, daß Eddie Santos Dreck am Stecken hatte, aber wenn Sie auf eigene Faust mit Wakely sprechen, garantiere ich Ihnen, daß Ihnen das Büro des Bürgermeisters jede Menge Scherereien machen wird. Und das wird nicht sehr angenehm.« »Sie sind ein gemeiner Kerl, wissen Sie das?« »In der City Hall ist das ein Kompliment«, erwiderte er grinsend. Marybeth hatte genug von Calhouns Unmenschlichkeit. Als sie aufstand, um zu gehen, wurde ihm klar, daß sie ihn nicht verstand, und er drängte sie zu bleiben. »Warten Sie bitte.« »Weshalb? Um mir Ihre Ambitionen anzuhören? Wie Sie sich an John Pappas’ Rockschoß klammern?« fragte sie heftig. »Hamburger, Fritten, Coke und Zitronenpudding«, kündigte die Kellnerin an. »Ich nehme das. Der Bürgermeisterjunge bekommt den Zitronenpudding.« Marybeth schnappte sich ihren Beutel und marschierte hinaus in den Schnee. Calhoun schaute ihr durchs Fenster nach, als sie zum Zug ging, und nahm dann von der Kellnerin den anderen Beutel entgegen. Calhoun öffnete die Styroporverpackung und wollte den Zitronenpudding kosten. Doch dann stand er plötzlich auf. Er ging zum Münzfernsprecher und zog einen Notizzettel zu Rate, auf den Abe Namen und Telefonnummern 202
geschrieben hatte. ›Lawrence Schwartz, Abteilung Bewährungsstrafen, Leiter.‹ Daneben standen die Telefonnummern vom Büro und vom Privatanschluß, und er wählte hastig. »Hallo?« meldete sich Schwartz. »Mr. Schwartz? Kevin Calhoun. Ich habe soeben mit einem Freund von Ihnen gesprochen, mit einem Mr. Wakely.« Vom Zug her ertönte ein lauter Pfiff, der die Passagiere aufforderte, einzusteigen. Das Gespräch mit Schwartz war rasch beendet, und Kevin eilte aus dem Gasthaus. Bürgermeister Pappas haßte das beklemmende Gefühl, belagert zu werden, sich mit Krisen zu befassen, statt positive Veränderungen zu schaffen, und so war ihm die Gelegenheit besonders willkommen, vor jungen Leuten der Columbia University zu Ehren des neu ernannten Rektors zu sprechen. Die Lichter des Campus waren wie eine geheimnisvolle Einladung durch das Schneetreiben auf dem Universitätsgelände. Bürgermeister Pappas stieg aus der Limousine, die auf der Kopfsteinpflasterstraße in der Mitte des Campus stoppte, und eilte seinen Leibwächtern voraus durch das Schneegestöber und die Treppe hinauf in den gewaltigen Rundbau der Universität. Tausend junge Studenten applaudierten dem Bürgermeister, während sie seine Persönlichkeit zu ergründen versuchten, die vielleicht ein Vorbild für sie sein konnte. Rektor Ruff führte ihn auf das Podium und beobachtete bewundernd, wie der Bürgermeister buchstäblich Energie aus seinem sehr aufnahmefähigen Publikum schöpfte, lebhaft auf dem Podium hin und her ging, winkte und in alle Richtungen lächelte. Nach Begrüßungen und einleitenden Worten ging 203
Bürgermeister Pappas begeistert auf das Wesentliche seiner Botschaft ein. »Nichts in meinem Leben hat mir mehr Schmerz verursacht, als mich über meine persönlichen Ansichten, was richtig ist, hinwegzusetzen, um zu tun, was richtig für die Bürger ist. Und es war gefährlich, weil die Bürger letztendlich einen Mann der Öffentlichkeit nicht nach seinen Absichten messen, sondern nach den unversöhnlichen Regeln individueller Moral. Dennoch blieb ich im öffentlichen Leben in der Hoffnung, daß sich andere meinen Anstrengungen anschließen, die helfen können, Veränderungen möglich zu machen. Wer sind diese anderen? Sie! Denn wenn die Leute in mein Alter kommen, sind viele von uns zu betäubt durch Gewohnheit, Materialismus, familiäre Verpflichtungen und Furcht, den Opfern des Dienstes an der Öffentlichkeit nicht gewachsen zu sein. Ich weiß, daß viele von Ihnen hart arbeiten, um ihr Examen in Betriebswirtschaft, Medizin, Jura und anderen Gebieten zu schaffen, die zu finanzieller Belohnung führen. Aber Sie sind zu jung, um sich mit einem Leben abzufinden, das sich seit Jahrzehnten wiederholt. Spielen Sie nicht mit dem Leben, geben Sie nicht vor, glücklich auf der Überholspur zu sein, während das Leben an Ihnen vorbeizieht. Die Jugend ist eine Zeit der Rastlosigkeit, der Aktion und des Kämpfens. Das Gefühl zu leben macht das Leben lebenswert, besonders wenn die Kraft aus der Hilfe für andere kommt. So bitte ich Sie, den Materialismus beiseite zu schieben und sich an dem Kampf zu beteiligen, denn die unruhigen Wasser des Dienstes an der Öffentlichkeit stehen im Einklang mit Ihrer jetzigen Lebenskraft. Tennessee Williams erklärte es so, frei wiedergegeben: Das Herz eines Menschen, sein Körper und sein Geist, 204
werden in einem rotglühenden Ofen zum Zweck des Konfliktes geschmiedet… und wenn der Konflikt ausgeräumt ist, wird der Mensch zu einem Schwert, das Gänseblümchen schneidet… nicht Entbehrung ist der Wolf an der Tür, sondern Luxus. Sie können die Energie für Politiker wie mich sein; das Gewissen, das uns den Spiegel vors Gesicht hält; das Wissen, das Entwicklungsmöglichkeiten und eine bessere Zukunft bringt. Ich bitte Sie alle, sich einem Salut auf dem Kampf, einem Salut auf das Leben, einem Salut für den Dienst an der Öffentlichkeit anzuschließen.« Das junge Publikum sprang auf und spendete begeistert Beifall. Der Bürgermeister applaudierte seinerseits den Studenten. Er wirkte wie mit Energie aufgeladen, von neuem Engagement erfüllt, als er das Podium verließ und sich zwanglos unter die Studenten mischte. Die dicke Schneeschicht war naß geworden und zu Eis gefroren, und das zwang Richter Stern und seine Frau, im luxuriösen Haus ihres Sohnes am Stadtrand zu übernachten. Keinem machte das etwas aus, denn Richter Stern hatte anscheinend riesige Freude, mit seinen Enkeln zu spielen und vorübergehend sein Martyrium zu vergessen. Mrs. Stern schaute aus dem großen Panoramafenster und sah schockiert einen durchnäßten Schwarzen, der unerschütterlich auf dem Bürgersteig stand und zum Haus starrte. »O Gott, er ist hier! Walter, sorge dafür, daß er uns in Frieden läßt!« Mrs. Sterns Worte klangen wie ein Aufschrei. »Bone hat keinen mehr außer uns«, gab Richter Stern leise zurück. Richter Stern nahm einen großen schwarzen 205
Regenschirm und ging zur Tür. »Dad, laß mich mitgehen«, bat sein Sohn. »Ich muß allein mit ihm reden«, erwiderte Richter Stern entschlossen. Seine Familie beobachtete ihn gebannt durch das Fenster, als Walter Stern mit dem Schirm in der Hand den schneebedeckten Vorgarten durchquerte. Er stellte sich seinem Ankläger, einer lebenden Leiche. Richter Stern öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er brachte kein Wort heraus. Er drückte Bone den Schirm in die Hand und wollte stumm und nachdenklich ins Haus zurückkehren, als Edgar Bone sein Schweigen brach. »Auf Wiedersehen, Euer Ehren«, sagte er in äußerst respektvollem Tonfall. Richter Stern kehrte niedergeschlagen ins Haus seines Sohnes zurück, ein besiegter Mann am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Seine Frau eilte zu ihm, umarmte ihn weinend und klammerte sich verzweifelt an ihn. »Hast du ihm die Dinge erklärt, Walter?« fragte sie. »Ich wollte es, aber ich konnte es nicht. Was kann ich dieser zerstörten Seele erklären? ›Mr. Bone, ich wollte nicht durch Bestechung Richter werden‹?« Er verstummte wie um über seine Sünde nachzudenken. Dann sprach er weiter, und seine Stimme verriet Abscheu über sich selbst. »›Zu dieser Zeit war es scheinbar in Ordnung, denn jeder im Establishment wußte, daß das System so war, und drückte ein Auge zu. Doch bei Tageslicht sah es sehr schlecht aus. Ich wurde erpreßt, um den Zapatti-Fall zu manipulieren. Ich ließ mich von ihnen überzeugen, daß meine Werte nicht zu der Welt paßten, in der ich war… weil es bequem war, meine Haut zu retten. Ich wußte, daß Tino ein bösartiges Tier war, aber ich 206
konnte nicht ahnen, daß er Ihren Robby töten würde. Sie können keine Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt erwarten… es war ein kleiner Fehler, bitte verzeihen Sie mir… Wir müssen die Welt nehmen, wie sie ist… nicht wahr, Mr. Bone? Tut mir leid, daß Sie ein Opfer sind.‹« Mrs. Stern wurde hysterisch. »Walter… hör auf! Was sagst du da?« schrie sie. »Dad, was wirst du unternehmen?« fragte der Sohn sachlicher, obwohl er ebenfalls schockiert war. »Ich kann nicht schlafen; ich kann nicht essen; ich kann nicht gerade gehen, nicht lächeln; ich kann mich nicht mal in Frieden an meinen Enkeln erfreuen. Es gibt nur eines, was ich tun kann… zu dem zurückkehren, an das ich glaube… das Gesetz.« Seine Frau, der Sohn und die Enkel umarmten Walter Stern liebevoll in dem Wissen, daß er ein guter Mann war, der von einer verkommenen Welt zugrunde gerichtet worden war. Larry Schwartz verließ eilig das Mietshaus in Stuyvesant Town, in dem er wohnte. Als er durch den Schnee über die Avenue C ging, schaute er nervös überall hin, nur nicht vor sich. Sein Fuß verfing sich in einem Schneehaufen, und er stolperte und stürzte. Ein bräunliches Kuvert rutschte ihm aus der Hand. Schwartz kroch auf allen vieren durch den Schnee, um es sofort aufzuheben. Er rappelte sich auf, vergaß in seiner Aufregung, Schnee von sich abzuklopfen, und eilte weiter bis zu einem Münzfernsprecher neben einem koreanischen Lebensmittelladen an der Ecke 18th Street und Avenue C. Er zögerte, ging an dem Fernsprecher vorbei, machte schließlich kehrt, ging mit schnellen Schritten zu dem Fernsprecher zurück, warf eine Münze ein und wählte. 207
Kevin erwachte vom Klingeln des Telefons. Er nahm den Hörer ab und meldete sich schläfrig. »Calhoun.« »Ich habe den Bericht! Kommen Sie hinter den koreanischen Laden an der 18th und C«, sprudelte er hervor. »Schwartz?« fragte Calhoun. »Ich habe den verdammten Bericht. Nehmen Sie ihn mir ab«, bettelte er mit zitternder Stimme. Ein Mann mit langem Trenchcoat stieg auf der Beifahrerseite aus einem schwarzen Wagen, der am Straßenrand vor dem Lebensmittelladen stand. Schwartz hörte das Rascheln einer Papiertüte in der Hand des Mannes, der neben ihm auftauchte, wandte sich um, und seine Augen wurden groß wie halbe Dollars, als der Killer eine Kugel durch die braune Papiertüte in sein Gehirn schoß. Der Vollstrecker riß das Kuvert mit dem Bericht aus der Hand seines Opfers und kehrte langsam zu dem schwarzen Wagen zurück, während das Blut des Toten den Schnee färbte. Calhoun preßte den Hörer ans Ohr, lauschte angespannt – betete, etwas zu hören, irgend etwas, bis die Sekunden der Stille zu Minuten wurden. »Schwartz… Schwartz…« Kevin schrie den Namen, bis er etwas von den Gefühlen betäubte, die in ihm tobten. Langsam legte er den Hörer auf den Tisch, als ob diese behutsame Behandlung den Schmerz irgendwie lindern konnte, den Lawrence Schwartz vielleicht immer noch erlitt. Kevins Gedanken jagten sich. Im Unterbewußtsein analysierte er die Situation und kam plötzlich zu einer niederschmetternden Erkenntnis. Er schaltete das Licht aus. Dann schob er sich in seinem dunklen Arbeitszimmer in Greenwich Village mit dem 208
Rücken an der Wand entlang zum Fenster und spähte vorsichtig hinab auf die Straße. Ein schwarzer Wagen hatte soeben in der zweiten Reihe auf der anderen Straßenseite gegenüber dem Eingang des Gebäudes geparkt. Der Fahrer blieb hinter dem Steuer sitzen, während zwei große, stämmige Männer, einer mit einem langen Trenchcoat, der andere mit einem dunklen Parka mit hochgezogener Kapuze, aus dem Wagen stiegen, die Straße überquerten und auf den Eingang des Hauses zugingen, in dem er sich befand. Sie bewegten sich, als wüßten sie genau, wohin sie gingen und was sie wollten, schnell und zielstrebig, ohne nach links oder rechts zu blicken. Kevin spürte, wie seine Haut zu prickeln begann. Er hastete durch das vertraute Terrain seines dunklen Apartments, schnappte sich seinen Mantel und schlich leise auf den Gang hinaus. Die beleuchtete Anzeige des Aufzugs verriet ihm, daß die Männer auf dem Weg nach oben waren. Kevin rannte über den Gang zur Feuertreppe und erreichte sie, als die Aufzugtür aufglitt. Kevin empfand eine merkwürdig kontrollierte Panik, als er die Feuertreppe hinabhetzte. Er nahm immer drei Stufen auf einmal, benutzte das Geländer, um Schwung zu holen, und wirbelte immer schneller in die Richtung, in die ihn die Schwerkraft bereits zog. Zehn Stockwerke tiefer, in Höhe der obersten Parkebene, öffnete er vorsichtig die Tür und spähte in die Tiefgarage. Die Zementfläche war von Leuchtstofflampen hell beleuchtet und unheimlich still. Kevin schlich an der Wand entlang auf seinen parkenden Wagen zu. Er verharrte angespannt, als er sah, daß der Aufzug im sechsten Stock war und abwärts fuhr. Er blickte sich schnell sichernd um, sprintete zu seinem Wagen, schloß ihn auf und warf sich auf den Fahrersitz. Als er den Schlüssel ins Zündschloß geschoben hatte, zögerte er, ihn herumzudrehen. Er starrte auf seine Hand, 209
während er vor seinem geistigen Auge Bilder von unzähligen Filmen sah, in denen mit Bomben präparierte Wagen in die Luft geflogen waren. Im Rückspiegel sah er, daß sich die Aufzugtür öffnete und die beiden großen Gestalten auftauchten. Es blieb keine Zeit mehr. Er drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang sofort an. Kevin gab Gas, und der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen an. Er glaubte Rufe hinter sich zu hören, als er über die gewundene Ausfahrt und auf die Straße hinausfuhr. Kevin blickte immer wieder besorgt in den Rückspiegel und atmete erleichtert auf, als kein Scheinwerferlicht hinter ihm auftauchte. Er tippte 02 in sein Autotelefon. Abes Frau gab ihm die Telefonnummer, unter der ihr Mann erreicht werden konnte, und Kevin wählte sie sofort. Während des kurzen Gesprächs beschrieb er die Lage und fädelte sich auf die Spur ein, die auf die Zufahrt zur Brooklyn Bridge führte. Das hell erleuchtete The Famous, Brooklyns legendäres Delikatessengeschäft an der 13th Avenue, kam Kevin wie der schönste Anblick vor, den er je gesehen hatte. Selbst draußen spürte er, daß ihm in diesem Geschäft nichts passieren konnte, weil es von Leben erfüllt war – von so viel normalem, geschäftigem, geräuschvollem Leben. Wagen parkten in Doppelreihe überall in der Nähe des Geschäfts, jedoch nicht bei dem Hydranten vor dem Eingang. Kevin stellte den Wagen auf dem Bürgersteig beim Hydranten ab und sprintete in das Geschäft. Die hektische Aktivität und das Stimmengewirr im The Famous beruhigten Kevin etwas. Leute mit Straßen- und Jogginganzügen, mit Designer- und Arbeitshemden – The Famous war für jeden da, teils Labyrinth, teils Mosaik. Kevin brauchte einen Moment, bis er die Gestalt erkannte, die bei einer Tasse Kaffee am ersten Tisch saß. Er atmete erleichtert auf und begrüßte George, den Detective der 210
Intelligence Unit und Leiter der Sicherheitsabteilung des Bürgermeisters. »Mein Gott, George«, stieß Kevin hervor, »ich weiß nicht, ob ich mich bei Ihrem Anblick völlig sicher fühle oder eine Heidenangst habe.« George lächelte, doch sein Tonfall war sehr ernst. »Abe rief mich an. Ich denke, wir müssen davon ausgehen, daß diese Sache so ernst ist, wie es aussieht. So rief ich Miss Cogan an. Warnte sie. Keine Sorge, wir halten rund um die Uhr ein Auge auf sie. Abe ist hinten im Laden. Gehen Sie hin, wir haben alles im Griff. Dies ist der einzige Eingang. Die Hintertür ist abgeschlossen.« Kevin lächelte schwach, als er Abe an einem Tisch hinten im Geschäft Binokel spielen sah. Abe überreichte seine Karten dem Kellner, der über seine Schulter kiebitzte. »Hier, Morty, du hast dich dein ganzes Leben lang auf diesen Moment vorbereitet«, scherzte er. Abe und Kevin gingen in eine Ecke der Küche, und Abe bat den Koch, sie ein paar Minuten lang allein zu lassen. Als Abe Kevins Anspannung bemerkte, legte er ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. »Schwartz ist tot«, platzte es aus Kevin heraus. »Sprich leise«, mahnte Abe. »Um Himmels willen«, fuhr Kevin im Flüsterton fort, »der mitleiderregende kleine Schwartz. Tot. Und der Mob ist hinter Marybeth und mir her. Was sollen wir tun?« »Reißen Sie sich zusammen, Kevin«, sagte Abe. »Wir können gar nichts tun, wenn Sie sich nicht in den Griff bekommen.« Aber Calhoun war im Augenblick nicht zu beruhigen. »Sie wußten es an dem Tag, an dem wir den Bericht 211
sahen, nicht wahr, Abe?« sagte er anklagend. »Sie hatten recht. Sie sagten, er sei nicht koscher. Und es stellte sich heraus, daß es einen anderen Bericht gab… einen anderen Bewährungsbericht. Warum haben Sie nicht eher Alarm geschlagen?« »Ich war mir nicht sicher«, sagte Abe ruhig. »Es war nur so ein Gefühl.« »Nun, jetzt ist es eine Tatsache«, zischte Kevin. »Hatten Sie es auch im Gefühl, daß am Ende fünf Leute tot sein würden? Und vielleicht sterben noch mehr. Und Walter Stern mit seinem weißen Haar und den perfekten Zähnen, den teuren Anzügen und seinem Yale-Studium ist ein krummer Hund. Wohin führt uns das alles, Abe?« »Ich weiß es nicht«, bekannte Abe. »Aber wir müssen weitermachen.« »Das ist das Problem, verstehen Sie denn nicht?« Als Abe diesmal beruhigend eine Hand auf seinen Arm legte, klammerte sich Kevin an seinem Arm fest. »Helfen Sie mir, Abe.« Aber Abe blieb nur stumm bei ihm sitzen, bis Kevins Aufregung und Anspannung nachließen. Schließlich erholte sich Kevin. »Danke, Abe«, sagte er, und lächelnd fügte er hinzu: »Hier ist ein neuer Spruch für dich: ›Das einzig Neue in der Welt ist die Geschichte, die man nicht kennt‹.« Abe nickte anerkennend. »Neues Testament?« »Nein, Harry Truman«, antwortete Kevin. Beide Männer lachten.
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20 Der Bürgermeister saß allein und in Gedanken versunken in seinem kleinen Arbeitszimmer, als Calhoun in Gracie Mansion eintraf. Die Sicherheitsabteilung hatte Pappas über die Ereignisse informiert, die zu Kevins Besuch geführt hatten, und zum erstenmal sah sein junger Stellvertreter die Spuren der Erschöpfung im Gesicht des Bürgermeisters. »Die Leichen häufen sich. Ich bin bereit, dafür zu sorgen, daß für eine Reihe von Leuten Haftbefehle erlassen werden.« Kevin Calhoun konnte seine Begeisterung nicht verbergen. »Was meinen Sie?« fügte er hinzu. »Walter Stern ist ein guter Mann«, antwortete der Bürgermeister melancholisch. Kevin wußte nicht, daß schmerzliche Erinnerungen an gute und schlechte Zeiten an dem Bürgermeister vorbeizogen. Politischer Tod konnte die Erinnerung nicht auslöschen. Einen Freund zu vernichten stand nicht auf John Pappas’ Programm, besonders keinen, der so viele Qualitäten wie Walter Stern hatte. »Ein guter? Fünf Leute sind tot«, sagte Calhoun schonungslos. »Ich weiß das. Was haben Sie vor?« Der Bürgermeister zeigte eine Müdigkeit, die Kevin bei diesem Mann, der sonst sogar unter den gräßlichsten Umständen gelassen blieb, nicht verstehen konnte. »Wir lassen diesen Kerl verdonnern, und Sie bringen sich aus der Schußlinie. Sie preisen Detective Santos, er bekommt posthum eine Medaille, und die Witwe erhält die 213
Pension«, sagte Kevin. Er schaute auf die Armbanduhr und fuhr drängend fort. »Wenn wir uns beeilen, kann Leslie dafür sorgen, daß es in den Morgenzeitungen erscheint.« »Sie haben alles gut ausgerechnet«, sagte Bürgermeister Pappas leise. »Ist das nicht mein Job?« Der Bürgermeister empfand eine Spur von Abscheu über den extremen Ehrgeiz seines jungen Stellvertreters. »Das ist kalt und gefühllos, Kevin.« John Pappas atmete tief durch, gewann wieder das Verhalten des Mentors und fügte hinzu: »Ist es nicht komplizierter?« Calhouns offenkundige Begeisterung schien angesichts der besorgten Reaktion des Bürgermeisters zu verfliegen. »Verzeihen Sie mir, ich wußte, daß Sie alte Freunde sind«, entschuldigte er sich für seinen Tonfall, blieb jedoch unerschütterlich in seiner Sicht der Dinge. »Seien Sie vorsichtig, wie Sie über Leute richten und vor allem über Freunde. Sie meinen, Sie können das Leben eines Mannes in einem Moment zusammenfassen?« sagte der Bürgermeister mit belegter Stimme. Und vor seinem geistigen Auge sah John Pappas, wie ein lieber Freund vom Gericht für einen nicht rückgängig zu machenden Fehler bestraft wurde, der im Widerspruch zu seinen guten Taten stand. »Es gibt keine kalten Antworten. Kein einfaches ›Ja‹ oder ›Nein‹. Das Leben eines Menschen sind nicht die Bausteine, es ist der Mörtel, Kevin, die Schichten, die dazwischen liegen.« Er schwieg nachdenklich und fügte dann hinzu: »Ich kenne Walter lange Zeit. Er ist ein guter Mann, ein Mann, auf den man sich verlassen kann. Nicht irgendein x-beliebiger Jurist, sondern eine wirkliche juristische Kapazität.« Der Bürgermeister versuchte nicht, 214
seinen Stellvertreter vom Handeln abzuhalten, sondern die private und öffentliche Tragödie zu erklären. »Aber dies ist hartes Zeug, Leichensack-Zeug. Sagen Sie mir, ob es eine andere Möglichkeit gibt.« Calhoun war überzeugt, daß es keine gab. Bürgermeister Pappas kämpfte seine Gefühle nieder und beugte sich der politischen Vernunft. »Es gibt keine. Machen Sie es nur schonend. Seien Sie gnädig. Walter Stern war hart, aber fair. Wir wollen genauso zu ihm sein.« Calhoun beendete schnell das Gespräch, um mit der Befriedigung des Siegers und voller Eifer für die Bestrafung von Richter Stern zu sorgen. Bürgermeister Pappas hielt ihn am Arm zurück und sagte mit tiefer Besorgnis: »Und seien Sie vorsichtig. Halten Sie George und Bobby immer bei sich.« »In Ordnung.« Calhoun eilte aus der Tür. Der Vizebürgermeister stürmte in das Amtszimmer des Richters, darauf vorbereitet, einen verstockten, leugnenden Walter Stern in die Mache zu nehmen, um die Wahrheit aus ihm herauszuholen. Statt dessen fand er einen einst stolzen Mann, der von Schuldgefühlen gepeinigt war und das Gefühl hatte, persönlich Robby Bone ermordet zu haben. In seiner Verzweiflung glaubte Stern, daß er nur eine Chance auf Erlösung hatte, wenn er eine Beichte ablegte und büßte. »Wenn ich nur aufgehört hätte, als ich Tinos seelenlose Augen in meinem Gerichtssaal sah, könnte Robby Bone noch leben«, sagte Richter Stern anstelle einer Begrüßung zu Calhoun. »Meine Frau fragte mich ›wie konntest du das wissen?‹«, fuhr er wehmütig fort, »aber ich hätte mit dem Unberechenbaren rechnen müssen. Als die Kugel den 215
Jungen traf, wußte ich, daß es weitergeht, daß sie nicht stoppt…« »Sondern weitere trifft?« »Ja, mich. Wenn sie mich nur zuerst getroffen hätte. Wenn ich in die Schußbahn hätte treten können.« Nach langem Schweigen fügte der Richter tonlos hinzu: »Bedauern klingt jämmerlich, nicht wahr?« »Wie ist es passiert?« drängte Calhoun. Sterns Lippen beten, und seine Augen waren feucht. »Ich wollte nur etwas Gutes tun. Ich war es leid, Anwalt für Weiße-Kragen-Kriminelle zu sein, die Schickeria der 80er Jahre, Umweltverschmutzer und Steuerbetrüger zu verteidigen. Ich wollte etwas für die Öffentlichkeit tun, normalen Leuten helfen. Und ich brauchte nur fünfzigtausend Dollar, um mein Leben zu ändern. In der Court Street gab es immer Bewerbungen für das Richteramt. Auch ohne Gegenkandidaten konnte ich das Richteramt bekommen, wenn ich fünfzigtausend in bar für einen Wahlkampf einzahlte. Ich fühlte mich geehrt; es waren viele andere, weniger fähige Leute mit fünfzigtausend dort, aber Anselmo nahm meine, denn mein Freund, der Bürgermeister, hatte ihm versichert, daß ich qualifiziert bin. Absurd, nicht wahr?« »Das passiert, wenn Politik das Verfahren pervertiert«, sagte Calhoun mitfühlend. Stern rieb sich über die Schläfen, wie um das Stigma der Schande wegzuwischen, und sagte: »Das Gesetz ist rein, dachte ich. Ich werde von hoch oben auf der Bank zu dem Gesetz zurückkehren. Aber um dorthin zu gelangen, bezahlte ich mit meinem Blut und einer braunen Papiertüte. Das war der Moment. Wie sollte ich die Tüte falten? Den oberen Teil herunterrollen, wie es meine Mutter tat, um mir darin ein Mortadellabrötchen zu einem 216
Basketball-Ausflug mitzugeben? Ah, wenn ich mich nur erinnert hätte, was meine Mutter mir gesagt hatte. Oder sollte ich die Tüte ordentlich falten? Oder vielleicht zusammenknüllen? Schließlich stopfte ich das Geld einfach in die Tüte und legte sie auf Anselmos Schreibtisch. Er lächelte und nannte mich ›Richter‹. Ich fühlte mich wie in einem Traum, aber ich überließ ihm das Geld. Deshalb machte ich bei dem zweiten Bewährungsbericht mit. Zuerst sagte ich bei Schwartz entschieden ›nein‹. Ich fragte, warum es keinen begleitenden Originalbericht gab, warum nur der vorliegende von Sachbearbeitern abgezeichnet war. Dann erzählte er mir, daß Anselmo Tino persönlich kannte, daß ihm Anselmo gesagt hatte, der Angeklagte sei ein guter Junge, der eine Chance verdiene, und gewisse Leute könnten sonst einen juristischen Skandal verursachen, indem sie eine Untersuchung provozieren, wie ich Richter geworden bin. Der Verstand kann einem Streiche spielen und einen dazu bringen, sich auf etwas einzulassen, obwohl man weiß, daß es völlig falsch ist, es einem aber den Schrecken öffentlicher Schande erspart. So spielte ich mit und war entschlossen, es kein zweites Mal zu tun. Doch ich hatte keine zweite Chance. Das hat mich fertiggemacht. Die Tüte für Anselmo war der Scheideweg, und als ich sie füllte, war ich auf der anderen Seite. Es gab keine Umkehr.« Stern sank in seinem Sessel zusammen, ein Bild der Verzweiflung und des Leidens. »Der Bürgermeister hat immer Hochachtung vor Ihnen gehabt, Richter«, sagte Calhoun zu dem gebrochenen Mann. »Und ich vor ihm«, erwiderte Stern, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. »Ihre Amtsniederlegung in sechs Monaten wäre angemessen«, sagte Calhoun mit ruhiger Stimme. 217
Richter Stern nahm die Hände vom Gesicht und sah Calhoun mit tränenfeuchten Augen an. »Sechs Monate, sagten Sie?« fragte er mit einem schwachen, schmerzlichen Lächeln. »Ja.« »Wie wäre es mit sechs Stunden?« sagte Stern, und der junge Vizebürgermeister sah, daß der Richter allen Lebensmut verlor. Zum erstenmal mußte Kevin Calhoun einen Preis für Reife bezahlen. Er verstand, was der Bürgermeister mit der privaten und öffentlichen Tragödie meinte, die er durch seine Entschlossenheit ausgelöst hatte. Er sah das Wrack eines im Grunde anständigen Menschen, der nur Gutes hatte tun wollen und viel Gutes hätte bewirken können. Im Büro des Bürgermeisters in der City Hall herrschte hektische Aktivität bei der Vorbereitung einer Pressekonferenz, bei der Fragen über Richter Sterns Amtsniederlegung und den Skandal in der Abteilung Bewährungsstrafen beantwortet werden sollten. Im Büro des Bürgermeisters war die Atmosphäre beunruhigend still. Pappas stand hinter seinem Schreibtisch und las den Entwurf eines Statements, während Calhoun in einem Sessel neben dem Schreibtisch saß und abwechselnd Pappas’ Übung und drei Fernsehschirme beobachtete, auf denen die wichtigsten Nachrichtenprogramme liefen. Der Ton war abgestellt, doch die gleichen unangenehmen Bilder waren auf jedem Bildschirm zu sehen: Aufnahmen von Mitarbeitern der Abteilung Bewährungsstrafen, die vom District Attorney befragt wurden. »Okay«, sagte der Bürgermeister schließlich und legte das Redemanuskript auf den Schreibtisch. »Ich denke, dies wird klappen.« Er las laut die eröffnenden Worte: »Leider, 218
aus unerklärlichen persönlichen Gründen, erfüllt manchmal ein Gentleman von tadellosem Leumund und Charakter nicht die hohen Anforderungen, die sein Amt und das Vertrauen der Öffentlichkeit erfordern.« Die Leiterin der Presseabteilung steckte den Kopf ins Büro. »Die Tiere werden hungrig«, sagte sie. »Okay, okay«, erwiderte der Bürgermeister. »Geben Sie ihnen noch eine Minute.« Pappas schob die Erklärung in einen Aktenhefter und wandte sich an Kevin. »Ich brauche Sie nicht für die Pressekonferenz. Befassen Sie sich weiter mit der Arbeit für den Parteikongreß. Versuchen Sie, Senator Marquand auf die Vorbestellung festzunageln. Sagen Sie ihm, dies ist nur eine kleine Hürde, die wir leicht nehmen. Sagen Sie ihm, daß alles immer noch für den Juni bereit ist, okay?« »Klar«, erwiderte Kevin halbherzig. Der Bürgermeister und sein Gefolge an der Tür zum Blauen Raum hörten Leslie rufen »dreißig Sekunden«, um die Reporter und Kameraleute auf das Erscheinen des Bürgermeisters vorzubereiten. John Pappas verhielt sich, als wäre jemand gestorben. Richter Sterns Untergang war für ihn, als hätte ihm jemand ein Stück Fleisch aus dem Körper gerissen, denn der Bürgermeister wußte, daß er trotz seiner politischen Macht dem Freund keinen Rettungsring zuwerfen konnte. Und daß er in seinem Alter keinen wahren Freund wie Walter Stern ersetzen konnte. »Ist alles in Ordnung?« fragte Kevin, der seine echte Sorge um den Bürgermeister nicht verbergen konnte. »Natürlich ist mit mir alles in Ordnung«, sagte John Pappas energisch. »Schadensbegrenzung, Kevin, Schadensbegrenzung«, fügte er mit professioneller Disziplin hinzu, konnte jedoch immer noch nicht seinen 219
persönlichen Kummer vertuschen. Kevin spürte, daß der Bürgermeister Aufmunterung gebrauchen konnte. Er lächelte und sagte: »Sie sehen gut aus.« »Natürlich sehe ich gut aus«, erwiderte der Bürgermeister mit aufgesetzter Heiterkeit. »Ich werde den Auftritt meines Lebens haben.« Calhoun setzte sich in sein kleines Büro und schaltete den Fernseher auf den internen Kanal. Er drehte den Ton leise und wählte Senator Marquands private Telefonnummer. Der Senator meldete sich nach zweimaligem Klingeln, und als Kevin seinen Namen nannte, kam Marquand gleich zur Sache. »Was, zum Teufel, ist bei euch los? Können Sie die Sache diskret erledigen?« Selbst während er sprach, konnte Calhoun hören, was der Bürgermeister bei der Pressekonferenz sagte. Und es klang gut… sehr gut. »Lyndon Johnson sagte ›jeder wird dir Vorschläge machen, wie du Probleme billig und schnell löst, und sie alle liefen auf eines hinaus: leugne deine Verantwortlichkeit‹«, sagte der Bürgermeister. »John F. Kennedy sagte: ›Ein Fehler muß nicht zu einem Fehler werden, es sei denn, man weigert sich, ihn zu korrigieren‹«, fuhr er fort. »Nun, wir werden nicht unsere Verantwortlichkeit leugnen und uns nicht weigern, unsere Fehler zu korrigieren. Und mit ›wir‹ meine ich ›mich‹. Meine Verwaltung hatte über vierzig Grad Fieber. Manchmal ist Fieber ein Segen: In der Medizin nennt man es eine ›Prüfung‹. Nun, wir sind geprüft worden, und wir werden gesund werden.«
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21 Anselmos Nachbarn versuchten, ihre Sorge zu verbergen, als sie sahen, daß der Parteichef einen seiner seltenen Besuche am Mittag in seinem Haus machte. Der normalerweise gesellige und leutselige Parteichef wirkte einsam und verlassen, als er langsam aus seinem Buick stieg, an seinen Hut tippte und einen Bekannten grüßte, der in hilflosem Unbehagen zu Boden blickte. Dann winkte Anselmo rituell Müttern und Kindern zu, die Schneebälle warfen und Schneemänner in den Straßen dieses gepflegten Mittelklasse-Blocks in Bayridge bauten. Als Anselmo das Haus betrat und seinen Mantel aufhängte, hörte er das Radio in der Küche: »Es gab heute morgen explosive Entwicklungen im ›Carver-Houses-Zwischenfall‹«, sagte ein Nachrichtensprecher von WINS. »Das Auftauchen eines zuvor vermißten Bewährungsberichts, der statt Bewährung zehn bis zwanzig Jahre Haft für den Gangster und Mörder Tino Zapatti empfahl, führt zu einer Überprüfung des Urteils von Richter Walter Stern und der Rolle des mächtigen Parteichefs der Brooklyner Demokraten Frank Anselmo. Anselmos Verbindungen zum Mafiaboß Paul Zapatti werden untersucht, und informierte Quellen sagen, daß die Karriere des Politikers zu Ende ist und eine lange Haftstrafe droht.« Anselmo schaltete das Radio aus und schaute mit leerem Blick zu den Töpfen auf dem Küchenherd, als er seine Frau Nettie aus dem Keller rufen hörte: »Schatz, bist du das?« »Ich bin da«, rief er mit schwächerer Stimme als sonst 221
zurück und glaubte, noch einmal die schlimme Prophezeiung aus dem Radio zu hören. »Ich komme sofort hoch. Ich habe Probleme mit dem Trockner!« rief Nettie, und dann hörte er schnelle Schritte, als sie eilig die Kellertreppe hinaufstieg. Anselmo ging auf eine Veranda, die im Winter von Wänden zu einer gemütlichen Bude abgeschirmt war und eine Seitentür zur Straße hinaus hatte. Er zog sein Jackett aus und setzte sich gedankenverloren hin, ein am Boden zerstörter Mann, der in dieser vertrauten Umgebung nach einem Hinweis auf sein Schicksal suchte. Er wußte, daß dies der große Sturz war, von dem er sich nicht mehr erholen konnte. Frank Anselmo, der große Mann der King’s County, Vorsitzender der Demokratischen Partei des Staates New York, war erledigt. »Alles okay mit dir?« fragte Nettie, die sich der Misere bewußt war. »Prima, Liebling, mir geht’s prima«, antwortete Frank mit stockender Stimme. »Es kam den ganzen Morgen im Radio«, sagte Nettie leise und suchte eine tröstende Erklärung von dem Mann, der ihr immer Kraft gegeben hatte. »Ich weiß, ich habe es gehört«, sagte er nur. Nettie spürte, daß weitere Fragen sinnlos waren, und sie nahm wieder die einfache Ergebenheit und Freundlichkeit an, die ihre Ehe in drei Jahrzehnten charakterisiert hatte. »Ich habe Ossobuco für dich«, sagte sie. »Ja?« Frank zeigte die gedämpfte Begeisterung eines Mannes, der seine Henkersmahlzeit in der Todeszelle bekommt. »Ich hatte das Gefühl, daß du zum Mittagessen heimkommst«, fuhr Nettie fort und versuchte seine 222
Verschlossenheit zu durchdringen. »Riecht gut«, brachte er in seiner wachsenden Verzweiflung nur hervor. »Ich hole nur die Wäsche aus dem Trockner, er rumort wieder«, rief Nettie und eilte in den Keller. Anselmo lehnte sich erschöpft auf der Couch zurück. Einen schrecklichen Augenblick lang fiel ein Schatten auf sein Gesicht. Er zuckte zusammen, sprang auf und sah Paul Zapatti wie einen Geist an der Tür der Veranda stehen. Anselmo öffnete die Tür und begrüßte den Don mit einer Umarmung. »Paulie!« war alles, was Frank hervorbrachte, bevor ihm Angstschweiß ausbrach. »Wie geht es dir, Frank?« fragte Zapatti mit einem scheinheiligen Lächeln. »Gut, angesichts der Lage«, erwiderte Frank mit erzwungenem Gleichmut, der seine Furcht verbergen sollte. »Natürlich, natürlich«, sagte Zapatti und klopfte ihm jovial auf den Rücken. »Kaffee? Nettie kümmert sich unten um die Wäsche. Bleibst du zum Mittagessen? Es gibt Ossobuco.« Frank versuchte, die alte Beziehung zu Paulie zu retten. »Ossobuco«, wiederholte Paulie mit der Bewunderung eines Feinschmeckers. »Nettie macht es auf Piemonteser Art – mit Paprika und allem«, sagte Frank, bis Zapatti ihn kalt unterbrach. »Ich habe zu Mittag gegessen.« »Ich hole Kaffee.« »Nein, danke«, sagte Zapatti in einem ›Kommen wir endlich zur Sache‹-Tonfall. Er setzte sich in einen Sessel. Paulie betrachtete ›Freunde‹ mit Distanz; er benutzte sie, 223
wenn er sie brauchte, und widmete sich danach anderen, ohne zurückzublicken. »Was denkst du über die Sache, Frank?« fragte Paulie. »Die alte Geschichte. Diesmal ist es dieser Scheißer Calhoun. Der stank mir von Anfang an.« Frank winkte abfällig ab, als beziehe er sich auf frühere Schrammen, die er allesamt überlebt hatte. »Ein Purist«, sagte Paulie und spitzte die Lippen, um anzuzeigen, wie gefährlich dieser Typ war. »Von der schlimmsten Sorte. Er ist morgen erledigt.« Anselmo zeigte zu offenkundig gespielte Tapferkeit. »Das bezweifle ich«, sagte Zapatti kategorisch. »Wovon redest du? Der ist wie ein Schilfrohr. Wenn man den nur antippt, knickt er um.« Frank spürte, daß ihr Gespräch eine unheilvolle Wendung nahm. »Der nicht. Das ist ein Terrier. Ich hatte mal einen Hund wie ihn. Ich wollte ihn einschläfern lassen. Er sprang mir beim Tierarzt von den Armen und verschwand im Park. Manchmal glaube ich immer noch, ihn dort zu sehen, wie er mich beobachtet… an einem alten Knochen nagt.« Zapatti sprach im harten und gleichgültigem Tonfall eines Diktators, der ein grenzenloses Risiko in jemanden sieht, den er nicht unterwerfen kann. Nettie tauchte mit der Wäsche auf und ließ erschrocken den Wäschekorb fallen, als sie Paulie in ihrem Haus sah. »Oh, Verzeihung«, sagte sie, als spüre sie, daß eine größere, unausgesprochene Sache auf dem Spiel stand. Zapatti erhob sich höflich. »Kann ich Ihnen mit dem Korb helfen, Nettie?« »Nein, nein, ich wußte nicht, daß Frank Sie erwartet«, stammelte Nettie, von eisiger Angst erfüllt. »Möchten Sie einen Expresse?« 224
»Vielleicht später«, erwiderte Zapatti mit starrem Lächeln. »In neunundneunzig von hundert Fällen können wir mit so etwas fertig werden«, sagte Frank mit wachsender Verzweiflung, als sich seine Frau zurückgezogen hatte. »Mir gefallen die Chancen kein bißchen«, sagte Zapatti mit dem Hochmut eines Königs, der sich weigerte, auch nur über dieses Thema nachzudenken. Anselmo war wie betäubt. Er begriff die unverhüllte Konsequenz. Frank wußte, daß Zapatti ein Menschenleben gleichgültig war und er keine Fehler in der komplizierten Welt duldete, in der sie operierten, auch wenn sie nur entfernt die Ehrenwerte Familie bedrohten. »Wir kennen uns lange, Paulie«, sagte Frank, und er wußte, daß er um sein Leben bettelte. »Ich weiß. Ich habe versucht, die Tür zu schließen, Frank. Aber es gelang mir nicht.« Zapatti sprach in unpersönlichem Tonfall, als handele es sich um einen abstrakten Fall, nicht um das Leben eines Freundes. »Was verlangst du von mir?« fragte Frank zögernd und von Entsetzen erfüllt. »Nimm den Druck von dir. Du bist kein Barry Markoff«, sagte Paulie und bezog sich damit auf einen alten politischen Führer, der Verbindungen mit dem Mob gehabt und lange im Gefängnis gesessen hatte, ohne jemals beim FBI auszupacken. »Was ist mit Barry Markoff?« fragte Anselmo und klammerte sich an eine kleine Hoffnung auf einen Ausweg. »Er saß zwölf Jahre ab«, antwortete Paulie im selbstzufriedenen Tonfall eines Mannes, der das richtige Telefonat geführt hatte. 225
»Du meinst, das kann ich nicht, Paulie?« Anselmo hoffte verzweifelt, daß seine jahrelangen Dienste und seine Freundschaft zu Paulie ihn retten konnten. »Man wird dir sagen, hier ist eine Sache, durch die du den Schlüssel zur Zelle bekommen kannst. Aber du bekommst ihn nur, wenn du singst. Du bist ein Sänger, Frank«, sagte Zapatti in dem festen Glauben, daß dieser Mann nicht mit selbst auferlegter Disziplin seine Natur ändern konnte. »Gib mir eine Chance, und ich zeige dir, wie verschwiegen ich sein kann«, flehte Frank, und sein Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. »Ich habe das nicht mehr in der Hand, Frank. Tu das Richtige. Mach es dir leicht.« Zapattis Stimme klang ärgerlich, ungeduldig, weil Frank die Dreistigkeit hatte, gegen sein königliches Todesurteil aufzubegehren. »Frank, Schatz, das Mittagessen!« rief Nettie aus der Küche. »Und denk an deine Familie«, sagte Zapatti eisig, weil er befürchtete, Anselmos Hoffnungslosigkeit könnte zu Trotz werden, wenn er nicht auf das Risiko hinwies. Zapatti erhob sich nach diesem Todesurteil, und Anselmo stand ebenfalls auf. Paulie küßte seinen alten Freund auf beide Wangen, ging zur Tür, blickte noch einmal zurück und nickte, um sich zu vergewissern, daß Anselmo ihn verstanden hatte und wußte, daß er soeben sein Todesurteil und – wenn nötig – Netties Todesurteil gehört hatte. Anselmo rang um Atem, und seine Gedanken rasten, als Zapatti fort war. Dann ging seine Furcht in Zorn über. Tief in seinem Innern wußte er, daß sein letzter Handel ein schlechter war; es würde keine weiteren Entscheidungen, Überredungen, Drohungen oder Geschäfte für Frank 226
Anselmo geben. Anselmos Zorn, der ihm selbst galt, wuchs noch, als ihm klar wurde, welcher Satan sein Freund Paulie war. Warum hatte er sich überhaupt mit ihm eingelassen? Zapatti hatte ihm die Freundschaft angeboten, nachdem er, Anselmo, bereits politische Macht gehabt hatte, und Zapatti hatte nur unwesentlich dazu beigetragen, seine breite politische Machtbasis zu festigen. Als Gegenleistung hatte Zapatti die Macht über Leben und Tod über ihn erlangt. Allmählich ging Anselmos Entsetzen in Gram über. Er war ohne Hoffnung, fühlte sich hilflos wie ein nacktes Baby, hatte keine politische Macht mehr, und eine unheimliche Ruhe erfüllte ihn auf einmal. Er war immer stolz darauf gewesen, daß er Dinge akzeptieren konnte, wie sie waren. Es war vorüber! Paulie war ein Gesetz für sich, und sein Todesurteil war unumstößlich. Anselmo erkannte, daß das einzig Reine in seinem Leben die Beziehung war, die er mit Nettie geteilt hatte. Es war nur angemessen, daß sein letzter Dienst ihr galt, denn das einzige, was er noch geben konnte, war sein Leben. Anselmo begann entschlossen seine ehrenvolle Reise, ohne zum Haus zurückzublicken. Er fuhr mit dem Buick über den Brooklyn-Queens-Expressway. Das Autotelefon klingelte. Anselmo blickte hin und wartete bis das Klingeln aufhörte. Er fuhr weiter. Als das Telefon wieder klingelte, nahm er den Hörer ab. »Was ist mit dir los?« fragte Nettie ernst und drängend. »Ich habe dich gerufen, bevor ich wegfuhr. Du warst im Keller. Ich werde eine neue Waschmaschine und einen Trockner bei Orchard kaufen, damit du keine Probleme mehr damit hast. Ich esse, wenn ich heimkomme.« »Oh. Okay, sei vorsichtig«, sagte sie mit weiblicher Vorahnung. 227
»Selbstverständlich«, sagte Anselmo in der alten heiteren Zuversicht, die Nettie gewohnt war. Anselmo legte den Hörer auf und schob eine Kassette in den Recorder. Ein Duett, ein Bariton und ein Sopran sangen das Finale von Carousel. Wenn du durch einen Sturm gehst, Halte deinen Kopf erhoben. Und fürchte dich nicht vor der Finsternis. Er fuhr vom Brooklyn-Queens-Expressway ab auf die malerische Straße mit Blick auf den Long Island Sound, an der er Tausende Male vorbeigefahren war, und parkte. Die Verkehrsgeräusche vorbeibrausender Wagen störten das Lied. Er schloß das Wagenfenster, um die störenden Geräusche zu verbannen, und begann zu dem Lied zu singen: Am Ende des Sturms Ist ein goldener Himmel Und der herrliche Gesang einer Lerche. Dann griff Frank Anselmo hinüber zum Beifahrersitz, öffnete das Päckchen, das er mitgenommen hatte und das in eine Boulevardzeitung mit der Schlagzeile ›ANSELMO VORGELADEN – Parteichef muß in Justizskandal aussagen‹ gehüllt war, und nahm einen 38er heraus. Anselmo hielt sich die Mündung der Waffe an die Schläfe. Tränen rannen über die Wangen dieses Mannes, der seit der Kinderzeit nicht mehr geweint hatte, während er seinen letzten Gedanken aussprach: »Du wirst mir 228
fehlen, Nettie.« Dann feuerte Anselmo. Der Knall war leise, wie ein gedämpfter Paukenschlag zur Betonung des Liedes, aber er reichte aus, um sein Gehirn und Blut über die Windschutzscheibe und die Seitenfenster zu spritzen. In der City Hall herrschte Krisenstimmung, als der engere Kreis des Bürgermeisters versuchte, eine Möglichkeit zu finden, die Fehler der Administration von diesem explosiven politischen Skandal zu trennen und herunterzuspielen. Calhoun versuchte von der New York Post Zeit zu gewinnen. »Ich verstehe Sie, ich weiß, daß das Wasser steigt, Sadler, tatsächlich steht es schon ›bis zum Deck‹, wie Sie sagen. Aber ich verspreche Ihnen, wir schöpfen es schneller aus, als es steigt.« Abe betrat das Büro und legte wortlos ein Kuvert auf Calhouns Schreibtisch. »Sadler, es hat sich soeben etwas ergeben, lassen Sie mich zurückrufen, wenn ich Ihnen ausführlich auf Ihre Fragen antworten kann«, sagte Calhoun hastig und legte den Hörer auf. »Der Commissioner dachte, Sie möchten einen Blick auf den ursprünglichen Bericht der Abteilung Bewährungsstrafen werfen«, erklärte Abe. »Er wurde in Anselmos Wagen gefunden.« Calhoun nahm den Bericht, der von Wakely unterzeichnet war, aus dem Umschlag und heftete den Blick auf die Unterschrift von Richter Sterns Assistenten Peter Ragan. Calhoun betrat das Amtszimmer des Richters. Ragan war damit beschäftigt, Schriftstücke einzupacken. 229
»Guten Tag, Mr. Calhoun«, sagte Ragan höflich, aber abweisend. »Tut mir leid, aber der Richter hat Feierabend gemacht.« »Natürlich tut es Ihnen leid«, erwiderte Calhoun herausfordernd und knallte den Bericht auf Ragans Schreibtisch. »Ist das Ihre Unterschrift?« fragte Calhoun und wies darauf. Ragan betrachtete Calhoun kühl, fast hochmütig. »Wir müssen den Empfang aller Dokumente mit unserer Unterschrift bestätigen«, antwortete er. »Wie ist das mit Telefonaten? Führen Sie Buch über Telefonate?« setzte ihn Calhoun unter Druck. »Ja«, antwortete Ragan nur. »Nehmen Sie sich bitte eine Minute Zeit und sehen Sie sich für mich die Daten von Frank Anselmos Anrufen bei diesem Büro an«, sagte der Vizebürgermeister, der sich am Ende der Spur fühlte. »Lassen Sie es dabei bewenden, Mr. Calhoun. Der Fall ist abgeschlossen. Nur Ihre sinnlose Neugier ist noch gefährlich.« »Die Anrufe!« verlangte Calhoun unnachgiebig. »Okay.« Ragan seufzte resigniert. »Sie sind auf einer falschen Fährte, Mr. Calhoun. Frank Anselmo hat dieses Büro nie angerufen.« Calhoun schaute auf den Boden, und nach schrecklichem Schweigen stellte er die Frage, die ihn aufwühlte: »Und der Bürgermeister?« Ragans und Calhouns Blicke trafen sich. Sie starrten sich stumm in die Augen.
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Der Bürgermeister war im Ankleideraum und sah im Spiegel, daß Calhoun ihn betrachtete, als er eine Krawatte zu seinem anthrazitfarbenen Anzug band. »Wo waren Sie? Ich suche Sie seit einer halben Stunde«, sagte der Bürgermeister mit müder Stimme. »Ich habe versucht, zu Senator Marquand durchzukommen«, antwortete Calhoun und deutete das Scheitern seiner Mission an. »Marquand kam zu mir durch. Sie verlegen den Parteikongreß nach Miami«, sagte der Bürgermeister in gleichmütigem Tonfall, fast als mache es nicht mehr viel aus. »Miami!« Calhoun war erstaunt. »Sie lieben Miami. Jede Menge Glanz. Madonna und Whoopi Goldberg haben sich soeben Häuser am Südstrand gekauft, vielleicht sollten wir sie nominieren«, sagte Bürgermeister Pappas scherzhaft. »Aber der Handel war abgemacht«, sagte Calhoun und dachte an das Abendessen mit Senator Marquand. »Nichts ist abgemacht, es ist Politik«, erwiderte der Bürgermeister gelangweilt, als hätte er das schon einmal erklärt. »Wohin gehen Sie?« fragte Calhoun und musterte Pappas’ dunkle Kleidung. »Ich kondoliere Nettie Anselmo«, sagte Pappas leise und in trauriger Erinnerung an Frank. »Halten Sie das für klug?« Calhouns Tonfall verriet, daß er dagegen war. Der Bürgermeister hielt im Binden der Krawatte inne. »Frank war ein Freund von mir. Was hat ›klug‹ damit zu tun?« sagte der Bürgermeister, der angewidert war, daß jemand die Verpflichtungen einer Freundschaft vergessen 231
konnte. »Aber wie wird das in der Öffentlichkeit wirken?« wandte Calhoun ein. »Das ist mir gleichgültig! Wir reden von Menschlichkeit. Von Freundschaft zwischen Menschen. Tausend Telefongespräche. Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Gemeinsame Erinnerungen. Die Zeit zwischen einem Händeschütteln. Was man mit ins Grab nimmt.« Bürgermeister Pappas sprach mit der Melancholie eines Mannes, der die kalte moderne Einstellung von Typen wie Kevin Calhoun satt hatte. »Gibt es zwischen einem Händeschütteln Zeit für die Frage, was richtig und falsch ist?« fragte der Vizebürgermeister zögernd. »Warum lassen Sie mich heute abend nicht in Ruhe?« »Ich suche eine Antwort«, erwiderte Calhoun und wurde kühner, nachdem er die Fährte aufgenommen hatte. Der Bürgermeister dachte nach, und dann sagte er: »Okay, Kevin, sehen wir es wie Farben. Da gibt es Schwarz und Weiß, aber dazwischen ist hauptsächlich Grau. Grau ist eine schwierige Farbe, nicht so einfach wie Schwarz oder Weiß. Und für die Medien nicht so interessant. Aber sie ist das, was wir sind.« »Was werden Sie jetzt tun?« fragte Calhoun. »Sie meinen ›wir‹, nicht wahr?« »›Wir‹? Wir – haben einen Bären erlegt«, sagte Calhoun. Der Kopf des Bürgermeisters ruckte zu Calhoun herum. »Ein alter Bayou-Spruch, den ich im Kongreß lernte.« »Ja, und der Fluß steigt, das Wasser kommt über den Deich, aber wir stapeln Sandsäcke. Wir kämpfen gegen die Hurensöhne, wir werden da unbeschadet herauskommen, wir werden ihnen sagen, daß wir nur Menschen 232
sind und jeder Fehler macht. Frank Anselmo ist tot, er war ein Freund, aber der letzte der alten Clubhaus-Bosse ist tot. Wir säubern den Augiasstall, wir zeigen uns in Miami, und sie werden mich auf den Knien anflehen, die programmatische Rede zu halten.« John Pappas’ alte Begeisterung war zurückgekehrt. »Und dann?« fragte Calhoun distanziert. »Ein kurzer Aufenthalt in Albany, dem ein langer im Weißen Haus folgt«, sagte der Bürgermeister, als wiederhole er Texte aus einer Show, die am vergangenen Abend zum letzten Mal stattgefunden hatte. Calhoun blinzelte. »Ich muß sagen, wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich vor Bewunderung platzen«, erwiderte Calhoun, als hätte er den Text eingeübt. »Ich dachte, ich komme her und treffe Sie auf den Knien an. Statt dessen sind Sie anscheinend bereit, ein Unglück in einen Triumph zu verwandeln.« »Ein Reflex. Eine alte Gewohnheit von mir. Aber mir gefällt, wie Sie das sagen. Und mir gefällt, daß Sie immer noch an mich glauben.« »Habe ich das gesagt?« fragte sich Calhoun laut und zweifelnd. Der Bürgermeister wurde zurückhaltend gegenüber seinem Stellvertreter. »Ich dachte, ja. Hören Väter nicht auf ihre Söhne?« sagte er, nicht mehr mit sich selbst beschäftigt und auf das Gespräch konzentriert. »Wo ist Ihr Vater zur Zeit?« »In einer abgelegenen Ecke von Marokko, nehme ich an. Vielleicht stirbt er einsam in einem dieser Mumiengräber, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind.« »Seien Sie nicht zu hart mit ihm. Wir können unser Ende 233
nicht bestimmen«, sagte der Bürgermeister. Calhoun musterte ihn schweigend. »Mir gefällt dieser Tonfall nicht«, bemerkte er dann. »Warum sollte er das? Weil unter all dem Beton, den Sie in mein Podest geschüttet haben, tief in Ihrer Seele etwas aufschreien will«, sagte der Bürgermeister. »Was?« fragte Calhoun, und seine Wut verwandelte sich in Furcht. »Sie wissen, daß ich dieses Telefonat mit Walter Stern führte«, sagte der Bürgermeister in hilflosem Bedauern. Und nach nachdenklichem Schweigen fuhr er fort: »Anselmo rief mich an. Er sagte, Stern falle unter meine Verantwortung. Er brauche einmal im Leben einen Gefallen, um einem anständigen Jungen zu helfen, und der gute Richter widersetze sich stur. Ich hatte hundert wichtige Dinge auf meinem Schreibtisch und dachte nicht zweimal über den Namen Zapatti nach, als ich ihn notierte und Walter anrief.« Der Bürgermeister senkte den Kopf und schwieg. Schließlich preßte er die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und sprach weiter. »Und das war alles. Ein kleiner Gefallen. Ich habe mein ganzes Leben lang auf Warnsignale geachtet.« »Aber diesmal haben Sie eine rote Ampel übersehen. Jemand hat die Kreuzung überquert, und ein Cop und ein sechsjähriges Kind gingen dabei drauf«, entgegnete der Vizebürgermeister ernst. »Das wird immer an mir haften bleiben«, sagte der Bürgermeister und schaute seinen Protegé um Verständnis heischend an. »Das reicht nicht.« »Das reicht nicht? Meinen Sie, ich weiß das nicht?« John Pappas zeigte tiefe Enttäuschung darüber, daß sein 234
Stellvertreter kein Verständnis für seinen Fehler hatte. »Ich hoffe es, John«, murmelte Calhoun ohne Illusionen. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. »Es erschreckt mich, wenn Sie mich ›John‹ nennen.« »Ja? Warum?« fragte Calhoun fast aufsässig. »Weil ich vor ein paar Minuten dachte, wenn wir diese Reise zum Weißen Haus machen, sind Sie dabei. Die alte Menschlichkeit«, sagte der Bürgermeister mit wenig Überzeugung. Er wußte, daß er jemand einladen und ein »Nein!« hören konnte. »Scheiße«, sagte Calhoun hart und versuchte die Maske vom Gesicht seines Mentors zu reißen. »Menschlichkeit ist Scheiße. Nichts Besonderes. Es ist ein Zwinkern und ein Ellenbogenstoß, man schließt Freundschaft und kann Geschäfte machen. Es sind hundertzwanzig Jahre Korruption und Gefälligkeitsverträge und Schiebereien und Insiderinformationen und gegenseitige Absicherung und Rettung, wo auch immer Leute mit Macht ein Gebiet aufteilen. Es sind der golden verzierte Spazierstock der Demokratischen Partei, den Boss Tweed bekam, und die Genehmigung der Spielbank, die ich am nächsten Tag in den Archiven fand. Es gibt einen Automaten, der Boss Tweed nachempfunden wurde, ein mechanisches Wunder. Man legt eine Münze auf seine rechte Hand, er nickt und steckt sie in die Tasche. Und wissen Sie was? Es funktioniert immer noch. Das ist Ihre Menschlichkeit. Sie wissen, wo Sie die einsetzen können. Oder vielleicht auf den Feldern aussäen können. Und wenn wir alle beten und ein bißchen Regen bekommen, wird vielleicht eine Blume erblühen.« Ein schrecklicher Moment verging, und dann neigte sich der Bürgermeister auf Calhoun zu. »Aber so ist es geschehen, nicht wahr?« fragte er leise. 235
Calhoun schwieg, und Pappas fuhr fort. »Aus all diesem Mist werden Sie auftauchen. Verstehen Sie denn nicht, daß Sie der einzige Wähler sind, der mir jemals etwas bedeutet hat? Eine Wählerschaft aus einem Mann?« »Ich habe das Gefühl, eine Neinstimme zu geben, John, und die Bitte um einen Handel, eine kleine Schuld zu bekennen, um nicht wegen einer großen vor Gericht zu kommen, abzulehnen«, erwiderte Calhoun zynisch. »Keine Bitte. Kein Handel. Nichts. Nur ein Politiker, der weitermachte, bis er gegen eine Mauer rannte. Sie waren diese Mauer. Zuerst kreidete ich es dem Gerechtigkeitssinn eines Jungen an, der eine katholische Schule besucht hat, doch dann wurde mir klar, daß nichts Sie stoppen würde. Und ich wußte, daß ich mich selbst als Jungen sah. Ehrgeizig, jemand, der weiß, was er will, aber fair. Gutes tun, natürlich lavieren, aber stets für die richtige Sache. Doch dann nach Tausenden Kompromissen, ein Handel hier, ein Handel dort, beginnt der Glanz des Spiegels zu verblassen. Man bildet sich ein, er kehrt zurück, weil man weiß, daß man Gutes tut. Man versucht nicht, irgendwelches Geld in seine Tasche zu stecken, man will nur seine Position behalten. Seine Macht. Was bewirkt man Gutes für die Leute ohne sie?« Er legte eine Pause ein, überwältigt von Trauer und Müdigkeit. »Aber tief in seinem Innern weiß man, daß es eine Linie gibt, die man nicht überschreiten kann«, sprach Pappas weiter und dachte daran, wie Schlüsselmomente im Leben, ja in der Zivilisation, durch Zufälle entschieden wurden. »Irgendwann nach tausenden Kompromissen und einem Handel zuviel ist die Linie weggewischt.« »Wenigstens war zuvor eine da«, entgegnete Kevin. Der Bürgermeister zog den Vorhang am Fenster zur 236
Seite und schaute auf die Bäume im Park. »Natürlich gab es eine. Ich hatte Feuer in mir wie Sie. Das Sonderbare ist, daß es mich nie verlassen hat. Sehen Sie mich an! Was sehen Sie? Einen schmierigen Latino aus Brooklyn oder Perikles? Bin ich der Vater eines Stadtstaats oder ein unwürdiger Nichtsnutz? Letzteres bin ich nicht. Das schwöre ich Ihnen. Ich betrachtete diese Stadt als den Mittelpunkt des Universums, und ich danke Gott jeden Tag dafür, daß er sie mich führen ließ. Ich hatte den Traum, und ich hatte das Gewicht. Wie Koch vor mir sagte: ›Wenn ein Spatz im Central Park stirbt, bin ich dafür verantwortlich‹. Gut gesagt. So empfinde ich. Und ich war bereit, diese Fackel, diesen Geist nach Washington zu tragen. Oh, was hätte ich alles bewirken können.« Der Bürgermeister sprach mit der Traurigkeit eines Mannes, der eine Stadt für Frauen und Männer aufbauen will, jetzt jedoch die Aufgabe nicht vollenden kann. »Ja, Sie hätten etwas bewirken können«, sagte Kevin, und die öffentliche und private Tragödie bedrückte ihn. Ein Moment in einem ganzen Leben hatte zu einer völligen Niederlage geführt. »Es wird Zeit, abzutreten«, sagte der Bürgermeister. »Ich werde ankündigen, daß ich nicht für eine Wiederwahl kandidiere und zurücktrete, um der Demokratischen Partei zu ermöglichen, meinen Nachfolger für die Wahl aufzubauen.« Er schaute Kevin an. »Ich dachte, ich sehe die Tränen eines Jungen, statt dessen fühle ich das Rückgrat eines Mannes.« »Die Tränen sind da. Drinnen. Sie können sie nur nicht sehen«, murmelte Calhoun und ließ wieder erkennen, daß er an einer Tragödie für seinen Mentor und die Stadt beteiligt war. Der Bürgermeister streckte Calhoun die Arme entgegen. 237
Zuerst erstarrte Calhoun, doch dann entspannte er sich, und sie umarmten sich innig. Der Bürgermeister flüsterte seinem Protegé ins Ohr: »Sie haben das Zeug, Kevin. Ich liebe es, das in einem jungen Mann zu sehen.« Bürgermeister Pappas wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ließ Calhoun allein zurück. Der Vizebürgermeister fragte sich niedergeschlagen: Wenn John Pappas und Walter Stern nicht das System besiegen konnten, kann das dann überhaupt jemand?
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EPILOG NEW YORK, EIN JAHR SPÄTER. Tausende Pendler kehrten von der Arbeit zurück, strömten stetig aus der U-Bahn-Station 72nd Street und Broadway und wurden von Lautsprechern auf einem Minivan begrüßt, der mit Wahlplakaten beklebt war: ›Wähler des 21. Distrikts, Sie können etwas verändern‹, schallte es. ›Wählen Sie Kevin Calhoun in den Stadtrat.‹ Kevin Calhoun stand am Eingang zur U-Bahn-Station und versuchte mit so vielen Leuten ins Gespräch zu kommen wie möglich. Drei freiwillige Helfer waren bei ihm. Einer schwenkte ein Schild mit einem Wahlplakat, ein anderer rief: »Lernen Sie Ihren nächsten Bürgermeister kennen«, und der dritte fungierte als Ordner bei Passanten, die ihrem Kandidaten die Hand schütteln wollten. Zwei Teenager drückten aggressiv Handzettel in jede Hand der Vorbeieilenden, die sich öffnete, und das waren nicht viele. Viele ließen die Handzettel nach einem kurzen Blick darauf fallen, während sich wenige bedankten und sie einsteckten, um sie sich später anzusehen. Gegenüber vom Ausgang der Station verschenkte ein junges Mädchen Einkaufsbeutel mit dem Aufdruck ›Calhoun in den Stadtrat, 21. Distrikt K‹. Ein paar Leute, besonders Frauen, verlangten zwei Einkaufsbeutel, einen zusätzlich ›für eine Freundin‹. Auf jede Hand, die Kevin schüttelte, kamen zehn, die ihn ignorierten. Die Augen des Ex-Vizebürgermeisters leuchteten auf, als eine Lady in mittleren Jahren auftauchte, die in der Rush-hour einen Einkaufsbeutel mit 239
dem Calhoun-Aufdruck trug, den sie am Morgen erhalten hatte. Er grinste begeistert über dieses diskrete kleine Zeichen und schüttelte ihr herzlich die Hand. »Danke. Ich zähle auf Sie.« Und dann ergriff er die Hand eines Mannes hinter ihr. »Hi, Kevin Calhoun. Ich arbeite nur für Sie.« Und schon wandte er sich einer Frau zu und ergriff ihre Hand. »Hi, Kevin Calhoun, ich brauche Ihre Stimme.« Während der Ex-Vizebürgermeister in der Menge Hände schüttelte, strahlten Abe und Leslie weiterhin Wahlkampfparolen über das Lautsprechersystem des Minivans aus. »Schafft er es?« fragte Leslie in einer Atempause. »Er schafft es, vielleicht nicht in diesem November, aber im nächsten, und wenn dann nicht, im übernächsten«, erwiderte Abe überzeugt. »Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann«, sagte Leslie und lächelte über ihre Ungeduld. »Wie der Talmud sagt: ›Gott wartet lange, aber zahlt mit Zinsen‹«, erwiderte Abe und vermischte mal wieder Religion mit Politik. »Sie meinen, Sie haben wirklich Lust, all dies noch einmal durchzuziehen?« fragte Leslie. »Ich habe gestern abend zwanzig Personen bei einer Wahlveranstaltung gezählt. Es war zum Kotzen.« »Aus kleinen Samen wachsen Mammutbäume«, sagte Leslie lachend. »Der Mann läßt sich nicht entmutigen«, sagte Abe. »Er hat ein nettes Lächeln, und er gibt sich nicht mehr mit abstrakten Theorien ab. Sein Wahlkampf ist prima.« »Aha, Sie sind schon angesteckt. Ich auch«, sagte Leslie ein wenig überrascht. »Und ein paar andere ebenfalls«, sagte Abe. »Es werden 240
immer mehr. Man hat ihn gebeten, heute abend bei der Feuerwehr zu sprechen, morgen in der katholischen HighSchool, und sogar der rechte Flügel verleiht ihm Glanz.« »Meinen Sie, wir haben auf einen aufgehenden Stern gesetzt, Abe?« Leslie blickte himmelwärts. »Auf einen Stern, einen Star – in einer Stadt, in der es keine richtigen Männer gibt, bemüht er sich, ein Mann zu sein«, erwiderte Abe ernst. »Das ist nicht wenig«, stimmte Leslie zu. »Richtig, das ist nicht wenig«, sagte Abe und blickte in die Zukunft. ENDE
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