Cigams Sündenfall
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 151 von Jason Dark, erschienen am 26.10.1993, Titelbild: Joe und ...
13 downloads
212 Views
366KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cigams Sündenfall
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 151 von Jason Dark, erschienen am 26.10.1993, Titelbild: Joe und Vito de Vito
Sie war perfekt. Sie war genau die Frau, von der jeder Mann träumte. Es gab nichts an ihr auszusetzen - aber sie war nicht echt. Kein Mensch, sondern der Teufel hatte sie geschaffen. Sie war sein Kunstgeschöpf, denn unter der glatten Haut verbarg sich ein durch Magie angetriebenes Räderwerk der Hölle. Schon einmal hatte der Teufel ein Kunstgeschöpf erschaffen, Cigam. Nun hatte er in Altea eine Schwester bekommen, und gemeinsam gingen sie nach Prag. Sie wollten die Stadt des Golam zu einer Hochburg der von Satan abhängigen Menschen machen...
Die Frau stand vor der Tür und schaute sich um! Es war ihr nicht anzusehen, ob ihr diese auf elegant und vornehm getrimmte Bar gefiel. In ihrem glatten, von keinem Fältchen gezeichneten Gesicht rührte sich nichts. Nicht mal die Lippen zuckten. Die Augenbrauen wirkten wie gemalt, und ihre Nase sah aus, als wäre sie künstlich geschaffen worden. In den Höhlen lagen sehr dunkle Augen mit farblosen Pupillen. Das lange, rötlichschwarze Lockenhaar umschmeichelte ihr Gesicht, doch auch diese Flut schaffte es nicht, dem Gesicht einen weichen Ausdruck zu verleihen. Es blieb kalt, glatt und eben völlig emotionslos. Die Frau tat nichts, sie schaute nur. Der Betrieb hielt sich in Grenzen. Pärchen hockten in den weichen Sesseln, wobei wohl kein Paar miteinander verheiratet war. Die Mädchen waren allesamt jung und sahen toll aus. Sie wirkten keineswegs ordinär, sondern machten die Gäste auf eine Art und Weise an, daß diese sich durchaus als Freunde fühlen konnten. Und für Freunde zahlte man eben gern. Da die Frau im Schatten stand, wurde sie zunächst nicht gesehen. Für sie war das auch wichtig. Sie mußte sich einen Eindruck verschaffen, bevor sie ihre eigentliche Aufgabe in Angriff nahm. Sie trug ein dunkles Kleid, das sehr eng geschnitten war. Der tiefblaue Stoff glänzte seidig, er hob sich von dem nicht geschlossenen hellen Mantel kontrastreich ab. Der Ausschnitt des Kleides war rund, normal, die Frau zeigte keinen Körper und auch nicht viel Bein, denn der Saum umspielte die Knie der perfekt gewachsenen Beine. Gerade weil sie angezogen war, strömte dieser Körper einen unwiderstehlichen Sex aus. Besonders zu erkennen, wenn sie ging. Dann geriet auch der Kleiderstoff in Bewegung und strich über die Haut wie eine Liebkosung. Es war nun schwer vorstellbar, daß diese Person unter dem Kleid noch etwas trug. Sie hatte lange genug an der Tür gestanden, um sich den Weg zur Bartheke genau einprägen zu können. Die Drei-Mann-Combo hatte eine Pause eingelegt. Aus den Lautsprechern drang zwar leise Musik, aber niemand bewegte sich auf der runden Tanzfläche, die von unten her in zahlreichen Farben beleuchtet wurde und aussah wie ein bunter Kreisel, dessen Farben bei jeder Drehung wechselten. Der neue Gast schritt auf die Tanzfläche zu. Er wollte sie überqueren, um sich anschließend an der Bartheke niederzulassen. Das jedenfalls ließ seine Absicht vermuten. Nach vier Schritten, den Rand der Tanzfläche hatte sie noch nicht erreicht, wurde sie zum erstenmal richtig wahrgenommen und gesehen. Es glich tatsächlich dem Auftreten einer Diva oder eines großen Filmstars, denn plötzlich erwischte die Gäste das große Aha- und Oho-
Erlebnis. Besonders die Männer saßen plötzlich still auf ihren Plätzen und vergaßen ihre Begleiterinnen. Sie alle gehörten quasi zu den Stammgästen, aber einen derartigen Auftritt hatten sie noch nie erlebt. Jede Bewegung sprühte vor knisternder Erotik. Einigen Gästen standen die Münder offen, andere schwitzten leicht, und jeder gierte danach, diese Superfrau in die Arme schließen zu können. Ein fetter Mann im weißen Dinnerjacket winkte eines der Serviermädchen heran. Die Kleine trug Stöckelschuhe, eine kurze, schwarze Flatterhose und ein weißes Seidenshirt. Ein rotes Herz war darauf abgebildet. »Ja, Sir…« Der fette Knabe neigte sich zur Seite. Er legte seine Hand gegen den Mundrand, damit die Worte nur von der Bedienung verstanden werden konnten. »Sag mal, Süße, wer ist das?« »Sir, ich habe keine Ahnung.« »Erzähl doch nichts! Hat der Chef die eingestellt, um sie uns als Überraschung zu präsentieren?« »Nein, Sir, die ist neu. Ich sehe sie heute auch zum erstenmal, das müssen Sie mir glauben.« Der Mann winkte beinahe wütend ab, und das Serviermädchen zog sich wieder zurück. Der Mann war noch nicht zufrieden. Er wandte sich an seine Gespielin, deren Haar wie Silber glänzte. Auch sie mußte passen, niemand hatte die Frau bisher in der Bar gesehen. Das störte die Unbekannte wenig. Es machte ihr überhaupt nichts aus, daß sie angestarrt wurde. Auch weiterhin ging sie ihren Weg und hatte die runde Tanzfläche längst erreicht. Unter ihr drehte sich das Licht. Bei jeder Umdrehung wurden die Farben neu gemischt, und sie trafen auch die über ihnen stehende Gestalt, so daß die Frau immer wieder anders aussah, mal dunkelbunt, mal hellbunt, und die einzelnen Muster glitten lautlos an ihrem Körper hoch, um ihn nachzuzeichnen. Sie schien sich jedesmal in ein anderes Wesen zu verwandeln. Die Gäste hatten Vorstellungen von Schlangen oder Spinnenfrauen, aber niemand sprach darüber. Alle spürten sie das Besondere dieser Person, die ihnen wie ein Wesen aus einer anderen Welt vorkam. Die Unbekannte schaute weder nach rechts noch nach links. Sie ging nur ihren Weg und steuerte dann zielsicher die Bar an. Dahinter war Fernando Diaz, der Chef, ein heißblütiger und glutäugiger Spanier, der als Weiberheld ebenso bekannt war wie für seine immerwährende Bräune, die ihn aussehen ließ, als würde er jeden Tag mindestens zwei Stunden in der Sonne liegen. Das tat Diaz nicht, er benutzte ein Solarium und die entsprechenden Cremes.
Er war der Chef der drei Barmädchen, aber die hatte er in diesem Augenblick vergessen. Er konnte nur immer die fremde Frau ansehen, die zu ihm kommen würde, und der schmale Bart auf seiner Oberlippe bewegte sich wie ein zuckender Finger, ein Zeichen dafür, daß er nervös war. Zweimal strich er mit der rechten Handfläche über das schwarz gefärbte Haar, bei dem doch die grauen Strähnen immer wieder durchkamen, und unter den Achselhöhlen bildete sich Schweiß. Sein Deo mußte jetzt zeigen, ob es den Versprechungen der Werbung standhielt. Diaz hatte seine Hände flach auf die polierte Theke gelegt. So konnte er wenigstens ein Zittern vermeiden. Diese Frau brauchte keine Barbeleuchtung, um top auszusehen, sie war es einfach. Wenn sie zwei Schritte weiterging, hatte sie die Bar erreicht, und die letzten beiden legte sie auch noch zurück. Sie hatte sich einen Hocker direkt vor Diaz ausgesucht. Auf dem cremefarbenen Leder nahm sie Platz und war somit der einzige Gast an der halbkreisförmigen Bartheke. Bei jedem anderen Gast hätte Diaz schon sein bekanntes Verführerlächeln aufgesetzt, bei diesem hier verspürte er nie gekannte Hemmungen. Er wußte, daß diese Frau auf sein Lächeln nicht hereinfallen würde und hielt sich lieber zurück. Sie nickte ihm zu. Er dachte über dieses Nicken nach. So nickte eigentlich nur eine Königin, und ihm fiel der Begriff huldvoll ein. Ja, so hatte sie ihn begrüßt. Irre, aber wahr. »Was kann ich für Sie tun?« Verdammt, er schimpfte sich selbst aus, weil er seine eigene Stimme nicht mehr erkannte. »Die Karte.« »Sehr wohl.« Diaz griff nach unten, wo die Getränkekarte lag, und reichte das kleine, in Leder gebundene Büchlein herüber. Sie bedankte sich mit einem Nicken, schlug eine Seite auf, schaute aber kaum hin und bestellte einen Wodka. »Aber einen Doppelten, bitte«, fügte sie hinzu. »Natürlich, gern.« Diaz holte die Flasche hervor. Er war routiniert, in diesem Augenblick jedoch kam er sich vor wie ein Lehrling, denn als er den Wodka in das Glas rinnen ließ, da zitterte seine Hand, und das Glas lief über. Er ärgerte sich darüber. Das Blut stieg in seinen Kopf, aber er konnte nichts machen. Zum Glück schaffte er es, das Glas halbwegs sicher auf die Theke zu stellen. Die Frau nickte. Ihre schlanken Finger schoben sich schlangengleich über den Rand der Theke hinweg und umfaßten das kleine Glas. Diaz sah, daß die Nägel in einem sanften Grün lackiert waren, aber nur am kleinen Finger. Bei den anderen Nägeln verstärkte sich die Farbe, und sie endete mit einem satten Grün auf dem Daumennagel.
Die Frau hob das Glas an, sie probierte erst, dann leerte sie es mit dem zweiten Schluck. Spätestens jetzt hätte Fernando Diaz jede andere Frau angesprochen, hier traute er sich nicht und schaute statt dessen zu, wie sie das Glas absetzte. Die Unbekannte hob den Kopf und starrte Diaz an. Dieser Blick irritierte ihn, weil ihn noch nie jemand so angesehen hatte. Er konnte diesen Blick nicht beschreiben, er war leer und gleichzeitig prall gefüllt, aber er hätte auf keinen Fall sagen können, welches Gefühl dahintersteckte. Wahrscheinlich nichts, und plötzlich kam ihm ein Vergleich in den Sinn. Die Augen sahen künstlich aus, als wären sie kleine, halbrunde Metallplättchen, die jemand anstelle der Pupillen auf die Hornhaut gesetzt hatte. »War es gut?« Er kam sich nach dieser Frage selbst blöd vor, aber die Frau hob nur die Schultern. »Noch einen?« »Nein!« Erst jetzt fiel dem Barkeeper die Stimme auf. Auch sie hatte einen künstlichen Klang. Wie ein Roboter sprach sie. Es war überhaupt keine Modulation zu hören gewesen, und die Unsicherheit des Mannes verstärkte sich immer mehr. Er versuchte krampfhaft, dem Blick der Person auszuweichen und schielte mal über die eine, dann über die andere Schulter des weiblichen Gastes hinweg in die Bar, wo die Gäste saßen und nichts anderes taten, als ihn und die Frau zu beobachten. Sie redeten auch nicht miteinander. Obwohl noch leise Musik klang, kam es dem Mann so vor, als wäre eine Glocke des Schweigens über die Bar gestülpt worden. So etwas hatte Fernando Diaz noch nicht erlebt, und er schüttelte sich, was ihn auch ärgerte. »Du kannst mir einen Gefallen tun!« Die Stimme der Frau riß ihn aus seinen Gedanken. »Ja bitte, was wünschen Sie?« Kurzes Überlegen und gleichzeitig ein Abschätzen des Mannes, wobei sich ihre glattrasierten Augenbrauen etwas in die Höhe schoben. »Ich will deinen Chef sprechen.« Er nickte. »Den… ahm… wen sollen Sie sprechen?« Seltsamerweise brachte er es nicht über sich, die Person zu duzen. »Den Boß!« »Das geht nicht.« Eine Sekunde später bereute er die Antwort schon, denn die Person schaute ihn an, als wollte sie ihn hypnotisieren. In ihren Augen tanzte ein kaltes Licht, das ihm ein starkes Unbehagen einflößte. »Warum geht das nicht?« Jetzt hätte er eigentlich standhaft bleiben müssen. Diaz schaffte es nicht. Er wich aus und meinte: »Ich kann ja mal nachhören, was Sache ist,
Lady. Viele Hoffnungen kann ich Ihnen aber nicht machen. Das müssen Sie mir glauben.« Sie nickte irgendwie gottergeben. »Ja, versuchen Sie es.« Diaz brauchte sich nur umzudrehen. Er tat es langsam. Bevor er den Hörer abnahm, wollte er sich eine Ausrede zurechtgebastelt haben. Es war unmöglich, den Boß zu stören. Der drehte durch, wenn dies passierte. Dafür kannte ihn Diaz gut genug. Es gab eben gewisse Regeln, an die sich die Angestellten halten mußten. Die Unbekannte konnte nicht sehen, wie er den Hörer abnahm. Er tippte drei Tastenfelder und tat wenig später so, als würde er mit einem anderen sprechen. Er gab sich zehn Sekunden, die ihm verflixt lange vorkamen. Danach drehte er sich aufseufzend um und hob gleichzeitig bedauernd die Schultern. »Nichts?« fragte die Frau mit ihrer kalten Stimme. »So ist es.« Sie leckte kurz über ihre Lippen. Diaz sah die Zunge. Sie schimmerte wie feuchtes, graues Metall. »Ich wollte auch nicht mit diesem Frank Rawlins reden, sondern…« »Moment, er ist der Chef!« »Für Sie vielleicht. Für mich ist er nur eine Marionette. Es gibt da noch einen anderen.« »Nein, nicht daß ich wüßte.« »Lügen Sie nicht!« zischte die Frau. »Es gibt jemand. Und ich kenne auch seinen Namen.« »Tatsächlich?« »Costello. Logan Costello, Mister.« Fernando Diaz hatte in den letzten Sekunden einen großen Teil seiner Sicherheit wiedergefunden. Das änderte sich nach den Worten radikal. Nicht daß er Furcht gehabt hätte, aber den Namen aus dem Mund dieser Person zu erfahren, glich beinahe einer Gotteslästerung, denn Costello war so etwas wie ein Gott in der Londoner Unterwelt. Ein Mafia-Gott zumindest. Er hielt die Fäden in den Händen. Mit seinen Leuten kontrollierte er ein gewaltiges Imperium, das sich nicht allein auf London beschränkte, sondern tiefer griff. Der Südwesten der Insel stand unter seiner Kontrolle, und seine Verbindungen erstreckten sich zudem bis ins Ausland. Gerade in letzter Zeit hatten sie dort zugenommen. Da hatte nicht nur Italien auf dem Plan gestanden, sondern neuerdings auch der Osten. Polen und Rußland waren Märkte. Costellos Macht wuchs, und ausgerechnet einen derartigen Mann wollte die Besucherin sprechen. »Unmöglich«, flüsterte Diaz, obwohl er eigentlich nichts hatte sagen wollen. »Was ist unmöglich?« »Daß Sie ihn sprechen.«
»Sie kennen Costello aber?« »Ja, sein Name ist mir nicht unbekannt, aber für einen normal Sterblichen ist es unmöglich, an ihn heranzukommen. Ich weiß nicht, welcher Teufel Sie geritten hat, hierherzukommen und mir dies ins Gesicht zu sagen.« »Teufel ist gut«, murmelte sie. Diaz ignorierte ihre Antwort. Mit einem blütenweißen Tuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn und beugte sich dem weiblichen Gast dann entgegen. »Wissen Sie was? Der Wodka geht auf meine Kosten. Rutschen Sie vom Hocker und verschwinden Sie, bitte! Das ist alles, was ich Ihnen noch raten kann.« Die Frau reagierte kaum. Sie blieb sitzen, hob die Augenbrauen an und fragte dann: »Sie glauben nicht, daß Sie einen Fehler begangen haben, wenn Sie mir das vorschreiben?« »Das war ein Rat, kein Fehler.« »Ich denke darüber anders.« Sie schaute ihn kalt an. Diaz fröstelte. Er ahnte, daß etwas auf ihn zukommen würde, aber er wußte nicht, was es war. Etwas stimmte mit dieser Person nicht, und auch deren nächste Frage erschreckte ihn. »Halten Sie mich für normal sterblich?« Diaz wollte grinsen. Es mißlang. Nur mehr die Lippen bewegten sich zuckend. »Wie bitte?« »Halten Sie mich für normal sterblich?« »Ja, verdammt! Was sonst?!« Die Frau nickte und sagte: »Dann geben Sie mal acht, mein Lieber. Schauen Sie genau hin.« Den Gefallen wollte er ihr noch tun. Er überlegte, mit welchem Trick sie jetzt wieder herausrücken würde, und er sah, wie sie ihren rechten Arm anhob. Daumen und Zeigefinger hielt sie etwas abgespreizt. Mit beiden faßte sie an eine bestimmte Stelle ihrer Stirn. Dicht unter dem Haaransatz, an der rechten Seite. »Schauen Sie genau hin!« Diaz schaute hin. Und er hatte das Gefühl, einen perfekten Horror-Film zu erleben. Er tauchte hinein in das Szenario des Schreckens, denn was er hier an der Bar zu sehen bekam, das glich schon einem irrwitzigen Alptraum. Die Frau hatte ein Stück Haut zwischen die Finger geklemmt. Sie schob und zog es von ihrem Gesicht weg. Sie schuf eine kleine Lücke, in der das graue Räderwerk einer Mechanik schimmerte… »O Gott«, sagte der Keeper nur, »o Gott…« Genau die gleichen Worte benutzte ich auch, als ich in der großen Duschkabine neben der Frauenleiche stehenblieb und auf sie niederschaute. Suko hielt sich neben mir auf, die Männer der Mordkommission waren zurückgetreten und hatten sich abgewandt. Die
dünnen Plastikhandschuhe über ihren Händen schimmerten wie eine hauchzarte Eisschicht auf rosigem Fleisch. Die Frau lag auf dem Rücken. Mehrere Duschtassen glotzten auf sie nieder wie Augen aus Metall. Der Raum hier gehörte zu einem städtischen Freibad, doch das interessierte uns nur am Rande. Die Frau war für uns einfach wichtiger. Sie war tot. Darauf kam es uns – so schlimm dies auch sein mochte – nur in zweiter Linie an. Es ging uns darum, wie sie gestorben war, und nur deshalb hatte man uns geholt. Sie hatte keine Haut mehr! Ja, es war so. Man hatte ihr die Haut vom Körper gezogen. Aber hier erlebten wir nicht den Film >Das Schweigen der Lämmer<, sondern eine fürchterliche Wirklichkeit, in die wir an diesem herrlichen Frühlingstag brutal hineingestoßen waren. Eine Putzfrau hatte die Tote entdeckt. Das Bad selbst war an diesem Vormittag geschlossen, erst am Mittag hätte es seine Pforten wieder geöffnet, und nun dies. Ich atmete und hatte trotzdem den Eindruck, keine Luft zu bekommen und nur den Kloß zu vergrößern, der sich in meinem Innern festgesetzt hatte. In meinem Kopf spürte ich ein dumpfes Gefühl, als hätte mir jemand vor kurzem noch gegen den Schädel geschlagen. Daß meine Beine und auch die Hände zitterten, konnte ich nicht vermeiden, und der Schweiß lief mir in kleinen Bächen in den Nacken hinein. Er war wie kaltes Öl, das sich auf meiner Haut festgesetzt hatte. Ich möchte mir eine Beschreibung ersparen. Wie die arme Frau aussah, kann sich wohl jeder vorstellen, aber wir waren vom Fach und konnten uns auch nicht einfach wegbeamen. Wir mußten uns der schrecklichen Realität stellen. Ich regte mich nicht. Suko, der neben mir stand, sagte auch nichts. Ich hörte nur seinen schnaufenden Atem und bemerkte, daß auch er von diesem Anblick stark getroffen worden war. Wir hätten jetzt eigentlich reden müssen, das schafften wir nicht. Uns kam einfach kein Wort über die Lippen. Ich umging die Person und wich auch dem dunklen Blut aus, dessen Oberfläche eine dünne Haut zeigte. Woher die Fliegen gekommen waren, wußte ich nicht. Jedenfalls umschwirrten sie die Leiche wie ein summender Schwarm. Das einzige Geräusch, das uns störte, denn die Kollegen der Mordkommission verhielten sich ruhig. Auch ihr Chef, der an der Tür stand wie ein Wächter. Er war ein Freund von uns und hatte sofort gemeint, daß dies ein Fall für uns war. Der Mann hieß Tanner, stand im Range eines Chiefinspectors und war bekannt dafür, daß er seinen alten Hut nie abnahm. Auch wir hatten ihn
nur selten ohne gesehen. Selbst in dieser nach Blut riechenden Duschkabine hatte er ihn aufbehalten. Suko und ich hatten unsere Runden beendet, und unsere Gesichter waren nach jedem Schritt bleicher geworden. Tanner erwartete uns schon und wurde auch nicht enttäuscht, als wir vor ihm stehenblieben. Es gab zahlreiche Fragen, er stellte keine, schaute uns nur an. Zum erstenmal las ich in seinen Augen etwas, das ich nicht kannte. Es war die reine Verzweiflung. Tanner, der Mann, der zahlreiche Berufsjahre auf dem Buckel und schon viel erlebt hatte, war ratlos. Nahezu dumpf starrte er uns an und sah, daß wir die Schultern hoben. »Gehen wir?« fragte er. Ich nickte. Wir mußten die Tote mit Tanners Leuten allein lassen. Eine Aufgabe, um die ich die Kollegen nicht beneidete. Wir wußten noch nicht, wer sie war, nach ihrer Kleidung wurde noch gesucht, aber das würde sich alles später herausstellen. Der Chiefinspector drehte sich um und öffnete die Tür. »Kommt mit«, sagte er nur. Wir schritten hinter ihm her. Ein mit kleinen schwarzen und weißen Fliesen ausgestatteter Flur nahm uns auf. Hier befand sich der Duschund Saunabereich. Es gab keine Fenster, das künstliche Licht kam mir grell und bösartig vor. Suko hatte einen Arm erhoben und wischte mehrmals mit der Handfläche über seinen Nacken. Immer wenn er wieder auf sie schaute, war sie feucht geworden. Tanner deutete nach vorn. Auch ohne ein Wort zu sagen, wußten wir, wohin er wollte. Man hatte in dieser Umgebung auch Ruhezonen eingerichtet, das heißt, es standen Tische und Stühle an den breiteren Stellen im Gang, wo sie niemand störten. Ein großes Bad ohne Menschen kann komisch wirken. Ich empfand es ebenfalls so. Diese Leere und auch das Schweigen wollte mir einfach nicht gefallen. Ich schaute zu, wie Tanner sich hinsetzte, den Hut aber nicht abnahm. Er starrte ins Leere und schien nicht wahrzunehmen, daß auch wir die Stühle heranrückten und ihm gegenüber unsere Plätze einnahmen. »Irgendwie bin ich froh, daß es mich erwischt hat und nicht einen jungen Kollegen. Der hätte ja den Glauben an diese Welt völlig verloren und womöglich alles hingeschmissen, und ich hätte es ihm nicht mal verdenken können.« Tanner schüttelte den Kopf. »Es ist einfach furchtbar, versteht ihr? Es ist grauenhaft, so etwas sehen zu müssen. Da lobe ich mir einen Mord, der einfach und glatt ist, obwohl sich dies auch zynisch anhört, aber im Vergleich zu dieser Tat wieder relativiert wird. Verdammt noch mal, in welch einer Welt leben wir eigentlich?« Er hatte die letzte Frage nicht gestellt, um eine Antwort von uns zu kriegen. Suko und ich hätten es ihm sowieso nicht sagen können. Es war
eine Welt des Schreckens, besonders der Teil, der sich in unserem Umfeld befand. Manchmal fragten wir uns, ob es überhaupt noch Steigerungen gab zu dem, was wir schon erlebt hatten, aber es gab sie, wie wir hier hatten sehen können. Schon einmal waren wir mit einem ähnlichen Fall konfrontiert worden. Da hatten wir in Monte Carlo eine Voodoo-Witwe gejagt. Doch die Sache war abgeschlossen. Jemand hatte hier eine neue Seite im Buch des Grauens aufgeschlagen. »Soll ich euch fragen, ob ihr eine Erklärung habt?« »Nein«, sagte Suko. Ich hob nur die Schultern. Mit leiser Stimme sagte ich. »Jetzt könnte ich einen Schluck vertragen.« Tanner hob bedauernd die Schultern. »Im Wagen habe ich die Flasche für alle Fälle. Soll ich sie holen?« »Später.« »Okay.« Er stützte sein Kinn auf die Hand und wurde sehr schweigsam, was wir von ihm kaum kannten. Dieser Fall war uns allen an die Nieren gegangen, und wir wußten nicht einmal, wo wir den Hebel ansetzen sollten. Die Frau war auf fürchterliche Art und Weise umgekommen, das allein war schon schlimm genug, aber wer sagte uns denn, daß sie die einzige Person war oder bleiben würde. Diese dünsteren Zukunftsaussichten bereiteten mir eine echte Bedrückung. »Warum?« fragte Tanner. »Was will jemand mit der Haut eines Menschen anfangen.« »Vielleicht will er sie transplantieren«, vermutete Suko. »Wozu?« »Ich weiß es nicht. Einen neuen Menschen erschaffen, wie es Dr. Frankenstein getan hat. Die Geschichte kennt ja wohl jeder. Variationen davon gab es auch zur Genüge, und nicht nur auf der Kinoleinwand. Auch wir haben unsere Erfahrungen damit sammeln können. Aber mehr kann ich nicht sagen, wirklich nicht.« »Leider.« Tanner nickte nur. »Was ist denn mit der Frau, die die Tote gefunden hat? Konntest du mit ihr sprechen?« »Nein, John, das war nicht möglich. Sie stand unter einem ungeheuren Schock.« Er streckte die Beine aus. »Wir haben sie in ein Krankenhaus bringen müssen. Wie lange es dauert, bis wir sie befragen können, das steht jetzt noch nicht fest.« »Gab es noch andere Zeugen?« Tanner schüttelte den Kopf. »Und wer die Frau sein könnte, weiß auch niemand.« »So ist es, Suko. Wir versuchen, ihre Kleidung zu finden. Es ist ja möglich, daß der Killer sie nicht mitgenommen hat. Meine Leute werden die Umkleidekabinen durchsuchen und sofort Bescheid geben, wenn sie etwas gefunden haben.«
Die Kabinen lagen auf derselben Etage, aber auf der anderen Seite dieses Bereichs. Es roch dort nach Chlor und anderen Mittelchen, die zur Reinigung des Wassers verwendet wurden. Ich fühlte mich wie von einem unsichtbaren Dunstvorhang eingehüllt. Aus der Ferne hörten wir Stimmen. Türen klappten. Jemand pfiff schrill und falsch. Wahrscheinlich wollte er sich Mut machen. Ich strich über meine Stirn, doch auch diese Bewegung konnte den Apparat der Gedanken nicht in Bewegung setzen. Da gab es eine Mauer oder eine Gummiwand, die nicht durchbrochen werden konnte. Ich zumindest blieb immer an ihr hängen und kam keinen Schritt weiter. Ich wußte nicht, wie wir den Fall anpacken sollten und ob er überhaupt in unsere Kategorie fiel. Doch so etwas hatte uns einfach zu interessieren. Wir waren es Tanner direkt schuldig, daß wir ihn bei seinen Recherchen unterstützten. Er malte mit dem Zeigefinger Figuren auf die Tischplatte. »Was ist, wenn wir nicht weiterkommen?« murmelte er. »Wie meinst du das?« »Ganz einfach, John. Wenn wir keine Spur finden. Müssen wir dann warten, bis so etwas noch einmal geschieht?« »Ich wünsche es uns nicht.« »Stimmt, ich auch nicht. Doch so ganz aus dem Auge lassen dürfen wir es wohl nicht.« »Ja, da hast du recht.« »Eben.« Suko dachte optimistischer. »Wenn wir die Kleidung des Opfers finden, wissen wir mehr. Ich hoffe nur, daß sich dort noch ein Ausweis befindet. Dann wäre die Spur heiß.« »Zu schön, um wahr zu sein. Ich glaube nicht, daß der Killer die Sachen hier im Bad gelassen hat. Es ist sowieso die Frage, was diese Unbekannte hier gesucht hat. Wie ist sie hineingekommen? Die gleichen Probleme muß natürlich auch ihr Mörder gehabt haben. War sie bereits seit gestern abend hier, ist sie erst in der Nacht eingestiegen?« Ich hob die Schultern. »Alles Dinge, die wir herausbekommen müssen. Es wird sehr viel Kleinarbeit geben, befürchte ich.« »Nicht eben dein Fall, wie?« »Stimmt, Tanner, nicht unser Fall. Das ist mehr etwas für dich. Damit mußt du dich herumschlagen, aber soweit sind wir leider noch nicht. Wir müssen auf unser Glück vertrauen.« »Und darauf!« Tanner deutete auf seine Nase. »Warum?« »Weil ich einen Riecher für Fälle habe, die große Dimensionen annehmen. Hier stinkt es, John. Hier stinkt es sogar gewaltig. Ich bin mir einfach sicher, daß Ungeheuerliches zusammenkommt, über das wir nur den Kopf schütteln können.«
Ich sprach nicht dagegen, denn ich kannte den alten Fuchs. Der hatte tatsächlich eine Nase für Fälle. Unser Gespräch geriet ins Stocken, als wir Schritte hörten. Einer von Tanners Leuten eilte herbei. Er trug etwas über dem Arm, das in Plastik eingepackt worden war. Als wir genauer hinschauten, sahen wir, daß tatsächlich Kleidung in dem Plastiksack steckte, und bestimmt gehörte sie der Toten. Der Mann holte sich einen Stuhl und ließ sich zwischen uns nieder. »Wir haben sie gefunden«, sagte er. Den Plastiksack hatte er auf dem Tisch ausgeschüttet. Darin befanden sich eine Hose, eine Bluse und ein Pullover. Natürlich auch Unterwäsche. »Das ist zumindest ein Anfang«, kommentierte der Chiefinspector. »Mehr habt ihr nicht gefunden, Toddy?« »Doch, Chef, wir wissen, wer sie ist.« »Und?« »Sie kam vom Festland, aus Prag. Sie heißt Anna Scoralla, aber fragen Sie mich nicht, was sie hier gesucht hat.« Tanner lachte knapp. »Ha, das ist doch schon etwas. Hast du die Papiere bei dir?« »Nein. Es wird bereits mit Prag telefoniert. Wir wollen mehr über diese Frau wissen. Kann ja sein, daß sie bei den dortigen Behörden nicht unbekannt ist.« »Gut gedacht, hätte ich auch getan.« Tanner zwinkerte uns zu. »Da hat der Killer einen Fehler gemacht. Wenn alles so eintrifft, wie ich es mir ausrechne, werden wir ihn auch kriegen.« Ich dachte nicht so optimistisch. »Einen Fehler, Tanner? Ich weiß nicht, ob es ein Fehler gewesen ist. Manche sind sich eben ihrer Sache so sicher, daß sie auf diese Dinge keine Rücksicht nehmen, denke ich. Besonders dann nicht, wenn es sich nicht um einen normalen Mord handelt. Du weißt, was ich damit meine.« »Klar, eine Tat, die in euer Gebiet fällt.« »Eben.« Tanner zog die Mundwinkel nach unten. »Ihr kennt mich. Ich bin oft froh, wenn ich einen Fall abgeben kann, diesmal jedoch sehe ich das anders. Bei diesem Schwein will ich dranbleiben. Ihr versteht mich hoffentlich.« »Ja.« Tanner stand auf. »Dann hätten wir hier nichts mehr zu tun.« Er sprach seinen Mitarbeiter an. »Von wo wird telefoniert?« »Vom Wagen, Chef.« »Gut.« Tanner nickte uns zu. »Laßt uns hingehen! Vielleicht haben wir noch mehr Glück.« Ich enthielt mich einer Antwort, drückte uns jedoch beide Daumen, daß dieses grausame Verbrechen aufgeklärt werden konnte. Ich war schon
jetzt davon überzeugt, daß dieser Mord nicht mit normalen Maßstäben gemessen werden konnte. Da steckte etwas Dämonisches, Teuflisches dahinter, ein höllisches Motiv, ein großer Plan. Um in den Flur der unteren Etage zu gelangen, mußten wir eine Treppe benutzen. In der Halle blieben wir neben dem Kassenhaus stehen. Links von uns lag ein großes Schwimmbecken. Durch die Glaswände fiel das Sonnenlicht, wurde gebrochen und zauberte zahlreiche Reflexe auf die Oberfläche des Pools, die so aussahen, als würden türkisfarbene Kobolde über die Wellenkämme tanzen. Die große gläserne Eingangstür war geöffnet worden. Ein Keil hielt sie so fest, daß sie nicht zuschwingen konnte. Vor der Tür, auch noch vor der breiten Treppe, standen die Fahrzeuge. Sie gehörten zum Fuhrpark der Mordkommission. Hinter ihnen hatten sich Neugierige eingefunden, die nicht wußten, was geschehen war, aber über den Fall tratschten. Wir schritten die Stufen der Treppe hinab in das helle, warme Licht des Frühlings. Es war einfach wunderbar, die warmen Strahlen der Sonne zu spüren, wie sie die Haut liebkosten. Der Himmel zeigte das Blau einer Postkarte. Kein Wölkchen malte sich bei ihm ab. Die Temperaturen waren in den letzten beiden Tagen sprunghaft gestiegen, so daß man schon besser von einem Sommer sprechen konnte, als vom Frühling. Tanner war schneller als wir. Er hatte auch vor uns den großen Einsatzwagen erreicht, tauchte hinein und sprach in ihm mit einem Mitarbeiter. Wir warteten vor dem Fahrzeug. Ich zündete mir eine Zigarette an, erhielt von Suko einen bösen Blick, hob nur die Schultern und blies den ersten Rauch in die Luft. Tanner verließ das Fahrzeug. Ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht. Es hatte einen zufriedenen Ausdruck. Es mußte eine positive Nachricht für ihn gegeben haben. »Erfolg gehabt?« fragte Suko. Tanner lächelte. »Wie man’s nimmt.« Er holte seine kleine Reserve aus der Tasche und reichte mir die Flasche. »Du wolltest doch einen Schluck nehmen, John, ich habe schon getrunken.« Ich schraubte den Verschluß los und ließ den goldbraunen Whisky in meine Kehle rinnen. Suko nahm keinen Schluck. Tanner steckte die Flasche wieder weg und nickte. »Ja, wir haben einen kleinen Erfolg erzielen können. Man kennt diese Frau in Prag.« »Ach«, sagte ich nur. »Anna Scoralla ist keine Verbrecherin. Sie steht auf unserer Seite, Freunde.« »Arbeitet sie für die Polizei?« fragte Suko.
»Ja und nein.« Tanner räusperte sich. »Ich brauche euch nicht zu sagen, welche Veränderungen es in diesem Land gegeben hat, damit meine ich nicht nur die Teilung in zwei selbständige Republiken. Ich denke eher an die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die es gegeben hat, und der Westen hat nicht nur ein ökonomisches Knowhow gebracht, sondern auch all das Negative, das ihn begleitet. Das Verbrechen mischt kräftig mit. Außerdem ist Prag, ebenso wie Warschau, der Knotenpunkt für die GUS-Staaten, und da möchte ich nicht den Begriff Russen-Mafia verwenden, sondern noch einen Schritt weitergehen. Ost-Mafia.« Suko nickte. »Diese Frau war also damit beauftragt worden, die OstMafia zu bekämpfen.« »Ja, sie gehörte einer Sondertruppe an, die von der Regierung gebildet wurde, um diesen Terror zu stoppen. Oder ihn zunächst einmal zu bekämpfen.« »Ist klar«, murmelte ich. »Aber was hatte Anna Scoralla hier in London zu suchen?« wollte Suko wissen. »Das ist eben die Frage. Man wird uns eine Antwort geben. Mein Mitarbeiter sagte mir, daß in Prag erst noch Unterlagen zusammengesucht werden müssen. Es wird ungefähr noch eine bis zwei Stunden dauern. Wir können dann von meinem Büro aus anrufen.« Damit waren wir natürlich einverstanden. Tanner schaute auf die Uhr. »In zehn Minuten?« »Okay.« Ich ging hinter Suko her, der an seinem BMW stehenblieb. Heute waren wir mit dem diamantschwarzen Flitzer gekommen. Er stieg noch nicht ein, und wir schauten uns über das glänzende Autodach hinweg an. »John, weißt du eigentlich, daß ich schon jetzt ein verdammt ungutes Gefühl habe?« »Das kann ich mir vorstellen.« »Mafia, Prag, Geschäfte mit der Angst der Menschen. Fällt dir dazu nicht ein Name ein?« »Meinst du Logan Costello?« »Genau ihn.« »Ich habe daran schon gedacht, und ich denke, daß wir ihm bald auf den Zahn fühlen werden…«
***
Die an der Bar sitzende Frau hielt ihren Hautlappen fest, als wäre er ein Stück Papier. Der Keeper hatte zunächst seine Hand vor die Augen pressen wollen, das gelang ihm nicht. Es kam ihm so vor, als hätte er von einer anderen Stimme den Befehl erhalten, genau hinzuschauen.
Und nur er sah das Schreckliche, denn die drei Mädchen hatten ihre Plätze hinter der Bar verlassen und sich zu den Gästen gesellt, um ihnen das Geld aus den Taschen zu holen. In der Lücke, die aussah wie ein vergrößertes V, sah er das blanke Metall und dahinter – oder dazwischen – eine grünlich schimmernde Verdrahtung. Noch etwas fiel ihm auf. Durch den Druck hatte sich die gesamte Gesichtsfront verschoben. Sie erinnerte ihn an eine Maske, die man abnehmen und wieder aufsetzen konnte. Das Lächeln auf dem Gesicht war geblieben. Es wirkte jetzt verzerrt und bösartig. Er hätte sich nicht gewundert, wenn die Frau auch noch ihre Lippen abgerissen hätte. Sehr langsam bewegte sie ihre Finger und damit auch das Stück Haut. Sie preßte es wieder gegen ihr Gesicht, als würde sie ein Stück Gummi anleimen, das war alles. Das Gesicht sah wieder so glatt aus wie zuvor, und der Keeper glaubte, aus einem Alptraum erwacht zu sein. Er zwinkerte, weil ihm salziger Schweiß in die Augen gedrungen war, doch nicht nur deshalb. Er konnte das Erlebte einfach nicht begreifen. Das war der Alptraum schlechthin, und es war nicht einmal ein böser Scherz. Die Unbekannte aber saß auf ihrem Hocker, als wäre nichts geschehen. Sie hatte die Arme angehoben und sie verschränkt auf den Handlauf der Bar gelegt. Völlig emotionslos schaute sie den Keeper an, der die Welt nicht mehr verstand. »Kann ich jetzt mit ihm sprechen?« Fernando Diaz holte Luft. »Wen… wen… meinen Sie?« »Nicht Frank Rawlins, Costello!« »Meine Güte, nicht so laut!« Er schaute sich scheu um. »Diesen Namen zu sagen, ist…« »Er ist bei euch!« »Ich weiß es nicht!« »Aber ich. Meine Quellen sind gut. Ich will zu ihm. Costello wird nicht durch das Lokal gegangen sein, sondern einen hinteren Eingang benutzt haben. Und ich denke mir, daß er sich in Rawlings’ Büro befindet. Du wirst mich hinführen.« Nichts an ihrer Stimme hatte sich verändert. Sie war auch weiterhin kalt und gelassen geblieben. Dieses Weib zeigte keine Emotionen, und für Diaz war sie keine Frau mehr, sondern gehörte schon zu der nächsten Generation von Robotern, vor denen viele Menschen warnten, weil sie Furcht davor hatten, daß derartige Wesen letztendlich die Kontrolle über die Menschen erlangten und selbst nicht mehr kontrollierbar waren. »Wenn du gleich nicht gehst, werde ich dich töten. Und zwar hier und vor aller Augen.« Diaz erbleichte noch stärker, worüber er sich selbst wunderte. So unwahrscheinlich diese Worte auch klangen, beim Nachdenken darüber
glaubte er schon, daß sie stimmten, denn dieser Person traute er einfach alles zu. »Ja«, sagte er, »kommen Sie mit.« Wie zufällig rutschte seine Hand dabei unter die Arbeitsplatte. Dort befand sich auch der helle Knopf. Wurde er gedrückt, erklang in Rawlins’ Büro ein Alarmsignal. Der Mann wußte also Bescheid und würde schon die entsprechenden Maßnahmen treffen. Diaz schnippte mit den Fingern und winkte zugleich. Die Geste wurde von den drei Barmädchen gesehen. Eine von ihnen löste sich aus einer Sesselecke, stellte ihr Glas weg und übernahm den Platz hinter der Bar. Breit lächelnd blieb sie vor Diaz stehen. »Dauert es länger?« Er warf der Unbekannten einen raschen Blick zu. »Das weiß ich nicht genau.« »Wo willst du denn hin?« »Zu Frank.« »Ach so!« Die Kleine drehte sich. »Mit ihr?« Sie schaute dabei die Frau an der Bar an, wollte noch etwas sagen, aber das erste Wort blieb ihr bereits im Ansatz in der Kehle stecken, denn sie hatte nur die Augen gesehen und Bescheid gewußt. Ein nie gekanntes Frösteln war über ihre nackten Schultern gerieselt, verbunden mit einem pressenden Gefühl der Furcht. Sie wußte, daß es besser war, wenn sie jetzt keine Frage mehr stellte. Das konnte nur schlimm enden. Fernando Diaz verließ seinen Platz hinter der Bar. Er fürchtete sich, er ging geduckt, blieb stehen und wartete auf die Person, die langsam vom Hocker rutschte und wieder mit diesen sehr elegant und lasziv wirkenden Schritten vorging, bis sie Diaz erreicht hatte, der nickte. »Bleiben Sie an meiner Seite.« »Das werde ich.« Im Hintergrund der Bar gab es eine Tür. Sie lag etwas erhöht und nicht weit von der Plattform entfernt, wo die Mitglieder der kleinen Band saßen, die jetzt wieder zu ihren Instrumenten griffen. Die Tür war nicht verschlossen, und der Keeper drückte sie auf. »Nach Ihnen«, sagte die Frau. Diaz ging vor. Augenblicklich war der plüschige Charme der Bar verschwunden. Betonwände, über die eine helle Kalkschicht gestrichen worden war, flankierten den Gang. Nur einige Türen unterbrachen die Glätte, und das wenige Licht gab den Eintretenden weiche Schatten, die ihre Körper begleiteten. Ziemlich weit hinten stand ein Mann. Er rührte sich nicht, und er gehörte zu Rawlins wie das Salz zum Ei, denn Ronco war der Leibwächter des Barbesitzers. Er stammte aus Sizilien, galt als Schlächter und sah auch so aus. Der Anzug stand ihm nicht. Aus dem weißen Kragen wuchs ein Hals mit rötlicher Haut hervor, und diese Röte setzte sich auch in seinem Gesicht fort. Die schwarzen
Haare lagen wie angeklebt auf seinem Kopf. Um den Mund herum und auch auf den Wangen wuchs ein dichter Bart wie dunkles Gestrüpp. Diaz schielte auf die Frau. Sie mußte den Mann gesehen haben, doch sie zeigte keine Angst. Gelassen ging sie weiter, bis Ronco den rechten Arm vorstreckte, wobei er seine Hand zur Faust geballt hatte. Er sagte nur ein Wort. »Stopp!« Beide blieben stehen. Ronco wandte sich an Diaz. »Ist das die Person?« »Klar.« »Du kannst gehen. Ich werde sie zurückbringen!« erklärte er. Diaz fiel ein Stein vom Herzen. Er war froh, aus dieser Klemme heraus zu sein. Rückwärts ging er die ersten Schritte. Danach drehte er sich um und rannte aus dem Gang. Als die Tür zugefallen war, räusperte sich Ronco, bevor er redete. Er wunderte sich sowieso, daß Diaz wegen dieser Frau den Alarmknopf gedrückt hatte. Sie war eine lächerliche Figur, mit ihr würde er immer fertig werden. »Hör zu, Süße, wer immer du auch sein magst, aber Frank ist für dich nicht zu sprechen.« »Das weiß ich.« »Dann hau ab.« »Pardon.« Sie blieb bei ihrer freundlichen Kälte. »Ich habe auch keinen Grund gesehen, mit Frank zu sprechen. Das will ich gar nicht, wenn Sie verstehen.« »Dann frage ich mich, weshalb du gekommen bist. Willst du hier arbeiten?« »Das hatte ich auf keinen Fall vor. Ich möchte auch nicht zu Frank Rawlins, sondern zu Logan Costello, und ich weiß, daß er hier ist. Ich habe meine Informationen. Jetzt machen Sie Platz, ich will rein, Mister.« Bei Ronco trat das ein, was er so gut wie noch nie erlebt hatte. Er war sprachlos geworden. Die Selbstsicherheit dieser Person irritierte ihn. Was die sich einbildete, war ungeheuer, das war nicht zu fassen, das war einfach unglaublich. Sie nahm den Namen Costello in den Mund, als wäre er ein mieser Pinscher und nicht der Herrscher über die Londoner Unterwelt. Da Ronco durch Worte weniger überzeugen konnte als durch Taten, griff er auch direkt zu. Die Frau rührte sich nicht. Sie ließ es geschehen, daß er seine rechte Hand schraubstockartig hart um ihren rechten Arm klammerte, sie dann zur Seite zerrte und anschließend nach vorn drückte. »Ich werde dich persönlich aus diesem Haus schaffen, du kleine Nutte. Ich werde dich sogar fertigmachen und…« Sie ging nicht mehr weiter. Sie blieb stehen!
Ronco war so überrascht, daß er zunächst keine Worte mehr fand. Er drehte den Kopf und schaute auf seine Hand. Tatsächlich, sie umklammerte noch immer den Arm der Frau. »Versuche es nicht«, sagte sie. »Verdammt, du miese…« Er holte nicht nur aus, er schlug auch zu. In den breiten Händen steckte eine immense Kraft, er wollte ihr das Gesicht zerschmettern, doch die Frau hob blitzschnell ihren linken Arm und hielt dagegen. Kaltblütig wehrte sie den Schlag ab. Ronco aber schrie auf, weil er den Eindruck hatte, gegen Metall geschlagen zu haben, so hart war dieser Arm gewesen. Seine andere Hand rutschte ab. Er sackte etwas in die Knie, er holte auch pfeifend Luft, und in seine Augen trat ein sehr böses und grausames Funkeln. Wieder war die Frau schneller. Diesmal stieß ihr linker Arm vor, und die flache Hand erwischte die Brust des Mannes. Sie drehte und drückte ihn herum, so daß er mit dem Rücken gegen die Wand gepreßt wurde, noch immer so überrascht, daß er zu keiner Gegenwehr mehr fähig war. Die wäre auch zu spät gekommen, denn die Frau vor ihm zeigte, was tatsächlich in ihr steckte. Selbst ein massiger Kerl wie Ronco war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Der Druck dieser Hand glich dem einer Eisenplatte, und er preßte ihm die Luft aus den Lungen. Die Frau starrte ihn für einen Moment an. Sie hielt den Blick auf die Augen des Mannes gerichtet, und diese Botschaft kam rüber. Ronco glaubte, den Tod zu sehen. Nicht den großen Schnitter oder den Sensenmann, sondern genau das Gefühl oder die Aura, die auch diese mythische Gestalt ausströmte. Der Tod war nah… Die Augen hypnotisierten ihn. Er achtete nicht auf die andere Hand der Frau, die sie ausgestreckt hielt. Ihre Finger berührten den Bauch des Mannes. Dann drückte sie zu. Erst als der Schmerz wahnsinnig wurde und den Mann zu verbrennen drohte, schaute er nach unten. Er sah das Blut. Sein Blut! Es quoll an einer bestimmten Stelle aus seinem Körper. Und er sah nur mehr die Hälfte der Frauenhand. Im Augenblick des Todes so erschreckend klar und deutlich, dann aber trafen ihn die ersten Schatten aus dem Jenseits, und sein Blickfeld verschleierte sich. Er war tot! Im Gesicht der Frau hatte sich nichts geregt. Sie zog ihre Hand wieder zurück, wischte sie ab und packte den linken Arm der leblosen Gestalt, die sie auch nicht losließ, als sie sich der entsprechenden Tür entgegendrehte.
Die Mörderin brauchte nur wenige Schritte zu gehen, um sie zu erreichen. Sie schob die Tür auf, betrat Rawlins’ Büro und schleifte den Toten dabei hinter sich her wie eine alte Puppe…
***
In Tanners Kommandozentrale, wie er seinen Arbeitsplatz nannte, herrschte wie immer eine dichte Hektik. Wir waren kaum eingetreten, als Tanner schon von mehreren Männern gleichzeitig angesprochen wurde, er aber mit beiden Händen abwinkte und erklärte, daß er für keinen zu sprechen sei. Ausnahme der neue Fall. Da hatte sich aber nichts getan. »Kommt mit«, sagte er und stieß seinen Hut zurück. Suko blieb vor einem Automaten stehen. Das Kleingeld hielt er schon bereit. Drei Becher mit Wasser balancierte er in Tanners gute Stube und stellte sie auf dem Tisch ab. »Danke«, sagte der Chiefinspector, »das brauche ich jetzt.« Auch mir kam die kalte Flüssigkeit sehr gelegen, denn in dem Raum war es verdammt warm. Tanner ließ sich schwer auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen und schüttelte den Kopf, als er uns anschaute. »Mein Gott, allmählich denke ich wirklich über eine Pensionierung nach.« »Warum?« »Ach, es kommt zuviel zusammen. Es ist ja nicht nur dieser eine Fall, auch woanders ist es zu Morden gekommen, aber lassen wir uns darüber nicht unterhalten. Die Kollegen von der Nachtschicht sind ausgerückt. Es geht um Bandenkrieg.« Zu dem Zeitpunkt interessierte uns das noch nicht, außerdem waren wir keine Hellseher. Wir warteten auf Ergebnisse aus Prag und schauten immer wieder auf die Uhr. Auch Tanner klopfte ab und zu auf das Zifferblatt. »Hoffentlich sind die Kollegen in der Tschechei so gut, daß sie uns mit Informationen versorgen können. Alles andere interessiert mich nicht. Ich kann es noch immer nicht fassen. Da lag eine Frau, der die Haut…«, er schüttelte sich. »Wer tut denn so etwas?« »Kein normaler Mensch«, sagte Suko. »Aber es ist leider kein Einzelfall. Wir haben etwas Ähnliches in Monte Carlo bei der Voodoo-Witwe erlebt, aber das wird wohl hiermit nichts zu tun haben, denke ich.« »Ich hoffe es.« Dann lachte er und sprach wieder von seiner Frau, die sich selbst nach so langen Dienstjahren noch über den Job ihres Mannes ärgerte. »Stellt euch mal vor, mein alter Bettkumpel wollte mit
mir nach Venedig fahren. Das hat sie mir am letzten Wochenende gesagt und beinahe schon die Koffer gepackt.« »Warum bist du nicht weg?« fragte ich. »Ha, was soll ich denn in Venedig? Bin ich ein Jüngling? Bin ich frisch verliebt?« »Nein.« »Eben, deshalb bleibe ich hier. Außerdem wird man da als Tourist nur geneppt.« Wir widersprachen ihm nicht und hörten seine nächste gemurmelte Frage. »Was will der Mörder mit der Haut? Was, zum Teufel, kann er damit anfangen?« »Er kann sie durchaus für ein magisches Ritual gebrauchen«, sagte ich. »Meinst du?« »Sicher.« »Und welches?« Ich hob die Schultern und verdrehte die Augen. »Da bin ich leider überfragt. Es gibt derartig viele Varianten der Magie, daß man sie nicht alle wissen kann. Daß dies kein normaler Fall ist, steht für mich fest.« »Ja, das denke ich auch.« Suko meldete sich zu Wort. »Was könnte eine Frau wie Anna Scoralla hier gesucht haben?« »Keine Ostereier«, muffelte Tanner. »Sie hat eine Spur aufgenommen und ist grausam gescheitert.« »Wessen Spur?« fragte Suko. »Das müssen wir herausfinden.« »Habt ihr denn keinen Verdacht?« Den hatten wir nicht. Wir konnten ihn auch nicht haben, weil alles noch zu sehr schwebte und wirkeinen festen Grund unter den Füßen spürten. Schließlich sagte Tanner: »Bevor wir hier noch lange herumreden, werde ich es mal versuchen.« Er faltete einen Zettel glatt, auf dem die Rufnummer stand, und nahm den Hörer hoch. Sehr langsam und genau tippte er die lange Rufnummer in die Tastatur ein und hoffte, daß die Verbindung mit dem Kontinent zustande kam. Wir warteten. Es dauerte. Aber wir hatten Glück. Es war nicht besetzt, und Tanner wäre beinahe von seinem Stuhl hochgehüpft, als abgehoben wurde. Tschechisch konnte er nicht, aber auf der Seite gab es jemand, der ihn verstand und verband, was alles sehr gut klappte. Anscheinend hatte man bereits auf sein Telefonat gewartet. »Es läuft«, sagte er zu uns, ballte seine freie Hand zur Faust und schob mit dem ausgestreckten Daumen den Hut noch weiter in den Nacken. Vom Kopf rutschte er deshalb nicht.
Und dann war alles nur ein Kinderspiel. Über Lautsprecher hörten wir mit. Gleichzeitig wurde das Gesprach auf Band aufgezeichnet, so daß wir es immer wieder hören konnten, wenn es nötig war. Was wir an Neuigkeiten erfuhren, das haute uns beinahe von den Stühlen. Daß diese Anna Scoralla eine Spezial-Agentin gewesen war, wußten wir, doch welchen Hundesohn sie jagte, hörten wir erst jetzt. Es war der Londoner Mafia-Fürst Logan Costello. Selbst Tanner lief es kalt den Rücken runter, denn damit hatte er auf keinen Fall gerechnet. Durch exakt gestellte Zwischenfragen erfuhren wir, um was es eigentlich ging. Die Tschechen wollten Costello nicht in ihrem Land haben. Er war dabei, seine Organisation auszuweiten, und davon hatten die Behörden Wind bekommen. Offiziell hatten sie sich nicht mit uns in Verbindung gesetzt, sondern einer ihrer Agentinnen den Fall überlassen. Was dabei herausgekommen war, hatten wir erlebt. Die Kollegen in Prag wußten auch nicht, ob sich Costello noch in Prag aufhielt, er war allerdings dort gewesen und mußte sich auch mit jemandem getroffen haben. Mit wem? Mit dem Mörder der Anna Scoralla? Das kam hin, dann hätte ihr Tod einen Sinn gehabt, wenn man überhaupt von so etwas sprechen kann. Doch hätte nicht auch eine Kugel gereicht? Warum diese schreckliche Tat, der Toten die Haut abzuziehen. Das glich einem Ritual, und da hakte es natürlich bei mir aus. Suko und ich wußten sehr gut, daß es Zeiten gegeben hatte, in denen Costello und Asmodis zusammengearbeitet hatten. Das war vorbei, oder man hatte es ruhen lassen. Nur wegen dieser Zusammenarbeit waren wir immer mit dem Mafioso konfrontiert worden, und wir konnten uns sehr gut vorstellen, daß die alte Partnerschaft reaktiviert worden war. Viel Neues erfuhr Tanner nicht mehr. Jedenfalls zeigten sich die Kollegen in Prag noch immer über den Tod ihrer Mitarbeiterin erschüttert. Der Chiefinspector versprach, sie auf dem laufenden zu halten, dann legte er den Hörer mit einer schwerfällig anmutenden Geste auf. »So, Freunde, jetzt wissen wir alles oder auch überhaupt nichts, denke ich.« »Eher nichts«, sagte ich. »Klingelt es bei dir nicht?« »Wenn, dann nur sehr leise.« Tanner lehnte sich zurück, und das Holz seines Bürostuhls quietschte. »Ich glaube, daß ihr ebenso denkt wie ich. Einiges deutet darauf hin, daß hier wieder eine unheilige Allianz geschlossen werden soll. Das gefällt mir gar nicht.« »Uns auch nicht.« »Costello und der Teufel…« »Muß es der Teufel sein?« fragte Suko.
»Wer sonst?« »Ich weiß es nicht. Prag ist eine Stadt mit Gruselgeschichte. Denkt nur an den Golem, diesen künstlichen Menschen, der die Vorlage für Goethes Faust gewesen ist. Ich würde keinen Eid darauf leisten, Tanner, ich nicht.« »Dann bin ich überfragt. Dämonen sind eure Sache. Es gibt ja unzählige davon. Macht ihr es, fahrt nach Prag.« »Das werden wir wohl müssen«, sagte ich. »Und bringt Costello als Zugabe mit.« »Falls er sich dort aufhält«, warf Suko ein. »Ich kann es nicht beschwören, aber ich könnte mir vorstellen, daß Costello in diesem Fall nur als eine Randfigur auftritt.« »Ist möglich«, sagte der Chiefinspector. Jemand klopfte. Wenig später trat ein Kollege ein, der einen Hefter unter den Arm geklemmt hatte. Er legte ihn auf Tanners Schreibtisch und blieb stehen. »Was ist das?« »Der Fall von heute nacht, Chef.« »Was soll ich denn damit?« »Zunächst einmal als Information. Es sind immerhin Taten geschehen, die sich im Mafia-Umfeld abgespielt haben. Ich würde mal einen Blick hineinwerfen.« »Mafia… Mafia«, sagte Tanner beinahe angewidert. »Ich kann es nicht mehr hören.« »Das sind aber keine kleinen Fische. Unsere Leute haben einen angstschlotternden Zeugen auftreiben können, und der hat ihnen Dinge erzählt, die glauben Sie nicht.« »Sie denn?« »Ich zweifle auch.« »Welche Dinge denn?« wollte ich wissen. Ich war etwas aufmerksam und auch mißtrauisch geworden. Der Kollege grinste. »Das könnte direkt in Ihren Bereich fallen, denn der Zeuge, er ist Barkeeper, hat von einer Frau gesprochen, die kein richtiger Mensch sein soll.« »Was dann?« »Weiß ich auch nicht so genau. Es steht aber alles in dem Bericht. Er dachte an einen Roboter, der nur aussah wie ein Mensch. An eine Maschine mit Haut, verstehen Sie?« Wir verstanden alles und nichts. Aber das Wort Haut, das hatte uns förmlich elektrisiert. Es zweimal in einem Zusammenhang mit Verbrechen zu hören, war doch bestimmt kein Zufall… ***
Frank Rawlins war zwei Tage zuvor fünfundvierzig Jahre alt geworden, und der Streß dieser Feier steckte ihm noch immer in den Knochen. Da war der Bär losgelassen worden, und einige Kampftrinker hatten eigene Rekorde gebrochen. Das lag zurück, der Job hatte ihn wieder, und über den konnte sich Rawlins nicht beklagen. Er war gut im Geschäft, hatte die Oberaufsicht über fünf Bars und drei Clubs, konnte selbständig agieren, mußte jedoch einmal im Monat dem großen Boß im Hintergrund Bericht erstatten. Und Costello konnte verdammt sauer werden, wenn es nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte. Seine engen Mitarbeiter, juristisch und kaufmännisch geschult, kümmerten sich um die Bilanzen wie penible Buchhalter. Rawlins war ein Mann mit grauen Haaren, die seinen Kopf wohlfrisiert Umlagen. Er selbst war nicht groß, deshalb hatte er sich die Haare zu einer Mähne gekämmt. Um noch mehr aufzufallen, hatte er sich eine Brille mit rotem Gestell gekauft. Überhaupt war die Farbe Rot so etwas wie ein Markenzeichen bei ihm, denn so oft wie möglich trug er auch ein rotes Jackett oder in der Freizeit rote Hosen. Natürlich besaß er auch einen roten Smoking, dem an diesem Abend jedoch das rote Jackett vorgezogen wurde. Es war kein guter Abend gewesen. Costello persönlich war zu ihm gekommen. Er hatte sich den Bericht angehört, er hatte Unterlagen gelesen und war nicht zufrieden gewesen. Der Umsatz ging zurück, und Costello wollte nicht begreifen, daß dafür die allgemeine wirtschaftliche Lage die Verantwortung trug. Er schob die Schuld eben auf seine Mitarbeiter, und das konnte für manchen böse enden. Rawlins war eine Frist gesetzt worden. In drei Monaten sollte sich das Geschäft erholt und eine Steigerung von zehn Prozent erfahren haben. Wenn nicht, konnte Rawlins wieder Autos verkaufen, wie er es früher getan hatte, und auch diese Branche erlebte nicht gerade eine Hochkonjunktur. Entsprechend war er, als er plötzlich das Alarmsignal hörte. Beinahe hätte er sich am Gin verschluckt, und sein Leibwächter war sofort aufgesprungen. »Wer immer es ist, Ronco, weg mit ihm.« »Geht klar, Chef.« Rawlins wußte, daß er sich auf Ronco verlassen konnte. Jetzt ärgerte er sich noch mehr, daß er es wieder verpaßt hatte, eine VideoÜberwachung im Laden und auch vor der Bar installieren zu lassen. Wenn die Umsätze wieder stiegen, wollte er darüber mit den entsprechenden Leuten reden. Der Gin fegte durch seine Kehle. Rawlins wunderte sich selbst darüber, daß er dieses Zeug so gern trank. Whisky, Cognac und auch Wodka sagten ihm hingegen zu.
Ronco war verschwunden. Durch die schallgedämpfte Tür war nichts zu hören. Der Barbesitzer wunderte sich nur darüber, daß sein Leibwächter so lange wegblieb. Es hatte doch nicht etwa Schwierigkeiten gegeben? Um diesen vorzubeugen, zog Rawlins eine Schublade auf und holte einen Revolver hervor. Er schaute ihn für einen Moment an, bevor er wieder in die Schublade griff und das Zusatzteil, einen Schalldämpfer, auf die Mündung schraubte. Nun legte er die Waffe wieder zurück, schloß die Lade aber nicht ganz. Man konnte nie wissen… Ronco war noch immer nicht da. Allmählich packte den Mann die Ungeduld. Er wollte schon nach seiner Waffe greifen und nachschauen, als er sah, daß sich die Türklinke nach unten bewegte und die Tür dann ganz aufgedrückt wurde. Einen Moment später betrat sie den Raum. Rawlins hatte etwas sagen wollen, auf einmal hatte er keine Stimme mehr. Was er da sah, war so unmöglich, daß er nicht mal mehr atmen konnte. Da betrat eine fremde Frau den Raum. Er hatte sie noch nie gesehen. Sie trug einen Mantel, darunter ein dunkles, enges Kleid, und sie zog etwas hinter sich her, das wie eine Puppe aussah und über den Boden schleifte. Eine Puppe, die keine war, sondern ein Mensch, der blutete und einen klebrigen roten Streifen auf dem Boden hinterließ. Ein Mensch, den Frank Rawlins kannte – Ronco! Er war tot. Rawlins hatte dafür einen Blick, und als Mörder kam nur diese Frau in Frage, die stehengeblieben war und die Tür mit dem rechten Fuß wieder zukickte. Kaum war sie geschlossen, als sie auch das Handgelenk des Toten losließ. Dessen Arm prallte zu Boden. Regungslos blieb der Mann liegen, und zwar so, daß Rawlins auch die fürchterliche Wunde in der Körpermitte sehen konnte. Das darf nicht wahr sein!, schoß es ihm durch den Kopf. Verdammt, das träume ich nur! Er träumte es nicht, denn die Frau sprach ihn mit einer kalten Stimme an. »Sie sind Rawlins. Wo ist Costello?« Er schwieg. Die Unbekannte kam einen Schritt vor. »Wo ist Costello?« Erst jetzt schrak Rawlins zusammen. Noch immer unter Schock stehend flüsterte er: »Nicht hier.« »Wann kommt er zurück?« »So schnell nicht mehr.« »Was heißt das?« »Er… er wollte London verlassen.« »Auch das Land?«
»Ja.« »Reist er nach Prag?« Erst jetzt wurde Rawlins bewußt, was er getan hatte. Er hatte dieser unbekannten Killerin Rede und Antwort gestanden wie ein Schulbub der Lehrerin. Es hatte einfach an dem Schock gelegen, denn noch immer konnte er nicht so recht fassen, daß Ronco tot war. Tot, brutal gekillt! Rawlins schoß das Blut ins Gesicht. Seine Lippen zuckten, er spürte hinter der Stirn den Druck. Eine wahnsinnige Wut hatte sich in seinem Innern aufgestaut, und als er der Frau ins Gesicht schaute, da hatte er das Gefühl, dem perfekten Tod auf zwei Beinen gegenüberzusitzen. Dabei interessierten ihn die Beine weniger, viel wichtiger war das glatte, faltenlose Gesicht mit den eiskalten Augen. Frank Rawlins kannte sich in der Branche aus. Er wußte, wie grausam Gangster sein können, er hatte bei Morden zugeschaut, aber derartige Augen hatte er noch nie gesehen. Sie waren so etwas von kalt, daß allein ihr Anblick ihn frösteln ließ. Wenn er bisher noch Zweifel gehabt hatte, wer Ronco getötet hatte, jetzt waren sie ausgeräumt. Perfekter konnte ein Killer nicht sein. Ronco war tot, sollte er jetzt daran glauben? Es fiel Rawlins schwer, seinen Blick von diesem Gesicht wegzunehmen und sich wieder auf sich selbst zu konzentrieren. Er saß günstig, weit genug von der Schublade entfernt, in der die schallgedämpfte Waffe lag. Mit einem Griff hatte er sie an sich genommen. Über den Schreibtisch hinweg richtete er die Mündung auf die normal dastehende Frau, die von dem Revolver nicht beeindruckt schien. »Das war es dann wohl«, sagte der Mann. »Hast du ihn getötet?« »Ja.« Ohne zu zögern, gab die Unbekannte diese Antwort. »Ich brachte ihn um.« Sie fügte auch gleich eine >Erklärung< hinzu. »Es mußte sein.« »Warum?« »Weil er mich nicht zu dir lassen wollte.« Rawlins stand kurz vor dem Durchdrehen. Diese Antworten waren so normal, und trotzdem redete dieses glatte Weibsbild hier von einem Mord, als hätte sie sich in einem Schnell-Imbiß eine Suppe bestellt. Das überriß er nicht. Er war auch nicht in der Lage, den Bogen weiter zu spannen, denn irgendwo war sein Denken blockiert. »Wo und wie komme ich an Costello heran?« Bei Rawlins brach der Damm. »Verdammt noch mal, du killende Nutte. Ich bin es leid. Es gibt für dich keinen Costello, und es wird für dich nie einen geben.« Er sprang in die Höhe, ohne seine Waffe aus der Hand zu legen. »Für dich gibt es einzig und allein nur den Tod. Hast du verstanden?« Sie reagierte nicht.
Dafür Rawlins. Er war allein. Sie war hier eingedrungen. Wenn er sie erschoß, war es Notwehr. Daran würden selbst die Bullen nichts mehr finden, aber die wollte er aus dem Spiel lassen. Gelassen stand die Person vor seinem protzigen Schreibtisch. Und dann drückte er ab! *** Was anschließend passierte, war so ungeheuerlich, daß sich Rawlins vorkam wie ein Zuschauer, der auf der Leinwand einen im Zeitlupentempo ablaufenden Film verfolgte. Er hatte nur ein leises Geräusch gehört, aber er sah, wie die Kugel in die Brust der Frau einschlug. Sie jagte durch den Stoff, sie jagte durch die Haut, er vernahm einen schmatzenden Laut und danach ein helleres Singen. Jetzt mußte sie fallen, jetzt würde möglicherweise Blut spritzen, wenn er eine Arterie getroffen hatte. Nichts von dem geschah. Sie blieb stehen. Nur ihre Augenbrauen zogen sich etwas zusammen. Sie senkte den Kopf und schaute nach links. »Du hast mir ein Loch ins Kleid geschossen, Mister.« Ein Loch ins Kleid geschossen! Ein Loch! Ich werde noch verrückt, verdammt! Er feuerte noch einmal. Diesmal traf er die rechte Seite des Körpers. Wieder hieb die Kugel hinein, und die Frau… ja, die stand noch immer, als wäre nichts geschehen. Sie schüttelte etwas unwillig den Kopf. »Schade«, sagte sie dann. »Sehr schade. Ich hatte eigentlich vorgehabt, dich am Leben zu lassen. Nun nicht mehr.« Rawlins hatte alles gehört. Keuchend holte er Luft. Er faßte es nicht, aber er begriff doch, daß er sich in einer verdammten Gefahr befand. Diese Person war ihm über. Wer immer sie auch sein mochte, sie… sie war kein Mensch mehr. Er schwitzte wie nie in seinem Leben und bekam kaum mit, daß er seinen rechten Arm und damit auch die Waffe senkte. »Wer bist du?« keuchte er. »Wie heißt du, verdammt?« »Altea…« Er schnappte nach Luft. »Wie heißt du?« Sie wiederholte den Namen und fügte dann noch etwas hinzu, das er nicht verstand. »Ich bin Cigams Sündenfall…« Rawlins lachte, obwohl er es nicht wollte. Mit diesen Antworten kam er nicht zurecht. Sie hätte auch in einem altägyptischen Dialekt sprechen können, es wäre auf das gleiche rausgekommen. Dann preßte er seine
ihm alles bedeutende Frage hervor. »Warum bist du nicht tot? Ich habe dich zweimal getroffen. Du müßtest tot sein.« Sie schenkte ihm ein eisiges Lächeln, als würde sie über den Dingen stehen. Kalt und arrogant. »Ich bin nicht tot, weil ich Cigams Sündenfall bin.« »Scheiße, das ist…« »Ich werde immer leben. Ich bin das, von dem die Menschen schon im Mittelalter träumten.« Er wollte es nicht glauben, aber Altea zeigte es ihm. Gelassen hob sie einen Arm und legte die Stirn in Falten. Mit zwei Fingern hielt sie eine Falte für einen Moment fest, dann zog sie an der Haut, und Frank Rawlins schaute zu, wie die Haut, einem Stück weichen Papier ähnlich, nach unten glitt. Sie hätte Knochen, Sehnen, dünnes Fleisch und Blut freilegen müssen, damit rechnete er. Statt dessen sah er etwas, das ihn beinahe um den Verstand brachte. Räder, kleine Riemen, dünne, glänzende Stangen, die verschiedene Räder miteinander verbanden, und er sah auch, daß sich diese Dinge in ihrem Kopf zitternd bewegten. Darin arbeitete es, ein funktionierendes Gehirn einer Puppe, eines Roboters… »Mein Gott«, stöhnte er nur und spürte das Entsetzen noch stärker in sich hochsteigen. Das war kein Film, er saß auch nicht da und las ein Buch, er sah es einzig und allein mit seinen eigenen Augen, und er begriff die Welt nicht mehr. Sie war der Tod, sie war ein Sündenfall, sie war die Vernichtung, und er war bewaffnet. Lächerlich, es nutzte ihm nichts. Er mußte weg, das stand fest, aber wie sollte er das schaffen? Verzweifelt suchte er nach einem Plan. Er wollte die Trommel leerschießen und dieses Weibsstück damit in Deckung zwingen, aber würde es sich überhaupt von der Stelle bewegen? Nein, auf die Waffe war kein Verlaß mehr. Dann eben anders, dachte er sich und war froh darüber, nicht durchzudrehen. Blitzschnell ließ er den Revolver wieder in der Schublade verschwinden, und ebenso schnell riß er seinen Schreibtischstuhl in die Höhe. . Damit stürmte er auf die Frau zu. Er schrie dabei wild auf und drosch mit dem Stuhl zu. Dabei sah er nicht einmal, ob Altea zur Seite tauchte oder einfach stehenblieb, sein Augenmerk galt einzig und allein der Tür, auf die er zurannte. Er hatte dieses Wesen passiert, es befand sich jetzt in seinem Rücken, und er sah nicht, was sie tat. Dafür gelang es Rawlins, die Tür aufzureißen. Fast hätte er sie sich noch gegen das Kinn geschlagen, doch er nahm den Kopf zurück, wollte
durch die Öffnung huschen, als sich etwas Hartes auf seine rechte Schulter legte und sich festdrückte. Die Jacke lag am Boden, er trug nur sein weißes Hemd, drehte den Kopf und sah, daß es die Hand der Frau war, die auf seiner Schulter lag. Der Druck verstärkte sich, er spürte jeden einzelnen Finger, dann riß der Stoff und kurz danach auch die Haut. Die Tür klappte wieder vor seinen Augen zu, und er schrie schrecklich. Es waren so fremde Leute, da schien ein anderer unter diesen Qualen zu leiden, doch als er wuchtig gegen die Wand prallte, wohin ihn die Frau geschleudert hatte, da verstummten die Schreie, und Frank wußte, daß er sie ausgestoßen hatte. Der Aufprall war wuchtig gewesen. Frank Rawlins kriegte keine Luft mehr. Etwas hatte sich in seinem Körper zusammengedrückt oder verschoben. Er schnappte nach Luft, und auch seine rechte Schulter schien von einem Flammenmeer umhüllt zu sein. Tränen verschleierten seinen Blick. Frank Rawlins hatte sich bisher für einen harten Burschen gehalten, wenn er an seinen Weg durch das >Berufsleben< dachte. Körperliche Gewalt hatte er in letzter Zeit nicht einsetzen müssen, da hatte er seine Leute gehabt, seine Form war nicht mehr die beste, aber er schaffte es trotz allem, wieder auf die Füßen zu kommen. Er sah auch, daß er seine Waffe verloren hatte. Sie mußte ihm aus der Hand gerutscht sein. Sie war sowieso unwichtig geworden. Dieses Weib – oder war es keines, sondern ein Roboter – schluckte die Kugeln, fing sie mit ihrem Körper auf. Nur ihr verdammtes Kleid habe ich zerschossen, dachte er, nur ihr verdammtes Kleid… Sie kam. Kalt, berechnend. Starre Augen fixierten ihn, maßen jede Körperstelle ab. Der Mund war leicht verzogen und zeigte einen arroganten Ausdruck. Sie würde ihn töten, das stand für Rawlins fest. Bei Ronco hatte sie auch keine Gnade gekannt. Sein Körper lag da, als hätte man ihn weggeworfen. Erst jetzt stellte er fest, daß an seinem linken Arm etwas Warmes herabrann. Es war sein eigenes Blut, das aus den kleinen Rißwunden an der Schulter sickerte. Finger hatten sie dort hinterlassen, Finger, lang und sehr hart. Fast wie Eisen… Die Gedanken huschten intervallweise durch seinen Kopf. Die Angst steigerte sich mit jedem Schritt, den diese schöne, kalte Bestie näher kam. Dann war sie da. Rawlins wäre am liebsten vor ihr zu Boden gesunken, auf die Knie gefallen und hätte um sein Leben gebettelt, nur wußte er, daß dies alles nichts nutzen würde. Seine Angst war hündisch. Dann schlug sie zu.
Sie sagte nichts mehr, sondern handelte mit der rechten Hand. Rawlins erwischte es auf dem Kopf. Die Welt explodierte in einem irren Schmerz, und den zweiten Treffer bekam er nicht mehr mit. Da lag er bereits vor den Füßen der Frau, die mit ihren leblosen Augen auf das erneute Opfer niederblickte. Geschafft… Sie drehte sich um. Ärger zeichnete ihr Gesicht. Ihr Vorhaben war nicht ganz geglückt. Sie hatte an Costello herangewollt, der aber war wieder verschwunden. Was tun? Sie blieb nicht mehr in Rawlins’ Büro. Auch durch die Bar ging sie nicht. Es gab noch andere Wege, um aus dem Haus in die Nacht hineintauchen zu können… *** Ich kannte Fernando Diaz nicht als Barkeeper und in seiner Berufskleidung. So wie er allerdings vor uns hockte, sah er in seinem Nachtclub bestimmt nicht aus. Er trug nur ein Unterhemd, eine schwarze Hose, war unrasiert und hatte Ringe unter den Augen. Sein Oberlippenbart wirkte wie ein schmutziger Strich. Die Bude, in der er hauste, war auch nicht die beste. Sie lag in einem kastenförmigen Bau mit Blick auf die Themse, wo sie nicht gerade am schönsten war. Als wir eintraten, aß er. Seine Schwester hatte uns geöffnet, sich sofort verzogen, weil sie zu ihrer Arbeit mußte. Sie hatte ihrem Bruder etwas zu essen gemacht. Er aß Brot und Käse, dazu trank er Wasser und Rotwein. Zuerst hatte er Angst, dann erkannte er den Chiefinspector und nickte ihm zu. »Ah, Sie sind es.« »Ja, ich bin es. Ich hatte Sie ja angerufen und habe noch zwei Kollegen mitgebracht.« Er stellte uns vor. Diaz nickte, ließ das Messer sinken und bat uns dann, Platz zu nehmen. Wir mußten uns die Stühle suchen. Ich holte zwei aus dem Nebenzimmer, für Tanner war einer vorhanden. »Wohnen Sie hier allein?« fragte ich ihn. »Nein, mit meiner Schwester. Früher haben hier noch meine Eltern gewohnt, aber die sind tot. Ist ein beschissenes Loch, aber was soll man machen? Andere wohnen noch mieser.« Das stimmte. Wir saßen in einem Raum, der als Küche und Wohnzimmer diente. Irgend jemand aus der Familie mußte sehr gläubig gewesen sein, denn an den Wänden hingen Heiligenbilder. Auch kleine Heiligenfiguren waren aufgestellt worden. In der Ecke sahen wir einen Altar, und Diaz grinste, als er unsere Blicke bemerkte. »Das habe ich
alles meiner Mutter zu verdanken, und die Schwester hat es dann übernommen.« Er trank glucksend einen Schluck Wein, wischte sich die Lippen ab und nickte. »Gesagt habe ich ja schon alles. Mehr ist mir beim besten Willen nicht eingefallen. Ich habe die Leichen entdeckt…« »Das wissen wir«, sagte Tanner. »Uns geht es auch um etwas anderes. Wir suchen ja den Mörder.« »Nicht die Mörderin.« »Wunderbar, Mister Diaz, da kommen wir der Sache schon näher. Sie sind also davon überzeugt, daß es die Frau getan hat.« »Klar, wer sonst?« Auch hier hatte Tanner den Hut nicht abgenommen. Es war warm in der Bude, aber Tanner zeigte sich eisern. Er war eben derjenige, der sich selten änderte. »Wissen Sie, was mich wundert, Mister Diaz?« »Nein.« »Daß Sie mit einer so großen Bestimmtheit von dieser Frau gesprochen haben. Die muß Sie ja ungemein beeindruckt haben, denke ich mir. Oder irre ich mich da?« »Nein, Sir, gar nicht. Das war ein Weib«, er schüttelte den Kopf und kriegte im nachhinein noch eine Gänsehaut. »Also, das war eine Person… ich habe ja schon viele Frauen in meinem Leben gesehen und erlebt. So eine allerdings nicht.« »In den Akten lasen wir etwas von ihrer Gesichtshaut«, sagte Suko. »Was ist da genau geschehen?« Diaz drehte den Kopf, um Suko anschauen zu können. »Die hat sie abgezogen. Stellen Sie sich das mal vor! Die hat doch tatsächlich ihre Gesichtshaut abgezogen. Ein Irrsinn, wie?« »Genauer bitte.« Fernando Diaz schüttelte sich. »An der Seite«, flüsterte er. »Sie zog sie einen Spalt nach unten. Da entstand eine Lücke, in die ich hineinschauen konnte.« »War sie groß?« »Nein, aber ich sah die Mechanik.« Das war die Antwort gewesen, bei der wir aufhorchten. Der Begriff Mechanik hörte sich nach einer Puppe an, nach einem künstlich geschaffenen Gegenstand, wie man es schon in der Literatur des öfteren hatte lesen können, und auch die Bühne hatte sich dieses Problems angenommen. Ich dachte dabei an die Figur der Olympia aus >Hoffmanns Erzählungen <. »Konnten Sie etwas Genaueres erkennen?« »Das war schwer. Es schimmerte. Ich sah Räder von der Seite.« Die Erinnerung daran wühlte ihn auf. Er sprach auch mit den Händen, wischte dabei hin und wieder über sein Gesicht, trank auch und berichtete von seiner Angst, die er dabei empfunden hatte. »Ich hatte ja nicht vorgehabt, sie in das Büro zu Rawlins zu lassen, aber als ich dann
sah, was sich da unter der Haut tat, nicht einmal einen Knochen entdeckte, da wurde mir schon anders.« »Sie ist trotzdem gegangen«, sagte ich. »Ja, sie ließ sich nicht mehr halten. Ich hätte es auch nicht gewagt, das müssen Sie mir glauben.« »Bestimmt. Aber weiter.« »Da gibt es nicht mehr viel zu sagen. Ich warnte Rawlins durch die Alarmanlge und…« »Obwohl sie eigentlich ja mit Logan Costello sprechen wollte, nicht wahr?« »Klar.« Er hob beide Arme und deutete gegen die Decke. »Aber der sitzt ja so hoch über allem, das ist schon nicht mehr wahr. Ich habe regelrecht Furcht bekommen, als sie seinen Namen aussprach. Ich kam da nicht mehr mit, das war einfach nicht zu fassen. Costello ist doch ein Wahnsinn, er ist derjenige, der alle Fäden in den Händen hält. Nach seiner Pfeife tanzt die Unterwelt. Und da kommt plötzlich eine Frau und spricht von ihm, als wäre er Smith oder irgendwer.« »War er denn da?« fragte Tanner. »Wo?« »Bei Ihnen.« Diaz kriegte einen roten Kopf. »Nein«, murmelte er, »nicht direkt bei mir, sondern bei Rawlins.« »Und das an diesem bewußten Abend, als sie in die Bar kam?« »So war es.« »Haben Sie gesehen, daß er ging?« »Nein, ich sah auch nicht, wie er kam. Es gibt eben noch andere Wege, den Bau zu betreten.« Tanner grummelte vor sich hin, bevor er die nächste Frage stellte, die mehr an mich gerichtet war. »Woher konnte diese Frau wissen, daß Costello sich gerade an diesem Abend bei Rawlins aufhielt?« »Keine Ahnung.« »Wissen Sie was, Diaz?« »Nein, Sir, nein. Ich bin unschuldig. Ich bin…« »Sagen Sie das nicht zu laut, sonst glauben wir Ihnen den Kram noch. Aber weiter. Ich habe in dem Protokoll den Namen der Frau nicht gelesen. Hatte sie keinen?« Fernando Diaz kippte Wein in seine Kehle. »Jeder Mensch wird einen Namen haben, nur hat sie mir ihren nicht gesagt. Ich habe sie auch nicht danach gefragt. Außerdem wollte ich sie so schnell wie möglich loswerden, wenn Sie verstehen.« »Warum? Sie war doch hübsch?« »Ja, sehr hübsch. Aber auch kalt und grausam. Das war kein Mensch, da waren keine Gefühle, da spürte man keine Wärme. Sie erregte Aufmerksamkeit, als sie die Bar betrat. Die Männer wußten endlich,
wohin sie schauen konnten. Ihre Mädchen waren vergessen, die sich natürlich darüber geärgert hatten, aber dann…«, er hob die Schultern. »Nun ja, ich habe mit ihr gesprochen und fühlte, wie ich dabei immer kleiner wurde. Ich hätte später in einen Fingerhut gepaßt.« »Und trotzdem haben Sie die Person gehen lassen.« »Was sollte ich denn machen, Sir?« rief er. »Die ließ sich einfach nicht aufhalten. Dieses Weib gehörte zu den Menschen, die genau wissen, was sie tun. Die über Leichen gehen, die eiskalt sind, die sich nichts vorschreiben lassen. Außerdem war ich froh, daß sie verschwand.« »Später haben Sie die Toten gefunden, nicht?« Diaz nickte Suko an. Er bleichte allmählich aus, als er daran dachte. »Ja, ich fand sie. Zuerst sah ich das Blut im Flur, dann ging ich in Rawlins’ Büro. Er hatte kaum noch einen Kopf. Alles war zerschmettert worden, und Ronco blutete aus. Sie hat fürchterlich gewütet«, flüsterte er. »So etwas habe ich noch nie gesehen…« »Schon gut«, sagte Tanner. »Den Rest kennen wir. Haben Sie jetzt Angst, Mister Diaz?« »Ja.« »Wovor?« »Daß sie noch einmal zurückkehrt.« »Was könnte sie denn von Ihnen wollen?« »Ich weiß es nicht. Was hat sie von Rawlins gewollt? Was hat sie von Costello gewollt…?« Gute Fragen, auf die wir leider auch keine Antwort wußten. Und dieser Fernando Diaz zeigte sich auch nicht als ergiebig sprudelnde Quelle, denn er hatte sich zwar mit der Frau an der Bar unterhalten, doch auf ein bestimmtes Thema waren sie nicht eingegangen. Es ging einfach um andere Dinge, banale, zudem hatte er eine zu große Angst gehabt, daß ihm etwas passieren könnte. Ich sprach ihn noch einmal auf das Gesicht an. »Und sie hat ihre Haut tatsächlich zur Seite gezogen.« »Ja, verdammt, ja. Erst klemmte sie sich ein Stück Haut zwischen die Finger, dann zog sie es ab. Ungefähr so.« Er machte es nach, und wir schauten hin. »Sie sahen keine Knochen?« fragte Suko. »Nein – weder Knochen, Knorpel, Fleisch noch Gehirn. Nur diese verdammte Mechanik, die ihr der Teufel in den Kopf eingepflanzt haben mußte.« »Sie haben also kein Wort über die weiteren Pläne der Frau erfahren.« »Wo denken Sie hin. Aber einen Wodka, den hat sie getrunken. Ich wollte sie zudem loswerden und habe ihr erklärt, daß der Wodka auf meine Rechnung geht, aber das alles ist jetzt uninteressant geworden. Ich wollte sie ja nur weghaben.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Als sie den Namen Costello erwähnte, war das, als hätte jemand Feuer in mir angezündet.« »Kann ich mir denken«, sagte ich. »Rawlins und dieser Ronco sind tot, Mister Diaz. Sie haben Angst. Sie müssen auch Angst haben. Man wird Ihnen Fragen stellen. Sie wissen sicherlich, daß auch Ihr Chef innerhalb des großen Netzes eingebunden war, in dem Logan Costello wie eine Spinne sitzt. Deshalb meine Frage: Wie hat die Mafia auf den Tod der Männer reagiert?« »Woher soll ich das wissen?« Wir lächelten zu dritt, denn die Antwort war viel zu schnell erfolgt, um ehrlich zu sein. Wahrscheinlich hatte die Mafia bereits Kontakt mit ihm aufgenommen, Diaz konnte es nur nicht zugeben. Man würde ihm gedroht haben. »Was hat man Ihnen gesagt?« fuhr Tanner den Zeugen an. »Sind Sie eingeschüchtert worden?« »Nein.« »Aber Sie haben Besuch bekommen?« Er hob die Schultern, und mit seiner folgenden Antwort gab er nichts Genaues zu. »Ich bekomme oft Besuch. Leute wie ich haben viele Freunde. Ich bin sehr kontaktfreudig…« »Ja, so kann man es auch sagen. Werden Ihre Freunde denn versuchen, die Frau zu finden?« Der Barmann ließ sich nicht aufs Glatteis führen. »Warum sollten sie das?« Tanner winkte ab. »Schon gut.« Er schaute Diaz scharf an. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann melden Sie sich bei uns. Dieser Fall kann Dimensionen annehmen, von denen Sie verschluckt werden. Daran können Sie dann nichts ändern.« »Ich… ich werde es mir merken.« »Hoffentlich. Und was die Freunde angeht, so würde ich an Ihrer Stelle achtgeben. Sie sind nicht immer nett, ich kenne mich da etwas aus.« Er stand auf. »Machen Sie es gut, Diaz, und denken Sie dabei auch an Ihre Schwester.« »Ist klar, Sir.« »Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.« Auch wir standen auf. Die Wohnung war zu einem Backofen geworden, denn draußen breitete sich eine für April unnatürliche Wärme aus. Sie heizte das kleine Zimmer auf, und die Strahlen der Sonne fielen grell gegen das Fenster. Sie ließen die Umrisse der Scheibe verschwimmen, als wollten sie das Glas in einem goldenen Licht auflösen. Diaz blieb sitzen. Er brauchte uns nicht mehr zur Tür zu bringen. Wir gingen langsam die Treppe hinunter. Auch im Treppenhaus war die Luft dumpf und stickig. Sie beeinträchtigte sogar mein Denkvermögen. Erst draußen ging es mir besser.
Tanners Fahrer wartete bei den beiden Autos. Seine Uniform hielt gewisse >Interessenten< davon ab, sich näher um die Fahrzeuge zu kümmern. Wir standen und wußten kaum mehr als zuvor. »Eines steht fest«, faßte Tanner zusammen. »Wir werden jetzt eine namenlose Mörderin jagen müssen. Einen Roboter mit Menschenhaut. Nicht daß ich schadenfroh wäre, aber dabei wünsche ich euch beiden viel Spaß. Ich denke zumindest, daß mir der Fall aus den Händen gleiten wird, denn so weit ist die Technik noch nicht, daß sie einen perfekten Menschen nachbauen kann, der sich auch unterhält. Da spielt Magie eine große Rolle.« »Unterhalten schon«, sagte ich. »Aber nur innerhalb bestimmter Grenzen, und wenn die Fragen vorgegeben worden sind.« »Das ja.« »Es war eine Mechanik, John.« Suko hob einen Finger. »Keine Elektronik, nichts mit Chips und so…« »In der Tat.« »Wäre das auch eine Spur?« Ich hob die Schultern. »Das steht nicht fest. Einen richtigen Anhaltspunkt haben wir ja nicht. Ich denke, wir müssen es auf einem Umweg versuchen.« »Hat der auch einen Namen?« wollte Tanner wissen. »Klar, Logan Costello.« Tanner rückte seinen Hut zurecht und wischte eine Schweißbahn von seiner Wange. »Das hatte ich mir gedacht. Wunderbar, Logan Costello. Ihm wollte ich schon immer ans Leder.« »So leicht werden wir das nicht schaffen. Costello sagt nur, was er sagen will. In diesem Fall wird er alles abstreiten. Ich glaube nicht einmal, daß er sich in London aufhält.« »Wo dann?« »Prag!« »Ja, stimmt.« Tanner war ärgerlich. »Aber das werden wir noch herausfinden.« »Am besten jetzt«, sagte ich und gab Suko einen Wink, damit er den BMW aufschloß. In dem Wagen war ein Telefon. Es gibt Nummern, die habe ich im Kopf. Zwar würde ich nie und nimmer direkt zu Costello durchkommen, aber einen seiner aalglatten Vasallen würde ich schon erwischen, denn er betrieb so etwas wie ein Vorzimmer, besetzt mit Juristen und Betriebswirten. Schließlich besaß er mehrere legale Firmen und war groß in der Lebensmittelbranche tätig. Daß er Nudeln aus seiner Heimat importierte, dagegen hatte ich ja nichts. Leider war es dabei nicht geblieben. Ich hatte auf dem Beifahrersitz meinen Platz gefunden, Tanner war neben der offenen Tür stehengeblieben. So konnte er dem Gespräch folgen. Ich bekam auch eine Verbindung, und es meldete sich eine Stimme, die ich noch nie gehört hatte. Sie klang richtig dynamisch, und
als die Person meinen Namen hörte, da sackte die Männerstimme etwas ab. »Wer spricht da?« »Oberinspektor Sinclair.« »Ach so. Was wollen Sie?« »Ihren Herrn und Meister sprechen, Logan Costello, und keine Ausreden, bitte.« »Wieso Ausreden? Und wenn Sie der Queen-Gemahl wären, Mister Costello ist nicht da.« »Wo steckt er denn?« »Ich bin darüber nicht informiert.« Die Lüge nahm ich ihm nicht ab. »Dann geben Sie mir jemand, der darüber Bescheid weiß.« »Sorry, aber ich kenne keinen. Der Chef ist niemandem Rechenschaft über sein Tun und Lassen schuldig. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe zu tun.« Aufgelegt, worüber ich mich ärgerte. Es hatte keinen Sinn, es noch einmal zu versuchen. In der Tat brauchte uns niemand zu sagen, wo Costello hingefahren war. Obwohl sicherlich einige Bescheid wußten, sie würden es nicht tun. »Sollen wir hinfahren?« fragte Tanner. »Nein, das wird keinen Sinn haben.« »Also Prag?« »Ich denke schon.« »Aber ohne mich.« Das hatte ich mir auch gedacht. Noch einmal stieg ich aus und blieb vor dem Chiefinspector stehen. »Ich denke, daß sich unsere Wege hier wieder trennen werden, Tanner. Wir werden fahren und versuchen, Costello in Prag aufzustöbern.« Tanner strich mit dem Finger über den Hutrand. »Glaubst du denn, daß er dir den Weg zu dieser Roboterfrau zeigen kann?« »Ich hoffe es, wobei ich mir natürlich nicht sicher bin, wie er zu ihr überhaupt steht. Ist er ihr Feind, ihr Freund, oder steht er ihr neutral gegenüber?« »Das müßt ihr herausfinden. Weißt du denn schon, wann du ungefähr fliegen wirst?« »Nein, noch nicht. Heute bestimmt nicht mehr.« »Dann wünsche ich euch viel Glück.« »Danke, Tanner, das können wir brauchen…« *** Prag – Perle an der Moldau!
Eine Stadt, die man eigentlich nicht beschreiben kann. Ich kannte sie ein wenig, denn vor Jahren hatte ich hier zusammen mit Wladimir Golenkow die schwebenden Leichen von Prag gejagt. Doch seit dieser Zeit hatte sich einiges verändert. Es gab den Eisernen Vorhang nicht mehr, die Grenzen waren durchlässig geworden, es existierte auch nicht mehr die Tschechoslowakei, man hatte sich in zwei Länder aufgespalten, zum einen in die Tschechische Republik, zum anderen in die Slowakei mit der Hauptstadt Bratislava. Es war nicht einfach gewesen, nach Prag zu fliegen. Zumindest nicht für uns, denn wir kamen ja nicht als Touristen. Man erinnerte sich nicht mehr an mich, denn die Kollegen bei der Polizei hatten gewechselt. Unsere Kontaktperson sollte ein Kommissar Novak sein, der uns auch vom Flughafen abholen und ins Hotel begleiten wollte, das direkt im Zentrum der Stadt am Wenzelsplatz lag. Sir James hatte diesen Weg für uns geöffnet, und wieder einmal konnten wir sein Organisationstalent bewundern. Der hatte wirklich die Gabe, alle Klippen zu umschiffen. War das Wetter über London schön gewesen, so konnte man es über Prag nur als herrlich bezeichnen. Ein wunderbarer blauer Himmel ohne Wolken lachte uns an. Er lag über uns wie ein gewaltiges Zelt, aus dem heraus sich unsere Maschine nach unten senkte und allmählich der Rollbahn entgegenschwebte. Der Pilot war gut, er brachte den Jet glatt nach unten, und einige Kinder klatschten sogar Beifall. Auch von den übrigen Passagieren fiel die Spannung ab, uns eingeschlossen. »Nun«, sagte Suko und grinste mir zu. »Dann wollen wir uns mal auf die Suche machen.« »Und sie finden.« »Die schöne Unbekannte.« »Die Künstliche«, sagte ich. Suko nickte. »Paßt ja auch zu Prag, wenn ich an den Golem denke, den ersten künstlichen Menschen, den der Rabbi Low hatte schaffen wollen. Das Judentum, die jüdische Mystik, die Kabbala, der Mensch aus Lehm, das paßt einfach alles in diese Stadt, obwohl das schon fünfhundert Jahre zurückliegt. Trotzdem…« Suko lächelte. »Du scheinst diese Stadt zu mögen.« »Das stimmt. Ich mag sie. Ich mag auch Wien und Budapest. Ich fühle mich eher mit diesen Städten verwandt als mit den kalten amerikanischen Burgen, aber das mag daran liegen, daß ich das Alte sehr mag. Die Gassen, die Häuser«, ich hob die Schultern, »eben alles.« »Das Bier nicht zu vergessen.«
»Das selbstverständlich auch.« Ich schnalzte mit der Zunge. »Ein leckeres Urquell ist schon was Besonderes. Wir müssen den Kommissar dazu kriegen, mit uns in einen der Bierkeller zu gehen.« »Und dort dann hängenbleiben.« »Du bist ja bei mir«, sagte ich und grinste. »Das ist auch nötig. Ich merke schon, diese Stadt läßt dich nicht zur Ruhe kommen.« Uns drängte nichts, deshalb ließen wir uns mit dem Aussteigen auch Zeit. Ich schaute über das Rollfeld und sah auch die hügelige Umgebung der Stadt. Die zahlreichen Bauten verschwammen in der Ferne zu kompakten Schatten, und nicht weit entfernt stieg ein silbrig schimmernder Metallvogel in die Höhe. Uns empfing ein sehr warmes Wetter. Der leichte Ostwind streichelte unsere Gesichter. Er brachte den Geruch von Blütenstaub mit. Keine gute Zeit für Allergiker. Ein alter Bus brachte uns zum Terminal. Da wir am Schluß der Reihe gingen, hatten wir einen guten Überblick. Beamte und Soldaten kontrollierten mit scharfem Blick, ansonsten verlief alles reibungslos, und wir konnten, nachdem die Ausweise kontrolliert worden waren, dorthin gehen, wo das Gepäck eintraf. Wir warteten am Band und wunderten uns beide, daß wir noch nicht begrüßt worden waren. Man war über unsere Ankunft informiert, aber ein Kommissar Novak hatte sich bisher noch nicht gezeigt. »Man wird uns doch nicht vergessen haben«, murmelte Suko. »Das glaube ich nicht.« Ich hatte recht. Denn kaum waren fünf Sekunden vergangen, da tippte mir jemand auf die Schulter. Auch Suko hatte dies gesehen, und gemeinsam drehten wir uns um. Ein dicker Mann in Uniform stand vor uns. Sein Gesicht sah aus wie das eines grinsenden Clowns. Die kleinen, schwarzen Augen funkelten. Er sprach uns in Deutsch an. »Sind die beiden Männer aus London? John Sinclair und auch dieser Suko, bitte sehr.« »Ja, das sind wir.« »Dann kommen Sie bitte mit. Kommissar Novak wartet schon auf Sie.« »Ah, Sie sind das nicht.« »Nein, Herr Sinclair.« Dabei grinste er noch stärker, als hätte er noch eine Überraschung für uns. Wir folgten ihm. Er war ein fröhlicher Mensch, denn er pfiff ein Liedchen, und ich mußte lächeln, als ich auf seinen Rücken schaute. Suko war die ganze Sache nicht geheuer. Er schaute ziemlich skeptisch aus der Wäsche. Wir nahmen einen anderen Weg als die anderen Passagiere und landeten in einem abgeschotteten Teil des Flughafens, wo es keine großen Panoramascheiben gab. Gänge, Türen, Beamte, die geschäftig
hin- und hereilten, klingende Telefone, Schreibmaschinengeklapper, das roch richtig nach Arbeit. »Hat der gute Kommissar Novak sich versteckt?« fragte ich. »Nein, nein, gleich sind wir da.« Vor einer schmalen Tür, die einen grünen Anstrich aufwies, blieb er stehen. Durch ein gegenüberliegendes Fenster drang Sonnenlicht und bedeckte die Türfläche mit einem hellen Schein. Sie sah aus wie frisch poliert. Ich schaute durch die Scheibe nach draußen. Mein Blick fiel auf große Hallen. Das Rollfeld sah ich nicht. Der freundliche Mann klopfte an die Tür, öffnete sie, stieß sie aber nicht auf, das überließ er uns. »Bitte sehr, die Herren, ich wünsche Ihnen viel Spaß.« »Werden wir wohl haben.« Suko hatte den Raum vor mir betreten. Da vor dem Fenster eine Jalousie nach unten gezogen war, herrschte ein dämmriges Licht vor. Nur auf dem Boden zeichneten sich helle und dunkle Streifen als schmales Muster ab. Und genau dort, wo das Muster endete, stand ein Schreibtisch, hinter dem unser Kommissar Novak saß. Nein, das war kein Kommissar, das war eine Kommissarin, die sich jetzt erhob und uns zulächelte. »Willkommen in Prag«, sagte sie in unserer Heimatsprache und genoß unser Staunen. Damit hatten wir wirklich nicht gerechnet, denn die Kommissarin war eine schlanke Frau um die Dreißig, die ein rehbraunes Kostüm trug, das auch zu ihren Haaren paßte. Im Ausschnitt des Kostüms schimmerte der weiße Stoff einer Bluse. Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln, als sie fragte: »Überrascht?« »Das kann man wohl sagen«, bemerkte ich. Lachend kam sie hinter ihrem Schreibtisch hervor und reichte uns zunächst die Hand. »Dann nehmen Sie bitte Platz, meine Herren.« Sie deutete auf zwei schmale Sessel und weidete sich noch immer an unseren überraschten Gesichtern. »Ich bin Milena Novak, Kommissarin.« »Ja, sehr erfreut«, sagte Suko. »Hat man Ihnen nicht gesagt, mit wem Sie es zu tun haben werden hier in Prag?« »Leider nicht.« »Ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht, Mister Sinclair.« »Nein, ganz im Gegenteil.« »Das freut mich.« Wir hatten gewartet, bis sie Platz genommen hatte, erst dann setzten wir uns auch. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einen Kaffee besorgen…« »Danke, nicht jetzt.« Suko hatte für mich mitgesprochen. »Ich denke, daß wir hier einiges zu tun haben.«
Milena Novak nickte. Sie strich ihr halblanges Haar zurück und schlug die Beine übereinander. Sehr schöne Beine. »Das glaube ich auch, Inspektor, aber es wird schwer sein, Spuren zu finden.« »Was wissen Sie?« fragte ich. »Nicht viel. Mein Chef hat mich eingeweiht. Sie sind hinter einem Mann her, der sich Logan Costello nennt und sich angeblich hier in der Stadt aufhalten soll.« »Stimmt.« Milena nickte. »Wir haben natürlich sofort nachgeforscht. In den Hotels und Pensionen, aber der Name ist auf keinem Meldezettel aufgetaucht. Tut mir leid.« »Was nicht heißen muß, daß sich Costello nicht hier aufhält. Es gibt doch zahlreiche Möglichkeiten, um unerkannt zu bleiben, denke ich.« »Jetzt ja.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Darf ich fragen, was Sie diesem Costello vorwerfen?« Die Antwort gab Suko. »Mafia, Kollegin, große Mafia, ganz oben.« »Ach, sagen Sie doch Milena, das hört sich nicht so steif an. Ich nenne Sie auch beim Vornamen.« Sie wartete unser Einverständnis nicht erst ab, sondern sagte: »Also ein hohes Tier.« »Richtig«, bestätigte Suko. »Costello ist in London der Boß aller Bosse. Er hat das Geschäft in der Hand. Er kontrolliert praktisch die gesamte Unterwelt…« Während der Worte hatte es einige Male in den Augen der Frau geblitzt. Suko mußte da wohl eine wunde Stelle getroffen haben, was auch ihr Nicken andeutete. »Ja, ich denke schon, daß dies eine Gefahr ist. Wir merken es ja auch. Die Mafia ist dabei, hier Fuß zu fassen. Erst vor sechs Wochen wurde ein Kollege von mir erschossen. Angeblich waren es Mafia-Leute. Wir haben den oder die Killer noch nicht ermitteln können. Man ging davon aus, daß sie aus dem Ausland kamen. Prag ist leider zu einer sehr wichtigen Stadt für das organisierte Verbrechen geworden. Von hier aus geht es schnell in den Osten, wobei ich an GUSStaaten denke. Es ist viel in den letzten Jahren geschehen, der Wenzelsplatz ist für Touristen unsicher geworden, es passieren leider viele Überfälle. Die Prostitution hat sich wahnsinnig ausgeweitet, aber das wissen Sie ja. Sie wollen also diesen Logan Costello hier finden.« »Unter anderem«, sagte ich. Milena Novak zeigte uns ein feines Lächeln. »Ja, ich habe mir schon gedacht, daß da noch etwas anderes dahintersteckt.« Ich erwiderte das Lächeln. »Was wissen Sie denn über uns? Darf ich das fragen?« »Darauf habe ich sogar gewartet, John. So blauäugig bin ich natürlich nicht. Ich weiß schon, daß mir hier keine heurigen Hasen gegenübersitzen. Wie ich hörte, John, waren Sie schon hier.« »Es liegt eine Weile zurück.«
»Nun ja, ich habe mich im Archiv umgesehen. Zwar hat sich bei uns vieles verändert, aber nicht alle Akten sind verschwunden, und die schwebenden Leichen von Prag sind deshalb nicht vergessen.« Ihr Blick wurde hart. »Könnte es sein, daß auch Ihr erneuter Besuch mit einem ähnlich gelagerten Fall zusammenhängt?« »Das könnte sein«, gab ich zu. »Dann stimmen meine Informationen doch.« »Welche Informationen?« »Die ich über Sie eingeholt habe. Man war, das sagte mir mein Vorgesetzter, in London ziemlich gesprächig. Ich weiß, daß Sie auch als Geisterjäger bezeichnet werden, und da sind Sie natürlich hier in Prag gerade richtig. Hier lebt man mit den Geistern, hier gibt es Spukhäuser und auch verfluchte Orte, da brauche ich nur an den alten jüdischen Friedhof zu denken. Unsere Geschichte hat ja auch, was Geister und Grusel angeht, einen gewissen Ruf. Denken Sie an den Golem des Rabbi Loew.« »Sicher…« Milena wunderte sich. »Sie sagen das mit einem so seltsamen Unterton in der Stimme.« »Bewußt, meine Liebe, bewußt. Es könnte sein, daß uns der in diese Richtung führt.« »Ach«, sagte sie nur und legte ihren Arm bequem auf das Rückenteil ihres Sessels. »Erzählen Sie doch mal.« »Wir suchen eine Frau«, sagte Suko. »Wie heißt sie?« »Das wissen wir nicht.« Milenas Gesicht verdüsterte sich. »Soll ich jetzt lachen? Wahrscheinlich nicht, dazu ist die Sache bestimmt zu ernst.« »Ja«, sagte ich. »Sie ist sehr ernst. Wie schon erwähnt, wir suchen eine Frau, deren Namen wir nicht kennen. Wir selbst haben sie auch nicht gesehen, wir können sie nur beschreiben. Es ist eine sehr schöne Frau. Man muß dabei von einer kalten Schönheit sprechen, Milena.« »Ho, das hört sich an, als hätten Sie sich in diese Person direkt verliebt.« »Gott behüte, das nicht. Aber hören Sie bitte zu. Diese Frau ist perfekt. Und noch einmal: Sie ist zu perfekt, um ein Mensch zu sein, obwohl sie so aussieht.« Den Satz ließ ich zunächst einmal im Raum stehen und wartete die Reaktion der Kollegin ab. Sie erwiderte nichts, aber sie dachte scharf nach. »Zu perfekt für einen Menschen«, murmelte sie. »Soll ich daraus folgern, daß diese Unbekannte ein Unmensch ist?« »Das könnte man sagen.« »Oder wäre der Begriff des weiblichen Golems besser.« »Genau.«
Milena Novak blieb relativ gelassen. Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Hände lagen auf den beiden Holzlehnen des Sessels, und wir stellten fest, daß sich ihre Finger leicht zuckend bewegten. »Akzeptieren Sie dies, Milena?« »Es fällt mir schwer…« »Kann ich mir denken. Aber ich werde Ihnen noch etwas sagen.« So gut wie möglich beschrieb ich die Frau und natürlich auch ihre Reaktionen, und Milena zeigte sich erschreckt. »Was sagen Sie da? Sie konnte sich die Haut vom Gesicht abziehen und präsentierte sich als Roboter?« »Ja, mit einer Mechanik.« »Aber der Golem war aus Lehm geformt.« »Man ist eben moderner geworden«, erwiderte ich, ohne daß meine Stimme spöttisch klang. »Ich denke, daß wir es hier auch mit einem magischen Phänomen zu tun haben. Ich weiß nicht, woher diese Person gekommen ist, wie sie entstand, ich weiß einfach gar nichts. Ich rechne nur damit, daß wir sie möglicherweise in dieser Stadt finden können.« »Sehr gut, aber wo?« »Keine Ahnung.« »Wissen Sie denn nicht Bescheid, Milena?« fragte Suko. »Oder sind Sie keine Pragerin?« »Doch, doch, ich kenne mich hier gut aus. Ich bin auch mit der Geschichte vertraut, aber ich weiß nicht, was diese seltsame Frau mit allem bezweckt.« »Das ist uns ebenfalls unbekannt.« »Und den Namen wissen Sie auch nicht?« »Es bleibt dabei – nein.« Milena Novak dachte nach. Sie ließ sich dabei Zeit. Nach einer Weile meinte sie: »Wenn alles stimmt, was Sie mir gesagt haben, dann hat sich diese unbekannte Person ja den richtigen Platz ausgesucht, denke ich.« Sie lachte schrill, als würde sie sich dabei an bestimmte Dinge erinnern. »Prag lebt mit seinen Toten, mit seinen Friedhöfen, mit seiner Geschichte. Der Golem ist allgegenwärtig, obwohl man ihn nicht sieht.« »Wie meinen Sie das?« »Es gibt hier das Haus des Dr. Faustus, wo es heute noch spuken soll. Wir haben Orte, wo es von Gespenstern nur so wimmeln soll, und es gibt auch den alten Jüdischen Friedhof, wie Sie sicherlich wissen.« »Den kenne ich sogar.« »Noch besser.« »Meinen Sie damit etwas Bestimmtes?« »Ja, John, das meine ich. Es gibt hier ein Jüdisches Viertel, wo man einfach gewesen sein muß, sonst kennt man Prag nicht.« »Es hört sich an, als sollten wir dorthin gehen«, meinte Suko.
Milena antwortete nach einem Räuspern. »Ja, dafür bin ich auch. Sollte die Frau tatsächlich existieren, wird sie versuchen, die alten Plätze aufzusuchen. Letztendlich ist sie ja so etwas wie ein weiterentwickelter Golem, falls es stimmt, was Sie da annehmen.« »Ich möchte davon ausgehen.« »Hm.« Die Kollegin sah aus, als wollte sie aufstehen, sie blieb aber sitzen. »Da hätte ich noch eine Frage, John. Was steckt eigentlich dahinter? Wie bringen Sie diese Frau und Ihren Mafioso denn zusammen? Wo ist die Verbindung?« »Die suchen wir noch«, sagte Suko. »Haben Sie denn keine Spur?« »Leider nur eine sehr vage. Diese Frau hat sich in einer Londoner Bar nach Costello erkundigt, das ist alles. Da wir Grund zu der Annahme haben, daß er nach Prag gereist ist, gehen wir einfach davon aus, daß sie ihm folgte.« »Einfach und genial.« »Mit einem Zufallsfaktor.« »Den brauchen wir als Polizisten ebenso wie die Neugierde der Nachbarn.« »Da haben Sie recht.« Sie stand auf. »So, dann werden wir fahren.« »Zuerst ins Hotel«, sagte ich, »oder?« »Aber sicher.« »Und dann?« Sie lächelte wissend. Dabei entstanden Grübchen auf der glatten Haut an den Wangen. »Ich habe nicht grundlos von der Neugierde der Nachbarschaft gesprochen. Es gibt immer Augen, die offengehalten werden. Bei Tag und auch bei Nacht. Wir werden deshalb in die Nachbarschaft des Friedhofes gehen und dort eine alte Synagoge besuchen.« »Wie bitte…?« »Keine Sorge, das Lokal, eines der ältesten hier in Prag, heißt nur >Zur alten Synagoge <. Sie liegt im Herzen des Ghettos, und ich bin sicher, daß gerade Sie sich dort wohl fühlen werden.« »Warum denn ausgerechnet wir?« fragte Suko. »Jagen Sie nicht Geister…?« »Klar, unter anderem.« »Dann werden Sie bestimmt auf Ihre Kosten kommen, meine Herren…« *** Das Hotel am Wenzelsplatz war zwar verhältnismäßig gut, gehörte aber noch zu den alten Bauten, die noch in der Renovierung steckten und deshalb den westlichen Standard noch nicht erreichten. Wir wollten hier
nicht für eine Ewigkeit wohnen, und Nachrichten wurden auch übermittelt, wie wir schon bei der Ankunft feststellen konnten. Da lag ein Umschlag für uns bereit, den der Portier meinem Freund Suko etwas verstohlen in die Hand drückte. Ich bekam es aus den Augenwinkeln mit und sah auch, daß Suko einige Schritte zur Seite ging, den Umschlag öffnete und einen Brief daraus hervorholte. Er entfaltete ihn, las die Nachricht und machte durch ein heftiges Schnaufen auf sich aufmerksam. Ich drehte mich um. »Mist«, sagte Suko. »Was ist denn?« Er reichte mir den Brief. Auch Milena kam näher. Sie stellte sich dicht neben mich und las das mit, was ich mit halblauter Stimme aussprach. »Cigams Sündenfall wird euch vernichten…« »Das ist es«, flüsterte Suko. »Was ist was?« Ich hatte Milenas Frage zwar gehört, gab der Kollegin aber keine Antwort. Mit schweren Schritten ging ich auf einen in der Halle stehenden Sessel zu und ließ mich hineinfallen. Dort blieb ich sitzen, spürte den kalten Schweiß auf der Stirn, und Sukos Schatten fiel über mich. »Damit hast du nicht gerechnet, wie?« »Nein, du denn?« »Hör auf.« »Cigam also«, flüsterte ich. »Jetzt wird mir einiges klar.« »Darf ich das auch erfahren?« erkundigte sich Milena, die zu uns gekommen war. Sie nahm mir gegenüber Platz. Ich schaute sie an, und sie sah die Schweißperlen auf meiner Stirn. Darauf sprach sie mich an und folgerte, daß ich eine schlimme Nachricht erhalten haben mußte. »Sie ist zumindest überraschend«, schwächte ich ab. »Von Costello?« »Das ist die Frage.« »Darf ich mal lesen?« Milena bekam den Wisch, las den Text, schüttelte den Kopf, weil sie damit nichts anfangen konnte. »Nicht gut?« Sie reichte mir die Botschaft zurück. »Damit kann ich nichts anfangen. Cigam ist schon ein seltsamer Name. Ich denke aber, daß Sie ihn kennen, John.« »Und ob.« »Wer ist er denn?« Tja, dachte ich, wer ist Cigam? Wie sollte ich es dieser Frau erklären. Ich schaute für einen Moment zur Decke, wo reichlich Stuck an alte Zeiten erinnerte, aber auch dort konnte ich nichts ablesen. »Wenn Sie den Namen Cigam von hinten nach vorn lesen, dann erhalten Sie den Begriff Magic.« »Oh…«
»Ja, Magic – Magie, wie immer Sie wollen. Das ist es doch, wonach wir jagen.« »Moment mal. Ist das nur ein Begriff, oder können Sie zu Cigam auch konkret etwas sagen?« »Leider ist er keine Abstraktion, Milena. Cigam ist ein Kunstgeschöpf des Teufels. Er hat also, wenn Sie so wollen, auch etwas mit dem Golem zu tun. Sie merken schon, daß sich gewisse Dinge hier in Prag verdichten. Der Satan hat ihn erschaffen. Er ist eine absolut widerliche und böse Kreatur. Wenn Sie ihn sehen, fällt er auf, denn nichts an seinem Äußeren paßt so recht. Bei der Erschaffung sind die Proportionen in seinem Gesicht verändert worden. Es sieht flach aus wie eine Spiegelfläche, die zerbrach und deren Scherben nach dem Zusammenfügen nicht mehr richtig sitzen. Das ist also Cigam.« »Und was ist sein Sündenfall?« »Ich weiß es noch nicht.« »Zumindest werden wir nicht bei Adam und Eva beginnen«, meinte Milena und lächelte. »Das glaube ich auch.« »Ich hätte da eine Idee«, sagte Suko. Er erregte unsere Aufmerksamkeit. »Ignorieren wir mal, wer diese Nachricht zu Papier gebracht hat. Konzentrieren wir uns auf den Begriff Cigams Sündenfall. Daß er abstrakt ist, wissen wir, aber es steckt auch etwas dahinter, denke ich. Man muß diese Abstraktion einfach lösen.« »Weißt du Bescheid?« »Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke an diese Frau. Sie hat bisher keinen Namen. Ich könnte mir aber vorstellen, daß sie als Cigams Sündenfall bezeichnet worden ist. Ja, Freunde, diese Unbekannte ist Cigams Sündenfall, der uns vernichten soll.« Milena Novak klatschte in die Hände, ohne daß es wie Beifall wirkte. »Sie haben ja Phantasie, Suko…« »Sorry, meine Liebe, aber manchmal haben wir noch zuwenig Phantasie. Da ist die Realität viel phantastischer. Da können Sie auch John fragen, er wird es Ihnen bestätigen.« »Ja.« Ich nickte. »Gut, wir sind weitergekommen. Wir nennen die Frau Cigams Sündenfall. Sehr schön.« Suko erhob sich. Er ging zur Rezeption, und ich wußte auch, was er dort wollte. Er sprach nur kurz mit dem Portier, drehte sich um und kehrte zurück. »Ein Junge hat den Brief abgegeben. Mehr weißt der gute Mann dort auch nicht.« »Pech gehabt.« »Nein, Milena. Man weiß, daß wir hier in Prag sind, und man wird sich melden.« »Stimmt. Nur nicht mehr mit einer Nachricht.«
»Da haben Sie recht. Beim nächstenmal wird es viel härter.« Ich schaute auf die Uhr. »Wann sollen wir gehen?« »Wie lange brauchen Sie, um sich frisch zu machen?« »Nur kurz duschen, das geht schnell.« »Okay, ich warte hier unten.« Mit einem alten Lift fuhren wir hoch in die dritte Etage. Beide waren wir sehr nachdenklich. Ich sah, wie sich Suko schüttelte. »Cigam«, sagte er, »der hat mir noch gefehlt.« »Ja, mir auch.« »Und sein Sündenfall ist die Frau?« »Sieht so aus.« »Dann muß Schönheit Sünde sein, wenn ich an die Beschreibungen eines Fernando Diaz denke.« Suko drückte die Tür auf und hielt sie mir offen. »Ich bin gespannt, ob wir irgendwann einmal beide zu Gesicht bekommen. Möglich ist alles.« »Und dazu Costello.« Im Gang blieb der Inspektor stehen. »Dieses Dreieck gefällt mir überhaupt nicht.« »Stimmt genau…« *** Dreißig Minuten später waren wir unterwegs, und wir nahmen keinen Wagen, sondern gingen zu Fuß. Wir hatten kurz die Moldau gesehen und auch einen Blick auf die berühmte Karlsbrücke werden können. Ansonsten konnten wir all die Sehenswürdigkeiten gar nicht in uns aufnehmen, die sich unseren Augen boten. Das Jüdische Viertel war noch enger, noch geheimnisvoller und von einer lebendigen Geschäftigkeit erfüllt, als wären die schmalen Gassen mit dem Kopfsteinpflaster gar nicht vorhanden. Touristen, die in von Pferden gezogenen Kutschen saßen, bestaunten und fotografierten beinahe jedes Gebäude, denn hier lagen die Motive hautnah zusammen. Auch wir vergaßen für einen Moment unsere Sorgen und ließen uns von der Atmosphäre dieses Viertels umfangen. Sie als morbid zu bezeichnen, war einfach falsch. Sie war eben anders, sie schmeckte nach Vergangenheit, sie war mit Gerüchen aus irgendwelchen Küchen und Kellerfenstern beladen. Ich sah die alten Häuser, wie sie sich gegenseitig stützten. Gassen und Treppen, die mal nach oben, dann wieder nach unten in dämmrige Tiefen führten. Geschäfte mit blinden Schaufenstern, Musik war zu hören aus Kneipen, deren Türen offenstanden. Wir sahen die orthodoxen Juden, die sich wieder in ihrer Tracht auf die Straße trauten, denn in der Tschechischen Republik herrschte
Religionsfreiheit. Wir sahen die Verkäufer, die Kinder, die Halbwüchsigen und auch die zahlreichen Musiker, oft bunt gekleidet. Und natürlich Touristen, unter denen sich sehr viele Deutsche befanden, die Prag zu Fuß erobern wollten. Milena Novak hatte uns amüsiert und interessiert beobachtet, blieb dann stehen und spielte die Fremdenführerin, denn sie deutete auf ein Bauwerk, das uns bisher trotz des touristischen Schauens entgangen war. Es war ein renoviertes und leicht rötlich angestrichenes Gebäude mit einem kleinen grünen Glockenturm, auf dem das große Zifferblatt einer Uhr schimmerte. »Schauen Sie, das ist das alte Jüdische Rathaus. Es wurde wieder wunderbar hergerichtet, und jetzt richten Sie bitte Ihr Augenmerk auf die Uhr.« Das taten wir auch, aber uns fiel nichts auf. Ich hob die Schultern. »Was ist mit Ihnen, Suko?« Der Inspektor lachte. »Ja, jetzt sehe ich es. Die Zeiger laufen in die verkehrte Richtung.« »Stimmt genau – bravo. Das ist keine normale, sondern eine hebräische Uhr, die sie dort am Turm sehen. Ihre Zeiger laufen linksherum.« Und ich Trottel hatte das nicht entdeckt. Na ja, manchmal ist man eben leicht blind. Milena sprach weiter. »So gibt es nicht nur das Jüdische Rathaus, sondern auch ein Jüdisches Museum. Wo es steht, finden wir auch den Eingang zum Jüdischen Friedhof mit dem Grab des Rabbi Loew.« Ich zwinkerte ihr zu. »Sie reden so, Milena, als wüßten Sie, daß sich alles auf den Jüdischen Friedhof konzentriert.« »Ist das denn so falsch?« »Das weiß ich nicht, aber…« Sie unterbrach mich. »Sehen Sie mal. Wir suchen doch hier einen Sündenfall, ein Kunstgeschöpf. Der Golem war es ebenfalls. Da liegt es doch nahe, daß sich beide irgendwo an dem Platz zusammenfinden, wo das Grab des Rabbi Loew zu finden ist. Und das liegt nun mal auf dem Jüdischen Friedhof.« Da hatte sie recht. Wir gingen weiter, was mir auch ziemlich lieb war, denn ich war einfach nicht in Form, um mir historische Geschichten anzuhören. Hier ging es um ganz andere Dinge, die verdammt gefährlich waren. Magie spielte eine Rolle, letztendlich auch der Teufel, denn ich ging inzwischen davon aus, daß wir es auch mit Cigam zu tun bekommen würden, und mit ihm hatte ich in den Staaten verdammt schlechte Erfahrungen sammeln können. Es war nicht mehr weit bis zu unserem Ziel. Das Lokal lag in einer alten Gasse, und das Haus stand unter Denkmalschutz. Bis zum Friedhof
waren es nur wenige Schritte, er lag um die Ecke, aber diese Kneipe war so etwas wie eine Anlaufstation, denn in diesem denkmalgeschützten Haus konnten sich die Besucher schon richtig einstimmen. Wir betraten eine kühle Halle. Für einen Moment schloß ich die Augen und genoß die leichte Kälte, die über meine Haut strich. Danan schaute ich mich um. Die braune Holzverkleidung reichte hoch bis zur Decke. Sie selbst bestand aus einem gelblichen Stuck. Ich sah das lange Ofenrohr einer nicht sehr vertrauenserweckenden Gasheizung und war froh darüber, daß sie bei diesen Temperaturen nicht eingeschaltet werden mußte. »Wo wollen wir sitzen?« »Das ist mir egal. Sie sind hier der Chef, Milena.« Sie lachte und ging vor. Ich roch das Bier und kaute schon, ohne etwas im Mund zu spüren. Ein herrliches Pils aus dem großen Faß oder einfach nur ein Budweiser, das war schon etwas Feines. Das Lokal war nicht besonders gut besucht. Die Gäste hatten Platz genug, um sich zu verteilen. Durch die kleinen, düster wirkenden Scheiben sickerte nur wenig Licht, und Milena setzte sich mit uns an einen Tisch, von dem aus wir den Eingang im Auge behalten konnten. Sie sah mein Lächeln und fragte: »Denken Sie ebenso wie ich?« »Ja, man kann nicht wissen, was noch kommt.« »Oder wer noch kommt«, sagte Suko. »Das ist noch besser.« Zunächst kam der Kellner. Wir bestellten Bier. Er hatte auch nichts anderes erwartet, stufte uns als Touristen ein und wurde etwas stutzig, als Milena ihn in der Landessprache anredete. »Was haben Sie ihm gesagt?« »Daß er die Krüge füllen soll.« »Verstehe.« »Das ist wie überall. Ich war neulich im München, habe auch in einem Biergarten gesessen. Das Wetter war wunderbar, der Garten gut gefüllt, die Krüge weniger. Aber hier bin ich zu Hause, hier kann ich mich auch beschweren.« »Da haben Sie recht.« Sie saß zwischen uns und tippte mich an. »Da wollte ich Sie noch etwas fragen, John und Suko.« »Tun Sie das.« »Mir ist eingefallen, daß Sie sich beide des öfteren rasch umgedreht haben. Rechnen Sie mit einer Verfolgung?« »Ja.« »Durch wen?«
Ich hob die Schultern. »Das kann durchaus über Costellos Leute geschehen. Er wird wissen, daß wir uns in Prag aufhalten und dementsprechend Vorsorge treffen.« »Warum sollte er das?« »Weil wir ihm ins Handwerk pfuschen könnten.« »Und in welches, bitte?« »Schwer zu sagen. Er will hier etwas aufbauen und wahrscheinlich auch an alte Zeiten anknüpfen, als er sich mit dem Teufel verbündet hatte. Eine schlimme, böse Allianz, sage ich Ihnen. Wahrscheinlich ist er bereit, sie wieder aufleben zu lassen. Möglicherweise stehen Cigam und dessen Sündenfall auf seiner Seite. Sie bauen für ihn vor, sie bereiten ihm das Terrain.« »Sehr gewagt, denke ich.« »Jetzt kommt das Bier«, sagte Suko. Er und der Kellner lenkten uns damit von den Problemen ab. Drei Krüge standen plötzlich vor uns. Herrliche Gebilde. Feucht glänzend, weil an den Seiten noch das Wasser in kleinen Strömen herablief. Die Schaumkronen waren fest und dicht. Meine Augen glänzten wie die eines Kindes zu Weihnachten. »Zur Gesundheit«, sagte ich voller Ehrfurcht und klemmte meine Hand in den Griff. Ein halber Liter bestes Bier, darauf hatte ich mich schon im Flugzeug gefreut. Jetzt stand es vor mir, jetzt trank ich. Freunde, es war Genuß. Ich fühlte mich schon wie im achten Himmel, da kam der siebte nicht mehr mit. Als ich den Krug absetzte, war er zur Hälfte leer. Ich stöhnte meine Freude heraus, hörte Milenas und Sukos Lachen und sah erst jetzt, daß die beiden nichts getrunken hatten. Verwundert schüttelte ich den Kopf. »Warum habt ihr eure Krüge nicht angefaßt? Habt ihr keinen Durst?« »Doch, John, doch«, er redete und lachte zugleich. »Aber es war einfach zu schön, dir beim Trinken zuzuschauen. Da haben wir alles andere vergessen.« »Stimmt.« Milena nickte. Ich lehnte mich zurück. Die Holzbänke waren hart, aber das machte nichts. »Dann probiert es mal.« Diesmal schaute ich zu und bekam große Augen, denn Milena schaffte beim ersten Schluck tatsächlich mehr Bier als ich. Fast leer stellte sie den Glaskrug zurück auf den Tisch. »Oh«, sagte ich nur. »Das ist schon olympiareif.« Die Kollegin wischte sich den Schaum von den Lippen. »Tja, mein lieber John, eine echte Pragerin schafft so etwas mit links.« »Das habe ich gesehen.« »Eben.« Ich streckte meine Beine unter dem Tisch aus. »Wißt ihr, was ich schade finde?« fragte ich. »Nein, aber ich kann es mir denken.« »Was denn, Suko?«
»Daß wir nicht privat hier sind, um Urlaub zu machen.« »Genau.« Milena, die ja zwischen uns saß, verteilte ihre Arme auf unseren Schultern. »Wenn wir den Fall gelöst haben, hängen Sie einfach noch drei Tage dran.« »Wenn das so einfach wäre«, murmelte ich. »Ich bitte Sie. Haben Sie keinen Urlaub?« »Wenn es danach ginge«, sagte Suko, »könnten wir ein halbes Jahr hier in Prag bleiben.« »Das reicht aus, um die Stadt kennenzulernen.« »Aber wir haben unseren Chef.« »Der kann ja auch kommen.« Suko und ich lachten synchron. »Da kennen Sie ihn aber schlecht, den alten Pavian. Der wird uns was husten. Ansonsten ist er schon in Ordnung, wie wir finden.« Milena stützte sich an der Tischplatte ab. »Lassen Sie mich mal durch, ich muß mal schauen, wie es in den keramischen Anstalten aussieht.« »Hat man sie renoviert?« fragte ich beim Beiseitetreten. »Ich werde es herausfinden.« »Sie sagen dann Bescheid.« »Gern.« Wir schauten ihr nach, wie sie im Hintergrund des Lokals verschwand. »Na, John, was hältst du von ihr?« »Eine tolle Frau.« »Finde ich auch.« »Es lohnt sich, nach Prag zu kommen.« Ich lächelte, aber mein Lächeln zerbrach schnell, denn ich hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ich von einem Eisschauer gestreift worden. Ich schaute mich um. Nichts war zu sehen. Ich hatte mich noch nicht gesetzt und war etwa nachdenklich neben dem Tisch stehengeblieben. »Ist was?« fragte Suko. »Ich hoffe es nicht«, murmelte ich und nahm wieder meinen alten Platz ein… *** Auch Milena Novak fröstelte. Es mochte daran liegen, daß sie in die kühleren Gefilde des Lokals geraten war. Die große Bierstube hatte sie passiert und ging durch einen breiten gekachelten Gang, der zu den Toiletten führte. Es lag nicht nur an der niedrigeren Temperatur, daß Milena so stark fror, es mußte auch etwas anderes sein, das sich in diesen Gang hineingeschlichen hatte.
Um dem auf den Grund zu kommen, verlangsamte sie ihre Schritte, um möglichst alle Eindrücke in sich aufnehmen zu können und dabei selbst nicht aufzufallen. Da war die offene Durchreiche zur Küche, wo schwitzende Menschen arbeiteten. Sie konnte in einen Lagerraum schauen, in dem Fässer kunstvoll gelagert waren, sie sah auch die Vorräte in großen Kartons und Kisten, sie hörte Stimmen und wurde von einem von der Toilette kommenden Kellner angerempelt. Der junge Mann schwitzte stark, er roch sogar und trug das Haar zu einem Mozart-Zopf geflochten. »He, kannst du nicht aufpassen?!« »Wo finde ich hier die Toilette?« fragte Milena. »Noch ein Stück weiter, dann rechts.« »Danke.« Der Kellner enteilte. Mit einem Ruck hängte sie den Riemen ihrer Tasche wieder ordentlich über die Schulter und setzte den Weg fort. An der rechten Seite erschienen tatsächlich verschiedene Türen. Eine davon führte zur Damen-Toilette. Vor dem Öffnen zögerte sie. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie das tat. Es mochte an dem unguten Gefühl liegen, das sich noch mehr verdichtet hatte. Sie blickte sich um. Es war niemand da, der sich gerade für sie interessiert hätte. Es war eigentlich verrückt, hier gab es nichts, was sie hätte beunruhigen können. Warum dann den Anflug von Panik. Lag es daran, daß sie Besuch von den beiden Geisterjägern bekommen hatte, die so ganz anders dachten und auch denken mußten als sie. Ja, das konnte es durchaus sein. Bisher hatte sie als Pragerin die alten Geistergeschichten natürlich gehört, es gab da auch keinen Unterschied zwischen den Generationen. Alle waren an den Geschichten interessiert, und doch hatte sich etwas verändert. Es war eine Bedrohung entstanden, die sie sich nicht erklären konnte. Milena überwand ihren inneren Schweinehund und drückte die breite und auch schwere Tür auf. Wenn alle Stricke rissen und sie sich verteidigen mußte, holte sie eben die Waffe aus ihrer Handtasche. Ein Vorraum nahm sie auf. Auch hier reichten die alten Kacheln bis zur Decke hoch. Was ihr überhaupt nicht gefiel, war der Geruch. Er hing zwischen den Wänden wie eine unsichtbare Fahne, und er widerte sie an. Sie ärgerte sich, daß er einfach überall war, sogar auf der Zunge schmeckte sie ihn. Ein Geruch von starken Desinfektionsmitteln. Die Tür fiel hinter ihr wieder zu, und Stille umgab sie. Außer ihr schien sich niemand in dieser großen Toilette aufzuhalten. Der Raum war so tot wie eine verlassene Bahnhofshalle. Einige Waschbecken klammerten sich an den Wänden fest. Die Spiegel darüber zeigten blinde Flächen. Schminken konnte man sich dort nicht.
Der Boden schimmerte feucht. Neben den Waschbecken hingen graue Handtücher. Zwei Papierkörbe aus Kunststoff quollen beinahe über, es gab kein Fenster, und Licht gaben mit Fliegendreck beschmierte Deckenleuchten. Eine Schwingtür führte zu den Toiletten. Auch jetzt zögerte Milena, sie aufzustoßen. Obwohl alles so normal war, hatte sie eher den Eindruck, vor einem tiefen Tunnel zu stehen, der ins Nichts führte. Auch hier überwand sie die Furcht, drückte die Tür auf und betrat den ebenfalls nicht angenehm riechenden Raum. Die einzelnen Toilettenkabinen lagen nebeneinander. Holzwände trennten sie. Sie machten einen nicht eben sauberen Eindruck, doch darum kümmerte sich Milena nicht. Keine Kabine war belegt, alle Türen standen offen. Die Kommissarin betrat eine Kabine in der Mitte. Es war sogar Toilettenpapier vorhanden, das von der kratzigen Sorte. Sie schloß sich ein und fühlte sich erst jetzt wieder unbeobachtet. Deshalb öffnete Milena auch die Tasche und tastete nach ihrer Waffe. Es war eine Pistole der Marke Brigant, in der damaligen Tschechoslowakei hergestellt und vom Kaliber 7,62 mm. Milena Novak hatte sie nur selten einsetzen müssen, sie hoffte, daß sich dies nicht änderte. Den Reißverschluß der Tasche ließ sie offen, sicher war sicher. Wenige Minuten später verließ sie die Kabine und stellte fest, daß sich nichts verändert hatte. Das hätte sie eigentlich beruhigen müssen, doch das passierte nicht. Nach wie vor fühlte sie sich verfolgt und beobachtet, doch es hielt sich niemand in ihrer Nähe auf. Zumindest nicht in diesem Raum. Der Vorraum war ebenfalls leer. Sie lauschte auf ihre eigenen Schritte, die sich seltsam laut anhörten. Es mochte an den Echos liegen, die über die kahlen Wände hinwegflackerten. Sie fühlte sich von jedem Echo eingeholt, es klang seltsam in den Ohren nach. Milena wollte ihre Hände waschen. Die Waschbekken waren zwar alt, aber auch ziemlich breit. So fand sie Platz, ihre Tasche abzustellen. Das Wasser drang etwas unkontrolliert aus der gebogenen Öffnung. Es war kalt, erfrischte sie, und sie spritzte sich auch einige Tropfen in das Gesicht. Auf ein Abtrocknen durch Handtücher konnte sie gut und gern verzichten. Sie holte ihr eigenes Taschentuch hervor, in das sie einige Tropfen Parfüm hatte träufeln lassen. Der Geruch tat ihr gut, er war so erfrischend. Ihr Blick glitt in den Spiegel. Es blieb einfach nicht aus, daß sie hineinschaute. Obwohl die Fläche relativ blind war, konnte sie nicht nur sich selbst erkennen, sie sah auch, was sich hinter ihr abspielte. Dort hatte es in der Tat eine Veränderung gegeben.
Sie war nicht mehr allein! Hinter ihr stand eine fremde Frau, die Milena noch nie zuvor gesehen hatte. Im ersten Moment erschrak sie, blieb gebannt stehen und mußte zunächst mit dieser Tatsache fertig werden. Seltsamerweise wußte sie sofort, daß das Erscheinen der Frau nicht normal war. Sie war nicht erschienen, um zur Toilette zu gehen, sie wollte etwas anderes, und plötzlich lag auf Milenas Haut ein kalter Schimmer. Milena kannte die Person nicht, aber sie wußte sofort, daß es nur diejenige sein konnte, die von John Sinclair und auch Suko gejagt wurde. Reiß dich zusammen, hämmerte sie sich ein. Mach dich nicht verrückt, verdammt! Bewahre um Himmels willen die Nerven! Was kann sie dir schon antun? Du bist bewaffnet, und wenn es sein muß, dann wirst du auch schießen. Als sich Milena umdrehte, streckte sie den Arm aus und nahm die Tasche an sich. Zum erstenmal sah sie die andere Person so klar und auch aus der Nähe. Sie tat nichts. Sie blieb stehen. Beide Frauen fixierten sich. Und Milena mußte sich eingestehen, daß die andere Person tatsächlich eine absolut perfekte Schönheit war. Da gab es überhaupt nichts, was störte, nicht einmal die wenig elegante Kleidung, denn die andere trug eine Hose und eine schlichte Bluse. »Es ist alles in Ordnung«, sagte Milena. »Sie können die Toiletten benutzen.« Keine Antwort. »Bitte… ist noch etwas?« Milena hatte einfach mal englisch gesprochen, und sie erhielt auch in dieser Sprache ihre Antwort, damit füllte sich wieder eine Lücke in ihrem Mosaik. »Wer sind Sie?« »Milena Novak. Und Sie?« »Ich heiße Altea…« Der Name war ihr neu. John Sinclair und auch Suko hatten nie von einer Altea gesprochen. Sollte sie sich doch geirrt haben? War alles normal? Dann fiel ihr ein, daß die beiden Männer überhaupt keinen Namen erwähnt hatten. Für sie mußte die Person bisher namenlos gewesen sein. Sie war wie ein Phantom erschienen und wieder verschwunden. Da hatte sich nichts geändert. Was wollte sie? Milena fiel auf, daß sie günstig stand. Ihr war der Weg zur Tür versperrt. Wenn sie rauswollte, mußte sie an ihr vorbei, und das würde schwer genug werden.
»Bitte, ich werde jetzt…« »Du wirst gar nichts!« Die Kommissarin war geschockt. »Was haben Sie da gesagt?« »Ich befehle hier!« Obwohl es ihr schwerfiel, gelang der Frau ein knappes Lächeln. »Befehlen? Ich werde mir nichts befehlen lassen von Ihnen. Ich will diesen Raum verlassen und werde es tun.« »Versuche es.« Milena verdrehte die Augen. Sie mochte Gewalt nicht, denn sie war nicht zur Polizei gegangen, um Schießereien zu erleben und Gewalt. Sie wollte vernünftig ihren Dienst tun und versuchen, Schwierigkeiten zu entgehen. Bisher war ihr das auch gelungen, diesmal aber fuhr der Zug in eine andere Richtung. Er brachte auch die leichte Panik mit, die sie überfallen hatte. Es roch plötzlich nach Gefahr… »Sie werden mich gehen lassen!« erklärte Milena mit fester Stimme. »Man wird mich vermissen und…« »Sinclair und sein Freund kommen auch noch an die Reihe!« Der Satz war mit kalter Stimme gesprochen worden, und er machte dem Gesichtsausdruck der Frau alle Ehre. Milena empfand ihn als ein indirektes Todesurteil, und nicht nur für John Sinclair und Suko, sondern auch für sie. Deshalb mußte sie etwas unternehmen, und sie griff blitzschnell in ihre Tasche. Die Waffe steckte noch günstig, Milena bekam sie am Griff zu fassen. Altea bewegte sich nicht, und auch dann nicht, als sie in die runde Mündung hineinschaute. »Gehen Sie mir aus dem Weg! Zwingen Sie mich nicht, etwas zu tun, was ich im Prinzip gar nicht will!« »Schießen?« »Ja!« Altea zeigte ein kaltes Lächeln. »Was wollen Sie denn gegen mich schon tun?« »Sind Sie kugelfest?« »Ja, das bin ich.« Diese schlichten Worte einer einfachen Antwort hatten Milena erschreckt. Es war seltsam und auch logisch nicht zu vertreten, aber sie glaubte der Gestalt. Altea merkte ihren inneren Widerspruch, und sie gab sich auch weiterhin sehr locker. Milena ließ es zu, daß die Frau eine Hand hob. Im Hirn der Kommissarin funkte es einige Male, denn es kam eine gewisse Erinnerung zurück. Hatte John Sinclair oder Suko nicht von etwas Ähnlichem berichtet? Dieser Barkeeper aus London hatte gesehen, wie die Fremde an ihr Gesicht gefaßt und die Haut abgezogen hatte. Wie jetzt?
Es sah danach aus, denn Altea legte zwei Finger dort gegen die Stirn, wo die Haut endete und der Haaransatz begann. Sie drückte das weiche Material zusammen, lächelte dabei weiter, aber Milena hatte nur Augen für die Stirn, nicht für den Mund der Frau. Es passierte, womit sie gerechnet hatte, und sie empfand es nicht einmal als sehr überraschend. Dennoch war sie faszinierend. Durch einen leichten Druck und auch durch das Zusammenpressen löste sich die Haut, und sie wurde mit einer glatten Bewegung nach unten gezogen. Blut, Fleischfetzen, das helle Schimmern von Knochen hätte jetzt zu sehen sein müssen. Alles, was sich die Polizistin ausgemalt hatte, traf nicht zu. Kein Blut sickerte aus der Lücke. Trotzdem gab es da etwas zu sehen. Etwas, das blinkte und schimmerte – Metall. Vernetzt, verknüpft, ein kleines Räderwerk. Milena zitterte. Sie versuchte, die sichtbaren Tatsachen nachzuvollziehen, das war nicht möglich. Hier lief alles durcheinander, denn hier war das Leben einfach auf den Kopf gestellt worden. Altea war kein Mensch, sie war auch keine lebende Leiche, kein Zombie, sie war… ja, was war sie denn? Ein perfekter Roboter mit einer von Magie gelenkten Mechanik in ihrem Innern. Etwas anderes konnte sich die Frau nicht vorstellen. Auch der Zeuge in der Bar hatte dieses schreckliche Phänomen beschrieben. Ausgerechnet sie, die gar nicht mal soviel damit zu tun hatte, erlebte es am eigenen Leibe. Milena klammerte sich so hart an ihrer Waffe fest, als wäre sie durch eine Stange mit der Wand verbunden. Doch sie wußte auch, daß es keinen Sinn hatte. Die Waffe war degradiert worden. Da hätte sie auch ebenso ein Stück Seife in der Hand halten können. Altea ließ die Hand sinken. Ihre Kontrahentin hätte am liebsten die Augen geschlossen, weil sie die Lücke nicht sehen wollte. Sie war einfach widerlich. Sie haßte diesen Ausschnitt, in dem das Metall schimmerte und sich kleine Rädchen zuckend drehten, wobei sie mit ihren Zacken ineinandergriffen und so für weitere Antriebe sorgten. Wie ein Lappen hing das Stück Haut nach unten und berührte mit seinem Ende den Nasenrücken. Nur diese eine Veränderung verunstaltete das Gesicht zu einer Farce, auch wenn die Lippen lächelten, es kam nicht rüber. »Weißt du nun Bescheid?« Die Worte sickerten Milena entgegen, und sie hatte Mühe, sich darauf einzustellen, daß dieses Wesen mit ihr gesprochen hatte. »Wer bist du?« »Cigams Sündenfall.«
Zu spät war Milena eingefallen, daß sie die Frage schon einmal gestellt hatte, doch die Antwort war ihr nicht fremd gewesen. Auch John Sinclair und Suko hatten diesen Begriff erwähnt. Cigams Sündenfall… Und wo steckte Cigam…? Altea lächelte wieder. »Du denkst nach, ich sehe es dir an.« Sie berührte wieder den Hautlappen und drückte ihn zurück. Er füllte die Lücke aus und blieb dort kleben, als wäre er nie fort gewesen. Es war nichts zu sehen, was gestört hätte. Keine Naht, kein Riß, überhaupt nichts. Sehr glatt lag die Haut als Gefüge auf der Stirn und wurde nicht mal von einer Falte durchbrochen. Dieses Wesen hatte Cigam erwähnt. Allein der Name flößte Milena Beklemmungen ein. War er hier in der Nähe? Hielt er sich nur irgendwo versteckt? Würde er gleich erscheinen und zuschlagen? Sie wollte es unbedingt wissen, deshalb fragte sie: »Wo steckt Cigam?« »Du kennst ihn?« »Ich habe von ihm gehört.« »Ja, das glaube ich dir. Sinclair und Suko haben mit ihm Erfahrungen sammeln können. Er hat es mir berichtet. Ich kenne die beiden. Ich wußte aber nicht, daß sie so schnell sein und hier in Prag auftauchen würden. Doch das lassen wir uns nicht gefallen. Sie sind unsere Feinde, und Feinde muß man einfach ausmerzen. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, nichts darf uns daran hindern.« Milena war intelligent genug, um zu wissen, was diese Worte bedeuteten. Die andere Seite hatte den Tod der Verfolger beschlossen. Dazu gehörte sie ebenso wie Sinclair und Suko. Die Umgebung hatte sich für sie noch mehr verändert. Sie war kälter geworden, kalt wie in einer Gruft. Der Tod schlich unsichtbar heran und meldete sich auf diese Art und Weise. Seine eisige Aura wehte über ihren Rücken, und sie dachte daran, daß sie wirklich nur eine Chance hatte, um zu entkommen. Sie mußte schießen! Nur schien die andere keine Furcht vor der Waffe zu haben. Auch als Milena direkt auf ihren Kopf zielte, nahm sie dies gelassen hin. »Was sind Waffen gegen mich?« fragte sie. »Geh aus dem Weg!« »Wirklich?« »Ja, verschwinde!« Milenas Stimme überschlug sich. Sie dachte auch an ihre beiden Begleiter. Wie lange sie fort gewesen war, wußte sie nicht, aber die beiden Polizisten konnten durchaus mißtrauisch werden. Dann würden sie kommen und nachschauen, auch wenn dies eine DamenToilette war. Nur hatte sie nicht auf die Uhr geschaut und… Ihr Finger hatte zu stark gezittert.
Durch den Ruck war der Druckpunkt überwunden worden. Der Schuß löste sich und die Kugel traf. Milena Novak hatte sich selbst erschreckt. Alles war plötzlich so einfach gewesen. Die Kugel, der Treffer, und Altea war getroffen worden. Nicht in den Kopf, wohin Milena gezielt hatte. Beim Schießen hatte sie die Waffe etwas verrissen, der Lauf hatte sich gesenkt, und die Kugel war in den Körper der anderen gefahren. Mit einer grotesken Bewegung und einem Sprung nach rechts, als hätte sie dem Geschoß noch ausweichen wollen, kippte Altea zur Seite. Sie machte den Weg zur Tür frei, und Milena hätte jetzt nach vorn stürmen können, aber sie war zu perplex. Sie befand sich plötzlich in einer nicht erklärbaren Starre. Sie konnte selbst nicht glauben, was geschehen war, daß sie es geschafft hatte. Es überstieg einfach ihr Vorstellungsvermögen, und nur sehr langsam drehte sie den Kopf, um auf ihre Feindin zu schauen. Kein Blut. Keine Schreie. Auch kein Stöhnen. Dafür konnte die Kommissarin erkennen, wo die Kugel in den Körper gefahren war. In die rechte Brust hatte sie Altea getroffen, da hatte die Kleidung ein Loch aufzuweisen. Die Kugel mußte in dem Körper stecken, aber sie hatte keine Wunde hinterlassen. Da floß kein Blut. Wie auch bei all der perversen Mechanik unter der Menschenhaut. Dies zu begreifen, dauerte etwas. Alles war so schrecklich neu für Milena. Sie hatte bisher mit derartigen Dingen nichts zu tun gehabt. Aus Geschichten waren ihr gewisse Spukerscheinungen bekannt. Prag konnte ja als die Hauptstadt des Spuks und der Geister angesehen werden. Sie tauchten immer wieder auf, hier hatte das Grauen Tradition, aber das alles waren doch nur Geschichten. Jetzt erlebte sie die Wahrheit. Altea lächelte. Das Echo des Schusses war längst verklungen, und die unverletzte Frau machte den Eindruck, als wollte sie Milena ansprechen. Sie hatte bereits den Mund geöffnet, sie lächelte irgendwie gierig, als freute sie sich auf das Fleisch der vor ihr stehenden Frau. Mit keinem Wort hatte sie davon gesprochen, aber der Blick sagte Milena genug. Diese Gier war so unmenschlich, daß sie von einem Kannibalismus hätte sprechen können. Sie schoß wieder. Diesmal hatte sie auf das Bein gezielt und es auch getroffen. In den rechten Oberschenkel war die Kugel gedrungen. Der Aufprall, mit einem Faustschlag zu vergleichen, schleuderte das Bein zurück, und nur deshalb verlor das Wesen den Halt und fiel zu Boden. Ich werde sie zerstückeln! dachte Milena voller Haß und Zorn. Ich werde dieses Wesen in seine Einzelteile zerschießen. Ich werde keine Gnade kennen, denn sie hat auch keine Gnade gekannt. Ein Schrei!
Schrill und spitz, weder von Milena noch von Altea ausgestoßen. Die Polizistin flog herum. Sie handelte wie ein Automat, riß die Waffe hoch und hielt sie im Anschlag. Die Mündung war auf die Tür gerichtet, denn von dort war der Schrei aufgeklungen. Die ältere Frau stand in der offenen Tür wie eine Statue. Sie trug ein Kleid mit einem Blumendruck darauf und war ziemlich korpulent. Ihre große Handtasche wirkte wie eine Waffe, die am rechten Handgelenk baumelte. Ein bleiches, schweißfeuchtes und rundes Gesicht mit weit geöffneten Augen, dazu der offene Mund, aus dem der sirenenartige Schrei drang, all das ließ Milena ihre eigene Situation vergessen, und sie dachte daran, daß hinter dieser schreienden Person sich eine offene Tür befand. Flucht – der Ausweg! Als sich Altea bewegte, um aufzustehen, startete Milena. Die Frau schrie noch immer. Sie brauchte nicht einmal Luft zu holen, und sie ging auch nicht zur Seite, als Milena auf sie zurannte. Beide prallten zusammen. Die dicke Frau brüllte und quiekte zugleich, als sie auf ihren Hintern fiel. Mit der Tasche schlug sie noch in einer ungestümen Bewegung nach Milena und erwischte deren Waden. Beinahe wäre die Kommissarin gefallen. Zum Glück konnte sie sich an der linken Wand abstützen. Ihre Schritte waren lang, die Frau rutschte aus, da waren plötzlich die helfenden Hände eines Kellners, die sie festhielten. »Was ist denn los?« rief der Mann. Milena konnte nicht antworten. Plötzlich verschwamm die Welt vor ihren Augen. »Halten Sie mich fest«, murmelte sie, »halten Sie mich fest, bitte…« Ihre Knie gaben nach, und sie hoffte, daß alles nur ein böser Traum gewesen war… *** Wir waren nervös. Es lag beileibe nicht an dieser gemütlichen Bierhaus-Atmosphäre, die konnte höchstens beruhigen, es lag daran, daß Milena Novak für unseren Geschmack einfach zu lange fortblieb. Zehn Minuten waren bereits vergangen. Ich schlug mit der flachen Hand auf den Holztisch. »Auch wenn man berücksichtigt, daß Frauen immer länger auf der Toilette bleiben, so denke ich mir, daß dies hier schon mehr als ungewöhnlich ist.« »Drück dich nicht so geschwollen aus, John! Du hast einfach Angst um sie.«
»Ja.« Mein Freund starrte in Richtung Ausgang. »Was könnte passiert sein?« »Keine Ahnung.« »Cigam?« »Ich will es nicht hoffen.« »Sein Sündenfall?« »Das schon eher«, murmelte ich. »Die Unbekannte aus der Londoner Bar. Verdammt noch mal, wenn ich nur wüßte, was dahintersteckt? Was ist das Ziel?« Suko stand auf. Er konnte es mir auch nicht sagen, aber er wollte nachschauen. Dabei spielte es für ihn auch keine Rolle, ob der Ort eine Damen-Toilette war. In den letzten Minuten war der Bierkeller fast voll geworden. Touristen strömten in Scharen herein. Sie freuten sich über die Abkühlung, und es waren zumeist Deutsche, die sich auf ein herrliches und frisches Bier freuten. Ich legte Geld neben mein Glas und drückte mich zwischen Sitzkante und Tisch nach außen. »Wird hier frei?« fragte mich ein älterer Mann, der nach Schweiß roch und nach Bier lechzte. »Sie können sich setzen.« »Danke.« Er drehte sich um. Mit lauter Stimme rief er in Richtung Tür. »Kommt her, ich habe einen Platz gefunden!« Suko hatte den Tisch an der anderen Seite verlassen. Wir beide kümmerten uns nicht um die Umgebung, in der plötzlich ein wahnsinniges Chaos herrschte. Zumindest empfand ich es so, und an den Blicken der Kellner sah ich, daß sie ebenfalls über diesen plötzlichen Ansturm nicht eben begeistert waren. Wir mußten uns an den neuen Gästen vorbeidrängen, die förmlich ausgeschwärmt waren, um sich ihre Plätze zu suchen. Wir waren froh, als wir den Durchgang erreicht hatten, der zu den keramischen Anstalten führte. »Wo jetzt?« fragte Suko. Ich mußte zur Seite treten, weil zwei mit Biergläsern beladene Kellner vorbei wollten. Endlich hatten wir freie Bahn und liefen in eine Küchendunstwolke, die uns von der linken Seite entgegenquoll. Dort befand sich die Küche. Da wurde gebrutzelt und gebraten. Längst hatte auch hier das schnelle Essen seinen Einzug gefunden. Da kamen die böhmischen Knödel aus der Tüte, die Soße war ebenfalls ein Fertigprodukt, und auch der Hackbraten oder das Fleisch wurde meterweise geliefert. Eine Notwendigkeit, denn wer viele hungrige Mäuler zu stopfen hatte, konnte sich nicht auf die Produkte einer frischen Küche konzentrieren.
Ich lief vor Suko, sah den breiten Gang hinab und hörte auch einen schrillen Schrei. Es gellte wie eine Alarmsirene an unsere Ohren. Kurz zuvor hatte ich geglaubt, das Echo eines Schusses zu hören, war mir aber nicht ganz sicher gewesen. Der Schrei aber war echt, und er war von einer Frau ausgestoßen worden. Durch den Auftrieb der Gäste war auch das Personal etwas aus dem Takt geraten. Ich sah die Frauen und Männer vor mir, sie bewegten sich mit aller Hektik, sie schrien sich an, sie bestellten. Die Männer an den Fässern und in der Küche arbeiteten wie die Weltmeister. Andere Personen spülten, wieder andere brachten Nachschub, dieser Gang war plötzlich von einem unruhigen Leben erfüllt. Auf dem Fliesenboden zeichneten sich Wasser- oder Bierlachen als gefährliche Rutschfallen ab, aber mein Blick war nach rechts gerichtet, denn dort sah ich einen der Kellner, der sich um Milena Novak kümmerte. Es mußte ihr etwas zugestoßen sein, denn sie sah ziemlich schwach aus und war auch blaß. Der Mann hatte sie gegen die Wand gedrückt, er hielt sie zusätzlich fest, damit sie nicht zusammenbrach. Ich war schnell bei ihm. Auf Deutsch sprach ich ihn an. »Was ist mit der Frau los?« »Sie ist schwach.« »Danke, daß Sie sich um sie gekümmert haben. Sie gehört zu mir. Nochmals danke.« »Ich muß wieder arbeiten. Der Frau ist es wohl schlecht geworden. Ja, die Hitze.« Der Mann verschwand. Ich war ihm dankbar, daß er sich um Milena gekümmert hatte. Sie sah wirklich mies aus. Käsig im Gesicht, die Lippen bleich, sie zitterte. Suko stand auch neben mir. »Was ist mit ihr?« »Ich weiß es noch nicht.« Milena nahm uns nicht wahr. Sie schaute mit leerem Blick durch uns hindurch. Ihre Lippen bewegten sich, aber niemand hatte sie gefragt. Sie wollte von allein sprechen. Wahrscheinlich hatte ihr Kreislauf für einen Moment gestottert. Ich rieb ihre Wangen. Zuerst zuckte sie bei der Berührung zusammen, dann riß sie die Augen auf und hörte meine Stimme. »Bitte, Milena, Sie müssen…« »John…« Endlich hatte sie mich erkannt. Sie sah auch Suko, und ein erleichtertes Lächeln umspielte ihren Mund. An meiner Schulter hielt sie sich fest. »Es ist gut, daß ihr gekommen seid. Es ist gut. Ich war… sie war da…« »Was ist denn geschehen?« »Ich habe sie gesehen, John. Sie heißt Altea.« Ihre Stimme klang schwach. Bei dem Lärm hatte ich Mühe, sie überhaupt zu verstehen.
»Wer ist Altea?« »Der Sündenfall.« Uns rann es kalt den Rücken runter. Selbst Suko hatte eine Gänsehaut bekommen. Er schaute nach links, wo die Toiletten lagen. »Dort sind Sie erwischt worden?« »Sie stand da… und wollte mich töten.« Plötzlich war Suko weg. Auch ich wollte nachschauen, und Milena klammerte sich an mich fest. »Laßt mich nicht allein. Ich will mitgehen. Ich schaffe es schon.« Sie schaffte es auch, und im Vorraum der Toilette fanden wir Suko, der sich umschaute und nach Spuren suchte. Als er uns sah, hob er die Schultern. »Nichts zu sehen.« »Sie war hier!« behauptete Milena mit fester Stimme. »Und ich habe auch geschossen.« Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie die Pistole noch immer in der Hand hielt. Selbst der Kellner hatte sich darum nicht gekümmert. Wahrscheinlich hatte er sie nicht gesehen und sich nur auf die Frau konzentriert. »Da!« Sie hielt uns die Waffe hin. »Ich habe zweimal geschossen. Es fehlen zwei Kugeln. Ihr könnt im Magazin nachschauen. Das ist kein Witz.« »Wir glauben Ihnen«, sagte ich. »Wo ist es passiert. Hier?« »Ja, hier!« »Sie ist geflohen«, stellte Suko fest. »Hat sich aus dem Staub gemacht. Keine Chance mehr.« Ich deutete auf die andere Tür. »Dort befinden sich die Toiletten?« Milena nickte. Ich war rasch an der Tür und stieß sie auf. Viel Hoffnung hatte ich nicht, Altea zu erwischen, und ich bekam es knüppeldick, als ich die Tür aufgestoßen hatte, denn eine Frau keifte mich an. Sie beschimpfte mich als Lüstling, als Spanner. Sie stand vor einem der Waschbecken und fummelte in ihrer Frisur herum. Am liebsten hätte sie mich gefressen. Ich kümmerte mich nicht um das Geschrei, redete mit ihr und erkundigte mich nach einer anderen Frau, wobei ich Altea so gut wie möglich beschrieb. »Was wollen Sie von ihr?« »Die suche ich.« »Sie ist weg!« »Aber Sie haben die Frau gesehen?« »Ja. Ich habe auch einen Schuß gehört. Die… die andere hat geschossen. Das war einfach schlimm. Diese Stadt ist ja furchtbar.« »Die andere war eine Polizistin, ich bin ebenfalls von der Polizei. Sie können also beruhigt sein.« »Na hoffentlich.« Ich kam noch einmal auf die Fremde zu sprechen. »Hier im Toilettenraum war sie also nicht?«
»Nein!« »Danke sehr und viel Spaß noch hier in Prag.« »Sie haben Nerven, verdammt!« Ich ließ sie zurück und fand Suko neben Milena an der Tür stehen. Beide sahen aus, als wäre ihnen die Suppe verhagelt worden. Auch meine Mimik sorgte nicht dafür, daß es ihnen besser ging. Wir hatten leider verloren, aber wir konnten trotzdem froh darüber sein, daß es Milena noch gab und sie kein Opfer geworden war. »Kommen Sie, hier haben wir nichts mehr zu suchen.« Ich hakte sie unter und führte sie aus der Toilette. Im Gang wandten wir uns nach rechts, wo es etwas ruhiger war. Die Frau hatte sich wieder gefangen. Sie sah nicht mehr so bleich aus und entschuldigte sich für ihr Wegtreten, was wir nicht annahmen, denn wir konnten nachvollziehen, wie es ihr ergangen war. »Jeder hätte in dieser Situation Angst gekriegt, Milena.« »Stimmt, stimmt, aber…«, sie lachte und schüttelte den Kopf. »Wißt ihr, es ist so seltsam, wenn man zuvor nur über eine gewisse Sache gesprochen hat und ihr dann plötzlich gegenübersteht. Man wird mit ihr brutal konfrontiert, und das wollte mir nicht in den Sinn. Ich war einfach von der Rolle. Es ging blitzschnell, ich wußte nicht, was ich noch machen sollte, ich habe geschossen…« Ihre Stimme brach ab. »Auch getroffen?« fragte Suko. »Zweimal. In die rechte Brust und in die Wade, aber die Kugeln nutzten nichts. Sie lachte nur, sie amüsierte sich wohl darüber. Altea stand auf, als wäre nichts geschehen.« Milena wischte über ihr Gesicht. »Ist ja auch klar, bei dem, was ich vorher sah.« »Was war es?« »Sie… sie hat ihre Haut abgezogen. Einfach so, wie es John berichtete.« Diesmal waren wir überrascht. Beide fieberten wir einer genaueren Erklärung entgegen, die wir auch bekamen. Wir konnten uns vorstellen, wie es Milena ergangen war. Altea, Cigams Sündenfall, hatte ihr durch diese Geste bewiesen, wie mächtig sie war. »Sie ist ein mechanischer Mensch«, flüsterte Milena Novak. »Sie ist kein Golem, sondern etwas anderes. Sie lebt, aber sie ist nicht normal. Ich verstehe das nicht.« »Magie«, sagte ich, obwohl das auch keine gute Antwort war. »Sicher.« »Was machen wir jetzt?« Suko stellte die Frage wie ein Tourist, der drei Sehenswürdigkeiten abgegrast hatte und nicht wußte, ob er sich die vierte anschauen sollte oder nicht. »Wir müssen uns Altea holen.« »Schön, aber wo?« Ich grinste hart. »Auf einem Friedhof, der praktisch nur um die Ecke liegt.«
Suko wollte noch etwas sagen, aber Milena kam ihm zuvor. »Das geht nicht, das ist nicht möglich.« »Warum nicht?« »Ich will es Ihnen sagen. Dieser Friedhof ist wie ein Magnet für Touristen. Er ist in den ausländischen Medien immer wieder besprochen und auch gezeigt worden. Er hat Berühmtheit erlangt, und deshalb ist er am Tage auch immer voll.« »Sie betonen am Tage.« »Richtig.« »Was ist mit der Nacht?« »Da ist er leer.« »Bald nicht mehr«, sagte ich und merkte ihr Erschrecken. »Keine Sorge, wir wissen uns schon zu wehren.« »Sie wollen tatsächlich in der Nacht hingehen?« »Ja, denn ich bin mir einfach sicher, daß uns unsere neue Freundin dort über den Weg laufen wird.« »Was ist mit Cigam?« fragte Suko. »Der möglicherweise auch. So könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.« Suko schüttelte den Kopf. »Ich würde noch einen Schritt weiter gehen«, sagte er. »Warum?« »Drei Fliegen. Oder sprechen wir besser von einem dicken Brummer. Er heißt Costello.« »Ja, stimmt, ihn hatte ich vergessen.« Milena hatte uns nur aus großen Augen angeschaut. »Haben Sie sich nicht etwas viel vorgenommen?« fragte sie. Ich hob die Schultern. »Das ist so unsere Art, wissen Sie. Bisher hat es auch geklappt.« »Na ja, man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Aber zu dritt sind wir zu schwach. Ich kann ja meine Kollegen alarmieren. Sie könnten den Friedhof umstellen.« »Tatsächlich? Was wollen Sie ihnen denn sagen? Daß wir einen etwas anders gearteten Golem jagen? Daß er eine Frau ist, daß er nicht mehr aus Lehm, sondern aus Metall besteht, über das jemand die Haut eines Menschen gezogen hat.« »Bitte, hören Sie auf!« Milena schüttelte sich. »Das ist alles so unfaßbar für mich. Da kann man einfach nur Angst bekommen. Jedenfalls will uns dieses Wesen töten, und ich frage mich, was wir ihm getan haben. Wissen Sie das?« »Nein, es geht hier ums Prinzip. Cigam ist einer unserer Todfeinde, hinter ihm steht der Teufel, und der wiederum hat schon versucht, sich mit Costello zu verbünden. Hier spielen Politik und Magie eine Rolfe. Costello will von der neuen Lage profitieren. Er will hier in Prag Fuß
fassen. Er möchte von London aus die Ost-Mafia steuern, und dabei braucht er Hilfe. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, sich mit Cigam in Verbindung zu setzen, aber er hat es gepackt, und dem müssen wir Rechnung tragen.« »Warum sagen Sie das?« fragte Milena. »Weil es stimmen kann.« »Daran glaube ich nicht.« »Warum nicht?« »Hat diese Altea nicht zwei von Costellos Leuten in London getötet? Das ist doch so gewesen – oder?« »Da hat sie recht«, sagte Suko. Auch ich fing an zu überlegen. In der Tat war dies so gewesen. Aber mußten wir deshalb davon ausgehen, daß Cigams Sündenfall und Costello auf zwei verschiedenen Seiten standen? Hinzu kam noch der schreckliche Tod der Anna Scoralla, der die Haut vom Körper gezogen worden war. Wenn ich recht darüber nachdachte, bekam das alles für mich noch keinen Sinn. Milena hatte meine Nachdenklichkeit erkannt und sagte: »Ich scheine Sie verunsichert zu haben, John.« »Ein wenig schon.« »Bleibt es denn bei Ihrem Plan?« »Das denke ich.« Sie hob die Schultern. Ihre nächste Antwort gab sie mehr sich selbst. »Der Golem«, murmelte Milena, »Himmel, es ist eine so alte Geschichte, die uns auch während der kommunistischen Herrschaft nicht losgelassen hat. Nie hätte ich als Pragerin gedacht, daß ich mich einmal mit ihm beschäftigen müßte.« Sie sprach wieder uns an. »Wir werden den Friedhof erleben, und das bei Dunkelheit. Irgendwie bin ich auch davon überzeugt, daß wir dort die Spur der Altea aufnehmen können, zwischen all diesen Gräbern und über den zahlreichen Toten…« Sie schauderte… *** Die Flucht war ihr gut gelungen, doch im Prinzip sah Altea ihr Abtauchen nicht als Hucht an, sondern als einen geordneten Rückzug oder als einen geringen Aufschub. Wichtig war, daß sie sich jetzt um andere Dinge kümmerte, die keinen Aufschub verlangten. Sie hatte das Lokal in all dem Chaos normal verlassen. Zwischen den hereinströmenden Touristen war sie nicht aufgefallen, die hatten genug damit zu tun, Sitzplätze zu suchen.
Sie stand in der schmalen Gasse, war einige Schritte zur Seite gegangen und hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand eines alten Hauses gelehnt. Hier wartete sie. Vor ihr lief der Verkehr wie ein Film ab. Sie sah die Menschenschlangen, die durch die Gasse strömten. Prag quoll über, besonders an diesen warmen Frühlingstagen, wo das Thermometer eigentlich schon zu hoch gestiegen war. Altea wußte genau, daß sie nicht lange hier stehenbleiben konnte, aber sie brauchte die Ruhe, um sich auf die vor ihr liegenden Aufgaben vorbereiten zu können. Sie hießen Tod, Mord und Grauen… Nicht umsonst hatte der Satan sie geschaffen, und er hatte dabei auf Cigam gehört, der nicht mehr allein bleiben wollte. Er war eine Ausgeburt der reinen Magie, denn sie war von dem Teufel wie flüssiges Metall in Formen gepreßt worden, hatte einen Menschen erschaffen, der zwar fast so aussah wie ein normaler Mensch, der er aber nicht war. Ihm fehlte auch die Seele! Ebenso wie Altea. Auch sie war seelenlos, aber sie war trotzdem anders als Cigam. Sie bestand in ihrem Innern aus einer alten Mechanik, wo in der Tat ein Rädchen in das andere griff, ihre Bewegungen steuerte, und auf elektronische Chips dabei verzichten konnte, denn der eigentliche Motor war der Hauch der Hölle. Asmodis hatte ihn hier eingehaucht, er hatte damit gottgleich sein und die seit Urzeiten bestehende Forderung erfüllen wollen, nur würde ihm dies nie gelingen, denn die Seele eines Menschen war für den Teufel tabu. Zwar wollte er immer wieder menschliche Seelen in seinen Besitz bringen, das war seit Urzeiten sein Sinnen und Trachten, doch die Seelen waren dann nicht mehr die gleichen. Sie hatten sich verändert und die höllische Boshaftigkeit angenommen. Oft setzte der Teufel auf Schönheit wie bei Altea, denn die Menschen hatten sich nicht verändert. Sie fuhren noch immer auf Schönheit ab, gerade in der modernen Zeit, wo nur Schönheit und Jugend zählten, da hatte das Böse eben leichtes Spiel, und Altea war ein Produkt dieser Zeit geworden. Unter der Haut bewegte sich das Räderwerk. Sie lebte. Sie ging, sie handelte. Sie konnte sogar trinken und auch essen, aber sie verdaute nicht. Es war in ihr alles anders. Sie hatte auch keine Nahrung zu sich nehmen müssen, daß sie es trotzdem tat, lag einfach daran, daß sie nicht in bestimmten Situationen auffallen wollte. Sie löste sich von der Hauswand. Die Sonne schien noch warm. Sie erwischte ihr Gesicht, ohne daß es bei ihr zu Schweißausbrüchen kam. Sehr langsam ging sie die Gasse hoch und steuerte dabei das alte
hebräische Rathaus an, auf dessen Turm die Zeiger der Uhr anders herum liefen. Sie wußte, daß sie nicht allein war, aber sie wußte auch, daß sie in gewisser Hinsicht versagt hatte. Durch ihr zu langes Zögern hatte die andere Frau eine Chance zur Flucht bekommen, das sollte ihr nicht noch einmal widerfahren. Beim nächsten Mal würde sie schneller sein, und dieses nächste Mal würde schon sehr bald eintreffen. Das Rathaus lag mit seiner Schmalseite gut sichtbar vor ihr, als sie stehenblieb. Jemand kam. Sie spürte es mit ihren magisch aufgeladenen Sinnen. Wieder bewegte sich die Frau auf die Hauswand zu, diesmal jedoch blieb sie neben einer der alten Laternen stehen, deren grüne Glaskuppel sich vor dem Grau einer Hauswand kontrastreich abhob. Neben ihr parkten Autos. Sie konnte über sie hinwegschauen. Sie hatte gespürt, daß dieses für sie Wichtige von vorn kommen würde, und als sie auf die ausgestreckten Finger schaute, entdeckte sie das Zittern. Ihr > Bruder< kam… Sie bewegte die Lippen. »Cigam«, flüsterte sie, und es hörte sich an wie ein leiser Hilfeschrei. Durch die sie umgebende und so schnell nicht abreißende Geräuschkulisse erreichte sie eine Botschaft besonders markant. Es war das Pferdegetrappel auf dem alten Kopfsteinpflaster und das darin tönende Rollen von Kutschenrädern. Das hatte etwas mit ihr zu tun. Für sie gab es einfach keine andere Möglichkeit. Altea schaute nach rechts und entdeckte den Schimmel, der die Kutsche zog. Über dem Körper des Tieres lag eine grüne Decke. Stoisch ging das Pferd weiter, es kümmerte sich nicht um den Betrieb, denn den war es gewöhnt. Auf dem Kutschbock saß ein junger Mann mit blonden Haaren. Er trug eine Art Uniform, eine blaue Jacke mit gelben Längsstreifen, hielt die Zügel locker in den Händen, und sein Körper bewegte sich im Rhythmus der Federung. Da war er. Sie wußte es genau, obwohl sie noch nicht sah, wer sich in der offenen Kutsche aufhielt. Bisher hatte sich Altea an der Laterne abgestützt gehabt, nun aber löste sie sich von ihr und ging zwei kleine Schritte vor, bis sie den Rand der Straße erreicht hatte. Durch die Lücke zwischen zwei geparkten Autos schob sie sich hindurch, ging noch einen Schritt nach vorn, ein Radfahrer mußte ihr dabei mit einer schnellen Schlenkerbewegung ausweichen, dann endlich sah sie das Pferd dicht vor sich, das plötzlich stoppte. Es bewegte unruhig den Kopf, stieß ein kurzes Wiehern aus, und der junge Mann auf dem Bock hatte Mühe, es ruhig zu halten. Irgend etwas störte das Tier. Wahrscheinlich spürte es die Ausstrahlung dieser
fremden Person, die so ganz anders war als die eines normalen Menschen. Es schnaubte, und Altea hob die Hand. Sofort war das Tier ruhig. Es senkte den Kopf und machte einen beinahe lethargischen Eindruck. Der Kutscher nickte ihr zu. Er lächelte dabei und wurde rot, weil er eine so perfekte Frau selten gesehen hatte. »Steigen Sie hinten auf. Sie werden schon erwartet.« »Ich weiß«, sagte Altea. Schwungvoll erklomm sie die Kutsche und setzte sich auf eine der beiden Bänke. Jetzt waren beide belegt. Vor ihr saß jemand, den sie kannte, den sie auch erwartet hatte – es war Cigam! *** Der Kutscher knallte mit der Peitsche, ohne den Pferderücken dabei zu berühren. Das Tier kannte das Signal, es schüttelte sich noch einmal und setzte sich dann in Bewegung. Die Hufe schrammten über das Kopfsteinpflaster, durch die Kutsche ging ein Ruck, dann rollten auch deren Räder. Altea sagte kein einziges Wort. Sie starrte nur die ihr gegenübersitzende Gestalt an. Cigam hatte sich in die rechte Ecke des Sitzes gedrängt. Er trug dunkle Kleidung, wobei die Jacke bis zu seinem Hals hoch geschlossen war. Sein graues Gesicht sah aus wie eine schiefe Maske, aber nicht, weil er den Kopf etwa schief gehalten hätte, bei ihm wirkten die Proportionen ebenso. Da hatte der Teufel etwas schlecht gemacht, denn das graue Gesicht sah aus, als wäre es aus blinden Spiegelscheiben zusammengesetzt worden. Die Augen standen schief, der lippenlose Mund war ein verzogener Strich, die Nase wirkte wie ein leicht abfallender Strich mit einer Kante, auch die Ohren paßten nicht so recht zu dieser Erscheinung, die Augen ebenfalls nicht. Sie waren kalte, tote Gewässer, ohne Leben, einfach blicklos. Sie strahlten nicht einmal Kälte aus, sie waren einfach nur da und wirkten wie gläserne Halbkugeln, die jemand in das schiefe Gesicht hineingedrückt hatte. Cigam war eine Gestalt ohne Gefühl, und diese Augen unterstrichen die Tatsache noch mehr. Altea sagte nichts. Sie schaute Cigam nur an, der für sie so etwas wie ein Bruder war, da beide auf denselben Schöpfer zurückblicken konnten. Sie schauten sich in die Gesichter, doch sie enthielten sich eines Kommentars. Altea blickte auf Cigams Hände. Sie lagen ausgestreckt über der grauen Decke, die die obere Hälfte seiner Beine und Schenkel bedeckte.
Erst als die Kutsche den Ort des Geschehens passiert hatte, begann er zu sprechen. »Du hast versagt!« Altea konnte nicht widersprechen. Es stimmte. Im Prinzip hatte sie versagt. »Warum?« »Sie waren schneller.« »Wer?« »Sie alle.« »Und jetzt?« »Wir werden einen erneuten Anlauf starten.« Zum erstenmal lächelte das Kunstgeschöpf des Teufels. Es war kein Lächeln, wie man es normalerweise kannte. Es glich mehr einem starren, bösen Grinsen, als sich der Spalt, der den Mund darstellen sollte, in die Breite zog und gleichzeitig in die Höhe, als sollte das schiefe Gesicht auf der rechten Wange einen erneuten Einschnitt bekommen, denn bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, wo sich die einzelnen Teile des Gesichts berührten, da zeigte die >Haut< hauchdünne Fäden. »Das ist schlecht. Du weißt, um was es geht.« »Ja.« »Du hast den Meister enttäuscht!« »Ich werde es wieder richten.« Cigam schwieg, auch Altea wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Das Pferd zog die Kutsche, und die unverwechselbare Lärmkulisse baute sich wieder auf. Sie sahen sich nur selbst, von der Umgebung bekamen sie nichts mit, und auf der Decke bewegte Cigam unruhig seine Hände. »Glaub es mir«, sagte Altea. »Er wird dich vielleicht bestrafen!« »Nein, er muß mir eine Chance geben. Du kennst die beiden Männer und weißt, wie gefährlich sie sind…« »Das stimmt.« »Ich habe es nicht geschafft. Ich war nahe dran, dann war das Schicksal gegen mich.« Cigam nickte, ohne überzeugend zu wirken. »Du wirst es dem Meister erklären müssen.« »Wartet er?« »Mit den anderen.« »Dann fahren wir jetzt zu ihm?« »Ja.« »Was wird Costello sagen?« »Ich weiß es nicht, aber er wird kaum Chancen haben. Er soll sich heraushalten. Diese Stadt gehört uns. Wir werden die neuen Golems schaffen, wir werden sie anders machen als der Rabbi. Wir werden sie nicht aus Lehm formen, sie werden sein wie du, und wenn uns Costello dabei hilft, kann er bleiben. Wenn nicht, werden wir ihn zerreißen und
fressen.« Für einen Moment schillerten seine Augen, und Altea nickte. Damit war sie voll und ganz einverstanden. »Wo wartet er?« »In dem alten Haus.« »Fährt der Kutscher hin?« »Ja.« »Was machen wir mit ihm?« »Ich weiß es nicht.« »Kann er uns verraten?« »Er ist eigentlich hirnlos. Wir haben ihn gekauft. Er soll uns fahren, wohin wir wollen. Ich habe ihm auch Geld gegeben.« Die schöne Kunstfrau nickte. Sie war zufrieden, sie vertraute Cigam. Es gab ihn schon länger als sie, denn sie mußte sich erst zurechtfinden. Da Cigam nicht mehr sprach, gab ihr dies Gelegenheit, sich umzuschauen. Der Kutscher kannte sich in Prag aus, er würde sein Ziel nicht verfehlen, und sie hatten bereits die Gasse verlassen, in der sich die beiden getroffen hatten. Eine noch engere Gasse hatte sie aufgenommen. Sie war so schmal, daß die Kutsche soeben hindurchpaßte, und sie war nur von einer Seite aus zu befahren. Häuser mit grauen, brüchig wirkenden Fassaden rahmten die Gasse ein. Wer sie verlassen wollte, konnte es nur durch schmale Lücken, die sich hin und wieder zwischen den Häusern auftaten und wo alte Steintreppen schräg und ausgetreten in die Höhe führten, zu anderen Häusern oder kleinen Plätzen in der Prager Altstadt. Über allem stand der blaue Himmel. Aber die Luft drückte, und der Wind schaffte es nicht, die Gerüche aus dieser sehr schmalen Gasse zu vertreiben. Aus allen Öffnungen und Nischen schien der unsichtbare Dampf zu fließen, der über das aufgerissene Pflaster wehte. Der Weg führte leicht bergauf. Am Ende der Gasse drängten sich einige Menschen um zwei Musiker zusammen, die wieder anfingen zu spielen, nachdem sie Münzen eingesammelt hatten. »Halte an!« rief Cigam. Er hatte so laut gesprochen, daß er auch von dem jungen Kutscher gehört worden war. Der Mann zerrte an den Zügeln, und der Schimmel stoppte. Die Geräusche erstarben. Nur die Klänge der Musik wehten den beiden aussteigenden Personen entgegen. Es waren böhmische Melodien, sehr fröhlich und zum Tanze einladend. Bezahlt worden war der Kutscher schon. Und er hatte Glück gehabt, daß die beiden ihn laufenließen. Als der Mann und die Frau sich einige Schritte von der Kutsche entfernt hatten, spürte der junge Mann auf dem Bock plötzlich die Kälte, die als Eishauch gegen ihn strömte und ihn wie ein Gefängnis umschloß. Die ganze Zeit über hatte er ein ungutes Gefühl gehabt. Er war mit seinen Fahrgästen nicht zurechtgekommen und war froh, trotz des hohen Salärs, verschwinden zu können. Er tat
etwas, was er nur in Ausnahmefällen machte. Er ließ die Peitsche kurz auf den Rücken seines Pferdes knallen, nicht sehr fest, dafür sorgte er schon, aber das Tier war es nicht gewohnt. Mit einem schrillen Wiehern startete es so rasch wie möglich. Die Kutsche rutschte und schwang. Sie polterte über das holprige Pflaster hinweg, wäre fast gegen eine Wand geprallt, aber sie fing sich wieder. Cigam und Altea schauten ihr nicht nach. Für sie war der Fahrer bereits vergessen. Cigam drehte sich einmal um. Seine Augen flackerten dabei, als würde kaltes Feuer in ihnen brennen. Er schaute auf die Versammelten und auch auf die Musiker, als wollte er sich im nächsten Moment auf sie stürzen und sie zerreißen. Er ging jedoch weiter. Sein Ziel war eine der schmalen und krummen Treppen, die zwischen den Häusern in die Höhe führten, als wollten sie erst dort enden, wo der blaue Himmel begann. Das traf nicht zu. Nach einem Knick waren noch genau vier Stufen zu gehen, um einen Platz zu erreichen, auf den die Sonne schien. An einigen Fensterbänken waren Blumenkästen angebracht worden. Aus ihnen schauten bunte Blumen hervor, als wollten sie die Besucher willkommen heißen. Er wartete ab und hörte, wie Altea ebenfalls die letzten Stufen nahm und in die Stille dieses Platzes hineintrat. Es war wirklich sehr still. Die Stadt schien weit entfernt zu sein. »Ist es hier?« Cigam nickte. Mit seinem haarlosen Schädel und der grauen, kalten, auch abstoßenden Haut sah er aus wie ein perfekter Nosferatu. Nur fehlten bei ihm die blutsaugenden Vampirzähne, ansonsten paßte einiges zu diesem Aussehen. Er drehte sich nach rechts und deutete dabei auf die Fassade eines dunklen Hauses. Selbst die Fenster wirkten düster. Das Haus sah unbewohnt aus. Es war klein, aber breit, es duckte sich gegen die anderen Häuser, und nicht eine Blüte verschönerte seine Fensterfront. »Dort sind sie.« »Was willst du tun?« »Ich werde einzig und allein nach den Anweisungen des Meisters handeln, falls sie nicht mitmachen, töten wir sie.« Altea nickte. »Wie viele sind es?« »Mehrere.« Cigam ließ sich nicht mehr aufhalten. Er steuerte auf dem direkten Weg die kleine Tür an, die den Eingang bildete. Sie saß schief und sah so aus, als könnte sie mit einem mittelschweren Tritt aus den Angeln gesprengt werden. Das hatte Cigam nicht vor. Er drückte sich dagegen und schaute in das Halbdunkel des Hauses, in dem es nach Staub ebenso roch wie nach einer nicht fortzubekommenden Feuchtigkeit.
Wie ein breiter Schatten schlich Cigam in das Innere des schiefen Hauses. Er störte sich auch nicht daran, als er das typische Geräusch hörte, das entsteht, wenn eine Waffe durchgeladen wird. Kugeln machten ihm nichts aus, sie ärgerten ihn nur, wenn sie ihn trafen, und er wollte gleich die richtigen Zeichen setzen. Von rechts her näherte sich der Schatten. Es war ein Mann, der eine Maschinenpistole in der Hand hielt und den Fehler beging, durch die offene Tür zu schauen. Er wurde von dem hereinströmenden Licht etwas geblendet. Einen Augenblick später brüllte er auf. Cigam hatte zugeschlagen und sein Gesicht zerstört. Der Mann schoß noch. Die Garbe ratterte in den Boden, dann taumelte er an Cigam vorbei und fiel auf das alte Holz, wo er wimmernd liegenblieb. Altea hatte mittlerweile die Tür geschlossen. Cigam schlenkerte, seine rechte Hand und schüttelte die letzten Blutstropfen ab. Um den Verletzten kümmerte er sich nicht. Er betrat einen relativ großen Raum, der nur deshalb so groß sein konnte, weil die Zwischenwände entfernt worden waren. Es war Platz genug geschaffen worden für die wartenden Männer, und dazu gehörte jemand, der aussah, als wäre er aus altem Beton gegossen worden. Das war Logan Costello, der tatsächlich den Spitzoder Kampfnamen Betongesicht bekommen hatte. Costello war bei den Schüssen aufgesprungen. Er hatte miterlebt, wie brutal Cigam vorging, und er konnte sich jetzt nur auf zwei Leute verlassen, die ihn einrahmten und ihre schweren Revolver gezogen hatten. Sie trauten sich keinen Schuß mehr zu, denn jeder von ihnen hatte gespürt, daß ein Hauch Hölle zu ihnen gekommen war. Cigam ging vor. Er schaute nur nach vorn, er sah die Umrisse der Männer und fixierte Costello. Der ging einen Schritt zurück. Was er sah, hatte ihn erschaudern lassen. Das bleichsilbrige Gesicht des magischen Kunstgeschöpfes schien in der Luft zu schweben und sich ihm zu nähern wie ein flacher Ballon. Alles andere war verwischt und verschwommen und schien von der Dunkelheit des Bodens aufgesaugt worden zu sein. Die Frau hinter Costello war kaum zu sehen, aber der Mafiaboß wußte, wie sie aussah. Nur durfte er sich von deren Schönheit nicht blenden lassen. »Es war kein freundlicher Empfang, Costello!« sagte Cigam mit seiner flachen Stimme. »So etwas mag ich nicht. Ich hoffe, daß du und deine Männer Bescheid wissen, wer hier die Herren sind.« Er tippte ihm lässig gegen die Brust, und der große Costello fiel zurück in seinen Stuhl, der unter dem Gewicht des Mannes ächzte. Die beiden anderen Mafiosi, auch nur mehr Schattengestalten, hatten ihre Waffen verschwinden lassen. Sie waren eingeweiht, und sie, die
bisher mit Menschenleben nur gespielt hatten, sie hatten erlebt, was es heißt, dem Grauen zu begegnen. Die großen und abgebrühten Killer waren sehr ruhig geworden. Altea blieb hinter Cigam stehen wie eine Leibwächterin. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und überließ ihrem > Bruder< das Terrain. Der schaute sich um. Er sah, daß ihn nichts mehr störte und senkte seinen flachen Kopf. Von unten herauf schaute ihm Costello ins Gesicht. Eine Szene, die er nicht gewohnt war, denn normalerweise war es umgekehrt. Da schauten die anderen zu ihm hoch. Zumeist bettelten und winselten sie. Soweit war es bei Costello noch nicht, aber der mächtige Mafiafürst spürte, daß er hier nur zweiter Sieger werden würde. Er hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen. Er hatte geglaubt, den Osten – dazu zählte er Warschau und Prag – überrennen zu können, doch da hatte sich Widerstand formiert. Nur war er kein Mensch, der schnell aufgab. Er hatte sich schon in früheren Zeiten mit der Hölle verbündet und wollte dies auch jetzt so halten. Nur mußten da noch einige Hindernisse überwunden werden, denn so leicht war es nicht zu schaffen. In dieser Stadt hatten sich andere schon ihre Pfründe ausgesucht. Er war Cigam in die Quere gekommen, ohne es zu wollen. Zuerst hatte er die Warnungen nicht beachtet und darüber gelacht. Dann war er den Behörden aufgefallen, und die hatten eine Agentin nach London geschickt, um dort zu recherchieren. Dazu war es nicht mehr gekommen. Jemand hatte sie getötet, ihr die Haut abgezogen und für sich genommen. Wahrscheinlich war Cigam der Häuter gewesen, aber er hatte mit des Teufels Hilfe seinen verdammten Sündenfall geschaffen, und nun mußte sich Costello zwei dieser Wesen stellen. Er suchte nach Möglichkeiten, sich zu arrangieren. So hatte er früher schon gehandelt, deshalb war ihm ein Kompromiß mit den Mächten der Finsternis nicht fremd. Ja, und dann war da noch etwas. Zwei Männer, die er in die tiefste Hölle verfluchte, weil sie ihm schon seit Jahren Ärger bereiteten und ihm auch, das mußte er eingestehen, einige Niederlagen beigebracht hatten. Sinclair und Suko hatten Blut geleckt und die Prager Spur aufgenommen. Sie waren da, Costello wußte es, und er wollte ihren Tod. Eigentlich war er froh, daß sie sich in der Stadt aufhielten. So konnten seine Probleme noch zurückgestellt werden, denn Cigam war Sinclair ebenfalls nicht unbekannt. Auch das magische Kunstgeschöpf hatte wegen des Geisterjägers schon Niederlagen einstecken müssen. Er war
ein Geschöpf des Teufels, und er brachte nicht nur dessen Brutalität mit, sondern auch die Menschenverachtung, denn er war darauf programmiert, sein teuflischmagisches Gift zu verspritzen. Wie bei Costello. Obwohl Cigam nur vor ihm stand, spürte der Mann, wie sehr ihn dessen Nähe verunsicherte. Von ihm strömte etwas aus, das er sich nicht erklären konnte. Costello hatte schon oft genug Kontakt mit dem Teufel gehabt, er war ihm in verschiedenen Gestalten begegnet, als Monster ebenso wie als falscher Mensch, doch der Eindruck von ihm war anders gewesen als der des vor ihm stehenden Cigam. Von ihm ging etwas aus, mit dem er nicht zurechtkam. Es war etwas Giftiges, das sich auch in seinem Hirn festfressen wollte. Menschenverachtend, böse, nur auf Tod programmiert, und beinahe kam ihm das Kunstgeschöpf des Teufels schlimmer vor als der Satan selbst. Kein feuriges Gesicht, keine glühenden Augen, sondern nur die kalte, widerliche Maske, die zu der Stadt paßte, in der der Golem entstanden war. Eine Stadt mit dem ersten Untoten, eine seelenlose Maschine auf magisch geladenem Boden. Es war klar, daß sich Geschöpfe wie Cigam und Altea hier wohl fühlten und keinen Zentimeter Terrain aufgeben würden. Daß Costello noch am Leben war, verdankte er im Prinzip dem Teufel, mit dem er damals zusammengearbeitet hatte, denn auf keinen anderen als ihn hörte Cigam. Normalerweise wäre er längst zerfleischt worden. Er kümmerte sich nicht um den wimmernden Schwerverletzten, der auf dem Boden lag und sich in eine Ecke verkrochen hatte. Der Mann jammerte nach einem Arzt, er mußte irrsinnige Schmerzen erleiden. Costello umklammerte die Lehnen des Stuhls hart wie einen Rettungsanker. Er spürte zwischen dem Holz und seinen Handflächen den dünnen Film aus Schweiß, der auch sein Gesicht bedeckte, denn in dieser Lage war er der Verlierer. Er redete nicht. Jedes Wort konnte falsch sein und Cigam zu einer unberechenbaren Reaktion verleiten. Deshalb mußte er die Ruhe bewahren. Nach einer Zeit, die ihm unendlich lang vorkam, sprach Cigam ihn an. Er stieß die Worte von oben auf ihn nieder und sagte nur: »Sie leben noch!« Costello blieb ruhig. Nur keine Reaktion zeigen. Die Hände allerdings umklammerten noch härter die Lehnen. Er wußte genau, wen Cigam damit gemeint hatte. Also hatte es Altea nicht geschafft. Costello wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Im Prinzip nicht, denn Sinclair war jemand, der ihn jagte. Aber er war auch berechenbar, weil er und Suko
sich an Recht und Gesetz hielten, was für eine magische Kunstfigur wie Cigam keinerlei Bedeutung hatte. Sie lebten noch! Dann würden sie auch kämpfen! Die Situation hatte einen Knick erfahren. Es würde zu einer weiteren Konfrontation kommen, um eine Entscheidung herbeizuführen. »Hast du gehört? Sie leben noch!« Costello nickte. »Was sagst du?« Der Mafioso ärgerte sich, daß er all seine Sicherheit verloren hatte. Er kam sich so verdammt klein vor. Er überlegte fieberhaft, welche Antwort Cigam genehm sein konnte, denn er durfte um Himmels willen nichts Falsches sagen. »Wir müssen sie töten!« Tat er was, tat er nichts? Nein, er reagierte nicht. Die Antwort schien ihm gefallen zu haben. »Ja, du hast recht.« »Soll ich dir helfen?« Cigam lächelte erst, dann lachte er hart. »Ja, du kannst mir helfen, aber was willst du schon tun? Du bist in dieser Stadt nicht einmal geduldet, du lebst hier von meiner Gnade. Du hast dich hier festsetzen wollen, ohne zu wissen, daß die Stadt mir gehören wird. Das hat mir der Teufel versprochen, denn ich bin die Fortsetzung des Golems. Was damals unfertig gewesen war, ist nun perfekt. Ich hatte meine Schwester zu dir nach London geschickt, um dich zu warnen, aber du hast sie nicht mal empfangen, obwohl du dich in der Stadt aufgehalten hast. So etwas können wir nicht verzeihen. Du hast meine Schwester abwimmeln lassen wollen. Beide, die es versuchten, sind tot, und du willst hier das Zepter an dich reißen, was dir nicht gelingen wird.« »Das weiß ich jetzt!« »Bettelst du?« »Nein, ich habe meinen Fehler eingesehen. Ich werde mich aus dieser Stadt zurückziehen und…« Cigam schlug Costello gegen den Mund. Es war ein blitzschnell geführter Schlag und ein harter Treffer. Der Mafioso hatte das Gefühl, als würden ihm die Zähne in den Rachen gestopft. Sein Kopf prallte zurück und stieß gegen das Ende der Lehne. Die beiden Leibwächter wollten in die Höhe springen und eingreifen, sie waren es einfach so gewohnt, aber Cigam ließ es nicht zu. Er packte den ersten noch in der Bewegung, schleuderte ihn herum und wuchtete ihn in den Raum hinein. »Er gehört dir, Schwester!« Der zweite wollte schießen.
Er feuerte auch, die Kugel erwischte Cigam und drang ihm in den Bauch. Bei einem Menschen wäre das Blut in einem Strom herausgeschossen, bei ihm geschah gar nichts. Er schaute nicht mal hin, sondern schnappte sich den Waffenarm des Mannes. Der Leibwächter, ein Bulle und ein ehemaliger Ringer, hatte das Gefühl, von einem mächtigen Schraubstock umklammert zu sein. Er konnte nichts dagegen machen, als sein Arm wuchtig herumgedreht wurde. Er spürte einen irren Schmerz und hörte auch das Knacken und Knirschen. Dann drosch ihn ein Faustschlag zu Boden. Mit dem Gesicht zuerst schlug er auf. Der Mann kam nicht mehr hoch. Cigam tötete ihn mit der rechten Hand, die er wie eine Lanze einsetzte. Er drehte sich um, weil er schauen wollte, wie Altea mit dem zweiten Mann fertig wurde. Währenddessen hockte Costello unbeweglich auf seinem Stuhl und konnte nicht fassen, was da mit seinen Männern geschah, in die er so viel Vertrauen gesetzt hatte. Einer lebte noch. Aber er hatte Altea als Gegnerin, und die sorgte dafür, daß er nicht zur Tür konnte. Sie versperrte ihm den Weg. Locker stand sie da, in der Düsternis wirkte sie wie eine starre Todesgöttin. Sie ließ ihn kommen, und der Mann hatte seine Waffe gezogen. Er stand kurz vor dem Durchdrehen. Sein Atem ging nicht mehr normal, er fauchte aus dem offenen Mund. Es hörte sich an, als wäre eine Dampflok unterwegs. Dann schoß er. Die Explosionen zerrissen die relative Stille innerhalb des Hauses. Die Wände zitterten, Scheiben klirrten in ihren Rahmen. Der Pulvergestank war sofort überall. Der Mafioso hatte getroffen. Er stand in einer relativ steifen Haltung auf der Stelle, den Oberkörper leicht zurückgedrückt, als traute er seinen eigenen Schüssen nichts mehr zu. Sie fing die Kugeln nicht nur auf, sie kam auch näher, ließ sich durch nichts davon abbringen. Die Geschosse steckten irgendwo in ihrem Körper, und der Mafioso drehte durch, als er sah, wie schwach er war. Er hatte die Trommel seiner Waffe leergeschossen, riß dann den Arm hoch und schleuderte den schweren Revolver auf die >Frau< zu. Er hatte dabei gut gezielt, denn die Waffe klatschte in das Gesicht des teuflichen Kunstgeschöpfs. Es entstand beim Aufprall zunächst ein dumpfer, danach ein etwas heller klingender Laut, weil die Haut das Geräusch, als Metall auf Metall traf, nur unzureichend dämpfte. Altea ging weiter. Sie spürte keinen Schmerz, sie war der Roboter, dessen Motor mit dem Treibstoff der Hölle betrieben wurde.
Und sie packte zu. An der Schulter erwischte sie den wegtauchenden Gangster. Der versuchte noch, sich loszureißen, doch gegen die irrsinnige Kraft dieses Wesens kam er nicht an. Altea zerrte den Mann, den sie zu einem Spielzeug degradiert hatte, in ihre unmittelbare Nähe. Dann streckte sie den Arm aus. Eine Kreiselbewegung mit genügend Schwung. Sie ließ ihn los. Als schreiendes Bündel Mensch flog er quer durch den Raum, bis eine der Wände ihn aufhielt. Costello schloß die Augen, als er das dabei entstehende Geräusch hörte. Es war einfach furchtbar, er wollte nicht mehr hinblicken und tat es schließlich doch. Da stand Altea bereits neben dem Mafioso. Sie schaute auf ihn herab. Sie stieß ihn an, sie bückte sich und rüttelte ihn, um sich danach umzudrehen und die Schultern zu heben. Costello wußte von der Bedeutung dieser Geste. Sie war eindeutig und besagte, daß Giovanni, so hieß der Mann, nicht mehr lebte. Cigam nickte zufrieden. Er sagte nichts, sondern schaute nur zu, wie sich seine >Schwester< um den Verletzten >kümmerte<. Sie beendete auch dessen Leben! Erst dann war sie zufrieden, und plötzlich fühlte sich Costello nicht nur mutterseelenallein wie nie zuvor in seinem Leben, sondern auch wie von den Backen einer gnadenlosen Zange eingeklemmt. Auf der einen Seite stand Cigam, auf der anderen sein Sündenfall. Selbst bei Begegnungen mit dem Teufel hatte Costello nicht diese verrückte, kaum erklärbare Angst gespürt. Er zitterte, er roch den Tod, denn der Geruch von frischem Blut drang in seine Nase. Die Zähne schlugen aufeinander. Wie Fieber strömte die Hitze durch seinen Körper, die dann von einer Kälte abgelöst wurde, die viel in ihm vereiste. Cigam und Altea ließen ihn zunächst in Ruhe. Es konnten Minuten vergangen sein, bevor das männliche und gleichzeitig doch geschlechtslose Wesen das Schweigen brach. »Das hat so sein müssen, denn es war auch für dich eine Bestrafung. Du hast erkennen sollen, daß es keinen Sinn macht, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen. Wir sind die Herren, wir haben zu sagen, nicht du, Costello.« Er konnte nur nicken. Es war ihm unmöglich, auch nur ein Wort hervorzupressen. Er fühlte sich wie jemand, der in seine Kindheit zurückversetzt worden war. In eine frühe Phase, in der die Angst vor der Welt der Erwachsenen vorgeherrscht hatte. Er konnte kaum denken, das Zittern ließ sich nicht vermeiden, die Angst erwischte ihn in gewaltigen Strömen, und er fühlte sich so allein wie nie zuvor.
Ihn hatte der Tod nur gestreift, seine Leute aber hatte er voll erwischt. Und Costello fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn auch der tot auf den alten Holzdielen gelegen hätte, denn er wußte nicht, was noch auf ihn zukam. Zunächst das Schicksal in Form der beiden >Geschwister<. Von zwei Seiten näherten sie sich ihm, und sie gingen so leise wie möglich. Er sah eigentlich nur ihre Augen, die in der Dunkelheit heller schimmerten als die Gesichter. Costello wußte nicht, wohin er schauen sollte. Deshalb drehte er den Kopf mal nach rechts, um Cigam anzusehen, dann nach links, von wo Altea kam. Neben ihm blieben sie stehen. Sie rahmten ihn ein wie zwei Henker den Todeskandidaten. In London war er der Henker, hier jedoch das Opfer, und er mußte die Qualen erdulden, die er sonst den anderen > verordnete <. »Was denkst du?« fragte Cigam. »Sei ehrlich.« Costello konnte kaum sprechen. Der Speichel klebte in seinem Mund wie zäher Leim. Nur mühsam schluckte er ihn herunter, und ebenso mühsam würgte er seine Antwort hervor. »Ich… ich habe Angst…« Diese Worte waren ihm so gut wie nie über die Lippen gekommen, in diesen Augenblicken entsprachen sie seinem tiefsten Bedürfnis, denn er fühlte nichts anderes als eben die tiefsitzende Furcht vor dem Tod. Es wunderte ihn, daß er nicht schon längst auf die Knie gefallen war, um für sein Leben zu bitten, denn soweit war er mittlerweile. Cigam zeigte sich ihm gesonnen, denn er nickte. »Ja, du bist ehrlich gewesen. Wie denkst du, wird es weitergehen?« Costellos Augen füllte salzhaltiger Schweiß. Costello konnte kaum etwas erkennen. Nur schemenhaft zeichneten sich Cigam und Altea im Dämmer des von Blutgeruch durchwehten Zimmers ab. »Ich kann es mir denken«, keuchte er und drehte dabei seine Hände um die Lehne. »Ihr werdet mich töten.« »Du hättest es verdient!« stellte Cigam mit kalter Stimme fest. »Du hättest es wirklich verdient, aber wir werden dich nicht töten. Wir wissen, daß du einst zu uns gehört hast. Der Teufel hatte dich beschützt, das haben wir nicht vergessen. Deine vorläufige Strafe hast du bekommen, denn von denen, die du mit in diese Stadt gebracht hast, lebt keiner mehr. Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, sie hätten zu Hause bleiben sollen.« Er lachte rauh. »So, unser Plan steht, denn wir müssen noch weitere Feinde ausschalten.« »Die Frau will ich!« sagte Altea. Auch Costello hatte die Worte gehört. Er wunderte sich darüber, denn er konnte sich nicht vorstellen, welche Frau damit gemeint war. Sollte Sinclair die Detektivin Jane Collins mit nach Prag genommen haben?
Cigam war einverstanden. »Du kannst sie haben«, erklärte er. »Mir reichen die beiden anderen.« Costello atmete tief durch. Er fühlte sich besser, jetzt, wo sich die teuflischen Geschwister nicht mehr nur um ihn kümmerten. Sie hatten andere Probleme, denn Sinclair, Suko und auch die Frau waren aus einem anderen Holz geschnitzt als seine Leute, die ihm zwar menschliche Gegner vom Leibe halten konnten, ansonsten aber ziemlich hilflos waren, wenn es um magische Mächte ging. Altea wandte sich ab. Sie ging zur Tür und öffnete sie spaltbreit. Das Wesen ließ sich Zeit. Es sondierte die Umgebung, weil es schauen wollte, ob die Luft rein war. Cigam war neben Costello stehengeblieben. Er hatte keinen Blick für den Mafia-Chef. Dennoch traute sich Costello nicht, auch nur einen kleinen Finger anzuheben. Er wagte es nicht einmal, falsch zu denken, er konnte nie wissen, über welche Kräfte der andere verfügte. Draußen war die Sonne zwar nicht verschwunden, doch der runde Ball hatte sich im Westen gesenkt und bedachte die Dächer der Häuser mit einem blutroten Schein, der irgendwie als Atmosphäre voll und ganz paßte. Altea schloß die Tür wieder und drehte sich gelassen um. Einige Male nickte sie, als wollte sie ihren Eindruck, den sie draußen erhalten hatte, voll bestätigen. »Es wird bald dämmern.« »Gut.« »Zeit für den Friedhof«, flüsterte sie. Cigam lachte. »Ja, dort werden sie sein. Da ist sein Grab. Sie werden es besuchen. Der Rabbi«, er ließ das Wort auf der Zunge zergehen, »hat es damals versucht mit dem Golem, aber wir sind besser, viel besser.« Wie eine Schraubzange umklammerte seine Hand Costellos Genick. »Glaubst du, daß wir besser sind?« »Ja!« stöhnte dieser. »Ja, verdammt, ich glaube es dir…« *** »Ich habe Angst«, sagte Milena Novak leise und zog fröstelnd die Schultern hoch, obwohl dafür kein Grund bestand, denn noch immer war es ziemlich warm. Als großer, roter Ball stand die Sonne am Himmel, der die Stadt beobachtete wie ein mit Blut gefüllter Kreis. Er schien jeden Moment platzen zu wollen, um seine schreckliche Ladung über den Dächern der Stadt an der Moldau abzuladen. Wir hatten die Zeit damit verbracht, Milena Novak zu trösten. Sie war in das kalte Wasser hineingeworfen worden und mußte nun schwimmen. Okay, sie arbeitete als Kommissarin, aber die Fälle, mit denen sie bisher
zu tun hatte, hielten den Vergleich zu diesem einfach nicht stand. Beide standen zueinander wie Feuer und Wasser, und es war ihr schwergefallen, das Neue zu begreifen. Prager Geister, Prager Gespenster, das, so hatten wir von ihr erfahren, gab es genug in der Stadt. Besonders in den frühen Wintermonaten, wo die Stadt im Nebel schwamm und an jeder Ecke Gestalten zu kauern schienen. Doch hier erlebten wir einen herrlichen Frühling oder schon einen Frühsommer, und doch hatte sich das Grauen eingeschlichen. Wie gesagt, es hatte seine Zeit gedauert, bis Milena es akzeptieren konnte. Dann setzte sich ihr Beruf wieder durch, und sie telefonierte von einem kleinen Postamt aus mit ihrer Dienststelle. Sie wollte sich nach Costello und seinen Männern erkundigen. Möglicherweise hatte man von ihnen eine Spur entdeckt. Wir warteten in der kleinen Vorhalle des Postamts. Da wir dicht an der Scheibe standen und diese an der Westseite lag, wurden wir noch von den letzten Sonnenstrahlen getroffen und auch durchgewärmt. »Und du meinst, daß wir den richtigen Weg beschreiten, wenn wir auf den alten Jüdischen Friedhof gehen?« fragte Suko. Er hatte ein skeptisches Gesicht aufgesetzt und schien damit nicht einverstanden zu sein. »Warum nicht? Es ist die einzige Möglichkeit, die einzige Chance.« »Kannst du mir das noch mal erklären?« »Back to the roots«, sagte ich. Er zog seine Stirn weiterhin kraus. »Zurück zu den Wurzeln, den Ursprüngen, den Anfängen!« »Ja, damit hat es begonnen.« »Das liegt fünfhundert und mehr Jahre zurück, John.« »Na und? Hat die Zeit jemals für die Magie eine Rolle gespielt? Wohl nicht. Da brauche ich nur an die Kreaturen der Finsternis zu denken. Ihr Alter ist kaum zu schätzen. Ich meine, daß dieser Friedhof schon eine wichtige Station sein wird. Es könnte ja sein, daß Cigam und sein Sündenfall dort noch Kraft schöpfen. Ich halte mittlerweile nichts mehr für unmöglich. In dieser Stadt geschieht Ungeheuerliches, das erst am Beginn steht. Es ist sogar so schlimm, daß selbst eine Figur wie Logan Costello keinen Einfluß gewinnen soll. Hier haben andere Kräfte die Kontrolle übernommen.« »Dabei könnte Costello ihnen eine wertvolle Hilfe sein!« Suko war anderer Meinung. »Das glaube ich nicht. In dieser Stadt kommen sie allein zurecht. Ich gehe davon aus, daß sie Costello und seine Männer eher als Last empfinden.« »Und was folgerst du daraus?« Ich hob die Schultern. »Daß sie ihn aus der Stadt jagen, wenn er Glück hat. Er kann aber auch Pech haben. Dann wird seine Leiche irgendwann einmal in der Moldau gefunden und nicht in der Themse. Ich habe den Eindruck, daß sich dieser Mann zu weit vorgewagt hat.«
»Trotz einer gewissen Unterstützung?« Suko gab einfach nicht klein bei. »Du denkst an Asmodis?« »Ja.« Ich winkte matt ab. »Hör mir damit auf! Du weißt doch selbst, wie sich die Dinge verändern können. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Heute hat unser Freund Asmodis mehr Feinde bekommen, er muß sich um andere Dinge kümmern. Da ist der Spuk, da sind auch Mallmann und Assunga, von denen wir, dem Himmel sei Dank, lange nichts mehr gehört haben. Wie ich ihn kenne, wird er voll und ganz auf Cigam und dessen Schwester Altea setzen. So sieht die neue Lage aus. Diese Stadt ist für ihn wie geschaffen, das liegt allein in der Geschichte begründet. Es hat ein anderes System gegeben, nirgendwo ist der Umbruch so stark zum Ausdruck gekommen wie in diesem neuen Staat, auch deshalb, weil sich die Slowakei aus der dominierenden tschechischen Umarmung befreit hat.« »Du hörst dich an, als wüßtest du alles im voraus.« »Das nicht, aber ich hoffe, daß ich nicht daneben liege und auf dem Jüdischen Friedhof beiden einen Strich durch die Rechnung machen kann.« Suko nickte. »Es wird schwer werden, sie zu vernichten.« »Das weiß ich.« »Werden sie allein sein?« »Ich bin kein Hellseher.« »So meine ich das nicht, John. Es könnte doch sein, daß sich Cigam eine gewisse Unterstützung holt. Ich denke da an die Zombies, die wir am Londoner Flughafen erlebt haben.« O ja, da hatte er ein Thema angesprochen, an das ich nicht gern erinnert werde. Damals war Cigam so etwas wie der Anführer der lebenden Toten geworden, er hatte die alte Zombie-Herrlichkeit wiederbeleben wollen, wir aber hatten ihm dabei einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Von innen wurde die Tür der Telefonzelle aufgedrückt, und Milena Novak betrat den Vorraum. Sie fuhr mit beiden Händen durch das dichte braune Haar und schob es zurück. Ihr Gesicht war ernst, als sie sich uns näherte. Auf der Fensterbank ließ sie sich nieder. »Schlechte Nachrichten?« fragte Suko. Die Kommissarin hob die Schultern. »Wie man es nimmt«, sagte sie. »Zumindest keine guten.« »Woran liegt es?« »Meine Kollegen haben noch keine Spur von Costello und seinen Leuten entdeckt. Sie wissen nicht, wo er sich aufhält. Die Stadt scheint ihn geschluckt zu haben.« »Mal ehrlich, Milena, ich kenne ja nicht sehr viel von Prag, doch was ich bisher gesehen habe, das läßt tief blicken. Eine Altstadt, wo beinahe
jedes Haus ein Versteck ist. Da können wir suchen, bis wir schwarz werden und…« »Sie machen es sich zu einfach, John. Fremde fallen hier schon auf, wenn sie sich anders benehmen als Touristen. Das hätten wir schnell erfahren. Unsere Polizei hat genügend glühende Drähte und Spitzel, die sich in der Szene auskennen. Ich bin einfach davon überzeugt, daß wir sie schon längst gehabt hätten.« Sie hob die Schultern. »Aber was nicht ist, kann noch werden.« Vor der nächsten Frage bekam sie eine leichte Gänsehaut. »Bleibt es bei unserem Besuch auf dem Jüdischen Friedhof?« »Sicher«, erwiderte ich. »Es ist ein Spiel mit großem Risiko. Wir können auf keinen Fall sicher sein, daß die Geschwister und Costello sich dort aufhalten werden. Das mal vorweg.« »Es ist eine Möglichkeit«, sagte ich. »Wenn wir hier im Postamt bleiben, werden wir kaum eine Chance haben.« Milena schaute durch das Fenster. »Dessen wäre ich mir nicht so sicher. Ich kann mir vorstellen, daß man uns unter Kontrolle hält. Wir sind die Hasen.« Ich schüttelte den Kopf. »Das wird kaum möglich sein.« »Ach ja?« Ich lächelte in ihren erstaunten Blick hinein. »Uns sind die beiden bekannt. Wir kennen Altea, wir kennen auch Cigam, und keines der beiden Wesen haben wir entdecken können. Zumindest Cigam ist vom Äußeren her doch sehr auffällig.« Milena stimmte mir durch ein Nicken zu, denn ich hatte ihr Cigam genau beschrieben und konnte mir auch nicht vorstellen, daß er sein Äußeres verändert hatte. Die Kollegin war es letztendlich, die den Anfang machte. »Ich glaube, wir sollten zum Friedhof gehen.« So forsch ihre Stimme auch geklungen hatte, das leichte Zittern darin war nicht zu überhören gewesen. Und ehrlich gesagt, auch ich fühlte mich verdammt unwohl, dieses Freilicht-Totenhaus bei Anbruch der Dämmerung zu betreten… *** Das Haus war düster, und wir standen davor wie drei Menschen, die nicht wußten, ob sie es betreten oder lieber draußen warten sollten. Jedenfalls gehörte es zu den berühmten Prager Häusern, und es hatte seinen Platz am Eingang des Jüdischen Friedhofs, der so eng war, daß kein Platz mehr für das Aufstellen der Grabsteine gewesen war, deshalb hatte man sie übereinander geschichtet und ein regelrechtes Chaos aus Steinplatten geschaffen. Das Haus vor uns sah aus wie eine kleine Burg. An der linken Seite ragte ein Turm mit einem roten Kuppeldach in die Höhe. Das übrige
Gemäuer wirkte verwinkelt, an der rechten Seite >klebte< ein niedriger Anbau mit einem schrägen Dach. An der Rückseite überragten Bäume das Haus, und sie standen bereits auf dem Gelände des alten Friedhofs. Milena hatte uns über die Funktion des Hauses einiges erklärt. In ihm befand sich jetzt ein jüdisches Museum, mit Ausstellungsstücken, die an sehr schlimme Zeiten dieses Volkes erinnerten. Um die Abendzeit verlor der Friedhof für Touristen, die ihn in Scharen besuchten, jegliches Interesse. Er war ein steinernes Meer und wurde von alten, wuchtigen Kastanien beschattet. Milena wußte, daß seit dem Jahre 1787 auf dem Friedhof keine Beerdigungen mehr stattgefunden hatten. Davor aber, man sprach von rund dreihundert Jahren, wurden auf diesem Friedensgrund zweihunderttausend Juden beerdigt. Und dies auf einer Fläche mit der ungefähren Größe eines Fußballfeldes. Das war kaum vorstellbar, deshalb hatte man sich etwas einfallen lassen. In zwölf Schichten hatte man die Toten übereinander bestattet. Aus Platzmangel wurden nur die alten Grabsteine nach oben gehievt, oder man stellte sie kurzerhand nebeneinander, so daß sie aussahen wie steinerne Bücher. »Man hat sie nicht genau gezählt«, sagte Milena, »aber rund zwölf tausend sollen es sein.« Ich schüttelte den Kopf. »Da können wir ja lange suchen, bis wir das Grab des Rabbi Loew finden.« Sie lächelte. »Das ist nicht zu übersehen. Es sticht deshalb hervor, weil auf ihm zusammengefaltete Zettel und Röllchen liegen. Die Pilger haben dort ihre Wünsche hinterlassen. Sie bringen so etwas als Ersatz für Blumen mit. Es entspricht einem alten jüdischen Brauch.« Sie hob die Schultern. »Wie gesagt, Prag ist reich an Geschichten, und auch dieser Friedhof bildete da keine Ausnahme.« Sie deutete nach vorn. »Auf dem Friedhof gibt und kann es keine Ruhe geben, wenn täglich Tausende von Touristen das Areal besuchen. Wenn schon die Toten keinen Platz haben, kann es hier einfach keine letzte Ruhe geben. Man erzählt sich, daß in der Nacht kleine Gestalten in weißen Totenhemden über den Friedhof geistern. Es sind die verstorbenen Kinder, die den Weg nicht ins Jenseits finden.« Sie wollte lächeln, das schaffte sie nicht, denn die Lage war einfach zu ernst. Ein jeder von uns wußte, daß der Besuch auf dem Friedhof kein Spaziergang werden würde. Wir würden sicherlich keine Kinder in Totenhemden sehen, sondern andere Gestalten, viel gefährlicher und darauf spezialisiert, auch zu töten. Cigam und sein Sündenfall! Ich schaute Suko an. Der hob die Schultern. »Meinetwegen können wir gehen, John.« »Sind alle Besucher verschwunden?« »Das kann keiner von uns mit Bestimmtheit sagen.«
Milena war anderer Ansicht. »Doch, wir können gehen. Ihr braucht keine Angst zu haben, daß wir von Menschen erdrückt werden. Welcher Tourist hält sich schon gern bei Anbruch der Dämmerung auf einem alten Friedhof auf, wo die mächtigen Grabsteine Schatten werfen, als würden diese aus dem Totenreich hervorkommen?« »Gut gesprochen«, lobte ich. »Man sagt uns Pragern auch Phantasie nach.« »Die haben Sie.« Milena Novak überquerte die Straße. Vor dem Museum blieben wir noch einmal stehen. Eine Gruppe Deutscher hatte den Friedhof wohl als letzte verlassen. Sie kamen auf uns zu, waren ziemlich schweigsam, und eine Frau sagte mit leiser Stimme. »Auf dem Totenfeld möchte ich keine Nacht allein verbringen.« Ich mußte lächeln, denn mit dieser Bemerkung hatte sie Milenas Ansichten bestätigt. Die Menschen überquerten die Straße. Als sie sich in meinem Rücken befanden, überkam mich der Eindruck, daß jetzt nur mehr die Toten auf uns warteten. Milena war vorgegangen. Sie schaute sich immer wieder um, ob wir ihr auch folgten. Den Weg allein zu gehen, erschien ihr ebenfalls nicht geheuer. Es war etwas Wind aufgekommen. Er wehte von den Bergen herab und spielte mit den Blättern der Kastanien. Wir mußten an einer alten Mauer vorbeigehen, die noch zum Museum gehörte, und nahmen bereits den Geruch wahr, der uns empfing. Er war seltsam, er war auch schwer erklärbar. Okay, da hatten Touristen ihren Geruch hinterlassen. Schweiß und Parfümreste mischten sich, aber der Wind brachte auch den Duft von einem frischen Grün mit, vermischt mit Feuchtigkeit. Noch etwas anderes drängte sich hinein, es war sehr schwer zu beschreiben, und man mußte dafür schon etwas Phantasie aufbringen. So kalt und auch auf gewisse Art und Weise rauchig rochen alte Steine, die vom Staub der Geschichte überdeckt waren. Das paßte auch, denn damit war der Friedhof gefüllt worden. Ein Weg führte um ihn herum, aber wir konnten ihn auch direkt betreten. Es hatte keinen Sinn, wenn wir kreuz und quer über den Friedhof irrten, wir mußten schon so etwas wie ein Etappenziel haben, und das war das berühmte Grab des Rabbis Loew. Bevor wir in den steinernen Garten eintauchten, blieb Milena noch einmal stehen und wandte sich uns zu. Ihr Gesicht zeigte einen ernsten Ausdruck, sie stand unter einer Spannung und sah so aus, als hätte sie sich am liebsten immer wieder umgedreht, damit sie von keiner Seite her unangenehm überrascht werden konnte. »Das ist jetzt eine historische Stätte.« Sie senkte ihre Stimme und zuckte zusammen, als dunkle Vögel durch das Blätterwerk der Kastanien tobten. »Was an den alten Geschichten alles stimmt und was nicht, das
weiß ich leider nicht. Knochen und Gebeine werden wir nicht sehen. Die sind längst zu Staub zerfallen, sie liegen zudem unter der Erde. Was den Friedhof auf der einen Seite so spannend und auf der anderen Seite so unheimlich macht, sind eigentlich die Grabsteine, die eben so dicht gestaffelt nebeneinander stehen. Es gibt Wege, an die wir uns halten sollten. Es führt auch einer zum Grab des Rabbis.« »Das ist wichtig«, sagte ich. Milena schaute mich aus ihren braunen Augen skeptisch an. »Warum wollen Sie eigentlich dorthin? Der Rabbi ist…« »Bitte, Milena«, sagte ich, »so dürfen Sie das nicht sehen. Wir sind zwar im weitesten Sinne auch Touristen, doch uns geht es um etwas anderes. Was er getan hat, war der Anfang. Er hat Gott versucht, er wollte der Schöpfung einen Streich spielen, der erste künstliche Mensch, das war die Sensation. Goethe hat aus diesem Thema seinen Faust geschaffen. Es ist eben einmalig, er ist der Beginn gewesen, und ich denke mir, daß es auch ein Ort ist, der von seinen Nachfolgern besucht wird.« »Sie wollen Cigam und Altea dort treffen?« »Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich zumindest in der Nähe des Grabes aufhalten.« »Aber da gibt es nichts zu sehen für sie. Das ist alles längst vorbei, Geschichte, Legende…« »Gerade das hat es uns angetan. Suko und ich haben Altea zwar noch nicht zu Gesicht bekommen, Cigam ebenfalls nicht, aber wir glauben fest daran, daß das Grab eine große Rolle spielen wird. Deshalb werden wir uns überraschen lassen.« »Das meine ich auch.« Milena schüttelte den Kopf. »Beinahe kommen Sie mir vor, als könnten Sie sich genau in Ihre Gegner hineinversetzen. Das ist schon seltsam.« »Wir versuchen es. Das hat uns die lange Zeit unserer Arbeit gelehrt. Wir sind zwar keine Dämonen oder dämonische Geschöpfe, doch aus Erfahrung wissen wir, wie sie zumeist handeln werden, und danach können wir uns auch richten.« Unsere Kollegin schaute Suko an, als erwartete sie von ihm einen Widerspruch, mein Freund aber lächelte nur und stimmte mir durch sein zweimaliges Nicken zu. »Gut, dann gehen wir.« Ihre Stimme hatte etwas beklommen geklungen. Ich faßte sie unter und drückte sie noch für einen Moment an mich. »Keine Sorge, Milena, wir werden auf Sie achtgeben.« »Das möchte ich doch hoffen.« Wenig später hatten wir den Weg am Rand des Geländes verlassen und waren in diese andere Welt hineingegangen. Es war wirklich ein Reich für sich, und jeder Besucher mußte sich erst daran gewöhnen, natürlich auch wir.
Der Tag war warm gewesen, schon zu warm für diese Jahreszeit. Vom Morgen bis zum Abend hatte die Sonne geschienen und auch diesen alten Friedhof nicht ausgelassen. Dennoch atmeten die Steine eine Kühle aus, die unsere Gesichter streifte und zumindest mich an den Hauch der Toten erinnerte, als hätten sie uns einen Gruß aus dem Jenseits geschickt. Unter unseren Füßen war der Boden platt getreten worden. Nur hin und wieder schimmerten helle Steine auf dem Boden, als wollten sie ein bestimmtes Muster bilden. Irgendwo über uns schrie ein Vogel. Sein Krächzen erwischte uns wie eine unheimliche Begleitmusik. Wir hatten Milena die Führung überlassen. Suko folgte ihr auf dem Fuß, ich machte den Schluß. Es war schwer, sich an diese Welt zu gewöhnen. Ein Wirrwarr von dunklen Steinen umgab uns. Manche waren glatt, andere wiederum zeigten eine Schicht aus Moos und Pflanzenresten. Wieder andere wirkten verwaschen, und die Schriften waren längst verblaßt. Die Steine standen auch nie in einer Formation. Unterschiedliche Höhen, schiefe Lagen, viele waren auch gekippt und sahen aus, als hätten unsichtbare Hände sie festgehalten, bevor sie zu Boden fallen konnten. Dabei waren es nur die anderen Steine gewesen, die sie festhielten. Nicht ein Kreuz war zu sehen. Jeder Grabstein hatte eine rechteckige Form. Unterschiede gab es nur an ihren Dächern oder Enden. Manche waren spitz, andere abgerundet, und jeder Grabstein hatte dem Zahn der Zeit Tribut zollen müssen. Ich sah keinen, der noch völlig in Ordnung gewesen wäre. Es gab Risse und Spalten, an vielen Stellen war das Gestein gebrochen und abgesplittert. Bei einigen fehlten ganze Stücke, und sie standen so gebeugt, wie in stiller Qual verstummt. Nur unsere Schritte waren zu hören. Keine anderen Stimmen erreichten unsere Ohren. Wir gingen über einen menschenleeren Friedhof, aber begleitet von den Zeugen der jüdischen Totengeschichte. Ich versuchte, meine Gedanken von dem Geschehen abzulenken und mich auf Cigam und seinen Sündenfall zu konzentrieren. Waren sie hier – waren sie nicht hier? Bisher hatte ich sie nicht entdeckt. Es wäre auch leicht gewesen, sich irgendwo zu verstecken, denn Lücken, in die sie sich hätten hineindrängen können, gab es genug. Ich schaute zum Himmel. Über uns schützten die mächtigen Zweige der Kastanien den Besucher. Ich wunderte mich sowieso, daß sie hier auf dem alten Totenacker mit ihrem Wurzelwerk noch Halt hatten finden können und nicht mit der Zeit die Grabsteine umwarfen. Manchmal mußten wir uns regelrecht um sie herumwinden. Berührungen und Kontakte waren nicht zu vermeiden. Da schabte dann das rauhe
Gestein über unsere Kleidung, und es hörte sich an, als wären Totenhände dabei, die Haut mit ihren kratzigen Fingern zu berühren. Der Himmel war dunkler geworden. Im Westen schmückte ihn noch ein letzter tiefroter Schein. Der Wind erwischte unsere Gesichter und war weich wie Watte. Pollen wirbelten durch die Luft. Es war Heuschnupfenzeit, zum Glück hatte ich damit nichts zu tun. Der Mitte zu verdichtete und verengte sich der alte Friedhof noch weiter. Ein Durchkommen war oft sehr schwer, zudem ärgerte es mich, daß gewissenlose Touristen ihren Abfall kurzerhand auf den Boden geworfen hatten, so sahen wir Dosen, Papier und leere Keks- oder Schokoladenschachteln, die zwischen Platten klemmten. Licht war noch da, aber die Schatten überwogen. Beide Gegensätze hatten sich zu einem ungewöhnlichen Spiel vereint, sich getroffen und liefen an den Rändern ineinander über. Sie schufen eine graue, unwirkliche Farbe, und so traten die Konturen der Platten nicht mehr allzu deutlich hervor. Jetzt sahen einige Steine aus, als wären sie miteinander verschmolzen. Milena blieb stehen. Auch Suko stoppte. Beide hörten wir ihre leise gesprochene Bemerkung. »Wir sind nicht mehr weit vom Grab des Rabbi entfernt.« Ihre Stimme zitterte leicht. »Also aufgepaßt!« Und dann hörten wir den Schrei! Nein, es war eigentlich kein direkter Schrei, sondern mehr ein leiser Ruf, aus dem jedoch die Qual deutlich genug herauszuhören war. Mehr ein Wehlaut, als würde jemand unter Schmerzen leiden, der uns gleichzeitig gehört hatte und nun Hilfe erwartete. Wir dachten nicht mehr daran, die Frau vorgehen zu lassen. Da Suko denselben Gedanken gehabt hatte wie ich, schob er Milena zur Seite und übernahm die Führung. Ich hatte meine rechte Hand gegen den Rücken der Kollegin gelegt. »Wer kann das sein?« hauchte sie. Auf ihrem Gesicht sah ich eine Gänsehaut. »Ich weiß es nicht.« »Altea…?« Ich hob die Schultern. So recht nachvollziehen konnte ich es nicht, aber wir würden es sehen. Die Person, die sich bemerkbar gemacht hatte, konnte nicht mehr so weit von uns entfernt sein. Suko war bereits ein Stück vorgegangen. Wir sahen, wie er sich zwischen den Grabsteinen hindurchschlängelte. Milena erklärte mir, daß am Grab des Rabbi Loew Platz geschaffen worden wäre, damit die Touristen den alten Grabstein bestaunen konnten. »Ist er denn etwas Besonderes?« »Nein, ganz und gar nicht. Er sieht aus wie all die anderen auch. Vielleicht ist er etwas breiter.« Sie hob die Schultern.
Suko erwartete uns. Er ging nicht mehr weiter. Er mußte das Ziel erreicht haben. Wieder hörten wir das Stöhnen. Dann winkte unser Freund. Milena und ich gingen jetzt schneller. Wir ahnten beide, daß uns etwas Unerwartetes geboten werden würde, sonst hätte Suko nicht so hektisch Zeichen gegeben. Dann waren wir bei ihm. Milena öffnete den Mund. Sie hatte Mühe, den Laut der Überraschung wieder zu schlucken. Auch ich hatte damit nicht gerechnet, aber die Szene bewies uns, daß man uns bereits erwartet hatte, denn was wir sahen, war ein makabrer Willkommensgruß. An dem schief stehenden Grabstein war mit dünnen, reißfesten Nylonstricken ein Mann gebunden worden. Man hatte ihn verschnürt wie ein Paket, und ein Band spannte sich auf der Haut seines Halses. »Wer ist das?« fragte Milena. Wir kannten ihn beide, und ich überließ Suko die Antwort. Mit leiser Stimme sagte er: »Logan Costello…« *** Wären wir cool und locker gewesen, hätten wir eigentlich sagen müssen: »So trifft man sich wieder.« Aber wir waren weder cool noch locker, sondern standen unter einer gewaltigen Anspannung, besonders jetzt, wo wir das Grab des Rabbis erreicht hatten und nun diese Überraschung erleben mußten. Wir drei waren sprachlos, wir konnten nur staunen, besonders Milena, die auf der Stelle stand, sich aber einige Male umdrehte und nachsah, ob sich jemand in der Nähe aufhielt. Ich schaute mir Costello an. Es ging ihm nicht nur nicht gut, es ging ihm sogar verdammt schlecht, und ich dachte daran, daß er sich diesmal übernommen hatte. So allein hatte ich ihn selten gesehen, vor allen Dingen nicht in einer derartigen Lage. Er schien von Gott, der Welt und auch von seinen Leibwächtern verlassen zu sein. Wer diese relativ kleine, graue, aber kompakte Gestalt so sah, der konnte kaum glauben, daß es sich bei ihm um einen der mächtigsten Mafiachefs Europas handelte. Er war nicht mehr als ein gefesseltes hilfloses Bündel, das sich in den straff gespannten, dünnen Stricken nicht rühren konnte. Man hatte ihn fest gegen das alte Gestein gepreßt und dann die Stricke stramm gezogen. Von den Füßen bis zum Hals waren die dünnen Sehnen gezogen worden, und gerade die, die unter seinem Kinn entlanglief, nahm ihm einen Teil der Luft, so daß er nicht in der Lage war zu sprechen. Er konnte sich nur röchelnd oder winselnd bemerkbar
machen. Wahrscheinlich hatte er auch unsere Tritte gehört und deshalb nach uns gerufen. Jedenfalls hing er fest. Seine Augen standen weit offen. Das Gesicht war gerötet, auch den Mund hatte er nicht geschlossen. Aus dem rechten Winkel war Speichel gesickert und auf dem Weg zu seinem Kinn getrocknet, so daß sich dort eine helle Bahn abzeichnete. Er atmete stoßweise, aber nie tief. Er hatte uns erkannt, und jetzt versuchte er auch, mit uns zu sprechen. »Wenn Sie nicht können, lassen Sie es, Costello«, sagte ich. »Nein«, würgte er, »nein, ich kann wohl. Ich… ich will auch reden, versteht ihr?« »Okay. Worum geht es?« »Man will euch töten.« »Das wissen wir.« Das Betongesicht, wie er auch genannt wurde, schaffte es tatsächlich, zu lachen. »Aber sie sind stark, sehr stark«, keuchte er. »Dieser Cigam und seine Schwester haben alle umgebracht. Ich habe es gesehen, ich bin allein übriggeblieben.« »Wen töteten sie?« »Meine Leute. Ich hatte drei mitgenommen. Sie leben alle nicht mehr. Ich mußte zusehen, wie sie starben.« Das war hart, auch für einen Verbrecher wie Costello, denn irgendwo hatte auch er Gefühle. Ich senkte den Blick. Als ich zu Boden schaute, da sah ich auch die zahlreichen Zettel mit den Botschaften, die aus den Rissen und Spalten des Grabsteins hervorgerutscht waren, als man Costello daran gefesselt hatte. »Warum hat man Sie hier abgesetzt?« hörte ich Suko fragen. »Man will mich nicht mehr.« Suko war skeptisch. »Ist das der einzige Grund?« »Ich glaube schon.« »Was ist denn passiert?« »Ich habe es versucht, okay, ich habe es versucht«, brachte er abgehackt und keuchend hervor. »Aber es ist mir nicht gelungen, hier in Prag Fuß zu fassen. Ich wollte in den Osten, sie hatten etwas dagegen, denn sie wollten die Stadt für sich.« »Cigam?« »Und auch sie. Ihnen gehört Prag, haben sie mir gesagt. Was der Rabbi begonnen hat, wollen sie fortsetzen. Beide werden in seine Fußstapfen treten, deshalb ist Altea geschaffen worden. Sie ist Cigams Sündenfall, aber sie wird an seiner Seite stehen, das müßt ihr mir glauben, verdammt. Sie und keine andere. Sie ist ein Roboter mit Menschenhaut. In ihr steckt eine irrsinnige Kraft…« Er hörte auf zu sprechen. Es gab wirklich keinen Grund für ihn zu lachen, dennoch tat er es, und wir erfuhren nach dem Lachen auch sein Motiv. »Wir werden hier krepieren,
wir vier, darauf haben sie nur gewartet. Sie wußten, daß ihr kommen würdet. An historischer Stätte hat es begonnen, an historischer Stätte soll es auch enden. So sehen ihre Pläne aus, verdammt!« »Wo stecken die beiden?« fragte ich. »Keine Ahnung, Sinclair.« »Auf dem Friedhof?« »Bestimmt. Sie können auch sagen, überall und nirgends.« Das Reden hatte ihn angestrengt, er holte wieder Luft und bewegte dabei seinen Kopf. Mit dem hinteren Teil schabte er über das rauhe Gestein hinweg. Er hatte sich bereits einige Stellen aufgekratzt, wo krustige Wunden zu sehen waren. Er hatte recht. Wenn es einen Platz gab, der zahlreiche Verstecke bot, dann war es dieser Friedhof, auf den sich mittlerweile die Dämmerung schlich, erste Schatten produzierte, die in den Lücken zwischen den Grabsteinen klebten wie lange Schleier. Es hatte zwar nicht viel Sinn, ich versuchte es trotzdem und schaute mich auf der Stelle stehend um. Es war niemand zu sehen. Nur eben die Landschaft der unterschiedlich hohen Grabplatten, die mir mit düsteren Mauern vorkamen wie ein makabres Labyrinth. »Was haben sie sonst noch vorgehabt?« fragte Suko. »Ich weiß es doch nicht.« »Aber wir sollten Sie finden, Costello.« »Wahrscheinlich.« »Und dann?« »Ich kenne ihre Pläne nicht.« Da hatte er recht. Da er trotz seiner Vergangenheit nicht eben zu ihren Freunden zählte, mußten wir einfach davon ausgehen, daß man uns Logan Costello als Lockvogel präsentiert hatte. Nicht daß ich schadenfroh gewesen wäre, aber irgendwie gönnte ich diesem Mann eine derartige Niederlage. Ich dachte daran, wieviel Leid und Elend er über Menschen gebracht hatte. Allein durch seine Drogengeschäfte hatte er Hunderte oder Tausende von Menschen auf sein Gewissen geladen, da war diese Strafe hier ein Klacks. Er hatte wohl einen Teil meiner Gedanken erraten und flüsterte: »Es freut dich, mich so zu sehen, wie?« Ich hob nur die Schultern. Costello gab einen Laut von sich, der sich anhörte wie das Knurren eines Raubtiers. »Freu dich nicht zu früh, Sinclair, denn noch hast du nicht gewonnen, noch nicht. Das ist die Ouvertüre, das Hauptstück wird noch folgen.« »Ja, wir wissen es.« »Wollen Sie ihn denn losbinden?« frage Milena. Suko hob die Schultern. »Das wissen wir noch nicht. Eigentlich ist er hier ganz gut aufgehoben, finde ich.«
»Ihr Schweine!« keuchte Costello. »Ihr stellt immer hohe, moralische Ansprüche, doch wenn es darauf ankommt, kneift ihr. Das habe ich jetzt erlebt.« Ich wurde ärgerlich. »Vergessen Sie niemals, wer Sie sind, Costello. Vergessen Sie das nicht.« »Aber ich bin kein Dämon und auch kein Geschöpf des Teufels.« »Das stimmt«, gab ich ihm recht. »Wobei allerdings nicht feststeht, daß Sie auch auf unserer Seite stehen. Ich brauche da nur an die erlebte Vergangenheit zu denken. Auch jetzt werden Sie nicht gerade auf unserer Seite stehen.« »Doch, Sinclair, doch. Diesmal ja!« In seine harten Augen trat ein flehender Ausdruck, etwas ganz Neues bei ihm. »Hier ist alles anders gelaufen, ich habe mich geirrt, und ich will nur so schnell wie möglich weg von diesem verdammten Friedhof und auch weg aus dieser verdammten Stadt. Es hält mich nichts mehr.« »Doch, die Stricke.« »Sinclair, deinen Humor kann ich nicht vertragen und auch nicht nachvollziehen.« »Ich habe Ihren auch nie begreifen können, Costello. Das können Sie mir glauben.« Suko fragte: »Schneiden wir ihn los?« Ich nickte. »Mach du es.« Costello schwieg. Vielleicht hätte er triumphierend oder dreckig lachen wollen, das aber schminkte er sich besser ab, denn meine Wut steckte tief in mir. Während Suko sein kleines Taschenmesser aufklappte und sich mit den dünnen Stricken beschäftigte, kümmerte ich mich um die Umgebung. Ich ging davon aus, daß unsere anderen beiden Feinde in der Nähe lauerten, aber es war einfach nichts zu sehen. Der Friedhof lag unter einem düsteren Tuch begraben, nur über den Bäumen schimmerten noch hellere Flecken durch die anbrechende Dämmerung. Milena trat dicht an mich heran. »Ich habe Sie so hart noch nicht erlebt, John.« »Sie kennen Costello nicht. Er ist ein Schwein.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Vielleicht haben Sie recht, John, ich bin auch möglicherweise zu naiv, aber ich möchte Ihnen sagen, daß ich mit derartigen Gangstern noch keine Erfahrungen habe sammeln können. Der Sozialismus liegt noch nicht lange zurück, und in der damaligen Zeit haben wir es mit anderen Typen zu tun gehabt. Das war mehr politisch.« »Ich weiß.« »Also müssen wir umdenken, leider hat es die Mafia bereits geschafft. Zumindest einen Fuß hat sie in diese Stadt und auch in das Land
hineinsetzen können. Wir wollen verhindern, daß noch ein zweiter hinzukommt.« »Richtig, und deshalb können Sie meine Reaktion Costello gegenüber verstehen. Es gab Zeiten, da war er ein Verbündeter des Teufels und noch rücksichtsloser als heute.« »Wie das?« »Ich kann es Ihnen erzählen, wenn wir mehr Zeit haben.« Nach dieser Antwort drehte ich mich um, weil ich sehen wollte, wie weit Suko mit seiner Befreiungsaktion gekommen war. Er schnitt soeben die letzten dünnen Stricke durch. Costello stand zwar auf den eigenen Füßen, nur schaffte er es nicht, sich auch zu halten. Er schwankte, und er wäre auch gefallen, hätte Suko ihn nicht kräftig abgestützt. Auf ihn traf der Vergleich mit dem berühmten Häufchen Elend zu. Die dünnen Stricke hatten seine Blutzirkulation beeinträchtigt, er konnte auf seinen eigenen Beinen den Friedhof nicht verlassen und würde hier am Grab bleiben müssen. Deshalb drückte ihn Suko in die Knie. Zitternd und dabei keuchend setzte er sich hin. Mit dem Rücken lehnte er an der historischen Grabstätte, aber er war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Nur seine Augen bewegten sich, und in ihnen steckte die Furcht, denn auch er rechnete jeden Augenblick mit dem Erscheinen der beiden magischen Kunstgeschöpfe. Ich trat vor Costello. »Kommen wir mal zur Sache, Meister. Man hat Sie hierhergeschafft, nicht wahr?« »Sicher.« »Sie wurden gefesselt und dann? Was geschah dann? Ich möchte, daß Sie es mir genau erklären.« »Da gibt es nichts zu sagen«, flüsterte er, »sie sind verschwunden, verstehen Sie? Einfach weg. Sie haben sich umgedreht und sind gegangen, als wäre ich nicht vorhanden.« »Haben sie darüber gesprochen, wohin sie wollten?« »Nein!« »Aber sie lauern?« »Ich gehe davon aus.« Er wischte sich mit einer müden Bewegung über seine aufgeplatzten Lippen. Ich hatte mich bei meiner Unterhaltung mit ihm gebückt und richtete mich nun wieder auf. Suko sah so aus, als wollte er mich ansprechen, was er auch tat. »Sollen wir uns trennen und das Gelände hier einzeln durchsuchen?« Er hatte es nicht grundlos gesagt, Suko sprach da aus einer guten Erfahrung. Ich wäre auch im Prinzip einverstanden gewesen, doch hier hatte ich meine Bedenken.
»Nein, wir werden uns nicht trennen. Du weißt, wie gefährlich Cigam ist, und hier hat er noch Hilfe bekommen. Wir können Altea ebenfalls nicht richtig einschätzen. Ich bin dafür, daß wir zusammenbleiben.« »Hier warten?« »Auch…« »Was heißt das?« Ich wußte es ja selbst nicht. »Wenn Costello ein Lockvogel gewesen ist, dann müssen wir einfach davon ausgehen, daß dieser Platz hier etwas Besonderes ist. Cigam und Altea haben uns hierher haben wollen, das steht fest, und sie werden sich zeigen. Vielleicht sind wir ihnen durch Costellos Befreiung bereits ein Stück entgegengekommen. Rechne also damit, daß sie bald kommen. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß sie nur abwarten, bis es ganz dunkel geworden ist.« Suko sah es lockerer. »Wir haben unsere Lampen.« Costello meldete sich. Er hatte unser Gespräch mitbekommen, und es war ihm persönlich gegen den Strich gegangen. »Scheiße, verdammte Scheiße! Ihr seid verrückt. Ihr seid doch nicht mehr richtig im Kopf. Wenn die hier erscheinen, werden sie euch killen. Sie… sie… sind einfach besser, das könnt ihr mir glauben.« »Sie haben Angst um Ihre Haut«, stellte Suko fest. »Habe ich auch.« »Bitte, Sie können gehen!« Costello prustete die Luft aus den Lungen. »Was hast du da gesagt, Chinese?« Er wurde schon wieder frech, aber Suko reagierte gelassen oder gar nicht. »Du kannst verschwinden!« erklärte ich kalt. Der Mafioso wußte nicht, wie er reagieren sollte. Er hockte noch auf der kühlen Erde, den Rücken gegen den alten Grabstein gepreßt, er schaute sich um, doch aus seiner Perspektive konnte er nichts Erhebendes erkennen, nur düstere Schatten, die wie blaue Tücher zwischen den Grabsteinen lagen und wie erstarrt wirkten. Für ihn war das Labyrinth auf dem Friedhof noch schlimmer als für andere, aber er wollte nicht dort gefangen sein. Das machte uns seine folgende Bewegung klar. Costello streckte seinen rechten Arm aus und stützte sich mit der Hand ab. Er bekam genügend Schwung, um sich in die Höhe zu stemmen. Es ging langsam, sehr langsam, er mußte einige Male innehalten, quälte sich dann wieder hoch, stand endlich auf den eigenen Beinen, streckte den Arm aus und hielt sich an der Kante der Grabplatte fest. So blieb er stehen. »Schaffen Sie es?« Sein Gesicht verzog sich in der unteren Hälfte. »Allein, um dir einen auszuwischen, Sinclair, werde ich es schaffen. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Dann verschwinden Sie!« Er ging den ersten Schritt, den zweiten. Er sackte dabei zusammen. Der Kreislauf spielte noch nicht so mit, wie er es sich gern gewünscht hätte. Beim dritten Schritt mußte er sich an einem anderen Grabstein festhalten, und plötzlich hielt er sich dicht neben der Kommissarin auf. Er hob den Kopf. Milena trat zurück. Costello grinste. »Du brauchst vor mir keine Angst mehr zu haben, Süße, du nicht.« »Na und?« »Prag ist für mich gestorben.« Mit diesen Worten nahm er Abschied. Uns gönnte er keinen Blick, und irgendwo ärgerte ich mich, als ich ihn weggehen sah. Ich hätte ihn gern in Handschellen zurück nach London gebracht, doch dazu hätte ich Beweise finden müssen, und die gab es gegen ihn leider nicht. Nicht hier in Prag und auch nicht in London. Costello hatte es immer verstanden, sich im Hintergrund zu halten und andere für sich arbeiten zu lassen. Er ging schwankend und konnte froh sein, die Grabsteine in der Nähe zu wissen, denn sie dienten ihm nach jedem zweiten Schritt als Stütze. Über uns bewegten sich die frischen Blätter der Kastanie im Wind, als wollten sie Costello verabschieden. »Ob er es schafft?« fragte Suko. »Nein.« »Warum hast du ihn dann laufenlassen?« »Er war für uns ein Köder. Jetzt soll er das gleiche für die anderen sein. Mal schauen, wie es läuft.« »Da komme ich nicht ganz mit.« »Ich auch nicht«, erklärte Milena. »Ist ganz einfach«, sagte ich und schaute der in der Dunkelheit verschwindenden Gestalt nach. »Altea und Cigam werden den Friedhof unter Kontrolle halten. Sie werden ihn sehen, und wenn dies geschehen ist, werden sie aus ihren Verstecken kommen.« »Bist du sicher?« »Ja.« »Was machen sie mit Costello?« Ich hob die Schultern. Unser Gespräch versickerte. Jeder hing seinen Gedanken nach. Zum erstenmal fiel mir die Stille auf diesem Gelände auf, denn es war so gut wie kein Laut zu hören. Obwohl in der Nähe des Friedhofs eine Straße entlanglief, drangen die Geräusche des Verkehrs kaum zu uns. Hin und wieder hörten wir mal das Knattern eines Motors, ansonsten lag die Glocke des Schweigens über dem Gräberfeld. Es war genau die Stille, die mir nicht gefiel. Ich sah sie als lauernd oder abwartend an. Es war damit zu rechnen, daß sie jeden Augenblick zerreißen würde, das trat nicht ein, und auch von Costello hörten wir nichts. »Ob er es geschafft hat?« hauchte Milena.
Ich hob die Schultern. »Zuzutrauen wäre es ihm schon«, murmelte ich und ging ein paar Schritte vor. Neben drei sehr dicht zusammenstehenden Grabsteinen blieb ich stehen. Sie sahen aus, als hätte man ein Buch aufgeblättert, wobei die zusammenklebenden Seiten während des Blätterns zur Ruhe gekommen waren. Die Zeit dehnte sich. Dort, wo die Straße herlief, gellte ein helles Lachen auf. Dann hörten wir Schritte, spannten uns, aber die Geräusche verstummten. Die Spannung steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Suko und ich blieben nie stehen, wir schauten uns immer wieder um, ob etwas Verdächtiges zu sehen war, aber das Schweigen blieb. Nur hin und wieder raschelten die Blätter, wenn der Wind sie bewegte und mit ihnen spielte. Ich spürte den Druck, aber ich blieb äußerlich gelassen. Nicht so Milena, sie wußte nicht, wie sie sich hinstellen sollte. Immer wieder bewegte sie sich im Kreis, schaute sich den Grabstein des Rabbi Loew an, und jedesmal sah es so aus, als wollte sie uns über diesen Magier einen Vortrag halten. Bis wir das Licht sahen. Es flackerte in einem kalten Blau über den Grabsteinen, tanzte wie ein Irrlicht zur Seite, geriet aus unserer Kontrolle, kehrte wieder zurück und färbte die Umgebung vor uns mit seinem kalten Schein ein. Gleichzeitig hatte es sich auch ausgeweitet, so daß es jetzt wie ein zitterndes, hauchdünnes Tuch über den Enden der Steine lag und ihnen einen leichenbleichen Schimmer verlieh. Milena klammerte sich an meinem Arm fest. »Das könnten sie sein, John, ja, das sind sie.« »Wer?« »Die Geister der toten Kinder…« Ich dachte anders darüber, sagte es ihr aber nicht, und dort, wo das Licht noch immer lag, hörten wir plötzlich einen dumpf klingenden Schrei. Ein Mensch hatte ihn ausgestoßen, und wir wußten sofort, wer da geschrien hatte. Costello! »Sie haben ihn«, sagte Suko. »Willst du hin?« »Nein, ich… verdammt, John, Deckung!« Ich zog den Kopf ein, riß Milena zur Seite, und auch Suko tauchte unter. Etwas flog aus der Dunkelheit auf uns zu, aber es kam dorther, wo auch das Licht geflackert hatte. Es war eine Gestalt. Langgestreckt, und ich dachte in diesem Moment an die schwebenden Leichen von Prag. Zumindest im kleinen wiederholte es sich, denn wer uns da entgegenflog, war Logan Costello.
Jemand hatte den Mafiaboß mit ungeheurer Kraft zurückgeschleudert. Er prallte während des Flugs gegen einen Grabstein, so daß selbst dieses alte Steingebilde ins Wanken geriet. Dann prallte er zu Boden. Ich lief hin. Costello war tot – oder? Es sah so aus, als wäre er nicht mehr am Leben, weil er sich nicht bewegte. Er mußte sich einiges verstaucht oder gebrochen haben, sein Mund stand offen, und als ich mich nach unten beugte und mein Ohr gegen die Lippen hielt, da hörte ich seinen keuchenden Atem. Das Schicksal hatte ihn nicht einmal bewußtlos werden lassen, aber er konnte sich nicht rühren und mußte unter irrsinnigen Schmerzen leiden. Costello schaute mich an, als trüge ich die Schuld an seinem Zustand, aber den Schuh zog ich mir nicht an. »Sie hätten bleiben sollen.« Er ging auf meine Bemerkung nicht ein. »Ich… ich… kann mich nicht mehr bewegen.« Das glaubte ich ihm sogar, und dann zog ich mich zurück und richtete mich gleichzeitig wieder auf. Ein scharfes Lachen hallte uns entgegen. Es war dort aufgeklungen, wo auch das kalte Licht lag. Wir schauten hin – und sahen zum erstenmal Cigams Sündenfall, die schöne Altea… Keiner von uns bewegte sich. Die Person oder das Wesen hatte sich einen guten Platz ausgesucht. Sie stand im vollen Lichtschein und zeigte sich zumindest bis zur Taille. Selbst aus dieser Distanz war ihre Perfektion nicht zu übersehen. Eine klare, aber auch eiskalte Schönheit und durch das blaue Licht noch stärker hervorgehoben. Sie wirkte wie eine Statue des Bösen, die vom klaren Licht der Hölle umflort war, und wie sie da stand, ließ darauf schließen, daß sie keine Angst verspürte. Ein unwahrscheinlich klares Gesicht, das von einer Haarflut umspielt wurde. Wer sie so sah, würde niemals auf den Gedanken kommen, es mit einer teuflischen Person zu tun zu haben. Sie war die Schönheit, aber sie war gleichzeitig auch die Kälte. Eine Frau wie aus dem Bilderbuch. Ein Weib ohne äußerlichen Fehl und Tadel, und ich wich ihrem Blick nicht aus. Wir starrten uns in die Augen. In den dunklen Pupillen rührte sich nichts. Sie waren glatt und kalt, sehr groß kamen sie mir vor, überhaupt war das Licht wohl dazu da, alles noch deutlicher bei Altea hervortreten zu lassen, damit dem fremden Betrachter nur nichts entging. Wäre sie eine normale Frau gewesen, hätte der fein geschwungene Mund zum Küssen eingeladen, aber ich wußte, was hinter ihr steckte und ließ mich nicht beirren. Sie wartete auf mich.
Obwohl sie dies mit keinem Zeichen zu verstehen gab, wußte ich es genau. Ich spürte es einfach, doch ich dachte natürlich auch an Cigam. Von ihm war nichts zu sehen. Neben mir hörte ich Sukos Stimme. »Die Entfernung reicht im Prinzip. Du könntest schießen…« »Nein, noch nicht.« »Was hält dich davon ab!« »Ich spürte genau, daß sie etwas von mir will. Ich soll zu ihr kommen, verstehst du?« »Willst du das?« »Ich denke schon.« »Himmel, John, du weißt, was sie kann. Du wirst dich allein mit ihr nicht über…« »Bleib du mit Milena hier.« »Warum?« »Denk an Cigam.« »Verdammt, ja!« »Okay, Suko, ich verschwinde von hier. Wenn Cigam erscheint…« »Habe ich die Dämonenpeitsche für ihn parat.« »Das ist gut.« Er schlug mir kurz auf die Schulter, und dieser kleine Schlag war für mich so etwas wie ein Startsignal. Ich ließ Altea nicht aus den Augen, und als ich den ersten Schritt gegangen war, da entdeckte ich bei ihr die erste Regung. Sie spielte sich in Höhe des Mundes ab, denn dort zuckten plötzlich die Winkel. Lächelte sie? Wenn ja, dann war es kein warmes Lächeln, sondern vergleichbar mit einer teuflischen Vorfreude, denn ich, ein Feind und gleichzeitig ein Opfer, kam auf sie zu. Meine Schritte setzte ich sehr langsam. Ich übertrieb nichts, sie würde auf mich warten, und sie tat auch nichts, um dies zu ändern. Sie stand da, ließ die Arme zu beiden Seiten des Körpers herabhängen. Der Blick ihrer dunklen Augen war starr auf mich gerichtet, doch erst beim Näherkommen stellte ich fest, daß er so dunkel nicht war, denn das Licht spiegelte sich in den Pupillen wider. Es hatte ihnen einen fahlen, leicht grünlichsilbrigen Glanz verliehen, und mir kam der Vergleich mit Metall in den Sinn. Wahrscheinlich deshalb, weil ich an ihr Inneres dachte, das nicht aus Fleisch und Blut bestand. Rechts und links des Wegs standen die starren Gestalten. Steinerne Wächter einer längst vergangenen Zeit. In der Dunkelheit waren sie zu Schattenwesen geworden, und durch die Lücken wehte der Wind mit säuselnden Geräuschen. Mit Friedhöfen hatte ich meine Erfahrungen sammeln können. Ich wußte, daß auf diesem Friedhof kein Zombie aus der tiefen Erde klettern würde,
trotzdem war er ebenso unheimlich wie ein alter, mit Ghouls und Zombies >belebter< Totenacker. Natürlich blieb ich nicht unbeeindruckt, denn auch über meinen Körper wehten Schauer. Die Gänsehaut kroch hoch bis zur Stirn. Sie erwartete mich. Die Hälfte der Strecke hatte ich bereits zurückgelegt. Je näher ich dieser Gestalt und damit auch der Lichtzone kam, um so mehr spürte ich die magische Nähe der Hölle. Mein Kreuz, das die Brust berührte, erwärmte sich leicht. Es sandte Zeichen ab, denn es wollte mich warnen. Ich lächelte, als ich daran dachte. Es machte mir nichts aus, es noch verdeckt zu halten. Zum richtigen Zeitpunkt würde ich es hervorziehen. Noch konnte ich normal gehen, denn Altea traf keinerlei Anstalten, mich zu attackieren. Das Licht erreichte mich mit seinen vorderen Ausläufern. Ich war die letzten Schritte vielleicht zu schnell gegangen, und das Kreuz sandte Blitze aus. Ich blieb stehen. Nichts trennte uns mehr. Kein Grabstein, denn sie bildeten nach wie vor die Grenze des Pfads. Nur waren sie an dieser Stelle zu beiden Seiten etwas ausgebeult damit so etwas wie eine Lichtung zwischen den Steinen hatte entstehen können. Woher das Licht kam, war nicht festzustellen. Es war einfach da und umhüllte die Person wie eine Aura. Jetzt konnte ich erkennen, daß es ihr bis zu den Füßen reichte, aber dort verlor sich der Schein und wehte nur mehr wie ein hauchdünner Schleier über den Untergrund. »Okay«, sagte ich, »hier bin ich. Du bist Altea, du bist Cigams Sündenfall. Was willst du von mir?« »Deinen Tod!« erklärte sie schlicht und ergreifend. Ich lauschte dem Klang ihrer Stimme. Ich hatte keinen Haß darin zittern hören, auch keine Wut, überhaupt keine Gefühle, denn sie hatte völlig emotionslos gesprochen. »Soll ich hier sterben?« fragte ich. »Ja.« »Warum?« »Du störst meinen Bruder und mich. Du hast ihn schon öfter gestört!« Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Es stimmte alles, und ich sagte: »Auch er hat mich gestört.« »Es wird nie mehr vorkommen.« »Ich hoffe es!« Sofort setzte ich die nächste Frage nach. »Da wäre noch etwas.« »Was?« »Wo befindet er sich?«
Sie schwieg, aber sie schaute mich an. Wieder erschien das dünne Lächeln auf ihren Lippen. Ich wartete darauf, daß sie etwas sagte, aber sie tat was ganz anderes, das mich überraschte, obwohl es hätte eigentlich keine Überraschung sein sollen. Sie hob ihre rechte Hand und berührte die Haut. Dabei blieb es nicht. Langsam, sehr langsam, zog sie die Haut von der Stirn ab… »Himmel, ich habe Angst um ihn, Suko!« Der Inspektor winkte ab. »Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. John hat schon andere Sachen geschaukelt.« »Aber nicht gegen Altea.« »Stimmt, nur mache ich mir um ihren Bruder viel größere Sorgen, denke ich.« »Cigam?« »Wer sonst?« »Er hat sich bisher nicht hier blicken lassen, Suko.« »Was auf keinen Fall bedeutet, daß er nicht hier ist.« Suko bewegte sich zur Seite und drehte sich so heftig um, als hätte er die Gestalt bereits entdeckt. Sie war nicht da. Sukos Blick glitt über die Kanten der Grabsteine hinweg, aber die Dunkelheit deckte alles zu. Nichts, auch gar nichts, bekam er zu Gesicht. Er holte tief Luft. Sie schmeckte feucht, alt und auch nach dem Staub der Steine. In seiner Nähe lag Costello. Er wimmerte leise und versuchte auch, Worte entstehen zu lassen, was ihm ziemlich schwerfiel. »Ich kann mich nicht bewegen. Ich spüre meinen Rücken nicht mehr, verdammt! Ich werde gelähmt sein, im Rollstuhl hocken und…« Er weinte plötzlich wie ein kleines Kind, doch Mitleid zu zeigen, war bei diesem Mann fehl am Platz. Milena Novak stieß Suko an. »Da war etwas.« »Und?« »Ein Geräusch, glaube ich.« Suko schaute kurz nach vorn und erkannte, daß John Sinclair sein Ziel beinahe erreicht hatte. Zumindest war es ihm gelungen, an den äußeren Rand des Lichtscheins heranzutreten, und genau dort blieb er auch stehen. Über die Gründe sah Suko nichts, denn etwas anderes lenkte ihn ab. Ein Kratzen… Auch Milena hatte das Geräusch vernommen. Gar nicht weit weg von ihnen, und sie hielt sich an Sukos Arm fest, als wäre dieser ein Rettungsanker. Der Inspektor befreite sich, um seine Dämonenpeitsche hervorholen zu können. Milena machte Augen, als sie diesen dunklen Griff sah. Sie schaute auch zu, wie Suko einmal einen kleinen Kreis über den Boden schlug. Mit
einem schleifenden Geräusch rutschten die drei aus Dämonenhaut bestehenden Riemen hervor und ringelten sich mit ihren Enden am Boden zusammen. »Was ist das…?« »Eine Waffe.« Nach dieser Antwort hörten beide abermals das Geräusch. Diesmal sogar näher, praktisch in Griffweite, und Suko drehte sich langsam nach rechts. Er stand ziemlich günstig, denn er konnte in eine Lücke zwischen den Grabsteinen schauen, wo sich die schwarze Fläche plötzlich bewegte und sich aus ihr eine Gestalt hervorschob. »Ein… ein Mensch…« »Nein«, erwiderte Suko leise, aber dennoch bestimmend. »Das ist kein Mensch, das ist Cigam…« *** Altea wollte mich schocken, wie sie schon andere Menschen durch das Abstreifen ihrer Haut geschockt hatte, doch ich war darauf vorbereitet gewesen und wartete ab. Ich zeigte überhaupt keine Reaktion, keine Spannung, auch keinen Schrecken, ich sah einfach nur zu, wie sie den größten Teil der Haut von ihrer Stirn löste und ihn nach unten zog, ohne daß dabei ein Tropfen Blut geflossen wäre. Das war Magie in Reinkultur! Angefangen hatte es mit der toten Anna Scoralla. Ihr fehlte die Haut, aber sie war über die Gestalt dieses Kunstgeschöpfs gezogen worden, denn nichts anderes verbarg sich darunter. Ein Räderwerk, wie einem Metallbaukasten entnommen. Ich sah Stangen, ich entdeckte laufende, tickende und zitternde Zahnräder, wobei das eine in das andere übergriff und dafür sorgte, daß diese gesamte Mechanik in Gang blieb. Es gab keine Elektronik, der Teufel, der dieses Geschöpf geschaffen hatte, hatte sich praktisch der alten Zeit angepaßt. Er war nur ein paar Jahrhunderte vorgesprungen und hatte auf den Lehm verzichtet, den einst der Rabbi Loew verwendet hatte. Ich hörte es auch. Ein leises Ticken drang an meine Ohren, als würden mehrere kleine Armbanduhren zugleich laufen und mir ihren Geräuschpegel entgegenschicken. Es gab eigentlich nichts, was sich hinter der Stirn nicht bewegte, dieses Räderwerk des Teufels lief ungebrochen. Ich würde es stoppen! Altea ließ den Hautlappen los, den sie bisher an der Spitze gehalten hatte. Er sank nach unten und klatschte mit seiner Außenseite auf ihren Nasenrücken. Dort blieb erliegen. Die >Wunde< an der Stirn war offen,
und ihr einst so perfektes Gesicht war durch das Abziehen der Haut zu einer monsterhaften Fratze geworden. Sie bestand aus einem Stück Mensch, aus einem Teil Magie, und aus einem Drittel Hölle. Sie lachte. Diesmal böse und furchteinflößend. Ich ließ mich nicht beirren, denn ich wußte genau, was ich zu tun hatte. Zuerst lockte ich sie, indem ich einen Schritt zurückging. Ich wollte, daß sie meine >Angst< bemerkte, und ich verstärkte meine schauspielerische Leistung dadurch, daß ich mich bückte. So war ich für einen Moment ihrem Blickfeld entschwunden, denn nichts anderes hatte ich gewollt. Sie sollte auf keinen Fall sehen, daß ich meinen Trumpf, das Kreuz, hervorholte. Hinter ihr stand der Teufel, er hatte sie geschaffen, und sie würde der Kraft des Kreuzes nichts entgegenzusetzen haben. Ich blieb noch immer geduckt. Dann hörte ich ihre Schritte. Mein Plan schien zu klappen. Altea kam näher. Ihre Füße schleiften dabei über den Boden, und mit Flüsterstimme gab sie ihr Versprechen ab. »Ich werde dich kriegen. Ich werde dich zerfleischen, Sinclair…« Aus meiner geduckten Haltung peilte ich nach vorn. Ich mußte den richtigen Zeitpunkt abpassen, und das würde nicht so einfach werden. Wenn sie mich einmal erwischte und mit ihren irrsinnigen Kräften gegen einen Grabstein schleuderte, konnte ich mir möglicherweise das Genick brechen. Costellos Flug hatte ich nicht vergessen. »Du hast Angst, Sinclair. Du hast eine verdammte, hündische Angst.« Von oben her klang mir ihre Stimme entgegen, und ich ließ sie reden. Sollte sie darin schwelgen. Sie ging wieder einen Schritt vor. Jetzt sah ich sie besser. Ihre Beine gerieten in mein unmittelbares Blickfeld. Sie bewegten sich wie zwei Stangen durch den Schatten. Wenn ich meine Hände ausgestreckt hätte, ich hätte sie erwischt. Ich tat es nicht. Dafür schnellte ich aus der Hocke hervor blitzartig in die Höhe. Meine Gestalt verwandelte sich in einen gestreckten Schatten. Ob ein Wesen wie Altea auch Schrecken empfinden konnte oder zumindest Erschrecken, es war mir nicht bekannt. Jedenfalls stand ich so dicht vor ihr, daß der Begriff hautnah gepaßt hätte. Innerhalb einer winzigen Sekunde nahm ich die Eindrücke voll auf. Ich sah ihre dunklen Augen, auch die Furcht darin, ich sah das durch den nach unten gezogenen Hautlappen verunstaltete Gesicht, und ich sah die Mechanik hinter der Stirn.
Genau das war mein Ziel. Aber nicht nur meines, auch das des Kreuzes. Und ich rammte meinen Talisman in die Lücke hinein! *** Cigam zu beschreiben, war kaum möglich. Man konnte ihn höchstens als das kalte Grauen ansehen. Er sah menschenähnlich aus, aber er war trotzdem nicht so gelungen, wie es sich der Teufel vielleicht vorgestellt hatte. Der Satan war nicht Gott, er mußte einen schlechten Tag bei Cigams Herstellung erwischt haben, denn in dessen Gesicht stimmten die Proportionen nicht. Alles, was nur schiefsitzen konnte, war dort aus den Fugen geraten. Das fing bei den Augen an, ging weiter über die Nase, auch den Mund und setzte sich an dem runden Kinn fort. Die Augen blinkten wie zwei Signale von einem fremden Raumschiff. Die Haut war fahl, aber in ihr lag ein silbriger Schimmer. Er sah Suko so dicht vor sich, und der sowieso schon schiefe Mund kippte noch weiter ab. Das alles hatte auch Milena gesehen. Zwar kannte sie Cigam aus Beschreibungen, doch das war etwas anderes, als ihn in voller Größe dicht vor sich zu sehen. Sie spürte die innere Angst, die diese Gestalt ihr gab, sie wollte weg, aber sie schaffte es nicht. Die verdammten Augen bannten sie auf der Stelle. Nicht bei Suko. Er besaß die Peitsche, und er glaubte fest daran, daß sie stärker als Cigam war. Leider war diese Kunstgestalt des Teufels ein wenig zu früh erschienen. Suko mußte erst noch ausholen, um die Riemen in der Gegenbewegung auf das Ziel zu dreschen. Er drückte den Arm nach hinten. Cigam reagierte! Wahrscheinlich konnte er nicht denken, es war einfach der reine Überlebensinstinkt, der ihn so handeln ließ, und er bewies den beiden, welch eine Kraft in ihm steckte. Bevor Suko die Peitsche und damit auch die drei Riemen in seine Richtung schlagen konnte, hatte Cigam eine der Grabplatten mit beiden Händen an den Rändern umklammert. Eine kurze Kraftanstrengung reichte, und er hatte die Platte aus dem Erdreich gerissen. Da schlug Suko zu. Cigam riß die Grabplatte hoch. Die Riemen erwischten das alte Gestein, aber nicht die Gestalt dahinter. Suko hörte das Klatschen, er wußte in diesem Augenblick, daß Cigam schlauer gewesen war, und plötzlich befanden sich beide in höchster Gefahr.
Cigam würde die Platte einsetzen. Suko schlug kein zweites Mal mehr zu. Er warf sich zur Seite. Dabei prallte er gegen Milena Novak und riß die Frau mit um. Daß sie in eine Lücke zwischen den Steinen fielen, war Glück, denn gleichzeitig sauste die Platte, von Cigam gewuchtet, nach unten. Sie hätte getroffen, und sie hätte ihnen auch einige Knochen gebrochen, wenn nicht noch mehr. So aber verfehlte die Platte sie und tickte mit ihrer Unterseite auf den harten Boden. Danach sprang sie noch einmal hoch, bevor sie zur Seite fiel und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete. Suko wollte an Cigam heran, als er einen irrsinnigen Schrei hörte und er auch sah, daß Cigam kein Interesse mehr an seinem Tod hatte und floh. Er fegte wie ein Irrwisch über die Grabsteine hinweg oder durch die Lücken, das war so genau nicht zu erkennen. Dafür erkannte Suko etwas anderes. Altea war es, die geschrien hatte, und der Inspektor bekam wie auf einer Leinwand ihr Ende präsentiert… *** Das Kreuz steckte in ihrem Kopf! Ich hatte es zwischen die Rädchen und Stangen gerammt und darauf gehofft, daß es festklemmte. Meine Hoffnung war nicht enttäuscht worden. Es hatte sich förmlich hineingedreht. Die seitlichen Arme waren zwischen den Mechanismus gedrückt worden, und nur das kurze obere Ende schaute hervor. Es steckte kein Rädchen im Getriebe, sondern ein Kreuz, und es hatte es tatsächlich geschafft, die Mechanik zu stoppen. Auch Altea bewegte sich nicht! Sie stand wie eine Hohepriesterin auf der Stelle, die Arme zu den Seiten ausgestreckt, als wollte sie irgendeinen Götzen anbeten. Den Kopf hatte sie leicht in den Nacken gelegt, die Augen waren verdreht, in ihnen strahlte ein eigentümliches Licht, das mehr dunkel als hell war und sehr schnell erlosch. Ihr Kopf kippte nach vorn. Er löste sich nicht von den Schultern, denn in diesem Augenblick entfaltete das Kreuz seine Kraft, weil es mit der teuflischen Magie in einen direkten Kontakt getreten war. Das Silber erstrahlte in einem grellen Licht, was sich nicht allein auf das Kreuz beschränkte, sondern seinen Weg in den Kopf des Wesens fand. Altea hatte ihren Mund aufgerissen. Über die Lippen drang ein kreischender Ton, als wäre irgendwo eine Säge angestellt worden. In ihrem Kopf leuchtete es stärker, sie wankte noch weiter nach vorn, wobei sie es nicht mehr schaffte, sich auf den Beinen zu halten.
Es sah so aus, als wollte sie mir entgegenkippen. Im letzten Augenblick drehte sie ab und fiel auf einen Grabstein zu, der eigentlich aus drei dünnen Platten bestand. Sie schleuderte ihre Arme vor. Die Hände klatschten auf den Stein, rutschten daran herab, dann umfingen sie die Steine, als wären sie der Körper des Geliebten. Noch immer behielt das Kreuz seinen Platz in ihrem offenen Schädel. Das Licht zerstörte die Mechanik. Das Metall schmolz wie unter glühender Hitze. Es breitete sich dabei aus und blieb nicht im Schädel, sondern quoll heraus und strömte über das Gesicht. Das Metall hatte sich erhitzt. Als leimige Flüssigkeit rann es aus dem Schädelloch über den Grabstein hinweg. Dampf zischte in Wolken auf, dann platzte plötzlich der Körper an der Brust auseinander, und in einer Woge quoll das flüssige Metall hervor. Es bedeckte den Grabstein, es rollte an ihm herab, und die beiden Arme, die ihn umklammerten, brachen ebenfalls auf, damit das Zeug freie Bahn hatte. Aus der Gestalt dieser Altea war ein flüssiger Metall geworden, das den Grabstein wie eine Schicht bedeckte. Die Haut verdampfte. Ich roch sie und drehte mich zur Seite. Ein Gegenstand aber war nicht verdampft. Wie ein Siegeszeichen lag das Kreuz auf der oberen Kante des Grabsteins, an dem noch immer Metall herablief wie ein nie abreißender Tränenstrom. Ich berührte das Kreuz. Es war kalt. Und mit einem guten Gefühl steckte ich es ein. Als ich mich umdrehte, standen Milena und Suko hinter mir. Auf beiden Gesichtern zeigte sich Erleichterung. Auch wenn der Grund zum Jubeln nicht sehr groß war, weil Cigam hatte entwischen können, über Milenas Küsse freute ich mich trotzdem… *** Blieb noch einer – Logan Costello! Ihn hatte es erwischt. Was immer mit seinem Rücken auch geschehen sein mochte, ich wußte es nicht. Zumindest konnte er sich zu diesem Zeitpunkt nicht bewegen. Wahrscheinlich war er gelähmt. Er würde fortan im Rollstuhl sitzen müssen, und das würde ihn, so vermutete ich, noch brutaler und menschenverachtender machen. Wir reagierten nicht so und trugen ihn vom Friedhof wie ein weinendes Kind…
ENDE