Max Barry
Chefsache
Roman
Aus dem Amerikanischen
Von Friedrich Mader
FÜR HEWLETT-PACKARD
Q 3/2:
August
M...
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Max Barry
Chefsache
Roman
Aus dem Amerikanischen
Von Friedrich Mader
FÜR HEWLETT-PACKARD
Q 3/2:
August
Montagmorgen, und es gibt einen Donut zu wenig. Scharfen Beobachtern fällt der reduzierte Bestand sofort auf, doch sie schweigen, denn eine Bemerkung wie »Hey, sind das nur sieben Donuts?« würde sofort ihre Donuterfahrung verraten. Es ist nicht besonders günstig für die eigene Karriere, wenn du als ein Mensch bekannt bist, der auf einen Blick den Unterschied zwischen sieben und acht Donuts erfassen kann. So vermeiden es alle geflissentlich, den fehlenden Donut zu er wähnen, bis Roger aufkreuzt und den leeren Teller sieht. Roger fragt: »Wo ist mein Donut?« Elizabeth tupft sich mit einer Papierserviette den Mund ab. »Ich hab nur einen genommen.« Roger schaut sie an. »Was ist?« »Du weichst mir aus. Ich habe gefragt, wo mein Donut ist. Und du erzählst mir, wie viele du genommen hast. Was soll das heißen?« »Es heißt, dass ich einen Donut genommen habe.« Elizabeth klingt ein wenig verunsichert.
»Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Donuts du genommen hast. Natürlich unterstelle ich, dass du einen genommen hast. Aber wenn du diese Unterstellung eigens artikulierst, lässt du doch absichtlich oder unabsichtlich durchblicken, dass sie anfechtbar ist.« Elizabeth stützt die Hände in die Hüften. Sie hat schulterlanges braunes Haar, das aussieht, als hätte man es mit einem Rasiermesser schnurgerade abgeschnitten, und einen Mund, der diesen Schnitt besorgt haben könnte. Elizabeth ist klug, rücksichtslos und emotio nal gestört. Das heißt, sie ist die ideale Verkaufsvertreterin. Wenn Elizabeths Gehirn ein Mensch wäre, hätte er Narben, Tätowierun gen und nur noch ein Auge. Wenn er auf dich zukäme, würdest du auf die andere Straßenseite wechseln. »Willst du mir eine Frage stel len, Roger? Willst du mich fragen, ob ich deinen Donut genommen habe?« Roger zuckt die Achseln und gießt sich eine Tasse Kaffee ein. »Es macht mir nichts aus, dass ein Donut fehlt. Ich wundere mich nur, dass sich irgendjemand einfach zwei genommen hat.« »Ich glaube nicht, dass jemand zwei genommen hat. Die Kantine muss uns einen zu wenig geschickt haben.« »Das stimmt«, mischt sich Holly ein. Roger sieht sie an. Holly ist Verkaufsassistentin und hat daher kein Recht, sich ungefragt zu dieser Sache zu äußern. Freddy, der ebenfalls Verkaufsassistent ist, weiß es besser und schweigt. Aber Freddy, der seinen Donut erst halb verspeist hat, hat auch gerade den Mund voll. Er zögert mit dem Schlucken, weil er Angst hat, ein peinliches Schlinggeräusch von sich zu geben.
Holly schrumpft unter Rogers Starren. Elizabeth kommt ihr zu Hilfe. »Roger, wir haben gesehen, wie sie aus der Kantine gekom men sind. Wir haben direkt dabeigestanden.« »Ach«, entgegnet Roger. »Dann muss ich mich wohl entschuldi gen. Mir war nicht klar, dass ihr die Donuts überwacht.« »Wir haben sie nicht überwacht. Wir waren nur zufällig hier.« »Ehrlich gesagt ist mir das so oder so egal.« Roger schnappt sich eine Tüte Zucker und schüttelt sie durch, wie um ihr Disziplin bei zubringen: wapp-wapp-wapp-wapp. »Ich finde es nur interessant, dass Donuts für manche Leute so wichtig sind, dass sie herumstehen und auf sie warten. Ich hatte keine Ahnung, dass die Donuts der Grund sind, warum wir hier jeden Tag erscheinen. Tut mir leid, ich dachte, bei uns geht es um den Shareholdervalue.« »Roger, vielleicht solltest du lieber erst mit der Kantine reden, be vor du hier irgendwelche Anschuldigungen erhebst. Okay?« Eliza beth entfernt sich. Holly folgt ihr wie ein Hündchen. Amüsiert blickt ihr Roger nach. »Typisch Elizabeth, sich so über einen Donut aufzuregen.« Freddy schluckt. »Genau.«
Das Gebäude der Zephyr Holdings steht wie ein großer, grauer Ziegel zwischen den Wolkenkratzern auf der Madison Street in Seattle. Es besitzt keinerlei unverwechselbare Merkmale. Du könn
test ihm einen gewissen neutralen, schlichten Charme zugute hal ten, aber nur wenn du die gleiche Logik auch für Gefängnisse und Volvos aus den siebziger Jahren gelten lässt. Es wurde von einem Komitee entworfen — sprich, seine Mitglieder konnten sich nur da rauf einigen, dass es rechteckig sein, Fenster haben und nicht umfal len soll. Ganz oben prangen das Wort ZEPHYR und das Unternehmenslogo, ein orange und schwarz gehaltenes Vieleck mit nebulösem Gehalt. Überhaupt tauchen Orange und Schwarz bei Zephyr Holdings häu fig auf: Du kannst nicht durch einen Korridor gehen, die Toilette besuchen oder in einen Aufzug steigen, ohne daran erinnert zu werden, auf wessen Gelände du dich aufhältst. Das Logo befindet sich auf beiden Flügeln der automatischen Glastür zur Eingangshal le, und wenn du sie durchschritten hast, stößt du auf weitere Logos, die im Abstand von einem Meter die Wände zieren. Eine Brunnen landschaft mit dunklen Steinen und gepflegten Farnen bildet eine kleine logofreie Oase, doch wie zum Ausgleich dafür ist die Emp fangstheke praktisch ein einziges Logo mit einem Anmeldebogen obendrauf. Selbst im gedämpften Schein der in der Decke versenk ten Lampen schleudert die Empfangstheke eine Explosion aus Orange auf deine Netzhaut, die du noch lange danach beim Blin zeln wahrnehmen kannst. Auf einer Seite der Eingangshalle befindet sich ein Arrangement aus gemütlichen Sesseln und niedrigen Tischen, wo Besucher in den Marketingprospekten von Zephyr blättern können, während sie auf ihren Gesprächspartner warten. Die Hände im Schoß sitzt dort ge rade der junge Stephen Jones mit seinem frischen Gesicht. Seine
Augen leuchten. Sein Anzug strahlt. Sein hellbraunes Haar enthält so viel Schaumfestiger, dass es ein Brandrisiko darstellt, und seine Schuhe sind schwarze Spiegel. Es ist sein erster Arbeitstag. Bisher hat er einige Einführungsvideos des Unternehmens zu Gesicht be kommen. In einem wurde er mit vollmundigen Schlagwörtern wie TEAMARBEIT und BEST PRACTICE bombardiert, und in einem anderen unterhielten sich Schauspieler aus den späten achtziger Jahren über Kundendienst. Jetzt wartet er darauf, dass ihn jemand aus der Ab teilung Schulungsverkauf abholt. Zum ungefähr vierzehnten Mal findet sein Blick zufällig den der Rezeptionistin, und beide sehen lächelnd weg. Laut ihrem Namens schild heißt die Rezeptionistin GRETEL MONADNOCK. Sie ist ziemlich jung, hat langes, glänzendes braunes Haar und sitzt auf der rechten Seite des Schreibtischs. Auf dem Schild links steht der Name EVE JANTISS, doch Eve selbst ist nicht da. Stephen Jones ist ein wenig enttäuscht deshalb, denn Gretel ist zwar auch nett, doch als er hier zu seinem Vorstellungsgespräch erschien und Eve sah, hätte er fast seine brandneue Aktentasche fallen gelassen. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass er die Stelle bei Zephyr nur wegen der Schön heit der Empfangsdame angenommen hat, aber zumindest legte er bei dem Vorstellungsgespräch große Begeisterung an den Tag. Er schaut auf seine Uhr. Es ist elf. Vor zwanzig Minuten war das letzte Video zu Ende. Er verstaut die gefalteten Hände wieder im Schoß. »Ich probier's noch mal.« Gretel lächelt ihm mitfühlend zu. »Ach ... tut mir leid, es geht wieder nur die Voicemail hin.« »Oh. Vielleicht ist was Dringendes dazwischengekommen.«
»Jaaaah.« Sie scheint sich nicht ganz sicher, ob er einen Witz ge macht hat. »Wahrscheinlich.« »Du darfst eins nicht vergessen«, doziert Roger, »es geht hier um Respekt, um nichts anderes.« Roger hat einen Ellbogen auf die Trennwand um Freddys Bürozelle gestützt und blockiert mit seiner schlanken Gestalt den Eingang. »Der Donut an sich spielt keine Rol le. Entscheidend ist der Mangel an Respekt, den dieser Diebstahl beweist.« Freddys Telefon klingelt. Er wirft einen Blick auf die Anzeige: die Rezeption. »Roger, bitte, ich muss den neuen Uniabsolventen abho len. Sie rufen schon die ganze Zeit an.« »Einen Moment noch. Das ist wichtig.« Roger weiß, dass Freddy warten wird. Freddy ist schon seit fünf Jahren Verkaufsassistent. Er ist aufgeweckt und einfallsreich, er steckt voller Ideen, immer vor ausgesetzt, dass es allen anderen recht ist. Freddy ist ein Teamspie ler, ein Partner. Am glücklichsten ist er, wenn er sich in ein größeres Ganzes einfügen kann. In jeder nur erdenklichen Gruppe von Leu ten ist Freddy derjenige, an den sich niemand erinnert. Auf seine unauffällige Art ist er so in das Unternehmen hineingewachsen, dass Roger manchmal nicht mehr unterscheiden kann, wo Zephyr Holdings aufhört und Freddy anfängt. »Ich erkläre gerade, warum ich will, dass du in die Kantine gehst und herausfindest, wie viele Donuts sie uns genau geschickt haben.« Verzweiflung erscheint in Freddys Blick. »Wenn ich den Neuen hole, dann kann er das doch machen. Schließlich ist er dein Assi stent.«
Roger lässt sich das kurz durch den Kopf gehen. »Er kann viel leicht nicht richtig einschätzen, wie taktvoll man in so einer Situati on sein muss.« Das heißt: Elizabeth und Holly dürfen nichts davon er fahren. »Ich werde es ihm einschärfen. Bitte, Roger, ich krieg echt Schwie rigkeiten mit der Rezeption.« »Schon gut, schon gut.« Roger hält ergeben die Handflächen hoch. »Dann hol mal deinen Uniabsolventen.« »Deinen Uniabsolventen.« Roger blickt ihn scharf an. Doch Freddy ist nicht respektlos, wie Roger erkennt. Er ist nur genau. »Ja, ja. Das habe ich auch gemeint.«
Stephen Jones ignoriert das Ping des Aufzugs, weil es in den letz ten fünfundzwanzig Minuten schon ziemlich oft Ping gemacht und keins davon zu einem Treffen mit seinen neuen Kollegen geführt hat. Um sich ein wenig die Beine zu vertreten, hat er begonnen durch die Eingangshalle zu schlendern. Er liest die Sprüche auf den Schildern und sieht sich die Fotos an. Die größte Tafel in der Halle ist ein riesiges, strahlendes Ding mit eigener Beleuchtung in einem Glaskasten.
MISSION STATEMENT Zephyr Holdings ist bestrebt, in seinen aus gewählten Märkten eine führende Stellung zu er reichen und zu behaupten; im Rahmen dieses Vorhabens sollen durch den Aufbau starker Bezie hungen zwischen internen und externen Ge schäftsbereichen sowie durch die Koordinierung eines stimmigen strategischen Ansatzes gewinn trächtige Wachstumsmöglichkeiten erschlossen werden, die auf einen maximalen Nutzen aller Sta keholdergruppen zielen.
Dies ist vielleicht nicht der langweiligste Text, den Stephen Jones je gelesen hat, aber er kommt dem schon recht nahe. Seltsamerweise werden mit keinem Wort die Schulungspakete erwähnt, aus deren Verkauf seines Wissens die Tätigkeit von Zephyr hauptsächlich besteht. Dann merkt er, dass ein kleiner Mann mit dunklem Haar und Brille keine zwei Meter vor ihm steht und ihn anstarrt. »Jones?«
»Ja!«
Der Blick des Mannes huscht über Jones' neuen Anzug. Eine seiner
Hände wandert nach unten und versucht, sein schlampig raushän gendes Hemd in den Hosenbund zurückzustopfen. »Ich bin Freddy. Freut mich, dich kennen zu lernen.« Er hält Jones die freie Hand hin. Freddys wässrige blaue Augen wirken riesig hinter den Bril lengläsern. »Du bist jünger, als ich dachte.« »Aha«, bemerkt Jones. Freddy betrachtet kurz seine Schuhe. Dann wirft er einen flüchti gen Blick zur Empfangstheke, und zwar — wenn Jones sich nicht
täuscht — auf den leeren Stuhl hinter dem Namensschild EVE JAN TISS. »Rauchst
du?«
»Nein.« »Ich schon.« Es klingt entschuldigend. »Hier lang.« »Eine vorbildliche Abteilung.« Freddy saugt an seiner Zigarette. Es ist ein herrlicher Tag — hoch droben segeln Wolken, es weht eine leichte Brise, und selbst der graue Zephyrturm scheint aus dem Git tergeflecht seiner getönten Fenster Wärme abzustrahlen. Freddys Blick folgt einem blauen Kabrio, das sich ihnen durch den Verkehr nähert, und springt dann zu Jones. »Ich meine, sobald man sich an ein paar Eigenheiten gewöhnt hat.« »Ich bin bereit für eine steile Lernkurve.« Jones verwendet hier ei ne Phrase, die ihm bei seinen Vorstellungsgesprächen schon viel genutzt hat. »Du bist Rogers Verkaufsassistent. Du musst seine Aufträge bear beiten, seine Angebote in den Computer eintippen, seine Ausgaben formulare ablegen, solche Sachen eben.« »Wie ist er so?« »Roger? Ach ... nett.« Freddys Blick weicht zur Seite aus. »Ah«, meint Jones. »Also ist er ... nicht nett?« Freddy sieht sich um. »Nein, tut mir leid.« Jones lacht glucksend. »Na ja, ich hab auch nicht vor, ewig Ver kaufsassistent zu bleiben.« Freddy sagt nichts. Jones wird klar, dass Freddy wahrscheinlich schon ewig Verkaufsassistent ist. »Du sollst auch gleich was für Roger erledigen. Er möchte, dass du in der Kantine nachfragst, wie viele Donuts sie uns heute Morgen gebracht haben.« Als Reaktion
auf Jones' Gesichtsausdruck fährt er eilig fort. »Weißt du, wir be kommen am Vormittag immer einen kleinen Imbiss. An manchen Tagen Obst, an anderen Plätzchen und gelegentlich, eigentlich sel ten, auch mal Donuts. Und heute Morgen hat es einen Vorfall gege ben.« »Okay, wird gemacht.« Jones nickt. Das ist zwar vielleicht kein be sonders ruhmreicher und nützlicher Auftrag, aber es ist seine erste Aufgabe im echten Geschäftsleben, und er wird sich bei Gott ins Zeug legen. »Wo ist die Kantine?« Freddy antwortet nicht. Jones folgt seinem Blick, bis er auf einen mitternachtsblauen Audisportwagen trifft, der gerade aufs Zephyr gelände einbiegt. Die meisten Mitarbeiter von Zephyr parken in der Tiefgarage, doch es gibt auch einige wenige kostbare Stellplätze zu ebener Erde, und auf einen von diesen gleitet der Audi mit größter Selbstverständlichkeit. Die Fahrertür schnappt auf, und ein Paar Beine klettert heraus. Jones braucht einen Moment, um zu erkennen, dass die Beine zu jemandem gehören. Dieser Jemand ist Eve Jantiss. Sie sieht aus, als hätte sie auf dem Weg zur Eröffnung eines exklu siven Nachtclubs nur mal auf einen Sprung bei Zephyr vorbeige schaut. Ihre Mähne, lang, kunstvoll zerzaust und honigbraun, wippt elastisch auf nackte, sonnenbraune Schultern und zwei zarte Träger. Sie scheinen rein gar nichts mit dem Halt eines dünnen, pflaumen farben schimmernden Kleids zu tun zu haben; nein, hier müssen geheimnisvollere Kräfte am Werk sein. Ihre Lippen sind wie große Sofakissen, ihr Stammbaum umfasst wahrscheinlich Volksgruppen, von denen Jones noch nie gehört hat, und aus ihren Augen spricht die Frage: Sex? Ach, was für eine faszinierende Idee. In den Nächten
seit seinem Vorstellungsgespräch hat sich Jones mitunter gefragt, ob sein Bild von Eve Jantiss nicht übertrieben ist, ob er sie nicht attrak tiver in Erinnerung hat, als sie in Wirklichkeit ist. Doch jetzt erkennt er: Nein, er hat sich nichts eingebildet. »Morgen«, sagt sie und klappert auf hohen Absätzen vorbei. »Hi«, antwortet Jones, und Freddy gibt etwas von sich, das klingt wie »Muh«. Jones dreht sich um und bemerkt, dass Freddy die Liebe praktisch aus allen Poren quillt. Freddys Blick liegt wie gebannt auf Eves Hinterkopf, ohne nach oben und unten über ihren Körper zu gleiten. Jones kommt sich auf einmal schäbig vor. Er hat sie mit den Augen ausgezogen, Freddys Vernarrtheit dagegen ist echt und rein. Als Eve von der automatischen Tür verdeckt oder zumindest ge tönt wird, fragt Jones: »Die Rezeptionistin fährt einen Sportwagen?« »Na und? Meinst du, das steht ihr nicht zu?«
Jones' Schuhe quietschen, als er und Freddy die Eingangshalle durchqueren. Es klingt, als würde er ein Mäuseorchester dirigieren, und er spürt, dass er die Blicke der beiden Empfangsdamen Eve und Gretel auf sich zieht. »Das ist er«, sagt Gretel zu Eve. »Er heißt Jones.« »Ah.« Eve lächelt. »Willkommen auf der Titanic, Jones.«
Humor im Unternehmen! Jones hat bereits davon gehört. Er wür de gern eine passende Antwort geben, aber seine Schuhe haben ihn zu verlegen gemacht. Er begnügt sich mit einem »Danke«. Sie gelangen zur Reihe der Aufzüge im hinteren Bereich der Halle, und Freddy drückt auf den AUFWÄRTS-Knopf. »Die Leute be haupten, sie ist die Geliebte von Daniel Klausman.« Klausman ist der Vorstandsvorsitzende von Zephyr. »Aber das sagen sie nur, weil sie fast nie in der Rezeption ist.« Jones wundert sich. »Wo ist sie denn die ganze Zeit?« »Keine Ahnung. Aber sie ist nicht seine Geliebte. Sie ist nicht so.« Die Aufzugtüren schließen sich. »Also, wo waren wir ... die Kantine ist im siebzehnten Stock. Wenn du fertig bist, kommst du zu uns rauf in den Vierzehnten.« »Du meinst runter«, verbessert Jones, doch schon als er die Worte ausspricht, fällt ihm die Anordnung der Tastentafel auf. Die Stock werke sind von oben nach unten nummeriert: Das erste Geschoss mit der Bezeichnung VORSTANDSVORSITZENDER (CEO) steht ganz oben; während der EMPFANGSBEREICH als zwanzigstes Geschoss ganz unten platziert ist. Freddy kichert. »Umgekehrte Zählung. Da kommen am Anfang alle ins Schleudern. Aber man gewöhnt sich dran.« »Okay.« Jones beobachtet die vorbeiklickenden Zahlen — 20 ... 19 ... 18 —, während ihm sein Körper sagt, dass er hochfährt. Ein komi sches Gefühl. »Soll angeblich motivierend wirken«, erklärt Freddy. »Wenn man in wichtigere Abteilungen kommt, steigt man auch im Rang.«
Jones betrachtet die Tastentafel. »Was ist so schlimm an den ITLeuten?« »Also wirklich. Einige von denen tragen doch nicht mal Anzüge.« Im Vierzehnten ist Elizabeth gerade dabei, sich zu verlieben. Diese Fähigkeit ist es, was sie zu so einer guten Verkaufsvertreterin und zu einem emotionalen Krüppel macht: Sie verliebt sich in ihre Kun den. Einem Außenstehenden ist nur schwer zu vermitteln, wie kräf tezehrend die erbärmliche und kriecherische Arbeit eines Verkäu fers ist. Beim Verkauf geht es um Beziehungen, und du musst deine Kunden voller Zärtlichkeit und Liebe hegen und pflegen wie Kohl köpfe im Winter, selbst wenn der Kunde ein egomanisches Ar schloch ist, dem du am liebsten eins mit der Schaufel überbraten würdest. Wenn ein Mensch zum Verkaufsvertreter wird, stimmt etwas nicht mit ihm, und falls er anfangs noch normal ist, dann stimmt es spätestens nach einem halben Jahr nicht mehr. Elizabeth verlässt sich nicht auf die üblichen Äußerlichkeiten der Freundschaft und die Illusionen der Vertrautheit, sondern geht ech te Bindungen ein. Für Elizabeth ist jeder potentielle Neukunde wie ein gutaussehender Fremder in einem Nachtclub. Wenn sie mitei nander tanzen, wird ihr ganz schwindlig von den auf sie einstür menden Möglichkeiten. Wenn er ihr Produktangebot nicht mag, stirbt sie. Und wenn er über einen üppigen Auftrag redet, verspürt sie den Drang, mit ihm zusammenzuziehen. Elizabeths Liebesaffären spielen sich ausschließlich in ihrem Inne ren ab. Niemand außer ihr weiß davon. Trotzdem sind sie für sie sehr real, und deshalb steht sie so unter Stress: Zurzeit ist sie in achtzehn schon länger bestehende, gelegentlich unterbrochene,
händeringende Beziehungen verstrickt, und erst letzten Donnerstag hat sie in einem überfüllten Konferenzraum einen neuen Kandida ten erspäht. Jetzt spricht sie gerade am Telefon mit einem Kunden, der sein Auftragsvolumen reduzieren möchte. Letzte Woche hat sie ihm zweihundert Schulungsstunden für seine Mitarbeiter verkauft, doch nun will er zurückrudern. Elizabeth, die mit dem Rücken zu den beiden anderen Verkaufsvertretern in ihrer Bürozelle sitzt, hält das glitschig werdende Telefon in der Hand und beißt sich auf die Un terlippe. Warum will er sich nicht binden?, jault es in ihr. Was mache ich nur falsch? »Alles halb so wild, Liz«, besänftigt sie der Kunde. »Ich hab bloß gerade unseren Zeitplan durchgesehen und gemerkt, wir brauchen nicht so viel auf einmal. Wir nehmen das Paket, nur den Umfang müssen wir ein bisschen zurückfahren.« »Aber wir haben doch von zweihundert Stunden geredet. Davon bin ich die ganze Zeit ausgegangen.« »Das stimmt auch, Liz. Ich habe es mir nur anders überlegt.« »Ich ...« Elizabeth schnürt es die Kehle zusammen. Sie muss kämp fen, damit ihre Stimme nicht bricht. Männer mögen keine bettelnden Frauen, die sich an sie klammern. Das hat sie in einem ihrer Beziehungsbücher gelesen, die ihr als Verkaufsratgeber dienen. Männer mögen es, wenn sie herausgefordert werden, vorausgesetzt — vorausgesetzt! — frau behandelt sie nicht respektlos. Frau muss ihn vor eine Herausforderung stellen und gleichzeitig durchblicken lassen, dass er dieser Herausforderung gewachsen ist. »Aber Bob, wir hatten eine Vereinbarung. Du gehörst doch nicht zu den Typen,
die Versprechungen machen, die sie nicht einhalten können. Du bist mein Fels in der Brandung. Das liebe ich an dir. Darauf verlasse ich mich bei dir. Du weißt, was ich meine.« Aus dem Telefon kommt ein Seufzen. Elizabeths Herz hüpft. »Okay, okay. Dann belassen wir es eben bei den zweihundert Stun den. Obwohl ich eigentlich nicht so viel brauche, Liz.« »Ich bin dir wirklich dankbar, Bob. Du bist spitze.« »Naja, du war st auch immer fair zu mir ...« Elizabeth spürt, wie sie innerlich be reits abschaltet. Bob ist unter Kontrolle. Bob wird von Sekunde zu Sekunde uninteressanter. Ihre Gedanken schweifen ab zu dem Mann, den sie im Konferenzraum gesehen hat. Er war klein und übergewichtig, und nach seinen Achseln zu urteilen, hat er ein leichtes Transpirationsproblem. Verträumt kaut sie auf ihrer Lippe. Sie fragt sich, ob er vielleicht Interesse an Schulungen haben könnte.
Die Abteilung Schulungsverkauf besteht aus acht Mitarbeitern: drei Verkaufsvertreter, drei Assistenten, eine Abteilungsleiterin und eine Sekretärin. Jeder Vertreter hat einen Verkaufsassistenten. Eli zabeth hat Holly, eine junge, athletische Blondine, die über mehrere Stockwerke hinweg berühmt ist für ihr besessenes Training im Fit nessraum des Unternehmens und für ihre absolut unbeugsame Humorlosigkeit. Roger hat — oder kriegt — Jones. Der dritte Ver treter ist Wendell, ein groß gewachsener Mann, der alle in der Ab
teilung damit in den Wahnsinn treibt, dass er sich jedes Mal räus pert, bevor er etwas sagt — und dazu noch, wenn sie am wenigsten darauf gefasst sind. Wie alle anderen Abteilungen von Zephyr hat der Schulungs verkauf ein Großraumbüro, was bedeutet, dass alle durch Käfig wände voneinander abgeschirmt in einer ausgedehnten Legebatte rie arbeiten. Lediglich die Abteilungsleiterin hat ein eigenes Büro mit einer Glaswand, hinter der permanent die Jalousie zugezogen ist. Die offene Raumaufteilung, so ist in unternehmensweiten Me mos erklärt worden, fördert die Teamarbeit und steigert die Pro duktivität. Nur nicht bei leitenden Managern, deren Produktivität eher — die Schlussfolgerung liegt auf der Hand, auch wenn davon nichts in den Memos steht — durch Eckbüros mit wunderschöner Aussicht gesteigert wird. Die Legebatterie des Schulungsverkaufs wird von einer zweiein halb Meter hohen Trennwand durchschnitten. Auf der einen Seite sitzen die Vertreter und auf der anderen die Assistenten. Für das ungeübte Auge scheinen beide Hälften identisch, doch Wissende erkennen auf der Vertreterseite einen subtil schimmernden Glanz. Dieser Glanz ist der Status. Die Inhaber der Vertreterseite haben weitaus bessere Zahlen vorzuweisen: sechsstellige Gehälter, sieben stellige Umsatzziele und einstellige Golfhandicaps. Während des letzten Büroumzugs wurde darüber diskutiert, jeden Vertreter im Interesse der Effizienz neben seinen oder ihren Assi stenten zu setzen. Durch kompromisslose Lobbyarbeit unter der Führung von Elizabeth und Wendell gelang es, diesen Vorschlag innerhalb eines Tages abzuschmettern. So ist es dabei geblieben,
dass die Assistenten viel Bewegung bekommen. Intern heißt die Trennwand durch das Großraumbüro Berliner Mauer. Wendell bleibt vor Rogers Schreibtisch stehen, verschränkt die Arme und stößt das bellende Hüsteln aus, dem zu entnehmen ist, dass er etwas sagen wird. »Roger, es fällt mir nicht leicht, das an zusprechen, aber du hast schon wieder auf meinem Stellplatz ge parkt.« Roger hält einen Finger hoch. Er hat die Kantine an der Leitung und wartet darauf, zur Unterabteilung Imbiss und Dessert durchge stellt zu werden. Doch er fände es unklug, seinen Kollegen Wendell zum Mitwisser dieses Anrufs zu machen. Also sagt Roger ins Tele fon: »Ich empfehle das ganze Paket, dann kommen Sie bei geringe ren Gesamtkosten in den Genuss sämtlicher Vorteile. Ja ... natürlich. Ausgezeichnet. Ich werde das unverzüglich weitergeben.« Er hängt ein. Wendell ragt hoch vor ihm auf und nimmt ihm das Neonlicht. »Was ist?« »Dein Auto. Trotz unserer früheren Gespräche steht es wieder auf meinem Stellplatz.« Roger kneift sich in die Nasenwurzel. »Wendell, auf dem zweiten Untergeschoss gibt es keine zugeteilten Plätze. Wer als Erster kommt, sahnt ab. Du hast keinen festen Stellplatz. Keiner von uns hat einen.« Wendell greift in seine Jackentasche. »Hak-kah.« Das ist Wendells Räuspern. »Das hast du mir letztes Mal schon erklärt. Nun habe ich mir die Freiheit genommen, bei der Abteilung Infrastrukturpflege nach einem Parkplan zu fragen. Wenn ich dich bitten dürfte, einen kurzen Blick auf diesen Platz da zu werfen, den zurzeit gerade dein
Auto belegt, dann wirst du sehen, dass da steht: ABTEILUNG SCHU LUNGSVERKAUF
— W 2. Und das bin ich, Roger. Dein Platz ist der
daneben.« Sein Finger sticht auf den Lageplan hinab und deutet auf einen Platz, der fünf Schritte weiter vom Aufzug entfernt ist. Roger macht eine wegwerfende Handbewegung. Er ist erst seit sechs Wochen Verkaufsvertreter. Vorher war er Kunde. Aber er hat unheimlich viel Talent, und das macht Wendell nervös. Roger ist zu selbstsicher, seine dunkelbraunen Augen sind zu durchdringend. Seinem Haar ist deutlich anzumerken, dass er das Zeug zum leitenden Manager hat. In letzter Zeit hat Wendell jeden Tag eineinhalb Überstunden gemacht und das Mittagessen ausfallen lassen. Auch Elizabeth hat sich angesteckt und ist jetzt ständig zu Verkaufsge sprächen unterwegs. Aber das liegt nur daran, dass sie es in Rogers Nähe nicht mehr aushält und ihn am liebsten mit seiner Krawatte erwürgen würde. »Die Infrastrukturpflege hat keinerlei Befugnis, Autostellplätze an Mitarbeiter zu vergeben. Das ist Sache des Abtei lungsleiters. In unserem Fall ist es so, dass Sydney kein festes Sy stem vorschreibt. Für uns gilt also Laisser-faire.« Wendell zögert, weil er nicht sicher ist, wie die Machtverteilung zwischen der Infrastrukturpflege und den Abteilungsleitern aus sieht. »In Ermangelung einer Entscheidung von Sydney sollte doch sicherlich die Zuteilung der Infrastrukturpflege maßgebend sein.« »Wenn du darüber streiten willst, musst du dich an Sydney wen den«, erwidert Roger. »Bis dahin heißt das Motto Laisser-faire.« »Aber wenn es Laisser-faire heißt...« Wendells Stimme wird lauter. »... warum parkst du dann immer auf dem gleichen Platz? Du nimmst
nie den Platz von Sydney oder Elizabeth. Alle parken jeden Tag am gleichen Platz, nur du stellst dich immer auf meinen.« »Reiner Zufall.« Roger lässt seine absurde Bemerkung einen Mo ment lang im Raum stehen. »Aber ich mach dir einen Vorschlag. Ich bemühe mich, nicht mehr auf Anführungszeichen deinem Anfüh rungszeichen Stellplatz zu parken, wenn du mir sagst, warum du meinen Donut gegessen hast.« »Ich hab deinen blöden Donut nicht gegessen! Lenk bitte nicht vom Thema ab.« »Sollte das so eine Art Rache sein? Ehrlich, ich bin nur neugierig.« »Ich habe keine Ahnung, was mit deinem Donut passiert ist, Ro ger, und ich möchte auch nicht darüber reden. Halt dich einfach von meinem Stellplatz fern. Sonst geh ich wirklich zu Sydney.« Wendell stürmt zu seinem Schreibtisch, der gleich daneben steht und von Rogers Bürozelle nur durch eine niedrige Wand getrennt ist. Als sie beide sitzen, starren sie sich über ihre niedrigen Notebooks hinweg an. Wenn du den Memos glauben willst, nimmt ihre Teamarbeit und ihre Produktivität ständig zu.
Jones schreitet über den orange-schwarzen Teppichboden im Kor ridor und stößt die Glastür zur Abteilung Schulungsverkauf auf. Er bleibt stehen und schaut sich in seinem neuen Firmenzuhause um. Sein Blick erfasst die Bürozellen, die Berliner Mauer, die eingerahm
ten Motivationsposter (NICHT WIE LANG MAN ARBEITET ZÄHLT, SON DERN WIE KLUG)
, die Kaffeemaschine, die völlige Abwesenheit von
natürlichem Licht. Er bemerkt Freddy, der auf die andere Seite der Mauer deutet (die reiche Seite: Westberlin) . Jones folgt dem Finger zeig. Er findet drei Leute vor, die alle am Telefon hängen und ihm keine Beachtung schenken. Er späht auf ihre Namensschilder, bis er ROGER JEFFERSON entdeckt, dann wartet er vor seinem Schreibtisch. Roger sagt gerade: »Aber ich kann keine Formulare an die Auf tragsbearbeitung schicken, wenn sie nicht von der Rechtsabteilung abgesegnet sind. Sagen Sie das lieber den Leuten vom Kreditwesen. Solange die die Liefersperre nicht aufheben, zieht die Marketingab teilung nicht mit.« Stirnrunzelnd blickt er zu Jones auf. »Was wün schen Sie?« Jones weist auf seine Ausweiskarte. »Hi, ich bin der Neue.« Roger wendet sich wieder ans Telefon. »Sekunde kurz.« Er be deckt die Sprechmuschel. »Sieben oder acht?« »Sieben oder acht was?« Dann kapiert Jones. »Die Kantine sagt, dass die Abteilung Schulungsverkauf heute Morgen acht Donuts bekommen hat.« »Sind Sie ... bist du sicher?« Jones ist sich sicher. Die Kantine hat für die Imbisszustellung ein festes Ablaufverfahren samt Tabellen. Neben ABTEILUNG SCHU LUNGSVERKAUF
hat Jones eine 8 und ein Häkchen gefunden. Die
Mitarbeiter stehen voll hinter ihrer Tabelle. Es war Jones peinlich, sie zu belästigen, erstens wegen der Tabelle und zweitens weil sie gerade in Vorbereitung auf ihre unmittelbar bevorstehende Ausla
gerung alles sauber machten. Und da hielt Jones sie noch auf mit seinen Fragen nach Donuts. »Okay, gut gemacht.« Roger nimmt die Hand von der Sprechmu schel. »Also, wir können auch zum Personalwesen gehen, um das zu klären, wenn Sie unbedingt wollen. Wollen Sie das?« Jones erkennt, dass er nicht mehr gebraucht wird. Er kehrt zurück nach Ostberlin, wo Freddy und eine junge Frau mit alarmierend straffen Armen, die aus ihrem Sommerkleid herausragen, ihre Bü rostühle in den Gang zwischen den Zellen geschoben haben. »Das ist er«, bemerkt Freddy. »Jones, das ist Holly. Sie ist die Assistentin von Elizabeth.« Während sie sich die Hand schütteln, fragt Holly: »Stimmt es, dass du in die Kantine gegangen bist?« »Die Kantine hat Sydney angerufen und sich beschwert, dass du sie piesackst«, erklärt Freddy. »Jetzt ist Sydney sauer.« Jones lässt Hollys Hand los. »Was? Ich hab nur gemacht, was man mir gesagt hat!« »Die Nürnberger Verteidigung«, diagnostiziert Holly. »Mit der hat es Rogers letzter Assistent auch probiert.« »Der arme Jim«, erinnert sich Freddy. »Und gerade wo ich ange fangen hatte ihn zu mögen.« »Dann geh ich wohl lieber zu Sydney.« Jones hält Ausschau nach ihrem Büro. Freddy lacht. Dann merkt er, dass Jones es ernst meint. »Jones, man geht nicht einfach so zu Sydney.« »Warum nicht?« Freddy fehlen anscheinend die Worte. Er wendet sich an Holly.
»Das macht man einfach nicht«, ergänzt sie. Am anderen Ende der Legebatterie sichtet Jones ein Büro. »Ist sie da hinten?« Freddy und Holly tauschen Blicke aus. »Ja, aber im Ernst...« »Bin gleich wieder da.« Jones tritt zwischen Freddy und Holly, die ihre Bürostühle auseinander rollen, um ihm Platz zu machen. Syd neys Büro wird von einer gewichtigen Frau hinter einem winzigen Schreibtisch bewacht: Megan, die Sekretärin der Abteilung. Jones bemerkt, dass Megan Keramikbären sammelt. Sie hat Bären, die als Angler verkleidet sind, Bären mit T-Shirts, auf denen I LOVE YOU steht, Bären mit Schutzhelmen und Bären in Gummistiefeln. Es gibt Dutzende von ihnen, Megans Schreibtisch sieht aus wie die Bühne für ein reines Bärenmusical. In einer Ecke steht wackelnd eine Post eingangsablage, an die sich mehrere Bären lehnen, als wollten sie sie in den Abgrund stoßen. Sydneys Tür ist geschlossen. Jones versucht durch die kleine Glas scheibe in der Tür zu spähen. »Kann ich ...?« Megan starrt ihn stumm durch ihre braune Brille an. Erst später wird Jones klar, dass Megan nur deshalb nicht sofort von ihrem Stuhl aufgesprungen ist und ihn zu Boden gerungen hat, weil sie es einfach nicht fassen konnte, dass er wirklich in Sydneys Büro hi neinspazieren will. Er drückt die Klinke nach unten, und als sie er kennt, was er da macht, ist er schon drin und schließt sacht die Tür.
Die Köpfe von Wendell und Elizabeth erscheinen über der Berliner Mauer. Wendell findet als Erster Worte: »Ist dieser Mensch gerade in Sydneys Büro marschiert?« »Er ist neu«, antwortet Freddy schwächlich. »Unser neuer Uniab solvent. Er weiß es nicht besser.« Einen Moment lang sagt niemand was. Megans schockiertes Ge sicht wendet sich von Sydneys Tür zu den anderen Mitarbeitern, dann wieder zurück. »Naja«, meint Holly, »Mumm hat er jedenfalls.« »Der ist so gut wie tot.« Freddy seufzt. »Er hatte nicht mal Zeit, seine Voicemail einzurichten.« »Schade«, findet Elizabeth. »Er ist süß.« »Allerdings«, sagt Holly. »Wie heißt er?« »Jones.« »Nur Jones? So wie Madonna?« »Steht zumindest auf seiner Ausweiskarte.« »Interessant«, stellt Elizabeth fest. »Er ist doch noch so jung«, sagt Freddy. »Wie soll er da was wis sen?« »Haaak-kah. Offensichtlich hat er keine Ahnung. Er ist gerade ohne Termin in Sydneys Büro reinspaziert.« »Hmm«, macht Elizabeth, »vielleicht ist doch was dran an den Ge rüchten.« Sie schauen sie an. Freddy stellt die fällige Frage: »Was für Ge rüchte?«
»Also ... nicht dass ich das unbedingt glaube, aber ... einige Leute behaupten, dass das Unternehmen ein Geheimprojekt betreibt. Im dreizehnten Stock.« Wendell schnaubt. Einen dreizehnten Stock gibt es nicht. Die Auf zugtaste nach der Zwölf ist die Vierzehn. Doch es ist ein alter Witz bei Zephyr, dass die Fahrt zwischen diesen beiden Etagen verdäch tig lang dauert. »Wenn man den Gerüchten glauben will...«, Elizabeth senkt die Stimme, »dann kratzt das Personalwesen heimlich Hautzellen von erfolgreichen Vertretern und züchtet Klone in Bottichen, die dann im Rahmen des Praktikantenprogramms ins Unternehmen ge schleust werden sollen.« Freddy und Holly klappen zusammen. Wendell verdreht die Au gen. »Ich hab Besseres zu tun.« Sein Kopf verschwindet hinter der Berliner Mauer. »Kann sein, dass ich mich täusche«, schließt Elizabeth, »aber viel leicht sollte mal jemand nachsehen, ob Jones einen Nabel hat.« »Mmm«, antwortet Holly, »vielleicht mach ich das wirklich.« »Beeil dich lieber«, meint Freddy. Mit einem leisen Knacken öffnet sich Sydneys Tür. Fast hat es den Anschein, als wären die Köpfe der Mitarbeiter der Abteilung Schu lungsverkauf durch unsichtbare Fäden mit ihr verbunden. Alle fah ren gleichzeitig herum. Sechs Augenpaare beobachten, wie Jones den langen Weg zu seinem Schreibtisch zurücklegt und Platz nimmt. Nach zwei Sekunden ungeheurer Selbstbeherrschung platzt es aus Freddy heraus: »Und?«
»Hmm? Was und?« »Was ist passiert?« »Ach, wir haben uns unterhalten. Ich denke, wir haben die Sache geklärt.« Jones zuckt die Achseln. »Sie war ziemlich beschäftigt. Die meiste Zeit hat sie telefoniert.«
»Du meinst...«, fängt Holly an, doch Freddy schneidet ihr das Wort ab: »Mit wem?« »Ah ... irgendein Seddon oder so.« Freddy wippt in seinem Stuhl zurück. »Blake Seddon ist Mitglied des Vorstands.« »Na und?« Als Neuling kennt Jones Zephyr Holdings noch zu wenig, um zu erkennen, dass sich hier ein Sturm zusammenbraut. Das Gebäude ist nach außen hermetisch abgeschottet, doch Zephyr hat sein eigenes Wetter. Letzten Freitag lag ein Hochdruckzentrum über dem Telefonverkaufsraum; für morgen wird vorhergesagt, dass vom zweiten Stock eine Kältefront mit Entlassungen herunter fegen wird. Und im Moment baut sich in der Legebatterie gerade ein Gerüchteorkan auf. »Da wird jemand gefeuert«, mutmaßt Freddy. Holly schnaubt. »Woher willst du denn das wissen?« »Oder vielleicht geht es total den Bach runter für uns. Outsour cing.«
»Die können uns nicht auslagern! Wer soll denn dann Schulungen verkaufen?« »Vielleicht steigt Zephyr aus dem Schulungsgeschäft aus.« »Du spinnst doch.« Aber Hollys Einwand kommt mit zittriger Stimme. Holly ist gut geschützt vor Entlassungen, weil Elizabeth sicher im Sattel sitzt. Aber bei einem Outsourcing, der Atombombe im Arsenal des Personalwesens, kommt niemand ungeschoren da von. »Wenn es keine Schulungen mehr gibt...« Holly versagt die Stimme, sie ist unfähig, dem Grauen einer Welt ohne Schulungen Worte zu verleihen. Freddy springt aus seinem Stuhl und steuert auf die Sekretärin Megan zu. Sie bestätigt, dass sich Sydney telefonisch mit der Unter nehmensleitung beraten hat, gibt jedoch keine Einzelheiten preis. Allerdings nur, weil sie selbst nichts weiß. Megan sitzt weit weg von allen anderen Mitarbeitern der Abteilung Schulungsverkauf und ist einsam, daher lässt sie gelegentlich Andeutungen fallen, dass sie etwas verschweigt, um ihre Kollegen zu häufigeren Be suchen zu ermuntern. »Megan weiß etwas, aber sie will nichts sagen«, erklärt Freddy grimmig. Ohne anzuhalten, stapft er durch Ostberlin. Die Turbu lenz seiner Bewegungen lässt ein Blatt von Jones' Schreibtisch fallen, doch meteorologisch gesprochen ist Freddy gerade ein Tornado, der den Teppich aufreißt, Computer von den Schreibtischen fegt und Stühle durch die Luft schleudert. In Westberlin knöpft sich Freddy ohne lange Umschweife Wendell vor: »Wer wird rausgeschmissen?«
»Was?« Wendell ist irritiert. Er war in seinem Heartsspiel gerade bei null Punkten angelangt und hatte Pauline fast schon über der Hundert-Punkte-Grenze, doch dann musste er das Programm schließen, damit Freddy nichts mitkriegt. »Sydney hat mit denen da oben telefoniert. Es geht um Kostensen kung, stimmt's? Irgendjemand muss ins Gras beißen.« »Sydney hat mit denen da oben geredet?« »Das hat zumindest Megan gesagt.« »Na gut, aber dafür kann es auch ganz andere Gründe geben. Du darfst keine voreiligen Schlüsse ziehen. Hak-kah.« »Hey, Jungs«, ruft Elizabeth über den Gang, »habt ihr auch Schwierigkeiten mit dem Netz? Ich hab gerade eine E-Mail an Wen dell geschickt, und sie ist postwendend zurückgekommen.« »Hab noch nicht nachgeschaut.« Roger blickt nicht von seinem Schreibtisch auf. »Worum geht's denn in deiner E-Mail?«, erkundigt sich Wendell. »Ich verkaufe Tombolalose für Wohltätigkeitsveranstaltungen. Willst du welche haben? Du kannst einen Satz Golfschläger gewin nen.« Hoffnungsfroh heben sich ihre Augenbrauen. »Oh.« Wendells Blick wird unscharf. »Ich, hak-kah, überlege es mir, sobald ich deine E-Mail bekomme.« »Sie kosten nur einen Dollar.« Elizabeth rollt heran. »Und es gibt auch eine Menge kleinere Preise. Willst du mal sehen?« »Ich bin gerade beschäftigt, Elizabeth.« »Oh, natürlich. Dann vielleicht später.« Sie rollt zurück zu ihrem Computer. Freddy lässt nicht locker. »Du hast also nichts gehört?«
»Nein, warum? Haben die anderen was gehört?« Ängstlich blickt Wendell zu Roger und Elizabeth hinüber. »Ich hab sie noch nicht gefragt.« »Überlass das mir. Ich werde schon herausfinden, was da los ist.« »Danke.« Freddy weiß, dass er ihm vertrauen kann. Wendell ist auf Freddy angewiesen, weil nur Freddy Wendells unverschämte Spesenforderungen in eine Sprache übersetzen kann, die vom Rech nungswesen geschluckt wird. Eine seltene und kostbare Fähigkeit. Elizabeth und Roger platzen schier vor Neid auf Wendell. Allein in diesem Jahr wurden ihm Ausgaben für Strafzettel, Dutzende von Geschäftsessen und einen neuen Anzug erstattet. Elizabeth hinge gen wurde nicht einmal ein neuer Bürostuhl genehmigt, und sie war gezwungen, sich spätabends eigenhändig einen im Callcenter zu klauen. Freddy verlässt Westberlin. Als er an Roger vorbeikommt, lächelt der ihm zu, was so untypisch ist, dass Freddy ganz schwummerig wird. Roger ist gerade dabei, jemanden anzurufen, doch sein Finger bleibt über dem Nummernfeld schweben, bis Freddy verschwun den ist. »Wie sieht's aus?«, fragt Holly. »Keiner weiß was. Glaubst du, wir hören vorher davon, wenn wir ausgelagert werden?« »Keine Ahnung ... keiner, der ausgelagert worden ist, hat hinterher was darüber erzählen können.« Jones meldet sich zu Wort. »Wieso sollen sie denn jemanden rauswerfen? Ich bin doch gerade eingestellt worden.«
Freddy betrachtet ihn mitleidig. »Du verstehst dieses Unterneh men einfach noch nicht.« »Es gibt einen Einstellungsstopp«, erklärt Holly. »Genau genom men haben wir dich gar nicht eingestellt. Wir haben ein bisschen getrickst, um dich zu bekommen. Das ist nämlich so: Am Ende des Geschäftsjahrs merkt die Unternehmensleitung immer, dass wir das Budget überschritten haben, und verhängt deswegen einen Einstel lungsstopp. Wenn ein Mitarbeiter kündigt, müssen die anderen seinen Teil mit übernehmen.« »Hattet ihr vorher zu wenig zu tun?« Jones wirkt verwirrt. Freddy lacht so heftig, dass er mit der Nase sein Keyboard trifft. »So ist es ein paar Jahre gegangen, aber dann haben die Abteilun gen kapiert, dass sie einfach vor dem Stopp Leute einstellen müs sen. Also haben sie die gesamten Jahresausgaben in die ersten sechs Monate reingepackt. Daraufhin hat die Unternehmensleitung den Stopp schon früher verhängt. Und seit ungefähr eineinhalb Jahren ist er permanent.« »Permanent.« »Jetzt können sie ihn nicht mehr aufheben«, ergänzt Freddy, »sonst würden alle Abteilungen wie die Irren neue Leute einstellen. Früher hatten wir mal acht Vertreter und acht Assistenten.« »Außerdem«, fällt Holly wieder ein, »muss Zephyr auch beweisen, dass die Einsparmaßnahmen ernst gemeint sind. Wenn wir jetzt wieder anfangen würden, Leute einzustellen, würde unser Aktien kurs abstürzen. Noch weiter, meine ich.« »Das behaupten sie zumindest. Meiner Meinung nach ist das nur ein Vorwand, damit sie uns arme Würstchen mit Arbeit zuschütten
können, während sich die Herren im Vorstand fette Prämien für das Einhalten von Kostensenkungszielen gönnen. Ganz zu schweigen von den goldenen Handschellen. Kennst du das mit den goldenen Handschellen?« Jones nickt. »Klar, die Prämie, die ein Manager einstreicht, wenn er das Unternehmen verlässt.« »Nein, das ist ein goldener Fallschirm.« »Ach so. Dann eben die Prämie beim Eintritt ins Unternehmen.« »Das ist der goldene Handschlag. Goldene Handschellen kriegt man dafür, dass man in einem Unternehmen mit schlechter Moral arbeitet. Zuerst versauen sie das Unternehmen, dann genehmigen sie sich höhere Zahlungen, weil es so schwer ist, gute Leute anzu locken.« »Aber so was darf doch nicht sein.« Jones ist schockiert. »Hat das schon mal jemand gegenüber Daniel Klausman angesp rochen?« Freddy kriegt den nächsten Anfall. Sogar Holly lächelt. »Weißt du noch, Freddy, als du hier angefangen hast, da hast du doch auch gedacht, dass alle klug und hilfsbereit sind und immer nur das Be ste für das Unternehmen wollen.« »Ja. Sogar die Schuhe hab ich mir geputzt.« Jones lässt nicht locker. »Und wie habt ihr mich dann trotz Einstel lungsstopp gekriegt?« »Das war Freddys Idee. Wir verbuchen dein Gehalt als Büroaus gaben. Für Kopierpapier, um genau zu sein.«
»Da fällt mir ein.« Freddy wendet sich an Holly. »Musst du wirk lich alle Aufträge von Elizabeth kopieren? Du weißt doch, das Pa pier in der Maschine muss bis Januar reichen.« »Wenn wir im Januar überhaupt noch da sind. Ich kopier lieber, solange es noch geht.« »Ich bin Kopierpapier?« Jones ist platt. »Keine Sorge, das ist nur die offizielle Bezeichnung. Spielt für uns überhaupt keine Rolle. Außer sie kürzen unseren Schreibwarenetat. Du musst dir nicht ins Hemd machen, das ist bloß ein bisschen kreative Buchführung. Das passiert ständig.« Eine Welle aus rotem Licht schwappt durch die Abteilung. Einen Augenblick glaubt Jones, er wird ohnmächtig. Dann vermutet er, dass der Strom ausgefallen ist und sich die Notbeleuchtung einge schaltet hat. Aber es sind die Telefone: Auf einmal blinken sämtliche Voicemaillämpchen. »Arrch.« Freddy greift zum Hörer. »Ich hasse es, wenn sie das ma chen.« Er klemmt ihn sich unters Ohr. »Voicemail für alle Mitarbei ter. Dein Telefon hat bestimmt eine Anleitung, Jones.« Jones findet sie. Es kommt zu einem kurzen Kampf mit dem Voi cemailmenü, aus dem Jones als Sieger hervorgeht. »Klick. Hi, hier spricht Megan. Sydney hat mich gebeten, das hier weiterzugeben. Klack. Megan, hier ist Sydney. Im Anschluss kommt eine Nachricht des Vorstandsvorsitzenden. Kopier sie bitte für alle, danke. Klick. Guten Morgen, hier Janice ... Nachricht folgt. Klick. Hi, Janice ... es folgt eine Nachricht von Daniel Klausman. Bitte kümmern Sie sich darum, dass alle sie bekommen. Danke. Klick. Hallo miteinander, hier ist Mona aus Daniel Klausmans Büro. Bitte
geben Sie folgende Nachricht an die gesamte Belegschaft weiter. Klick.« Eine dramatische Pause. Dann: »Mona, hier spricht Daniel Klaus man. Bitte schicken Sie das an alle Abteilungsleiter zur Weiterlei tung an den gesamten Personalbestand.« Jones blinzelt überrascht. Er hält es für keine besonders schlaue Idee, dass der CEO die Mitarbeiter als Personalbestand bezeichnet. An der Uni hat er ganz was anderes gelernt. Jones spürt einen Anf lug von Erregung, weil er diesen Schnitzer bemerkt hat, so wie ein Schachwunderkind, das in Kasparows Spiel einen Fehler entdeckt. Wilde Gedanken schießen ihm durch den Kopf, die alle mit Wenn ich Vorstandsvorsitzender wäre anfangen. Das lenkt ihn ab, und so entgeht ihm die Einsicht, dass es vielleicht auch keine besonders schlaue Idee ist, für einen CEO tätig zu sein, der die Mitarbeiter als Personalbestand bezeichnet. »Ich wünsche Ihnen allen einen guten Tag. Ich hoffe, Sie hatten ei nen positiven Start in die Woche und haben bereits ein paar Ziele für Zephyr geknackt. Ich möchte heute über die jüngste Entwick lung unseres Aktienkurses sprechen. Jeder Einzelne von Ihnen muss verstehen, dass es keinen Anlass zur Panik gibt. Aktienkurse steigen und fallen häufig aus Gründen, die in keinem Zusammenhang mit der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens stehen. Manchmal kommt es bei diesen Veränderungen zu einer Überreaktion an der Börse, die aus einer kleinen eine große Schwankung werden lässt. Ich kann Ihnen versichern, dass wir im Vorstand die Ruhe bewah ren.«
Jones nickt gedankenversunken. Er ist noch nicht lang genug bei Zephyr Holdings, um zu wissen, dass es immer eine Überreaktion der Börse auf irrelevante Ereignisse ist, wenn der Aktienkurs nach unten geht. Wenn er steigt, ist dafür selbstverständlich die brillante Arbeit der Unternehmensführung verantwortlich, die daraufhin mit Aktienoptionen belohnt wird. »Dies vorausgeschickt, ist ein Kursrückgang von achtzehn Prozent in einem Quartal natürlich keine besonders erfreuliche Nachricht. Um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, müssen alle Abteilun gen ihre Anstrengungen zur Kostensenkung fortsetzen. Es kommt entscheidend darauf an, dass wir überflüssigen Ballast abwerfen, uns auf unsere Kernkompetenzen besinnen und den Gürtel enger schnallen. Wenn wir das tun und unseren Stärken treu bleiben, können wir auch bedeutende Kürzungen vermeiden, da bin ich zu versichtlich. Damit bin ich auch schon am Ende. Ich will Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten.« Freddy und Holly hängen gleichzeitig auf. Freddy kommentiert als Erster. »Aua.« »Das betrifft uns nicht«, macht sich Holly Mut. »Er hat gesagt, alle Abteilungen.« »Aber es gibt keine Entlassungen. Keine ›bedeutenden‹ Kürzun gen.« »Wenn es einen selbst erwischt, ist es immer bedeutend«, meint Freddy.
Am Freitag trifft Jones auf dem Weg zur Toilette zufällig auf Wendell. Jones ist kurz vorm Platzen, weil er zum ersten Mal in seinem Leben Zugang zu Gratiskaffee aus einer nur sechs Meter entfernten Maschine hat. Es ist vier Uhr, und er hat sechs Tassen getrunken. Die anderen Mitarbeiter der Abteilung haben schon he rausgefunden, dass man sich seinen Kaffee am besten gleich nach Jones holt, weil es ihm nichts ausmacht, den Filter zu wechseln. Er zieht die äußere Tür der Toilette auf, gerade als Wendell die in nere öffnet, und sie starren sich durch den winzigen Schlitz an, jeder mit einer Hand auf der Klinke. Jones tritt zurück, um Wendell vor beizulassen, doch Wendell rührt sich nicht von der Stelle. »Hak kah.«Vorsichtig sieht er sich um. »Jones, du weißt nicht zufällig, wo rauf Roger mit dieser Donutgeschichte hinauswill?« »Nein.« Jones fällt auf, dass Wendells Hände nicht nass sind. Auch den Trockner hat er nicht gehört. »Ich habe keinen blassen Dunst, wer den Donut genommen hat. Aber er bildet sich ein, dass ich irgendwie in die Sache verwickelt bin. Er glaubt, ich will es ihm heimzahlen, weil er sich immer auf meinen Parkplatz stellt.« »Verstehe.« »In diesem Monat habe ich zwölfhundert Schulungsstunden ver mittelt. Mehr als Elizabeth. Roger hat nur vierhundert. Wenn sich jemand Sorgen machen muss, dass er fliegt, dann er.«
»Ja, kommt mir auch so vor.« Wendell fummelt an der Klinke herum. »Wenn du was hörst, lass es mich wissen, okay?« »Klar.« »Danke, Jones. Das weiß ich sehr zu schätzen.« Im Vorbeigehen legt er Jones die Hand auf den Unterarm. Als Jones mit erleichterter Blase sowie gewaschenem und luftget rocknetem Unterarm an seinen Schreibtisch zurückkehrt, schleicht Freddy heran. »Schon gehört? Sydney hat eine Besprechung ange setzt. Es soll um betriebliche Veränderungen gehen.« Er rückt seine Brille zurecht. »Hör mal, wenn es dich trifft... vergiss nicht, es ist nicht persönlich gemeint.« »Was? Warum soll ich gefeuert werden?« Holly blickt über die niedrige Zellenwand. »Jones soll gefeuert werden?« »Nein, wenn. Ich will nur sagen, wenn Sydney jemanden raus schmeißt, dann Jones. Last in, first out. Den Letzten beißen die Hunde.« »Bei Zephyr wird nach der LIFO-Regel gefeuert?« »Nein«, antwortet Holly. Freddy tätschelt Jones den Arm. Jones hat noch nie so eine linki sche Geste gesehen. »Wahrscheinlich wirft sie sowieso niemanden raus.« Freddys Bemerkung ist offensichtlich nur als Trost für Jones gedacht. Um zwei Minuten nach fünf betritt Sydney, die Leiterin der Abtei lung Schulungsverkauf, den Konferenzraum. Sie ist winzig. Sie hat leuchtend grüne Augen, elfenhafte Züge und ein Näschen wie ein
Osterhase. Sie kann unmöglich mehr als dreißig oder vierzig Pfund wiegen, und das einschließlich ihres maßgeschneiderten Kostüms. Der blonde Schopf ist zu einem makellosen Bob geformt. Wenn sie spricht, erklingt eine hohe, angestrengte Stimme. Wenn du sie siehst, möchtest du das bewundernswerte kleine Geschöpf am lieb sten an dich drücken. Aber das wäre keine gute Idee, denn Sydney ist ein bösartiges Miststück. Eine süße Stupsnase allein reicht nicht, um Leiterin einer Verkaufsabteilung zu werden. Marketingleiterin vielleicht, aber — Verkaufsleiterin — keine Chance. Im Verkauf kannst du dich nicht hinter Hochglanzprospekten und manipulierten Reichweitezahlen verstecken. Entweder du verkaufst, oder du verkaufst nicht, deine Leistung hier steht jederzeit und für alle gut sichtbar auf dem Prüf stand. Um im Verkauf Erfolg zu haben, brauchst du Fähigkeiten — die nicht unbedingt mit moralischer Integrität und emotionalem Wohlbefinden vereinbar sind, aber dennoch Fähigkeiten. Du musst in der Lage sein, Dinge an Leute zu verkaufen, die diese Dinge nicht wollen. Du musst in der Lage sein, mehr Dinge als nötig an Leute zu verkaufen, die diese Dinge wollen. Und, was am wichtigsten ist, du musst es irgendwie schaffen, dass du niedrigere Umsatzziele und leichtgläubigere Kunden bekommst als deine Kollegen. In ihrer Zeit als Verkaufsassistentin war Sydney eine putzige Ku riosität. Wenn sie die Elfenaugen verengte, das Näschen rümpfte und den winzigen Mund verzog, mussten die Leute ein Lächeln unterdrücken. Ihre Wutausbrüche über Menschen, die sie nicht ernst nahmen, waren komisch; niemand nahm sie ernst. Dann wur de sie zur Verkaufsvertreterin befördert, und das hieß, dass sie nicht
mehr ignoriert werden konnte. Das war schon weniger amüsant. Sydney war auf so ziemlich jeden böse; anscheinend gab es nie manden, der ihr nichts angetan hatte. Die Belegschaft des Schu lungsverkaufs hat den Verdacht, dass in Sydneys Vergangenheit ein bitteres Geheimnis lauert, ein Vorfall oder eine Reihe von Vorfällen, die sich um schneller wachsende Mädchen im Umkleideraum der Highschool drehen. Wenn Sydney ein Mann wäre, da sind sie ganz sicher, dann hätte sie zu Hause einen eigenen Fitnessraum und Oberarmmuskeln in der Größe von Kleinkindern. Wie sie Abteilungsleiterin geworden ist, bleibt ein ungeklärtes Rätsel. Doch es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder haben die Vorstandsmitglieder ihre Tiraden mit Elan und einem unbedingten Streben nach Spitzenleistungen verwechselt. Oder sie haben genau gewusst, dass Sydney eine paranoide Psychopathin ist, und sie ge nommen, weil sie genau so was wollten. Mit Ausnahme von Sydneys Büro ist das Besprechungszimmer der einzige Raum der Abteilung mit einer Glaswand nach außen. Zu dieser Tageszeit strömt Sonnenlicht herein. Alles ist von ange nehm gelber Wärme oder von feurigen, netzhauterschütternden Blitzen erfüllt, je nachdem, auf welcher Seite des Tisches du sitzt. Daher halten sich die Assistenten die Hand vor die Augen, während sich die Vertreter wohlig den Rücken wärmen. Nur Wendell nicht: Wendell ist nirgends zu sehen. Sydney setzt sich auf den Platz am Tischende, der für sie frei ge blieben ist. Nicht einmal Jones, der noch nie an einer solchen Besp rechung teilgenommen hat, war so dumm, sich dort niederzulassen. Heute ist sie von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet: schwarze Hose,
schwarze Bluse mit hohem Kragen und schwarze Schuhe mit ge fährlich spitz zulaufenden hohen Absätzen. Sydney verfügt über eine große Auswahl an Kleidern, die in der Farbe von Holzkohle bis Pech reichen. Freddy, der älteste überlebende Mitarbeiter der Abtei lung, schwört, dass sie eines Tages in einer grauen Strickjacke auf gekreuzt ist, aber das will niemand so recht glauben. Sydneys grünäugiger Blick huscht um den Tisch. »Wie geht es euch?« »Ausgezeichnet.« Niemand erwähnt Wendell. Sydney hat Papiere dabei. Sie streicht sie glatt wie etwas äußerst Wichtiges, wie die Träger eines großartigen, schrecklichen Wissens. »Wie euch allen bekannt ist, ist das Unternehmen nach wie vor be müht, seine Kosten zu senken. Alle Abteilungen müssen weitere Einsparungen erzielen. Und so was ist natürlich Chefsache. Naja, ich habe mir die Alternativen überlegt...« Sie zuckt die Achseln. Of fenbar haben sie die Alternativen nicht sehr beeindruckt. »Unser Personalbestand wird um einen Mitarbeiter verringert.« Jones entflieht ein leises Stöhnen. Elizabeth und Roger bleiben ru hig, zumindest nach außen. Megan, die Sekretärin der Abteilung, ist überrascht; sie hatte keine Ahnung, dass jemand gefeuert wird. Hol ly und Freddy schielen auf Wendells leeren Stuhl. Sydney fährt fort. »Das wäre also erledigt. Es ist immer schwierig für die anderen, wenn ein Kollege ausscheidet, aber jetzt müssen wir eben als Team noch enger zusammenrücken. Gibt es noch ir gendwelche Fragen?« Schweigen. Megan, die glaubt, als Einzige keine Ahnung zu ha ben, fragt: »Entschuldigung, wer ist entlassen worden?«
»Ach, Wendell.« Es folgt ein kollektives Ausatmen, das klingt wie eine Luftmatrat ze mit Loch. Nur Freddy saugt zischend Sauerstoff an. »Aber Wen dell ist doch der Vertreter mit den besten Leistungen!« Sydneys Elfenblick richtet sich auf ihn. Freddy lehnt sich unwill kürlich weiter zurück. »Stimmt, Wendells Leistung in diesem Monat war ausgezeichnet. Seine Erfolge sollten ein Beispiel für euch alle sein. Aber mir ist zu Ohren gekommen, dass es beim Vormittagsim biss irgendwelche Unregelmäßigkeiten gegeben hat, in die er ver wickelt war. Ich brauche hier nicht weiter ins Detail zu gehen. Doch eines möchte ich klarstellen: Ich dulde keinen Egoismus. Wir sind ein Team. Nur wenn wir zusammenstehen, können wir etwas errei chen. Ist das klar?« Aus dem Team kommt zustimmendes Gemurmel. »Absolut«, stellt Roger fest. »Außerdem...« Wieder streicht Sydney ihre Papiere glatt. »Mit den Provisionen für diese vielen Aufträge von Wendell hätten wir unser Budget weit überzogen.« Megan sagt: »Ach, ich wusste gar nicht, dass wir Provisionen von entlassenen Vertretern streichen.« Alle erstarren. Megan hat keine Ahnung, wie die Abteilung funktioniert, daher platzt sie manchmal mit solchen Dingen heraus, die niemand mit nur einem Hauch von Insiderwissen laut aussprechen würde. Sydneys Blick zuckt durch den Raum. »Das ... nein, natürlich ist das nicht so. Wenn ein Vertreter eine Bestellung aufnimmt und wir damit Geld verdienen, dann hat er natürlich ein Anrecht... also, ich glaube, du verstehst das nicht ganz. Ich wollte damit sagen, dass
wir ein Team sind. Wichtig ist nur, was gut für das Team ist. Das sollten inzwischen alle begriffen haben. Unterbrich bitte nicht stän dig die Besprechung, Megan.« Megan läuft rot an. »Entschuldigung.« »Danke.« Sydney senkt den Blick auf ihre Papiere. »Statt Wendells Kunden auf Elizabeth und Roger zu verteilen, habe ich mich dafür entschieden, einen Verkaufsassistenten zu befördern.« Sie verbes sert sich. »Ich meine, ein Assistent wird sich um Wendells Kunden kümmern. Es ist keine echte Beförderung und gilt nur bis zur Auf hebung des Einstellungsstopps.« Freddy hält die Luft an. Wäre es sein erstes oder zweites Jahr in der Abteilung Schulungsverkauf gewesen, hätte er ein Angebot die ser Art voller Verachtung ausgeschlagen, bei dem offenkundig von ihm erwartet wird, dass er mit einem Drittel des Gehalts und ganz ohne Provisionen Wendells Arbeit erledigt und dabei auch noch die Rolle des Assistenten ausfüllt. Doch es ist Freddys fünftes Jahr, und er hofft verzweifelt auf jeden noch so geringen vertikalen Schub. »Diese Aufgabe wird Jones übernehmen«, erklärt Sydney. »Ihr dürft ihm jetzt alle gratulieren, bitte.« Freddy gibt einen erstickten Laut von sich. Das Team klatscht. Eli zabeth äußert sich: »Ah, Verzeihung — das ist nicht persönlich ge meint, Jones —, aber ... Jones? Freddy kennt diese Kunden, er arbei tet doch als Wendells Assistent schon seit Jahren mit ihnen zusam men.« »Nun, wenn Freddy ein wenig proaktiver wäre, so wie Jones, hätte ich ihn in Erwägung gezogen«, konstatiert Sydney. »Ehrlich gesagt, kann Freddy noch viel von Jones lernen, beispielsweise sich bei of
fenen Fragen direkt an mich zu wenden.« Ihr Blick springt warnend von einem Mitarbeiter zum nächsten, und niemand wagt es, die Be sprechung von vor zwei Monaten zu erwähnen, bei der Sydney jedem mit Degradierung gedroht hat, der sie mit Banalitäten belästigt. »Freddy, du hilfst Jones, damit er sich mit diesen Kunden zurech tfindet.« Freddy würgt etwas wie ein »Okay« heraus. »Gut. Teamwork. Das ist das Entscheidende. Teamwork.« Sie steht auf. »Das wäre alles.« Roger hüstelt hinter vorgehaltener Hand. »Ach, bevor ich's vergesse«, fügt Sydney hinzu. »Roger bekommt Wendells Stellplatz.«
Die Abteilung Kantine und Catering schleppt Ausrüstung durch die Eingangshalle. Öfen, Geschirr, Mitarbeiter — alles muss raus. Gretel, die Rezeptionistin, sitzt schniefend hinter ihrer orangefarbe nen Empfangstheke. Die Kantinenbelegschaft ist gerührt. Dass sie vermisst werden — wenn auch nur von einer Rezeptionistin —, gibt ihnen ein besseres Gefühl, da nehmen sie die Entlassung nicht mehr ganz so schwer. Denn auch wenn es Outsourcing genannt wird, ist es im Grunde ein Rauswurf, eine Kündigung durch die Hintertür. Es ist schrecklich, entlassen zu werden. So als würden dich deine Eltern auffordern, dein Zimmer zu räumen und aus dem Leben dei
ner Familie zu verschwinden; und es ist noch schlimmer, wenn das Unternehmen in deiner Abwesenheit fröhlich weitermacht, ohne überhaupt einen Unterschied zu bemerken. Das ist fast so, als wür dest du auf der Straße deiner Exfamilie begegnen, die gerade la chend zu einem Kinobesuch unterwegs ist. Nach dem Rauswurf willst du eigentlich nur noch, dass dein Unternehmen einen ra schen, öffentlichkeitswirksamen finanziellen Zusammenbruch er leidet, der unmittelbar auf deinen Abschied zurückgeführt werden kann. Aber als Ersatz ist jemand, der bei deinem Abgang weint, auch nicht schlecht. »Jetzt komm schon«, sagt einer der Kantinenleute. »Wir sind doch morgen wieder da und liefern. Wir arbeiten bloß nicht mehr hier im Haus.« Gretel schüttelt den Kopf, untröstlich. Die Kantinenmitarbeiter lä cheln sich traurig und ein wenig verwirrt zu. Sie laden ihre Ausrü stung in den Lastwagen, der vor der Eingangstür wartet, und stehen mit den Händen in den Taschen da, als er wegfährt. Es gibt einen speziellen Lastwagen für die Ausrüstung, weil ihn die Firma, die die Auftragsausschreibung zur Verpflegung von Zephyr gewonnen hat, gekauft hat; für die Mitarbeiter gibt es keinen Wagen. Sie sehen ihm nach, bis er im Verkehr auf der Madison Street verschwunden ist. Dann schütteln sie sich die Hände, umarmen sich und machen sich auf den Weg zu ihren eigenen Autos. Einer von ihnen schlüpft noch einmal schnell in die Eingangshalle, um Gretel ein letztes Le bewohl zu sagen. »Bis morgen dann, Süße.« »Nein, nein«, erwidert sie. Sie weiß, sie wird sie nie wiedersehen.
Am nächsten Montag kommt Jones zeitig an und stellt seine Müh le in den Tiefen der Mitarbeitergarage ab. Dann steuert er den Bar nes-and-Noble-Laden um die Ecke an, um sich in der Wirtschaftsab teilung umzutun. Er hält Ausschau nach etwas mit dem Titel Das Omega-Managementsystem. OMS bezeichnet die neueste Mode in einer Tradition, die zurückreicht über Six Sigma und Qualitätsma nagement bis hin zum Schröpfen kranker Patienten und zur Investi tion in Tulpen. OMS ist der letzte Schrei; sogar in Sydneys Büro hat Jones ein Exemplar gesehen. Um also auf sichtbare Weise zu doku mentieren, dass er eine aufstrebende Nachwuchskraft mit Manage mentpotential ist, ist der Griff zu einem OMS-Buch nach Jones' Ein schätzung sicherlich kein ungeschickter Schachzug. Und sollte er dabei auch noch etwas lernen, freut es ihn umso mehr. Es stellt sich heraus, dass es nicht nur ein Buch gibt, sondern drei Regalbretter voll. Jones wühlt sich durch die Kurzfassungen, revi dierten Versionen und Romanadaptionen, bis er eine Fassung »Für den Neumanager« findet. Mit seiner Beute strebt er hinüber ins la deneigene Cafe und bestellt sich einen Latte macchiato. Er blättert in dem Buch, als eine junge Frau an der Kasse seinen Blick erhascht. Sie lächelt ihm zu und streift sich eine blonde Strähne hinters Ohr. Jones setzt sich aufrechter hin. Die Frau bedient einen Kunden, und Jones ist jetzt total abgelenkt von seinem Buch. Als sich die Schlange zehn Minuten später aufgelöst hat, trinkt er seinen Kaffee aus und geht zur Kasse. Die Frau lächelt ihn an. »Hi.« »Hi« Er reicht ihr das Buch. Sie ist sehr hübsch. »Sie haben ja ziemlich vertieft ausgesehen da drüben an Ihrem Tisch.«
Sie hat ihn also beobachtet! Jones fragt sich, ob es der Anzug ist. So was ist ihm noch nie passiert, bevor er eine Krawatte getragen hat. »Ich hab gerade bei einer Firma angefangen. Da muss ich üben, dass ich schwer beschäftigt aussehe.« Sie lacht. »War auf jeden Fall ziemlich überzeugend.« Sie führt ih ren Scanner über das Buch und wirft einen Blick auf den Umschlag. »Das Omega-Managementsystem. Praxiserprobte Methoden, um aus Un ternehmensnieten Superstars zu machen. Und was sind Sie?« »Eine Niete. Aber eine mit Ehrgeiz.« »Ja ja, der Ehrgeiz. Ein bisschen was davon könnte ich auch ge brauchen.« Sie schlägt das Buch an einer beliebigen Stelle auf. »In Unternehmen, die in jedem Fall ein ärztliches Attest verlangen, gibt es 6 Prozent weniger Krankheitstage als in Unternehmen, die kein Attest verlangen. Für ein durchschnittliches Fortune-500-Unter nehmen ergibt sich daraus ein Produktivitätszuwachs von 0,4 Pro zent.« Sie schaut ihn unsicher an. »Ist das ernst gemeint?« »Na ja, jedenfalls interessant«, findet Jones. »So soll wohl ein Missbrauch des Systems durch die Mitarbeiter verhindert werden.« »Ich muss meinem Chef auch immer ein Attest vorlegen, selbst wenn ich nur einen Tag fehle. Und am Ende bin ich zweimal so lang krank, weil ich mit dem blöden Bus ins Krankenhaus fahren muss.« »Ja, kann mir vorstellen, dass das nervt. Aber das haben sie wahr scheinlich schon mit einbezogen.« »Mit einbezogen?« Jones räuspert sich. »Ich meine, Unternehmen müssen alles aus ih ren Beschäftigten rausholen. Das ist eben Business. Je leistungsfähi ger die Arbeitskräfte, desto besser das Unternehmen.«
»Ich würde gern für Sie arbeiten.« Sie lächelt jetzt nicht mehr. »Mann, Sie wären echt ein toller Chef.« »Könnte ich bitte mein Buch haben?«
Jones hat kaum drei Schritte in die Abteilung Schulungsverkauf gemacht, da taucht über der Berliner Mauer Rogers Kopf auf. »Jo nes, Jones. Hast du mal eine Minute für mich?« Er geht zur Kaffee maschine. Jones folgt ihm mit der Aktentasche in der Hand. Roger senkt die Stimme. »Hast du was über meinen Donut gehört?« Jones blinzelt verwirrt. »Was, du meinst, wo er ist?« »Nein. Ich meine, hat Holly erzählt, wer ihn genommen hat?« »Ich dachte, Wendell hat deinen Donut genommen.« Roger schüttelt den Kopf. »Am Freitag beim Rausgehen ist er mir zufällig über den Weg gelaufen. Hat ziemlich übel ausgesehen. Wollte über die alten Zeiten reden ... Irgendwie hatte ich den Ein druck, dass er ihn vielleicht doch nicht genommen hat.« »Ach«, sagt Jones tonlos. »Jetzt habe ich Elizabeth im Verdacht. Du kennst die Vor geschichte nicht, aber ihr ist so was absolut zuzutrauen. Halt weiter die Ohren offen. Vielleicht entschlüpft Holly mal was. Und wenn, dann lass es mich wissen.« »Okay.«
»Guter Mann.« Roger zwinkert. Er fixiert die Kaffeekanne, die leer ist. »Wolltest du gerade Kaffee machen?« »Muss nur noch schnell meine Aktentasche abstellen.« Mit einem mulmigen Gefühl geht Jones nach Ostberlin. Plötzlich kann er sich vorstellen, dass Roger bei seiner rastlosen Jagd nach dem Donutdieb einen Mitarbeiter nach dem anderen feuern lässt, bis schließlich die ganze Abteilung gesäubert ist. »So so.« Freddy schaut nicht von seinem Computer auf. »Der neue Verkaufsstar der Abteilung.« Jones zögert. »Freddy, mir ist das auch peinlich. Aber es ist ja so wieso keine echte Beförderung. Nur ein Haufen zusätzliche unbe zahlte Arbeit.« »Was? Ach so. Nein, ich meine, du bist wirklich der Topverkäu fer.« »Was?« Jones tritt heran und blickt auf Freddys Monitor. Gleich wird er herausfinden, weshalb er um halb neun der Letzte ist, der zur Arbeit erscheint. Roger und Elizabeth ackern bereits angest rengt, um Aufträge abzublasen. Am Freitagnachmittag haben sie Sydney praktisch sagen hören: Vertreter, die zu viele Provisionen ver dienen, schmeiße ich raus. Elizabeth ist seit halb acht da. Als sie an kam, saß Roger schon an seinem Schreibtisch und hinterließ seinen Kunden die Nachricht, dass der von ihm genannte Preis falsch ist, viel zu niedrig. Außerdem hat es ganz den Anschein, als könne die Abteilung Schulungsdurchführung auf Monate hinaus keine Auf träge mehr erfüllen. Auch wenn es ihr schier das Herz brach, schnappte sich Elizabeth das Telefon und machte sich daran, ihren Kunden mit leiser, gequälter Stimme zu erklären, dass es mit ihren
Aufträgen leider nicht klappt; dass es nicht an ihnen liegt, sondern an ihr; dass sie sich außerstande sieht, ihren Anfragen nachzukom men. »Roger ist schon bei minus achtzig«, berichtet Holly von der ande ren Seite des Gangs. »Elizabeth ist bei minus dreihundert. Sie hat den Großauftrag aus der Marketingabteilung vom letzten Monat stornieren lassen.« Holly kann nicht verhindern, dass ein wenig Stolz in ihrer Stimme mitschwingt. »Schaut nach reichlich Arbeit für dich aus«, meint Freddy. »Du willst doch die anderen Vertreter nicht schlecht dastehen lassen. Sie könnten sich schwer tun, die stornierten Aufträge zu erklären, wenn du ständig neue an Land ziehst.« Jones' Blick huscht hilflos zwischen Freddy und Holly hin und her. »Schon gut«, lenkt Freddy ein. »Ich helf dir.« »Danke, danke.« Jones atmet aus. »Aber zuerst muss ich Kaffee für Roger machen.«
Ein wunderschönes Augenpaar beobachtet Jones, als er zur Kaf feemaschine geht. Es gehört Megan, der Sekretärin. Megan ist über gewichtig, ihre Haut ist ein Katastrophengebiet, und obwohl sie schon alles probiert hat, sieht ihr Haar aus, als hätte sie auf dem Weg zur Arbeit keinen Regenschirm dabeigehabt. Doch ihre Augen
sind hinreißend. Häufig wird von Schlafzimmeraugen geredet — bei Megan ist es eine ganze Suite. Mit einer Hand greift sie nach ihrer Computermaus. Das Kabel schlängelt sich durch das Heer von Bären, ohne auch nur einen um zuwerfen. Auf dem Bildschirm klickt sie eine Datei mit dem Namen JAKTIVITÄT.TXT an. Sie scrollt nach unten zu 23/8 und tippt bedäch tig ein: 8.49 KAFFEE. Megan ist verknallt. In Jones' hellbraunes Haar, seinen schlanken Körper, seine frisch gestärkten, blendend weißen Hemden. Sie liebt alles an ihm, das ganze Drum und Dran. Sie liebt, wie er von einem Ort zum anderen schreitet. Dass er die Dinge klar und direkt angeht — aber nicht auf die arrogante Tour wie ein Manager (oder ein Ver kaufsvertreter). Er versucht nicht ständig, die Leute zu beeindru cken — im Gegensatz zu Roger. Er gibt dir nicht zu verstehen, dass du seiner Meinung nach etwas falsch gemacht hast oder kurz davor stehst, etwas falsch zu machen — im Gegensatz zu Elizabeth. Er wechselt nicht die Rollen, je nachdem, mit wem er gerade redet. Er ist einfach nur Jones: frisch, unbefangen und absolut entzückend. Sie hat angefangen, sich erotische Szenarien auszumalen: Jones kommt herüber, um sich einen Hefter zu borgen, und sie packt ihn an der Krawatte und zieht ihn zu sich heran. Erschrocken reißt er die Augen auf, als ihre Lippen aufeinander prallen, seine Hände berühren sie, vorsichtig zuerst, dann mit wachsender Leidenschaft, während sie auf ihren Schreibtisch klettern und die Keramikbären beiseite schieben (ganz behutsam, keiner geht zu Bruch), sein Blick hängt an ihrem — ja! Ja!
Wenn er an seinem Schreibtisch sitzt, kann sie über der Trenn wand nur sein Haar sehen. Manchmal streckt er sich, und sie regist riert seine Arme, eine kurze Bewegung des Handgelenks vielleicht. Dann klopft ihr Herz ganz fest. In solchen Fällen öffnet sie JAKTIVITÄT.TXT, trägt
die Zeit ein und schreibt: STRECKEN.
Niemand darf von dieser Datei erfahren. Da würde sie lieber ster ben. Die Leute würden sie schief anschauen. Sie würden nicht ver stehen, dass sie ihm damit nur nahe sein will. Sie hat noch nie mit ihm gesprochen. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie ihm vor zustellen. Er wurde nur auf sie hingewiesen, so wie auf das Kopier gerät und andere nützliche Gegenstände der Büroeinrichtung. Sek retärinnen genießen bei Zephyr Holdings keinen Respekt, das weiß Megan. Sie sind die Fremdarbeiter ohne Aufenthaltsgenehmigung des Unternehmens; ihre Existenz wird geduldet, aber niemand will wirklich was mit ihnen zu tun haben. Sekretärinnen sind so aus tauschbar wie die Teile eines Baukastens. Wenn eine rausgerollt wird und eine andere ihren Platz einnimmt, bemerkt das kaum je mand. Niemand macht sich die Mühe, eine Sekretärin richtig an zuschauen, das hat Megan feststellen müssen. Die Blicke gleiten einfach über sie hinweg. Und es gibt keine größere Verschwendung auf der Welt als eine Sekretärin mit schönen Augen, weil niemand sie je sieht.
Es kursieren Geschichten — eigentlich eher Legenden — über »fe ste Arbeitsplätze«. Alte Hasen versammeln Anfänger um das flak kernde Licht eines Computermonitors und erzählen, wie es früher im Unternehmen war, als ein Beschäftigungsverhältnis noch fürs ganze Leben galt und nicht nur für einen Geschäftszyklus. In dieser Zeit gab es noch Festdiners für Mitarbeiter, die es — lach nicht, es stimmt wirklich! — auf fünfundzwanzig Dienstjahre gebracht hat ten. In dieser Zeit haben die Menschen noch nicht alle fünf Minuten den Job gewechselt. Wenn du durch den Gang gelaufen bist, hast du alle gekannt, denen du begegnet bist; ja sogar die Namen ihrer Kin der hast du gewusst. Die Anfänger kichern. Eine feste Arbeit! So was haben sie noch nie gehört. Sie kennen nur flexible Arbeit. Damit sind sie an der Busi ness-School aufgewachsen, und sie haben es am eigenen Leib erfah ren, wenn sie zwischen den Kursen eine Registrierkasse bedient oder Regale aufgefüllt haben. Flexibilität ist Trumpf, wer will schon was Festes — das ist doch öde, starr, monoton. Dank flexibler Jobs können Mitarbeiter am Auf und Ab ihres Unternehmens teilhaben; na ja, am Auf vielleicht weniger. Aber in schwierigen Zeiten geht es nur den flexiblen Unternehmen gut. Demgegenüber humpelt ein Unternehmen mit festen Arbeitsplätzen dahin, als hätte es einen Klotz am Bein. Die Uniabsolventen haben die Managementlehrbücher ge lesen und kennen die Wahrheit: Langjährige Angestellte sind über holt und gehören ins letzte Jahrhundert. Verstehst du, im Grunde sind doch die Mitarbeiter das Problem. Du zahlst, wenn du sie einstellst, du zahlst, wenn du sie raus schmeißt, und dazwischen musst du sie auch noch bezahlen. Sie
brauchen Visitenkarten. Sie brauchen Computer. Sie brauchen Aus weiskarten und Unbedenklichkeitsbescheinigungen und Telefone und Klimaanlagen und einen Platz zum Hinsetzen. Du musst sie zu Teambesprechungen außerhalb des Hauses transportieren. Sie wer den schwanger. Sie verletzen sich. Sie stehlen. Sie treten Religions gemeinschaften mit starren Auffassungen darüber bei, wann arbei ten zulässig ist. Wenn sie ihre E-Mails lesen, öffnen sie jeden An hang, den sie bekommen, und wenn sie E-Mails schreiben, brocken sie dem Unternehmen enorme Haftungschäden ein. Sie kommen ohne irgendwelche nützlichen Fähigkeiten, und wenn du sie aus gebildet hast, gehen sie wieder. Erwarte bloß keine Dankbarkeit von ihnen! Wenn sie nicht krankfeiern, verlangen sie Urlaub aus drin genden familiären Gründen. Wenn sie nicht mit Kollegen klönen, beschweren sie sich über sie. Sie halten es für ihr unveräußerliches Recht, Körperschmuck zu tragen, der die Kunden verschreckt. Sie sprechen über (auch das noch, meine Güte) gewerkschaftliche Or ganisation. Sie wollen Gehaltserhöhungen. Sie möchten Anerken nung vom Management, wenn sie gute Arbeit leisten. Sie wollen wissen, was bei der nächsten Umstrukturierung des Unternehmens passiert. Und dann die Prozesse! Die Prozesse! Sie verklagen dich wegen sexueller Belästigung, wegen Sicherheitsmängeln am Ar beitsplatz und wegen Diskriminierung in zweiunddreißig verschie denen Geschmacksrichtungen. Wegen — das musst du dir mal vor stellen — unrechtmäßiger Kündigung! Dabei sind sie doch über haupt nur hier, weil du sie in die Firma geholt hast! Und plötzlich sollst du ein Leben lang für sie verantwortlich sein?
Ein wirklich flexibles Unternehmen — da zieren sich die Lehrbü cher und wollen nicht mit der Sprache herausrücken, aber schlaue Studenten merken natürlich, wo es langgeht — beschäftigt über haupt keine Mitarbeiter. Das ist der wundersame Sirenengesang des Outsourcings, die Verlockung des Subunternehmertums. Lass dir bloß mal diese Worte auf der Zunge zergehen: keine Mitarbeiter. Tol les Gefühl, oder? Stark. Gesund. Geschmeidig. O ja, ein Unter nehmen ohne Angestellte wäre etwas Wunderbares. Sollen sich die Arbeiter doch selber dem Konkurrenzdruck stellen. Sollen sie sich doch selbst im freien Markt bewähren. Die Erzählungen der alten Hasen sind Märchen, Träume aus einer Welt, die es nicht mehr gibt. Sie beruhen auf der absurden Annah me, dass die Menschen einen Anspruch auf Beschäftigung haben. Die Uniabsolventen wissen es besser; sie haben gelernt, dass es nicht so ist.
»Als Erstes«, sagt Freddy zu Jones, »brauchst du eine Liste deiner Kunden. Hast du eine Liste?« »Nein.« »Die kann Holly dir besorgen.« »Hey, hol dir deine eigene Assistentin. Ich arbeite für Elizabeth.« Freddy schaut sie an. »Du machst dir doch sowieso bloß die Haa re.«
»Einige Leute trainieren am Morgen, weißt du.« Hollys Kopf liegt auf einer Schulter, und ihr Haar hängt als geschlossene Fläche nach unten. Diese bearbeitet sie mit einer Bürste und einer derartigen Heftigkeit, dass Jones zusammenzuckt. »Ich dachte, du gehst nach der Arbeit in den Fitnessraum.« »Mach ich auch.« Ihr Blick wandert kritisch über Freddys Körper. »Du könntest auch ein bisschen Training vertragen.« »Das glaube ich nicht.« Jones
geht
dazwischen.
»Können
wir
zum
Thema
zu
rückkommen?« Sie sehen ihn an. »Der Herr Jungmanager persönlich, oder was?«, stichelt Holly. »Ich wollte nur ...« »Gut, ich druck dir deine Kundenliste aus. Aber lass mich bitte noch fertig frisieren.« »Du bist die Beste.« Freddy manövriert seinen Bürostuhl um die Trennwände und rollt hinüber in Jones' Zelle. »Ich ruf jetzt einen von Wendells Kunden an, und du hörst zu. So kriegst du am schnellsten die Strategien mit, auf die es ankommt.« Jones nickt begeistert. »Danke. Das ist super.« Freddy schaltet auf Lautsprecher. »Hi, hier ist Freddy Carlson von Zephyr, Abteilung Schulungsverkauf. Sie haben letzte Woche bei uns achtzig Schulungsstunden geordert, ist das richtig? Also, diese Bestellung muss storniert werden.« »Wieso, was ist denn los?«
»Die Schulungen sind für wie viele, für drei Leute? Das ist doch lächerlich. Wozu brauchen Sie achtzig Schulungsstunden für drei Leute?« »Ah ... es gab einen Grund ... der Verkaufsvertreter, Wendell, hat es mir erklärt.« »War die Rede vom Gesamtkostenansatz? Diese Zahlen sind näm lich frei erfunden. Nein, warten Sie, hat er was von einer neu gestal teten Produktpalette gesagt? Wir haben nur die Vorderseite der Prospekte geändert.« »Warum wollen Sie unbedingt, dass ich den Auftrag storniere?« Der Mann klingt auf einmal misstrauisch. »Seid ihr überbucht?« »Ich will Ihnen nur helfen. Wirklich, unsere Kurse sind grotten schlecht. Es ist immer die gleiche Teamwork-Botschaft, nur unter verschiedenen Namen verpackt.« »Ich hab nichts mit Teamwork bestellt. ›Leitung von C++ Programmierern im Rahmen terminsensibler Projekte‹ — das wollte ich.« »Das ist der Teamwork-Kurs. Und alle anderen sind auch der Teamwork-Kurs!« »Vielleicht sollte ich noch mehr Kurse bestellen, wenn sie so schnell ausgebucht sind. Habt ihr was über Best Practice für den Arbeitsablauf in Kleingruppen?« Freddy erstarrt. Dann drückt er auf die Sprechtaste. Jones blinzelt. »Hast du einfach die Leitung unterbrochen?« »Das ist schwieriger, als ich dachte.« »Hey«, ruft Holly von ihrem Schreibtisch aus. »Passt auf den Drucker hinter euch auf. Die Kundenliste.«
»Vielleicht bin ich deswegen kein Verkaufsvertreter.« Freddy kaut an seiner Lippe. »Können wir die Aufträge einfach streichen, ohne es jemandem zu sagen, was meinst du?« »Glaub ich nicht«, antwortet Holly. »Da sind bestimmt schon Schecks gekommen. Und auch Zahlungen.« Jones holt den Ausdruck. Er hält ihn Holly hin. »Ist es das?« »Ja.« »Aber das kann nicht stimmen.« »Wieso, was ist denn?« »Das sollen meine Kunden sein?« Infrastruktur Verwaltung - Gebäudetechnik
Infrastruktur Verwaltung - Fuhrpark
Infrastruktur Verwaltung - Innenausstattung
Infrastruktur Verwaltung - Anschaffungen
Infrastruktur Verwaltung - Feuer und Notfälle
Marketing - Corporate
Marketing - Markenpolitik
Marketing - Public Relations
Marketing - Intern
Marketing - Direkt
Marketing - Ablauf
Marketing - Marktforschung
Infrastruktur Pflege - Leitung
Infrastruktur Pflege - Anschaffungen
Infrastruktur Pflege - Reinigungsteams
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Infrastruktur Pflege - Kleingeräte
Infrastruktur Pflege - Klimaschutz
Infrastruktur Pflege - Großgeräte
So geht es noch drei Seiten weiter. Holly wundert sich: »Wo ist das Problem?« »Das sind doch interne Abteilungen.« »Na und?« »Soll das heißen, wir verkaufen Schulungspakete an andere Zephy rabteilungen?« »Hast du das nicht gewusst?« »Nein, ich dachte, unsere Kunden sind andere Unternehmen!« Holly und Freddy brechen in Lachen aus. Freddy kriegt sich nicht mehr ein. »Ich glaub es nicht.« »So funktioniert Zephyr eben«, erklärt Holly »Die Infra strukturverwaltung stellt unserer Abteilung Parkplätze und Büro raum in Rechnung. Der Fuhrpark stellt uns Dienstautos in Rech nung. Und wir stellen anderen Abteilungen die Schulungen in Rechnung. Das heißt, eigentlich macht das die Schulungsdurchfüh rung. Wir bekommen nur eine Provision.« »Das dient alles der effizienten Kostenverteilung.« Freddy hat sich wieder beruhigt. »Oder so.« »Aber ich dachte, Zephyr ist ein Schulungsunternehmen. Wenn wir keine Schulungen machen, was machen wir denn dann?« »Du meinst, so insgesamt?«, fragt Holly. »Ja!« Sie zuckt die Schultern. Jones starrt sie an. Sie verschränkt defen siv die Arme. »Was unsere Abteilung macht, weiß ich. Aber Zephyr ist ein großes Unternehmen.« Jones sieht Freddy an.
»Frag mich nicht. Das Unternehmen macht viele Sachen, Jones.« »Gibt's dabei auch was, wo es um den Verkauf von Dingen an Leute geht, die nicht in diesem Gebäude arbeiten?« Freddy kratzt sich am Kinn. Holly springt in die Bresche: »Ir gendwas gibt es bestimmt.« Jones fühlt sich ganz schwach. Er hat eine Stelle angenommen, oh ne zu wissen, was sein Arbeitgeber eigentlich macht. Freddy fällt etwas ein. »Ich weiß, wer unser Hauptkonkurrent ist, wenn dir das weiterhilft. Boreas. Boreas stellt immer unsere Exmi tarbeiter ein.« Holly stößt ein kurzes, verächtliches Schnauben aus. »Verräter.« Jones hat noch nie von Boreas gehört. »Was machen die?« Holly und Freddy schauen sich an. »Das gibt's doch nicht!« »Man kann hier nicht einfach rumlaufen und Fragen nach Boreas stellen«, rechtfertigt sich Freddy. »Wie würde das denn aussehen? Außerdem, wenn jemand zu Boreas geht, wird er zum Feind. Dann kann man ihn nicht mehr anrufen und ihn fragen, wies ihm so geht. Man muss die Firmengeheimnisse wahren.« »Was für Geheimnisse denn? Ihr wisst doch überhaupt nichts!« »Erinnerst du dich noch an Jim?« Hollys Blick gleitet zu Freddy hinüber. »Als er gegangen ist, war ich traurig. Ich wäre gern mit ihm in Kontakt geblieben.« Jones' Telefon klingelt. Er greift über Freddys Schulter nach sei nem Handapparat, aber Freddy kommt ihm zuvor und drückt auf LAUTSPRECHER. »Ist dort die Beschaffung?« »Ah, ja.«
»Sie sind Rogers Kunde! Warum rufen Sie diese Nummer an?« »Ach, tut mir leid, ich dachte, ich hätte Roger angerufen.« »Nein, haben Sie nicht!« Freddy würgt das Gespräch ab. Er steht auf und tritt an seinen Schreibtisch. »War das nötig?«, sagt Jones. Freddy schnappt sich sein Telefon. »Ich muss was ausprobieren.« Jones' Apparat läutet. »Hallo?« Freddy jault. Jones kriegt es in Stereo: von der anderen Seite des Gangs und aus seinem Hörer. »Roger hat sein Telefon auf automati sche Weiterleitung gestellt!« Er rennt wieder zu Jones' Schreibtisch und fängt an, Tasten zu drücken. »Hey Jones«, setzt Holly an. »Diese Sache mit dem, was das Un ternehmen macht, das darfst du nicht so eng sehen. Als ich hier an gefangen habe, war ich genauso. Aber dann gewöhnt man sich dar an. Bei Zephyr gibt es einiges, was ziemlich sinnlos ist, das ist ein fach so. Sydney beispielsweise ist zur Abteilungsleiterin befördert worden. Einer der besten Stellplätze ist immer leer, und damit mei ne ich wirklich immer, aber wir dürfen ihn nicht benutzen. Letzten Monat mussten wir eine Präsentation über uns ergehen lassen, bei der es um das Vermeiden von Verschwendung ging. Wir haben einen Haufen PowerPoint-Folien zu sehen gekriegt, ein Typ hat vorgelesen, was auf den Folien stand, und am Schluss hat er jedem von uns noch einen Ausdruck gegeben. So was verstehe ich nicht. Eigentlich verstehe ich überhaupt nichts an diesem Unternehmen. Aber so ist es nun mal. Wie bei dieser Geschichte mit den Affen, du weißt schon.«
»Schimpansen«, verbessert Freddy Er drückt auf die Tasten von Jones' Telefon. »A-ha. Jones, deine Anrufe werden jetzt automatisch zu Elizabeth weitergeleitet.« Holly faltet die Hände auf dem Schreibtisch. »Also, diese Schim pansen sind in einem Käfig, und die Wissenschaftler halten einen Stock mit einer Banane rein. Die Schimpansen stürzen sich natürlich darauf, aber sobald sie das machen, setzen die Wissenschaftler den Boden unter Strom, und alle Schimpansen kriegen einen Schlag. Das geht so lang weiter, bis die Schimpansen begriffen haben, dass das Berühren einer Banane zu einem Stromschlag führt. Okay? Dann nehmen die Wissenschaftler einen Schimpansen raus und setzen einen neuen rein. Als er nach der Banane greift, wird er von allen anderen Schimpansen verprügelt, weil sie keinen Schlag bekommen wollen. Verstehst du?« »Eine schreckliche Geschichte«, findet Jones. »Die Wissenschaftler tauschen nacheinander die Schimpansen aus, bis von den ursprünglichen keiner mehr da ist. Dann setzen sie noch einen rein. Der neue Schimpanse grapscht natürlich nach der Banane, und die anderen vermöbeln ihn, genau wie vorher. Aber weißt du, keiner von ihnen hat je einen Stromschlag gekriegt. Sie wissen gar nicht, warum sie es tun. Sie wissen nur, dass es so ge macht wird.« »Dann bin ich also der neue Schimpanse.« »Du bist der neue Schimpanse. Bemüh dich nicht, das Unternehmen zu verstehen. Mach einfach mit.«
Irgendwo im Bauch des Unternehmens steht ein Computer kurz vor dem Exitus. Es ist ein schlichter Nebenstellenrechner. Seine Aufgabe ist die Steuerung von Telefonanrufen. Seine Software war einmal rein und funktional wie ein Gebirgsbach, doch im Verlauf des letzten Jahrzehnts ist so viel an ihr herumgeflickt, herumge fummelt und herumgedoktert worden, dass sie heute ein dampfender, schwärender Dschungel ist, voll mit tückischem Gestrüpp, das dich zu Fall zu bringen droht, und voller fauchender Raubtiere, die im Schatten hausen. Es gibt einen Weg durch diesen Dschungel, einen deutlich erkennbaren Trampelpfad, und solange du ihm folgst, hast du nichts zu befürchten. Aber schon zwei unachtsame Schritte zur Seite reichen, und der Dschungel frisst dich mit Haut und Haar. Die Software verhindert, dass zwei Telefone ihre Anrufe gegensei tig weiterleiten, denn das würde zu einer sogenannten Endlosschlei fe führen, einer ganz besonders brutalen Methode, einen Computer zu massakrieren. Die Endlosschleife ist für die Informationstechno logie das, was die fahrlässige Tötung für die Rechtsprechung ist: eine Verletzung der Sorgfaltspflicht mit fatalen Folgen für das Op fer. Daher wird der Dschungelpfad an dieser Stelle von einer star ken Holzabsperrung gesichert. Was die Software allerdings nicht verhindert — nicht mehr, nicht nach zehn Jahren schneller Hacks zur Erfüllung ganzer Listen von wechselnden Wünschen aus sämt lichen Abteilungen —, ist ein Weiterleitungszirkel, in dem Mitarbei
ter A (zum Beispiel Roger) seine Anrufe an B (Jones) weiterleitet, der seine Anrufe an C (Elizabeth) weiterleitet, deren Anrufe wie derum automatisch bei A (Roger) landen. Hier gibt es keine Absper rung, sondern nur eine tiefe, dunkle Schlucht, in der Wesen mit glit zernden Augen und scharfen Reißzähnen lauern. In diesem Moment nun wählt eine leitende Angestellte aus dem Reisebüro die Nummer ihres Vertreters bei der Abteilung Schu lungsverkauf. Sie möchte Lehrgänge für zwei Telemarketing-Mitar beiter bestellen. Sie brauchen zwar eigentlich keine Schulung, aber sie hat davon Wind bekommen, dass der Schulungsverkauf Aufträ ge storniert. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung mit Zephyr Holdings weiß diese leitende Angestellte eines ganz genau: Wenn jemand will, dass du etwas nicht bestellst, dann musst du dich rein hängen, damit du noch so viel wie möglich davon ergatterst. Bei den Bürostühlen war es genau das Gleiche. Ihr Finger drückt auf die letzte Zahl, eine Sechs. An ihrem Ohr klickt das Telefon. Eine Pause. Dann gehen überall im Gebäude die Lichter aus. Plötzlich und schockierend wie eine Ohrfeige bricht Dunkelheit über Jones, Freddy und Holly herein. Zwei oder drei Sekunden lang ist nur das elektrische Wimmern der absterbenden Drucker und Kopierer zu hören. Die Klimaanlage, deren tiefes, allgegenwärtiges Summen die Mitarbeiter nie bewusst wahrgenommen haben, stößt ein kehliges Todesröcheln aus, und dann senkt sich Stille herab wie eine zusammensackende Markise.
Durch die Jalousien von Sydneys Büro dringen einige schwache Lichtstrahlen und sorgen für eine matt schimmernde, verliesartige Atmosphäre. »Was ist passiert?«, will Jones wissen. »Vielleicht ein Feuer.« Hollys Stimme dringt durch die düsteren Schatten. »Wer war das?«, ruft Megan. »Hat da jemand gesagt, dass es brennt?« »Feuer!«, schreit Roger in Westberlin. »Alle zu den Aufzügen!« »Ich hab nicht gesagt, dass es brennt!« Hollys Protest geht völlig unter in einem Streit über die Frage, ob die Aufzüge bei einem Feuer sicher sind. Es ist ein lauter Streit, denn alle sind überzeugt, dass die Aufzüge nicht sicher sind, nur Roger weiß es besser und beharrt auf seinem Standpunkt. Ein Stuhl wird umgeworfen. Me gan, die nur noch raus will, rennt voll gegen ihren Schreibtisch und hört, wie ihre Bären zu Boden stürzen. Unmittelbar darauf ein lau tes Knirschen. Als der Notgenerator anspringt, flackern für kurze Zeit die Lichter, und Megan sieht, dass sie ein Mutter-TochterBärenset zermalmt hat. Tränen steigen ihr in die Augen. Dann brei tet sich wieder Finsternis aus. »Nicht die Aufzüge nehmen!«, ruft Elizabeth. Sie tastet sich an der Wand entlang, bis sie die Tür zum Treppenhaus erreicht, und zieht am Griff. Er bewegt sich nicht. Einen Sekundenbruchteil lang be herrscht sie die verrückte Vorstellung, dass die Infrastrukturverwal tung die Treppenhaustür verschlossen hat. Dann denkt sie, dass sie sich verlaufen haben muss. Dann merkt sie, sie hat sich nicht verlau
fen. Das ist die Treppenhaustür, sie ist verschlossen, und sie sitzen alle in der Falle. »Wir kommen hier nicht raus!« Voller Panik stoßen die Mitarbeiter gegen alle möglichen Gegen stände und trampeln auf Megans Bären herum. Megan lässt sich hysterisch schluchzend auf Hände und Knie sinken, um sie alle zu retten, das heißt, die Bären. Jones packt im Dunkeln Hollys Hintern, ohne seinen Fehler zu erkennen: der Hintern ist so straff, dass er ihn mit der Lehne eines Bürostuhls verwechselt. Holly bringt vor Schreck kein Wort heraus. Freddy hat völlig die Orientierung verlo ren. Er hält einen Lichtspalt für den Korridor, knallt gegen Sydneys Bürowand und prallt von der Glasscheibe wie ein Gummiball. Sydneys Tür geht auf. Tageslicht strömt in die Abteilung und blendet alle. Wie ein Engel steht Sydneys winzige Gestalt von einer Aureole umflossen in der Tür. »Was treibt ihr hier eigentlich, ver dammt?« Als die Elektrizität wieder da ist und die Telefone wieder funktio nieren — und es dauert lang, bis es so weit ist —, geht es los mit den gegenseitigen Anschuldigungen. Während des Stromausfalls haben zahlreiche Abteilungen bemerkt, dass die Treppenhaustüren ver schlossen waren, und die Infrastrukturverwaltung sieht sich auf einmal mit nicht unerheblichen Animositäten konfrontiert. Die Leu te sind dafür, dass die Abteilung bei der Polizei angezeigt oder so gar ausgelagert wird. In dieser schwierigen Situation wird eine Te lefonkonferenz zwischen dem Vorstand und sämtlichen Abteilungs leitern anberaumt. Die Infrastrukturverwaltung macht geltend, dass sie den Zugang zum Treppenhaus aus Sicherheitsgründen unterbindet. Vor einigen
Jahren ist eine Sekretärin gestolpert, und die Rechtsabteilung hat einen Koller gekriegt, haben das denn alle schon wieder vergessen? In der Folge wurde also ein ausgeklügeltes (und ziemlich kostspie liges) System eingebaut, das die Türen im Notfall automatisch ent riegelt. Natürlich hat es wegen des Stromausfalls nicht funktioniert. Und wer ist daran schuld? Natürlich die Abteilung Informations technologie. Das lenkt die Aufmerksamkeit des Vorstands auf die IT-Spezia listen. Und überhaupt, was ist das eigentlich für eine Abteilung, die zulässt, dass ein Telefonanruf das ganze Haus lahm legt? Eilig er klären die IT-Mitarbeiter, was es mit diesem Telefonanruf auf sich hat. Im letzten halben Jahr ist die Belegschaft der Abteilung um die Hälfte geschrumpft, andererseits werden sie ständig mit neuen Sy stemen belämmert, wie zum Beispiel der Notentriegelung der Infra strukturverwaltung, und diese Systeme müssen überwacht, gewar tet und in die Gesamttechnik eingebunden werden. Mit vierund zwanzig Technikern, die zunehmend unter Stress und Schlafmangel leiden, kämpft die Abteilung darum, die lebenswichtigen digitalen Funktionen des Zephyrorganismus aufrechtzuerhalten, und muss sich dabei auch noch mit Anrufen leitender Manager herumschla gen, die sicher sind, dass sie letzte Woche an jemanden eine E-Mail geschickt haben, der jetzt partout behauptet, sie nicht gekriegt zu haben. Unter solchen Umständen mussten weniger wichtige Aufga ben zurückgestellt werden — wie etwa die Simulation der Folgen eines GAUs im Nebenstellenrechner. Weniger wichtig? Weniger wichtig? Der Vorstand hofft, dass sich die Informationstechniker einen Witz erlaubt haben. Das ganze Ge
bäude lahm gelegt! Der Vorstand möchte von der Informations technologie hören, und zwar sofort, dass sie erstens verstanden hat, was schief gelaufen ist, und zweitens versprechen kann, dass so etwas nie wieder vorkommt. Das musst du dem Vorstand wirklich lassen: Er versteht sich darauf, ein Ziel zu formulieren. Die Strategie zur Erreichung dieses Ziels mag unklar sein und eine Umsetzung nicht in Sicht, aber der Vorstand hat eine klare Vorstellung davon, was Chefsache ist. Die IT-Abteilung weiß ganz genau, was schief gelaufen ist, bis hin zur Zeilennummer des verantwortlichen Codes. Die Techniker fan gen an, mehrere mögliche Lösungen zu erklären. Doch dabei fallen verwirrende Begriffe wie »automatische Ausfallsicherung«, und dem Vorstand reißt der Geduldsfaden. Ohne lange Überlegung kommt er zu der einzig möglichen Schlussfolgerung: In der Abtei lung Informationstechnologie sitzt ein Haufen Idioten, der den Zu gang zum Treppenhaus verriegelt hat. Damit ist das Räderwerk in Gang gesetzt: Bis Ende der Woche wird der gesamt IT-Bereich aus gelagert. Bei einem TV-Abendessen aus der Mikrowelle blättert Jones durch Das Omega-Managementsystem. Jones wohnt in einem vierstöckigen Haus ohne Aufzug, das seine Mieter mit bröckelnden Gipswänden und lebensgefährlichen Stromschaltungen erfreut. Bis vor kurzem haben hier auch noch Tim und Emily gehaust, seine Kommilitonen von der Washington University. Tim war ein unglaublicher Koch, und Emily war insgesamt unglaublich, zumindest für Jones. Eines Abends gestand er ihr im Gang vor dem Bad seine Gefühle, und sie fand ihn süß und mochte ihn auch sehr gern, aber es ging nicht,
denn das wäre furchtbar unfair gegen Tim gewesen. Das war vor vier Monaten, und Jones konzentrierte sich mit der Präzision eines Lasers auf das Ende seiner Studienzeit, das gleichzeitig auch einen Schlussstrich unter ihr Dreierarrangement ziehen würde. Als er am Tag seiner letzten Prüfung nach Hause kam, saßen Tim und Emily händchenhaltend auf dem Sofa und warteten auf ihn. »Wir wollten es dir nicht früher sagen«, erklärte Tim, »das wäre dir gegenüber nicht fair gewesen.« Jetzt lebt Jones allein und isst Mahlzeiten aus der Mikrowelle. Er schlägt den Abschnitt über Stellenabbau auf. Eine Entlassung, so das Buch, ist eines der qualvollsten und bedrückendsten Ereig nisse, die Sie je erleben werden. Zunächst geht Jones davon aus, dass mit »Sie« der entlassene Mitarbeiter gemeint ist, doch dann wird ihm klar, dass hier der Manager angesprochen ist. Dem Buch zufolge kann ein Stellenabbau höchst destabilisierend wirken: Die Mitarbeiter kümmern sich auf einmal nicht mehr um ihren Job, sondern machen sich Gedanken, ob sie ihn verlieren werden. Dann werden eine Reihe von Strategien beschrieben, mit denen sich Ma nager diese Furcht und Unsicherheit zunutze machen und sie in JuJutsu-Manier in einen motivierenden Faktor verwandeln können. Völlig unerwähnt bleiben in dem Buch — zuerst fällt es Jones gar nicht auf, doch dann, nach mehrfachem Vor- und Zurückblättern, wird es ihm klar — die gekündigten Mitarbeiter. Kein Wort darü ber, wie sie sich zum Beispiel fühlen oder was danach mit ihnen passiert. Irgendwie unheimlich. Fast als würden sie nach ihrer Ent lassung aufhören zu existieren.
Q 3/3:
September
Am Morgen stößt Jones bei seiner Ankunft vor der Glastür zur Eingangshalle auf den rauchenden Freddy. »Hi, Freddy. Wie kommt es, dass außer dir niemand hier draußen raucht?« Freddy zuckt die Achseln. »Mir gefällt's hier. Die meisten gehen hinten raus oder an der Seite. Mache ich auch manchmal.« Jones späht durch das getönte Glas hinein. Weder Gretel noch Eve sind an ihrem Platz, doch auf Eves Schreibtisch liegt ein riesiger Blumenstrauß. Jones sieht Freddy an. »Was ist?« »Schickst du der Rezeptionistin Blumen?« Freddy zuckt zusammen. »Wie kommst du darauf?« Jones gluckst in sich hinein. »Was ist?« »Das war ein klares Ja. So was sagen nur schuldbewusste Leute. Sie wollen nicht lügen, also fragen sie: ›Wie kommst du darauf?‹«
»Ich ...« Freddy wartet, bis der Hausmeister, ein älterer Mann mit silbernem Schopf und blauem Overall, vorbei ist. Jones klassifiziert den Mann im Kopf: Abteilung Infrastrukturpflege, Unterabteilung Reinigungsteams, einer von Jones' potentiellen Kunden. Freddy neigt sich vor und taucht Jones in seinen Zigarettenatem. »Sag ihr bloß nichts.« »Du schickst die Blumen anonym?« »Natürlich! Hast du sie dir schon mal angeguckt? Die redet doch gar nicht mit mir.« »Ich weiß nicht, sie kommt mir eigentlich ganz nett vor.« Freddy schüttelt emphatisch den Kopf. »Sie darf es nie erfahren.« »Wenn du ihr nicht sagen willst, von wem die Blumen sind, war um schickst du sie dann überhaupt?« »Weil sie so schön ist.« »Das ist nett von dir, aber ich wette, sie würde gern wissen, wer ihr diese Blumen geschickt hat. Die haben dich doch bestimmt fünf zig Dollar gekostet.« »Vierzig.« Er zuckt die Achseln. »Pro Woche.« »Pro Woche?« »Ich mach das schon seit einiger Zeit.« Er verlagert das Gewicht. »Was ist?« »Freddy, du musst es ihr sagen.« »Dann ist sie bestimmt enttäuscht. Wahrscheinlich meint sie, sie sind von jemand anders.« »Nein, pass auf, wir lassen uns was einfallen. Vertrau mir. Sie wird begeistert sein, wenn sie rausfindet, dass du ihr die Blumen geschickt hast.«
»Hmm.« Freddys Blick flackert hoffnungsvoll zu Jones, dann wie der weg. »Ich weiß nicht.« Jones sieht auf die Uhr. »Ich muss rein. Ich möchte jemanden vom Vorstand erwischen, bevor sie mit der Arbeit anfangen.« Schockiert weicht Freddy einen Schritt zurück. »Vom Vorstand?« »Ja. Ich möchte wissen, was dieses Unternehmen eigentlich macht.« »Hast du die Schimpansengeschichte nicht gehört? Es spielt keine Rolle!« »Aber das Unternehmen könnte doch irgendwas machen. Und wenn es was Unmoralisches ist?« Freddy starrt ihn mit leerem Gesicht an. »Ich fühle mich einfach besser, wenn ich es weiß. Also werde ich mit einem Vorstandsmitglied reden.« Langsam schüttelt Freddy den Kopf. »Du bist wirklich anders, Jo nes.«
Im siebzehnten Stock — das heißt also, nicht weit über dem Boden — flutet die Morgensonne durch die wandhohen Fenster des Fit nessraums. In den Fängen einer Maschine für Bizeps-Crunches ist Holly mit einer Kommunikationsmanagerin aus der Marketingab teilung ins Gespräch gekommen. Die Kommunikationsmanagerin ist ungefähr fünfundzwanzig und hat einen Pferdeschwanz, der bei
ihrem flotten Powerwalk auf dem Laufband munter von einer Seite zur anderen schwingt. Die Unterhaltung macht Holly Spaß, doch allmählich wird sie neidisch auf diesen neckischen Pferdeschwanz. »Erst mussten wir die etatüberschreitende Werbung streichen«, erzählt die Kommunikationsmanagerin. »Dann die ganze Werbung. Danach hatten wir nur noch Marktforschung und PR. Doch in letz ter Zeit haben wir nicht mal mehr die gemacht.« »Und was macht ihr dann?«
»Nichts. Wir haben kein Budget mehr.«
»Überhaupt nichts mehr?«
»Seit Juni ist Sense.« Die Kommunikationsmanagerin zwinkert.
»Aber sag es nicht weiter. Bisher hat noch keiner was mitgekriegt.« »Häh?«, macht Holly. »Davor hatten sie uns ganz schön im Schwitzkasten. Dreimal sind wir in einem Monat wegen Kostenüberschreitung abgemahnt wor den. Doch jetzt sind alle total happy. Die Moral ist wieder bestens.« »Aber was treibt ihr denn den ganzen Tag?« »Ach, wir arbeiten natürlich trotzdem. Und sogar härter als je zu vor. Jeden Tag finden wir neue Möglichkeiten, um die Kosten zu senken. Gestern erst haben wir unsere Bürofenster verkleidet.« »Ihr habt Fenster?«, entfährt es Holly. »Wir hatten welche. Jetzt sind sie mit Karton zugeklebt.« »Und warum habt ihr das gemacht?« »Die Infrastrukturverwaltung stellt uns die Fenster in Rechnung. Durch das Verkleiden sind unsere Fixkosten um acht Prozent ge sunken. Aber das ist nur der Anfang. Heute werden wir unsere Schreibtische und Stühle los. Wir haben uns gedacht, die brauchen
wir eigentlich nicht mehr, weil wir sowieso kein Marketing mehr machen. Und fengshuimäßig ist das auch viel besser. Wir stellen die Computer auf den Teppichboden.« »Wozu braucht ihr dann eigentlich noch Computer?« Die Kommunikationsmanagerin reißt die Augen auf. »Hey! Solche Denkanstöße können wir im Marketing gebrauchen. Das ist eine super Idee.« Holly hört auf zu drücken. »Wenn ihr gar keine Marketingarbeit mehr macht, habt ihr dann keine Angst, dass sie euch ganz strei chen?« »Mit unseren niedrigen Kosten? In welchem Unternehmen arbei test du denn?« Sie lacht. Und ihr Pferdeschwanz wippt.
Jones zieht seine Ausweiskarte durch das Lesegerät im Aufzug und drückt auf die 2 mit dem Schild VORSTAND. Es ist erst Jones' vierte Woche bei Zephyr Holdings, aber vom zweiten Stock hat er bereits gehört. Niemand behauptet, schon mal persönlich dort oben gewesen zu sein, doch jeder kennt jemanden, der es geschafft hat. Wenn Jones diesen Geschichten Glauben schenken will, wird sein Blick nach dem Öffnen der Aufzugtüren im zweiten Stock auf blü hende Auen, tänzelnde Rehe und nackte Jungfrauen fallen, die auf Kissen ruhende Zephyr-Topmanager mit Trauben füttern.
Was den ersten Stock angeht — das ausgedehnte Penthousebüro, in dem Daniel Klausman seine Voicemails für die gesamte Beleg schaft verfasst und sich von strategischen Visionen ergreifen lässt — , das ist etwas anderes. Niemand behauptet, schon mal dort gewe sen zu sein. Der Knopf für den zweiten Stock leuchtet auf, dann wird er dun kel. Jones versucht es noch einmal. Wieder zieht er die Ausweiskar te durch. Doch der Fahrstuhl will ihn nicht in den zweiten Stock bringen. Auf der anderen Seite der Halle gleitet die Eingangstür auf und Gretel Monadnock tritt ein. Jones ruft: »Hi, Gretel, weißt du, warum der Aufzug nicht fährt?« »Äh ...« Nachdem sie ihre Tasche auf die riesige orangefarbene Empfangstheke gelegt hat, betrachtet sie das enorme Blumenarran gement und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Jones spürt eine Anwandlung von Mitgefühl für Gretel, die wahrscheinlich alle für schön halten würden, wenn sie nicht neben Eve Jantiss säße. »Du hast wahrscheinlich nicht die richtige Zugangserlaubnis.« »Und wie bekomme ich die?« »Wo willst du denn hin?« »In den zweiten Stock.« Sie schaut ihn erschrocken an. »Wie kommst du denn auf die Idee?« »Ich möchte mit jemand vom Vorstand reden.« Wieder gleiten die Eingangstüren auseinander. Es ist Freddy, der zu Ende geraucht hat. »Wie kann ich mit einem von denen einen Termin vereinbaren?« Gretels Blick wandert unsicher zu Freddy.
Freddy beschwichtigt sie: »Nein, er meint es ernst.« »Äh ... kannst du später noch mal kommen? Das hat mich noch niemand gefragt.« »Du machst Witze.« »Nein, sie macht keine Witze«, schaltet sich Freddy wieder ein. »Anfragen wie diese musst du über deine Abteilungsleiterin stellen. Du kanst nicht einfach so beim Vorstand reinplatzen.« »Das ist lächerlich.« Jones stemmt die Hände in die Hüften. »Ich möchte doch nur wissen, was das Unternehmen macht.« Dann be merkt er den Kaffeetisch für Besucher, der mit Marketingprospek ten und Geschäftsberichten übersät ist. »Aha.« »Na, jetzt ist er glücklich«, sagt Freddy zu Gretel. »Hey, weißt du, ob Eve heute Vormittag kommt?« »Eve erzählt mir nicht, wann sie auftaucht und wann nicht.« »Oh.« »Ahm ... Jones?« Gretel streckt die Hand aus, um Jones zu berüh ren, der mit einem Arm voller Geschäftsberichte vorbeistapft. »Ich bring sie gleich wieder, versprochen.« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich meine ... Ich hab mich auch schon gefragt, was Zephyr eigentlich macht. Ich habe ... also, wir sollen ja keinen Kontakt zu Leuten halten, die ausgeschieden sind, aber ... ich hab ihre Namen aufgeschrieben.« Sie wirkt verlegen. »Einfach weil nie jemand über sie redet, und ich finde ... irgendje mand sollte sich an sie erinnern. Also schreibe ich ihre Namen auf. Ich habe die Namen von allen Leuten, die in den letzten drei Jahren hier gearbeitet haben.«
»Oh.« Jones ist sich nicht sicher, was er mit dieser Information an fangen soll. »Das ist... wirklich schön von dir.«
»Das ist wirklich morbid«, ereifert sich Freddy im Aufzug. »Es ist falsch. Ich meine, was für ein Mensch schreibt die Namen von Leu ten auf, die gefeuert werden? Das ist doch wie eine Gefallenenliste.« Jones überfliegt den Geschäftsbericht. »›Diversifizierte Produktpa lette.‹ ›Vertikal integrierte Absatzkette.‹ ›Ausgewählte Märkte.‹ Das sagt mir überhaupt nichts!« »Das Unternehmen heißt doch Zephyr Holdings. Ich glaube nicht, dass wir unmittelbar was herstellen. Wir haben nur Beteiligungen an anderen Firmen.« »Mmm.« Jones ist nicht überzeugt. Er blättert um und sieht sich mit einem Hochglanzfoto konfrontiert, das lächelnde Mitarbeiter zeigt und darunter die Worte: KEINE ARBEIT, SONDERN EIN LEBENS STIL.
»Warum gibt es in dem Ding keine Bilder von Daniel Klaus
man?« »Er ist kamerascheu. Es gibt nirgends Fotos von ihm.« »Gar keine?« Freddy zuckt die Achseln. »Er tritt den Leuten nicht gern direkt gegenüber. Das heißt noch lange nicht, dass er seinen Job nicht ma chen kann.« »Weißt du überhaupt, wie er aussieht?«
»Ich? Nein. Aber ein paar Leute sagen, dass sie ihm schon begeg net sind. Hey, guck dir das an.« Er deutet auf die Tastentafel. »In formationstechnologie ist nicht mehr.« Jones bemerkt das kleine runde Loch, wo bis vor kurzem die Ziffer 19 gewesen ist. »Sie montieren wirklich den Knopf ab?« »Aus Sicherheitsgründen wahrscheinlich.« Jones blickt ihn an. »Schimpansen«, sagt Freddy »Denk an die Schimpansen.« »Ich will aber nicht der neue Schimpanse sein.« Mit einem Knall schlägt Jones den Geschäftsbericht zu. »Ich möchte wissen, was hier eigentlich gespielt wird, verdammt.«
Elizabeth sitzt auf der Toilette und starrt auf die Klotür. Die Tür hat nichts besonders Interessantes an sich. Deswegen ruht ihr Blick darauf. Elizabeth hat einen harten Vormittag hinter sich. Ihr Magen ist angespannt. Sie hat sich erbrochen. Aber nicht dieser Vorfall an sich macht ihr Sorgen. Sondern der Gedanke, dass es sich um ein Symptom handeln könnte. Es ist der dritte Vormittag hintereinan der, an dem sie sich übergeben muss. In einem Winkel von Elizabeths Bewusstsein wächst schon seit längerem eine Einsicht. Und jetzt zum ersten Mal stellt sie sich die sem winzigen, sich windenden Wissenskeim. Mit den Lippen formt
sie die Worte: Ich bin schwanger. Die Worte schmecken fremd. Ein Eindringling hat sich in ihrer Gebärmutter eingenistet. Sie weiß, wer der Vater ist. Sie schließt die Augen und legt eine Hand auf die Stirn. Ja, sie verliebt sich in ihre Kunden, aber norma lerweise geht sie nicht so weit, gleich mit ihnen zu schlafen. Sie interessiert sich für Beziehungen, nicht für flüchtige Affären. Bloß ... Es war der letzte Tag im Quartal. Bei Pizza und Wein, die sie der Marketing-Abteilung geklaut hatten, zurrten sie die Details fest, und sie war schon in ihn verknallt, bevor er von einer »zweiten Runde Schulungen« anfing. Er war Koordinator für Personalent wicklung der Abteilung Prognosen und Revision, und sein Stift schwebte über der gestrichelten Linie, als er lächelnd sagte: »Das besiegeln wir mit einem Kuss.« Wenn er davor unterschrieben hätte, wäre es kein Problem gewe sen. Nach der Unterschrift fand sie sie immer viel weniger attraktiv. Sie hätte ihm die Hand geschüttelt und ihm vielleicht ein Küsschen auf die Wange gegeben. Doch so kam alles zusammen: der Stift, der einen Zentimeter über dem Papier verharrte, das hochbrandende Adrenalin und der Alkohol, der ihr durch den Kopf schwirrte. Sie küsste ihn, diesen Mann, der damals noch ihr Kunde war und bald darauf in den Schulungsverkauf wechselte, um ihr Kollege zu wer den, und Roger erwiderte ihren Kuss, der Rock war um ihre Hüften gebauscht, und unter ihrem Hintern raschelten die Auftragsformu lare, während sie auf seinem Schreibtisch Sex hatten. Einfach so, un geschützt, was ihr jetzt ziemlich idiotisch vorkommt ... aber Eliza beth möchte das nicht zu tief analysieren. Sie ist Single und sech sunddreißig und hat zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder mit
einem Mann geschlafen; es ist durchaus im Rahmen des Möglichen, dass ein kleiner, geheimer Teil von ihr — ein Teil, der sehr wenig mit dem Verkauf von Schulungspaketen zu tun hat — in der Kon domfrage sein Veto eingelegt, sie von der Tagesordnung gestrichen und damit sichergestellt hat, dass die Entscheidung, so wie Roger, ohne angemessene Prüfung durchgerutscht ist. Auf der Zielgeraden hat sie gerufen, dass sie ihn liebt, und er hat geantwortet: »Ja, ich liebe es auch.« Allein daran hätte sie schon klar erkennen müssen, dass die Sache nicht gut enden würde. Aber sie ignorierte seine Äußerung, weil sie ihn liebte, zumindest fürs Erste und sogar, als es vorbei war und er sich, ihren Blick vermeidend, die Hose hochzog. »Wir dürfen es niemand sagen«, meinte Roger. »Ich bin nicht so einer.« »Was für einer?« Doch dann kritzelte er seine Unterschrift auf den Auftrag, und sie spürte, wie die Liebe aus ihr heraussickerte, wäh rend ein wesentlicher Teil von Roger das Gleiche tat. Allerdings, wie sie jetzt einsieht, nicht genug von diesem wesentlichen Teil von Roger. »Du weißt schon. Ein Mann, der so was macht.« »Was macht?« Er reichte ihr den Auftrag. »Mit Verkaufsvertreterinnen schlafen.« Genauso gut hätte er ihr einen Tritt geben können. Sie hatte ge dacht, er würde was von »Affären« sagen. Oder was davon, dass er »die Beherrschung verloren« hatte. Sie konzentrierte sich darauf, ihren Rock zurechtzuziehen, und ließ ihr Haar über das Gesicht fallen.
»Jetzt sei nicht so«, sagte Roger. »Komm schon, es war doch schön.« Seine Versetzung in den Schulungsverkauf einige Wochen später hatte nichts mit ihr zu tun; das weiß sie. Er hat es nicht auf sie abge sehen, will nichts in Ordnung bringen. Zuerst war sie noch un schlüssig, doch dann kam Roger in die Abteilung und quittierte Sydneys Vorstellung — »das ist Elizabeth« — mit einem Stirnrun zeln. Es war nur die Andeutung eines Stirnrunzelns, doch diese kleine Falte brachte seine Haltung unmissverständlich zum Aus druck. Die fröhliche Begrüßung eines guten Bekannten blieb ihr im Hals stecken. Sie klappte den Mund zu und bekam eine weitere kleine Narbe auf ihrer Seele. Doch das spielt keine Rolle. Elizabeth hat schon viele solche Narben. Ihre ganze Arbeit besteht aus Zu rückweisungen, und die von Roger war nur die erste des Tages. Wenn er unbedingt den Trottel markieren musste, bitte sehr. Natür lich war ihr damals noch nicht klar, wie sehr er den Trottel markie ren würde, aber selbst das raubt ihr nicht den Schlaf. Um Elizabeth aus der Fassung zu bringen, braucht es schon mehr als einen launi schen Exlover. So was wie eine Schwangerschaft zum Beispiel. Sie sitzt auf der Klobrille und ballt die Hände zu Fäusten. Der Abschluss mit Roger hat sich als schlechtes Geschäft erwiesen; es drohen erhebliche Ser vicekosten. Sie wird Probleme kriegen, wenn sie schwanger bleibt, das weiß sie. Zephyr Holdings ist nicht unbedingt ein babyfreundli cher Arbeitgeber. Und von schwangeren Verkaufsvertreterinnen hält das Unternehmen auch nicht viel. Ihre Käufer werden neu auf geteilt werden. Sie wird von den Planungen ausgeschlossen sein. Sie
wird ihre geliebten Kunden verlieren. Und im Management wird man über sie reden: Hast du schon gehört? Elizabeth ist schwanger. Schade um sie, sie war wirklich eine gute Vertreterin.
»Hab ich dir schon von meinem neuesten Plan erzählt?« Freddy schält sich aus seinem Jackett. Er will es an den Garderobenständer hängen, doch dann bleibt er stehen und sieht Jones an. »Was ist?« »Ich will ja nicht kleinlich sein, aber du hast meinen Kleiderhaken genommen.« »Deinen Kleiderhaken?« »Eigentlich nicht so wichtig, klar.« Dünne Linien der Anspannung überziehen Freddys Gesicht. Nervös tritt er von einem Fuß auf den anderen. »Es ist bloß ... diesen Haken benutze ich, seit ich hier bin.« »Aber du sagst doch selbst, dass es nicht so wichtig ist...« Jones lässt Freddy zappeln. Freddys Hände krampfen sich um den Jackettkragen. »Schon gut, ich hänge meine Jacke woandershin.« »Danke.« Freddy platzt fast vor Erleichterung. »Schon komisch mit diesen Sachen, weißt du. Man ist zwar nicht drauf angewiesen, aber irgendwie gewöhnt man sich dran.«
Jones findet die Vorstellung, sich emotional auf einen Kleiderha ken einzulassen, zutiefst verstörend. Er hofft, dass er nie sentimen tale Gefühle für unbelebte Gegenstände am Arbeitsplatz entwickeln wird. Freddy tritt in seine Zelle und setzt sich. »Jedenfalls, mein Plan. Letzte Woche habe ich einen Antrag auf Anerkennung meiner Be hinderung gestellt.« »Was für eine Behinderung?«
»Dummheit.«
»Dummheit!«
Ȇberleg doch mal. Wenn ich dumm geboren bin, ist das vielleicht
mein Fehler? Nein, ich bin nur ein ehrlich schuftender Hanswurst, der sein beklopptes Bestes gibt. Und das Unternehmen darf Mitar beiter mit einer Behinderung nicht entlassen. Das ist eine Tatsache.« »Wow, ganz schön schlau.« »Danke.« Er lächelt. »Man muss nur wissen, wo's langgeht im Un ternehmen.« Jones nimmt Platz. Er würde gern rausfinden, wo's im Unterneh men langgeht. Aber irgendwas stimmt nicht mit seinem Computer. »Freddy ... kriegst du eine Verbindung zum Intranet?« »Moment... hey, nein.«
»Verdammt, das ist blöd.«
Freddy richtet sich langsam auf. »Wendell... an dem Tag, als Wen
dell geflogen ist, wollte ihm Elizabeth eine E-Mail schicken, und sie ist zurückgekommen.« »Na und?«
»Das machen sie immer, bevor sie jemand rausschmeißen. Sie lö sen sein Konto auf. Damit er nicht...« Seine Hände tanzen durch die Luft. »Vor ein paar Jahren gab's da mal einen Vorfall. Ein Typ aus der PR-Abteilung hat erfahren, dass er gefeuert wird, und dann hat er sich an seinen Rechner gesetzt und per E-Mail ein Video rumge schickt, das seinen Chef beim Blasen zeigt. Das ganze Unternehmen hat's abgekriegt.« Er sieht Jones' Gesichtsausdruck. »Ich meine, alle Leute haben die E-Mail gekriegt. Auf dem Video waren nur die bei den drauf.« »Gott sei Dank.« »Also, was ich sagen wollte ... es ist eine Art Frühwarnsystem. Bei Wendell habe ich gar nicht dran gedacht, mir war nicht klar ...« »Du meinst, wir fliegen raus?« In flottem Trab steuert Freddy Megans leeren Schreibtisch an und schnappt sich ihre Maus. »Und?« »Das Gleiche.« Freddy sprintet hinüber nach Westberlin. Nach ei ner Minute ruft er über die Trennwand: »Die Vertreter auch! Keiner kommt ins Netz!« »Also bloß ein Netzwerkproblem«, meint Jones. »Nein, nein.« Freddys Kopf taucht über der Berliner Mauer auf, sein Gesicht ist bleich wie der Mond. »Es ist so weit! Jetzt ist es so weit! Unsere Abteilung wird ausgelagert!«
Doch die Abteilung Schulungsverkauf steht nicht vor dem Out sourcing. Im ganzen Gebäude versuchen Mitarbeiter vergeblich, sich ins Intranet einzuloggen. Sie klicken mit den Mäusen. Sie hämmern auf ihre Tastatur ein. Zuletzt greifen sie zum Telefon und wählen die Nummer des IT-Notdienstes. Ihre Anrufe rasen durch die Kabelverbindungen des Zephyrgebäudes hinab in den neun zehnten Stock. Dort stehen die Bürozellen stumm und leer. Die Lichter sind ausgeschaltet. Die Bürostühle sind unbesetzt. Nichts bewegt sich. Auf leeren Schreibtischen, denen man nicht anmerkt, dass sie je benutzt worden sind, so gründlich sind sie gereinigt worden, schrillen die Telefone vor sich hin.
Elizabeth ist nicht da, und niemand wagt es, Sydney zu stören, al so übernimmt Roger das Kommando. Er schickt Freddy und Jones auf Erkundungstour, um herauszufinden, ob es im ganzen Haus keine Intranetverbindung gibt (was eine gute Nachricht wäre) oder nur beim Schulungsverkauf (sehr schlecht). Die erste Station ist im fünfzehnten Stock, bei Infrastrukturverwaltung und Infrastruktur pflege. Beide Abteilungen sind von echten Büros umgebene Lege
batterien — doch natürlich sind alle Stockwerke von echten Büros umgebene Legebatterien. Freddy und Jones spähen über die Trenn wände. Viele Leute sitzen vor ihrem Computer und spielen Solitai re. Einer jagt ihnen Angst ein, denn er hat seinen Browser offen, doch er drückt nur immer wieder die Aktualisierungstaste und be kommt jedes Mal eine Fehlermeldung. Süchtig, deutet Freddy mit den Lippen an und macht mit der Hand eine Mausklickbewegung. Die Infrastruktur ist also vom Netz abgeschnitten. Sie fahren einen Stock tiefer: Die Logistik kommt nicht ins Netz. Sie besuchen den siebzehnten Stock, und auch die Leute dort — wer sie auch sein mögen — haben keinen Netzzugang. Sie haben nicht einmal richtige Computer. »Amazonasstamm«, flüstert Freddy. »Echte Wilde.« Die Leute im siebzehnten Stock sind leger gekleidet und starren Freddy und Jones an, als hätten sie noch nie einen Anzug gesehen. Freddy und Jones verkrümeln sich zum Lift. Als sie in Sicherheit sind, at met Freddy erleichtert auf. »Hast du diese Monitore gesehen? Die haben schon ziemlich lange keine neue Büroausstattung mehr be kommen.« Freddy und Jones sind nicht die einzigen Kundschafter, die ihre Runden ziehen. Durchs ganze Gebäude schleichen kleine Trupps. Gegen Mittag wissen alle bis auf den Vorstand, dass das Intranet zusammengebrochen ist. Die Ahnungslosigkeit im Vorstand ist dar auf zurückzuführen, dass im zweiten Stock niemand außer den Sek retärinnen einen Computer benutzt, und wenn eine Sekretärin Schwierigkeiten mit ihrem Computer hat, nun, dann ist das für die leitenden Manager keine Überraschung. Für sie ist die Neigung von Sekretärinnen, sich in Computerprobleme zu verstricken, ein Anlass
zu ständiger Belustigung. Wenn es nicht am Drucker liegt, liegt es an der Maus, und wenn es auch daran nicht liegt, dann liegt es an einem von diesen Softwaredingern, du verstehst schon. Der Vor stand weiß sehr wenig über Computer, ist sich aber trotzdem ziem lich sicher, dass die meisten sogenannten Computerprobleme strenggenommen als Intelligenzprobleme von Sekretärinnen einge stuft werden müssten. Die leitenden Manager benutzen zwar viel leicht keinen Rechner, aber sie benutzen Toaster und Mikrowellen und haben es auch geschafft, die Autostereoanlage einzustellen — na ja, nicht direkt selbst geschafft, der Autohändler hat es ihnen eben gezeigt —, und so viel komplizierter kann doch ein Computer auch nicht sein, oder? Die Abteilungen melden das Problem nicht, weil ein cleverer Ab teilungsleiter weiß, dass du beim Vorstand nur anrufst, wenn du gute Nachrichten hast. Für Leute, die dem Vorstand mit Problemen kommen, sieht die Zukunft bei Zephyr Holdings nicht besonders rosig aus. Schließlich ist der Vorstand nicht da, um den Abteilungs leitern das Händchen zu halten. Er ist da, um Aktienoptionen zu verteilen. So dauert es bis drei Uhr nachmittags, bis die Sache nach oben durchsickert. Dass es überhaupt so weit kommt, liegt daran, dass sich acht Ab teilungsleiter im neunzehnten Stock einfinden und zwischen den leeren Schreibtischen herumwandern. Es gibt keinen Notdienst. Es gibt keine blassen Servicetechniker mit platt anliegenden Haaren. Dafür gibt es umso mehr Computer, und die Abteilungsleiter sehen auf die Bildschirme, um vielleicht den Fehler zu finden. »Hierher!«, ruft der Mann vom Risikomanagement, und alle traben hinüber zu
einem winzigen Monitor. Er steht auf einem Tisch vor einem glas umrahmten Raum, der voll gestopft ist mit fetten beigen Computer kästen und einem Geflecht farbenprächtiger Kabel. Der Monitor ist schwarz bis auf eine einzige Zeile in leuchtendem Grün: 04:04 NETZWERKFEHLER 614. Die Abteilungsleiter schauen sich an für den Fall, dass jemand weiß, was das zu bedeuten hat. Als allmählich klar wird, dass nie mand völlig sicher ist, was die beigen Dinger in dem Glasraum überhaupt sind (geschweige denn, was sie machen), beschließen sie, den Vorstand zu verständigen. In diesem Fall ist das eine gangbare Option, weil die Meldung von Problemen einer anderen Abteilung nicht annähernd so schlimm ist wie die Meldung eigener Probleme. Also rufen sie eine Sekretärin an, und sie verspricht, die Nachricht weiterzugeben, sobald die laufende Vorstandsbesprechung vorbei ist. Zufrieden hängen die Abteilungsleiter auf. Sie streunen noch einige Minuten herum und plaudern über Autos und Golfhandicaps — es kommt ja nicht so oft vor, dass die Abteilungsleiter mal zu sammentreffen —, dann machen sie sich widerwillig auf den Rück weg in ihre schäbigen Abteilungen, zu ihren faulen, briefpapiersteh lenden, unproduktiven Mitarbeitern und zu ihren hoffnungslos unerreichbaren Produktivitätszielen. Siebzehn Stockwerke weiter oben beginnt es im Vorstand zu bro deln. Er versammelt sich im Sitzungssaal. Zunächst herrscht pure Konfusion. Hat das etwas mit der Auslagerung der IT-Abteilung zu tun? Hält der neue Anbieter seinen Vertrag nicht ein? Wer ist über haupt der neue Anbieter?
Niemand weiß Genaueres. Der Mangel an brauchbaren Dokumen ten grenzt an einen Skandal und ist vermutlich wieder einmal auf den Mangel an Initiative vonseiten des Chefsekretariats zurückzu führen. Doch der Vorstand weiß genau, dass er in dieser Situation mit Vorwürfen nicht weiterkommt. Seine Aufgabe ist es jetzt, Lö sungen zu finden, und nicht, Schuldige zu suchen. Zumindest kom men zuerst die Lösungen, dann die Schuldigen. Allmählich stellt sich heraus, dass nach dem Stromausfall im letzten Monat der Ausmerzung inkompetenter IT-Trottel höhere Priorität zugemessen wurde als der Verpflichtung angemessener Ersatzkräfte. Zephyr hat zurzeit keine IT-Mitarbeiter. Schnell ist ein Entschluss gefasst: Alle Entlassenen sind unverzüg lich wieder einzustellen. Sie sollen sich mit Hochdruck daran ma chen, das Netzwerk in Gang zu bringen. Sobald im Anschluss ein geeigneter Outsourcingplan gefunden ist, können alle wieder ge kündigt werden. Der Vorstand entspannt sich. Krise vorbei! Die Sache wird zur Umsetzung an das Personalwesen weitergereicht. Doch hier stößt der Vorstand auf Schwierigkeiten. Die Daten des Personalwesens sind alle im Netzwerk. Ohne sie hat das Personalwesen keine Ah nung, wie es mit den Exmitarbeitern Kontakt aufnehmen soll. Es weiß nicht einmal, wer sie waren. Eine Anfrage wird herausgege ben, und sie hallt klagend durch das gesamte Gebäude: Erinnert sich noch jemand, wen wir in der IT-Abteilung beschäftigt haben? Aber niemand erinnert sich. Selbst unter besten Voraussetzungen gibt es zwischen den Abteilungen kaum einen Austausch; und die sen merkwürdigen T-Shirt-Gestalten aus dem IT-Bereich sind so
wieso alle aus dem Weg gegangen. Im ganzen Gebäude gibt es nur eine Person, die dem Vorstand die benötigten Informationen geben könnte: Gretel in der Rezeption mit ihrer Liste. Aber niemand kommt auf die Idee, sie zu fragen.
In Ostberlin poliert Holly sorgfältig ihre Fingernägel. Sie fragt sich, ob sie sich nicht für eine Weile in den Fitnessraum davonschleichen könnte. Hier kann sie sowieso nichts Nützliches machen. Sie dreht sich in ihrem Stuhl, um einen Blick auf die Wanduhr zu werfen, und stellt überrascht fest, dass Megan direkt hinter ihr steht. Holly sitzt mit dem Rücken zu Megan und sieht sie daher nie kommen. »Entschuldigung«, sagt Megan. »Sydney lässt fragen, ob du ihr schnell die Verkaufsberichte der Vertreter auf einer Seite zusam menfassen kannst. Sie braucht die Übersicht um zwölf.« Holly lehnt sich zur Seite. Die Wanduhr zeigt fünf nach halb zwölf. Holly würde jeden Betrag wetten, dass Sydney von dieser Sache schon seit mehreren Tagen weiß. Anscheinend sieht Sydney ihre Hauptaufgabe darin, anstehende Arbeiten bis zum letzten mög lichen Moment zu verheimlichen, um aus Routinetätigkeiten furchtbar dringende Angelegenheiten zu machen. »Okay, danke.« Megan entfernt sich. Holly blättert die Berichte durch. In ihr wimmert eine Stimme: Warum verlangt Sydney nicht einfach kürzere Berichte von den Vertretern? Aber sie unterdrückt diese Stimme
standhaft. Solche Fragen hätte sie vielleicht vor drei Jahren gestellt, als sie so neu war wie Jones jetzt. Das Verständnis solcher Dinge wird mit der Zeit schon kommen, so malte sie sich damals aus, und mit dem Erklimmen der unternehmensinternen Karriereleiter und dem Erwerb immer schönerer Schuhe und Shirts einhergehen. Doch Holly hat weder Einsichten gewonnen noch Karriere gemacht. Stattdessen hat sie sich eine Stirnfalte, den Ruf der Ungeselligkeit und eine wachsende Fitnesssucht zugelegt. Sie liebt die einfachen, unveränderlichen Regeln des Fitnessraums: Wenn du läufst, wird dein Hintern straff. Wenn du Gewichte stemmst, schwellen die Muskeln. Ganz anders als ihr Leben in der Abteilung Schu lungsverkauf. Sie klotzt sich durch die Übersicht und strebt gerade auf die DRUCK-Taste zu, als Jones und Freddy von ihrer Expedition zu rückkehren. Sie richtet sich in ihrem Stuhl auf. »Und?« Freddy schüttelt den Kopf. »Das Netzwerk ist überall ausgefallen. Also doch nur ein IT-Problem, Gott sei Dank. Und was machst du gerade?« »Das Übliche. Ich verschwende mein Leben.« Freddy lässt sich in seinen Stuhl fallen. Jones blickt sich um. »Viel leicht ist jetzt der geeignete Zeitpunkt, um mit Sydney zu reden.« »Gahh«, macht Freddy. Dann wendet er sich an Holly. »Jones ist besessen davon, den wahren Zweck des Unternehmens herauszufin den.« »Oh, den hab ich schon längst rausgefunden, Jones. Es ist ein groß angelegtes psychologisches Experiment, das klären soll, wie viel Schmerz und Leid Menschen aushalten können, bevor sie kündi
gen.« Sie sieht Freddy an. »Das erinnert mich an was. Du weißt doch noch, die Leute beschweren sich immer beim Management, dass ihr Work-Life-Balance nicht mehr stimmt. Also, am nächsten Montag haben sie eine Personalversammlung zu diesem Thema angesetzt. Um halb acht Uhr früh.« Freddy fängt an zu gackern. Er wischt sich die Tränen aus den Augen. »Was fändest du schlimmer: dass die so was absichtlich machen, oder dass sie einfach keine Ahnung haben?« Holly schüttelt den Kopf. »Vielleicht hatte Wendell noch Glück. Hast du gehört, dass er eine Stelle bei Boreas gekriegt hat?« Jones zuckt zusammen. »Wer hat dir das erzählt?« »Eine von den Mädels im Fitnessraum. Warum?« »Findest du es nicht ein bisschen verdächtig, dass anscheinend alle Ehemaligen von Zeyphyr bei Boreas einsteigen?« »Nicht alle.« »Nenn mir einen Ehemaligen, mit dem du noch in Kontakt bist.« »Ahm...« »Ich glaube«, sagt Jones, »dass es diese Firma Boreas überhaupt nicht gibt. Es ist nur ein Vorwand. Ein Grund, damit wir nicht mit Ex-Kollegen in Verbindung bleiben.« Holly schaut ihn erschrocken an. »Warum sollten sie denn so was machen?« »Weil sie«, mischt sich Freddy mit Grabesstimme ein, »das Unter nehmen in Wirklichkeit gar nicht verlassen haben.« »Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe Recht, da wette ich.« Freddy lacht. »Und ich wette, dass sie dich rausschmeißen, wenn du weiter so rumstocherst.« Seine nächste Bemerkung gilt Holly.
»Eines Tages wird Jones einfach nicht mehr auftauchen, und sie werden uns erzählen, dass er gegangen ist... zu Boreas.« »Hör auf«, fleht Holly. »Mir läuft es schon eiskalt den Rücken run ter.«
»Tut mir wirklich leid.« Penny wirft sich in einen Sessel. Penny ist Jones' Schwester. Sie stellt ihre schwarze Ledertasche ab, schiebt sich die schwarze Sonnenbrille auf die Stirn und legt dramatisch ausatmend beide Handflächen auf den Tisch. »Die Verhandlung hat bis Viertel nach eins gedauert. Ungewöhnliche Sache, die Zeugin hat geweint, sexueller Übergriff, weißt du ... wenn George sie nicht unterbrochen hätte, hätte sie wahrscheinlich noch immer kein Wort rausgebracht.« Sie sieht sich nach einem Kellner um. »Hast du schon bestellt?« Penny arbeitet als Sekretärin bei einem Richter am Familien gericht. Sie kommt ständig mit solchen Geschichten an, die Jones das Gefühl geben, dass er klein und bedeutungslos ist. Es ist nicht leicht, der jüngere Bruder eines aufstrebenden Stars zu sein. »Ja, für dich das Übliche.« Sie lächelt. Seit sie die neue Arbeit macht, trägt Penny flotte Jak ketts und Hemden mit großem, spitzen Kragen. Jones hat bei die sem Anblick immer das Gefühl, sie würde in Mommys Schrank
Verkleiden spielen. »Mann, mir kommt es vor, als hätte ich dich seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Wie ist die neue Stelle?« »Gut. Ich meine, super. Ich fange ganz unten an, aber es ist ein großes Unternehmen, da gibt es natürlich einen Haufen Möglichkei ten.« »Ach? Was für eine Branche?« Sie befreit ihre glänzend schwarzen Haare aus einem Pferdeschwanz. »Also, es ist... eine Beteiligungsgesellschaft.« »Und woran ist sie beteiligt?« Jones' Blick schweift durchs Cafe. »Ach, weißt du ... ganz ver schiedene Sachen. Ein ziemlich diversifiziertes Portfolio.« »Warum machst du es denn so spannend? Was ist es? Porno?« »Nein! Kein Porno.« Penny starrt ihn an, bis er einknickt, eine Tak tik, die sie seit seinem neunten Lebensjahr mit Erfolg anwendet. »Also, wie soll ich sagen, ich weiß es selbst nicht so genau. Am An fang dachte ich, sie verkaufen Schulungspakete, aber das ist nur meine Abteilung. Das Unternehmen als Ganzes ... da bin ich eigent lich überfragt.« »Wow«, meint Penny schließlich. Der Kellner kommt mit dem Kaffee. »Ich weiß, ich weiß. Ich finde es schon raus, es ist bloß ... das Unternehmen ist wirklich groß. Da läuft alles irgendwie anders.« »Und was machst du?« Jones zögert. »Also, letzte Woche ist das Netzwerk ausgefallen, und ohne Netzwerk kann man nicht viel machen. Na ja, und da ... bis das wieder repariert ist, reden wir meistens nur.« »Wie heißt die Firma gleich wieder?«
»Zephyr.«
»Noch nie gehört.«
»Sie ist ziemlich groß in ...«
»In der Branche, in der sie arbeitet.«
»Genau.«
Penny wird ernst. »Stephen, dir ist doch klar, dass das total
durchgeknallt ist.« »Wirklich?« Er klingt leicht gehetzt. »Es ist nämlich schwer zu sa gen. Bei Zephyr ist anscheinend keiner der Meinung, dass da ir gendwas nicht normal ist.« »Nein, vertrau mir. Du weißt nicht, was das Unternehmen macht. Das ist nicht normal.« »Na ja.« Jones lehnt sich zurück. »Das ist eben kein Gericht, son dern die reale Welt.« Eine gewisse Genugtuung stiehlt sich in Jones' Stimme. Als er noch studierte und Penny mit ihrer Arbeit angefan gen hatte, warf sie bei Familienessen gern mit Phrasen wie »reale Welt« um sich. »Vielleicht läuft es so in der Wirtschaft.« Penny bleibt einen Moment stumm. Dann nimmt sie ihre Tasse in die Hand. »Klar, du hast Recht, das könnte es sein.« Jones seufzt. »Ich muss rausfinden, was da gespielt wird.« »Das wäre bestimmt keine schlechte Idee«, sagt Penny.
In den unteren Geschossen von Zephyr Holdings wuseln und krabbeln die merkwürdigsten Wesen herum — zum Beispiel die Mitarbeiter der Abteilung Betriebs- und Hilfsstoffe. Diese Abteilung ähnelt in vieler Hinsicht einem Zoo. Den ganzen Tag stopfen die Beschäftigten Material, das sie kaum kennen, in die Mäuler von Tieren, die sie nicht verstehen, und wenn sie fertig sind, schreien die Tiere nach mehr. Die BH-Abteilung betrachtet sich als so etwas wie den Motor von Zephyr Holdings, und von Zeit zu Zeit träumen die Angestellten davon, was passieren würde, wenn sie einfach dich tmachen und Zephyr das Papier mit geprägtem Briefkopf, die Post it-Zettel und das Mineralwasser vorenthalten. Das Unternehmen würde zusammenbrechen, ganz genau. In ihren besseren Tagen erstreckte sich die BH-Abteilung über drei Stockwerke und hatte einen eigenen Aufzug. Manchmal legen Altgediente die Füße auf den Schreibtisch und kauen den Praktikanten mit solchen Anekdo ten ein Ohr ab. Wenn es stimmt, was sie erzählen, waren Material anfragen aus anderen Abteilungen einmal tatsächlich Anfragen, die die Abteilung Betriebs- und Hilfsstoffe bearbeitete, wann und wie sie es für richtig hielt. Damals wurden noch haltbare Dinge produ ziert. Wenn du einen Füller bestellt hast, hat die Tinte acht Jahre gehalten. Und die Uniabsolventen hatten noch mehr Respekt. Sie wussten, dass ihr tolles Bücherwissen nicht so viel wert war wie das Schwarze unter deinen Fingernägeln. Das waren wirklich noch gol dene Zeiten, bevor hässliche Worte wie »Kürzung«, »Rationalisie rung« und »Umstrukturierung« erfunden wurden. Jetzt nimmt die BH-Abteilung nur noch die Hälfte eines jämmerlichen Stockwerks ein. Ein Viertel der Leute machen viermal so viel Arbeit. Wenn eine
Abteilung einen Auftrag schickt — einen Auftrag —, erwartet sie, dass noch am gleichen Tag geliefert wird, und wird sauer, wenn es nicht klappt. Und sie rufen auch nicht mehr an, also können die BHMitarbeiter keine Alternativen vorschlagen oder auf mögliche Ver zögerungen hinweisen. Nein, die Bestellungen (»5 x Schachtel Ku gelschreiber blau, bis spätestens 10 Uhr«) landen einfach über das Intranet auf den BH-Computern. So war es zumindest. Seit dem Zusammenbruch des Netzwerks klingeln wieder die Telefone. Die Lage hat sich geändert, wie die BH-Mitarbeiter allmählich erkennen. Sie sind immer noch eine Ab teilung mit nur zwölf Leuten und einem lächerlichen Budget, aber vielleicht kommen die guten alten Zeiten wieder. Im ganzen Gebäude nähert sich Zephyr Holdings wieder seiner vollen Betriebsgeschwindigkeit. Nicht etwa, weil das Netzwerk re pariert worden ist, o nein. Der östliche Flügel des neunzehnten Stocks bleibt eine öde Wüstenei. Hier regt sich kein Server. Unter den harten, unwirtlichen Bedingungen in diesem Geschoss kann kein Hub gedeihen. Ausgetrocknete, hungrige Netzwerkkabel su chen nach Daten, die sie nicht finden. Die Informationstechnologie ist dunkel und tot; sie wird sich nicht mehr erholen. Doch ob mit oder ohne Netzwerk, es gibt Arbeit zu tun. Vor zwei Wochen ist das Intranet zusammengebrochen; wenig später hat der Vorstand dem Unternehmen versichert, das Problem in wenigen Tagen zu beheben. Doch jetzt dämmert es allmählich allen, dass das nicht passieren wird. Wo du auch hinsiehst, schießen provisorische Lösungen aus dem Boden wie frisches Gras nach dem Regen. Da es keine E-Mails mehr gibt, entdecken die Mitarbeiter die Kunst des
Telefongesprächs neu. Sie merken, dass Diskussionen, die vorher drei Tage und sechs E-Mails erforderten, am Telefon in wenigen Minuten abgehandelt werden können. Spam und Computerviren, die nach Angaben der IT-Abteilung unlösbare Probleme darstellten, sind verschwunden. Die Plage der zunächst komischen, dann aber nur noch lästigen E-Mail-Witze ist beendet. Der Zwang zur Weiter leitung von Kettenbriefen, um der Androhung einer persönlichen Katastrophe zu entgehen, ist aufgehoben. Die Posteingänge füllen sich nicht mehr mit verzweifelten Angeboten von Kollegen, die ihre Autos oder Katzen loswerden wollen. Um Unterlagen von einem Ort zum anderen zu schaffen, schnüren die Mitarbeiter die Schuhe und lassen ihre Beinmuskeln spielen. Mit Papieren in der Hand kommen die Menschen in den Korridoren aneinander vorbei und tauschen fröhliche Grüße aus. Schwindlig von der unerwarteten Bewegung bleiben sie stehen, um lachend miteinander zu plaudern. Niemand hatte eine Ahnung, dass bei Zephyr so viele Leute beschäftigt sind. Bis jetzt hast du sie nie zu Gesicht bekommen. Bis jetzt sind die Leute zur Arbeit erschienen, haben ihren Arsch in einen Stuhl verfrachtet und das schöne Paar erst um halb sechs wieder auseinander gerissen. Die Gänge sind erfüllt von aufgeregten Stimmen und guter Laune, es geht zu wie im Wartezimmer einer Entbindungsstation. Die Rückenbeschwerden im Lendenbereich lassen nach. Die Gesichter kriegen Farbe. Die Mitarbeiter finden sich körperlich attraktiver. Und niemand muss mehr mit misstrauischen Blicken rechnen, wenn er die Abteilung verlässt, zumindest nicht, wenn er einen Stoß Papiere in der Hand hält.
Dieses Netzwerk — wozu war das überhaupt gut? Verwundert schütteln die Angestellten den Kopf. Ein Glück, dass sie es los ha ben! Zephyr Holdings mag nicht der beste Arbeitgeber sein, da sind sie sich einig; das Unternehmen mag eine sadistische Personalabtei lung und einen inkompetenten Vorstand haben; sein Zweck mag ein komplettes Rätsel und der CEO ein weltfremder Exzentriker sein, dem noch niemand persönlich über den Weg gelaufen ist — all das mag zutreffen, aber zumindest hat es jetzt kein Netzwerk mehr.
Q 4/1:
Oktober
Freddy, der gerade ein paar Ordner in der Abteilung Kauf männische Betriebsführung abgeliefert hat, macht ein paar Dehn übungen, als er wieder zurück ist. »Kommt jemand mit zum Mit tagessen? Bin immer so hungrig in letzter Zeit. Glaubt ihr, das macht die viele Bewegung?« »Lass mich noch schnell die Ausdrucke für Sydney fertig ma chen.« Hollys Computer ist der einzige, der mit dem Abteilungs drucker verbunden ist, und so muss sich jeder, der etwas zu druk ken hat, an sie wenden. Inzwischen weist ihr Rechner rund um die Auswurftaste des Diskettenlaufwerks dunkle Schmierflecken auf, und das CD-Laufwerk gibt ein seltsames, müdes Wimmern von sich. »Hey.« Freddy beendet seine Dehnübungen. »Wisst ihr, was wir machen? Eine Totenwette. Jeder kann zehn Dollar setzen.« »Eine was?« Jones blickt auf.
»Ist das dein Ernst?« Holly schnauft. »Warum nicht?« »Es ist krank, deswegen.« »Was ist eine Totenwette?«, will Jones wissen. »Wir wetten, wer als Nächster rausgeschmissen wird. Kommt schon, da bleibt die Sache wenigstens interessant. Du hast sogar erste Wahl, Holly.« Sie zögert, ihr Blick streift Jones, der »Hey« sagt. Dann kommt Ro ger mit einer Diskette aus Westberlin. Reflexartig streckt Holly die Hand aus, doch er trifft keine Anstalten, sie ihr zu geben. »Hab ich das richtig gehört, ihr macht eine Wette?« »Ein Totenspiel«, bestätigt Freddy. »Mit zehn Dollar kannst du einsteigen.« »Bin dabei.« Roger klappt seine Brieftasche auf. »Wer ist schon vergeben?« »Noch niemand bis jetzt.« »Warte mal«, unterbricht Holly. »Du hast gesagt, ich hab erste Wahl.« »Du machst also mit?« »Ich ... na ja, wenn alle anderen auch mitmachen. Ich nehme Jo nes.« »Warum mich?« »Weil... nur so.« »Ich nehme mich selbst«, erklärt Freddy. »Dann hab ich noch ein bisschen was davon, wenn sie mich feuern.« »Ich setze auf Elizabeth«, sagt Roger.
Freddy durchbricht das verlegene Schweigen. »Warum Eliza beth?« Roger zuckt bescheiden die Achseln. »Nur eine Vermutung.« Klackend öffnet sich Sydneys Tür. Alle wenden die Köpfe. Syd neys Ensemble ist so dunkel, dass es schwer ist, einzelne Kleidungs stücke zu erkennen. Sie stapft nach Ostberlin und hält vor Hollys Schreibtisch. »Hast du den Bericht?« »Er ist im Drucker.« Sydney fischt Hollys Bericht aus dem Schacht. Dann fällt ihr auf, dass Freddy und Roger mitten im Austausch von Geld erstarrt sind. »Was ist hier los?« Freddy räuspert sich. »Es ist ein Totenspiel. Wir wetten darum, wer Zephyr als Nächster verlässt.« Sydneys grüne Augen heften sich auf Freddy. »Wer hat euch er zählt, dass jemand das Unternehmen verlässt?« »Niemand. Nein, es ist nur ein Spiel. Es ist bloß ... falls jemand geht.« »Ah, verstehe. Nun, dann kann ich ja auch mitmachen, oder?« Freddys Blick wandert zu Holly, zu Roger und zuletzt niederge schlagen zu Jones. »Also ... das ist vielleicht... ich meine, du kannst doch selbst entscheiden, wer entlassen wird ... das wäre vielleicht nicht fair.« Sydney wirkt amüsiert. »Du willst doch damit nicht sagen, dass ich jemanden rausschmeiße, damit ich die Wette gewinne.« »Nein, natürlich nicht.« »Also?«
Freddy schluckt. »Ja, klar. Klar, wunderbar. Der Einsatz ist zehn Dollar.« »Das wird bestimmt spannend. Also gut. Schön. Ich nehme Jones.« »Ahm ... auf den hat Holly schon gesetzt.« Sydney rümpft die Knopfnase. Roger zuckt zusammen. »Und?« »Jeder muss sich einen anderen aussuchen.« »Warum kann Holly nicht jemand anderen nehmen?« »Also ... sie hat sich ja schon entschieden, und es wäre eigentlich ... nicht... fair ...« »Ach so, verstehe. Na gut, hat jemand schon auf Holly gewettet?« »Nein.« »Dann nehme ich Holly.« Sydney lächelt erst Freddy zu, dann Holly. Sie greift in ihre schwarze Hose und zieht einen Schein he raus. Freddy nimmt ihn, als hätte er Angst, gebissen zu werden. Alle schweigen, bis Sydney verschwunden ist, und auch danach bleiben sie noch längere Zeit stumm. »Danke, Freddy«, zischt Holly. »Ist doch nur ein Spiel«, protestiert Freddy. »Wahrscheinlich wird sie ... ist doch nur ein Spiel.«
Jones läuft Sydney hinterher. Roger schlendert zurück nach "Westberlin.
Holly bläst die Backen auf und lässt die Luft entweichen. »Ich ge he jetzt zum Mittagessen.« »Ich komme mit.« Freddy steht auf. »Bloß noch eine Sekunde ...« »Ich hab gesagt, ich gehe zum Mittagessen.« Sie lässt ihn stehen. Freddy sinkt schlapp auf seinen Stuhl zurück. Er weiß nicht so recht, was er jetzt machen soll, und sieht sich um. Da bemerkt er, dass sein rotes Voicemail-Lämpchen blinkt. Das ist komisch, denn vor einer Minute hat es noch nicht geblinkt. Jemand hat ihm eine Nachricht hinterlassen. Er nimmt ab und drückt auf den Knopf. Eine tiefe, ölige Stimme ergießt sich in sein Ohr. »Guten Morgen. Hier spricht die Abteilung Personalwesen. Ihr Antrag auf Anerkennung einer Behinderung ist bei uns eingegan gen. Wir möchten Ihnen dazu ein paar Fragen stellen. Bitte melden Sie sich umgehend im dritten Stock. Vielen Dank.« Freddy will das Telefon zurückstellen, fummelt daran herum, packt es noch mal und knallt es hin. Seine Hände zittern. Sein Ant rag hätte doch irgendwo in den abgründigen Tiefen der Verwaltung verschwinden, einfach durchrutschen und ohne angemessene Prü fung bearbeitet werden sollen. So hatte er sich das zumindest vor gestellt. Doch stattdessen hat er die Aufmerksamkeit des Personal wesens auf sich gezogen. Sich blöd zu stellen kommt ihm auf ein mal wie eine ziemlich blöde Idee vor. Eine Sekunde spielt Freddy mit dem Gedanken, die Vorladung zu ignorieren — er kann doch einfach behaupten, dass seine Voicemail nicht funktioniert hat! Aber das wäre Wahnsinn. Dem Personalwe
sen entrinnt keiner. Er muss sich seinem Schicksal stellen wie ein Mann. Er beschließt, die Anzugjacke anzubehalten. Am liebsten wäre er in eine Ritterrüstung geklettert. Er kritzelt etwas auf einen Post-itZettel und klebt ihn auf seinen Monitor: BIN OBEN IN DER PERSO NALABTEILUNG.
Da werden die anderen gleich verstehen, falls ihm was zustoßen sollte. Holly wird Bescheid wissen. Freddy zwingt sich, den Weg zum Aufzug einzuschlagen. Er spürt Tränen in den Augen. Er ist ein toter Mann. Ja, hier geht ein toter Mann!
Die Aufzugtüren schließen sich bereits, als Jones ankommt, also muss er nach vorn stürzen und den Arm dazwischenstecken. Kra chend stoppen die Türen und fahren wieder zurück. Hinter ihnen wird die winzige, imposante Gestalt Sydneys sichtbar, die mit ver schränkten Armen dasteht. »Wohin so eilig?« Er tritt hinein. »Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du hier drin bist.« Das ist natürlich eine Lüge, aber Jones hat gelernt, dass du bei Sydney nichts erreichst, wenn du sie respektlos behandelst. In die ser Hinsicht hat sie Ähnlichkeit mit Roger ... und, jetzt wo er es sich überlegt, mit so ziemlich allen Managern, denen er bisher begegnet ist. Heißt das, dass Roger für höhere Aufgaben bestimmt ist? Lässt sich vorhersagen, wer in der Unternehmenshierarchie nach oben
klettert, wenn du einfach die Leute nimmst, die am verzweifeltsten auf öffentliche Anerkennung aus sind? Dieser Gedankengang lenkt ihn ab, bis Sydney ihr Handy herauszieht und anfängt, Tasten zu drücken. Er räuspert sich. Sie blickt erwartungsvoll zu ihm auf. »Entschuldigung. Die Sache ist die, ich frage mich schon die ganze Zeit, was Zephyr eigentlich macht. Ich meine insgesamt, als haupt sächliche Einnahmequelle. Irgendwie kann ich das nirgends raus finden. Ist das nicht komisch?« Er lacht. Sydney blickt wieder auf ihr Telefon. »So ist das nun mal mit den Rädchen im Getriebe. Sie müssen nicht die ganze Maschine verste hen. Sie müssen sich nur drehen.« »Klar, ich weiß, was du damit sagen willst. Aber wenn nun so ein Rädchen unbedingt die ganze Maschine verstehen möchte und sich von seinem Nichtwissen so verwirren lässt, dass es sich nicht mehr richtig dreht...« »Das wäre eine ganz schlechte Idee.« Sydney sieht ihn noch immer nicht an. Die Aufzugtüren gleiten auseinander. Sydney tritt in die Ein gangshalle und schreitet mit klack-klackenden Absätzen eilig über die mit Zephyrlogos verzierten Bodenfliesen. Aber Jones, der gut fünfundzwanzig Zentimeter größer ist als sie, kann ihr Tempo mü helos halten. »Es ist doch kein Geheimnis? Was das Unternehmen macht, meine ich?« Sie kommen an der Empfangstheke vorbei — an Gretel, an Eve, an Eves Blumenberg —, und Jones bricht der Schweiß aus. »Oder?« »Natürlich nicht. Hast du das Mission Statement gelesen?« »Ja, aber ...«
»Dir ist klar, dass wir eine Beteiligungsgesellschaft sind?« »Ja.« Jones spürt die Frustration in sich aufsteigen. »Aber das sagt mir überhaupt nichts. Hör mal, wenn es kein Geheimnis ist, warum kannst du mir dann nicht einfach sagen, was Zephyr macht?« Sydney bleibt so plötzlich stehen, dass Jones beinahe mit ihr zu sammenstößt. Vor ihnen schießen die Eingangstüren auseinander. Draußen ist ein warmer Tag, köstliche Luft weht herein und um spült Jones' Gesicht. »Jones, du hörst mir nicht zu. Es ist kein Ge heimnis. Aber solche Fragen verraten Orientierungslosigkeit. Über leg doch selbst: Was passiert wohl mit diesem Unternehmen, wenn alle Mitarbeiter unsere strategische Ausrichtung begreifen wollen? Wenn sie an den Entscheidungen des Vorstands herumkritteln? Mit achthundert Vorstandsvorsitzenden können wir kein Unternehmen führen. Es ist nicht deine Aufgabe und auch nicht meine und auch nicht die des Hausmeisters ...« Sie deutet auf einen Mann mit einem Mopp in der Hand, der an der Empfangstheke lehnt und mit Eve Jantiss plaudert. »... eine Unternehmensstrategie zu formulieren. Solche Entscheidungen sind Chefsache. Wenn du das nicht be greifst, kannst du auch kein Teamspieler sein.« Jones ist klar, dass dieser Vorwurf an Bösartigkeit nicht zu über bieten ist. Schließlich hat er die Motivationsposter gesehen. »Sind wir uns einig?« Ihr giftgrüner Blick zielt genau zwischen seine Augen. »Alles klar.« Noch bevor die Worte ganz heraus sind, ist Sydney durch die Eingangstür verschwunden. Niedergeschlagen tapert Jones zurück zum Aufzug. Dann fällt ihm was ein, und er macht einen Schlenker zur Empfangstheke. Eve Jantiss und der Hausmei
ster blicken ihn mit mäßigem Interesse an, doch seine Frage richtet sich an Gretel. »Hast du rausgefunden, wie ich einen Termin beim Vorstand bekomme?« »O ja! Die Antwort ist, es geht nicht.« »Es geht nicht«, wiederholt Jones dumpf. »Sie meinen, du sollst dich an deine Abteilungsleiterin wenden oder, wenn das nichts hilft, den Vorschlagsbriefkasten benutzen. Kennst du den Vorschlagsbriefkasten?« »Also, wie noch mal?« Jones trommelt mit den Fingern auf die Theke. »Ohne Termin kann ich nicht in den zweiten Stock rauffah ren. Einen Termin kriege ich nicht, weil ich mich zuerst an Sydney wenden muss. Und Sydney könnte zwar meine Frage beantworten, aber sie schmeißt mich raus, wenn ich sie ihr bloß stelle. Hab ich das richtig verstanden?« Jones merkt, dass er laut wird. Niemand ant wortet ihm: Gretel nicht, die schöne Eve Jantiss nicht und auch der Hausmeister mit dem Silberhaar nicht. »Was würde wohl passieren, wenn ich auf dem Parkplatz kampiere, bis jemand aus dem Vor stand aufkreuzt? Die haben doch reservierte Stellplätze, oder? Was würde passieren, wenn ich runtergehe und mich auf einen BMW setze?« »Dann holen sie wahrscheinlich den Betriebsschutz«, erwidert Gretel. »Ach, natürlich! Und wenn mich die Wachleute wegschleifen, predigen sie mir bestimmt, dass man immer schön den Instanzen weg einhalten muss. Und dabei hat niemand hier die geringste Ah nung, was dieses Unternehmen macht!«
»Da drüben an der Wand hängt doch groß und breit das Mission Statement, mein Junge«, meint der Hausmeister. »Sssss.« So hört sich die Luft an, die durch Jones' zu sammengebissene Zähne pfeift. Dann bemerkt er etwas: Auf der anderen Seite der Eingangshalle klemmt der Handwagen mit den Putzgerätschaften des Hausmeisters in der Treppenhaustür. Nor malerweise sind die Türen zum Treppenhaus immer verschlossen — das weiß Jones seit dem Stromausfall im August. Sein Blick huscht von der Tür zum Hausmeister. Dann setzt er sich in Bewe gung. Er hat schon fast die ganze Strecke hinter sich, ehe jemand rea giert. Es ist Eve, die anscheinend als Erste verstanden hat, was er vorhat. »Wo willst du hin?« In ihrer Stimme liegt etwas Merkwür diges, das nicht unbedingt nach Furcht und Drohung klingt und ihn im Gegenteil noch weiter aufstachelt. Als der Hausmeister »Hey« ruft, fängt Jones an zu laufen. Mit einem Tritt stößt er den Putzwa gen weg, der gegen die Wand knallt und umstürzt. Mit bunten Flüssigkeiten gefüllte Plastikflaschen kullern über die Fliesen. Im Treppenhaus kommt er sich vor wie in einem Gefrierschrank. Hier ist es locker zehn Grad kälter als in der Eingangshalle, es riecht nach Beton, und tiefe Echos branden herab. Jones zieht hinter sich die Tür zu, die mit einem befriedigenden Klick einschnappt. Jones ist sich sicher, dass der Hausmeister ziemlich lang mit seinen Schlüsseln herumfummeln wird, um sie wieder aufzukriegen. Dann rast er immer zwei Betonstufen auf einmal nehmend die Treppe hoch. Es ist komisch. Irgendwie hat er gar nicht das Gefühl, seine Karriere zu ruinieren.
Freddy ist im dritten Stock eingetroffen. Er ist so hoch oben im Gebäude, dass ihn ein Schwindel packt und seine Knie zittern. Oder vielleicht ist es doch kein Schwindel. Vielleicht ist es das Schild vor seiner Nase: PERSONALWESEN Hier sieht alles ganz anders aus. Die Beleuchtung ist gedämpft. Die Wände sind nicht cremefarben, wie sonst überall, sondern dun kelblau. Es gibt keine Motivationsposter, keine orangeschwarzen Logos, keine hingeklebten Ausdrucke von Tortendiagrammen. Al les ist still und schattig. Auf dem Korridor werden Freddys Schritte vom Teppich völlig verschluckt, und er könnte fast glauben, dass die Wände ein- und ausatmen. Es gibt einen Empfang, doch niemand sitzt hinter dem Schreib tisch. Er ist schwarz und glatt und blank. Kein Telefon, kein Notiz block, kein Keramikbär. Und keine Klingel, um jemanden zu rufen. Nervös schaut sich Freddy um. Hinter dem Empfang gibt es zwei völlig gleich aussehende Türen, eine links, die andere rechts. Viel leicht ist das eine Art Test. Vielleicht führt die eine in den Himmel und die andere in die Hölle. Oder vielleicht führen beide in die Höl
le, immerhin ist das hier die Personalabteilung. Freddy beißt sich auf die Unterlippe. Am besten, er bleibt einfach, wo er ist. Die linke Tür klickt und öffnet sich. »Hallo?« Er tritt vor und späht durch die Tür. Sie geht auf einen langen, leeren Korridor mit einem halben Dutzend identischer Tü ren auf beiden Seiten. Mit vorgeschobenem Kinn setzt er einen Fuß vor den anderen und tritt durch die Tür. Halb rechnet er damit, dass sie sich gleich hinter ihm schließt — flick —, dass die Lichter ausgehen und jemand (oder etwas) im Dunkeln in irres Gelächter ausbricht. Doch natürlich ge schieht nichts davon. Er latscht nur einen Korridor im Personalwe sen hinunter. Trotzdem kostet es ihn große Überwindung, nicht zurück zum Aufzug zu flüchten. Alle Türen sind geschlossen. Keine hat ein Schild. Dann klickt es auf einmal links, und Freddy bleibt stehen. Die Tür schwingt auf. Dahinter ist ein dunkler Konferenzraum. Aber es gibt keinen Tisch, nur einen Plastikstuhl mitten im Zimmer. Vorsichtig tritt Freddy ein. »Soll ich mich auf den Stuhl setzen?« Schweigen ist die einzige Antwort. Er geht weiter und setzt sich. Da entdeckt er, dass er einen riesigen Spiegel vor sich hat. Die Stimme kommt aus dem Nichts, und es ist die gleiche wie die in der Voicemail. »Name bitte. Geben Sie Ihren Namen an.«
Als er an einer Treppenhaustür mit der Zahl 15 vorbeikommt, be merkt Jones zum ersten Mal eine gewisse Schwäche in den Waden. Im zehnten Stock zittern seine Beine schon sichtbar, und das Hemd klebt ihm am Rücken. Im Fünften strauchelt er und beschließt blit zartig, sich eine kleine Pause zu gönnen. Nachdem er halb fallend mit dem Hintern auf einer Betonstufe gelandet ist, nützt er die Ge legenheit, um Luft in seine brennende Lunge zu pumpen. Wie auf Kommando tropft ihm der Schweiß von der Stirn, den Jones ohne nennenswerten Erfolg mit dem Ärmel abzuwischen versucht. Es dämmert ihm, dass er keinen besonders guten Eindruck auf den Vorstand machen wird. Von unten hallt ein Geräusch die Treppe herauf. Jones lauscht an gestrengt. Wieder hört er es (oder ist das nur ein Echo?), dann Stimmen. Eine sagt etwas wie: »Oben oder unten?«, und die andere antwortet: »Muss oben sein.« Jones überlegt, ob das Leute vom Be triebsschutz sind, die ihn verfolgen. Dann brüllt einer von ihnen: »Mr. Jones? Sie dürfen das Treppenhaus nicht betreten. Wir müssen Sie zum Personalwesen bringen. Sind Sie da oben? Mr. Jones? Am besten wir beeilen uns.« Damit ist die Sache klar, Jones stemmt sich hoch und klettert weiter. Ein paar Minuten später, nach weiteren herkulischen Anstrengun gen, steht er vor einer Tür mit der Zahl 2 darauf. Die Wachleute sind ihm immer noch auf den Fersen, aber mindestens fünf Stock werke unter ihm. Jones greift nach dem Riegel, um die Tür zu öff nen ... doch dann zögert er. Er blickt nach oben. Im zweiten Stock sitzt der Vorstand. Aber im ersten Stock ist Daniel Klausman, der
CEO. Jones denkt: Warum soll ich mich mit dem Zweitbesten begnügen? Jetzt, wo er schon so weit gekommen ist. Seine Beine legen Beschwerde ein, die Jones umgehend abweist. Er stolpert die letzten Betonstufen nach oben. Und dann endet die Treppe vor einer Tür mit der Zahl 1. Sie sieht genauso aus wie alle anderen Türen, an denen er vorbei gekommen ist. Er ist fast ein wenig enttäuscht. Halb hat er ein gol denes Tor, Schäfchenwolken und strahlendes Licht erwartet. Ach was. Er legt die Hand auf den Metallriegel und drückt ihn nach un ten. Ker-lack! Wie ein Gewehrschuss hallt es durch den Treppen schacht. Von unten dringen die Rufe der Wachleute herauf. Wegen des Echos sind die einzelnen Worte kaum zu verstehen, aber Jones hat das dumpfe Gefühl, dass er mit harten Konsequenzen rechnen muss. Doch das wusste er bereits. Er hofft nur, dass es im ersten Stock keine Wachleute gibt. Sollte er das alles für nichts und wieder nichts auf sich genommen haben, wird er wirklich stinkwütend. Mit der Schulter schiebt er die Tür auf. Der Wind reißt ihn fast von den Beinen. Er muss sich am Türrah men festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Was er sieht, weicht so stark von seinen Erwartungen ab, dass sich sein Gehirn einen Moment lang weigert, das Wahrgenommene zu verar beiten. Nach Luft schnappend klammert er sich fest und versucht, die Tränen wegzublinzeln. Sein erster dämlicher Gedanke ist: Der hat ja ein Riesenbüro! Jones ist auf dem Dach.
»Sie kennen meinen Namen«, sagt Freddy. »Sie haben mich doch hierher zitiert.« »Geben Sie Ihren Namen an«, wiederholt die Stimme. Er schluckt. Wahrscheinlich wollen sie seinen Namen fürs Proto koll. Was immer das auch für ein Protokoll ist. Oder — jetzt kommt ihm eine andere Idee — vielleicht müssen sie erst noch ihre Anlage einstellen. Freddy hat gehört, dass sie bei einem Lügendetektortest am Anfang einfache Fragen stellen, um die Parameter festzulegen. Die echten Fragen heben sie sich für später auf. »Freddy Carlson.« »Ihre Angestelltennummer.« »4123488.« »Abteilung.« »Schulungsverkauf. Vierzehnter Stock.« Er räuspert sich. »Das steht alles in meinem Antrag.« »Sie haben eine Behinderung.« Freddy bewegt sich auf seinem Stuhl. Sein Gegenüber im Spiegel macht es genauso. Auf Freddy macht sein Spiegelbild einen äußerst schuldbewussten Eindruck. »Ja.« »Ihre Behinderung ist Dummheit.« »Ich kann nichts dafür. Ich meine, ich hab alles probiert, in der Schule und so. Ich bin einfach nicht besonders hell.« »Anscheinend ist Ihnen bei dem Antrag ein Fehler unterlaufen.«
»Kann gut sein«, meint Freddy. »Ich bin so ein Doofkopf, wahr scheinlich sind es sogar mehrere.« »In Ihrem Antrag steht, dass Sie dumm sind.« »Richtig.« »Wir sind der Meinung, Sie halten die Abteilung Personalwesen für dumm.« »Was? O nein. Nein, natürlich nicht.« »Sie kennen doch die Richtlinien des Personalwesens im Umgang mit Behinderungen.« »Ich ... hab vielleicht schon mal davon gehört.« »Sie wissen, dass sich das Personalwesen streng an die ge setzlichen Vorschriften hält.« »Ja, ich nehme es an.« »Das Personalwesen ist stolz darauf sicherzustellen, dass bei Ze phyr Holdings Chancengleichheit herrscht.« »Klar.« »Ihnen ist bekannt, dass noch nie ein Mitarbeiter von Zephyr Hol dings aufgrund einer Behinderung diskriminiert wurde.« »Das war mir nicht bekannt, nein, aber ich finde es super.« »Sie wissen, dass die anerkannte Behinderung eines Mitarbeiters die Möglichkeiten des Personalwesens zu einer Kündigung des be treffenden Mitarbeiter einschränkt.« »Wahrscheinlich schon«, bemerkt Freddy »Wie viel ist sieben mal drei?« »Ein ...« Freddy beißt sich auf die Zunge. Ganz schön trickreich! Die erste richtige Frage, die sie ihm gestellt haben. »Bin mir nicht sicher, hab meinen Taschenrechner nicht dabei.«
»Was ist die Gegenrichtung von Osten?«
»Links.«
»Was geht nach oben, Stalaktiten oder Stalagmiten?«
»Keine Ahnung«, antwortet Freddy wahrheitsgemäß.
»Ein Unternehmen steht und fällt mit der Teamarbeit, richtig oder
falsch?« Freddy zögert. Das kommt ihm vor wie eine Fangfrage. Auch wenn jemand noch so geistesschwach ist, ist es undenkbar, dass er die Einstellung von Zephyr zur Teamarbeit nicht mitgekriegt hat. »Richtig.« Eine Pause. Als die Stimme wiederkommt, klingt sie tiefer und ein wenig zornig. »Ihnen ist bekannt, dass kein behinderter Mitarbeiter von Zephyr je aufgrund seiner Behinderung diskriminiert wurde?« »Das haben Sie schon gesagt.«
Schweigen.
»Ja«, ergänzt Freddy.
»Solche Mitarbeiter wurden versetzt.« Die Stimme gibt dem letzten
Wort eine leichte, aber deutlich erkennbare Betonung. »Sie wurden übergangen. Sie wurden zurückgestuft. Ihnen wurde das Gehalt ge kürzt. Aber sie wurden nicht diskriminiert.« Freddy schluckt. »Oh.« »Sie wurden in Positionen mit mehr Verantwortung befördert, ha ben aber keine Gehaltserhöhung bekommen. Sie wurden in Teams mit unvereinbaren Persönlichkeiten eingebunden. Ihnen wurden Projekte mit gegensätzlichen Zielen anvertraut. Sie wurden zum Finanzverwalter der Wohltätigkeitsveranstaltungen gemacht. Sie durften die ehrenvolle Aufgabe übernehmen, die Kundendatei zu
bereinigen. Sie wurden gebeten, Universitätsabsolventen aus zubilden.« »Okay, hören Sie ...« »Sie haben keinerlei Anerkennung für ihre Leistungen erhalten. Gerüchte über sie und unattraktive Kollegen wurden in Umlauf gesetzt. Auf ihren Monitoren hat es angefangen zu blitzen. Der Fe derdruck in ihrem Bürostuhl hat versagt. Ihre Stifte sind ver schwunden. Sie haben mehrere Vorgesetzte bekommen. Sie ...« »Es reicht«, ruft Freddy. »Ich hab kapiert, okay?« Eine Pause tritt ein. Eine Pause, um den Augenblick auszukosten. »Wie viel ist sieben mal drei?«, fragt die Stimme.
Holly kommt aus der Mittagspause zurück (im Deli um die Ecke hat sie einsam einen Salat verspeist) und findet Ostberlin verlassen vor. Jones ist nicht zu sehen, und auch von Freddy keine Spur — bis auf den Post-it-Zettel an seinem Monitor, auf dem BIN OBEN IN DER PERSONALABTEILUNG steht, aber das hält sie für einen Witz. Sie seufzt. Irgendwie fühlt sie sich unruhig. Sie steht auf und geht zum Wasserkühler. Holly ist am Ende eines achtwöchigen Aerobicplans angelangt, da muss sie viel trinken, um nicht auszutrocknen. Sie zieht einen Pappbecher heraus, füllt ihn, wirft den Kopf zurück und schluckt so lange, bis sie ihn geleert hat. Als sie den Becher senkt, kommt sie in den Genuss eines besonde
ren Anblicks: Roger starrt im Vorbeigehen auf ihre Brüste. Schnell zuckt sein Blick nach oben zu ihrem Gesicht. Er zwinkert. »Hi, Hol ly.« »Hi, Roger.« Er marschiert weiter. Holly setzt den Becher ab. Das ist etwas, wo ran sie sich einfach nicht gewöhnen kann: die gnadenlose Schamlo sigkeit von Geschäftsmännern. Holly möchte bestimmt nicht zickig sein, aber es will ihr nicht in den Kopf, wieso schlaffe, schmerbäu chige, untrainierte Arschlöcher mit einem völlig abgehobenen Selbstwertgefiihl glauben, dass sie bei ihr eine Chance haben. Aber das ist ja im Grunde das Problem. Innerhalb des Unternehmens sind sie tatsächlich wichtig, zumindest wichtiger als Holly. Also hat ein grusliger Manager mit feuchten Lippen in der Auftragsbearbeitung ein Anrecht darauf, mit ihr zu flirten. Nicht dass er ihr offen einen Antrag machen würde — das wäre ein klarer Verstoß gegen die Richtlinien des Unternehmens zu Beziehungen zwischen Mitarbei tern (Kurzfassung: Sie sind verboten) —, doch das macht das Ganze fast noch schlimmer. Sie muss so tun, als wäre das alles nur freund liches, harmloses Geplänkel. Wenn das Umfeld eine ehrlichere Reaktion zulassen würde, könnte sie diesen Typen wenigstens sa gen, dass sie sich ins Knie ficken sollen. Sie müsste in der Unternehmenshierarchie weiter oben sein, dann gäbe es so was nicht. Die Männer würden kuschen vor ihrer Bedeu tung und es nicht wagen, mit ihr zu flirten. Wenn die Männer we nigstens besser aussehen würden (oder, wie in Rogers Fall, nicht solche arroganten Wichser wären), würde es ihr vielleicht gar nicht so viel ausmachen. Aber die bilden sich alle ein, das Beste bei einem
schwellenden Bauch ist nicht eine halbe Stunde täglich auf dem Laufband, sondern ein straff über den Wanst gespanntes Hemd. (Manchmal entsteht eine Lücke, wenn der Bauch die Krawatte vom Hemd wegdrückt, und manchmal liegt die Krawatte sogar praktisch horizontal.) Wenn sie so wenig auf ihr eigenes Aussehen geben, wie kommen sie dann dazu, sich an ihrem zu erfreuen? Es gibt viel bei Zephyr, was Holly nicht begreift, aber die Regeln des firmeninter nen Flirtspiels gehen ihr mehr als alles andere gegen den Strich. Sie kann sich einfach nicht damit abfinden. Inzwischen sagen ihr die Leute schon Unfreundlichkeit nach. Sie tritt wieder an ihren Schreibtisch und holt zwei Seiten aus der Eingangsablage. Anscheinend ist Elizabeth vorbeigekommen. Holly soll für sie eine Zusammenfassung der Zusammenfassung erstellen, die sie vor ein paar Stunden für Sydney geschrieben hat. Holly spürt, dass eine Migräne im Anzug ist. Was wohl passieren würde, wenn sie einfach verschwinden und den Rest des Tages im Fitness raum verbringen würde? Freddy kommt herein und bricht auf seinem Stuhl zusammen. Sie sieht ihn an und wartet auf eine Erklärung, aber er starrt nur auf seine Tastatur. »Was ist denn?« »Hast du meine Notiz nicht gesehen?« Er zieht den Post-it-Zettel von seinem Monitor und reißt ihn langsam in kleine Fetzen. »Schon, aber das ist doch nicht dein Ernst.« Freddy bleibt stumm. »Du warst wirklich im Personalwesen?« Sie setzt sich gerade hin. »Wie war es? Was machen die da oben? Haben sie Bürozellen?« »Ich möchte nicht darüber reden.«
»Oh, okay, wenn du meinst.«
Freddy schweigt beharrlich.
»Komm schon, irgendwas wirst du mir doch erzählen können.«
Er schüttelt den Kopf.
»Na schön.« Damit wendet sich Holly wieder ihrem Computer zu.
Jones lehnt die Tür sanft an den Rahmen, damit sie nicht zufällt und ihn aussperrt. Dann macht er ein paar vorsichtige Schritte aufs Dach hinaus. Er steht auf einer grauen Betonplatte, die überzogen ist mit den Exkrementen von ungefähr einer Million Tauben. Viele dieser Tauben beobachten ihn gerade von ihren Sitzplätzen auf di versen Antennen und Luftschächten. Auf einer Seite sind die oberen Abschnitte mehrerer besonders hoher oder weiter bergaufwärts stehender Wolkenkratzer zu sehen und eröffnen mit jedem Fenster einen winzigen, getönten Einblick in eine Geschäftswelt en miniatu re. Er geht zur Absperrung am Dachrand, und sein Blick gleitet hi nab auf den kriechenden Mittagsverkehr in der First Avenue. Hier oben ist es erstaunlich leise. Jones starrt hinunter, während der Wind an seinen Haaren zerrt und den Schweiß auf seinem Rücken eiskalt werden lässt. Erst nach einer Minute beginnt sein Gehirn wieder zu arbeiten und weist ihn darauf hin, dass er es noch vor Ankunft der Wachleu te bis runter in den zweiten Stock schaffen kann, wenn er sich beeilt.
Er kann zu seinem ursprünglichen Plan zurückkehren, allerdings leicht modifiziert mit der Frage an den Vorstand, weshalb das Büro von Daniel Klausman das Dach ist, verdammt noch mal. Er rennt zurück zur Tür. Dabei fällt ihm zum ersten Mal ein Lastenaufzug gleich daneben auf. Aus dem Treppenhaus dringen verdächtig laute Geräusche, und als er die Tür aufzieht, sieht er sich zwei schwit zenden, rotgesichtigen Männern in blauer Uniform gegenüber. »Sie«, sagt einer von ihnen. Jones hat das Gefühl, es handelt sich hier um den Auftakt zu einem Satz mit zwei Worten, doch er ver zichtet auf die Auflösung. Er knallt die Tür zu und legt den Riegel vor. Er drückt die Aufzugtaste (sie ist rot und aus Gummi) und war tet. »Mr. Jones«, lässt sich einer der Wachleute durch die Tür ver nehmen, »wenn Sie Mr. Klausman nicht sofort in Ruhe lassen, wird das zu ernsten Konsequenzen für Sie führen.« Der Aufzug kommt. Jones springt hinein. Er drückt auf 2 — VOR STAND
—, und zu seiner großen Erleichterung schließen sich die
Türen. Tief durchatmend prüft er seine Manschetten und zieht die Kra watte gerade. Er hebt das Kinn. Er mag vielleicht gegen eine Menge Regeln von Personalwesen und Betriebsschutz verstoßen haben, doch es liegt auf der Hand, dass das Unternehmen seinen Mitarbei tern etwas vorgaukelt. Das heißt, sie sind irgendwie quitt, findet Jones. Er wartet auf das Ping, mit dem sich die Türen öffnen. Aber es kommt nicht. Er blickt auf. Der Aufzug sagt bereits 4 und schaltet unmittelbar darauf auf 5 um. Beunruhigt streckt er die Hand wieder nach der 2 aus und sieht, dass sie nicht erleuchtet ist. Er drückt: Sie leuchtet auf und erlischt wieder. Er probiert die 5,
dann die 6, schließlich wischt er mit der Hand über die ganze Ta stenreihe, auf und ab. Alle bleiben höchstens eine Sekunde hell. Wird das Ding etwa schneller? Blitzartig schießt ihm durch den Kopf, dass das die Methode sein muss, mit der Zephyr überflüssige Mitarbeiter loswird: Der Aufzug saust in freiem Fall hinab ins Un tergeschoss. Dann spürt er, dass der Fahrstuhl langsamer wird. Vielleicht also doch nicht. Auf der Anzeige erscheint die 11. Sie erlischt und wird von der 12 ersetzt. Anscheinend wird er im Vierzehnten halten: Ab teilung Schulungsverkauf. Angewidert atmet er aus. Wahrschein lich wartet dort schon der Betriebsschutz mit einem Karton auf ihn, in dem sich seine Habseligkeiten befinden. Die 12 wird dunkel, und der Aufzug hält an. Es folgt eine merk würdig lange Pause. Dann passieren zwei Dinge gleichzeitig: Der Fahrstuhl macht Ping, und auf der Anzeige erscheint die Zahl 13. Jones blickt auf die Tastentafel, für den Fall, dass er nicht mehr richtig tickt. Aber nein, er hat sich richtig erinnert. Es gibt keinen Knopf mit der 13. Die Türen gleiten auf. Als Erstes springt ihm die Beleuchtung ins Auge. Es sind keine Neonröhren, die ihm die Netzhaut piercen. O nein, es ist ein wei ches, gedämpftes Licht, das aus unsichtbaren Versenkungen in der Decke herabfällt. Zweitens: Die Farbe des Teppichbodens ist nicht das übliche, schrille Orange, sondern ein sanftes, beruhigendes Blau. Drittens: Der Aufzug führt auf einen Korridor — was an sich noch keine Überraschung ist —, aber dieser Korridor ist aus Glas, und dahinter kann Jones überall Büros erkennen, Büros mit eigenen
Glaswänden. Das sind Beobachtungen, die ihn wirklich fesseln. Erst als er sich vom Schock dieser Eindrücke erholt hat, fallen ihm die weniger bedeutenden Dinge auf, wie zum Beispiel die Gruppe von Leuten, die vor ihm steht. Vorneweg der Hausmeister. Neben ihm Eve Jantiss. »Mr. Jones«, sagt der Hausmeister. »Ich bin Daniel Klausman. Willkommen bei Projekt Alpha.« »Nach unserem Standardverfahren müssten wir Sie natürlich aus dem Gebäude werfen.« Klausman hat noch immer seinen grauen Overall an, aber es ist vor allem sein stahlfarbener Schopf, dem Jo nes' ganze Aufmerksamkeit gehört. Was er sieht, überzeugt ihn, dass dieser Mann wirklich der Vorstandsvorsitzende von Zephyr Holdings ist: Er hat das Haar eines Topmanagers. Klausman legt Jones die Hand auf den Arm und führt ihn in einen Korridor. »Wir würden verbreiten, dass man Sie beim Stehlen eines Computers erwischt hat, und das wäre Ihr Ende. Wäre nicht das erste Mal.« Jones wirft einen verstohlenen Blick auf Eve, die strahlend lächelt. Der Anblick all dieser schimmernden Zähne macht ihn noch nervö ser. Klausman bleibt stehen, und alle folgen gehorsam seinem Beispiel. »Aber Sie haben etwas an sich, Mr. Jones. Etwas Besonderes. Das ist uns schon von Anfang an aufgefallen, nicht wahr?« Er sieht Eve an. Sie nickt, und als sich Klausman abwendet, zwinkert sie. »Aber die Sache mit dem Dach war entscheidend. Das hat noch niemand vor Ihnen geschafft. Sie sind ein neugieriger Bursche, nicht? Das gefällt uns sehr. Es wäre interessant gewesen, Sie zu beobachten. Aber da
das jetzt nicht mehr möglich ist... wollen wir Ihnen ein Angebot machen.« »Sie geben sich als Hausmeister aus.« Jones ist klar, dass das keine besonders scharfsinnige Bemerkung ist, aber er muss erst einmal einige Fakten klären, damit sie eine gemeinsame Grundlage finden. »Manche Führungskräfte machen ein Riesentrara, wenn sie ab und zu an vorderster Front arbeiten. Zum Beispiel diese McDonald'sManager, die einmal im Jahr Hamburger brutzeln und alle fünf Mi nuten Pause machen, um im Büro anzurufen. Und dann glauben sie, sie wissen, wie es an der Basis zugeht. Ich dagegen lebe an der Basis. Niemand ist seinen Mitarbeitern näher als ich.« Er lächelt, als würde er von Jones Worte der Anerkennung erwarten. »Und Eve ist keine echte Rezeptionistin.« »Sie ist eine Rezeptionistin, so wie ich ein Hausmeister bin.« Um Klausmans Mundwinkel zuckt ein leises Lächeln. »Sie ist tatsächlich eine Rezeptionistin, aber in erster Linie ist sie was anderes.« »Sprechen Sie weiter.« Jones sieht sich um. Durch die Glasscheiben erkennt er mehrere Monitorwände, die Bilder aus dem gesamten Unternehmen zeigen. »Sie beobachten. Alles, was im Unternehmen passiert.« »Schon ganz nah dran. Können Sie auch den Rest erraten?« Er holt Luft. »Der Zweck von Zephyr Holdings ...« Er zögert. "Wenn er sich täuscht, werden sich alle hier totlachen. Eve nickt ihm aufmunternd zu. Er entscheidet sich: Was soll's. »Zephyr ist ein Testumfeld. Ein Labor, in dem Managementtechniken erprobt und die Ergebnisse dokumentiert werden. Eine Art Experiment also.«
Niemand lacht. Klausman sieht sich um. »Was hab ich euch ge sagt?« »Sie haben mal wieder den richtigen Riecher gehabt«, meint ein Anzugträger. Klausman breitet die Arme aus. »Ich bin das Alpha und das Ome ga.« Jetzt lachen sie. Schließlich kapiert auch Jones. »Das OmegaManagementsystem.« Ihm zittern die Knie. »Sie haben es geschaf fen. Und hier entwickeln Sie die Techniken dafür.«
In der Abteilung Schulungsverkauf geschieht etwas Schreckliches mit Elizabeth: Sie findet Roger attraktiv. Es muss ein Witz sein, den sich ihr verräterischer Körper und ihre von der Schwangerschaft angeheizten Hormone mit ihr erlauben. Doch Elizabeth kann über haupt nicht darüber lachen. Roger? Wer sie mit Roger zusammenb ringen will, hat nicht die geringste Ahnung von ihr. Elizabeth ist schockiert von der Meinung ihres Körpers über sie. Sie weiß noch nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Zuerst schien alles klar. In ihrem Leben ist kein Platz für ein Baby. Aber diese ursprüngliche Reaktion ist schon schwächer geworden. Ein verborgener, geheimer Teil ihres Bewusstseins, der Teil, der sein Veto gegen das Kondom eingelegt hat, gewinnt zunehmend an Ein fluss. Langsam sickert es ihr bis ins Mark. Elizabeth verliert immer
mehr an Boden. Es ist ein schockierender Prozess, oder wäre es zu mindest, wenn es nicht gleichzeitig so betäubend wäre. Den wahren Umfang seiner Kraft ahnt sie nur in Momenten wie diesem, wenn sie plötzlich entdeckt, dass sie Roger mit offenem Mund anstarrt. Roger fängt ihren Blick auf. Er stutzt überrascht. Elizabeth lässt den Mund zuschnappen und schwenkt auf dem Drehstuhl zurück zum Schreibtisch. Sie ballt die Hände zu Fäusten. Nein, bitte lieber Gott, bloß das nicht!
»Ich weiß auch nicht, wieso das für alle so überraschend ist«, ver kündet Klausman. Er thront hinter dem größten Schreibtisch, den Jones je gesehen hat. Zwei Wände seines Büros sind aus Glas, und draußen ziehen tiefe Wolken vorbei. Jones hat das Gefühl, als wür de das Gebäude nach vorn kippen; immer wieder ertappt er sich dabei, dass er sich nach links lehnt, um nicht ins Straucheln zu gera ten. »Ich wende einfach nur wissenschaftliche Untersuchungs methoden auf ein Unternehmensumfeld an. Von Wissenschaftlern wird erwartet, dass sie nicht mit lebenden Menschen arbeiten. Sie benutzen Labors. Sie experimentieren unter kontrollierten Bedin gungen. Und nach dem gleichen Konzept geht auch Zephyr vor.« »Aber Sie experimentieren doch mit lebenden Menschen«, wendet Jones ein.
»Nein, nein, nein. Zephyr Holdings ist ein rein künstliches Gebil de. Das Unternehmen hat keine wirklichen Kunden. Ach so, Sie meinen, die Angestellten sind lebende Menschen. Ja, das stimmt. Aber wir tun ihnen ja nicht weh. Wir geben ihnen Arbeit — eine Arbeit, die im Grunde sinnlos ist, schon wahr, doch das wissen sie nicht. Und genaugenommen sind auch die meisten richtigen Ar beitsstellen sinnlos. Wenn man irgendeine Position in einem Unter nehmen beseitigt, dann schaffen es die anderen Angestellten immer, das auszugleichen. Es ist so. Das haben wir doch bei der Logistik bewiesen.« »Trotzdem ... ist das moralisch nicht irgendwie ...« »Im Gegenteil, Zephyrmitarbeiter sind besser dran, gerade weil sie nicht mit Kunden klarkommen müssen.« »Wieso, was ist denn an Kunden so schlimm?« Klausman lacht. Die Anzugträger hinter Jones glucksen. »Seht es ihm nach, er ist noch jung.« Er beugt sich vor. »Kunden sind Ungeziefer, Mr. Jones. Sie stecken Unternehmen mit Krankhei ten an.« Er spricht seine Worte mit großer Feierlichkeit aus. »Ein Unternehmen ist ein System. Es ist darauf ausgerichtet, immer wie der einen relativ überschaubaren Ablauf von Handlungen durchzu führen, und zwar so effizient wie möglich. Der Feind eines Systems ist Variation, und Kunden sorgen für Variation. Sie wollen Spezial produkte. Sie kommen mit besonderen Voraussetzungen. Sie geben ihre Bestellungen beim Service auf und richten Beschwerden an den Verkauf. Meine größte Errungenschaft, und da bin ich vollkommen aufrichtig zu Ihnen, Mr. Jones, ist nicht das Omega-Management system und die damit verbundenen Einnahmen — die sich im Übri gen durchaus sehen lassen können. Wenn ich auf etwas stolz bin,
dann auf Zephyr selbst. Ein kundenfreies Unternehmen. Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen, Mr. Jones. Ein kundenfreies Unter nehmen. Wissen Sie, in der Anfangszeit haben wir es mit Kundensi mulationen probiert. Eine einzige Katastrophe. Das ganze Projekt ist dabei draufgegangen. Bei unserem Neuanfang habe ich jede Ab teilung mit externen Kunden gestrichen. Das war ein Gefühl, als würden wir eine Horde räudiger Hunde erschießen. Ich will jetzt nicht behaupten, dass Zephyr Holdings perfekt ist. Aber wir sind auf dem besten Weg, Mr. Jones. Wir sind auf dem besten Weg.« »Das ist alles ein bisschen viel auf einmal.« Jones weiß nicht, was er von dem Ganzen halten soll. »Ich würde Ihnen gern ein paar Tage Zeit lassen, damit Sie es sich überlegen können. Aber das geht nicht. Entweder Sie sind für uns oder gegen uns. Tut mir leid.« »Sie bieten mir einen Job an? Als was?« Klausman hält die Hände hoch. »Ich bin nur für die Visionen zu ständig. Eve, würdest du bitte Mr. Jones irgendwohin an einen ru higen Ort bringen und ihn über die Details informieren?«
Auf dem Weg nach draußen zwinkert Eve dem CEO zu, und Klausman sagt: »Fass ihn nicht zu hart an.« Beide lachen, was Jones ein wenig beunruhigt. Eve hakt sich bei Jones ein und führt ihn
durch einen Korridor. »Willst du in die Sonne? Immer wenn ich ein paar Stunden hier war, reicht es mir schon wieder.« Jones entgegnet irgendwas, aber was genau, merkt er gar nicht, weil sich Eves linke Brust an seinen Arm schmiegt. Als sie die Hand nach dem Aufzugknopf ausstreckt, weht ihr Haar an seinem Ge sicht vorbei, und der Duft dringt ihm in die Nase, steigt direkt hi nauf in sein Gehirn und beginnt an seinen Reglern herumzufum meln. »Manchmal wartet man hier fünf Minuten.« Eve schaut auf die Anzeige. »Er hält nur, wenn er leer ist. In der Mittagszeit ... ah, da kommt er ja.« Sie tritt ein. Jones folgt ihr. In den Spiegelwänden des Fahrstuhls sieht er sich und Eve, Eve und sich, immer so weiter bis in alle Ewigkeit. »Ich muss schon sagen, ich bin tief beeindruckt, wie schnell du uns auf die Spur gekommen bist. Die meisten Leute, die bei Zephyr arbeiten, sind dumm wie Ochsen. Das meine ich genau so. Das stumpft total ab. An manchen Abenden gehe ich nach Hause und starre mich einfach im Spiegel an, bis mir wieder ein fällt, dass ich nicht zu ihnen gehöre.« Sie lächelt. »Und was bist du? Was hast du für eine Position?« »Was meinst du? Wie kontrollieren wir wohl Zephyr Holdings?« Jones überlegt. Dann fällt sein Blick auf die Tastentafel, und die Antwort ist klar. »Das Personalwesen. Die sind keine wirkliche Ab teilung. Sie gehören zu Alpha.« Eve grinst. »Nein, falsch. Das Personalwesen ist einfach so. Wir haben ihnen viel eigenen Entwicklungsspielraum gegeben, und das ist dabei rausgekommen. Du solltest mal die Berichte lesen, wirklich faszinierend. In der Personalabteilung werden die Leute zu richti
gen Menschenhassern. Nein, Alpha arbeitet anders: Das ganze Un ternehmen ist von Agenten unterwandert. Wir sind nur zwölf. Die meiste Zeit machen wir nichts anderes als zuschauen. Aber wenn wir was Besonderes untersuchen wollen, ziehen wir im Hinter grund ein paar Strippen, damit es in die richtige Richtung geht.« »Und niemand bei Zephyr weiß davon.« »Genau.« Ihre Zähne schimmern. »Also, wenn du einen Bekannten siehst, benimm dich ganz natürlich.« »Was?« Die Aufzugtür öffnet sich. Eve durchquert mit klackenden Absätzen die Eingangshalle. Jones eilt ihr nach. Er fühlt sich unglaublich befangen. Gretel lächelt und winkt ihm zu, und Jones ist so durcheinander, dass er ihren Gruß gar nicht richtig erwidert. Weiß Gretel was? Er bemerkt die Über wachungskamera in der Ecke, und plötzlich wird ihm klar, wie all gegenwärtig diese Kameras sind. In jedem Raum des Gebäudes be findet sich eine. Bis jetzt hat er nicht weiter darüber nachgedacht. Mit einem Rauschen gleitet die Eingangstür auf. Eve gräbt in ihrer Handtasche, dann biep-biept das hübsche Audi-Kabrio, und Eve wirft ihm die Schlüssel ins Gesicht. Erschrocken fängt er sie auf. »Du kannst doch einen Wagen mit Gangschaltung fahren?« »Meinst du das ernst?« »Natürlich.« Sie klinkt die Beifahrertür auf, verfrachtet die langen Beine ins Auto und trommelt mit den Fingern auf die Armatur. »Was stehst du da herum wie angeschraubt?«
Jones braucht einen Moment. Eine Frage schießt ihm durch den Kopf. Kann es sein, dass ich gleich dieses Auto fahre? Dann denkt er: Ja, es kann sein. Er öffnet die Fahrertür und lässt den Hintern auf den Sitz gleiten. Das Leder flüstert ihm einladend zu. Er legt die Hände aufs Lenk rad und atmet ganz tief durch. »Gehörst du etwa zu den Leuten, die voll auf Autos stehen?« »Bis jetzt eigentlich nicht«, entgegnet Jones. Eve lacht. »Fahren wir.«
»Ich sag lieber noch nichts«, meint Eve. »Ich hab das Gefühl, du bist mit dem Auto beschäftigt.« Jones schaltet in den Vierten, und der Wagen schießt nach vorn. Besonders beeindruckt ihn, wie sehr ihm der Audi vertraut. Sein alter Toyota, der im Augenblick im zweiten Untergeschoss des Ze phyr-Gebäudes parkt, reagiert weniger auf die Steuerung, als dass er ihren Rat in Erwägung zieht. Für dieses Auto dagegen ist jedes Zucken von Jones wie das Evangelium. Er hat Probleme, eine gleichmäßige Geschwindigkeit zu halten, weil das Auto auf das Pochen seines Herzens durch die Schuhsohlen hört. Eves Stimme dringt an sein Ohr. »Interessant, findest du nicht? Ich meine, dass man mehr Disziplin braucht, um eine Hochleistungs maschine im Griff zu haben. Man muss selbst mehr wie eine Ma
schine sein.« Sie streckt sich in der Sonne. Jones möchte gern einen Blick riskieren, aber er lässt es lieber, um das Auto nicht ums näch ste Straßenschild zu wickeln. »Mann, was für ein schöner Tag. Neu lich wollte mir jemand weismachen, dass Kalifornien der einzige Ort in Amerika ist, wo es sich aushalten lässt. Aber ich verstehe nicht, wie man das ganze Leben nur in Sommerklamotten rumren nen kann.« Sie zieht etwas über ihr Haar und bindet es zu einem Pferdeschwanz zusammen, der im Wind herumhüpft. »Okay, kommen wir zum Geschäft. Du bist ein intelligenter Typ, da kann ich mir das Verkaufsgeschwafel sparen, oder?« »Danke.« »Wenn du nicht bei Alpha einsteigst, ist deine Karriere vorbei.« Jones macht einen unbeabsichtigten Schlenker. Ein weißer Ford hupt ihn an. »Kann ich vielleicht doch das Verkaufsgeschwafel hö ren?« Sie lacht. »Wenn du zu Alpha kommst, kriegst du von Anfang an 125000 Dollar jährlich, du bist da, wo die später weltweit anerkann ten innovativen Managementtechniken entwickelt werden, und du sammelst Erfahrungen, die man mit Geld nicht kaufen kann. Statt deine Tage mit Sesselfurzern und Zeitabsitzern zu vergeuden, mischst du bei den großen Kalibern mit und hast Spaß.« Jones schielt kurz hinüber. »Was soll das heißen, meine Karriere ist vorbei?« »Was passiert, wenn die Leute herausfinden, dass Zephyr ein Schwindel ist?« »Dann ... ist das Experiment wahrscheinlich gelaufen. Ihr könnt den Laden dichtmachen.«
»Und deswegen können wir nicht zulassen, dass jemand was aus plaudert. Wir müssten Maßnahmen ergreifen, um dich daran zu hindern.« »Was für...« ›»Stephen Jones war ein fähiger und produktiver Mitarbeiter, hat jedoch gelegentlich das Internet dazu benutzt, um pornographische Darstellungen mit Tieren herunterzuladen.‹« »O Gott!« Sie lacht. »Nur ein Scherz. Irgendwie. Aber du verstehst, was ich meine. Du würdest uns nicht in deinem Lebenslauf erwähnen wol len. Natürlich kannst du dir was einfallen lassen, um die Lücke in deinem beruflichen Werdegang zu erklären, aber bei solchen Din gen werden Arbeitgeber leicht misstrauisch. Wenn ich die Wahl hätte zwischen dir und jemandem, der nicht aus irgendwelchen mysteriösen Gründen sein Graduiertenpraktikum verpasst hat — ich wüsste genau, wen ich nehme.« »Und wenn ich verspreche, niemandem von Projekt Alpha zu er zählen?« »Wir gehen lieber auf Nummer Sicher«, meint Eve. »Es steht ein fach zu viel auf dem Spiel.« Jones schweigt. »Aber du darfst nicht nur auf die negativen Seiten schauen. Das Wichtigste ist doch, dass es eine große Chance für dich ist. Also, sag einfach ja.« »Ja zu was? Ich weiß doch gar nicht, was ich machen soll.« »Das Gleiche wie wir: ein Agent werden. Du behältst deine offi zielle Stelle, aber du arbeitest auch an Projekten für Alpha. Wenn
Klausman deine Ideen gefallen, kriegst du dein eigenes Projekt. Vielleicht kommt es sogar in die nächste Ausgabe von Das OmegaManagementsystem. Und das lohnt sich dann wirklich. Manchmal stellen wir bei anderen Unternehmen unsere Ergebnisse vor und erarbeiten eine maßgeschneiderte Lösung für sie. Das ist das Beste. Man fliegt im ganzen Land herum, wohnt in Fünf-Sterne-Hotels, stellt alles dem Kunden in Rechnung ... Ich sag dir Jones, das ist noch besser, als wenn man für jemand anderen Spesen abrechnet.« »Aber dann weiß bei Zephyr niemand, was ich mache.« »Nein.« Eve kichert. »Nein, Jones.« Er hält an einer roten Ampel und sieht zu ihr hinüber. Sie lässt ei nen Arm aus dem Auto hängen und blickt ihn lächelnd durch ihre dunkle Sonnenbrille an. Trotzdem gibt sich Jones noch nicht ge schlagen. »Ich glaube, es wäre mir unangenehm, meine Kollegen zu bespitzeln.« »Oahhh.« Es klingt, als hätte Eve so etwas schon tausendmal ge hört. »Also gut, pass auf. Alle Unternehmen bespitzeln ihre Mitar beiter. Sie haben Überwachungskameras. Sie lesen die E-Mails. Die Angestellten wissen, dass sie beobachtet werden. Wir sind nur bes ser organisiert als die meisten Unternehmen.« »Eine Überwachungskamera ist was völlig anderes als jemand, der sich als ganz normaler Kollege ausgibt.« Sie antwortet nicht, also fügt er hinzu: »Meinst du nicht?« »Ganz ehrlich? Nein. Wenn du mitkriegst, dass ein Kollege das Unternehmen abzockt, und es deinem Chef meldest, ist das falsch? Und genau das machen wir. Wir suchen nach unproduktiven Ab läufen und bemühen uns dann, sie zu korrigieren.«
»Aber ...« »Willst du auch noch die Ethikansprache hören? So eine haben wir nämlich auch. Auf Video, das ganze Gelaber von wegen Verbesse rung der Wirtschaftlichkeit, Schaffung von Arbeitsplätzen, Stand ortsicherung und so weiter. Wenn es vorbei ist, hältst du jeden, der nicht bekehrt ist, für einen Kommunisten, das garantier ich dir. Das Video verteilen wir an unsere religiösen Anleger. Du bist aber nicht religiös, oder?« »Eigentlich nicht...« »Ist ja irgendwie auch ein Witz. Wenn uns jemand um das Ethik video bittet, wissen wir, dass er schon längst angebissen hat. Die Leute brauchen nur eine Rückversicherung, damit sie auch ein gu tes Gefühl dabei haben können. Das ist nämlich die Sache mit den Werten, Jones: Werte sind das, was sich die Leute ausdenken, um zu rechtfertigen, was sie getan haben. Hattest du an der Uni Wirt schaftsethik?« »Ja.« »Da bringen sie einem bei, dass das Verhalten der Menschen von ihren Werten bestimmt wird, nicht? Das ist absoluter Scheiß. Wenn man die Leute beobachtet so wie wir, stellt man schnell fest, dass es genau umgekehrt ist. Weißt du, ich stehe hinter dem, was Alpha macht, voll und ganz. Aber zerbreche ich mir den Kopf darüber, ob es dabei auch bis ins kleinste Detail moralisch zugeht? Nein, denn man kann sich alles als moralisch wertvoll zurechtlegen. Rede mal mit einem Kriminellen — einem Steuerhinterzieher, einem Serien mörder, einem Kindsmissbraucher — jeder von denen wird seine Handlungen irgendwie rechtfertigen. Sie werden dir mit größtem
Ernst erklären, warum sie ihre Taten begehen mussten. Warum sie trotz allem gute Menschen sind. Das ist nämlich der Punkt: Wenn die Leute von Ethik reden, meinen sie immer die anderen, nie sich selbst. Dieses Thema werde ich erst an dem Tag ernst nehmen, an dem irgendwo jemand hergeht und zugibt, dass er persönlich un moralisch ist.« Hupen. Jones merkt, dass die Ampel grün ist. Er lässt den Wagen nach vorn schießen, würgt ihn fast ab, dann hat er ihn wieder unter Kontrolle. »Ehrlich gesagt, bin ich überrascht«, fährt sie fort. »Ich verstehe nicht, warum du dich nicht auf diese Chance stürzt. Hast du Angst vor Herausforderungen? Das würde vielleicht erklären, warum du die Stelle bei Zephyr überhaupt angenommen hast, einem für dich völlig unbekannten Unternehmen.« »Nein, ich habe die Stelle genommen, weil ...« Jones unterbricht sich. Er möchte den Satz lieber nicht beenden. »Ich habe keine Angst vor Herausforderungen.« »Dann sag ja. Ich meine, was willst du denn sonst mit deiner Kar riere machen? Willst du dich wirklich die nächsten zehn Jahre ho charbeiten, bis du einen Posten im mittleren Management hast? Fünfundneunzig Prozent aller Jobs sind zum Kotzen, Jones. Deswe gen kriegen die Leute auch Geld dafür. Wir bieten dir eine Stelle, die zu den restlichen fünf Prozent gehört. Das ist die wirklich span nende Arbeit. Und noch gut bezahlt. Dafür würde dir jeder deiner Kollegen im Schulungsverkauf die Kehle durchschneiden. Da muss man doch nicht lange überlegen.«
Die Worte »zehn Jahre« erwischen ihn kalt. Sie klingen furchterre gend plausibel. Jones stellt sich vor, wie er sich eine Dekade lang mit Machtspielen im Unternehmen und dem Alltagskram herum schlägt, bis er jede Begeisterung verloren hat und schließlich so er fahren und käuflich ist, dass er für eine Position in Frage kommt, wie Eve sie ihm gerade anbietet. »Hey, was bist du süß«, ruft sie. »Dein Gesicht ist wie ein Fernse her, da sieht man genau, was du denkst.« Jones schweigt betreten. Er fährt an den Straßenrand. Es tut ihm in der Seele weh, den Motor abstellen zu müssen. Nach einer Minute hat er es sich überlegt. »Okay, ich mache mit.« Eve grinst. »Gut, freut mich.« Sie legt ihm die Hand auf den Schenkel und drückt. »Jetzt müssen wir aber zurück. Ich muss die Geschichte mit der Computerpornographie abblasen.«
Um 16.00 Uhr implodiert die Kreditabteilung. Bisher war das Kre ditwesen dafür zuständig, sicherzustellen, dass Abteilungen von Zephyr nur Aufträge von Kunden annehmen, die sowohl zahlungs fähig als auch -willig sind. Natürlich sind auch die Kunden Abtei lungen von Zephyr, doch einige von ihnen haben ihre Finanzen besser im Griff als andere. Es hat schon Fälle gegeben, in denen Ab teilungen — wir wollen hier keine Namen nennen — etwas bestellt und dann versucht haben, die Zahlung hinauszuzögern. Das sind
die Todfeinde des Kreditwesens. Um sie in die Schranken zu wei sen, führt das Kreditwesen eine schreckliche Waffe: die Liefersperre. Erfolgreich eingesetzt, paralysiert diese Waffe das Opfer, weil es der für sein weiteres Überleben entscheidenden Möglichkeit be raubt ist, Dinge einzukaufen. Durch seine finanziellen Adern strömt Gift. Die einzige bekannte Methode zur Aufhebung einer Liefer sperre liegt darin, das Kreditwesen davon zu überzeugen, dass die Finanzen der betroffenen Abteilung hervorragend in Schuss sind — und das ist natürlich schwierig, solange ihr Arbeitsbetrieb praktisch lahm gelegt ist. Alle Abteilungen, die je von einer Kreditsperre heimgesucht wurden, sind zugrunde gegangen. Was einmal mehr beweist — betont das Kreditwesen —, wie vorausschauend es war, die Liefersperre zu verhängen. Im ganzen Unternehmen ist viel Geld darauf gewettet worden, dass eines von zwei Ereignissen zuerst eintritt: dass das Kreditwe sen das Personalwesen erdrosselt oder dass das Personalwesen das Kreditwesen in die Wüste schickt. Die Schlacht zwischen den zwei Superabteilungen hat sich schon seit längerem abgezeichnet, und beide Seiten haben bereits Warnschüsse vor den Bug erhalten. Letz ten Monat hat das Kreditwesen das Personalwesen wegen bestimm ter aufgeblähter Spesenabrechnungen mit einer Abmahnung belegt; im Gegenzug strich das Personalwesen die Belegschaft des Kredit wesens von achtundzwanzig auf sechsundzwanzig zusammen. Die Spannungen eskalierten. In abgedunkelten Konferenzräumen wur den Allianzen geschmiedet. Ein Gerücht begann zu kursieren: Der Vorstand denke darüber nach, die Liefersperre von einer verbind lichen Vorschrift zu einer reinen Empfehlung herabzustufen. Wenn
das stimmte, war der Krieg unvermeidlich, denn das Kreditwesen hatte keine andere Wahl mehr, als das Personalwesen anzugreifen, solange es noch konnte. In den Abteilungen Kredit und Personal wurden in aller Eile viele Jahresurlaube genommen. Doch all dies spielt jetzt keine Rolle mehr — wegen zweihundert Blatt Briefkopfpapier. Am Montagmorgen waren diese frisch aus der Abteilung Betriebs- und Hilfsstoffe gelieferten Briefbogen plötz lich spurlos verschwunden. Sie zu ersetzen hätte weniger als drei Dollar gekostet, doch der Kreditabteilungsleiter erklärte den Dieb stahl nicht nur zu einem Verbrechen, sondern auch zu einem An schlag auf den heiligsten aller Grundsätze: Teamarbeit. In einem Rundschreiben an die gesamte Abteilung forderte er die unverzüg liche Rückgabe des entwendeten Papiers. Nachforschungen wurden eingeleitet. Die Mitarbeiter wurden zu Einzelgesprächen bestellt. Personalakten wurden gesichtet. Schreibtischschubladen wurden geöffnet und ihr Inhalt sorgfältig durchkämmt. In der Hitze der Ermittlungen wurden unvorsichtige Anschuldigungen erhoben. Die durch den Konflikt mit dem Personalwesen ohnehin schon ange schlagene Moral der Mitarbeiter erreichte einen historischen Tief stand. Heute Morgen finden die Kreditangestellten auf ihren Schreibti schen eine Notiz ihres Abteilungsleiters. Darin rügt er drei Leute wegen schlampiger Arbeitspraktiken, die im Zuge der jüngsten Un tersuchung ans Licht gekommen sind. Er betont, wie wichtig es ist, zwei laufende Großprojekte erfolgreich abzuschließen. Und zuletzt, ganz beiläufig, erwähnt der Abteilungsleiter noch, dass er das ver
misste Briefpapier gefunden hat — es war in seinem Schreibtisch falsch abgelegt, damit ist die Angelegenheit geklärt. Erzürnte Kreditmitarbeiter stürmen das Büro des Abteilungs leiters. Er hat Glück, dass er noch rechtzeitig die Tür erreicht; er sperrt ab und geht hinter seinem Schreibtisch in Deckung. Während die Angestellten draußen herumschreien und gegen die Glaswand trommeln, wählt er die Nummer des Personalwesens. Er möchte seine ganze Abteilung kündigen, erklärt er: alle, alle, wie sie da sind! Das Personalwesen ist nur allzu bereit, ihm den Gefallen zu erweisen. Nach zwei Minuten tritt ein Dutzend blauuniformierter Wachleute aus den Aufzügen. Als der letzte Angestellte weggeschleift ist und der Betriebsschutz mit den Aufräumarbeiten begonnen hat, sendet das Personalwesen eine Voicemail an das ganze Unternehmen. Darin wird bekannt gegeben, dass sich das Kreditwesen entschieden hat, aus Kosten gründen alle bis auf einen Mitarbeiter zu entlassen. Und da eine Gruppe von weniger als fünf Angestellten nicht den Anforderungen einer Abteilung entspricht, existiert der Bereich Kreditwesen nicht mehr. Mit sofortiger Wirkung werden Liefersperren vom Personal wesen verhängt.
»Wo warst du denn?«, erkundigt sich Freddy. »Jemand ist ge kommen und hat sich deinen Computer angeschaut. Wir dachten schon, du bist geflogen.« »Jemand hat sich meinen Computer angeschaut?« »Ja, so ein Typ vom Betriebsschutz. Aber anscheinend hat er bloß neue Laufwerke eingebaut.« »Woher willst du das so genau wissen?« »Er hat es gesagt.« »Hat er auch bei euren Computern was eingebaut? Holly?« »Ich glaube, Freddy hat wirklich Recht.« Holly strebt zum Was serkühler. »Du wirst allmählich paranoid.« »Findet ihr es nicht ein bisschen merkwürdig, dass ...« Jones bricht ab. »Entschuldigung, dass ich ständig damit anfange. Tut mir leid.« Freddy wartet, bis Holly verschwunden ist. »Apropos merkwür dig, ich hab gehört, du bist mit Eve Jantiss irgendwohin gefahren!« Er lächelt. Es wirkt gequält. »Äh, ja.« »Wow.« Freddy schüttelt den Kopf. »Kann mir nicht vorstellen, wie du das geschafft hast.« Jones merkt, dass sich hinter dieser Bemerkung eine Frage ver birgt, zu der sich Freddy nicht überwinden kann: Was läuft da eigent lich? »Ach, weißt du, ich hab was über die Blumen gesagt, da sind wir ein bisschen ins Gespräch gekommen, sie dachte, ich hab sie ihr geschickt, das hab ich natürlich verneint...« »Sie dachte, du hast sie ihr geschickt? Aber ich schicke ihr die Blumen schon viel länger, als du bei uns bist.« Jones bricht der Schweiß aus. »Stimmt, das ist merkwürdig.«
»Wie kann sie da glauben, sie sind von dir?« »Wahrscheinlich ... jedenfalls hab ich ihr gesagt, nein, sie sind nicht von mir, aber ich weiß vielleicht, von wem sie sind. Und sie darauf: ›Du musst es mir sagen.‹ Natürlich hab ich nichts verraten«, wirft Jones schnell ein, weil Freddy auf einmal aussieht, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt, »aber sie wollte es unbedingt wissen und hat mich zu einer Fahrt in ihrem Auto eingeladen ... na ja, so ist das gekommen.« Freddy bleibt stumm, und Jones fügt hinzu: »Die Sache mit den Blumen hat sie wirklich neugierig gemacht. Ich finde, du solltest ihr sagen, dass sie von dir sind.« Freddy starrt ins Leere. »Vielleicht sollte ich mit ihr reden.« »Genau, genau. Erst lernt sie dich ein bisschen kennen, und wenn du ihr das mit den Blumen sagst, weiß sie schon, dass du ein netter Typ bist.« Freddy nickt langsam. »Danke. Danke, Jones. Weißt du, zuerst ... ich dachte schon, du willst dich an sie ranmachen.« Er lacht. »Nein, nein! Also wirklich.« Freddy setzt ein Lächeln auf, ein echtes diesmal. »Du bist ein guter Mensch, Jones.« »Jetzt hör bloß auf«, antwortet Jones. »Hör bloß auf.« Morgens um Viertel nach sieben glühen die Lichter des Zephyrge bäudes im Nebel wie die Bullaugen eines sinkenden Schiffs. Die zarten Strahlen der ersten Sonne ranken sich in den Nachthimmel, doch für Zephyr Holdings spielt das keine Rolle. Dank der ewig wachen Neonröhren ist es drinnen immer neun Uhr. Das Ausschal ten der Lichter wäre ja gleichbedeutend mit der Erwartung, dass die
Mitarbeiter irgendwann nach Hause gehen. Also bleibt die Beleuch tung bei Zephyr immer an, egal, ob jemand da ist oder nicht. Kies knirscht unter Jones' Schuhen, als er den Parkplatz überquert. Für diese Uhrzeit fühlt er sich erstaunlich wach, zumal er noch nicht mal Kaffee getrunken hat — doch er ist ja auch unterwegs zu sei nem ersten Geheimtreffen bei Projekt Alpha. Er betritt die Ein gangshalle und strebt mit quietschenden Sohlen zu den Aufzügen. Alle vier Fahrstühle sind offen und warten auf ihn. Jones steigt ein und stellt die Aktentasche ab. Eve hat ihm genaue Anweisungen gegeben, wie er den dreizehnten Stock erreicht: 1) einen leeren Aufzug nehmen, 2) die (hochgestufte) Ausweiskarte durchziehen, 3) gleichzeitig auf die Tasten 12 und 14 drücken und 4) auf ÖFFNEN drücken, wenn sich der Fahrstuhl ungefähr auf Höhe des dreizehnten Stocks befindet. In der Theorie klingt das nicht be sonders kompliziert, doch Jones rechnet schon damit, dass er einige Zeit zwischen den Stockwerken hin und her pendeln wird, bis er den vierten Schritt hinbekommt. Deshalb ist er auch eine Viertel stunde zu früh dran. Aber er schafft es auf Anhieb: Auf der Anzeige erscheint die 13, und die Türen öffnen sich auf blauen Teppich und gedämpftes Licht. Jones ist doch ein wenig stolz auf sich. Von weiter vorn dringt Stimmengewirr an sein Ohr, und er folgt dem Glaskorridor, bis er zu einem Konferenzraum kommt. Ein hal bes Dutzend Leute ist bereits da, unter anderem auch Eve Jantiss, die an einem Eichentisch lehnt, der ungefähr die Größe von Jones' Wohnung hat. Der Tisch kann nicht aus einem einzigen Stück Holz bestehen, das wäre lächerlich, aber er sieht ganz danach aus. Er hat einen vollen, warmen Braunton, der das Licht der versenkten Lam
pen eigentlich nicht widerspiegelt, sondern sanft verteilt. Der Tisch ist so herrlich, dass er Jones auffällt, obwohl Eve in einem kurzen schwarzen Rock und einer Bluse vor ihm steht. »Jones!«, begrüßt sie ihn. »Wegen dir hab ich gerade fünfzig Dollar gewonnen.« Sie deu tet durch die Glasscheibe auf eine Monitorwand. »Dreizehnter Stock beim ersten Versuch. Tom dachte, dass wir dich holen müssen.« »Hi«, sagt Tom, ein Mann in mittlerem Alter mit einer leuchtend blauen Krawatte, der sich gerade auf dem Buffettisch am anderen Ende des Zimmers umsieht. Jones nickt ihm zu. Eve erzählt: »Wisst ihr, einmal hab ich diesen Trick im Hyatt in New York ausprobiert — gleichzeitig auf 12 und 14 und dann auf ÖFFNEN gedrückt — und hab einen Haufen FBI-Agenten überrascht. Ungelogen, ich schwöre es.« Alle im Zimmer kichern, also wischt Jones den erstaunten Aus druck von seinem Gesicht und ersetzt ihn durch ein Lächeln. Er blickt sich nach einem Platz um, wo er seine Aktentasche abstellen kann. »Unter dem Tisch«, hilft ihm Eve, »und nimm dir was von dem Gebäck.« Damit und mit der Vorstellung der anderen Agenten von Projekt Alpha ist Jones die nächsten paar Minuten beschäftigt. Sie scheinen sehr kontaktfreudig, doch das herausstechendste Merkmal ist, dass sie offensichtlich alle sehr intelligent sind. Jones sieht schon kom men, dass er diesen Leuten eine Zeit lang hinterherhinken wird. »Ah, das Wunderkind.« Die Stimme kommt von hinten. Jones dreht sich um und sieht Blake Seddon, der ihn von der Tür angrinst. Blake ist der Alphaspion im Vorstand. Er ist sonnengebräunt, Ende
dreißig, trägt einen Nadelstreifenanzug, und seine Zähne sind so strahlend weiß, dass Jones unwillkürlich blinzelt. Haben seine El tern einfach darauf gewettet, dass ein Modellathlet mit wuchtigem Kinn und vollem Haar aus ihm wird, fragt sich Jones, oder hat sich das aus seinem Namen entwickelt? Ein wunderbarer Anlass für eine Debatte über Veranlagung kontra Erziehung. »Weißt du, wenn du hier die neue große Nummer sein willst, solltest du dir wenigstens einen neuen Anzug zulegen.« Jones erkennt, dass das als Beleidigung gemeint ist. Er blickt auf seinen Anzug hinunter, der zwei Monate alt ist und vierhundert Dollar gekostet hat. »Ach, fick dich, Blake«, sagt Eve liebenswürdig. Blake lacht. Eve nimmt Platz und macht sich über ihr Croissant her. »Jones«, nu schelt sie mit vollem Mund, »komm, setz dich.« Jones gehorcht. Der Stuhl überrascht ihn. An manchen Stellen gibt er nach, an anderen stützt er. Das muss ein teurer Stuhl sein, kein Zweifel. Probeweise verschiebt er seinen Hintern und streckt den Rücken. Noch besser. Jones hatte keine Ahnung, dass Stühle so was können. Nicht zu fassen, sein ganzes Leben ist er einfach davon ausgegangen, dass Stühle ein gewisses Standardmaß an Komfort bieten, während die Elite der Gesellschaft sich das hier gönnt. »Hör nicht auf Blake.« Eves Bemerkung richtet sich nicht an Blake, aber sie senkt auch nicht die Stimme. »Er fühlt sich nur bedroht.« »Wieso?« Sie sieht ihn an. »Das weißt du nicht? Wow. Du bist wirklich süß.« Jones ist leicht bedröppelt. Was soll er auf so was antworten? Er entscheidet sich für eine halb lächelnde und halb zweifelnde Miene.
»Was für ein wunderschöner Morgen!« Mit diesem Ausruf schrei tet Daniel Klausman in den Raum. Der allgemeinen Reaktion ent nimmt Jones, dass das wohl sein üblicher Gruß ist. Er trägt seinen Overall, an den sich Jones erst noch gewöhnen muss, und lässt sich in einen riesigen Ledersessel am Kopf des Tisches sinken. Die Agen ten fassen das als Signal zur Eröffnung der Sitzung auf, doch Jones fällt auf, dass sie es auch nicht unbedingt eilig haben, so wie das im Schulungsverkauf bei einer Konferenz von Sydney der Fall wäre. Anscheinend sieht Klausman das mit dem Protokoll eher locker. Der CEO beugt sich nach rechts und blickt auf ein Gebäckstück, das auf einer Serviette vor einer jungen Frau mit zarter Brille liegt. »Was hast du da, Mona? Kuchen?« »Mille-feuille.« Mona bedeckt zierlich ihren Mund, ehe sie schluckt. »Ein französisches Gebäck. Vanillepudding, Blätterteig und, wenn ich mich nicht täusche, ein Hauch Mandeln.« »Gut?« »Sehr gut.« »Schön. Die Firma hat zwar unverschämte Preise, aber dafür ver spricht sie auch Qualität.« »Und sie hält ihr Versprechen«, ergänzt Eve. »Letzte Woche hatte ich ein Gebäck, das war der reinste Orgasmus.« »Nun, dann übertrifft sie die Erwartungen sogar.« Klausmans Blick wandert langsam um den Tisch. »Wollen wir beginnen?« »Projekt 3811.« Blake macht den Anfang. »Schulungsdurchfüh rung. Wir erforschen die Belastungsgrenzen in Situationen mit ver änderlichen Vorgaben. Kurz zusammengefasst, haben wir vier Frei willigen eine Aufgabe übertragen, die nach ihrem Kenntnisstand
von größter Bedeutung ist, sie in einen Konferenzraum gesetzt, und alle paar Stunden ändern wir in kleinerem, aber doch entscheiden dem Umfang die Ziele ab, so dass sie immer weiter arbeiten müs sen.« »Hmm«, macht Klausman. »Aber Essen und Wasser kriegen sie schon, oder?« »O ja. Sie bestellen Pizza und so was. Sehr interessant, das Ganze. Sie sitzen jetzt schon seit achtundzwanzig Stunden da drin, und keiner von ihnen hat sich verdrückt. Anscheinend möchte niemand die anderen im Stich lassen, obwohl alle nach Hause wollen. Ich muss wohl nicht lang hervorheben, was darin für ein Potential liegt. Doch es gibt auch negative Nebeneffekte: Geschrei, zunehmende Aggressivität, sinkende Bereitschaft zur Einhaltung der Kleiderord nung, solche Dinge.« »Ich wette, du kannst sie nicht länger als zwei Tage da drin fes thalten«, stichelt Eve. Blake zieht eine Augenbraue hoch. »Die Wette nehme ich an.« »Eine Flasche Dom Perignon?« »Ich meine, du schuldest mir noch eine Flasche von unserer letzten Wette.« »Dann kriegst du eben zwei.« »Wenn ich bis jetzt noch nicht mal die eine habe, warum soll ich dir dann glauben, dass du mir später zwei gibst?« »Eins zu null für dich.« Eve wirkt amüsiert. »Kinder«, mahnt Klausman. »Könnt ihr das bitte wann anders klä ren? Tom, wie läuft es mit deinem Entpersönlichungsprojekt?«
»Naja, eher durchwachsen. Obwohl...« Er räuspert sich und wirft Jones einen kurzen Blick zu. »Ach so«, unterbricht Klausman. »Natürlich. Mr. Jones, Sie sind, ohne es zu wissen, Teil dieses Projekts. Wir experimentieren mit der Abschaffung von Vornamen. Die Mitarbeiter sollen dazu ermuntert werden, einander nur noch mit Nachnamen anzureden. Deshalb fehlt auf Ihrer Ausweiskarte der Vorname.« »Oh«, antwortet Jones. »Ich hatte mich schon gewundert.« »Nach meiner Theorie rückt dadurch die auszuübende Tätigkeit stärker in den Mittelpunkt, und die Persönlichkeit verliert an Ge wicht«, erklärt Tom. »Beim Militär wird das auch so gehandhabt. Kann ich dir eine Frage stellen: Wie hast du es empfunden? Nach meinen Beobachtungen hast du keine Einwände erhoben.« »Ah ... nein, ich glaube nicht. Irgendwie seltsam fand ich es schon ... aber alle haben einfach Jones zu mir gesagt, und das war's dann.« Tom nickt zufrieden. »Es ist noch zu früh für Prognosen. Aber wir erkennen bereits jetzt einen potentiell bedeutsamen Abwärtstrend bei Privatunterhaltungen am Wasserbehälter und Telefon.« Beifälliges Gemurmel. Jones sieht, dass Tom ein anerkennendes Lächeln von Eve erntet, und ebenso überraschend wie unsinnig durchzuckt ihn die Eifersucht. »Gut, sehr gut. Mona, hast du das alles notiert?« »Bin so weit.« Leise spricht sie in etwas, das wie ein kleines Dik tiergerät aussieht, das aber bestimmt auch Dinge beherrscht wie ihren Kalender organisieren, ihr Auto aufschließen und ein Telefon gespräch anmelden. »Der Nächste bitte. Jones. Jones?«
»Ja, Sir?« »Was haben Sie für mich?« Jones spürt, dass alle Blicke auf ihm ruhen. »Sie meinen eine Pro jektidee?« Leises Glucksen. Blake, auf der anderen Seite des Tisches, lacht ein wenig lauter und länger als unbedingt nötig. »Ja, genau«, bestätigt der Vorstandsvorsitzende väterlich. »Dafür sind Sie doch da.« Jones räuspert sich. »Also, das ist alles noch ganz neu für mich, da weiß ich natürlich nicht so genau, was Ihnen vorschwebt... aber ich hätte da an was mit Rauchen gedacht.« Er macht eine kleine Pause, falls jemand dazwischenfahren will mit: Wir haben doch schon ein Raucherprojekt, Jones oder: Nicht schon wieder, warum wollen alle Neuen immer ausgerechnet was mit Rauchen machen? »Wie Sie sicher wissen, gehen einem durchschnittlichen Unternehmen mit jedem rauchen den Angestellten aufgrund der zusätzlichen Pausen pro Jahr 5,7 Arbeitstage verloren. Das Gesetz verbietet zwar diskrimierende Maßnahmen gegen Raucher, doch Unternehmen, die das Rauchen in ihrer Belegschaft zurückdrängen, können mit einem Produktivi tätszuwachs rechnen. Ganz zu schweigen natürlich von den ge sundheitlichen Vorteilen.« »Richtig«, wirft Tom ein. »Für Raucher zahlen wir höhere Beiträ ge.« »Ah ja, stimmt, das kommt noch dazu«, fährt Jones fort. »Meine erste Idee wäre, Nichtraucher mit zusätzlichem Urlaub zu belohnen, weil sie keine Rauchpausen einlegen — zum Beispiel ein Tag mehr im Jahr.«
Von gegenüber mischt sich Blake ein. »Oder wir ziehen den Rau chern zur Strafe einen Tag ab. Oder wir lassen sie Überstunden ma chen.« »Also ... nein, das geht nicht. Das wäre gegen das Gesetz.« Jones will sich nicht mit Blake in die Wolle kriegen und widersteht daher der Versuchung, mit einem Zusatz wie bekanntlich Öl ins Feuer zu gießen. »Peng!« Eve hat da anscheinend weniger Bedenken. »Außerdem«, greift Jones den Faden auf, »steht so auch die Beleg schaft dahinter. Vielen Nichtrauchern ist es ein Dorn im Auge, dass Raucher untertags zusätzliche Pausen kriegen. So werden sie sich bestätigt fühlen in ihrer Empörung und auch eher bereit sein, die Sache anzusprechen, was wiederum den Druck auf die Raucher er höht. Es ist natürlich ein Reizthema, aber angesichts der Vorteile für alle Beteiligten, denke ich, wäre ein Versuch gerechtfertigt.« Eve lächelt. »Hat dieser Junge was auf dem Kasten, oder was?« »Dann hatte ich noch die Idee ...« Jones gewinnt allmählich Selbst vertrauen. »Man könnte eine eigene Raucherzone einrichten. Zur zeit stehen die Leute in zwei oder drei Gruppen bei den Eingängen herum.« »Moment mal«, unterbricht ihn Tom. »Wie soll das dazu beitra gen, die Leute vom Rauchen abzubringen?« »Wir stellen eine kleine Zaunattrappe und ein Schild auf, auf dem Raucherpferch steht«, antwortet Jones. »Dann ist es ein bisschen pein lich für sie.« Lachen perlt durch den Raum. »Gefällt mir«, stellt Klausman fest. »Ich sehe, Sie werden gut zu uns passen, Jones.« Er sinniert einen
Moment. »Ja, machen Sie es. Nur zu den Urlaubstagen sollte es kei ne offizielle Ankündigung geben. Wir verbreiten einfach das Ge rücht, dass das Unternehmen darüber nachdenkt. Was den Pferch angeht, da könnten wir doch hinten beim Notgenerator was hinstel len, oder?« »Ich kann es bei der Infrastrukturverwaltung in Auftrag geben«, schlägt Blake vor. »Ausgezeichnet!« Klausman leckt sich die Lippen. »Also, bei die sem ständigen Gerede übers Rauchen kriegt man richtige Gelüste.« »Geht mir auch so.« Eve seufzt. »Dabei hab ich vor einem Jahr aufgehört.« »Wie wär's mit einer kleinen Pause?« Klausman erhebt sich. »Zehn Minuten oder so?«
Megan, die Sekretärin der Abteilung Schulungsverkauf, stolpert durch die Glastür des Fitnessraums im siebzehnten Stock. Sie trägt einen großen, ausgebeulten Trainingsanzug, der mit mehreren Li tern gefrorenem Schweiß an ihrer Haut festklebt. Ihr Herz schlägt so fest, dass sie es in den Ohren spürt. Heute Morgen hat Megan be schlossen, zu Fuß in die Arbeit zu gehen. Als sie das Zephyrgebäu de sehen konnte, beschleunigte sie ihren Schritt; dann, ganz am En de, verfiel sie in einen veritablen Trab. Es ist das erste Mal seit der Highschool, dass Megan gelaufen ist, und sie wäre fast gestorben.
Aber jetzt ist sie glücklich. Gestern Abend vorm Fernseher zappte sich Megan von ihrem bequemen Sofa aus quer durch die Kanäle, von einer blöden Sendung zur nächsten, bis sie schließlich in einem Infomercial bei einem Motivationstrainer landete. »Deine Ziele sind in deiner Reichweite«, verkündete der Sprecher, und sein kantiges Kinn duldete keinen Widerspruch. Megans Finger auf der Fernbe dienung zögerte. »Das Einzige, was dich zurückhält, bist du.« Allein in ihrem Bett fragte sich Megan später, ob es nicht wirklich so war. Warum sitzt sie, eine halbwegs intelligente vierundzwan zigjährige Frau, vierzig Stunden pro Woche hinten an der Wand vor einem Schreibtisch, ohne mit einer Menschenseele zu reden, nur damit beschäftigt, ihre Keramikbären anders anzuordnen? Warum führt sie gewissenhafte Aufzeichnungen über alles, was Jones macht (der in letzter Zeit sehr häufig nicht an seinem Platz ist; hoffentlich hat er keine gesundheitlichen Probleme), statt mit ihm zu sprechen? Ja, Sydney will, dass sie weit entfernt von den anderen sitzt, und ja, die Angestellten von Zephyr Holdings schenken dem Leben von Sekretärinnen in der Regel keine große Beachtung, aber Megan hat die Kraft, das zu ändern. Wenn sie mehr Selbstvertrauen hätte, könnte sie mehr Unterhaltungen anfangen. Wenn sie abnehmen und sich schönere Kleider kaufen würde ... Alles nur Phantasien. Aber der Mann im Fernsehen hat gesagt, das Einzige, was Megan zurückhält, ist Megan, und wenn er Recht hat, dann ist auch Jones nicht unerreichbar für sie. Sie kann nicht einmal daran denken, ohne rot anzulaufen wie eine Idiotin. Einfach lächerlich die Vorstellung, dass sich Jones in sie verlieben könnte. Er ist jung und dynamisch und umgeben von
Frauen, die ohne jede Mühe attraktiver sind als Megan, Frauen wie Holly Vale (blond, schlank, sportlich), Gretel Monadnock (schön) und Eve Jantiss (deprimierend schön). Ihr ganzes Leben hat Megan im Schatten solcher Mädchen gestanden, die ihr glänzendes Haar zurückwarfen, ihre vollkommenen Zähne blitzen ließen und sich an den schlanken Hals fassten, wenn sie über die Witze all der Jungen lachten, die Megan je gemocht hat. Sie weiß genau, wie das läuft. Sie flirten, auch wenn sie schon einen festen Freund haben (so ist es immer, und es ist immer der Beste), und üben, ob mit oder ohne Absicht, eine unwiderstehliche Anziehung auf alle Männer ihrer Umgebung aus, indem sie sie daran erinnern, dass eine begehrens werte Frau aussehen muss wie sie, wie sie, und nicht wie die fette Brillenträgerin Megan, die genauso gut einer anderen Spezies ange hören könnte. Sie steuert auf die Duschen des Fitnessraums zu. Jeder Schritt tut ihr weh, doch ihr Körper fühlt sich, als würde er singen. Megan ist erstaunt. Deswegen trainieren die Leute also! Wenn das so ist, wenn es gar kein ständiger Kampf gegen Schmerz und Erschöpfung ist, kann sich Megan vorstellen weiterzumachen. Sie könnte jeden Tag zur Arbeit laufen. Sie könnte (eines Tages) so werden wie Holly, die dünn ist und attraktiv und — in diesem Augenblick unmittelbar vor ihr aus einer Duschkabine tritt. Megan bleibt wie erstarrt stehen. Holly, die nur ein weißes Hand tuch umhat, blinzelt überrascht. »Hi«, würgt Megan hervor, doch nur ihr Mund ist beteiligt. Ihre Kehle schafft es nicht, den passenden Laut zu formen. Sie räuspert sich, um es noch mal zu probieren, doch nach dem Joggen kommt
nur ein zähes, feuchtes Geräusch heraus, das klingt, als würde sich jemand schnauzen. Sie schweigt betreten. »Hab gar nicht gewusst, dass du trainierst.« Holly stellt einen Fuß auf die Bank, beugt sich vor und macht sich daran, sich mit einem zweiten Handtuch die Haare abzutrocknen. »Hab gerade erst angefangen.« Megans Stimme hört sich gequält an. Sie kann es nicht ertragen, hier zu stehen und zu beobachten, wie sich die Muskeln um Hollys braune Schultern bewegen — Schultern, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit denen von Megan haben. Die Vorstellung, an diesen Schultern vorbei zu den Duschen zu gehen, ist so beängstigend, dass sie es erst nach einer Sekunde schafft, ihren Körper in Bewegung zu setzen. Ihre Hand klammert sich so heftig um die Tasche mit ihrer Straßenkleidung, dass ihr die Finger wehtun. Als sie sich vorbeiquetscht, sagt Holly: »Finde ich wirklich toll, Megan.« Megan ist geschockt. Anscheinend meint Holly das wirklich ernst.
Der vierzehnte Stock ist in zwei Hälften aufgeteilt. Vom Aufzug aus gesehen liegt der Schulungsverkauf auf der rechten Seite und die Schulungsdurchführung auf der linken. Sie sind genau spiegel bildlich zueinander angeordnet.
So ist es fast im ganzen Gebäude, und es gibt mehrere amüsante Anekdoten über ausgebrannte Mitarbeiter, die sich in die falsche Abteilung verirrt, Platz genommen und sich beschwert haben, dass sie nicht in ihren Computer kommen. Im Konferenzraum der Schulungsdurchführung sind sowohl an der inneren Glaswand als auch an den Fenstern die Jalousien herun tergelassen. Vier Leute sitzen stumm um einen Tisch. Einer von ih nen, Simon Huggis, starrt in Karen Nguyens Gesicht — oder ge nauer gesagt, auf das Muttermal neben ihrer Nase. Simon arbeitet schon seit zwei Jahren mit Karen zusammen, und in dieser ganzen Zeit hat ihn ihr Muttermal nie gestört. Doch jetzt sitzt er schon seit vierunddreißig Stunden ununterbrochen in diesem Konferenzzim mer und kann an nichts anderes mehr denken. Er hasst es. Wenn er die Augen zumacht, sieht er immer noch vor sich, wie es sich unter eine Nüsternrundung schmiegt. In den letzten zwei Stunden hat sich ein Gedanke immer tiefer in sein Gehirn gefressen: Karen weiß sehr wohl, wie aufreizend das Muttermal ist, und genau deswegen hat sie es nicht entfernen lassen. Auf der anderen Seite des Tischs blickt Karen von einer Liste mit Einzelmaßnahmen auf. Sie hat tiefe, dunkle Gräben unter den Au gen. Ihre Frisur hat sich aufgelöst. »Was ist?« »Nichts.« Simon greift nach einem Minzbonbon. Alle anderen at men zischend aus. »Simon.« Darryl Klostermans Stimme klingt sanft, aber gequält, wie die eines Arztes, der seinem Patienten erklärt, dass der Krebs inoperabel ist. Er sitzt neben Karen Nguyen. Alle sind auf der ande ren Seite des Tischs, weil Simon angeblich riecht. Das haben sie ihm
vor zehn Stunden eröffnet. Eine andere Erklärung wäre natürlich, dass sie sich gegen ihn verschworen haben. »Bitte keine Minzbon bons mehr.« Langsam wickelt Simon das Bonbon aus. Das Plastik knistert. »Simon.« Helen Patelli, von der dieser Schmerzenslaut kommt, ist eine große Frau mit ergrauendem Haar. Mehr kann Simon im Mo ment nicht von ihr erkennen, weil ihr Kopf zwischen ihren Armen vergraben auf dem Tisch liegt. »Wenn du noch so ein Minzbonbon isst, dann fängst du eine, das schwör ich dir.« Simon schiebt sich das Bonbon in den Mund. Heftiger als unbe dingt nötig saugt er daran und gibt leise Schmatzgeräusche von sich. »Bitte, bitte«, fleht Darryl. »Wir sind doch fast fertig. Dann haben wir es. Wir müssen uns nur noch eine halbe Stunde zusammenrei ßen, dann können wir alle nach Hause gehen.« »Das hast du schon gestern gesagt.« Helens Worte dringen dumpf durch ihre Arme. »Gestern!« Ihre Stimme bricht. »Aber wir haben uns geeinigt. Das war es jetzt auf jeden Fall. Nur noch diese kleine Änderung. Das haben wir klar betont. Wenn sie das noch mal umwerfen wollen, dann soll es jemand anders ma chen. Also, wir nehmen uns jetzt diesen letzten ...« Die Tür zum Konferenzraum öffnet sich, und durch den Spalt flu tet Licht herein. Alle blicken sich geblendet um. Sogar Helen hebt den Kopf. In der Tür steht ein sonnengebräunter, gutaussehender Mann in einem schicken Nadelstreifenanzug. Simon erkennt ihn nicht.
»Hoffentlich hab ich Sie jetzt nicht unterbrochen. Blake Seddon. Vom Vorstand.« Er lächelt. Seine Zähne hinterlassen ein Nachbild auf Simons Netzhaut. »Wollte bloß mal kurz reinschauen und Ihnen sagen, dass Sie phantastische Arbeit leisten. Der gesamte Vorstand ist sich darüber im Klaren, was Sie hier für Opfer bringen. Natürlich auch Daniel Klausman.« Ein Murmeln geht durch die Gruppe. Helen fragt: »Daniel Klaus man ... weiß von uns?« »Er ist sehr beeindruckt. Er hat mir eigens aufgetragen, dass dieser Einsatz belohnt werden muss. Wenn das alles hier vorbei ist, krie gen Sie, was Sie wollen. Zusatzurlaub, ein Prämie — Sie müssen es nur sagen.« Simon sieht, wie die Münder seiner Kollegen aufklappen und Zähne zum Vorschein bringen. Er braucht einen Augenblick, um zu verstehen, was hier passiert, denn es ist bestimmt schon einen Tag her, dass in diesem Zimmer jemand gelächelt hat. Selbst Karen Nguyens Muttermal verschwindet kurz hinter ihrer Nase. Die Be klemmung in Simons Brust lässt ein wenig nach. »Also dann.« Blake blickt auf ein Blatt Papier in seiner Hand, und Simons Darm krampft sich zusammen. Genauso war es vor zwei Stunden und drei Stunden davor und schon so viele Male davor, dass sich Simon nicht mehr daran erinnern kann: Jemand kommt herein, um sie zu loben, und dann ... »Ich möchte nur für alle Fälle noch mal darauf hinweisen, dass diese Zahlen für einen Zeitraum von fünf Jahren berechnet werden müssen. Okay?« Sie starren ihn an. Natürlich ist ihnen das völlig neu. Niemand hat bei der letzten Aktualisierung ihrer Vorgaben etwas von einer Fünf
jahresplanung gesagt, und auch zu keinem Zeitpunkt davor ist je davon die Rede gewesen, nicht einmal, als dieser Albtraum anfing und sie alle noch normale Menschen waren. Darryl hüstelt. Simon weiß, was jetzt kommt. Darryl wird ihre Po sition erklären, und dieser Nadelstreifenheini wird mit einem Stirn runzeln sagen, dass er nicht versteht, wie so etwas passieren konnte, und nach einem fünfminütigen, qualvollen Dialog, in dessen Ver lauf herauskommen wird, dass ihre Arbeit in den letzten vierund dreißig Stunden ohne Fünfjahresplanung praktisch für die Katz war, werden sie sich damit einverstanden erklären weiterzu arbeiten, aber nur noch dieses eine Mal. Um die Sache abzukürzen, steht Simon auf. Seine Hose gibt ein Schälgeräusch von sich, als sie sich vom Bürostuhl löst. Alle beobachten ihn mit dumpfem Staunen im Gesicht, als er auf wackligen Beinen den Tisch umrundet. »Ja?« Auch Blake sieht ihn an. Das Gefühl beginnt in Simons Waden und kriecht durch die Beine nach oben. Es strömt in seinen Rumpf. Er kann es erst wirklich iden tifizieren, als es in seiner rechten Schulter eintrifft und von dort in seinen Arm schießt. Jetzt erkennt er, was es ist: Er wird handgreif lich. Er hat ungefähr eine Viertelsekunde, um sich zu überlegen: Will ich diesem Kerl tatsächlich die Fresse polieren? Die Antwort ist non verbal: Seine Faust zuckt nach vorn und kracht in Blakes Gesicht. Rückwärts kreiselnd jault Blake auf und legt sich auf den Teppich, nachdem er vom Türrahmen abgeprallt ist. Simon ist fest entschlos sen, weiterzumachen und Blake das Licht auszublasen, doch erst einmal kostet er ein paar Momente die Freude über seinen gelunge nen Boxhieb aus.
»Simon!«, kreischt Helen. Er dreht sich um. Vor ihm aufgereiht stehen drei Zirkusclowns mit offen stehendem Mund. »Aag! Aag! Verbammte Feife!«, brüllt Blake. Er macht krabbelnde Bewegungen und versucht, das Blut aus seiner Nase aufzuhalten, damit es ihm nicht aufs Hemd tropft. »Die Besprechung ist beendet«, erklärt Simon. Karen ist als Erste auf den Beinen. Die anderen reagieren langsa mer, doch dann stehen auch sie auf, schieben die feuchten, ver schwitzten Stühle zurück und tasten sich zur Tür. Dort kommt es zu einem kurzen Stau, dann umarmen sie sich. Helen hat Tränen in den Augen. Sie treten aus der Dunkelheit und starren blinzelnd in das unerwartet helle Neonlicht.
Jones schiebt die Hände in die Taschen und atmet tief durch. Es ist ein klarer, frischer Montagmorgen, der schon einen leichten Vorge schmack auf den nahenden Winter in Seattle gibt, in dem aber auch noch ein Nachhall des verblassenden Sommers mitschwingt. Jones ist draußen auf dem Platz hinter dem Zephyrgebäude und vertritt sich ein wenig die Beine. Um ihn herum vier oder fünf lose Grüpp chen von Rauchern, die sich die erste Zigarette des Arbeitstages reinziehen. Er ist hier, um sie zu beobachten. Zehn Minuten nach zehn. Fast auf die Minute genau tauchen sie jeden Tag en masse hier auf. Den Grund dafür hat Jones erst nach einer Weile herausgefun
den: Um diese Zeit kam früher, vor der Auslagerung der Kantine, immer der Vormittagsimbiss. Jetzt wird er irgendwann zwischen halb zehn und elf geliefert (das Gebäck entweder bröselig oder durchweicht, das Obst kalt und hart wie Eisblöcke), doch die Rau cher haben an der alten Tradition einen Narren gefressen und hal ten daran fest. Jones staunt über seine Entdeckung. Er hat an ver schiedenen strategischen Punkten um das Gebäude Position bezo gen und immer wieder das Gleiche erlebt, fast als gäbe es eine stumme Sirene, die nur für Raucher wahrnehmbar ist und sie alle gleichzeitig nervös werden lässt. Unruhig wetzen sie auf ihren Stüh len herum. Unauffällig klinken sie sich aus Gesprächen aus. Fast unbewusst forschen ihre Hände in den Taschen nach Feuerzeugen und Zigarettenschachteln. Einzeln oder zu zweit entfernen sie sich aus ihren Abteilungen und schweben mit den Aufzügen hinunter, um sich hier vor dem Hintereingang zu versammeln. Dann steigt jäh ihre Laune. Lächelnd begrüßen sie sich und plaudern über Din ge, die nichts mit der Arbeit zu tun haben. Solange sie hier stehen, sind sie die glücklichsten Menschen im ganzen Unternehmen. Das findet Jones faszinierend. Ist das nur der Nikotinkick, oder würden kurze Pausen allen Angestellten gut tun? Das kann doch ein Projekt sein, denkt er. Er könnte es mit einer Gruppe von Nich trauchern ausprobieren. Wenn er Recht hat, landet es vielleicht in Das Omega-Managementsystem. Und dadurch vielleicht in Unter nehmen auf der ganzen Welt. Jetzt hat er sich so lange hier aufgehalten, wie es geht, ohne Miss trauen zu erregen, also wendet er sich ab und tritt mit einem Gefühl der Erregung wieder ins Gebäude. Als er an der Tür zieht, springt
sie ihm förmlich entgegen, und er entdeckt Freddy, der von der an deren Seite drückt. »Jones! Was machst du denn hier?« »Nur ein bisschen frische Luft schnappen. Und du?« Freddy schaut sich um, ob jemand in Hörweite ist. »Sie ist heute nicht an ihrem Platz. Da hab ich mir gedacht, ich komm mal hier raus zu den üblichen Verdächtigen.« »Ach so, klar.« Jones macht einen Schritt zur Seite, um ihn vorbei zulassen. Freddy mustert ihn. »Du bist nicht zufällig noch am Herum schnüffeln, oder?« »Was? O nein, nein. Das hab ich hinter mir.« »Warum, hast du was rausgefunden?« Mit heldenhafter Anstrengung unterdrückt Jones die Frage: Wie kommst du darauf? »Nein, eigentlich nicht. Ich hab nur gemerkt... weißt du, es spielt doch gar keine Rolle, was das Unternehmen macht. Ich erledige meine Arbeit und fertig.« »Oh-oh. Sie haben dich gekriegt, stimmt's? Lass mal deinen Nabel anschauen.« »Was?« Freddy lacht. »Hab dich nur ein bisschen aufgezogen, Jones. Gut, dass du dich eingewöhnt hast.«
Eigentlich hat er vorgehabt, direkt in die Abteilung Schu lungsverkauf zurückzugehen, aber als sich die Aufzugstüren öffnen und niemand drin ist, beschließt er, schnell mal im dreizehnten Stock unterzutauchen und sich ein paar Notizen zu seinen Ideen zu machen. Er zieht die Ausweiskarte durch, drückt gleichzeitig auf 12 und 14 und beobachtet die Anzeige, während sein Daumen auf ÖFFNEN liegt. Je öfter er hier raufkommt, desto mehr Spaß macht es ihm. Genau im richtigen Moment drückt er auf den Knopf: Ping! Drei zehnter Stock. Im Überwachungsraum stehen den Agenten vier Computer zur freien Verfügung, also nimmt Jones zwischen den Monitorwänden Platz und legt einen Ordner für ein neues Projekt an. Zehn Minuten später ist er so sehr in seine Gedanken versunken, dass er ungefähr zwanzig Zentimeter aus dem Stuhl springt, als ihm Eve Jantiss ein »Interessant« ins Ohr haucht. »Boah.« Er lacht. »Mach das nicht.« »Schau dich an«, meint Eve. »Steckst voller Ideen. Daniel hat einen guten Riecher gehabt.« »Danke.« Auf seinem Gesicht erscheint ein Grinsen, das er nicht unterdrücken kann. Sie lässt ihren Hintern auf den Schreibtisch gleiten. Eve trägt einen grauen Rock, der bis unters Knie reicht — für ihre Verhältnisse eine relativ formelle Kluft. »Du, ich wollte dich was fragen. Hast du am Donnerstagabend Zeit?« »Wofür?«
»Das Unternehmen hat eine eigene Suite im Safeco Field. Magst du Baseball?« Sie lächelt. »Natürlich, dein Gesicht spricht Bände.« »Haben wir da was zu erledigen?« »Nein, ich dachte mir nur, dass du vielleicht hinwillst.« »Okay, klar. Das wäre wirklich toll.« »Ich hol dich um halb sieben ab. In der Barker Street?« »Du weißt, wo ich wohne?« »Jones.« Ein tadelnder Ton liegt in ihrer Stimme. »Wir wissen al les.« Sie steht auf und entfernt sich. Jones widersteht dem Drang, ihr nachzustarren. Dann sagt sie: »Ach, noch was, Jones ...« Er dreht sich um. »Du arbeitest jetzt für Alpha, das heißt, du darfst dich bei Zephyr nicht mehr einmischen. Du bist nur noch Beobachter, sonst nichts.« »Ja, das ist mir klar.« »Theoretisch ist es dir klar. Aber die praktischen Folgen sind dir nicht klar. Wenn du den Unterschied begreifst... mach keine Dummheiten, okay?«
Am Mittwoch gehen Jones, Freddy und Holly zum Mittagessen ins Donovan's, das Cafe auf der anderen Straßenseite. Es ist Jones' drit ter Monat bei Zepyhr, und er hat fast jeden Tag hier gegessen — so wie anscheinend fast die gesamte Belegschaft von Zephyr. Jeden Tag ergießt sich gegen zwölf ein stetiger Strom von Anzügen und
Kostümen aus den Fahrstühlen und blubbert durch die Eingangs halle; einen Moment lang bildet er am Eingang kleine Klumpen, dann schießt er über die Straße und sammelt sich in Schlangen, die um Bagels und Sandwiches anstehen und sich über die neuesten Intrigen im Unternehmen unterhalten. Jones lässt den Blick über sie schweifen, über diese Angestellten aus den Abteilungen Kommuni kation, Finanzen, Compliance, Reisebüro und Betriebs- und Hilfs stoffe, die eigentlich weniger seine Kollegen sind als seine Testper sonen. »Habt ihr Megan gesehen?«, fragt Holly. »Als wir raus sind, hat sie Jones nachgestarrt.« Jones guckt sie an, unsicher, ob sie sich über ihn lustig macht. Freddy ist nur schwach interessiert. »Ach was, Megan? Das ist komisch.« Er wendet sich einer Reihe von Sandwiches unter Glas zu. »Heute Morgen hab ich sie wieder im Fitnessraum gesehen. Sie macht sich wirklich gut.« »Also, ich weiß nicht«, beschwert sich Freddy, »seit sie den Vor mittagsimbiss ausgelagert haben, bin ich mittags immer total aus gehungert. Das neue Zeug ist bestimmt weniger gehaltvoll.« »Das wäre schlecht«, findet Holly »Ich hab einen genauen Ernäh rungsplan.« »Sie haben bloß die Donuts gestrichen«, merkt Jones an, »das hat doch mit dem Gehalt nichts zu tun.« Freddy stöhnt schon wieder. »Mein Gott, komm mir bloß nicht mit Donuts. Damit liegt mir schon Roger dauernd in den Ohren.«
»Ich glaub nicht, dass sich Roger immer noch wegen diesem Do nut aufregt.« Holly wirkt beunruhigt. Freddy schaut sie zweifelnd an. »Das ist doch alles schon längst ausgestanden. Wendell hat Ro gers Donut genommen, und Wendell ist nicht mehr da.« »Roger glaubt nicht, dass Wendell ihn genommen hat.« Jones hält Ausschau nach einem freien Tisch. »Inzwischen glaubt er, dass es Elizabeth war. Hey, sagt mal, sitzt ihr eigentlich ab und zu mit Leu ten aus anderen Abteilungen zusammen?« Freddy und Holly starren ihn ausdruckslos an. »Bei Zephyr läuft das nicht so, Jones«, antwortet Freddy schließlich. »Wer sagt das?« »Es ist einfach ... das mit dem neuen Schimpansen, Jones.« Sie sind am Kopf der Schlange angekommen. Freddy klatscht fünf Dollar hin und lächelt den Mann hinter der Theke an. »Das Übliche bitte.«
Allein in Westberlin streckt sich Roger an seinem Schreibtisch. Er faltet die Hände hinter dem Kopf. Sein Blick verschwimmt. Seine Gedankenwelt besteht nur noch aus Elizabeth und Donuts. Mittlerweile ist ihm klar, dass alles von vornherein eine abgekarte te Sache war. Elizabeth wusste genau, dass er falsche Schlüsse zie hen und Wendell beschuldigen würde. Sie hat ihn reingelegt. Und jetzt ist es zu spät, mit dem Finger auf die wahre Schuldige zu deu ten, denn Wendell ist geflogen — strenggenommen zwar nicht, weil
er Rogers Donut gestohlen hat, aber das ist nicht entscheidend; ent scheidend ist, dass er ein Exmitarbeiter ist und somit die Verant wortung für alle Probleme in der Abteilung in die Schuhe gescho ben bekommt. Roger weiß das besser als viele andere, weil er seinen Wechsel in den Schulungsverkauf dadurch bewerkstelligt hat, dass er mehrere besonders abscheuliche Buchhaltungshavarien auf ehe malige Kollegen abgewälzt hat. Bisher hat noch niemand Zephyr Holdings verlassen, ohne danach als Lügner, Dieb und Trottel ent larvt zu werden. Immer wieder stellt sich heraus, dass Exangestellte verantwortlich sind für die Genehmigung horrender Kostenüber schreitungen, für betrügerische Aufträge und dubiose Spesenans prüche. Posthum wird ihnen die Leitung aussichtsloser Projekte übertragen. Niemand wird etwas davon hören wollen, dass Eliza beth sich ein Vergehen geleistet hat, das man Wendell anlasten kann, denn Wendell ist weg, und Elizabeth ist noch hier. Sie hat ihn in die Enge getrieben. Ein Teil von ihm bewundert so gar ihre Raffinesse. Doch ein anderer, viel größerer Teil ist aufge wühlt vor Sorge. Es wäre etwas anderes, wenn Elizabeth aus Krän kung und Arger gehandelt hätte, weil er sie nie angerufen hat, nachdem sie dieses eine Mal miteinander geschlafen hatten. Damit könnte Roger umgehen; es würde ihn sogar freuen, wenn es so wäre. Roger hat kein Problem damit, wenn Leute ihn hassen. Was ihn beunruhigt, was wirklich an ihm nagt und frisst, ist die Vorstellung, dass sie keinen Respekt vor ihm hat. Roger ist ein mächtiger, selbst bewusster, gutaussehender Mann, dem nachts die herzzerreißende Furcht den Schlaf raubt, dass ihn andere Leute nicht für mächtig, selbstbewusst und gutaussehend halten. Im Zuge des Einstellungs
verfahrens bei Zephyr Holdings hatte er einen Fragebogen auszu füllen und gab unter dem Punkt: »Was ist besser: Erfolg zu haben oder respektiert zu werden?« die mittlerweile schon legendäre Antwort: FANGFRAGE!! In letzter Zeit hat er Elizabeth dabei ertappt, wie sie ihn verstohlen ansieht. Einmal hat sie ihn sekundenlang mit ausdrucksloser Miene einfach nur angestarrt. Da beschlich ihn die Angst. Es kann kein Zweifel mehr daran bestehen: Sie mokiert sich über ihn. Er weiß nicht, was er tun wird. Noch nicht. Aber eine Reaktion ist unumgänglich. Das verlangt seine Ehre. Seine Integrität erfordert es. O ja, Elizabeth wird noch einmal bedauern, je ein Auge auf seinen Donut geworfen zu haben.
Am Donnerstag um halb fünf wird Megan zu ihrer halbjährlichen Leistungsbeurteilung in Sydneys Büro gerufen. Megan macht sich keine Sorgen. Bis jetzt waren diese Bewertungen bei ihr immer eine schnell erledigte Formsache. Fast hat sie den Verdacht, dass sie nur deswegen durchgeführt werden, weil Zephyr nicht offen zugeben will, dass Sekretärinnen keine richtigen Angestellten sind. Ihre Be urteilungen sind zwar vorgeschrieben, aber unwichtig, und das heißt, sie finden üblicherweise erst in allerletzter Minute statt, wenn irgendwas anderes ausgefallen ist, und selbst dann meistens im Aufzug auf dem Weg zu einem anderen Termin.
Sie rückt ihr Bärenensemble zurecht — die Anglerbären kommen ganz links an der Schreibtischkante besser zur Geltung, findet sie, wo ihre kleinen Keramikruten über den Rand hängen können —, dann klopft sie an Sydneys Tür. Erst einmal passiert nichts, und Megan weiß auch, warum. In dieser Pause wartet Sydney darauf, dass Megan sich mit dem Anklopfenden beschäftigt. Nach zehn Sekunden klopft sie erneut. »Ja, bitte?« »Ich bin's.« »Komm rein.« Megan macht die Tür auf. Sydney sitzt hinter ihrem Schreibtisch. Es ist ein offener Schreibtisch, und Megan kann Sydneys winzige Beine sehen, die vom Stuhl baumeln. Sydneys Kopf und Oberkörper kann sie dagegen nicht sehen: Sie sind hinter ihrem riesigen PCMonitor verborgen. Megan würde sich nie zu der Andeutung ver steigen, dass Sydney etwas kompensiert, aber sie hat auf jeden Fall den größten Monitor, der Megan jemals vor Augen gekommen ist. »Ist es schon Zeit?« »Ja.« Megan nimmt vor dem Schreibtisch Platz und überkreuzt die Beine. Jetzt kann sie Sydney sehen. Und auch die große Schreibtischflä che, die mit Papieren übersät ist und aussieht wie nach einem Schneegestöber. Wie immer registriert Megan schockiert das völlige Fehlen von Nippsachen. Sie findet, Sydney könnte gut ein paar Bä ren gebrauchen.
»Okay.« Sydney schiebt scheinbar wahllos einige Papiere beiseite. Dann blickt sie auf. »Ich fürchte, was ich zu sagen habe, wird dir nicht gefallen.« »Ach. Warum denn nicht?« »Weil ich dich rauskomplimentiere.« »Wo raus?« Megan merkt sofort, wie dumm ihre Frage ist. »Aus dem Unternehmen.« Sydney sieht ihr in die Augen. »Du bist entlassen.« Megan ist so benommen, dass sie die Nachricht gar nicht richtig verarbeiten kann. »Aber ... warum denn?« »Also, offen gesagt, es sind deine Leistungen. Ich musste dir die schlechteste mögliche Bewertung geben: ›Muss ihre Leistungen ver bessern‹.« Ihr Blick schwirrt über Megans Gesicht. Doch Megan zeigt noch immer keine Reaktion. Sydney scheint das Interesse zu verlieren. Sie sammelt ein paar Papiere ein und sucht nach einem Hefter. »Nach den Richtlinien des Unternehmens wird jeder Ange stellte gekündigt, der in diese Kategorie fällt. An diese Richtlinien habe ich mich zu halten.« »Wieso muss ich meine Leistungen verbessern?« Megan schnürt es die Kehle zu; nur dünne, angestrengte Laute dringen heraus. »Nun, für Leistungsbeurteilungen gibt es eben Kriterien ... und nach denen habe ich dich bewertet.« Sydney entdeckt den Hefter. Sie stellt ihn auf die Papiere und lässt ihn zuschnappen. Sie begu tachtet das Resultat. »Verdammt noch mal.« Von solchen Kriterien hat Megan noch nie gehört. »Letztes Mal hast du gesagt, wir müssen keine offizielle Beurteilung machen.«
»Das Unternehmen duldet so was nicht mehr.« Sydney legt die Stirn in Falten, als hätte Megan sie in Schwierigkeiten gebracht. »Ich bin gehalten, richtige Beurteilungen durchzuführen. Und bei dir hakt es gleich in mehreren Schlüsselbereichen. Erstens: aufgeräum ter Schreibtisch. Dein Schreibtisch ist immer voller Bären.« Megan fällt das Kinn herunter. »Was ist denn gegen Bären zu sa gen?« »Auf Schreibtischen darf kein Durcheinander herrschen. Das steht in den Kriterien. Hier, überzeug dich selbst.« Sie reicht Megan die Papiere. Von der oberen linken Ecke hängt eine Heftklammer. »Du hast dich nie über meine Bären beschwert!« »Megan, ich kann nichts dafür, es sind die Kriterien. Hör mir doch zu. Zweitens zeigst du keinen Teamgeist.« »Aber ich arbeite doch allein! Ich meine, ich arbeite mit Leuten zu sammen, wenn du willst! Ich würde gern mit anderen zusamme narbeiten! Ständig muss ich allein an meinem Platz sitzen!« Sydney legt die Hände sorgfältig nebeneinander auf den Schreib tisch. »Es hat keinen Zweck, sich jetzt noch zu beschweren.« »Aber dann ... warum erzählst du mir das alles?« »Das gehört zum Feedbackverfahren. Ich weise dich daraufhin, in welchen Bereichen du dich verbessern musst.« »Und wenn ich mich verbessere ...« »Nicht hier. Hier kannst du dich nicht mehr verbessern. Du bist entlassen, Megan. Ich halte mich nur an das Verfahren. Das ist alles nur zu deinem Besten. Du könntest ruhig ein wenig Dankbarkeit zeigen.«
Um Megans Mund arbeitet es. Schließlich kommt etwas heraus: »Danke.« »Gern geschehen«, antwortet Sydney. »Jedenfalls, diese beiden Ka tegorien haben deine Beurteilung runtergezogen. Aber der ent scheidende Punkt war letztlich, dass du keine Ziele erreicht hast.« »Was für Ziele?« »Naja, du hast eben keine gehabt.« Sydney nimmt einen silbernen Stift und wedelt damit herum. Kleine Dolche aus gespiegeltem Son nenlicht stechen Megan in die Augen. »Bei deiner letzten Bewertung hätten wir Ziele für dich vereinbaren sollen, aber das haben wir nicht gemacht. Daher musste ich unter dem Punkt ›Erreichte Ziele‹ ›keine‹ ankreuzen.« »Ich hätte Ziele erreicht, wenn du mir welche gesetzt hättest!« »Naja, vielleicht. Schwer zu sagen.« »Wie kannst du mich für das Nichterreichen von Zielen raus schmeißen, die ich gar nicht hatte?« »Soll ich vielleicht sagen, dass du Ziele erreicht hast, obwohl das nicht stimmt?« »Aber das ist ungerecht!« Megans Schock klingt allmählich ab. Ihr Körper fängt an zu reagieren: Sie bricht in Tränen aus. »Ich mache gute Arbeit! Gute Arbeit!« Sie bedeckt das Gesicht mit den Händen. Sydney schweigt. Megan weint in ihre Hände, ihr Körper bebt. Sie schämt sich, dass sie so was im Büro ihrer Chefin macht, aber sie kann einfach nicht anders. Dann ergreift eine hässliche Idee von ihr Besitz: dass Sydney über sie lächelt, dass Megans Scham sie gar nicht verlegen macht, sondern nur belustigt. Dieser Gedanke ist so schrecklich, dass ihr Kopf nach oben zuckt. Sydney wird überrascht.
Zu spät wischt sie das schadenfrohe Grinsen von ihrem Gesicht. Sie kneift die Lippen zusammen. »Es hat keinen Sinn zu streiten, bitte verschwende nicht meine Zeit. Die Entscheidung ist schon längst gefallen. Es liegt nicht mehr in meiner Hand.« Sie verschränkt die Arme. »Der Betriebsschutz wartet bereits auf dich.« Irgendwie schafft es Megan aus dem Stuhl. Sie wankt zur Tür, und tatsächlich haben sich zwei blau uniformierte Männer neben ihrem Schreibtisch aufgebaut. Die anderen Mitarbeiter des Schulungsver kaufs spähen über die Zellenwände, auch Jones. »Megan Jackson?«, sagt einer der Wachleute. Sie stehen neben ihr, während sie nacheinander ihre Bären in eine Tüte steckt. Als sie am Computer einen angefangenen Brief schlie ßen will, wird sie von einer Hand im blauen Ärmel gepackt. »Bitte machen Sie keinen Versuch, den Computer zu benutzen.« Nachdem ihre privaten Habseligkeiten verstaut sind, wird sie vom Betriebsschutz durch Ostberlin eskortiert. Megan spürt die Blicke all dieser Leute aus der Abteilung Schulungsverkauf, an deren Seite sie gearbeitet hat, ohne sie je kennen zu lernen. Trotz ihrer Demütigung hätte sie fast aufgelacht: Es ist das erste Mal, dass sie sie wirklich wahrnehmen. Sie schaut Jones an, als sie an seiner Zelle vorbeige führt wird: den schlaksigen, schönen Jones, den sie nie wiedersehen wird. Sein Gesicht ist blass und schockiert. Und er blickt ihr direkt in die Augen. Endlich, endlich hat er sie gesehen.
Es ist anders als bei Wendell, damals im August. Als sie aus dem Konferenzraum kamen, war er schon verschwunden. Heute sind die Wachleute gekommen und haben eine Kollegin rausgeschleppt. Sie fühlen sich wie eine Herde Impalas, nachdem die Löwen die Jagd beendet und einen leblosen Kadaver weggeschleift haben. Unwill kürlich kauern sie sich mit zuckenden Ohren und bebenden Nü stern zusammen, als die Wachleute zurückkehren und Stück für Stück Megans Computer abbauen. Sie wischen ihren Schreibtisch ab. Sie sprühen etwas auf ihren Stuhl und lehnen ihn vor. Jones kann sich nicht von diesem Anblick losreißen. »Warum haben sie Megan rausgeschmissen?«, platzt es schließlich aus ihm heraus. »Wozu? Warum?« »Schon gut, Jones«, sagt Holly lahm. »So was passiert nun mal. Da kann man nichts machen.« Rogers Kopf erscheint neben der Berliner Mauer. »Hey, Freddy. Freddy.« Freddy weiß, was jetzt kommt. Er zieht die Schultern ein. »Was ist?« »Die Wette. Wer hat auf Megan gesetzt? Wer hat gewonnen?« »Niemand.« »Oh.« Rogers Augenbrauen heben sich hoffnungsvoll. »Alle haben noch ihren Einsatz?« »Ja«, erwidert Freddy. »Alle.«
Eve klopft fünf Minuten ununterbrochen an Jones' Wohnungstür. »Komm schon.« Ihre Stimme klingt gedämpft. »Das ist doch lächer lich. Du bist daheim, das weiß ich ganz genau.« Jones hat keine Ahnung, wie sie ins Haus gelangt ist. Es gibt einen elektrischen Türöffner, um den er einen großen Bogen gemacht hat, als Eve vor zehn Minuten zum ersten Mal geklingelt hat. Ansonsten braucht man einen Schlüssel, um reinzukommen. »Du hast sie doch fast gar nicht gekannt. Du bist erst seit drei Mo naten bei Zephyr, und in dieser Zeit hast du vielleicht viermal mit ihr geredet. Dass Leute entlassen werden, ist normal. Es gehört zum Geschäftsleben.« Jones wühlt in der Tüte Kartoffelchips auf seinem Schoß und holt eine Hand voll heraus. Er sitzt auf seinem abgeschabten braunen Sofa vor einem Fernseher, den er stummgestellt hat, als Eve anfing, an die Tür zu pochen. Doch anscheinend lässt sie sich sowieso nichts vormachen, also stopft er sich die Chips in den Mund und malmt knirschend drauflos. »Weißt du, was du bist? Du bist bockig. Vor drei Tagen hab ich dich gefragt, ob dir deine Situation klar ist. Und du hast ja gesagt.« »Wenn sie sowieso ohne Grund arbeiten«, ruft Jones, »wieso müs sen wir sie dann feuern?« Mit seinen Worten sprüht er zahlreiche nasse Chipsstücke durchs Zimmer. »Weil es zur Untersuchung gehört, Jones. Wir beobachten, wie Leute eingestellt werden, wie sie sich anpassen, wie sie arbeiten und
wie sie aus dem Unternehmen ausscheiden. Es ist nicht unsere Auf gabe, den Leuten eine Phantasiefirma zu bieten, in der jeder einen sicheren Arbeitsplatz fürs Leben bekommt. Unser Modell bildet die Wirklichkeit ab.« Sie hält inne. »Lass mich rein, dann erklär ich dir alles.« »Ich hab schon verstanden«, knurrt Jones gereizt. »Dann komm mit zum Baseballspiel.« Das bringt ihn so auf die Palme, dass er aufspringt. »Megan hatte Freunde bei Zephyr. Die Firma war Teil ihres Lebens.« Eigentlich weiß Jones das nicht so genau, er spekuliert ein wenig. »Sie war eine nette Kollegin. Und was passiert jetzt mit ihr? Wisst ihr das über haupt?« »Sie kriegt eine Abfindung und sieht sich nach einer anderen Stelle um. Und wir verbreiten das Gerücht, dass sie zu einem Konkurren ten gegangen ist.« »Zu Boreas.« »Genau. Es ist besser, wenn zwischen früheren und aktuellen Mi tarbeitern kein Kontakt mehr besteht. Dafür haben wir einen Buh mann erfunden.« »Ihr sagt ihr nichts, oder? Diese Leute, die wer weiß wie lang für euch arbeiten, sie erfahren nicht einmal, dass sie in einem Pseudo unternehmen gearbeitet haben.« »Natürlich nicht. Mein Gott, kannst du dir vorstellen, was die ma chen würden? Überleg doch mal, Jones: Würde es dich nicht in dei nem innersten Kern treffen, wenn du herausfindest, dass alles, was du in den letzten Jahren gemacht hast, eine Scheintätigkeit war? All die Überstunden bis spät in die Nacht, die verpassten Abendessen,
der Stress, die Termine, die Schufterei! Der einzige Grund, warum diese Leute nicht den Verstand verlieren, ist der Glaube, dass ihre Arbeit einen Sinn hat. Willst du ihnen das wegnehmen?« Mit einer halb verspeisten Tüte Chips in der Hand steht Jones mit ten im Zimmer und sagt kein Wort. »Versteh doch.« Ihre Stimme wird weicher. »Ich kann dir das wirklich nachfühlen. Leute rausschmeißen ist ätzend, da geb ich dir Recht. Aber was willst du denn damit erreichen, wenn du jetzt aus rastest? Jones, wenn dir das so an die Nieren geht, dann mach was dagegen. Dafür bist du jetzt genau am richtigen Platz. Im Moment fahren Tausende von mittleren Führungskräften nach Hause und hören sich die Hörbuchfassung von Das Omega-Managementsystem an. Wenn wir ihnen sagen, dass was funktioniert, dann probieren sie es alle. Also hör auf zu jammern und ändere was dran. Finde einen besseren Ansatz.« Jones marschiert zur Tür und reißt sie auf. Er hat schon Atem ge holt, um — möglicherweise unter Berufung auf Beispiele aus der Nazizeit — ein paar giftige Bemerkungen darüber loszuwerden, wie fragwürdig der Versuch ist, korrupte Systeme von innen zu verän dern. Doch dann sieht er sie, und diese Seifenblase zerplatzt einfach. Eve trägt — wobei tragen so zu verstehen ist, dass hauchzarte Stoffe scheinbar zufällig zusammengeflossen sind, um entscheidende Körperpartien zu bedecken — ein tiefschwarzes Satinkleid. Ohrrin ge mit Diamanten glitzern ihn an; ein Halsband funkelt. Die honig braune Haut unter dem Hals lockt seine Blicke nach unten, und ihre Waden singen ein Hirtengedicht. Sie sieht nicht aus wie ein Nazi. Nicht im Geringsten.
»Und komm mit zu dem Baseballspiel, denn jetzt hab ich mich schon extra angezogen.« Eve breitet die Handflächen aus. Er braucht eine Weile, um die Sprache wiederzufinden. »Das heißt aber nicht, dass ich deiner Meinung bin. Ich bin immer noch ge nervt.« »Okay.« Sie lächelt. Dann pendelt ihr Blick hinunter zu seinem Budweiser-T-Shirt und der fleckigen Trainingshose. »Willst du so ...« »Ich zieh mich um.«
In der Highschool war Jones kein Baseballfan. Er spielte nicht gut, sah nicht gern zu und hatte nichts dafür übrig, wie die Mädels in einem dichten Haufen links am Feldrand saßen und die Jungs bei ihren Übungsschlägen beobachteten. Aber im College vollzog sich eine Veränderung, die mit dem großen Fernseher im Aufenthalts raum und den davor versammelten Gruppen zu tun hatte. Es pas sierte nicht von heute auf morgen, er wurde nur zunehmend in das Auf und Ab des Spiels hineingezogen, in die Triumphe und Tragö dien, die nur Sekundenbruchteile auseinander lagen, bis ihm eines Tage klar wurde, dass er es liebte. Jones war schon öfter im Safeco Field, als er sich erinnern kann, doch noch nie ist er über eine Ram pe ins Tiefgeschoss gefahren und von einem Parkwächter zu einem Privataufzug eskortiert worden; noch nie hat er einen Fuß auf den
weichen, cremefarbenen Teppich gesetzt, der einen Korridor mit der schlichten Bezeichnung VIP bedeckt. Der ... Concierge? ... fuhrt sie zu einer Tür mit dem Schild ALPHA und hält sie auf. Drinnen warten Ledersofas und große, leuchtende Kühlschränke. Die gegenüberliegende Wand besteht aus getöntem Glas und bietet eine derart umwerfende Sicht auf das Spielfeld, dass Jones wie angewurzelt stehen bleibt, um alles in sich aufzunehmen. Nie wieder wird er in der Lage sein, von einem billigen Platz aus ein Baseballspiel zu genießen. »Ah, ein Fan.« Eve drapiert ihr Halstuch über den Kleiderständer. »Hab mich schon gefragt, warum du so still bist. Bist du zum ersten Mal in einer Suite?« Jones kann sich nicht satt sehen. »Ja.« »Ich hasse Baseball. Aber die Suite mag ich. So friedlich, findest du nicht?« »Ich kann nicht glauben, dass wir sie ganz für uns haben. Wollte denn sonst niemand in die Suite?« »Nö. Steht sowieso die meiste Zeit leer.« Jones dreht sich um. In seiner Empörung bringt er kein Wort heraus. »Was schaust du so? Meinst du, wir sollten sie für die Öffentlichkeit zugänglich machen? Vielleicht ein paar krebskranke Kinder auftreiben und sie kostenlos reinlassen?« »Naja.« Er zögert. »Warum eigentlich nicht, verdammt?« Sie kichert. »Jones, das Besondere an der Suite ist nicht die Leder garnitur, die gute Verpflegung oder die Aussicht. Was Besonderes wird es erst dadurch, dass wir hier drin sind, während sie ...« Sie deutet auf die Menschenmenge. »... da draußen sind.«
Jones zieht eine Grimasse. »Haben dir deine Eltern nicht beigeb racht, dass man teilen muss?« »O doch.« Eve tritt an die Bar und inspiziert die Reihen von Fla schen. Jones sieht ihr Gesicht im Spiegel hinter den Spirituosen. »Es war sogar so, dass Mom mir und meinen Schwestern jeden eigenen Besitz verboten hat. Alles hat allen gehört.« Sie greift hinauf, um sich eine dunkle, gedrungene Flasche, deren Inhalt Jones nicht er kennt, und zwei zarte, bauchige Gläser zu angeln. »Wer weiß, viel leicht ist mein ganzes Leben eine Rebellion gegen meine HippieEltern.« »Das würde einiges erklären.« »Der Punkt ist, Besitz macht einfach Spaß.« Sie lässt sich auf das Sofa gleiten und klopft auf den Platz neben sich. »Zum Beispiel Autos. Ich steh überhaupt nicht auf Autos. Ich hab keine Ahnung, wie viele Zylinder mein Audi hat, und wenn ich's mir recht überlege, weiß ich nicht mal, was ein Zylinder ist. Keinen Schimmer. Aber wenn ich ihn mir ansehe, Jones, dann liebe ich ihn. Ich liebe ihn. Weil er mir gehört, und weil er schöner ist als die Autos der ande ren.« »So was Schreckliches hab ich noch selten gehört«, meint Jones. Sie hält ihm ein Glas mit brauner Flüssigkeit auf Eis entgegen, und er nimmt es. »Es ist doch nicht falsch, das Leben zu genießen. Letz tlich kann man doch sowieso nichts anderes machen.« Sie hebt ihr Glas und genehmigt sich einen Schluck. Er setzt sich neben sie. »Ich möchte mich jetzt nicht als Radikaler aufspielen, aber wie war's damit, anderen Leuten zu helfen? Unse ren Enkeln eine bessere Welt zu hinterlassen?«
Eve verschluckt sich furchtbar. Sie braucht zwei Versuche, um ihr Glas auf den Tisch zu stellen, und wühlt in ihrer Tasche nach einem Tempo. Sie betupft sich die Augen. »O Gott, du hättest mich fast umgebracht.« Sie holt tief Atem. »Puuh. Also schön, dann erklär mir mal was. Wenn du dir ein Paar Schuhe kaufst, wie rechtfertigst du das?« »Was?« »In Afrika verhungern die Menschen, wie kannst du dann zwei hundert Dollar für Schuhe ausgeben? Verstehst du, wenn du damit erst mal anfängst, wird es zu einem Fass ohne Boden. Du kannst dich nie wieder gut fühlen, solange es noch irgendwo auf der Welt arme oder hungrige Leute gibt, und die gibt es immer, Jones, und hat es seit Urzeiten schon gegeben. Also läufst du die ganze Zeit mit Schuldgefühlen herum und kommst dir vor wie ein Heuchler. Ich bin wenigstens konsequent. Ich gebe zu, dass es mir egal ist. Du willst von mir hören, dass Alpha moralisch wertvoll ist, aber da kann ich dir nicht weiterhelfen, denn Moral ist Quatsch. Moral ist das, womit wir unser Leben verbrämen und unsere Handlungen verteidigen. Ich finde, man sollte stark genug sein, um ohne diese Beschönigungen auszukommen.« Jones nippt von seinem Drink. Es ist Scotch und läuft wie Feuer durch seinen ganzen Körper. »Wenn ich an Moral glaube, heißt das noch lange nicht, dass ich Mutter Theresa bin. Es gibt auch eine gol dene Mitte.« »Ah, die berühmte goldene Mitte.« Er hat den Eindruck, dass Eve an dieser Auseinandersetzung Gefallen findet, und wenn er ehrlich ist, geht es ihm genauso. »Jones, du gehörst doch zu den Leuten, die
sich nie zwischen Moral und Erfolg entscheiden mussten. Am Col lege hast du gelernt, dass Unternehmen mit zufriedenen Mitarbei tern in der Regel auch höhere Gewinne einfahren, und da hast du dir gedacht: ›Oh, schön.‹ Damit warst du nämlich aus dem Schnei der, du hast nicht überlegen müssen, was du tun würdest, wenn du nur die Wahl zwischen dem einen und dem anderen hättest. Du arbeitest nicht für einen Tabak- oder einen Waffenhersteller, weil das schlechte Unternehmen sind; du arbeitest nur für gute Unter nehmen und hilfst ihnen, die Kundenzufriedenheit zu steigern und bessere Produkte zu produzieren — und rein zufällig sorgen genau diese Dinge dafür, dass sich der Unternehmensgewinn erhöht und du befördert wirst. Aber jetzt bist du in der realen Welt angekom men, und bald wirst du feststellen, dass du dich manchmal doch zwischen Moral und Ergebnissen entscheiden musst, so wie alle Unternehmen jeden Tag, auch die, die du für die Guten gehalten hast — und dass die Manager, die sich für die Ergebnisse entschei den, auch die sind, die die Beförderungen kriegen. Du wirst dich vielleicht ein paar Tage, Monate oder vielleicht sogar Jahre damit abquälen, doch eines Tages wirst du draufkommen, dass du diese harten Entscheidungen treffen musst, weil es hier ums Business geht und weil es alle anderen auch so machen. Aber dich drückt dein Gewissen, weil du ein sechsstelliges Gehalt einstreichst und ein neues Auto fährst, also übernimmst du die Patenschaft für ein Kind im Sudan, spendest zehn Dollar im Jahr an Greenpeace und hältst dich auch nach wie vor meistens an die Moral — das heißt, wenn sie dir bei deiner Arbeit nicht im Weg ist. Dass du ein bisschen gelogen oder gestohlen hast und dass du eine Stelle bei einem Unternehmen
angenommen hast, das mit der Ausbeutung vierzehnjähriger Fab rikarbeiter in Indonesien Gewinn macht, heißt noch lange nicht, dass du kein guter Mensch bist. Nur das Thema Moral wirst du nicht mehr aufs Tapet bringen. Das ist die goldene Mitte Jones.« Es klopft an der Tür. »Herein!«, ruft Eve. Ihr Blick kehrt wieder zu Jones zurück. »Du solltest mir dankbar sein. Ich hab dir gerade Jahre voller Gewis sensbisse erspart.« »Du bist unglaublich. Irgendwie so ... böse.« Ein Mann rollt ein fahrbares Gestell herein, an dem Kleidungs stücke in Plastikfolie hängen. Eve steht auf und begutachtet die Tex tilien. Anscheinend ist sie sehr zufrieden mit dem, was sie sieht. Auf einen Wink hin verschwindet der Lieferant mit glücklicher und be nommener Miene. Jones kann nicht erkennen, ob das auf Eves Trinkgeld oder nur auf Eve zurückzuführen ist. Oder vielleicht war der Lieferant gar nicht benommen, vielleicht war das nur eine Pro jektion von Jones. »Komm her.« Jones erhebt sich und lässt den Blick über die Sachen an dem Ge stell gleiten. »Du hast doch gesagt, ich soll nicht auf Blake hören.« »Das war damals. Bei der Besprechung. Aber er hat natürlich Recht.« Sie zieht ein Jackett heraus und hält es prüfend vor seine Brust. Trotz der Folie kann Jones erkennen, dass es teuer ist. »Zu deinen Augen passt am besten was in Graphit, finde ich.« »Ich kann mir keinen neuen Anzug leisten.« »Anzüge. Du brauchst mehr als einen. Keine Sorge, du zahlst es mir zurück.« Sie hält ihm die Jacke hin.
Er rührt sich nicht. Sie verkneift sich ein Lächeln. »Ich biete dir nur Kleider an. Meine Moral musst du nicht dazunehmen.« »Hör mal, ich bin kein Idiot. Ich weiß, dass es im Geschäft ums Geld geht. Ich möchte nur sicher sein, dass wir unsere Mitarbeiter anständig behandeln. Dass sie uns am Herzen liegen, verstehst du.« »Soll ich ehrlich sein? Sie liegen uns nicht am Herzen. Aber viel leicht kannst du ja was dran ändern.« Sie lässt den Anzug los. Reflexartig fängt Jones ihn auf. »Ja, vielleicht versuche ich es.« Lächelnd wendet sie sich ab und geht zu der Rauchglasscheibe. »Probier ihn an.« Er zögert, weil er sich nicht sicher ist, wie viel sich von ihm in der Scheibe spiegelt. Dann zieht er sich aus. Als er die Folie entfernt, dringt ihm der frische, selbstbewusste Geruch des Anzugs in die Nase. Eve schüttelt den Kopf. »Die stauben das Wurfmal ab. Wieso ma chen die das? Es besteht doch sowieso nur aus Dreck.« Kleine Pau se. »Weißt du eigentlich, dass wir zwei bei Alpha an ähnlichen Pro jekten arbeiten?« Jones fädelt den Gürtel in die Schlaufen ein. »Tatsächlich? Was ist dein Projekt?« »Schwangerschaft.« Sie dreht sich um. »Fertig?« Jones zieht den Reißverschluss zu. »Schwangerschaft?« Sie kommt herüber und mustert ihn von oben bis unten. Dann fängt sie an, an ihm herumzufummeln: Sie korrigiert die Falten sei nes Jacketts, zieht die Krawatte gerade, zupft sein Hemd zurecht. »Ein wesentlicher Kostenfaktor. Da ist der Mutterschaftsurlaub nur
die Spitze des Eisbergs. Je schwangerer eine Mitarbeiterin, desto weniger arbeitet sie. Sie bekommt genauso viel Gehalt, macht aber öfter Pausen, geht früher, ist unkonzentrierter, führt mehr Privatge spräche und plaudert länger mit Kolleginnen, meistens darüber, wie es ihr mit ihrer Schwangerschaft geht. Was übrigens bei besagten Kolleginnen zu einer kleinen, aber durchaus bedeutsamen Verstär kung des Wunsches führt, ebenfalls schwanger zu werden. Sie ist also praktisch ansteckend. Dazu kommt der Mutterschaftsurlaub, der Vaterschaftsurlaub, erhöhte Fehlzeiten wegen erkrankter Kin der, sinkende Bereitschaft zu Überstunden ... Die Unternehmens führung muss solche Auswirkungen erfassen. Alles andere wäre nachlässig.« Sie greift nach hinten und reißt den Bund nach oben. »Was machst du denn da? Das ist doch keine Hüfthose.« »Du kannst doch keine Angestellten diskriminieren, bloß weil sie schwanger sind«, protestiert Jones. »Das ist gegen das Gesetz.« »Genauso wie die Diskriminierung von Rauchern. Wie gesagt, wir arbeiten an ähnlichen Projekten. Wir versuchen, Mitarbeiter von Handlungsweisen abzubringen, die das Unternehmen Geld ko sten.« Als ihre Hände über seinen Hintern gleiten, beschleicht Jones der Verdacht, dass diese Geste nicht ausschließlich etwas mit dem Zurechtrücken seiner Hose zu tun hat. »Allerdings sehe ich per sönlich nicht unbedingt ein, wie ich dazu komme, im Endeffekt jede Frau auf der Gehaltsliste zu subventionieren, die unbedingt Kinder braucht, um ein bisschen Farbe in ihr ödes Leben zu bringen.« »Ehrlich gesagt behagt es mir nicht, über Schwangerschaft zu dis kutieren, während du an meinem Hintern herumfummelst.« »Ich fummle doch nicht. Das ist Fummeln.«
»Hat Zephyr nicht Richtlinien zu Beziehungen zwischen Mitarbei tern?« »Natürlich. Aber wir gehören ja nicht zu Zephyr. Wir gehören zu Alpha.« »Und Alpha?« »Wir sind da erstaunlich aufgeschlossen.« »Du hast immer noch die Hand auf meinem Arsch.« »Ist das so schlimm?« Plötzlich merkt er, dass er sie gern küssen würde. Und wenn man bedenkt, dass sie ihn gerade begrapscht, erwartet sie es wahrschein lich sogar von ihm. Aber Jones hat von der Schwangerschaftsge schichte immer noch einen schlechten Geschmack im Mund. Er greift nach hinten und zieht ihre Hand weg. »Ach, komm schon.« Ihre Augenbrauen hüpfen. »Ist das dein Ernst?« Sie wirkt verwirrt. Sie macht kehrt und lässt sich auf das Sofa fallen. »Tut mir leid«, meint Jones versöhnlich. »Aber ich glaube, das wä re keine gute Idee.« »Das stimmt. Du würdest einen falschen Eindruck von mir krie gen, und in der Arbeit wäre es unangenehm ... Wir sollten profes sionellen Abstand wahren.« »Genau.« »Noch einen Scotch?« »Klar.« Er geht hinüber zum Sofa. Eve schenkt ihnen beiden nach. Er kann förmlich beobachten, wie sie ihre Fassung wiedergewinnt. Als sie ihm sein Glas reicht, lächelt sie. Sie ist so schön, dass er an seiner Entscheidung zu zweifeln be
ginnt. »Also dann!«, sagt sie. »Ich seh schon, mit dir zusammen wird es bestimmt interessant.« Er lächelt. »Ich hoffe es.« Sie stoßen an.
Eve manövriert den Audi an den Straßenrand und nimmt die Hände vom Steuer. »Verdammt. Ich glaube, du hast Recht. Ich bin wirklich zu betrunken zum Fahren.« Jones schaut sich um. Er kann seine Umgebung zwar nur unscharf wahrnehmen, aber er kommt zu dem Schluss, dass sie wieder vor seiner Wohnung gelandet sind. »Soll ich dir ein Taxi rufen?« »Vielleicht sollte ich mich lieber ausschlafen.« Sie lehnt sich zu ihm hinüber und sackt dabei fast auf seinen Schoß. »Bei dir.« Ihre Lip pen formen ein glibberiges Lächeln. Jones versenkt sich in diesen Anblick. »Okay.« »Das ist alles? Kein ›Wir sollten professionellen Abstand wahren‹? Kein ›Es ist besser, wir bleiben Freunde‹?« Sie macht eine ausladen de Geste und drischt den Rückspiegel aus seiner Position. »Aua.« »Diese Sachen hast doch du gesagt.« »Wirklich?« »Und ich hab auch nur gemeint, dass du bei mir übernachten kannst. Ich hab dich nicht aufgefordert, dich nackt auszuziehen.«
Eve findet den Türriegel und plumpst auf die Straße. »Ha.« Sie stemmt sich zurück in Jones' Gesichtsfeld. »Ich nehm dir nicht ab, dass du nicht mit mir schlafen willst. Keine Sekunde.« Jones hievt sich aus dem Audi. Plötzlich rauscht ihm das Blut in den Kopf, der sowieso schon viel zu voll damit ist, wie er findet. Er tapst um das Auto herum und hilft Eve auf die Beine. »Das wollen doch alle«, erklärt sie. »Alle ohne Ausnahme. Ich seh keinen Grund, warum das bei dir anders sein sollte.« Sie bohrt ihm den Finger in die Brust. Jones fummelt herum, um den Kontakt zwischen seinem Schlüssel und dem Eingangsschloss herzustellen. »Alle wollen mit dir schla fen? Woher willst du denn das wissen?« »Wenn du ein bisschen die Augen aufhältst...« Sie stützt sich schwer auf ihn, als sie sich durch die Tür winden. »... dann wirst du rausfinden, dass das Minimalniveau einer Frau, mit der ein Mann zu schlafen bereit ist, ziemlich niedrig ist.« »Dann liegt es also nicht daran, dass du so unwiderstehlich bist, sondern nur daran, dass Männer Schweine sind.« »Beides.« Sie sind jetzt im Treppenhaus, und Eve bleibt abrupt stehen. Jones hat einen Arm um ihre Taille geschlungen, also muss er ebenfalls anhalten. »Küss mich, Jones.« Das ist eine Falle!, schießt es Jones durch den Kopf. Die Botschaft rast hinaus zu seinen Lippen, doch die achten überhaupt nicht dar auf, weil sie schon dabei sind, Eve zu küssen. Ihre Lippen sind herr lich weich, und dann kräuseln sie sich, als sie anfängt zu kichern. Jones löst sich von ihr. Eve steigt die Treppe hinauf. Sie gerät ins
Straucheln und Jones muss sie auffangen. »Das ist unfair. Ich war noch nicht bereit.« »Bemerkte das Schwein.« »Legst nicht du es darauf an, mich zu verführen? Wieso bin ich da ein Schwein?« Sie kommen vor Jones' Wohnung an. Unten hat er es geschafft, den Schlüsselbund in die falsche Tasche zu stecken, daher muss er Eve jetzt loslassen, um ihn wieder rauszufischen. Sie knallt gegen die Flurwand. »Weil du dich auf ein niedrigeres Niveau begibst. Ich dagegen...« Sie rutscht an der Wand herunter. »... bin schon auf dem ... niedrigen Niveau.« Jones fängt sie auf. Lächelnd blickt sie zu ihm auf. Doch ihr Kopf bewegt sich weiter und wird immer schneller, bis er schließlich nach hinten sackt. Jones hält ihren schlaffen Körper und starrt auf ihren Hals. Ein paar Sekunden bleibt er reglos. »Eve?«, flüstert er, und als das nicht hilft, versucht er es noch einmal. Er schiebt ihr die Hand unter den Kopf und hebt ihn hoch. Ihr Mund steht offen. Ihre Augen sind schmale, zombieartige Schlitze unter dunklen, schweren Lidern. Eve ist bewusstlos. Außerdem ist das keine Pose, in der Jones von seinen Nachbarn ertappt werden will, die alle Gucklöcher haben und diese meist auch hemmungslos benutzen. Er müht sich, die Tür auf- und Eve hindurchzukriegen, ohne mit wertvollen Körperteilen von ihr an die Wand zu stoßen, was viel schwerer ist, als es klingt, weil sie wie eine Gummipuppe an ihm hängt und ihre Arme große, schwin gende Kreise ziehen. Er schleift sie durch das Wohnzimmer und lässt sie auf das Bett fallen. Schwer atmend wuchtet er sich neben sie.
Sie bewegt sich nicht. Plötzlich fällt Jones ein, dass sie einfach tot umgefallen sein könnte, und er beugt sich ängstlich vor. Sie gibt leise Schnarchgeräusche von sich. Behutsam bettet Jones ihren Kopf in eine bessere Lage. Sie hört auf zu schnarchen und leckt sich die Lippen. In ihrem Mundwinkel hat sich ein kleiner Speichelfleck gebildet, und Jones wischt ihn weg. Ungefähr zehn Minuten später kommt er zurück, nachdem er die Wohnungstür zugemacht, den Anzug abgeworfen und sich die Zähne geputzt hat. Eve liegt noch genauso da wie vorher. Jones bleibt in der Tür stehen. Er überlegt, welche Teile ihrer Kleidung er ihr ausziehen kann, ohne dass es für ihn zur Qual wird. Letztlich beschließt er, dass er ihr die Schuhe, die Uhr, den Armreif und das Halsband abnehmen kann, ohne sich dabei in rechtlichen oder (falls das eine Rolle spielt) moralischen Problemen zu verfangen. Eve liegt auf der Bettdecke, und Jones sieht keine besonders gro ßen Chancen, sie ohne Komplikationen darunter zu manövrieren, also holt er noch eine Decke aus dem Schrank, die er ihr überwirft, bevor er selbst ins Bett kriecht. »Mmm.« Er spürt, wie sich ihr Hin tern an ihn drückt. »Büfett.« »Was?« »Mmm.« Eine Minute lang sagt sie nichts. Dann: »Jones?« »Ja?« »Weckst du mich rechtzeitig zur Arbeit?« »Ja, natürlich. Der Wecker ist gestellt.« »Mmm. Gut.« Sie kuschelt sich in die Decke. »Morgen ... darf ich nicht verpassen. Morgen ist... Konsolidierung.« Jones wartet, falls noch mehr kommt. »Konsolidierung?«
»Mmm.«
»Was wird denn konsolidiert?«
»Alles!« Sie gibt ein leises Glucksen von sich. Ihr Bein findet seines
und schmiegt sich daran. »Ich liebe dich, Jones.« Ihr Atem wird langsamer. Jones liegt da und hört ihm zu, bis der Wecker anspringt und ihm zwei knisternde Radiostimmen mittei len, dass es Viertel nach sechs ist.
»Hier spricht Sydney. Hoffentlich funktioniert das jetzt... Ich möchte eine Nachricht von ... ähm ... Daniel Klausman durchgeben. Bleibt bitte dran ...
Ich glaube, ich muss ... nein, das ist es nicht.
Vielleicht — Klick. Guten Morgen allerseits, hier ist Janice. Wieder mal eine Mitteilung für die gesamte Belegschaft... Sie kennen sich ja schon aus damit. Klick. Janice, bitte geben Sie folgende Nachricht von Daniel Klausman an die Abteilungsleiter weiter. Danke. Klick. Guten Morgen, die Herrschaften, hier ist Mona ... ich habe eine Mit teilung von Daniel Klausman an alle Angestellten. Danke. Klick. Hier spricht Daniel Klausman. Mona, schicken Sie das allen Abtei lungsleitern zur Übermittlung an den gesamten Personalbestand. Guten Morgen allerseits. Ich möchte mich bei Ihnen allen bedan ken für den guten Willen und die Begeisterung, mit der Sie die not wendigen Einschnitte der letzten Monate angenommen haben. Es
war nicht leicht, doch wir haben einige sehr bedeutende Verände rungen geschafft. Unglücklicherweise wurde unser Aktienkurs von einer Überreak tion der Börse auf unternehmensexterne Ereignisse in Mitleiden schaft gezogen und ist neuerlich um 14 Prozent gesunken. Natürlich nehmen wir diese Entwicklung sehr ernst, doch wir dürfen auch darauf hinweisen, dass der Kursverfall diesmal geringer ist als im letzten Quartal, als er bei 18 Prozent lag. Relativ gesehen haben wir daher sogar um 4 Prozent zugelegt. Wir haben bereits große Fortschritte erzielt, aber die Arbeit ist noch nicht vorbei. Mehr als je zuvor müssen wir der Welt beweisen, dass Zephyr Holdings der Klassenprimus seiner Branche ist. Wir müssen beweisen, dass wir voll und ganz hinter unserer strategi schen Vision stehen. Aus diesem Grund werden wir in den nächsten Wochen eine Konsolidierung der meisten Abteilungen vornehmen. Das wäre alles. Einen schönen Tag noch. Klick.«
Für alle Mitarbeiter ist das die erste Voicemail, die am Frei tagmorgen eintrifft. Sie kommen an, schälen sich aus ihren Jacken und verstauen ihre Handtaschen. Sie schnappen sich ihre Telefone und geben ihren Zugangscode ein. Dann hören sie die Nachricht. Nur Jones nicht. Jones schleppt sich an seinen Platz wie ein Unto ter. Er stellt die Ellbogen auf den Schreibtisch und stützt den Kopf
in die Hände. Sein Voicemail-Lämpchen blinkt und schleudert ihm alle zweieinhalb Sekunden rote Pfeile in die Augen. Doch er hat nicht den Nerv, es auszuschalten. »Konsolidierung!«, winselt Freddy. »Die meisten Abteilungen!« Er und Holly springen gleichzeitig auf. »Du fragst Elizabeth. Ich rede mit Megan. Sie ...« Freddy schnippt mit den Fingern. »Ach, Mist! Dauernd vergess ich, dass sie nicht mehr da ist.« Doch Holly ist schon unterwegs. Freddy rast ihr nach und kommt dabei an Jones vorbei, der aussieht, als hätte er gerade eine vierstündige Bespre chung mit dem Personalwesen hinter sich. Freddy zögert. »Mach dir keine Sorgen, Jones. Wir sollten nicht in Panik verfallen, solange wir nichts Genaues wissen.« Plötzlich reißt er die Augen auf. »Oder weißt du schon was?« Er packt Jones an den Schultern. »Werden wir konsolidiert?« »O Gott, musst du mich so schütteln?«, stöhnt Jones. Freddy hat keine Ahnung, was mit Jones los ist. Aber offensich tlich hat es nichts mit Konsolidierung zu tun. Und um die geht es jetzt: Wer wird seinen Job verlieren? Holly ist schon in Westberlin und redet mit Elizabeth, um herauszufinden, wer gehen muss und wer bleiben darf, wenn nur das richtige Wort ins richtige Ohr geflü stert wird; wahrscheinlich sichert sie sich gerade eine neue Stelle, gerade in diesem Augenblick, während Freddy seine Zeit mit Jones vertrödelt. »Jetzt nicht!«, brüllt Freddy und hetzt hinüber nach Westberlin. Elizabeth ist nirgends zu sehen, daher hat sich Holly auf Roger ge stürzt und bombardiert ihn mit Fragen. Freddy platzt mitten in das Gespräch. »Was? Was hast du gesagt?«
Roger lüpft eine Augenbraue. »Ich habe gesagt, dass sich bei einer Konsolidierung die Abteilungen mit der stärksten Leitung durch setzen. Wir haben Sydney. Kein Grund zur Panik also.« »Genau! Sydney. Sydney wird uns schützen.« »Außer...« Roger zögert. »Außer sie steht vor der Wahl, entweder die Abteilung oder ihre eigene Position zu retten.« Holly klatscht sich die Hand vor den Mund. »Aber so weit wird es bestimmt nicht kommen«, wiegelt Roger ab. Freddy ist da nicht so sicher. Holly auch nicht. Sie sichtet Eliza beth, die blass und auf wackligen Beinen aus der Toilette tritt. In letzter Zeit ist Elizabeth ziemlich oft auf dem Klo. Jedes Mal, wenn Holly nach ihr sucht, ist sie gerade auf der Toilette. »Elizabeth! Hast du was gehört? Werden wir konsolidiert?« Elizabeth schaut sie verständnislos an. »Konsolidiert?« »Die Voicemail. Weißt du, ob ...« Holly verstummt. Sie starrt auf Elizabeths blinkendes Voicemail-Lämpchen. Elizabeth hat die Nachricht noch gar nicht gekriegt. Holly ist schockiert. Elizabeth weiß doch sonst immer vor allen anderen, was los ist. Aber heute anscheinend nicht. Während sich alle anderen die Voicemail ange hört haben, war Elizabeth auf der Toilette. »Was soll das für eine Konsolidierung sein?«, fragt Elizabeth. »Ahm ...« Holly wechselt das Standbein. »Also ...«
Nach dem Netzwerkausfall hat sich bei Zephyr Holdings gerade wieder der Arbeitsalltag eingependelt, doch jetzt, angesichts der drohenden Konsolidierung, hat niemand mehr Zeit für so was. Im gesamten Gebäude erlahmt der Betrieb. Knirschend kommen die Räder der Produktion zum Stillstand, und die Gerüchteküche be ginnt zu brodeln. Innerhalb weniger Minuten erreicht Zephyr einen Gerüchteausstoß von Weltklasseformat. Wenn sich Gerüchte ver kaufen ließen, wäre diese Produktivität Anlass für Sonderprämien und Auszeichnungen. Doch sie lassen sich nicht verkaufen, das ist sogar dem Vorstand klar. Als er die Lage erkennt, erteilt der Vor stand den Abteilungsleitern im Rahmen einer Konferenzschaltung genaue Anweisungen: Der gesamten Belegschaft sind Spekulatio nen über die Konsolidierung zu untersagen. Die Angestellten soll ten es auch wirklich besser wissen. Da gibt sich der Vorstand die größte Mühe, möglichst viele Jobs zu retten, und denen geht es nur darum, ob sie ihren eigenen Job behalten. Sie sollen sich gefälligst wieder an die Arbeit machen! Die Abteilungsleiter sind ganz dieser Meinung. Ihre Köpfe wak keln auf und ab, obwohl es sich um einen Telefonanruf handelt. Aus ihren Stimmen quillt feierlicher Ernst. Sie stehen hundertzehn Pro zent hinter dem Vorstand. Oder noch mehr. Sie überschlagen sich vor Eifer. Doch sobald der Hörer weggelegt ist, sinkt ihre Unterstützung auf ein realistisches Maß, und dann noch weiter. »Der Vorstand hat noch nicht entschieden, welche Abteilungen konsolidiert werden«, erwidern die Abteilungsleiter auf die vor Angstschweiß triefenden Fragen ihrer Mitarbeiter. »Vielleicht hat er sich auch schon ent
schieden, will aber noch nichts verraten. Ich kann auch nur speku lieren. Keine Ahnung, was die da oben im Schilde fuhren.« Ver schüchterte Mitarbeiter scharen sich um die Kaffeemaschinen. Die Gerüchteproduktion geht in den Untergrund und kommt dort zur vollen Blüte. In den Ausgabeschächten der Laserdrucker stapeln sich runderneuerte Lebensläufe. Inzwischen versammeln sich die Vorstandsmitglieder im sonnen durchfluteten Sitzungssaal. Es kommt zu einem etwas verunglück ten Start, als — leicht verklausuliert — angedeutet wird, dass es vielleicht ein —wenig unklug von Daniel Klausman war, eine Kon solidierung anzukündigen, noch bevor feststand, was genau denn eigentlich konsolidiert werden soll. Klausman hätte vielleicht besser daran getan, den Vorstand in seinen großen Plan einzuweihen. Möglicherweise, wer weiß das schon, wäre es günstiger gewesen, den Vorstand vor allen anderen über die anstehende Konsolidie rung zu informieren. Vorstandsgesäße wetzen unbehaglich über Sitzflächen. Klausman nimmt an diesen Sitzungen nicht teil, doch es gilt als sicher, dass er weiß, was dort vorgeht. Einige haben den Verdacht, dass der Raum verwanzt ist: Mikrofone in den Blumen, Kameras in den Augen von Porträts, solche Sachen. Andere denken da eher an Maulwürfe. Ei nige wenige halten es nicht für ausgeschlossen, dass Daniel Klaus man inkognito im Vorstand sitzt, doch sie behalten diese Theorie für sich, denn zuzugeben, dass du dem CEO noch nie persönlich be gegnet bist, wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis deiner eigenen Unwichtigkeit. So oder so ist der Vorstand sehr darum be müht, seine Loyalität zu beweisen. Wie er findet, spricht es doch für
Klausmans vorbildliche Fairness, die gesamte Belegschaft auf dem Laufenden zu halten. Bestätigend hauen sie auf den Tisch, um die Mikrofone zu beeindrucken oder die Maulwürfe oder auch Klaus man selbst. »Ich habe das schon länger kommen sehen«, meint der für die Abteilungen Kaufmännische Betriebsführung sowie Progno sen und Revision zuständige Manager. »Meine Leute stehen kurz vor dem Abschluss einer Analyse, aus der hervorgeht, dass nahezu achtzig Prozent der Kosten von nur zwanzig Prozent der Geschäfts bereiche verursacht werden.« Dies führt zu beunruhigtem Gemurmel. »Wie kann das sein?«, protestiert der Mann zu seiner Rechten. »So war es doch schon vor der letzten Konsolidierung. Den größten Teil von diesen achtzig Prozent haben wir doch wegrationalisiert!« »Ach, das sind jetzt wieder ganz neue achtzig Prozent«, versichert ihm der Manager. Damit ist die Sache klar. Das Unternehmen muss weiter rationali sieren, bis sich etwas an dieser ungleichen Prozentverteilung ändert. Ein Antrag zur Unterstützung von Klausmans Plänen wird gestellt und einstimmig angenommen. Wenn es etwas gibt, was der Vor stand beherrscht, dann ist es die Annahme von Anträgen. Nachdem dies erledigt ist, gönnt sich der Vorstand eine Pause. Puuh! Die Manager nutzen die Gelegenheit, um ihre Voicemail ab zuhören oder sich bei ihren Sekretärinnen Kaffee zu bestellen. Dabei formieren sie sich stillschweigend und fast unbewusst in getrennten Lagern. Ganz im Vertrauen, so wird in jedem dieser Lager geflüs tert, diese Konsolidierung kann natürlich nur klappen, wenn ihre eigenen Abteilungen mehrere andere schlucken. Köpfe nicken.
Schnell skizzieren sie eine strategische Vision des neuen Unterneh mens, in dem die meisten Abteilungen verkleinert oder eliminiert sind. Nur die eigene Abteilung wird zu einem großen Apparat auf gebläht. Ja! Herzen schlagen schneller. Absprachen werden getrof fen. Jedes Lager arbeitet mit Feuereifer für die eigene Sache. Doch als die Manager wieder an ihre Plätze im Sitzungszimmer zurückkehren, merken die einzelnen Gruppierungen, dass auch die anderen ihre Lager gebildet haben. Köpfe senken sich. Alle merken, was hier abläuft: Einige Vorstandsmitglieder wollen sich die Ums trukturierung zunutze machen, um sich weitere Zuständigkeiten unter den Nagel zu reißen. Dieser Vorwurf landet — zunächst nur angedeutet, dann schon unverhohlener und schließlich völlig nackt — auf dem prächtigen Eichentisch. Leidenschaftlich streiten die Lager alles ab. Schließlich kriegen sie ja keine Gehaltserhöhung da für, dass sie sich um mehr Mitarbeiter kümmern müssen! (Das stimmt sogar. Früher war es so, doch das hat sich geändert seit dem legendären Vorfall mit den sieben Sekretärinnen.) Eine größere Ab teilung verursacht doch nur zusätzliche Arbeit! Und auch das ist richtig. Der Nichtmanager wird vielleicht sogar meinen, dass die Vorstandsmitglieder ganz selbstlos dazu bereit sind, zum Wohle des Unternehmens zusätzliche Arbeit auf sich zu nehmen. Aber deswegen sind Nichtmanager auch keine Manager. Du kannst nicht in die oberen Bezirke von Zephyr Holdings vor dringen, wenn du dich vor Verantwortung drückst. Dort hinauf kommst du nur, wenn du dir so viel wie nur möglich von dieser Verantwortung krallst, sie kraftvoll nach unten delegierst und dann nach mehr schreist. Vorstandsmitglieder lechzen nach Verantwor
tung, so wie blinde Vögel mit verklebtem Gefieder den Schnabel nach wiedergekäuten Würmern aufsperren: rein instinktiv. Es ist das, was sie machen. Es ist das, was sie sind. Und so kommen die Vorstandsmitglieder, als sie beim Blick in die Runde nur harte, hungrige Mienen sehen, zu der Erkenntnis, dass ihnen ein langer Tag bevorsteht.
Elizabeth drückt die Toilettentür auf. Es ist zehn Uhr, und sie war heute schon zum dritten Mal hier. Einmal hat sie sich, ganz leise, übergeben, und wenn es nach dem üblichen Muster abläuft, wird es in ungefähr zwanzig Minuten zu einem zweiten einschlägigen Zwi schenfall kommen. Fürs Erste wankt sie zurück nach Westberlin. Schließlich kann sie nicht den ganzen Tag auf den Toilettenfliesen knien und die Kloschüssel umarmen. (Und sie kann auch nicht die ganze Zeit über dem Waschbecken hängen, auch wenn das gesitte ter wäre. Wenn Sydney sie so sähe! Oder Holly! Holly hat sowieso schon Verdacht geschöpft. Wahrscheinlich ahnt sie es schon, ohne es sich ganz klar zu machen. Zwar merkt man Elizabeth noch nichts an, doch ihre Brüste gehen auf wie Hefeteig, und sie ist zum Um fallen müde. Neulich ist sie mitten in einer Besprechung des Schu lungsverkaufs ein paar Sekunden lang eingenickt, und als sie die Augen aufmachte, lag Hollys Blick auf ihr.)
In letzter Zeit träumt sie öfter von Bändern. Blau, grün, rot. Bän der, mit denen sich kleine Mädchen das Haar nach hinten binden. Oder genauer gesagt, Bänder, mit denen Mütter ihren Töchtern das Haar nach hinten binden. Aus irgendeinem Grund gelingt es Eliza beth nicht, dieses Bild aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Seit dem Ausfall des Netzwerks beschäftigt sich Elizabeth nur noch damit statt mit Arbeit. Es ist ein alberner, gefährlicher Traum, aber sie kann ihn nicht abschütteln. Ihr Voicemail-Lämpchen blinkt. Es ist nicht die Mitteilung an die gesamte Belegschaft, die hat sie sich schon angehört. Sie war so be ängstigend, wie sie es aus Freddys und Hollys Reaktionen hatte schließen können, und Elizabeth hat bereits diverse Telefongesprä che geführt, um mehr zu erfahren. Vermutlich ist diese Voicemail die Antwort auf einen ihrer Anrufe. Elizabeth mag vielleicht ein wenig langsamer sein und sich häufig auf der Toilette aufhalten, doch sie hat noch nicht den Anschluss verloren. Sie lässt sich auf ihren Stuhl gleiten und wählt die Voicemail-Nummer. Eine Männerstimme antwortet, voll und samtig. »Guten Morgen. Hier spricht das Personalwesen. Uns sind Unregelmäßigkeiten in Ihrem Arbeitsverhalten aufgefallen. Wir möchten Ihnen einige Fra gen stellen. Bitte melden Sie sich im dritten Stock.« Instinktiv denkt sie: Roger. Doch der ist in ein Telefongespräch ver tieft. »Hör mal«, sagt er gerade, »ich kann dir wahrscheinlich eine Stelle in der Schulungsdurchführung beschaffen, wenn das Reisebü ro und die Kommunikation konsolidiert werden. Und was kannst du mir anbieten, wenn die Schulung gestrichen wird?« Falls Roger
dahinterstecken würde, würde er sie beobachten, da ist sie sich si cher. Also ist es nicht Roger. Nur das Personalwesen. Ihr Darm krampft sich zusammen. Das ist noch viel, viel schlimmer. Sie steht auf und verlässt Westberlin.
Einige Minuten später tritt sie im dritten Stock aus dem Aufzug. In der ganzen Zeit, die Elizabeth jetzt schon für Zephyr Holdings ar beitet, war sie noch nie in der Personalabteilung. Sie macht große Augen, als sie die dunkelblauen Wände und die gedämpfte Be leuchtung bemerkt. Der Teppich im Korridor ist so dick, dass sie das Gefühl hat, er zieht an ihren Schuhen. Vor der unbesetzten Empfangstheke bleibt sie stehen. Sie blickt auf die zwei Türen, und genau in diesem Augenblick öffnet sich die rechte mit einem Klack. »Hallo?« Keine Antwort. Elizabeth ist nicht beeindruckt. Aus Erfahrung weiß sie, dass es immer schwer ist, jemanden vom Personalwesen zu erreichen, aber das hier ist bloß lächerlich. Sie betritt den Gang, und ihr Mund wird zu einem dünnen Strich. Irgendwie scheint es wärmer zu werden. Oder ist sie das selbst? In letzter Zeit fällt es ihr nicht unbedingt leicht, das zu unterscheiden. Sie spürt etwas Feuchtes am unteren Rücken, das Shirt klebt an der Haut, und sie reagiert gereizt. »Hallo?«
Links von ihr klackt eine Tür. Das Zimmer ist klein, und das einzige Möbelstück ist ein Plastik stuhl. Der Stuhl steht vor einem Spiegel. Elizabeth blickt sich um. »Das gibt's doch nicht.« Kein Laut. Sie geht hinein, stemmt die Hände in die Hüften und starrt in den Spiegel. »Kommen Sie raus, um mir offen ins Gesicht zu schauen, oder wollen Sie sich da drinnen verstecken?« Schweigen. »Na schön.« Sie marschiert zum Stuhl. Ihre Übelkeit ist verflogen; sie fühlt sich, als könnte sie mit einem Alligator ringen. Sie setzt sich und schlägt die Beine übereinander. »Also?« Die Stimme kommt wie aus dem Nichts.
»Name bitte. Geben Sie Ihren Namen an.«
»Elizabeth Miller. Und wer sind Sie?«
»Ihre Angestelltennummer.«
»4148839.«
»Abteilung.«
»Sie wissen doch genau, in welcher Abteilung ich arbeite. »Vor
zehn Minuten haben Sie mich dort angerufen.« »Geben Sie Ihre Abteilung an.« Sie presst die Lippen zusammen. Sie mag dazu neigen, sich in ihre Kunden zu verlieben, aber sie kann auch mit der nackten Aggressi on einer sitzen gelassenen Frau kämpfen. »Ich bin nicht bereit, auf diese Weise ein Gespräch zu führen. Wenn Sie mit mir reden wol len, kommen Sie raus, und schauen Sie mir offen ins Gesicht.« »Geben Sie Ihre Abteilung an.«
Elizabeth bleibt stumm. Sekunden vergehen.
»Geben Sie Ihre Abteilung an.« »Wenn ich in den nächsten zehn Sekunden kein menschliches We sen sehe«, erklärt Elizabeth, »ist dieses Gespräch vorbei.« Sie wartet. Schweiß läuft ihr den Rücken hinunter. »Geben Sie Ihre Abteilung an.« Sie steht auf und geht zur Tür. Elizabeth hat nicht gehört, wie sie eingeschnappt ist, doch jetzt ist sie verschlossen. Die Hände auf den Hüften dreht sie sich zum Spiegel. »Öffnen Sie die Tür.« »Geben Sie Ihre Abteilung an.« »Schulungsverkauf! Sie wissen ganz genau, dass es der Schu lungsverkauf ist. Und jetzt öffnen Sie gefälligst die Tür!« Kaum dass die Worte heraus sind, erkennt sie, dass sie einen taktischen Fehler gemacht hat: Sie hat ohne Gegenleistung nachgegeben. »In Ihrem Arbeitsverhalten wurden Unregelmäßigkeiten festge stellt. Häufigkeit und Dauer Ihrer Toilettenpausen haben deutlich zugenommen.« Elizabeth stockt der Atem. Sie kennt die Gerüchte, denen zufolge das Personalwesen die Toilettenbesuche der Angestellten über wacht. Bisher hat sie nicht daran geglaubt. Sie macht einige Schritte ins Zimmer und wendet sich dem Spiegel zu. »Ich wüsste nicht, dass Sie das was angeht.« »Vielleicht haben Sie ein Problem. Ein persönliches Problem. Das könnten Sie uns mitteilen. Das Personalwesen ist da, um zu helfen. Dem Personalwesen liegt nur an Ihrem Wohlergehen.« »Trotzdem.« »Nach eingehender Betrachtung sind wir zu dem Schluss gekom men, dass Ihre Toilettenpausen mehrere mögliche Erklärungen zu
lassen. Erstens eine leichte Lebensmittelvergiftung. Zweitens Dro genmissbrauch zu Entspannungszwecken. Drittens Schwanger schaft.« Elizabeth sagt nichts. Doch in ihrem Magen geht es drunter und drüber. »Ihnen ist bekannt, dass sich das Personalwesen an die gesetzli chen Vorschriften zum Mutterschaftsurlaub hält. Sie wissen, dass Zephyr Holdings größten Wert darauf legt, seinen Mitarbeitern Chancengleichheit zu bieten.« »Was hat das mit mir zu tun?« »Sind Sie schwanger, Elizabeth?«, säuselt die Stimme. »Das ist doch nicht so schlimm. Sie können sich mir anvertrauen. Das Perso nalwesen ist Ihnen wohlgesinnt.« »Ich bin nicht schwanger.« Elizabeth lügt mit erhobenem Kinn und geradem Rücken. Ihr Anblick im Spiegel wirkt überzeugend. Ein wenig verräterisch ist nur die Farbe ihrer Wangen — aber das bemerken sie bestimmt nicht. Außer sie haben Monitore. Kann es sein, dass sie Monitore haben? »Sie wissen, dass das Personalwesen noch nie eine schwangere Mi tarbeiterin diskriminiert hat.« »Aber befördert wird sie auch nicht unbedingt.« »Wir gehen nur gegen Mitarbeiter vor, die zu spät zur Arbeit kommen. Wir gehen gegen Mitarbeiter vor, die übertrieben viele Pausen machen. Wir gehen gegen Mitarbeiter vor, die sich nicht langfristig an ihre Stelle binden können. Aber wegen einer Schwan gerschaft wird niemand diskriminiert.«
»Ich habe einen schlechten Hotdog gegessen, okay? So, jetzt wis sen Sie Bescheid.« »Das Personalwesen macht sich nur Sorgen um Ihre beruflichen Leistungen. Dabei fällt es nicht ins Gewicht, dass Sie sich nach al lem, was wir für Sie getan haben, vielleicht dafür entschieden ha ben, privaten Belangen den Vorzug vor Ihrer Arbeit zu geben. Rechnen Sie persönlich mit einem Abfall Ihrer Produktivität, Eliza beth?« »Nein.« »Ihnen ist bekannt, dass es einen Vertragsbruch darstellt, wenn Sie mit einem Abfall rechnen und dies verheimlichen.« »Vertragsbruch? Was für ein Vertragsbruch?« »Sie haben mit dem Personalwesen vereinbart, im Austausch für Ihre Arbeit ein Gehalt zu beziehen. Wenn Sie wissentlich Ihre Lei stungsfähigkeit mindern, verstoßen Sie damit gegen diese Abma chung.« »Jetzt hören Sie mal gut zu: Wenn ich schwanger wäre, was ich nicht bin, wäre das kein Vertragsbruch.« Keine Antwort. »Ich meine, das kann ja gar nicht sein.« »Ihnen ist bekannt, dass ein Vertragsbruch zur sofortigen Kündi gung führt.« Sie schluckt und wählt ihre Worte mit größter Sorgfalt. »Nach be stem Wissen kann ich sagen, dass ich nicht schwanger bin.« Lang anhaltendes Schweigen tritt ein. Für Elizabeth liegt etwas Arrogantes und Selbstgerechtes darin. Aber das bildet sie sich viel
leicht nur ein. Ihr ist heiß, sie schwitzt, und sie muss dringend auf die Toilette. »Das Personalwesen interessiert sich nicht dafür, ob Sie schwanger sind.« Sie fährt auf. »Was?« »Das Personalwesen möchte lieber nichts von diesen Dingen wis sen.« »Aber gerade haben Sie doch ...« »Das Personalwesen mischt sich nicht in das Privatleben von Mi tarbeitern ein.« Elizabeth wartet. »Wir wollen lediglich sicherstellen, dass Ihre Leistungen gegenü ber dem vereinbarten Niveau nicht absinken.« Lange Zeit sitzt sie wie erstarrt da. Schließlich presst sie mit mah lenden Kiefern eine Antwort hervor. »Wenn das eine Drohung sein soll, kann ich Ihnen nur raten, dass Sie es vergessen.« Es klackt, und die Tür geht auf. »Vielen Dank für Ihren Besuch«, schmeichelt die Stimme zum Ab schied.
»Jones«, sagt Freddy. »Jones, Jones.«
»Was ist?«
Freddy steht im Eingang zu seiner Bürozelle. »Was hast du denn?«
Mit einiger Mühe setzt sich Jones gerader hin. »Ich hab nicht viel Schlaf gekriegt, das ist alles.« »Naja, Zeit fürs Mittagessen.« Freddy sieht auf die Uhr. »Wo ist denn Holly?« »Keine Ahnung.« »Im Besprechungszimmer unten in der Empfangshalle«, antwortet Roger im Vorbeigehen. »Wenigstens war sie vor zehn Minuten noch dort.« »In einem Besprechungszimmer? Mit wem bespricht sie sich denn?« Roger zuckt die Achseln und verschwindet weder hinter der Trennwand. »Hmm«, macht Freddy. Zehn Minuten später kreuzt Holly mit ihrer Tasche unterm Arm auf. »Entschuldigung. Bin aufgehalten worden.« »Von wem?« »Kunden, natürlich. Elizabeth ist nämlich Verkaufsvertreterin, weißt du, und ich bin ihre Assistentin. Und sie hat eben Kunden.« »Welche?« »Welche ich getroffen habe?« »Ja.« »Was interessiert dich das?« »Eigentlich gar nicht«, meint Freddy. »Aber ich finde es unglaub lich loyal von dir, dass du dich mit Elizabeths Kunden zu Gesprä chen triffst, wo doch alle anderen hier wie die aufgescheuchten Hühner rumlaufen und versuchen, ihren Arbeitsplatz vor der Kon solidierung zu retten.«
»Mann, du klingst schon fast wie Roger.« Beim letzten Wort senkt sie die Stimme, da Roger nur ein oder zwei Trennwände weiter an seinem Platz sitzt. »Findest du nicht auch, Jones? Jones?« »Was ist?«
»Hey, was ist denn mit dem los?«
»Also, bis jetzt hab ich einen Dreck rausgefunden«, berichtet Fred dy im Aufzug. »Niemand weiß, wann die Konsolidierung kommt, wer konsolidiert wird und wieso das Ganze überhaupt passiert.« Holly seufzt. »Bei mir das Gleiche.« »Aber ich hab gehört, dass Simon von der Schulungsdurchfüh rung Blake Seddon eine verpasst hat. Direkt ins Gesicht.« »Mach keine Witze! Blake Seddon aus dem Vorstand?« »Ja! Und jetzt — das glaubst du nicht —jetzt trägt er eine Augen binde. Wie ein Seeräuber.« Sein Blick wandert von Holly zu Jones. Doch Jones lächelt nicht. Jones hat Blakes Augenbinde schon gese hen. Am Montag um halb acht hat er anlässlich der morgendlichen Besprechung von Projekt Alpha mit ihr Bekanntschaft geschlossen. Jones war nicht unbedingt unglücklich darüber, dass jemand gegen Blake handgreiflich geworden war, doch seine heimliche Freude wurde getrübt durch die Tatsache, dass Blake jetzt noch mehr nach einem Hauptdarsteller einer Soap-Opera aus dem Nachmittags programm aussah. »Unnötig zu erwähnen«, fährt Freddy fort, »dass
Simon jetzt ein Exmitarbeiter ist. Und natürlich hat Boreas sofort zugeschlagen. Das hat denen bestimmt Spaß gemacht, sich jeman den zu krallen, der einen Zephyr-Manager niedergebolzt hat. Wahr scheinlich muss er jetzt Ausbildungskurse machen.« »Hey, das erinnert mich an was«, wirft Holly ein. »Ich hab beim Personalwesen angerufen, um Megans Adresse rauszufinden, damit wir ihr eine Karte schicken können ...« »Eine gute Idee«, findet Jones. »... aber sie wollten sie mir nicht geben. Sie haben gesagt, sie ist zu Boreas gegangen.« Sie wirft Jones einen ängstlichen Blick zu. »Ge nau wie du gesagt hast.« Jones zeigt keine Reaktion, und sie fügt hinzu: »Ist das nicht unheimlich?« »Ich weiß nicht. Eigentlich nicht.« »Eigentlich nicht? Vor ein paar Wochen hast du gemeint, das ist eine Verschwörung.« »Ich hab eben noch mal drüber nachgedacht, und da ist mir was klar geworden.« Der Aufzug kommt im Erdgeschoss an, und Jones blinzelt in das grelle Licht. »In einem Markt mit nur zwei großen Wettbewerbern ist ein reger Austausch von Angestellten völlig normal.« Dieser Satz stammt Wort für Wort aus einem Einfüh rungshandbuch für Projekt Alpha, das Klausman ihm letzte Woche gegeben hat. Holly setzt zu einer Erwiderung an. »Aber...« Doch dann ver stummt sie, weil vor dem Aufzug Eve Jantiss wartet. »Hallo.« Eve lächelt. »Hallo, Jones.« »Hi.« Und dann kann er es einfach nicht lassen. »Kennst du Fred dy und Holly?«
»Von Telefongesprächen wahrscheinlich. Aber Namen kann ich mir schwer merken.« Sie lacht. Sie sieht frisch und wach aus — und warum auch nicht? Eve hat letzte Nacht sechs Stunden am Stück geschlafen. Jones, der neben ihr die ganze Zeit kein Auge zuge macht hat, kann es bezeugen. »Schön, dich mal kennen zu lernen«, sagt Holly. »Krrnng«, gibt Freddy von sich. »Schon komisch irgendwie«, meint Eve. »Wir verbringen so viel Zeit hier, aber wir wissen gar nicht, wer die Leute, die wir täglich sehen, eigentlich sind.« Sie legt eine leichte Betonung auf eigentlich. Niemand antwortet darauf. Um weitere Denkspiele zu vermeiden, mit denen er in seinem Zustand nicht so leicht klarkommt, verab schiedet sich Jones. »Also dann.« Er macht sich auf den Weg durch die Eingangshalle. Freddy und Holly holen ihn auf halbem Weg ein. Freddy jammert: »Ich hab mich total blamiert. Die hält mich bestimmt für zurückge blieben.« Sie treten hinaus in den Sonnenschein und schlendern auf dem Gehsteig weiter. »Wie zwei verschiedene Leute«, sagt Holly auf einmal. »Was?« Jones erschrickt. »Was Eve gesagt hat. Es stimmt. Jeden Tag kommt man in die Ar beit, aber man lernt kaum jemand kennen. Die Hälfte der Leute, die ich im Aufzug sehe, kenne ich nicht mal dem Namen nach. Da heißt es immer, das Unternehmen ist eine einzige große Familie, aber ich kenne praktisch niemand. Und selbst die Leute aus meiner Abteilung — ihr zwei, Elizabeth und Roger —, kenne ich die wirklich? Ich
meine, ich mag euch, Jungs, aber wir reden eigentlich ständig nur über die Arbeit. Neulich wollte ich meiner Schwester erklären, war um es so eine Riesensache ist, dass Elizabeth Rogers Donut geges sen hat, und sie hat mich für verrückt erklärt. Und wisst ihr was, ich musste ihr zustimmen. Zu Hause ist mir nicht mal mehr eingefallen, warum das so eine große Rolle spielt. Wenn ich am Abend hier rausgehe, merke ich, wie ich mich verändere. Als würde ich im Kopf einen anderen Gang einlegen. Und so kennt ihr mich gar nicht; ihr kennt mich nur so, wie ich hier bin, und das ist schrecklich, weil ich außerhalb der Arbeit ein ganz anderer Mensch bin, ein besserer Mensch. Es gefällt mir überhaupt nicht, wie ich hier bin. Geht das nur mir so? Oder sind alle anders, wenn sie in die Arbeit kommen? Wenn es so ist, wie sind sie dann in Wirklichkeit? Wie sollen wir das je erfahren? Wir kennen nur die Arbeitsleute.« »Ach du Scheiße«, entfährt es Freddy. »Elizabeth hat Rogers Donut gegessen?« Holly erstarrt. »Nein, ich wollte sagen, Roger meint, dass Elizabeth seinen Donut gegessen hat.« »Aber das hast du nicht gesagt.« »Ist mir bloß so rausgerutscht.« Etwas Gequetschtes tritt in Hollys Stimme. »Du ziehst falsche Schlüsse, darüber hab ich doch gar nicht geredet!« Jones schaltet sich ein. »Warum hat sie seinen Donut genommen?« »Bitte, wenn ihr es weitersagt, weiß Elizabeth genau, dass es von mir kommt.« »Okay, okay.« Freddy versucht, sie zu beruhigen. »Es bleibt unter uns.«
»Es war einfach aus einer Laune heraus. Sie hatte Hunger, das ist alles. Gar nicht persönlich gemeint. Bitte, ihr müsst mir versprechen, dass ihr das für euch behaltet.« Ihre Stimme bebt. Ihr Gesicht ist gequält und angespannt, ihre Stirnfalte wie eine scharfe Tilde. »Das ist genau das, wovon ich geredet habe!« »Natürlich werden wir nichts verraten«, beteuert Jones. »In Ord nung?« »Genau, genau.« Freddy leckt sich die Lippen. Wissen ist Macht, und ihm ist gerade ein großer Batzen davon in den Schoß gefallen. Holly scheint immer noch nervös. Um sie abzulenken, sagt Jones: »Was du gerade gesagt hast, dass man sich vorkommt wie zwei verschiedene Leute ... Ich weiß, was du meinst.« »Wirklich?« Sie sieht ihn hoffnungsvoll an. »Glaubst du, es geht allen so?« Sie schauen Freddy an, der tief in Gedanken ist. »Was?« Er fährt auf. »Ich werde Roger nichts von dem Donut erzählen.«
Ende Oktober lässt die Gerüchteproduktion langsam nach. Da sie nicht mit neuen Informationen über die Konsolidierung genährt werden, kehren sich die Gerüchte gegen sich selbst und werden immer phantastischer. Die Behauptung, dass der Vorstand das Per sonalwesen absägen will, markiert das Ende. Das kann einfach nie
mand glauben. Die für gesunde Gerüchte entscheidende Atmosphä re von Unwissen und verzweifeltem Schrecken versickert allmäh lich und wird verdrängt von einer stillen, stets wachsamen Para noia. Die Leute verschanzen sich und behalten ihr Wissen für sich, auch wenn sie nichts wissen. Wenn am Abend die Hände nach Jak ketts greifen und Aktentaschen zugeklappt werden, tauschen die Mitarbeiter misstrauische Abschiedsgrüße aus und fragen sich da bei, ob das Gegenüber etwas verheimlicht. Sie stellen Mutmaßun gen an, was sie am nächsten Tag erwarten könnte und was nicht. Bei der Fahrt nach unten betrachten sie die Tastentafel und überle gen sich, wie viele Löcher dazukommen werden.
Jones drückt sich in der Eingangshalle herum, unweit von dem Schild mit dem Mission Statement. Das wird für ihn allmählich zur Gewohnheit. Er hofft, nach der Arbeit auf Eve zu stoßen, doch dazu kommt es nie. Eve ist angeblich Rezeptionistin, doch wie er festge stellt hat, ist sie fast nie an ihrem Platz. Die Arbeit am Empfang macht ausschließlich Gretel. Er sieht Eve bei den Alpha-Bespre chungen am Morgen und manchmal auch im Überwachungsraum, doch bei diesen Gelegenheiten sind immer andere Leute dabei, zum Beispiel Blake Seddon. Jones möchte allein mit Eve sprechen. Über bestimmte Themen, die an dem Abend mit dem Baseballspiel ange schnitten wurden.
Er will schon fast aufgeben, als das Klack-Klacken von Absätzen seinen Kopf herumfahren lässt. »Jones!«, ruft Eve. »Dachte ich mir, dass du das bist.« Lächelnd kommt sie näher. »Hab dich auf den Monitoren gesehen. Was machst du denn hier?« »Ich hab auf dich gewartet.« Jones findet seine Bemerkung schock ierend offen, doch Eves Lächeln macht ihm Mut. »Ich wollte dich zu einem Drink einladen.« »Klingt nach einer fabelhaften Idee.« »Gut.« Jetzt grinst er wie ein Schwachsinniger, aber er kann nicht anders. »Also dann.« »Ich muss mich nur schnell frisch machen. Bin gleich wieder da.« Sie entschwindet in Richtung Toilette. Jones schiebt die Hände in die Taschen und wippt auf den Zehen. Vorwärts, Jones!, denkt er. »Abend.« Freddys Gruß hat ihn aufgeschreckt. »Bye! Bis nächste Woche.« Er sieht Freddy nach, der auf den Ein gang zusteuert. Unmittelbar bevor sich hinter ihm die Türen schlie ßen, wirft Freddy einen Blick auf die unbesetzte Empfangstheke. Da fällt es Jones wie Schuppen von den Augen, dass ihm in naher Zu kunft eine katastrophale Szene droht, sobald Freddy herausfindet, dass zwischen ihm und Eve was läuft. Bei der Vorstellung jagt ein eiskalter Schauer über seinen Rücken. »Fertig!« Eve nimmt seinen Arm. Sie schenkt ihm ein glücklich strahlendes Lächeln. »Gehen wir. Ich weiß ein Lokal.«
Sie fährt ihn zu einem unscheinbaren Flachbau an der Bucht, an dem Jones schon tausendmal vorbeigekommen ist, ohne sich je Ge danken darüber zu machen. Er erweist sich als eine Bar, die so sty lish ist, dass sie auf so etwas Banales wie das Aussehen einer Bar völlig verzichten kann. Um sechs Uhr an einem Freitagabend drän gen sich in dem Raum dunkelgelbes Sonnenlicht und mehr Paar Schuhe, als Jones je zuvor an einem Ort gesehen hat. Mit einem Cocktail in der Hand bahnt sich Eve einen Weg durch die Menge und begrüßt lächelnd Leute. Er folgt ihr zu einem Balkon, der so brechend voll ist, dass die Grenze zwischen Unterhaltung und lang samem Tanz schon fast überschritten ist. »Sex on the Beach«, flötet sie. »Bitte?« Eve hält ihren Cocktail hoch und schiebt sich grinsend die Son nenbrille über die Augen. »Oh.« Jones lächelt. Er gibt sich einem Scotch und der Hoffnung hin, dass Eve so lange Sex on the Beach oder irgendwelche anderen alkoholischen Getränke zu sich nehmen wird, bis er den Mut findet, sie damit zu konfrontieren, was sie neulich nachts im Bett gesagt hat. »Klausman ist begeistert von deiner Arbeit mit Rauchern«, erzählt sie. »Erst heute haben wir darüber geredet. Du hast ihn beeindruckt. Und mich hast du auch beeindruckt, was auf lange Sicht noch wich
tiger ist. Was meinst du, werde ich eines Tages eine gute Vor standsvorsitzende sein?« Sie lächelt. »Könnte schwierig werden, sechshundert Angestellten zu erklä ren, wie du als Rezeptionistin den Sprung ganz nach oben geschafft hast.« »Na ja, sechshundert Angestellte werden es bestimmt nicht mehr lange sein.« »Stimmt. Aber sag mal, das kapier ich immer noch nicht. Warum konsolidiert Zephyr eigentlich?« Sie zuckt die Achseln. »Alle Unternehmen machen Um strukturierungen. Das gehört zur Konjunkturentwicklung: Wach stum und Rückgang. Wir sind daran interessiert, bessere Lösungen dafür zu finden. Deswegen wird bei Zephyr grundsätzlich einmal im Jahr konsolidiert.« »Und dann kommt wieder Wachstum?« »Na ja, nicht direkt. Seit ich für Zephyr arbeite, schrumpft das Un ternehmen. Weniger ist mehr, heißt der Trend. Du weißt schon.« »Wie viele Leute werden ihren Job verlieren?« »Hängt vom Vorstand ab. Alpha steuert nicht bis ins Detail — wir ziehen nur hier und da an ein paar Strippen und beobachten, was passiert. Klausman hat alle Mitarbeiter in einer Voicemail infor miert, dass wir konsolidieren müssen. Jetzt warten wir ab, wie das Unternehmen reagiert.« Er blickt hinaus aufs Wasser. »Also steht eine unbekannte Zahl von Leuten unmittelbar vor der Arbeitslosigkeit, nur weil wir beo bachten wollen, was passiert.« Sie wirft den Kopf zurück. »Hör ich da einen gewissen Ton?«
»Du hörst eine Frage.« »Ach Jones, jedes Mal, wenn ich meine, du bringst es doch noch zu was bei uns, kriegst du weiche Knie, bloß weil es so furchtbar ist, wenn jemand entlassen wird!« Einige Köpfe drehen sich in ihre Richtung, aber Eve ignoriert sie. »Ich dachte, das hast du endgültig hinter dir.« »Hast du es hinter dir?« »Was? Natürlich. Was soll die Frage?« »An wie viel erinnerst du dich noch von neulich Nacht?« Sie erstarrt. »Was hab ich gemacht?« »Du ... irgendwie warst du nicht glücklich damit, wie du bist.« Im letzten Moment schrickt er zurück vor: Du hast gesagt, du liebst mich. Sie lacht. »Anscheinend war ich wirklich ziemlich betrunken.« »Und ehrlich.« »Ach Quatsch Jones. Quatsch. Wahrscheinlich wollte ich nur mit dir schlafen.« »Warum kannst du nicht zugeben, dass du einsam bist?« Nach einer halben Sekunde lacht Eve ungläubig auf. »Scheiße, du meinst es wirklich ernst.« »Du hast viele nette Sachen. Das sehe ich. Und was hast du sonst noch?« Das klingt mehr nach moralischer Kritik, als er beabsichtigt hat, und Eves dunkle Augen werden groß. »Bloß weil ich angesäuselt ein paar blöde Bemerkungen mache, kannst du auf einmal wie durch ein Fenster in meine Seele schauen? Nein, Jones. Ich hab ein super Leben und einen super Job, und wenn ich am Montag hun dert Leute feuern muss, mach ich das, ohne mit der Wimper zu
zucken. Ich habe alles, was ich will. Ich soll nicht glücklich damit sein, wie ich bin? Mann, ich bin nicht nur glücklich, ich bin stolz.« »Du ...« »Und sag bloß nichts gegen meine Sachen!« »Aber das ist doch nicht dein ganzes Leben. Eve, du hast doch ein schlechtes Gewissen wegen Alpha, das weiß ich. Wenigstens manchmal.« Sie reagiert nicht, wie Jones es sich erhofft hat — ei gentlich reagiert sie gar nicht —, und er fährt hastig fort. »Freddy. Du hast ihn heute kennen gelernt, im Aufzug. Er ist derjenige, der dir jede Woche Blumen schickt. Hast du das gewusst?« Eve starrt ihn an. »Du Schwachkopf, natürlich weiß ich das. Wir überwachen doch das ganze Unternehmen!« Jones spürt, dass er rot wird. »Jedenfalls ist er ...« »Weißt du, was in Freddys Personalakte steht? ›Unter keinen Um ständen befördern.‹ Deswegen ist er seit fünf Jahren Verkaufsassi stent. Er ist ein Projekt. Sie sind alle Projekte. Und willst du noch was wissen? Holly, deine Kollegin, sie reserviert Besprechungsräu me, aber nicht für Besprechungen. Sie geht nur rein und setzt sich hin. Manchmal bringt sie eine Zeitschrift mit, aber meistens gar nichts. Sie ist der einsamste Mensch, den ich je gesehen habe. Und diese Sekretärin aus eurer Abteilung, die Dicke — sie hat genau Buch geführt über jede deiner Bewegungen. Sie war so in dich ver knallt, dass sie fast nicht mehr atmen konnte, und du hast nichts da von bemerkt. Und greife ich diesen Leuten unter die Arme, damit sie ihr Leben besser in den Griff kriegen? Nein. Ich mach mir keine Sorgen um sie, sie sind mir egal. Für mich sind sie bloß Mäuse in einem Labyrinth.«
Jones lässt sie stehen. Das klingt beeindruckender, als es ist, weil er in dem Gedränge nämlich kaum vorwärts kommt. Er fühlt sich weniger als der tatkräftige Held denn als die tränenreiche Heldin. Trotzdem schafft er es die Treppe hinunter, zur Tür hinaus und auf den Rücksitz eines günstig vor der Bar postierten Taxis, ehe ihn Eve einholt. Sie klopft ans Fenster. »Fahren Sie einfach«, fordert Jones den Chauffeur auf. Doch Eve ist eine wunderschöne Frau in einem figurbetonten Fummel, und das zählt für den Taxifahrer anscheinend mehr als Jones' Meinung. Als er feststellt, dass das Auto immer noch steht, kurbelt er das Fen ster herunter. »Lass dir mal von Klausman die Geschichte von Harvey Millpak ker erzählen. Sie haben damals gemeinsam das Projekt Alpha ge startet, schon lange her. Nur die zwei und zwanzig unwissende Mitarbeiter, bis Harvey Gewissensbisse gekriegt hat. Eines Tages, ohne jede Vorwarnung, kommt er zur Arbeit und verkündet, dass alles nur ein Schwindel ist. Ein Experiment. Klausman hatte keine Ahnung, was da anrollt, keine Chance, Harvey aufzuhalten. Und das war's dann. Experiment vorbei. Das Unternehmen geht ein, und alle werden entlassen. Die Angestellten sind ausgeflippt. Drei von ihnen haben sogar mit Mord gedroht. Aber weißt du was? Auf Har vey waren sie noch wütender. Klausman hat sie angelogen, aber er hat ihnen auch Arbeit gegeben. Wegen Harvey sind sie rausgeflo gen.« »Soll das vielleicht eine moralische Geschichte sein?«, empört sich Jones. »Fällt mir schwer, so was ernst zu nehmen, wenn es von dir kommt.«
»Der Geschäftsführer war Cliff Raleigh. Achtundfünfzig, geschie den, kaum Freunde und Verwandte. Doch in der Arbeit war er eine lebende Legende. Es ist eine Schande, wie schwer es heutzutage für ältere Leute ist, eine anständige Arbeit zu finden. Auch für diese Problematik will Alpha nach Lösungen suchen.« Sie zuckt die Ach seln. »Drei Monate nach der Kündigung hat sich Cliff erschossen.« Jones ballt die Fäuste. Er hat sich immer für einen friedlichen Men schen gehalten und ist völlig unvorbereitet auf die Heftigkeit seiner Reaktion. Er möchte so dringend aussteigen und ihr eine knallen, dass er die Galle in der Kehle schmeckt. Eve ist noch nicht fertig mit ihm. »Du solltest sehr genau darüber nachdenken, ob du wirklich ein zweiter Harvey Millpacker sein willst.« »Fahren Sie«, sagt Jones zu dem Chauffeur, und als seine Auffor derung ungehört verhallt, brüllt er: »Los!« Trotzdem setzt sich das Taxi erst in Bewegung, als Eve die Hand von der Tür nimmt und zurücktritt. Jones kommt nicht einmal von ihr weg, solange sie nicht damit einverstanden ist. Doch unterm Strich muss er zugeben, dass das auch irgendwie passt.
Im zweiten Stock sitzt der Vorstand um den Konferenztisch. Es war ein langer Tag. Der Manager kennt weder Rast noch Ruh. Wäh rend hinter den zimmerhohen Fenstern schon lange Dunkelheit
herrscht und sich ein Gewitter zusammenbraut, legt der Vorstand letzte Hand an den Konsolidierungsplan. Der Vorstand lässt sich auf zwei sehr unterschiedliche Weisen be schreiben. Zum einen als eingespieltes, eng abgestimmtes Team, das zum Wohle des Unternehmens unermüdlich an einem Strang zieht. Zum anderen als eine Hundemeute machthungriger Egomanen, die als Nebeneffekt ihres individuellen Strebens nach Reichtum und Status gelegentlich etwas für Zephyr tun. An die Theorie mit dem uneigennützigen Teamgeist glaubt heute niemand mehr. Vor langer Zeit hat sie vielleicht mal gestimmt, doch als der erste Hundemeu tenmensch in den Vorstand aufstieg, war alles vorbei. Das ist wie bei einem Fuchs, der in den Hühnerstall kommt: Bald gibt es nur noch Füchse und Federn. Wenn der Vorstand je aus selbstlosen In dividuen bestanden hat, denen Teamarbeit wichtiger war als das eigene Interesse — und das ist ein großes Wenn —, dann sind sie schon vor langer Zeit in Stücke gerissen worden. Dies muss vorausgeschickt werden, denn nur so lassen sich Ent scheidungen des Vorstands wie die Konsolidierung überhaupt be greifen. Das ursprüngliche Ziel war eine Rationalisierung der be trieblichen Abläufe von Zephyr. Doch das war vor einer Woche. Seither geht es nur noch um die Vergrößerung von Imperien. Die Vorstandslager haben einen grausamen und blutigen Krieg geführt. Abteilungen wurden eingebüßt, zurückerobert und wieder verlo ren. So manche gute, anständige Idee blieb in dem Gemetzel auf der Strecke. Viele unschuldige, hart arbeitende Angestellte, die noch nichts von ihrem Schicksal wissen, gerieten ins Kreuzfeuer. Es war
eine Woche sinnloser Tragödien und blinder Zerstörung, und jetzt herrscht auch im Vorstand leichter Überdruss. Doch nun ist es vorbei. Der endgültige Plan, der jedem Angestell ten etwas zu bieten hat, vorausgesetzt, er gehört dem Vorstand an, reduziert die Zahl der Zephyrabteilungen um drastische siebzig Prozent. Viele Abteilungen wurden völlig gestrichen, doch die mei sten wurden in neue Gebilde umgepackt — mit sämtlichen Zustän digkeiten und einem Teil der Ressourcen von zwei ehemaligen Ab teilungen. Oder von drei. Und in einem Fall sogar von fünf. Der Plan wird um den Tisch gereicht, und mit ihrer Unterschrift besie geln die Vorstandsmitglieder die Entstehung neuer Geschöpfe, die aus den Organen alter Abteilungen zusammengeflickt sind. Mit einem Federstrich wird der Betriebsschutz ins Personalwesen ver pflanzt. Große, noch zappelnde Teile der Rechtsabteilung werden festgenäht. Aus Gründen, die nichts mit betrieblicher Effizienz und sehr viel mit knallharten Verhandlungen zwischen Managern zu tun haben, wird auch noch der letzte Mitarbeiter aus dem ehemali gen Kreditwesen hingeheftet. Begleitet von zuckenden Blitzen und krachendem Donner tackert der Vorstand schließlich noch ganz erschöpft einen Abteilungsleiter dran. Und da ist sie nun, die neue Abteilung. Der Vorstand hat etwas geboren, mitten im Sitzungs raum. Die Frucht seiner Bemühungen liegt auf dem Tisch, eine grausame Verstümmelung der Natur, und stößt zum ersten Mal ihren fauligen Atem aus. Unheilvoll glitzern die gelben Augen der Kreatur. Unbeholfen winden sich ihre Gliedmaßen und klatschen auf die polierte Eichenplatte. Sie wirft den schlecht sitzenden Kopf
zurück und erwacht brüllend zum Leben — oder zu etwas ande rem. Unten halten die wenigen verstreuten Angestellten, die noch bei der Arbeit sind, inne und schauen hinauf. Ihre Gedärme krampfen sich zusammen. Sie tauschen verängstigte Blicke aus. Niemand fasst es in Worte, doch alle fühlen es. Etwas Böses ist in die Welt getreten.
Q 4/2:
November
Behutsam bugsiert Gretel Monadnock ihren kleinen Kia auf einen Parkplatz direkt neben den Aufzügen. Sie stellt den Motor ab und schnappt sich Jacke und Tasche. Als sie die Tür zuwirft, rollt das Geräusch die ganze Länge des unterirdischen Parkgeschosses hi nunter und wieder zurück. Normalerweise fährt Gretel hier einfach durch, weil ein Wagen neben dem anderen steht. Nur mit halbem Auge achtet sie darauf, ob sie nicht doch einen freien Platz sieht, und wenn sie einen findet, ist es wirklich was Besonderes. Doch heute stehen hier keine zehn Autos. Ein merkwürdiges Gefühl. Es ist 7.25 Uhr. Als sie im Aufzug steht und den Knopf zum Empfang drückt, klingelt ihr Handy. Sie wühlt es aus der Tasche. »Hallo?« »Hi Gretel, Pat noch mal. Alles klar so weit?« »Bin gerade angekommen.«
»Ah, super. Vielen Dank, Gretel. Du rufst mich an, wenn du ir gendwelche Fragen hast, okay?« »Ja, mach ich.« Gretel schaltet ihr Handy ab. Die Aufzugtür öffnet sich, und plötzlich sieht Gretel einen jungen Mann in blauer Uni form. Sie kommt nicht aus dem Aufzug, weil er direkt vor ihr steht. Hinter ihm sind zwei weitere Uniformierte. Der Mann lässt seinen Blick nach unten auf ihre Brust gleiten, um ihre Ausweiskarte zu lesen — was Gretel immer aus der Fassung bringt. »Sie sind die Rezeptionistin?« »Ja.« »Absolut pünktlich.« Er lächelt, offensichtlich um sie zu beruhi gen, doch seine Lippen glänzen feucht, und Gretel wird von einer irrationalen Angst gestreift. »Soweit ich weiß, haben Sie in Ihrer Voicemail die kompletten Anweisungen.« Er tritt zur Seite. Jetzt bemerkt sie, dass drei weitere Wachleute am Eingang zur Halle warten und noch mal sechs die Empfangstheke umstellt haben. Mit gesenktem Kopf steuert sie auf ihren Platz zu. Das Klacken ih rer Absätze hallt wie verrückt. Niemand sonst macht ein Geräusch; alle Blicke folgen ihr. Als sie an ihrem Schreibtisch ankommt, fällt ihr auf, dass sie die Luft angehalten hat. Sechs zusammengeheftete Seiten warten auf sie, und ihr Voice mail-Lämpchen ist heftig am Blinken. Sie greift zu ihrem Apparat. »Hi Gretel. Hier ist Pat. Ich habe eine Nachricht vom Vorstand. Wahrscheinlich hat dich schon jemand am Wochenende zu Hause angerufen, aber wenn du irgendwelche Fragen hast — ich werde am Montag auch schon früh da sein. Du kannst mich jederzeit ank
lingeln. Danke. Klick. Pat, bitte geben Sie das an die Frau an der Re zeption weiter — tut mir leid, hab ihren Namen vergessen. Nicht Eve Jantiss, die andere. Das Personalwesen hat sie angewiesen, früh am Montagmorgen zu erscheinen, aber haken Sie bitte noch mal nach, damit sie auch wirklich kommt. Rufen Sie sie einfach an. Har rumf. Also schön. Mitteilung an den Empfang: Wir haben unseren Konsolidierungsplan abgeschlossen, und daraus ergibt sich nun, dass viele Mitarbeiter neuen Abteilungen zugeteilt wurden. Andere Mitarbeiter werden nicht mehr benötigt. Aus Sicherheitsgründen ist es diesen Angestellten untersagt, an ihren Schreibtisch zu gehen. Der Betriebsschutz wird den direkten Zugang von den Parkge schossen zu den oberen Stockwerken sperren, das heißt, alle müssen durch die Eingangshalle hereinkommen. Überprüfen Sie die Eintref fenden anhand der neuen Mitarbeiterliste, und wenn sie gekündigt sind, erklären Sie ihnen ... nun, Sie erklären es ihnen einfach. Sie können sagen, dass sich das Personalwesen mit ihnen in Verbin dung setzen wird, damit sie ihre Abfindung und ihre persönlichen Sachen bekommen und so weiter und so weiter. Dann fordern Sie sie auf, das Gebäude zu verlassen. Der Sicherheitsdienst wird zur Stelle sein, falls Sie irgendwelche Unterstützung brauchen. Danke.« Gretel legt den Hörer hin. Während sie die Nachricht abgehört hat, ist der Wachmann mit den feuchten Lippen herübergekommen. Lächelnd steht er nun vor ihr. »Na, alles klar?«
Der Erste erscheint kurz vor acht: ein Mann mittleren Alters in ei nem Anzug mit blank gewetzten Knien und ausgebeulter Rückseite. Er kommt durch die Eingangstür und durchquert mit neugierigen Blicken auf die Uniformierten die Halle. Gretel erstarrt. Sie hat ge dacht, die Wachleute halten die Mitarbeiter auf, doch anscheinend soll sie das übernehmen. Als sich ihre Zunge endlich gelöst hat, be tritt der Mann bereits einen offenen Aufzug und streckt die Hand nach der Tastentafel aus. Plötzlich wird er kreidebleich. Ängstlich starrt er den nächsten Wachmann an. »Wo ist mein Stockwerk?« Der Wachmann macht eine ruckartige Kopfbewegung in Gretels Richtung. Einen Moment lang bleibt der Gesichtsausdruck des Mannes unverändert. Dann sacken seine Schultern nach unten. Erst nach einer Weile schafft er es, den Aufzug zu verlassen und den Rückweg durch die Halle anzutreten. Seine Schuhe schlurfen über den Boden. Mehr rutschend als gehend bringt er die Strecke hinter sich. Als er die Empfangstheke erreicht, weicht er Gretels Blick aus und fixiert irgendeinen Punkt auf der orangefarbenen Oberfläche. »Ich bin vom Zentralen Rechnungswesen. Ist... gibt es das Zentrale Rechnungswesen noch?« Gretel überfliegt ihre Blätter. »Das Zentrale Rechnungswesen ist in der Treasury aufgegangen. Die neue Abteilung ist im fünften Stock untergebracht.« Sie blickt auf. »Viele Mitarbeiter des Zentralen Rechnungswesen sind gekündigt worden.« Der Mann bemüht sich um einen beiläufigen Ton, aber es gelingt ihm nicht. »Bin ich auch gekündigt?« »Sind Sie Frank Posterman?«
Sein Blick springt zu ihrem Gesicht. »Nein, Frank ist der Abtei lungsleiter!« »Dann ja.« Sein Kopf pendelt zurück. Gretel zerreißt es das Herz. Aber sie lässt sich nichts anmerken. »Tut mir leid.« Schon treten zwei Sicherheitsleute vor. Gretel streckt den Arm über ihre breite Theke und hält ihm die Hand hin. »Sie müssen das Gebäude sofort verlassen. Im Namen von Zephyr Holdings danke ich Ihnen für Ihre Arbeit. Auf Wiedersehen.«
»Die macht das wirklich gut.« Klausmans Blick hängt am Monitor. »Verständnisvoll, aber professionell. Sie hilft den Leuten zwar nicht, doch sie zeigt Anteilnahme. Das ist genau die richtige Haltung, um unnötige Gefühlsaufwallungen abzublocken. Mona, notier das bit te.« Hinter ihm drängt sich das gesamte Alphateam. Die heutige Mor genbesprechung wurde in den Überwachungsraum verlegt, damit sie das Geschehen verfolgen können. Gelegentlich quetscht sich ein Techniker in Jeans und T-Shirt durch, um an einer Tastatur rumzu fummeln, doch ansonsten herrscht in dem Zimmer eine hochkomp rimierte Atmosphäre aus Calvin Klein und Chanel No. 5. Blake steht hinter Klausmans rechter Schulter und Eve hinter seiner linken; Jones direkt hinter ihr. Bisher hat sich ihre Konversation beschränkt
auf »guten Morgen«, »heute ist der große Tag« und »ja«, doch aus der Art, wie ihr Blick immer wieder zu Jones huscht, lässt sich schließen, dass ihr seine Anwesenheit nicht bewusster sein könnte, wenn er ein Fleischerbeil umklammern würde. Auch Blake ist das aufgefallen. Während seines frostigen Wortwechsels mit Eve spürte Jones Blakes stahlblaues Starren — oder zumindest die Hälfte da von, die nicht unter einer mattschwarzen Klappe verborgen ist, auf der sich winzige Buchstaben zu dem Wort Armani zusammenfü gen. »Schaut mal auf den zweiten Stock«, nuschelt eine Stimme. Alle Blicke schießen hinauf zu einem Monitor in der oberen Ecke. Mit gefalteten Händen und düsterer Miene sitzen die Vorstandsmitglie der um einen Besprechungstisch. Auf dem Tisch steht ein Lautspre chertelefon. »Sie werden von den Wachleuten in der Eingangshalle auf dem Laufenden gehalten«, erklärt Eve. Sie hat ein grünes Trägerkleid an. Ihre braunen Schultern schimmern Jones entgegen. »Also, ich muss sagen, bis jetzt bin ich beeindruckt.« Klausman wendet sich kurz um, um zu erkennen, ob jemand anderer Meinung ist. Die Agenten nicken und murmeln beifällig, bis auf Jones, der weder das eine noch das andere macht. »Sie haben das Empfeh lungsprotokoll von Omega punktgenau umgesetzt. Vielleicht ein bisschen Overkill beim Einsatz der Sicherheitskräfte, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, stimmt's? Ich weiß noch, als Ze phyr vor ein paar Jahren die IT-Abteilung ausgelagert hat — natür lich nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal...« Glucksendes Lachen von den Agenten; Eves blanke Schultern beben. »Und
der Abteilungsleiter, ein kompletter Trottel, hat es den Leuten zu früh gesagt. Hat sogar eine Besprechung angesetzt, angekündigt, dass es für alle die letzte Woche ist, Beratung angeboten und so wei ter und so fort, und sie dann wieder an ihre Plätze geschickt. Eine Stunde später ist das Telefonnetz ausgefallen, vertrauliche Akten des Unternehmens waren auf der öffentlich zugänglichen Webseite zu bewundern, und wenn man sich in seinen PC einloggen wollte, ist ein Bild von einem Mann erschienen, der mit einem Hefter zu gange war —wenn ich dran denke, kriege ich noch heute Gänse haut. Es hat Wochen gedauert, bis alles wieder normal lief.« Nachdem das Amüsement über diese kleine Anekdote abgeflaut ist, ergreift Blake das Wort. »Was mir Sorgen macht, ist nicht die Durchführung, sondern die Strategie. Die Leute im Vorstand wis sen, was sie tun, aber sie haben kaum darüber nachgedacht, wozu das Ganze gut sein soll. Im Grunde haben die doch nur die Chance zu einer Umstrukturierung genutzt.« Seufzend wendet sich Klausman wieder dem Monitor zu. »Stimmt. Wie siehst du das, Eve?« »Ach ... na ja, das ist wieder mal der Systemarchetyp ›erodierende Ziele‹. Immer das gleiche Problem mit dem Vorstand.« »Jones!«, bellt Klausman über seine Schulter. »Wissen Sie, wovon Eve da redet?« »Ich kann raten.« »Dann los.« »Die Hauptvorzüge einer Position im Vorstand sind höherer Sta tus und höheres Gehalt. Die Nachteile sind weniger Freizeit und mehr Stress. Da ist es natürlich logisch, dass vor allem die Leute im
Vorstand landen, für die Geld und Status die größte Motivation ist und denen es am wenigsten ausmacht, nicht mit Freunden und Fa milie zusammen sein zu können.« Klausman lacht. »Eine ziemlich schonungslose Sichtweise, Mr. Jo nes, aber Sie haben den Grundgedanken erfasst.« »Auch unsere Sichtweise auf die Mitarbeiter, die gerade gefeuert werden, ist ziemlich schonungslos«, entgegnet Jones. »Ich dachte, das gehört zu unserer Arbeit.« Klausman, Eve und Blake drehen sich zu ihm um. Eve bricht das betretene Schweigen. »Ich finde, da ist schon was dran. Für unsere Zwecke unterscheidet sich der Vorstand in nichts von anderen Abteilungen. Natürlich fühlen wir alle eine gewisse Verbundenheit mit den Topmanagern — immerhin sitzt Blake sogar im Vorstand —, aber wir sollten uns mit niemandem identifizieren. Wir sind objektive Forscher.« Klausman nickt bedächtig. »In der Tat. Da muss ich euch beiden Recht geben. Außerdem ist das für uns alle hier wieder einmal der Beweis, wie wertvoll eine unverbrauchte Perspektive sein kann, wenn es um die Erkennung von Bereichen geht, in denen wir poten tiell anfällig für Gruppendenken sind.« Er wendet sich wieder nach vorn. Nach einer Sekunde folgen Bla ke und Eve seinem Beispiel. Alle um Jones herum wirken nachdenk lich. Auch Jones ist nachdenklich, doch er beschäftigt sich nicht mit dem Vorstand. Er fragt sich, warum ihm Eve auf einmal so in den Arsch kriecht.
Als Freddy um halb neun bei Zephyr ankommt, trifft ihn fast der Schlag. In der Eingangshalle drängen sich Massen von Leuten. Noch beunruhigender: Auch auf dem Platz vor dem Gebäude hat sich eine große Gruppe gebildet, und blau uniformierte Wachleute sorgen für einen steten Zulauf von drinnen. Freddy erkennt, dass es geschehen ist. Zephyr Holdings hat konsolidiert. Blind bahnt er sich einen Weg durch die Menge zur Empfangsthe ke. Dutzende von Angestellten versuchen das Gleiche, und es ist schwer, sich durch das verschreckte Gewühl von Körpern voranzu kämpfen. Sobald er eine Hand auf die glatte Oberfläche des Tischs bekommt, hält er sich mit aller Kraft fest. Die um die Empfangstheke aufgebauten Wachleute beobachten die Menge mit stiller Feindseligkeit. Einer fixiert Freddy, anschei nend ist er nicht hundertprozentig sicher, ob Freddy gefeuert wurde — überraschen würde es ihn bestimmt nicht. Freddy spürt das Blubbern nackter Angst in seinen Eingeweiden. Links von ihm schlottert hemmungslos eine gertenschlanke Praktikantin. Rechts schwitzt ein nicht mehr ganz taufrischer Mann in seinem Overall. Einer nach dem anderen treten sie vor Gretel — nicht vor Eve; Eve ist nirgends zu sehen, was Freddy noch mehr alarmiert — und er fahren, dass sie nicht mehr zum Unternehmen gehören. Es gibt kei ne Pause, keine Unterbrechung, es ist ein ununterbrochener Strom von Entlassungen. Bei jeder Kündigung stöhnt die Menge auf wie ein verwundetes Tier. Als Freddy an die Reihe kommt, kämpft er
bereits mit dem Drang zu fliehen, bevor sie ihn rausschmeißen kön nen. Gretels Blick erfasst ihn. Schockiert registriert Freddy das Mitleid in ihren Augen. Auf diesem Schlachthof ist Sympathie etwas so Ers taunliches, dass er völlig die Fassung verliert und fast zusammenb richt. Schaudernd hält er die Luft an. Er ist froh, dass Eve ihn nicht so sieht. »Welche Abteilung?« »Schulungsverkauf.« »Schulungsverkauf...« Gretel blättert in ihren Seiten. »Der Schu lungsverkauf ist im Belegschaftsservice aufgegangen. Die neue Ab teilung ist im elften Stock.« Sie blickt auf. »Alle Angestellten des Schulungsverkaufs werden weiterhin vom Unternehmen beschäf tigt.« Freddys Blick verschwimmt zu weißem Dunst. Seine Finger kral len sich in den Tisch. Gerettet! Gerettet! Die Menge ächzt. Freddy stößt einen Freudenschrei aus. Am liebsten würde er Gretel küssen. Am liebsten würde er die Wachleute küssen. Er fängt an zu lachen. »Marketing«, sagt die gertenschlanke Praktikantin mit heiserer Stimme, und Gretel fährt mit dem Finger über das Blatt. Freddy kommt wieder zu sich und quetscht sich rasch durch die Menge. Er arbeitet mit Ellbogen und Schultern, trotzdem ist er noch nicht weit genug, um Gretels Antwort und dem schmerzlichen Mitgefühl in ihrer Stimme zu entrinnen.
Nach einer Stunde macht sich sogar bei Alpha Langeweile breit. Die Monitore ziehen nicht mehr die volle Aufmerksamkeit auf sich. Die Agenten unterhalten sich über andere Projekte, den phantasti schen BMW X5 und Blakes Augenklappe, die wirklich toll aussieht — wo er die nur herhat? Jones schnappt sich seine Aktentasche und marschiert los. »Wohin so eilig?«, ruft ihm Klausman nach. »Zur Arbeit«, erwidert er, ohne stehen zu bleiben. Eve holt ihn bei den Aufzügen ein. Sie lehnt sich an die Wand und hält den Kopf etwas schräg, so dass ihr das dunkle Haar auf die Schultern fällt. »Kann ich mit dir reden?« Er zuckt die Achseln. »Ich war nicht sicher, ob du heute überhaupt kommst. Du hast auf keine meiner Nachrichten geantwortet.« Als er immer noch nicht reagiert, fährt sie vorsichtig fort. »Ich mach dir keinen Vorwurf. Tut mir leid wegen Freitag, wirklich. Ich hab mich gehen lassen.« Er sieht sie an. »Du bist noch so neu, Jones. Das hatte ich vergessen. Ich hab ein fach zu viel von dir erwartet. Dass du dich schneller auf das Ganze einstellst. Es ist ein hartes Geschäft, wirklich ein hartes Geschäft, und ich möchte, dass du Erfolg hast. Du hast hier so eine Riesen chance. Ich möchte nicht, dass du die verpasst. Aber am Freitag hab ich das völlig falsch angepackt. Ich war sauer, und dass das alles so aus mir rausgeplatzt ist... das wollte ich nicht.«
Sie sieht so aufrichtig aus. Jones ist völlig durcheinander. Als er heute Morgen die Rampe zum Parkgeschoss hinunterfuhr, hielt er das Lenkrad, als wollte er es erdrosseln. Das ganze Wochenende hat er sich immer tiefer in seine Bitterkeit gegen Eve und Alpha vergra ben — eigentlich gegen das Geschäftsleben insgesamt —, und das Ergebnis dieser Schürfarbeiten war der Vorsatz, das Projekt Alpha und seine Betreiber wenigstens zu hassen, wenn er schon nichts ge gen sie unternehmen kann. Zugegeben, das ist nicht unbedingt ein besonders scharfsinniger oder produktiver Entschluss — aber im merhin ist es ein Entschluss, der ihm zumindest ungefähr eine Rich tung vorgibt. Doch nun ist selbst das in Gefahr, denn wenn ihn Eve mit ihren großen Schlafzimmeraugen so voller Ernst ansieht, fällt es ihm schwer, sie als die Verkörperung einer herzlosen Geschäftswelt zu sehen. Er zuckt die Achseln. »Du hast doch die Wahrheit gesagt. Wahr scheinlich musste mir mal jemand die Augen öffnen.« Sie legt ihm die Hand auf den Arm. »Jones, du hast so ein un glaubliches Mitgefühl für die Mitarbeiter von Zephyr. Das ist... un gewöhnlich bei Alpha. Und für unsere Arbeit auch nicht gerade hilfreich. Aber ich hätte dir nicht erzählen sollen, dass es falsch ist. Ich weiß jetzt, dass es dein Mitgefühl ist, das dich zu was Besonde rem macht. Ich will nicht, dass du das verlierst.« Jones fehlen die Worte. »Aber verrate bloß niemandem bei Alpha, dass ich das gesagt ha be. Das bleibt unser kleines Geheimnis.« Sie lächelt, als wäre es ein Witz, doch in ihren Augen liegt keine Spur von Humor. »In Ord nung?«
Tom Mandrake, ein anderer Agent, tritt aus dem Monitorraum und kommt pfeifend auf sie zu. Eve nimmt die Hand von Jones' Arm und macht einen Schritt nach hinten. »Übrigens, dieses Kleid hab ich für dich gekauft. Gefällt's dir?« »Ähm.« Jones zögert. »Ja, wirklich nett.« Ein echtes Lächeln umspielt ihre Lippen, als sie einen Knicks an deutet. »Um ganz ehrlich zu sein, ich hab's schon vor einem Monat gekauft. Aber heute hab ich es zum ersten Mal angezogen.« Tom bleibt bei ihnen stehen. »Du hast Kleider, die du noch nie ge tragen hast?« »O ja. Haufenweise.« Der Aufzug kommt. Bevor Jones einsteigt, wendet sich Eve noch mal an ihn: »Wir reden später weiter, okay?«
Mit einer gewissen Vorsicht tritt Elizabeth im elften Stock, ihrer neuen Heimat, aus dem Fahrstuhl. Doch diese Etage ist natürlich eine exakte Kopie des vierzehnten Stocks. Der Teppichboden hat die gleiche netzhautversengende orange Farbe. Auf dem Schild an der Milchglastür steht jetzt nicht mehr SCHULUNGEN VERKAUF, sondern BELEGSCHAFTSSERVICE, allerdings befindet es sich an der gleichen Stelle und hat den gleichen vom Personalwesen für das gesamte Unternehmen vorgeschriebenen Schrifttyp. Die Neonbeleuchtung in der Abteilung selbst ist genauso billig, und es gibt sogar eine flak kernde Röhre (blink! blink! blink!), wenn auch in einem anderen Teil
der Decke. Links geht es zur Toilette, ganz hinten befinden sich das Büro des Abteilungsleiters und der Besprechungsraum (die Glas wände beider Zimmer sind mit Jalousien verhüllt), und davor ers treckt sich das weite offene Feld der Legebatterie. Doch hier zumindest gibt es einen gewaltigen Unterschied: keine Berliner Mauer. Stattdessen ein wüster Verhau von zwei Dutzend Bürozellen, die aneinander gequetscht sind, als hätten die großen Zellen aus Ost- und Westberlin einen Wurf Junge bekommen. So weit Elizabeth das erkennen kann, ist die Aufstellung völlig willkür lich, was darauf schließen lässt, dass es keine feste Sitzordnung gibt und gerade eine Landnahme im Gange ist. Sie hätte eine Stunde früher kommen müssen; jetzt bleibt ihr wahrscheinlich nur noch der Platz neben dem Kopierer. Bevor sie dieses Problem in Angriff nehmen kann, muss sie sich um eine Privatangelegenheit kümmern. Sie betritt die Toilette, die völlig ununterscheidbar ist von der im vierzehnten Stock — bis hin zu den kleinen orangeschwarzen Fliesen und den von achtlosen Handwäschern hinterlassenen Pfützen vor den Becken. Sie lächelt eine Frau an, die sie noch nie gesehen hat, geht in eine Kabine und verriegelt die Tür. Sie setzt sich auf die geschlossene Kloschüssel und zieht eine Nagelfeile heraus. Zuerst macht sie die linke Hand, dann die rechte. Sie spreizt die Finger, um sie zu begutachten. Erst da fällt ihr etwas Wichtiges auf: Ihr ist nicht übel. Sie erstarrt. Sie hat das Programm schon oft genug abgespult, um zu wissen, wie es läuft. Jetzt müsste sie eigentlich den Deckel hoch reißen und würgen. Sie steht auf und zieht ihren Rock hoch, doch dafür muss sie erst die Jacke aufknöpfen, denn in letzter Zeit ist ihre
Arbeitskleidung in ausgetüftelter Weise darauf berechnet, einen wachsenden Bauch zu kaschieren. Sie schält die Strumpfhose herun ter und prüft ihren Slip. Nichts. Die Erleichterung fegt über sie hin weg wie eine Windbö. Sie muss die Hand vor den Mund pressen, um einen Lachanfall zu unterdrücken. Sie streift den Rock nach unten, setzt sich wieder hin und streicht durch den Stoff über ihren Unterleib. Das Lächeln will nicht aus ihrem Gesicht weichen. Wenn ihre Vormittagsübelkeit vorbei ist, dann hat sich ihr Körper vielleicht an den Neuankömmling ge wöhnt. Vielleicht kommen sie allmählich miteinander klar. Es ist ebenso offenkundig wie unfassbar: Sie wird ein Baby bekommen. Diese Vorstellung erfüllt sie mit stiller Freude. Jones drückt auf 11 für Belegschaftsservice, seine neue Heimat, und sieht Tom Mandrake erwartungsvoll an. »Sieben«, sagt Tom. »Die Compliance gehört jetzt zur Kaufmännischen Betriebsfüh rung.« Jones drückt auf 7. »Die Compliance war doch im sechsten Stock, oder? Da seid ihr einen Stock tiefer gerutscht.« Tom grinst. »Das wird heute bestimmt Anlass für heftige Diskus sionen sein.« »Die Stockwerkzahl ist den Leuten also wirklich wichtig?« »Und ob. Immer wenn die Leute irgendwie klassifiziert werden, ist es ihnen wichtig. Egal, wonach man sie klassifiziert. Und weißt du was? Sie glauben auch daran. Zumindest ein bisschen.« Der Aufzug hält im elften Stock, und Jones steigt aus. »Viel Spaß noch.« Tom zwinkert ihm zu, während sich die Türen schließen.
Jones' Blick wandert durch den Gang zur Milchglastür. Dahinter bewegen sich undeutliche Gestalten in Menschengröße. Das sind natürlich die Leute, für die sich Alpha interessiert: die Überleben den. Die anderen spielen anscheinend keine Rolle mehr. Jones fragt sich, wie das sein kann. Wie ist es möglich, ohne weiteres ein men schliches Wesen aus der winzigen, aber voll entwickelten Gesell schaft eines Unternehmens auszumustern? Wie ist es möglich, gleich Hunderte von Menschen auszumustern? Bei Alpha ist es gang und gäbe, Zephyr Holdings mit einem Stamm zu vergleichen, da beide in sich geschlossene Sozialstrukturen mit Hierarchien, Eti kette und Normen sind. Dies ist auch die Grundlage für viele amü sante Abschnitte in Omega-Managementbüchern, in denen (bei spielsweise) der Kampf der Abteilungen um Ressourcen mit Begrif fen wie Krieger, Fleisch und Federn beschrieben wird. Doch wenn diese Analogie stimmt, hat es heute Vormittag einen Steinschlag gegeben, der zweihundert Stammesangehörige verschüttet hat, und niemand interessiert das einen Furz. Jones kann das Verhalten der Überlebenden verstehen, zumindest einigermaßen. Krach zu schlagen könnte einen weiteren Steinschlag auslösen und auch sie verschütten. Außerdem hat sich ihre Hack ordnung verändert, und sie müssen zusehen, in der neuen Hierar chie nicht ganz unten zu landen. Aber wieso nehmen die Opfer ihr Schicksal so ergeben hin? Das will ihm einfach nicht in den Kopf. Er sieht den Aufzugknopf an. Dann drückt er auf ABWÄRTS. Auf den Bildschirmen im dreizehnten Stock sehen die winzigen Gestalten der jüngst Freigesetzten verschwommen und bedeutungs los aus, fast wie Karikaturen. Dementsprechend überrascht ist Jones
beim Betreten der Eingangshalle über ihre schiere Präsenz. Draußen auf dem Platz vor dem Gebäude drängen sich viele Leute. Sie reden, treten von einem Fuß auf den anderen und atmen Nebel in die kalte Luft. Jones blickt von Gesicht zu Gesicht. Ein frischer Windstoß von der Bucht fährt durch die Madison Street und zerzaust allen die Haare. »Hey«, spricht ihn ein Mann an. Zuerst erkennt ihn Jones nicht. »Dich haben sie auch erwischt, was?« Es ist ein Raucher. Jones hat ihn öfter vor dem Hintereingang ge sehen. Wieder einmal wird Jones klar, dass er ein Betrüger ist. »Ah, nein. Ich wollte nur mal sehen, was hier los ist.« »Oh«, erwidert der Mann. »Tut mir leid. Das habt ihr nicht verdient.« Der Mann schaut ihn zweifelnd an. »Warum sagst du das?« Die Frage überrascht Jones. Er erkennt, dass Tom Mandrake Recht hat. Deswegen sind sie auch so fatalistisch, deswegen kann Alpha sie einfach ignorieren. Sie glauben, dass sie es wirklich verdient ha ben. »Weil ihr es nicht verdient habt.« Der Mann grübelt darüber nach. Dann lacht er auf einmal. »Stimmt, vielleicht haben wir es wirklich nicht verdient.«
Voller Entsetzen sieht sich Freddy in der neu geschaffenen Abtei lung Belegschaftsservice um. Er hastet in die Legebatterie und hofft inständig, dass irgendjemand vom Schulungsverkauf rechtzeitig gekommen ist und ein paar gute Schreibtische reserviert hat. Er hält vor dem Kleiderständer, um sein Jackett abzustreifen. Da fällt ihm auf, dass jemand seinen Haken benutzt hat. Natürlich ist es gar nicht sein Haken. Sein Haken ist (oder war) zwei Stockwerke tiefer. Trotzdem ist Freddy genervt. Er hat so wenig, und jetzt wollen sie ihm auch noch seinen Haken wegnehmen! Er wirft sein Jackett über das andere, das schon dort hängt. »Ah, Freddy, dich hab ich schon gesucht.« Sydney steht in einem todschicken Kostüm vor ihm, das so schwarz ist, dass es fast ein Loch ins Raum-Zeit-Gefüge reißt. »Sag mal, läuft die Totenwette eigentlich noch?« »Ja, schon. Warum?« »Ach, nur so.« »Ich dachte, alle Mitarbeiter vom Schulungsverkauf bleiben.« Freddy kann seine Unruhe nicht verbergen. »Man kann nie wissen«, antwortet Sydney. »Man kann nie wissen, was in einer neuen Umgebung notwendig ist.« »Nicht Holly. Bitte, Sydney, nicht Holly ...« »Wer hat denn was von Holly gesagt?« Sydney klingt gereizt. »Ich hab nicht gesagt, dass ich Holly rausschmeißen will.« »Du hast wegen der Totenwette gefragt...« »Ach, vergiss, dass ich es erwähnt habe. Vielleicht schmeiße ich gar keinen raus.« Sie blickt auf die Uhr, ein glitzerndes goldenes
Etwas, das an ihrem winzigen Handgelenk baumelt. »Entschuldige bitte, ich muss zu einer dringenden Besprechung.« Freddy tritt zur Seite. Er sieht ihr nach, wie sie sich durch die dichtgedrängten Bürozellen schlängelt, den Konferenzraum er reicht, einmal klopft und eintritt, ohne auf Antwort zu warten. Dann legt er die Hände trichterförmig um den Mund und ruft: »Holly?« Hollys Kopf taucht über einer nur wenige Schreibtische entfernten Trennwand auf. »Hey, da bist du ja.« Freddy flitzt hinüber. Mit Ausnahme von Jones ist der gesamte Rest der Abteilung Schulungsverkauf — das heißt, Holly, Elizabeth und Roger — in eine einzige Zelle gequetscht. Sie lehnen an Schreibtischen oder sitzen mit Knieberührung auf Stühlen. Bestürzt schaut sich Freddy um. »Ist das alles, was wir an Platz haben? Wir sollten den Umzugsservice anrufen.« »Wir sind der Umzugsservice.« Elizabeth deutet auf eine Nach richt, die Holly gerade stirnrunzelnd studiert. »Zumindest ist das eine von den Abteilungen, mit denen wir zusammengelegt worden sind. Die sind schon vor einer Stunde gekommen und haben sich die besten Plätze unter den Nagel gerissen.« Holly ächzt auf, ihre Finger krallen sich in die Nachricht. »Wir sind mit der Fitnessraumverwaltung fusioniert worden!« »Fusioniert würde ich das nicht nennen«, meint Roger. »Wir sind doch viel wichtiger als die.« »Ahm«, platzt Freddy heraus. »Ich bin gerade Sydney über den Weg gelaufen ... und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie jemanden feuern will.«
Alle verstummen. Dann sprechen Elizabeth und Roger gleichzei tig. Elizabeth fragt: »Warum?«, und Roger fragt: »Wen?« »Hat sie nicht gesagt. Aber sie wollte wissen, ob die Totenwette noch läuft.« »O Gott.« Holly reißt die Augen auf. »O Gott!« »Warum sollte sie denn jetzt noch jemand rausschmeißen?« »Keine Ahnung.« Roger reibt sich das Kinn. »Soviel ich weiß, hat der Vorstand für den Belegschaftsservice noch keinen Abteilungsleiter ernannt. Viel leicht haben sich die Leiter der alten Abteilungen darauf geeinigt, einen Interimsmanager zu wählen.« »Ach du Schande«, krächzt Elizabeth. »Was?« Freddys Blick hetzt zwischen Elizabeth und Roger hin und her. »Ist das schlimm? Was bedeutet das?« »Na ja, das wird natürlich ein Hauen und Stechen«, erklärt Roger. »Und wenn Sydney diesen Job unbedingt will, bietet sie vielleicht an, im Gegenzug einen von uns zu opfern.« Holly stöhnt. »Oder zwei von uns. Vielleicht auch alle, wer weiß.« Sie sehen sich an. Elizabeth presst die Lippen zusammen. »Das können wir nicht zulassen.«
Draußen geschieht etwas mit den neuen Arbeitslosen. Zuerst war en sie schockiert und fühlten sich hundeelend; sie liefen nur ziellos
herum. Dann kam Jones mit seinem Das habt ihr nicht verdient, und diese seltsame, skurrile Idee sprang wie ein Funke von einem zum anderen über und verbreitete sich in der Menge. Bald zeigt sich auf mehreren Gesichtern der nackte Zorn. Ein Buchhalter zieht eine Mappe mit dem Zephyrlogo aus seinem Aktenkoffer, klatscht sie auf den Betonboden und trampelt darauf herum. Die Leute jubeln. Ein Ingenieur hat als Auszeichnung für glänzende Leistungen im dritten Quartal einen Kaffeebecher erhalten, den er jetzt auf den Boden schmettert. Ein Grafikdesigner reißt sich den Schuh herunter und wirft ihn, so hoch er kann. Er prallt von einer getönten Scheibe zurück. In dem Fenster zeigt sich ein blasses, besorgtes Gesicht und zieht sich dann schnell wieder zurück. Der Himmel ist bedeckt, und die Wolken werden allmählich dunkler. Es liegt was in der Luft. Jones zieht sich vorsichtshalber in die sichere Eingangshalle zurück. Es kommt ihm vor, als hätte er an einer Lampe gerieben, und jetzt ist aus dem blauen Rauch ein Geist geworden: ein gewaltiger Geist mit zuckenden Oberarmmuskeln und entschlossen blitzenden Augen. Er empfindet eine Mischung aus Freude und Schrecken. Die Eingangstür öffnet sich, bevor er sie erreicht hat, und die Wachleute eskortieren eine Frau mit einem hübschen blauen Schal und einer kleinen Lederhandtasche heraus. Jones tritt zur Seite und beobachtet staunend, wie die Menge ihre Wut gegen den zwanzig stöckigen Koloss Zephyr Holdings schleudert und gleichzeitig aus dem Unternehmen ununterbrochen Zulauf erhält.
Im elften Stock legt Elizabeth einen Plan zur Rettung der Schu lungsverkaufmitarbeiter vor, der so atemberaubend in seiner Kühn heit und so grausam in seinem Zorn gegen Sydney ist, dass alle so fort dafür stimmen. »Na schön«, meint Roger schließlich, »dann übernehme ich also die Hauptrolle.« »Warte mal...« Elizabeth wirkt verblüfft. »Ich dachte, ich überneh me die Hauptrolle, Roger. Schließlich ist es mein Plan.« »Ach, verstehe. Naja, wenn du dich unbedingt vordrängen musst, von mir aus. War nur ein Vorschlag. Wenn es dir so wichtig ist, mach es.« »Ich dränge mich überhaupt nicht vor. Es ist einfach mein Plan.« Roger hebt die Hände hoch. »Vergiss es. Ich wollte nur meine Hil fe anbieten. Ich bin der Letzte, der deinem Ehrgeiz in die Quere kommen will.« Elizabeths Gesicht verfinstert sich. »Roger, wenn es dir wichtig ist, dann sag es doch ganz offen. Sag es einfach. Mir ist es eigentlich völlig egal.« »Also, wenn du willst, mache ich es gern. Aber es ist jetzt keine große Sache für mich. So oder so, mir ist es gleich.« »Wenn es keinem von uns so wichtig ist, warum führen wir dann dieses Gespräch?« »Elizabeth, bitte. Können wir jetzt einfach eine Entscheidung tref fen?«
Elizabeths Wangen werden knallrot. An ihrem Haaransatz er scheinen kleine Schweißtropfen. Sie beginnt, tief zu atmen, und ihre Hände öffnen und schließen sich rhythmisch. Gerade in diesem Moment stößt Jones dazu und bleibt schockiert stehen, in der An nahme, Zeuge eines Herzinfarkts zu sein. »Elizabeth?«, ruft Holly besorgt. »Na schön. Na schön. Mach es.« »Also ... nur damit es keine Missverständnisse gibt«, sagt Roger. »Du willst, dass ich es mache?« »Ja.« Der Laut kommt so erstickt heraus, dass er kaum als Wort zu erkennen ist. »Gut, in Ordnung.« Rogers Blick gleitet zu den Verkaufsassisten ten, er will ganz sicher sein, dass sie alles mitbekommen haben. »Ich bin froh, dass das geklärt ist.« Im Empfangsbereich ist es still geworden, denn inzwischen sind alle Angestellten im Schoß des Unternehmens aufgenommen oder zwangsweise nach draußen verfrachtet worden. Die Hände hinter den Rücken gelegt, stehen die Wachleute aufgereiht an der Glas wand und starren hinaus. Gretel sitzt an der Empfangstheke. Sie fühlt sich erschöpft und beschmutzt. Sie fühlt sich, als hätte sie zweihundert Menschen hingerichtet und noch ihr Blut an den Hän den. Der Aufruhr draußen wird immer stärker. Sie steht auf und geht hinüber zu einem Wachmann. Sie späht durch die grün getönte Glaswand. »Sieht ziemlich übel aus da draußen.«
Der Wachmann reagiert nicht. Unverwandt blickt er hinaus auf die Menge. »Vielleicht werden sie das Gebäude stürmen«, fährt sie fort. »Viel leicht zertrümmern sie die Scheiben.« »Sie können sich völlig sicher fühlen, Ma'am.« Noch immer sieht er sie nicht an. »Vielleicht hätte das Unternehmen nicht so viele Leute rauswerfen sollen.« Gretel ist überrascht von der Bitterkeit in ihrer Stimme. »Vielleicht haben wir uns das selbst zuzuschreiben.« Der Wachman blinzelt einmal bedächtig. »›Zuerst waren die Kommunisten dran. Und ich habe nichts ge sagt, weil ich kein Kommunist war.‹ Wissen Sie, wo das hinführt?« Der Wachmann wendet sich ihr zu. Gretel weicht einen Schritt zu rück, weil seine Augen so hohl sind. »Bitte, Ma'am. Ich mache hier nur meine Arbeit.« »Verzeihung.« Es klingt wie ein Wimmern. Sie eilt zu ihrem Platz zurück und spürt den leeren Blick des Wachmanns im Nacken. Sie setzt sich und legt schützend die Arme vor die Brust.
Einige Minuten später klopft Roger an die Tür des Bespre chungszimmers in der Abteilung Belegschaftsservice. Keine Ant wort. Er schielt zu den anderen hinüber. »Also, dann los.« Er drückt die Klinke nach unten.
Drinnen sitzen fünf ehemalige Abteilungsleiter um einen runden Tisch. Mitten auf dem Tisch liegt ein Blatt Papier, und als Sydney Roger, Elizabeth und Holly entdeckt, streckt sie die Hand aus, um es umzudrehen. »Bitte jetzt keine Störung, wir sind beschäftigt.« Roger blickt sie stirnrunzelnd an. Das muss ihm Elizabeth lassen, er ist wirklich sehr überzeugend. »Sydney, warte bitte draußen.« Sydney stutzt. »Was hast du gesagt?« »Raus.« Er weist mit dem Kopf Richtung Tür. »Wir reden später darüber.« Sydney hat es die Sprache verschlagen. Eine andere Frau mit einer dünnen, eleganten Brille mischt sich ein: »Diese Besprechung ist nur für Abteilungsleiter.« »Genau«, antwortet Roger. »Ich bin nämlich der Leiter des Schu lungsverkaufs.« »Wie bitte?«, jault Sydney. »Sydney ist ein bisschen... äh... ehrgeizig.« Roger zwinkert der Frau mit der Brille zu. »Ihr müsst es ihr nachsehen.« »Ich leite den Schulungsverkauf«, protestiert Sydney. »Nein, ich«, widerspricht ihr Roger. »Schon seit Monaten.« Die anderen Abteilungsleiter sehen Elizabeth und Holly an. Beide deuten auf Roger. Sydneys Wangen röten sich vor Zorn. »Es steht in den Akten. Schaut doch in den Akten nach!« »Das Netzwerk funktioniert nicht, du weißt ganz genau, dass wir nicht nachschauen können.« Roger würdigt sie keines Blickes. Er lächelt dem Rest der Besprechungsrunde verbindlich zu. »Ich muss
mich für meine Mitarbeiterin entschuldigen. Syd hat es halt pro biert.« Die Abteilungsleiter sehen sich an. Zwei haben keine Ahnung, ob Roger oder Sydney Chef des Schulungsverkaufs ist. Es gibt viele Abteilungen und eine große Fluktuation im Personal, wer soll da den Überblick behalten? Es scheint durchaus plausibel, dass nicht die eins fünfundfünfzig kleine Frau, sondern der hochgewachsene Mann mit dem vollen Haar der Chef ist. Einer der anderen weiß ganz genau, dass Sydney die Leiterin des Schulungsverkaufs ist, weil sie ihm einmal in einer E-Mail, die als Kopie auch an den Vor stand ging, Inkompetenz, Faulheit und — besonders denkwürdig — Alkoholismus vorgehalten hat. Er reagiert als Erster. »Entschuldi gung — Roger, nicht wahr? Wir haben es überhaupt nicht gemerkt.« »Kein Problem.« Roger lächelt. Dann blickt er auf Sydney herab. »Was sitzt du hier noch rum?« Sydney macht den Mund auf, dann wieder zu. Sie blickt von ei nem Gesicht zum anderen und kann in keinem Sympathie erken nen. Sie steht auf und verlässt den Raum. Elizabeth und Holly treten zurück und lassen sie vorbei. Elizabeth wendet sich den Abteilungsleitern zu. »Also, wir verschwinden dann auch wieder.« Sie schließt sacht die Tür.
Zuerst stehen sie noch draußen rum, falls eine blutige Hand an das Glas klatscht oder ein Körper gegen die Jalousie geschleudert wird. Doch als sich abzeichnet, dass sich die Schlacht da drin noch länger hinziehen wird, geht Elizabeth an ihren Platz, um einige Kunden anzurufen, und die Verkaufsassistenten brechen zum Mittagessen auf. Oder sie versuchen es zumindest, denn die Horde zorniger Exangestellter vor dem Gebäude hat alle nervös gemacht, und der Betriebsschutz lässt fürs Erste niemanden hinaus. Gegen eins stei gen durch den Hunger auch die Chancen auf Krawalle innerhalb des Gebäudes, und so sieht sich das Personalwesen zu einigen An rufen genötigt, um eine Wagenladung Sandwiches zu einem der Hintereingänge liefern zu lassen. Sie sind kalt und glibberig, und alle haben ein schlechtes Gefühl, als sie sie am Empfang abholen, denn die Arbeitslosen starren sie durch die getönten Scheiben an. »Ahhh«, entfährt es Freddy. Jones folgt seinem Blick und sieht, wie Eve zusammen mit einem Mann in grauem Anzug von Projekt Alpha aus dem Aufzug steigt. Beide wirken nicht gerade glücklich. Jones' Herz fängt an zu klopfen. Holly grinst. »Hast wohl geglaubt, sie haben sie rausge schmissen?« »Heute Morgen war sie nicht am Empfang, da dachte ich, es hat sie vielleicht erwischt.« Geräuschvoll saugt Freddy die Luft ein. »Ich hab so viel Adrenalin im Blut, am liebsten würde ich sie auf der Stelle um ein Date bitten. Ihr wisst doch, wie das ist mit Leuten, die gerade eine lebensbedrohliche Erfahrung hinter sich haben. Ich meine, dass sie näher zusammenrücken? Das könnte mir vielleicht helfen.«
Sie beobachten Eve, die zur Empfangstheke geht. »Das kapier ich einfach nicht«, nörgelt Holly. »Was soll an der so besonders sein? Durchtrainiert ist sie nicht gerade, wenn du mich fragst. Einmal hab ich sie im Fitnessraum gesehen, da hat sie ausgesehen, als würde sie gleich zusammenklappen.« »Du hast Recht«, antwortet Freddy, »du kapierst es wirklich nicht.« Jones mischt sich ein. »Aber eigentlich ist da was dran. Du kennst sie doch gar nicht, Freddy. Sie könnte genauso gut eine Axtmörde rin sein.« »Mit diesen spindeldürren Ärmchen?«, lacht Holly. »Neulich hast du gesagt, ich soll sie ansprechen. Was soll das jetzt auf einmal?« »Es ist bloß ... vielleicht passt sie gar nicht zu dir.« »Jones mag sie«, stichelt Holly. »Nein, das ist es nicht, Blödsinn.« Jones kann sich gerade noch bremsen, bevor ihm Wie kommst du darauf! herausrutscht. »Ich will damit nur sagen, Freddy könnte vielleicht was Besseres finden.« Freddy schnaubt. »Von wegen.« »Er hat Recht«, findet Holly. »Schau ihn doch an. Klein, Brille, seit fünf Jahren der gleiche beschissene Job ... wenn sich Eve Jantiss mit ihm verabredet, dann kaufe ich ein Lotterielos.« »Hast du in letzter Zeit deine Bizepscurls vernachlässigt?«, fragt Freddy plötzlich. »Da an der Unterseite von deinen Armen, sieht irgendwie ein bisschen schlaff aus.« Holly reißt entrüstet den Mund auf. »Ich hab einen Kör perfettprozentsatz von vierzehn.«
»Na ja, wenn du meinst, das reicht.« Er klopft sich auf die Taschen. »Ich rauch mal eine. Wir sehen uns dann oben wieder.« Im Aufzug ertappt Jones Holly dabei, wie sie sich in die Unterseite ihrer Arme kneift. Schnell lässt sie die Hände wieder sinken. »Mann, manchmal geht er mir wirklich auf den Wecker.« Als Freddy in die Abteilung zurückkehrt, bebt er vor Empörung. »Wisst ihr, was die machen?« »Wer?«, fragt Jones. »Ich musste nach hinten raus, wegen der ganzen Leute, und da hab ich gesehen, dass sie beim Generator so einen neuen Holzzaun hinstellen. Da hängt ein Schild dran, auf dem steht RAUCHER PFERCH. Die
bauen eine eigene Raucherzone!«
Holly schnauft verächtlich. »Ich versteh nicht, wieso das Unter nehmen Geld für Raucher rausschmeißt.« »Auf dem Zaun sind Bilder von Kühen drauf! Kühe mit Zigaretten im Mund!« Sie grinst. »Ach, das klingt witzig.« »Und dann bilden die sich auch noch ein, dass das hilft«, be schwert sich Freddy. »Ich fass es nicht! Diese Managertypen sind so was von abgedreht, die glauben glatt, dass wir ihnen auch noch dankbar sind für diesen Müll!« Hilfesuchend bückt er Jones an, doch Jones hält den Mund. »Solche Schwachköpfe!« »Heute Morgen im Fitnessraum«, erzählt Holly, »da hab ich ge hört, dass Nichtraucher einen Extraurlaubstag kriegen. Also, das finde ich eine gute Idee.« Freddys Kiefer klappt nach unten. »Was?«
»Ich mach schließlich nicht fünfmal am Tag Pause, um mich in die Sonne zu stellen. Warum soll ich da keinen Extratag kriegen?« »Das arbeite ich doch wieder rein! Ich mache Überstunden!« »Ach, und ich vielleicht nicht?« »Bah. Das ist Diskriminierung!« »Wenn du mich fragst, ich finde es diskriminierend, dass du stän dig zum Rauchen rausrennen darfst, während Jones und ich drin nen bleiben müssen.« »Lass mich aus dem Spiel.« Die Worte sind draußen, bevor Jones merkt, wie heuchlerisch sie sind. »Außerdem«, ereifert sich Holly, »was regst du dich denn darüber auf, wenn ich einen Tag frei kriege? Das betrifft dich doch gar nicht.« »Du hast dich doch gerade darüber aufgeregt, dass ich mal fünf Minuten zum Rauchen rausgehe. Du bist doch hier die Zicke!« »Hast du gerade Zicke zu mir gesagt?«, keift Holly. Jones steht auf. »Hey, hört bitte auf damit. Es sind stressige Zeiten. Wir müssen zusammenhalten.« Freddy holt tief Luft. »Es tut mir leid. Du bist keine Zicke, Holly. Aber ich stell mich bestimmt nicht in einen Pferch mit Bildern von Kühen drauf.« Nach kurzem Schweigen sagt Holly: »Wetten?« Freddy sinkt seufzend auf seinen Stuhl. »Ich hasse dieses Unter nehmen, ich hasse es. Hätten sie mich nur rausgeworfen.« »Das meinst du doch nicht ernst.« Er lacht leise. »Nein, ich meine es nicht ernst. Hier bin ich wenig stens in guter Gesellschaft.«
»Was?«, fragt Jones. »Ich hab gesagt, wenigstens bin ich hier in guter Gesellschaft.« »Ach so. Ich dachte schon, du hast gesagt, du bist in einer guten Gesellschaft.« Freddy und Holly starren ihn an. »Und wenn wir diese Aktiengesellschaft wirklich zu einem besse ren Unternehmen machen?« Jones gestikuliert. »Wenn wir was ver ändern ... ein besseres Arbeitsumfeld schaffen. Ich meine, wir könn ten doch so viel tun.« Holly sieht ihn verständnislos an. Freddy springt ein. »Jones ... du bist immer noch neu hier. Die Leute machen jeden Tag Vorschläge, um das Unternehmen zu verbessern. Ihre Anregungen landen im Vorschlagsbriefkasten unten in der Cafeteria — wo früher die Cafe teria war, meine ich —, und dann hört man nie wieder was davon, außer bei Personalversammlungen, wo der Vorstand dann die nutz losesten Vorschläge herauspickt und verkündet, dass sie von einem fachübergreifenden Team geprüft werden. Ein oder zwei Jahre spä ter, wenn alle die Sache schon längst vergessen haben, kriegen wir dann eine E-Mail, die die Umsetzung von etwas bekannt gibt, das keine Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Idee hat und meistens genau das Gegenteil bewirkt. Und in den Geschäftsberichten wird das dann als Beweis dafür herausgestellt, dass das Unternehmen auf seine Mitarbeiter hört und auf ihre Anliegen eingeht. So läuft das, wenn du die Arbeitsbedingungen bei Zephyr verbessern willst.« Es klickt. Nur ein leises Geräusch, doch Freddy, Holly und Jones stehen gleichzeitig auf. Sie spähen über ihre Zellenwand, und um
sie herum machen es die Mitarbeiter aus dem Belegschaftsservice genauso. Die Tür zum Besprechungsraum öffnet sich. Roger tritt als Erster heraus. Auf seinem Gesicht liegt ein strahlendes Lächeln.
Die Königin ist tot, lang lebe der König! Die Mitarbeiter schubsen und drängeln, um einen Blick auf Roger, um eine Berührung zu erhaschen. Er mischt sich unter sie, grüßt, schüttelt ihnen die Hand, klopft ihnen auf den Rücken, küsst sie auf die Wange. »Ich werde für alle regieren«, verkündet Roger, und die Mitarbeiter jubeln. »Wir machen einen Neuanfang. Ich verspreche euch harte Arbeit — aber auch Respekt. Anerkennung. Und Belohnung!« Die Mienen der Mitarbeiter hellen sich auf. Die Kollegen des Umzugsservice und der Fitnessraumverwaltung lächeln sich zu. Die Angestellten aus den Abteilungen Wohltätigkeitsveranstaltungen und Visitenkarten design stoßen mit Kaffeebechern an. Sie sind die Überlebenden. Es ist halb fünf am Nachmittag; es ist der Anbruch eines neuen Zeit alters. Die Verkaufsassistenten sind von Ehrfurcht ergriffen. Holly findet als Erste Worte. »Habt ihr gedacht, dass Roger so ...« »Nein«, antwortet Freddy.
Roger nähert sich. Die Assistenten begrüßen ihn lächelnd und mit erhobenem Daumen. Freddy packt Rogers Hand und drückt sie. »Gut gemacht, Roger! Wirklich klasse!« »Danke für die Unterstützung.« Rogers Blick springt von einem zum anderen. »Von heute an wird alles anders werden. Es wird sich was bewegen. Wir werden endlich herausfinden, wer diesen Donut genommen hat.«
Draußen fällt Regen, doch keiner der Ausgestoßenen geht nach Hause. Tropfen spritzen ihnen ins Gesicht. Ihr Makeup zerläuft. Ihr Haar kräuselt sich. Doch ihr Zorn ist noch nicht abgekühlt. Sie ver sprechen sich gegenseitig, feste Streikposten einzurichten, und es kursiert bereits eine Liste, in die sie sich eintragen können. Sie sind sich noch nicht ganz sicher über ihre Forderungen, doch eins steht fest: Das haben sie nicht verdient. In der Eingangshalle, in der sich außer ihr nur noch Wachleute aufhalten, hört Gretel das Ping des Aufzugs. Sie dreht sich in ihrem Stuhl. Hinter den Türen kommen Eve und ein Mann vom Vorstand zum Vorschein: Blake Seddon. Alle Mädels schwärmen für Blake Seddon, weil er jung und gutaussehend ist und mehr Geld hat, als er ausgeben kann. Außerdem trägt er zurzeit diese schwarze Au genklappe wegen einer Verletzung, die er sich — wie Gretel gehört hat — zugezogen hat, als er auf der Straße direkt vor dem Zephyr
gebäude ein kleines Mädchen vor einem heranfahrenden Auto rette te. Er lächelt, als er sich gemeinsam mit Eve der Empfangstheke nähert, und Gretel merkt, wie sich unwillkürlich auch ihre Lippen wölben. Eve setzt sich auf ihren Platz. Blake geht weiter zu dem Spalier von Wachleuten, die durch die Glaswände nach draußen schauen. »Huh«, macht Eve. »Was für ein Tag. Was für ein Tag.« Gretel weiß nicht, was an dem heutigen Tag so anstrengend für Eve war, zumal sie die meiste Zeit durch Abwesenheit geglänzt hat, aber sie hat gelernt, keine Fragen zu stellen. »Hmmm.« »Wenn das vorbei ist, geh ich irgendwohin und lass mich voll lau fen.« Gretel lächelt. Wenn Eve so was sagt, dann ist es keine Einladung, auch das hat Gretel gelernt. Ein Wachmann kommt zur Empfangstheke. »Regenschirm. Haben wir einen Regenschirm für Mr. Seddon?« Gretel greift unter die Theke und zieht ein flottes, schwarzes Ding heraus. Der Wachmann bringt es Blake Seddon, der Gretel ein strah lendes Lächeln zuwirft, während sein Blick zu Eve hinübergleitet. Dann tritt er hinaus, um sich der Horde zu stellen.
Sie sehen ihn und bringen brüllend ihr Missfallen zum Ausdruck.
Als Blake stehen bleibt und versöhnlich eine Hand hebt, sind sie
eine kochende, kreischende Masse. Ihm ist nicht anzumerken, ob er ihre Wut spürt. Er wartet einfach unter seinem schwarzen Schirm, bis sie verstummen. »Meine Freunde«, setzt er an. »Meine lieben, lieben Freunde.« Einen Augenblick lang scheint es, als würde der Mob auf ihn los stürmen. Aber so durchgedreht sind sie noch nicht. Langsam klingt ihre Empörung wieder ab, und jetzt kann Blake sprechen, ohne un terbrochen zu werden. »Es sind wirtschaftlich schwere Zeiten.« Der Regen spritzt auf sei nen Schirm. »Das brauche ich euch nicht lange erklären. Der Markt ist hart umkämpft, und wir müssen uns gegen starke internationale Konkurrenz behaupten. Wenn wir als Geschäftsunternehmen Erfolg haben wollen — wenn wir auch nur überleben wollen —, müssen wir unangenehme Entscheidungen treffen. Zephyr Holdings ist keine Wohlfahrtsorganisation; entweder wir machen Gewinn, oder die Anleger gehen mit ihrem Geld woandershin. Einfach ausged rückt: Wenn das Unternehmen Gewinn macht, können wir Leute einstellen, und wenn nicht, müssen wir Stellen abbauen. Das ist überhaupt nicht persönlich gemeint. Es sind rein wirtschaftliche Entscheidungen, wie ihr alle wisst. Der Vorstand hat die Pflicht, das Unternehmen in den schwarzen Zahlen zu halten — im Interesse aller Anspruchsgruppen. Wir würden liebend gern jeden Einzelnen von euch weiter auf der Gehaltsliste lassen. Aber unser Vorgehen muss dem Wohl des Unternehmens dienen. Wenn das bedeutet, dass einige Mitarbeiter freigestellt werden, dann ist das nur logisch und vernünftig, da werdet ihr mir sicher zustimmen. Wie gesagt, das ist nicht persönlich gemeint. Es ist ein völlig normaler Vorgang,
den Wert bestimmter Unternehmensteile mit den damit verbunde nen Kosten zu vergleichen. Das betrifft Produktlinien, Abteilungen und Mitarbeiter. Auch wenn ich es mir anders wünschen würde, ist es schlicht und ergreifend so, dass wir verlustbringende Teile des Unternehmens rücksichtslos ausmerzen müssen, um die gewinn bringenden Teile zu schützen. Und bei der Überprüfung der Zahlen hat sich eben gezeigt, dass ihr verlustbringende Teile seid. Das ist nicht persönlich gemeint. Doch ihr müsst auch verstehen, dass das keine willkürliche Entscheidung ist. Wir machen das doch nicht, weil wir nachtragend sind. Und auch nicht, weil es uns Spaß macht. Wir sind nur bemüht, das Unternehmen über Wasser zu halten. Wenn es anders gewesen wäre — wenn eure Produktivität höher oder eure Löhne niedriger gewesen wären —, dann müsste ich jetzt vielleicht gar nicht mit euch reden. Aber leider war eure Wertschöp fung zu gering. Auch wenn ihr euch jetzt benachteiligt fühlt, müsst ihr doch einsehen, dass das nur die logische Konsequenz eures Ko sten-Nutzen-Verhältnisses ist. Ihr habt das Unternehmen nach un ten gezogen. Ich möchte hier keine übertriebene Kritik äußern, doch für mich steht außer Zweifel, dass ihr euch das selbst zuzuschreiben habt. Ihr habt es nicht anders verdient.« Die Menge schweigt. Seine Worte bestätigen ihren finstersten Ver dacht. Es gibt noch vereinzelte Widerstandsnester, die sich aufleh nen und die anderen an ihre Versprechen erinnern, doch das kollek tive Rückgrat der Horde ist gebrochen. Tief in ihrem Innersten wus sten sie es, die Arbeitslosen. Ihr Blick senkt sich zu Boden. Es wird noch geredet und sogar ein wenig gestritten, doch all das spielt kei ne Rolle mehr, denn schon stehlen sich die Ersten verlegen fort.
Mit hallenden Schritten geht Jones im Untergeschoss zu seinem Wagen, als ihm auf einmal auffällt, dass das Fahrzeug hinter ihm nicht nur nach einem freien Parkplatz sucht, sondern ihn tatsächlich verfolgt. Er dreht sich um, und das Rauchglasfenster des schwarzen Porsche 911 surrt nach unten. Eine Kaskade klassischer Musik wallt heraus, und die einäugige Gestalt Blake Seddons wird sichtbar. »Darfst du mit der Augenklappe überhaupt fahren?«, fragt Jones. »Das ist doch bestimmt ein Verstoß gegen die Straßenver kehrsordnung.« Blake grinst. »Wahrscheinlich. Hey, ist das dein Auto? Mann, höchste Zeit für einen Upgrade, Jones.« Er blickt in den Rückspie gel. »Ich möchte dich was fragen: Als du heute Morgen aus Alpha raus bist, warum hast du so lang zu deinem Schreibtisch ge braucht?« »Was, hast du mich vielleicht beobachtet?« »Man könnte sagen, ich hatte ein Auge auf dich.« »Haha, sehr witzig. Eve ist mir nach. Sie wollte mit mir reden.« »Und dann?« Er zögert. »Dann bin nach unten, um nachzuschauen, was vor dem Gebäude los ist.« »Hmm«, macht Blake. »Dachte mir schon, dass du lügen wirst.« »Wahrscheinlich habt ihr mich doch sowieso aufgenommen.«
»Stimmt.« »Wozu dann die Fragen?« »Die waren ziemlich wütend heute. Ich hab schon einige Massen entlassungen gesehen, aber so was noch nicht. Wir mussten noch nie persönlich eingreifen. Das ist praktisch ein Verstoß gegen die Alphasatzung. Die Entscheidung ist Klausman ziemlich schwer ge fallen.« »Vielleicht hätten wir uns raushalten sollen. Wäre eine ausge zeichnete Lernerfahrung gewesen. Darum geht es doch bei Alpha? Ums Beobachten und Sammeln von Erfahrungen?« »Ich würde gern erfahren«, erwidert Blake, »warum es heute so anders war.« Jones zuckt die Achseln. »Du hast ihnen was gesagt.« »Ich habe ihnen viel Glück für die Zukunft gewünscht.« »Quatsch.« »Habt ihr auch Tonaufnahmen?« Blake lacht. »Nein, Jones, draußen können wir nur Bilder aufneh men.« »Na dann.« »Vorher warst du nicht so großspurig. Irgendwas hat sich verän dert. Ich möchte wissen, was. Bist du es, oder ist sie es?« »Wer?« »Also wirklich.« Blake verdreht das Auge. »Ich meine es ernst. Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.« Blake verzieht den Mund. Dann beugt er sich vor und lässt den Arm aus dem Fenster hängen. »Jones, ich glaube, ich muss dir mal
ein wenig die Augen öffnen über Eve. Sie ist herzlos. Keine Ah nung, was da gelaufen ist, auf jeden Fall war sie nicht dabei, als das Gewissen verteilt wurde. Bei Alpha kann sie sich gar nicht voll ent falten; der ideale Job für sie wäre das Verabreichen von Todessprit zen in San Quentin. Vielleicht hast du schon was davon abbekom men, aber das ist noch lange nicht alles. Sie hat keine Gefühle wie du und ich. Natürlich weiß sie, dass sie welche haben sollte. Aber sie hat sie nicht. Ich erzähl dir das nur, Jones, damit dir was klar ist beim nächsten Mal, wenn du vor ihr das kluge Kerlchen spielst: Für sie bist du nur eine Marionette an einem Faden.« »Hab gar nicht gewusst, dass du so scharfsinnig bist«, antwortet Jones. »Soll ich mich hinlegen und dir was über meine Mutter er zählen?« Blake schnaubt. »Ich versteh ja, dass du dich für sie interessierst. Sie ist wirklich ein klasse Fick. Eine von denen, die sich aufführen, als hätten sie es noch nie gemacht. Oder stehst du auf so was?« Er sieht etwas in Jones' Gesicht, was ihn befriedigt. Das Fenster des Porsche surrt nach oben. »Pass gut auf dich auf, Jones.«
»Also jetzt noch mal langsam«, sagt Penny. Sie und Jones sind in der Vorstadt bei ihren Eltern und spülen gerade ab. Über Pennys Kopf schwenken im Sekundentakt die Rücklichter einer Uhr in Au
toform hin und her. »Dieser Typ, Blake, meint, dass du mit Eve zu sammenarbeitest.« »Ich glaube schon.« »Sind die Leute von Alpha nicht alle auf der gleichen Seite?« »An sich ja. Aber es gibt natürlich versteckte Machtkämpfe. Wenn Klausman zurücktritt, gehen sie sich wahrscheinlich gegenseitig an die Kehle.« »Er tritt zurück?« »Ähm ... nein, ich glaube nicht.« Penny richtet ihr Haar; ein paar Strähnen sind aus dem Pferde schwanz gerutscht. »Okay. Noch mal ganz von vorn. Du arbeitest für Alpha.« »Stimmt.« »Und deswegen kannst du dir Sachen leisten wie diese tollen An züge.« »Naja, das Geld dafür bin ich Eve noch schuldig.« »Schön. Sie hat sie dir also geschenkt. Weil du ihr Handlanger bist.« »Protegé.« »Wie du meinst.« »Ich bin kein Handlanger.« »Was ist da der Unterschied?« »Ähm«, sagt Jones. »Weißt du, du redest ziemlich viel über sie.« Ein argwöhnischer Ton liegt auf einmal in Pennys Stimme. »Über diese Eve.« »Naja ...« »Was?«
»Ich finde sie sehr anziehend. Hab ich das noch nicht erwähnt?« »Nein! Ich dachte, du hasst sie!« »Ja, schon. Aber irgendwie ... ich weiß nicht. Ich bin verwirrt. Als Blake angedeutet hat, dass er mal mit ihr zusammen war ... war ich richtig eifersüchtig.« »O Mann.« »Ich möchte nichts beschönigen. Ich bin nur ehrlich. Immerhin ha ben Eve und ich eine Nacht zusammen verbracht.« »Du hast die Nacht zusammen verbracht. Sie war bewusstlos.« »Aber schon davor hab ich was bemerkt. Und seit dem Besuch in der Bar, war sie ... weniger gemein.« »Wow«, meint Penny. »Was für eine Empfehlung.« »Außerdem, ich will jetzt nicht taktlos sein, aber ich finde sie un glaublich heiß.« »Stephen.« »Du warst doch auch ganz besessen von diesem Typ im Fitness studio. Nicht mal seinen Namen hast du gekannt.« »Hmm.« »Aber du hast schon Recht. Eve macht wirklich Sachen, da muss man sie einfach hassen. Sie lässt einem keine andere Wahl. Das ist genau das Problem.« »Einmal abgesehen von deinen seltsamen Gefühlen für böse Frauen und dem, was zwischen Eve und Blake ist —auf jeden Fall sind alle bei Alpha fleißig dabei, die Angestellten von Zephyr auszusau gen bis aufs Blut, sehe ich das richtig?« »Richtig.« »Und du willst sie stoppen.«
»Du müsstest den Laden mal sehen. Es ist brutal. Und vergiss nicht, es ist nicht nur Zephyr. Die Methoden, die sie dort erfinden, landen schließlich in Tausenden von Unternehmen. Sie werden wahrscheinlich auf Millionen von Angestellten angewandt.« »Und du willst nicht abhauen, sondern im Verborgenen arbeiten, als eine Art Saboteur.« »Ja.« »Obwohl du bei Alpha praktisch nichts zu sagen hast. Und bei Zephyr bist du auch nur ein Sesselfurzer.« »Äh ... ja.« »Und wenn du Alpha sabotierst — wenn du zum Beispiel allen Zephyrarbeitern erzählst, was los ist —, dann schmeißen sie einfach alle raus, machen das Unternehmen dicht und fangen wieder von vorn an. Richtig?« Jones seufzt. »Ja.« »Und dazu kommt noch, dass eine von denen, die du sabotieren würdest, diese Frau ist, die du Anführungszeichen sehr anziehend Anführungszeichen findest.« »Genau.«
»Also, da steckst du ziemlich in der Klemme.«
»Ich dachte, dass dir vielleicht eine Lösung einfallt.«
»Tut mir leid, Stevie. Da sehe ich keinen Ausweg.«
»Verdammt.«
»Vielleicht solltest du einfach abhauen.«
»Dann stellen sie bloß einen anderen ein, der die Arbeit für mich
macht. Ich muss Alpha irgendwie dazu zwingen, die Situation bei Zephyr zu verbessern.«
Penny antwortet erst nach einer kleinen Pause. »Na dann viel Glück.« Aus dem Wohnzimmer dringt eine Stimme: »Braucht ihr zwei noch Hilfe?« »Nein, Mom«, ruft Jones. Er kratzt seinen Teller sauber. »Wie viel davon erzählen wir Mom und Dad?« »Ahm ...« Jones überlegt. »Sag ihnen, dass ich ein paar neue An züge habe.«
Das Omega-Managementsystem weiß zu berichten, dass jede Unter nehmensumstrukturierung drei Phasen durchläuft. Phase eins ist die Planung: Der Vorstand verfällt in einen Zustand tranceartiger Euphorie, wenn er sich vor Augen führt, um wie viel stärker das Unternehmen durch eine Neuausrichtung seiner Fachbereiche wer den könnte und —welch seltsamer Zufall — wie viel an Zuständig keiten jedes Vorstandsmitglied hinzugewinnen würde. Es ist eine Zeit freudiger Erregung, allerdings nur für den Vorstand; für alle anderen ist oft schwer zu erkennen, worin sich die verheißenen Vor teile dieser Umstrukturierung von den bei der letzten Umstruktu rierung vor neun Monaten verheißenen Vorteilen unterscheiden. Als Nächstes folgt die Umsetzung, die dem Spiel Reise nach Jerusa lem mit Entlassungsgesprächen ähnelt: Es herrscht Chaos, und allen geht es nur um ihren Sitzplatz. Für die Angestellten ist es eine Mi
schung aus Triumph und Tragödie. Triumph für den, der sich weit entfernt von einem verhassten Kollegen wiederfindet, Tragödie für die, deren Computerbildschirm jetzt für jeden sichtbar ist, der die Abteilung betritt. Für die Vorstandsmitglieder ist es eine düstere Zeit der Desillusionierung, denn jetzt laufen ihre reinen Visionen auf den Felsen der Wirklichkeit auf. Ihre verdrehten Paradigmen zerplatzen und spucken realistische, sachliche Paradigmen aus; ihr laterales Denken wird vertikalisiert und zurück in die Schachtel gesteckt. Sie haben von einer umfassenden Superabteilung ge träumt, und bekommen haben sie drei zusammengezwungene Exabteilungen, die miteinander im Bürgerkrieg liegen. Warum kön nen die Leute nicht einfach mitziehen?, fragt sich der Vorstand. Es ist herzzerreißend. Zuletzt tritt laut Omega-Managementsystem die Phase der Neu orientierung ein, die Alpha-Agenten, wenn sie unter sich sind, auch gern als »Evakuierung« bezeichnen. In diesem Stadium bringen alle Mitarbeiter, die unzufrieden mit ihrer neuen Rolle sind, ihre Le bensläufe auf Hochglanz und schauen sich anderswo nach einer besseren Stelle um. Wenn sie Erfolg haben bei ihrer Suche, kündi gen sie; ansonsten bleiben sie, zusammen mit denen, die aufgrund ihrer Nähe zum Vorstand ein wenig die Leiter hinaufgefallen sind. So reduziert sich das Personal bald auf die Unfähigen und die Kor rupten. Doch das Unternehmen kämpft weiter und gibt sich so lan ge der Illusion hin, dass es nur an Kinderkrankheiten leidet und nicht etwa an einer systematischen Zersetzung der gesamten Orga nisation, bis das nicht mehr möglich ist und der Vorstand das Ein zige tut, was er kann: Er kündigt eine Umstrukturierung an.
Alpha träumt von einer Zukunft ohne Umstrukturierungen. Nicht dass es sie grundsätzlich ablehnt; im Gegenteil, Alpha weiß sehr genau, dass sich Geschäftsbedingungen verändern und Unterneh men entsprechend reagieren müssen. Die Alphamacher haben nur den Einwand, dass sich diese Bedingungen nicht alle vierzehn Mo nate verändern — der Zeitraum, den Fortune-500-Unternehmen durchschnittlich zwischen Umstrukturierungen verstreichen lassen. Nach den Untersuchungsergebnissen von Alpha kostet eine typi sche Umstrukturierung drei Wochen Produktivität und führt in 82 Prozent der Fälle zu keinem messbaren Nutzen. Das heißt, ein Un ternehmen könnte seinen Mitarbeitern zwei Wochen zusätzlichen Urlaub geben und würde dabei immer noch besser dastehen als die umstrukturierende Konkurrenz. Oder es könnte sich den Extraur laub schenken und einfach mehr Gewinn machen. Das Hauptproblem, so argwöhnen die Alphaagenten, ist, dass Umstrukturierungen Spaß machen. Nur dem Vorstand natürlich; den anderen eher weniger. Vor die Wahl gestellt zwischen genauer Ursachenforschung, wenn durch ineffiziente Lagerwirtschaft der Umsatz um ein halbes Prozent sinkt, und dem Skizzieren einer kühnen neuen Vision für die zukünftige Unternehmensausrichtung, wird sich der Vorstand immer auf Letzteres stürzen. Wäre der Vor stand Kapitän eines Schiffs, würde es zweimal so lange brauchen, um sein Ziel zu erreichen, und unterwegs komplett umgebaut wer den. Die Alphadenker haben nichts gegen Visionen per se, doch sie wären froh, wenn der Vorstand die Hände auf dem Steuer lassen und nicht ständig an der Architektur herumpfuschen würde.
Fürs Erste jedoch muss sich Alpha damit begnügen, Umstruktu rierungen weniger schädlich zu machen. Das Projekt hat bereits eine Reihe von Techniken erprobt, bis hin zur momentan laufenden »Überraschungsumstrukturierung« — Eve Jantiss' Idee —, um den üblichen Produktivitätsverlust in Phase eins zu vermeiden. Dieses Ziel wurde anscheinend erreicht, denn Zephyr ist eindeutig sofort mitten in die zweite Phase gesprungen. Bürgerkriege brauen sich zusammen. Bündnisse werden geschmiedet. Selbsternannte Mach thaber wie Roger drängen nach oben. Am Mittwochmorgen um 8.50 Uhr wird der erste Vorstoß gestar tet. Er kommt aus der Infrastruktursteuerung, und zwar in Form einer Voicemail an alle Abteilungsleiter. Bedauerlicherweise müssen die Kosten für Raumnutzung, Bürozellen, Parkplätze und Telefon leitungen neu umgelegt werden. An der Größe des Gebäudes hat sich nichts verändert, so die Infrastruktursteuerung, Gleiches gilt für die Parkgeschosse, und auch die Zahl der Telefonleitungen ist gleich geblieben. Doch es gibt jetzt weniger Angestellte, um die Rechnung zu begleichen. Infolgedessen bleibt der Infrastruktur steuerung nichts anderes übrig, als die Preise zu erhöhen. Als sie das vernehmen, werden die Gesichter der neuen Superab teilungsleiter puterrot. Zellenwände sollen ab jetzt neunhundert Dollar kosten! Fünfhundert pro Monat für einen Computer! Sechs tausend im Jahr für ein Fenster! Die Chefs kochen in ihren Stühlen, die jetzt dreimal so teuer sind wie früher. Das ist doch Wucher! Die Telefondrähte zwischen den Abteilungen (zweihundert Dollar pro Anschluss zuzüglich Nutzungsgebühren) glühen, während die Ab teilungsleiter Luft ablassen. Die Drohung, den Vorstand einzuschal
ten, wird ausgesprochen, aber nicht in die Tat umgesetzt — noch nicht. Momentan reagiert der Vorstand noch gereizt auf jede Er wähnung der Konsolidierung; genaugenommen, seit sich zweihun dert erzürnte Angestellte vor dem Gebäude zusammengerottet und mit Dingen um sich geschmissen haben. Also wird eine Krisen sitzung einberufen. Unten im Empfang beobachtet Gretel staunend, wie die Aufzüge einen Abteilungschef nach dem anderen ausspuk ken, die alle mit festem Schritt und finsterer Miene auf die Bespre chungsräume zusteuern. Bald sind alle da, auch Roger. Die einzige Ausnahme ist das Per sonalwesen (eigentlich Personalwesen und Kapitalsicherung, wie die fusionierte Abteilung jetzt heißt), das von niemandem verstän digt wurde. Auch die Abteilungschefs finden das Personalwesen unheimlich. Es wird von einem kleinen Mann mit feuchten Lippen und glatt gescheiteltem Haar geführt, das sich unten kräuselt. Schon bei dem Gedanken, dass er ihre Personalakte jederzeit zur Hand hat, wird es allen ganz anders. Also sind alle da bis auf ihn, und als die Infrastruktursteuerung eintrifft, ist das Zimmer schon am Bro deln. Der Leiter der Infrastruktursteuerung ist ein kleiner, muskulöser Mann mit Bart. Er ist eine seltsame Erscheinung bei Zephyr: ein Angestellter, der ganz unten angefangen hat und durch harte Arbeit aufgestiegen ist. Das ist anderen Chefs unangenehm. Die Vorstel lung, dass man durch schiere Kompetenz vorankommt statt durch Intrigen, Verrat, Flucht vor drohenden Katastrophen und Abstau ben bei abzusehenden Erfolgen — diese Vorstellung untergräbt ih ren gesamten Wissenshorizont. Infrastruktursteuerung tritt vor die
versammelte Runde und verschränkt seine imposanten Arme. »Also schön, wo liegt das Problem?« Die genaue Beantwortung dieser Frage führt dazu, dass Infrast ruktursteuerung von einem Sturm von Beschimpfungen und schwerkraftresistentem Speichel erschüttert wird. Doch er weicht nicht zurück. Seine Miene bleibt unverändert. Als der Quell ihres Zorns vertrocknet ist, zuckt er die Achseln. »Da kann ich nichts ma chen.« Woah! Wieder fährt ein heulender Orkan durchs Zimmer. Da In frastruktursteuerung auf Zorn nicht so gut angesprochen hat, ist der zweite Vorstoß von einer gewissen Wehleidigkeit geprägt. Er kann sie doch nicht einfach so ausnehmen, flehen die Chefs, um seine eigenen Taschen voll zu stopfen. Er muss sich doch auch mal in ihre Lage versetzen. Es liegt doch auf der Hand, dass solch horrende Kostensteigerungen die betriebliche Substanz gefährden. Wieder zuckt Infrastruktursteuerung die Achseln. »Ich kann nur von unseren Gesamtkosten ausgehen und sie gleichmäßig auf alle Mitarbeiter verteilen.« Gottverdammt! Der dritte Sturm ist der bisher heftigste. Die Abtei lungsleiter merken, dass sie sich umsonst anstrengen, also lassen sie zur Abwechslung einfach nur die Sau raus. Die Angriffe auf Infrast ruktursteuerung erhalten eine persönliche Färbung, seine Anfänge als einfacher Arbeiter und das Fehlen einer akademischen Ausbil dung werden thematisiert. Nacheinander blickt er allen in die zu sammengekniffenen Augen. Schließlich geht auch diesem Sturm die Luft aus. »Wenn Sie wollen, dass die Fixkosten von Zephyr sinken«,
erklärt er, »warum wenden Sie sich dann nicht an den Vorstand?« Damit verlässt er den Raum. Und ob sich die Chefs an den Vorstand wenden werden. Das kön nen sie jetzt ohne Befürchtungen machen, denn Infrastruktursteue rung hat es ja selbst vorgeschlagen, und sie können ihm die Schuld geben, falls der Vorstand sauer auf die Störung reagiert. Die Abtei lungsleiter scharen sich um ein Lautsprechertelefon. Der Vorstand kriegt einen Anfall. Was denkt sich diese Infrastruk tursteuerung eigentlich dabei? Der Sinn und Zweck dieser Konsoli dierung ist doch eine Senkung der Kosten, und er treibt sie in die Höhe! Es sind Leute wie Infrastruktursteuerung, die die schönen Pläne aus der Vorstandsetage durchkreuzen. Als er wieder an sei nen Platz im fünfzehnten Stock kommt, wartet bereits eine Voice mail auf ihn. Er soll rauf in den zweiten Stock. Sofort. Es ist sein erster Besuch dort oben, und er ist angenehm über rascht. Überall offene Räume und prächtige Eichenmöbel; frische Schnittblumen und teure Ölgemälde. Wirklich erhebend die Infrast ruktur hier. Er wird zum Sitzungssaal geführt, wo der versammelte Vorstand seiner harrt. Sie verweisen ihn auf einen Stuhl am Ende eines gewaltigen Tischs und fordern ihn nach einer angemessen einschüchternden Pause auf, die Sache zu erklären. »Also, es ist eigentlich ganz einfach. Unsere Fixkosten haben sich nicht verändert, nur dass es jetzt nicht mehr so viele Abteilungen gibt. Also muss ich ihnen allen entsprechend mehr berechnen.« Die Vorstandsmitglieder warten, doch das ist anscheinend alles. Sie sind wie vor den Kopf geschlagen. Wo sind die PowerPoint
Folien? Die Aufzählungspunkte? Die Verweise auf wechselnde Ge schäftsparadigmen und entstehende Marktchancen? »Aber die Abteilungen sind jetzt kleiner«, entgegnet eine Frau. »Sie benutzen die Infrastruktur weniger. Wenn überhaupt, dann müssten sie weniger bezahlen.« »Und wem stelle ich den leeren Raum in Rechnung?« »Wieso wollen Sie das überhaupt jemandem in Rechnung stellen?« »Weil er noch da ist.« Dieser Ton gefällt dem Vorstand überhaupt nicht. Und auch das, was da angedeutet wird, gefällt ihm nicht. Blicke werden ausge tauscht. Dem Vorstand wäre eine andere Erklärung viel lieber: dass Infrastruktursteuerung ein mieser kleiner Raffzahn ist. »Und was«, fragt der Vorstand, um ihm noch eine letzte Chance zu geben, »können wir tun, um die Abteilungskosten auf dem bis herigen Niveau zu halten?« »Sie können den Raum füllen. Mehr Leute einstellen.« Kollektives Luftanhalten. Mehr Leute einstellen! Das ist nackte Ket zerei. Benommen schauen sich die Vorstandsmitglieder an. Infrast ruktursteuerung wird aus dem Sitzungssaal geschickt. Lange Zeit herrscht Schweigen im Raum bis auf das leise Ticken der Kühlschrankbar. Dann beugt sich die Frau von eben vor. »Diese Idee, den Abteilungen fixe Ressourcen in Rechnung zu stellen ... das ist doch nur ein Buchhaltungstrick. Die Infrastruktur ist doch schon da. Und sie wird uns nicht davonlaufen, wenn wir sie den Abtei lungen nicht mehr in Rechnung stellen. Das heißt, das Problem wä re sofort aus der Welt, wenn wir auf die Abteilung Infrastruktur steuerung verzichten.«
Langsam macht ein Lächeln die Runde. Endlich eine Lösung! Ein entsetzter Protest kommt von einem Mann, dessen Haupterfolg im Zuge der Konsolidierung war, sich die Zuständigkeit für die Infrast ruktursteuerung zu sichern, doch er ist schnell zum Schweigen ge bracht. Die Nachricht wird versandt, das Personalwesen verstän digt; als Infrastruktursteuerung an seinen Platz zurückkehrt, warten schon zwei Wachleute auf ihn.
Sydney, die winzige Exleiterin der Abteilung Schulungsverkauf, befindet sich in einem Aufzug, dessen Türen zur Eingangshalle ge öffnet sind. Ihr Blick wandert über die Etagennummern. Sie steht vor einem Dilemma: Sie weiß nicht, auf welchen Knopf sie drücken soll. In den elften Stock fährt sie auf keinen Fall. Für Roger zu arbeiten, der bis vor ein paar Tagen ihr Untergebener war, wäre einfach zu erniedrigend. Das würde sie nie aushalten. Manche Leute sind viel leicht imstande, mit einem Messer im Rücken weiterzulächeln, aber Sydney nicht. Seit ihrer Vertreibung ist sie von Abteilung zu Abtei lung gewandert, um alte Freunde zu sehen. Oder Leute, die sie für Freunde hielt; anscheinend sind sie ihr nur deshalb mit Sympathie begegnet, weil sie Abteilungsleiterin war. Das war eine böse Über raschung. Andererseits waren schon immer alle gegen Sydney — damit hat sie sich dann getröstet.
Das ist also ihr Problem: Ihr gehen die Alternativen aus. Von den Zahlen auf der Tastentafel (und es gibt ja nicht mehr so viele) hat sie nur die oberen Etagen noch nicht ausprobiert: Personalwesen und Vorstand. Die Idee ist verlockend. Sydney gehört nicht in die unteren Abtei lungen, sondern ganz nach oben. Wo sonst soll denn Platz sein für ihre radikal feindselige Vision, ihre leidenschaftliche Abneigung gegen Menschen, ihren unbedingten Willen, andere zu Opfern zu zwingen? Nur im Vorstand, im Vorstand, im Vorstand! Bloß dass du nicht einfach so in einen Vorstandsposten reinlat schen kannst. Du musst deinen Weg mit einem Dutzend opulenten Dinnerpartys und Golfspielen ölen. Das hat Sydney nicht getan. Und selbst in ihrer verzweifelten Situation fände sie es unerträglich, damit anzufangen. Dafür ist sie sich zu schade. Eine Frau mit großen Sommersprossen nähert sich dem Aufzug. »Hinauf?«, fragt sie fröhlich. Sydney starrt sie an, bis sie den Rück zug antritt. Der Vorstand kommt also leider nicht in Frage. Das heißt, es bleibt nur die Nummer 3: das Personalwesen. Sydney spürt eine starke Verbundenheit zum Personalwesen. Sie mag den Namen mit der kaum verhohlenen Andeutung, dass das Personal erst durch die Tätigkeit dieser Abteilung zu einem leben digen Wesen wird. Ansonsten wäre das Personal doch nur eine un belebte, praktisch wertlose Ressource. Auch wenn immer wieder diese olle Kamelle aufgewärmt wird, dass die Mitarbeiter das wich tigste Kapital des Unternehmens sind. Sydney weiß es besser: Ein Unternehmen braucht Liquidität, es braucht strategische Partner
schaften, es braucht einen Lagerbestand; alles, nur keine heiklen, unzuverlässigen, unberechenbaren Menschen. Mitarbeiter sind eine Katastrophe. Du kannst sie nicht stapeln, nicht (ohne weiteres) an einen anderen Ort verfrachten, und du kannst sie nicht einmal allein lassen, damit sie im Wert steigen. Aus diesem Grund benötigt das Unternehmen das Personalwesen: eine Abteilung, die den Men schen Leben einhaucht. Sydney stellt sich auf die Zehen, um auf die 3 zu drücken. Die Tü ren schließen sich. Während der Fahrt nach oben summt sie vor sich hin. Sie ist nervös, aber optimistisch. Sie glaubt, dass sie genau da zupassen wird.
Freddy betritt die Legebatterie im elften Stock und hält vor dem Kleiderständer. Die Jacke, die am Montag seinen Haken besetzt hat, ist jetzt zwei Haken weiter. Freddy lächelt. Er hängt sein Jackett an seinen angestammten Platz. Dann steuert er leichten Herzens und festen Schritts auf seine Bürozelle zu. Allmählich lernt er auch seine neuen Kollegen im Belegschaftsser vice besser kennen. Die Leute aus dem Visitenkartendesign sind klein, stämmig und humorlos; außerdem haben sie das günstigste Quadratmeterzahl-zu-Mitarbeiter-Verhältnis. Wer groß, lärmend und durchtrainiert ist, stammt aus der Fitnessraumverwaltung. Mit arbeiter aus der Exabteilung Wohltätigkeitsveranstaltungen haben
leuchtende, unstete Augen und suchen unermüdlich das Gespräch. Und dann gibt es noch den Schulungsverkauf. Das sind so was wie die Schurken in dem ganzen Haufen. Die todschick angezogenen Killer. Vor den Schulungsverkaufleuten sind alle ein bisschen auf der Hut. Das ist also die brandneue Abteilung Belegschaftsservice: eine lose Ansammlung von Gnomen, Riesen, Elfen und organi sierten Verbrechern. Freddy betritt seine Zelle und setzt sich. Plötzlich fällt ihm ein, wer in der Abteilung völlig fehlt: die Schulungsdurchführung. Ihm wird eiskalt. Ist die Schulungsdurchführung bei der Konsolidierung weggefallen? Wenn ja, was soll der Schulungsverkauf dann eigent lich verkaufen? Möglicherweise gibt es eine vernünftige Antwort auf diese Frage. Möglicherweise will der Vorstand die Fähigkeiten des Schulungs verkaufs in einem gewinnträchtigeren Bereich einsetzen, in dem es nicht um Schulungen geht. Aber Freddy arbeitet schon sehr lange bei Zephyr. Er ist sich ziemlich sicher, dass da wieder mal Scheiß gebaut worden ist.
Als Holly an ihrem Platz erscheint, findet sie eine Voicemail von Roger vor. Sie soll so bald wie möglich in seinem (neuen) Büro er scheinen. Die weibliche Voicemail-Stimme sagt: »Empfangen ... heu te! ... um ... fünf... Uhr ... vier—... undfünfzig.« »So bald wie mög
lich« ist also bei Roger um einiges früher als bei ihr. Sie findet den Gedanken, dass Roger schon seit fast drei Stunden an der Arbeit ist, ein wenig gruslig. Einerseits kann sie sich nicht vorstellen, wie Ro ger als Chef noch schlimmer sein soll als Sydney. Andererseits fürchtet sie, dass er es ihr gleich vorführen könnte. Auf halbem Weg zu Rogers Büro merkt sie, dass sie auf einen Fernsehmonitor starrt. Er ist an die Decke geschraubt, aber so groß, dass er über den Bürozellengang herunterhängt und größere Mitar beiter dazu zwingt, beim Vorbeigehen den Kopf einzuziehen. Der Bildschirm ist leer. Daneben befindet sich ein stählerner Vandalis musschutzkäfig mit einer riesigen Glühbirne drin. Weder die Lam pe noch der Bildschirm dienen einem erkennbaren Zweck. Einige Angestellte stehen darunter und schielen nervös hinauf, doch Holly quetscht sich einfach vorbei. Sie verschwendet schon lange keine Zeit mehr damit, sich über unerklärliche Dinge bei Zephyr Hol dings zu wundern. Direkt vor Rogers Tür steht ein Schreibtisch, so wie Megans Schreibtisch vor Sydneys Tür im vierzehnten Stock. An dem Schreibtisch hier sitzt ein schlanker junger Mann mit flotter Brille und einer Krawatte mit großen fröhlichen gelben Gesichtern drauf, die Holly um neun Uhr morgens ein wenig zu penetrant findet. Ro gers Sekretär blickt zu ihr auf. »Hi, ich will mit Roger sprechen.« »Du bist Holly Vale?« »Ja.« »Er erwartet dich schon, ich bring dich rein.«
Der Sekretär trabt zu Rogers Tür, öffnet sie und winkt Holly he rein. Doch Holly ist vor Schreck ganz starr. Wenn du ein Büro hast, schließt du die Tür, und die Leute klopfen an, bevor sie eintreten — das ist doch der Sinn einer Tür, oder? Wenn Chefs davon sprechen, dass ihre Tür immer offen steht, dann heißt das, du kannst sie ohne Termin um ein Gespräch bitten, aber nicht, dass die Tür wirklich offen ist. Es heißt nicht, dass du nicht klopfen musst. Sie merkt, dass der Sekretär sie anschaut, und stürmt endlich los. Wenn sie mit einem Job ohne feststellbare Funktion und einem Ar beitsumfeld klarkommt, das mysteriöse Fernsehschirme hervorb ringt, dann wird sie sich wohl auch an einen Vorgesetzten mit einer buchstäblich offenen Tür gewöhnen. Rogers Büro ist durchflutet von morgendlichem Sonnenschein; durch das Fenster fällt der Blick auf einen strahlend blauen Him mel. Roger sitzt mit gefalteten Händen an seinem breiten, hell po lierten Schreibtisch. »Hallo, Holly. Nimm Platz.« Das Büro ist bereits gut ausgestattet. Sie sinkt in einen Sessel und legt vorsichtig die Arme auf die Lehnen. Es entsteht eine Pause, in der Roger anhaltend lächelt. Holly hat das Gefühl, dass ihr eigenes Lächeln allmählich zerbröselt. Sie verlagert ihr Gewicht und streicht ihren Rock glatt. »Ich habe gute Neuigkeiten für dich«, beginnt Roger. »Ach!«, entfährt es Holly, mehr aus Erleichterung darüber, dass der Dialog endlich eröffnet ist. »Ich hab mir ein paar Gedanken gemacht, wie ich diese Abteilung aufstelle und in Gang kriege. Für mich ist es Chefsache, dass der Belegschaftsservice die effizienteste, produktivste und profitabelste
Abteilung wird.« Er hält inne. Holly nickt ihm aufmunternd zu. »Und da bin ich zu dem Schluss gekommen, dass viele Aufgabenbe reiche neu festgelegt werden müssen. Im Grunde ... alle Aufgaben bereiche.« Schweigen. Diesmal hält Holly es nicht durch. »Ich hab gerade Freddy getroffen, und er sagt, dass von der Schulungsdurchführung keiner hier ist. Sind die in einer anderen Abteilung gelandet, oder ...« »Weg. Haben die Konsolidierung nicht überstanden.« »Oh.« Sie wartet, doch Roger hat anscheinend keine Lust, die feh lenden Informationen nachzureichen. »Und ... was sollen wir dann machen?« »Das ist eine gute Frage. Aber keine, über die du dir den Kopf zer brechen musst, Holly. Wie gesagt, ich bin dabei, die Aufgabenberei che neu festzulegen. Dein Aufgabenbereich ist jetzt der Fitness raum. Den muss jemand in Schwung bringen. Da hab ich eben an dich gedacht.« Hollys Finger bohren sich in die Armlehnen. Sie kommt sich vor, als wäre sie gerade vom Laufband gestolpert. Die Endorphine! Die Endorphine! »Glücklich?« »O Roger!« Einen durchgedrehten Moment lang ist Holly kurz da vor, sich über den Schreibtisch und Roger an den Hals zu werfen. »Ich danke dir! Ich bin dir so dankbar. Ich werde ganze Arbeit lei sten, das versprech ich dir. Der Fitnessraum war immer gut, aber es gibt ein paar Sachen zu verbessern, einfache Sachen, damit er einla dender wird und mehr Leute anlockt, zum Beispiel Kurse für ...«
»Super.« Roger lächelt. »Das klingt wirklich super.« Wieder ent steht eine Pause. »Ich bin dir so dankbar«, beteuert Holly noch einmal. »Ich war mir sicher, dass dir das liegt.« »Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen.« »Und wenn es nicht hinhaut, können wir leicht was anderes für dich finden.« »Es wird hinhauen. Das verspreche ich. Bestimmt.« »Gut, gut.« Roger lehnt sich vor und stellt die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Weil wir gerade so am Plaudern sind ... ich hätte da noch eine Frage.« Holly weiß, was kommt, noch bevor er den Mund aufmacht. »Holly, wer hat meinen Donut gegessen?«
An seiner Lippe kauend schiebt sich Jones durch die überfüllte Legbebatterie des Belegschaftsservice. Er hat einen aufreibenden Vormittag hinter sich. Zuerst kam Eve nicht zur heutigen Bespre chung von Alpha. Am Anfang glaubte er an eine Verspätung, dann an eine große Verspätung, doch schließlich nahm Klausman Platz und sagte: »Eve kann heute nicht kommen, sie hat sich anscheinend eine Grippe eingefangen.« Mona machte Ohhh, und Blake blies Luft durch die Nase, als hätte er was Komisches gehört. Jones dachte: Mal sehen, ob sie ein ärztliches Attest bringt, doch die Vorstellung eines
Tages ohne Eve war erstaunlich unangenehm, enttäuschend, und das war schlimm. Solche Gefühle für eine Frau, die er beruflich ver nichten will, kann sich Jones eigentlich gar nicht leisten. Eve ist wie Spielen, wurde ihm klar. Er weiß, sie macht süchtig, sie ist schlecht für ihn, und es wird Folgen haben, wenn er sie nicht aufgibt, und trotzdem will er mehr. Vielleicht sollte Jones jemanden anrufen. Vielleicht kann er sich einer Selbsthilfegruppe anschließen: die Anonymen Evaholiker. Und möglicherweise endet das Ganze da mit, dass Jones und Blake Seddon in einer Bar mit Biergläsern an stoßen und in abwechselnd verklärendem und bitterem Ton Erinne rungen über Eve Jantiss austauschen, die Schlampe, die sie beide reingelegt und all ihre Pläne zunichte gemacht hat. Er fuhr aus dieser Phantasie hoch und stellte fest, dass ihm soeben eine neue Aufgabe übertragen worden war: die Wiederherstellung des Unternehmensnetzwerks. Seine Reaktion war nicht unbedingt begeistert. »Wirklich? Die Leute sind doch ohne Netzwerk anschei nend viel glücklicher. Sie gehen rum, reden miteinander ... ich habe das Gefühl, dass das dem Unternehmen sogar nützt.« »Dem Personal ist es natürlich lieber so«, spottete Blake. »Da müs sen sie nämlich nicht so viel arbeiten. Das Personal findet das be stimmt super. Aber wir sind nicht da, um die Mitarbeiter zu unter halten, Jones.« »Das wollte ich auch keineswegs behaupten.« Jones' Ton war kühl und gemessen, wie es sich gehörte für einen Mann, der dem Impuls widerstehen musste, Blake den Kaffeebecher auf den Kopf zu knal len. »Ich frage mich nur, ob der Zustand ohne Netzwerk nicht viel leicht sogar die Produktivität steigert. Hast du schon mal was von
einer ausgewogenen Work-Life-Balance gehört? Da geht's um die verrückte Idee, dass Angestellte besser arbeiten, wenn sie glücklich und motiviert sind.« Blake lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und sah Jones an, als hätte er es mit einem Vollidioten zu tun. Vom Kopf der Tafel her schaltete sich Klausman ein. »Ach, Jones, wir sind keine großen Anhänger von dieser Geschichte mit der Work-Life-Balance. Sicher lich ein großartiges Konzept. Unbedingt. In der Theorie.« »Wie Kommunismus.« Blakes Bemerkung wurde mit Lachen quit tiert. Also keine betrunkene Erinnerungsseligkeit, beschloss Jones. »Das Dumme ist nur, es ist eine Legende. Wir haben uns die Zah len angeschaut, das haut einfach nicht hin. Was man auf der einen Seite durch geringeren Krankenstand und Fehlerquoten reinholt, verliert man auf der anderen Seite wieder durch kürzere Arbeitszei ten und unprofessionelles Verhalten. Kurz gesagt, glückliche Ange stellte sind nicht produktiver. Sie sind sogar weniger produktiv.« »In den meisten Situationen«, warf Mona ein. »Das sollte man schon erwähnen.« Klausman nickte. »Ja, natürlich. Wenn es teuer ist, Mitarbeiter zu ersetzen, dann lohnt es sich unter Umständen, für ihre Zufrieden heit zu sorgen. Aber das ist die Ausnahme.« »Das heißt also«, fasste Jones zusammen, »dass es keinen Sinn hat, Geld für das Wohlergehen der Mitarbeiter auszugeben, wenn sie nicht im Vorstand sitzen.« »Potzblitz, er hat's kapiert!«, rief Blake.
»Ich will damit sagen«, fuhr Klausman fort, »wenn es um die Work-Life-Balance geht, setzen wir uns für die Berufsseite der Glei chung ein, capisce?« »Ja«, antwortete Jones. »Guter Junge. Das ist eine von den Situationen, in denen ich nicht darauf warten möchte, dass Zephyr die Sache in den Griff kriegt. Die meisten Vorstandsmitglieder haben nicht einmal einen Compu ter; das kann noch Monate dauern, bis die merken, dass da was nicht stimmt. Nein, das Unternehmen braucht ein Netzwerk, Jones, und Sie werden sich dieser Aufgabe annehmen.« Jones öffnete den Mund, um zu fragen: Wie? Doch das war nicht besonders dynamisch und alphamäßig. Also begnügte er sich mit »in Ordnung«, und alle schienen zufrieden. Die dritte unangenehme Nachricht kam gegen Ende der Bespre chung. Wieder war Blake der Bote: »Und halt ein Auge auf den Be legschaftsservice. Der neue Abteilungsleiter, Roger Jefferson, hat einen Haufen neue Ideen.« Dabei ging es um irgendetwas Konkre tes, doch Jones, der gerade seine Aktentasche voll packte und an das Netzwerk dachte, hatte es nicht mitbekommen. Als er aufsah, be merkte er, dass ihn Blake mit einem leisen, herablassenden Lächeln beobachtete. Da wurde Jones klar, dass ihm aus Gründen, die er noch nicht kannte, ein ganz beschissener Tag bevorstand. Als er in der Bürozelle eintrifft, findet er sofort heraus, warum. Freddy und Elizabeth sind mitten in einer lebhaften Diskussion. Es ist so beengt, dass sich ihre Knie fast berühren. Freddy schüttelt nachdrücklich den Kopf. »Nein, nein, nein. Jones, komm mal her. Ich brauch deine Unterstützung.«
»Freddy, ich weiß, worauf du hinauswillst«, sagt Elizabeth. »Aber wir können einfach nichts dagegen machen. Es gibt keine andere Möglichkeit.« »Was ist denn los?« Freddy wedelt mit einer gedruckten Mitteilung durch die Luft. »Schau dir das an! Roger nennt es ›Rechenschaftsprogramm‹. Ab sofort müssen wir für alles zahlen. Unsere Schreibtische, unsere Computer — er stellt sie uns in Rechnung. Er macht uns persönlich verantwortlich für die Ausgaben der Abteilung!« »Da gibt es bestimmt einen Run auf Bürostühle«, sinniert Eliza beth. »Wir sollten uns damit eindecken. Vielleicht können wir sie mit einem Aufschlag an andere Angestellte weiterverkaufen.« »Wenn im Belegschaftsservice Aufträge eingehen, müssen wir ein Angebot vorlegen. Das günstigste Angebot bekommt den Zuschlag. Und wir müssen alle Kosten selbst tragen! Er macht uns zu Subun ternehmern!« »Oh«, meint Jones. »Das klingt schlecht.« Freddy scharrt sich mit dem Handballen über die Stirn. »Ich wollte immer nur einen kleinen Job ohne Rechenschaftspflicht. Irgendeine Stelle, wo ich mehr oder weniger machen kann, was man mir sagt, und wo ich mich nicht jeden Tag fragen muss, ob es vielleicht mein letzter sein wird. Ist das zu viel verlangt?« »Was ist denn los?« Holly taucht neben Jones auf. »Holly, hilf mir bitte. Ist dieses Rechenschaftsprogramm etwa nicht die größte Scheiße, die uns jemals um die Ohren geflogen ist?« »Ähm ... nein, ich finde es in Ordnung.« Freddy gafft sie an. »In Ordnung? In Ordnung?«
»Warum sollen wir nicht für unsere Ausgaben verantwortlich sein? Du kennst doch Lianne. Sie fotokopiert jedes Mal zehn Seiten oder so, bis sie es richtig hinkriegt. Und dieser Typ in der Beschaf fung, der den ganzen Tag nur E-Mail-Witze verschickt hat. Wieso soll ich solche Leute subventionieren?« »Subventionieren? Seit wann redest du wie eine Managerin?« Holly wechselt das Standbein. Freddy stöhnt auf. »O nein.« »Ich bin jetzt für den Fitnessraum zuständig.« Sie leckt sich die Lippen. »Ich weiß nicht, ob ich noch hier sitzen werde oder nicht, aber ... ich leite jetzt den Fitnessraum.« Freddy sackt in sich zusammen. »Das ist eine Katastrophe.« Holly ist eingeschnappt. »Mann! Danke für die Glückwünsche. Erinnert mich daran, dass ich mich freue, wenn ihr eure neuen Auf gaben kriegt.« »Niemand kriegt eine neue Aufgabe.« Elizabeths Stimme klingt dumpf. »Nur du.« »Oh«, macht Holly. »Oh«, macht Freddy. »Genau. Und da fragt man sich doch, warum Holly diese Sonderbehandlung von Roger bekommt. Lass mich nachdenken. Hmm.« Holly reißt die Augen auf. »Ja? Warum?« »Doch nicht etwa, weil du ihm etwas über einen bestimmten Do nut erzählt hast?« Elizabeths Blick schnellt zu Holly. Holly läuft rot an. »O Gott«, ächzt Elizabeth.
»Er hätte es doch sowieso rausgefunden.« Hollys Stimme wird lauter. »Ehrlich, Elizabeth, es tut mir leid, aber er hätte es sowieso rausgefunden. Er ist besessen.« Plötzlich dröhnt ein Hupton durch den Raum. Die Glühbirne in dem Deckenkäfig erwacht zum Leben und wirft wirbelnde Licht kaskaden über die Bürozellen. Im Nu ähnelt der elfte Stock einer großen Straßenbaustelle. Jones fährt zusammen. »Was ist das denn?« Alle spähen über die Zellenwände. Zwischen den blendenden orangefarbenen Blitzen sehen sie den Fernsehschirm:
ANGEBOTSAUSSCHREIBUNG AUFTRAG NR. 0000001 AUFGABE
Neuverteilung und Versteigerung von Büroraum
(elfter Stock)
NÄHERES ZU ERFRAGEN BEIM SEKRETARIAT BELEGSCHAFTSSERVICE »Arbeit.« Freddys Stimme zittert. »Arbeit.« Vorsichtig schlüpfen die Angestellten aus ihren Bürozellen und starren auf den Monitor. Dann steuern sie mit misstrauischen Sei tenblicken auf Rogers Sekretär zu. »Sieh sie dir an!« Freddy schaut ihnen mit angeekelter Miene nach. »Alle bereit, sich für einen Hungerlohn gegenseitig auszubooten. Wisst ihr was, ich biete nicht mit. Früher haben wir doch immer
zusammengehalten, ist das auf einmal nichts mehr wert? Was ist mit der berühmten Teamarbeit?« Er bedenkt Holly mit einem gifti gen Blick. Holly schnaubt durch die Nase. »Hey, weißt du, was mir Roger erzählt hat? Er hat gesagt, so was wie Teamarbeit gibt's gar nicht. Alles Schwindel. Das Unternehmen befördert keine Teams. Wenn du vorankommen willst, musst du alle anderen abservieren und kannst dich nur um dich selbst kümmern. Kollegen sind Konkur renten. Roger hat mir die Augen geöffnet: In einem Team gibt es kein Ich, aber es gibt auch kein Du!« Alle schweigen. Holly atmet schwer. Ihre Wangen sind erhitzt. »Aber ... es tut mir wirklich leid, Elizabeth.« »Vielleicht kann er es jetzt endlich vergessen.« Elizabeth sieht ihr nicht in die Augen. Holly schöpft Hoffnung. »Bestimmt. Ehrlich, das würde mich nicht überraschen.« Freddy starrt sie an. »Das wird schon alles wieder in Ordnung kommen, sicher.« Hol lys Stimme klingt so flehend, dass Jones den Blick abwenden muss.
Unten im Empfang hat Gretel von den blinkenden Lämpchen ihrer Schalttafel Migräne gekriegt. Eigentlich wollte sie heute gar nicht kommen. Am Morgen meldete sie sich krank, doch die Frau aus der
Abteilung Personalwesen und Kapitalsicherung sog geräuschvoll die Luft durch die Zähne. »Oje ...« »Was ist denn?«, antwortete Gretel, und plötzlich hörte sie den Verkehrsbericht über die Interstate 5. Im Schlafanzug saß sie auf der Bettkante und schloss die Augen. Neben ihr schlief ihr Freund, eine Hand auf ihrem Schenkel. Dann kam die Stimme zurück. »Gretel, ich stelle Sie mal durch, okay?« »Ich ...«Wieder hatte sie den Radiosender im Ohr. Sie wartete. »Gretel?« Eine Männerstimme, laut und quälend munter. »Jim Davidson. Was höre ich da, Sie sind heute nicht ganz auf der Hö he?« Jim ist für Krankheitsfälle zuständig. »Ja, tut mir leid, Jim. Ich füh le mich ganz schrecklich.« »Das tut mir aber leid.« Sein Ton blieb völlig unverändert. Es klang, als würden sie sich gemeinsam über einen Witz amüsieren. »Bedauerlicherweise bringt uns das ziemlich in die Bredouille.« Gretel umklammerte das Telefon. »Eve macht es doch bestimmt nichts aus, mal einen Tag für mich einzuspringen.« Das war eine Lüge. Es machte Eve garantiert was aus. Aber es würde sie auch nicht umbringen, und nach dem Montag mit dem Belagerungszu stand am Empfang, als Eve nirgends zu sehen war und Gretel alles allein ausbaden musste, hatte es Eve auch nicht anders verdient. »Ja, sicher — aber Eve hat sich leider vor zehn Minuten krank ge meldet.« Und jetzt drückt Gretel auf Tasten, in ihrem Schädel wummert es, und unter ihren Achseln sammelt sich die Nässe. Warum das Per sonalwesen keine Vertretung einstellen kann, ist ihr völlig schleier
haft. Und auch, warum das Ganze jetzt an ihr hängen bleibt. Jim hat es ihr erklärt. Ausführlich schwadronierte er mit dieser fröhlichen, zähneknackenden Stimme über die Turbulenzen nach der Kon solidierung: Wie schwer es wäre, jetzt schon wieder mit einer Krise konfrontiert zu werden, zumal alle Leute, die Gretel vielleicht einen Tag lang hätten ersetzen können, gerade gefeuert worden waren. Nach zwei Minuten erklärte sich Gretel bereit zu kommen, nur um sein Gelaber nicht mehr ertragen zu müssen. Doch sie hätte nicht nachgeben sollen. Wie gestern und vorgestern schon ist ihre Schalttafel vollkommen überfordert, weil das halbe Unternehmen den Job gewechselt hat und niemand mehr die Nummern der anderen kennt. Die Abteilung Personalwesen und Kapitalsicherung hat ein neues Verzeichnis versprochen, doch erst in zwei Wochen — was nach Gretels Erfahrung heißt, dass es erst in eineinhalb Monaten mit zahlreichen Tippfehlern und in einer viel zu geringen Stückzahl erscheinen wird. Dazu kommt, dass alle An ruferkennungen falsch sind, da es keine IT-Abteilung gibt, die die Telefone auf den neuesten Stand bringt. Es muss eine zusätzliche Nummer gewählt werden, um Angestellte außerhalb der eigenen Abteilung zu erreichen, also kann Gretel erst dann eine Verbindung herstellen, wenn sie weiß, woher der Anruf kommt. Das verstehen die Mitarbeiter nicht, und Gretel hat an diesem Vormittag bereits zweihundert Gespräche der folgenden Art geführt: »Guten Morgen, hier der Empfang.« »Hi, können Sie mir Kevin Dawsons neue Nummer geben? Er war im Marketing ... ich bin mir nicht sicher, wie das jetzt heißt.« »Können Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Abteilung nennen?«
»Ahm ... Kevin Dawson? Vom Marketing?« »Nein, nicht den Namen des Kollegen, den Sie erreichen wollen. Ihren Namen.« »Oh. Geoff Silvio.« »Abteilung?« »Ja, ich glaube, es heißt jetzt Treasury.« »Einen Augenblick bitte, Geoff.« Währenddessen wirft ihr die Schalttafel eine volle Wand von ge lben Lichtern entgegen und informiert sie darüber, dass bereits zwölf weitere Unterhaltungen dieser Sorte anstehen. Um elf Uhr muss sie schon so dringend auf die Toilette, dass sie buchstäblich durch die Halle sprintet. Als sie wieder herauskommt, spaziert ein Typ aus dem Vorstand an der Empfangstheke vorbei, bemerkt die vielen blinkenden Lichter und wirft ihr einen stirnrunzelnden Blick zu. Ungefähr um halb eins wird Gretel klar, dass sie wieder keine Chance auf eine Mittagspause hat. Der Ansturm von Anrufen lässt nicht im Geringsten nach. Allmählich gleitet sie in einen abge stumpften, roboterhaften Zustand ab, in dem Mund und Finger sich sofort bewegen und das Gehirn erst eine Sekunde später reagiert. Immer wieder drückt sie auf DURCHSTELLEN, um ein Gespräch zu beenden und das nächste entgegenzunehmen. »Guten Tag, hier der Empfang.« »Ich bin's.« »Ja, hallo«, faucht sie. »Ich muss wissen, wer Sie sind und von wo Sie anrufen, damit ich Sie verbinden kann.« Es folgt eine überraschte Pause. »Gretel, ich bin's, Sam.«
Sam ist ihr Freund. Ihr Kiefer klappt nach unten.
Sie schlägt die Hände vors Gesicht und bricht in Tränen aus.
Ist Roger ein schlechter Mensch? Eine schwierige Frage, um die im Augenblick Elizabeths sämtliche Gedanken kreisen. Er ist kleinlich, ja. Er ist intrigant. Er ist arrogant und unsicher, eine furchtbare Mi schung. Bis auf ihre körperliche Begegnung, die nur kurz und un persönlich war, hat er ihr nie irgendwelche Zuneigung gezeigt. Manchmal, wenn sie ihn anschaut, möchte sie ihm am liebsten sein gepflegtes braunes Haar ausreißen und es ihm in den Mund stop fen. Sie hat davon gehört, dass Frauen in der Schwangerschaft Gelüste nach seltsamen Speisen haben, nach abstoßenden Mischungen wie Eiscreme und Essiggurken. Nun, Elizabeths Gelüste richten sich auf Roger. Sie sehnt sich danach, dass er sie in die Arme schließt. Allein schon der Gedanke daran bringt sie zum Wimmern. Elizabeth war schon so oft verliebt, dass sie es nicht mehr zählen kann, aber bisher hat sie ihr Sehnen noch nie als körperliche Kraft empfunden. Wenn Roger sie darum bitten würde, würde sich Elizabeth sofort nackt ausziehen und es auf dem orangeschwarzen Teppichboden mit ihm treiben. Die Hände zu Fäusten geballt sitzt sie an ihrem Schreibtisch und versucht, ihren Körper zur Vernunft zu bringen. Es gibt viele logi
sche Gründe, weshalb sie Roger nicht begehren sollte, und stumm führt sie jeden einzelnen von ihnen ins Feld. Doch keiner bleibt haf ten, alle werden weggespült von der reißenden, reichen Hormonflut in ihr. Der rationale Teil in ihr, der Teil, der Schulungspakete ver kauft hat, treibt haltlos dahin auf einem Meer der Emotionen. Was weißt denn du schon?, fragt das Meer. Kümmer du dich um deine Arbeit. Und um deine Prioritäten. Danke für deine Meinungsäußerung, aber ab sofort übernehme ich. Sie muss zugeben, dass ihr Körper gar nicht so Unrecht hat. Aber Roger! Warum, warum ausgerechnet Roger? Kann ihr Körper ver borgene Tiefen in ihm erkennen? Sie nicht. Sie fleht ihren Körper an, sich anders zu besinnen.
Das Netzwerk wieder in Gang zu bringen ist leichter, als Jones er wartet hat. Zuerst überlegt er, welche Abteilung logischerweise die Informationstechnologie in die Hand nehmen sollte. Seine, wie er findet: der Belegschaftsservice. Also klopft er an Rogers Tür und legt ihm die Idee vor. Roger hört ihm schweigend zu, dann dreht er sich in seinem Stuhl und blickt eine Weile zum Fenster hinaus. Jones hat keine Ahnung, ob Roger wirklich tief in Gedanken ist oder nur eine Pose einnimmt, aber es macht ihm nichts aus, ein wenig zu warten. Nach einer Minute kreiselt Roger zurück. »Das würde für unsere Abteilung einen erheblichen Investitionsaufwand bedeuten.«
»Wahrscheinlich.« »Wie du weißt, möchte ich, dass meine Mitarbeiter mehr Einzel verantwortung für die Ausgaben übernehmen. Dein Vorschlag steht im Widerspruch zu diesem Bemühen.« Er presst die Finger anei nander. »Ich kann es im Grunde nur so machen, dass ich dir das Geld leihe.« Jones blinzelt. »Wie soll ich das zurückzahlen? Was, du meinst, ich soll den anderen Abteilungen die Nutzung des Netzwerks persön lich in Rechnung stellen?« Roger lächelt. »Na na, nur nicht übertreiben. Ich will nicht die Einnahmen externalisieren, sondern die Kosten.« »Dann ...« »Ich bin bereit, dich mit Lizenzgebühren am Erlös aus der Netz werkvermietung zu beteiligen — bis zu einer gewissen Obergrenze, versteht sich.« »Also ... ich bin für alle Kosten verantwortlich, kriege aber nur ei nen Prozentsatz der Einnahmen?« »Über die genauen Zahlen müssen wir noch verhandeln«, erklärt Roger. »Aber ehrlich gesagt, wenn dir das nicht passt, ich habe hier eine ganze Abteilung voller Mitarbeiter, die für so einen Job über Leichen gehen würden.« »Hey!« Jones kommt die Galle hoch. »Der Aufbau des Netzwerks ist meine Idee.« »Deswegen bist du der Erste, dem ich das anbiete.« Jones macht den Mund auf, um zu protestieren, dann fällt ihm ein, dass er nicht hier ist, um sich bei Roger sein Geld zu verdienen. Er ist hier, weil Alpha ein Netzwerk will. »Okay, okay.«
»Du brauchst bestimmt Hilfe bei so einem großen Job. Du solltest dir Kollegen aus dem Belegschaftsservice als Subauftragnehmer holen.« »Mach ich.« Jones hat nicht die Absicht, mit Kabeln und Compu tern rumzudoktern. »Und gib die Arbeiten nicht nur deinen Freunden«, warnt ihn Ro ger. »Die Leute werden sich mehr reinhängen, wenn sie erst um den Auftrag kämpfen müssen. Nur ein Ratschlag.« »Danke, Roger.« Jones verabschiedet sich.
Er überträgt Freddy die Aufgabe, die Abteilung nach Leuten zu durchforsten, die irgendwas über Computer wissen, und lässt sich an seinem Platz nieder, um IT-Beratungen anzurufen. Nach jedem Gespräch streicht er den Namen durch, wenn sie ihm etwas andre hen wollten, wonach er nicht gefragt hat, oder öfter als dreimal das Wort »Lösungen« benutzt haben. Eine Stunde später findet er einen Typ namens Alex Domini, der wohl eine Ein-Mann-Firma betreibt, und vereinbart einen Termin für morgen. SeinVoicemail-Lämpchen blinkt, und als er wählt, findet er eine Nachricht von Sydney vor. »Ah, Jones? Kannst du ... ja, ich komme gleich zu Ihnen. Bleiben Sie einfach, wo Sie sind, ja? Jones, komm runter zum Empfang, für dich ist ein Paket abgegeben worden. Also, jetzt hören Sie mal...« Es klickt in der Leitung.
Jones legt den Hörer weg. Es kann doch nicht sein, dass Sydney jetzt in der Rezeption arbeitet, oder? Aber eine Aufzugfahrt später stellt er fest, dass es tatsächlich so ist. Fast unsichtbar hinter dem riesigen orangefarbenen Schreibtisch hält sie ein halbes Dutzend Mitarbeiter in Schach und schnauzt in das Headset. Der Anblick ist so unglaublich, dass Jones gaffend stehen bleibt. »Gretel ist weg«, sagt eine Stimme. Er dreht sich um und sieht Klausman, der mit einem Mopp in der Hand dasteht. Jones staunt. Das muss er Klausman wirklich lassen: In dieser Hausmeisterver kleidung ist er praktisch unsichtbar. Es ist eine psychologische Sa che. Aus den Augenwinkeln siehst du einen grauen Overall, und dann machst du dir nicht mehr die Mühe, näher hinzugucken. »Sie ist gerade rausgerauscht. Das Personalwesen musste einen Ersatz für sie runterschicken.« »Gretel hat hingeschmissen?« Klausman zuckt die Achseln. »Hat sie nicht gesagt. Aber das be eindruckt mich nicht, Jones. Überhaupt nicht. Wir wollen hier einen effizienten Laden betreiben. Da können wir keine unzuverlässigen Mitarbeiter gebrauchen. Das wirft doch das ganze System aus der Bahn.« Jones schielt wieder nach hinten zu Sydney. Es sieht nicht so aus, als würde er die Empfangstheke in nächster Zeit erreichen. »So was passiert wahrscheinlich, wenn das System keine Reserven mehr hat.« Klausman überlegt. »Vielleicht. Hmm. Sollten wir mal überprüfen. Es wäre wirklich paradox, wenn sich nach all diesen Rationalisie
rungsbemühungen herausstellen würde, dass Hypereffizienz kont raproduktiv ist.« »Allerdings.« Klausman beobachtet Sydney bei ihrem Kampf mit der Telefonan lage. »Es bricht mir das Herz, wenn ich mit ansehen muss, wie das System versagt. Wissen Sie, worauf es allen Unternehmen an kommt, Jones? Aufs Externalisieren. Ein leistungsstarkes Unter nehmen muss wie ein gesunder menschlicher Körper sein: Nahrung aus der Umwelt aufnehmen und Abfall in sie abgeben. Einkom mensquellen sind unsere Nahrung und Kostenquellen unser Ab fall.« »Dann .. .«Jones zögert kurz.»... könnte man also sagen, dass Ze phyr Geld frisst und Kosten ausscheißt?« Klausman lacht. »Sie sind wahrscheinlich noch zu jung, um sich an so was zu erinnern, Jones, aber es hat mal eine Zeit gegeben, da hat einem jemand das Auto vollgetankt. Ein Junge hat einem die Ein käufe zum Wagen getragen. Es hat mal eine Zeit gegeben, da mus ste man praktisch nie in einer Schlange stehen, außer vielleicht bei einer öffentlichen Verwaltung. Aber Arbeitskräfte sind eine Kosten quelle, also haben die Unternehmen sie externalisiert. Sie haben sie ausgeschissen, wie Sie das so treffend ausgedrückt haben. Und die se Kosten sind genau dort gelandet, wo sie hingehören: bei den Kunden.« »Und bei den verbliebenen Angestellten.« »Sehr richtig. Sehr richtig. Daher auch das Motto: Weniger ist mehr. Offen gesagt, Jones, ich würde mir mehr solche Mitarbeiter wie Sie wünschen. Oder besser, ich würde mir weniger Mitarbeiter
wünschen, die nicht sind wie Sie. Sie wissen, was ich meine. Sie sind einfach eine Ausnahme. Uniabgänger sind in der Regel Idioten. Enthusiastische Idioten, sicher, aber das macht die Sache auch nicht besser. Wenn überhaupt, wird das Problem dadurch nur noch ver schärft.« Er kratzt sich an der Nase. »Ich überlege mir, ob ich das Praktikantenprogramm nicht ganz streichen soll. Es heißt immer, das Programm bringt uns neue Ideen, aber es sind doch hauptsäch lich blöde Ideen. Meiner Meinung nach ist das Gehirn eines Mannes erst ab vierzig reif für ein Unternehmen. Oder das Gehirn einer Frau. Da darf man nicht sexistisch sein. Aber das ist natürlich auch ein Problem — wenn sie dann nämlich gute Ideen haben, sind sie zu träge, um sie umzusetzen.« Klausman sinniert schweigend. »Jeden falls, worauf ich hinauswollte, Jones, Sie haben eine große Zukunft hier. Kann mir gut vorstellen, dass Sie eines Tages den Laden hier schmeißen. Nicht in nächster Zeit natürlich.« Er zwinkert. »Aber eines Tages.« »Jones? Jones?« Sydneys Stimme ist unüberhörbar. Klausman hat sich bereits umgedreht und wischt den Boden. Jones setzt sich in Bewegung. »Hi.« »Das da hab ich in Empfang genommen.« Sydney schiebt eine Ku riersendung über den Tisch und starrt ihn dabei böse an — ob we gen des Pakets, wegen ihrer neuen Aufgabe oder einfach nur aus einer grundsätzlichen Einstellung heraus, kann Jones nicht erken nen. »Entschuldigung. Danke.« Er reißt das Paket auf. Drinnen befindet sich eine eingeschweißte Schachtel, auf der NOKIA 6225 steht, und eine scheckkartengroße SIM-Karte. Es ist keine Notiz beigelegt.
»Hey, neues Handy«, quäkt ein Mann neben ihm. »Wo hast du denn das her?« Jones hat keine Ahnung. Mit einem verträumten Ausdruck wendet sich der Mann an Sydney. »Haben Sie für mich auch so eins?« » Was?«, keift Sydney, die das Ganze nicht mitbekommen hat. Jo nes nutzt die Gelegenheit, um sich mit seinem Paket in die Besu cherecke zu verkrümeln und sich zu setzen. Als er erfolgreich alles ausgewickelt und zusammengesetzt hat, wird er mit einem kleinen Trickfilm, einer freundlichen Melodie und folgender Mitteilung belohnt: Sie haben 1 neue SMS. Einiges Tastengefummel später kann er sie abrufen. Sie lautet: BIN KRANK + MIR IST LANGWEILIG. RUF AN.
Als er wieder auf den Aufzug zusteuert, schwenken Klausman und sein Mopp in seine Richtung. Jones' Herz schlägt schneller. Auf einmal ist er sicher, dass ihn Klausman in die Mangel nehmen wird wegen dieses Handys, das er aus irgendeinem Grund nicht haben dürfte. Seine Finger krampfen sich um das Paket. Sein Gehirn spuckt eine Unmenge absurder Ratschläge aus wie: Sag ihm bloß nicht, dass es von Eve ist. Doch dann öffnen sich die Türen, und aus dem Aufzug strömt ein laut lachender Pulk von Anzugträgern. Während sie durch die Halle gehen, klebt Klausmans Blick am Bo den. Jones steigt in den leeren Lift. Als sich die Türen geschlossen haben, erinnert er sich wieder an seine Fähigkeit zu atmen. Zitternd lacht er über seine übertriebene Reaktion. Anscheinend wird er all mählich entweder paranoid oder hellsichtig. Dummerweise weiß er nicht, was von beidem.
»Hallo?« »Ich bin's.« »Ah! Jo ... Sekunde ... tschooh! O Gott, entschuldige. Schön, deine Stimme zu hören.« »Du klingst wie eine Leiche.« »Noch nicht ganz. Bloß ... ziemlich ... verschleimt.« »Soll ich vorbeikommen?« Er wartet. Er kann nicht glauben, dass er diesen Vorschlag gemacht hat. »Entschuldige bitte, was hast du gesagt?« Rascheln in der Leitung. »O Gott, das war mein letztes Taschentuch.« »Ich komm zu dir. Ich bring dir Taschentücher mit.« »Oh ... Jones. Das ist wirklich lieb von dir, aber ... ich sehe nicht unbedingt blendend aus.« »Macht nichts.« »Meine Augen sind geschwollen, meine Haut ist fettig, meine Na se ist rot — ganz zu schweigen davon, dass sie läuft...« »Deswegen brauchst du ja Taschentücher.« Schweigen. »Willst du wirklich kommen?« »Ja.« »Auch wenn ich aussehe, als hätten sie mich gerade aus gebuddelt?« »Klar.«
Sie fängt an zu lachen, dann wird ein Hustenanfall daraus. »Jones, du bist was Besonderes.« »Komm schon, gib mir deine Adresse.« »Also gut, aber ich hab dich gewarnt.« Er ist nicht übermäßig verwundert, dass sich Eves Adresse als ein schlanker, moderner Bau mit Blick auf die Bucht erweist. Ihre Woh nung liegt ganz oben und ist mit einem eigenen Aufzug erreichbar — auch das keine Überraschung. Er drückt auf die Taste mit ihrem Namen. Während eine leichte Brise an seinem Hemd zupft, lässt er sich ein bisschen durch den Kopf gehen, was er da eigentlich macht. Wichtig sind jetzt erst einmal ein paar Grundregeln. Ja, er besucht Eve. Und ja, er findet sie anziehend. Alles schön und gut, solange er richtig damit umgeht. Kein Flirten. Keine Berührungen. Er wird nicht über Ereignisse aus seiner Vergangenheit reden, vor allem nicht über solche der romantischen Art. Er wird aufpassen, dass die Unterhaltung in der Spur bleibt, und er wird Eve dazu bringen, über Alpha zu reden, damit er erfährt, wie er das Projekt zu Fall bringen kann. »Hallo?«, ächzt es aus der Sprechanlage. »Ich bin's.« Die Tür vor ihm macht klack. Er drückt sie auf und fährt im Auf zug zur Etage P, die Abkürzung für Penthouse, wie Jones vermutet. Er öffnet sich auf einen zwei Meter langen Flur mit einer Tür am Ende, und als Jones sich nähert, macht auch diese Tür klack. Er dreht den Griff und betritt Eves Apartment. Er hat einen riesigen, lichterfüllten Raum mit ultramodernen Mö beln in fein abgestimmten Farben erwartet. Und er behält zur Hälfte
Recht: Es ist wirklich groß. Und auch die Sonne scheint von jenseits der Bucht durch die zimmerhohen Fenster herein. Doch der Raum ist praktisch leer. Das Mobiliar besteht aus einem einzigen, einsam wirkenden Tisch mitten auf dem Teppich und ein paar Holzstühlen. Ein riesiger Fernseher steht auf dem Boden. Ihm gegenüber kein Sofa, sondern eine schwammartige Matte. Nach kurzer Überlegung steigt Jones eine Wendeltreppe hinauf— vorbei an einem gigantischen stilisierten Gemälde der Skyline von Seattle, das auch dieses Haus abbildet, falls ihn seine geografischen Kenntnisse nicht trügen. Dann fällt sein Blick auf eine bunte Spiege lung im Fenster. Er dreht sich um und steht vor einem begehbaren Schrank voller Kleider und Schuhe. Der Schrank ist locker so groß wie Jones' Schlafzimmer. Auf bei den Seiten befinden sich Gestelle, die über und über vollgestopft sind mit Hosen, Röcken, Kleidern und Jacken. Mindestens die Hälf te davon haben noch Etiketten mit Namen wie Balenciaga, Chloe, Prada, Rodriguez dran — aus denen Jones relativ wenig schließen kann, außer, dass sie teuer sind. An der hinteren Seite türmt sich eine Wand von Schachteln auf, und als Jones näher tritt, sieht er, dass an jeder von ihnen ein Polaroidfoto von einem Paar Schuhe hängt. Er ist sprachlos. Hier stapeln sich so viele Klamotten, dass sich Eve mindestens zwei Jahre lang jeden Tag in eine andere Kluft schmeißen kann. »Jones?« Er verlässt den Schrank und findet nebenan die Schlafzimmertür. Drinnen hat sich Eve, blass und mit trüben Augen, in einem dünnen Nachthemd auf ein riesiges Bett drapiert. Die Vorhänge sind zuge
zogen, und die Lampen brennen. Da es in diesem Zimmer Möbel gibt, brennen sie auf Nachttischen. An der hinteren Wand glänzt neben einer von zwei großen Holzkommoden ein hoher Spiegel. Auch hier sind Schränke. In einer Ecke des Zimmers türmt sich ein Haufen zerknüllter Taschentücher, was darauf schließen lässt, dass Eve vor kurzem aufgestanden ist und sie dorthin gefegt hat. »Entschuldige«, krächzt sie. »Ich hoffe, es ist dir nicht un angenehm.« »In meiner Arbeit sehe ich Schlimmeres.« Er hält ihr die Taschen tücher hin — acht Schachteln, weil Eve nur diese bestimmte Marke wollte, die in winzigen, wunderschön aufgemachten Verpackungen verkauft wird. Er ist ein wenig erleichtert, dass Eve wirklich krank ist, denn so wird es ihm leichter fallen, sich an seine Grundregeln zu halten. Zugleich ist er aber auch etwas enttäuscht. »Das ist wirklich sehr lieb, dass du extra vorbeischaust.« Ihr Lä cheln ist ungewöhnlich breit, fast schon dämlich. »Bist du high?« »Ich hab mehrere Grippetabletten genommen, nachdem du gesagt hast, du kommst.« »Was heißt mehrere?« »Ich wollte munter sein für dich.« Wieder wabbelt das Lächeln über ihr Gesicht. Ihre Pupillen sind riesig. Zuerst hat er gemeint, es ist das schummrige Licht. Sie gleitet ein wenig tiefer in die Kissen und legt die Hände über dem Kopf zusammen. Jones findet diese Pose ziemlich aufreizend. »Komm, setz dich zu mir.« »Äh ... nein, ich steh ganz gut.« »Du kannst doch nicht einfach stehen bleiben.«
»Wie viel sind diese ganzen Kleider wert?«, fragt er. »Ich weiß nicht. Hab's nicht zusammengezählt.« »Das muss doch ...« Er fängt an, im Kopf zu rechnen, dann merkt er, dass ein absolut wahnwitziger Betrag herauskommen wird. »Wann willst du denn das ganze Zeug anziehen?« »Es geht doch nicht nicht nur ums Anziehen. Es geht auch ums Kaufen und ums Haben. Jetzt komm schon, setz dich.« Er bleibt auf den Beinen. »Fass das bitte nicht falsch auf, aber hast du schon mal drüber nachgedacht, dir einen Therapeuten zu su chen?« »Ich gehe regelmäßig zu einem Therapeuten. Aber ich darf dir nicht erzählen, worüber wir reden.« »Oh, verstehe. Moment, du darfst speziell mir nichts erzählen?« »Genau.« »Warum nicht?« »Kann ich dir nicht sagen.« Jones atmet hörbar aus. »Er meint, du verstehst es nicht.« »Ich überlege gerade, warum du mit deinem Therapeuten über mich sprichst.« »Weil du mir wichtig bist, Jones.« Sie putzt sich die Nase. »Mein Gott, vielen Dank für die Taschentücher.« Er starrt sie an. »Wenn du es mir nicht sagen willst, dann ...« »Er meint, du bist so eine Art Mutterfigur für mich.« Jones setzt sich aufs Bett. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, fährt Eve fort. »Mutterfigur? Aber es hat nichts mit Sex zu tun. Nur mit Rollen.« Sie macht eine Pause,
falls Jones etwas anmerken möchte. »Mein Dad ist ein Loser, ganz anders als du. Mom war bei uns die Strenge.« »Du hältst mich für streng?« »Dr. Franks — mein Therapeut — meint, du erfüllst ein Bedürfnis nach moralischer Orientierung, die mir fehlt, seit ich von zu Hause weg bin.« »Ich finde das ziemlich beunruhigend.« »Es ist eigentlich sogar ein Kompliment. Es zeigt, wie sehr ich zu dir aufblicke.« »Ich dachte, du magst deine Mom überhaupt nicht.« »Stimmt.« »Jetzt bin ich ganz verwirrt.« »Vielleicht solltest du mal zu Dr. Franks gehen«, schlägt Eve vor. »Er ist wirklich gut.« Jones steht wieder auf. »Hast du mir das Telefon geschickt, weil du krank bist und von deiner Mom gepflegt werden willst?« Eve lacht. Dann niest sie und lacht weiter. »Du bist so was von witzig. Das muss ich Dr. Franks erzählen. Jones —jetzt komm schon, setz dich. Setz dich her.« Sie wartet, bis er ihrer Bitte nach kommt. Dann gehen ihre Mundwinkel nach oben. »Küss mich.« »Was?« »Machst du dir Sorgen wegen dem Virus? Du bist doch kein Wei chei.« »Eve, ich will dich nicht küssen.« »Warum nicht?« »Weil... es wäre keine gute Idee.« »Ich kann dir versichern, dass ich dich nicht als meine Mom sehe.«
»Fein, hab verstanden. Aber trotzdem.« »Es ist, weil ich krank und hässlich bin.« Das ist keine Frage. Ihr Gesicht knautscht sich zusammen. »Eve, du bist sehr attraktiv. Auch wenn dir ein Stück Taschentuch an der Nase klebt.« Sie reibt sich die Nase und begutachtet ihren Finger. »Wie pein lich.« »Du bist nicht hässlich«, sagt Jones mit fester Stimme. »Vertrau mir.« »Wie soll ich dir vertrauen? Du bist der neue Überfliegr bei Alpha. Vor ein paar Jahren war ich das.« Sie legt eine Hand auf die Brust. »Ich war der Überflieger. Und du willst mich nicht mal küssen. Wie soll ich da wissen, dass du mir nicht wehtun willst?« Jones ist verdattert. »Ich will dir nicht wehtun.« Als er es aus spricht, merkt er, dass er es ernst meint. Wie das zu seinen Sabota geabsichten gegen Alpha passen soll, ist ihm nicht so ganz klar. »Dann beweis es.« »Nein.« Sie niest. »Auf alle Fälle .. .«Jones paddelt verzweifelt, um in ruhigere Kon versationsgewässer zu gelangen. »Auf alle Fälle ist Krankheit ein Hauptgrund für Produktivitätseinbußen in einem Unternehmen. Als Alphaagentin solltest du das eigentlich wissen.« Sie wischt sich die Nase. »Weißt du eigentlich, wie das bei den Pfauen ist? Nur die Männchen haben diese bunten Schwanzfedern. Das Gen, das dafür verantwortlich ist, schwächt auch ihr Immunsy stem. Deswegen finden es die Weibchen so sexy. Nicht nur weil die
Farben so hübsch sind, sondern auch, weil sie zeigen, dass das Männchen selbst mit einem geschwächten Immunsystem stark ge nug ist, um Infektionen abzuwehren.« »Warum müssen immer alle Tiervergleiche verwenden?« Sie grinst. »Weil es ein Zoo ist. Ein großer Unternehmenszoo.« »Also, mir wachsen keine Federn aus dem Hintern. Und ich werde dich auch nicht küssen, bloß weil du eine lange Liste praktischer Gründe dafür hast.« »Ich bin nun mal eine praktische Frau.« Sie nickt. »Sehr, sehr prak tisch.« »Ist mir schon aufgefallen.« »Aber das heißt nicht, dass ich keine Gefühle habe, Jones. Ich habe auch einen nichtpraktischen Grund.« »Tatsächlich?« »Ja. Willst du ihn hören?« »Ich weiß nicht.« »Ja oder nein?« Jones zögert. Die korrekte Antwort hier lautet zweifellos nein. Ei gentlich sollte er sogar aufstehen und das Apartment verlassen. Doch aus seinem Mund kommt ein »Ja«. Sie lächelt. »Okay. Ich ...« Lachend senkt sie den Blick. »Jetzt bin ich verlegen.« »Vergiss es.« Er bereut seine Entscheidung bereits. Sie legt die Hand auf seine. »Ich will ganz ehrlich zu dir sein. Aber ... das ist wirklich Neuland für mich.« Sie richtet sich ein wenig auf und schiebt die Kissen zurecht. Als sie den Rücken durchstreckt, wandert Jones' Blick hilflos an die Stelle, wo sich unter dem Nacht
hemd ihre Brüste abzeichnen. Er reißt sich los, doch erst, als er sich bereits eingestehen muss, dass er in ernsten, ernsten Schwierigkei ten steckt. »Du hast also mit Blake geschlafen«, bemerkt er. Eve erstarrt. »Was?« Einerseits ist sein Ablenkungsmanöver ein voller Erfolg: Es be gräbt einen Großteil von Jones' alarmierenden Gefühlen unter sich und bringt ihn wieder ein wenig zur Besinnung. Andererseits fasst er es nicht, dass er gerade so einen Seifenopernspruch vom Stapel gelassen hat. Das muss der schädliche Einfluss von Blake sein: Er zieht die Leute auf sein Niveau herunter. »Du glaubst, ich habe mit Blake geschlafen?« »Und, stimmt es?« Sie scheint wie vor den Kopf geschlagen. »O Gott, wenn es nur so wäre.« Jones erhebt sich halb. »Ich muss jetzt gehen.« »Jones, nein! Ich meine, vor Jahren, da war ich mal in ihn ver knallt, aber es ist nichts draus geworden. Und jetzt will ich nicht mehr mit ihm schlafen. Ist auch gar nicht möglich, da wäre zu viel Konkurrenz im Spiel. Wir sind die zwei wichtigsten Leute bei Alpha nach Klausman. Man kann sich nicht auf jemanden einlassen, der auf dem gleichen Niveau ist. Es geht nur nach oben oder nach un ten.« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es genau umgekehrt ist.« Sie runzelt die Stirn. »Aber um befördert zu werden, muss doch der eine über den anderen steigen. Nein, nein, es ist viel sauberer, wenn von Anfang an klar ist, wer das Sagen hat.«
Irgendwie leuchtet ihm das ein. Jones fragt sich, ob er nicht den Bezug zur Realität verliert. Er macht sich klar, dass er gerade von einer Frau mit entzündetem Hals auf einem Bett voller benutzter Taschentücher verführt wird. Also lautet die Antwort wahrschein lich ja. »Vor einiger Zeit mussten alle Mitarbeiter von Zephyr diesen Wisch unterschreiben, Liebesvertrag hat es geheißen. Darin hat das Unternehmen jede Haftung für die Folgen eines Verhältnisses zwi schen Chef und Sekretärin ausgeschlossen. Ich sollte vielleicht bes ser sagen, Spätfolgen, also wenn das Verhältnis längst beendet war. Aber das hat nicht gereicht. Wir haben eine Beschwerde wegen se xueller Belästigung von einer Mitarbeiterin bekommen, die nicht belästigt wurde. Sie hat sich diskriminiert gefühlt mit der Begrün dung, dass es eine Vorzugsbehandlung darstellt, wenn sich ihre Kollegen miteinander treffen und sie als Einzige übergangen wird.« Eve verdreht die Augen. »Ich meine, das war wahrscheinlich wirk lich so, aber das Unternehmen hat ihr ja nicht verboten, sich mit Kollegen zu treffen. Wenn du mich fragst, war nur ihre schlechte Haut daran schuld. Doch inzwischen dürfen sich die Mitarbeiter von Zephyr sowieso nicht mehr miteinander treffen.« Sie beißt sich auf die Lippe. »Das gilt natürlich nicht für Alpha.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Unternehmen seinen An gestellten vorschreiben darf, mit wem sie Beziehungen eingehen.« »Du hast Recht, das ist natürlich gegen das Gesetz. Doch Zephyr verbietet ja nicht Beziehungen, sondern sexuelle Belästigung. Und Belästigung ist definiert als unerbetener Annäherungsversuch. Ver stehst du, du kannst niemanden zum Ausgehen einladen, außer er
fragt dich vorher. Und das kann er nicht, weil es sexuelle Belästi gung wäre.« Sie lächelt. »Das ist übrigens keine Erfindung von uns. Da ist Zephyr ganz allein draufgekommen. Das ist eben die Magie von Alpha.« Jones bleibt stumm. Was er gehört hat, hilft ihm. Es erinnert ihn daran, warum er Alpha sabotieren muss. Außerdem erklärt es auch, warum so viele Zephyrangestellte abgenagte Fingernägel haben. »Also«, setzt Eve wieder an. »Und was hat Blake noch so erzählt?« »Was er gesagt hat, war nicht gerade schmeichelhaft für dich.« »Ja, davon gehe ich aus. Ach, vergiss es. Blake ist mir so was von egal. Ich will gar nicht über ihn reden. Ich will über dich reden.« »Schon gut, du musst nicht...« Eve beugt sich vor und nimmt seine Hände. Jones' Satz endet mit einem Laut wie Aack. »Jones.« Im Lampenlicht wirken ihre Augen riesig: groß, dunkel, unergründlich. »Ich hab von Anfang an ge wusst, dass du intelligent bist. Wie du das mit Alpha so schnell rausgefunden hast... wirklich beeindruckend. Dann bei dieser Spa zierfahrt mit meinem Auto dachte ich, du bist ein Idiot. Ich war mir sicher, denn immer wenn die Leute mit Moral und Ethik daherkom men, geht's nur um Verschleierung. Sie machen sich Sorgen, was die anderen denken könnten, ob es legal ist, oder sie haben einfach so viel Angst, dass sie sich nicht entscheiden können. Aber du bist was Besonderes. Und jetzt hab ich auch rausgefunden, was an dir so besonders ist. Du bist ein guter Mensch.« Jones spürt, wie seine Au genbrauen nach oben zucken. »Du weißt wahrscheinlich nicht mal, wie selten das ist. Aber es ist wirklich selten. Für mich auf jeden Fall. Jeder Mann, den ich kenne, ist entweder clever und egoistisch
oder großzügig und dumm. Und ich mag diese Leute nicht, Jones. Typen wie Blake und Klausman, ich respektiere sie, aber ich mag sie nicht. Du ... du bist anders. Das klingt jetzt vielleicht blöd, aber ich schwör's dir, ich hab nicht mal gewusst, dass jemand so sein kann. Ich hab's nicht für möglich gehalten.« Erschrocken bemerkt Jones ein feuchtes Schimmern in ihren Augen. »Bei dir hab ich das Gefühl, dass mir was fehlt.« Sie zieht ein Taschentuch aus einer Schachtel und putzt sich die Nase. »Das soll jetzt nicht heißen, dass ich genau so sein will wie du. Das ist wahrscheinlich sowieso unmöglich. Aber ich will auch nicht, dass du so wirst wie die anderen. Du bist ein fach bewundernswert, Jones. Das spüre ich tief in mir. Du bist gut. Ich glaube ... wir könnten voneinander lernen. Ich glaube, wir brau chen einander. Ich glaube ...« Sie unterbricht sich. »Ich weiß es. Ich weiß, dass ich dich brauche. Ich brauche dich wirklich.« »O Mann.« In Jones' Gehirn schrillen überlaut die Alarmglocken. Seine Hände schwitzen. Seine Brust ist wie zugeschnürt. In seinem Kopf kollidieren vollkommen gegensätzliche Vorstellungen darü ber, was er als Nächstes tun soll. »Wenn du jetzt lachst«, droht sie, »bring ich dich um.« »Ich lache nicht.« »So was hab ich noch nie gemacht.« »Was?« »Ich meine, solche Sachen gesagt.« »Oh.« Jones ist erleichtert. »Ich sag nicht, dass ich noch Jungfrau bin.« »Das war mir klar.«
»Schon seit meinem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr. Aber das war nicht unbedingt freiwillig, und dann gab es erst wieder jemand, als ich zwanzig war. Man könnte also sagen, ich bin eine Spätzünd erin.« Sie lächelt über sein Gesicht. »Ach, Jones, du bist so süß, wenn du entsetzt bist.« »O Gott.« Mehr bringt er nicht mehr heraus. »Küss mich, bitte.« Er küsst sie. Ihre Lippen sind trocken und aufgesprungen. Und trotzdem: Als sie seine berühren, blitzt etwas Heißes, Gleißendes hinter seinen Augen auf. Vielleicht sind es seine Grundregeln. Jones hat sich die sen Moment schon viele Male vorgestellt, manchmal untätig, manchmal nicht so untätig, aber in keinem dieser Szenarien war Eve krank. Demnach müsste dies eigentlich einer der Fälle sein, in de nen der prosaische Stachel der Realität die Luft aus einer Phantasie entweichen lässt. Doch es ist nicht so. Sie zu küssen ist das Schönste, was er je erlebt hat. Sie schiebt die Hände in sein Hemd und will es von innen aufzie hen, aber es ist neu, und die Knöpfe geben nicht nach. Ihre Lippen kräuseln sich unter seinen; beide müssen lachen. Eve zieht ihr Nachthemd nicht aus, und irgendwann kommt Jones auf die Idee, dass das seine Aufgabe ist, und was ihm anfangs wie eine große Herausforderung erscheint, wird zu einer erstaunlichen Entdek kungsreise. Er küsst sie vom Nabel bis zur Schulter, und als er dort angekommen ist, packt sie sein Gesicht und ächzt: »Ich liebe dich!« »Ich liebe dich auch«, erwidert Jones, und das Schreckliche daran ist, dass es wahr ist.
Er schafft es fast ohne Geräusch zurück ins Bett, doch dann stößt er im Dunkeln mit der Hüfte an den freistehenden Spiegel. Er kommt an der Aufhängung ins Schwingen, ein Ende des Spiegels knallt gegen die Wand, das andere trifft ihn am Schienbein. »Auargh.« »Jo-o-ones?« »Tschuldige.« »Was machst du denn?« »Klo.« Er klettert zurück ins Bett. »Oh. Mmm.« Ihr Arm schlängelt sich über seine Brust. Ihr Kopf schmiegt sich an seine Schulter. »Ich dachte schon ... du willst da vonschleichen.« »Nein.« »Mmm.« Es klingt glücklich. Ihre Finger klammern sich um seinen Bizeps, lassen wieder locker. Für Jones, der seit einem Jahr Single ist, ist es das Paradies. In diesem Augenblick gibt es kein Zepyhr mehr. Kein Projekt Alpha. Keine ökonomische Herzlosigkeit und Gewinnmaximierung. Es gibt nur noch ihn und Eve. In den Kontu ren ihres Gesichts liegt keine Spur von Grausamkeit. Kein Hauch von Egoismus im Schwung ihres Haars. Die Welt ist vollkommen. Kapitel 12 von Das Omega-Managementsystem (»Besprechungen: die Guten, die Schlechten und die Überflüssigen«) verbreitet sich auf
mehreren Seiten über die Vorteile einer Frühstückskonferenz. Je früher, desto besser lautet die Devise des Wirtschaftsführers, weil Menschen am Morgen geistig am wachsten sind. Es ist ein beson ders guter Zeitpunkt, um scheinbar unüberwindbare Probleme in Angriff zu nehmen: Sie werden erstaunt sein, so heißt es in dem Buch, wie häufig eine Morgenbesprechung zu bahnbrechenden Lö sungen führt. Bei der ersten Lektüre war Jones eher skeptisch, doch jetzt weiß er, dass das Omegasystem goldrichtig liegt. Denn es ist halb sechs Uhr früh, und gerade ist ihm eingefallen, wie er Alpha in die Knie zwingen kann.
Q 4/3:
Dezember
Penny lässt sich auf den Stuhl im Cafe fallen und schaut ihn an. »Was ist denn mit dir los?« »Wieso?«, fragt Jones zurück. »Gar nichts.« »Du lächelst.« »Tatsächlich?« »Hast du Alpha zu Fall gebracht?« »Nein. Naja, ich hab da so eine Idee. Aber ich hab noch nichts ge macht.« »Oh. Du bist also umgeschwenkt.« »Was, umgeschwenkt?« Selbst er spürt jetzt das Lächeln auf sei nem Gesicht. »Zum Heulen«, findet Penny. »Ich bin enttäuscht von dir, Ste phen.« »Ob du's glaubst oder nicht, das macht mir gar nichts aus.« Jones lacht.
Am Dienstag um zehn Uhr weht ein seltsamer Duft durch den Be legschaftsservice. Ein warmes, teigiges Aroma mit einem deutlichen Hauch von Zucker. Die Leute stehen auf und spähen über die Zel lenwände. Da kommt was durch die Tür gefahren — ein Handwa gen! Und — sie reiben sich die Augen — er ist über und über mit Donuts beladen. Die Mitarbeiter stürmen aus ihren Zellen. Einen Moment lang droht ein Massaker: zerfetztes Gebäck und mit Marmelade bespritz te Trennwände. Doch schon ist Roger da mit seinem Sekretär und zwei Angestellten der Abteilung — den Ausschreibungsgewinnern —, um das Schlimmste zu verhüten. »Bleibt in euren Zellen!«, be fiehlt der Sekretär. »Keiner rührt die Donuts an. Wir fahren herum und verteilen sie.« Die Mitarbeiter flitzen zurück an ihre Plätze. Mit knurrendem Ma gen und gespitzten Ohren warten sie darauf, dass sich der Hand wagen nähert. Freddy, Jones, Holly und Elizabeth sitzen wortlos an ihren Schreibtischen. Sie wissen, was jetzt kommt. Sie lauschen auf das lauter werdende Kauen und Schlürfen, bis der Handwagen mit quietschenden Rädern vor ihrer Bürozelle Halt macht und sich durch den Eingang schiebt. Roger hat einen Donut in der Hand. Seine Lippen sind mit Zucker bestäubt. Auch der Sekretär und die
zwei Angestellten schlingen gerade den Rest ihres Exemplars hi nunter. Auf dem Handwagen liegen noch drei Donuts. »Letzte Zelle!«, ruft Roger. »Los, langt zu. Freddy, Jones.« Vorsichtig strecken sie die Hand aus und nehmen sich einen Do nut. Keiner von ihnen hat den Mut hineinzubeißen. »Holly.« »Ach, ich will gar keinen.« »Natürlich nimmst du einen. Komm schon.« »Wirklich, ich hab keinen Hunger. Und wenn es nicht genug für alle gibt...« »Nimm den Donut.« Widerstrebend greift Holly danach. Sie hält ihn im Schoß und zieht den Kopf ein, so dass ihr Haar als blonder Schleier vor dem Gesicht hängt. »Hmm«, macht Roger. »Ich glaube, du hast Recht, Holly. Es gibt einen zu wenig.« Elizabeth zuckt die Achseln. »Egal, macht nichts.« »Dabei hätte ich schwören können, dass es genügend waren.« Ro ger stemmt die Hände in die Hüften. »Ich bin sicher, wir hatten ge nau einen für jeden Mitarbeiter.« Elizabeth springt abrupt auf. Ihr dünner grauer Kaftan, den sie in letzter Zeit immer trägt, wallt bis zum Boden. Den Blick zur Decke gerichtet, beginnt sie schnell zu atmen. »Ich kann es mir nur so erklären«, fährt Roger fort, »dass irgend jemand zwei genommen hat.« Bestürzt schüttelt er den Kopf. »Aber wer würde so was machen? Was muss das für ein Mensch sein, der
sich einen zweiten Donut schnappt, obwohl er genau weiß, dass er damit einen Kollegen bestiehlt?« Er sieht seinen Sekretär an. »Ich weiß es nicht, Roger.« »Jones? Freddy? Holly? Irgendeine Idee? Nein? Keine Ahnung? Und du, Elizabeth?« Ihr Kopf klappt nach unten. Ihr Gesicht ist dunkelrot vor Zorn. »Ich hab deinen Donut genommen. Ist es das, was du hören willst? Also. Ich hab deinen Donut genommen. Ich hatte Hunger und hab ihn gegessen. Mein Gott, du bist so was von kleinlich! So was von klein lich!« Roger verschränkt die Arme. »Du hast also meinen Donut ge nommen.« »Ja!« » Wendell ist wegen diesem Donut rausgeflogen. Ist dir das klar?« Elizabeth legt die Hände ans Gesicht. »O mein Gott.« »Einerseits bin ich dir dankbar, Elizabeth, weil du endlich gestan den hast. Aber du musst auch den Ernst der Lage begreifen. Hier geht es nicht nur um einen Donut. Es geht um Teamarbeit. Es geht um den Respekt vor den Kollegen. Was soll denn jemand davon halten, wenn du ihm seinen Donut klaust? Wie soll er dir noch ab nehmen, dass du ihn respektierst?« »Du bist einfach unwiderstehlich«, sagt Elizabeth. »Das ist wirklich ein trauriger ...« Roger unterbricht sich. »Was?« »Ich denke die ganze Zeit nur an dich. Ich will es nicht. Aber ich kann nicht anders. Es macht mich ganz verrückt. Ich ... Ich ...« Ihre Stimme wird schriller, und sie spuckt es aus. »Ich will dich.«
Holly klatscht sich die Hand vor den Mund. Freddys Unterlippe hängt schlaff herunter. Jones' Augen werden so groß, dass sie sein ganzes Gesicht ausfüllen. »Aha«, knurrt Roger mit tiefer Stimme. »Du machst dich über mich lustig.« »Ich sehne mich«, flüstert Elizabeth. »Ich sehne mich verzweifelt... nach dir.« Roger kneift die Lippen zusammen, bis sie fast nicht mehr zu se hen sind. Seine Kiefermuskeln mahlen. Jones, Freddy und Holly rollen sich gleichzeitig in ihren Bürostühlen zurück, um aus der Schusslinie zu kommen. Dann macht Roger auf dem Absatz kehrt und rauscht davon. Seine drei überraschten Lakaien müssen erst ein Wendemanöver vollziehen, bevor sie ihm folgen können. Die Ange stellten des Belegschaftsservice hören, wie sich der Handwagen quietschend entfernt. Freddy sagt: »Oh. Mein. Gott.« Holly sagt: »Mann, hast du den auflaufen lassen, Elizabeth!« Elizabeth ist kalkweiß im Gesicht. »Ich muss mich hinsetzen.« Hol ly springt auf. Elizabeth hält sich an ihrer Hand fest, bis sie die Pla stiklehnen des Stuhls umklammern kann. Sie blickt von einem ehr fürchtigen Verkaufsassistenten zum anderen. »Das ... das war natür lich nur Spaß.« »O Gott, natürlich«, beruhigt sie Holly. »Deswegen war es ja so ko misch.« »Genau.« Elizabeth beginnt zu zittern. »So ist es.«
Roger knallt seine Bürotür zu, dass die Glaswand erbebt und die Jalousien klirren. Er stelzt zu seinem Schreibtisch und schnappt sich das Telefon. Sofort fängt er an zu wählen, doch er kommt nur bis zu den ersten drei Ziffern des Personalwesens ... dann hält er inne. Wenn er diesen Anruf macht, wird Elizabeth schon in zehn Minuten nicht mehr im Haus sein. Aber das wäre auch das Ende: Sie wird nicht mehr unter seiner Kontrolle stehen. Und die Geschichte von Rogers Demütigung wird für immer im Gedächtnis des Unterneh mens fortleben. Als eine Art Pointe seiner gesamten Karriere. Mit einem erstickten Knurren klatscht er das Telefon wieder hin. Er wirft sich in seinen Lederstuhl und stützt den Kopf in die Hände. Vor ihm auf dem Schreibtisch liegt ein großer gelber Umschlag, wie er für interne Post verwendet wird. Er muss gekommen sein, als Roger draußen war. Eine Seite ist merkwürdig ausgebeult. Roger setzt sich auf, öffnet den Umschlag und schüttet den Inhalt auf die Tischplatte. Ein Plastikbecher mit gelbem Deckel versucht wegzu rollen. Er fängt ihn auf. Er ist leer. Vorn steht auf einem Etikett NA ME
und ANGESTELLTENNUMMER, und daneben ist jeweils Platz für
einen Eintrag. Er schaut noch mal in den Umschlag und findet eine Mitteilung. Personalwesen und Kapitalsicherung an alle Abteilungsleiter. Im Interesse der Unternehmensproduktivität, heißt es dort, hat Zephyr Holdings Richtlinien zu Drogentests herausgegeben. Jede Woche hat ein zufällig ausgewählter Mitarbeiter aus jeder Abteilung eine
Urinprobe abzugeben. Mitarbeiter, deren Ergebnis positiv ausfällt oder die sich dem Test verweigern, werden gekündigt. Die Recht mäßigkeit dieses Vorgehens geht hervor aus Abschnitt 38.2 des Standardarbeitsvertrags. Roger weiß noch, dass er diese Klausel damals bei seinem Einstellungsgespräch bei Zephyr beanstandet hat. Wenn er sich recht erinnert, wurden seine Bedenken damals vom Personalwesen mit der Auskunft zerstreut, dass diese Klausel nur eine branchenübliche Formalie sei und dass Zephyr keine Dro gentests durchführe. Die Mitteilung enthält eine Liste aller zufällig für die erste Test runde ausgewählten Mitarbeiter und mahnt die Abteilungsleiter zu einem taktvollen Vorgehen. Es ist nicht nötig, eine große Sache dar aus zu machen, heißt es in der Nachricht. Die Mitarbeiter sollen nicht das Gefühl bekommen, dass sie gezielt herausgegriffen wer den. Roger hat ein enzyklopädisches Wissen über die Angestellten von Zephyr. Daher fällt ihm auf, dass sämtliche zufällig ausgewählten Mitarbeiter weiblich und zwischen zwanzig und vierzig sind. In der Abteilung Belegschaftsservice ist die Wahl auf Elizabeth gefallen.
Neulich standen Eve und Jones im unteren Parkgeschoss, und sie fummelte gerade kichernd an seiner Krawatte herum, während er sich über Tom Mandrakes Hemdengeschmack lustig machte, als
Blakes Porsche vorbeikurvte. Durch die dunkel getönten Scheiben konnte Jones nicht erkennen, ob er und Eve gesehen worden waren, doch seither wirkt Blake noch genervter als vorher, wenn er mit Jones spricht. Er hat sich bemüht, diskreter zu sein, doch jetzt ist es elf Uhr, Holly und Freddy sind nicht in der Abteilung, und Jones kann an nichts anderes mehr denken als an Eve. Scheiß drauf, sagt er sich. Er muss sie einfach besuchen. Er hüpft aus seinem Stuhl und läuft zu den Aufzügen. Er weiß, wo sie ist, denn gestern hat das Personalwesen verlauten lassen, dass der Empfang mit einer Person ausreichend besetzt ist und dass Eve demzufolge auch keine Hilfe braucht, solange sich Gretel Monad nock in Erholungsurlaub befindet. Diese Nachricht hat bei der heu tigen Alphabesprechung für große Erheiterung gesorgt — außer bei Eve (und, aus diplomatischen Gründen, bei Jones) — und Blake zu der Wette veranlasst, dass sie es keine Woche durchhalten wird. »Willst du damit sagen, dass ich normalerweise nicht die Telefone bediene?«, giftete Eve, und Blake antwortete: »Genau das will ich damit sagen.« Eve schüttelte den Kopf und sagte: »Du hast doch keine Ahnung.« Allerdings hatte Jones das Gefühl, dass Blake eine ziemlich genaue Ahnung hatte. In den kommenden Tagen, so ver mutet er, wird Eve moralische Unterstützung brauchen. Der Aufzug öffnet sich im Erdgeschoss, und Jones geht in flottem Schritt hinüber zur Empfangstheke. Eve sitzt zusammengesunken da, sie hat Stressfalten im Gesicht. Sie sieht ihn nicht an. »Herrgott«, spricht sie in den Apparat. »Das kann doch nicht so schwer zu ver stehen sein. Ich muss Ihren Namen wissen, sonst kann ich Sie nicht ver
binden.« Dann erkennt sie Jones und reißt sich das Headset herunter. »Das ist der reine Wahnsinn. Die Anrufe hören einfach nicht auf.« »Ohhh«, macht Jones. »Wenn Gretel morgen nicht wieder da ist, sorge ich persönlich da für, dass sie gar nicht mehr kommt, das schwöre ich. Wie lang ist sie jetzt schon weg, zwei Wochen? Nicht zu fassen.« Sie schüttelt den Kopf. »Gehen wir zum Mittagessen?« Er stutzt. »Musst du nicht hier bleiben?« »Ich bin fertig. Fix und fertig.« Sie steht auf. »Das Unternehmen wird schon nicht gleich zusammenbrechen, wenn ein oder zwei Stunden niemand ans Telefon geht.« »Von allen anderen Angestellten erwartest du doch auch, dass sie ihre Arbeit machen.« Auf einmal bemerkt Jones, dass Freddy drau ßen vor der Glaswand der Eingangshalle steht. Freddy starrt zu Jones herein. Er hat eine Zigarette in der Hand, und irgendwas stimmt mit seinem Gesichtsausdruck nicht. »Ja, schon.« Sie angelt nach ihrer Handtasche. »Aber du und ich, wir sind nicht wie alle anderen Angestellten, oder?« »Eve, ist irgendwas mit Freddy?« Sie antwortet nicht. Jones wen det sich wieder zu ihr. »Eve?« Sie legt die Hände in die Hüften. »Ach, ich hab es ihm gesagt.« Er ist so entgeistert, dass er kein Wort herausbringt. Es will ihm einfach nicht in den Kopf, dass sie so was getan hat. »Das mit uns?« »Er ist rübergekommen und hat angefangen, mich zu nerven. Ich hatte keine Zeit für ihn. Da hab ich es ihm einfach gesagt.« Sie tritt vor die Theke. »Irgendwann hätte er es doch sowieso herausgefun den, Jones. Es war grausam, ihn so im Dunkeln zu lassen.«
»Vorher hat dir das doch auch nichts ausgemacht! Meine Güte, du hast ihn doch ein halbes Jahr zappeln lassen!« »Na ja, bis vor ein paar Wochen hatte er auch eine Chance.« Sie lä chelt und neigt den Kopf auf eine Weise, die Jones normalerweise süß findet. »Aber jetzt...« Sie greift nach seiner Krawatte. Jones stößt ihre Hand weg. Es ist, als hätte er einen Schalter umgelegt: Eves Gesicht wird zu Stein. Eine Sekunde vergeht, dann noch eine. Sie starren sich an, versuchen die veränderte Lage zu ergründen. Eves Stimme ist auf einmal ganz leise. »Fass mich nie wieder so an.« Jones sieht nach rechts. Freddy beobachtet sie noch immer, doch als Jones seinem Blick begegnet, wendet er sich ab. »Entschuldige dich«, fordert er. »Wofür? Darf es keiner wissen, wenn der gnädige Herr mich fickt?« Jones zuckt zusammen. Nur allzu sehr ist er sich der Über wachungskameras, der versteckten Mikrofone und des Kabelge wirrs bewusst, die das ganze Haus mit dem dreizehnten Stock ver binden. »Darf ich Freddy nicht erzählen, dass ihn sein bester Freund bei Zephyr angelogen hat?« »Sag jetzt bloß nicht, dass das eine Lektion sein soll.« Eve zieht die Augenbrauen hoch. »Warum? Brauchst du eine?« »Leck mich.« »Schon passiert.«
Als Jones durch die Eingangstür tritt, ist Freddy schon weg. Er blinzelt in die Sonne und erhascht gerade noch einen Blick auf Freddys Rücken, der um die Ecke des Gebäudes verschwindet. Jo nes rennt los. Freddy marschiert in raschem Tempo, doch Jones holt ihn beim Raucherpferch ein, direkt unter den großen Augen gemal ter Kühe. »Freddy!« Freddy dreht sich um. Ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht, oder vielmehr die grausam verzerrte Karikatur eines Lächelns. »Hi, Jo nes.« »Freddy, es tut mir wirklich leid ...« »Nein, nein. Ist schon in Ordnung. Du brauchst gar nichts sagen. Ich meine, die wäre doch sowieso nie auf mich abgefahren. Holly hat Recht. Ich bin nicht der Typ, der Frauen wie Eve kriegt. Ich bin der Typ, der fünf Jahre lang kein einziges Mal befördert wird.« Er stößt ein kurzes, bellendes Lachen aus. »Also, alles paletti. Jetzt kann ich mir wenigstens die vierzig Piepen pro Woche für Blumen sparen.« »Freddy, du bist nicht dieser Typ. Du bist viel besser. Du bist bes ser, als es Zephyr verdient hat.« Obwohl ihm diese Worte voll ech ter Bissigkeit über die Lippen kommen, ist Freddy deutlich anzu merken, dass er sie nur für höfliche Floskeln hält. Das bringt Jones noch mehr auf. »Freddy, der Laden stinkt doch. Da muss sich end lich was ändern. Muss einfach.« Und dann platzt es aus ihm heraus:
»Und wenn sich der Vorstand nicht ändern will, müssen wir ihn eben stürzen.« Freddy schaut ihn groß an. »Was?« »Wir brauchen einen Aufstand. Eine Revolution. Widerstand. Da mit die Arbeit bei Zephyr Holdings wieder Spaß macht.« Jones zö gert, er ist nicht sicher, ob die Arbeit bei Zephyr jemals Spaß ge macht hat. »Warum interessiert sich das Unternehmen nicht für uns? Warum sind wir ihm scheißegal? Du bist keine Ressource, du bist ein Mensch. Dieses Unternehmen saugt seine Mitarbeiter aus und unterhöhlt sich damit selbst. Wir brauchen eine Veränderung, nicht nur, weil wir es verdienen, sondern auch, weil wir nur so ver hindern können, dass Zephyr sich selbst auffrisst.« »Jones, das klingt ziemlich durchgeknallt.« »Wieso kann das Unternehmen nicht besser sein? Nur weil es der Vorstand nicht will. Das ist der Schlüssel zu allem: die Kontrolle des Vorstands. Wenn die Angestellten mitmachen, schaffen wir das. Wie wollen sie uns denn aufhalten? Wir sind doch das Unterneh men. Wir müssen uns nur zusammenschließen. Wie eine Gewerk schaft.« Freddy blinzelt. »Nein, bleiben wir lieber beim Widerstand«, korrigiert sich Jones. »Ja, das ist besser.« »Also, du bist dabei?« Freddy hält die Hände hoch. »Jones, ich hab verstanden, was du sagen willst. Ja, es wäre schön, wenn wir es besser hätten im Unter nehmen. Aber das läuft nicht. Erstens dauert es in diesem Laden drei Wochen, bis man eine Versammlung organisiert hat. Zweitens,
sobald das Personalwesen rausfindet, was du da treibst, schmeißen sie dich hochkant raus.« »Ich weiß.« Jones leckt sich die Lippen. »Aber ich habe einen Plan.« Freddys Blick wandert zum Raucherpferch. Zwei Leute steuern gerade darauf zu. Drinnen setzen sie sich an den Holzzaun und tasten ihre Taschen nach Zigaretten ab. »Wird mich dieser Plan meine Stelle kosten?« »Nein.«
Freddy sieht Jones in die Augen. »Versprochen?«
»Ich schwöre es.« Und in diesem Moment meint er es auch so. Er
will es von ganzem Herzen. »Okay«, sagt Freddy. »Dann lass mal hören.«
Holly sitzt allein in einem kleinen Besprechungszimmer unten im Empfangsbereich. Vor ihr auf dem Tisch liegen eine aufgeschlagene Mappe und mehrere verstreute Blätter. Doch das sind nur Requisi ten, falls jemand durch das kleine Fenster in der Tür hinter ihr lugt. Eigentlich hatte sie nicht vor, so was wieder zu tun. Nicht, nach dem ihr Roger den Fitnessraum — den Fitnessraum! — anvertraut hatte. Den einzigen Ort im ganzen Gebäude, mit dem sie wirklich etwas anfangen kann. Vor einer Dreiviertelstunde sah sie ihr rotes
Voicemail-Lämpchen blinken. Sie wählte sich ein und erfuhr, dass Roger angerufen hatte. »Holly. Nach einer genaueren Prüfung habe ich festgestellt, dass wir den Fitnessraum nicht halten können. Es hat sich gezeigt, dass er einfach nicht kosteneffektiv ist. Diese Nachricht wird sicher eine Enttäuschung für dich sein, aber du weißt, wie diese Dinge laufen. Ich hoffe, du verstehst, dass es überhaupt nichts mit dir zu tun hat. Du hättest bestimmt ganze Arbeit geleistet. Wenn noch etwas un klar ist, kannst du gern bei mir vorbeischauen.« Er hat es zwar nicht direkt ausgesprochen — Du bist eine Idiotin, und ich habe deine Dummheit ausgenutzt, um herauszufinden, wer mei nen Donut genommen hat —, aber Holly hat die Botschaft mehr als deutlich vernommen. Als sie das Telefon wieder in den Halter stell te, brannte schon alles: ihre Augen, ihre Ohren, ihr Herz. Elizabeth saß hinter ihr in der Bürozelle, und Holly wagte es nicht, sich um zudrehen, aus Angst, Elizabeth könnte sie so sehen und fragen, was mit ihr los ist. So verharrte sie starr in ihrer Position und schluckte immer wieder. Doch etwas Großes, Bitteres stieg ihr die Kehle hoch und drohte in einem fürchterlich demütigenden Schluchzen aus ihr herauszuplatzen. Also schnappte sie sich irgendeine Mappe von ihrem Schreibtisch, presste sie an die Brust und stand auf. Elizabeth blickte auf und sah ihr Gesicht, Hollys rotes, verschwitztes, aufge quollenes Gesicht, und ihre Lippen öffneten sich überrascht, aber dahinter wartete eine Frage, der sich Holly nicht stellen konnte, also rannte sie davon. Die ersten drei Besprechungsräume unten im Erdgeschoss waren besetzt, und sie bekam schon panische Angst, dass sie mitten in der Eingangshalle unter den neugierigen Blicken
vorbeikommender Kollegen einen schrecklichen, tränenreichen Zu sammenbruch erleben würde. Doch das vierte Zimmer war Gott sei Dank frei. Mit letzter Kraft riss sie die Tür auf und stürzte sich hi nein. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Tür und ließ sich gehen. Wahrscheinlich ist sie wirklich eine Idiotin. Freddy hätte so was schon eine Meile gegen den Wind gerochen. Wahrscheinlich hat er es sowieso gerochen und war deswegen so hart zu ihr. Sie kann es nicht ertragen, sich Freddys Reaktion auszumalen. Sie will die Ent täuschung in seinen Augen nicht sehen. Es klopft an der Tür. »Besetzt!« Ihre Stimme klingt schrill. Doch die Tür öffnet sich klickend. »Besetzt! Haben Sie nicht gehört?« »Ich bin's.« Sie erstarrt. »Freddy, ich muss dringend was erledigen.« »Es tut mir leid.« Pause. »Du hast es also gehört.« »Ja. Tut mir leid, Holly. Roger ist ein blöder Wichser.« »Ich warte eigentlich auf ein paar Leute.« Sie rückt ihre Mappe zu recht. »Sie müssen jeden Moment kommen.« Sie hört, wie er von einem Fuß auf den anderen tritt. »Holly, Jones und ich, wir haben was vor ... ich kann es dir hier nicht erklären. Kannst du mal kurz mit rauskommen? Es ist wichtig.« »Klar. Gleich nach meiner Besprechung, okay?« Schweigen. Dann macht Freddy etwas total Schockierendes, etwas, das sie nie erwartet hätte und was ihn um seinen Job bringen könn te: Er beugt sich vor und küsst sie sachte auf die Wange.
Um 16.10 Uhr tauchen überall im Haus einseitige Fragebogen auf. Sie sind auf dem Briefpapier von Zephyr Holdings gedruckt und tragen den Titel UMFRAGE ZUR ANGESTELLTENZUFRIEDENHEIT. Die meisten Leute kriegen gar nicht mit, wo sie herkommen. Andere erhaschen einen Blick auf eine von drei Gestalten, die durch die Bürozellen flitzen: ein Milchgesicht in einem herrlichen aschgrauen Anzug, ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit Brille und eine junge Blondine mit unglaublich straffen Waden. Niemand könnte sagen, wie sie heißen, aber sie wirken irgendwie vertraut wie fast alle Leu te bei Zephyr Holdings. Die Mitarbeiter nehmen ihren Fragebogen in die Hand und beginnen zu lesen. Vielen Dank für Ihre Teilnahme an der unternehmensweiten Um frage zur Zufriedenheit der Angestellten von Zephyr Holdings. An hand Ihrer Rückmeldungen soll überprüft werden, in welchem Maß es dem Unternehmen gelingt, Ihnen ein produktives und erfüllendes Arbeitsumfeld zu bieten. Die Ergebnisse dieser Überprüfung sollen zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen für alle Angestellten führen. Bitte machen Sie auf diesem Fragebogen keine persönlichen An gaben. Ihre Antworten sind anonym. Der letzte Satz entlockt dem einen oder anderen ein hämisches Schnauben. Die Mitarbeiter wissen ganz genau, was Zephyr unter
einer »anonymen« Befragung versteht. Sie haben schon öfter ano nym Antworten gegeben und wurden dann von ihren Chefs zu ei nem klärenden Gespräch gebeten. Sie haben vertrauliche Gespräche geführt, die in ihre Personalakte eingegangen sind. Misstrauisch durchsuchen
sie
den
Fragebogen
nach
winzigen
Identifi
kationsnummern und verborgenen Wasserzeichen. F1: Ist Zephyr Holdings Ihres Erachtens ein guter Arbeitgeber? Zynisches Gelächter prasselt und knattert durch das Gebäude. »Schau dir mal die erste Frage an«, gackern sie. Das Einzige, was noch erstaunlicher ist als der Katalog brutaler Methoden, auf den das Unternehmen zur Erniedrigung seiner Angestellten zurück greift, ist seine Überzeugung, dass sein Verhalten hilfreich ist. Nicht dass die Angestellten so etwas offen aussprechen würden. Positive Rückmeldungen werden sehr ernst genommen und gelangen oft sogar in den Geschäftsbericht, doch negative Rückmeldungen füh ren unweigerlich dazu, dass das Personalwesen die Einstellung der betreffenden Mitarbeiter unter die Lupe nimmt. Also kritzeln die Angestellten, oder zumindest die, die dem Unternehmen schon län ger als fünf Minuten angehören, die erwarteten, reich mit Phrasen wie »teamorientiertes Umfeld«, »Chancen« und »produktiv« gar nierten Antworten hin. Wenn sie mitkriegen, dass Praktikanten ihre ehrliche Meinung aufschreiben — etwa: »Ich arbeite jetzt schon ein halbes Jahr hier und hab noch nie jemanden aus dem Vorstand zu Gesicht bekommen«, »Bis jetzt hat mir noch niemand erklärt, wozu die Konsolidierung gut war« oder »Dieser Fragebogen ist für mich
der erste Hinweis darauf, dass man sich bei Zephyr Holdings um so was wie Angestelltenzufriedenheit überhaupt kümmert« —, ent winden sie ihnen sanft den Stift und setzen sich zu ihnen, um sie über einige Dinge aufzuklären. F2: Was könnte Ihrer Meinung nach getan werden, um die Ar beitsbedingungen bei Zephyr Holdings zu verbessern? Hier zucken die ersten Augenbrauen. Männer und Frauen bilden Gruppen und stecken die Köpfe zusammen. Das ist doch eine Fang frage, oder? Will das Unternehmen wirklich, dass sie »nichts« ant worten? Das wäre selbst für Zephyrverhältnisse ein starkes Stück. Damit würde die Unterwürfigkeit ein neues Niveau erreichen. Hei ße Debatten entbrennen. Die alten Hasen, die Abgebrühten, die schon vor langer Zeit in den Überlebensmodus geschaltet haben, halten es für unmöglich, die hohe Meinung des Vorstands von sich selbst zu überschätzen. Ohne Zögern schreiben sie mit fester Hand: »Nichts.« Die Idealisten — in erster Linie die Uniabsolventen — nehmen die Frage ernst. Es gibt viel Platz, den sie ausnutzen, um ihre Ideen loszuwerden. Die Übrigen antworten etwas vorsichtiger. Sie beginnen mit: »Wenn ich etwas vorschlagen könnte« oder »Das ist wahrscheinlich zu teuer, aber ...«, und dann lassen auch sie ihren Träumen freien Lauf. Wer zu früh nach Hause geht, wird ermahnt, und wer Überstunden macht, kriegt nichts dafür — wie wär's mit einer vernünftigen Balance zwischen beidem? Wie wär's, wenn du nicht im Zehnminutentakt Arbeitszeitblätter ausfüllen müsstest, sondern selbst herausfinden könntest, wie du deine größte Produk
tivität erreichst? Wie wär's, wenn Zephyr zur Kenntnis nehmen würde, dass du ein Leben außerhalb des Unternehmens hast, dass du nicht mit deinem Erscheinen am Morgen zu existieren anfängst und dich nach Arbeitsschluss in Luft auflöst? Dies sind wilde, ver rückte Gedanken, doch einer nach dem anderen strömen sie heraus. F3: Sind Sie der Meinung, dass Sie und Ihre Kollegen diese ver besserten Arbeitsbedingungen verdienen? Boah! Boah! Jetzt steht ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben. Die Gruppen rücken noch enger zusammen. Sie sind sich hundert prozentig sicher, dass sie nach Auffassung des Vorstands nichts Besseres verdient haben, denn wenn es nicht so wäre, wären die Dinge jetzt schon besser. Aber der Vorstand hat zumindest immer so getan, als wäre er nicht dieser Auffassung. Bei Personalversamm lungen predigen Manager in gut gebügelten Anzügen, dass die Mi tarbeiter das größte Kapital des Unternehmens sind. Auch wenn solche Sprüche schwer vereinbar sind mit den endlosen Entlas sungs- und Auslagerungsrunden, hört es sich doch nett an. Mit die ser dritten Frage wird offensichtlich eine Grenze überschritten. Wenn der Vorstand von den Angestellten ein »Ja« erwartet, dann versucht er nicht einmal mehr, seine Geringschätzung zu verbergen. F4: Vertrauen Sie darauf, dass der Vorstand von Zephyr Holdings aufgrund der Ergebnisse dieser Umfrage verbesserte Bedingungen schaffen wird?
Alle verstummen. Die Antwort lautet natürlich »nein«. Nur ein Idiot oder ein Praktikant könnte etwas anderes glauben. Aber genau deshalb dürfte das Unternehmen so eine Frage nie stellen. Der Zweck einer Umfrage zur Angestelltenzufriedenheit ist doch, genau wie der des Vorschlagsbriefkastens, den Mitarbeitern den Eindruck zu vermitteln, dass sich das Unternehmen für ihre Belange interes siert, ohne dass dieses Interesse wirklich existieren muss. Diese Fra ge kann also nur bedeuten: Entweder ist dem Vorstand plötzlich ein Herz gewachsen, oder der Fragebogen stammt nicht vom Vorstand. F5: Wenn Sie bessere Arbeitsbedingungen verdienen, aber nicht daran glauben, dass der Vorstand diese schaffen wird, sind Sie dann auch der Meinung, dass die einzige Möglichkeit zur Verwirkli chung eines befriedigenden Arbeitsumfelds darin besteht, den Vor stand zu stürzen und eine neue Führung einzusetzen, die das herr schende System von Inkompetenz, Gier und Korruption ablöst? Ping! Dies ist das Signal zur Revolution im zweiten Stock. Die Aufzugtüren gleiten auseinander, und Jones, Freddy und Holly treten heraus. Überall auf der Etage heben sich langsam Köpfe von Sekretärinnen. Der zweite Stock! Was für ein Ort! Überall Büros, Büros, so weit das Auge reicht. Sonnenlicht strömt durch riesige, raumhohe Glas wände. Die Zimmerpflanzen strotzen vor Gesundheit. Und der Teppichboden! Dieser Teppichboden! So dick, dass du dich drin einwickeln kannst — keine ausgelatschten Trampelpfade zur Kaf feemaschine und zur Toilette. Und das — ist das ein Wasserfall? O nein. Nur ein Wasserkühler. Aber auch ein Wasserfall würde gut
hierher passen in dieses Land, wo Milch und Honig fließen. Es ist genau, wie sie es erwartet haben: ein luxuriöses Paradies, in dem sich die Mächtigen entspannen und von ihren Sekretärinnen mit Trauben gefüttert werden — na gut, nicht mit Trauben, sondern mit Kaffee —, während sich die Angestellten unten in schlecht klimati sierten Legebatterien abplagen. Durch die Geschäftsberichte von Zephyr Holdings haben sie bereits flüchtige Einblicke in dieses ge lobte Land erhalten, das den Hintergrund abgibt zu so mancher Abbildung eines lächelnden Vorstandsmitglieds. Doch die Wirk lichkeit ist noch viel ätzender. Wo sind hier die Einschnitte? Die en ger geschnallten Gürtel? »Sie wünschen?«, piepst eine Sekretärin. Freddy erkennt in ihr ei ne Exkollegin wieder, die vor ungefähr einem Jahr aus der Schu lungsdurchführung verschwunden ist. Er dachte, sie ist entlassen worden. »Wie kommen Sie überhaupt hier rauf?« Die Antwort lautet: Jones hat eine Spezialerlaubnis. Aber das bindet Jones der Sekretärin nicht auf die Nase. Nicht einmal Freddy und Holly hat er eingeweiht. Sie glauben, er hat einen von den Netz werkheinis dazu gebracht, sich ins System zu hacken. »Wir möchten den Vorstand sprechen. Und zwar alle Mitglieder bitte.« Die Sekretärinnen tauschen Blicke aus. »Sie müssen einen Termin vereinbaren. Und selbst dann dürfen Sie nicht hier raufkommen. Es gibt Besprechungsräume im ...« »Holen Sie sie her«, fordert Jones. »Und zwar sofort.« Wieder sehen sich die Sekretärinnen an. Anscheinend haben sie eine Art telepathische Sprache entwickelt, denn erneut kommen sie
stillschweigend zu einer Entscheidung. »Ich rufe Mr. Smithson an. Möchten Sie so lange Platz nehmen?« »Nein«, antwortet Holly.
Stanley Smithson, das für den Belegschaftsservice zuständige Vor standsmitglied, steuert als Pilot einen Ledersessel in der Kanzel sei nes Büros im zweiten Stock, als sein Telefon klingelt. VANESSA P steht auf der Anzeige. Vanessa ist Stanleys Sekretärin, und vor knapp einer Stunde hat ihr Stanley auf ziemlich eindeutige Weise, wie er meint, zu verstehen gegeben, dass er nicht gestört werden möchte. Stanley bläst Luft durch die Zähne. Er erwartet doch wirk lich keine außergewöhnlichen Leistungen von Vanessa. Gelegent lich muss sie ihm einen Kaffee bringen. Sie muss die Diktaphon bänder abtippen, auf denen er seine Ideen, Einsichten und allge meinen Entwürfe für Nachrichten aufnimmt (das Formulieren des genauen Textes ist ihre Aufgabe, sie ist schließlich diejenige mit einem abgeschlossenen Literaturstudium). Und vor allem hat sie dafür zu sorgen, dass er in Ruhe gelassen wird, wenn er Zeit für seine Gedanken braucht. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder? Ist es übertrieben, wenn das Vorstandsmitglied eines Großunter nehmens um solche Dinge bittet? Anscheinend ja, denn jetzt hängt sie am Telefon.
Er legt seine Vielfliegerbroschüre beiseite. Für Topmanager ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie sich ihre geistige Frische bewahren, und deshalb gönnt sich Stanley immer eine Auszeit zum Meditieren, wenn der Druck des Geschäftslebens zu stark auf ihm lastet. Dann weist er Vanessa an, keine Anrufe durchzustellen, holt die Broschüre heraus und durchstöbert sie nach all den Orten, zu denen er kostenlos fliegen kann. Das findet er zutiefst beruhigend. Manchmal beschleicht Stanley nämlich das nagende Gefühl, dass er sich auf seinem Karriereweg nur so durchschwindelt — dass er die sen Aufstieg hauptsächlich durch Kriecherei und Glück geschafft hat und dass an seiner Stelle genauso gut Jim vom Betriebsschutz (äh, Personalwesen und Kapitalsicherung natürlich) darüber ent scheiden könnte, ob eine Taskforce zur Verbesserung von Arbeits prozessen eingerichtet wird, während Stanley auf dem Parkplatz herumlaufen und aufpassen muss, dass sich niemand mit einem Laserdrucker davonschleicht. Dann hilft ihm die Broschüre, sie ver treibt alle Zweifel und lädt den Akku seines Selbstvertrauens wie der auf. Stanley muss einfach außergewöhnlich kompetent und in telligent sein, sonst könnte er doch nicht kostenlos nach Sydney fliegen. Jim dagegen kann sich (anscheinend) noch nicht einmal ein Auto leisten, das in diesem Jahrhundert gebaut worden ist. Er lässt das Telefon noch einige Male läuten — Vanessa sollte es wirklich besser wissen —, dann stellt er auf Lautsprecher. »Ja?« »Tut mir sehr leid, Sie zu stören, aber hier sind Leute, die Sie spre chen wollen.« »Sie haben mir nicht gesagt, dass ich eine Verabredung habe.«
»Ah, haben Sie auch nicht. Aber ... ich glaube, Sie sollten mal raus kommen.« Stanleys Brauen tauchen nach unten. Das ist äußerst befremdlich. Er seufzt so laut, dass es über das Telefon zu hören ist. »Na schön, ich komme.«
Als Stanley durch die Tür tritt, spielt ein leises Lächeln um seine Lippen. Doch es verschwindet ziemlich schnell, als er Jones, Freddy und Holly sieht, die offensichtlich weder Managementkollegen, wichtige Investoren noch andere bedeutende Zeitgenossen sind. Sein Blick springt zwischen ihren Ausweiskarten hin und her. Stan ley selbst trägt keine, er findet so was erniedrigend. »Was wünschen Sie?« Der junge Mann antwortet. »Wir kommen im Namen der Beleg schaft von Zephyr Holdings. Wir haben eine Reihe von Forderun gen.« Stanley fängt an zu lächeln. Doch keiner von den dreien folgt sei nem Beispiel, also macht er ein Stirnrunzeln daraus. »Das soll wohl ein Witz sein.« »Nein, das ist kein Witz. Die Sache ist sehr wichtig. Wir müssen mit dem gesamten Vorstand sprechen.« »Mag sein, aber das geht nicht. Wie sind Sie hier raufgekommen?«
Der andere Mann, der Kleine, ergreift das Wort. »Wir sind der Meinung, dass sich die Arbeitsbedingungen bei Zephyr Holdings verbessern müssen. Und darüber wollen wir mit dem Vorstand re den.« »Das Unternehmen hat einen Briefkasten für Vorschläge.« Stanley schnaubt. Er hat keine Ahnung, was das für Gestalten sind, aber Stanley Smithson lässt sich nicht von Leuten in abgewetzten Schu hen vorschreiben, was er zu tun und lassen hat. Um Stanley Befehle zu erteilen, brauchst du schon ein wenig kostspieligeres Schuhwerk. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie damit erreichen wollen, wenn Sie hier einfach so hereinplatzen ...« »Sie hören uns nicht zu. Wir reden hier nicht von Vorschlägen.« »Das reicht. Sie gehen jetzt auf der Stelle.« Stanley macht einen Schritt nach vorn in der Absicht, Jones, Freddy und Holly mit schie rer Körperkraft zurück in den Aufzug zu stopfen. Er hat einen Mo ment lang vergessen, dass die Leute seinen Anweisungen norma lerweise nur folgen, weil sie dafür bezahlt werden, und nicht weil er ein Urbild charismatisch-dynamischer Männlichkeit ist. Alle drei bleiben stehen, und als Stanley erkennt, dass sie keine Anstalten treffen, sich zu bewegen, bremst er schnell ab. Er spürt, dass sein Gesicht rot wird. »Ich rufe jetzt die Abteilung Personalwesen und Kapitalsicherung an. Die Folgen haben Sie sich selbst zuzuschrei ben. Ich hoffe, das ist Ihnen klar.« Er tritt an den nächsten Sekretärinnenschreibtisch und greift nach dem Telefon. Seine Hand zittert. Das letzte Mal, als Stanley in so eine physische Auseinandersetzung geraten ist, war er siebzehn. Dann klickt der Apparat in seinem Ohr. Stanley dreht sich um. Die
junge Frau ist ihm zum Schreibtisch gefolgt und hat das Kabel he rausgerissen. Stanley starrt sie ungläubig an. »Niemand ruft hier das Personalwesen an«, stellt sie klar.
Daniel Klausman wandert durch die Treasury und leert Papier körbe, während er gleichzeitig ein interessantes Gerangel zwischen drei Buchhaltern verfolgt. Plötzlich bebt es in seiner Tasche. Es ist sein Handy. Er hat es auf Vibrationsalarm gestellt, weil der Anblick eines Hausmeisters mit Handy die Zephyrmitarbeiter beunruhigen und sie dazu veranlassen könnte, über ihre Karriere und das Ver hältnis zwischen der von ihnen geleisteten Arbeit und ihrer Ent lohnung nachzudenken. Klausman hat sich bemüht, diese Überle gung auch den anderen Alphaagenten nahe zu bringen, zumeist mit Erfolg. Eine Ausnahme macht nur Eve Jantiss, die ihren blauen Sportwagen vor dem Gebäude parkt. Eve argumentiert, dass schließlich auch Blake mit einem Sportwagen zur Arbeit fährt, war um sollte es ihr dann verwehrt sein? Auch die Tatsache, dass Blake im Vorstand sitzt, während sie offiziell Anrufe entgegennimmt, hat sie nicht weiter beeindruckt. Klausman hat großen Respekt vor Eve, und er bewundert sie, doch ihm ist auch klar, dass sie praktisch von reiner Gier angetrieben wird. Schon seit längerem hat er den boh renden Verdacht, dass ihn Eve eines Tages, zumindest im übertra
genen Sinn, zu Fall bringen und über seine noch warme Leiche klet tern wird. Er geht zu einer Vorratskammer und lässt die Legebatterie der Treasury und ihre aufkeimende Machtdynamik hinter sich. Diese Kammern schützen nicht nur vor den Blicken neugieriger Zephyr mitarbeiter, sie haben auch den Vorteil, dass sie zu den ganz weni gen Plätzen im Gebäude gehören, die nicht unter elektronischer Überwachung stehen. Das war nicht immer so, aber einmal kam es zu einem peinlichen Vorfall, als Klausman wenig schmeichelhafte Bemerkungen über einen Alphaagenten machte, der sich genau zu diesem Zeitpunkt im Monitorraum aufhielt. Außerdem erwischten sie in den Kammern immer wieder Angestellte beim Sex. Zwar hat ten alle Spaß daran, sich diese Aufnahmen bei der Alphaweih nachtsfeier reinzuziehen, aber andererseits machte er sich doch auch Sorgen, dass das einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen könnte, falls eines schrecklichen Tages die Tarnung von Alpha auf fliegen sollte. Es ist eine Sache, ein ganzes Unternehmen zu simulie ren, um insgeheim die Angestellten zu beobachten — wenn das an die Öffentlichkeit kommt, kann sich Klausman immer noch mit er hobenem Haupt in der High Society blicken lassen —, aber es ist etwas ganz anderes, sich eine Kollektion von Sexvideos zuzulegen, die mit versteckter Kamera aufgenommen wurden. Das könnte die Leute auf völlig falsche Ideen bringen. Er schließt die Kammertür und fischt das Handy aus seinem Ove rall. »Ja?«
»Hallo Daniel.« Es ist Mona. Ihre Stimme ist merkwürdig anges pannt. »Darf ich fragen — arbeitet Jones an irgendeinem Projekt mit dem Vorstand?« »Nein, natürlich nicht. Das ist Blakes Revier.« »Dann glaube ich, musst du in den dreizehnten Stock kommen. Und zwar gleich.« »Was ist denn los?« »Ahm ...« Sie zögert. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
Stanley Smithson tritt den Rückzug an, aber nur, um Verstärkung zu holen. Als er wiederkommt, hat er den Phönix dabei. Freddy und Holly machen große Augen bei dem vertrauten Anblick. Für die meisten Angestellten von Zephyr ist der Vorstand eine Geschwore nenbank anonymer Gesichter, aber den Phönix kennt jeder. Er ist ein stiernackiger Mann mit rotem Gesicht, blauem Hemd und an gegrautem Haar. Im Moment sind seine Hemdsärmel bis zu den Bizepsmuskeln aufgerollt, die zwar nicht mehr ganz so furchterre gend sind wie noch zu seinen Zeiten als Lagerarbeiter, aber immer noch äußerst imposant im Vergleich zu den verkümmerten Exemp laren seiner Vorstandskollegen. Nach einem sattsam bekannten Prinzip des Wirtschaftslebens stei gen alle Menschen bis zum Niveau ihrer Inkompetenz auf, denn
Angestellte, die ihre Arbeit beherrschen, werden so lange befördert, bis sie eine Aufgabe bekommen, die sie nicht beherrschen, und dort bleiben sie dann hängen. Der Phönix ist die Ausnahme, die diese Regel bestätigt. Er war in jedem Job inkompetent, in dem er je tätig war, wurde aber immer weiter befördert. Als er die Aufgabe hatte, Kisten von einem Teil des Unternehmens in einen anderen zu schleppen, standen sie stundenlang in der Eingangshalle herum, ehe er mehrere mahnende Anrufe später hereinschlurfte und sie abholte. Dann verschwanden sie über Kanäle, die nie jemand wirk lich ergründen konnte, um bis zu zwei Tage später an ihrem nur wenige Stockwerke entfernten Bestimmungsort einzutreffen. Zu dem mussten die Mitarbeiter bald feststellen, dass sie auf dem Kor ridor nicht am Phönix vorbeikamen, ohne in ein Gespräch verwik kelt zu werden. Es gab kein Entrinnen: Wer auf Sport stand, musste sich auf einen halbstündigen Vortrag über Spielergehälter gefasst machen, und wer nichts mit Sport anfangen konnte, wurde großzü gig belehrt. Wer dumm genug war, eine abweichende Meinung zu äußern, wurde vom Phönix mit strafendem Blick und schallender Stimme abgekanzelt. Wer dann immer noch nicht nachgab, musste sich vor seinem stochernden Finger in Sicherheit bringen. Irgendwann fingen die Leute an, sich schwerhörig zu stellen, oder sie war teten ab, bis ihm eine andere arme Seele ins Netz ging, um mit ge senktem Kopf und angehaltenem Atem an ihm vorbeizuhasten. Dann wurde eines Tages das Depot ausgelagert. Klammheimliche Freude machte sich breit. Endlich konnten die Angestellten von einem Stockwerk zum anderen fahren, ohne eine Predigt über die nachlassenden Fähigkeiten von Elitespielern über sich ergehen las
sen zu müssen. Doch zum allgemeinen Erstaunen und Entsetzen überlebte der Phönix und wurde in die Bestandsverwaltung ver setzt. Zwei Jahre später wurde diese Abteilung angesichts galop pierender Personalfluktuation mit der Logistik zusammengelegt. Zwölf Mitarbeiter wurden entlassen, aber nicht der Phönix. Ein Jahrzehnt und unzählige Katastrophen später wurde ihm die Lei tung einer Six-Sigma-Arbeitsgruppe übertragen, die zehn Monate lang als entscheidend für die Entwicklung von Zephyr galt, dann eine Bruchlandung machte und nie wieder erwähnt wurde. Alle Mitglieder der Arbeitsgruppe wurden freigestellt oder in entlegene Randbereiche des Unternehmens abgeschoben, nur der Phönix nicht, der über die Jahre so viel Urlaub angesammelt hatte, dass eine Entlassung zu kostspielig gewesen wäre. Das Personalwesen er zwang seine Rückkehr in die Logistik, obwohl sich diese Abteilung mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Irgendwann wurde es dem für die Logistik zuständigen Vorstandsmitglied zu bunt, und er stellte ein Ultimatum: er oder ich. Der Zeitpunkt seines Vorstoßes war jedoch unglücklich gewählt, da er sich nach internen Verwer fungen an den Rand des Vorstands gedrängt sah und die neue Gruppe der Mächtigen plötzlich eine günstige Gelegenheit witterte, ihn durch jemanden zu ersetzen, der besser zu ihren Vorstellungen passte. So wurde der Phönix in den Vorstand berufen. Für die Ze phyrmitarbeiter steht zweifelsfrei fest, dass er unsterblich ist. Freddy und Jones tauschen nervöse Blicke aus, als der Phönix nä her kommt. Hollys Augen kleben an der Stelle, wo seine schwellenden Muskeln in den Hemdsärmeln verschwinden. »Was habt ihr hier zu suchen, verdammt noch mal?«, grollt der Phönix. Er tapst
auf sie zu wie ein übellauniger Bär. »Das hier ist die Vorstandseta ge, nicht die Cafeteria. Raus jetzt, sonst raucht's.« Holly nimmt ihren Mut zusammen. »Wir haben eine Reihe von Forderungen ...« »Mir egal, auch wenn ihr eine Goldmedaille habt.« Der Phoenix lässt ständig solche Sprüche vom Stapel, die klingen, als müssten sie irgendwie witzig sein, die aber bei genauerem Nachdenken nur sinnloses Gefasel sind. »Ihr hievt jetzt eure Ärsche aus dem zweiten Stock.« Die drei scheinen vor seinem Ansturm zu schrumpfen. Dann hö ren sie etwas von hinten. Ping!
Eine Aufzugladung voll Zephyrmitarbeiter ergießt sich in die Vor standsetage. Es hat ein bisschen gedauert, weil sie sich nicht ganz einig waren über die Lastkapazität des Fahrstuhls. Die auf einem kleinen Metallschild vermerkte Gewichtsgrenze gab Anlass zu einer unerfreulichen Debatte, bei der die Taillen und Sitzpartien der Be teiligten misstrauisch beäugt wurden. Außerdem mussten sie, um den Aufzug zu einer Fahrt ins zweite Geschoss zu überreden, Jones' Ausweiskarte durch das Lesegerät ziehen und sie dann vor dem Schließen der Türen zu den anderen hinauswerfen. Beim ersten Versuch hatte eine Frau aus der Exabteilung Visitenkartendesign — geschickt mit der Maus, doch überraschend unbeholfen in Sachen
Grobmotorik — daneben gezielt, und sie mussten alle im fünften Stock rausspringen und es noch mal probieren. Doch jetzt sind sie da! Es sind mehr als zwei Dutzend: Sachbear beiter, Gnome, Elfen, Buchhalter, Ingenieure — eine bunte Zephyr mischung. Sie strömen aus dem Aufzug wie Clowns aus einem winzigen Automobil. Immer wenn du meinst, jetzt kann wirklich keiner mehr drin sein, tauchen noch mal zwei auf. Stanley reißt die Augen auf. Der Phönix weicht einen Schritt zurück. »Wir wollten es nicht auf diese Weise machen«, erklärt Jones, »aber wir sind dazu bereit.« Angriffsaktionen werden im Morgengrauen gestartet, weil der Feind in dieser Zeit besonders orientierungslos ist. So auch im zwei ten Stock von Zephyr Holdings, nur dass es halb fünf Uhr nachmit tags ist. Die Vorstandsmitglieder sind müde nach einem langen Tag des selbstlosen Einsatzes für den Shareholdervalue, die leichte Dröhnung vom Wein beim Mittagessen ist verflogen, und die letzte Kaffeepause ist auch schon über eine Stunde her. Als die Zephyrmi tarbeiter in ihre Büros platzen und ihnen das Telefon aus der Hand reißen, sind sie zu benebelt, um zu reagieren. Alle ohne Ausnahme — auch Blake Seddon — werden sie aus ihren Lederbürostühlen gezerrt, in den Sitzungssaal geschleift und auf einen Sitz an dem großen Eichentisch gestopft. Schockiert sehen sie mit an, wie sich um sie herum eine schmuddelige, wütende Bande zusammenrottet. Alle paar Minuten hören sie durch den wachsenden Lärm ein Ping, und dann drücken noch mehr Leute in den Sitzungssaal. Bald ste hen sie so dicht gedrängt, dass sie sind wie ein einziges Tier, der Zephyrus, ein Geschöpf von gewaltigen Ausmaßen, normalerweise
friedlich und zahm, doch (offensichtlich) aggressiv und unbere chenbar, wenn es gereizt wird. Der Sitzungssaal füllt sich mit ihren aufgeregten Stimmen, dem Kaleidoskop ihrer Hemden, Blusen, Kra watten und dem erhitzten Schweißgeruch ihrer Körper. Die Topmanager versuchen zu protestieren, doch die Mitarbeiter rütteln zornig an ihren Stühlen. Sie probieren es mit mimischer Kommunikation. Keiner von ihnen hat die leiseste Ahnung, was hier eigentlich los ist. Doch als ein junger Mann auf den Sitzungs tisch klettert und die Leute mit erhobener Hand zum Schweigen auffordert, beschleicht sie alle ein scheußliches Gefühl: Das Boll werk des Vorschlagsbriefkastens hat versagt.
Der Lärm flaut ab. Jones räuspert sich. Er darf jetzt auf keinen Fall Schwäche verraten, das ist wichtig. Doch das zu wissen und sich auch daran zu halten, sind zwei Paar Stiefel. Er spürt, dass ihm die Knie zittern. Sein Blick begegnet dem von Blake Seddon, und er sieht den Zorn in seinen Augen. Jones schluckt, dann noch einmal. Seine Kehle wird immer enger. Ein Vorstandsmitglied — nicht Blake, sondern ein älterer Mann mit empört gesträubten Augenbrauen — hat das Warten satt. »Was soll das eigentlich ...« »Ich muss was vorlesen!«, ruft Jones. Der Mann verstummt. Wie der schluckt er. »Es ist ein alter Text, den wir für unsere Zeit ange
passt haben. Entscheidend ist, dass er auch heute noch unverändert zutrifft. Und ihr...« Jones hebt die Stimme, als ihn der Vorstand wieder mit Einwürfen unterbricht. »Ihr bleibt jetzt erst mal brav sitzen und hört euch das an.« Er holt tief Luft. »Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: dass alle Mitarbeiter gleich geschaffen sind, dass sie mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, darunter Würde, Res pekt und das Streben nach einem glücklichen Privatleben. Dass, sobald ein Unternehmen diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht der Mitarbeiter ist, das Unternehmen zu verän dern oder abzuschaffen und ein neues Management einzusetzen, dessen Grundsätze geeignet sind, ihre Sicherheit und ihr Glück zu erwirken. Klugheit gebietet, dass das Management nicht um leichter und vergänglicher Ursachen willen verändert wird; und desgleichen hat die Erfahrung von jeher gezeigt, dass Mitarbeiter, solange das Übel noch zu ertragen ist, lieber leiden, als sich durch Umsturz eines ge wohnten Managements Recht und Hilfe zu verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe von Missbräuchen und Erniedrigungen, die un weigerlich die gleichen Kostensenkungsziele verfolgen, von der Absicht kündet, die Mitarbeiter einer unumschränkten Herrschaft zu unterwerfen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, das Joch dieses Managements abzuwerfen. So verkünden wir, die Mitarbeiter von Zephyr Holdings, hiermit feierlich, dass wir frei und unabhängig sind und von Rechts wegen sein sollen, dass wir von aller Treuepflicht gegenüber dem Mana gement entbunden sind und dass jegliche Autorität des Manage
ments über uns gänzlich erloschen ist.« Von allen Seiten erklingen Rufe, und inzwischen versuchen schon mehrere Manager ihm daz wischenzureden. So sieht sich Jones veranlasst, die letzten Worte zu wiederholen. »Gänzlich erloschen!«, brüllt er. Ein Tumult bricht aus. Die Vorstandsmitglieder versuchen sich dem Griff der Mitarbeiter zu entwinden. Lauthals pochen sie auf den Instanzenweg. Die Mitarbeiter schreien zurück. Animositäten schwirren durch den Sitzungssaal. Jahrelang aufgestauter Zorn macht sich Luft. »Wir sind keine Humanressourcen!«, ereifert sich Freddy mit rotem Gesicht. »Wir sind Menschen! Vielleicht kapiert ihr das endlich mal!«
Eine Zeit lang bleibt es im Überwachungsraum im dreizehnten Stock ganz still. Mit leiser, zögernder Stimme bricht Mona schließ lich das Schweigen. »Was macht er denn da?« Klausman bleibt ihr die Antwort schuldig. Er ist nicht empört, nicht schockiert, nicht einmal überrascht. Noch nicht. Während er Jones an den Monitoren beobachtet, fühlt er sich nur ... matt. »Begreift der denn nicht, dass das kein echtes Unternehmen ist?« Ein kläglicher Ton hegt in Monas Frage. »Bei Zephyr hat nicht der Vorstand das Sagen, sondern wir. Was will er denn damit errei chen?« Sein Schweigen ermutigt sie. Ihre Stimme wird lauter.
»Wenn wir wollen, können wir die Hälfte von den Leuten dort rausschmeißen.« »Nein, Mona«, erwidert er. »Wir können nur alle rausschmeißen.« Ein kurzer Seitenblick zeigt ihm die Verwirrung in ihrem Gesicht, die sich auch in den Augen der sechs anderen anwesenden Agenten spiegelt. Sie sind so daran gewöhnt, zu den Insidern zu gehören, erkennt Klausman. An etwas anderes können sie sich gar nicht mehr erinnern. Er wendet sich wieder den Monitoren zu. »Wenn wir eingreifen, geben wir Alpha preis. Und dann ist es vorbei mit Zephyr.« Tom Mandrake hat eine Idee. »Personalwesen und Kapitalsiche rung sind in der Gruppe praktisch nicht vertreten. Solange wir diese Abteilung noch in der Hand haben ...« »Jones weiß genau, wie wir arbeiten«, unterbricht ihn Klausman gereizt. Wenn nur Eve hier wäre, ihr müsste er nicht erst lang die Zusammenhänge erklären. »Wenn er die Kontrolle über den Vor stand gewinnt, können wir damit rechnen, dass die restlichen Abtei lungen bald folgen.« Einige Sekunden lang herrscht Schweigen. Dann meldet sich wie der Mona zu Wort. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll. Man kann den Vorstand doch nicht abschaffen. Zephyr ist doch keine Demokratie, sondern ein Unternehmen.« »Ich denke«, entgegnet Klausman, »Jones geht von der Theorie aus, dass sich diese beiden Konzepte nicht gegenseitig ausschlie ßen.« Mona schüttelt tapfer den Kopf. »Blake wird das nicht zulassen. Er wird sie aufhalten.«
»Hoffen wir es«, sagt Klausman müde. »Ich bin dreiundsechzig. Ich möchte nicht noch mal von vorn anfangen.«
Jones glaubt schon fast, dass er es wirklich geschafft hat, dass der Vorstand eingeknickt ist, doch da dringt Blakes Stimme durch den Aufruhr. Er schreit nicht. Er hebt einfach nur das Kinn, spricht klar und deutlich. Und auf einmal hören ihm alle zu. Jones muss zuge ben, Blake hat Präsenz. »Wollt ihr, dass das Unternehmen zusam menbricht? Darauf läuft das doch hinaus. Ihr wollt, dass Zephyr pleite geht.« Er steht auf, und niemand versucht, ihn daran zu hin dern. Er zieht die Ärmel seines Sakkos zurecht. Seine blauen Augen harken über die Menge. »Ihr seid unglücklich über die Arbeitsbe dingungen. Ihr glaubt, dass wir uns nicht für euer Wohlergehen interessieren. Und da habt ihr auch Recht. Zephyr ist nicht da, um mit euch Händchen zu halten. Zephyr ist ein Konzern. Wenn ihr einen Vergnügungspark erwartet habt, dann solltet ihr kündigen. Wenn ihr bereit seid, eure Arbeit zu machen, könnt ihr bleiben. Aber verlangt nicht, dass wir uns für euch interessieren. Das kann sich Zephyr nicht leisten.« Die Angestellten werden unsicher. Sie wissen eigentlich nicht so genau, wie Unternehmensfinanzen funktionieren — aus ihrer Pers pektive lässt sich Zephyr leicht als endlos sprudelnde Geldquelle begreifen, deren Fortbestand unabhängig davon ist, wie intelligent
dieses Geld ausgegeben wird —, doch offensichtlich liegt ein Stück Wahrheit in Blakes Worten. »Wir haben euch nicht eingestellt, damit ihr ein erfülltes, glückli ches Leben habt. Es geht hier nicht um euer Wohlergehen, sondern um das von Zephyr. Und das wollt ihr jetzt umkehren — ihr wollt euer Interesse über das des Unternehmens stellen. Nun, ich muss euch ganz offen sagen: Damit macht ihr Zephyr den Garaus. Dann stehen wir alle ohne Job da.« Die Mitarbeiter lassen die Schultern hängen. Irgendjemand sagt: »Trotzdem, es könnte doch wenigstens ein bisschen besser sein.« Jones kriecht die Angst in die Glieder. Er will die Sache nicht »ein bisschen« verbessern. Er will die Kontrolle über den Vorstand über nehmen. Alles andere würde ihn den Kopf kosten. Blake spürt den nahenden Sieg. Sein Ton wird sanfter, versöhnlich breitet er die Hände aus. »Jetzt hört mal zu, wir haben alle einen schweren Tag hinter uns.« Er ist der Inbegriff der Vernunft — vor allem im Vergleich zu Jones, der schwitzend und mit wildem Blick auf dem Sitzungstisch steht. Blake ist ganz die ruhige, unerschütter liche Führungspersönlichkeit in einem Fünftausenddollaranzug. Genau so jemanden würdest du dir wünschen, wenn es um Ent scheidungen geht, die sich auf deine Möglichkeiten zum Verdienen deines Lebensunterhalts auswirken. »Wir haben uns alle ein wenig aufgeregt, ist doch klar. Vielleicht haben wir Sachen gesagt, die wir gar nicht so gemeint haben. Natürlich interessiert sich Zephyr für eure Belange. Unsere Mitarbeiter sind unser größtes Kapital. Es war richtig von euch, uns auf diese Dinge hinzuweisen. Wir brauchen tatsächlich Veränderungen. Veränderungen, ja — aber nicht die
Abschaffung des Vorstands und auch kein bankrottes Unterneh men.« Er nickt nachdenklich. »Und um das zu beweisen, verspreche ich euch was: Gleich am Montagmorgen wird sich der Vorstand den Briefkasten mit den Anregungen vornehmen und jede einzelne sehr, sehr sorgfältig durchlesen.« Die Mitarbeiter murmeln mit hochgezogenen Augenbrauen und zucken die Achseln. Jones hört Sätze wie: »Na ja, zumindest ein kleiner Fortschritt« und »Wenigstens hören sie uns jetzt zu«, und er weiß, dass es vorbei ist. Denn jeder will lieber einen schlechten Ar beitsplatz als gar keinen. »Nein!«, ruft er. Er schüttelt die Faust — das ist nicht gerade hilf reich für seine Argumentation, aber er kann nicht anders. »Du willst den Leuten hier erzählen, was das Beste für das Unternehmen ist, Blake? Dabei weißt du nicht einmal, was Zephyr ist! Zephyr ist nicht das Logo, das Geschäftsergebnis, die Anleger oder die Kunden ...« An diesem Punkt sprüht Jones bereits vor Sarkasmus. »Nein. Schau dich mal um. Wen siehst du? Uns. Wir sind Zephyr. Wir ver bringen hier die Hälfte unseres wachen Lebens. Wir kennen das Unternehmen besser als jeder andere. Wir interessieren uns mehr dafür als jeder andere. So ist das mit Leuten, die an einen Arbeits platz kommen, Blake: Sie engagieren sich gefühlsmäßig. Wir sind keine Inputfaktoren. Wir sind keine Maschinen. Ihr könnt nicht ei nen Teil von uns auslagern und dann erwarten, dass alles gleich bleibt. Sicher wäre es euch lieber, wenn wir leichter zu lenken wä ren, aber da habt ihr eben Pech gehabt: Wir sind Menschen, und Menschen sind nun mal schwierig. Und wir haben ein Leben außer halb der Arbeit, verdammt noch mal, und ihr könnt euch nicht
ständig Teile davon unter den Nagel reißen! Ihr könnt uns nicht ständig für eure Gewinne verheizen! Und —wenn ihr so weiter macht, wenn ihr nichts anderes könnt, gottverdammt, dann hat die ses Unternehmen wirklich den Tod verdient!« Die Angestellten brüllen ihren Beifall hinaus. Jones ist wie betäubt. Er dachte, das ist nur eine letzte, hoffnungslose Tirade. Doch er hat das Ruder herumgerissen. Er blickt von einem jubelnden Gesicht zum nächsten. Es bleibt unklar, wer den Sprechchor angefacht hat. Jones jeden falls nicht. Er hätte von Jones ausgehen müssen. Aber er ist zu be nommen, um seinen Vorteil auszunutzen. Egal, das Entscheidende ist, dass der Sprechchor einsetzt und Blakes Antwortversuche über tönt. »Abtreten! Abtreten! Abtreten!« Wie ein Fels rollt der Schlachtruf durch den Sitzungssaal. Ein Vor standsmitglied nach dem anderen bemüht sich vergeblich, die Stimme dagegen zu erheben. Blake Seddon hält die Hand hoch, um Schweigen zu gebieten, doch er wird völlig ignoriert. Der Phönix rackert gegen die Arbeiter, die ihn niederhalten. Blake gibt jeden Schein von Würde auf. Die Venen an seinem Hals treten hervor, als er schreit: »Wir werden nicht abtreten! Und ihr habt keinerlei Befugnis, uns dazu zu zwingen!« Die meisten Leute hören ihn nicht einmal. Jones schon. »Du hast Recht. Wir können euch nicht zum Abschied zwingen. Aber ihr könnt uns auch nicht zwingen, auf euch zu hören. Bleibt ruhig hier oben. Nennt euch von mir aus Vorstand. Aber wir werden nichts so
machen, wie ihr es euch vorstellt. Wir nehmen die Sache jetzt selber in die Hand.« Die anderen Vorstandsmitglieder tauschen Blicke. Jones kennt den Gedanken, der sich jetzt in ihre Gehirne bohrt: Und wenn sich diese Rebellion wirklich durchsetzt? Zephyr ist bereits angeschlagen von einer katastrophalen Umstrukturierung. Wenn jetzt eine Horde von Sekretärinnen, Sachbearbeitern und Verkaufsassistenten das Steuer übernimmt ... nun, dann ist das Ende des Unternehmens nicht mehr fern. All diese Topmanager besitzen ein dickes Aktienbündel und einen Vertrag mit einer großzügig dotierten Kündigungsklausel — Dinge, die sich einem dahingeschiedenen Unternehmen nur schwer aus den Rippen leiern lassen. Damit nicht genug, wenn Zephyr ab säuft, solange sie noch an Bord sind, verlieren sie nicht nur die Ar beit, sondern auch ihren blütenweißen Lebenslauf. Dagegen ist ein Manager, der vor dem Untergang des Unterneh mens zurücktritt, in einer ganz anderen Position — Jones sieht in mehreren Vorstandsgesichtern, dass ihnen allmählich was däm mert. Ein solcher Manager erhält seine Abschiedszahlung. Er kann seine Aktien versilbern. Und sein Lebenslauf strahlt förmlich, denn sein Ausscheiden beweist, dass er mit dem Kurs des Unternehmens nicht einverstanden war — eine Einschätzung, die der spätere Zu sammenbruch auf schlagende Weise bestätigt. Dieser Manager ist ein ökonomisches Genie. Dieser Manager hat eine Zukunft. Stanley Smithson meldet sich zu Wort. »Also schön ... so sehr ich es bedaure, aber ich trete zurück. Ich möchte gern noch sagen ...« »Ich trete auch zurück!« »Ich ebenfalls!«
Ein mächtiger Jubelschrei erhebt sich aus der Menge. Jones sieht Blake an, aber das wäre zu viel des Guten. Blake steht nur mit ver schränkten Armen da und schüttelt den Kopf. Während sich die Manager einen Weg zu ihren Büros bahnen, um ihre Habseligkeiten einzusammeln und belastende Dokumente zu schreddern, schlingt Holly die Arme um Freddy und küsst ihn — eine unverhohlene Missachtung der Unternehmensrichtlinien zu Mitarbeiterbenehmen und sexueller Belästigung. Langsam sickert die Nachricht nach draußen zu denen, die im Sitzungsaal keinen Platz mehr gefunden haben. Sie erreicht die Sekretärinnen, die sich ungläubig von ihren Stühlen erheben. Sie klemmen sich ans Telefon und verbreiten die Neuigkeit im ganzen Haus. Mitarbeiter, die vor den Aufzügen Schlange stehen, um in den zweiten Stock hinaufzufahren, verneh men die unfassbare Wahrheit: Der Vorstand wurde gefeuert! Vor dem Gebäude blicken einige Raucher hinauf und sehen, wie auf sechs Etagen vor Glück die Lichter an- und ausgehen. Noch hö her droben können sie Dutzende von winzigen Gestalten erkennen, die sich an die Glaswand des Sitzungssaals im zweiten Stock drän gen — doch da müssen sie schon die Augen zusammenkneifen, denn die Sonne geht gerade unter. Und im Licht der orangeroten Strahlen, die sich in den Scheiben brechen, sieht es fast so aus, als würde eine Gruppe goldener Fallschirme sanft herabschweben.
Die Party ist bereits in vollem Gang, als Freddy im Sitzungssaal eine Stereoanlage und eine reich mit Champagner bestückte Kühl schrankbar entdeckt. Danach herrscht Anarchie. Im zweiten Stock wird getanzt. In der Eingangshalle versammeln sich Mitarbeiter, um aufgeregt die Geschehnisse des Tages Revue passieren zu lassen. An sich nicht weiter bemerkenswert, aber es ist das erste Mal seit Jah ren, dass Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen außerhalb ei nes vorher gebuchten Besprechungszimmers und ohne schriftliche Tagesordnung miteinander reden. Im zwölften Stock zerknüllt ein Marketingfachmann eine Aktennotiz über Budgetkürzungen und kickt sie durchs Zimmer, was sich schnell zu einem drei Etagen um fassenden Footballspiel ausweitet, bei dem jeder Treffer auf einem Tastaturschreibtisch Bonuspunkte einbringt. Niemand hat eine Vorstellung, was als Nächstes passieren wird. Die meisten denken gar nicht darüber nach — heute Abend ist Feiern angesagt, nicht strategisches Planen. Doch einige wenige machen sich Sorgen. Sie ziehen sich in ihre Bürozelle zurück und setzen sich nervös an ihren Platz. Die Furcht dringt ihnen in die Knochen. Für sie ist das Ganze keine Party — es ist der Zusammen bruch einer natürlichen Ordnung. Der Vorstand mag inkompetent gewesen sein, er mag korrupt gewesen sein, und er war sicherlich mit lauter Arschlöchern besetzt, aber es waren wenigstens ihre in kompetenten, korrupten Arschlöcher. Die Vorstandsmitglieder waren die Eltern der Zephyrmitarbeiter, und auch wenn sie distan ziert und lieblos waren und die Kinder öfter mal im Auto einge schlossen haben, um gemütlich zwölf Runden Golf zu spielen — nach ihrem Fortgang fühlen sich die Mitarbeiter wie Waisen. Lust
los zupfen sie Blätter aus ihren Eingangsablagen und klicken sich durch ihre Aufgabenlisten, doch die Rückkehr zur Normalität will ihnen nicht gelingen. In der Abteilung Belegschaftsservice im elften Stock prallt der Pa pierfußball gegen Rogers gläserne Bürowand. Roger späht durch die Vertikaljalousien und lässt sie schnell wieder zuschnappen. Wie die meisten Abteilungsleiter von Zephyr Holdings hält er sich ver steckt. Bei dieser Revolution in Frankreich wurden doch auch Her zöge enthauptet, oder? Selbst fernen Verwandten des Königshauses wurde der Kopf abgeschlagen. Bei Zephyr Holdings ist ein Machtvakuum entstanden, das so groß ist, dass Rogers Speicheldrüsen anspringen. Er spürt förmlich, dass das Unternehmen Manager wie ihn aufsaugen möchte, um dieses Vakuum zu füllen. Aber es ist zu riskant. Die Mitarbeiter sind unberechenbar, ihr Zorn ist entbrannt. Er bereut diese Sache mit den Auftragsausschreibungen. Er bereut das Signallicht. Wenn er den Schutz seines Büros verlässt, da ist er sich ziemlich sicher, werden ihn seine Mitarbeiter mit seiner Krawatte daran aufknüpfen.
Um halb zehn hockt Jones in einer Runde um den Sitzungstisch, die Strippoker spielt. Er trägt nur noch Schuhe, Socken, Boxershorts und Krawatte und erntet anerkennende Blicke von einer jungen Frau aus der Treasury. Freddy ist noch viel schlechter dran: Ihm ist
bloß die Unterhose geblieben, und die neben ihm sitzende Holly greift immer wieder hinunter, um seinen Bund zurückschnappen zu lassen. Auch wenn Freddy indigniert aufjault, hat Jones das Gefühl, dass es ihm nicht besonders viel ausmacht. Alle ziehen, und Jones hat drei Damen. »Hoho«, macht Elizabeth vom Kopf des Tisches. »Jetzt seid ihr fäl lig. Ich hab ein Superblatt.« Mit hoffnungsvollen Blicken in Jones' Richtung legt die Buchhalte rin aus der Treasury zwei Paare hin, doch Holly räumt mit einem Flush ab. »Das kannst du nicht machen«, sagt Freddy, und Holly grinst frech. Das findet Jones bestürzend, dann fällt ihm ein, warum. Bisher hat er Holly immer nur mit einem leisen Lächeln gekannt. Er hat sie noch nie wirklich glücklich gesehen. Zum Zeichen der Kapitulation hält Freddy die Hände hoch und trifft Anstalten, auf den Tisch zu steigen. Doch dann nimmt er plötzlich Reißaus zur Tür. Empörte Schreie werden laut, als seine weiße Unterhose vorbeizischt. Die Leute springen auf, Spielkarten fliegen durch die Luft. Im Nu ist Holly aus ihrem Stuhl und stürzt ihm nach wie eine Leopardin. Jones kann sich nicht vorstellen, dass Freddy recht weit kommt. Auf einmal zieht es ihn nach Hause. Es war ein erstaunlicher Tag, aber für Jones ist er nicht zu Ende. Noch steht ihm die Abrechnung mit Alpha bevor. Vielleicht nicht mehr heute, doch Jones wird sich erst entspannen, wenn er diese Konfrontation hinter sich hat. Solan ge er die Verbindung zu Alpha nicht gekappt hat, gehört er nicht richtig zu Zephyr.
Er braucht eine halbe Stunde, um aus dem Gebäude zu kommen, denn alle Leute wollen noch kurz mit ihm reden, als sie sehen, dass er aufbricht. Dann endlich hat er es geschafft und ist unten im zwei ten Parktiefgeschoss angekommen. Gerade greift er nach seinen Autoschlüsseln, als eine Stimme, in der er sofort die von Eve er kennt, an sein Ohr dringt. Er bleibt stehen und schaut sich um. Je mand antwortet Eve, dann folgt eine dritte Stimme. Anscheinend sind sie hinter dem Aufzugschacht, und Jones steuert vorsichtig in diese Richtung. Er umkurvt einen dicken Pfeiler und hält an, denn da sind sie alle: das gesamte Projekt Alpha. Niemand sagt ein Wort. Nach kurzem Zögern ringt sich Jones da zu durch, es hinter sich zu bringen. Er macht einen Schritt nach vorn, doch Klausman kommt ihm zuvor. »Wagen ... Sie es ... nicht.« Er spricht leise, doch in seiner Stimme schwelt die Wut. Und noch etwas anderes liegt darin: etwas wie Trauer. Jones bleibt stehen. Er blickt von einem Alphaagenten zum anderen und sieht eine Mi schung aus Zorn, Verwirrung und Schock in ihren Gesichtern. Eves Miene ist ausdruckslos, als wäre er gar nicht da. Er nickt und wendet sich ab. Zuerst ist er verlegen und kommt sich sogar feige vor. Doch mit jedem Schritt bessert sich seine Lau ne. Als er bei seinem Auto ankommt, hat er Daniel Klausman und Alpha praktisch schon vergessen. Er muss daran denken, wie Fred dys weiße Unterhose geblitzt und wie Holly die Verfolgung aufge nommen hat.
Er ist schon fast zu Hause, als sein Handy klingelt. Er holt es aus der Tasche und wirft einen Blick auf die Anzeige. Dann fährt er an den Straßenrand und parkt vor einem kleinen Kleiderladen. »Wo bist du?« »In meinem Auto.« Das scheint ihre Frage nicht zu beantworten, und er fügt hinzu: »Allein.« »Okay, pass auf. Ich hab nicht viel Zeit, aber ich wollte dir unbe dingt sagen, du bist phantastisch.« Jones denkt: Falsch verbunden? »Hallo?« »Ich bin da.« »Den ganzen Tag war ich stinksauer auf dich, weißt du. Aber als ich dann gesehen habe, was du da treibst... verdammt, Jones! Du hast den Vorstand platt gemacht. Einfach unglaublich.« »Ich hätte nicht gedacht, dass du so ... begeistert bist.« »Naja, für Alpha ist das natürlich nicht so lustig. Um uns da wie der freizuschaufeln, brauchen wir Monate. Aber wen interessiert das? Du hast es mit dem ganzen Unternehmen aufgenommen und ihm eine Abreibung verpasst. Natürlich muss ich mich vor Alpha von dir distanzieren — ich musste sagen, dass ich entsetzt bin über dein Verhalten, dass du unser Vertrauen missbraucht hast blablabla —, aber, Jones, du hast ja keine Ahnung, wie unglaublich sexy ich dich gerade finde. Hallo? Bist du noch da?« »Ja. Mir steht nur der Mund offen.«
»Dir und allen anderen auch. Mein Gott, du hättest Klausman se hen sollen. Ich dachte, er kriegt einen Herzinfarkt. Und jetzt geht für Alpha die Arbeit los. Das Wochenende fällt für uns alle flach. Ei gentlich müsstest du Mitleid mit mir haben. Mir steht so was wie eine zwanzigstündige Besprechung bevor.« »Anscheinend findest du das ziemlich aufregend.« »Na ja ... das nicht. Ich bin einfach bloß aufgeregt.« Etwas Komi sches liegt in ihrem Ton. Jones glaubt, dass ihn Eve gerade angelogen hat. »Bist du noch da?« »Was passiert denn bei der Besprechung?« »Wir überlegen uns, was wir jetzt machen.« Sie lacht ihm ins Ohr. »Blake hat schon gesagt, wir sollen Zephyr dichtmachen und wie der von vorn anfangen. Klausman will davon nichts wissen. Er möchte sein Baby nicht so einfach sterben lassen. Das hast du natür lich schon längst gewusst, stimmt's? Du bist so ein Genie. Du hast wirklich ein Mittel gefunden, um Zephyr zu verändern. Ich glaube nicht, dass wir irgendwas dagegen machen können.« »Willst du ihnen das erzählen?« »Weiß noch nicht. Da spielen natürlich auch die verschiedenen Interessen eine Rolle. Für Alpha ist das Ganze ein Erdbeben. Da kann es leicht sein, dass einige Leute abstürzen. Und andere ... ste hen danach vielleicht sogar besser da.« Ein Hauch von Übelkeit stiehlt sich in Jones' Magen. »Bist du des wegen so aufgeregt? Weil du glaubst, ich hab was Gutes für Zephyr getan?« »Natürlich.«
»Oder glaubst du, ich hab was Gutes für dich getan?«
Sie zögert kurz. »Wie kommst du darauf?«
Sein Körper erstarrt zu Eis.
»Jones? Hallo? Jo-o-ones?«
»Ja«, krächzt er.
»Ist die Verbindung schlecht? Warte kurz. Ich ruf gleich noch mal
an.«
Am folgenden Montag erwacht Jones um 6.14 Uhr. Das weiß er, ohne auch nur die Augen zu öffnen, weil er zu den Leuten gehört, die immer unmittelbar vor dem Weckerläuten munter werden. Und in den letzten drei Monaten war Jones' Wecker an jedem Wochentag auf 6.15 Uhr gestellt. Aber heute nicht. Heute Morgen wurde Jones' innere Uhr ausgetrickst. Er dreht sich um und zieht die Bettdecke nach oben. Er lächelt mit geschlossenen Augen. Heute kann Jones ausschlafen, denn er muss nicht zur Alphabesprechung. Elizabeth kommt um fünf vor neun im Zephyrgebäude an, mit fast einer Stunde Verspätung. Sie hat leichte Schuldgefühle, weil sie das Fehlen des Vorstands ausgenutzt hat, um ein wenig mehr Schlaf zu kriegen — doch die legen sich schnell wieder, als sie im Parkge schoss an einem leeren Stellplatz nach dem anderen vorbeifährt. Anscheinend ist sie gar nicht so spät dran. Relativ gesehen sogar eher früh.
Sie nimmt den Aufzug hinauf zum Belegschaftsservice und schlängelt sich zwischen leeren Bürozellen durch. Plötzliches lautes Geschrei lässt sie herumfahren, und sie späht über die Trennwände. Drei Leute stehen an der Kaffeemaschine und amüsieren sich über einen Witz. Sie geht weiter. Kurz vor ihrer Zelle sieht sie endlich jemanden an seinem Platz: einen jungen Typ mit Stachelhaaren. Überrascht blickt er auf, und sie lächelt ihm zu. Blitzschnell wech selt er die Oberfläche an seinem Bildschirm. Mit einiger Verzöge rung wird ihr klar, dass er an seinem Lebenslauf herumgebastelt hat. Gerade als sie ihre Tasche unter den Schreibtisch packt, klingelt ihr Telefon. Sie nimmt ab. Großer Fehler. »Hallo Elizabeth.« Rogers Stimme klingt tief und duldet keinen Widerspruch. »Wir müssen miteinander reden.« Warte!, schreit es in ihr, doch schon steigt ihr das Blut zu Kopf wie ein Wirbelsturm. Ein singendes Kribbeln durchpulst ihre Finger. Ihre Zehen erstarren. Ihr Körper wird überflutet von der wahnsin nigen, unaussprechlichen, unersättlichen Sehnsucht nach Roger, Roger, Roger. Erschrocken sieht sie mit an, wie ihre Füße kehrtmachen und blindlings über den Teppich stapfen. Als sie Rogers Tür erreicht, hebt sich ihre Hand (Verräterin!) und klopft. Roger ruft sie herein, und ihr Körper tiriliert. Roger sitzt mit ordentlich gefalteten Händen an seinem Schreib tisch. Sein braunes Haar ist sauber gescheitelt. Seine Anzugjacke sitzt so leicht und perfekt wie eine Skulptur, und seine Schultern
sind goldgesprenkelt von der Morgensonne. Einen Moment lang befürchtet Elizabeth, sich übergeben zu müssen. »Also?« Zu ihrer Erleichterung klingt ihre Stimme hart und sarka stisch. »Was gibt's?« »Setz dich.« Sie zuckt die Achseln, als wäre es ihr völlig egal — als würde ihr nicht gleich das Herz aus der Brust springen und ihr Gehirn nicht in einem dumpfen Dröhnen der Lust versinken. Sie legt beide Hände fest um die Armlehnen, damit sie keine Dummheiten anstellen kön nen. »Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll.« Seit sie das Zim mer betreten hat, hat er sie nicht eine Sekunde lang aus den Augen gelassen. »Letzte Woche, in deiner Bürozelle ... da hast du dich ziemlich über mich lustig gemacht.« Ja! Bis zum letzten Blutstropfen wird Elizabeth dieses Märchen verteidigen. »Kann schon sein«, antwortet sie lässig. Bestürzt über diese Lüge wollen sich ihre Hände selbständig machen; sie presst sie wieder nach unten auf die Lehnen. »Dachte ich wenigstens.« Roger zieht eine Schublade auf und hält einen kleinen Plastikbecher hoch. Einen, wie Ärzte ihn für Urinpro ben verwenden. Elizabeth begreift nicht, wie Roger zu so einem Ding kommt, und die bizarrsten Möglichkeiten schwirren durch ihr benebeltes Gehirn. »Das Personalwesen hat eine neue Richtlinie zu Drogentests herausgegeben. Du bist aus unserer Abteilung zufällig ausgewählt worden.« Auch wenn Elizabeth zurzeit mehr aus Hormonen besteht als aus Synapsen, hat sie keine Mühe, dieses Manöver zu durchschauen.
Das Personalwesen will wissen, ob sie schwanger ist. Ihr Gesicht lodert auf vor Entrüstung. Dann bemerkt sie, dass Roger sie genau beobachtet. »Das habe ich mir auch gedacht«, stellt er fest.
O Gott. »Was?«
»Es geht nicht um Drogen.«
»Um was denn sonst?«
»Meiner Meinung nach?« Er spitzt die Lippen. »Ich glaube, du bist
schwanger.« Bitte lass mich im Erdboden versinken. »Ziemlich schwanger sogar. So im fünften Monat, würde ich sa gen.« Ihre Hände verkrampfen sich. »Das heißt, ungefähr seit... na ja.« Rogers Blick erfasst sie. Das ist nicht fair; er spielt darauf an, wie sie miteinander geschlafen haben. An ihrem Haaransatz erscheinen Schweißperlen. Mit aller Kraft bohrt sie die Finger in die Armleh nen. »Aus diesem Grund sehe ich die jüngsten Ereignisse in einem völ lig neuen Licht. Zum Beispiel, was du zu mir gesagt hast.« Er steht auf. O nein. »Und jetzt frage ich mich ...«
Er tritt um den Schreibtisch und geht vor ihr in die Hocke.
Nein! Nein! »... ob du dich wirklich lustig gemacht hast...« Nein nein nein nein nein nein —
»... oder nicht.« Die Sonne umgibt ihn mit einem Strahlenkranz. Sie unterdrückt ein Wimmern. In diesem Moment ist er das schönste, begehrens werteste Arschloch der Welt. »Korrigier mich bitte, wenn ich falsch liege«, sagt er leise, »aber ich frage mich, ob das nicht doch echt war.« Ungefähr eine Sekunde lang hält sie durch. Angesichts des physi schen Verlangens, das sie durchbrandet wie eine Flutwelle, ist das sogar eine Art von Sieg. Ich habe es versucht, denkt sie. Dann packt sie Rogers Gesicht mit beiden Händen und presst ihre Lippen auf die seinen.
Als Jones die Eingangshalle zur Hälfte durchquert hat, berührt ihn eine Hand am Arm. Er blickt in die blassgrauen Augen eines Wachmanns aus der Abteilung Personalwesen und Kapitalsiche rung. »Mr. Jones?« Jones rechnet schon damit, höflich, aber bestimmt aus dem Haus eskortiert zu werden. »Wer hat Sie geschickt? Das Personalwesen? Die haben nämlich gar keine Befugnis, Leute zu feuern.« Der Wachmann wirkt verblüfft. »Ich habe nur eine Nachricht für Sie.« »Oh.«
»Was Sie am Freitag getan haben, war wirklich toll, Mr. Jones. Ich hab es meinen Kindern erzählt.« Er zieht einen Zettel zu Rate. »Die Nachricht lautet, das Alphateam will Sie sprechen. Sobald wie mög lich. Am üblichen Ort.« Er blickt zu Jones auf. »Können Sie damit was anfangen? Ich hab es genau aufgeschrieben.« »Ja, danke.« Jones klopft dem Wachmann auf den Rücken und geht weiter. Im Aufzug drückt er gleichzeitig auf zwölf und vierzehn, auch wenn er sich nicht vorstellen kann, dass etwas passieren wird. Nachdem Jones das Unternehmen an die Wand gefahren hat, hat Klausman doch sicherlich als Erstes Jones' Alphazugang annulliert. Doch nein, der Aufzug setzt sich in Bewegung. Jones kaut heftig auf seiner Lippe herum. Genau im richtigen Augenblick drückt er auf ÖFFNEN, und der Fahrstuhl kommt wie immer im dreizehnten Stock zum Stehen. Jones zögert. Es gibt nicht so besonders viele Gründe für Alpha, ihn zu einem Gespräch zu bitten, und nur die wenigsten würden ihm wohl Spaß machen. Eine Möglichkeit ist, dass sie ihn zusam menstauchen wollen; eine andere, dass sie Rache nehmen, und zwar auf eine ganz entsetzliche Weise, über die sie sich das ganze Wo chenende beraten haben. Andererseits kann er ihnen nicht ewig aus dem Weg gehen. Er verlässt den Aufzug und geht zum Besprechungszimmer. Seine Schuhe machen kein Geräusch auf dem Plüschteppich. Er kann sei ne Nervosität nicht abschütteln. Vor der Tür hält er an und wischt sich die Hände an der Hose ab.
Dann drückt er die Tür auf. Tom Mandrake hört so abrupt zu sprechen auf, dass Jones das Klicken seiner Zähne hört. »Hi!«, ruft Jones munter. »Wie geht's allerseits?« Klausman, der in seinem riesigen Ledersessel sitzt, betrachtet ihn aus dunklen, eingesunkenen Augenhöhlen. Der Mann sieht zehn Jahre älter aus als am Freitag. Und er sieht aus, als würde er Jones am liebsten in die Nieren treten. »Nehmen Sie Platz, Jones.« Er macht ein paar Schritte in den Raum. »Danke, ich stehe gut.« Klausman mustert ihn eine Weile, dann zuckt er die Achseln. Es ist der schlechteste Versuch, Lässigkeit vorzutäuschen, den Jones je gesehen hat. Dann gleitet Klausmans Blick durchs Zimmer, und Eve sagt: »Hallo Jones.« Sie sitzt nicht an ihrem üblichen Platz, sondern am Fuß des großen Tisches, gegenüber von Klausmans großem Ledersessel. Ihr Gesicht ist wie aus Stein gemeißelt, so wie er es nach ihrer Ankündigung auch erwartet hat — zumindest im Beisein von Alpha. Doch inzwi schen ist Jones bei Eve sowieso auf alles gefasst. »Ich muss wohl nicht besonders erwähnen, wie enttäuscht wir von dir sind.« »Wahrscheinlich nicht.« »Zehn Jahre. So lange ist diese Version von Zephyr Holdings schon in Betrieb. Und entsprechend viel Blut und Schweiß ist auch hineingeflossen. Du hast ein ganzes Jahrzehnt Arbeit zerstört.« Jones wirft einen Blick auf Klausman, der ihn mit verschränkten Armen anstarrt. Anscheinend will er sich selbst nicht äußern und hat Eve die Rolle des Kampfhundes überlassen. Na schön, sein Problem. Jones schaut ihm trotzdem in die Augen. »Ist das euer Ernst? Glaubt ihr wirklich, dass Zephyr ein Musterunternehmen
war? Das war es nämlich nicht. Es war ein Scheißort zum Arbeiten und ein beschissenes Vorbild für erfolgreiche Firmen. Ihr habt die Mitarbeiter so oft verarscht, das hättet ihr sowieso irgendwann zu spüren bekommen. Und jetzt ist es eben so weit. Ihr habt Zephyr umgebracht. Ich habe euch doch nur gezeigt, wie tot es schon ist.« »Du arroganter kleiner Wichser«, poltert Blake. »Blake.« Klausmans Stimme ist ganz leise. Eve legt die Hände zusammen und beugt sich vor, um Jones' Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. Sie wirkt sehr ernst. Selbst jetzt, da Jones ziemlich sicher zu wissen glaubt, dass es ihr nur darum geht, den maximalen persönlichen Nutzen aus der Situa tion zu schlagen, fühlt er wie einen Stich das Verlangen nach ihr. »Jones, wir haben dich nicht hergebeten, um unseren Frust an dir abzureagieren. Wir wollen einen Ausweg aus dieser Situation fin den. Wenn sich herumspricht, dass das Testunternehmen des Ome ga-Managementsystems zusammengebrochen ist... nun, davon könnte sich Alpha nicht mehr erholen. Deshalb ist unser Ziel, Ze phyr so schnell wie möglich wieder auf Kurs zu bringen. Wir ...« Sie wirft Klausman einen kurzen Blick zu. »Wir möchten dich bitten, dass du uns dabei hilfst.« Jones lacht, bevor er sich bremsen kann. »Soll das ein Witz sein?« »Wenn es jemand schafft, die Belegschaft zu überzeugen, dann du.« Sein Blick wandert um den Tisch. Sie sind ernst wie Bestattungs unternehmer. »Es gibt kein Zurück für Zephyr. Zephyr hat jetzt ein neues Projekt: die Frage, ob ein Unternehmen Erfolg haben kann, auch ohne seine Mitarbeiter auszusaugen. Das müsst ihr akzeptie
ren. Und vergesst endlich den Gedanken, dass das eine Katastrophe ist! Selbst auf die Gefahr hin, eure Weltanschauung auf den Kopf zu stellen — ich bin der Meinung, dass Zephyr ein guter Arbeitgeber sein und sich trotzdem im Wettbewerb halten kann.« »O Gott.« Ein angewiderter Ton liegt in Blakes Stimme. Eve nimmt den Ball auf. »Jones, wir sind doch keine Amateure. Alpha ist nicht einfach davon ausgegangen, dass eine Kürzung der Mitarbeitervergünstigungen die Produktivität steigert. Wir haben das untersucht. Wir haben beides ausprobiert. Wir haben sogar Dinge probiert, an die du noch gar nicht gedacht hast. Und deshalb wissen wir: Es ist keine gute Idee, die Mitarbeiter über den Kurs des Unternehmens bestimmen zu lassen. Hat Zephyr eine hohe Perso nalfluktuation und eine schlechte Arbeitsmoral? Ja. Beklagen sich die Mitarbeiter viel? Ja. Wäre es besser, diese Probleme anzugehen? Nein, denn auf diesem Niveau sind glückliche Mitarbeiter nicht produktiver. Die Leute werden nicht zu Rezeptionisten und Ver kaufsassistenten, weil sie so gern telefonieren, und wenn man ihnen die Chance gibt, mit weniger Arbeit genauso viel zu verdienen — weißt du, was dann passiert? Sie nutzen sie. Das ist kein Prinzip, das Alpha erfunden hat, weil wir uns so gern wie Arschlöcher auf führen; es ist einfach eine Tatsache. Vielleicht passt dir das nicht; vielleicht passt es nicht mal uns, aber wir haben es wenigstens be griffen und verhalten uns entsprechend. Du, Jones, hast es nicht begriffen. Du hast aus einem hohen, aber immer noch steuerbaren Maß an Mitarbeiterunzufriedenheit eine Rebellion gemacht, weil du an eine bescheuerte Phantasie glaubst.«
»Das reicht«, schaltet sich Klausman ein. »Jones, ich frage Sie nur ein einziges Mal: Helfen Sie mir, Zephyr zu retten?« Eves Attacke hat ihn nicht kalt gelassen, doch wenn er etwas ganz sicher weiß, dann das: Er wird Alpha nicht helfen. Eigentlich über rascht es ihn, dass sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben, ihn darum zu bitten. Zumindest Eve müsste doch wissen, dass er da garantiert nicht mitspielen wird. Vielleicht ist es ein Zeichen, wie verzweifelt Klausman darum kämpft, sein Baby zu retten. Oder vielleicht ... Oh, denkt er. Er hat kapiert. Er sieht Eve an, und es bricht ihm fast das Herz. Mit festem Blick wartet sie auf seine Antwort. »Nein.« Danach läuft alles ziemlich nach seinen Erwartungen.
Eve wendet sich mit ausgebreiteten Händen an Klausman. »Da niel, ich hab's dir gesagt, du wolltest mir ja nicht glauben.« Blake mischt sich ein. »Jones, denk doch mal nach, was du da machst, verdammt noch mal...« Eve spricht einfach weiter. »Und ich möchte jetzt ganz offen sein, weil es die Umstände erfordern. Die Verantwortung an diesem De bakel liegt bei dir, Daniel. Du hast den Zephyrmitarbeitern zu viele Freiheiten gewährt, obwohl du genau gewusst hast, wie unzufrie den sie sind. Du hast Jones für Alpha ausgesucht. Und jetzt haben
wir drei Tage nur rumgeredet. Es tut mir weh, das so zu sagen, aber du bist auf dem besten Weg, Zephyr zu ruinieren. Wir müssen uns das Unternehmen zurückholen. Wir müssen die Anführer raus schmeißen. Und zwar sofort. Und deswegen, Daniel, musst du ab treten.« Klausmans Augenbrauen machen einen schockierten Sprung. »Das muss nicht für immer sein. Aber im Moment haben wir eine Krise. Da können wir auf Egos keine Rücksicht nehmen. Du hast dieses Unternehmen gegründet, Daniel, aber jetzt musst du es von jemand anderem retten lassen. Du weißt selbst, dass das stimmt. Wenn so was einem anderen unterlaufen wäre, wärst du der Erste, der den Betreffenden feuert. Nicht aus Bosheit oder als Bestrafung, sondern weil es das Beste für das Unternehmen ist. Es ist das, was die Anleger verlangen werden; es ist das, was die Kunden verlan gen werden. Wenn sie davon hören und wir noch nicht mit drasti schen, schwerwiegenden Maßnahmen reagiert haben ... also, ich muss dir wohl nicht lang erklären, wie schädlich das wäre. Das würde Alpha nicht überleben, Daniel. Deswegen musst du das jetzt mir überlassen.« Blake schnaubt. »Hey, hey ...« Eve beachtet ihn nicht. »Daniel, du weißt, dass ich Recht habe.« Blake: »Solche Sachen dürfen nicht einfach übers Knie gebrochen ...« Eve: »Blake, du hast deine Chance gehabt. Am Freitagnachmittag um 17.00 Uhr.«
Blake: »Ach komm, was hat das denn damit... okay, das hätte man vielleicht besser hinkriegen können, aber sie haben uns überrum pelt. Es war ...« Eve: »Wenn wir jetzt nichts machen, sitzen wir morgen noch hier und sagen, wir hätten es besser hinkriegen können. Daniel, ich hän ge an dir. Und ich hänge an diesem Unternehmen. Deswegen bin ich auch so schonungslos. So leid es mir tut, aber wenn du das nicht als Krise erkennen kannst, dann reiche ich meinen Rücktritt ein.« Blake: »Das ist doch nur eine billige Zirkusnummer.«
Eve: »Ich meine es völlig ernst.«
Blake: »Du Miststück ...«
»Na gut.« Klausmans Stimme ist leise, fast unhörbar. Er sieht nie
mandem in die Augen. Jones hat fast Mitleid mit ihm.
Als Jones geht, interessiert das niemanden mehr. Alle sind gebannt von der seismischen Machtverschiebung zwischen Daniel Klaus man und Eve Jantiss. Er schlendert durch den Gang und betritt, einer Laune folgend, den Überwachungsraum. Es sind zwei Techni ker da, die ihn aber nach einem kurzen, neugierigen Blick ignorie ren. Jones zieht einen Stuhl in die Mitte des Zimmers und starrt auf die Monitore. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Blake steht in der Tür, eine Hand auf der Klinke. Jones wendet sich wieder den Monitoren zu. Er hört, wie Blake den Türgriff los lässt und näher kommt, bis er die lautlosen Wellen der Feindselig keit spüren kann, die an seinen Rücken branden. »Eve — klar, Eve ist eben Eve. Sie hat die Chance gesehen und sie genutzt. Ich wün sche ihr, dass sie heute Abend auf dem Heimweg ihr Auto um einen Brückenpfeiler wickelt. Ich hab's kapiert: Sie hat mich ausgetrickst. Aber du — ich hab dich gewarnt. Ich hab dir gesagt, wie sie ist. Trotzdem hast du deine Show abgezogen und dich von ihr verar schen lassen. Du willenloses Stück Scheiße, ich wette, du meinst immer noch, sie ist auf deiner Seite. Ich wette, du kannst es nicht erwarten, dass sie da rauskommt und dir erzählt, dass alles gut wird. Nur deswegen hängst du überhaupt noch hier rum, oder?« »Blake?« Es ist Eve. Jones sieht ihr Spiegelbild in der Glaswand. »Ich weiß, du bist sauer und alles, aber sag jetzt bitte nichts, was eine zukünftige Zusammenarbeit unmöglich macht, okay?« Blake gibt ein Geräusch von sich, als würde er an seiner eigenen Zunge kauen. »Dann lass ich euch zwei mal allein.« Seine Stimme trieft vor Verachtung. Eve schließt die Tür hinter ihm. Als sie in Jones' Gesichtsfeld kommt, bedenkt sie gerade die beiden Techniker mit einem offenen, herzlichen Lächeln. Sie tritt vor ihn und geht in die Hocke. »Okay! Gehen wir Kaffeetrinken, da können wir alles besprechen.« Jones beginnt zu lachen. Ohne Warnung platzt es aus ihm heraus und steigert sich zu einem unkontrollierbaren Ausbruch, bis er Sei tenstechen hat und ihm die Tränen in den Augen stehen. Eve beo bachtet ihn, ihr Lächeln zerfällt allmählich.
Er fängt sich wieder. »Du bist einfach unglaublich. Nein, wirk lich.« »Danke. Also wie wär's ...« »Wir gehen nicht Kaffeetrinken.« »Aha.« Sie wiegt sich auf ihren Fersen. »So ist das also.« »Was du da drin erzählt hast, ich meine, dass die Leute rausge schmissen werden, war das nur für Alpha? Oder war das dein Ernst?« Sie redet leise. »Jones, das ist kein echtes Unternehmen. Was du getan hast... das ist süß. Wirklich. Aber es ist nicht machbar. Du glaubst immer noch, dass es gute und schlechte Unternehmen gibt. Aber das stimmt nicht. Tut mir leid.« Jones starrt sie an. Sie hebt die Hände. »Okay, eins sollten wir vielleicht klären. Dass ich dich mag, das war nicht nur Show. Ich bin keine Firmenhure, die ihren Körper einsetzt, um zu kriegen, was sie will.« Jones muss wieder lachen. »Ehrlich. Ich mag dich gern. Schau mich doch an. Jones, ich bete dich an. Was da drin passiert ist, das ist Business. Das hat überhaupt nichts mit dir und mir zu tun.« »Es hat sehr viel...« Das Wort bleibt ihm im Hals stecken. Eine Se kunde lang glaubt er, dass er gleich losheulen muss. Eve bleibt eine Weile stumm. »Es ist besser, wenn du mithilfst, Jo nes. Du kannst viele Arbeitsplätze retten.« »Wenn du auch nur einen Einzigen rausschmeißt, erzähle ich dem ganzen Unternehmen von Alpha.« »Jones«, sagt sie geduldig, »dann wäre ich nur gezwungen, sie alle rauszuschmeißen.«
»Das machst du nicht.« »Doch. Ohne mit der Wimper zu zucken. Wir haben schon alles arrangiert — ein einziger Anruf genügt. Und nach dem, was du gemacht hast, wäre es vielleicht sogar einfacher, wieder ganz von vorn anzufangen.« Sie faltet die Hände wie zum Gebet. »Aber die beste Lösung wäre, einfach wieder zum alten Zustand zurückzu kehren, Jones. Deine Freunde können ihren Job behalten. Und ich muss mit Alpha nicht in eine andere Stadt umziehen. Alle sind glücklich — na ja, du weißt, was ich meine. Bitte, lass es dir durch den Kopf gehen. Es ist wirklich das Beste unter den Umständen.« »Ich hätte allen von Alpha erzählen sollen, sofort nachdem ich euch draufgekommen bin.« Eve beißt sich auf die Unterlippe. »Jones, du hast diese fixe Idee, dass sie sich freuen werden, wenn sie die Wahrheit erfahren. Dass sie dir dankbar sein werden dafür. Aber sie werden dir nicht dank bar sein. Sie werden dich hassen. Jetzt, in diesem Moment, erzähle ich dir die Wahrheit, Jones, und bist du mir etwa dankbar? Nein, du bist wütend und aufgebracht, und wahrscheinlich hasst du mich sogar ein wenig. Ich möchte dir nicht drohen, weil ich weiß, dass du in deinem aufgewühlten Zustand nicht logisch denken kannst, aber wenn du willst, dass ein paar von diesen Leuten deine Freunde bleiben, dann erzähle ihnen lieber nichts von Alpha. Überrede sie lieber dazu, den Vorstand zurückzuholen.« »Damit diene ich also meinem Interesse. Wenn ich lüge. Wenn ich immer weiter lüge.« »Ja.«
Er sieht sich um. »Wo ist dieses Ethikvideo? Das du immer den nervösen Anlegern vorspielst?« »Ähm ... ich glaube ...« »Das war ein Witz.« »Oh.« Sie lächelt, doch ihr Blick gleitet forschend über sein Ge sicht. »Das ist gut. Lach einfach drüber. Es ist doch nur Business.« Wieder ist ihm nach Heulen zumute. Doch er reißt sich zusam men. »Wenn ich den Angestellten von Alpha erzähle, werden sie mich hassen. Und sie verlieren ihre Arbeitsplätze. Aber wenn ich dir helfe, wird niemand gefeuert.« Eve zögert. »Doch, einige Schlüsselfiguren muss ich entlassen.« Sie sieht seinen Gesichtsausdruck. »Aber darüber können wir später reden. Jones, ich weiß, das ist schwer für dich. Eines Tages wirst du zurückblicken und erkennen, dass das für deine Karriere ein riesi ger Schritt nach vorn war. Ich habe so viele Ideen für Alpha — ich sollte dir gar nichts davon erzählen, es ist alles noch ganz unausge goren, aber ich glaube, ich kann die Finanzierung für einen Ort in Virginia auf die Beine stellen. Wir können eine Kleinstadt bauen, Jones. Eine Stadt für Zephyr. Mit Schule und Einkaufszentrum, in allen Häusern gibt es Breitbandanschluss und ein eigenes Bespre chungszimmer, wir geben ihnen alles, alles, was sie nur wollen. Sie müssen nur in dieser Stadt wohnen. Du sagst, dass wir den Leuten ein Stück ihres Lebens gestohlen haben, und du hast Recht, du hast völlig Recht. Aber in unserer Stadt wird es keinen Unterschied mehr geben zwischen Arbeit und Zuhause, denn alle werden vierund zwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche in der Arbeit und gleichzeitig zu Hause sein. Verstehst du? Sie werden arbeiten,
nicht weil wir sie dazu zwingen, sondern weil ihre Stadt davon ab hängt, weil sie damit ihre Lebensqualität verbessern. Weil sie stolze Patrioten des Unternehmens sind.« Sie drückt die Hände zusam men, ihre Augen glänzen. »Verstehst du, Jones, du kannst das jetzt nicht einfach alles ausradieren. Wir haben noch so viel vor.« Jones antwortet erst nach einer längeren Pause. »Ich muss es mir durch den Kopf gehen lassen.« »Natürlich. Natürlich, klar.« Sie nickt. »Wir haben noch Zeit. Alpha trifft gegen Mittag wieder zusammen. Komm bitte, okay?«
Elizabeth setzt sich auf. Sie schiebt sich das Haar aus dem Gesicht. Sie bewegt den Hintern, der sich anfühlt, als wäre er an Rogers Schreibtisch festgeklebt. Dann knöpft sie ihre Bluse zu. Roger drückt ihre Schulter. »Das ... war ... unglaublich.« Er blickt zu ihr auf, und sie sieht sein strahlendes Lächeln, ohne dass sie sich ihm zuwenden muss. »Findest du nicht?« »Mmm.« Sie blickt sich nach ihrem Höschen um. »Ich muss mich bei dir entschuldigen, Elizabeth. Ich weiß, in letz ter Zeit hab ich dich ziemlich schlecht behandelt. Es ist nur, manchmal lass ich mich so reinziehen in diese ganzen Machtge schichten. Du weißt ja selbst, wie es hier zugeht.«
Sie merkt, dass der Slip an ihrem linken Knöchel hängt. Sie beugt sich vor, schiebt sachte Rogers Kopf beiseite und zieht ihn nach oben. »Ich meine, wenn ich ganz ehrlich bin, ist es einfach nur Unsicher heit.« Er lacht. »Du wirst es mir wahrscheinlich nicht glauben. Aber so ist es. Du hast mich nervös gemacht. Bei dir hatte ich immer das Gefühl, dass ich mich beweisen muss.« Sie steht auf und streicht ihren Rock glatt. Roger setzt sich auf. »Was ich damit sagen will, Elizabeth, ich glaube, ich möchte das gern fortsetzen.« Sie sieht ihn an. Sie schüttelt den Kopf. Roger stutzt. »Was? Was soll das heißen?« »Ich will nicht.« »Was willst du nicht? Noch mal Sex?« »Dich.« »Du willst mich nicht?« Elizabeth schüttelt den Kopf. »Warum nicht?« Er zieht das Gesicht in Falten. »Was ist denn? War irgendwas falsch?« »Nein.« »Wo liegt denn das Problem? Sag mir doch, was du willst.« Eliza beth überlegt. »Essiggurken.«
Zurück in der Abteilung Belegschaftsservice findet sich Jones mit ten in einem Hockeyspiel wieder. Von der Tür aus beobachtet er, wie die Leute über Schreibtische klettern und Stühle umstoßen. Ein Mann kracht so heftig gegen eine Zellenwand, dass eine Reihe Ab lagemappen auf den Teppichboden fällt. Sein Fuß landet auf einer und zerreißt den Deckel. Er rennt weiter, ohne sich umzuschauen. »Jones!« Freddy kommt herüber. Er sieht glücklich und aufgeregt aus. »Wir spielen Hockey.« »Das sehe ich.« Freddy starrt ihn an. »Was ist?« »Wir haben das Management doch nicht gestürzt, um Spiele zu spielen«, bemerkt Jones mürrisch. »Ach, komm schon. Es ist der erste Tag. Wir haben bloß ein bis schen Spaß.« »Freddy!«, plärrt jemand. Jones sieht Holly vorbeidüsen, die mit einer Kartonröhre einen Gummiball vorantreibt. Freddy wirft Jones einen entschuldigenden Blick zu. »Das wird sich schon wieder beruhigen. Sind doch alles gute Leute.« Dann rennt er Holly nach. Jones geht zur Bürozelle des Schulungsverkaufs, die leer steht. Schwer sinkt er auf seinen Stuhl und legt den Kopf auf die Arme. Zuerst hat er es für unmöglich gehalten, die Leute davon zu über zeugen, dass sie den Vorstand wieder brauchen. Jetzt hält er es für unvermeidlich. Eve hat Recht. Das ist kein Unternehmen mehr, sondern eine Party. Und das werden auch die Angestellten früher oder später einsehen. Sie werden erkennen, dass niemand mehr so viel arbeitet wie früher, und verstehen, was das bedeutet.
»Hallo?« Er hebt den Kopf. Es ist Alex Domini, der Typ, den er mit der Neuverkabelung des Computernetzes beauftragt hat. Alex hat einen Stoß Papiere in der Hand. Anscheinend ist er der Einzige, der heute bei Zephyr arbeitet. Aber Alex ist ja auch selbständiger Unterneh mer. »Tut mir leid, wenn ich störe. Ist das ein schlechter Zeitpunkt? Ich hab da ein kleines Problem.« Mit verlegenem Gesicht betritt er die Bürozelle. »Die Sache ist nämlich, ich komme nicht in den dreizehn ten Stock. In den Aufzügen gibt es keinen Knopf dreizehn, und die Treppenhaustüren sind verschlossen ... Also, ich weiß auch nicht, was ich jetzt machen soll.« Jones starrt ihn an. »Wie kommst du darauf, dass es einen drei zehnten Stock gibt?« »Die Verkabelung. Ich hab einen Laptop angeschlossen, und es gibt auf jeden Fall ein Netz zwischen zwölf und vierzehn. Ich kann es nur nicht finden.« Jones schluckt ein paar Mal. »In den dreizehnten Stock kommt man nicht so leicht. Ich bring dich hin.« »Ah, danke. Mann, ich dachte schon, ich ticke nicht mehr ganz richtig.« »Das liegt nicht an dir, es liegt an dem Laden hier.« Als sie vorn bei den Aufzügen ankommen, fällt Jones etwas ein. »Ach übrigens, wie läuft's denn so mit dem restlichen Netzwerk?« »Im Grunde alles fertig. Sogar der dreizehnte Stock — ich weiß nicht, was dort ist, aber es ist jetzt mit allem anderen verkabelt. Wir müssen eigentlich nur noch einschalten.«
»Interessant«, bemerkt Jones.
Jones ist im Überwachungraum, als die Alphaagenten allmählich hereintröpfeln. Eve trifft als Erste ein. Sie steuert an der Glaswand vorbei auf den Besprechungsraum zu, doch dann sieht sie ihn, bleibt stehen und winkt. Jones macht hinter sich die Tür zu. »Hi.« »Hi. Wie geht's?« Er zuckt die Achseln. Zusammen laufen sie weiter zum Bespre chungszimmer. »Geht schon so.« Sie nickt. »Ich will dich nicht drängen, Jones, aber ...« Sie hat die Tür aufgemacht, und ihr Blick fällt auf Alex, der an dem großen Tisch sitzt. Eve sieht zuerst ihn, dann Jones, dann wieder Alex an. »Wer sind Sie?« »Er arbeitet am Netzwerk«, erklärt Jones. »Was macht er hier?« »Ich hab ihn raufgelassen. Er muss ein paar Datenkabel verbinden oder so. Die Einzelheiten hab ich nicht so genau verstanden.« »Verzeihung... soll ich lieber gehen?«, fragt Alex mit unsicherer Stimme. »Ja, danke, ist wohl besser«, antwortet Jones. »Wir brauchen den Raum jetzt.« Alex steht auf. Zwei weitere Agenten treffen ein und kommen hin ter Eve und Jones zu stehen. Eve bewegt sich nicht, und es gibt ei
nen Stau: Alex will raus, die Agenten wollen rein, und Eve blockiert den Durchgang. Ihr Blick huscht zwischen Alex und Jones hin und her. Jones sieht sie fragend an. »Was ist?«
»Wir gehen nicht da rein.«
»Was? Wieso nicht?«
»Weil du dich für besonders schlau hältst«, belehrt sie ihn.
Mona kommt dazu. »Was ist denn los?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, antwortet Jones.
»Die Besprechung wird verlegt.«
»Was?«, blafft Jones. »Glaubst du vielleicht, er hat das Zimmer
verwanzt oder was?« Eve bleibt ganz ruhig. »Das ist kein guter Start für unsere neue Zusammenarbeit, Jones.« »Was hab ich denn gemacht?« »Alle raus. Und sorgt bitte dafür, dass dieser Typ aus dem drei zehnten Stock verschwindet.« Auf dem Weg zurück zu den Aufzügen packt Eve Jones direkt über dem Ellbogen. »Du weißt genau«, flüstert sie, »wie sehr ich mich darauf gefreut habe, in dem großen Sessel zu sitzen.«
Unten
in
der
Eingangshalle
inspiziert
Eve
zwei
Bespre
chungszimmer, ehe sie eines findet, das ihr zusagt. Sie zieht die Ja
lousie über das kleine Fenster in der Tür und bemerkt die Sicher heitskamera in der Ecke. Mit dem Handy ruft sie im dreizehnten Stock an. »Nur damit das klar ist — niemand außer dir betritt den Überwachungsraum, bis du wieder von mir hörst. Niemand.» »Das ist doch bescheuert«, schimpft Jones. »Klausman hätte uns bestimmt nicht hier runterlatschen lassen. Und wenn jemand hier reinplatzt?« Eve zögert. »Mona, kannst du die Tür mit einem Stuhl festklem men?« Mona wirkt verblüfft. »Ich weiß nicht... okay, ich mach schon.« »Wir haben einen wunderbaren Besprechungsraum im dreizehn ten Stock.« »Halt endlich den Mund, Jones.« Blake mischt sich ein. »So ungern ich mit unserem Judas überein stimme ...« Eve klatscht mit der flachen Hand auf den Tisch. Alle zucken zu sammen. »Jetzt sind wir hier. Wir haben eine Besprechung vor uns. Also, fangen wir an.«
Als Freddy an seinem Schreibtisch vorbeikommt, fällt ihm etwas Komisches an seinem Monitor auf. Er macht eine Schleife in seine Bürozelle, um sich das genauer anzusehen. In den letzten Monaten war auf seiner Taskleiste nur ein kleiner, mit einem roten Kreuz
ausgestrichener Computer zu sehen. Jetzt ist dort ein gelber Ballon mit der Nachricht: ZEPHYR INTRANET BETRIEBSBEREIT. GESCHWINDIGKEIT: 100 MBPS. »Hey«, meint Holly die gerade ankommt. »Ich dachte, du holst mir einen Kaffee.« »Guck dir das mal an.« Er greift nach seiner Maus. Doch bevor er in sein Postfach schauen kann, klappt ein neues Fenster auf. Nach UPDATES WERDEN GELADEN heißt es VORGANG ABGESCHLOSSEN. Dann erscheint etwas anderes. »Was ...« Holly verstummt. Sprachlos starren sie auf den Bild schirm.
»Was unsere laufenden Projekte angeht... sind die heute auch Thema?« Tom Mandrake sieht Eve an, die nicht reagiert, weil sie Jones beobachtet. Dann merkt sie es und macht eine ruckartige Kopfbewegung. »Okay. Also, in Projekt 442 wird untersucht, wie es sich auf die Produktivität der Angestellten auswirkt, wenn Dinge, die an die Außenwelt erinnern, aus dem Arbeitsumfeld entfernt werden. Ihr wisst vielleicht noch, dass wir in diesem Bereich viel versprechende Anfangsergebnisse hatten.« Mona nickt. »Sie bleiben länger in der Arbeit.« »Es sind auch rück läufige Trends bei privaten Telefongesprächen zu verzeichnen. Lei der habe ich einiges davon einem unserer Psychologen vorgelegt,
und er hält es nicht für ausgeschlossen, dass einige unserer Ver suchspersonen eine dissoziative Identitätsstörung entwickeln.« »Sie werden schizophren?«, fragt Blake. »Nein, das ist keine Schizophrenie. Mehr eine gespaltene Persön lichkeit. Eine für die Arbeit, eine für zu Hause. Es gab einige, nun, leicht beunruhigende Vorfälle. Leute, die Anrufe von ihren Ver wandten bekommen und ihre Stimmen nicht erkennen. Solche Sa chen.« Einen Moment lang herrscht Schweigen. Dann meldet sich links von Jones ein Agent zu Wort. »Das könnte doch alles Mögliche sein. Die Leute könnten eine entsprechende Veranlagung haben.« »Ich will damit nicht sagen, wir sollen die Untersuchung einstel len«, antwortet Tom. »Es ist nur so, dass es vielleicht ein ernsthaftes Gesundheitsproblem geben könnte.« Jones spürt, wie Eves Blick über ihn kriecht. Und plötzlich muss er sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. »Erst mal mit unserer Versicherung reden«, schlägt Blake vor. »Damit klar ist, dass es nicht an uns hängen bleibt, wenn hier je mand wegen dieser Sache ausrastet.« »Ruhe«, sagt Eve. Ihr Blick liegt immer noch auf Jones. »Keiner sagt mehr ein Wort.«
Vor einigen Minuten war die Abteilung Belegschaftsservice noch erfüllt vom Lärm des Hockeyspiels. Jetzt ist alles still. Hier wie auf allen anderen Stockwerken darunter und darüber drängen sich die Leute in Bürozellen zusammen und starren auf Computerbild schirme. Blake fragt: »Was ist denn los?« Eve bleibt stumm. Sie hat es herausgefunden. Jones sieht es an ih ren Augen. »Okay!« Jones zieht seine Krawatte gerade. »Bin ich dran? Also erstens kann ich voller Freude berichten, dass das Netzwerk wieder läuft.«
»Was machen die denn da?« Eine Stimme hinter Holly. Sie kann nicht antworten. Sie kann nicht atmen. Seit vier Jahren arbeitet sie bei Zephyr, und in dieser ganzen Zeit hat sie das Unternehmen nie verstanden. Sie hat immer gedacht, es liegt an ihr. Wie Scherben scharren die Worte durch ihre Kehle. »Wir sind nur Versuchskaninchen.«
»Das ist aus mehreren Gründen eine gute Nachricht«, fährt Jones fort. »Erstens kann man jetzt von jedem Computer im Haus auf die Alphaprojekte zugreifen. Sie sind auf Netzlaufwerk R gespeichert. Zweitens kriegt man über die Kameras eine Live-Einspeisung, ohne dass man den Überwachungsraum im dreizehnten Stock aufsuchen muss. Mit Ton und allem. Das Bild soll ein bisschen ruckeln, aber trotzdem ...« So weit kommt er, dann zerrt ihn Blake aus dem Stuhl.
Freddy klickt sich durch Laufwerk R. Zuerst ohne zählbaren Er folg, weil alles nach Projektnamen geordnet ist. Dann findet er ein Verzeichnis der Personalakten und darunter eine mit dem Namen CARLSON-E. Diese Akte listet alle Projekte auf, an denen Freddy beteiligt war. Insgesamt sind es fünf. Das erste, Projekt 161, trägt den Titel ENTZUG VON BELOHNUNG UND MOTIVATION. Darunter heißt es in den Instruktionen: UNGEACHTET DER LEISTUNGEN JEDE BEFÖRDERUNG BLOCKIEREN.
Gretel ist den ersten Tag wieder in der Arbeit. Sie fühlt sich viel besser, und auch ihr Telefon steht nicht mehr unter Dauerbeschuss. Sie hat so eine Ahnung, dass sie sich heute vielleicht sogar zu einer richtigen Mittagspause davonstehlen kann. Ein Lämpchen blinkt. »Guten Tag, hier der Empfang.« »Hallo Gretel. Hier ist Holly Vale vom Belegschaftsservice. Kannst du mal kurz raufkommen?« »Ich muss ans Telefon gehen.« »Ich weiß. Aber wir haben hier was, das musst du dir unbedingt anschauen.«
Schuldbewusst tritt Elizabeth aus Rogers Büro. Ihr Körper ist an gespannt, sie ist gefasst auf einen Ansturm von Vorwürfen: Was hast du da drinnen gemacht? Doch nichts passiert. Im Gegenteil, es ist merkwürdig ruhig in der Abteilung. Sie blickt auf. Niemand ist zu sehen. Als sie an einer Bürozelle vorbeikommt, muss sie noch mal hin schauen, bevor sie es glauben kann. Fünf oder sechs Leute haben sich dort zusammengedrängt und hängen vor einem Monitor. Kei ner gibt einen Laut von sich. Neugierig und ein wenig verwirrt geht sie hinein und stellt sich auf die Zehenspitzen, um den Leuten über die Schultern zu spähen. Sie sieht den Bildschirm. Zuerst kann sie
nichts damit anfangen. Dann dämmert es ihr allmählich, und ihre Hand gleitet über ihren Unterleib. Blake packt Jones am Hemdkragen und schüttelt ihn. Jones' Kopf prallt gegen den Teppichboden. »Was hast du gemacht?« »Lass ihn los.« Eve ist aufgestanden. Blake zieht die Hände weg, als wäre Jones ansteckend. »Ich sag euch, was wir machen«, erklärt Eve. »Wir fahren rauf in den dreizehnten Stock, und zwar sofort. Da können wir dann wei tersehen.«
Freddy entdeckt die Akte von Megan, in der auch ihre private Te lefonnummer steht. Er schiebt sich durch die Menge zu seinem Tele fon und wählt. »Hallo?« »Megan? Hier ist Freddy Carlson.« Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen, also fügt er hinzu: »Von Zephyr.« »Oh, tut mir leid, natürlich! Ich hab bloß nicht mit einem Anruf von dir gerechnet. Wie sieht's denn aus bei euch?« »Naja«, meint Freddy.
Der Aufzug ist proppenvoll, doch sämtliche Mitglieder von Pro jekt Alpha finden Platz. In den beengten Verhältnissen vermeiden die meisten Jones' Blick, mit Ausnahme von Blake, der ihn mit offe ner Feindseligkeit anstarrt, und Tom, der eine anklagende Miene aufgesetzt hat. Auf halbem Weg nach oben kann sich Tom nicht mehr bremsen. »Das hast du doch nicht wirklich gemacht, Jones, oder?« »Spiel hier nicht den Blödmann, Tom«, zischt Blake. »Aber warum, Jones? Warum machst du so was?« »Weil sie was Besseres verdient haben«, verteidigt sich Jones. »Im Gegensatz zu mir.« Niemand geht auf seine Bemerkung ein. Als sie in den Überwa chungsraum gelangen, starren sie schweigend auf die Monitore. Dann kreischt Eve. Kurz und schrill: ein Schrei der reinen Frustration. Alle fahren zu sammen, auch Jones. »Mein Gott, Eve.« Blake klingt reichlich verdattert. »Hast du gedacht, ich mach Witze?«, herrscht sie Jones an. »Ver dammt, hast du das gedacht?« »Nein, Eve.« Sie zerrt ihr Handy aus der Tasche. »Jetzt pass mal gut auf die Monitore auf. Und denk immer dran: Du hast es dir selbst zuzu schreiben. Ich hab dich gewarnt, dass das passieren wird, wenn du es ihnen sagst. Es ist ganz allein deine Schuld.«
Niemand ist wütend; sie sind viel zu benommen. »Das muss ein Scherz sein«, macht sich ein Buchhalter im siebten Stock Mut, doch niemand antwortet ihm. Sie haben nicht das Gefühl, dass es ein Scherz ist. Sie blicken auf ihre Schreibtische. Ihre Eingangsablagen, gefüllt mit nutzlosen Aufgaben. Zum ersten Mal haben sie das Ge fühl, Zephyr wirklich zu verstehen. Überall beginnen gleichzeitig die Voicemail-Lämpchen zu blinken. Ein Raunen geht durch das Gebäude. Hände greifen nach Telefo nen. »Hallo, im Namen der Abteilung Personalwesen und Ka pitalsicherung begrüße ich die gesamte Belegschaft.« Eine weibliche Stimme in leichtem Tonfall. Die meisten Zephyran gestellten kennen sie nicht. Doch Freddys Hand krampft sich um den Apparat, und Holly spürt, wie sich ihr Gedärm zusammen zieht. »Mein Name ist Sydney Harper. Ich habe aufregende Neuigkeiten für Zephyr Holdings bekannt zu geben und bitte daher um Ihre volle Aufmerksamkeit für diese Voicemail. Wie Sie alle wissen, ist letzte Woche fast der gesamte Vorstand zurückgetreten. Damit ist natürlich unsere bisherige Organisationsstruktur hinfällig gewor den, und es war Chefsache für das Personalwesen, eine effektive Lösung zu finden. Nach ausführlicher Beratung sowohl der Verant
wortlichen des Personalwesens als auch der verbleibenden Vor standsmitglieder haben wir einen Plan entwickelt, der nach unserer Auffassung geeignet ist, unsere Ressourcen in dieser schwierigen Übergangsphase auf optimale Weise zu bündeln. Mit sofortiger Wirkung sind alle Beschäftigungsverhältnisse auf gelöst. Die Angestellten können sich um ihre derzeitige oder, falls sie dies wünschen, auch um eine andere Stelle bewerben. Die ge nauen Einzelheiten sind am Schwarzen Brett angeschlagen. Auf Wiedersehen.« Das ist das Ende der Nachricht. Fassungslos legen die Mitarbeiter die Hörer weg. Sie sehen sich an, doch niemand hat eine Antwort. Langsam erheben sie sich von ihren Plätzen und strömen zu den Aufzügen. Die Jungen haben nicht begriffen und finden es aufre gend. »Ich kann mich also um jede Stelle im Unternehmen bewer ben? Jede Stelle, die ich will?« Die anderen tauschen besorgte Blicke aus. Sie haben was ganz anderes gehört. Sie haben gehört, dass alle Mitarbeiter gefeuert sind.
Das Schwarze Brett ist eine große Korkpinnwand, die an einer Wand der Kantine befestigt ist — oder besser der ehemaligen Kan tine, da diese ja längst ausgelagert wurde. Bei Zephyr Holdings gilt schon lange der Grundsatz, dass alle freien Stellen am Schwarzen Brett bekannt gemacht werden müssen, um ein offenes und trans
parentes Einstellungsverfahren zu gewährleisten. Außerdem zeigte sich dadurch auch ganz transparent, welche Mitarbeiter sich mit dem Gedanken beschäftigten, ihre aktuelle Position aufzugeben. Angestellte, die an das Schwarze Brett traten, konnten die Blicke aller in einem Umkreis von dreißig Metern auf sich fühlen. Sie konnten zuhören, wie Gerüchte geboren wurden. In jüngster Zeit jedoch ist das Schwarze Brett wie leer gefegt, eine traurige Erinne rung daran, wie schlecht die Dinge stehen. Nach der Auslagerung wurde die Kantine ohnehin geschlossen, und seither hatte eigentlich niemand mehr einen Anlass, einen Blick auf das Schwarze Brett zu werfen. Doch jetzt hängt genau in der Mitte ein einsames, mit einem schwarzen Reißnagel befestigtes Blatt. Die Mitteilung ist kurz und knapp. DERZEIT GIBT ES KEINE FREIEN STELLEN – Abt. Personalwesen und Kapitalsicherung
Und jetzt werden sie wütend.
Eve sinkt schwer auf den Teppichboden. Gerade hat sie noch ge standen, und dann sitzt sie schon auf dem Hintern. Die anderen Agenten wuseln herum und werfen sich nervöse Blicke zu. »Also«, meint Blake. »So weit, so schlecht. Glückwunsch, Jones. Wegen dir sind gerade alle rausgeschmissen worden.« »Spar dir den Atem«, entgegnet Jones. »Ich kann es gar nicht erwarten, dass du ihnen das alles erklärst. Das wird bestimmt lustig. Ich möchte auf keinen Fall deinen Ge sichtsausdruck verpassen, wenn dir klar wird, wie sehr sie dich jetzt hassen.« Jones blickt auf die Monitore. »Ich bin sicher, es gibt genügend Hass für alle.« In der Eingangshalle beobachtet eine Gruppe von Leuten — ein Mob wäre vielleicht die treffendere Umschreibung —, wie sich ein Mann gegen die Tür zum Treppenhaus wirft. Dies entlockt den anwesenden Agenten ein beunruhigtes Mur meln. »Sollen wir den Betriebsschutz verständigen?«, fragt Mona. Vom Boden meldet sich Eve mit dumpfer Stimme. »Der Betriebs schutz wird nicht auf unserer Seite stehen, Mona.« »Wir haben doch nichts Verbotenes getan«, jammert Tom. »Was wir gemacht haben, war doch nicht falsch.« Jones kichert. »Wie stabil sind die Türen?« Mona klingt kleinlaut. Alle ächzen. »Nicht stabil genug, wahrscheinlich«, antwortet Jones.
Über Zephyr Holdings geht die Sonne unter. Orangegelb erglüht das Gebäude, als stünde es in Flammen. Das leuchtende Glas scheint zu schmelzen.
Männer und Frauen trampeln die Betonstufen hinauf. Im Trep penhaus stauen sich nackte Emotionen, sie prallen von den Wänden ab und verdoppeln ihre Intensität. »Wir bringen sie um!«, ruft je mand. »Wir bringen sie um!«
Mona verfällt in ein dünnes, hohes Wimmern und hört auch nicht damit auf, als sich Blake das Telefon schnappt und den Notruf wählt. Mit einem Pssst! versucht er sie zum Schweigen zu bringen, während er seinem Gesprächspartner erklärt, dass sie sofort Hilfe
brauchen und kurz davor sind angegriffen zu werden. Einige Agen ten rennen aus dem Überwachungsraum — um sich in ihren Büros zu verschanzen oder sich unter Schreibtischen zu verstecken, ver mutet Jones. Er kniet sich neben Eve. Das Haar hängt ihr ins Ge sicht. Vorsichtig schiebt er es weg und sieht zu seiner Überra schung, dass sie weint. »Nein, ich meine, es sind Hunderte«, ruft Blake ins Telefon. » Wirk lich Hunderte, verstehen Sie?« Eve schaut Jones an. »Sie werden reinkommen.« »Ich weiß.« Sie nimmt seine Hand. »Du musst sie aufhalten. Bitte, Jones.« »Wie stellst du dir das vor, verdammt?« »Bitte.« Sie zittert am ganzen Körper. »Jones, bitte, sie werden uns wehtun.« Jones bleibt stumm. Ihr Weinen wird stärker. »Jones, bitte. Lass nicht zu, dass sie mich an fassen.«
Der dreizehnte Stock ist natürlich nicht markiert. Auf der Tür steht WARTUNGSDIENST. Aber er kommt nach der zwölften und vor der vierzehnten Etage, und wenn du danach suchst, ist er nicht schwer zu erkennen. Ein Mann mit hochgerollten Hemdsärmeln über
schwellenden Bizepsmuskeln — vielleicht bis vor kurzem ein häufi ger Besucher des Zephyr-Fitnessraums — erreicht die Tür als Erster. Er drückt den Griff, aber es ist abgesperrt. Frustriert knallt er die Hand gegen die Tür. Von der anderen Seite kommt ein erschreckter Aufschrei. Der Mann dreht sich um und brüllt ins Treppenhaus hinunter. »Sie sind da drin!«
Wie ein gefangenes Raubtier marschiert Blake auf und ab. Als er sich das Haar zurückstreicht, zittert seine Hand. Abrupt zerrt er sich seine Augenklappe herunter und schleudert sie auf den Boden. Die Haut um sein Auge ist grau und glänzend. Etwas — oder jemand — kracht gegen die Treppenhaustür, und Blake zuckt zusammen. »Wir brauchen irgendeine Barrikade.« Seine Stimme ist angespannt. »Ir gendwas, um ...« Er dreht sich um. »Jones, Jones. Was hast du für einen Plan?« Jones blickt auf »Was?« »Dein Plan. Komm schon. Ja, okay, du hast uns erledigt. Alpha ist Geschichte. Glückwunsch. Aber wie willst du hier rauskommen? Ohne einen Ausweg für dich selbst hättest du das doch nie ge macht.« Jones empfindet Mitleid für ihn. Allerdings nicht viel. »Ich kann dir nicht helfen.«
Blake starrt ihn an. Dann lacht er. Hoch und schrill kommt es aus ihm heraus und bricht jäh ab, als von der Tür wieder ein Dröhnen zu hören ist. Eve rollt sich zu einer Kugel zusammen. Jones will ihr vorschla gen, woanders hinzugehen. Es wäre eben nicht besonders gut, wenn die hereinstürmende Horde sie direkt unter der Monitorwand fin det. Das würde die Lage nur noch verschlimmern. Er streichelt ihr Haar. »Ich glaube, Zephyr externalisiert nicht mehr«, flüstert er, als das Schloss splittert und die Tür zum Trep penhaus krachend auffliegt. Er hört einen Aufschrei von Mona. Und jemand anders — ob Mann oder Frau, kann Jones nicht erkennen — stößt ein spitzes, ersticktes Kreischen aus, das er nie vergessen wird: »Wir sind doch nur Geschäftsleute! Wir sind doch nur Geschäftsleute!«
Elizabeth tritt in den Korridor und drückt den Aufzugknopf. Zur Erinnerung schaut sie noch ein letztes Mal zurück, um einen Blick auf die Abteilung Belegschaftsservice zu werfen — doch es gibt nichts zu sehen. Die Leute, mit denen sie zusammengearbeitet hat, sind bereits verschwunden, um Rache zu nehmen, und die Einrich tung ist nun wirklich nichts Besonderes. Es ist nicht einmal wie im vierzehnten Stock, der mit der Berliner Mauer wenigstens ein un
verwechselbares Merkmal vorweisen konnte. Hier gibt es nichts Bedeutsames, was sie sich einprägen müsste. Vielleicht fällt ihr der Abschied deshalb so leicht. Als der Aufzug kommt, steigt sie mit federndem Schritt ein. Je tiefer er sinkt, desto mehr hebt sich ihre Laune. Endlich frei!, denkt sie. Ihr ist nach La chen zumute. Früher hat sie sich immer in ihre Kunden verliebt. Dazu gehört schon einiges, findet sie. Die Gefühle für den Embryo in ihrem Bauch würde Elizabeth nicht als Liebe beschreiben, noch nicht, aber sie weiß, dass dieses Gefühl in ihr heranwächst. Im Vergleich dazu sind ihre beruflichen Schwärmereien — nun, das lässt sich eben nicht vergleichen. Wenn sie daran denkt, wie sie noch vor vier Mo naten war, erkennt sie sich überhaupt nicht wieder. Sie fragt sich, was ihr an Zephyr Holdings fehlen wird. Dieses Un ternehmen hat fast ein ganzes Jahrzehnt den größten Teil ihres Le bens beherrscht. Es hat sie weitgehend geprägt. Doch wenn sie ihre Erinnerungen durchgeht, findet sie nur eine, die sich von dem grau en Allerlei abhebt: wie sie auf der Toilette gesessen und erkannt hat, dass sie schwanger ist. Und als sich die Aufzugtüren auf das Park geschoss und die Rampe öffnen, als ihr Blick auf den Sonnenschein dahinter fällt, weiß sie die Antwort auf ihre Frage: nicht viel.
April Sie klatschen laut, leidenschaftlich und viel zu lang. Selbst als die Lichter angehen, wollen sie nicht aufhören. Der große Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, und der Applaus hallt wie Donner durch den Raum. Jones, der sich nicht gern wie ein Rockstar fühlt, ist verlegen. Er verlässt das Podium und mischt sich unters Publi kum. Die Leute stehen von ihren Sitzen auf und scharen sich mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen auf dem Gesicht um ihn. Die Zuschauer heute stammen aus einem breiten Spektrum von Unternehmen, und ihre Namensschilder blitzen, während sie von drei Seiten auf ihn zudrängen. Die üblichen Fragen prasseln auf ihn nieder — während ängstliche Blicke seinen Körper nach irgendwel chen Anzeichen von Verletzungen absuchen —, und er gibt seine Standardantworten, die die Menge zu Bekundungen ächzender Sympathie und zischender Verachtung veranlassen. Plötzlich mel
det sich von hinten eine Frau zu Wort. »Steve, ich habe eine Frage. Wie kannst du nachts schlafen, obwohl du daran schuld bist, dass so viele Leute verletzt wurden?« Alle Blicke richten sich auf sie. Als er seine Stimme wie dergefunden hat, sagt Jones: »Hallo Eve.«
»Erst wollte ich schon reinschauen, bevor du anfängst.« Klackend gleitet sie neben ihm durch den Korridor. Sie hat einen langen schwarzen Mantel über dem Arm und trägt ein dünnes graues Kleid. Dass sie in dem eng anliegenden Fummel überhaupt gehen kann, grenzt schon fast an ein Wunder, doch anscheinend hat sie keine Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Aber dann hab ich es mir anders überlegt. Ich wollte nicht, dass du was änderst, bloß weil ich dabei bin. Ich wollte das volle Steve-Jones-Erlebnis.« »Ich dachte, du bist nach New York gezogen.« Als sie in seiner kleinen Garderobe angekommen sind, fängt er an, seine Sachen zu sammenzupacken. »Ich bin extra hergeflogen, um dich zu sehen. Du musst doch wis sen, warum.« Sie blickt ihm suchend in die Augen. Jones muss zu geben, sie sieht absolut umwerfend aus. Ihr Haar federt; ihre Haut leuchtet. Nichts deutet darauf hin, dass sie vor vier Monaten in ei nem Streckverband steckte.
»Keine Ahnung.« »Ich gehöre jetzt auch zum Vortragszirkus. Ich mache genau das Gleiche wie du, bloß in Manhattan.« Ein Mundwinkel geht nach oben. »Na ja, vielleicht nicht genau das Gleiche. Über einige Details sind wir uns wohl nicht ganz einig. Aber es ist die gleiche Grund botschaft: ›Du darfst die Angestellten nicht so ärgern, dass sie dein Büro stürmen und dir die Scheiße aus dem Leib prügeln.‹« Sie lacht. »Ach, und ich verlange auch höhere Honorare.« Jones hört auf zu packen. »Du hältst Vorträge über Ethik?« »Ganz am Ende, wenn ich von den Krawallen erzähle, wird das Hauptlicht ausgeschaltet, und ich sitze auf einem Hocker, nur noch von einem einzelnen Scheinwerfer angestrahlt. Alles ist ganz still, die Leute halten den Atem an. Wenn dann die Lichter wieder ange hen, sehe ich dieses Meer von schockierten Gesichtern. Es ist so was wie ihr schlimmster Alptraum. Es ist das Schrecklichste, was sie je gehört haben.« Nach einer verblüfften Pause muss Jones lachen. »Ich verstehe wirklich nicht, warum ich überrascht bin.« Sie blickt ihn aufmerksam an. »Bist du sauer?« Er überlegt. »Was du jetzt machst, hat mit mir eigentlich nichts zu tun.« Sie presst die Lippen zusammen. »Und was ist mit Blake? Er ver kauft inzwischen Autos. Wirklich nette Kutschen«, fügt sie hinzu, als sie sein Gesicht bemerkt. »Wenn du einen günstigen Benz willst, ruf ihn an.« Sie neigt den Kopf. »Oder vielleicht lieber nicht. Und Klausman — er ist im Ruhestand. Ist nach Nordkalifornien gezogen,
glaube ich. Hab nichts mehr von ihm gehört, seit wir die Sammel klage abgeschmettert haben.« »Wie viel hat das gekostet? Nur so aus Interesse. Ich hab gehört, ihr hattet ungefähr ein Dutzend Anwälte.« »Alpha hat nichts Strafbares gemacht. Das hab ich dir immer wie der zu erklären versucht. Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen, wir haben den Leuten nur Jobs gegeben.« »Scheinjobs.« »Es gibt keine Vorschrift, dass Jobs sinnvoll sein müssen, Jones. Wenn es so wäre, wäre die halbe Welt arbeitslos. Deswegen haben wir den Prozess auch gewonnen.« Er zieht den Reißverschluss seiner Tasche zu. »Freut mich zu hö ren, dass es euch allen so gut geht. Aber jetzt musst du mich bitte entschuldigen, ich bin mit Freddy und Holly verabredet.« Eves Augenbrauen krümmen sich nach oben. »Erzähl mir nicht, sie haben dir verziehen. Wow. Hätte ich nicht gemacht. Aber Freddy und Holly sind ja auch nicht im Krankenhaus gelandet.« Ein kurzes Zucken läuft über ihr Gesicht. Dann lächelt sie wieder. »Aber dafür hab ich auch eine kostenlose Nasen-OP gekriegt. Wie findest du sie?« »Hab mich schon gefragt, was anders an dir ist.« Er nimmt die Ta sche. »Okay, ich muss.« Er kommt bis zur Tür, dann sagt Eve: »Weißt du, dass ich versucht habe, dich zu erreichen?« Er schaut sie an. »Klar.« Schweigen. Eve scheint zu erwarten, dass Jones etwas sagt. Als er stumm bleibt, lacht sie auf. »Ehrlich gesagt, mein Besuch hat noch
einen anderen Grund. Ich wollte sehen, wie ich mich in deiner Ge genwart fühle.« Ihr Blick zielt zwischen seine Augen. »Ob ich dich erwürgen möchte oder ... nicht.« Wieder schweigt Jones. »Willst du wissen, was von beidem es ist?« »Eigentlich nicht.« »Ach, komm schon. Ich weiß, dass du noch an mich denkst. Ich denke auch an dich.« Jones rafft sich zu einer Antwort auf. »Eve, ich interessiere mich nicht mehr im Geringsten für dich.« Offensichtlich widerspricht das ihren Erwartungen. In ihrem Ge sicht zeigt sich zuerst Überraschung, dann Zweifel. Schließlich ver härten sich ihre Züge zu einer Maske. Alles in ungefähr einer halben Sekunde. »Wenn ich sage, dass ich an dich denke, dann meine ich bloß, dass du mir leid tust. Es muss dich doch ankotzen, dass Blake und ich so gut verdienen, während du ... na ja. Aber was soll ich sagen. So läuft es nun mal im Business. Auf Moral und Ethik gibt niemand einen Furz. Deswegen werden Leute wie ich immer Erfolg haben.« »Komische Definition von Erfolg, wenn du mich fragst.« Sie runzelt die Stirn. »Häh?« »Immer noch einsam?« Eve stößt zischend die Luft aus. »Ich war nie einsam. Das hab ich nur gesagt, damit du dich besser fühlst.« Jones lacht leise. »Schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Eve. Wirklich.« Mit der Tasche über der Schulter tritt er aus der Garderobe. Er ist schon fast am Ausgang, wo Freddy und Holly auf ihn warten — die
werden Augen machen, wenn er ihnen das erzählt —, als ihm Eve nachruft: »Hey, Jones. Mach mich bloß nicht dafür verantwortlich, wenn Amerika seinen Standortvorteil an Länder verliert, die nicht solche Komplexe wegen der Arbeitsbedingungen haben.« Er dreht sich um. »Ich mach dich für gar nichts verantwortlich. Außer dafür, wer du bist.« Eve lässt sich das kurz durch den Kopf gehen. Dann grinst sie. »Danke.«
Danksagung Allen Leuten, die meine windigen ersten Entwürfe gelesen und mir ihre Meinung dazu gesagt haben, bin ich ewig dankbar. Ich weiß, es ist nicht leicht, dreihundert Seiten mit unglaubwürdigen Figuren und unverständlichen Handlungsentwicklungen zu lesen und daraufhin eine Antwort zu formulieren, die einfühlsam und hilfreich ist, aber den Autor auch nicht dazu treibt, von einer Brücke zu springen. Wenn ich es geschafft habe, letztlich etwas auch nur entfernt Romanhaftes zustande zu bringen, dann mit Unterstützung dieser Leute: Beth English, Roxanne Jones, Gregory Lister, Lindsay Lyon und Dennis Widmyer. Charles Thiesen, mein Mentor (oder bin ich seiner — ich hab es vergessen), hat so viele Entwürfe gelesen, dass ich die genaue Zahl nicht mehr weiß. Außerdem spielte er Cheerleader, wenn ich Auf munterung brauchte, und Orakel, wenn ich Rat nötig hatte.
Kassy Humphreys überschüttete mich mit einer Flut von guten Ideen, wenn ich wieder mal ratlos war, und als ob das noch nicht reichen würde, ließ sie es zu, dass ich große Abschnitte ihrer beruf lichen Karriere für mein Buch ausschlachtete. Wie sagte sie so schön: »Es wäre wirklich komisch, wenn es nicht mein Leben wäre.« Mein Agent Luke Janklow ist und bleibt der zuverlässigste, kons truktivste und überhaupt phantastischste Kerl im gesamten Univer sum. Meinem Lektor Bill Thomas ist es zu verdanken, dass die endgül tige Version dieses Buches kaum noch Ähnlichkeit mit der Fassung hat, die ich ihm verkauft habe. Und das ist gut so, glaubt mir. Er hat aus einem Buch, mit dem ich glücklich war, eins gemacht, das ich liebe. Und meine Frau Jen ist einfach perfekt. Immer.