EARL DERR BIGGERS
CHARLIE CHAN UND DAS SCHWARZE KAMEL Ein klassischer Kriminalroman aus dem Jahre Deutsche Erstveröffe...
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EARL DERR BIGGERS
CHARLIE CHAN UND DAS SCHWARZE KAMEL Ein klassischer Kriminalroman aus dem Jahre Deutsche Erstveröffentlichung WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE-BUCH Nr. 2008 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe THE BLACK CAMEL Deutsche Übersetzung von Alexandra von Reinhardt
Herausgegeben von Berhard Matt
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Copyright © 1929 hy Leisure Concepts, Inc. Copyright © 1982 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1982 Umschlagfoto: Bayrischer Rundfunk, München Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Satz: IBV Lichtsatz KG, Berlin Druck und Bindung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-453-10.611-3
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Kapitel 1
Morgen am Scheideweg Der Pazifik ist der einsamste aller Ozeane, und Reisende, die diese wogende Wüste überqueren, bekommen mit der Zeit das Gefühl, daß ihr Schiff in der Unendlichkeit von Himmel und Wasser verloren ist. Aber wenn sie von den Koralleninseln der Südsee zur kalifornischen Küste unterwegs sind, sehen sie ganz plötzlich eine Zwischenstation vor sich. Die Passagiere an Bord der ›Oceanic‹ erblickten diesen Zufluchtsort an einem friedlichen Julimorgen kurz nach Sonnenaufgang. Braune, nebelverhangene Gipfel wuchsen, unglaubhaft und unwirklich, aus dem Meer empor. Aber sie wurden von Minute zu Minute greifbarer, je näher das Land rückte, bis die Beobachter an der Reling zuletzt erregt die helle, grüne Insel Oahu erkennen konnten mit ihren dunkleren Streifen an den Stellen, wo die Talregen lauern. Die ›Oceanic‹ bog in den Kanal ein. Vor ihr erhob sich nun ›Diamond Head‹ wie ein großer Löwe, der geduckt zum Sprung ansetzt – wenn man diesen abgegriffenen Vergleich heranziehen möchte. Ein geduckter Löwe – ja; soweit ist das Bild treffend. Was aber das Springen anbelangt – nun, dafür bestand niemals auch nur die geringste Chance. ›Diamond Head‹ ist ein ›kamaaina‹ der Inseln und versinnbildlichte vor langer Zeit die Nutzlosigkeit impulsiven Handelns – eigentlich sogar jedweden Handelns überhaupt. Eine Dame stand an der Steuerbordreling und starrte auf den Strand von Waikiki und die weißen Mauern von Honolulu, die vom Laubwerk hinter dem Aloha-
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Turm halb verborgen waren. Sie war eine schöne Frau Anfang Dreißig und auf dieser heißen, eintönigen Fahrt von Tahiti her für ihre Mitreisenden eine Quelle nie versiegenden Interesses gewesen. Jeder hätte sie sofort erkannt, ganz gleich, in welchem abgelegenen Winkel der Erde er sich auch aufgehalten hätte, denn sie war Shelah Fane, und ihr Ruhm als Filmstar glich dem eines Präsidenten oder eines Königs. ›Ein kostbares Kleinod‹, – so hatten Filmleute sie acht Jahre oder sogar noch länger genannt; inzwischen aber begannen sie die Köpfe zu schütteln. »Doch nicht so gut. Sie läßt nach.« Auch Goldjungen und Goldmädchen verblassen, und dieser Gedanke verursacht Filmstars in schlaflosen Nächten Kopfschmerzen. Shelah konnte schon seit langer Zeit nicht mehr gut schlafen, und ihre Augen waren traurig und ein wenig sehnsüchtig, als sie den friedlichen Tantalus mit seinem Heiligenschein aus flockigen Wolken betrachtete. Sie hörte vertraute Schritte hinter sich an Deck und wandte sich um. Ein großer, breiter, kraftvoller Mann lächelte auf sie herab. »Oh – Alan«, sagte sie. »Wie fühlst du dich heute morgen?« »Etwas besorgt«, antwortete er, während er sich neben sie an die Reling stellte. Sein Gesicht hatte niemals Scheinwerfer und Make-up kennengelernt; es war tief gefurcht und von der Tropensonne gebräunt. »Die Reise ist zu Ende, Shelah – wenigstens für dich«, stellte er fest und legte seine Hand auf ihre. »Tut es dir leid?« Sie zögerte einen Augenblick. »Sehr leid – ja. Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn wir einfach immer so weitergereist wären.«
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»Mir auch nicht.« Er betrachtete Honolulu mit dem interessierten Ausdruck, den britische Augen automatisch annehmen, wenn sie einen neuen Hafen, einen neuen Ankerplatz erblicken. Das Schiff hatte am Kanaleingang haltgemacht, und eine Barkasse mit den Zollbeamten und dem Arzt steuerte darauf zu. »Du hast es doch nicht vergessen?« Der Engländer wandte sich wieder Shelah Fane zu. »Für mich ist das nicht das Ende der Reise. Ich werde dich heute nacht hier zurücklassen müssen, denn ich fahre um Mitternacht mit dem selben Schiff weiter – und vorher muß ich deine Antwort haben, unbedingt.« Sie nickte. »Du wirst sie vor deiner Abfahrt bekommen. Ich verspreche es dir.« Einen Augenblick lang betrachtete er ihr Gesicht. Seitdem sie Land gesehen hatte, war eine bemerkenswerte Veränderung mit ihr vorgegangen. Sie war aus der kleinen Welt des Schiffes in die große Welt zurückgekehrt, deren Bewunderung sie erwartete und der sie entgegenfieberte. Sie war nicht mehr ruhig, gelassen und friedvoll – ihre Augen brannten in rastlosem Feuer, ihr kleiner Fuß stieß nervös gegen das Deck. Plötzlich überwältigte ihn Angst – Angst, daß die Frau, die er in den vergangenen Wochen gekannt und angebetet hatte, ihm für immer entgleiten würde. »Wozu mußt du warten?« schrie er. »Gib mir deine Antwort doch gleich jetzt.« »Nein, nein«, protestierte sie. »Nicht jetzt. Später am Tag.« Sie warf einen Blick über ihre Schulter. »Ich möchte zu gern wissen, ob auch Reporter auf der Barkasse waren.« Ein großer, hübscher junger Mann ohne Hut, mit blonden wuschligen Haaren, die in der Brise flatterten,
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eilte auf sie zu. Seine Energie war eine Herausforderung an das Klima. »Hallo, Miß Fane. Erinnern Sie sich noch an mich? Wir haben uns kennengelernt, als Sie auf Ihrem Weg nach Süden hier durchkamen. Jim Bradshaw, vom Touristenbüro, Presseagent für die Inselschönheit, Kontaktmann zum Paradies. Unser herzlichstes ›Aloha‹ – und hier, zum Beweis, ein ›lei‹.« Er hängte ihr eine duftende Girlande um den Hals, während der von ihr mit ›Alan‹ angeredete Mann sich dezent zurückzog. »Wie reizend von Ihnen«, beteuerte Shelah Fane. »Natürlich erinnere ich mich noch an Sie. Sie schienen damals aufrichtig erfreut zu sein, mich zu sehen. Und jetzt wieder.« Er grinste. »Ich bin es auch- und außerdem ist das mein Job. Ich bin die Fußmatte an der Schwelle von Hawaii, auf der ganz groß ›willkommen‹ geschrieben steht. Die Gastfreundlichkeit der Insel – ich muß dafür sorgen, daß alle meine Ankündigungen wahr werden. Aber glauben Sie mir – in Ihrem Fall bedarf es keiner Verstellung.« Er bemerkte, daß sie erwartungsvoll über ihn hinwegblickte. »Es tut mir wirklich leid, aber sämtliche Zeitungsleute scheinen noch in Morpheus’ Armen zu ruhen. Man kann ihnen aber keinen Vorwurf machen. Sie sind nun einmal eingelullt vom Wispern der weichen Passatwinde in den Kokospalmen – ich werde das später weiter ausführen. Erzählen Sie mir einfach, was los ist, und ich werde dafür sorgen, daß es in die Zeitungen kommt. Haben Sie den großen Südseefilm unten in Tahiti zu Ende gedreht?« »Nicht ganz«, antwortete sie. »Einige Szenen müssen noch in Honolulu gedreht werden. Wir können hier so viel bequemer wohnen, und der Hintergrund ist ge-
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nauso schön… aber das wissen Sie ja selbst.« »Und ob ich das weiß!« rief der junge Mann. »Fragen Sie mich nur. Exotische Blumen, blühende Bäume, frische grüne Hügel, blauer Himmel mit ewiger Sonne und – das Ganze ein Traum der unwandelbaren Tropen mit einem Hauch von Frühling. Wie klingt das? Ich habe es gestern geschrieben.« »Es kommt mir sehr gut vor«, lachte Shelah. »Bleiben Sie längere Zeit in Honolulu, Miß Fane?« Sie nickte. »Ich habe nach meinen Dienstboten geschickt. Sie haben für mich ein Haus am Strand gemietet. Ich ersticke in Hotels- und außerdem starren mich immer irgendwelche Leute an. Ich hoffe, daß es ein großes Haus ist…« »Das ist es«, fiel Bradshaw ihr ins Wort. »Ich war gestern draußen. Alle stehen bereit und warten auf Sie. Ich habe Ihren Butler gesehen – und Ihre Sekretärin, Julie O’Neill. Wenn wir übrigens gerade dabei sind – ich würde sie gern einmal fragen, wo Sie solche Sekretärinnen finden.« Shelah lächelte. »Oh, Julie ist viel mehr als nur eine Sekretärin. Beinahe eine Art Tochter. Obwohl das natürlich absurd klingt, weil wir fast gleichaltrig sind.« »Tatsächlich?« sagte der junge Mann – allerdings nur zu sich selbst. »Julies Mutter war eine gute Freundin von mir, und als sie vor vier Jahren starb, habe ich das Kind aufgenommen. – Gelegentlich muß man einfach eine gute Tat vollbringen«, fügte sie hinzu, wobei sie bescheiden die Augen senkte. »Sicher«, stimmte Bradshaw zu. »Das weiß ich als alter Pfadfinder. Julie hat mir erzählt, wie freundlich Sie zu ihr waren…«
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»Ich wurde reich dafür entschädigt«, beteuerte der Star. »Julie ist ein Schatz.« »Nicht wahr?« stimmte der junge Mann freudig zu. »Wenn ich mein Reimlexikon zur Hand hätte, würde ich Ihnen auf der Stelle eine poetische Beschreibung des Mädchens geben.« Shelah Fane sah ihn plötzlich aufmerksam an. »Aber Julie ist doch erst vor zwei Tagen hier angekommen…« »Ja – und ich auch. Ich habe einen kurzen Abstecher nach Los Angeles gemacht und bin auf dem selben Schiff wie Julie zurückgekommen. Eine herrliche Fahrt. Sie wissen schon -Mondschein, das silberne Meer, ein hübsches Mädchen…« »Ich muß darüber nachdenken«, sagte Shelah Fane. Zwei Passagiere gesellten sich ihnen zu: ein resigniert wirkender Mann, dessen Kleidung die Hollywoodherkunft verriet, und ein bezauberndes zwanzigjähriges Mädchen. Shelah ergab sich ins Unvermeidliche. »Mr. Bradshaw, vom Touristenbüro«, stellte sie vor. »Das ist Miß Diana Dixon, die in meinem neuen Film mitspielt, und Huntley Van Horn, der Hauptdarsteller.« Miß Dixon verlor keine Zeit. Sie ließ sofort ihren Charme spielen. »Honolulu ist eine wundervolle Stadt. Ich bin immer ganz versessen darauf hierherzukommen – diese Schönheit…« »Du kannst dir die Mühe sparen«, unterbrach sie der Star. »Niemand weiß das besser als Mr. Bradshaw.« »Ich bin immer glücklich, wenn andere meine Vorstellungen bestätigen«, entgegnete der junge Mann höflich. »Und ganz besonders, wenn die Worte aus solch charmantem Munde kommen.« Er wandte sich dem Mann zu. »Mr. Van Horn – ich habe Sie schon im Kino gesehen.«
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Van Horn lächelte zynisch. »Ich glaube, selbst die Eingeborenen von Borneo haben das. Hat Shelah Ihnen schon etwas von unserem neuesten Werk berichtet?« »Sehr wenig«, antwortete Bradshaw. »Ist es eine gute Rolle für Sie?« »Ich hatte immer gute Rollen«, sagte Van Horn. »Ich bin zuversichtlich, daß meine Interpretation der Rolle ihre Wirkung auf die Zuschauer nicht verfehlen wird. Sonst müßten viele unserer führenden Studios schließen. Ich stelle einen Tagedieb dar, müssen Sie wissen, der immer tiefer sinkt…« »In der Tat«, stimmte der Star zu. »Ich wälze mich im Abgrund, und – danke der Nachfrage – fühle mich ganz wohl dabei«, fuhr Van Horn fort, »da werde ich – ob Sie es glauben oder nicht – gerettet. Völlig rehabilitiert, wissen Sie, durch die Liebe dieses primitiven, braunhäutigen Kindes.« »Welches Kindes?« fragte Bradshaw erstaunt. »Oh, Sie meinen Miß Fane. Nun, das klingt ja nach großartiger Handlung – aber verraten Sie mir nicht zuviel davon, bitte nicht.« Er wandte sich an den Star. »Ich bin sehr froh, daß Sie einige Aufnahmen in Honolulu machen werden. So etwas freut uns vom Touristenbüro natürlich. Ich muß mich verabschieden – es sind noch einige andere Berühmtheiten auf dem Schiff. Ein Bursche namens Alan Jaynes – sehr wohlhabend…« »Ich habe mich gerade mit ihm unterhalten, bevor Sie kamen«, sagte Shelah. »Danke. Ich werde ihn aufsuchen. Diamantenminen – Südafrika – klingt gut. Wir lieben hier auf Hawaii natürlich die schönen Künste, wissen Sie, aber wenn es um Geld geht – nun, wenn so ein Typ im Hafen aufkreuzt, geraten wir richtig aus dem Häuschen. Ich se-
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he Sie alle später!« Er eilte davon, und die drei Filmschauspieler gingen zur Reling. »Da kommt Val«, sagte Huntley Van Horn, »und er sieht aus wie ein Mann aus einer Modezeitschrift für Tropenbekleidung.« Er sprach von Val Martino, dem Direktor von Shelahs letztem Film, der auf sie zueilte. Martino war klein, untersetzt, grauhaarig und trug einen makellosen weißen Seidenanzug. Über einer leuchtendroten Krawatte thronte sein breites, schweres Gesicht. Es hatte fast die gleiche Farbe wie die Krawatte, was darauf schließen ließ, daß Mr. Martino sich niemals mit so banalen Dingen wie Blutdruck und Diät befaßt hatte. »Hallo«, sagte er. »Nun, da wären wir also. Gott sei Dank liegt Tahiti jetzt hinter uns. Von nun an werde ich die Tropen erst genießen, nachdem sie durch amerikanische Einrichtungen ruiniert worden sind. War das ein Zeitungsmann, mit dem du dich eben unterhalten hast, Shelah?« »Nicht direkt. Ein Mann vom Touristenbüro.« »Hoffentlich hast du dicke Reklame für den neuen Film gemacht. Du weißt ja, daß wir jede Publicity brauchen können.« »Oh, laß uns doch einmal den Film vergessen«, erwiderte der Star etwas überdrüssig. Die ›Oceanic‹ bewegt sich langsam auf den Kai zu, wo nur wenige Menschen warteten. Shelah Fane beobachtete die Gruppe interessiert und ziemlich enttäuscht. Sie hatte mit einer großen Schar weißgekleideter Schulmädchen gerechnet, die Willkommensgirlanden trugen. So war es gewesen, als sie zuletzt hier Station gemacht hatte; sie konnte keine Wiederholung erwar-
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ten – und außerdem war es erst sieben Uhr morgens. »Da ist Julie«, rief sie plötzlich. »Dort – fast am Ende des Kais. Seht mal – sie winkt.« Sie erwiderte Julies Gruß. »Wer ist denn das neben ihr?« fragte Van Horn. »Gütiger Himmel – sieht aus wie Tarneverro!« »Es ist tatsächlich Tarneverro«, sagte Miß Dixon. »Was macht denn der hier?« wunderte sich der Hauptdarsteller. »Vielleicht ist er hier, weil ich nach ihm geschickt habe«, sagte Shelah Fane. Ein ruhiges, schwarzgekleidetes Mädchen stand plötzlich neben ihr. »Was ist los, Anna?« »Die Zollbeamten, gnädige Frau. Sie durchsuchen alles. Sie sollten lieber selbst kommen. Sie wollen mit Ihnen sprechen.« »Ich werde mit ihnen reden«, sagte der Star bestimmt und folgte dem Mädchen in den Kontrollraum. »Nun, was sagt ihr dazu?« bemerkte Van Horn. »Sie hat nach diesem falschen Wahrsager geschickt, und ihn den ganzen Weg von Hollywood hierher zurücklegen lassen.« »Was meinst du mit ›falsch‹?« fiel Miß Dixon ihm ins Wort. »Tarneverro ist einfach wundervoll. Er hat mir die erstaunlichsten Dinge über meine Vergangenheit berichtet – und auch über meine Zukunft. Ich unternehme nie etwas, ohne ihn um Rat zu fragen – und ebenso tut es Shelah.« Martino schüttelte ungeduldig seinen großen Kopf. »Es ist ein Skandal«, schrie er, »wie die Mehrzahl von euch Hollywoodweibern wegen dieser Voodoo-Männer den Verstand verloren hat. Ihnen all eure Geheimnisse anzuvertrauen! Eines Tages wird einer von ihnen seine
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Memoiren veröffentlichen, und was wird dann aus euch? Wir versuchen, die Filmindustrie auf ein würdiges Niveau zu heben – aber, mein Gott – was hat es schon für einen Sinn?« »Gar keinen Sinn, mein lieber Freund«, antwortete Van Horn. Er betrachtete über den Wasserstreifen hinweg die große, hagere Gestalt des Wahrsagers. »Arme Shelah – ein solcher Aberglaube hat doch etwas Rührendes. Vermutlich will sie Tarneverro fragen, ob sie Alan Jaynes heiraten soll oder nicht.« »Natürlich«, bestätigte Miß Dixon. »Sie will wissen, ob sie mit ihm glücklich werden wird. Sie telegrafierte Tarneverro am Tag, nachdem Jaynes ihr einen Antrag gemacht hatte. Warum auch nicht? Heirat ist ein ernster Schritt.« Martino zuckte die Achseln. »Wenn sie doch nur mich fragte – ich würde ihr die Zukunft ganz rasch vorhersagen. Sie hat im Filmgeschäft so ziemlich abgewirtschaftet, und eigentlich müßte sie das wissen. Ihr Kontrakt läuft in sechs Monaten aus, und ich weiß zufällig – natürlich streng vertraulich –, daß er nicht mehr erneuert wird. Ich kann vorhersehen, daß sie dann eine lange Seereise machen wird – ins Ausland, um dort zu filmen – der Anfang vom Ende. Sie sollte sich diesen Diamantenkönig lieber schnappen, bevor er seine Meinung ändert. Aber nein – sie macht sich zum Narren mit einem Hinterzimmer-Hellseher. Aber das sieht euch ähnlich. Ihr werdet nie erwachsen.« Er entfernte sich. Die Hafenformalitäten waren rasch erledigt, und die ›Oceanic‹ legte an. Shelah Fane lief als erste die Laufplanke hinab und wurde von den Armen ihrer eifrigen Sekretärin umfangen. Julie war jung, ungestüm und
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unverdorben; ihre Freude war echt. »Im Haus ist alles fertig, Shelah. Es ist ganz großartig. Jessop ist da, und wir haben einen chinesischen Koch gefunden, der ein richtiger Zauberer ist. Das Auto wartet.« »Wirklich, mein Liebes?« Der Star blickte in die dunklen, tiefliegenden Augen des Mannes an Julies Seite. »Tarneverro – welche Erleichterung, Sie hier zu sehen. Aber ich wußte, daß ich mich auf Sie verlassen kann.« »Jederzeit«, sagte der Wahrsager feierlich. Anna, das Mädchen, kam schwer beladen mit Koffern und Taschen von Bord. Als Tarneverro das sah, half er ihr. In seinem Benehmen lag keinerlei Herablassung; er behandelte sie mit dem gleichen höflichen Anstand, den er auch dem Filmstar erwiesen hatte. Alan Jaynes und Bradshaw tauchten auf. Letzterer begrüßte Julie mit soviel Wärme, als wäre er eben nach langer, mühseliger Reise aus einem fernen Hafen hier angekommen. Jaynes trat eilig an Shelahs Seite. »Ich werde vor Ungeduld sterben«, sagte er. »Heute nachmittag – darf ich dich da besuchen?« »Natürlich«, versicherte sie. »Oh – das ist Julie – ich habe dir schon viel von ihr erzählt. Julie, gib ihm doch bitte unsere Hausnummer. Das Haus ist ganz in der Nähe vom Grand Hotel, an der Kalakaua-Avenue.« Nachdem Julie ihm die Nummer gesagt hatte, wandte er sich wieder an Shelah. »Ich werde dich nicht…«, begann er. »Einen Augenblick«, fiel der Star ihm ins Wort. »Ich möchte dir einen alten Freund aus Hollywood vorstellen. Tarneverro – würden Sie bitte einmal herkommen?«
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Der Wahrsager übergab Shelahs Chauffeur einige Gepäckstücke und kam dann ihrem Wunsche nach. Jaynes betrachtete ihn ziemlich überrascht. »Tarneverro – ich möchte Ihnen Alan Jaynes vorstellen«, sagte der Star. Sie schüttelten sich die Hände. »Sehr erfreut«, murmelte der Engländer. Als er dem anderen Mann ins Gesicht blickte, durchfuhr ihn ein jähes Gefühl tiefer Abneigung. Hier war Kraft; nicht Muskelkraft, über die er selbst verfügte und die er verstehen konnte; nein – etwas Subtileres, etwas Unheimliches, Unerklärliches und seltsam Beunruhigendes. »Es tut mir leid, aber ich habe es eilig«, sagte er. Er verschwand in der Menge, und Julie führte sie zu dem wartenden Auto. Es stellte sich heraus, daß Tarneverro im Grand Hotel abgestiegen war, und Shelah erbot sich, ihn dort abzusetzen. Alsbald fuhren sie unter strahlendblauem Himmel durch die Straßen Honolulus. Die Stadt erwachte gerade zu ihrem üblichen gemächlichen Tag. Männer verschiedener Rassen bewegten sich träge vorwärts; an der Ecke von King Street bot ein Junge die Morgenzeitung an, und ein fetter, braunhäutiger Polizist drehte faul ein Verkehrssignal um, damit sie weiterfahren konnten. Wie alle Schiffsreisenden, die neu in diesem Hafen ankamen, war Shelah Fane von der Helligkeit und den Farben wie geblendet. »Oh, ich werde das alles genießen«, rief sie. »Ich war noch nie länger als einen Tag hier. Welche Erleichterung, die Südsee hinter sich zu haben!« »Aber sie ist doch romantisch, oder?« fragte Julie. »Die Illusionen der Jugend«, sagte der Star achselzuckend. »Ich möchte sie nicht zerstören. Nur erwähne
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bitte Tahiti nie mehr in meiner Anwesenheit.« »Es entspricht nicht ganz den Büchern«, stimmte Tarneverro zu. Er saß neben Shelah und wirkte sogar in dieser sonnigen Umgebung noch geheimnisvoll. »Ich habe das selbst vor langer Zeit festgestellt. Ich nehme an, Sie werden eine Zeitlang hierbleiben?« »Einen Monat, hoffe ich«, antwortete der Star. »Die Filmaufnahmen werden noch eine Weile dauern, und dann freue ich mich auf eine vierzehntägige Ruhepause. Ich brauche sie dringend, Tarneverro. Ich bin müde – so müde!« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, erwiderte er. »Ich habe schließlich Augen im Kopf.« Er hatte tatsächlich Augen – Augen, die kalt, durchdringend und ziemlich beunruhigend waren. Das Auto fuhr am alten Königspalast und am Justizgebäude vorüber und bog in die Kalakaua-Avenue ein. »Es war so nett von Ihnen, hierher nach Honolulu zu kommen«, sagte Shelah. »Überhaupt nicht«, entgegnete er ruhig. »Nachdem ich Ihr Telegramm erhalten hatte, machte ich mich am darauffolgenden Tag auf den Weg. Ich war reif für Urlaub – Sie wissen ja, daß meine Arbeit nicht gerade sehr erholsam ist. Und außerdem hatten Sie geschrieben, daß Sie mich brauchten. Das genügte. Das wird immer genügen.« Julie begann über die Inseln zu plaudern. Sie erwähnte das warme, liebkosende Wasser von Waikiki, die erregende, sehnsüchtige Eingeborenenmusik während der Purpurnacht, den fremdartigen Prunk der Straßen. »Das alles«, meinte Shelah lächelnd, »klingt mir sehr stark nach James Bradshaw in einer seiner poetischen Phasen.«
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Julie lachte. »Ja, ich glaube, ich habe tatsächlich Jimmy zitiert. Hast du ihn kennengelernt, Shelah?« »Ja«, nickte der Star. »Er ist wirklich sehr nett«, beteuerte Julie. »Besonders wenn er nicht fachsimpelt.« In diesem Augenblick tauchten die rosa Mauern des Grand Hotels hinter dem Geflecht majestätischer Palmen auf, und Shelah befahl dem Chauffeur, am Eingangstor abzubiegen. »Ich muß so rasch wie möglich mit Ihnen sprechen«, sagte sie zu Tarneverro. »Ich muß Sie so vieles fragen. Sehen Sie…« Er hob seine schlanke weiße Hand. »Erzählen Sie es mir bitte nicht«, lächelte er. »Lassen Sie es sich von mir erzählen.« Sie starrte ihn etwas verwirrt an. »O ja – natürlich. Ich brauche Ihren Rat, Tarneverro. Sie müssen mir wieder einmal helfen, wie schon so oft in der Vergangenheit.« Er nickte feierlich. »Ich werde es versuchen. Mit welchem Erfolg – wer weiß? Kommen Sie um elf Uhr in mein Apartment – es ist Nummer 19 im Erdgeschoß. Gleich links von der Rezeption führen ein paar Stufen zu meinem Korridor. Ich werde Sie erwarten.« »Ja, ja.« Ihre Stimme zitterte. »Ich muß diese Angelegenheit noch heute entscheiden. Ich werde bestimmt kommen.« Tarneverro verbeugte sich von der Hoteltreppe aus, und als das Auto weiterfuhr, war Shelah sich bewußt, daß Julies freimütige junge Augen so mißbilligend auf ihr ruhten, daß es schon fast an Verachtung grenzte. Der erste Hotelboy zupfte Tarneverro am Ärmel. »Entschuldigung, Sir. Ein Mann wartet auf Sie. Dieser
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dort.« Als der Wahrsager sich umwandte, bemerkte er einen massigen Chinesen, der sich ihm erstaunlich leichtfüßig näherte. Das elfenbeinfarbene Gesicht hatte einen leicht dümmlichen Ausdruck, die schwarzen Augen waren verschleiert und blickten schläfrig drein. Kein sehr intelligenter Chinese, dachte Tarneverro und fragte sich vage, was dieser Besuch wohl zu bedeuten hatte. Der Orientale legte eine Hand auf seine breite Brust und brachte trotz seiner Leibesfülle eine tiefe Verbeugung zustande. »Entschuldigen Sie tausendmal«, sagte er. »Habe ich unschätzbare Ehre mit Tarneverro dem Großen?« »Ich bin Tarneverro«, antwortete der andere barsch. »Was kann ich für Sie tun?« »Erlauben Sie, daß ich mich zunächst einmal vorstelle«, fuhr der Chinese fort, »obwohl ich Ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig bin. Mein Name ist Harry Wing, und ich bin bescheidener Geschäftsmann auf dieser Insel. Sie nehmen es mir hoffentlich nicht übel, wenn ich sage, daß ich Sie unter vier Augen sprechen möchte.« Tarneverro zuckte die Achseln. »Wozu?« »Die Angelegenheit ist äußerst dringend. Wenn ich vorschlagen dürfte – Ihr Zimmer…« Der Wahrsager starrte einen Augenblick in dieses gelassene, maskenhafte Gesicht, hinter dem kein Leben zu spüren war. Er kapitulierte. »Kommen Sie«, sagte er. Er holte seinen Schlüssel am Empfang und ging voraus. In Nummer 19 angelangt, wollte er seinem seltsamen Besucher entschlossen entgegentreten, der ihm auf
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leisen Sohlen gefolgt war. Die Vorhänge im Zimmer waren weit zurückgezogen, und das helle Licht durchflutete den Raum. In weiser Voraussicht hatte Tarneverro ein Apartment auf der Bergseite des Hotels gewählt, und ein rastloser kühler Wind strömte vom ›Koolau Range‹ durchs Fenster und bewegte die Papiere auf dem Schreibtisch. Das Gesicht des Chinesen war noch immer ausdruckslos, selbst unter den prüfenden und durchdringenden Blicken des Wahrsagers. »Nun?« fragte Tarneverro. »Sie sind berühmter Tarneverro«, begann Harry Wing in respektvollem Singsang. »Unter Hollywoodleuten haben Sie hervorragenden Ruf als ein Mensch, der dunkle Schleier zu lüften vermag, der in Ungewisse Zukunft späht. Für gewöhnliche Augen mag diese Zukunft noch so pechschwarz sein, für Ihre Augen aber ist sie glasklar, so sagt man. Erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß dieser Ruf Sie sogar bis Hawaii begleitet, daß er Ihnen auf dem Fuß folgt wie Ihr Schatten. Gerüchte über Ihre mystischen Fähigkeiten schwirren durch die Straßen.« »Ja?« fiel Tarneverro ihm ins Wort. »Und was soll das alles?« »Ich bin, wie gesagt, Geschäftsmann von geringer Bedeutung für jedermann, außer für mich selbst. Ich erzähle Ihnen offen, daß sich mir jetzt günstige Gelegenheit bietet. Ich kann mein Geschäft mit dem eines Vetters aus nördlicher Provinz vereinigen. Zukunft sieht freundlich aus, aber Zweifel befallen mich. Wird Fusion erfolgreich sein? Ist mein Vetter so ehrenhaft, wie Vetter von mir naturgemäß sein sollte? Kann ich ihm vertrauen? Kurz gesagt, ich möchte dunklen
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Schleier lüften, und Sie sind geeigneter Mann dafür. Ich bin bereit, großzügig für Ihre Dienste zu bezahlen.« Tarneverros Augen verengten sich, und lange Zeit starrte er diesen unerwarteten Kunden an. Der Chinese wartete regungslos wie ein Buddha, die Hände in den Hosentaschen, die Jacke zurückgeschlagen. Kurze Zeit blieb der Blick des Wahrsagers auf einer Stelle direkt unterhalb der Innentasche der Jacke seines Besuchers haften. »Unmöglich«, sagte er mit plötzlichem Entschluß. »Ich bin hier, um Urlaub zu machen, nicht um meinen Beruf auszuüben.« »Aber es gehen Gerüchte um«, widersprach der andere, »daß Sie schon mit Ihrer Kristallkugel gearbeitet haben…« »Für einen oder zwei der Hotelmanager – als Freundschaftsdienst«, unterbrach Tarneverro. »Ich habe dafür keinerlei Bezahlung erhalten. Ich werde so etwas nicht für die breite Öffentlichkeit tun.« Harry Wing zuckte die Achseln. »Dann wird die Angelegenheit für mich traurige Enttäuschung«, antwortete er. Ein grimmiges Lächeln glitt über das dunkle Gesicht des Hellsehers. »Setzen Sie sich«, sagte er. »Ich war einige Zeit in China, und deshalb weiß ich, wie groß das Interesse Ihres Volkes an Wahrsagern ist. Und so habe ich, während Sie mir den Zweck Ihres Besuches mitteilten, einen Augenblick geglaubt, daß Sie die Wahrheit sprechen.« Der Besucher runzelte die Stirn. »Ich kann jetzt überhaupt nicht mehr verstehen, was Sie meinen.« Immer noch lächelnd, ließ Tarneverro sich in einen
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Stuhl fallen, der dem Orientalen gegenüberstand. »Ja, Mr. – äh – äh - Wing, sagten Sie, glaube ich – einen Moment lang habe ich mich täuschen lassen. Dann aber kam mir eine meiner kleinen Gaben zu Hilfe. Sie waren so freundlich, von meinem Erfolg zu sprechen. Warum habe ich Erfolg? Weil ich zufällig übersinnliche Fähigkeiten habe, Mr. Wing…« »Auch Chinesen sind übersinnlich veranlagt.« »Einen Augenblick. Als ich so dastand und Ihnen zuhörte, ging eine hellseherische Welle über mich hinweg. Ich hatte ein Gefühl – ein Gefühl wovon? Von strengen Männern, die in Polizeistationen sitzen und geschworen haben, den Gesetzen Geltung zu verschaffen. Von Detektiven, die Missetäter verfolgen und sie schließlich zur Strecke bringen. Von Gerichtshöfen und gelehrten Richtern. Das, mein Freund, ist das Gefühl, das ich hatte. Ziemlich eigenartig, finden Sie nicht auch?« Der Gesichtsausdruck seines Besuchers hatte plötzlich seine ganze Dümmlichkeit verloren. In den kleinen schwarzen Augen glühte Bewunderung. »Eine erstaunlich kluge Eingebung Ihrerseits, ja. Aber ich für meine Person glaube nicht, daß Ihnen dabei übersinnliche Fähigkeiten zugute kamen. Vor kurzer Zeit sah ich nämlich, daß Ihr Blick verständnisinnig auf der Stelle meiner Jacke ruhte, von der ich vorhin das Polizeiabzeichen entfernt habe. Die Nadel hat unauslöschliche Spuren hinterlassen. Sie sind selbst erstklassiger Detektiv, und ich beglückwünsche Sie.« Tarneverro warf seinen Kopf zurück und lachte. »Volltreffer!« rief er. »Also sind Sie ein Detektiv, Mr. – äh…« »Mein Name ist Chan«, sagte der massige Chinese
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und grinste breit. »Inspektor Chan, von der Polizei von Honolulu – ehemals Sergeant; aber in der hiesigen Polizeiabteilung hat es Beförderungen gegeben, und ich wurde weit über meine bescheidenen Verdienste ausgezeichnet. Die Falle, die eben so plump versagte, war nicht meine Idee, wie ich zu meiner Rechtfertigung hinzufügen möchte. Ich habe Chef gleich gesagt, daß sie nicht funktionieren würde, es sei denn, daß Sie zufällig ausgesprochener Schwachkopf wären. Da Sie über alle Erwartungen klug sind, funktionierte sie nicht. Keine bitteren Gefühle. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nur auf lokale Verfügung lenken, die besagt, daß Männer wie Sie in dieser Stadt ohne besondere Erlaubnis keine dunklen Künste ausüben dürfen. Nach diesem Wort an den weisen Mann erhebe ich mich, um mich zurückzuziehen.« Tarneverro erhob sich ebenfalls. »Ich werde nicht unter Ihrer Stadtbevölkerung praktizieren«, versicherte er. Er hatte die gespannte, geheimnisumwitterte Miene fallengelassen, die er für die Filmstars aufsetzte, und jetzt wirkte er ganz menschlich und nicht unsympathisch. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Inspektor. Was meine eigenen Fähigkeiten als Detektiv angeht, so kann ich Ihnen im Vertrauen gestehen, daß sie mir bei meiner Arbeit ziemlich zugute kommen.« »Das glaube ich Ihnen gern«, erwiderte Chan. »Aber solche Fähigkeiten wie die Ihrigen sollten im Dienste der Öffentlichkeit stehen. In Los Angeles finden häufig geheimnisvolle Mordaffären statt, die niemals aufgeklärt werden. Ich studiere sie alle mit glühendem Interesse. Der Fall Taylor – welch ein erstaunliches Ereignis war das doch – und ist immer noch Geheimnis.
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Und Fall von Denny Mayo, berühmtem Schauspieler mit edlem Äußerem, der nachts in seinem Haus ermordet wurde. Wie viele Jahre – über drei – und immer noch ist Denny Mayo von Polizei von Los Angeles nicht gerächt.« »Und wird es auch niemals sein«, fügte der Wahrsager hinzu. »Nein, Inspektor, das liegt nicht auf meiner Linie. Ich finde es sicherer, bei der Zukunft zu verweilen und Hollywoods Vergangenheit zu durchschauen.« »In einer solchen Auffassung kann Weisheit wohnen«, stimmte Chan zu. »Nichtsdestotrotz, Ihre Hilfe wäre mir äußerst willkommen, wenn ich es mit quälendem Problem zu tun hätte. Ich werde mich jetzt von Ihnen verabschieden, Mr. Tarneverro. Ihre Klugheit wird noch lange Zeit meinem armseligen Verstand eingeprägt bleiben.« Er schlüpfte lautlos hinaus, und Tarneverro warf einen Blick auf seine Uhr. Gemächlich rückte er einen kleinen Tisch in die Mitte des Zimmers, holte aus einer Schreibtischschublade eine leuchtende Kristallkugel und stellte sie auf das Tischchen. Dann ging er zum Fenster und zog die Vorhänge weit vor, um einen Großteil des hellen Tageslichtes auszuschließen. Er blickte sich in dem verdunkelten Raum um und zuckte mit den Schultern. Es war natürlich keine derart eindrucksvolle Szenerie wie sein Studio in Los Angeles, aber es mußte für seine Zwecke ausreichen. Er setzte sich ans Fenster, holte einen dicken Brief aus seiner Tasche, riß den Umschlag auf und begann zu lesen. Die heftigen Passatwinde ließen die Vorhänge flattern. Genau um elf Uhr klopfte Shelah Fane an die Tür, und er führte sie in sein Wohnzimmer. Sie war weiß gekleidet und wirkte jünger als am Kai, aber ihre Augen
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waren von Kummer überschattet. Tarneverros Benehmen war jetzt ganz professionell; er wirkte kalt, distanziert und unsympathisch. Er ließ sie an dem Tischchen hinter der Kristallkugel Platz nehmen; dann zog er die Vorhänge vollends zusammen und tauchte dadurch den Raum in nahezu vollkommene Dunkelheit. »Tarneverro – Sie müssen mir sagen, was ich tun soll«, begann sie. Er setzte sich ihr gegenüber hin. »Warten Sie«, befahl er. Dann starrte er gebannt in die Kristallkugel. »Ich sehe Sie an der Reling, an Deck eines Dampfers, unter strahlendem Mondschein. Sie tragen ein Abendkleid – es ist goldfarben und paßt zu Ihrem Haar. Eine gleichfarbige Stola hängt um Ihre Schultern. Ein Mann steht neben Ihnen; er deutet auf etwas und bietet Ihnen sein Fernglas an. Sie schauen hindurch – Sie erhaschen den letzten schwachen Schimmer der Lichter entlang von Papeete, dem Hafen, den Sie vor wenigen Stunden verlassen haben.« »Ja, ja«, murmelte Shelah Fane. »Oh, Tarneverro, woher wissen Sie nur…« »Der Mann dreht sich um. Ich kann ihn nur verschwommen sehen, aber ich erkenne ihn. Heute, am Kai – Alan Jaynes – hieß er nicht so? Er hat Sie etwas gefragt – Heirat, vielleicht – aber Sie schütteln den Kopf. Widerstrebend. Sie möchten Ja sagen – trotzdem tun Sie es nicht. Sie weisen ihn ab. Warum? Ich spüre, daß Sie diesen Mann lieben.« »Das tu ich«, rief der Star. »Oh, Tarneverro, ich liebe ihn wirklich. Ich habe ihn in Papeete kennengelernt – nur eine Woche – aber an so einem Ort… Die erste Nacht auf See – es war genauso, wie Sie sagen – er machte mir einen Heiratsantrag. Ich habe ihm noch
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keine Antwort gegeben. Ich möchte Ja sagen – endlich ein kleines bißchen Glück genießen – ich glaube, ich habe es verdient. Aber ich – ich habe Angst…« Er hob seine durchdringenden Augen von der Kristallkugel. »Sie haben Angst. Etwas in Ihrer Vergangenheit – Sie befürchten, daß es zurückkehrt, um Sie zu verfolgen…« »Nein, nein«, schrie die Frau. »Etwas, das vor langer Zeit passiert ist.« »Nein, nein – das ist nicht wahr.« »Sie können mich nicht täuschen. Wie lange ist es her? Ich kann es nicht genau bestimmen, und ich muß es wissen.« Der Passatwind blähte die Vorhänge auf. Shelah Fanes Blicke schweiften hilflos durch das verdunkelte Zimmer und kehrten dann zu Tarneverro zurück. »Vor wie langer Zeit?« fragte der Mann erneut. Sie seufzte. »Letzten Monat waren es drei Jahre«, sagte sie so leise, daß er sie nur mit Mühe verstehen konnte. Er schwieg einen Augenblick, während sein Gehirn fieberhaft arbeitete. Juni – vor drei Jahren. Er starrte gebannt in die Kristallkugel; seine Lippen bewegten sich. »Denny Mayo«, sagte er sanft. »Es hat etwas mit Denny Mayo zu tun. Ja – ich sehe es jetzt.« Der Wind riß die Vorhänge auseinander, und ein breiter Streifen blendenden Lichts fiel auf Shelah Fanes Gesicht. Ihre Augen waren angsterfüllt, ihr Blick starr. »Ich hätte nicht kommen sollen«, stöhnte sie. »Was hat es mit Denny Mayo auf sich?« fuhr Tarneverro unerbittlich fort. »Soll ich es Ihnen sagen – oder wollen Sie es mir erzählen?« Sie deutete auf das Fenster. »Ein Balkon. Da draußen
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ist ein Balkon.« Wie jemand, der der Laune eines kleinen Kindes nachgibt, erhob sich der Wahrsager und blickte hinaus. Dann kehrte er zum Tisch zurück. »Ja, da ist ein Balkon – aber kein Mensch ist dort.« Er setzte sich wieder, und seine kühnen, gebieterischen Augen bohrten sich in ihre. Sie war gefangen und hilflos. »Erzählen Sie!« befahl Tarneverro der Große.
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Kapitel 2
Das Haus am Strand Nach kurzer Dämmerung bricht die Dunkelheit geheimnisvoll über den Strand von Waikiki herein. In den Stunden, bevor der Mond wie eine Fackel am Purpurhimmel aufsteigt, kann man alle Geräusche der Natur um so intensiver wahrnehmen. Dunkelheit verhüllt die Kokospalmen, und dennoch hört man, wie sie unter der Berührung des Passatwindes rauschen; die weiße Linie der Brandung ist nicht mehr zu erkennen, und dennoch donnert sie weiterhin auf den unsichtbaren Strand, sogar mit scheinbar vermehrter Kraft. Das ist Nacht im wahrsten Sinne des Wortes, neugiererregend und ehrfurchtgebietend, aber viel zu kurz, denn der Mond läßt nicht lange auf sich warten. Eine einzige Stehlampe brannte im riesigen Wohnzimmer des Hauses, das Shelah Fane in Waikiki gemietet hatte. Wände, Möbel und Fußboden, aus seltenem einheimischen Holz angefertigt, glänzten schwach im Halbdunkel; exotische Pflanzen schimmerten grün. Die französischen Fenster, die sich auf die Straße öffneten, waren zwar geschlossen, aber die auf der Meeresseite, die zu einer großen verdeckten Veranda führten, standen weit offen, und durch sie kam in regelmäßigen Abständen das Donnern der heftigen Brandung ins Zimmer. Shelah Fane betrat den Raum. Sie machte rasche, nervöse Schritte, und in ihren Augen lag ein Ausdruck von Furcht – fast schon von Schrecken. Es war ein Ausdruck, der seit ihrer Rückkehr von jener Unterredung mit Tarneverro in seinem Apartment im Grand Hotel nicht mehr von ihr gewichen war. Was hatte sie
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nur getan? Sie fragte sich das immer und immer wieder. Was hatte sie getan? Worin bestand das Geheimnis der Macht dieses dunklen Mannes, daß er eine Geschichte, die sie für immer sicher begraben geglaubt hatte, so leicht aus dem innersten Schlupfwinkel ihrer Seele hervorholen konnte? Von dem seltsamen Einfluß seiner Gegenwart wieder befreit, war sie vor ihrer eigenen Indiskretion zutiefst erschrocken. Aber da war es schon für alles zu spät – außer für Bedauern und Reue. Mit ihrem untrüglichen Instinkt für In-Szene-setzen nahm sie unter der einzigen Lampe Platz. Seit jener fernen Zeit, als sie wie ein Stern am Filmhimmel aufgegangen war, hatten sich in Hollywood unzählige Kameras auf sie gerichtet, aber jetzt war das Scheinwerferlicht zu ihr nicht mehr allzu freundlich. Ihr flammend rotes Haar brachte es zwar immer noch zur Geltung, aber ebenfalls die Kummerfältchen um ihre Augen und um ihren kleinen festen Mund. Wußte sie das? Länger als die meisten Sterne hatte sie am Filmhimmel geleuchtet, jetzt mußte sie den raschen, einsamen Sturz in die Dunkelheit ertragen. Ihr Butler Jessop trat ein, ein reservierter älterer Engländer, der in Hollywood ebenfalls das gelobte Land gefunden hatte. Er trug eine Blumenschachtel. Shelah blickte auf. »Oh, Jessop«, sagte sie. »Hat Miß Juli es Ihnen ausgerichtet? Das Abendessen ist für halb neun vorgesehen.« »Ich verstehe, gnädige Frau«, antwortete er feierlich. »Ein paar von den jungen Leuten wollen vor dem Essen noch schwimmen gehen. Mr. Bradshaw zum Beispiel. Vielleicht zeigen Sie ihm das blaue Schlafzim-
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mer, wo er sich umziehen kann. Die Badekabinen sind nämlich dunkel und müßten erst gereinigt werden. Miß Julie und Miß Diana werden sich in ihren Zimmern umkleiden.« Jessop nickte gerade, als Julie eintrat. Das junge Mädchen trug ein Nachmittagskleid, und ihr Gesicht war ohne jedes Make-up. Sie war begeisterungsfähig, glücklich, jung – ein Anflug von Neid trübte die schönen Augen des Filmstars. »Mach dir keine Sorgen, Shelah«, sagte Julie. »Jessop und ich haben alles durchgesprochen. Wie alle deine Partys, so wird auch diese ein glänzender Erfolg sein. Was ist das, Jessop? Blumen?« »Für Miß Fane«, erklärte der Butler, übergab dem Mädchen die Schachtel und verließ das Zimmer. Shelah Fane sah sich in dem Raum um und runzelte die Stirn. »Ich frage mich nur, Julie, wie, um alles in der Welt, ich hier einen guten Auftritt bei der Party zustandebringen soll? Wenn es nur einen Balkon gäbe, oder wenigstens eine breite Treppe.« Julie lachte. »Du könntest unvermutet die Veranda überqueren, auf einer Ukulele klimpern und ein hawaiisches Lied singen.« Der Star nahm sie ernst. »Das ist leider kein guter Vorschlag, mein Liebes. Ich würde auf der gleichen Höhe wie meine Gäste eintreten, und das ist niemals effektiv. Um den richtigen Eindruck hervorzurufen, muß man plötzlich von oben auftauchen – denk immer daran, Liebling. Nun, in Hollywood…« Das junge Mädchen zuckte die Achseln. »Oh, komm doch zur Abwechslung einmal ganz natürlich herein, Shelah. Weißt du, das wäre etwas ganz Neues.« Sie hatte inzwischen die Schnur von der Blumenschachtel
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entfernt und hob jetzt den Deckel ab. »Herrlich!« rief sie. »Orchideen, Shelah.« Der Star wandte uninteressiert den Kopf. Orchideen waren in Shelahs Leben nichts Neues. »Nett von Alan«, sagte sie gelangweilt. Aber Julie schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind offenbar nicht von Mr. Jaynes.« Sie las die Karte laut vor. »In Liebe von einem, den du vergessen hast.« »Wer könnte das sein, Shelah?« »Wer nicht?« lächelte der Star ein bißchen sehnsüchtig. Sie stand mit plötzlichem Interesse auf. »Ich frage mich – zeig mir die Karte.« Sie starrte darauf. »In Liebe von einem…« Ein Ausdruck raschen Verstehens trat in ihre Augen. »Das ist ja Bobs Schrift. Lieber alter Bob! Wie nett – in Liebe – nach all den Jahren!« »Bob?« fragte das Mädchen. Shelah nickte. »Bob Fyfe – mein erster und einziger Ehemann, Liebling. Du kennst ihn nicht – es ist schon lange her. Ich war noch ein Kind, im Chor einer Musicalshow in New York, und Bob war Schauspieler, ein richtiger Schauspieler – und ein sehr guter noch dazu. Ich betete ihn damals an, aber Hollywood kam dazwischen, und dann unsere Scheidung. Und jetzt – in Liebe – ich wundere mich. Kann es wirklich wahr sein?« »Was macht er denn in Honolulu?« fragte Julie. »Er spielt in einem Repertoirestück«, antwortete Shelah. »Er ist Hauptdarsteller an einem der hiesigen Theater. Rita Ballou hat mir alles über ihn erzählt, als ich sie heute vormittag angerufen habe.« Sie griff nach den Orchideen. »Ich werde sie heute abend tragen«, kündigte sie an. »Ich habe nicht einmal im Traum daran gedacht, daß er auch nur mit mir sprechen würde. Ich – ich bin ganz gerührt und würde Bob
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gern wiedersehen.« Ein nachdenklicher Ausdruck überflog ihr Gesicht. »Ich würde ihn gern sofort sehen. Er war immer so freundlich, so klug. Wie spät ist es? O ja…« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Zwanzig nach sieben. Wie hieß nur dieses Theater? Rita hat es mir doch gesagt. Ich glaube, ›The Royal‹…« Jemand klingelte kräftig an der Tür; es folgte ein lebhafter, kurzer Dialog im Vorzimmer, dann stürzte Jimmy Bradshaw herein. Er war offensichtlich in ausgelassener Stimmung. »Da wären wir alle beieinander«, rief er. »Alle, auf die es wirklich ankommt. Nun, Miß Fane, wie fühlt man sich, wenn man frei und sorglos an einem palmengesäumten Ufer an der warmen Südsee wohnt?« »Es ist wirklich sehr erholsam«, lächelte Shelah. Sie nickte Julie zu. »Ich komme gleich zurück. Ich brauche eine Anstecknadel für die Blumen.« Sie ging hinaus, und Bradshaw widmete sich sofort dem jungen Mädchen. »Du siehst großartig aus«, rief er. »Das macht das Klima. Nicht, daß du anfangs nicht auch schon sehr gut ausgesehen hättest…« Sie unterbrach ihn. »Sag mir, was hältst du von Shelah?« »Shelah?« Er machte eine Pause. »Oh, sie ist schon in Ordnung. Nett und freundlich, aber – etwas gekünstelt – eine gute Schauspielerin, durch und durch. In den letzten zwei Jahren habe ich genügend Filmstars kennengelernt, um ein eigenes Hollywood eröffnen zu können, und offen gestanden – ich kann auf alle verzichten.« »Du kennst Shelah eben nicht richtig«, protestierte Julie.
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»Nein, vermutlich nicht. Sie ist sehr freundlich zu dir gewesen, und das macht sie in meinen Augen besonders sympathisch. Aber meine Vorliebe in bezug auf Frauen – und ich habe mich sehr gründlich umgesehen…« »Oh, hast du das tatsächlich?« »Mein Ideal – wenn du mich schon danach fragst, was mich sehr freut – ist ganz anders. Hübsch, natürlich, jung, unschuldig, geistreich – und ganz verrückt nach mir. Das – und du kannst mich ruhig beim Wort nehmen – ist das richtige Mädchen für mich.« Diana schob plötzlich die Vorhänge auseinander und kam herein. Auch sie trug noch ein Nachmittagskleid. »Hallo, großer Häuptling«, rief sie. »Sind Sie bereit, mit mir schwimmen gehen zu können?« »Klar«, antwortete Bradshaw. »Mit Ihnen und jedem, der mitkommen möchte.« Er sah Julie an. »Gehen wir. Bevor der Mond aufgeht, ist die beste Zeit. Geht sonst noch jemand mit – oder sind wir nur zu dritt?« Julie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sonst niemand. Die anderen haben Angst, ihr Make-up zu verderben.« »Das ist einer der Vorteile der Jugend gegenüber tattrigem Alter«, erwiderte der junge Mann. »Also los…« Shelah tauchte wieder auf; sie trug die Orchideen an der Schulter. »Wir sind gerade dabei, ins weltberühmte Wasser von Waikiki zu springen«, informierte Jimmy sie. »Möchten Sie sich uns nicht anschließen?« »An einem anderen Abend«, antwortete sie. »Sie wissen ja, heute abend bin ich die Gastgeberin.« »Sie versäumen eine der Sensationen Ihres ganzen Lebens«, erklärte Bradshaw pathetisch. »Die seidige Brandung, die gegen den Korallensand schlägt, dar-
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über der sternenübersäte Himmel, vielleicht die pastellfarbene Lieblichkeit eines Mondregenbogens – Schiffe fahren wöchentlich von Los Angeles und San Francisco ab, und die Kosten für die Überfahrt sind für jeden erschwinglich…« Es klingelte wieder. In Shelahs Begleitung gingen die jungen Leute ins Vorzimmer hinaus. »Hol deinen Badeanzug«, sagte Julie zu dem jungen Mann. »Ich zeige dir, wo du dich umziehen kannst. Wir wollen einen Wettlauf veranstalten. Wer zuerst im Wasser ist, bekommt einen Preis.« »Ich werde ihn gewinnen«, antwortete Bradshaw. »Und ich werde ihn auch festsetzen.« Sie rannten die gebohnerte Treppe hinauf. Wieder klingelte es. Shelah stand direkt bei der Tür, aber sie öffnete nicht; eine solche Handlung fand sie eines Stars unwürdig. Statt dessen kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und wartete, daß Jessop seinen Pflichten nachkommen würde. Er tat es mit kurzer Verspätung, und zwei neue Gäste erschienen im Wohnzimmer. Shelah ging ihnen entgegen – einer dunklen, ziemlich verwelkten etwa dreißigjährigen Frau und einem großen, blonden Mann, der eine lässige Autorität ausstrahlte. »Rita Ballou«, rief der Star. »Es sind Jahre her…! Und Wilkie – ich freue mich so!« »Hallo, Liebling«, sagte die mit Rita angeredete Frau. Der Mann trat vor. »Shelah, wann hast du Rita gesagt, soll das Abendessen stattfinden?« »Halb neun – aber das macht nichts…« Ballou wandte sich an seine Frau. »Großer Gott – kannst du dir denn nie etwas richtig merken?« »Wo ist denn da der Unterschied?« erwiderte seine
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Frau. »So können wir noch mit Shelah plaudern, bevor die anderen Gäste kommen.« Sie wandte sich an den Star. »Es tut mir so leid, daß wir dich verpaßt haben, als du letztes Mal hier durchgekommen bist. Wir waren gerade auf dem Festland.« »Aber diesmal haben wir dich Gott sei Dank nicht verpaßt«, fügte Wilkie Ballou hinzu. »Bei Gott, du siehst so blühend aus wie eh und je.« »Wie machst du denn das nur?« fragte Rita bewundernd. Ihre kalten Augen wurden grün vor Neid, als sie Shelah ansah. »Sie hat den Jungbrunnen gefunden«, stellte Wilkie bewundernd fest. »Man hat mir erzählt, daß dieser sich auf Hawaii befindet«, lächelte der Star. Sie warf Rita einen prüfenden Blick zu. ›Aber das tut er nicht‹, besagte dieser Blick. Rita hatte verstanden. »Keineswegs«, sagte sie grimmig. »Er befindet sich in den Schönheitssalons von Hollywood, wie du genau weißt. Hier welken Frauen rasch dahin…« »Unsinn«, protestierte Shelah. »Doch. Oh – ich habe meine Lektion gelernt – zu spät allerdings. Ich hätte in Hollywood bleiben und an meiner Karriere weiterarbeiten sollen.« »Aber, Liebling – du bist doch bestimmt glücklich mit Wilkie?« »Selbstverständlich. So glücklich wie mit Zahnweh.« Wilkie zuckte die Achseln. »Überhör es einfach, Shelah«, sagte er. »Wir haben uns schon den ganzen Weg hierher gezankt. Ritas Nerven, weißt du.« »Tatsächlich?« entgegnete seine Frau. »Ich glaube, mit einem Ehemann wie dir hätte jede Frau mit den
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Nerven zu kämpfen. Ehrlich, Shelah, er hat mehr Fantasie als – wie war doch gleich der Name? – als Shakespeare. Wenn er nur seine Zuckerpflanzungen aufgeben und Drehbücher schreiben würde – aber mach dir nichts draus, Shelah. Erzähl mir lieber alles von Hollywood. Ich wäre für mein Leben gern wieder dort.« »Ich muß eine Weile hierbleiben - wir werden also später noch jede Menge Zeit haben, um uns zu unterhalten«, sagte Shelah. »Einige der Gäste wollen vor dem Abendessen noch zum Schwimmen gehen. Wollt ihr euch ihnen anschließen?« Rita fuhr mit einer Hand leicht über ihre perfekte Frisur und winkte ab. »Ich nicht«, rief sie. »Ich bin das Schwimmen so leid, daß mir schon beim Anblick meiner Badewanne übel wird. Du hast gar keine Vorstellung, meine Liebe – drei Jahre Ehe und Leben in Honolulu – diese Menschen hier sind wie Fische. Sie ersticken, wenn man sie an Land bringt.« Sie hörten die Geräusche eines Neuankömmlings im Vorraum, und Alan Jaynes trat ein. In seinem Abendanzug machte er eine gute Figur. Bei seinem Anblick wurde Shelah das Herz schwer. Während sie ihn den Ballous vorstellte, stürzten Julie und Jimmy Bradshaw herein, in lustigen Strandanzügen über der Badekleidung. Offensichtlich widerwillig ließen sie die Vorstellungszeremonie über sich ergehen. »Wo ist Miß Dixon?« fragte Bradshaw. »Sie ist doch nicht etwa schon weggegangen?« »Unsinn«, rief Julie. »Diana braucht Stunden, das ist immer so.« »Dann veranstalten wir den Wettlauf zu zweit«-, sagte der junge Mann und rannte durch die offene Flügeltür
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auf die Veranda, Julie auf den Fersen. »Was für ein gutaussehender Junge«, stellte Rita fest. »Wer ist das?« Shelah erklärte ihr Mr. Bradshaws Position. Rita erhob sich. »Gehen wir doch alle zum Strand«, schlug sie vor. »Zum Strand – in Schuhen mit hohen Absätzen?« protestierte Wilkie. »Ich kann sie doch ausziehen, oder?« fragte Rita und ging auf die Tür zu. »Geh schon voraus«, sagte der Star. »Wir kommen später nach.« Rita ging. Ohne jede Begeisterung stemmte Wilkie seinen großen Körper aus dem Stuhl. »Das heißt, daß auch ich gehe«, erklärte er und ließ seinen Worten die Tat folgen. Shelah wandte sich mit einem kurzen nervösen Auflachen Alan Jaynes zu. »Armer Wilkie – er ist so eifersüchtig. Und ich befürchte, er hat auch allen Grund dazu – wenigstens hatte er ihn früher.« Jaynes trat rasch auf sie zu. »Es tut mir so leid, daß ich dich heute nachmittag nicht sehen konnte. Dein Kopfweh – ich hoffe, es ist besser geworden?« Sie nickte. »Viel besser.« »Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht. Natürlich ist es deiner überhaupt nicht wert.« Er überreichte ihr einen Ansteckstrauß, der in Seidenpapier eingewickelt war. Sie wickelte ihn aus. »Herrlich«, sagte sie. »Aber ich bin zu spät dran«, bemerkte Jaynes. »Wie ich sehe, trägst du bereits Orchideen von jemand anderem.« Shelah legte sein Geschenk auf einen Tisch. »Ja, A-
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lan.« »Hoffentlich bedeutet das nicht…«, begann er stirnrunzelnd. »Shelah – es kann doch nicht bedeuten… Ich – ich könnte ohne dich nicht weiterleben.« Sie sah ihn an. »Du wirst es müssen, Alan. Es tut mir so leid. Aber ich – ich kann dich nicht heiraten.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Also ist es doch wahr«, sagte er. »Was ist wahr?« »Was Van Horn mir heute nachmittag erzählt hat. Ich konnte so etwas von dir nicht glauben – es ist zu kindisch – zu unkultiviert. Du hast nach diesem verdammten Scharlatan von Wahrsager geschickt, damit er für dich entscheidet. Er hat dir geraten, mich nicht zu heiraten.« Sie wandte sich wortlos ab. Das Gesicht des Mannes glühte vor Zorn. »Wenn du nur irgendeinen vernünftigen Grund hättest«, fuhr er, sich mühsam beherrschend, fort. »Dann würde ich die bittere Pille ruhig schlucken. Aber das – das ist einfach zuviel. Einen Fakir – einen Kristallgaffer – einen billigen Betrüger zwischen uns treten zu lassen – bei Gott, ich kann das nicht verstehen. Auf dem Schiff habe ich geglaubt, daß du mich liebst…« »Vielleicht war es auch so«, erwiderte sie traurig. »Dann wird mich nichts auf der Welt davon abbringen können…« »Warte, Alan, bitte warte. Es ist für dich – ich tue es ja nur für dich. Du mußt mir das glauben. Es würde kein Glück für uns geben…« »Das also hat er dir gesagt, ja?« »Das hat er mir gesagt, aber er hat nur das ausgesprochen, was ich schon vorher im Herzen fühlte. Die Vergangenheit, Alan – die Vergangenheit würde immer
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zwischen uns stehen…« »Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich mich einen Dreck um die Vergangenheit kümmere.« »Oh, aber du weißt ja nicht, Alan – und ich kann es dir nicht sagen. Ich versuche, das Richtige zu tun – du bist so gut und redlich – ich könnte es nicht ertragen, wenn du durch mich in den Schmutz gezogen würdest. Bitte, Alan, bitte…« »Ich will nichts verstehen«, schrie Jaynes. »Ich will nur dich – um dich zu lieben und für dich zu sorgen – sieh mal, meine Zeit ist kurz, so entsetzlich kurz. Ich muß um Mitternacht abreisen, das weißt du. Vergiß doch diesen Narren von Wahrsager. Ich kann deinen Glauben an ihn zwar nicht verstehen, ich kann ihn auch nicht billigen, aber ich bin bereit, darüber hinwegzusehen. Es ist wohl nicht deine Schuld. Dein Temperament, deine Lebensweise. Vergiß ihn, mein Liebling, und gib mir dein Wort, bevor ich fahre…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte sie gebrochen, »ich kann nicht.« Jaynes blickte sie lange an. Dann wandte er sich mit Würde von ihr ab. »Wohin gehst du?« rief Shelah. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich muß über diese Sache nachdenken.« »Aber du kommst doch zum Essen…« »Ich weiß es nicht«, wiederholte der Mann. »Ich könnte mich im Augenblick nicht mit deinen Freunden unterhalten. Ich möchte allein sein. Vielleicht komme ich später zurück.« Er schien wie betäubt, seiner selbst nicht sicher. Shelah trat zu ihm und legte ihm die Hand auf seinen Arm. »Alan, es tut mir ja so leid. Ich bin so unglück-
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lich.« Er nahm sie in die Arme. »Weiß der Himmel – du hast mich auf dem Schiff geliebt. Ich werde dich nicht aufgeben. Ich kann es nicht.« Sein Blick fiel auf die Orchideen, die mit einer kleinen Diamantnadel am Schulterband ihres Kleides befestigt waren. »Niemand wird dich mir wegnehmen«, schrie er, ließ sie los und lief rasch hinaus. Langsam ging Shelah Fane zu einem Stuhl und ließ sich darauf fallen. Qual und Verzweiflung standen in ihrem Gesicht, und diesmal waren sie nicht gespielt. Kurze Zeit saß sie einfach da, dann begann sie allmählich ihre Umgebung wieder wahrzunehmen. Sie schaute auf ihre Uhr – Viertel vor acht. Rasch stand sie auf und ging zu der Verandatür im Hintergrund. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und der weite Rasen zwischen dem Haus und der tosenden Brandung war in Dunkelheit gehüllt. Von weitem hörte sie Julies frohlockenden Schrei beim Kampf mit den Wellen und Jimmy Bradshaws Antwortrufe. Sie verspürte ein seltsames Gefühl der Erwartung, als sie auf die Veranda trat. Sie ging hinüber und blieb am Rand des Rasens stehen. Dort schaute sie sich um. Unter einem Baum in der Nähe glaubte sie, in der Dunkelheit einen noch schwärzeren Schatten wahrzunehmen. Er bewegte sich plötzlich; sie erkannte ihn, stieß einen Freudenschrei aus und rannte über das Gras auf ihn zu. Währenddessen lief Alan Jaynes mit langen Schritten grimmig die Kalakaua-Avenue entlang, in Richtung auf das Grand Hotel. In fünf Minuten hatte er die kühle, hohe Vorhalle des berühmten Hotels erreicht. Er passierte den ersten Hotelboy, dessen Willkommenslächeln plötzlich erstarrte, als er den Gesichtsausdruck
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des Briten bemerkte. Jaynes wandte sich nach links, lief an Schaufensterauslagen mit Jade und orientalischer Seide vorüber, dann an dem Blumenkiosk, in dem er vorhin den Strauß erstanden hatte, der jetzt unbeachtet auf Shelah Fanes Tisch lag. Dann war er am Eingang des großen Gesellschaftsraumes angelangt und stand am oberen Ende einer kurzen Treppe. Es war ein herrlicher Raum, mit seinen drei großen Gewölben dem Eingang gegenüber, die wie ein dreifaches Gemälde des Tropenhimmels aussahen. Aber Jaynes hatte an diesem Abend kein Auge für Schönheit. Die meisten Gäste waren beim Abendessen, und die Halle bot einen verlassenen Eindruck. Aber nicht allzu weit entfernt entdeckte der Brite den Mann, den er suchte, in freundschaftlichem Gespräch mit einem älteren Ehepaar, das nach Touristen aussah. Er lief die Stufen hinunter und ging auf den Stuhl des Mannes zu. »Stehen Sie auf!« befahl er mit heiserer Stimme. Tarneverro der Große betrachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht. »Ich hätte von Ihnen eigentlich etwas mehr Höflichkeit erwartet«, sagte er ruhig. »Aber ich kenne Sie ja schließlich auch kaum.« »Stehen Sie auf«, wiederholte Jaynes, »und kommen Sie mit. Ich muß mit Ihnen sprechen.« Einen Augenblick lang saß der Wahrsager ruhig da und musterte den Mann, der vor ihm aufragte. Dann erhob er sich, entschuldigte sich bei dem alten Ehepaar und durchschritt neben Jaynes den langen Raum. »Was soll das alles…«, begann er. Sie blieben in einem Bogengang am Ende der Halle stehen. Draußen tauchten viele helle Lampen den Ho-
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telrasen in weißes Licht, was ein ideales Bühnenbild für irgendein Tropendrama abgegeben hätte. Aber die Bühne war leer; das Drama spielte sich nur in der Halle ab. »Ich wünsche eine Erklärung«, sagte Jaynes grob. »Eine Erklärung wofür?« »Ich habe mir die Ehre erwiesen, Miß Shelah Fane um ihre Hand zu bitten. Ich hatte allen Grund zu glauben, daß sie vorhatte, mich zu heiraten – aber heute hat sie Sie in dieser Angelegenheit um Rat gefragt – in einer Angelegenheit, die Sie überhaupt nichts angeht. Sie rieten ihr von einer Heirat mit mir ab.« Tarneverro zuckte die Achseln. »Ich pflege mit Außenstehenden nicht darüber zu diskutieren, was während meiner Sitzungen vorgeht.« »Mit mir werden Sie das aber tun müssen. Machen Sie sich das bitte klar!« »Selbst wenn – was könnte ich Ihnen denn schon sagen? Ich erzähle meinen Klienten nur, was ich in der Kristallkugel sehe.« »Unsinn!« schrie Jaynes. »Sie erzählen ihnen, was Ihnen zufällig in den Kram paßt. Welchen Grund hatten Sie, Shelah einen solchen Rat zu geben?« Er trat näher an den Hellseher heran und starrte ihm ins Gesicht. »Sind Sie vielleicht selbst in sie verliebt?« Der Wahrsager lächelte. »Miß Fane ist äußerst charmant…« »Das können Sie sich sparen…« »Äußerst charmant, aber ich erlaube mir niemals den unklugen Luxus, ein sentimentales Verhältnis zu meinen Klienten anzufangen. Ich gab Shelah diesen Rat, weil ich in der beabsichtigten Hochzeit keine Möglichkeit für ein Glück sah.« Sein Ton wurde ernst. »Zufäl-
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lig habe ich Ihnen heute einen Gefallen erwiesen, ob Sie mir glauben oder nicht.« »Wirklich?« fragte Jaynes höhnisch. »Aber ich erbitte keinen Gefallen von einem Quacksalber wie Ihnen!« Dunkle Röte breitete sich auf Tarneverros Gesicht aus. »Es hat keinen Sinn, dieses Gespräch fortzusetzen«, stellte er fest. Jaynes packte ihn rasch am Arm, bevor er sich entfernen konnte. »Wir setzen es aber noch ein wenig fort. Sie gehen jetzt sofort zu Miß Fane und erklären ihr, daß Sie ein Schwindler und Betrüger sind, und daß Sie alles zurücknehmen, was Sie ihr heute geraten haben.« Tarneverro schüttelte die Hand des anderen ab. »Und wenn ich mich weigere?« fragte er. »Wenn Sie sich weigern, werde ich Ihnen eine Tracht Prügel verabreichen, die Sie lange nicht vergessen werden.« »Ich weigere mich dennoch«, sagte Tarneverro ruhig. Jaynes holte mit dem rechten Arm weit aus – und wurde plötzlich überraschend fest daran gepackt und festgehalten. Er schnellte herum. Val Martino, der Filmdirektor, stand neben ihm und hielt seinen Arm fest. Neben Martino stand Huntley Van Horn in prächtiger Hollywood-Abendgarderobe und verfolgte den Auftritt mit amüsiertem Interesse. »Aber, aber«, brüllte Martino mit noch röterem Gesicht als gewöhnlich. »Schluß damit! Wir haben im Filmgeschäft schon viel zuviel solcher Auftritte. Wir können das nicht brauchen, Jaynes, wir können es uns nicht leisten!« Kurze Zeit standen die vier Männer regungslos da. Eine neue Gestalt betrat die Bühne, ein breiter, massi-
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ger Chinese im Dinnerjackett. Tarneverro rief ihn herbei. »Ah, Inspektor Chan. Einen Augenblick bitte.« Charlie kam auf die Gruppe zu. »Das ist ja Mr. Tarneverro«, stellte er fest. »Der Lüfter von Schleiern.« »Inspektor«, sagte der Wahrsager, »darf ich Ihnen Mr. Van Horn und Mr. Martino vorstellen? Und das ist Mr. Alan Jaynes. Inspektor Chan, von der hiesigen Polizei.« Chan verbeugte sich anmutig. »Welch große Ehre für mich. Erlesene Gesellschaft, wie jeder Blinde sofort sehen könnte.« Jaynes starrte Tarneverro an. »Ausgezeichnet«, spottete er. »Sie verstecken sich also hinter den Rockschößen der Polizei. Das ist genau das, was ich von Ihnen auch erwartet hätte.« »Aber, aber«, vermittelte Martino. »Ein kleines Mißverständnis, Inspektor. Es wird keinerlei Schwierigkeiten geben – ich bin sicher, daß der gute Name der Filmindustrie uns allen zuviel bedeutet. Mir bedeutet er jedenfalls sehr viel.« Van Horn schaute auf seine Uhr. »Genau acht Uhr«, stellte er fest. »Ich glaube, ich werde mich langsam auf den Weg zu Shelah machen. Kommt jemand mit?« Der Direktor schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich komme aber gleich nach.« Der Schauspieler schlenderte langsam davon. Martino, der den Arm des Briten noch immer fest umklammert hielt, versuchte ihn wegzubringen. »Kommen Sie mit auf die Terrasse. Dort können wir uns über die Sache unterhalten«, schlug er vor. Jaynes wandte sich an den Wahrsager. »Ich fahre erst um Mitternacht ab«, sagte er. »In der Zwischenzeit könnten wir uns noch einmal begegnen.« Nach diesen
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Worten ließ er es zu, daß Martino ihn die Halle entlangführte. »Ich hoffe sehr, daß diese Weissagung nicht in Erfüllung geht«, sagte Chan zu Tarneverro. »Licht im Auge des Gentlemans gefällt mir gar nicht.« Tarneverro lachte. »Oh, er wird darüber hinwegkommen. Ich habe ihn, ganz unbeabsichtigt, gekränkt.« Er sah Charlie nachdenklich an. »Übrigens, Inspektor, das ist ein glückliches Zusammentreffen. Ich hatte schon daran gedacht, Sie anzurufen. Was haben Sie heute abend vor?« »Ich nehme am Bankett des Rotary-Klubs in diesem Hotel teil«, erklärte Charlie. »Gut. Sie werden also eine Zeitlang hier sein.« Chan nickte. »Ich befürchte es. Leider ziehen sich die meisten Reden nach dem Abendessen entsetzlich in die Länge.« »Bis elf Uhr vielleicht?« »Das klingt bedauerlicherweise sehr wahrscheinlich.« »Ich esse im Hause einer guten Freundin am Strand zu Abend«, sagte Tarneverro. »Genauer gesagt, im Hause von Miß Shelah Fane. Irgendwann zwischen jetzt und elf Uhr könnte ich eine wichtige Nachricht für Sie haben, Inspektor.« Chan öffnete langsam die Augen. »Eine Nachricht? Welcher Art?« Tarneverro zögerte. »Heute morgen haben Sie zufällig gewisse Mordfälle in Los Angeles erwähnt, die immer noch nicht aufgeklärt sind. Ich habe Ihnen bei dieser Gelegenheit gesagt, daß ich mich aus solchen Sachen lieber heraushalte. Aber es ist uns nicht immer möglich, unseren Wünschen entsprechend zu leben, Inspektor.« Er wollte sich entfernen.
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»Einen Augenblick bitte«, sagte Chan. »Sie haben Feuer meiner Neugierde gelöscht, indem Sie eine Handvoll Stroh darauf geworfen haben. Darf ich meine Frage wiederholen – welche Art von Nachricht?« Der Wahrsager blickte ihn lange an. »Eine Botschaft, die besagt, daß Sie den Mörder verhaften sollen, der – aber ich darf nicht zuviel versprechen. Wie Sie zweifellos aus eigener Erfahrung wissen, gibt es viele Mißerfolge. Ich bin sehr glücklich, Sie in der Nähe zu wissen – zumindest bis elf Uhr. Danach kann ich Sie dann vermutlich bei Ihnen zu Hause erreichen?« »Jederzeit«, sagte Charlie. »Wir wollen auf Erfolg hoffen«, lächelte Tarneverro geheimnisvoll und entfernte sich, um zu dem älteren Ehepaar in der Mitte der Halle zurückzukehren. Einen Augenblick sah Chan ihm nach. Dann zuckte er mit seinen breiten Schultern und machte sich auf den Weg zum Bankettsaal.
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Kapitel 3
Blumen für Shelah Fane Huntley Van Horn schlenderte die Kalakaua-Avenue entlang, auf Shelah Fanes Haus zu. Auf Oahu, dieser winzigen Insel inmitten des wogenden Pazifiks, haben nur wenige äußere Anzeichen einer romantischen Vergangenheit überlebt. Er hätte sich ebenso gut auf dem Hollywood-Boulevard befinden können: der Autostrom entlang dieser Strecke amerikanischen Asphalts riß nicht ab, ein Trolleybus fuhr vorüber, und er selbst spazierte auf einem richtigen Gehweg unter dem weichen gelben Schein moderner Straßenlaternen. Dennoch war er sich bewußt, daß jenseits des Lichtes dieser Laternen sich die Tropennacht wie schwarzer Samt ausbreitete. Er atmete den Duft von Ingwerblüten ein, Krotonhecken wurden von Hibiskushecken abgelöst, die mit bleichen, rosafarbenen Blüten übersät waren, dazu verurteilt, um Mitternacht zu sterben. Er kam zu der angegebenen Hausnummer und bog durch das Tor in eine breite Auffahrt ein, die vor einem Portal endete. Unter einem fruchtbaren indischen Feigenbaum stehend, der zwei Jahrhunderte älter war als die Filmindustrie, klingelte er. Jessop öffnete ihm. »Oh, Mr. Van Horn«, sagte der Butler. »Wie schön, Sie wiederzusehen.« »Wie geht es Ihnen?« erkundigte sich der Schauspieler. »Glänzend, Sir. Ich hoffe, Sie haben Ihren kleinen Abstecher nach Tahiti genossen.« Van Horn nahm den Strohhut ab, den er gegen den Seidenzylinder vertauscht hatte, der ihm die Bewun-
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derung einiger Millionen Frauen eingebracht hatte. »Ein primitives Land – Tahiti«, lächelte er. »Es hätte Sie bestimmt an Hollywood erinnert.« Der Butler erlaubte sich ein diskretes Lächeln. Van Horn ging ins Wohnzimmer, und Jessop folgte ihm. »Ist noch niemand hier?« rief der Schauspieler. »Du lieber Himmel, bin ich denn so früh dran?« »Aber nein, Mr. Van Horn. Einige Gäste genießen das Baden im Meer. Es soll ja auch, soviel ich weiß, in gewisser Hinsicht ziemlich berühmt sein. Und einige sind, glaube ich, am Strand. Möchten Sie sich den – äh – den anderen jungen Leuten im Wasser anschließen?« Van Horn grinste. »Das Diplomatische Korps hat an Ihnen einen guten Mann verloren. Nein – so sehr ich auch versucht bin, mich zur Jugend zu rechnen, so erfordert die Angelegenheit doch verdammt viel Anund Ausziehen. Ich werde, vornehm und trocken, am Ufer bleiben.« »Sehr wohl, Sir«, nickte Jessop, »es ist auch schon Viertel nach acht, und die Abendessenszeit rückt rasch näher. Ich werde gezwungen sein, alle in Kürze herbeizurufen.« Van Horn blickte sich im Zimmer um. »Was denn – keine Cocktails?« »Es hat eine kleine Verzögerung gegeben, Sir. Der Gentleman, der uns mit der raren Flüssigkeit versorgen sollte – unter uns gesagt, der äußerst raren Flüssigkeit – ist eben erst gekommen. Ich war gerade dabei, zu mixen, als Sie klingelten.« Er ging zu der Flügeltür hinüber, die auf die Veranda führte. »Der Ozean ist direkt vor der Tür«, erklärte er. Van Horn lachte und schlenderte auf die Veranda. Der Butler folgte ihm bis zur Tür am Ende der Veranda und
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hielt sie ihm auf. »O ja«, sagte der Schauspieler. »Ich höre das Tosen der Brandung. Kein Zweifel, daß ich das Meer in unmittelbarer Nähe vorfinden werde.« Er blieb auf der Schwelle stehen und deutete auf ein Licht, das rechts in einiger Entfernung durch die Bäume schimmerte. »Was ist denn das dort?« »Eine Art Sommerhaus oder Pavillon, Sir«, erklärte Jessop. »Zumindest wäre es in England ein Sommerhaus, wo es Sommer gibt. Vielleicht sind einige der Gäste dort.« Van Horn betrat den Rasen und bewegte sich auf das Licht zu. Plötzlich hörte er durch das Tosen der Brandung hindurch Stimmen vom Strand. Unschlüssig, wohin er gehen sollte, blieb er einen Augenblick lang stehen. Inzwischen war Jessop ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Ein alter, gebeugter Chinese schlurfte herein. »Mein lieber Wu Kno-ching«, protestierte der Butler, »in einem ordentlichen Haushalt gehört der Koch in die Küche.« Der alte Mann ignorierte den Tadel völlig. »Wieviel Uhr Abendessen?« fragte er. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, ist das Abendessen für acht Uhr dreißig angesetzt«, erwiderte Jessop. »Es könnte sich jedoch etwas verzögern.« Wu Kno-ching zuckte die Achseln. »Was Art Haus das ist? Abendessen wird sein fertig bald. Ich machen Abendessen fertig, Boß sagen warten, Abendessen zum Teufel gehen.« Weitere Vorwürfe vor sich hinmurmelnd, entfernte er sich. Die Verandatür schlug zu; Wilkie Ballou schlenderte über die Veranda und kam ins Wohnzimmer.
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»Ich befürchte, daß die Idee, schwimmen zu gehen, das Abendessen verzögern wird, Sir«, sagte Jessop. »Was? O ja – vermutlich. Haben Sie irgendwelche Zigaretten für mich? Meine Schachtel ist leer.« Jessop bot ihm aus einem Etui Zigaretten an, Ballou bediente sich und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Der Butler gab ihm noch mit einem Streichholz Feuer und zog sich dann in die Küche zurück. Als er fünfzehn Minuten später zurückkehrte, saß Ballou immer noch in der gleichen Position da. »Die Lage ist ziemlich angespannt, Sir«, bemerkte Jessop. Er trug einen großen Essensgong. »Ich habe bisher aufgrund meiner Lektüre immer geglaubt, daß die Chinesen eine bemerkenswert geduldige Rasse sind.« »Ja, sie haben diesen Ruf«, bestätigte Ballou. »Ihr Repräsentant in unserer Küche trägt aber nichts zur Unterstützung dieses Rufes bei, Sir«, seufzte Jessop. »Er macht mich sehr leidenschaftlich darauf aufmerksam, daß das Abendessen wartet. Ich werde rasch zum Ufer gehen und sehen, was ich damit erreichen kann.« Er deutete dabei auf den Gong und verschwand. Kurz darauf war zu hören, wie er in einiger Entfernung ein nicht unmusikalisches Trommelkonzert veranstaltete. Ballou zündete sich gerade eine neue Zigarette an, als Jessop zurückkehrte, dicht gefolgt von Rita Ballou und Van Horn. »Du hättest bleiben sollen, Wilkie«, sagte Rita. »Ich habe gerade den ganzen neuesten Klatsch von Hollywood erfahren.« »Interessiert mich aber nicht«, knurrte Ballou. »Armer Wilkie«, lächelte seine Frau. »Für ihn wäre schon bald Schlafenszeit, und er hat noch nicht einmal
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sein Abendessen bekommen. Nur Mut! Es kann jetzt nicht mehr lange dauern.« Diana Dixon tauchte völlig atemlos auf. »Vermutlich sind wir zu spät dran. Ihr hättet mit uns im Wasser sein sollen. Es war einfach wundervoll – aber leider viel zu kurz. Ich hätte stundenlang bleiben können. Cocktails – das ist eine gute Idee.« Sie nahm sich einen Cocktail von dem Tablett, das Jessop ihr hinhielt. Auch die anderen Gäste ließen sich nicht nötigen. Huntley Van Horn hob sein Glas. »Auf unsere Gastgeberin, wo immer sie auch stecken mag«, sagte er. »Stimmt ja – was ist eigentlich aus Shelah geworden?« fragte Rita Ballou. »Wir haben sie nur einen Augenblick gesehen, als wir kamen…« »Shelah«, sagte Van Horn mit zynischem Lächeln, »lauert zweifellos irgendwo im Hintergrund und wartet auf ihren großen und eindrucksvollen Auftritt. Sie wird auf einem weißen Pferd einreiten oder aus einem Ballon zu uns herniederschweben. Ihr wißt doch, sie ist ganz verrückt nach solchen Sachen…« Julie und Jimmy kamen angerannt, erhitzt und in bester Stimmung. »Hallo, Mr. Van Horn«, rief das Mädchen. »Sind Sie etwa alles, was wir an Gästen aufzubieten haben?« »Wie können Sie nur so grausam zu mir sein?« seufzte er gespielt. »Sie wissen schon, was ich meine«, lachte sie. »Wo sind all die anderen Gäste? Val Martino, Mr. Jaynes, Tarneverro…« »Kommt Tarneverro auch?« Van Horn runzelte die Stirn. »In diesem Fall brauche ich noch einen Cocktail. Herzlichen Dank.«
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Plötzlich waren an der Haustür Klänge hawaiischer Gitarren und viele frische junge Stimmen zu hören, die ein Volkslied der Insel sangen. Julie stieß einen Freudenschrei aus. »Eine Serenade von Shelahs Verehrern«, rief sie. »Ist das nicht süß? Sie wird entzückt sein.« In ihrem flatternden Strandkleid lief sie zur Tür und riß sie auf. Sie sah sich vielen Mädchen der High School gegenüber, die jede Menge Blumen mitgebracht hatten. Sie unterbrachen ihr Lied, und eine Japanerin trat vor. »Wir würden gern Shelah Fane sehen, wenn es möglich ist.« »Selbstverständlich«, sagte Julie. »Wartet einen Augenblick, ich werde sie gleich holen. Könntet ihr vielleicht inzwischen ›The Song of the Islands‹ singen, wenn es euch nichts ausmacht? Es ist Miß Fanes Lieblingslied, müßt ihr nämlich wissen.« Sie ließ die Tür offenstehen und kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Komm, Jimmy, wir werden Shelah suchen. Ich glaube, sie ist im Pavillon.« »Bestimmt«, meinte Jimmy. Zusammen liefen sie auf den Rasen hinaus. »Es könnte gar nicht besser sein«, rief Julie. »Ich meine, für Shelahs Auftritt bei der Party. Die Menge draußen, die ihr ein Ständchen bringt, während sie hereinkommt – sie wird begeistert sein.« »Gütiger Himmel!« stöhnte Bradshaw mißbilligend. »Oh, ich weiß«, antwortete das Mädchen. »Natürlich ist es albern, aber die arme Shelah ist nun einmal so. Ihr Leben hat sie dazu gemacht, und sie kann sich nicht mehr ändern.« Die süßen, melancholischen Klänge von ›The Song of the Islands‹ wurden ihnen von der Abendbrise zuge-
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tragen. »Beeilen wir uns«, sagte Julie, »Shelah muß ihren Auftritt haben, bevor dieses Lied zu Ende ist.« Sie rannte die Stufen zum Pavillon hinauf, dicht gefolgt von Bradshaw. Er stieß die Tür des einzigen Zimmers auf. Einen Augenblick stand er einfach da, dann drehte er sich rasch um und nahm das Mädchen in seine Arme. »Nein, nein«, rief er. »Geh nicht weiter!« Sein Ton ängstigte sie. »Was meinst du damit?« »Dreh dich um und geh zurück ins Haus«, bat er, aber sie riß sich los und rannte ins Zimmer. »Du wirst es bereuen«, warnte er. Und es schien, als bereute sie es wirklich, denn über den Stimmen der Sängerinnen und dem fernen Wimmern der Gitarren ertönte ihr greller Schreckensschrei. Shelah Fane lag auf dem Fußboden neben einem kleinen Stuhl. Sie war erstochen worden, mitten ins Herz; ihr unvergleichliches elfenbeinfarbenes Kleid war voller Blutflecken. Und draußen sang jene kleine Schar von Verehrerinnen noch immer inbrünstig ihre Serenade. Julie kniete neben dem Star nieder, und Bradshaw wandte seine Augen ab. Einen Augenblick später ging er zu Julie und hob sie auf. »Wir sollten jetzt lieber gehen«, sagte er sanft. »Wir können hier ja doch nichts mehr tun.« Er führte sie zur Tür. Sie blickte ihn unter Tränen an. »Aber wer – wer…?« murmelte sie. »Ja…«, antwortete er. »Ich befürchte, das ist jetzt die große Frage.« Unerwartet entdeckte er an der Innenseite der Pavillontür einen Schlüssel. Sie gingen hinaus, und der junge Mann schloß ab und steckte den Schlüssel in seine Tasche. Langsam kehrten sie ins Haus zurück.
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Huntley Van Horn rief sie an. »Haben Sie es Shelah ausgerichtet? Das Bühnenbild ist fertig. Ihre Gäste sind im Wohnzimmer versammelt, ihr Publikum singt kräftig vor der Tür – ein wahrhaft großer Auftritt…« Er hielt inne, als er Julies Gesichtsausdruck bemerkte. »Was ist passiert?« schrie Rita Ballou. Bradshaw sah jeden einzelnen von der kleinen Gruppe an. Jessop kam gerade herein, nahm das Silbertablett, auf dem er die Cocktails serviert hatte, und wollte die leeren Gläser einsammeln. Vor der Tür verklang das Lied. »Shelah Fane ist im Pavillon ermordet worden«, sagte der junge Mann leise. Man hörte lautes Klirren. Jessop hatte sich zum erstenmal in vierzig Dienstjahren etwas zuschulden kommen lassen. Das Silbertablett war seinen Händen entglitten und auf den Boden gefallen. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er, ohne sich an jemanden speziell zu wenden. Draußen stimmten Shelahs Verehrerinnen ein neues Lied an. Bradshaw stürzte zur Haustür. »Bitte«, rief er, »bitte, heute abend nicht mehr. Ihr müßt jetzt heimgehen. Miß Fane kann euch nicht empfangen. Sie ist – sie ist krank.« »Das tut uns aber sehr leid«, sagte das Mädchen, das die Anführerin der Gruppe zu sein schien. »Übergeben Sie ihr doch bitte unsere Blumen.« Sie überhäuften ihn mit duftenden Blüten. Gleich darauf taumelte er wieder ins Vorzimmer, in den Armen eine Unmenge farbenprächtiger Blumen. Julie stand mit aufgerissenen Augen und totenblassem Gesicht da.
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»Blumen«, sagte Bradshaw leise. »Blumen für Shelah Fane.« Mit einem erstickten Schrei sank Julie neben ihm zu Boden.
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Kapitel 4
Das Kamel am Tor Im Grand Hotel widmete sich Charlie Chan mit Hingabe dem Abendessen, das – wie er inzwischen festgestellt hatte – ganz ausgezeichnet war. Die Zeit für die Rotary-Reden war noch nicht so nahegerückt, daß es ihn verdrießlich gestimmt hätte, das Essen war gut, und er war mit sich und der Welt zufrieden. Er kannte den Namen der kleinen Fische nicht, die vor ihm auf dem Teller lagen, aber ein Bissen hatte genügt, um ihn völlig von ihrer hervorragenden Qualität zu überzeugen. Gerade als er sich vorlehnte, um dem Essen herzhaft zuzusprechen, berührte ein Hotelboy seine Schulter. »Sie werden sehr dringend am Telefon verlangt«, sagte der Boy. Ein Gefühl vager Unruhe quälte Charlie, während er das Foyer durchquerte, um die Telefonzelle zu erreichen. Er hätte eigentlich am liebsten ein Leben der ruhigen Meditation geführt, aber ein grausames Schicksal brach immer wieder mit irgendeinem neuen Problem über ihn herein, das gelöst werden mußte. Was war es wohl diesmal, so fragte er sich, als er die Zelle betrat und die Tür hinter sich zuzog. Er wurde von einer aufgeregten jungen Stimme begrüßt. »Hallo, Charlie – hier ist Jim Bradshaw vom Touristenbüro. Huntley Van Horn hat mir gesagt, daß ich Sie im Hotel erreichen würde.« »Ja – und jetzt haben Sie mich erreicht. Was hat Sie denn nun eigentlich in diesen Zustand höchster Erregung versetzt?« In abgehackten Sätzen sprudelte Bradshaw seine Ge-
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schichte heraus. Charlie hörte ruhig zu. »Shelah Fane«, sagte der junge Mann. »Sie wissen ja, was das bedeutet, Charlie. Diese Neuigkeit wird noch heute nacht in die ganze Welt gekabelt werden. Sie werden im Licht der Öffentlichkeit stehen wie noch nie zuvor. Sie sollten deshalb lieber so schnell wie möglich hierherkommen.« »Ich komme sofort«, antwortete Charlie. Bradshaw fragte sich, ob es wirklich ein Seufzer war, den er durchs Telefon hörte. »Verhindern Sie bitte, daß jemand etwas berührt, bevor ich am Tatort bin«, fügte der Detektiv noch hinzu. Er hängte auf, dann rief er die Polizeistation an und gab bestimmte Anweisungen. Schließlich verließ er die Telefonzelle, wobei er sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn abwischte. Einen Augenblick lang stand er bewegungslos da, als sammelte er seine Kräfte für die ihm bevorstehende Aufgabe. Ein weiterer Fall, ein weiterer Mord, und er wußte, daß die Worte des jungen Mannes zutrafen: diesmal würde er tatsächlich im hellen Rampenlicht arbeiten müssen. Shelah Fane! Nicht umsonst hatte er Kinder, die – wie er sich oft ausdrückte – kinobesessen waren. Er kannte nur allzu gut das Interesse, in dessen Mittelpunkt diese Frau immer gestanden hatte, die nun ganz in der Nähe tot in einem Pavillon am Strand lag. »Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt«, seufzte er und tat diesen Schritt – in Richtung auf seinen Hut. An der Hoteltür traf er Tarneverro. Der Wahrsager trug ebenfalls einen Hut und schien im Begriff auszugehen. »Hallo, Inspektor«, sagte er. »Sie sind mit Ihrem Abendessen doch wohl nicht schon fertig?«
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»Nein«, antwortete Charlie. »Ich werde durch wichtige Sache brutal davon abgehalten. Die wichtigste seit langer Zeit.« »Tatsächlich?« fragte Tarneverro leichthin. Charlies kleine Augen fixierten den anderen mit großer Intensität. Es war nicht zu früh, Eindrücke zu sammeln, abzuwägen, zu ermessen, zu studieren. »Miß Shelah Fane«, sagte er langsam, »wurde eben ermordet in ihrem Haus aufgefunden.« Stunden später dachte er über den Ausdruck nach, der über das dunkle, geheimnisvolle Gesicht huschte. »Shelah!« schrie Tarneverro. »Großer Gott!« »Sie waren wohl gerade auf dem Weg zu ihr?« fragte Charlie. »Ich – ich – ja – natürlich…« »Erweisen Sie mir doch die Ehre, mit mir zu fahren. Ich möchte Fragen stellen.« Val Martino eilte auf sie zu. »Tarneverro – hören Sie – gehen Sie runter zum Strand?« Der Wahrsager berichtete ihm die Neuigkeit. Der Direktor nahm sie mit erstaunlicher Ruhe auf. »Zu dumm«, stellte er ruhig fest. Nachdenklich fuhr er fort: »Nun, da geht die harte Arbeit von sechs Monaten dahin. Dieser Film ist geliefert. Ich werde niemals ein Double für sie finden – ich habe es schon versucht…« »Großer Gott, Mann!« schrie Tarneverro ärgerlich. »Shelah ist tot, und Sie quatschen über Ihren Film!« »Tut mir leid«, sagte Martino. »Es tut mir um die arme Shelah sehr leid. Aber im Film muß die Show weitergehen.« »Was ist eigentlich aus diesem Jaynes geworden?« fragte Tarneverro plötzlich.
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»Gleich nachdem wir uns von Ihnen getrennt hatten, schüttelte er mich ab und lief zum Strand. Er war in einer Gemütsverfassung… – nun, Sie haben es ja selbst gesehen. Er wollte nicht zum Abendessen kommen – aber ich glaube, ich sollte ihn wohl besser suchen und in Shelahs Haus bringen, oder?« »Ja, ja«, stimmte Chan eilig zu. »Ich muß ihn unbedingt sprechen. Kommen Sie, Mr. Tarneverro. Eile tut not!« Er führte den Wahrsager zur Auffahrt, wo sein alter Kleinwagen bereitstand. »Das Vehikel ist nicht gerade sehr groß«, entschuldigte er sich, »aber es fährt. Steigen Sie bitte ein.« Schweigend nahm Tarneverro in dem kleinen Zweisitzer Platz. Chan fuhr los. »Das ist eine schreckliche Sache«, erklärte der Wahrsager. »Arme Shelah – ich kann es kaum glauben.« Charlie zuckte die Achseln. »Richtige Zeit zum Philosophieren«, schlug er vor. »Vielleicht kennen Sie altes östliches Sprichwort: ›Tod ist das schwarze Kamel, das ungebeten an jedem Tor kniet. ‹ Früher oder später – spielt das eine Rolle?« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Tarneverro. »Aber ich befürchte, daß ich in gewisser Weise dafür verantwortlich bin. O Gott, je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird es mir. Das Blut der armen Shelah klebt an meinen Händen!« »Ihre Bemerkungen haben interessanten Klang«, stellte Chan fest, während das Auto in die Avenue einbog. »Seien Sie doch bitte so freundlich und erklären Sie mir das.« »Heute abend«, berichtete der Wahrsager, »habe ich Ihnen doch gesagt, daß ich Sie vielleicht anrufen würde, damit Sie in einem sehr wichtigen Mordfall eine
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Verhaftung vornehmen. Ich habe fest damit gerechnet. Ich werde Ihnen kurz erzählen, was ich damit gemeint habe.« »Shelah Fane hatte mir vom Schiff aus telegrafiert und mich gebeten, sie hierzu treffen. Offenbar hatte dieser Jaynes ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie wollte meinen Rat haben. Seit einiger Zeit hatte sie die Angewohnheit, mit all ihren Problemen zu mir zu kommen. Sie liebte Jaynes, sie wollte ihn heiraten – aber sie hatte Angst davor, was die Zukunft bringen könnte. Sie befürchtete, daß die Welt jeden Augenblick entdecken könnte, daß sie seit mehr als drei Jahren ein schreckliches Geheimnis mit sich herumtrug.« »Was für ein Geheimnis?« fragte Charlie. »Heute morgen«, fuhr Tarneverro fort, »haben Sie von Denny Mayo gesprochen, der vor gut drei Jahren tot in seinem Haus in Los Angeles aufgefunden wurde. Die Polizei stand dem Fall von Anfang an ratlos gegenüber. Aber Shelah Fane – sie wußte, wer Denny Mayo ermordet hatte. Sie befand sich in der Mordnacht zu einem harmlosen Besuch in Mayos Haus. Es klingelte an der Tür, und törichterweise versteckte sie sich in einem anderen Zimmer. Sie hat alles mitangesehen. Das hat sie mir heute morgen gebeichtet. Mehr noch, sie hat mir gesagt, daß Denny Mayos Mörder zur Zeit in Honolulu ist.« Charlies Augen funkelten in der Dunkelheit. »Hat sie Ihnen den Namen gesagt?« Tarneverro schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Sie wollte ihn mir nicht sagen, und ich habe keinen Druck auf sie ausgeübt. Sie hatte ihre Beziehung zu dieser Affäre damals natürlich nicht enthüllen wollen, weil das das Ende ihrer Karriere bedeutet hätte. Sie
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hat all die Jahre hindurch geschwiegen, aber jetzt schreckte sie davor zurück, einen Mann zu heiraten, den sie wirklich gern hatte, und ihn später eventuell in eine sehr unerfreuliche Publicity hereinzuziehen.« »Eine ganz natürliche Hemmung«, meinte Chan. »Haben Sie sie darin unterstützt?« Er hatte den Wagen in der Auffahrt zu Shelahs Haus zum Stehen gebracht, machte aber keine Anstalten, auszusteigen. »Selbstverständlich«, sagte Tarneverro. »Mehr noch, ich habe ihr strikt geraten, sich von dieser Last zu befreien, um endlich Frieden zu finden. Ich versicherte ihr, daß keine Polizei der Welt sie für ihr langes Schweigen bestrafen würde, wenn sie den Namen der schuldigen Person aus freiem Antrieb preisgeben würde. Ich hoffe, ich hatte recht damit.« »Was mich selbst anbelangt, ja«, nickte Charlie. »Ich schlug ihr vor, Jaynes vorläufig einen Korb zu geben und diese unangenehme Pflicht hinter sich zu bringen, die sie, meiner Ansicht nach, der Gesellschaft schuldig war. Ich sagte, ich sei der Meinung, daß es äußerst töricht von ihr wäre, irgendeinen Mann zu heiraten, solange eine derartige Gefahr ihr Glück bedrohe. Ich wies sie darauf hin, daß Jaynes sie später doch noch heiraten würde, wenn er sie wirklich liebte. Und wenn das nicht der Fall sein sollte, so war es besser, das jetzt festzustellen.« Sie stiegen aus und standen unter dem Feigenbaum. Charlie schaute forschend in das Gesicht des Wahrsagers. »Und wenn Jaynes sie nicht heiratete…«, deutete er an. Tarneverro zuckte die Achseln. »Da sind Sie aber auf der falschen Spur«, sagte er. »Ich hatte kein persönliches Interesse an Shelah Fane. Aber meine Rolle gefiel
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mir gar nicht – das Geheimnis, das sie mir anvertraut hatte, überstieg ein wenig meine Ambitionen. Ich spürte außerdem, daß sie um ihres eigenen Glückes willen schließlich diese Last loswerden sollte. Deshalb gab ich ihr den dringenden Rat, den Namen des Schuldigen im Fall Mayo öffentlich bekanntzugeben.« »Und – war sie damit einverstanden?« fragte Charlie. »Nicht direkt. Der Gedanke jagte ihr Angst ein. Sie sagte, sie würde darüber nachdenken. Heute abend wollte sie mir ihre Entscheidung mitteilen. Ich schlug ihr vor: Schreib mir einen kurzen Bericht mit dem Namen, gib ihn mir heute abend beim Essen, und ich werde dir alles so leicht wie nur möglich machen. – Ich rechnete fest damit, daß sie es tun würde, sonst hätte ich nie mit Ihnen darüber gesprochen. Ja – sie hätte es bestimmt getan – aber jetzt – jetzt…« »Jetzt«, sagte Chan, »hat Mörder von Denny Mayo sie für immer zum Schweigen gebracht.« »Genau.« »Aber wie hat diese Person herausgefunden, daß Miß Fane eine Enthüllung des Verbrechens vorhatte?« »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen«, erwiderte Tarneverro. »Vor meinem Zimmer befindet sich ein Balkon. Das wäre eine Möglichkeit, allerdings keine sehr wahrscheinliche. Vielleicht hat Shelah mit dem Mörder gesprochen und ihm – oder ihr – gesagt, daß sie nicht länger schweigen könne. So etwas hätte ihr ähnlich gesehen. Sie war indiskret und impulsiv.« Sie gingen auf die Treppe zu. »Ich hoffe, daß meine Mitteilung Ihnen helfen wird, Inspektor. Sie verschaff Ihnen zumindest das Motiv, und sie engt Ihre Suche ein. Glauben Sie mir, ich werde Ihnen bei dieser Untersuchung zur Seite stehen. Sie werden von mir jede
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nur mögliche Hilfe erhalten. Mir liegt sogar noch mehr als Ihnen daran, den Namen von Shelahs Mörder zu erfahren.« »Ihre Hilfe wird tatsächlich wertvoll sein«, sagte Chan. »Was habe ich Ihnen heute morgen gesagt. Sie sind selbst erstklassiger Detektiv. Ich hätte mir allerdings nicht träumen lassen, daß wir so rasch Seite an Seite arbeiten würden.« Jessop ließ sie ein, und sie gingen ins Wohnzimmer, wo die beiden Ballous und Van Horn in düsterem Schweigen saßen. Chan beobachtete die kleine Gruppe nachdenklich. Jimmy Bradshaw trat kurz danach ein; er hatte seinen Badeanzug durch Abendkleidung ersetzt. »Hallo, Charlie«, sagte er leise. »Sie werden hier tatsächlich sehr gebraucht. Im Pavillon – gleich rechts über dem Rasen. Ich habe die Tür abgeschlossen, als wir festgestellt hatten, was geschehen war. Hier ist der Schlüssel.« »Sie sind kluger Junge«, stellte Charlie erfreut fest. »Diese Tatsache war schon lange so klar wie Morgensonne.« Er wandte sich an die anderen. »Es versteht sich natürlich von selbst, daß niemand dieses Haus verlassen darf, bevor ich die Erlaubnis dazu gebe. Mr. Tarneverro, wollen Sie so freundlich sein und mich begleiten?« Schweigend überquerte er mit dem Wahrsager den Rasen, der jetzt, vom aufgehenden Mond beschienen, weiß schimmerte. Chan ging als erster die Stufen hinauf und schloß die Tür auf. Mit deutlichem Widerstreben folgte Tarne verro. Charlie ließ sich neben Shelah Fane auf ein Knie fallen. Langsam blickte er von ihr zu dem Wahrsager. »Lange
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Zeit bin ich schon in diesem Beruf«, sagte er weich, »aber abgestumpft bin ich immer noch nicht. Es tut mir leid um diese Dame. Ich hatte sie bis zu diesem Augenblick noch niemals gesehen – trotzdem tut sie mir so leid.« Er stand auf. »Das schwarze Kamel hat heute nacht an sehr berühmtem Tor gekniet«, fügte er leise hinzu. Tarneverro war in einiger Entfernung von der Leiche stehengeblieben. Er schien sich nur mühsam beherrschen zu können. »Arme Shelah!« murmelte er. »Sie hing so sehr am Leben.« »Wir alle hängen daran«, erwiderte Charlie. »Sogar der Bettler zögert, über eine morsche Brücke zu gehen.« »Ich werde es mir nie verzeihen«, fuhr der Wahrsager fort. »Was Sie hier sehen, nahm heute morgen in meinem Apartment seinen Anfang.« »Was sein soll, geschieht«, tröstete Chan. »Wir werden unglückliche Person nicht bewegen, bis Untersuchungsrichter eintrifft. Ich habe schon mit der Polizeistation telefoniert. Aber wir werden uns hier umsehen, Mr. Tarneverro. Vergessen Sie nicht – Sie müssen mir helfen.« Er kniete sich wieder neben die Tote und hob Shelah Fanes linken Arm an. »Hier ist schon ein Anhaltspunkt. Es hat Kampf stattgefunden, und dabei wurde Armbanduhr zerschlagen. Das Glas ist zerbrochen, und« – er hielt die Uhr an sein Ohr – »die Uhr ist daraufhin sofort stehengeblieben. Zeiger zeigen auf zwei Minuten nach acht. Also kennen wir, ohne jede Anstrengung, schon genauen Zeitpunkt der Tragödie. Das ist ziemlich viel wert.« »Zwei Minuten nach acht«, wiederholte Tarneverro. »In diesem Augenblick waren Jaynes, Martino, Van
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Horn, Sie und ich in der Hotelhalle. Wissen Sie noch – Van Horn schaute auf seine Uhr, stellte fest, es sei genau acht Uhr und sagte, er werde sich auf den Weg hierher machen.« »Natürlich«, nickte Chan. »Alibis kommen wie Schafherde.« Er deutete auf die Orchideen, die zertrampelt auf dem Boden lagen. »Weiterer Beweis für einen Kampf. Strauß wurde abgerissen, unter Fuß zertrampelt.« »Das alles sieht ein wenig nach Eifersucht aus«, meinte Tarneverro stirnrunzelnd. »Könnten wir uns vielleicht doch über das Motiv täuschen? Nein – es könnte auch Zorn gewesen sein.« Charlie kroch auf dem Teppich herum. »Sonderbare Sache«, bemerkte er. »Blumen waren mit Nadel befestigt – wie Sie sehen, ist das Schulterband zerrissen – aber keine Spur von Nadel.« Er untersuchte die Orchideen und den Fußboden sehr sorgfältig, während Tarneverro ihm zuschaute. »Es stimmt wirklich«, stellte er schließlich fest und stand auf, »die Nadel, mit der Blumen festgesteckt waren, fehlt merkwürdigerweise.« Er ging zu einer alten Mahagoni-Frisierkommode, die früher einmal ansehnlich gewesen sein mußte, nun aber ins Strandhaus verbannt worden war. Die Kommode hatte eine Glasplatte, und Charlie beugte sich darüber und betrachtete sie sehr gründlich unter einer Lupe, die er aus der Tasche geholt hatte. »Weiterer Anhaltspunkt«, sagte er. »Diese Ecke hier hat vor kurzem einen heftigen Schlag abbekommen. Was kann das zu bedeuten haben?« Tarneverro hatte eine teure goldene Netztasche aufgehoben, die auf der Kommode gelegen hatte, und
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studierte den Inhalt. »Bringt nichts«, stellte er fest. »Der übliche Inhalt und einige Dollars. Einen Augenblick hatte ich die verrückte Idee, daß Shelah vielleicht den Namen, den wir suchen, schon für mich aufgeschrieben hatte. Es wäre ein sehr glücklicher Zufall gewesen. Der Fall wäre beendet gewesen, noch bevor er richtig begonnen hat.« »Fälle erlauben sich nicht den Luxus einer so leichten Aufklärung«, seufzte Chan. »Wenn Brief, den Sie so heiß ersehnen, in diesem Zimmer gewesen wäre, so hätte ihn jetzt der Mörder. Nein – das Schicksal ist niemals so freundlich. Wir müssen beschwerlichen Weg gehen. Kommen Sie – im Augenblick können wir hier nichts mehr tun. Später wartet noch viel Arbeit.« Sie gingen hinaus, und Charlie schloß die Tür wieder ab. Während sie den Rasen überquerten, zählte er die Anhaltspunkte auf. »Eine Uhr, die bei heftigem Kampf um zwei Minuten nach acht stehengeblieben ist. Ein Orchideenstrauß zertrampelt bei demselben Kampf; Nadel, die ihn gehalten hatte, seltsamerweise verschwunden. Eine frisch abgesplitterte Stelle auf Glasecke von Frisierkommode. Das mag für den Augenblick genügen.« Als sie das Wohnzimmer betraten, führte Jessop gerade Martino und Alan Jaynes herein. Jaynes’ Gesicht war unter der Sonnenbräune sehr bleich, und offensichtlich war er zutiefst verstört. »Wir werden am besten alle Platz nehmen«, regte Chan an. »Viele Fragen müssen jetzt gestellt werden.« Jessop trat auf Tarneverro zu. »Es tut mir leid, Sir. Durch die ganze Aufregung habe ich es völlig vergessen.« »Was haben Sie vergessen?« fragte Tarneverro über-
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rascht. »Diesen Brief, Sir.« Er holte einen großen, vornehmen Umschlag aus seiner Tasche. »Miß Fane hatte mir aufgetragen, ihn Ihnen sofort bei Ihrem Eintreffen zu übergeben.« Tarneverro streckte seine Hand danach aus, aber Charlie trat rasch dazwischen. Er nahm den Umschlag entgegen. »Tut mir leid. Aber jetzt ist Polizei hier im Dienst.« »Selbstverständlich, Sir.« Mit einer Verbeugung zog sich Jessop zurück. Mit dem Brief in der Hand stand Chan da und sah ziemlich hilflos aus. Konnte es wirklich wahr sein? Lag die Antwort auf das Rätsel schon in seiner Reichweite? Er tauschte mit Tarneverro einen langen, verständnisvollen Blick. Der Raum schien mit Menschen gefüllt, die herumliefen und nach Stühlen suchten. Charlie hob die rechte Hand, um den Umschlag zu öffnen. Die Stehlampe bildete die einzige Lichtquelle im Zimmer. Chan trat etwas näher an sie heran; er hatte den Umschlag jetzt geöffnet und wollte gerade den Inhalt herausnehmen. Plötzlich ging die Lampe aus, und das Zimmer war in Dunkelheit gehüllt. Es folgte das Geräusch eines Schlages, dann noch einer, ein Schrei und das Fallen eines ziemlich schweren Körpers. Ein Chaos entstand. Aus der Dunkelheit vernahm man die nachdrückliche Forderung nach Licht. Die Lampen in den Wandkonsolen gingen an, und man sah Jessop am Lichtschalter. Charlie erhob sich langsam vom Fußboden. Er rieb seine rechte Wange, die ein wenig blutete. »Zu meinem Bedauern überwältigt«, sagte er und starrte dabei Tarneverro an. »Wie ich gehört habe, soll
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berühmter Gott Jupiter gelegentlich eingenickt sein. Was mich angeht, so befürchte ich, eben ein sehr unglückliches Schläfchen gehalten zu haben.« Er streckte seine linke Hand aus, in der er ein winziges Stückchen des Umschlags hielt. »Wesentlicher Teil von Brief«, fügte er hinzu, »scheint verschwunden zu sein.«
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Kapitel 5
Der Mann im Überzieher Kurze Zeit stand Chan mit dem Überrest des Briefes in der Hand da. Sein Gesichtsausdruck war ruhig und gelassen, was man über seine Gemütsverfassung allerdings nicht hätte sagen können. In einem Zimmer voller Menschen hatte jemand einen Trick angewandt und damit dem berühmten Detektiv der Polizei von Honolulu eine schwere Niederlage beigebracht. Charlie Chan hatte in Anwesenheit von sieben Zeugen sein Gesicht verloren. Obwohl er seit vielen Jahren auf Hawaii lebte, war er doch immer noch so sehr Orientale, daß er darüber einen heißen Zorn verspürte, der sogar ihn selbst überraschte. Er nahm sich vor, dieses Gefühl sofort zu besiegen. Zorn, so hatte man ihn gelehrt, war ein Gift, das den Verstand zerstört, und er würde bei den bevorstehenden Ermittlungen all seine Fähigkeiten benötigen. In dieser Affäre hatte er es mit einem Gegner zu tun, der nicht nur in verzweifelter Verfassung, sondern auch geschickt und rasch im Handeln war. Nun, um so besser, sagte Charlie zu sich selbst; um so mehr Befriedigung würde es ihm verschaffen, einen solchen Gegner zum Schluß doch noch zu besiegen. Denn er würde den Sieg davontragen; dazu war er fest entschlossen. Die unbekannte Person, die zuerst Denny Mayo und dann, um ihr Geheimnis zu bewahren, auch Shelah Fane ermordet hatte, würde schließlich der Gerechtigkeit doch nicht entgehen, sonst könnte Inspektor Chan nie wieder Frieden finden. Tarneverro starrte ihn mit kaum verhüllter Entrüstung an. »Wie schade«, bemerkte er kühl, »aber jetzt ist
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die Polizei hier im Dienst.« Chan nickte. »Sie haben mit Ihrem Spott völlig recht. Noch nie im Leben ist mir so etwas passiert. Aber ich gebe Ihnen mein Wort«, – er blickte sich langsam in der kleinen Gruppe um – »Person, die diesen Schlag geführt hat, wird dafür bezahlen. Ich bin heute abend nicht in der Stimmung, auch die andere Wange hinzuhalten.« Er holte sein Taschentuch heraus und drückte es gegen die Wange, die unglücklicherweise schon etwas abbekommen hatte. Er hatte nicht erst die roten Spuren auf dem weißen Leinen sehen müssen, um zu wissen, daß die Hand, die ihn geschlagen hatte, einen Ring trug. Seine rechte Wange – also war der Schlag wahrscheinlich von einer linken Hand geführt worden. An Van Horns linker Hand entdeckte er einen großen Siegelring; und als er Wilkie Ballou unauffällig musterte, stellte er fest, daß an der linken Hand dieses Gentlemans ein Diamant funkelte. Heimlich sah er sich auch die anderen Gäste genau an; Bradshaw, Martino, Tarneverro und Jaynes trugen keinen Schmuck. Tarneverro hob seine Arme hoch. »Sie können mit mir anfangen«, sagte er. »Sie werden doch selbstverständlich jeden im Raum durchsuchen.« Charlie lächelte. »Ganz so dumm bin ich nun doch nicht. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Person, die mich mit kräftigem Schlag ausgezeichnet hat, den belastenden Brief noch bei sich tragen wird. Außerdem«, fügte er beiläufig hinzu, »ist Brief sowieso von geringer Bedeutung.« Tarneverro ließ die Arme sinken. Aus seinem Gesichtsausdruck konnte man mit Leichtigkeit ablesen, daß er Charlies Unterlassung eines – seiner Meinung
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nach – wesentlichen Schrittes von ganzem Herzen mißbilligte. Aber Chan kümmerte sich nicht um ihn. Der Detektiv untersuchte rasch die Schnur, die von der Lampe zu einer Steckdose einige Zentimeter über dem Fußboden führte. Der Stecker war herausgezogen worden und lag auf dem Boden; er legte stummes Zeugnis davon ab, daß das Herausziehen eine einfache Sache gewesen war. Einfach – ja; aber jemand hatte rasch entschlossen gehandelt. Charlie schob den Stecker wieder in die Anschlußdose, und die Lampe brannte, als sei überhaupt nichts geschehen. Er stellte sich in die Mitte des Zimmers. »Wir werden jetzt keine Zeit mit fruchtloser Suche nach Brief verschwenden«, verkündete er. »Statt dessen beabsichtige ich, mir ein Bild von jedem von Ihnen zu verschaffen und von Ihnen zu erfahren, womit Sie heute abend um zwei Minuten nach acht beschäftigt waren.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Ich weiß noch nicht so recht, mit wem ich den Anfang machen soll. Mr. Ballou, Sie sind ein mir vertrautes Gesicht, deshalb beginne ich mit Ihnen. Würden Sie mir freundlicherweise Ihre Anwesenheit in diesem Haus erklären?« Der Millionär blickte ihn mit der ganzen Arroganz des weißen Mannes an, der seit langem unter Rassen lebt, die er als minderwertig betrachtet. »Warum sollte ich?« fragte er lässig. »Ein Mord ist geschehen«, erwiderte Charlie ernst. »Ich bin mir Ihrer hohen Position auf dieser Insel bewußt, aber Sie sind dennoch nicht erhaben über Ermittlungen. Beantworten Sie bitte meine Fragen.« »Wir waren hier zum Abendessen eingeladen«, erklärte Ballou. »Wir sind – wir waren – alte Freunde von
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Miß Fane.« »Kannten Sie sie von Hollywood her?« »Ja.« »Mrs. Ballou war doch, bevor Sie sie heirateten, selbst berühmte Filmschauspielerin?« »Und wenn schon?« brauste Ballou auf. »Warum kannst du nicht höflich antworten, Wilkie?« tadelte ihn seine Frau. »Ja, Inspektor, ich war beim Film, unter dem Namen Rita Montaine. Und ich muß sagen, ich war ziemlich bekannt.« Chan verbeugte sich. »Wie könnte es bei Ihrem Charme auch anders sein? Darf ich bitte fragen, wie lange Sie verheiratet sind?« »Diesen Monat sind es drei Jahre«, erzählte sie ihm liebenswürdig. »Haben Sie bis zu Ihrer Eheschließung in Hollywood gelebt?« »O ja.« »Wissen Sie noch, ob Mr. Ballou vor Ihrer Heirat eine Zeitlang in Hollywood gewesen ist?« »Ja – er hing einige Monate dort herum und bekniete mich, meine Karriere aufzugeben und ihn zu heiraten.« Ihr Mann schnaubte. »Du weißt es vielleicht nicht mehr, Wilkie, aber es war tatsächlich so.« »Was, zum Teufel«, schrie Ballou gereizt, »hat das alles mit der Ermordung von Shelah Fane zu tun? Ich glaube, Inspektor, Sie überschreiten Ihre Kompetenzen. Sie sollten sich lieber vorsehen – ich bin nicht ganz einflußlos…« »Ich bedaure außerordentlich«, sagte Chan beruhigend. »Ich komme sofort auf Gegenwart zu sprechen. Um welche Uhrzeit sind Sie heute abend hier angekommen?«
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»Um halb acht«, antwortete er. »Das Abendessen sollte erst um halb neun beginnen, aber Mrs. Ballou nahm die Einladung an, und wie gewöhnlich« – er starrte seine Frau wütend an -»hat sie alles durcheinandergebracht.« »Um halb acht also«, warf Chan hastig ein, um Ritas zu erwartende Entgegnung zu verhindern. »Beschreiben Sie bitte Ihre Beschäftigungen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt.« »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« protestierte Ballou grob. »Sie glauben doch nicht etwa, daß ich Shelah Fane ermordet habe? Bei Gott, ich werde mit jemandem im Polizeipräsidium darüber sprechen. Wissen Sie überhaupt, wer ich bin…« »Oh, wer bist du denn eigentlich schon, Wilkie?« unterbrach ihn seine Frau verdrossen. »Warum willst du dem Inspektor denn nicht erzählen, was er wissen will? Damit ist die Sache dann erledigt.« Sie wandte sich an Chan. »Wir kamen gegen halb acht hier an, und nach einer kurzen Unterhaltung mit Miß Fane gingen wir zum Strand, um den Badenden zuzuschauen. Es wird wohl so Viertel vor acht gewesen sein, denke ich, als wir dorthin gingen.« »Und wie lange haben Sie sich dort aufgehalten?« »Was mich anbelangt, so war ich am Strand, bis Jessop um halb neun dorthin kam. Etwa zehn Minuten zuvor hatte Mr. Van Horn sich uns angeschlossen, und mein Mann war aufgestanden und zum Haus gegangen.« »Um zwei Minuten nach acht Uhr saßen Sie und Ihr Mann also nebeneinander im Sand. Haben Sie keinen Schrei oder sonstige Anzeichen eines Tumultes gehört?«
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»Überhaupt nichts. Die beiden Mädchen im Wasser kreischten ab und zu – Sie kennen das ja. Aber so etwas meinen Sie ja bestimmt nicht.« »Eigentlich nicht«, erwiderte Chan. »Herzlichen Dank. Im Augenblick habe ich an Sie keine weiteren Fragen.« Julie O’Neill betrat langsam das Zimmer. Das neue rote Abendkleid, das sie bei der Party ursprünglich tragen wollte, hing wieder im Schrank, und sie hatte ein einfaches graues Chiffonkleid angezogen. Ihr Gesicht war noch immer sehr bleich, aber sie machte jetzt einen ruhigen und gefaßten Eindruck. Chan wandte sich ihr interessiert zu. »Guten Abend! Ich bedaure außerordentlich, daß ich hier sein muß. Bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nicht das Vergnügen, Sie zu sehen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich darüber aufzuklären, wer Sie sind?« Bradshaw trat vor. Er stellte das Mädchen Chan vor und erklärte danach Julies Stellung in diesem Haushalt. »Mein herzlichstes und tiefstes Beileid«, sagte Charlie. »Als reine Formsache muß ich auch Sie fragen, was Sie an diesem außerordentlich tragischen Abend gemacht haben.« »Das kann ich Ihnen alles erzählen«, berichtete Bradshaw, »und damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, d. h. Ihnen gleichzeitig auch meine Geschichte erzählen. Ich kam frühzeitig hier an, um mit Miß O’Neill schwimmen zu gehen. Wir haben Miß Fane zuletzt in diesem Zimmer gesehen, nachdem wir uns oben zum Baden umgezogen hatten – das war so gegen zwanzig Minuten vor acht. Sie war mit Mr. und
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Mrs. Ballou und mit Mr. Jaynes hier.« »Sind Sie direkt zum Strand gegangen?« »Ja – und gleich ins Wasser. Es war herrlich – entschuldigen Sie bitte, wenn ich eine kurze Werbung für den hiesigen Strand einfüge. Ich will nur sagen, daß Miß O’Neill und ich von der Zeit an, als wir Miß Fane zuletzt sahen, bis etwa halb neun zusammen am Strand waren; dann schlug Jessop den Gong, um uns hereinzurufen. Kurz danach machten wir unsere gräßliche Entdeckung.« »Blieben Sie die ganze Zeit im Wasser?« »O nein – ab und zu waren wir auch am Ufer. Mrs. Ballou war die ganze Zeit dort, wie sie Ihnen sagte. Mr. Ballou ging nach einer Weile weg, und Mr. Van Horn tauchte auf.« »Demnach waren Sie und Miß Julie um zwei Minuten nach acht entweder im Wasser oder hielten sich kurzfristig am Ufer auf?« »Das eine oder das andere – wir wußten natürlich nicht, wie spät es war. Die Zeit verging wie im Fluge. Wir waren ganz überrascht, als Jessop uns hereinrief.« Chan wandte sich an das junge Mädchen. »Miß Fane trug heute abend sehr schöne Orchideen an Schulter?« Julie nickte. »Ja.« »Sie waren doch bestimmt mit einer Anstecknadel befestigt?« »Natürlich.« »Haben Sie zufällig auf Nadel geachtet?« »Nein. Aber ich erinnere mich, daß Shelah gesagt hat, sie würde eine aus ihrem Zimmer holen. Vielleicht kann ihr Dienstmädchen Ihnen etwas Näheres darüber sagen.«
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»Wissen Sie zufällig, wer diese Orchideen geschickt hat?« »Ja«, erwiderte Julie. »Es stand zwar kein Name dabei, aber Miß Fane erkannte die Handschrift auf der Karte. Sie sagte mir, sie kämen von ihrem früheren Ehemann, Bob Sowieso – er ist Schauspieler bei irgendeinem Ensemble in Honolulu.« »Bob Fyfe«, erklärte Rita Ballou. »Er gehört zu der Schauspieltruppe im ›Royal‹. Sie waren verheiratet, als Shelah ganz jung war, und ich glaube, daß sie ihn sehr gern hatte, sogar noch nach ihrer Scheidung.« Alan Jaynes stand auf, holte aus einem Etui eine kleine Zigarre heraus, zündete sie an und lief nervös im Zimmer umher, um einen Platz für das abgebrannte Streichholz zu finden. »Ein abgelegter Ehemann«, grübelte Charlie. »O ja, ich hätte mindestens auf einen gefaßt sein sollen. Dieser Mann muß sofort benachrichtigt werden und möglichst rasch hier erscheinen.« »Ich werde mich darum kümmern, Charlie«, erbot sich Jimmy Bradshaw. »Herzlichen Dank«, erwiderte Chan. Als der junge Mann das Zimmer verließ, wandte er sich an die anderen. »Wir werden jetzt unverschämte Ausfragerei fortsetzen. Mr. Van Horn, sind Sie vielleicht zufällig Schauspieler?« »Vielleicht?« lachte Van Horn. »Na, das ist aber äußerst schmeichelhaft. Die Belohnung für zehn Jahre harter Arbeit.« »Sie haben also die letzten zehn Jahre in Hollywood verbracht?« »Zehneinhalb Jahre – verloren in den Abzugskanälen, wie der liebenswürdige Mr. Mencken sich auszudrü-
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cken beliebt.« »Und zuvor?« »Oh – zuvor habe ich ein sehr romantisches Leben geführt – fragen Sie nur einmal meinen Presseagenten.« »Ich benötige aber Fakten«, erklärte Charlie. »In diesem Falle muß ich Ihnen wohl gestehen, daß ich, unschuldig und mit großen Augen, von einer Ingenieurschule dorthin gekommen bin. Ich hatte eigentlich vor, Brücken zu bauen, aber meine fatale Schönheit kam dazwischen.« »Haben Sie schon in anderen Filmen mit Shelah Fane zusammen gespielt?« »Nein.« Van Horn wurde ernster. »Ich kannte sie kaum, bevor ich für diese Rolle engagiert wurde.« »Ich brauche Sie nicht zu fragen, wo Sie heute abend um zwei nach acht waren«, fuhr Chan fort. »Nein«, stimmte der Schauspieler zu. »Ich befand mich ja mit Ihnen im selben Raum. Sie werden sich daran erinnern, daß ich auf meine Uhr schaute und bemerkte, daß es acht Uhr sei, und daß ich mich langsam auf den Weg hierher machen würde. Um zwei Minuten nach acht war ich noch in Ihrer Sichtweite – wenn Sie Wert darauf legten, meinen Anblick möglichst lange zu genießen.« »Sind Sie direkt hierhergekommen?« »Ja – ich machte einen Spaziergang. Training – so halte ich mich fit. Ich war so gegen acht Uhr fünfzehn hier – ich hatte mich nicht beeilt. Jessop ließ mich ein, wir plauderten ein wenig, und so gegen zwanzig nach acht schloß ich mich Mrs. Bal lou am Strand an, wie Sie ja bereits gehört haben.« Jimmy Bradshaw kehrte zurück. »Ich habe diesen Fyfe
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im Theater erreicht. Meine Neuigkeiten haben den armen Kerl total umgehauen. Er sagte, er sei nach dem zweiten Akt fertig und würde anschließend sofort herkommen.« »Meinen herzlichsten Dank«, nickte Charlie. »Sie haben sehr hilfreiches Wesen.« Er wandte sich an Martino. »Sie sind doch das, was man so einen Direktor nennt, nehme ich an.« »Ja, so nennt man mich«, erwiderte Martino grimmig. »Unter anderem.« »Gehen Sie dieser Beschäftigung schon lange nach?« »Nicht sehr lange. Ich war ursprünglich Bühnenschauspieler in England. Hatte großes Interesse am Filmgeschäft, wissen Sie, und ging deshalb schließlich nach Hollywood.« »Könnten Sie mir Ankunftsdatum nennen?« »Selbstverständlich. Letzten März waren es zwei Jahre, daß ich dort eintraf.« »Und Sie haben jenen Ort damals zum erstenmal gesehen?« »Ja – natürlich.« Charlie nickte. »Was den heutigen Abend betrifft, so brauche ich Sie nach Ihrem genauen Aufenthaltsort um acht Uhr zwei ebenfalls nicht zu fragen.« »Natürlich nicht. Ich war ja mit Ihnen und den anderen zusammen im Hotel. Und als ich Sie kurz nach acht verließ, begab ich mich mit Mr. Jaynes auf die Terrasse. Ich versuchte, ihn ein wenig zu beruhigen, aber er riß sich los und lief zum Strand. Ich saß etwa 25 Minuten auf der Strandpromenade und bewunderte den Sonnenuntergang. Als ich Sie wieder traf, hatte ich gerade meinen Hut aus dem Hotelzimmer geholt, um mich auf den Weg hierher zu machen.«
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Charlie blickte zu Alan Jaynes hinüber, der in einer abgelegenen Ecke nervös seine kleine Zigarre rauchte. »Mr. Jaynes«, sagte er. Der Brite stand auf und kam auf ihn zu, wobei er auf seine Uhr schaute. »Ja?« fragte er. Charlie betrachtete ihn ernst. »Sie sind, glaube ich, eine der Personen, die am meisten von Todesfall des heutigen Abends betroffen sind?« »Was meinen Sie damit?« »Mir wurde berichtet, daß Sie Shelah Fane liebten.« »Von wem berichtet?« Der Mann warf Tarneverro einen ärgerlichen Blick zu. »Das spielt keine Rolle«, sagte Chan. »Sie hatten Miß Fane doch gebeten, Sie zu heiraten?« »Ja.« »Demnach haben Sie sie doch geliebt?« »Hören Sie mal – müssen Sie daraus eigentlich eine Staatsaffäre machen?« »Entschuldigen Sie bitte. Ich war wohl wirklich etwas indiskret. Mr. Bradshaw hat mir erzählt, daß Sie heute abend um zwanzig vor acht in diesem Zimmer waren.« »Das stimmt. Ich war zum Abendessen eingeladen.« »Hauptsächlich wollten Sie doch aber mit Miß Fane ein persönliches Gespräch führen?« »Jawohl. Der Inhalt dieser Unterhaltung geht Sie aber nichts an.« Charlie lächelte. »Oho! Ich weiß so vieles, was mich nichts angeht. Sie fragen nach endgültiger Entscheidung in Heiratsangelegenheit. Miß Fane weist Sie ab, und Sie haben den Verdacht, daß Mr. Tarneverro dafür verantwortlich ist. Sie kehren verärgert ins Hotel zurück und versuchen, mit eben diesem Tarneverro Streit zu beginnen. Deshalb stehen Sie um acht Uhr
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zwei wütend in Hotelhalle. Was übrigens glücklicher Umstand für Sie ist, mein lieber Herr.« »Wenn ich Sie recht verstehe, so konnten Sie den Zeitpunkt dieses – dieses Mordes auf zwei Minuten nach acht festlegen?« »Ja.« Jaynes warf seine Zigarre mit einer Geste tiefer Erleichterung in einen Aschenbecher. »Gott sei Dank. Haben Sie sonst noch Fragen?« »Haben Sie Miß Fane zuletzt gesehen, als Sie dieses Zimmer gegen Viertel vor acht verließen?« »Das war das letzte Mal – ja.« »Sie waren also zwischen acht Uhr fünf und acht Uhr fünfunddreißig nicht noch einmal hier?« »Nein.« »Sind Sie jemals in Hollywood gewesen, Mr. Jaynes?« Der Brite lachte bitter. »Nein – und ich habe es auch nicht vor.« »Das ist alles, Sir«, sagte Chan. »Danke. Ich werde mich jetzt verabschieden. Ich fahre nämlich um Mitternacht mit der ›Oceanic‹.« Charlie sah ihn überrascht an. »Sie wollen Hawaii heute nacht verlassen?« »Ja.« Der Detektiv zuckte die Achseln. »Es tut mir außerordentlich leid, Sie enttäuschen zu müssen. Das ist unmöglich.« »Warum?« fragte Jaynes. »Sie sind ziemlich tief in diese Affäre verwickelt.« »Aber Sie haben doch selbst gesagt, daß der Zeitpunkt des Mordes feststeht – und in diesem Augenblick befand ich mich in Ihrer Gesellschaft. Das ist ein perfektes Alibi.«
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»Perfekte Alibis haben Angewohnheit, ohne Vorwarnung unperfekt zu werden«, informierte ihn Charlie. »Ich bedaure sehr, daß ich Ihnen nicht erlauben kann, wegzufahren. Die ›Oceanic‹ wird sorgfältig beobachtet werden, und niemand, der in diesen Mordfall verwickelt ist, wird die Erlaubnis erhalten, die Insel an Bord dieses Schiffes zu verlassen. Oder an Bord anderer Schiffe, zum gegenwärtigen Zeitpunkt.« Das Gesicht des Briten lief vor Ärger rot an. »Aus welchen Gründen wollen Sie mich hier festhalten?« »Als wichtigen Zeugen in diesem Mordfall«, erwiderte Chan. »Wenn notwendig, werde ich sogar einen Haftbefehl erwirken.« »Aber ich kann doch wenigstens ins Hotel zurückkehren«, schlug Jaynes vor. »Sobald ich es erlaube«, sagte Charlie freundlich. »In der Zwischenzeit hoffe ich, daß Sie bequemen Stuhl finden werden.« Jaynes starrte ihn an und zog sich dann in den Hintergrund zurück. Es klingelte an der Tür, und Jessop ließ zwei Männer eintreten. Einer der beiden war ein großer, hagerer Amerikaner mit dem Abzeichen eines stellvertretenden Bezirksrichters, der andere ein kleiner, verängstigt aussehender Japaner. »Ah, Herr Untersuchungsrichter«, begrüßte Chan den Amerikaner, der dieses Amt innehatte. »Und Kashimo. Kashimo, wie gewöhnlich bist du Teufelskerl in Geschwindigkeit, um an die Arbeit zu kommen. Gehe ich mit der Annahme zu weit, daß du mit Pferd und Kutsche hierhergeeilt bist?« Der Richter ergriff das Wort. »Man hat ihn losgeschickt, um mich abzuholen, und nach geraumer Zeit
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hat er das auch geschafft. Wo ist diese Sache passiert, Charlie?« »Ich werde Sie gleich dorthin führen«, sagte Chan. »Vielleicht durchsuche ich Haus«, schlug Kashimo vor. Chan betrachtete ihn traurig. »Es hat den Anschein, als hätte heute abend in der Polizeistation großer Mangel an Polizeibeamten geherrscht«, sagte er. »Nein, Kashimo, bitte durchsuch das Haus nicht, zumindest nicht, bevor jemand dir gesagt hat, wonach du suchen sollst.« Er wandte sich an den Richter. »Wenn Sie mir folgen wollen…« Diana Dixon betrat das Zimmer. Sie trug ein weißes Abendkleid, und ihr vollendetes Make-up erklärte zur Genüge die lange Verzögerung ihres Erscheinens. Chan betrachtete sie interessiert. »Hier ist jemand, über den ich bis jetzt noch nichts gehört habe«, sagte er. »Wer in aller Welt…«, begann Diana und starrte ihn an. »Regen Sie sich nicht auf«, lächelte Chan. »Ich bin Inspektor Chan von Polizei von Honolulu. Sie befinden sich hier auf Hawaii.« »Ich verstehe«, antwortete sie. »Ihren Namen, bitte.« Sie sagte ihn. »Sind Sie vielleicht Gast in diesem Haus?« »Ja. Miß Fane war so freundlich, mich einzuladen. Wissen Sie, ich bin gerade mit ihr von der Südsee gekommen – ich habe in ihrem neuen Film mitgespielt.« »Sie sind also Schauspielerin«, stellte Chan fest. »Ich bin ganz verwirrt von soviel Ruhm und Schönheit. Trotzdem nehme ich mich zusammen und frage Sie – was haben Sie heute abend gemacht?«
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»Nun, ich war schwimmen.« »Wann haben Sie Miß Fane zuletzt gesehen?« »Als ich hinaufging, um meinen Badeanzug anzuziehen – ich weiß nicht, wie spät es war. Mr. Bradshaw war gerade gekommen, und Miß Julie, er und ich wollten uns oben umziehen. Miß Fane stand im Vorraum, denn jemand hatte gerade geläutet.« »Sie sind also zusammen mit diesen beiden jungen Leuten zum Baden gegangen?« »O nein – ich brauchte viel länger zum Umziehen. Es war acht Uhr, als ich schließlich so weit war – ich schaute auf die Uhr auf meinem Toilettentisch, bevor ich das Zimmer verließ. Ich hatte nicht gedacht, daß es schon so spät sein könnte – deshalb beeilte ich mich…« »Sie haben Miß Fane nicht mehr gesehen?« »Nein. Dieses Zimmer war leer, als ich herunterkam. Ich lief über den Rasen…« »Das war also kurz nach acht?« »Ja – es muß so drei oder vier Minuten nach acht gewesen sein. Als ich über den Rasen lief, sah ich einen Mann, der sich eilig aus dem Pavillon entfernte…« »Sie haben einen Mann aus dem Pavillon kommen sehen? Wer war es?« »Ich weiß es nicht. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich dachte, er sei einer der Gäste und rief ›hallo‹. Aber er antwortete nicht.« »Können Sie den Mann beschreiben?« fragte Chan. »Sein Gesicht nicht – es lag im Schatten, wie schon gesagt. Aber er trug einen Mantel – einen Überzieher – ich dachte noch, daß das an einem solchen Abend verrückt sei. Der Mantel war offen, und ein Lichtstrahl aus dem Küchenfenster fiel auf seine Hemdbrust. Er
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trug Abendgarderobe, und über sein weißes Hemd…« Plötzlich erbleichte sie und sank kraftlos auf den nächsten Stuhl. »O mein Gott«, rief sie, »daran habe ich ja noch gar nicht gedacht!« »Woran haben Sie noch nicht gedacht?« erkundigte sich Charlie. »Jener Fleck auf seinem Hemd – jener lange, schmale, leuchtendrote Fleck«, keuchte sie, »das – das muß Blut gewesen sein.«
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Kapitel 6
Feuerwerk im Regen Überwältigt von dem Bild, das Miß Dixons Worte gezeichnet hatten, war die Gesellschaft einen Augenblick lang ganz still. Dann erhob sich leises Gemurmel, und das Zimmer war erfüllt von einem Durcheinander erstaunter Kommentare. Charlie Chan sah seine neueste Zeugin forschend an, als fragte er sich, ob ihr Bericht der Wahrheit entsprechen könnte. »Höchst interessant«, sagte er schließlich. »Demnach hat sich heute abend auf diesem Grundstück ein Herr aufgehalten, von dessen Existenz ich bis jetzt nichts wußte. Ob er nun blutgetränkte Hemdbrust hatte oder nicht…« »Aber ich sage Ihnen doch, daß ich es genau gesehen habe«, protestierte das junge Mädchen. Chan zuckte die Achseln. »Vielleicht. Oh, ich bitte untertänigst um Verzeihung – ich zweifle nicht an Ihrer Aufrichtigkeit. Ich berücksichtige nur überreizte Nerven oder vielleicht optische Täuschung. Ich muß zwar zugeben, daß ein Mörder bei seiner Tat so ungeschickt sein könnte, sich zu beschmutzen, aber es widerspricht doch jedweder Vernunft, daß ein solcher Mann den Tatort mit offenem Mantel verlassen würde, damit jeder sein Mißgeschick sofort sehen kann. Ich könnte ihn mir viel eher mit fest zugeknöpfter Kleidung vorstellen, um karmesinrotes Indiz zu verbergen. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Wir müssen auf jeden Fall die Spur des Mannes im Überzieher verfolgen. Schon der Überzieher allein legt die Vorstellung eines eigenartigen Menschen nahe. Mantel in lieblichen Tropen, sogar über Abendgarderobe, ist ungewöhnli-
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che Tracht.« Er wandte sich an Julie. »Und wie ist bitte Name von männlichem Diener in diesem Haus?«, »Meinen Sie Jessop?« »Ich meine den Butler. Würden Sie ihn bitte holen – wenn es nicht zuviel von Ihnen verlangt ist.« Julie ging in den Vorraum, und Charlie wandte sich dem Untersuchungsrichter zu. »Es ist mir leider nicht möglich, Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt zum Schauplatz des Verbrechens zu begleiten. Es fand statt in kleinem Strandhaus rechts vom Rasen – hier ist der Schlüssel. Sie könnten vielleicht schon mit Untersuchung beginnen, und ich werde mich Ihnen anschließen, sobald ich Dienstboten verhört habe.« »Haben Sie die Mordwaffe gefunden, Charlie?« fragte der Untersuchungsrichter. »Nein. Ich nehme an, daß Mörder sie mitgenommen hat. Sie werden feststellen, daß es Person war, die ihren Verstand unter guter Kontrolle hatte.« Dann wandte Chan sich an den Japaner. »Kashimo, du könntest dir die Zeit durch gründliche Untersuchung der Umgebung vertreiben. Wenn du aber irgendwelche Fußspuren vernichtest, wie schon einmal, werde ich sofort veranlassen, daß du in deine frühere Position als Pförtner von Fischmarkt zurückkehrst.« Der Richter und der kleine Japaner gingen hinaus. Gleichzeitig schob Jessop die Vorhänge auseinander und folgte Julie ins Wohnzimmer. Der Butler war bleich und aufgeregt. »Sie heißen Jessop?« fragte Chan. »Ja – äh – Sir.« »Sie wissen, wer ich bin?« »Ich nehme an’ daß Sie die hiesige Polizei repräsentieren, Sir.«
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Chan grinste. »Wenn es Ihnen helfen wird, Gesellschaft von Person wie mir zu ertragen, Jessop, kann ich Ihnen mitteilen, daß meine bescheidenen Fähigkeiten bei einer bestimmten Gelegenheit die vollständige Billigung eines Gentlemans von Scotland Yard fanden.« »Wirklich, Sir?« erwiderte Jessop. »Die Erinnerung daran muß für Sie sehr schmeichelhaft sein.« »Das ist sie tatsächlich. Wie lange waren Sie Miß Fanes Butler?« »Zwei Jahre, Sir.« »Aber Sie waren vielleicht schon eher in Hollywood?« »Etwa achtzehn Monate.« »Immer als Butler?« »Immer als Butler, Sir. Ich hatte einige Anstellungen, bevor ich zu Miß Fane kam. Ich muß leider sagen, daß ich in all diesen Stellungen unglücklich war.« »War die Arbeit vielleicht zu schwierig?« »Keineswegs, Sir. Ich wehrte mich gegen die Vertraulichkeiten meiner Herrschaften. Es gibt eine bestimmte Zurückhaltung, die zwischen Diener und Herr bestehen sollte. Daran mangelte es aber. Die Damen, für die ich arbeitete, weinten oft in meiner Gegenwart und erzählten mir Geschichten von unerwiderter Liebe. Und die Herren, die mich anstellten, waren geneigt, mich wie einen lang verschollenen Bruder zu behandeln. Besonders einer hatte die Angewohnheit, mich ›alter Freund‹ zu nennen und mich in Anwesenheit von Gästen zu umarmen, wenn er etwas angetrunken war. Ein Mann hat aber seine Würde, Sir.« »Man sagt ja nicht umsonst, daß ohne Würde auch keine Persönlichkeit möglich sei«, versicherte ihm Charlie. »Und Sie stellten fest, daß Miß Fane anders
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war?« »Ja, Sir. Eine Dame, die ihren Platz kannte, wie ich meinen. Es gab niemals irgendwelche unwürdigen Formlosigkeiten in ihrem Verhalten mir gegenüber.« »Ihre Beziehungen waren demnach sehr zufriedenstellend?« »So war es. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich von den Ereignissen des heutigen Abends ganz niedergeschmettert bin, Sir.« »O ja – um auf heute abend zu sprechen zu kommen – trug einer der Herren, den Sie heute abend einließen, einen Überzieher, Jessop?« »Einen Überzieher, Sir?« Jessops weiße Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ja. Mit Abendanzug, verstehen Sie?« »Nein, Sir«, erwiderte Jessop bestimmt. »Einen solchen Karnevalsaufzug habe ich hier nicht gesehen, Inspektor.« Chan lächelte. »Sehen Sie sich bitte in diesem Zimmer um. Erinnern Sie sich daran, andere Besucher außer den hier Anwesenden empfangen zu haben?« »Nein, Sir«, erwiderte Jessop nach einem Blick in die Runde. »Danke. Wann haben Sie Miß Fane zuletzt gesehen?« »Es war in diesem Zimmer, so gegen zwanzig nach sieben, als ich ihr eine Blumenschachtel brachte. Danach hörte ich zwar noch ihre Stimme, habe sie aber nicht mehr gesehen.« »Bitte sagen Sie mir genau, was Sie nach sieben Uhr zwanzig gemacht haben?« »Ich ging meinen Pflichten nach, Sir, im Wohnzimmer und in der Küche. Ich muß sagen, daß es ein ziemlich
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anstrengender Abend war, was mich betrifft. Der chinesische Koch hat die schlechtesten Eigenschaften einer barbarischen Rasse zur Schau gestellt – oh, ich bitte um Entschuldigung!« »Eine barbarische Rasse«, wiederholte Charlie ernst, »die damit beschäftigt war, die Buchdruckerkunst zu erfinden, zu einem Zeitpunkt, da Herren in Großbritannien einander noch Köpfe mit Keulen einschlugen. Ich bitte um Entschuldigung für diesen kurzen Abstecher in die Geschichte. – Der Koch war also in großer Aufregung?« »Ja, Inspektor. Es hat sich gezeigt, daß es ihm völlig an Geduld mangelte, die seinem Volk doch seit alters her zugeschrieben wird. Und außerdem war der – äh – der Alkoholschmuggler unverzeihlich spät dran.« »Oh – Sie besitzen bereits Alkoholschmuggler?« »Ja, Sir. Miß Fane selbst war eine enthaltsame Dame, aber sie kannte ihre Pflichten als Gastgeberin. Deshalb vereinbarte Wu Kno-ching, der Koch, mit einem Freund, daß dieser etwas Alkohol direkt aus dem Labor liefern sollte, und einen Wein vom letzten Jahrgang.« »Ich bin zutiefst schockiert«, erwiderte Chan. »Und Wus Freund verspätete sich?« »In der Tat, Sir. Wie schon gesagt, war ich von dem Augenblick an, da ich Miß Fane die Blumen übergab, mit meinen Pflichten beschäftigt. Um acht Uhr zwei…« »Weshalb erwähnen Sie diese Uhrzeit?« »Ich konnte nicht umhin, Ihre Fragen an die Herrschaften hier zu hören, Sir. In jenem Augenblick befand ich mich in der Küche.« »Allein?« »Nein, Sir. Wu war natürlich dort. Und Anna, das
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Dienstmädchen, war gerade zu einer Tasse Tee heruntergekommen, die sie bis zum Abendessen bei Kräften halten sollte. Ich machte Wu darauf aufmerksam, daß es schon nach acht Uhr wäre, und wir hatten einen kurzen Wortwechsel über die Verspätung des Alkoholschmugglers. Wir waren dort zu dritt bis zehn nach acht, als Wus Freund wie ein Einfaltspinsel aufkreuzte. Ich ging unverzüglich daran, aus dem mitgebrachten Alkohol das Bestmögliche zu machen. Um Viertel nach acht ließ ich Mr. Van Horn ein. Danach ging ich in diesem Zimmer aus und ein, Sir, aber ich habe das Haus nicht verlassen, bis ich zum Strand ging und den Essensgong schlug.« »Ich bin Ihnen für äußerst vollständigen Bericht sehr verbunden«, sagte Charlie. »Das ist alles, Jessop.« Der Butler zögerte. »Da ist noch etwas anderes, Inspektor.« »Und was wäre das?« »Ich weiß nicht, ob es irgendwie von Bedeutung ist oder nicht, Sir, aber es fiel mir wieder ein, nachdem ich diese schreckliche Neuigkeit erfahren hatte. Oben befindet sich eine kleine Bibliothek, und nachdem ich das Mittagessen abserviert hatte, ging ich heute hinauf, um mir ein Buch zu holen, das ich während meiner Siesta lesen wollte. Dort stieß ich auf Miß Fane. Sie betrachtete ein Foto und weinte bitterlich, Sir.« »Wessen Foto war es?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir; ich weiß nur, daß es das Foto eines Herrn war. Sie hielt es so, daß ich das Gesicht nicht erkennen konnte, und dann verließ sie rasch den Raum. Ich kann Ihnen nur sagen, daß es eine ziemlich große Fotografie war, und daß sie auf einen nilgrünen Karton aufgezogen war.«
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Chan nickte. »Ich danke Ihnen sehr. Wären Sie bitte so freundlich, mir barbarischen Koch zu schicken, Jessop?« »Das werde ich tun, Sir«, erwiderte der Butler und zog sich zurück. Charlie blickte in die Runde. »Sache zieht sich in die Länge. Ich sehe, daß sich hinter den Fenstern eine kühle Veranda mit vielen bequemen Korbstühlen befindet. Wer Lust hat, kann sich zu diesen luftigeren Sitzplätzen begeben. Ich muß Sie nur um eines bitten – dieses Grundstück nicht zu verlassen.« Eine allgemeine Bewegung entstand, und unter leisem Gemurmel gingen alle außer Bradshaw, Julie, Tarneverro und Chan auf die dunkle Terrasse hinaus. Der Wahrsager musterte Charlie skeptisch. »Was haben Sie bis jetzt erreicht?« wollte er wissen. Charlie zuckte die Achseln. »Bis zu diesem Zeitpunkt scheine ich nur Feuerwerk im Regen abzubrennen.« »Genau diesen Eindruck hatte ich auch«, sagte Tarneverro ungeduldig. »Verlieren Sie nicht den Mut«, tröstete Charlie. »Um ein Bild zu gebrauchen, könnte ich noch hinzufügen, daß man bei den Wurzeln beginnen muß, wenn man einen Baum ausgraben möchte. Dieses Graben ist Routinesache, die nichts Faszinierendes an sich hat, aber wir können jederzeit auf Wurzel von großer Bedeutung stoßen.« »Das hoffe ich sehr«, bemerkte Tarneverro. »Oh, Sie können Charlie vertrauen«, meinte Bradshaw. »Er ist einer der berühmtesten Bürger von Honolulu. Er wird den Täter schon schnappen.« Wu Kno-ching trat ein und murmelte etwas vor sich hin. Chan redete ihn scharf auf kantonesisch an. Wu
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warf ihm einen verschlafenen Blick zu und antwortete ziemlich ausführlich. Der schrille Wortwechsel im Singsang-Ton zwischen diesen beiden Repräsentanten der ältesten zivilisierten Nation der Welt wurde rascher und lauter, auf Wus Seite anscheinend auch leidenschaftlicher. Die drei Außenseiter standen äußerst interessiert dabei; es wirkte wie eine Aufführung in einer toten Sprache; sie konnten die Sätze nicht verstehen, waren sich aber einer starken dramatischen Strömung bewußt. Einmal hob Chan, der bis dahin einen ziemlich uninteressierten Eindruck gemacht hatte, seinen Kopf wie ein Jagdhund auf der Spur. Er trat näher an den alten Mann heran und packte ihn am Arm. Ein verständliches Wort tauchte in Wus Bericht immer wieder auf. Er sprach von dem ›Alkoholsmuggla‹. Schließlich wandte sich Chan achselzuckend von dem Koch ab. »Was sagt er, Charlie?« fragte Bradshaw begierig. »Er weiß nichts«, antwortete Chan. »Warum erwähnte er dauernd den Alkoholschmuggler?« Chan warf dem jungen Mann einen scharfen Blick zu. »Die Zunge des Alters spricht mit angesammelter Weisheit und wird dankbar vernommen, aber die Zunge der Jugend sollte ihre Kräfte lieber sparen«, sagte er. »Gehört und verstanden«, lächelte der junge Mann. »Sie haben vorhin Miß Fanes Mädchen erwähnt«, sagte Chan zu Julie. »Sie ist die einzige, die noch verhört werden muß. Seien Sie doch so freundlich und holen Sie sie.« Julie nickte zustimmend und ging hinaus. Wu Kno-
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ching hielt sich noch immer bei der Tür auf und brach jetzt in einen Wortschwall aus, der von beredten Gesten unterstützt wurde. Charlie hörte ihm einen Augenblick zu, dann scheuchte er den alten Mann aus dem Zimmer. »Wu beklagt sich, daß niemand sein Abendessen ißt«, erklärte Charlie lächelnd. »Er ist großer Künstler, dem die Anerkennung fehlt, und sein altes Herz zerspringt vor Wut.« »Nun«, meinte Jimmy Bradshaw, »obwohl es vielleicht pietätlos ist – aber ich könnte etwas von seinem Werk verzehren.« Chan nickte. »Ich habe auch schon daran gedacht. Vielleicht später. Warum auch nicht? Die Toten gewinnen nichts, wenn die Lebenden Hungers sterben.« Julie kam mit Anna zurück. Sie war eine dunkle, schlanke Frau, die sich sehr anmutig bewegte. »Ihren Namen, bitte?« fragte Chan. »Anna Rodderick«, antwortete sie. Ihre Stimme hatte einen leicht herausfordernden Beiklang. »Wie lange waren Sie bei Miß Fane?« »Etwa anderthalb Jahre, Sir.« »Waren Sie zuvor in anderen Stellungen in Hollywood?« »Nein, Sir. Am Tag nach meiner Ankunft kam ich zu Miß Fane, und ich war nie bei jemandem in der Filmkolonie angestellt.« »Wie sind Sie nach Kalifornien gekommen?« »Ich war in England in Stellung, und eine Freundin schrieb mir über die höheren Löhne in den Vereinigten Staaten.« »Hatten Sie gute Beziehungen zu Miß Fane?« »Natürlich, Sir, sonst wäre ich nicht bei ihr geblieben.
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Es gab viele andere offene Stellen.« »Hat sie Ihnen jemals in persönlichen Angelegenheiten ihr Vertrauen geschenkt?« »Nein, Sir. Das war etwas, das mir besonders an ihr gefiel.« »Wann haben Sie Ihre Herrin zuletzt gesehen?« »Kurz vor halb acht. Ich wollte gerade in die Küche gehen, um eine Tasse Tee zu trinken, denn ich sah schon, daß mein Abendessen wahrscheinlich lange auf sich warten lassen würde. Miß Fane kam in ihr Zimmer – ich war im Nebenraum. Sie rief nach mir und wollte eine Anstecknadel für einige Orchideen, die sie in der Hand hielt. Ich holte sie herbei.« »Seien Sie so freundlich und beschreiben Sie Nadel.« »Es war ein ziemlich zierliches Stück, mit Diamanten besetzt. Etwa zwei Zoll lang, würde ich sagen. Ich befestigte die Blumen am Schulterband ihres Kleides.« »Machte sie eine Bemerkung über die Blumen?« »Sie sagte, jemand hätte sie geschickt, den sie einmal sehr gern gehabt hätte. Sie schien etwas aufgeregt zu sein.« »Was geschah dann?« »Sie setzte sich ans Telefon«, berichtete Anna. »In ihrem Zimmer befindet sich ein Anschluß. Sie suchte eine Nummer aus dem Telefonbuch heraus und wählte, Sir.« »Vielleicht haben Sie Unterhaltung zufällig mitgehört?« schlug Chan vor. »Ich spioniere nicht, Sir. Ich ließ sie sofort allein und ging in die Küche.« »Waren Sie um zwei Minuten nach acht in der Küche?« »Ja, Sir. Ich erinnere mich an die Uhrzeit, weil Jessop
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und der Koch dauernd über den Alkoholschmuggler redeten.« »Waren Sie noch in Küche, als dieser Alkoholschmuggler um zehn nach acht endlich kam?« »Ja, Sir. Kurz darauf ging ich auf mein Zimmer zurück.« »Sie haben Ihre Herrin nicht mehr gesehen?« »Nein, Sir.« »Etwas anderes.« Chan betrachtete sie nachdenklich. »Erzählen Sie mir doch bitte etwas über Miß Fanes Gemütsverfassung während des Tages. War sie so wie gewöhnlich?« »Mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.« »Sie haben nicht bemerkt, daß sie sich am Nachmittag mit einem Foto beschäftigte – dem Portrait eines Herrn?« »Ich war heute nachmittag nicht hier. Es war unser erster Tag an Land, und Miß Fane war so freundlich, mir einige Stunden freizugeben.« »Haben Sie unter Miß Fanes Sachen jemals das Bild eines Herrn auf nilgrünem Karton gesehen?« »Miß Fane hatte immer eine große Mappe mit vielen Fotos ihrer Freunde bei sich. Vielleicht befindet sich darunter ein solches Bild.« »Aber Sie haben es nie gesehen?« »Ich habe die Mappe nie geöffnet. Das würde zu sehr nach Schnüffeln aussehen – wenn ich so sagen darf, Sir.« »Wissen Sie, wo Mappe sich jetzt befindet?« fragte Chan. »Ich glaube, sie liegt auf einem Tisch in ihrem Zimmer. Soll ich sie holen?« »Vielleicht etwas später. Jetzt möchte ich von Ihnen
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etwas anderes wissen – kennen Sie den Schmuck, den Miß Fane gewöhnlich anläßlich von Abendgesellschaften trug? Ich meine, außer der Diamantnadel, die die Blumen zusammenhielt.« »Ich glaube, Sir.« »Kommen Sie bitte mit.« Er ließ die anderen im Wohnzimmer zurück und führte das Mädchen über den mondbeschienenen Rasen zum Pavillon. Sie gingen hinein, und beim Anblick von Shelah Fane verlor Anna einen Augenblick lang die Fassung. Sie stieß einen erstickten Schrei aus. »Sehen Sie bitte genau nach«, forderte Chan sie auf, »und sagen Sie mir, ob ganzer Schmuck noch vorhanden ist.« Anna nickte wortlos. Der Untersuchungsrichter kam auf Chan zu. »Ich habe meine Untersuchung beendet«, sagte er. »Das ist eine ganz große Sache, Charlie. Ich schicke Ihnen am besten einen Assistenten.« Chan lächelte. »Ich habe ja Kashimo«, antwortete er. »Was könnte sich ein Mensch sonst noch wünschen? Richten Sie bitte Chef aus, daß ich ihm ganze Angelegenheit bei nächster Gelegenheit berichten werde.« Sie traten auf die Veranda des Pavillons, und zur gleichen Zeit kroch Kashimo, wie ein Detektiv im Fernlehrinstitut, aus dem Gebüsch an der Ecke des Gebäudes. »Charlie – kommen Sie rasch«, flüsterte er heiser. »Kashimo hat wichtiges Indiz entdeckt«, sagte Charlie. »Bitte kommen Sie mit, Herr Untersuchungsrichter.« Sie folgten dem Japaner durchs Gebüsch auf einen öffentlichen Strand, der den Besitz auf der rechten Seite abgrenzte. Auf dieser Seite des Pavillons, der direkt auf der Grenzlinie stand, befand sich ein Fens-
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ter. Dorthin führte sie Kashimo und richtete den Strahl einer Taschenlampe auf den Sand. »Fußspuren!« zischte er dramatisch. Charlie nahm die Lampe an sich und kniete im Sand nieder. »Stimmt genau, Kashimo«, bestätigte er. »Das sind Fußspuren, und noch dazu ganz besondere. Schuhe waren alt und mitgenommen, Absätze sind schiefgetreten, und in Sohle eines Schuhes war höchst unmodernes Loch.« Er richtete sich wieder auf. »Ich befürchte, daß das Glück dem Besitzer dieser Fußbekleidung nicht gerade hold war«, fügte er hinzu. »Ich bin einer, der Dinge findet«, bemerkte Kashimo stolz. »Das bist du wirklich«, lächelte Chan, »und diesmal hast du das Indiz nicht einmal zerstört. Du lernst dazu, Kashimo. Herzlichen Glückwunsch!« Sie gingen zum Rasen von Shelah Fanes Haus zurück. »Nun, Charlie, alles andere ist jetzt Ihre Sache«, sagte der Richter. »Ich sehe Sie dann morgen früh – es sei denn, daß Sie wünschen, daß ich hierbleibe.« »Sie haben Ihre Pflicht getan«, antwortete Chan, »oder werden sie getan haben, sobald Sie noch in Stadt genaue Anweisungen gegeben haben. Leiche wird doch wohl sofort in Leichenhalle gebracht werden.« »Bestimmt«, erwiderte der Untersuchungsrichter. »Nun, auf Wiedersehen – und viel Glück!« Chan wandte sich an Kashimo. »Jetzt bietet sich dir günstige Gelegenheit, deine besondere Fähigkeit unter Beweis zu stellen«, sagte er. »Ja-a-a«, antwortete Kashimo eifrig. »Geh ins Haus, frag nach Schlafzimmer von Miß Shelah Fane und such…« »Ich gehe schon«, rief Kashimo und wollte davoneilen.
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»Halt!« befahr Charlie. »Du bist ein prächtiger Detektivlehrling, Kashimo, aber du nimmst dir nie die Zeit zu fragen, wonach du eigentlich suchen sollst. Auf dem Tisch in diesem Zimmer wirst du große Mappe mit Bildern finden. Ich möchte sehr gern das Porträt eines Herrn sehen, das auf nilgrünem Karton aufgezogen ist.« »Nil ist ein neues Wort für mich«, beklagte sich der Japaner. »Ja – und ich habe jetzt keine Zeit für Geographiestunde«, seufzte Chan. »Bring mir alle Fotos im Zimmer, die auf grünem Karton aufgezogen sind. Wenn in Mappe kein solches Foto ist, such anderswo. Jetzt geh! Denk daran, das Porträt eines Herrn. Wenn du mit hübschem Bild von Fudschijama zurückkommst, werde ich dich persönlich ins Privatleben geleiten.« Kashimo eilte davon, und Charlie ging in den Pavillon zurück. Anna stand mitten im Zimmer. »Haben Sie nachgesehen?« fragte er. »Ja. Die Anstecknadel für die Blumen ist nirgends zu sehen.« »Eine Tatsache, die mir schon bekannt ist«, nickte er. »Und ist ansonsten der Schmuck noch vollständig?« »Nein«, antwortete sie. Er betrachtete sie mit plötzlichem Interesse. »Fehlt etwas?« »Ja – ein Smaragdring – ein großer Smaragd, den Miß Fane gewöhnlich an der rechten Hand trug. Sie hat mir einmal erzählt, daß er sehr wertvoll sei. Und jetzt ist er verschwunden.«
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Kapitel 7
Das Uhrenalibi Charlie schickte das Dienstmädchen ins Haus zurück und setzte sich in den Stuhl vor der Frisierkommode. Die einzigen Beleuchtungsquellen in dem kleinen Raum waren zwei Lampen mit rosa Schirmen, links und rechts vom Spiegel. Nachdenklich starrte er in das Glas, wo er, dunkel reflektiert, ein elfenbeinfarbenes Satinkleid sehen konnte. Der Untersuchungsrichter hatte Shelah Fane auf die Couch gelegt. Liebe und Haß, Eifersüchteleien und die strahlenden Triumphe dieser stürmischen Karriere hatten heute abend ein Ende gefunden. Eine lodernde Flamme – so war Shelah Fane oft genannt worden. Die Flamme hatte geflackert und war erloschen wie eine Kerze im Wind – im rastlosen Passatwind, der vom ›Koolau Range‹ herüberwehte. Chans ohnehin kleine Augen verengten sich vor intensiver Konzentration noch mehr. In einem ihrer unbedachten Augenblicke hatte Shelah Fane den Mord an Denny Mayo mitangesehen. Drei Jahre lang hatte sie das Geheimnis mit sich herumgetragen, bis sie es – in einem noch viel unbedachteren Augenblick – den willigen Ohren des Wahrsagers anvertraut hatte – eines Kristallgaffers, der zweifellos ein Scharlatan war. Und in derselben Nacht hatte das schwarze Kamel an ihrem Tor gekniet. Sorgfältig überdachte der Detektiv alle Punkte, die seine Ermittlungen bis jetzt zutage gebracht hatten. Er hatte nie ein Notizbuch bei sich, aber er holte einen Briefumschlag aus seiner Tasche und schrieb mit einem Bleistift eine Anzahl von Namen auf die Rücksei-
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te. Er war noch damit beschäftigt, als er Schritte hinter sich hörte. Er blickte über die Schulter und erkannte die magere, geheimnisvolle Gestalt Tarneverros. Der Wahrsager ließ sich in einen Stuhl neben Charlie fallen. Er starrte den Detektiv an, und in seinem Blick lag Mißbilligung- »Nachdem Sie mich gebeten haben, in dieser Angelegenheit mit Ihnen zusammenzuarbeiten«, begann er, »werden Sie mir hoffentlich verzeihen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie meiner Ansicht nach außerordentlich nachlässig waren.« Charlie riß seine Augen weit auf. »Ja?« fragte er. »Ich meine damit Miß Fanes Brief«, fuhr Tarneverro fort. »Er hätte die Antwort auf all unsere Fragen enthalten können. Vielleicht hat das arme Ding darin den Namen genannt, den wir so eifrig suchen. Und trotzdem haben Sie die Leute in jenem Zimmer nicht durchsucht – ja, als ich diesen Vorschlag machte, haben Sie ihn sogar abgelehnt! Warum eigentlich?« Chan zuckte die Achseln. »Glauben Sie denn, daß wir es mit einem Dummkopf zu tun haben? Einem Schurken, der ziemlich viel riskiert, um die Epistel zu ergattern, und sie dann bei sich selbst versteckt, wo Durchsuchung sie sofort zum Vorschein bringen würde? Sie irren sich, mein Freund. Ich hatte keine Lust, vorhin zu erklären, wie sehr Sie sich irren, um weitere Verzögerungen zu vermeiden. Nein, der Brief ist irgendwo in jenem Zimmer versteckt und wird sich früher oder später schon finden. Wenn nicht – was soll’s? Ich habe starkes Gefühl, daß er nichts von Bedeutung enthält.« »Und worauf beruht dieses Gefühl?« fragte Tarneverro. »Es gibt dafür viele Gründe. Hätte Shelah Fane großes Geheimnis niedergeschrieben und Brief dann dem Die-
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ner überlassen, der ihn Ihnen aushändigen sollte? Nein, sie hätte bestimmt günstige Gelegenheit abgewartet und Ihnen den Brief eigenhändig übergeben. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, aber ich glaube, daß Sie jenem vermutlich ganz harmlosen Brief viel zuviel Bedeutung beimessen.« »Nun, der Mörder hielt ihn aber zweifellos für wichtig. Das können Sie doch nicht bestreiten?« »Mörder befand sich in Zustand höchster Erregung und nahm unnötiges Risiko auf sich. Wenn er sich weiterhin so benimmt, werden wir bald am Ziel sein.« Tarneverro ließ dieses Thema fallen und warf einen Blick auf Chans Notizen. »Nun gut, und was haben Sie durch Ihre ganze Ausfragerei eigentlich erfahren?« »Nicht viel. Es ist Ihnen bestimmt aufgefallen, daß ich herausfinden wollte, wer sich im Juni vor drei Jahren in Hollywood aufgehalten hat. Angenommen, diese Geschichte stimmt – die Geschichte, die Shelah Fane Ihnen heute morgen erzählt haben soll…« »Warum sollte sie nicht stimmen? Legt eine Frau ein solches Geständnis etwa zum Spaß ab?« »Niemals«, erwiderte Chan ziemlich scharf. »Deshalb sagte ich ja auch, daß ich davon ausgehe, daß die Geschichte stimmt. Darum ist es auch so wichtig, den Aufenthaltsort unserer vielen Verdächtigen im Juni vor drei Jahren zu kennen. Ich habe mir hier die Namen aller Personen notiert, die sich damals in Hollywood aufhielten, und die demnach logischerweise Denny Mayo ermordet haben könnten. Es sind Wilkie Ballou, seine Frau Rita, Huntley Van Horn und Jessop, der Butler. Bedauerlicherweise habe ich, überwältigt von Schilderung des blutgetränkten Hemdes, versäumt, Miß Dixon danach zu fragen.«
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»Sie ist seit sechs Jahren in Hollywood«, informierte ihn der Wahrsager. »Ich weiß das aus ihren Erzählungen während unserer Sitzungen.« »Noch eine.« Charlie notierte sich den Namen. »Vermutlich kann ich noch Miß Julie hinzufügen – obwohl sie damals sehr jung gewesen sein muß. Zwei dieser Personen können über den Zeitpunkt – zwei Minuten nach acht – genaue Rechenschaft ablegen. Jessop hat sehr gutes Alibi, und Huntley Van Horn sogar perfektes, das ich selbst beschwören kann. Ich habe auch noch andere Dinge erfahren – nicht sehr wichtige allerdings –, aber es fiel mir beispielsweise auf, wie Ihnen sicher auch, daß Mr. Jaynes unter allen Umständen Hawaii noch heute nacht verlassen wollte. Vergessen Sie nicht – es liegt im Bereich des Möglichen, daß Mord an Denny Mayo nichts mit Ermordung von Shelah Fane zu tun hat. Dieser Jaynes war in überreiztem Zustand; vielleicht hat er äußerst eifersüchtigen Charakter; vielleicht hat er jene Orchideen – Geschenk eines anderen Mannes – an der Schulter der Dame gesehen und…« »Aber auch er verfügt doch über das Uhrenalibi«, warf Tarne verro ein. »Leider ja!« stimmte Chan zu. Kurze Zeit herrschte Schweigen. Dann erhob Tarneverro sich und ging langsam auf die Couch zu. »Haben Sie übrigens diese Uhr gründlich untersucht?« fragte er beiläufig. Chan erhob sich und folgte ihm. »Tut mir leid. Sie lenken meine Aufmerksamkeit jetzt auf Tatsache, daß ich äußerst wichtige Pflicht bisher vernachlässigt habe.« Tarneverro beugte sich über die Leiche, aber Chan hielt ihn zurück. »Ich werde sie sofort abnehmen und
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genauen Blick darauf werfen – obwohl ich so dumm bin, daß ich nicht ganz verstehe, worauf Sie eigentlich hinauswollen?« Mit einem Leinentaschentuch bedeckte er seine linke Hand; mit der anderen Hand löste er das schmale schwarze Band von Shelah Fanes Arm, hob die wertvolle kleine Uhr hoch und legte sie auf das Taschentuch. Dann stellte er sich damit genau unter eine der Lampen und betrachtete sie. »Oje! Heute abend scheine ich besonders begriffsstutzig zu sein«, seufzte er. »Ich bin immer noch ratlos. Glas ist zerbrochen, Uhr ist genau um acht Uhr zwei stehengeblieben…« »Erlauben Sie bitte«, sagte Tarneverro. »Ich werde etwas genauer vorgehen.« Er nahm Taschentusch und Uhr in die Hand, hielt das Leinen zwischen seinen Fingern und dem Metall und bewegte den Aufzugsknopf der zerbrechlichen Uhr. Sofort drehte sich der Minutenzeiger. Die Augen des Wahrsagers glänzten triumphierend. »Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte«, rief er. »Der Mörder hat einen kleinen Fehler begangen – das war wirklich sehr nett von ihm. Er zog den Aufzugsknopf heraus, um die Uhrzeit auf dem Zifferblatt beliebig ändern zu können – und in der Eile vergaß er, ihn wieder einzurasten. Ich brauche Ihnen bestimmt nicht zu sagen, was das bedeutet!« Charlie schenkte ihm einen Blick begeisterter Anerkennung. »Sie sind selbst erstklassiger Detektiv – bitte halten Sie mir zugute, daß ich das schon heute morgen festgestellt habe. Ich werde Ihnen immer dankbar sein müssen. Natürlich ist mir Bedeutung jetzt endlich
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klar.« Tarneverro legte die Uhr auf die Glasplatte der Frisierkommode. »Ich glaube, eines können wir jetzt mit Sicherheit annehmen, Inspektor«, sagte er. »Wann auch immer der Mord verübt worden ist, so doch bestimmt nicht um zwei vor acht. Wir haben es mit einer schlauen Person zu tun. Nachdem sie Shelah Fane ermordet hatte, nahm sie die Uhr ab, stellte die Zeit zurück – oder auch vor – auf zwei Minuten nach acht, und dann zerschlug sie die Uhr, um den Eindruck eines Kampfes zu erwecken.« Die Augen des Wahrsagers strahlten. Er deutete auf die abgesplitterte Ecke der Frisierkommode. »Das ist gleichzeitig auch die Erklärung für den Sprung im Glas. Der Mörder schlug die Uhr gegen diese Ecke, bis sie nicht mehr ging.« Augenblicklich befand Chan sich auf dem Fußboden. »Hier unten liegt aber kein Glas«, stellte er fest. »Nein, nein«, fuhr Tarneverro fort. »Sie werden auch keines finden. Das zersprungene Glas wurde natürlich dort gefunden, wohin Miß Fane gefallen war. Und warum? Weil der Mörder die Uhr mit einem Taschentuch anfaßte, wie Sie es eben auch gemacht haben; er zerschmetterte sie in diesem Taschentuch, um die Glassplitter aufzufangen und trug die Überreste zu der Stelle, wo sie sich erwartungsgemäß befinden mußten. Ein kluger Kerl!« Charlie nickte. Ganz offensichtlich ärgerte er sich. »Aber Sie sind noch klügerer Kerl. Ich bin nahe daran, meinen Rücktritt zu erklären, aus Widerwillen gegen meine eigene Dummheit. Sie sollten sich mein Dienstabzeichen anheften, Mr. Tarneverro, denn Sie sind in diesem Mordfall der kluge Detektiv.« Tarneverro warf ihm einen eigentümlichen Blick zu.
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»Glauben Sie das wirklich? Ich befürchte, Sie übertreiben – die Sache war ja einfach genug. Es ist mir aufgefallen, daß zu viele von uns in dieser Affäre Alibis haben. Ich dachte daran, wie einfach es ist, die Uhrzeit auf dem Zifferblatt zu verändern. Und genau das wurde hier gemacht. Der Mörder stellte die Uhr auf eine Zeit ein, die schon vorüber war, und für die er sich schon ein Alibi verschafft hatte – oder auf einen späteren Zeitpunkt, für den er sich noch ein Alibi verschaffen würde. Wenn man aber aufgeregt ist, neigt man dazu, irgendeinen Fehler zu begehen – und dieser Kerl stolperte darüber, daß er vergaß, den kleinen Aufzugsknopf wieder einzurasten, bevor er wegging.« Chan seufzte. »Wie schon erwähnt, kennt meine Dankbarkeit Ihnen gegenüber keine Grenzen. Trotzdem erschreckt mich diese Entwicklung. Eine große Zahl von Alibis ist jetzt völlig zerstört, und Feld dehnt sich aus wie endlose Prärie. Van Horns Alibi ist nichtig geworden, ebenso die Alibis von Martin und Jaynes, und – ich bitte untertänigst um Verzeihung, Mr. Tarneverro – Sie haben auch Ihr eigenes Alibi zerstört.« Der Wahrsager warf den Kopf zurück und lachte. »Brauche ich denn ein Alibi?« rief er. »Vielleicht nicht«, grinste Charlie. »Aber wenn ein Baum fällt, verschwindet der Schatten. Wer weiß? Vielleicht werden sogar Sie den Verlust dieses Schattens einmal bereuen.« »Es wäre doch aber möglich, daß ich noch über einen anderen Baum verfüge«, warf Tarneverro ein. »Wenn dem so ist, dann beglückwünsche ich Sie.« Charlie sah sich im Zimmer um. »Arme unglückliche Dame muß jetzt ins Haus geschafft werden, dann wird Pavillon abgesperrt, bis Fingerabdruckexperte seine
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Arbeit morgen früh aufnehmen kann. Sie werden feststellen, daß wir hier auf Hawaii nicht sehr schnell arbeiten. Das macht unser herrliches Klima.« Er legte die Uhr in eine Schublade der Frisierkommode, dann gingen Tarneverro und er hinaus, und Charlie sperrte wieder zu. »Wir werden jetzt in Wohnzimmer weitermachen und es durchsuchen. Vielleicht geruhen Sie, dort bemerkenswerte Untersuchung fortzuführen. Ich habe heute abend sehr viel Glück. Was würde ich nur ohne Sie anfangen?« Eine Anzahl von Stühlen auf dem Rasen verriet den Aufenthaltsort der meisten Gäste. Im Wohnzimmer stießen sie nur auf Julie und Jimmy Bradshaw, die dicht nebeneinander saßen. Das Mädchen hatte offensichtlich geweint, und Jimmies Benehmen vermittelte den Eindruck, daß er die Rolle des Trösters übernommen hatte. Chan übergab Julie den Pavillonschlüssel und erklärte ihr freundlich, was getan werden mußte. Sie ging mit dem jungen Mann hinaus, um die Dienstboten zu Hilfe zu holen. Charlie lief nachdenklich in dem großen Zimmer auf und ab. Er schaute in die Blumen- und Pflanzenbehälter, öffnete die wenigen Bücher, die er vorfand, und blätterte die Seiten durch. »Haben Sie übrigens schon Miß Fanes Schlafzimmer durchsucht?« erkundigte sich Tarneverro. »Noch nicht«, antwortete Chan. »Es gibt eine solche Menge zu tun, und nur Sie und ich können es tun. Ich habe Kashimo, unseren japanischen Spürhund, mit einer Aufgabe betraut, die er zweifellos im Laufe von ein-, zwei Wochen erledigen wird. Was mich angeht…« Er lief gerade über einen Teppich und blieb plötzlich stehen. »Was mich angeht…«, wiederholte er. Er fuhr
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mit seinem dünnbesohlten Schuh über eine bestimmte Stelle des Teppichs. »Was mich angeht«, wiederholte er zum dritten Male, »so habe ich hier etwas Wichtiges zu tun.« Er bückte sich und schlug den Teppich zurück. Auf dem gebohnerten Fußboden lag der große Briefumschlag, der ihm vorhin aus der Hand gerissen worden war. Eine Ecke fehlte, aber sonst war der Brief unversehrt. »Ein Glück, daß Miß Fane Vorliebe für so dickes Briefpapier hatte«, sagte Charlie. Er hob den Umschlag auf. »Ich befürchte, daß ich diesmal meinem unbekannten Freund nicht herzlich zu besonderer Originalität gratulieren kann. Aber er war sehr gehetzter Gentleman, als diese Angelegenheit seine Aufmerksamkeit erregte – das darf ich nicht vergessen.« Tarneverro trat auf ihn zu; seine dunklen Augen strahlten. »Bei Gott – Shelahs Brief. Er ist doch wohl an mich adressiert?« »Ich erinnere Sie noch einmal daran, daß jetzt die Polizei hier im Dienst ist«, sagte Chan. »Das war sie vorhin auch schon«, erwiderte Tarneverro. »Ja. Aber Geschichte wird sich nicht wiederholen.« Charlie nahm den Brief aus dem Umschlag heraus und las ihn. Achselzuckend reichte er danach das Schreiben dem Wahrsager. »Diesmal hatte ich recht«, stellte er fest. Tarneverro betrachtete die riesige, gespreizte Handschrift, die besagte, daß die Schreiberin mit Briefpapier ebenso großzügig umging wie mit allem anderen. Stirnrunzelnd las er folgendes:
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›Lieber Tarneverro! Bitte vergessen Sie, was ich Ihnen heute morgen erzählt habe. Ich muß verrückt gewesen sein – einfach verrückt. Ich habe vor, es zu vergessen, und Sie müssen es auch vergessen – oh, Tarneverro, versprechen Sie mir das! Tun Sie so, als hätte ich nie davon gesprochen. Ich werde den armen Alan heute abend abweisen – es wird mir das Herz brechen –, aber ich werde es tun. Ich werde allein weitermachen – vielleicht kann ich schließlich doch noch ein wenig Glück finden. Ich möchte es so sehr. Immer Ihre Shelah Fane.‹ »Arme Shelah!« Einen Augenblick lang starrte der Wahrsager auf den Brief. »Sie hatte nicht den Mut, die Sache durchzustehen – ich hätte es eigentlich wissen müssen. Ein mitleiderregender Brief – ich glaube nicht, daß ich letztlich auf meinem Wunsch bestanden hätte.« Wütend zerknüllte er das Papier. »Denny Mayos Mörder war also in Sicherheit – sie wollte ihn gar nicht anzeigen – er hat sie umsonst ermordet. Sie ist tot, und dabei könnte sie noch hier sein. Weiß der Himmel – ich werde ihn kriegen, und wenn es die letzte Tat meines Lebens sein sollte!« Chan lächelte. »Ich habe denselben Ehrgeiz, obwohl ich sehr hoffe, daß seine Befriedigung meinem Leben kein Ende setzen wird.« Sein japanischer Assistent kam verstohlen ins Zimmer. »Ah, Kashimo, hast du oben ein schönes Wochenende verbracht?« »Ganz schön schwere Arbeit, aber ich habe es gefunden«, verkündete Kashimo stolz. »In einem Krug unter einer Topfpflanze.«
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Chan streckte seine Hand aus. Zu seiner großen Überraschung überreichte Kashimo ihm nicht die erwartete Fotografie, sondern eine Handvoll zerrissener Stücke von Glanzpapier und schwerer grüner Pappe. Jemand hatte das Porträt in Stücke gerissen und versucht, die Überreste zu verstecken. »Was haben wir jetzt?« fragte Chan. Nachdenklich betrachtete er die Fetzen in seiner Hand. Seine Augen suchten Tarneverros Blick. »Das ist Sache, die Nachdenkens wert ist. Unbekannte Person will nicht, daß ich einen Blick auf Foto werfe, über dem Shelah Fane heute nachmittag geweint hat. Warum? Ist es etwa Porträt von Mann, den sie auf Ihre Bitte hin verraten sollte?« »Das wäre möglich«, stimmte Tarneverro zu. »Kurs ist jetzt klar«, verkündete Chan. »Ich muß dieses Foto sehen; deshalb werde ich meine ganze Geduld aufbieten, um diese Fetzen wieder zusammenzusetzen.« Er stellte einen kleinen Tisch vor die Fenster zur Straße. »Ich erforsche Umgebung von Haus«, kündigte Kashimo an. »Das ist zweifellos der geeignetste Ort für dich«, stimmte Chan zu. »Erforsche nur alles recht gründlich!« Der Japaner ging hinaus. Charlie nahm die Tischdecke ab und setzte sich hin. Sorgfältig begann er, die einzelnen Stücke der Fotografie auf der glatten Tischplatte zusammenzusetzen. Er wußte, daß ihm eine lange und mühsame Arbeit bevorstand. »Ich war noch nie heller Kopf bei Zusammensetzspielen«, klagte er. »MeineTochter Rose ist Stolz der Familie bei dieser Arbeit. Ich hätte sie jetzt
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gern bei mir.« Als er gerade kleine Fortschritte zu verzeichnen hatte, ging die Verandatür auf, und eine Gruppe von Gästen kam herein. Wilkie Ballou ging voran, ihm folgten Van Horn, Martino, Jaynes und Rita Ballou. Auch Diana Dixon trat ein; sie schien aber nicht zu der Gruppe zu gehören, die wie eine Delegation aussah. Und ganz offensichtlich war es wirklich eine Delegation. Ballou ergriff das Wort, in seinem befehlshaberischsten Ton. »Hören Sie mal, Inspektor – wir haben darüber gesprochen, und wir können keinen Sinn darin sehen, warum um alles in der Welt Sie uns noch länger hier festhalten sollten. Wir sind alle verhört worden, wir haben Ihnen alles gesagt, was wir wissen, und jetzt beabsichtigen wir zu gehen.« Charlie legte die noch nicht eingepaßten Stücke des Porträts auf den Tisch und erhob sich. Mit einer höflichen Verbeugung sagte er: »Ich stelle fest, daß Sie mit gutem Grund ungeduldig sind.« »Dann sind Sie also gewillt, uns gehen zu lassen?« fragte Ballou. »Ich sage es zwar nur höchst ungern – aber ich bin überhaupt nicht dazu gewillt«, erwiderte Chan. »Unglückseligerweise lösen sich neue Entwicklungen explosionsartig ab, wie Feuerwerkskörper an Silvester, und ich muß noch über einige Dinge mit Ihnen sprechen.« »Das ist eine Rechtsverletzung«, schrie Ballou. »Das wird Sie Ihr Abzeichen kosten!« Charlie belohnte ihn mit einem Lächeln, das rasend machen konnte. »Das kann sein – morgen. Was aber die heutige Nacht angeht, so bin ich mit diesem Fall
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beauftragt worden, und ich sage Ihnen – Sie werden hierbleiben, bis ich Ihnen erlaube, aufzubrechen.« Jaynes drängte sich vor. »Ich habe auf dem Festland wichtige Geschäfte, und ich beabsichtige, um Mitternacht abzureisen. Es ist jetzt schon weit nach zehn. Ich warne Sie – Sie werden Ihre gesamten Kräfte aufbieten müssen, um mich hier festzuhalten…« »Auch das läßt sich machen«, antwortete Charlie liebenswürdig. »Großer Gott!« Der Brite sah Wilkie Ballou hilflos an. »Was für ein Ort ist das nur? Warum schicken sie keinen Weißen hierher?« Ein feines Licht funkelte plötzlich in Charlies Augen. »Der Mann, der gerade einen Strom überqueren will, sollte lieber nicht die Mutter des Krokodils schmähen«, sagte er in eisigem Ton. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Jaynes. »Daß Sie noch nicht sicher am anderen Ufer sind.« »Sie wissen verdammt gut, daß ich ein Alibi habe«, schrie der Brite ärgerlich. Chans kleine Augen musterten ihn von Kopf bis Fuß. »Da bin ich mir nicht so sicher«, stellte er ruhig fest. »Sie haben doch selbst gesagt, daß Sie den Zeitpunkt des Mordes festgelegt hätten…« »Wie traurig«, fiel Chan ihm ins Wort, »daß wir im Laufe unseres Lebens so viele Fehler begehen. Ich, ich bin dummer Tölpel. Ihr Alibi, Mr. Jaynes, ist geplatzt wie ein Luftballon, in den man Nadel sticht.« »Was?« schrie Jaynes. Van Horn und Martin wurden plötzlich sehr aufmerksam. »Ziehen Sie sich zurück und beruhigen Sie sich etwas«, fuhr Chan fort. »Ich gebe Ihnen den guten Rat,
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nicht mehr von Alibis zu sprechen. Sie haben sowieso schon zuviel geredet.« Wie betäubt, befolgte Jaynes Chans Anordnungen fast buchstäblich. Charlie wandte sich an Rita Ballou. »Gnädige Frau, meine untertänigsten Entschuldigungen und mein tiefstes Bedauern. Ich halte Sie nur mit größtem Kummer hier fest. Mir ist eingefallen, daß das Abendessen schon lange fertig ist – ich befürchte, daß Verspätung den größten Teil schon verdorben haben wird. Aber wenn ich Vorschlag machen dürfte…« »Oh, ich könnte jetzt nichts essen«, sagte Rita. »Natürlich nicht – schon der Gedanke daran ist schrecklich«, stimmte Chan bereitwillig zu. »Eine derartige Herzlosigkeit wäre völlig unangebracht.« Julie und Bradshaw traten eben ein. »Trotzdem lege ich Wert darauf, daß Sie alle Ihre Plätze bei Tisch einnehmen und wenigstens eine Tasse Kaffee zu sich nehmen. Das wird Ihre Nervenanspannung lösen und Ihnen die Wartezeit erleichtern. Wie Sie ja wissen, stimuliert Kaffee und stärkt den Geist.« »Keine schlechte Idee«, meinte Huntley Van Horn. »Miß Julie…«, regte Chan an. Das Mädchen lächelte müde. »Ja, selbstverständlich. Ich werde Jessop Bescheid sagen. Sie müssen mir verzeihen. Ich hatte ganz vergessen, daß wir heute abend Gäste haben.« Sie ging hinaus, und Charlie kehrte zu dem kleinen Tisch zurück, wo sein unvollendetes Werk lag. In diesem Augenblick wurde eine Flügeltür zur Straße hin plötzlich aufgerissen, und der Passatwind fegte durchs Zimmer wie ein kleiner Orkan. Sofort flogen zerrissene Fotostückchen durch die Luft und wirbelten umher wie Schneeflocken in einem Schneesturm in Minnesota.
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Kashimo streckte seinen Kopf ins Zimmer. »S-s-s«, zischte er. »Charlie!« »Hervorragende Arbeit, Kashimo«, brummte Chan. »Was ist jetzt schon wieder los?« »Ich finde Tür unverschlossen«, verkündete der Japaner triumphierend und verschwand, die Flügeltür hinter sich schließend. Charlie verbarg seinen Widerwillen und lief im Zimmer umher, um die Fetzen von den unwahrscheinlichsten Stellen aufzulesen. Tarneverro und einige andere halfen ihm sofort. Nach kurzer Zeit hielt er wieder ein Häufchen der Fetzen in der Hand. Er suchte noch weiter, konnte aber keine mehr finden. Er nahm seinen Platz am Tisch wieder ein und arbeitete einige Minuten lang sehr schwer. Dann zuckte er die Achseln und stand auf. »Was ist los?« fragte Tarneverro. Charlie sah ihn an. »Es hat keinen Sinn. Ich habe jetzt nur noch etwa die Hälfte der Teile, die ich zuvor hatte.« Erbetrachtete die kleine Gruppe, die so unschuldig aussah. Einen Augenblick dachte er daran, jeden einzelnen zu durchsuchen, aber ein Blick auf Ballou erinnerte ihn daran, daß das einen heißen Kampf erfordern würde, und er war ein friedliebender Mensch. Nein, er mußte sein Ziel auf anderem Wege erreichen. Er seufzte und steckte die Reste der Fotografie in seine Tasche. Mehr sorgenvoll als ärgerlich betrachtete Charlie seinen ehrgeizigen Kollegen. »Detektive waren in Polizeistation praktisch ausgestorben, als man dich heute abend hierhergeschickt hat«, sagte er nur. Es klingelte an der Tür – laut und nachdrücklich. Da Jessop sich in der Küche aufhielt, öffnete Jimmy Brad-
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shaw die Tür. Man hörte einige scharfe, rasche Worte aus dem Vorraum, dann trat ein Mann über die Schwelle. Er sah gut aus, war etwa vierzig Jahre alt, hatte graue Schläfen, ein ausgeglichenes Wesen und ein scharfes Auge. Die Theater schminke lag noch auf seinem Gesicht. Er blickte sich in der Runde um. »Guten Abend«, sagte er. »Ich bin Robert Fyfe – vor einiger Zeit Shelah Fanes Ehemann. Das sind ja schreckliche Neuigkeiten, die mir jemand vor kurzer Zeit am Telefon mitgeteilt hat. Ich kam, sobald ich meine Rolle im Stück beendet hatte – ohne mich mit Abschminken oder Umziehen aufzuhalten. Sehr unprofessionell – aber ich muß Sie bitten, das zu übersehen.« »Soll ich Ihnen den Mantel abnehmen?« fragte Jimmy Bradshaw. »Herzlichen Dank.« Er reichte Jimmy den Mantel. Als er sich wieder umdrehte, stieß Diana Dixon einen Schrei aus – schrill und unerwartet. Sie deutete auf Robert Fyfes Hemdbrust. Über die weiße Fläche lief diagonal das leuchtendrote Band der Ehrenlegion. Bestürzt blickte Fyfe an sich herunter. »O ja«, meinte er. »Wie schon gesagt, ich bin in meinem Theaterkostüm hergekommen. Wissen Sie, diese Woche spiele ich zufällig die Rolle eines französischen Gesandten.«
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Kapitel 8
Die Schuhe des Strandvagabunden Während des nun folgenden langen Schweigens betrachtete Chan aufmerksam den ansehnlichen Schauspieler, der eben unbewußt den besten Auftritt seiner gesamten Karriere gehabt hatte. Der Schauspieler erwiderte seinen Blick kühl und ausgeglichen. Immer noch herrschte Schweigen, und Fyfe bemerkte, daß jeder im Zimmer ihn anstarrte. Obwohl er an die interessierten Blicke einer großen Menschenmenge gewöhnt war, brachte ihn etwas an dieser Situation ein wenig aus der Fassung. Er fühlte sich unbehaglich und suchte nach Worten, um den Zauber zu durchbrechen. »Was ist mit Shelah geschehen? Wie schon gesagt, ich bin so schnell wie möglich hergekommen. Obwohl ich sie jahrelang nicht gesehen habe…« »Wie lange genau?« fragte Chan rasch. Fyfe warf ihm einen flüchtigen Blick zu. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihre Stellung hier noch nicht ganz begriffen habe…« Nachlässig schlug Chan die linke Seite seines Jacketts zurück und zeigte sein Dienstabzeichen. Es war eine Geste, die eines Schauspielers würdig gewesen wäre – Taten, nicht Worte. »Ich bin im Dienst«, erläuterte er. »Sie waren einmal, sagen Sie, Ehemann von Miß Shelah Fane. Sie haben sie jahrelang nicht gesehen. Wie lange?« Fyfe dachte nach. »Es war im April vor neun Jahren, daß wir uns trennten. Wir spielten damals beide in New York – Miß Fane in einer Ziegfeld-Revue im >New Amsterdams und ich in einem Kriminalstück im ›As-
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tor‹. Sie kam eines Abends nach Hause und erzählte mir, sie habe ein ausgezeichnetes Angebot für einen Film in Hollywood erhalten – sie war so aufgeregt, so begeistert von der Idee, daß ich es nicht fertigbrachte, mich ihr zu widersetzen. Eine Woche später, an einem Aprilabend, verabschiedeten wir uns am ›Grand Central‹ voneinander, und ich fragte mich, wie lange ich wohl ihrer Liebe gewiß sein konnte. Nicht sehr lange, wie sich herausstellte. Ein Jahr später fuhr sie nach Reno, und alles ging ganz schmerzlos vor sich – zumindest für sie. Nicht annähernd so schmerzlos für mich – obwohl ich es schon seit jener Nacht am Bahnhof vorausgeahnt hatte. Schon damals hatte ich das Gefühl gehabt, sie zum letzten Male gesehen zu haben.« »Sie sind aber doch später in Los Angeles gewesen, während Miß Fane in Hollywood war?« »O ja, natürlich. Aber wir haben uns niemals wiedergesehen.« »Erinnern Sie sich zufällig noch daran, ob Sie im Juni vor drei Jahren in Los Angeles aufgetreten sind?« Charlie war betroffen von dem Ausdruck, den die Augen des Schauspielers plötzlich annahmen. War es wirklich ein Ausdruck des Verstehens? »Nein«, sagte Fyfe bestimmt, »nein.« »Sie sind sich sehr sicher«, kommentierte Charlie. »Zufälligerweise ja«, erwiderte Fyfe. »Vor drei Jahren war ich auf Tournee mit einem Ensemble, das nicht bis zur Küste kam.« »Das läßt sich leicht nachprüfen«, stellte der Detektiv langsam fest. »Natürlich«, stimmte Fyfe zu. »Sie können es ruhig nachprüfen.«
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»Sie behaupten also«, fuhr Chan fort, »Shelah Fane seit dem Abschied am New Yorker Bahnhof vor neun Jahren nicht mehr gesehen zu haben?« »Ja.« »Sie haben sie heute in Honolulu nicht gesehen?« »Nein.« »Oder heute abend?« Eine Pause. »Nein.« Julie trat ein. »Der Kaffee ist fertig«, sagte sie. »Bitte kommen Sie alle ins Eßzimmer.« »Ich unterstütze diesen Vorschlag sehr«, sagte Chan nachdrücklich. Widerstrebend ging die Gruppe hinaus, wobei sie einander versicherten, daß sie nichts essen könnten, daß allein schon die Idee undenkbar sei, daß aber eine Tasse Kaffee… Ihre Stimmen verhallten hinter den Vorhängen. Von den Gästen hielt sich jetzt nur noch Tarneverro im Wohnzimmer auf. »Bitte gehen Sie, Mr. Tarneverro«, sagte Chan. »Kleine Stärkung wird Aktivität von Ihrem hervorragenden Verstand noch verstärken, auf den ich so sehr angewiesen bin.« Tarneverro verbeugte sich. »Nur für einen Augenblick«, erwiderte er und ging hinaus. Charlie wandte sich an Kashimo. »Was dich angeht, so schlage ich vor, daß du dich auf Veranda begibst, dich auf einen Stuhl setzt und über deine Sünden nachdenkst. Als du vorhin wie ein Wirbelwind aufgetaucht bist, hast du nämlich wertvolles Beweismaterial in alle Winde verstreut.« »Das tut mir schrecklich leid«, zischte Kashimo. »Laß es dir auf der Veranda weiter leid tun«, riet ihm Chan, scheuchte ihn hinaus und schloß hinter ihm die
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Tür. Dann kam er zu Robert Fyfe zurück. »Ich bin froh, daß wir allein sind«, begann er. »Obwohl Ihnen das vielleicht gar nicht bewußt ist, sind Sie äußerst interessante Gestalt, die in diese Affäre hereingeplatzt ist.« »Tatsächlich?« Der Schauspieler setzte sich auf einen Stuhl; er war in seinem Gesandtenkostüm eine eindrucksvolle Gestalt. Er schien überhaupt nicht beunruhigt, sondern machte einen gelassenen und freimütigen Eindruck. »Wirklich sehr interessant«, fuhr Charlie fort. »Ich sehe Sie an und frage mich – warum lügt er?« Fyfe erhob sich ein wenig von seinem Stuhl. »Was wollen Sie damit sagen?« Chan zuckte die Achseln. »Mein lieber Herr – was hat es für einen Sinn? Wenn Sie Gartenpavillons aufsuchen, um dort Ex-frauen zu treffen, so ist es äußerst nachlässig, ein auffallendes rotes Band auf der Brust zur Schau zu tragen. Es kann von leicht erregbarer junger Frau sogar fälschlicherweise für Blut gehalten werden. Und genau das ist auch eingetroffen.« »Ich verstehe«, sagte Fyfe grimmig. »Die Wahrheit – zur Abwechslung«, schlug Chan vor. Einen Augenblick vergrub Fyfe sein Gesicht in den Händen. Schließlich blickte er auf. »Gern«, antwortete er. »Obwohl die Wahrheit etwas ungewöhnlich ist. Ich hatte Shelah Fane seit jener Nacht am Bahnhof wirklich nicht mehr gesehen – bis heute abend. Heute morgen hörte ich, daß sie in der Stadt sei. Es war äußerst seltsam, wie diese Neuigkeit auf mich wirkte. Sie haben Miß Fane nicht gekannt, Mr. – äh – Mr…« »Inspektor Chan«, informierte Charlie ihn. »Nein, ich
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hatte nicht das Vergnügen.« »Das war es wirklich – ein Vergnügen.« Fyfe brachte ein halbes Lächeln zustande. »Sie war eine bemerkenswerte Frau, sie strotzte vor Leben. Ich habe sie einmal sehr gern gehabt – und ich bin nie darüber hinweggekommen. Keine andere Frau hat mir jemals etwas bedeutet, nachdem Shelah mich verlassen hatte. Ich konnte sie nicht halten – ich mache ihr daraus keinen Vorwurf –, kein Mann konnte sie lange Zeit halten. Sie wollte Romantik, Erregung. Nun ja, wie gesagt, heute morgen erfuhr ich, daß sie sich in der Stadt aufhielt, und diese Nachricht ging mir durch und durch – es war, als ob ich nach neunjährigem Schweigen wieder ihre Stimme hörte. Ich schickte ihr Blumen und eine Botschaft – Liebe von einem, den du vergessen hast. Habe ich schon erwähnt, daß sie ungestüm war? Wild, unvernünftig, gehetzt- und unwiderstehlich. Kaum hatte sie meine Blumen erhalten, als sie mich auch schon anrief. Ich war im Theater, geschminkt, fertig zum Auftritt, ›Bob‹, sagte sie, ›du mußt sofort herkommen. Du mußt einfach. Ich möchte dich so gern sehen. Ich warte auf dich.‹« Er sah Chan an und zuckte die Achseln. »Jeder anderen Frau hätte ich gesagt: Nach der Vorstellung. Aber irgendwie sagte man zu Shelah niemals so etwas. ›Ich komme‹ – das war immer die Antwort, wenn Shelah auf einen einredete. Es war zwar eine ziemlich verrückte Idee, aber sie war ausführbar. Ich war frühzeitig im Theater gewesen und mußte erst in fünfundvierzig Minuten auftreten. Ich hatte ein Auto und konnte in einer Viertelstunde hier sein, wenn ich mich ein wenig beeilte. Also ging ich um halb acht in meine Garderobe im Erdgeschoß
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des Theaters, verschloß die Tür von innen und kletterte durch ein Fenster auf die Allee, die am Theater entlangführt. Shelah hatte mir von dem Pavillon erzählt und auch, daß sie zum Abendessen Gäste eingeladen hätte, aber sie versicherte mir, daß ich keinem von ihnen begegnen müsse – mein Makeup, wissen Sie, und all das. Sie wollte mich sowieso allein sprechen. Ich war so gegen Viertel vor acht hier. Shelah begrüßte mich auf dem Rasen, und wir gingen in den Pavillon. Sie blickte mich so seltsam an – ich fragte mich, ob sie sich doch noch etwas aus mir machte. Ich war schockiert über ihre Veränderung – als ich sie gekannt hatte, war sie frisch und zauberhaft und so fröhlich gewesen. Hollywood hatte sie vollkommen verändert. Nun ja – vermutlich wird niemand von uns jünger. Wir vergeudeten wertvolle Zeit mit alten Erinnerungen, sprachen über die Vergangenheit – irgendwie schien es sie glücklich zu machen, bei Erinnerungen zu verweilen. Ich war nervös wegen der Zeit – ich schaute dauernd auf die Uhr. Schließlich sagte ich ihr, daß ich jetzt gehen müsse.« Er schwieg. »Und dann…?« fragte Chan. »Nun, es war eigenartig«, fuhr Fyfe fort. »Am Telefon hatte ich den Eindruck gehabt, daß sie in irgendeiner äußerst dringlichen Angelegenheit meinen Rat haben wollte. Dieser Eindruck verstärkte sich noch bei unserem Wiedersehen. Aber als ich sagte, daß ich gehen müsse, starrte sie mich nur mitleiderregend an. ›Bob‹, sagte sie, ›du machst dir noch etwas aus mir, ein wenig, nicht wahr?‹ Sie stand ganz in meiner Nähe, und ich nahm sie in die Arme. ›Ich bete dich an‹, rief ich und – aber das kann ich wohl übergehen. Dieser Au-
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genblick gehörte mir – und niemand kann ihn mir nehmen. Gedanken an die glückliche Vergangenheit tauchten wieder auf – ich war zwischen meiner Liebe zu Shelah und dieser verdammten Uhr, die in meinem Gehirn tickte, hin und her gerissen. Ich sagte ihr rasch, daß ich nach der Vorstellung zurückkommen würde, daß ich sie während ihres Aufenthalts hier täglich sehen würde, daß wir zusammen schwimmen würden – ich hatte die verrückte Idee, daß ich sie vielleicht zurückerobern könnte. Und es wäre mir eventuell auch gelungen – aber jetzt – jetzt…« Seine Stimme zitterte. »Arme Shelah! Armes Ding!« Chan nickte ernst. »Es heißt nicht umsonst, daß jene, die zu intensiv leben, die Aufmerksamkeit des Schicksals auf sich lenken.« »Und ich glaube, daß niemand je intensiver gelebt hat als Shelah«, fügte Fyfe hinzu. Er warf Charlie einen raschen, durchdringenden Blick zu. »Sehen Sie, Inspektor – Sie dürfen mich nicht im Stich lassen. Sie müssen herausfinden, wer diese schreckliche Tat verübt hat.« »Das habe ich auch fest vor«, versicherte Chan. »Sind Sie sofort weggefahren?« »Ja – ich ließ sie dort zurück – sie stand da und lächelte, lebendig und wohlauf. Sie lächelte, und gleichzeitig weinte sie. Ich rannte aus dem Pavillon…« »Um wieviel Uhr war das?« »Ich weiß es nur allzu gut – es war vier Minuten nach acht. Ich rannte die Auffahrt hinunter, fand mein Auto vor dem Haus, wo ich es abgestellt hatte und fuhr in die Stadt zurück, so schnell ich nur konnte. Als ich durchs Fenster in meine Garderobe kletterte, wurde schon wie wild an meine Tür gehämmert. Ich öffnete,
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sagte, ich hätte ein Nickerchen gehalten und ging mit dem Bühnenleiter zu den Kulissen. Ich hatte mich um fünf Minuten verspätet – der Bühnenleiter zeigte mir seine Uhr – es war zwanzig nach acht. Aber das machte nicht viel aus – ich spielte meine Rolle – und nach dem ersten Akt rief ein junger Mann mich an und erzählte mir die entsetzliche Neuigkeit.« Er stand auf. »Das ist meine Geschichte, Inspektor Chan. Mein Besuch hier draußen mag für mich unangenehme Konsequenzen haben, aber ich bedaure ihn nicht. Ich habe Shelah wiedergesehen – ich habe sie in meinen Armen gehalten –, und für dieses Privileg bin ich bereit, jeden beliebigen Preis zu bezahlen. Kann ich Ihnen sonst noch helfen?« Chan schüttelte den Kopf. »Im Augenblick nicht. Ich möchte Sie aber bitten, sich noch kurze Zeit hier zur Verfügung zu halten. Es könnten sich später noch andere Fragen ergeben.« »Selbstverständlich«, nickte Fyfe. Es klingelte, und Charlie ging selbst zur Tür. Er spähte in die Dunkelheit hinaus und erblickte einen stämmigen dunkelhäutigen Mann in der Khaki-Uniform der Polizei von Honolulu. »Ah, Spencer, Sie sind es«, sagte er. »Ich bin sehr froh, daß Sie kommen.« Der Polizeibeamte trat in den Vorraum und zerrte eine Gestalt hinter sich her, die man sich außer an einem Tropenstrand nirgends hätte vorstellen können. »Ich habe ihn auf der Kalakaua-Avenue aufgegriffen«, erklärte Spencer. »Ich dachte mir, daß Sie ihn vielleicht gern sehen würden. Er ist etwas verwirrt, was seine Aktivitäten heute abend betrifft.« Der Mann, von dem er sprach, befreite sich aus dem
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Griff des Polizeibeamten, dann trat er auf Charlie zu. »Ich hoffe sehr, daß wir nicht zu spät zum Abendessen kommen«, sagte er. Er sah sich in dem Vorraum um und nahm einen schlaffen und zerlumpten Strohhut ab, als hätten alte Erinnerungen ihn überkommen. »Mein Chauffeur ist wirklich zu dumm. Er hat sich verfahren.« Sein Benehmen war höflich und durchaus elegant, was angesichts seiner Kleidung überaus ungewöhnlich war. Abgesehen von dem Hut, den er jetzt in seiner dünnen, sommersprossigen Hand hielt, bestand sein Aufzug aus stark beschmutzten weißen Segeltuchhosen, einem blauen Hemd mit offenem Kragen, einer unmöglichen Samtjacke, die vor langer Zeit einmal die Farbe von Burgunder gehabt hatte, und den Überresten von Schuhen, durch deren Löcher seine nackten Füße weiß schimmerten. Das Stimmengemurmel im Eßzimmer war verstummt, und die Gäste tauchten auf, um zu lauschen, so daß Charlie eilig die Vorhänge zum Wohnzimmer zurückschob. »Kommen Sie bitte hier herein«, sagte er, und sie betraten das große Zimmer, in dem Fyfe allein wartete. Einen Augenblick starrte der Mann in der Samtjacke den Schauspieler an, und ein leichtes Lächeln breitete sich langsam unter dem gelben verfilzten Bart aus, der seit langem keine Friseurschere mehr gesehen hatte. »Na«, sagte Chan. »Wer sind Sie? Wo wohnen Sie?« Der Mann zuckte die Achseln. »Der Name könnte Smith sein.« »Oder vielleicht Jones?« schlug Charlie vor. »Eine reine Geschmackssache. Ich persönlich ziehe Smith vor.«
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»Und Sie wohnen…?« Mr. Smith zögerte. »Um ganz offen zu sein, Inspektor – ich wohne am Strand.« Charlie lächelte. »Aha, Sie führen edle Tradition fort. Was wäre Waikiki ohne Strandvagabunden?« Er ging zum Verandafenster und rief nach Kashimo. »Durchsuch doch bitte diesen Herrn«, befahl er. »Unbedingt«, stimmte der Strandvagabund zu. »Und wenn Sie etwas finden sollten, das wie Geld aussieht, so lassen Sie es mich um Himmels willen sofort wissen.« Kashimos Durchsuchung ergab nicht viel – ein Stück Schnur, einen Kamm, ein rostiges Taschenmesser und einen Gegenstand, der auf den ersten Blick wie eine Münze aussah, sich aber als Medaille entpuppte. Charlie betrachtete sie. »Bronzemedaille, Dritter Preis, Landschaften in Öl«, las er. »Pennsylvania-Akademie der schönen Künste.« Er sah Smith forschend an. Der Vagabund zuckte die Achseln. »Ja«, sagte er, »ich sehe schon, daß ich jetzt alles berichten muß – ich bin Maler. Kein sehr bedeutender – nur dritter Preis, wie Sie sehen. Der erste Preis war eine Goldmedaille – sie wäre mir vielleicht in letzter Zeit nützlich gewesen, wenn ich sie gewonnen hätte. Aber ich habe sie eben nicht gewonnen.« Er trat etwas näher. »Wenn es nicht zuviel verlangt ist – könnten Sie mir erklären, aus welchem Grund Sie sich unbefugt in meine Angelegenheiten einmischen? Kann ein Gentleman in dieser Stadt nicht seinen Geschäften nachgehen, ohne von einem fetten Polizisten gepackt und von einem mageren durchsucht zu werden?« »Es tut mir leid, Sie belästigen zu müssen, Mr.
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Smith«, erwiderte Charlie höflich. »Aber sagen Sie mal – waren Sie heute abend am Strand?« »Nein. Ich war in der Stadt. Ich bummelte hier nur etwas herum – aus Gründen, die nicht hierher gehören. Ich ging die Kalakaua-Avenue entlang, als dieser Bulle…« »Wo genau in der Stadt waren Sie?« »Im Aala-Park.« »Haben Sie dort mit jemand gesprochen?« »Ja. Die Gesellschaft war nicht gerade erlesen, aber ich machte sie dazu.« »Sie waren also heute abend nicht am Strand?« Chan starrte auf die Füße des Mannes. »Kashimo, du und Spencer werdet diesen Herrn zu Stelle unter Fenster begleiten, wo du Fußspuren entdeckt hast, und dort werdet ihr sorgfältigen Vergleich vornehmen.« »Ich weiß schon«, rief der Japaner eifrig. Er ging mit dem anderen Polizisten und dem Strandvagabunden hinaus. Chan wandte sich an Fyfe. »Lange, mühsame Aufgabe«, kommentierte er. »Aber ohne Arbeit wird ein Mann – was wohl? Ein Mr. Smith. Machen Sie es sich doch bequem!« Die anderen kamen aus dem Eßzimmer zurück, und auch ihnen bot Charlie Stühle an, die von den meisten notgedrungen akzeptiert wurden. Alan Jaynes schaute auf seine Uhr. Es war elf – er suchte Chans Blick. Aber der Detektiv sah ganz unschuldig in eine andere Richtung. Tarneverro näherte sich Charlie. »Gibt es etwas Neues?« erkundigte er sich. »Die Untersuchung weitet sich aus«, antwortete Chan. »Mir wäre es lieber, wenn sie bald abgeschlossen wer-
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den könnte«, erwiderte der Wahrsager. Die beiden Polizeibeamten und der Vagabund kamen über die Veranda zurück. Spencer hielt Smith wieder fest. »In Ordnung, Charlie«, sagte der Uniformierte. »Die Fußspuren unter dem Fenster können nur von einem Paar Schuhe in Honolulu stammen.« Er deutete auf die mitgenommene Fußbekleidung des Vagabunden. »Von dem da«, fügte er hinzu. Smith lächelte ironisch. »Es sind fürchterliche Schuhe, nicht wahr?« fragte er. »Aber Hawaii hat anscheinend keine Verwendung für Künstler. Wenn Sie schon einmal darauf geachtet haben, welche Gemälde hier für die Salons gekauft werden – die langweiligen Wellen, die die lokalen Rembrandts auf die Leinwand bringen – ich bin zwar nur ein drittklassiger Maler, aber ich würde es nicht fertigbringen, solchen Kitsch zu produzieren. Nicht einmal für neue Schuhe…« »Kommen Sie her!« fiel Charlie ihm scharf ins Wort. »Sie haben mich angelogen.« Smith zuckte die Achseln. »Für einen Angehörigen Ihrer Rasse reden Sie eine sehr deutliche Sprache, Inspektor. Möglich, daß ich die Situation leicht verzerrt habe im Interesse von…« »Im Interesse – wovon?« »Im Interesse von Smith. Ich stelle fest, daß hier etwas nicht stimmt, und ich ziehe es vor, mich aus der Sache herauszuhalten…« »Sie sind aber schon in diese Sache verwickelt. Sagen Sie mir – haben Sie den Pavillon heute abend betreten?« »Nein – das schwöre ich Ihnen. Es stimmt allerdings, daß ich einige Minuten unter dem Fenster gestanden
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habe.« »Was hatten Sie dort zu suchen?« »Ich hatte vor, im Schütze des Pavillons mein Nachtquartier im Sand aufzuschlagen. Es ist einer meiner Lieblingsplätze…« »Fangen Sie noch einmal ganz von vorne an«, unterbrach Chan. »Und sagen Sie diesmal die Wahrheit.« »Ich war drei Tage und Nächte nicht mehr am Strand gewesen«, berichtete der Vagabund. »Ich hatte etwas Geld gehabt und in der Stadt gewohnt. Als ich zuletzt hier war, wohnte in diesem Haus niemand. Heute hatte ich nun kein Geld mehr – ich erwarte einen Scheck – er ist noch nicht eingetroffen.« Er machte eine Pause. »Schlechte Postzustellung hier draußen. Wenn ich nur zurück aufs Festland kommen könnte...« »Sie hatten also kein Geld mehr«, brachte Chan ihn wieder auf das eigentliche Thema zurück. »Ja – deshalb war ich gezwungen, zu meinem alten Bett unter den Palmen zurückzukehren. Ich wanderte hierher und kam zum Strand...« »Um wieviel Uhr war das?« »Mein lieber Herr— Sie bringen mich in Verlegenheit. Wenn Sie die Hotel Street entlanggehen, werden Sie meine Uhr in einem bestimmten Fenster hängen sehen. Ich schaue sie mir selbst oft an.« »Ist auch nicht so wichtig. Sie kamen also zum Strand.« »Ja. Wie Sie wissen, ist es ein öffentlicher Strand – der hier wenigstens. Er gehört allen. Ich war überrascht, daß im Pavillon Licht brannte. Jemand hatte also das Haus gemietet, dachte ich mir. Der Vorhang vor dem Fenster war zugezogen, aber er flatterte im Wind. Ich hörte von drinnen Stimmen – eine männli-
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che und eine weibliche – und ich fragte mich, ob das unter diesen Umständen ein sehr gutes Nachtquartier sein würde.« Er legte eine Pause ein. Charlies Blicke ruhten auf Robert Fyfe. Der Schauspieler lehnte sich mit großer Intensität nach vorne und starrte den Vagabunden an; seine Hände umklammerten die Stuhllehne so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Ich stand einfach da«, fuhr Smith in seinem Bericht fort, »der Vorhang flatterte – und ich konnte den Mann deutlich sehen.« »Und wer war es?« fragte Chan. »Dieser Bursche da«, antwortete Smith. Er zeigte auf Fyfe. »Der Kerl mit dem roten Band über dem Hemd. Ich habe ein solches Band seit der Zeit nicht mehr gesehen, als ich bei Julien in Paris studierte und unser Botschafter mich zum Abendessen einlud. Das ist eine Tatsache. Er war aus meiner Heimatstadt – ein alter Freund meines Vaters...« »Das tut hier nichts zur Sache«, schnitt Charlie ihm das Wort ab. »Sie standen also da und spähten unter dem Vorhang hindurch. ..« »Was wollen Sie damit sagen?« schrie der Vagabund. »Bitte beurteilen Sie einen Menschen nicht nach seiner Kleidung. Ich habe nicht spioniert. Es ließ sich nicht vermeiden, daß ich einen Blick ins Zimmer warf. Die beiden sprachen sehr schnell miteinander – dieser Mann hier und die Frau.« »Ja. Und vielleicht – natürlich ebenso ungewollt, damit Sie mich nicht mißverstehen – haben Sie auch gehört, worüber gesprochen wurde?« Smith zögerte. »Nun ja – tatsächlich – ja. Ich hörte, wie sie ihm sagte...«
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Mit einem Aufschrei stürzte Fyfe nach vorne. Er stieß den Vagabunden beiseite und stellte sich direkt vor Charlie. Sein Gesicht war totenbleich, aber seine Augenlider zuckten nicht. »Hören Sie auf«, sagte er heiser. »Ich kann Ihren Ermittlungen auf der Stelle ein Ende setzen. Ich habe Shelah Fane ermordet, und ich bin bereit, dafür zu büßen.« Ein schockiertes Schweigen folgte seinen Worten. Ruhig, ungerührt und ganz regungslos starrte Chan dem Mann ins Gesicht. »Sie haben also Miß Fane ermordet?« »Ja.« »Aus welchem Grund?« »Ich wollte, daß sie zu mir zurückkehrte. Ich konnte ohne sie nicht leben. Ich flehte sie an und bettelte – und sie hörte mir gar nicht richtig zu. Sie lachte mich aus, sie sagte, ich hätte überhaupt keine Chance. Sie hat mich dazu getrieben – ich habe sie umgebracht. Ich mußte es einfach tun.« »Womit haben Sie sie denn ermordet?« »Mit einem Messer, das ich für das Theaterstück bei mir trug.« »Und wo befindet es sich jetzt?« »Ich habe es auf dem Weg zur Stadt in einen Sumpf geworfen.« »Können Sie mir Stelle zeigen?« »Ich kann es versuchen.« Chan wandte sich ab. Alan Jaynes war aufgesprungen. »Zehn nach elf«, rief er. »Ich kann das Schiff gerade noch erreichen, wenn ich mich beeile, Inspektor. Sie werden mich doch jetzt nicht mehr aufhalten?«
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»Doch«, erwiderte Chan. »Spencer, wenn dieser Mann sich anschicken sollte wegzugehen, stellen Sie ihn bitte unter Arrest!« »Sind Sie verrückt?« schrie Jaynes. »Sie haben doch jetzt Ihr Geständnis, oder etwa nicht…?« »Was das anbelangt«, sagte Charlie, »so warten Sie doch bitte einen Augenblick.« Er wandte sich wieder an Fyfe, der ruhig neben ihm stand. »Mr. Fyfe, Sie haben Pavillon um acht Uhr vier verlassen?« »Ja.« »Zu diesem Zeitpunkt hatten Sie Shelah Fane schon ermordet?« »Ja.« »Sie fuhren dann ins Theater und waren um zwanzig nach acht auf der Bühne?« »Ja. Das habe ich Ihnen doch schon alles erzählt.« »Und der Bühnenleiter wird beschwören, daß Sie um zwanzig nach acht dort waren?« »Natürlich – natürlich.« Chan starrte ihn an. »Um acht Uhr zwölf«, sagte er, »wurde Shelah Fane aber noch lebendig und wohlauf gesehen.« »Was soll denn das heißen?« schrie Tarneverro. »Entschuldigen Sie bitte – ich unterhalte mich gerade mit diesem Herrn. Um zwölf nach acht, Mrs. Fyfe, wurde Shelah Fane noch lebend gesehen. Wie erklären Sie sich das?« Fyfe ließ sich auf einen Stuhl fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Chan freundlich. »Sie wollen mir weismachen, daß Sie Shelah Fane ermordet haben. Dabei haben Sie als einziger von allen hier Anwesenden ein perfektes Alibi.«
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Kapitel 9
Achtzehn wichtige Minuten Niemand sagte etwas. Draußen brach sich die seidige Brandung – wie Jimmy Bradshaw sich ausgedrückt hatte – wieder und. wieder am Korallensand. Das Tosen verklang, und in dem überfüllten Zimmer hörte man keinen Laut außer dem Ticken einer, kleinen Uhr auf dem selten benutzten Kamin. Mit einer verzweifelten Geste ging Alan Jaynes auf ein Tischchen zu, zündete ein Streichholz an und hielt es an eine seiner kleinen Zigarren. Charlie trat zu Fyfe und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Warum haben Sie eine Tat gestanden, die Sie gar nicht begangen haben?« fragte er. »Das möchte ich zu gern wissen.« Der Schauspieler gab keine Antwort, er blickte nicht einmal auf. Daraufhin wandte Charlie sich Tarneverro zu. »Shelah Fane wurde also um acht Uhr zwölf lebend gesehen?« sagte der Wahrsager verbindlich. »Macht es Ihnen etwas aus, mir zu gestehen, seit wann Sie das schon wissen?« Charlie lächelte. »Wenn Sie zufälligerweise Chinesisch verstünden«, erwiderte er, »so brauchte ich es Ihnen nicht erst zu erläutern.« Er ging zur Tür und rief nach Jessop. Als der Butler erschien, beauftragte er ihn, Wu Kno-ching sofort herzuschicken. »Ich tue jetzt etwas speziell für Sie, Mr. Tarneverro«, sagte er. »Sie sind ein rücksichtsvoller Mensch, Inspektor«, antwortete der Wahrsager. Der alte Chinese schlurfte ins Zimmer; er war ganz offenkundig in ziemlich mürrischer Laune. Sein sorg-
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fältig zubereitetes Abendessen war durch die Ereignisse dieses tragischen Abends ruiniert worden, und er war nicht in der Stimmung, die Philosophie des geduldigen K’ung-fu-tsze zu akzeptieren. Chan unterhielt sich zuerst wieder kurz auf kantonesisch mit ihm und wandte sich dann an Tarneverro. »Ich habe ihn gebeten, Aussage zu bestätigen, die er mir in Muttersprache gemacht hat, als ich ihn vorhin in diesem Zimmer verhörte«, erklärte er. »Wu, Sie haben mir erzählt, Sie hätten sich mit Jessop und Anna in der Küche aufgehalten, als Uhr acht schlug. Sie waren verärgert, weil Abendessen sich anscheinend zu Festmahl entwickelte, das nicht an bestimmte Zeit gebunden war, und auch, weil Alkoholschmuggler Ihrer Wahl noch nicht aufgetaucht war und Sie seinetwegen Ihr Gesicht verlieren würden. Stimmt das?« »Alkoholsmuggla seil spält«, stimmte Wu zu. »Aber um zehn nach acht erschien Ihr säumiger Freund keuchend mit heißersehnter Flüssigkeit. Während nun Jessop beginnt, dieses Gift genießbar und sogar schmackhaft zu machen, begeben Sie sich auf Suche nach Herrin.« Chan warf dem Wahrsager einen Blick zu. »Wu ist zwangloser Dienertyp, der überall mit großen, sanften Augen hereinplatzt. Charakteristisch für die Rasse.« An den Chinesen gewandt, fuhr er fort: »Sie finden Miß Shelah Fane allein im Pavillon. Sie verteidigen Ihre Ehre, indem Sie verkünden, daß Ihr Freund, der Alkoholschmuggler, zuletzt doch noch gekommen sei. Was sagte Miß Fane?« »Missie schauen auf Uhr, sagen zwölf Minuten nach acht vill Zeit für Smuggla kommen. Ich sagen schon vill Zeit, daß Abendessen kommen auf Tisch. Villeicht das können bald geschehen.«
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»Ja. Und sie befahl Ihnen zu gehen und sie nicht mit Ihren Sorgen zu belästigen. Also gingen Sie zurück in Küche. Das haben Sie mir doch vorhin erzählt, nicht wahr?« »Ja, Boß.« »Das stimmt doch alles, Wu?« »Ja, Boß. Wallum ich sollen erzellen Lügen, Boß.« »Ich gehen, Boß.« Als der alte Mann in seinen Samtpantoffeln leise das Zimmer verlassen hatte, drehte Charlie sich um und begegnete dem durchdringenden Blick des Wahrsagers. »Das alles ist äußerst interessant«, stellte Tarneverro kalt fest. »Als ich Ihnen die Sache mit der Uhr erklärt habe, was das also die reinste Zeitverschwendung. Sie wußten ja bereits, daß Shelah Fane nicht um zwei vor acht ermordet worden war.« Charlie legte versöhnlich eine Hand auf Tarneverros Arm. »Bitte nicht beleidigt sein. Ich wußte zwar, daß Miß Fane später noch lebend gesehen worden war, aber ich war mir doch nicht sicher, wie man Uhr manipuliert hatte. Deshalb hörte ich Ihrer logischen Erklärung neugierig und fasziniert zu. Konnte ich Ihnen danach unhöflich sagen, daß mir das alles schon bekannt war? Ein Gentleman ist immer höflich. Es war doch viel besser, Sie mit wohlverdienten Lobeshymnen zu überschütten, damit Sie in kraftvoller und siegessicherer Stimmung weitermachten.« »Tatsächlich?« bemerkte Tarneverro und zog sich zurück. Charlie ging auf den Vagabunden zu. »Mr. Smith«, sagte er, »Hier bin ich, Inspektor«, antwortete er. »Ich hatte schon befürchtet, daß Sie mich ganz vergessen. Was kann ich jetzt für Sie tun?«
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»Vorhin haben Sie interessante Wiedergabe von Gespräch begonnen, das zwischen diesem Herrn mit bandgeschmückter Hemdbrust und der Dame, die er heute abend im Pavillon getroffen hat, stattfand. An entscheidender Stelle wurden Sie brutal unterbrochen. Ich möchte, daß Sie jetzt in Ihrem Bericht fortfahren.« Fyfe stand auf und starrte das menschliche Wrack in der Samtjacke intensiv an. Smith erwiderte den Blick, und seine blassen grauen Augen bekamen einen nachdenklichen, listigen Ausdruck. »O ja«, sagte er langsam, »ich wurde unterbrochen. Aber daran bin ich schon gewöhnt. Sicher – sicher, ich habe Ihnen gesagt, daß Tch die beiden miteinander sprechen hörte. Nun, ich brauche jetzt eigentlich gar nicht erst weiterzuerzählen. Ich habe dem, was der Herr Ihnen eben gesagt hat, nichts hinzuzufügen.« Fyfe wandte sich ab. »Er beschwor sie, zu ihm zurückzukehren – sagte ihr, daß er sie liebe usw. Und sie hörte ihm nicht zu. Er tat mir ziemlich leid – ich bin selbst schon in einer derartigen Situation gewesen. Ich hörte sie sagen: ›O Bob, was soll das für einen Sinn haben?‹ Er redete weiter auf sie ein. Ab und zu schaute er auf die Uhr. ›Meine Zeit ist um‹, sagte er schließlich. ›Ich muß gehen. Wir werden später weiterdiskutieren. ‹ Ich hörte, wie die Tür zufiel…« »Und die Frau war allein im Zimmer – lebend? Sind Sie dessen ganz sicher?« »Ja – der Vorhang flatterte – ich habe sie gesehen, nachdem er fort war. Sie bewegte sich im Zimmer hin und her.« Mit erstauntem Stirnrunzeln warf Charlie Robert Fyfe einen Blick zu. »Sie brauchen sich nicht mit einem Alibi zu begnügen, denn jetzt haben Sie noch ein zwei-
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tes. Ich kann Sie einfach nicht verstehen, Mr. Fyfe.« Der Schauspieler zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich selbst kaum verstehen, Inspektor. Vielleicht ein Temperamentsausbruch. Wir Bühnenleute neigen dazu, übermäßig dramatisch zu sein.« »Sie ziehen also Ihr Geständnis zurück?« »Was bleibt mir denn anderes übrig?« Der Blick, den der gepflegte Schauspieler mit dem zerlumpten Vagabunden tauschte, entging Chan nicht. »Andere haben die Sache ja schon für mich erledigt. Ich habe Shelah Fane nicht ermordet – das stimmt schon. Aber ich hielt es für besser, wenn…« »Wenn was?« »Nichts.« »Sie dachten, es wäre besser, wenn meine Ermittlungen nicht weitergingen?« »Keineswegs.« »In Unterhaltung mit Ihrer früheren Frau kam etwas zur Sprache, wovon Sie befürchteten, daß dieser Vagabund es gehört haben könnte. Etwas, das Sie verheimlichen wollen.« »Sie haben eine kühne Fantasie, Inspektor.« »Ich habe auch Angewohnheit, Tatsachen zu entdecken, die manche Leute verbergen wollen. Bis jetzt waren Ihre Bemühungen erfolgreich – aber wir sind noch nicht fertig miteinander, Mr. Fyfe.« »Ich stehe Ihnen jederzeit zu Diensten, Sir.« »Herzlichen Dank. Ich hoffe nur, daß Ihre Dienste bei unserer nächsten Begegnung meinem bescheidenen Ich mehr nützen werden.« Er wandte sich an Smith. »Und was Sie angeht, so glaube ich – obwohl es mich zutiefst schmerzt, eine so grobe Bemerkung machen zu müssen – daß Sie sehr viele Lügen mit Wahrheit
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vermischen.« Der Vagabund zuckte die Achseln. »Da haben wir es schon wieder – Sie beurteilen einen Menschen nach seiner Kleidung.« »Nicht nach Ihrer Kleidung, die schweigt, sondern nach Ihrer Zunge, die redet«, berichtigte Charlie. »Mr. Spencer, nehmen Sie diesen Mann bitte zur Polizeistation mit und nehmen Sie ihm Fingerabdrücke ab.« »So viele Aufmerksamkeiten«, warf Smith ein. »Ich hoffe nur, daß sie mir nicht den Kopf verdrehen.« »Danach«, fuhr Chan fort, »können Sie ihn laufen lassen – vorläufig.« »In Ordnung, Charlie«, sagte Spencer. »Noch etwas. Warten Sie einen Augenblick, damit ich Ihnen alle hier Anwesenden vorstellen kann.« Feierlich führte er diese ziemlich lange Zeremonie durch. »Sie haben auch Butler und Koch gesehen. Es gibt da noch ein Dienstmädchen, lassen Sie es sich noch kurz vorstellen, bevor Sie gehen. Von der Polizeistation aus begeben Sie sich unverzüglich zu Pier Nummer Sieben, von dem die ›Oceanic‹ um Mitternacht ablegt. Niemand, den Sie in diesem Hause gesehen haben, darf die Insel auf diesem Schiff verlassen. Haben Sie verstanden?« »Sicher, Charlie – ich werde schon dafür sorgen.« Jaynes trat vor. »Ich möchte Sie daran erinnern, daß mein Gepäck sich an Bord dieses Schiffes befindet – zum Teil im Laderaum…« Charlie nickte. » Gut, daß Sie davon sprechen. Mr. Spencer, kümmern Sie sich bitte darum, daß Mr. Jaynes’ Gepäck aus seiner Kajüte an Land gebracht und Ihnen übergeben wird. Und veranlassen Sie bitte auch, daß Gepäck aus Laderaum im Hafen von San
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Francisco für den Herrn aufbewahrt wird. Sagen Sie, er sei von wichtigen Geschäften hier aufgehalten worden und müsse eventuell noch einige Zeit in Honolulu verbringen. Sind Sie damit einverstanden, Mr. Jaynes?« »Ich bin keineswegs damit einverstanden«, brummte der Brite. »Aber ich nehme an, daß ich das Beste daraus machen muß.« »Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig«, bestätigte Chan. »Kashimo, du wirst Mr. Spencer in Innenstadt begleiten. Deine leidenschaftliche Arbeit in diesem Haus ist für heute nacht beendet. Du ziehst dich ruhmbedeckt zurück – und wenn du unerwartet durchs Fenster zurückkommst, wirst du dich für immer zurückziehen müssen. Denk daran!« Der Detektivlehrling nickte und folgte Spencer und dem Vagabunden nach draußen. Nun trat Robert Fyfe auf Chan zu. »Ist meine Anwesenheit hier noch länger erforderlich?« erkundigte er sich. Charlie sah ihn nachdenklich an. »Ich glaube nicht. Sie können gehen. Wir beide werden uns unterhalten, wenn ich mehr Muße dazu habe.« »Jederzeit, Inspektor.« Fyfe ging zur Tür und schob die Vorhänge auseinander. »Ich wohne im WaioliHotel, in der Fort Street«, fügte er hinzu. »Kommen Sie, wann immer Sie wollen. Gute Nacht.« Er ging in den Vorraum hinaus, von wo man die Stimmen von Spencer und dem Dienstmädchen hörte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und einen Augenblick später brachen auch die beiden Polizeibeamten mit Smith auf. Charlie betrachtete die müde Gruppe im Wohnzimmer.
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»Kopf hoch, es dauert nicht mehr lange«, sagte er. »Wir geben jetzt Mr. Spencer großzügigen Vorsprung für seine Fahrt zum Hafen, und dann wird es mir ein großes Vergnügen sein, diese Gesellschaft endlich aufzulösen. In der Zwischenzeit gibt es noch einiges zu klären. Seit ich Sie zuerst verhört habe, mußten manche Ansichten revidiert werden. Damals schien es festzustehen, daß Tragödie sich um acht Uhr zwei ereignet hatte. Inzwischen wissen wir aber, daß schreckliches Ereignis irgendwann zwischen acht Uhr zwölf und halb neun eingetreten ist. Achtzehn Minuten also – achtzehn wichtige Minuten. Jeder von Ihnen muß sich fragen: Was habe ich in diesen achtzehn Minuten getan?« Er machte eine Pause. Seine Augen leuchteten, und er wirkte aufgeschlossen und lebhaft – für seine Begriffe. Die Chinesen sind nachts in ihrer besten Verfassung; es ist ihre Lieblingszeit. Aber nur er war voller Energie – die anderen waren erschöpft und mutlos; das Makeup der Damen wirkte unnatürlich und abstoßend über der Blässe ihrer Müdigkeit. »Achtzehn wichtige Minuten«, wiederholte Chan. »Miß Dixon, Miß Julie und Mr. Bradshaw vergnügten sich fröhlich in den Wellen und hielten sich zwischendurch an Strand auf. Dort saß Mrs. Ballou und vertrieb sich die Zeit bis zum Abendessen. In den letzten zehn dieser Minuten wanderte Mr. Ballou umher, niemand kann sagen, wo…« »Ich kann es Ihnen sagen«, fiel Ballou ihm ins Wort. »Ich kam in dieses Zimmer – der Butler kann das bestätigen. Ich schlenderte herein und rauchte eine Zigarette, die er mir gab.« »Blieb er bei Ihnen, während Sie rauchten?«
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»Nein. Er zündete sie mir an und ging hinaus. Als er zurückkam, saß ich noch immer auf demselben Stuhl…« »Soll ich das notieren?« fragte Chan lächelnd. »Es ist mir ganz egal, ob Sie es notieren oder nicht.« Charlie holte ein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Tropennacht machte allmählich ihrem Ruf alle Ehre. »Ich wende mich nunmehr den vier Herren zu, deren Alibis so grausam zerstört wurden. Ich weiß, wo Sie sich um zwei vor acht aufhielten, aber danach…« »Fangen Sie mit mir an«, sagte Tarneverro. »Sie sahen noch, wie ich mich dem Paar in der Hotelhalle anschloß – es sind alte Freunde aus Australien. Nachdem Sie weggegangen waren, blieben wir noch einige Minuten in der Halle, dann schlug ich vor, auf die Veranda hinauszugehen, die dem Palmengarten gegenüberliegt. Dort saßen wir eine Zeitlang und plauderten. Als ich schließlich auf meine Uhr sah, war es genau halb neun. Ich wies auf die Zeit hin und sagte, daß ich jetzt leider gehen müsse. Wir gingen alle hinein, ich lief auf mein Zimmer, um meinen Hut zu holen, und als ich wieder ins Foyer kam, traf ich Sie in der Nähe des Eingangs.« Charlie studierte sein Gesicht. »Ihre alten Freunde werden das beschwören können?« »Ich sehe keinen Grund, warum sie es nicht tun sollten. Sie wissen ja, daß es die Wahrheit ist.« Chan lächelte. »Ich beglückwünsche Sie, Mr. Tarneverro.« »Ich beglückwünsche mich selbst, Inspektor. Sie werden sich ja vielleicht noch daran erinnern, daß ich Ihnen gesagt habe, ich hätte noch einen anderen
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Baum.« »Mr. Jaynes«, wandte Chan sich an den Briten. Jaynes zuckte hoffnungslos mit den Schultern. »Ich habe kein Alibi«, sagte er. »Während dieser achtzehn Minuten lief ich allein am Strand entlang. Machen Sie damit, was Sie wollen. Ich bin nicht hier gewesen.« »Mr. Van Horn – Sie waren doch hier?« fragte Chan den Filmschauspieler. »Ja, so ein Pech«, gab Van Horn zu. »Zum erstenmal in einer langen und ehrenvollen Karriere bin ich zu einer Party vor der festgesetzten Zeit gekommen. Es wird mir eine Lehre sein – das können Sie mir glauben.« »Es war doch, wenn ich mich recht erinnere, Viertel nach acht, als Jessop Ihnen die Tür öffnete?« »So ungefähr – ja. Er sagte mir, daß die Gesellschaft – oder was davon schon da war – sich zum Strand begeben hätte. Ich trat auf den Rasen hinaus. Ich sah Licht in einem Gebäude, von dem Jessop mir sagte, es sei ein Sommerhaus, und eigentlich wollte ich dorthin gehen. Bei Gott, hätte ich es nur getan! Aber ich hörte Stimmen vom Ufer her und begab mich zum Strand. Ich setzte mich zu Rita Ballou – aber das wissen Sie ja alles schon.« Chan nickte. »Es bleibt jetzt nur noch einer. Mr. Martino?« Der Filmdirektor runzelte die Stirn. »Wie Huntley und Mr. Jaynes«, sagte er, »habe auch ich kein Alibi. Sie haben mich genauso ruiniert wie diese beiden, als Sie die acht-Uhr-zwei-Theorie aufgaben.« Er holte ein Taschentuch aus seiner Seitentasche und wischte sich die Stirn ab. »Nachdem Jaynes mich verlassen hatte und zum Strand gerannt war, saß ich in einer der Hol-
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lywoodschaukeln am Wasser. Vermutlich hätte ich mich eifrig um ein gutes Alibi bemühen müssen, aber ich bin nicht so gewitzt wie unser guter Mr. Tarneverro.« Er warf dem Wahrsager einen unfreundlichen Blick zu. »Ich saß deshalb ganz allein da. Die Szenerie gefiel mir und ich wünschte, ich könnte sie mit der Kamera einfangen – den purpurnen, sternenübersäten Himmel, die gelben Lampen entlang des Wassers, das schwarze Massiv von ›Diamond Head‹. Ein Farbfilm – ihn herzustellen wird in absehbarer Zeit möglich sein. Ich dachte mir zum Spaß ein mögliches Drehbuch dazu aus – auf Autoren kann man sich ja auch nicht absolut verlassen. Als ich dann auf meine Uhr schaute, war es acht Uhr fünfundzwanzig, deshalb ging ich in mein Zimmer hinauf, um mich aufzufrischen und meinen Hut zu holen. Dann traf ich Sie und Tarneverro und erfuhr von Ihnen die Neuigkeit, daß Shelah Fane ermordet worden war.« Charlie betrachtete den Direktor nachdenklich. Plötzlich wurde er von Tarneverro beiseitegeschoben. »Sie haben da auf der Stirn eine sehr häßliche Schramme, Martino«, rief der Wahrsager. Bestürzt fuhr sich der Direktor mit der Hand über die Stirn und mußte feststellen, daß die Hand rote Spuren aufwies. »Zum Teufel«, sagte er, »das ist eigenartig…« »Sie sollten lieber das Taschentuch, das Sie eben benutzt haben, Inspektor Chan geben.« »Welches Taschentuch?« Martino zog das Tuch wieder aus seiner Tasche hervor, mit dem er sich kurz zuvor die Stirn abgewischt hatte. »Oh, das da!« »Geben Sie es mir, bitte«, sagte Charlie. Er breitete das seidene Quadrat auf dem Tisch aus und holte sein
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Vergrößerungsglas. Er untersuchte die Mitte des Quadrats genau und fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Dann blickte er auf. »Eine eigenartige Sache, Mr. Martino«, bemerkte er. »In Stoffäden befinden sich einige dünne Glassplitter. Wie erklären Sie sich das?« Martino stand eilig auf und beugte sich mit ernstem Gesicht über den Tisch. »Ich kann es mir überhaupt nicht erklären«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, wie dieses Taschentuch in meine Tasche gekommen ist.« Chan beobachtete ihn genau. »Gehört es denn nicht Ihnen?« erkundigte er sich. »Ganz bestimmt nicht«, erwiderte der Direktor. »Ich habe in meiner Abendgarderobe immer zwei Taschentücher. Eins hier« – er deutete auf seine Brusttasche, aus der die Spitzen eines Taschentuchs herausschauten – »und ein zweites in meiner Hüfttasche.« Er holte es hervor. »Ich brauche ganz bestimmt kein drittes. Ich griff ganz zufällig in meine Seitentasche, meine Hand berührte das Tuch, und so benutzte ich es ganz gedankenlos. Aber es gehört nicht mir.« »Eine sehr wahrscheinliche Geschichte«, spottete Tarneverro. »Mein lieber Tarneverro«, erwiderte der Direktor, »wenn Sie so viele Filme gedreht hätten wie ich, würden Sie wissen, daß die Wahrheit oft weniger wahrscheinlich klingt als alle Erfindungen.« Er hob das kleine Seidenquadrat hoch und übergab es Charlie. »Übrigens befindet sich in einer Ecke ein Wäschezeichen.« »Ich weiß«, nickte Chan. Er betrachtete einen Augenblick den winzigen Buchstaben ›B‹, der mit schwarzer Tinte auf die Seidenkante geschrieben war. Er warf Wilkie Ballou einen Blick zu. Der Pflanzer gab seinen
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Blick zurück, holte aus seiner Tasche ein Taschentuch heraus und wischte sich demonstrativ die Stirn.
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Kapitel 10
›Für Shelah von Denny‹ Charlie zuckte mit seinen breiten Schultern und wandte sich wieder Martino zu. Das Gesicht des Direktors war noch röter als gewöhnlich, und er atmete schwer. »Möchten Sie«, fragte Chan, »vielleicht Erklärung bezüglich Augenblick abgeben, in dem dieser Gegenstand Ihnen Ihrer Meinung nach zugeschoben wurde?« Martino überlegte. »Als wir vorhin das Eßzimmer verließen«, sagte er, »drängten wir uns alle vor der Tür. Da hatte ich das Gefühl, als zerrte jemand ein wenig an meiner Tasche.« »Wer befand sich in diesem Augenblick ganz in Ihrer Nähe?« »Schwer zu sagen. Alle standen dicht beieinander. Dies ist eine folgenschwere Angelegenheit, deshalb möchte ich nichts Falsches sagen.« Er machte eine Pause und starrte den Wahrsager an. »Ich erinnere mich aber, daß Mr. Tarneverro ganz in meiner Nähe war.« »Soll das etwa eine Anschuldigung sein?« fragte Tarneverro kalt. »Nicht direkt. Ich bin mir nicht ganz sicher.« »Sie wären aber nur allzu gern ganz sicher, nicht wahr?« Martino lachte. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, mein Freund. Sie wissen ja, daß ich für Sie nicht viel übrig habe. Wenn es nach mir ginge, hätte man Sie schon längst aus Hollywood davongejagt.« »Statt dessen laufen Sie überall herum und warnen die Frauen heimlich vor mir.« »Was meinen Sie mit heimlich? Ich habe es ganz offen
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getan, das wissen Sie genau. Ich habe ihnen empfohlen, sich von Ihnen fernzuhalten…« »Weshalb?« »Der Ausdruck Ihrer Augen gefällt mir überhaupt nicht, mein Freund. Was haben Sie der armen Shelah heute morgen gesagt? Was hat sie Ihnen heute morgen erzählt?« »Darüber werde ich mich mit Ihnen ganz bestimmt nicht unterhalten. Sie saßen also am Strand, am Meer, nicht wahr?« »Oh, bilden Sie sich auf Ihr Alibi nur nicht zuviel ein«, schrie Martine »Wie kommt es eigentlich, daß Sie es so ganz zufällig genau passend und fertig zur Hand hatten? Haben Sie wieder einmal in die Zukunft gesehen, wie?« »Aber meine Herren, meine Herren«, protestierte Charlie. »Auf diese Weise erreichen wir garantiert nichts. Ich stelle fest, daß Nerven sehr angegriffen sind, und ich freue mich, daß ich jetzt Türen aufstoßen und Verhör endlich beenden kann. Sie können alle gehen.« Allgemeiner Aufbruch in den Vorraum folgte seinen Worten. Chan ging ihnen nach. »Nur noch eines«, sagte er, »obwohl ich sicher bin, daß Klang meiner Stimme für Ihre Ohren inzwischen sehr lästig ist. Vergessen Sie bitte nicht, daß Sie auf kleiner Insel inmitten des weiten Pazifiks bleiben müssen. Versuch von jemand, an Bord eines Schiffes zu gehen, wird uns sofort gemeldet werden und dunklen Argwohn erregen. Bleiben Sie hier, ich bitte Sie darum, und genießen Sie Schönheit dieses Fleckchens Erde. Mr. Bradshaw wird Ihnen zu diesem Thema jederzeit und überall mit großem Vergnügen einen Vortrag halten.«
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»So ist es«, bestätigte der junge Mann. »Schlendern Sie am palmengesäumten Ufer entlang, vergessen Sie Ihre Sorgen. Irgendwo ist jetzt tiefer Winter…« »Im Juli?« fragte Van Horn. »Natürlich, zum Beispiel am Südpol. Vergessen Sie Hollywood! Denken Sie daran – Hawaii hat das Klima, das Kalifornien nur zu haben behauptet.« Die Tür fiel hinter Ballou und seiner Frau ins Schloß. Van Horn, Martino und Jaynes folgten ihnen sogleich. Bradshaw kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Julie und Diana zurückgeblieben waren, während der Wahrsager und Charlie im Vorraum standen. Tarneverro nahm seinen Hut. »Inspektor«, sagte er, »Sie haben mein Mitgefühl. Sie haben es mit einem komplizierten Fall zu tun.« »Aber ich habe wenigstens Ihre Hilfe«, erinnerte ihn Chan. »Dieser Gedanke tröstet mich.« Tarneverro schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Sie überschätzen meine Fähigkeiten. Aber soweit ich vermag, stehe ich Ihnen zur Seite. Wann sehe ich Sie wieder?« »Ich werde Sie morgen vormittag aufsuchen«, antwortete Chan. »Wir werden gutes, langes Gespräch führen. Vielleicht wird jeder von uns neue Ideen anzubieten haben, wenn wir uns über Nacht intensiv mit Angelegenheit beschäftigen.« »Ich will versuchen, meinen Teil dazu beizutragen«, beteuerte Tarneverro und ging hinaus. Einen Augenblick starrte Charlie noch auf die Tür, dann drehte er sich um und kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Miß Dixon«, sagte er, »darf ich noch eine Bitte an Sie richten? Würden Sie die Güte haben, mit mir hinaufkommen, mir die verschiedenen Zimmer zeigen und
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die Personen nennen, denen sie zugewiesen worden waren. Ich muß noch eine kleine Durchsuchung vornehmen, bevor ich ausruhen kann.« »Selbstverständlich«, willigte die Schauspielerin ein> »und da Sie schon von Ausruhen sprechen – ich hoffe, daß Sie mein Zimmer zuerst durchsuchen können. Ich bin nach diesem grauenvollen Abend total fertig.« Nachdem sie und Charlie das Zimmer verlassen hatten, ließ Julie sich hilflos auf einen Stuhl sinken. »Armes Ding«, sagte Mr. Bradshaw. »O Jimmy – es war wirklich ein grauenvoller Abend, nicht wahr?« »Das kann man laut sagen. Julie, du mußt scharf nachdenken. Du hast Shelah Fane besser gekannt als jeder andere. Hast du denn gar keine Ahnung, wer diese schreckliche Tat begangen haben könnte?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nicht vorstellen. Natürlich hatte Shelah Feinde – wie alle erfolgreichen Menschen –, sie wurde beneidet, vielleicht sogar gehaßt. Aber ich hätte niemals auch nur im Traum daran gedacht, daß jemand sie so sehr hassen könnte. Es ist ganz einfach unvorstellbar!« Der junge Mann setzte sich neben sie. »Laß es uns für eine Weile vergessen. Was ist mit dir? Was wirst du jetzt tun?« »Oh – vermutlich werde ich wieder dorthin zurückkehren, woher ich gekommen bin.« »Und woher bist du gekommen? Du hast es mir noch nicht erzählt.« »Aus einer Pension für Theaterleute in Chicago – ich reiste mit meiner Mutter umher, als sie – als sie mich verließ. Meine ganze Familie hat etwas mit der Bühne zu tun, weißt du – Vater auch. Mutter nannte San
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Francisco ihr Zuhause, obwohl sie es selten sah. Aber sie ist dort geboren – wie du weißt, sind viele gute Schauspieler dort geboren. Und sie…« »Ich wette, sie war eine der besten«, sagte Jimmy Bradshaw. »Wenigstens ich glaubte das. Ich habe noch eine Großmutter dort – sie ist zweiundsiebzig, aber sie geht manchmal noch auf Tournee – sie ist so ein Schatz, Jimmy. Ich glaube, ich werde zu ihr fahren und mir irgendeine Arbeit suchen – ich könnte es wahrscheinlich in einem Büro zu etwas bringen. Großmutter wäre bestimmt glücklich, mich um sich zu haben – wir beide sind die einzigen, die von unserer Familie übriggeblieben sind.« Bradshaw faßte sich ein Herz. »Wenn sonst niemand dreinzureden hat, darf ich dann mit ein paar Worten Hawaii anpreisen? Hier gibt es überall Poesie und berauschende Schönheit. Das Klima sorgt für Glück und Frohsinn, für Sonnenschein, Regenbogen und Purpurhügel. Hier gibt es keine Hitzeschläge und keinen Schnee. Honolulu hat für jeden seine eigenen Schönheiten. Was die…« »Jimmy, was in aller Welt…« »Was die Menschen angeht – wo die Natur freundlich ist, kann der Mensch nicht umhin, es auch zu sein. Du wirst feststellen…« »Ich verstehe dich nicht, Jimmy.« »Es ist doch ganz einfach. Ich habe diesen Ort schon fünfzigtausend Touristen verkauft, und jetzt möchte ich ihn auch dir verkaufen. Als Ersatz für Großmutter, weißt du. Zweifellos ist sie ein Schatz, wie du sagst. Das bin ich vielleicht nicht, aber ich bin noch jung. Denn natürlich verkaufe ich dir nicht nur Honolulu. Ich
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bin im Preis inbegriffen, weißt du. Wie wäre das, Julie? Ein kleiner Bungalow, mit zwei Hypotheken belastet, von Kletterpflanzen umrankt…« »Willst du – willst du damit sagen, daß du mich liebst, Jimmy?« fragte das junge Mädchen. »Du lieber Himmel – habe ich das etwa ausgelassen? Ich werde das ganze verdammte Stück neu schreiben müssen. Natürlich liebe ich dich. Wer könnte dich nicht lieben? Vielleicht ist das nicht gerade der passendste Augenblick, um es zu sagen, aber ich will nicht, daß du denkst, ich hätte die Angewohnheit, Dinge aufzuschieben, nur weil ich in geographischen Breiten lebe, wo man mit Vorliebe dem Müßiggang huldigt. Ich bin ganz verrückt nach dir, und bevor du deiner Großmutter schreibst, daß sie dich am Schiff abholen soll – vielleicht ist sie sowieso gerade irgendwo auf Tournee –, möchte ich, daß du über Hawaii und über mich etwas nachdenkst. Wirst du das tun, Julie?« Sie nickte. »Ja, Jimmy.« »Das genügt mir«, lächelte er. Leise trat Chan ins Zimmer, und der junge Mann erhob sich. »Na, Charlie, sind Sie hier fertig? Ich habe mein Auto heute abend meinem Bruder überlassen, deshalb werde ich Sie in Ihrer berühmten Nuckelpinne mit meiner Anwesenheit beehren.« »Sie sind mir außerordentlich willkommen«, sagte Chan. »Ja, ich fahre gleich in Stadt. Da ist nur noch eine Kleinigkeit…« Anna kam eilig herein. »Miß Dixon hat gesagt, daß Sie mich sprechen wollen«, sagte sie zu Chan. Er nickte. »Eine unbedeutende Angelegenheit. Sie haben mir vorhin erzählt, daß nach dem Mord ein bestimmter Ring an Miß Fanes Hand fehlte. Ein Sma-
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ragdring.« »Ja, Sir.« Julie O’Neill beugte sich atemlos vor; ihre Augen waren weit aufgerissen. »Ist das der Ring?« Chan zog plötzlich einen Platinreif hervor, der mit einem außergewöhnlichen Stein geschmückt war, und der in dem hell beleuchteten Zimmer grün funkelte. »Das ist er, Sir.« Chan wandte sich an Julie. »Es tut mir sehr leid, Sie belästigen zu müssen. Aber könnten Sie mir freundlicherweise erklären, wie es kommt, daß ich dieses Schmuckstück in der Schublade Ihrer Frisierkommode gefunden habe?« Das junge Mädchen atmete schwer, und Jimmy sah sie erstaunt an. »Ich bedaure sehr, diese Frage stellen zu müssen, aber ich würde doch sagen, daß Erklärung notwendig ist.« »Es ist alles ganz einfach«, beteuerte Julie. »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Charlie. »Aber erklären Sie mir bitte, warum es so einfach ist.« »Nun gut.« Sie zögerte. »Nachdem jetzt nicht mehr so viele Fremde hier sind, kann ich ganz offen sprechen. Shelah war immer in Geldknappheit. Irgendwie bedeutete Geld ihr nichts, es zerrann ihr unter den Fingern, es löste sich anscheinend in Luft auf, kaum daß sie es verdient hatte. Von der Südsee war sie in ihrem üblichen Zustand zurückgekehrt – mehr oder weniger abgebrannt. Alle betrogen sie ständig, bestahlen sie…« »Alle?« griff Chan auf. »Meinen Sie damit die Dienstboten?« »Einige davon, ja – wenn sie die Gelegenheit dazu hatten. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Shelah kam also, wie immer, in Geldnot hier an. Sie hatte den
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ganzen Vorschuß, den sie von der Filmgesellschaft bekommen konnte, bereits ausgegeben – die Gesellschaft war in letzter Zeit nicht mehr so großzügig wie früher. Gleich nachdem sie heute hier angekommen war, rief sie mich und sagte, daß sie sofort Bargeld haben müsse. Sie gab mir diesen Ring und beauftragte mich, ihn – wenn möglich – für sie zu verkaufen. Ich sollte unverzüglich die Runde bei den Juwelieren machen – heute nachmittag. Aber ich schob die Sache auf. Ich war von diesem Auftrag nicht sehr begeistert. Ich hatte allerdings fest vor, ihn morgen früh auszuführen – und ich hätte es auch getan, wenn diese schreckliche Sache heute abend nicht geschehen wäre. So bin ich an den Ring gekommen.« Chan überlegte. »Sie hat Ihnen den Ring also gleich nach ihrer Ankunft gegeben? Um wieviel Uhr genau?« »Um acht Uhr früh.« »Und seitdem hatten Sie ihn die ganze Zeit?« »Ja, natürlich. Ich legte ihn in die Schublade – ich dachte, dort sei er sicher aufgehoben.« »Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« »Das ist alles.« Das Mädchen schien den Tränen nahe. Charlie wandte sich an das Dienstmädchen. »Sie können gehen, Anna«, sagte er. »Sehr wohl, Sir.« Anna warf dem jungen Mädchen einen forschenden Blick zu und ging hinaus. Charlie stieß einen schweren Seufzer aus. Obwohl er einer Rasse angehörte, die im allgemeinen Nachtmenschen sind, begann diese Nacht ihn nun doch zu ermüden. Er hielt den Ring ins Licht und betrachtete ihn durch sein Vergrößerungsglas. Auf der Innenseite entdeckte er eine Inschrift: ›Für Shelah von Denny. ‹ Hatte Denny Mayo also doch etwas mit diesem Fall zu
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tun? Chan zuckte die Achseln. Als er sich wieder umdrehte, stellte er fest, daß Julie still vor sich hin weinte. Bradshaw hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt. »Alles ist in Ordnung, Liebling«, versicherte der junge Mann.-»Charlie glaubt dir. Nicht wahr, Charlie?« Chan verbeugte sich tief. »Wie könnte ich angesichts von soviel Charme brutale Zweifel hegen? Miß Julie, ich bin zutiefst betrübt, daß Sie in so überreiztem Zustand sind. Mr. Bradshaw und ich werden jetzt aufbrechen und Sie dem Trost des Schlafes überlassen. Sie sind jung und werden bald einschlafen. Ich wünsche Ihnen von Herzen gute Nacht.« Er ging hinaus, und Bradshaw folgte ihm nach einigen leisen Abschiedsworten an Julie. Jessop, der ein Gähnen unterdrückte, aber höflich wie immer war, begleitete sie hinaus. Auf den Stufen blieb Charlie einen Augenblick stehen, blickte zum Himmel empor und atmete begierig die frische Luft ein. »Es fällt einem schwer, sich vorzustellen«, sagte er, »daß während langer, schmerzlicher Untersuchung in diesem Haus noch Sterne schienen und laue Tropennacht ihren Lauf nahm wie gewöhnlich. Was habe ich nicht alles getan? Eine kurze Erholungspause wird so herrlich sein wie leise Musik im Regen.« Sie stiegen in Charlies Auto, das einsam und verlassen in der Auffahrt stand. »Ein ziemliches Durcheinander, nicht wahr, Charlie?« meinte der junge Mann. Chan nickte. »Kopf schwirrt richtig. Ich habe viel erfahren und dennoch eigentlich nichts.« Sie fuhren langsam am Moana-Hotel vorüber, das jetzt in ungewöhnliche Dunkelheit gehüllt war. Die rosa Mauern des
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Grand Hotels leuchteten im Mondschein in neuer Pracht. »Als Sie mich angerufen haben«, berichtete Chan, »war ich gerade dabei, einen kleinen Fisch zu verzehren. Er schmeckte ganz ausgezeichnet. Und ich werde ihn nie wiedersehen.« »Eine Schande, Ihr Abendessen zu ruinieren«, pflichtete Jimmy bei. »Ich werde trotzdem noch ganz zufrieden sein, wenn Ihr Zeitungsbericht nicht auch noch meinen guten Ruf ruiniert«, sagte Charlie. »Wie werde ich bei diesem Mordfall dastehen? In strahlendem Siegerkranz oder in Sack und Asche?« »Ich habe die Morgenzeitung schon angerufen«, berichtete Bradshaw. »Wissen Sie, ich arbeite gelegentlich für sie. Sie hatten im Augenblick zu wenig Leute, und so habe ich es geschafft, die Geschichte bis jetzt geheimzuhalten. Nun werde ich mich an die Arbeit machen und selbst einen Artikel schreiben. Ich werde sagen, daß die Polizei noch keine Anhaltspunkte hat – das stimmt doch?« Charlie wäre um ein Haar auf den Bordstein gefahren. »Ist das alles, was Sie von Ihrer Arbeit verstehen? Sie werden nichts Derartiges schreiben. Die Polizei hat natürlich viele Anhaltspunkte und steht vor baldiger Verhaftung.« »Aber das ist doch ein alter Hut, Charlie. Und Ihren Worten nach zu schließen, stimmt es in diesem Falle gar nicht.« »Stimmt überhaupt selten bei einem Fall«, erinnerte ihn Chan. »Das müßten Sie eigentlich wissen.« »Nun gut. Ich werde es schreiben, Ihnen zu Gefallen. Übrigens, stimmen Tarneverros Andeutungen, daß er mit Ihnen zusammenarbeitet?«
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»Ja – er glaubt, sehr kluger Assistent zu sein.« »Er mag ja wirklich klug sein – aber sind Sie so versessen auf seine Hilfe?« Charlie zuckte die Achseln. »Der Vogel wählt den Baum, nicht der Baum den Vogel.« »Na ja, aber Tarneverro ist schon ein eigenartiger Vogel. Ich habe ein seltsames Gefühl, wenn ich ihn anschaue.« Eine Zeitlang fuhren sie schweigend dahin. »Eins steht jedenfalls fest«, sagte der junge Mann schließlich. »Tatsächlich?« fragte Chan. »Sagen Sie mir bitte, was das ist. Ich habe es anscheinend in der Eile total übersehen.« »Ich meine – Julie hat mit dieser Sache nichts zu tun.« Charlie grinste im Dunkeln. »Ich erinnere mich selbst noch gut daran.« »Woran?« »Jung zu sein – und blind vor Liebe. Da ich jetzt Vater von elf Kindern bin, liegt es natürlich schon einige Zeit zurück, daß ich mit Kopf in Wolken und heiß schlagendem Herzen herumlief. Aber Erinnerung bleibt.« »Unsinn«, protestierte Bradshaw. »Ich gehe ganz kühl an diese Sache heran – als purer Außenseiter.« »Dann mache ich demütigen Vorschlag, alten Mond von Hawaii sofort gründlich zu untersuchen«, kommentierte Chan. »Er muß magische Kraft verloren haben, die Sie immer so glühend beschreiben.« Er hielt vor dem Zeitungsbüro, und die Bremsen quietschten laut in der verlassen daliegenden Straße. Im Erdgeschoß des Gebäudes brannte nur ein einziges mattes Licht, aber hinter den hellen Fenstern in den oberen Stockwerken herrschte reges Treiben. Dort
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sortierten Männer die telegrafischen Neuigkeiten aus aller Welt – aus Europa, Asien, vom Festland –, Informationen, die so wichtig schienen, daß sie dieser kleinen Insel übermittelt wurden, die inmitten des großen Pazifiks friedlich schlummerte. Jimmy Bradshaw wollte schon aussteigen, zögerte dann aber. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Charlie. »Vermutlich können Sie es mir jetzt nicht zurückgeben, oder?« fragte er. »Nein«, antwortete Chan bestimmt. »Wovon sprechen Sie?« erkundigte sich der junge Mann unschuldig. »Von demselben wie Sie«, grinste Charlie. »Ich habe von dem Taschentuch gesprochen, das Sie dem Filmdirektor abgenommen haben.« »Ich auch«, erwiderte Charlie freundlich. »Sie wußten also, daß es mir gehört?« »Ich habe es vermutet. Initialbuchstabe ›B‹ befand sich darauf. Außerdem ist mir aufgefallen, daß Sie schwitzten und keine Anstalten machten, den Schweiß abzuwischen. Ich habe Ihre Beherrschung sehr bewundert – Sie haben kein einziges Mal Jackettärmel benutzt. Sie wollen mir bestimmt erzählen, daß es Ihnen aus der Tasche gestohlen wurde.« »So muß es gewesen sein.« »Und wann?« »Das weiß ich nicht, aber ich vermute, daß jemand es genommen hat, während ich schwimmen war.« »Sind Sie dessen ganz sicher?« »Nun, es scheint mir die einzig mögliche Erklärung zu sein. Aber ich vermißte es erst lange Zeit danach.« »Und erst sehr lange Zeit danach erwähnten Sie Sache mir gegenüber.«
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»Daran ist wieder mal meine verdammte Schüchternheit schuld«, lachte der junge Mann. »Ich konnte einfach das grelle Rampenlicht nicht ertragen. Aber lassen Sie mich für alle Fälle einen Blick darauf werfen.« Charlie gab ihm das Taschentuch, und Bradshaw betrachtete es sorgfältig unter der Lampe des Armaturenbrettes. »Es ist tatsächlich meins.« Er deutete auf das Wäschezeichen. »Das ist mein Kennbuchstabe bei der Wäscherei. Ich würde sagen, das ist eine ziemlich böse Sache.« Charlie nahm das Taschentuch wieder an sich. »Ich hätte guten Grund, Sie ins Gefängnis zu werfen«, stellte er fest. »Dann müssen Sie sich aber mit der Presse herumschlagen«, erinnerte ihn Bradshaw. »Überlegen Sie sich das gut, Charlie. Ich habe unseren erlesenen Gast nicht umgelegt. Das ist nicht meine Art von hawaiischer Gastfreundschaft.« Er zögerte. »Ich könnte dieses Taschentuch heute nacht gut gebrauchen.« »Ich auch«, antwortete Chan. »Na ja, dann wird eben mein Schweiß auf den unsterblichen Artikel tropfen, den ich gleich schreiben werde. Auf Wiedersehen, Inspektor.« »Auf Wiedersehen!« erwiderte Chan. »Und halten Sie bitte Taschentuch aus diesem Artikel und Ihren Gesprächen heraus, sonst werden Sie es mit mir zu tun bekommen.« »In Ordnung, Charlie. Es bleibt ein großes Geheimnis. Niemand weiß etwas davon außer uns beiden – und der Wäscherei.«
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Kapitel 11
Mitternacht in Honolulu Chan fuhr langsam zum Halekaua Haie am Ende der Bethel Street, wo sich das Gebäude der Polizei befand. Er stellte sein Auto ab und stieg die abgetretene Steintreppe hinauf. Im Zimmer des Kriminalkommissariats brannte Licht, und als er hineinging, traf er dort seinen Chef. »Hallo, Charlie«, sagte dieser. »Ich habe auf Sie gewartet. Ich war heute abend in Kalaua, darum konnte ich nicht mit Ihnen zum Strand kommen. Das ist ein schöner Schlamassel, nicht wahr? Haben Sie schon etwas herausgefunden?« Bekümmert schüttelte Chan den Kopf. Er schaute auf die Uhr. »Es ist eine lange Geschichte«, meinte er. »Trotzdem sollte ich sie wohl besser zu hören bekommen«, erwiderte sein Chef. Ihm fehlte es nicht an Energie. Die Mondscheinfahrt nach Kalaua war erholsam und erfrischend gewesen. Charlie setzte sich und begann mit seinem Bericht, während der Chef aufmerksam zuhörte. Er beschrieb zunächst den Schauplatz des Verbrechens, erzählte von der fehlenden Mordwaffe und dem erfolglosen Versuch des Mörders, den Zeitpunkt des Verbrechens auf acht Uhr zwei festzulegen. Als er von den Anhaltspunkten sprach, erwähnte er auch das Verschwinden der Diamantnadel, mit der die Orchideen gehalten worden waren. »Das ist wenigstens etwas«, nickte der Chef und zündete eine Zigarre an. Chan zuckte die Achseln. »Etwas, das wir nicht haben«, betonte er. Dann wiederholte er Shelah Fanes
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Geständnis von ihrer Anwesenheit beim Mord an Denny Mayo – die Geschichte, die sie Tarneverro, seiner Aussage nach, am Morgen erzählt hatte. »Ausgezeichnet – ganz ausgezeichnet«, rief der Chef. »Das liefert Ihnen das Motiv, Charlie. Wenn sie nur den Namen aufgeschrieben hätte, wie dieser Tarneverro es wollte…« Mit großer Überwindung berichtete Charlie von dem Zwischenfall, der zum Verlust des Briefes geführt hatte. Sein Chef sah ihn erstaunt und sehr mißbilligend an. »Ich hätte nie gedacht, daß Ihnen so etwas passieren könnte, Charlie. Es wird doch mit Ihnen nicht etwa abwärts gehen?« »Für kurze Zeit habe ich Verstand und damit Brief verloren«, gab Charlie reumütig zu. »Aber wie sich später herausstellte, spielte es keine große Rolle.« Sein Gesicht hellte sich auf, als er von der späteren Entdeckung des Briefes unter dem Teppich erzählte, des Briefes, dessen einziger Wert darin bestand, daß er Tarneverros Aussage bestätigte. Erberichtete weiter von der Zerstörung des Porträts, über dem Shelah Fane am Nachmittag geweint hatte. »Jemand wollte nicht, daß Sie es sehen«, stellte der Chef stirnrunzelnd fest. »Ich bin zu demselben Schluß gekommen«, stimmte Chan zu. Er beschrieb das Eintreffen Fyfes zu seinem offensichtlich zweiten Besuch innerhalb kurzer Zeit, dann brachte er das Gespräch auf den Vagabunden. »Wir haben ihm die Fingerabdrücke abgenommen und ihn dann laufen gelassen«, warf der Chef ein. »Er könnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun.« Chan nickte. »Mit dieser Annahme haben Sie zweifel-
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los recht.« Sein Bericht von Fyfes anschließendem, leicht widerlegbaren Geständnis verwirrte seinen Vorgesetzten offensichtlich. Dann erwähnte Chan das Taschentuch mit den verräterischen Glassplittern in Martinos Tasche und Bradshaws ziemlich verspäteten Anspruch auf sein Eigentum. »Das ist augenblicklicher Stand der Dinge«, schloß er ziemlich atemlos. Sein Chef beobachtete ihn mit amüsiertem Lächeln. »Nun, Charlie, manchmal hatte ich den Eindruck, daß Sie seit Ihrer Rückkehr vom Festland hier nicht ganz zufrieden wären«, sagte er. »Es war doch Ihrer Ansicht nach zu ruhig hier. Keine wichtigen Fälle wie drüben. Ein paar erschreckte Spieler auf einer Allee zu verfolgen – das war nicht gerade aufregend, oder? Honolulu war für Sie anscheinend zu klein geworden. Aber ich glaube, heute nacht ist es groß genug.« »Ich habe unangenehmes Gefühl, daß es viel zu groß sein könnte«, gab Chan zu. »Wie werde ich mit dem Fall fertig werden? Wenn Sie mich fragen, so ist es sehr schwieriger Fall.« »Wir dürfen uns davon nicht entmutigen lassen«; erwiderte der Chef lebhaft. Er wußte, auf wen er sich stützen konnte. Er sah voraus, daß er in den nächsten Tagen viel Unterstützung brauchen würde. Er warf seinem Inspektor einen abschätzenden Blick zu. Charlie machte einen schläfrigen und ziemlich erschöpften Eindruck - er hatte jetzt nichts Wachsames, nichts Kluges an sich. Der Chef tröstete sich mit Erinnerungen. Chan, so überlegte er, war immer klüger gewesen, als er aussah. Er überlegte. »Dieser Tarneverro, Charlie – was für ein Mensch ist er?« Chans Miene hellte sich auf. »Vielleicht berühren Sie
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damit Kernpunkt der ganzen Angelegenheit. Tarneverro wirkt dunkel wie regnerische Nacht, aber dieses Auftreten ist bei seinem Beruf erforderlich. Er hat einen wachen Verstand. Und er ist anscheinend ganz versessen darauf, armem Polizeibeamten wie mir zu helfen.« »Vielleicht ein wenig zu versessen?« Charlie nickte. »Ich habe darüber nachgedacht. Aber bedenken Sie – er hat als Alibi ein altes Ehepaar, mit dem er bis zum Augenblick zusammen war, als Mord entdeckt wurde. Ich werde Alibi morgen früh überprüfen, aber ich zweifle nicht daran, daß es stimmt. Nein, ich bin ziemlich sicher, daß er Haus von Shelah Fane nicht betreten hat, bevor ich ihn dorthin mitnahm. Andere Punkte entlasten ihn.« »Was zum Beispiel?« »Ich habe Ihnen doch erzählt, daß er mir vor dem Mord andeutete, wir könnten heute nacht Verhaftung in berühmten Mordfall vornehmen. Das wäre ungewöhnlich törichter Schritt gewesen, wenn er selbst den Mord plante. Und Tarneverro ist nicht töricht – ganz im Gegenteil. Außerdem deutet auch Tatsache, daß er mich auf die Sache mit der Uhr hingewiesen hat, darauf hin, daß er den aufrichtigen Wunsch hat zu helfen. Es war kluger Einfall von ihm – nicht sehr wichtig, weil ich durch Wu Kno-ching schon Bescheid darüber wußte –, aber dennoch ausgezeichneter Beweis dafür, daß er tatsächlich helfen will. Nein, ich glaube nicht, daß er schuldiger Mörder ist, und trotzdem…« »Trotzdem was, Charlie?« »Ich möchte im Augenblick noch nicht darüber sprechen. Es kann viel zu bedeuten haben – oder auch gar nichts.«
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»Haben Sie etwas gegen Tarneverro in der Hand?« fragte der Chef und warf Charlie einen durchdringenden Blick zu. »Was Mord angeht – nicht das geringste. Im Augenblick, als er verübt wurde, war Tarneverro bestimmt nicht am Tatort, davon bin ich überzeugt. Wenn man andere Dinge betrachtet – bitte gestatten Sie mir, sie noch ein paar Stunden zu überdenken, bevor ich Gedanken enthülle.« Der dicke Detektiv führte eine Hand zum Kopf. »Im Augenblick irre ich umher, in Verwirrung, Zweifel und Fragen versunken.« »Sie werden diesen Zustand überwinden müssen, Charlie«, sagte sein Chef freundlich, aber ziemlich bekümmert. »Die Ehre der Polizei steht auf dem Spiel. Wenn diese Leute damit anfangen, in unsere ruhige kleine Stadt zu kommen und sich hier gegenseitig umbringen, müssen wir ihnen unbedingt beweisen, daß sie nicht ungeschoren davonkommen. Ich verlasse mich auf Sie.« Chan machte eine Verbeugung. »Das habe ich schon befürchtet. Ich weiß Ehre zu schätzen und werde alles tun, was meine bescheidenen Fähigkeiten erlauben. Jetzt werde ich Ihnen ›gute Nacht‹ wünschen. Der Abend hat mich erschöpft wie eine lange Reise.« Er trat gerade in die alte, mitgenommene Vorhalle, als Spencer von draußen hereinkam. Chan blickte auf seine Uhr. »Ist die ›Oceanic‹ ausgelaufen?« »Ja – sie ist fort.« »Ich hoffe sehr, ohne einen unserer Freunde an Bord?« »Ich habe keinen an Bord gehen sehen – und ich wette, daß ich zuerst dort war. Allerdings ist einer dort
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noch aufgetaucht.« »Wer?« »Dieser Alan Jaynes. Er kam mit einem Auto vom Grand Hotel und holte sein Gepäck ab. Ich hörte ihn fluchen, als das Schiff ablegte. Ich half ihm, das Gepäck einzuladen, und er fuhr in sein Hotel zurück. Ich soll Ihnen etwas von ihm ausrichten.« »Und was?« »Er sagte, mit dem nächsten Schiff werde er abreisen, und selbst die ganze Hölle werde ihn nicht davon abhalten können.« Charlie lächelte. »Trotzdem werde ich dafür sorgen, daß besagter Ort über ihn hereinbricht, wenn er den Versuch unternimmt.« Er ging die Treppe zur Straße hinunter. Im Mondlicht sah er, daß der lustige Vagabund Smith auf ihn zukam. »Das war aber eine gute Idee, Inspektor«, sagte dieser Herr. »Sie lassen mich in die Polizeistation bringen, und dann werde ich so einfach entlassen. Wie soll ich jetzt in mein Schlafzimmer kommen? Ich bin den ganzen Weg dorthin heute schon einmal zu Fuß gegangen.« Charlie griff in seine Tasche und streckte dem Vagabunden seine Hand entgegen, auf der eine kleine Münze lag. »Sie könnten mit dem Trolleybus fahren«, schlug er vor. Smith warf einen kurzen Blick auf die Münze. »Ein Zehncentstück«, stellte er fest. »Zehn Cents. Ich kann doch nicht in einen Bus steigen und dem Fahrer ein Zehncentstück geben. Ein Gentleman muß mindestens einen Dollar bei sich haben, um sein Prestige zu wahren.«
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Müde, wie er war, mußte Chan lachen. »Tut mir sehr leid«, sagte er. »An Ihren Worten mag zwar viel Richtiges sein, aber ich halte es diesmal für klüger, Ihnen nur die Fahrt zu bezahlen. Es ist schon spät, und Sie müßen eigentlich in Lage sein, Ihre Würde heute nacht auch so bewahren zu können.« Eigensinnig schüttelte Smith den Kopf. »Ich brauche einen Dollar, um mein Prestige aufrechtzuerhalten«, beharrte er auf seiner Meinung. »Sie wollen sagen, daß Sie Drink brauchen«, sagte Chan achselzuckend. »Wenn Münze Ihnen nicht zusagt, stecke ich sie mit Ausdruck des Bedauerns wieder ein.« Er ging auf sein Auto zu. »Es tut mir sehr leid, daß ich in entgegengesetzte Richtung von Ihrer Couch unter Palmen fahre.« Smith war ihm gefolgt. »Nun ja«, sagte er, »vielleicht bin ich etwas zu empfindlich. Ich nehme das Zehncentstück.« Chan gab es ihm. »Nur geliehen, Inspektor. Ich werd’ es mir notieren.« Er eilte die Bethel Street in Richtung King Street entlang. Charlie starrte ihm nach und wollte schon in sein kleines Auto steigen. Doch dann entschloß er sich, es stehen zu lassen, und ging Smith nach. Die leeren Straßen waren so hell wie der lichte Tag, das Risiko war groß, aber Charlie war ein alter Hase bei diesem Spiel. Smiths mitgenommene Schuhe klapperten laut auf dem menschenleeren Gehweg, während der Detektiv sich lautlos, wie in Samtpantoffeln, bewegte. Der Vagabund bog nach rechts in die King Street ein, und Chan folgte ihm, sich immer wieder in Torwegen versteckend. Als Smith sich der Ecke Fort Street näherte, wartete Charlie neugierig in einem dunklen Schlupfwinkel. Würde der Vagabund hier auf einen Bus
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zum Strand warten? Wenn ja, so führte diese Verfolgung zu nichts. Aber Smith blieb nicht stehen. Statt dessen überquerte er die Straße und eilte die Fort Street hinunter. Der Mond schien hell auf seinen riesigen Hut und auf die Schultern seiner absurden Samtjacke. Charlies Interesse erwachte sofort wieder. Was hatte der Strandvagabund zu dieser späten Stunde noch vor? Chan wechselte auf die andere Straßenseite – sie war dunkler und für seine Zwecke deshalb besser geeignet – und folgte seinem Mann die Fort Street hinunter. Sie kamen an den Hauptgeschäften Honolulus vorüber, die matt beleuchtet waren. Schließlich war Smith beim Eingang des Waioli-Hotels angelangt und blieb stehen. Chan versteckte sich in einem dunklen Torweg genau gegenüber und beobachtete, wie Smith ins Hotelfoyer spähte. Abgesehen von einem Nachtwächter, der auf einem Stuhl hinter dem großen Glasfenster vor sich hindöste, war es verlassen. Einen Augenblick zögerte der Vagabund, dann schien er seine Meinung zu ändern, drehte sich um und machte sich auf den Rückweg. Charlie preßte seinen großen Körper gegen die Tür hinter sich in panischer Angst, entdeckt zu werden, aber er war in Sicherheit. Ohne jeden Verdacht eilte Smith zur Ecke King Street zurück, um dort auf den Bus nach Waikiki zu warten. Charlie hielt sich versteckt, bis der Bus kam. Er sah, wie der Vagabund einstieg, sich setzte und abfuhr – ohne das Prestige eines Dollarscheins. Langsam ging Charlie zur Polizeistation zurück. Was hatte das zu bedeuten? Robert Fyfe hatte ganz offensichtlich gewollt, daß auch der heruntergekommene Mr. Smith seine Adresse erfuhr, als er diese dem De-
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tektiv angab. Und Smith wollte den Schauspieler sofort in irgendeiner dringenden Angelegenheit aufsuchen. Charlie stieg gerade in seinen Kleinwagen, als sein Chef die Treppe vom Halekaua Haie herunterkam. »Ich dachte, Sie seien schon heimgefahren, Charlie«, sagte er. »Ich wurde einen Augenblick aufgehalten«, erklärte Chan. Sein Vorgesetzter griff das begierig auf. »Gibt es etwas Neues?« »Ich trete immer noch auf der Stelle«, seufzte Chan. »Sie sind sich über den Fall aber doch nicht so ganz im unklaren, wie Sie vorgeben?« fragte der Chef ängstlich. Chan nickte. »Der Mann, der in Brunnen sitzt, sieht wenig vom Himmel.« »Nun, dann klettern Sie doch heraus, Charlie, klettern Sie heraus!« »Ich plane raschen Aufstieg«, antwortete der Inspektor, ließ seinen Motor an und fuhr endlich zu seinem Haus auf dem Punchbowl Hill.
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Kapitel 12
Kein Narr Die Nacht neigte sich langsam ihrem Ende zu, und grauer Nebel lag über Waikiki. Smith, der Strandvagabund, fröstelte ein wenig und bewegte sich in seinem’ Sandbett. Er streckte die Hand aus, als wollte er eine nicht vorhandene Decke über seinen mageren, schlecht gekleideten Körper ziehen. Er murmelte im Schlaf, drehte sich auf die andere Seite und lag wieder regungslos da. Der graue Nebel färbte sich rosa. Über den Bergen im Osten nahm ein kleines Stück Himmel die Farbe dunklen Goldes an, gegen den sich einige verstreute nachtschwarze Wolken dunkel abhoben. Smith schlug die Augen auf und erkannte allmählich seine Umgebung wieder. Er hatte es sich nicht ausgesucht, am Strand zu schlafen, aber aus irgendeinem Grund fehlte heute die übliche Bitterkeit, wenn er beim Erwachen feststellen mußte, daß er wieder einmal abgebrannt war. Etwas Angenehmes hatte sich ereignet – oder würde sich demnächst ereignen. A ja. Er lächelte dem Baum über sich zu, und der Baum überschüttete ihn mit mahagoniroten Blüten, die noch gelb gewesen waren, als er sich schlafen gelegt hatte. Ein Grapefruit und Kaffee wären ihm zwar lieber gewesen, aber Blumen paßten besser in diese Szenerie. Er richtete sich auf. Das Gold am östlichen Himmel verbreitete sich allmählich, und nun erschien auch der Rand der Sonne. Der schneeweiße Strand wurde von Wasser gesäumt, das golden schimmerte, als wollte es sich dem Himmel anpassen. Links ragte ›Diamond Head‹ empor, der erloschene Vulkan. Smith fühlte sich
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diesem Vulkan immer irgendwie kameradschaftlich verbunden, da er selbst auch schon fast ein wenig erloschen war. Seine Gedanken schweiften zu den Ereignissen des letzten Abends zurück. Ein gütiges Schicksal hatte ihn bei der Hand genommen und ihn zu jenem Pavillonfenster geführt. In den letzten Jahren war er viel zu oft blind für günstige Gelegenheiten gewesen. Er war fest entschlossen, seine Chance zu nützen. Er stand auf und zog seine wenigen Kleidungsstücke aus, unter denen eine abgetragene Badehose zum Vorschein kam. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen, rannte zum Wasser und stürzte sich hinein. Der Schock belebte ihn. Er machte kräftige Schwimmzüge; eines wenigstens hatte er an Tropenstränden gelernt, und das war die Kunst des Schwimmens. Beim Schwimmen fielen die vergeudeten Jahre von ihm ab, sein alter Ehrgeiz kehrte zurück, und er schmiedete Pläne für die Zukunft. Er würde sein früheres Ich wiedererlangen, er würde diesen schwülheißen Ort verlassen, wo er sowieso nie hatte bleiben wollen, er würde wieder ein Mann sein. Das Geld, das ihm auf die Beine helfen würde, war endlich in greifbare Nähe gerückt. Die Sonne stieg warm und freundlich am östlichen Himmel empor. Smith tauchte tief unter den Wellen hindurch, schwamm und fühlte, wie er gleichsam mit jedem Zug energischer wurde. Schließlich kehrte er ins seichte Wasser zurück, vermied dabei sorgfältig die Korallenbänke und kam wieder in sein Schlafzimmer. Eine Zeitlang saß er da, an den Rumpf eines verlassenen Bootes gelehnt, in dessen Schutz er die Nacht verbracht hatte. Die heiße Sonne diente ihm als Hand-
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tuch, und er ruhte sich aus, im Frieden mit sich und der ganzen Welt. Ein herrliches Gefühl der Faulheit überkam ihn. Aber nein, nein – das ging nicht. Er zog sich an, holte einen abgebrochenen Kamm aus seiner Tasche und kämmte seinen gelben Bart und die Haare. Seine Toilette war beendet, und jetzt stand das Frühstück auf der Tagesordnung. Über ihm hingen Büschel von Kokosnüssen; oft schon hatten sie ihm als Frühstück gedient. Aber heute morgen nicht, sagte er lächelnd zu sich selbst. Langsam schlenderte er durch eine Landschaft voller Helligkeit und Schönheit zum Moana-Hotel. Diese Schönheit hatte auf ihre Weise zu Mr. Smiths Niedergang beigetragen, denn jedesmal, wenn er sie malen wollte, warf er seinen Pinsel angewidert beiseite und beklagte sein unzureichendes Talent. Auf dem Sand vor dem Hotel spielte ein Junge schon auf der hawaiischen Gitarre und sang dazu ein zartes Lied. Smith ging sofort auf ihn zu. »Guten Morgen, Frank«, sagte er. Frank drehte sich um. »Hallo«, antwortete er verträumt. Der Vagabund setzte sich neben ihn. Plötzlich sah Frank ihn mit seinen großen, dunklen Augen ernst an. »Heute werde ich nicht für die Touristen singen«, verkündete er. »Ich werde nur für den blauen Himmel singen.« Smith nickte. Wenn ein Angehöriger einer anderen Rasse so etwas gesagt hätte, so wäre es eine hochtrabende und theatralische Bemerkung gewesen, aber der Vagabund kannte die Hawaiianer inzwischen sehr gut. Er hatte beobachtet, wie sie jeden Morgen an ihren geliebten Strand kamen und ihn anstarrten, als sei seine Schönheit ihnen eben zum allerersten Male be-
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wußt geworden; wie sie ins vertraute Wasser tauchten, dabei Freudenschreie ausstießen, die ein Glück verrieten, das in dieser modernen Welt selten geworden war. »Das ist das allerbeste, Frank«, stimmte Smith zu. Dann kam er auf ein praktisches Thema zu sprechen. »Hast du Geld?« erkundigte er sich. Der Junge runzelte die Stirn. Was hatte es mit diesem Geld, an dem alle ›haoles‹ so sehr interessiert schienen, nur für eine Bewandtnis? Ihm selbst bedeutete Geld nichts, und es würde ihm auch niemals etwas bedeuten. »Ich glaube«, antwortete er nachlässig. »In meiner Jacke müßte ein Dollar sein.« Smiths Augen strahlten. »Leih ihn mir. Ich werde ihn dir spätestens heute abend zurückgeben. Und auch alles andere, was ich dir schulde. Wieviel schulde ich dir eigentlich insgesamt?« »Ich weiß nicht mehr«, antwortete Frank und sang weiter. »Ich werde eine Menge Geld haben, bevor der Tag vorüber ist«, fuhr Smith fort, und seine Stimme klang erregt. Frank sang melodisch weiter. Wie seltsam, sich wegen etwas wie Geld so zu erregen, wenn der Himmel so blau und das Wasser so warm waren, und wenn es einem so tiefe Zufriedenheit verschaffte, einfach am weißen Strand zu liegen und ein Lied zu summen. »In deiner Jacke, sagst du?« erkundigte sich Smith. Frank nickte. »Hol es dir. Die Schranktür ist offen.« Smith machte sich sofort auf den Weg. Als er zurückkam, hielt er einen Dollarschein in der einen und eine kleine Leinwand in der anderen Hand.
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»Ich nehme dieses Bild mit, das du für mich aufbewahrt hast, Frank«, sagte er. »Etwas sagt mir, daß es endlich einen Markt für meine Arbeiten gibt.« Er betrachtete sein Gemälde kritisch. Ein dunkelhäutiges, schwarzäugiges Mädchen hob sich von einem grünen Hintergrund ab. Es hatte eine karmesinrote Blumen zwischen den Lippen, und symbolisierte die Tropen, die faulen Inseln der Südsee. »Weißt du«, sagte der Vagabund mit fast widerstrebender Bewunderung, »das ist nicht einmal so schlecht.« »Ja«, bestätigte Frank. »Gar nicht schlecht«, wiederholte Smith. »Aber schließlich hat man mir ja gesagt, daß ich Talent hätte. In New York – und auch in Paris. Talent – vielleicht sogar eine Spur von Genie – aber sonst nicht viel. Kein Rückgrat, keinen Charakter, keinen eigentlichen Halt. Ich brauchte einen festen Charakter, mein Junge.« »Ja«, stimmte Frank wieder träge zu. »Weißt du, Frank, daß Maler, ohne auch nur die Hälfte meiner Fähigkeiten zu besitzen… aber, zum Teufel, was hat das alles für einen Zweck? Warum sollte ich mich auch beklagen? Denk nur mal an Corot, Frank. Nicht ein einziges seiner Bilder wurde zu seinen Lebzeiten verkauft. Und denk einmal an Manet. Weißt du, was die Kritiker Manet angetan haben? Ausgelacht haben sie ihn.« »Ja.« Frank legte seine Gitarre beiseite, sprang auf, rannte über den Sand und tauchte wie ein Fisch ins Wasser. Smith sah ihm nach und schüttelte den Kopf. »Kein Interesse an Malerei«, murrte er. »Nur immer Musik. Auch so eine Sache.« Er steckte den Geldschein in die Tasche, klemmte sich die Leinwand unter den Arm und ging auf die Straße hinaus.
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Ein Trolleybus Richtung Innenstadt näherte sich, und Smith stieg ein. Stolz schob er dem Fahrer seinen Dollarschein hin – vielleicht würde der dann nicht mehr jeden nur nach seiner Kleidung beurteilen. Auf der Fahrt in die Innenstadt betrachtete er mehrmals sein Gemälde. Es gefiel ihm immer besser. In einem Restaurant in der Stadt genehmigte er sich ein Frühstück wie schon seit Tagen nicht mehr, und dann machte er sich auf den Weg zum Waioli-Hotel. Seine Ankunft rief dort keine große Begeisterung hervor. Der Angestellte starrte ihn mit offener Mißbilligung an. »Was wünschen Sie?« fragte er kalt. »Wohnt Mr. Fyfe hier?« fragte der Vagabund. »Ja – aber er schläft lange. Ich kann ihn jetzt nicht stören.« »Das sollten Sie aber besser tun.« Smiths Stimme bekam plötzlich einen autoritären Klang. »Ich habe eine Verabredung mit ihm – eine sehr wichtige. Mr. Fyfe wünscht mich dringend zu sehen.« Der Angestellte zögerte und griff dann zum Telefon. Einen Augenblick später wandte er sich an den Vagabunden. »Mr. Fyfe wird gleich herunterkommen«, verkündete er. Smith nahm frech auf einem Stuhl Platz und wartete. Fyfe erschien kurz darauf; offensichtlich hatte er heute nicht so lange geschlafen. Seine Augen hatten einen bekümmerten Ausdruck. Er trat auf den Vagabunden zu. »Sie wollten mich sprechen?« fragte er. »Ich bin auf dem Weg ins Theater. Kommen Sie!« Er hinterließ seinen Schlüssel am Empfang und ging zur Tür. Smith mußte sich anstrengen, um mit ihm Schritt halten zu können. Schweigend gingen sie dahin. Schließlich ergriff der Schauspieler das Wort.
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»Warum sind Sie so indiskret gewesen?« fragte er. »Sie hatten mich doch anrufen können, und wir hätten uns dann irgendwo getroffen.« Smith zuckte die Achseln. »Telefonieren kostet Geld«, erwiderte er. »Und ich habe nicht viel Geld – noch nicht.« Die beiden letzten Worte betonte er besonders. Fyfe führte ihn aus dem modernen Stadtteil in den orientalischen. Sie kamen an Läden vorbei, die mit Seiden, Leinen, Stickereien, Jade und Porzellan vollgestopft waren. Stoffballen und Körbe voller Lebensmittel aus dem Orient versperrten den Gehweg. »Sie glauben also, daß Sie bald Geld haben werden?« erkundigte sich Fyfe schließlich. Smith lächelte. »Warum nicht? Letzte Nacht habe ich Ihnen einen Gefallen erwiesen. Oh – ich lasse mich von niemandem zum Narren halten. Ich weiß genau, warum Sie dieses falsche Geständnis abgelegt haben. Sie hatten Angst, daß ich wiederholen würde, was ich gehört habe, als ich vor jenem Fenster stand, nicht wahr?« »Was haben Sie denn eigentlich gehört?« »Genug – glauben Sie mir. Ich hörte, wie diese Frau – die Frau, die später ermordet wurde – Ihnen sagte, daß sie…« »Spielt keine Rolle!« Der Schauspieler blickte sich nervös um. Nichts als banale, ausdruckslose Gesichter, dunkle Augen, die jeden Blickkontakt vermieden. »Ich glaube, ich habe mich Ihrem Plan ausgezeichnet angepaßt«, meinte Smith. »Nachdem dieser chinesische Inspektor ihr Geständnis hatte platzen lassen und mich wieder fragte, was ich gehört hätte, da habe ich doch genau das gesagt, was Sie wollten, oder etwa
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nicht? Ich habe Ihre Aussage bestätigt. Ich hätte dort an Ort und Stelle eine Bombe zum Platzen bringen können – aber ich habe es nicht getan. Bitte vergessen Sie das nicht.« »Ich vergesse es nicht. Und ich habe schon damit gerechnet, daß Sie heute morgen auftauchen würden, um mich zu erpressen…« * »Mein lieber Herr« – Smith erhob seine dünne, sommersprossige Hand – »das hätten Sie mir ersparen können. Ich besitze noch etwas Anstand, und – hm – was Sie da gesagt haben, liegt nicht auf meiner Linie. Mir ist nur in den Sinn gekommen, daß Sie als intelligenter Mann und als Künstler vielleicht an meiner Arbeit interessiert sein könnten.« Er deutete auf die Leinwand. »Ich habe zufällig eine Probe bei mir«, fügte er munter hinzu. Fyfe lachte. »Sie sind ein sehr spitzfindiger Mensch, Mr. Smith. Angenommen, ich würde eines Ihrer Gemälde kaufen – was würden Sie mit dem Geld anfangen?« Smith leckte sich die Lippen. »Ich würde für immer von hier verschwinden. Ich bin diese Insel leid. Das ganze letzte Jahr hindurch habe ich daran gedacht heimzufahren – zu meiner Familie nach Cleveland. Ich weiß nicht, ob sie glücklich sein wird, mich wiederzusehen. Wenn ich ordentliche Kleidung und etwas Geld in der Tasche hätte – das würde mir dabei vielleicht von Nutzen sein.« »Wie sind Sie denn überhaupt auf diese Insel gekommen?« »Ich bin in die Südsee gefahren, um zu malen. Vielleicht ist das für manche Leute ein guter Aufenthaltsort – aber für mich – nun ja – ich fand mich jedenfalls
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am Strand wieder. Nach langer Zeit schickte mir meine Familie Geld für die Heimfahrt. Ich brachte es auch fertig, an Bord eines Schiffes zu gehen, aber leider legte es für einen Tag in diesem Hafen an. Und – haben Sie, einmal den ›Okelehau‹ probiert, den man in diesem Paradies einen Drink nennt?« Fyfe lächelte. »Ich verstehe. Sie vergaßen, auf Ihr Schiff zurückzukehren.« »Mein lieber Herr«, sagte Smith achselzuckend, »ich vergaß die ganze Welt. Als ich wieder zu mir kam, war mein Schiff schon zwei Tage fort. Es ist eigenartig, aber mein Vater schien verärgert zu sein. Ein ziemlich ungeduldiger Mann.« Sie erreichten den Fluß, überquerten eine schmale Steinbrücke und betraten den Aala-Park, wo sich der Abschaum der Stadt versammelt, weil die Lage so günstig ist. Fyfe deutete auf eine Bank. Sie setzten sich, und Smith übergab ihm die Leinwand. Der Schauspieler betrachtete sie und machte ein überraschtes Gesicht. »Bei Gott!« rief er, »das ist verdammt gut!« »Ich freue mich, daß Sie das sagen. Das haben Sie wohl nicht erwartet, oder? Ich bin nicht das, was man einen geborenen Händler nennt, aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß das Ding eines Tages wertvoll sein könnte. Es ist Ihre große Chance. Denken Sie daran, mit welchem Stolz Sie Ihren Freunden sagen könnten: ›O ja – aber ich habe sein Talent schon vor langer Zeit erkannt. Ich war sein erster Gönner. ‹« »Ist das Ihr richtiger Name – hier in der Ecke?« Der Vagabund ließ den Kopf hängen. »Mein richtiger Name – ja«, bestätigte er. Fyfe legte die Leinwand auf seine Knie. »Nur – wie
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hoch ist der Preis?« »Was bieten Sie denn?« entgegnete Smith. »Wenn Sie wirklich vorhaben, nach Hause zu fahren«, sagte der Schauspieler, »so werde ich Ihnen das gern ermöglichen. Natürlich nicht jetzt – die Polizei würde Sie im Augenblick gar nicht abreisen lassen. Aber wenn diese Angelegenheit ein wenig in Vergessenheit geraten ist, werde ich Ihnen eine Schiffskarte kaufen – und Ihnen zusätzlich noch etwas Geld geben. Als Honorar für dieses Gemälde – Sie verstehen schon.« »Wieviel zusätzlich?« »Zweihundert Dollar.« »Nun, ich weiß nicht…« »Sagen wir zweihundertfünfzig. Sehen Sie mal, ich bin ja kein reicher Mann. Ich bekomme meine Gage als Schauspieler, und sie ist nicht allzu groß. Ich hatte hier in Honolulu ein langes Engagement, und ich habe etwas gespart. Ich biete Ihnen so ungefähr alles an, was ich besitze. Wenn es nicht genug ist, so tut es mir leid.« »Es genügt«, sagte der Vagabund langsam. »Ich will ja nicht hartherzig sein. Ich bin nicht sehr stolz auf diese Sache, müssen Sie wissen. Aber es ist meine einzige Chance – meine Chance, hier wegzukommen – , und ich muß sie einfach ausnützen. Wir werden es einen Handel nennen – eine Karte zum Festland, sobald man mich ziehen läßt, und zweihundertfünfzig bar auf die Hand. Aber sagen Sie – in der Zwischenzeit brauche ich unbedingt einen kleinen Vorschuß.« »Für ›Okolehau‹, nicht wahr?« Smith zögerte. »Ich weiß es nicht«, sagte er offen. »Ich hoffe nicht. Ich will das Zeug nicht mehr anrühren. Ich könnte sonst die Geschichte ausplaudern und
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dadurch alles verderben. Ich denke dabei nicht so sehr an Sie – ich meine, ich könnte auch für mich selbst alles verderben.« Er stand auf. »Ich werde das Zeug nicht anrühren«, rief er plötzlich. »Ich werde kämpfen und gewinnen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Gentleman!« Fyfe betrachtete ihn und fragte sich, was dieses Ehrenwort wohl wert sei. Er zog seine Brieftasche. »Vermutlich muß ich Ihnen einfach vertrauen. Ich gebe Ihnen jetzt fünfzig Dollar.« Smiths Augen glänzten. »Mehr habe ich nicht bei mir. Warten Sie noch einen Augenblick!« Er stieß die gierige Hand des Vagabunden weg. »Denken Sie daran -Sie müssen vorsichtig sein. Wenn die Polizei herausfindet, daß Sie plötzlich zu Geld gekommen sind, wird sie der Sache auf den Grund gehen.« »Ich hatte an einige neue Kleidungsstücke gedacht«, erwiderte Smith sehnsüchtig. »Nicht jetzt«, warnte Fyfe. »Bevor Sie abreisen – ja; wir werden uns das merken. Aber jetzt – bleiben Sie jetzt noch eine Weile so, wie Sie sind – und warten Sie ab.« Auch der Schauspieler war aufgestanden; er sah dem Vagabunden intensiv in die Augen. »Ich verlasse mich auf Sie. Ein Mann, der so malen kann wie Sie – seien Sie kein Narr. Halten Sie durch!« »Bei Gott, das werde ich!« rief Smith und eilte durch den Park davon. Einen Augenblick sah Fyfe ihm nach, dann machte er sich langsam auf den Weg ins Theater, seinen Neuerwerb unter dem Arm. Smith lief zur Beretania-Street und betrat durch einen Torweg, der die blasse Aufschrift ›Nippon-Hotel‹ trug, ein kleines Zimmer mit niedriger Decke. Hinter dem Pult stand ein höflicher kleiner Japaner. An der Wand
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hinter ihm hing das Bild eines großen Passagierdampfers, der die Wellen zerteilte, und darüber standen die Worte: ›Nippon Yusen Kaisha‹. »Hallo, Nada«, sagte Smith fröhlich. »Ist mein altes Zimmer frei?« »Tut mir leid«, zischte der Japaner. Smith warf einen Geldschein auf das Pult. »Da sind zehn Dollar im voraus.« »Tut mir leid, daß Sie so lange nicht hier waren«, verbesserte sich der Angestellte hastig. »Zimmer ist bereit.« »Ich gehe hinauf und mache mich etwas zurecht«, sagte Smith. »Mein Gepäck kommt etwas später.« »Ich nehme an, Sie haben Geld von zu Hause bekommen«, lächelte Nada. »Geld von zu Hause – nichts da«, antwortete Smith leichtfertig. »Ich habe ein Bild verkauft, Nada. Wissen Sie, das ist mehr, als Corot jemals geschafft hat.« Er beugte sich vertraulich über das Pult. »Der arme, alte Corot hat es nie zu etwas gebracht. Alles hängt eben davon ab, zur rechten Zeit am richtigen Fenster zu sein.« »Schon möglich«, stimmte Nada zu. »Besser, wenn Sie jetzt gehen. Zimmer Nummer sieben, wie immer.« »Wie schön, zu Hause zu sein«, antwortete Smith und ging hinaus, wobei er eine lustige Melodie pfiff.
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Kapitel 13
Frühstück bei den Chans Eine Stunde, nachdem Smith sein Morgenbad genommen hatte, stand Charlie Chan auf, ging zu seinem Schlafzimmerfenster und schaute auf das strahlende Panorama der Stadt und des Meeres hinunter. Die Schönheit des Blickes vom Punchbowl Hill aus war atemberaubend: grüne Täler und funkelndes Wasser, und Bäume, die zu dieser Jahreszeit in üppigem Überfluß blühten, karmesinrot und goldfarben, und hier und da ziegelrote Kletterranken. Charlies Grundstück lag in einer herrlichen Umgebung, und er liebte es, morgens so dazustehen und über sein Glück nachzudenken. Heute zog er es indessen vor, über das vor ihm liegende Problem nachzudenken. Es war ihm unlösbar vorgekommen, als er zu Bett ging, aber er hatte tief geschlafen, in dem Bewußtsein, daß das, was geschehen sollte, auch geschehen würde; und jetzt verspürte er neue Energie in sich. Sollte er, ein Festlandspolizist, angesichts eines Problems, das zweifellos eine einfache Lösung hatte, verblüfft und hilflos sein? Es war jedoch eine Angelegenheit, die von ihm promptes und intelligentes Handeln erforderte. Er dachte an den Kranich, der verhungerte, während er darauf wartete, daß das Meer verschwinden und ihm trockene Fische als Nahrung hinterlassen würde. Chan hatte nicht die Absicht, diesen törichten Vogel nachzuahmen. Sein Haus war alles andere als ruhig. Elf Kinder in der Familie verwandelten es schon am frühen Morgen in eine Art Irrenhaus. Ihre Stimmen waren allüberall zu hören, lärmend, streitend, lachend und auch, zumin-
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dest in einem Fall, bitterlich weinend. Mit dem angenehmen Gefühl, daß der Tag wie gewöhnlich begonnen hatte, bereitete er sich auf seine Aufgaben vor. Im Eßzimmer fand er seine drei ältesten Kinder um den Tisch versammelt, und sie betrachteten ihn mit so großem Interesse wie schon lange nicht mehr. Sie redeten alle gleichzeitig, und langsam begriff er den Grund ihres Interesses. In der Morgenzeitung stand, daß eine ihrer Kinoheldinnen ermordet worden war, und sie wollten den Missetäter rasch bestraft sehen, und ebenso wollten sie den Grund für diesen Mord erfahren. »Ruhe!« schrie Charlie. »Wie soll ein Mann unter Baum voller zwitschernder Vögel nachdenken können?« Er wandte sich an seinen ältesten Sohn Henry, der College-Kleidung trug und sich gerade eine Zigarette anzündete. »Du solltest schon im Lagerhaus sein.« »Ich gehe gleich, Paps«, erwiderte Henry. »Aber erzähl mal – was hat die Ermordung von Shelah Fane eigentlich zu bedeuten?« »Du hast es doch in der Zeitung gelesen. Jemand hat sie auf äußerst unfreundliche Weise erstochen; warum – das kann ich dir auch noch nicht sagen. Und jetzt mach dich auf den Weg zur Arbeit!« »Wer hat es getan?« fragte Rose, seine älteste Tochter. »Das wollen wir gern wissen.« »Auch einige andere Leute möchten das für ihr Leben gern wissen«, sagte ihr Vater. »Du beschäftigst dich doch aber mit dem Fall, nicht wahr, Paps?« frage Henry. »Wen sollte man denn in Honolulu sonst damit beauftragen?« fragte er freundlich.
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»Na, und hast du eine heiße Spur?« fuhr Henry fort, der schon in ziemlich erschreckendem Ausmaß amerikanisiert war. »Wann schnappst du denn den Täter, und wie heißt er?« Charlie sah ihn an und seufzte. Diese Kinder waren für ihn das Bindeglied zur Zukunft – zu was für einer Zukunft, fragte er sich oft. »Wie ich dir schon oft gesagt habe, mangelt es deiner Sprache in traurigem Ausmaß an Würde«, tadelte er. »Ich habe den Missetäter noch nicht verhaftet, folglich kenne ich auch noch nicht seinen Namen.« »Aber du wirst ihn bald kennen, nicht wahr, Paps?« fiel Rose ihm ins Wort. »Du wirst doch gewiß nicht den kürzeren ziehen, oder?« »Wann bin ich denn schon jemals gestolpert?« wollte er wissen. Sie lächelte boshaft. »Nun ja, Paps…« »In meiner Jugend«, unterbrach Chan sie hastig, »wurde es als Todsünde angesehen, alles durchdringende Weisheit des Vaters in Frage zu stellen. Er wurde von Kindern geehrt und respektiert. Eine Anspielung, wie du sie eben gemacht hast, wäre völlig undenkbar gewesen.« Sie stand auf und kam lächelnd auf ihn zu. »Die Zeiten haben sich eben geändert. Aber du wirst natürlich nicht versagen. Wir alle wissen das. Aber an diesem Mordfall ist deine Familie richtig interessiert. Beeil dich also bitte, ja? Nimm dir nicht zuviel Zeit für orientalische Meditation.« »Würde ich längere Pausen einlegen, um tief nachzudenken«, erwiderte er, »so wäre ich sehr einsamer Mensch in dieser neuen Welt.« Rose küßte ihn und machte sich auf den Weg zur
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Bank, wo sie während der Sommerferien arbeitete. Henry erhob sich träge- »Brauchst du heute abend das Auto, Paps?« erkundigte er sich. »Wenn ich es je gebraucht habe, dann bestimmt heute abend«, antwortete sein Vater. Henry runzelte die Stirn. »Ich werde mir wohl doch selbst eins kaufen müssen«, sagte er. »Ich kann eine gute gebrauchte Kiste auf Abzahlung bekommen…« Charlie schüttelte den Kopf. »Arbeite – und bezahle für deinen Weg, bevor du gehst«, riet er. »Dann brauchst du dich vor keinem mitternächtlichen Klopfen an deiner Tür zu fürchten.« »Alter Käse«, erwiderte Henry und machte sich gemächlich auf den Weg zur Arbeit. Chan zuckte die Achseln und begann zu frühstücken. Die fünfzehnjährige Evelyn sprach ihn an. »Ich fand Shelah Fane dufte. Ich habe sie in einigen tollen Rollen gesehen.« »Schluß jetzt!« schrie Charlie. »Wortreiche englische Sprache steht dir zur Verfügung, und du benützt daraus nur die vulgärsten Ausdrücke. Ich bin verzweifelt.« Seine Frau kam mit seinen Haferflocken und dem Tee herein. Sie war eine fröhlich aussehende Frau, fast so breit wie Chan, mit einem sanft lächelnden Gesicht. Wenn ihre Kinder und ihr Mann sie in der Anpassung an ein neues Land auch weit übertroffen hatten, so schien ihr das doch – ihren ruhigen Augen nach zu urteilen – nichts auszumachen. »Ich gehölt von Shelah Fane«, sagte sie. »Seil sleckliche Sache.« »Was weißt du über Shelah Fane?« fragte Charlie überrascht. »Ganze Zeit Kindel machen leden, Shelah Fane, She-
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lah Fane«, erwiderte seine Frau. »Ich denken – muß sein seil nette Flau. Ich wollen du fangen siechten Mann ganz snell.« Chan würgte seinen heißen Tee hinunter. »Wenn ich es nicht tue, werde ich bestimmt aus meinem eigenen Hause verjagt. Darf ich respektvoll darum bitten, daß du mir Zeit läßt. Viel Arbeit muß erledigt werden.« »Villeicht du wollen mell Tee?« schlug seine Frau vor. Er trank eine zweite Tasse und stand dann vom Tisch auf. Evelyn brachte seinen Hut; alle schienen ihn zu größerer Eile antreiben zu wollen. An der Tür wäre er um ein Haar über einen kleinen Jungen mit rundem Gesicht und den lebhaften schwarzen Augen seines Vaters gefallen. »Aha – Klein-Barry.« Er hob das Kind hoch und gab ihm einen herzlichen Kuß. »Du wirst jeden Tag ansehnlicher, wie feiner Namensvetter, Mr. Barry Kirk. Sei jetzt guter Junge und knabbere nicht den Putz an.« Er holte sein Auto, und während er den Hügel hinabfuhr, dachte er über seine Kinder nach. Er war immer stolz darauf gewesen, daß sie alle amerikanische Staatsbürger waren. Aber vielleicht schienen sie sich gerade deshalb von ihm zu entfernen – der Abgrund wurde täglich tiefer. Sie machten keine Anstalten, sich an die Vorschriften und Regeln der Vorfahren zu halten; sie sprachen englisch in einer Art und Weise, die Charlies sensiblen Ohren weh tat. Er fuhr am chinesischen Friedhof mit seinen eigenartigen Grabsteinen vorbei, die auf der abschüssigen Hügelseite verstreut waren. Dort lag seine Mutter, die er von China hierher gebracht hatte, damit sie ihre letzten Lebensjahre in dem Haus am Punchbowl Hill verbringen konnte. Was würde sie sagen, wenn sie
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ihre Nachkommen jetzt sehen könnte? Henry in seiner saloppen Kleidung; Rose, lebhaft und tüchtig, die im Herbst auf dem Festland zur Universität gehen wollte; Evelyn, die den vulgären Slang benutzte, den sie in der Schule aufschnappte? Charlie wußte, daß seine Mutter das alles mißbilligt hätte. Sie hätte den alten Zeiten, den alten Sitten nachgetrauert. Er selbst trauerte ihnen ja auch nach – aber er konnte nichts dagegen ausrichten. Als er das Geschäftsviertel der Innenstadt erreichte, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegenden Aufgaben. Es waren viele, und er überlegte sich, in welcher Reihenfolge er sie angehen sollte. Robert Fyfe beschäftigte seine Gedanken am meisten, deshalb fuhr er sofort zum Waioli-Hotel. Der Angestellte erzählte ihm, daß Mr. Fyfe mit einem Mann ausgegangen war. Mit was für einem Mann? Die Beschreibung ließ an der Identität von Fyfes Besucher keinen Zweifel offen, und Charlie runzelte ärgerlich die Stirn. Was wollte Smith von dem Schauspieler? Was hatte er gehört, als er vor jenem Pavillonfenster stand? Warum hatte Fyfe ein Verbrechen gestanden, das er nicht begangen hatte? Er konnte es ganz offensichtlich nicht verübt haben. Nicht, wenn die Schilderung seiner Aktivitäten am vorhergehenden Abend der Wahrheit entsprach. O ja, dachte Charlie, das mußte er nachprüfen. »Ich glaube gehört zu haben, daß Mr. Fyfe sagte, er sei auf dem Weg ins Theater«, berichtete der Angestellte. Chan war nicht auf dem laufenden. »In welches Theater, bitte?« fragte er. »Ins ›Royal‹«, erwiderte der Angestellte. Charlie
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machte sich auf den Weg dorthin. Durch ein überdachtes Foyer kam er in den dunklen Zuschauerraum. Auf der Bühne probten die Mitglieder des Theaterensembles das Stück der nächsten Woche. Einige alte Küchenstühle markierten Eingänge und Ausgänge, und die Schauspieler standen herum und warteten auf ihre Stichworte. Im Augenblick trug Fyfe eine lange Rede vor; er tat es ohne jeden Schwung, als sei das etwas, wozu er keine persönliche Beziehung hätte. Charlie ging den dunklen Gang zwischen den Zuschauerreihen entlang. Ein Mann, der seinen grünen Velourshut tief über die Augen gezogen hatte und mit dem Drehbuch in der Hand an einem kleinen Tisch auf der Bühne saß, betrachtete den Inspektor sichtlich verärgert. »Was wünschen Sie?« kläffte er. »Ich möchte mich kurz mit Mr. Fyfe unterhalten«, erwiderte Chan. Der Schauspieler trat vor, schirmte seine Augen gegen das grelle Scheinwerferlicht ab und spähte in den Zuschauerraum. »O ja – Inspektor Chan«, sagte er. »Kommen Sie doch bitte herauf.« Vor Anstrengung keuchend, stemmte Chan seinen schweren Körper auf die Bühne. Fyfe lächelte und war sehr herzlich. »Was kann ich heute morgen für Sie tun, Inspektor?« erkundigte er sich. Charlie beobachtete ihn aus halb geschlossenen Augen. »Nicht viel, befürchte ich, es sei denn, daß Sie über Nacht Ihre Meinung geändert hätten. Sie werden sich noch erinnern, daß ich Ihnen gegen Ihren Willen ein sehr hübsches Alibi verschafft habe. Ich bin nun hier, um mich davon zu überzeugen. Eine reine Form-
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sache.« »Selbstverständlich«, nickte Fyfe. »Oh, Wayne«, rief er. Widerwillig stand der Mann im grünen Hut auf und kam zu ihnen herüber. »Das ist Mr. Wayne, unser Bühnenleiter – Inspektor Chan von der hiesigen Kriminalpolizei. Der Inspektor ist wegen der Affäre von heute nacht hier. Wayne – wie spät war es, als Sie gestern abend das Klingelzeichen zur Vorstellung gaben?« »Acht Uhr zwanzig«, knurrte Wayne, »Fünf Minuten zu spät!« »Ich stand doch neben Ihnen, als Sie klingelten?« »Ja. Obwohl ich verdammt sein will, wenn ich weiß, wo Sie gewesen sind, als wir gegen Ihre Tür hämmerten.« »Der Inspektor weiß es.« »War das alles, was Sie wissen wollten, Mr. Chan?« »Nur noch eins.« Chan wandte sich an den Bühnenleiter. »Benötigt Mr. Fyfe in seiner Eigenschaft als Schauspieler ein Messer für Theaterstück, daß Sie diese Woche aufführen?« »Ein Messer?« wiederholte Wayne. »Nein – in diesem Stück kommt kein Messer vor. Es ist eine Salonkomödie.« »Herzlichen Dank«, sagte Chan mit einer Verbeugung. »Das ist alles.« Er warf Robert Fyfe einen forschenden Blick zu. »Würden Sie bitte mitkommen?« Während sie in den Zuschauerraum hinabgingen, dachte er intensiv nach. Shelah Fane war um acht Uhr zwölf lebend gesehen worden. Robert Fyfe stand um acht Uhr zwanzig in den Kulissen, zum Auftritt bereit. Nur acht Minuten – niemand konnte die Entfernung zwischen Waikiki und der Stadt in dieser kurzen Zeit zurücklegen. Fyfes Alibi war perfekt. Und dennoch…
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Im dunklen Zuschauerraum hinter der letzten Reihe blieb Chan stehen, und die beiden Männer lehnten sich ans Geländer. »Ich frage mich immer noch, Mr. Fyfe«, sagte der Inspektor, »warum Sie falsches Geständnis ablegten und behaupteten, Sie hätten Shelah Fane ermordet.« »Ich wundere mich selbst ein wenig darüber, Inspektor.« »Ganz offensichtlich haben Sie sie nicht ermordet.« »Ich fürchte, Sie müssen mich für einen Narren halten.« »Ganz im Gegenteil. Ich halte Sie für sehr klugen Mann.« »Tatsächlich? Das ist äußerst schmeichelhaft.« »Sie hatten guten Grund für dieses Geständnis, Mr. Fyfe.« »Wenn es einen gab, so ist er mir inzwischen ganz entfallen, Inspektor.« »Sie sollten es mir lieber erzählen. Andernfalls richten Sie auf Pfad der Gerechtigkeit Hindernisse auf.« »Das muß ich selbst beurteilen können, Mr. Chan. Ich will Sie nicht behindern. Im Gegenteil, ich wünsche Ihnen recht viel Erfolg.« »Unter solchen Umständen fällt es mir schwer, das zu glauben.« Chan schwieg kurze Zeit. »Sie haben heute morgen unseren Freund, den Vagabunden, gesehen?« Fyfe zögerte. Mehr denn je bereute er, Smith in aller Öffentlichkeit getroffen zu haben. Plötzlich warf er den Kopf zurück und lachte – lachte viel zu lange, wie Charlie feststellte. »Das habe ich tatsächlich«, gab der Schauspieler zu. »Er suchte mich auf, als ich noch nicht einmal ganz auf den Beinen war.«
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»Zu welchem Zweck?« »Natürlich, um Geld zu bekommen. Ich stelle mir vor, daß er bei allen Leuten die Runde macht, die er gestern abend kennengelernt hat. Er schien nämlich zu glauben, daß er durch die Bekanntschaft allein schon Ansprüche an uns stellen könnte.« »Sie bedienen sich zu gern des Plurals«, protestierte Chan. »Ich glaube, daß er nur an Sie Ansprüche gestellt hat.« Der Schauspieler sagte nichts darauf. »Haben Sie ihm Geld gegeben?« fragte Charlie. »Nun – ja – einige Dollar. Er tat mir ziemlich leid. Er ist kein schlechter Maler…« Fyfe hielt plötzlich inne. »Woher wissen Sie, daß er kein schlechter Maler ist?« »Nun ja, er – er gab mir ein Bild…« »Dieses hier?« Charlie eilte den Gang entlang und hob von einem leeren Sitzplatz etwas auf. »Es ist mir vorhin aufgefallen«, erklärte er. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich es mir bei Licht genau betrachten.« »Selbstverständlich«, willigte der Schauspieler ein. Charlie ging zur Tür, stieß sie auf und betrachtete das Gemälde kurze Zeit. Die Augen des Mädchens, die sich von den grünen Ziersträuchern stark abhoben, wirkten eigenartig lebendig. Er kam zu Fyfe zurück. »Sie haben recht«, stellte er fest und legte das Bild auf einen Stuhl. »Der Mann hat Talent. Ein Jammer, daß so jemand Zuflucht zu – zu Erpressung nehmen muß.« »Wer sagt denn, daß es Erpressung war?« fragte Fyfe. »Ich sage es. Mr. Fyfe, ich könnte Sie unter Arrest stellen lassen…« »Ist mein Alibi nicht zufriedenstellend?« »Völlig. Aber Sie behindern meine Arbeit. Zum letzten
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Mal – was war es, das der Vagabund Smith Ihre Exfrau zu Ihnen sagen hörte?« Der Bühnenleiter rief nach Fyfe. »Es tut mir sehr leid«, sagte dieser, »aber ich halte die ganze Truppe auf. Ich muß mich jetzt wirklich von Ihnen verabschieden…« Chan zuckte die Achseln. »Die Ermittlungen sind noch im Anfangsstadium. Bevor sie beendet sein werden, werde ich Bescheid wissen, Mr. Fyfe.« »Kommen Sie jederzeit vorbei«, sagte Fyfe freundlich. Er streckte seine Hand aus. »Sehr bedauerlich, daß ich Sie jetzt verlassen muß, aber Sie wissen ja, das Leben eines Schauspielers…« Chan schüttelte ihm ernst die Hand, und Fyfe eilte den Gang entlang. Als Charlie wieder auf die helle Straße trat, runzelte er verwirrt die Stirn. Er wußte, daß hinter Fyfes verbindlichem Benehmen etwas von wesentlichem Interesse verborgen war – etwas, das sein Problem lösen könnte. Aber von Fyfe würde er es niemals erfahren. Vielleicht von dem Vagabunden. Er mußte Smith deshalb im Auge behalten. Chan stieg wieder in seinen Kleinwagen, fuhr zur King Street und bog in Richtung Waikiki ab. Als er an der öffentlichen Bibliothek vorbeikam, die inmitten großer Bäume etwas abseits von der Straße lag, war er versucht anzuhalten. Es fiel ihm ein, daß er in einer Zeitung aus Los Angeles die Geschichte von Denny Mayos Ermordung nachlesen sollte. In den vergilbten Spalten, die dieses spektakuläre Ereignis in der Geschichte der Filmkolonie schilderten, würde er vielleicht etwas entdecken, das ihn mit einem Schlag auf die richtige Spur bei seiner Suche nach Shelah Fanes Mörder bringen würde.
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Kurz entschlossen wendete er seinen Wagen und fuhr zur Bibliothek zurück. Schon einen Augenblick später sprach er die Frau am Ausgabeschalter an. »Ist es möglich, daß ich sofort die Zeitung von Los Angeles für Juni vor drei Jahren bekomme?« fragte er. »Selbstverständlich, Mr. Chan«, antwortete sie. »Füllen Sie bitte dieses Kärtchen aus.« Er tat es hastig und sah, wie die Karte einer jungen Hilfskraft übergeben wurde. Das Mädchen ging auf die gebundenen Zeitungsordner zu, während sie das Kärtchen studierte. Dann drehte sie sich auf einmal um und kam zurück. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Gerade ist mir eingefallen, daß dieser Band der ›Los Angeles Times‹ im Augenblick schon von jemand ausgeliehen wurde.« »Ausgeliehen?« Chan war überrascht. »Ja. Ein Herr lieh sich diesen Band vor einer halben Stunde aus.« »Können Sie diesen Herrn beschreiben?« Das Mädchen deutete auf den Leseraum. »Er ist noch da. Dort – am zweiten Fenster.« Chan spähte um die Ecke eines Bücherschrankes in den Leseraum. Huntley Van Horn saß dort über einen riesigen, grau eingebundenen Band gebeugt. Der Filmschauspieler blickte nicht auf; er war anscheinend völlig in seine Lektüre vertieft. Durch eine Geste machte Chan der Bibliothekarin deutlich, daß er die ganze Angelegenheit auf sich beruhen lassen wollte. Danach verließ er ohne jede Hast das Gebäude.
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Kapitel 14
Das Pavillonfenster Charlie stieg wieder in seinen Kleinwagen und fuhr rasch in Richtung Waikiki. Es war angenehm, den Motor des zuverlässigen kleinen Autos wieder laufen zu hören; das hatte ihm in der Vergangenheit schon oft dazu verholfen, auf die Spuren unzähliger Anhaltspunkte zu kommen. Viele der Anhaltspunkte hatten ihn nur, wie er sich ausdrückte, »in die unmittelbare Nähe einer unerschütterlichen Steinmauer« gebracht. Dann hatte er das Steuer herumgeworfen und einen neuen Weg gesucht. Und zuletzt hatte in den meisten Fällen die Straße, die zum Sieg führte, vor ihm gelegen. Während er so durch den herrlichen Morgen fuhr, dachte er an Huntley Van Horn. Er stellte sich den Filmschauspieler am letzten Abend vor, wie er den Rasen im gleichen Augenblick überquert hatte, da das schwarze Kamel an Shelah Fanes Tor gekniet haben mußte. Niemand hatte den Schauspieler begleitet, niemand hatte ihn gesehen; er hätte leicht in den Pavillon eilen, die Frau für immer zum Schweigen bringen und sich dann den beiden Personen am Strand anschließen können. Was für eine Art von Mensch war dieser Van Horn? Charlie wünschte, er hätte einige der Filmklatschzeitschriften gelesen, die seine Kinder immer mit nach Hause brachten. Es stand jedenfalls fest, daß er als Filmidol nicht zur Kategorie der weichen, hübschen Jungen gehörte. Er war zynisch, gelassen, ein Einzelgänger – ein Typ, der auf fremde Ratschläge gern verzichtete und ein ausdrucksloses Gesicht aufsetzte,
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wenn jemand in seinen Angelegenheiten herumschnüffeln wollte. O ja – Mr. Van Horn war des Nachdenkens wert. Dieses Nachdenken könnte reiche Früchte tragen. Aber es war nicht Van Horn, mit dem Chan sich zunächst einmal beschäftigen wollte. Er fuhr jetzt die Kalakaua-Avenue entlang, und obwohl die Sonne immer noch schien, begann es hier doch plötzlich zu regnen. Vor den Hotels sah man Touristen in Mänteln und mit Regenschirmen; offensichtlich nahmen sie diesen flüssigen Sonnenschein ernst, was einen ›kamaaina‹ wie Charlie amüsierte. Er bog scharf nach rechts ab, fuhr an den gepflegten Gärten des Grand Hotels vorbei und parkte sein Auto in der Auffahrt hinter dem Hotel. Ohne sich von dem Sprühregen stören zu lassen, begab er sich zur Hoteltreppe. Der erste Hotelboy, ein Chinesenjunge mit gewinnendem Lächeln, grüßte ihn auf kantonesisch. Chan unterhielt sich einen Augenblick mit ihm. Nein, erklärte er, er halte nicht Ausschau nach einer bestimmten Person, sondern wolle nur, mit freundlicher Erlaubnis, ein wenig herumschlendern. Chan durchquerte die hohe, kühle Vorhalle und erwiderte den heiteren Gruß eines jungen Direktionssekretärs. Durch den langen Korridor schlenderte er auf die Halle zu. Er hatte in diesem eindrucksvollen Gebäude nicht das Gefühl von staunender Ehrfurcht wie so viele seiner Mitbürger in Honolulu. Er war auf dem Festland gewesen, betrachtete sich als weitgereisten Mann und Hotelkenner und billigte von Herzen diese kürzlich fertiggestellte neue Attraktion von Waikiki. Er nickte dem Blumenmädchen leutselig zu und blieb am Eingang zur Hotelhalle stehen. Dieser Raum inspirierte ihn immer.
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Durch den großen Bogengang zur Terrasse konnte er das Meer schimmern sehen – atemberaubende Fragmente einer Landschaft, die von keiner Küste der Welt übertroffen werden konnte. In dem riesigen Saal hielten sich zur Zeit keine Gäste auf, aber einige schweigsame orientalische Dienstboten waren emsig damit beschäftigt, die Blumendekorationen für den Tag zu arrangieren. An winzigen Bambusstöckchen in sandgefüllten Schalen befestigten sie unzählige Hibiskusblüten, zarte Blumen, die gegen Abend dahinwelken würden. Chan ging auf die Terrasse hinaus, die sich zum Meer hin öffnete, und er hatte Glück. Im Augenblick saß dort nur das alte Ehepaar, mit dem Tarneverro sich am vorhergehenden Abend unterhalten hatte. Chan trat auf die beiden älteren Leute zu. Der Mann legte seine Morgenzeitung beiseite, die Frau schaute von ihrem Buch auf. Chan machte eine tiefe Verbeugung. »Darf ich Ihnen einen guten Morgen wünschen?« sagte er. »Guten Morgen Sir«, erwiderte der alte Mann höflich. Seine Aussprache hatte einen angenehmen schottischen Beiklang, und sein von harter Arbeit unter heißer Sonne gezeichnetes Gesicht war eines der ehrlichsten, die Chan jemals gesehen hatte. Charlie schlug sein Jackett zurück. »Ich bin Inspektor Chan von der hiesigen Polizei. Sie haben bestimmt in Morgenzeitung die Geschichte von unerwartetem Tod einer bekannten Schauspielerin gelesen. Ich bedaure zutiefst, meine Anwesenheit zwischen Sie und diese herrliche Aussicht drängen zu müssen, aber Gentleman, den Sie kennen, war Freund der verstorbenen Dame. Es ist daher unvermeidlich, daß ich mich kurz mit Ihnen unterhalte.«
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»Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte der alte Mann. Er stand auf und holte einen Stuhl herbei. »Setzen Sie sich, Inspektor. Ich bin Thomas MacMaster aus Queensland, Australien, und das ist Mrs. MacMaster.« Chan brachte eine bemerkenswerte Verbeugung zustande, und die alte Dame schenkte ihm ein rasches, freundliches Lächeln. Jetzt war es angebracht, zunächst einmal ein wenig zu plaudern. »Genießen Sie schönen Urlaub?« erkundigte er sich. »Das tun wir«, erwiderte MacMaster. »Und wir haben ihn auch verdient, was, Mutter? Nach langen Jahren auf einer Schafranch wollen wir endlich das alte Schottland wiedersehen. Eine sehr gemächliche Reise, Inspektor; wir wollen unterwegs nichts auslassen. Und wir sind besonders erfreut« – er deutete auf den Strand – »daß wir diesen wunderschönen Ort nicht ausgelassen haben.« Seine Frau nickte zustimmend. »O ja, es ist sehr schön hier. Wir befürchten schon sehr, daß wir nicht die Willensstärke haben werden, weiterzufahren.« »Sprich lieber nur für dich, Mutter«, sagte MacMaster. »Wenn es soweit ist, werde ich bestimmt genug Willenskraft für uns beide aufbringen. Vergiß nicht, daß Aberdeen wartet!« »Im Namen von Honolulu«, sagte Chan strahlend, »danke ich Ihnen ganz herzlich für Ihre geschätzten Komplimente. Ich sehe, daß sie ehrlich gemeint sind, und mein Herz ist zutiefst bewegt. Aber ganz wider Willen muß ich auf das Thema des Mordes von letzter Nacht kommen. Darf ich meine Bemerkungen mit der Feststellung eröffnen, daß irgendein ›malihini‹ – ein Fremder – für diese grauenvolle Tat verantwortlich
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sein muß. Hier sind die Menschen freundlich wie das Klima. Wir morden selten«, fügte er mitfühlend hinzu. »Natürlich«, murmelte die alte Dame. Charlie blickte auf und sah Tarneverro auf der Schwelle stehen. Das dunkle Gesicht des Wahrsagers strahlte vor Zufriedenheit, als er die Gruppe auf der Veranda entdeckte, und er eilte die Stufen hinab. Chan seufzte. Er hätte diese Angelegenheit lieber allein zu Ende gebracht. »Guten Morgen, Inspektor«, sagte Tarneverro. »Guten Morgen, Mrs. MacMaster. Und wie geht es Ihnen, Sir?« »Ich fühle mich ein klein wenig verloren«, antwortete der alte Mann. »Ich kann mich nie so ganz wohl fühlen, wenn ich nicht bei meiner Arbeit bin. Aber Mutter meint, ich müsse lernen, auszuspannen.« »Das müssen Sie wirklich«, lächelte Tarneverro. »Inspektor, ich freue mich zu sehen, daß Sie schon zu solch früher Stunde bei Ihrer Arbeit sind. Zweifellos sind Sie hier, um mein Alibi zu überprüfen, und das ist auch ganz richtig und angebracht. Haben Sie meinen beiden Freunden die wichtige Frage schon gestellt?« »Ich war gerade dabei, das Gespräch darauf zu bringen.« »Ah ja«, fuhr der Wahrsager fort. »Mr. MacMaster, diese unglückselige Affäre letzte Nacht – ich bin zufällig einer der wenigen Menschen, die sich auf dieser Insel befinden und mit der bemitleidenswerten Dame bekannt waren, und es ist wichtig, daß ich zur vollsten Zufriedenheit des Inspektors die Tatsache nachweise, daß ich zur Zeit ihrer Ermordung nicht am Tatort war. Glücklicherweise kann ich das beweisen – mit Ihrer Hilfe.« Er wandte sich an Charlie. »Nachdem ich Sie gestern abend im Foyer verlassen hatte, konnten Sie
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noch sehen, daß ich meine Unterhaltung mit Mr. und Mrs. MacMaster wieder aufnahm. Mr. MacMaster wird Ihnen erzählen, was wir danach gemacht haben.« Der alte Mann runzelte nachdenklich die Stirn. »Mr. – äh - Tarneverro schlug vor, auf die Veranda zu gehen, von wo aus man den Palmengarten sehen kann. Das taten wir auch, und dann unterhielten wir uns so etwa eine halbe Stunde über die alten Tage in Queensland. Schließlich schaute Mr. Tarneverro auf seine Uhr. Er sagte, es sei halb neun und er müsse uns jetzt verlassen, da er eine Abendeinladung am Strand angenommen hätte. Wir standen auf…« »Ich bitte untertänigst um Verzeihung«, unterbrach Chan, »aber haben Sie zufällig auf eigene Uhr geschaut?« »Jawohl«, erwiderte der alte Mann. Er war sehr ernst und sprach ganz unverkennbar die Wahrheit. »Ich holte meine Uhr heraus…« Er zog eine altmodische Uhr aus seiner Tasche. »›Sie geht ein wenig vor‹, sagte ich. >Bei mir ist es acht Uhr fünfunddreißig. Mutter, es ist Zeit für uns alte Leute, hinaufzugehen^ Sehen Sie, auf der Ranch gingen wir immer früh zu Bett, und es ist schwer, alte Gewohnheiten abzulegen. Also gingen wir ins Hotel hinein. Mutter und ich blieben bei den Aufzügen stehen, während Mr. Tarneverro zu seinem Zimmer im Erdgeschoß ging. Während wir auf den Lift warteten, ging ich zum Empfangspult, um die genaue Uhrzeit festzustellen. Es war acht Uhr zweiunddreißig, und ich stellte meine Uhr zurück. Das sind die Fakten, Inspektor, und Mutter und ich werden das jederzeit auch beschwören.« Chan nickte. »Die Rede mancher Menschen ist wie Wind in leerem Raum«, sagte er. »Aber ein Blinder
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könnte sehen, daß Ihr Wort etwas wert ist.« »So war es schon immer. Von Aberdeen bis Queensland hat noch niemand je an meinen Worten gezweifelt.« »Kennen Sie Mr. Tarneverro eigentlich schon lange?« Tarneverro ergriff das Wort. »Zehn Jahre«, antwortete er. »Ich spielte in einem Theater in Melbourne. Ich war damals Schauspieler, müssen Sie wissen. Unsere Truppe löste sich auf, und ich begab mich deshalb zu Mr. MacMasters Ranch, einige Meilen von Brisbane entfernt, um für ihn zu arbeiten. Ich blieb ein Jahr dort – das glücklichste Jahr meines Lebens. Denn wie Sie schon sehen können, wenn Sie diese Menschen nur anschauen – sie sind die freundlichsten Leute der Welt, und sie waren zu mir wie Vater und Mutter…« »Wir haben doch gar nichts Besonderes getan«, protestierte die alte Dame. »Es war eine Freude, Sie und…« »Allein und verlassen, wie ich damals war«, fiel Tarneverro ihr ins Wort, »war es ein großes Glück für mich, Menschen wie diese zu treffen. Sie können sich meine Freude vorstellen, als ich sie neulich zufällig in diesem Hotel wiedergesehen habe.« Er stand auf. »Ich nehme an, das war alles, was Sie wissen wollten, Mr. Chan. Aber ich würde mich gern noch mit Ihnen unterhalten.« »Das war alles«, bestätigte Chan und erhob sich ebenfalls. »Gnädige Frau, – Sir, – möge Urlaub weiterhin so glücklich verlaufen wie an diesem strahlenden Morgen an unbeschreiblich schönem Strand. Ich freue mich außerordentlich, daß unsere Wege sich hier an berühmter Kreuzung getroffen haben.« »Wir teilen diese Freude, Sir«, erwiderte MacMaster.
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Seine Frau nickte und lächelte. »Wir werden an Sie denken, wenn wir nach Aberdeen Weiterreisen. Wir wünschen Ihnen von Herzen viel Erfolg!« Charlie und der Wahrsager gingen hinein und setzten sich auf ein Sofa. »Sie sind Liebling der Götter«, stellte Chan fest. »Wenn ich Alibi brauchte, könnte ich mir nichts Besseres wünschen als Wort von ehrlichen Menschen wie diesen hier.« Tarneverro lächelte. »Ja – sie sind ein großartiges Paar. Einfach, gesund und allen alten Tugenden ergeben.« Er legte eine Pause ein. »Nun, Inspektor, Sie wissen jetzt genau, wo ich während dieser wichtigen achtzehn Minuten war. Wie steht es mit den anderen?« »Ich weiß auch, wo Robert Fyfe gewesen ist«, erwiderte Chan, »obwohl mich viele seiner Handlungen verwirren. Was die anderen betrifft, so haben sie nicht so großes Glück. Kein einziger hat Alibi.« Tarneverro nickte. »Ja – und einer von ihnen könnte vielleicht dringend ein Alibi brauchen, bevor dieser Fall beendet ist. Ich nehme an, daß Sie heute nacht keine plötzliche Inspiration hatten?« Traurig schüttelte Chan den Kopf. »Ich hatte nichts außer sehr tiefem Schlaf. Und Sie?« Der andere lächelte. »Ich fürchte, ich bin ebenfalls in einen traumlosen Schlaf gefallen. Nein – ich habe zwar intensiv nachgedacht, aber ich befürchte, daß ich Ihnen nicht viel helfen kann. Es gibt so viele Möglichkeiten. Sollen wir sie einmal alle aufzählen? Rita und Wilkie Ballou. Beide waren zum Zeitpunkt von Denny Mayos Ermordung in Hollywood. Von Mayo hieß es, er sei in bezug auf Frauen ziemlich leichtsinnig gewesen – und es steht fest, daß Ballou ein äußerst eifersüchti-
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ger Mann ist.« »Ich denke schon an Ballou«, stellte Chan langsam fest. »Das könnte sich auszahlen«, stimmte Tarneverro zu. »Er ist angeblich umhergeschlendert – ins Wohnzimmer gekommen, um eine Zigarette zu holen – behauptet, dort geblieben zu sein. Und dann haben wir Alan Jaynes. Er war gestern abend in sehr erregter Verfassung. Wer weiß etwas über ihn? Nehmen wir einmal an, daß er – wie Ballou – zu wilder Eifersucht neigt. Er sah die Blumen – aber nicht seine – an der Schulter der Frau, die er liebte. Wir fanden sie zertrampelt, als hätte jemand in blinder Wut gehandelt. Es ist ja immerhin möglich, daß die Mayo-Affäre überhaupt nichts mit dem Mord an Shelah Fane zu tun hatte, wie Sie gestern abend schon so richtig festgestellt haben. Vielleicht war es ein einfacher Fall von wahnsinniger, unvernünftiger Eifersucht…« »Vielleicht«, meinte Chan ruhig. »Da wäre noch Martino.« »Ja – Martino«, wiederholte der Wahrsager. Sein schönes Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. »Es würde mir viel Vergnügen bereiten, Ihnen zu helfen, ihm diese Sache anzuhängen. Er hat einige äußerst grobe Bemerkungen über mich gemacht.« »Was haben Sie von ihm für einen Eindruck?« fragte Charlie. »Oh, er hat anscheinend Verstand«, gab Tarneverro zu. »Und eine Art robuster Stärke – eine seltsame Kombination – der Ästhet und der Rohling in einer Person. Er war nicht in Hollywood, als Mayo ermordet wurde, aber auch hier – vielleicht sind wir auf der falschen Spur. Martino ist ein Frauenheld – vielleicht gab
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es zwischen ihm und Shelah Fane eine Beziehung. Jenes Taschentuch in seiner Tasche kommt mir jedenfalls ziemlich verdächtig vor. Natürlich leugnete er, daß es ihm gehörte – wer würde das nicht tun? Aber wenn wirklich jemand es Martino zugesteckt hat, so nahm er ein enormes und unnötiges Risiko auf sich. Warum es nicht einfach ins Gebüsch werfen? Es auf den Rasen fallen lassen? Warum das Schwierige, das Gefährliche versuchen? Vielleicht gehörte das Taschentuch doch Martino, Inspektor. Er hat es vielleicht nach dem Mord einfach wieder eingesteckt und wußte gar nicht, daß noch Glassplitter drin waren. Es sei denn« – der Wahrsager machte eine Pause – »es sei denn, Sie haben einen Beweis dafür, daß es jemand anderem gehörte.« Chan sah ihn aus schläfrigen Augen an. »Ich habe so wenig Beweise«, seufzte er. »In diesem Zustand dahinschmachtend, freue ich mich besonders, Sie reden zu hören. Fahren Sie bitte damit fort, Logik und Rhetorik zu handhaben, die Zwillingsblumen der Redekunst. Ich bringe jetzt den Namen Huntley Van Horn ins Gespräch.« Tarne verro warf ihm einen scharfen Blick zu. »Haben Sie etwas gegen Van Horn in der Hand?« »Bedauerlicherweise hat er kein Alibi. Außerdem war er genau zur kritischen Zeit am kritischen Ort.« Chan machte eine Pause und beschloß, einiges für sich zu behalten. »Abgesehen davon, habe ich nichts von Bedeutung gegen ihn vorzubringen. Seien Sie doch so freundlich und sagen Sie mir Ihre Meinung über diesen Mann.« »Nun«, sagte Tarneverro, »ich habe über Van Horn noch nicht viel nachgedacht. Er ist ein eigenartiger,
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ziemlich zynischer Kerl – ein berüchtigter Junggeselle, der alle Frauen zur Verzweiflung bringt. Es gab um ihn herum nie auch nur den leisesten Skandal. Ich habe den Burschen immer bewundert, obwohl er, bei Gott, nie besonders freundlich zu mir war. Er ist intelligent und hat einen ausgezeichneten Geschmack – vielleicht ist er etwas eingebildet, aber das wäre bestimmt jeder an seiner Stelle, wenn er ständig solche Schmeicheleien zu hören bekäme wie Van Horn.« Er dachte kurz nach. »Nein, Inspektor«, sagte er plötzlich entschieden, »obwohl er, wie Sie sagen, eine ausgezeichnete Gelegenheit zu dem Mord hatte, kann ich mir Van Horn nicht als den Schuldigen in diesem Fall vorstellen.« Charlie erhob sich. »Danke für dieses kurze Gespräch.« Er schaute auf seine Uhr. »Jetzt muß ich sehen, daß ich möglichst rasch zu Heim von Shelah Fane komme. Wollen Sie mich begleiten?« »Es tut mir leid«, erwiderte Tarneverro, »aber das kann ich im Augenblick leider nicht. Sie werden mich doch über jede neue Entwicklung auf dem laufenden halten, nicht wahr? Es ist keine reine Neugier von mir. Wenn wir zusammenarbeiten sollen, muß ich natürlich wissen, was Sie tun.« »Wir werden uns ab und zu treffen«, versicherte Chan. Sie gingen auf die Hoteltür zu. Der erste Hotelboy redete Tarneverro auf kantonesisch an, und der Wahrsager warf ihm einen bestürzten, verständnislosen Blick zu. »Was sagt er?« fragte er Charlie. »Er fragt sehr respektvoll nach Ihrem Befinden an diesem wundervollen Morgen«, übersetzte Chan. »Oh, es geht mir gut, Sam«, antwortete Tarneverro
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lächelnd. Sams breites Gesicht hatte einen verwirrten Ausdruck. »Auf Wiedersehen, Inspektor«, sagte der Wahrsager. »Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Neues herausfinden. Ich werde selbst auch Nachforschungen anstellen – alles, was ich tun kann – nun, wie ich Ihnen schon gesagt habe, werde ich Ihnen bis zum Schluß behilflich sein.« »Sie sind außerordentlich freundlich.« Chan verbeugte sich und ging zu seinem Auto. Der Rasen vor Shelah Fanes Haus lag friedlich und heiter im Schatten eines alten Feigenbaumes. Jessop öffnete die Tür, wie immer perfekt im Benehmen und in der Kleidung. »Wie geht es Ihnen, Inspektor?« fragte er. »Ein prachtvoller Morgen, nicht wahr?« »Stimmt wohl«, erwiderte Charlie. »Das ist Sache, die wir hier gar nicht bemerken. Alle Morgen sind gleich schön.« »Das muß doch mit der Zeit etwas eintönig werden, wenn ich so sagen darf, Sir.« Der Butler folgte Chan ins Wohnzimmer. »In England hingegen, Sir, bedeutet das Zurückziehen der Vorhänge am Morgen so etwas wie ein Lotteriespiel.« Charlie sah sich in dem großen Zimmer um, wo letzte Nacht so viel geschehen war. Jetzt war es ruhig, still und sonnig. »Miß Julie und Mr. Bradshaw sind irgendwo in der Nähe am Strand«, erklärte Jessop. »Einer Ihrer Polizisten – ein Mr. Hettick, glaube ich – ist im Pavillon emsig bei der Arbeit.« »O ja – Hettick ist unser Experte für Fingerabdrücke«, erläuterte Chan. »Ich werde sofort zu ihm gehen.« Auf dem Rasen traf er die beiden jungen Leute, die ihn
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herzlich begrüßten. »Ich bedaure sehr, mich zur Pest entwickeln zu müssen«, sagte er zu Julie, »aber Pfad der Tugend ist oft steinig.« »Nein, das könnten Sie niemals sein«, lächelte sie. »Wir haben Sie schon erwartet.« Er betrachtete sie – sie war so frisch und lieblich, ihre blauen Augen groß und unschuldig. Er dachte an den Smaragdring. »Nun, wie hat Ihnen mein Artikel in der Morgenzeitung gefallen?« wollte Bradshaw wissen. »Ich konnte ihn aus Zeitmangel leider nur flüchtig durchlesen«, erwiderte Charlie. »Aber ich glaube, er reicht für unsere Zwecke jedenfalls aus.« »Ist das das Beste, was Sie darüber sagen können?« beklagte sich der junge Mann. Charlie zuckte die Achseln. »Denk immer zweimal nach, bevor du Komplimente austeilst«, antwortete er. »Wenn niemand den Gesang des Affen gelobt hätte, würde er nicht noch immer singen.« Er grinste. »Vergleich ist natürlich unglücklich. Ich nehme an, Sie verbringen angenehmen Vormittag?« »Oh, ich bin nur hierhergeeilt, um Julie zu helfen«, berichtete der junge Mann. »Ich habe mich als Prellbock zwischen sie und die Reporter gestellt. Die Burschen von der Abendzeitung waren nicht gerade höflich. Sie scheinen etwas mißmutig darüber zu sein, daß sie die Story nicht als erste bringen konnten.« »Ein durchaus verständliches Gefühl«, meinte Chan. »Was haben Sie jetzt vor?« fragte Bradshaw. »Ich werde mich bei hellem Tageslicht etwas umschauen, nehme ich an«, antwortete Charlie. »Ich werde Ihnen helfen«, sagte Bradshaw. »Julie, setz dich hin und entspanne dich. Schließ die Augen
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und versuch, nicht nachzudenken. Das hat in Waikiki noch nie jemand gemacht, und man kann nie wissen – vielleicht ist es gefährlich.« Das Mädchen lächelte ihm zu und ließ sich in einen Strandkorb fallen. »Ich versuche das arme Ding etwas aufzumuntern«, erklärte Bradshaw, während sie auf den Pavillon zugingen. »Es ist ein ziemlich schwerer Schock für sie gewesen. Aber ich glaube, mit der Zeit werde ich sie überzeugen können, daß für sie alle Sorgen vorüber sind. Das heißt – wenn sie mich heiratet.« »Sie haben ausgezeichnete Meinung von sich selbst«, lächelte Chan. »Warum auch nicht? Ich kenne mich sehr gut.« Als sie den Pavillon erreichten, kam Hettick gerade heraus. Er war zur Zeit der Neugestaltung der Polizeibehörde vom Festland herübergeholt worden, um die Polizeimannschaft zu verstärken, und er hatte auf gutem Fuß mit Charlie gestanden, den er als Fingerabdruckexperte abgelöst hatte. »Guten Morgen, Mr. Hettick«, sagte Chan höflich. »Hatten Sie mit Ihrer Arbeit Erfolg?« »Nicht viel«, erwiderte der andere. »Eine Menge Abdrücke, aber die meisten sind von der Ermordeten. Für alle anderen wird es vermutlich auch eine Erklärung geben. Kommen Sie herein, dann zeige ich Ihnen…« »Einen Augenblick, bitte«, unterbrach ihn Charlie. »Zuerst möchte ich noch um das Haus herumgehen.« Gefolgt von Bradshaw, bahnte er sich einen Weg durchs Gebüsch seitlich des Pavillons und kam am öffentlichen Strand heraus, der den Besitz im Westen begrenzte. Unter dem einzigen Pavillonfenster, das auf diesen Strand hinausging, – dem Fenster, unter dem
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Smith am vorhergehenden Abend gestanden hatte – blieb er stehen. Jetzt befanden sich dort so viele Fußspuren, daß die des Vagabunden nahezu unkenntlich geworden waren. Charlie bückte sich und begann sorgfältig den Sand durchzusieben. Mit einem leisen Ausruf der Zufriedenheit richtete er sich wieder auf. »Wichtige Entdeckung!« verkündete er. Bradshaw trat näher. Er sah auf Charlies Handfläche die Reste einer kleinen Zigarre. »In den Sand getrampelt«, meinte Chan. »Ich hätte nie erwartet, so etwas hier zu finden.« »Aber – ich kenne nur einen einzigen Mann, der diese Zigarren raucht«, rief der junge Mann. »Ich habe ihn gesehen – gestern abend…« »Sie haben völlig recht«, lachte Chan. »Ein einziger Mann, und wer hätte geglaubt, daß er so nachlässig sein würde? Ich bin wirklich mehr als nur verwundert. Wann stand Mr. Alan Jaynes vor Fenster – und warum?«
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Kapitel 15
›Zwei Orangensaft ‹ Charlie holte einen leeren Briefumschlag aus seiner Tasche und legte seinen Fund vorsichtig hinein. Dann kletterten er und der junge Mann wieder durch die Büsche, und sie betraten den Pavillon. Hettick saß müßig neben der Frisierkommode, auf der er sein Berufswerkzeug ausgebreitet hatte. Chan setzte sich in einen Korbstuhl und sah sich in dem Zimmer um, wo erst gestern die Tragödie stattgefunden hatte. Das Gesicht des Detektivs war ruhig und gelassen; er sah aus, als hätte er keinerlei Probleme und warte nur auf die Essensglocke. Durch ein riesiges Fenster beobachtete er, wie ein Dampfer von der Küste langsam in den Hafen steuerte. »Sie hatten hier also kein Glück, Mr. Hettick?« fragte er. »Nicht viel«, erwiderte dieser. »Die Sachen auf dem Tisch sind voller Abdrücke, aber nur von der ermordeten Frau selbst. Ich habe mir ihre Fingerabdrücke heute morgen in der Leichenhalle besorgt. Übrigens hat der Untersuchungsrichter mich gebeten, Ihnen auszurichten, daß er die gerichtliche Leichenschau auf morgen verschoben hat. Er erwartet, daß Sie bis dahin irgendwelche Ergebnisse vorweisen können.« Chan zuckte die Achseln. »Danken Sie ihm für Kompliment. Und sagen Sie ihm, daß ich jederzeit gern mit ihm tauschen würde.« Wieder blickte er sich in dem Zimmer um; er stellte fest, daß die Holztäfelung kürzlich weiß gestrichen worden war. Plötzlich stand er auf und ging zu dem kleinen Fenster, das sich auf den Strand öffnete. »Ich glaube, dieses
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Fensterbrett haben Sie nicht untersucht«, stellte er fest. »Nein – Sie haben recht«, antwortete Hettick. »Ich wollte es tun, habe es dann aber vergessen.« Chan grinste. »Verstand wird so schlüpfrig in warmem Klima. Darf ich untertänigst vorschlagen, daß Sie das jetzt nachholen?« Hettick streute sein Lampenruß auf den Sims. Mit geübter Hand bediente er sich dabei einer Kamelhaarbürste. Charlie und der junge Mann sahen ihm aus nächster Nähe fasziniert zu. »Aha«, rief Chan. Auf der glatten, weißen Oberfläche des Fensterbretts zeichneten sich Finger- und Daumenabdrücke ab. »Diese stammen wohl nicht von Shelah Fane?« erkundigte sich Charlie. »Nein«, antwortete Hettick. »Sie sind von einer Männerhand.« Tief in Gedanken versunken, stand Chan da. »Und ziemlich neu. Wir machen Fortschritte. Eine Männerhand. Ein Mann ist also auf das Fensterbrett geklettert. Warum? Natürlich, um ins Zimmer zu gelangen. Wann? Letzten Abend, als Mord begangen wurde. Ja, wir machen Fortschritte.« Er legte eine Pause ein. »Welcher Mann?« Seine Finger berührten in der Jackettasche den Umschlag mit dem Überrest der Zigarre. Er faßte plötzlich einen Entschluß. »Eins steht fest. Ich muß mir sofort Fingerabdrücke von Jaynes verschaffen.« Er lächelte Jimmy Bradshaw zu und fuhr fort: »Polizei hat gutes Indiz und verspricht baldige Festnahme. Aber wenn Sie auch nur ein Wort davon veröffentlichen, werde ich die Sache mit Ihrer Wäscherei wieder aufgreifen und Sie sofort ins Gefängnis
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sperren lassen.« »Ich werde keinen Gebrauch davon machen«, versprach der junge Mann. »Was werden Sie jetzt unternehmen?« »Ich werde Sie hier ganz allein zurücklassen – nur mit Miß Julie. Und wer ist das für Sie?« »Warten Sie einen Augenblick, dann erzähle ich es Ihnen. Julie ist das…« »Später«, unterbrach ihn Chan. »Viel später. Mr. Hettick, bitte bleiben Sie hier, bis ich zurückkomme. Ich werde Ihr scharfes Auge benötigen. Ich habe jetzt im Grand Hotel zu tun.« Er ging hinaus, und der junge Mann folgte ihm. Nachdem Charlie außer Sichtweite war, lief Bradshaw zu Julie hinüber und setzte sich neben sie. »Ist dieser komische Detektiv weggegangen?« fragte sie eifrig»Für kurze Zeit. Er kommt gleich zurück.« Der junge Mann hatte den Eindruck, als huschte ein ängstlicher Ausdruck über ihr hübsches Gesicht. Er wunderte sich. »Charlie hat gerade vor dem Pavillonfenster eine wichtige Entdeckung gemacht«, erzählte er ihr. »W-was?« fragte sie. »Ich glaube nicht, daß er es gern sehen würde, wenn ich es dir erzähle«, antwortete Bradshaw. »Zumindest jetzt noch nicht. Aber – wer ist eigentlich dieser Alan Jaynes? Du kennst ihn nicht sehr gut, oder?« »Fast überhaupt nicht«, antwortete das Mädchen. »Ich habe ihn gestern früh zum erstenmal gesehen. Shelah hat ihn in Tahiti kennengelernt – ich glaube, sie hatte ihn sehr gern. Aber sie hatte so viele Menschen gern. Sie hatte sogar – mich gern.« Völlig unerwartet wandte Julie sich ab und brach in Tränen aus.
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Bradshaw stand auf und legte ihr eine Hand auf die bebende Schulter. »Na – na«, sagte er unbehaglich. »Das darfst du nicht tun. Du ruinierst mein ganzes Pressegeschwätz. Waikiki, der Ort des Friedens, der Strand, an dem das Glück regiert. Angenommen, einer der Touristen, die mich beim Wort nahmen, könnte dich jetzt sehen.« »Es – es tut mir leid«, schluchzte sie. »Ich bin nicht glücklich; ich kann es nicht sein.« »Nein, natürlich kannst du nicht glücklich sein – nicht im Augenblick, meine ich. Aber warum solltest du nicht an all das kommende Glück denken und dich damit ein wenig trösten?« »Ich werde – ich werde nie wieder glücklich sein«, sagte sie. »Unsinn. Ich werde die Welt für dich so bezaubernd machen, wie ich diese Stadt in den Anzeigen des Touristenbüros darstelle. Wenn wir erst einmal verheiratet sind…« Sie schob ihn weg. »Wir werden niemals verheiratet sein. Oh, es ist furchtbar. Ich bin schrecklich, wirklich – und du hast keinerlei Verdacht. Du wirst mich hassen – wenn du es erfährst.« »Was du nicht sagst! Sieh mich an!« Er beugte sich vor und küßte sie. »Du darfst das nicht!« schrie sie. »Ich mußte einfach«, lächelte er. »Es ist meine Pflicht. Ich habe den Ort hier wegen seiner Romantik öffentlich bekannt gemacht, und Romantik muß einfach sein, wenn ich mit von der Partie bin. Jetzt hör mir mal gut zu – in einer Woche oder noch früher wird das alles vorüber sein, und du kannst anfangen zu vergessen. Charlie Chan wird das Problem jeden Augenblick
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lösen…« »Oh – glaubst du das wirklich?« »Er ist sich ganz sicher. Man kann vor Charlie nichts geheimhalten.« »Das wundert mich aber«, sagte das Mädchen. »Ich weiß«, erwiderte Bradshaw bestimmt. Während Chan das Foyer des Grand Hotels betrat, teilte er Bradshaws Zuversicht kaum. Er winkte dem Hotelboy zu und ging sofort zur Rezeption. »Ich bin schon wieder da«, sagte er zu dem Hotelangestellten. »Für einen nichtzahlenden Gast halte ich mich sehr viel hier auf. Würden Sie so freundlich sein und mir Telefonnummer von Mr. Alan Jaynes’ Zimmer geben?« Lächelnd erfüllte der Angestellte seine Bitte und deutete auf das Haustelefon rechts vom Schalter. Charlie war erleichtert, als er die Stimme des Briten hörte. Er bat höflich um eine kurze Unterhaltung, und Jaynes erwiderte, er werde sofort herunterkommen. Ungewöhnlich eilig begab sich Charlie in die Halle. Ein kleiner Hotelboy von den Philippinen war allein dort, und der Detektiv rief ihn herbei. »Ich möchte zwei köstliche Orangensaft-Drinks haben«, sagte er. »Ja, Sir«, antwortete der Junge. »Ich werde dich außerdem begleiten, während du sie holst.« Der Junge war zwar etwas erstaunt, aber es war nicht seine Sache, Einwände zu erheben. Er war aus dem Dschungel gekommen, um zu lernen, daß der Gast immer recht hat. Charlie folgte seinem kleinen Führer zur Bar, wo sie einen Mann in weißer Schürze antrafen.
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»Inspektor Chan, von der hiesigen Polizei«, erklärte Chan kurz. »Ich habe gerade zwei Orangensaft bestellt. Geben Sie mir bitte Gläser, in denen er serviert wird.« Der Bedienstete war zu müde, um überrascht zu sein. Wie er seiner Frau oft auseinandersetzte, hatte das Klima ihn geschafft. Er holte die Gläser heraus, und Charlie brachte ein makelloses Taschentuch zum Vorschein und begann sie eifrig zu polieren. »Ich beeile mich mit Feststellung, daß dies keine Kritik an den von Ihnen gepflegten Gläsern sein soll«, sagte er. »Aber ich lese in letzter Zeit viel über Bakterien.« Er grinste. »Eine sehr gefährliche Form tierischen Lebens.« Man konnte aber beobachten, daß er sich nur um die Außenseite der Gläser kümmerte. Er vollendete sein Werk, stellte die Gläser auf das Tablett, das der Junge gebracht hatte, griff in seine Tasche und reichte dem Barkeeper einen Vierteldollar. »Sie erweisen mir großen Gefallen, wenn Sie diese Gläser füllen, ohne sie mit Ihren Fingern zu berühren.« Dann wandte er sich an den Jungen. »Das gilt auch für dich. Hast du verstanden? Du sollst diese Gläser nicht berühren. Stell das Tablett auf den Tisch, so wie es ist. Sonst werde ich, wenn Augenblick für dein Trinkgeld gekommen ist, entrückten Blick aufsetzen und dich einfach übersehen.« Als er in die Halle zurückkam, wartete der Brite schon auf ihn. »Ah – Mr. Jaynes«, sagte Chan. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Nacht?« Jaynes starrte ihn an. »Nein«, antwortete er, »aber was macht das schon?« »Das tut mir aber leid«, rief Chan. »Waikiki ist be-
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rühmt dafür, daß man hier gut schlafen kann, und als alter Einwohner von Honolulu verursacht es mir tiefen Kummer, wenn es seinem Ruf nicht gerecht wird. Wollen Sie mir Ehre erweisen, neben mir auf diesem Sofa Platz zu nehmen?« Er setzte sich hin, und das Sofa knarrte protestierend unter seinem Gewicht. »Rauhe Stimme von Möbelstück will auf mein übermäßiges Gewicht aufmerksam machen«, fuhr er leutselig fort. »Ich faste und faste, aber ohne jeden Erfolg. Was sein muß, wird sein. Der Mensch, wer ist er denn, daß er eigenes Gewicht auf Waage festlegen will? All das ist andernorts bestimmt.« Jaynes setzte sich neben ihn. »Was kann ich heute morgen für Sie tun, Inspektor?« erkundigte er sich. »Sie können, wenn Sie so freundlich sein wollen, meine erneuten Entschuldigungen dafür annehmen, daß ich Sie auf dieser Insel festhalte. Manche nennen sie zwar paradiesisch, aber ich kann mir vorstellen, daß sogar Paradies nicht so schön ist, wenn man anderes Reiseziel hat. Nochmals mein tiefstes Bedauern. Ich versichere Ihnen, daß ich größtmögliche Geschwindigkeit an den Tag lege, um Geheimnis aufzuklären, damit Sie rasch abreisen können.« »Es freut mich, das zu hören«, sagte Jaynes. Er holte ein Etui heraus und bot Charlie eine seiner kleinen schwarzen Zigarren an. »Nein?« Er zündete sich selbst eine an. »Ich hoffe, Sie machen Fortschritte?« »Ich stoße auf Schwierigkeiten«, gab Charlie zu. »Wer etwas weiß, schweigt; wer redet, weiß nichts. Aber darauf muß man bei meiner Arbeit immer gefaßt sein. Seit einer Stunde glaube ich, schwachen Lichtschimmer vor mir zu sehen. Ah…« Der Junge von den Phi-
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lippinen hatte das Tablett gebracht und stellte es auf einem Tischchen vor ihnen ab. »Ich hätte Ihnen sagen sollen, Mr. Jaynes, daß ich auf Orangensaftdiät gesetzt bin, und so habe ich gewagt, für Sie das gleiche zu bestellen.« »O nein, danke«, wehrte der Brite ab. »Ich glaube nicht…« »Alles steht schon bereit«, protestierte Charlie, und seine Stimme nahm einen Klang an, als würde er gleich beleidigt sein. »Getränk ist harmlos. Sie werden es doch nicht ablehnen?« »Nun ja – ich danke Ihnen«, sagte Jaynes. Im Augenblick hatte er auf nichts weniger Appetit, aber er wußte, wie leicht man die Gefühle eines Chinesen verletzen kann, und er konnte keinen weiteren Ärger mit diesem besonderen Repräsentanten der Rasse heraufbeschwören. »Sie sind sehr zuvorkommend.« Er griff nach einem Glas. Strahlend hob nun auch Chan sein Glas. »Wir wollen auf meinen raschen Erfolg trinken, da Ihnen daran ja ebenso viel liegt wie mir.« Er nahm einen großen Schluck und setzte das Glas ab. »Ich nehme an, daß milder Geschmack der Flüssigkeit Ihnen großen Kummer verursacht. Ich habe schon oft festgestellt, wie bitter Männer Ihres Volkes auf die Prohibition reagieren.« »Welche Prohibition?« erkundigte sich Jaynes. »Ah, Sie spotten und höhnen. Nun ja, es ist edles Experiment, aber nicht so neu, wie viele glauben. Kaiser Yü, der im Jahre 2205 vor Christus auf den chinesischen Thron kam, sagte, nachdem er zum erstenmal Alkohol probiert hatte, das werde seinem Volk noch viel Leid bringen, und so verbot er ihn. Sein Edikt war
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eine Zeitlang sehr wirksam, ging aber später auf trüben Seiten der Geschichte verloren. China«, fügte Chan hinzu, »hat, wie Geldbörse eines großzügigen Mannes, viel erduldet. Aber es lebt trotzdem immer weiter.« Jaynes betrachtete ihn mit tiefer Neugierde. War dieser eigenartige Polizeibeamte nur hergekommen, um über die Prohibition zu diskutieren? Charlie bemerkte den Blick. »Um aber wieder auf unser Thema zurückzukommen«, sagte er, »möchte ich Sie bezüglich gestern abend noch einiges fragen. Sie sind sehr unglücklicher Mann, weil Sie kein hübsches Alibi für Mordzeit besitzen. Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie während der verhängnisvollen Zeit ziemlich außer sich herumgelaufen?« »Leider ja«, gab Jaynes zu. »Von Augenblick an, da Sie Martino am Strand verließen, bis zu Zeitpunkt, als er hinausging und Ihnen Nachricht von Mord überbrachte, waren Sie ganz allein?« »Ja.« »Wie weit kamen Sie bei Ihrem Spaziergang am Strand?« »Nur bis zum Moana-Hotel. Dort setzte ich mich unter den Feigenbaum und versuchte mir darüber klarzuwerden, was ich jetzt tun sollte.« »Sie sind nicht zufällig – trinken Sie noch einen Schluck mit mir – ah ja – Sie sind nicht bis zu Shelah Fanes Haus gelaufen?« »Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß ich nur bis zum Moana-Hotel gegangen bin. Dort setzte ich mich, wie gesagt, hin, um nachzudenken. Als ich etwas ruhi-
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ger geworden war, fiel mir ein, daß ich vielleicht viel Lärm um nichts machte. Eine Frau, die von einem dummen Wahrsager so leicht beeinflußt werden konnte – ich begann mich zu fragen, ob sie eine geeignete Ehefrau für mich abgeben würde. Ihr Leben war von meinem so weit entfernt – ich fühlte allmählich, daß die ganze Angelegenheit sich nur als vorübergehende Betörung auf beiden Seiten erweisen könnte. Ich beschloß, um Mitternacht abzureisen und, wenn möglich, die ganze Sache zu vergessen. Danach fühlte ich mich besser. Ich ging am Outrigger-Club vorbei hierher zurück, und direkt vor dem Hotel traf ich Martino, der mir die schreckliche Neuigkeit von der Ermordung der armen Frau mitteilte.« »Hat niemand Sie im Moana-Hotel unter dem Feigenbaum gesehen?« »Ich glaube nicht. Ich saß in einer dunklen Ecke.« »Sind Sie jemals im Pavillon gewesen, wo Shelah Fane Tod fand?« »Nein – ich habe diesen Ort nie gesehen.« »Sie haben sich also auch nicht irgendwann in der Umgebung des Pavillons aufgehalten? Zum Beispiel vor dem Fenster?« »Nein, ich war nie dort.« Ohne Aufforderung hob Jaynes sein Glas und leerte es. Plötzlich starrte er Charlie an. »Warum fragen Sie mich das eigentlich?« »Ich versuche nur, Ermittlung einzuengen«, erklärte Chan. »Danke, das wäre alles. Wissen Sie Abfahrtszeit von nächstem Schiff zum Festland?« »Selbstverständlich«, antwortete der Brite. »Morgen um zwölf Uhr mittags fährt eines. Ich hoffe bei Gott…« »Ich werde überall auf einmal sein und mich aufs Äu-
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ßerste ausdehnen«, lächelte Chan. »Obwohl viele bei meinem Anblick sagen würden, daß ich das ohnehin schon getan hätte.« Jaynes lachte. »Lassen Sie sich von diesem Gedanken nicht abschrecken«, sagte er. »Ich weiß, Sie werden Ihr Bestes tun. Übrigens – ich befürchte, ich war letzte Nacht ziemlich grob zu Ihnen – aber ich wollte unbedingt hier wegkommen. Aus vielen Gründen – nicht nur wegen meiner Geschäfte in den Staaten – aber diese ganze schreckliche Affäre – ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Ich will es auch jetzt nicht. Können Sie das verstehen?« »Ich verstehe«, nickte Chan feierlich. Seine linke Hand berührte in der Seitentasche seines Jacketts einen bestimmten Umschlag. »Ich werde mich jetzt verabschieden«, fügte er noch hinzu. Er beobachtete, wie der Brite die Terrasse überquerte und zum Meer schlenderte. Er hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich gerade noch rechtzeitig um. Ein alter, gebeugter Chinese, der mit Kehrrichtschaufel und Besen bewaffnet fortwährend durch die Halle lief, streckte gerade die Hand nach den Gläsern aus. »He!« Chan packte die verwelkte Hand. »Berühren Sie diese Gläser nicht, sonst wird der Zorn der sieben wachsamen Götter über Sie kommen.« Er holte sein Taschentuch heraus und wickelte es vorsichtig um das Glas, aus dem Jaynes getrunken hatte. »Ich nehme dieses Glas mit, und Sie geht diese Sache überhaupt nichts an.« Aber offensichtlich war der alte Mann ganz anderer Ansicht, denn er folgte Chan zum Empfangspult. Dort traf er einen der Hotelmanager. »Ich möchte diesen Gegenstand käuflich erwerben«, sagte er und zeigte
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den Inhalt des Taschentuches vor. »Nennen Sie bitte Preis.« Der Manager lachte. »Das ist schon in Ordnung. Nehmen Sie es mit. Was treiben Sie, Charlie? Sammeln Sie Fingerabdrücke von unseren harmlosen Gästen?« »Sie sind ganz nahe bei der Wahrheit«, nickte Chan. »Vielleicht abgesehen von dem Wort ›harmlos‹. Herzlichen Dank. Würden Sie jetzt bitte diesen betagten Herrn beruhigen, der glaubt, einen der vierzig Räuber gefangen zu haben.« Der Manager sagte dem Dienstboten etwas, und er entfernte sich murrend. Chan wußte, daß dessen Kommentare nicht gerade schmeichelhaft waren, aber das war ihm egal. Er eilte zu seinem Auto. Tief in Gedanken, fuhr er zu Shelah Fanes Haus zurück. Wenn die Fingerabdrücke auf diesem Glas identisch mit jenen auf dem Fensterbrett waren, so näherte er sich dem Ende der Reise. Hettick hatte auf ihn gewartet, und ihm vertraute Chan sein kostbares Gut an, das noch nach Orangensaft duftete. Der Experte machte sich rasch an die Arbeit. Gleich darauf stand er am Fenster, das Glas in einer Hand, ein Vergrößerungsglas in der anderen. Chan stand dicht hinter ihm und wartete auf das Urteil. Hettick schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen«, stellte er fest. »Diesmal waren Sie auf der falschen Spur, Inspektor.« Zutiefst enttäuscht setzte Chan sich auf einen Stuhl. Es war also doch nicht Alan Jaynes gewesen. Bis zu diesem Augenblick hatte alles so genau zusammengepaßt, daß er keinen Zweifel mehr gehabt hatte. Auf der falschen Spur, wie? Er hatte sich nicht darum ge-
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kümmert, in welchem Ton Hettick das gesagt hatte. Seine Polizeikollegen waren seit seiner Rückkehr vom Festland ziemlich unfreundlich gewesen. Sie hatten erwartet, daß er sich wegen seiner dortigen Erfolge hochmütig und arrogant aufführen würde, und die Tatsache, daß er auch nicht die leiseste Spur einer solchen Haltung zeigte, hatte ihren Neid nicht verringern können. Er hatte viele Bemerkungen über sich ergehen lassen müssen, die einen Unterton von Feindseligkeit hatten. Auf der falschen Spur? Nun, wer schlug denn in diesem Beruf nicht gelegentlich einen falschen Weg ein? Wo war der Supermann, der sich niemals irrte? Auf der falschen Spur. Chan war tief in Gedanken versunken. Jaynes hatte vor diesem Fenster gestanden, der Überrest der kleinen Zigarre, die er offensichtlich vergessen hatte, war Beweis genug. Aber er war es nicht, der auf das Fensterbrett geklettert und ins Zimmer gestiegen war und auf dem weißen Sims Fingerabdrücke hinterlassen hatte. Das war ein anderer gewesen. Wer? Wer war sonst noch…? Plötzlich schlug sich Charlie heftig gegen die Stirn. »Ha – ich bin vollkommener und gänzlicher Idiot gewesen. Ich bewege mich zu rasch vorwärts, ohne genau zu überlegen. Jeder versucht, mich zur Eile anzutreiben – sogar meine eigene Familie. Und ich bin nicht zur Eile geschaffen. Eile ist der Wind, der das Rüstzeug zerstört.« Er wandte sich an Hettick. »Was ist aus Fingerabdrücken von Vagabund geworden, die gestern nacht in Polizeistation gemacht wurden?« »Ich habe sie bei mir.« Er holte einen Umschlag aus der Tasche und nahm eine Glasplatte heraus. »Glauben Sie…?«
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»Jawohl, ich glaube – ein bißchen spät, aber immerhin«, sagte Chan. Er nahm die Platte seinem Kollegen aus der Hand und eilte damit zum Fenster. »Kommen Sie rasch her«, rief er. »Ihr Vergrößerungsglas – sehen Sie! Was stellen Sie fest?« »Es sind die gleichen«, verkündete Hettick. Charlies kleinen Augen leuchteten triumphierend. »Endlich bekomme ich Boden unter die Füße«, rief er. »Smith, der Strandvagabund, war gestern abend in diesem Zimmer. Befinde ich mich immer auf falscher Spur, oder habe ich doch auch meine lichten Augenblicke?«
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Kapitel 16
Ein warnendes Wort Chans ruhiges, unbeschwertes Benehmen war für den Augenblick ganz verschwunden, und er lief im Zimmer herum, als hätte seine neueste Entdeckung ihn inspiriert. »Smith, der Vagabund«, wiederholte er. »Trauriges menschliches Wrack, ans Ufer von herrlicher Insel gespült. Zerlumpter Überrest eines Mannes – wie emsig war er doch gestern abend um dieses Gebäude herum beschäftigt! Ich nehme an, es war in Smiths Leben ein bedeutsamer Abend.« Hettick packte sein Werkzeug zusammen. »Na, ich glaube, ich werde mich jetzt zur Polizeistation zurückbegeben«, sagte er. »Ich habe Sie ja jetzt mit Material versorgt. Machen Sie das Beste daraus!« »Sie sind schlauer Detektiv«, grinste Chan. »Manchmal denkt man an etwas nicht mehr, aber wenn demütiger Mitarbeiter einen daran erinnert, stürzt man vorwärts wie Rachedämon. Sie haben mich wirklich mit Material versorgt. Ja, fahren Sie bitte sofort ins Hauptquartier. Ich komme später nach, und in Zwischenzeit mache ich respektvollen Vorschlag, sofort dringende Suche nach Smith einzuleiten. Sagen Sie dem Chef, daß Vagabund unverzüglich herbeigeschafft werden muß. Alle üblen Spelunken sollen nach ihm abgesucht werden. Das kann Kashimo übernehmen. Er ist unser passioniertester Spürhund, und außerdem kennt er wohl sämtliche Ecken und Enden von bescheidener kleiner Unterwelt.« Hettick versprach, die Botschaft zu übermitteln und brach auf. Auch Charlie verließ den Pavillon. Er ent-
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deckte Julie und Bradshaw auf dem Rasen und blieb bei ihnen stehen. »Soll ich Sie in die Stadt mitnehmen?« fragte er Jimmy. »Nein, danke«, antwortete Jimmy. »Heute habe ich mein eigenes Auto dabei. Außerdem hat Julie mich gerade überredet, zum Mittagessen hierzubleiben.« »Möge Leben für Miß Julie niemals schwerere Aufgabe bereithalten als solche Überredung«, sagte Chan lächelnd. »Ich möchte Ihre Zukunft nicht trüben, Miß Julie, aber ich muß Sie warnen, daß ich bald hierher zurückkommen werde.« Er war schon auf dem Weg zu seinem Wagen, als Jessop ihn von der Verandatür aus anrief. »Ah – äh – Herr Inspektor«, sagte er. »Darf ich Sie bitten, kurz hereinzukommen?« Betroffen vom Ernst des Dieners, kam Charlie seiner Bitte nach. »Haben Sie mir etwas zu sagen?« fragte er. »Ja, Sir. Kommen Sie bitte mit.« Jessop führte ihn in ein kleines Empfangszimmer und trat als erster ein – was bei ihm ein deutliches Anzeichen ungewöhnlicher Zerstreutheit war. »Oh – entschuldigen Sie bitte, Sir. Ich werde nur noch diese Tür schließen, damit wir nicht gestört werden.« »Ich habe nicht allzuviel Zeit…«, bemerkte Chan, der von diesen umständlichen Vorbereitungen ziemlich überrascht war. »Das weiß ich, Sir, und ich werde – äh – sofort zur Sache kommen.« Trotz dieser Ankündigung zögerte er noch. »Mein alter Vater, der weit über vierzig Jahre im Dienste eines sehr anspruchsvollen Herzogs stand, lehrte mich in meiner Jugend: ›Ein guter Diener, Cedric, sieht alles, weiß alles, aber erzählt nichts.‹ Erst
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nach langer, reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, diesen weisen Rat ausnahmsweise nicht zu befolgen.« Chan nickte. »Prinzipien müssen manchmal besonderen Situationen angepaßt werden.« »Genau, Sir. Ich war schon immer ein Mensch, der die Gesetze achtet, und – was noch wichtiger ist – mir liegt sehr viel daran, daß Sie dieser Sache auf den Grund gehen, ohne – wenn ich so sagen darf – weitere Verzögerungen. Gestern abend hatte ich zufällig gerade in dem Augenblick im Vorraum zu tun, als Sie Miß Julie bezüglich des Smaragdringes Fragen stellten. Sie werden jetzt vielleicht annehmen, daß ich horchen wollte, aber ich kann Ihnen versichern, daß mir so etwas völlig fernlag. Ich hörte, wie die junge Dame Ihnen erzählte, daß Miß Fane ihr jenen Ring am frühen Morgen übergeben hätte, und daß er seitdem in ihrem Besitz gewesen wäre, bis Sie ihn in ihrem Zimmer fanden.« »So lautete ihre Aussage«, bestätigte Chan. »Ich bin völlig außerstande, das zu verstehen, Sir. Ich weiß nicht, was sie mit der Aussage bezweckte – aber ich weiß folgendes: So gegen sieben Uhr abends rief Miß Fane mich gestern zu sich und übergab mir den Brief, den ich Mr. Tarneverro sofort nach seinem Eintreffen aushändigen sollte. Dabei sah ich ganz genau, daß der fragliche Ring an ihrer rechten Hand funkelte. Ich bin mir dieser Sache ganz sicher, Sir, und ich bin bereit, einen Eid darauf abzulegen.« Kurze Zeit schwieg Chan. Er dachte an Julie, die so jung und unschuldig aussah. »Ich danke Ihnen«, sagte er schließlich. »Ihre Aussage scheint von großer Bedeutung zu sein.«
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»Ich hoffe nur, daß sie doch keine so große Bedeutung hat, wie es den Anschein erweckt«, erwiderte Jessop. »Ich habe Ihnen das alles nur äußerst ungern erzählt. Ich habe nichts gegen Miß Julie – sie ist wirklich eine charmante junge Dame, Sir. Ich war lange Zeit versucht, die Sache zu verschweigen, aber dann sah ich doch ein, daß meine Pflicht entschieden in der anderen Richtung lag. Wie Sie, möchte ich den Missetäter in diesem Mordfall entsprechend bestraft sehen. Miß Fane war immer außerordentlich freundlich mir gegenüber.« Chan ging zur Tür. »Ich werde mich Ihrer Information sofort bedienen«, kündigte er an. Jessop schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen. »Wenn Sie mich nur aus der Sache heraushalten könnten, Sir…« »Das wird eventuell nicht möglich sein«, entgegnete Chan. Jessop seufzte. »Das ist mir klar, Sir. Ich kann nur wiederholen, daß ich meiner Sache ganz sicher bin. Meine Augen sind noch ausgezeichnet, was für einen Mann in meinem Alter Grund zu tiefer Befriedigung ist.« Sie traten in das Vorzimmer hinaus. Anna kam gerade langsam die Treppe herunter. Chan wandte sich an Jessop: »Ich danke Ihnen nochmals. Sie können jetzt gehen.« Der Butler verschwand in Richtung Küche, und Charlie wartete an der Treppe auf Anna. »Guten Morgen«, sagte er liebenswürdig. »Ich hätte Sie gern kurz gesprochen.« »Selbstverständlich«’, antwortete Anna und folgte ihm ins Wohnzimmer.
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»Erinnern Sie sich noch an Miß Julies Aussage bezüglich des Ringes?« »Natürlich, Sir.« »Der Ring wurde ihr von Miß Fane am frühen Morgen ausgehändigt und blieb dann in ihrem Besitz. Haben Sie dazu etwas zu sagen?« »Was – was meinen Sie damit, Sir?« »Haben Sie im Laufe des Tages Ring nicht zufällig an Miß Fanes Finger gesehen? Oder als sie wegen Anstecknadel für Orchideen zu Ihnen kam?« »Wenn, so habe ich jedenfalls nicht darauf geachtet, Sir.« »Sie sehen Dinge und achten nicht darauf?« »Sie wissen ja, wie das so ist, Sir. Dinge werden einem vertraut, und man nimmt sie nicht mehr richtig wahr. Was ich sagen will, ist – der Ring kann dagewesen sein oder auch nicht. Ich befürchte, ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, Sir.« »Und Sie wollen bei dieser Aussage bleiben?« »Mir bleibt nichts anderes übrig.« Chan machte eine Verbeugung. »Danke – das wäre alles.« Langsam durchquerte er die Veranda. Die Aufgabe, die vor ihm lag, behagte ihm überhaupt nicht, aber er war in der Vergangenheit schon oft mit solchen Aufgaben konfrontiert worden und hatte nie gezaudert. So ging er über den Rasen zu einer Hollywoodschaukel, wo Bradshaw und das junge Mädchen saßen. »Miß Julie«, begann er. Das Mädchen blickte zu ihm auf und erbleichte, als sie sein ernstes Gesicht sah. »Ja, Mr. Chan«, sagte sie leise. »Miß Julie, Sie haben mir erzählt, daß Miß Fane Ihnen Smaragdring gestern morgen kurz nach ihrer Ankunft
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gegeben hätte. Warum haben Sie mir das erzählt?« »Weil es die Wahrheit ist«, antwortete Julie tapfer. »Wie erklären Sie sich dann, daß Ring noch gestern abend um sieben Uhr an ihrem Finger gesehen wurde?« »Wer behauptet das?« schrie das Mädchen. »Spielt das eine Rolle?« »Es spielt eine sehr große Rolle. Wer behauptet es?« »Ich habe es aus – meiner Meinung nach – zuverlässiger Quelle erfahren.« »Sie können nicht wissen, ob sie zuverlässig ist, Mr. Chan. Wer hat diese Behauptung aufgestellt? Miß Dixon kann es nicht gewesen sein – sie ist noch gar nicht aufgestanden. Es muß also einer der Dienstboten gewesen sein. Jessop vielleicht. War es Jessop, Mr. Chan?« »Was spielt das schon für eine Rolle…« »Aber ich versichere Ihnen, daß es sehr wichtig ist. Sie müssen nämlich wissen, daß ich mit Jessop nicht sehr gut stehe. Zwischen uns besteht ein alter Groll – wenigstens von ihm aus.« »Erklären Sie mir bitte, was Sie damit sagen wollen.« »Selbstverständlich. Wie ich Ihnen gestern abend schon gesagt habe, wurde Miß Fane von ihren Dienstboten immer betrogen. Als ich ihre Sekretärin wurde, verschloß ich zuerst meine Augen davor, denn ich bin keine Klatschbase. Aber vor etwa einem Jahr befand Shelah sich in großen Geldschwierigkeiten, und so begann ich nachzuforschen. Dabei entdeckte ich, daß Jessop mit den Geschäftsleuten ein äußerst schamloses Abkommen getroffen hatte – alle Rechnungen wurden stark überhöht, und Jessop erhielt einen Teil des Profits.
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Ich habe Miß Fane nichts davon gesagt – ich wußte, was das zur Folge haben würde: einen Temperamentsausbruch, Tränen und Anklagen, und zuletzt wahrscheinlich eine große Versöhnungsszene. Sie war immer so weichherzig. Deshalb ging ich statt dessen selbst zu Jessop, stellte ihn zur Rede und sagte ihm, daß die Sache sofort aufhören müsse. Er war sehr unverschämt und sagte mir, daß alle anderen Dienstboten in Hollywood das gleiche täten; er hielt es anscheinend für eine Art fürstlichen Privilegs. Aber als ich damit drohte, es Miß Fane zu erzählen, gab er doch klein bei und versprach, damit Schluß zu machen. Das hat er wohl auch getan, aber seitdem ist er mir gegenüber immer sehr kühl, und ich weiß, daß er mir nie verziehen hat. Deshalb habe ich Sie auch gefragt, ob es Jessop war, der Ihnen dieses – dieses Märchen über den Ring erzählt hat.« »Und wie ist Ihr Verhältnis zu Anna?« »Oh, Anna und ich hatten immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander«, antwortete Julie. »Sie ist ein gutes, zuverlässiges Mädchen, das ihr Geld spart und Wertpapiere dafür kauft. Es ist ehrlich erworbenes Geld, dessen bin ich ganz sicher, denn« – Julie lächelte schwach – »das arme Ding hat nie Gelegenheit, Rechnungen zu manipulieren. Sie bekommt nie welche in die Hand.« Chan betrachtete Julies gerötetes Gesicht lange und eindringlich. »Sie bleiben also dabei, daß Miß Fane selbst Ihnen Ring gestern morgen übergeben hat?« »Selbstverständlich. Es ist die Wahrheit, Mr. Chan.« Chan verbeugte sich. »Ich kann mich nur auf Ihr Wort verlassen, Miß Julie. Es wäre möglich, daß Person, die behauptet, Ring gestern abend gesehen zu haben, das
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aus altem Groll heraus tut – ich habe selbst schon daran gedacht. Miß Julie ist nämlich, so sage ich mir, zu nett und süß für Heimlichkeiten. Wie Sie feststellen können, Jimmy, haben Sie und ich denselben Geschmack.« »Was Ihnen Ehre macht«, lächelte Bradshaw. »Was uns beiden Ehre macht«, verbesserte Chan. »Ich werde nicht länger hier herumlungern, als Makel auf lieblicher Szene. Mein herzlichstes Lebwohl – bis wir uns wiedersehen.« Nachdenklich ging er zu seinem Auto und fuhr in der heißen Mittagssonne ab. »So viele Straßen, die sich winden und winden…« Das hatte er irgendwo gelesen. Er seufzte. So viele Straßen – würde das kleine Auto zuletzt auf der richtigen fahren? Als er sich dem Grand Hotel näherte, schweiften seine Gedanken wieder zu Huntley Van Horn. Es widerstrebte ihm, das Hotel schon wieder durch den Haupteingang zu betreten, deshalb parkte er sein Auto auf der Straße, betrat das Grundstück und ging auf den Palmengarten zu. Eine Gruppe aufgeregter Touristen stand unter der größten Kokospalme, und als Charlie hochschaute, sah er einen der Strandjungen in rotem Badeanzug den Baum mit affenartiger Geschicklichkeit hinaufklettern. Er schaute dem Jungen eine Weile voller Bewunderung zu. »Der Bursche ist geschickt, nicht wahr, Inspektor?« sagte jemand neben ihm. Er drehte sich um und blickte in die lächelnden Augen Van Horns. Sie standen etwas abseits von den anderen, und der Filmschauspieler zog viele scheue, bewundernde Blicke junger Frauen auf sich, die vorgaben, dem Strandjungen zuzusehen.
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»Ah, Mr. Van Horn«, sagte Chan. »Ein Glück, daß ich Sie hier treffe. Ich bin nur hergekommen, um Sie zu sehen.« »Tatsächlich?« Der Schauspieler blickte am Baum hoch. »Na, jetzt scheint er so weit wie möglich geklettert zu sein. Wollen wir auf die Veranda gehen, um zu plaudern?« »Eine ausgezeichnete Idee«, stimmte Chan zu. Er folgte Van Horn, und sie setzten sich in eine abgelegene Ecke. Der Junge war inzwischen von der Kokospalme hinabgeklettert und stand jetzt im Mittelpunkt einer Gruppe von Bewunderern, was er sichtlich riesig genoß. Chan beobachtete ihn. »Manchmal steigt in meinem Herzen heißer Neid auf diese Strandjungen auf«, sagte er. »So glücklich zu leben – ohne Sorgen, Kummer, Ärger – das muß Paradies sein. Alles, was sie vom Leben verlangen, ist ein abgetragener Badeanzug.« Van Horn lachte. »Ich nehme an, Sie haben viel Sorgen und Ärger, Inspektor?« Charlie wandte sich ihm zu; er hatte beschlossen, ganz offen zu sein. »Ja.« Er legte eine Pause ein. »Und Sie sind eine davon«, fügte er plötzlich hinzu. Der Filmschauspieler schien überhaupt nicht beunruhigt. »Sie schmeicheln mir«, antwortete er. »Wodurch verursache ich Ihnen Kummer, Inspektor?« »Ich mache mir Sorgen um Sie, weil Sie in diesem Mordfall besonders schutzlos sind. Nicht genug, daß Sie über kein Alibi verfügen, Sie waren auch noch von allen Betroffenen dem Schauplatz des Mordes am nächsten. Sie schlenderten in äußerst wichtigem Augenblick über Rasen, Mr. Van Horn. Ich könnte mir um Sie nicht größere Sorgen machen, wenn Sie mein ei-
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gener Sohn wären.« Van Horn grinste. »Das ist aber nett von Ihnen, Inspektor. Ich weiß das zu schätzen. Ja – meine Situation in diesem Mordfall ist wirklich nicht gerade günstig. Aber ich verlasse mich ganz auf Sie. Als intelligenter Mann werden Sie leicht einsehen, daß ich absolut kein Motiv hatte, das arme Ding zu ermorden. Bevor wir diesen Film zusammen drehten, habe ich sie kaum gekannt, und auf der ganzen Fahrt und während der Dreharbeiten hatten wir die freundschaftlichsten Beziehungen.« »Aha.« Chan beobachtete den Schauspieler genau. »Hatten Sie auch zu Denny Mayo freundschaftliche Beziehungen?« erkundigte er sich. »Was hat denn Denny Mayo mit dieser Sache zu tun?« fragte Van Horn. Er gab sich größte Mühe, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen, was ihm aber nicht ganz gelang. »Möglicherweise sehr viel«, stellte Chan fest. »Ich sammle Fakten. Vielleicht können Sie mir dabei helfen. Ich wiederhole – hatten Sie gute Beziehungen zu Denny Mayo?« »Ich kannte ihn recht gut«, gab Van Horn zu. »Ein äußerst attraktiver Mann – ein wilder Ire – man konnte nie voraussagen, was er als Nächstes tun würde. Jeder hatte ihn gern. Sein Tod war ein großer Schock.« »Wer hat ihn denn ermordet?« fragte Charlie freundlich. »Ich wollte, ich wüßte es«, erwiderte Van Horn. »Als Sie gestern abend jeden von uns über den Juni vor drei Jahren in Hollywood ausfragten, begriff ich, daß Sie glaubten, sein Tod habe etwas mit dem neuen
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Mordfall zu tun. Ich wüßte nur zu gern, welche Beziehung zwischen diesen Ereignissen besteht.« »Zweifellos sind Sie deshalb auch heute früh in Bibliothek geeilt, um sich in Lektüre von Mordfall Mayo zu vertiefen, nicht wahr?« Van Horn lächelte. »Oh – Sie haben mich also zwischen den Büchern gesehen? Nun, Inspektor, mein Presseagent könnte Ihnen sagen, daß ich ein ziemlich belesener Mensch bin. Es gibt für mich nichts Schöneres, als mich mit einem guten Buch in eine Ecke zurückzuziehen – richtige Literatur, verstehen Sie…« Charlie hob protestierend die Hand. »Der Weise, der weiß, daß er unter Verdacht steht«, bemerkte er, »bückt sich nicht, um seinen Schuh gerade in Melonenmatsch zu binden.« Van Horn nickte. »Ein altes chinesisches Sprichwort, nicht wahr? Gar nicht schlecht.« »Bevor wir uns von diesen Stühlen erheben«, sagte Chan ernst, »werden Sie mir Grund für Besuch der Bibliothek heute morgen nennen.« Van Horn schwieg. Einen Augenblick verfinsterte sich sein schönes Gesicht. Doch plötzlich faßte er einen Entschluß. »Sie sind offen zu mir gewesen, Inspektor. Ich werde es jetzt auch zu Ihnen sein. Obwohl ich befürchte, daß Sie noch verwirrter sein werden, wenn Sie meinen Grund für jenen Besuch gehört haben.« Er holte aus seiner Tasche einen Umschlag mit der Adresse des Grand Hotels und zog ein einzelnes Blatt Briefpapier heraus. »Lesen Sie das bitte.« Chan las den kurzen Brief, der mit Maschine geschrieben war und keine Unterschrift trug. ›Ein warnendes Wort von einem Freund. Sie sollten
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unverzüglich in die öffentliche Bibliothek von Honolulu gehen und aus den gebundenen Bänden aller Zeitungen von Los Angeles, die sich mit dem Mord an Denny Mayo befassen, gewisse ziemlich belastende Hinweise auf Ihre Rolle in dieser Affäre entfernen. ‹ Charlie blickte auf. »Wo haben Sie das bekommen?« »Es lag unter meiner Tür, als ich heute morgen aufwachte«, berichtete der Schauspieler. »Gingen Sie sofort in Bibliothek?« »Gleich nach dem Frühstück. Wer hätte das nicht getan? Ich konnte mich zwar überhaupt nicht daran erinnern, daß die Zeitungen mich jemals mit dem Fall in irgendeine Beziehung gebracht hätten – es gab auch gar keinen Grund dafür. Aber natürlich war meine Neugierde geweckt. Ich ging hin und las jedes Wort, das ich in der ›Los Angeles Times‹ über den Mord an Mayo finden konnte – andere Zeitungen von Los Angeles waren nicht vorhanden. Und seltsamerweise…« »Ja?« spornte Chan ihn an. »Es war so, wie ich gedacht hatte. Mein Name wurde nirgends erwähnt. Ich habe einen ziemlich verwirrenden Morgen hinter mir, Inspektor.« »Das kann ich mir vorstellen«, nickte Chan. »Wirklich ein seltsamer Vorfall. Haben Sie irgendeine Idee, wer diesen Brief geschrieben haben könnte?« »Überhaupt keine«, erwiderte Van Horn. »Aber der Zweck scheint auf der Hand zu liegen. Jemand versucht, den Verdacht auf mich zu lenken. Das ist eine delikate Aufmerksamkeit, die ich zu schätzen weiß. Er – oder sie – hat sich ausgemalt, daß ich in die Bibliothek gehen und diesen Band ausleihen würde, daß Sie das selbstverständlich rasch herausfinden würden, und daß Sie zu der verständlichen Annahme gelangen
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würden, ich sei tief in diese Sache verwickelt, und daß Sie dann wertvolle Zeit damit vergeuden würden, in der falschen Richtung zu suchen. Glücklicherweise haben Sie den ungewöhnlichen Weg eingeschlagen, mit Ihrem Verdacht sofort zu mir zu kommen. Ich bin sehr froh darüber. Und ich bin verdammt froh, daß ich diesen Brief aufbewahrt habe.« »Den Sie sich allerdings auch selbst geschrieben haben könnten«, regte Chan an. Van Horn lachte. »O nein – so spitzfindig bin ich nicht, Mr. Chan. Der Brief lag unter meiner Tür, als ich aufstand. Finden Sie heraus, wer ihn geschrieben hat, vielleicht finden Sie dann gleichzeitig Shelah Fanes Mörder.« »Sehr richtig«, stimmte Chan zu. »Ich werde Brief jetzt natürlich behalten.« Er erhob sich. »Wir hatten ein gutes Gespräch, Mr. Van Horn, und ich bin Ihnen für Ihr Vertrauen dankbar. Ich ziehe meines Weges mit weiteren Rätseln in der Tasche. Noch ein paar, und ich breche vor geistiger Anstrengung zusammen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht vom Mittagessen abgehalten.« »Keineswegs«, erwiderte der Schauspieler. »Das war ein sehr günstiges Interview für mich. Auf Wiedersehen und viel Glück!« Chan eilte durch den Palmengarten, setzte sich wieder in sein kleines Auto und fuhr auf die Stadt zu. Dabei dachte er intensiv über Huntley Van Horn nach. Trotz seiner leichtfertigen Art hatte der Filmschauspieler auf ihn einen offenen und aufrichtigen Eindruck gemacht. Aber, so fragte sich Charlie, konnte er diesem Eindruck trauen? Konnte er in dieser Welt überhaupt jemandem richtig trauen? Überall konnte Betrug sprie-
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ßen und gedeihen wie Unkraut. Aber wenn Van Horn nun wirklich die Wahrheit gesagt hatte? Wer hatte jenen Brief unter seine Tür geschoben, während er schlief? Chan machte die Entdeckung, daß er in ein Duell verwickelt war – in ein tödliches Duell. Sein Gegenspieler war schnell und vorsichtig und geschickter als jede andere Person, der Chan in seiner langen Karriere bisher begegnet war. Welche der vielen Indizien waren falsch und sollten ihn nur irreführen? Welche waren echt? Ein starkes Gefühl sagte ihm, daß Mittagessen eine angenehme Ablenkung wäre; er hatte solche Eingebungen noch nie außer acht gelassen. Aber als er an der Bibliothek vorbeifuhr, überfiel ihn ein noch stärkeres Verlangen – der dringende Wunsch, selbst die Geschichte von Mayos Ermordung zu lesen. Mit einem Seufzer, der dem aufgeschobenen Mittagessen galt, hielt er an und ging in die Bibliothek. Der Ausgabeschalter war im Augenblick nicht besetzt, und so ging er in das Lesezimmer auf der rechten Seite. Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß der große Band, den Van Horn heute morgen benutzt hatte, noch nicht wieder auf das Regal zurückgestellt worden war. Ja – dort lag er, auf dem Tisch, an dem er den Filmschauspieler gesehen hatte. Abgesehen von einigen Kindern war der Raum leer. Charlie durchquerte rasch das Zimmer und öffnete den Band. Zufällig kannte er das Datum der Mayo-Tragödie, und so schlug er sofort die Ausgabe des folgenden Morgens auf. Er riß seine Augen weit auf. Unter der riesigen Schlagzeile Filmschauspieler ermordet in seinem Haus aufgefunden< klaffte ein großes Loch. Rasch durchblätterte er die Seiten und lehnte sich da-
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nach zurück, betäubt und ungläubig. Jedes Bild von Denny Mayo war brutal aus dem Band herausgeschnitten worden.
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Kapitel 17
Wie Denny Mayo starb Lange Zeit saß Chan bewegungslos da, tief in Gedanken versunken. Irgendeine verzweifelte Person war fest entschlossen, ihn kein Foto von Denny Mayo sehen zu lassen. Die Texte zu den Fotos waren größtenteils unversehrt. >Denny Mayo bei seinem ersten Eintreffen in Hollywoods ›Denny Mayo in dem Film: Die unbekannte Sünde‹. Aber das Gesicht des Schauspielers war überall zerstört worden. Wer hatte das getan? Huntley Van Horn? Vielleicht. In diesem Falle wären aber Van Horns Methoden für einen so verbindlichen Gentleman äußerst grob und brutal. Frech in die Bibliothek zu gehen, diesen Band zu verlangen, die Leihkarte zu unterschreiben, wie er es angeblich getan hatte, und die vergilbten Seiten danach zu verstümmeln, wäre unglaublich naiv gewesen. Es forderte eine rasche und unvermeidliche Entlarvung ja direkt heraus. Ein solches Vorgehen sah Van Horn bestimmt nicht ähnlich. Mit einem schweren Seufzer wandte Chan sich dem Artikel zu, der zu den Aufnahmen von Denny Mayo gehörte. Der Schauspieler war von der englischen Bühne nach Hollywood gekommen und hatte sofort Erfolg gehabt. Er hatte mit einem Diener in einem abgelegenen Haus an einer der besten Straßen von Los Angeles gewohnt. In der Mordnacht hatte der Diener sich nach Erledigung seiner üblichen Pflichten den Abend freigenommen. Er hatte das Haus um acht Uhr verlassen, und Mayo war in ausgezeichneter Stimmung allein im Haus geblieben. Als der Diener um Mitternacht zurückkehrte, ging er
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durch die Küchentür ins Haus. Er sah Licht im Wohnzimmer und ging hin, um nachzufragen, ob er vor dem Schlafengehen noch etwas erledigen sollte. Er fand den Schauspieler, der seit etwa zwei Stunden tot sein mußte, auf dem Fußboden. Mayo war aus nächster Nähe mit seinem eigenen Revolver erschossen worden, einer zierlichen Waffe, die er für gewöhnlich in der Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte. Der Revolver lag neben ihm, und es befanden sich keine Fingerabdrücke darauf – weder seine eigenen noch die einer anderen Person. Niemand war beim Betreten oder Verlassen des Hauses gesehen worden, das unter den vielen Bäumen eine geschützte Lage hatte. Leider hatte die Polizei der Öffentlichkeit am nächsten Morgen erlaubt – Charlie runzelte mißbilligend die Stirn –, durch das Haus zu schwärmen. Schauspieler, Schauspielerinnen, Direktoren, Produzenten – alles angebliche Freunde des Toten – waren durch die Zimmer gelaufen, und wenn es irgendwo noch ein wesentliches Indiz gegeben haben sollte, so hätte es dabei leicht vernichtet werden können. Jedenfalls war nie ein wesentliches Indiz gefunden worden. Die von der Polizei entdeckten Anhaltspunkte hatten zu keinem Ergebnis geführt. Über Mayos Vergangenheit war wenig bekannt; er war von weither gekommen, und während der Ermittlungen meldeten sich keine Familienangehörigen. Es gab Gerüchte, daß er in England eine Frau hätte, aber er hatte sie schon einige Jahre nicht mehr gesehen und sie seinen Freunden gegenüber niemals erwähnt – vielleicht war er geschieden gewesen. Sein Leben in Hollywood hatte nichts Aufsehenerregendes an sich; Frauen bewunderten ihn, aber wenn er diese Bewun-
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derung in manchen Fällen erwidert haben sollte, so war er dabei höchst diskret vorgegangen. Wenn jemand einen Groll gegen ihn gehabt haben sollte… Etwas weiter unten in dem Artikel erregte ein Name Charlies Aufmerksamkeit und Interesse. Hastig überflog er die Zeilen, bis er zu dieser Stelle kam. Mayo hatte gerade einen Film gedreht, und seine Partnerin war eine Schauspielerin namens Rita Montaine gewesen. Miß Montaine beabsichtigte einen gewissen Wilkie Ballou zu heiraten, ein wichtiger Mann in Honolulu, Abkömmling einer dort ansässigen alten Familie. Eine nicht namentlich genannte Person hatte ausgesagt, einen Streit zwischen Mayo und Ballou mitgehört zu haben – es war dabei um eine Party gegangen, zu der Mayo Miß Montaine mitgenommen hatte. Aber der Zeuge hatte nicht gehört, daß Ballou den Schauspieler bedroht hatte. Trotzdem war Ballou verhört worden. Sein Alibi war perfekt; Miß Montaine selbst war dazu vereidigt worden. Die Schauspielerin hatte ausgesagt, daß sie und Ballou in der Mordnacht von sechs Uhr bis nach Mitternacht zusammen gewesen waren. Sie hatten in Ballous Auto eine lange Spazierfahrt unternommen und in einem Rasthaus weit vom Schauplatz des Verbrechens getanzt. Sie gab zu, mit Ballou verlobt zu sein und ihn bald heiraten zu wollen. Die beiden verschwanden dann aus dem Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Charlie las weiter, studierte die Erklärungen der völlig ratlosen Polizei. Er blätterte Seite um Seite um, es gab keine neuen Entwicklungen, und unter dem rasenden Lärm der Reporter geriet die Sache allmählich in Vergessenheit. Wie stand es mit jenem Alibi von Wilkie Ballou? Be-
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zeugt von der Frau, die ihn heiraten wollte. War sie auch bereit gewesen, für ihn zu lügen? Chan nahm den schweren Band und ging damit in den Hauptsaal der Bibliothek zurück. Er legte ihn auf das Pult, hinter dem jetzt eine hübsche junge Frau stand. Ohne ein Wort öffnete er den Band und deutete auf die verstümmelten Seiten. Wenn er vorgehabt hätte, die junge Frau zu kränken, hätte er sich nichts Besseres dazu ausdenken können. Ihr tiefempfundener Ausruf der Bestürzung ließ nicht lange auf sich warten. »Wer hat das getan, Mr. Chan?« fragte sie. Charlie lächelte. »Danke für Ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten«, sagte er. »Aber das kann ich Ihnen nicht sagen.« »Der Band wurde von Mr. Van Horn, dem Filmschauspieler, ausgeliehen. So etwas ist strafbar, wie Sie ja wissen. Sie müssen ihn sofort verhaften.« Chan zuckte die Achseln. »Band lag aber seit Mr. Van Horns Aufbruch heute früh bis vor kurzem auf dem Tisch im Leseraum. Welchen Beweis haben wir denn dafür, daß Van Horn ihn beschädigt hat? Ich kenne ihn gut, und ich halte ihn nicht für einen kompletten Narren.« »Aber – aber…« »Mit Ihrer gütigen Erlaubnis werde ich ihn sofort anrufen. Vielleicht kann er etwas Licht in diese Angelegenheit bringen.« Die junge Frau führte ihn zum Telefon, und Chan erreichte Van Horn im Hotel. Er berichtete dem Schauspieler sogleich von dem Zustand, in dem er den Band vorgefunden hatte. »Was wissen Sie darüber?« fragte Van Horn.
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»Sehr wenig«, erwiderte Chan. »War der Band unbeschädigt, als Sie ihn in der Hand hatten?« »Völlig. Absolut in Ordnung. Ich habe ihn so gegen halb zehn auf dem Tisch liegenlassen und bin weggegangen.« »Haben Sie in Bibliothek jemanden gesehen, den Sie kennen?« »Keinen Menschen. Aber meiner Meinung nach wirft das ein neues Licht auf den Brief, den ich heute morgen erhalten habe. Vielleicht hatte mein unbekannter Freund nicht so sehr die Absicht, mich in die Sache zu verwickeln, als vielmehr, diesen Band aus den Regalen herauszubekommen. Er – wenn es ein Er war – mag gehofft haben, daß die Sache so vor sich gehen würde, wie es dann auch tatsächlich geschah – daß ich nämlich den Band herausnehmen und später irgendwo liegenlassen würde, wo er ihn finden konnte, ohne selbst eine Leihkarte auszufüllen. Haben Sie auch schon an diese Möglichkeit gedacht?« »Ich muß an so vieles denken«, seufzte Chan. »Danke für die gute Idee.« Er ging zum Pult zurück. »Mr. Van Horn hat den Band in einwandfreiem Zustand zurückgelassen. Er ist sich dessen ganz sicher. Hat jemand zufällig beobachtet, daß noch jemand anderer sich heute morgen mit diesem Band beschäftigt hat?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte die junge Frau. »Die im Lesezimmer aufsichtführende Bibliothekarin ist gerade beim Mittagessen. Mr. Chan, Sie müssen unbedingt herausfinden, wer das getan hat.« »Ich bin gerade mit Mordfall sehr beschäftigt«, erklärte Chan. »Vergessen Sie Ihren Mord«, antwortete sie grimmig. »Das hier ist eine ernste Sache.«
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Chan lächelte, aber die junge Frau war nicht in der Stimmung, mitzulächeln. Er versprach, sein Bestes zu tun und verabschiedete sich. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er keine Zeit für sein übliches gemächliches Mittagessen hatte. Er aß statt dessen ein Sandwich und trank ein Glas Milch, dann machte er sich auf den Weg zur Polizeistation. Der Chef lief in seinem Zimmer auf und ab. »Hallo, Charlie«, rief er. »Ich habe mich schon gefragt, wo Sie bleiben. Ich nehme an, Sie waren heute morgen sehr beschäftigt?« »Wie Fliege auf heißem Kuchenblech«, antwortete Chan. »Und ebenso eifrig bemüht, wegzukommen.« »Sie haben wohl noch nichts herausgefunden?« »So viel, daß ich völlig erschöpft bin. Aber ich habe keine Ahnung, wer Shelah Fane ermordet hat.« »Und genau das müssen wir wissen«, stellte der Chef nachdrücklich fest. »Den Namen – den Namen. Großer Gott, wir sollten möglichst rasch zu irgendwelchen Ergebnissen kommen.« »Vielleicht gelingt uns das auch«, erwiderte Chan, wobei er leichten Nachdruck auf das ›wir‹ legte. Er setzte sich. »Jetzt werde ich Morgenabenteuer zusammenfassen, und vielleicht wird Ihr scharfer Verstand richtig arbeiten, wo meiner nur im Dunkeln umherirrt.« Er fing mit seinem Bericht ganz von vorne an: mit seinem Besuch im Theater, Robert Fyfes felsenfestem Alibi, seinem Eingeständnis, dem Vagabunden für ein Gemälde Geld gegeben zu haben. Er erwähnte seinen kurzen Aufenthalt in der Bibliothek und daß er Van Horn dort entdeckt hatte; dann kam er auf das alte Ehepaar auf der Hotelterrasse zu sprechen, das so bereitwillig Tarneverros Aussagen bestätigt hatte.
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»Vielleicht lügen sie«, sagte der Chef. Charlie schüttelte den Kopf. »Wenn Sie die beiden gesehen hätten, würden Sie so etwas nicht sagen. Ehrlichkeit strahlt wie endloses Leuchtfeuer aus ihren Augen.« »Ich werde mich selbst davon überzeugen«, meinte sein Vorgesetzter. »Wie hießen sie doch noch? MacMaster? Ich werde mich später mit ihnen unterhalten. Fahren Sie bitte fort.« Charlie berichtete, wie er den Überrest der kleinen Zigarre unter dem Pavillonfenster gefunden hatte, die nur Jaynes rauchte. »Großer Gott, Charlie«, stöhnte der Chef. »Sie können doch nicht alle in die Sache verwickelt sein. Jemand legt Sie herein, Charlie.« »Jetzt benutzen Sie wieder Singular«, lächelte Chan. »Eben sprachen Sie noch von ›wir‹. Aber das bezog sich wohl nur auf heranrückenden Zeitpunkt des Erfolgs.« »Nun gut, jemand will also uns hereinlegen. Ganz wie Sie wollen. Haben Sie sich Jaynes’ Fingerabdrücke besorgt?« »Ich habe sie mir heimlich verschafft. Aber es waren Abdrücke von Vagabund Smith, die sich auf Fensterbrett befanden.« »Ja, das ist wenigstens etwas, worauf wir uns verlassen können. Ich habe sofort eine Fahndung nach ihm in die Wege geleitet. Sie müßten ihn jetzt eigentlich jeden Augenblick herbringen. Was haben Sie danach unternommen?« Charlie wiederholte Jessops Bericht über den Ring und hob hervor, daß es sich dabei auch nur um die Vergeltung eines alten Grolls handeln konnte. Er zeigte sei-
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nem Chef den Brief, den Van Horn zur Erklärung seines Bibliotheksbesuchs vorgelegt hatte. Zuletzt berichtete er von der Beschädigung des Zeitungsbandes und schloß mit der Erwähnung Ballous und seiner Frau in dem Zeitungsartikel über den Mordfall Mayo. Als er geendet hatte, schwieg sein Chef lange Zeit. »Nun, Ihren bisherigen Ermittlungen zufolge scheinen sie ja alle in die Sache verwickelt zu sein. Du lieber Himmel, können Sie denn nicht irgendwelche Schlüsse daraus ziehen?« »Teilen Sie mir doch bitte Ihre eigenen Schlußfolgerungen mit«, entgegnete Chan mit freundlicher Bosheit. »Ich? Ich habe keine Ahnung. Ich bin total verwirrt. Aber Sie – der Stolz der Polizei…« »Vergessen Sie bitte nicht – ich war noch nie Dämon in großer Geschwindigkeit. Während ich so dahinstolpere, denke ich eifrig nach. Schwergewichtige Personen kommen spät an. Geben Sie mir Zeit.« »Was haben Sie jetzt vor?« »Ein kurzes geselliges Beisammensein mit Mrs. Ballou.« »Du lieber Himmel, Charlie – seien Sie vorsichtig. Ballou ist in dieser Stadt ein einflußreicher Mann, und er hatte noch nie viel für mich übrig.« »Ich werde so diplomatisch wie nur möglich vorgehen.« »Das müssen Sie auch – und noch eins: Verärgern Sie ihn auf keinen Fall. Sie wissen doch – diese alten Familien…« Charlie zuckte die Achseln. »Ich habe all die Jahre in Honolulu nicht in Zustand von Blindheit verbracht. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde ihn mit
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Samthandschuhen anfassen, und meine Stimme trieft schon vor Öl und Honig.« Kashimo betrat das Zimmer. Er hatte einen schleppenden Gang und sah entmutigt aus. »Na, wo ist dieser Smith?« fragte der Chef. »Nirgendwo, Sir«, antwortete Kashimo. »Geschmolzen wie Eis.« »Geschmolzen, verdammt noch mal? Hinaus mit dir, und laß dich ohne den Vagabunden hier nicht wieder blicken.« »Überall schon gesucht«, klagte Kashimo. »Alle üblen Spelunken abgesucht von Keller bis zu Speicher. Ganze Stadt durchkämmt. Kein Smith.« Charlie schlug ihm auf die Schulter. »Du mußt weitermachen, auch wenn du bis jetzt nicht ins Schwarze getroffen hast«, riet er ihm. Er nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und begann zu schreiben. »Ich gebe dir jetzt Liste verruchter Orte«, erklärte er. »Vielleicht hast du einige übersehen. Es wäre ja immerhin möglich, daß ich bessere Kenntnis von Unterwelt dieser Stadt habe als ehrenwertes Mitglied des Buddhistischen Jungmännervereins wie du.« Er gab dem Japaner seine Liste und, gestärkt von Chans freundlicher Ermutigung, verließ Kashimo den Raum. »Armer Kashimo«, sagte Charlie. »Wenn sich in Lampe kein Öl befindet, ist Docht nutzlos. Bei jemandem wie ihm führen nette Worte zu bestem Ergebnis. Jetzt mache ich mich auf den Weg, um weiter in Verwirrung zu waten.« »Ich erwarte, bald wieder etwas von Ihnen zu hören«, rief der Chef ihm nach. Chan machte sich auf den Weg zum Manoa-Valley, wo
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die Ballous wohnten. Er ließ das Geschäftsviertel hinter sich und fuhr eine Straße entlang, die von großen Häusern inmitten herrlicher Rasen gesäumt war. Überall waren blühende Bäume, für die jetzt die letzten Wochen ihrer Pracht angebrochen waren. Er fuhr an der Punahou-Academy vorüber, und je weiter er ins Tal kam, desto mehr wich der Sonnenschein, und der Himmel verdunkelte sich. Schwarze Wolken hingen über dem nahen Gebirge, und plötzlich trug der Wind einen heftigen Regenguß herbei. Er klopfte heftig gegen das Dach des kleinen Wagens und ergoß sich in Strömen über die Windschutzscheibe. Nur eine Meile entfernt glänzte indessen Honolulu in der Mittagssonne. Er erreichte das ansehnliche Haus Wilkie Ballous, und Rita empfing ihn im dunklen Salon. Sie erklärte, daß ihr Mann sich oben gerade für sein nachmittägliches Golf spiel umziehe. In Honolulu schenkt ein richtiger Golfspieler dem Regen keine Beachtung, denn es kann auf seiner Straße gießen, und um die Ecke ist es hell und sonnig. Ritas Benehmen war zuvorkommend, und Chan faßte sich ein Herz. »Es tut mir sehr leid, Sie mit meiner anstößigen Gegenwart belästigen zu müssen«, entschuldigte er sich. »Ich bin sicher, daß Sie sehr froh wären, mich nie mehr sehen zu müssen. Aber – reine Formsache – ich muß jeden, der gestern abend bei trauriger Affäre anwesend war, kurzem Gespräch unterziehen.« Rita nickte. »Arme Shelah! Wie kommen Sie voran, Inspektor?« »Ich mache großartige Fortschritte«, informierte er sie fröhlich. Das war nicht die richtige Gelegenheit, wahrheitsgetreu zu antworten.
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»Würden Sie sich kurze Zeit mit mir über Tage unterhalten, als Sie berühmte Gestalt in Hollywood waren?« Gelangweilt beobachtete Rita, wie der Regen ans Fenster schlug. »Selbstverständlich«, sagte sie. »Darf ich vorausschicken, daß Sie Herz meiner ältesten Tochter gebrochen haben, die großer Kinofan ist, als Sie sich von Leinwand zurückzogen. Niemand, so murrt sie, spielt so gut wie Sie.« Ritas Gesicht hellte sich auf. »Sie erinnert sich noch an mich? Das ist aber süß von ihr.« »Ihre hervorragende Darstellungskunst wird niemals in Vergessenheit geraten«, versicherte Chan und wußte, daß er sich die Schauspielerin damit auf Lebzeiten zur Freundin gemacht hatte. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein?« erkundigte sie sich. Chan überlegte. »Haben Sie Miß Fane in Hollywood gekannt?« »O ja, ziemlich gut.« »Es gibt weises Verbot, schlecht über jene zu sprechen, die den Drachen bestiegen haben, aber manchmal sind wir gezwungen, alte Regeln über Bord zu werfen. Gab es irgendwann einmal Skandal im Leben der Dame?« »O nein, überhaupt keinen. Sie gehörte nicht zu der Sorte.« »Aber sie hatte doch bestimmt Liebesaffären?« »Ja, häufig. Sie war emotional und impulsiv – nie ohne Liebesaffäre. Aber ich bin sicher, daß sie alle harmlos waren.« »Haben Sie etwas davon gehört, daß sie einmal einen Mann namens – Denny Mayo geliebt hat?« Charlie beobachtete Ritas Gesicht genau, und er hatte den
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Eindruck, als wäre sie etwas erschrocken. »Nun ja – ich glaube, daß Shelah eine Zeitlang ziemlich verrückt nach Denny war. Es hat sie sehr mitgenommen, als er ermordet wurde. Sie haben vielleicht schon von diesem Mordfall gehört?« »Ich weiß alles darüber«, antwortete Chan langsam. Aber zu seiner Enttäuschung schienen seine Worte die Frau ganz kalt zu lassen. »Sie kannten diesen Denny Mayo doch auch, nehme ich an?« »Ja – ich habe in seinem letzten Film mitgespielt.« Chan hatte plötzlich eine Eingebung. »Kann es sein, daß Sie irgendwo ein Foto von Mayo haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein – ich hatte zwar einige alte Bilder, aber Mr. Ballou bestand darauf, daß ich sie verbrannte. Er sagte, er wolle nicht, daß ich mich sehnsüchtig mit der lieben, toten Vergangenheit beschäftigte, wenn ich…« Sie hielt inne, die Augen auf die Tür gerichtet. Charlie blickte auf. Wilkie Ballou stand im Golfanzug auf der Schwelle. Grimmig marschierte er ins Zimmer. »Was soll dieses ganze Gerede über Denny Mayo?« fragte er. »Mr. Chan hat mich nur gefragt, ob ich ihn gekannt hätte«, erklärte Rita. »Mr. Chan sollte sich lieber um seine eigenen Angelegenheiten kümmern«, brummte ihr Mann. Er stellte sich vor Charlie in Positur. »Denny Mayo«, sagte er, »ist tot und begraben.« Chan zuckte die Achseln. »Es tut mir sehr leid, aber er bleibt nicht begraben.« »Er bleibt es, zumindest was meine Frau und mich angeht«, antwortete Ballou mit einer gewissen Würde. Einen Augenblick sah Chan dem Millionär schläfrig in
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die Augen. »Ihr Alibi für Mordnacht«, äußerte er, »scheint damals großen Erfolg gehabt zu haben.« Ballou lief rot an. »Warum auch nicht? Es entsprach der Wahrheit.« »Deshalb wurde es selbstverständlich auch akzeptiert.« Chan ging auf die Tür zu. »Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört haben sollte…« »Sie haben mich nicht im geringsten gestört«, knurrte Ballou. »Übrigens, was hofften Sie hier zu finden?« »Ich dachte, ich könnte das Glück haben, ein Foto von Mayo zu bekommen.« »Und wozu brauchen Sie dieses Foto?« »Unbekannte Person will nicht, daß ich es zu sehen bekomme.« »Tatsächlich?« sagte Ballou. »Nun, hier werden Sie jedenfalls kein Foto von Mayo finden. Auch nichts anderes, was Sie in diesem Zusammenhang interessieren könnte. Auf Wiedersehen, Inspektor. Ich muß Sie bitten, nicht wieder hierherzukommen.« Charlie zuckte die Achseln. »Ich fahre, wohin Pflicht mich führt. Würde es selbst bevorzugen, mich in Polizeistation zu rekeln – aber kann man auf Teppich schwimmen lernen? Nein – man muß dorthin gehen, wo Wasser tief ist. Auf Wiedersehen, Mr. Ballou.« Rita folgte ihm in die Vorhalle. »Ich fürchte, wir konnten Ihnen nicht behilflich sein«, sagte sie. »Trotzdem vielen Dank«, erwiderte Chan und verbeugte sich. »Es tut mir so leid«, fuhr die Frau fort. »Ich möchte, daß Sie Erfolg haben. Wenn ich nur etwas für Sie tun könnte…« Chans Blick fiel auf die funkelnden Ringe an ihren Fingern. »Vielleicht könnten Sie das…«, sagte er plötzlich.
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»Ich stehe Ihnen zur Verfügung«, erwiderte sie. »Gestern abend haben Sie Miß Fane nach langer Trennung wiedergesehen. Rascher Blick von Frauen erfaßt Dinge, die Männer übersehen. Sie erinnern sich doch zweifellos noch an alles, was sie anhatte?« »Natürlich. Sie trug ein fabelhaftes Kleid – es war aus elfenbeinfarbenem Satin…« »Ich spreche hauptsächlich vom Schmuck«, erklärte Chan. »Welche Frau wäre so blind, daß ihr der Schmuck einer anderen Frau nicht auffällt?« Rita lächelte. »Ich bestimmt nicht. Sie hatte eine prachtvolle Perlenkette um, und ein Diamantarmband…« »Und ihre Ringe?« »Nur einer. Ein riesiger Smaragd, den ich noch von Hollywood her kannte. Sie trug ihn an der rechten Hand.« »Das war doch, als Sie sie zuletzt gesehen haben? Die jungen Leute waren schon im Wasser?« »Julie und dieser junge Mann – ja.« Charlie machte eine tiefe Verbeugung. »Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Jetzt muß ich mich wieder an Arbeit begeben. Auf Wiedersehen.« Er ging in den andauernden Talregen hinaus und fuhr dem sonnigen Strand entgegen.
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Kapitel 18
Die Aussage des Hotelboys Julie und Jimmy Bradshaw saßen im weißen Sand von Waikiki und blickten auf den Ozean hinaus, der sich – scheinbar ohne Spur jedweden Lebens – von diesem geschwungenen Ufer bis zu den Koralleninseln der Südsee erstreckte. »Na, ich glaube, so langsam sollte ich mich auf den Weg in die Stadt machen«, sagte der junge Mann. Er gähnte, ließ sich auf den Rücken fallen und beobachtete die weißen Wolken, die faul am kobaltblauen Himmel dahinzogen. »Du bist wirklich das Abbild eines jungen Mannes voller Schwung und Energie«, lächelte Julie. Er schauderte. »Mein Mädchen, es zeugt von sehr schlechtem Geschmack, am Strand von Waikiki so etwas zu sagen. Anscheinend habe ich dir bisher nur eine äußerst unvollkommene Vorstellung vom Geist dieses Ortes vermittelt. Hier läßt man sich treiben, man träumt…« »Aber auf diese Weise kommt man doch nicht vorwärts«, tadelte Julie. »Ich bin doch schon am Ziel«, antwortete er. »Warum sollte ich mich denn abhetzen? Wenn man erst einmal auf Hawaii ist, kann man nirgends mehr hingehen – man ist im Himmel angekommen, und ein Ortswechsel könnte bestimmt nicht von Vorteil sein. Also setzt man sich einfach hin und erwartet das Ende der Ewigkeit.« Julie zuckte die Achseln. »Ist das wirklich so? Na, ich glaube, ich bin dafür nicht geschaffen. Großartig für einen Urlaub – ja; dieser Ort ist tatsächlich all das, was du darüber erzählst. Aber als ständiger Wohnort –
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na ja…« Er setzte sich mit einem Ruck auf. »Großer Gott, soll das heißen, daß ich es dir nicht schmackhaft machen konnte? Ich – der größte Beschreibungskünstler aller Zeiten – und ich bin am wichtigsten Geschäft meines Lebens gescheitert. James J. Bradshaw stößt auf unerwartete Schwierigkeiten – sieht einer Niederlage ins Auge – es scheint unmöglich. Woran habe ich es nur fehlen lassen, Julie? Habe ich dir kein Gefühl für die Schönheit dieser Insel vermitteln können…?« »Die Schönheit ist schon in Ordnung«, erwiderte das Mädchen. »Aber wie wirkt sie sich denn auf den Charakter aus? Ich habe den Eindruck, daß man sich rückwärts bewegt, wenn man stehenbleibt.« »Ja«, lächelte er. »Ich war selbst einmal bei einem Mittagessen des Rotary-Clubs – drüben auf dem Festland. Jungs, wir müssen Fortschritte machen oder umkommen. Letztes Jahr haben wir zehn Millionen Abdichtungen produziert, dieses Jahr müssen wir es auf fünfzehn Millionen bringen. Macht Amerika abdichtungsbewußt. Bleib mir damit vom Leibe!« »Was hältst du davon, jetzt ins Büro zurückzufahren?« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du würdest in diesem Paradies für mich die Eva spielen, aber du entpuppst dich als Schlange. Wir schauen hier nie im Büro nach. Wir wollen die armen Burschen nicht aufwecken, die nicht draußen waren.« »Das ist ja genau das, das ich eben meinte, Jimmy.« »Aber liebe Mrs. Legree, man muß nicht an einen Büroschreibtisch gefesselt sein, um etwas zu tun. Man kann im Liegen ebenso gut arbeiten. Zum Beispiel war ich eben dabei, einen neuen Werbeslogan für Touristen zu erfinden. ›Kommen Sie – lassen Sie sich von
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dem lachenden Mädchen doppelte Blumengirlanden um die Schultern legen. Testen Sie Ihre Geschicklichkeit beim Wellenreiten in Waikiki, oder ruhen Sie sich einfach in faulem Luxus aus… ‹« »O ja, das ist deine Lieblingsbeschäftigung…« »›…unter schwankenden Kokospalmen‹. Gefallen unsere Kokospalmen dir denn nicht, Julie?« »Sie sind ganz interessant, aber ich bevorzuge doch Rotholz, glaube ich. Du kannst tief durchatmen in einem Rotholzwald, Jimmy, und du fühlst dich so, als könntest du die ganze Welt erobern. Verstehst du denn nicht, was ich meine? Dieser Ort mag das Richtige für Menschen sein, die hierher gehören – aber du – wie lange bist du schon auf Hawaii?« »Etwas über zwei Jahre.« »Hattest du vor hierzubleiben, als du ankamst?« »Nun ja – laß uns darüber nicht sprechen.« »Natürlich hattest du es nicht vor. Du hast einfach den Weg des geringsten Widerstands eingeschlagen. Hast du nie Lust, aufs Festland zurückzukehren und etwas aus dir zu machen?« »Oh – zuerst…« Er schwieg kurze Zeit. »Na ja, ich konnte dir Hawaii wohl nicht richtig nahebringen. Das wird für immer eine Schramme in meinem Herzen hinterlassen, aber es gibt Wichtigeres. Konnte ich mich selbst wenigstens verkaufen? Ich bin verrückt nach dir, Julie. Wenn du nur zustimmst…« Sie schüttelte den Kopf. »Laß uns auch darüber nicht sprechen. Ich bin nicht so, wie du mich siehst – ich bin schrecklich, wirklich – ich – oh, Jimmy, du würdest doch keine – keine Lügnerin heiraten wollen, nicht wahr?« Er zuckte mit den Schultern. »Eine professionelle –
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nein. Aber eine plumpe Amateurin wie dich – na ja, du stellst dich dabei so an, als hättest du überhaupt keine Erfahrung darin.« Sie war überrascht. »Was meinst du damit?« »Die Sache mit dem Ring. Warum lügst du, um Himmels willen, immer weiter? Ich weiß schon seit heute morgen Bescheid, und was Charlie Chan betrifft – nun, ich bewundere die höfliche Art, in der er dich behandelt hat. Ich glaube nicht, daß du ihn auch nur einen Augenblick getäuscht hast.« »Oh, Liebling – und ich dachte, ich hätte es gut gemacht.« »Was soll denn das alles überhaupt, Julie?« Tränen standen in ihren Augen. »Es ist wegen – die arme Shelah. Sie hat mich aufgenommen, als ich ganz gebrochen war und keinen einzigen Freund hatte – sie ist immer so gut zu mir gewesen. Ich – ich hätte alles für sie getan – nicht nur eine kleine Lüge erzählt.« »Ich werde dich nicht bitten weiterzuerzählen«, sagte Bradshaw. »Ich brauche es nicht zu tun. Schau dich nicht um. Inspektor Chan eilt auf uns zu, und etwas an seinem Gang verrät mir, daß die Stunde Null für dich gekommen ist. Nur Mut! Ich bin ja bei dir, Kindchen!« Charlie gesellte sich ihnen zu, liebenswürdig und lächelnd. »Ich bin bestimmt nicht sehr willkommen. Aber trotzdem schließe ich mich dieser kleinen Gruppe an.« Er setzte sich dem Mädchen gegenüber. »Was ist Ihre Meinung über unseren Strand, Miß Julie? Hier befinden Sie sich tief in der faulen Zone. Wie gefällt sie Ihnen?« Julie starrte ihn an. »Mr. Chan, Sie sind doch bestimmt nicht hergekommen, um sich mit mir über den
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Strand zu unterhalten?« »Nicht direkt«, gab er zu. »Aber ich bin eifriger Befürworter von einführenden Worten. Passende Vorbereitung entfernt Stachel der Grobheit. Es wäre doch beispielsweise unanständig abrupt gewesen, wenn ich sofort geschrien hätte: Miß Julie, warum erzählen Sie mir Lügen über diesen Smaragdring?« Ihre Wangen brannten. »Sie glauben also, ich hätte gelogen?« »Ich glaube es nicht nur, Miß Julie, ich weiß es sogar. Nicht nur Jessops Augen haben Ring an Miß Fanes Finger gesehen, lange nachdem Sie gestern abend in Wasser von Waikiki getaucht sind.« Sie gab keine Antwort. »Gesteh es lieber, Julie«, riet ihr Bradshaw. »Es ist das Beste. Charlie wird dann dein Freund sein – nicht wahr, Charlie?« »Ich muß zugeben, daß Gefühl von Freundschaft beträchtliche Zunahme erfahren würde«, stimmte Chan zu. »Miß Julie, es stimmt doch nicht, daß Miß Fane Ihnen den Ring gestern gegeben hatte, damit Sie ihn zu Geld machten?« »O doch, das stimmt«, versicherte das Mädchen. »Soweit stimmt alles.« »Dann hat sie ihn später zurückverlangt?« »Ja – gleich nachdem sie von ihrer Unterredung mit Tarneverro zurückgekommen ist.« »Sie trug den Ring also, als sie starb?« »Ja.« »Und nach der Tragödie kamen Sie wieder in seinen Besitz?« »Ja. Als Jimmy und ich sie gefunden haben, ging ich hinein und kniete neben ihr nieder. Bei dieser Gelegenheit nahm ich den Ring an mich.«
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»Warum?« »Ich – ich kann es Ihnen nicht sagen.« »Sie meinen, Sie wollen nicht.« »Ich kann nicht, und ich will nicht. Es tut mir leid, Mr. Chan.« »Auch ich verspüre tiefen Kummer darüber.« Charlie schwieg kurze Zeit. »Könnte es vielleicht sein, daß Sie den Ring verschwinden ließen, weil der Name ›Denny‹ eingraviert war?« »Was – was wissen Sie über Denny?« Chan setzte sich mit einem Ruck auf. »Ich werde es Ihnen sagen, und vielleicht werden Sie dann offen zu mir sein. Ich habe erfahren, daß Shelah Fane sich in der Nacht, als Denny Mayo in seinem Haus in Los Angeles ermordet wurde, dort aufhielt. Folglich kannte sie Namen von Mörder. Diesen Skandal in ihrer Vergangenheit wollte sie verheimlichen. Vielleicht wollten Sie aus dem gleichen Grund den Namen Denny Mayo aus allen Diskussionen heraushalten. Ein natürlicher Wunsch – den Ruf Ihrer Freundin zu schützen. Aber wie Sie sehen, hat es nichts genützt. Jetzt können Sie sprechen, ohne Ihrer geliebten Wohltäterin Schaden zuzufügen.« Das Mädchen weinte still vor sich hin. »Ja, ich glaube, ich kann es Ihnen jetzt auch gleich erzählen. Es tut mir so leid, daß Sie über alles Bescheid wissen. Ich hätte alles darum gegeben, Denny Mayo aus dieser Sache herauszuhalten.« »Jener Skandal in Miß Fanes Leben war Ihnen demnach bekannt?« »Ich hatte den Verdacht, daß etwas Schreckliches geschehen war, aber ich wußte nicht, was. Ich war noch ganz jung – ich war gerade erst zu Shelah gekommen
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– zur Zeit von Dennys Unfall. In der Mordnacht kam Shelah in völlig hysterischem Zustand nach Hause, und ich war ganz allein mit ihr. Ich kümmerte mich um sie, so gut ich konnte. Wochenlang war sie nicht sie selbst. Ich wußte, daß es in irgendeinem Zusammenhang mit Mayos Ermordung stehen mußte, aber bis zu diesem Augenblick kannte ich die Fakten nicht. Ich war zwar jung, aber ich verstand, daß es besser war, keine Fragen zu stellen.« »Um auf den gestrigen Tag zu kommen…«, spornte Chan sie an. »Es war so, wie ich Ihnen erzählt habe. Gestern früh sagte sie mir, sie brauche dringend Geld, und sie übergab mir den Ring, damit ich ihn verkaufen sollte. Dann ging sie ins Grand Hotel, um Tarneverro zu treffen, und als sie zurückkam, war sie wieder fast hysterisch. Sie rief mich in ihr Zimmer; sie rannte darin hin und her. Ich konnte mir nicht vorstellen, was geschehen war. ›Er ist ein Teufel‹, rief sie. ›Dieser Tarneverro ist ein Teufel – ich wollte, ich hätte nie nach ihm geschickt. Er hat mir Dinge über Tahiti und über das Schiff erzählt – woher wußte er das alles nur? – er hat mir Angst eingejagt. Und ich habe etwas furchtbar Törichtes getan, Julie – ich muß verrückt gewesen sein.‹ Sie wurde dann ziemlich zusammenhanglos. Ich fragte sie, was denn los sei. ›Hol den Smaragdring, Julie‹, sagte sie, ›wir dürfen ihn nicht verkaufen. Dennys Name ist auf der Innenseite eingraviert, und ich möchte im Augenblick nicht, daß der Name erwähnt wird.‹« »Sie war hysterisch, sagen Sie?« »Ja. Sie war oft so, aber irgendwie war es gestern schlimmer als sonst. ›Denny Mayo kann nicht sterben,
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Julie‹, sagte sie. ›Er wird zurückkehren, um mich zu entehren. ‹ Dann drängte sie mich, den Ring zu holen, und natürlich tat ich es. Sie sagte, wir würden später etwas anderes finden, was wir verkaufen könnten. Im Augenblick sei sie viel zusehr außer sich, um darüber nachzudenken. Am Nachmittag sah ich, wie sie über dem Foto von Denny Mayo weinte.« »Aha«, rief Chan, »es war also Porträt von Denny Mayo, das auf grünem Karton aufgezogen war?« »Ja.« »Fahren Sie bitte fort.« »Gestern abend«, berichtete Julie, »nachdem Jimmy und ich unsere schreckliche Entdeckung gemacht hatten, dachte ich sofort an Shelahs Worte, daß Denny zurückkehren würde, um sie zu entehren. Ich spürte, daß sein Tod in irgendeiner Beziehung zu Shelahs Ermordung stehen mußte. Wenn nur sein Name aus allem herausgehalten werden konnte – ich wußte nicht, welcher Skandal sonst aufgedeckt werden könnte. Deshalb zog ich ihr Dennys Ring vom Finger. Als ich später hörte, daß die Fotografie erwähnt wurde, rannte ich hinauf, zerriß sie und versteckte die Fetzen unter einer Topfpflanze.« Charlie riß seine Augen weit auf. »Sie haben das also gemacht? Und später – als Fetzen von Foto durch Luft flatterten – haben Sie dann auch große Anzahl versteckt?« »O nein – Sie haben ganz vergessen – ich war zu dieser Zeit gar nicht im Zimmer. Und selbst wenn ich dagewesen wäre, wäre ich doch bestimmt nicht schlau genug gewesen, um daran zu denken. Jemand kam mir im kritischen Augenblick zu Hilfe. Wer? Ich habe nicht die geringste Vorstellung, aber ich war dankbar,
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als ich davon erfuhr.« Chan seufzte. »Sie haben alles verzögert«, stellte er fest, »und mich gezwungen, viel kostbare Zeit zu verschwenden. Ich kann Ihre Loyalität gegenüber der Ermordeten nur bewundern…« Er legte eine Pause ein. »Ich würde eine solche Frau nur zu gern kennenlernen. Zu welcher Loyalität sie doch inspirierte! Unschuldiges Mädchen behindert die Polizei, um ihr Andenken zu schützen, und Mann, der nicht schuldig sein kann, will als ihr Mörder verhaftet werden, zweifellos aus gleichem Grund.« »Glauben Sie, daß Robert Fyfe diese verschwundenen Fetzen des Porträts an sich genommen hat?« fragte Bradshaw. Charlie schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Er war noch gar nicht erschienen. So einfach ist Sache nicht. Sie ist überhaupt nicht einfach!« Er seufzte. »Ich fürchte, ich werde zu menschlichem Skelett abgemagert sein, bevor ich diesen Knoten entwirre. Und Sie« – er warf Julie einen Blick zu – »Sie allein haben mindestens sieben Pfund auf Gewissen.« »Es tut mir so leid«, sagte Julie. »Grämen Sie sich nicht. Meine Töchter sagen mir immer, daß ich zu fett bin, um schön zu sein. Und Schönheit ist selbstverständlich mein einziges Lebensziel.« Er stand auf. »Nun, das wäre das. Jimmy, lassen Sie sich diese Frau nicht entgehen. Sie hat sich als treu erwiesen. Außerdem ist sie unerfahrenste Schwindlerin, der ich je begegnet bin. Welch eine Ehefrau wird sie abgeben!« »Hoffentlich für mich!« grinste Bradshaw. »Ich hoffe es auch.« Charlie wandte sich an das junge Mädchen. »Nehmen Sie ihn, und zwischen uns beiden
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ist alles vergeben und vergessen. Die sieben Pfund schenke ich Ihnen gern.« Sie lächelte. »Das ist wirklich ein tolles Angebot. Oh, Mr. Chan, ich bin so froh, daß zwischen uns alles bereinigt ist. Ich habe Sie nur sehr ungern belogen – Sie sind so nett!« Er machte eine Verbeugung. »Sogar betagtes Herz kann bei solchem Kompliment Luftsprung machen. Sie geben mir neuen Mut weiterzumachen. Womit? O weh! Die Zukunft ist hinter Schleier verborgen – und ich bin kein Tarneverro!« Langsam ging er wieder zu seinem Auto. Als er aus der Auffahrt herausbog, konnte er gerade noch einen Zusammenstoß mit einem Trolleybus vermeiden. »Wachen Sie doch auf!« schrie der Fahrer erbost, um sich gleich darauf, nachdem er ein Mitglied der Polizei von Honolulu erkannt hatte, den Anschein zu geben, so etwas nie gesagt zu haben. Charlie winkte ihm zu und fuhr weiter. Der Detektiv befand sich in einem Zustand von Zweifel und Ungewißheit. Wenigstens die Sache mit dem Smaragdring war jetzt aufgeklärt – aber er war immer noch weit vom Ziel entfernt. Ein Punkt in Julies Aussage interessierte ihn besonders. Es war also Denny Mayos Bild gewesen, das er am vorhergehenden Abend versucht hatte, zusammenzusetzen. Bis jetzt hatte er geglaubt, daß er von jemandem behindert würde, der nicht wollte, daß er erfuhr, über wessen Porträt Shelah so bitterlich geweint hatte. Aber konnte das Motiv nicht das gleiche sein, das zur Zerstörung der Fotos in der Bibliothek geführt hatte? Zweifellos war in beiden Fällen dieselbe Person am Werk gewesen, und diese Person war fest entschlos-
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sen, Inspektor Chan Denny Mayos Gesicht nicht sehen zu lassen. Weshalb? Charlie beschloß, diesen Fall im Geiste noch einmal ganz von vorne aufzurollen. Aber einen Augenblick später hielt er inne. Eine zu schwierige Aufgabe für diesen schläfrigen Nachmittag. »Viel besser, überhaupt nicht nachzudenken«, murmelte er. »Ich werde alle Aktivitäten einstellen und müdes Hirn in empfänglichen Zustand versetzen; vielleicht sieht Unterbewußtsein dann eine Chance und übernimmt Arbeit während meiner eigenen Abwesenheit.« In dieser Verfassung lenkte er seinen Wagen in die Auffahrt des Grand Hotels, stellte ihn ab und schlenderte nachlässig auf den Eingang zu. Eine steife Brise wehte durch das Foyer, das zu dieser Stunde praktisch leer war. Sam, der junge Chinese, der sich des Titels eines ersten Hotelboys erfreute, lächelte ihm zu. Charlie blieb stehen. Es gab da eine kleine Sache, die er von Sam erfahren wollte. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut«, sagte er. »Sie genießen doch zweifellos Ihre Pflichten?« Dieser Satz war das, was er eine Einleitung nannte. »Sehr guter Job«, strahlte Sam. »Ganze Zeit gute Trinkgelder.« »Sie kennen doch Mann, der Tarneverro der Große genannt wird?« »Sehr guter Mann. Guter Freund von mir.« Charlie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Heute morgen haben Sie sich auf kantonesisch mit ihm unterhalten. Warum?« »Tag er ankommen, er sagen, vor langer Zeit er einmal leben China, können sprechen chinesisch ganz
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gut. Deshalb er und ich uns unterhalten kantonesisch. Er nicht so gut sprechen, aber er gut verstehen, was ich sagen.« »Heute morgen schien er Sie aber nicht zu verstehen.« Sam zuckte die Achseln. »Ich nicht wissen. Heute morgen ich sagen gleiche wie jedes andere Morgen, er komisch schauen und sagen, nicht verstehen.« »Sie sind schon sonderbar, diese Touristen«, lächelte Chan. »Ganz viel sonderbar«, stimmte Sam zu. »Aber geben gutes Trinkgeld.« Charlie schlenderte in die Halle und von dort auf die Terrasse, wo er sich hinsetzte. Seine Denkpause war wirklich sehr kurz gewesen, denn jetzt war er schon wieder sehr eifrig am Überlegen. Tarneverro verstand also den kantonesischen Dialekt. Aber er wollte nicht, daß Chan, dem er doch bei der Suche nach Shelah Fanes Mörder angeblich mit allen Kräften helfen wollte, etwas davon erfuhr. Aus welchem Grund? Langsam glitt ein Lächeln über Charlies breites Gesicht. Wenigstens das war eine ziemlich einfache Frage. Tarneverros erster Beitrag zur Aufklärung des Mordes war gewesen, die Tatsache nachzuweisen, daß die Uhr zurückgestellt worden war, und daß folglich die Alibis für acht Uhr zwei wertlos waren. Aber hätte er das auch getan, wenn er nicht zuvor Charlies Unterhaltung mit dem Koch mitgehört und verstanden hätte – wenn er nicht gewußt hätte, daß Wu Kno-ching Shelah Fane um zwölf nach acht noch gesehen hatte, und daß folglich die ganze Sache mit der Uhr wertlos war? Seine sofortige Entfaltung detek-
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tivischer Geschicklichkeit schien damals seine Aufrichtigkeit zu beweisen. Wenn er aber Kantonesisch verstand, so hatte er einfach aus der Not eine Tugend gemacht und war alles andere als aufrichtig. Charlie saß lange da und überdachte die ganze Angelegenheit. War sein eifriger Assistent, Tarneverro der Große, wirklich so eifrig, wie er vorgab?
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Kapitel 19
Tarneverros helfende Hand Val Martino, der Filmdirektor, kam die Treppe von der Hotelhalle herab, eine elegante Erscheinung in seinem weißen Seidenanzug und der flammendroten Krawatte. Er hätte der Mann auf der Titelseite eines Dampferprospekts sein können, der zögernde Reisende in die Tropen locken soll. Sein Blick fiel auf Charlie, der sich gemütlich in einem bequemen Stuhl rekelte und aussah, als hätte er überhaupt keine Sorgen. Der Direktor ging sofort auf ihn zu. »Nun, Inspektor«, bemerkte er, »ich hätte nicht erwartet, Sie gerade jetzt in so gelassener Stimmung zu sehen. Oder haben Sie den Fall von gestern abend schon gelöst?« Chan schüttelte den Kopf. »Glück ist mir nicht so hold. Geheimnis ist immer noch Geheimnis, aber lassen Sie sich nicht täuschen. Mein Gehirn arbeitet, auch wenn meine Füße ruhen.« »Das freut mich«, erwiderte Martino. »Und ich hoffe, daß Sie bald zu irgendwelchen Ergebnissen kommen werden.« Er ließ sich in einem Stuhl neben Charlie nieder. »Wissen Sie, diese Sache von gestern abend hat einen Film, der mich 200.000 Dollar gekostet hat, total wertlos gemacht, und ich sollte mit dem nächsten Schiff nach Hollywood eilen und sehen, was sich tun läßt. Wer auch immer Shelah ermordet haben mag – jedenfalls lag ihm das Interesse unserer Filmgesellschaft nicht sehr am Herzen, sonst hätte er damit gewartet, bis meine Arbeit beendet gewesen wäre. Nun ja – es läßt sich nicht mehr ändern. Aber ich muß so rasch wie möglich von hier fortkommen, und deshalb
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bedränge ich Sie auch so, das Problem schnell zu lösen.« Chan seufzte. »Jeder scheint unter Übereilungskomplex zu leiden. Eine ungewöhnliche Situation auf Hawaii. Ich keuche schon, um Schritt halten zu können. Darf ich fragen – was ist Ihre Meinung über diesen Fall?« Martino zündete eine Zigarette an. »Ich weiß es nicht. Was ist denn Ihre?« Er warf das Streichholz auf den Boden, und der alte Chinese mit Kehrrichtschaufel und Besen eilte sofort herbei und warf dabei Charlie einen Blick zu, der besagte: »Das ist genau die Sorte Mensch, die ich in Ihrer Gesellschaft auch erwartet hätte.« »Meine Ideen nehmen noch nicht endgültige Formen an«, erklärte Chan. »Aber eines weiß ich – mein Gegenspieler ist eine äußerst kluge Person.« Der Direktor nickte. »Es sieht ganz danach aus. Nun, gestern abend waren in Shelahs Haus mehrere kluge Personen versammelt.« »Sie selbst eingeschlossen«, stellte Chan fest. »Danke. Das mußte natürlich kommen. Aber es stimmt schon.« Er lächelte. »Ganz im Vertrauen gesagt, es war noch ein anderer Mann anwesend, an dessen Klugheit ich noch nie den leisesten Zweifel hatte. Ich kann ihn nicht leiden, aber ich habe ihn immer für äußerst scharfsinnig gehalten. Ich spreche von Tarneverro dem Großen.« Chan nickte zustimmend. »Ja, er hat eine rasche Auffassungsgabe. Das war mir schon nach den ersten Worten mit ihm klar.« Der Direktor schnippte die Asche seiner Zigarette auf den Boden. Der alte Chinese brachte einen Aschenbe-
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cher und stellte ihn dicht neben Martino auf den Tisch. »Alle Arten von Hellsehern und Kristallgaffern mästen sich an Hollywoods Leichtgläubigkeit«, erklärte Martino. »Aber dieser Mann ist die Koryphäe unter ihnen. Die Frauen laufen scharenweise zu ihm; und er erzählt ihnen Dinge über sie, von denen sie glaubten, daß nur Gott allein sie wissen könne. Das Resultat davon ist…« »Wie kommt er hinter diese Dinge?« fragte Chan. »Spione«, antwortete der Direktor. »Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin ganz sicher, daß er Spione hat, die Tag und Nacht für ihn arbeiten. Sie schnappen interessante Neuigkeiten über die Berühmtheiten auf und geben sie an ihn weiter. Die armen kleinen Filmmädchen glauben, daß er mit den Mächten der Finsternis einen Bund geschlossen habe, und sie erzählen ihm deshalb alles. Dieser Mann kennt genügend Geheimnisse, um die ganze Filmkolonie in die Luft fliegen zu lassen, wenn er will. Wir haben versucht, ihn aus der Stadt zu verjagen, aber er ist zu schlau für uns. Wissen Sie, es tut mir eigentlich sehr leid, daß ich Jaynes gestern abend zurückgehalten habe, als er Tarneverro verprügeln wollte. Ich fand die Idee eigentlich großartig. Aber andererseits wäre Shelahs Name in die Sache hereingezogen worden, und als mir das einfiel, unterbrach ich den Tumult. Filme sind mein Beruf, und es gibt sehr viele feine Menschen in Hollywood, deshalb möchte ich nicht, daß sie unter schädlicher Publicity zu leiden haben. Leider fallen ja auch die Anständigen in Ungnade, wenn das Gesindel sich danebenbenimmt.« »Wollen Sie eigentlich damit andeuten, daß Tarneverro der Große Shelah Fane ermordet haben könnte?« fragte Chan.
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»Keineswegs«, widersprach Martino hastig. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß Sie, wenn Sie in diesem Mordfall einen klugen Gegner vermuten, daran denken sollten, daß es nur wenige Menschen gibt, die klüger sind als der Wahrsager. Mehr sage ich nicht. Ich weiß nicht, ob er es getan hat oder nicht.« »Für die Zeit zwischen acht und halb neun gestern abend«, erklärte Chan, »hat Tarneverro einwandfreies Alibi.« Martino stand auf. »Das hätte er auf jeden Fall. Wie ich Ihnen gesagt habe, ist er klug und gewandt. Nun, auf Wiedersehen. Viel Glück – und ich meine das von ganzem Herzen!« Er schlenderte auf das glitzernde Meer zu und überließ Chan seinen Gedanken. Nach kurzer Zeit faßte der Detektiv einen plötzlichen Entschluß, ging zur Telefonzelle im Foyer und rief seinen Chef an. »Sind Sie im Augenblick sehr beschäftigt?« fragte er. »Nicht besonders, Charlie. Ich habe hier eine Verabredung mit Mr. und Mrs. MacMaster um halb sechs, aber das ist ja erst in einer Stunde. Tut sich etwas?« »Vielleicht«, erwiderte Chan. »Ich kann es noch nicht sagen. Aber ich werde in kurzer Zeit Ihre Autorität als Rückendeckung für kleine Untersuchung im Grand Hotel brauchen. Es wäre sehr gut, wenn Sie ins Auto steigen und sofort herkommen könnten.« »Ich komme gleich zu Ihnen, Charlie«, versprach der Chef. Charlie ging zum Haustelefon und wählte die Nummer von Alan Jaynes’ Zimmer. Der Brite antwortete verschlafen. Chan informierte ihn, daß er sogleich zu ihm kommen werde, um sich mit ihm zu unterhalten, dann
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ging er zur Rezeption. »Können Sie, ohne anzurufen, feststellen, ob Mr. Tarneverro hier ist?« Der Angestellte warf einen Blick in Richtung der Postfächer. »Nun, sein Schlüssel hängt nicht hier. Vermutlich ist er also im Hotel.« »Seien Sie doch bitte so freundlich und erweisen Sie mir großen Gefallen. Rufen Sie Mr. Tarneverro an und sagen Sie ihm, Inspektor Chan sei in zu großer Eile hier vorbeigekommen, um sich selbst melden zu können. Sagen Sie ihm, daß ich ihn so rasch wie möglich im Foyer des Young Hotels in Innenstadt sprechen möchte. Sagen Sie, es sei sehr wichtig, und er müsse sofort kommen.« Der Angestellte starrte ihn an. »In der Innenstadt?« wiederholte er. Chan nickte. »Der Hintergedanke dabei ist, ihn für einige Zeit aus diesem Hotel zu entfernen«, erklärte er. »O ja«, lächelte der Angestellte. »Ich verstehe. Nun, ich vermute, das geht in Ordnung; ich werde ihn anrufen.« Charlie ging zu Jaynes’ Zimmer hinauf. Der Brite ließ ihn gähnend eintreten. Er war in Morgenrock und Pantoffeln, und sein Bett war zerwühlt. »Kommen Sie herein, Inspektor. Ich habe gerade ein Schläfchen gemacht. Großer Gott – was für ein schläfriges Land ist das doch!« »Für den ›malihini‹ – den Neuankömmling – schon«, lächelte Chan. »Wir Alteingesessene lernen es, diesen Verlockungen zu widerstehen. Sonst würden wir nichts erreichen.« »Also haben Sie etwas erreicht?« fragte Jaynes begie-
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rig. »Das würde ich nicht sagen, aber wir kommen mit gutem Tempo voran – für Hawaii«, erwiderte Charlie. »Mr. Jaynes, ich bin gekommen, um mich ganz offen und freimütig mit Ihnen zu unterhalten. Ich werde meine Karten auf den Tisch legen.« »Ausgezeichnet«, sagte Jaynes herzlich. »Heute morgen haben Sie mir erzählt, Sie hätten den Pavillon nie betreten, ja, Sie hätten sich nicht einmal in der Umgebung davon aufgehalten.« »Selbstverständlich. Das ist die Wahrheit.« Charlie holte seinen Umschlag heraus und schüttelte den Rest der kleinen Zigarre auf einen Tisch. »Wie erklären Sie sich dann Tatsache, daß dies hier direkt vor Fenster von Zimmer gefunden wurde, in dem Shelah Fane plötzlichen Tod erlitten hat?« Jaynes starrte dieses schäbige Beweisstück lange an. »Verflucht noch mal«, sagte er schließlich und wandte sich mit ärgerlich funkelnden Augen an Chan. »Setzen Sie sich bitte. Ich kann und werde es Ihnen erklären.« »Ich freue mich sehr, das zu hören«, meinte Chan. »Als ich heute morgen ein Bad genommen habe, so gegen acht Uhr«, begann der Brite, »klopfte es an meiner Tür. Ich dachte, es sei der Hausbursche, und so rief ich ihn herein. Ich hörte, wie die Tür aufging und vernahm Schritte. Ich fragte, wer da sei, und – warum habe ich ihm gestern abend nur nicht das Genick gebrochen?« endete er wild. »Meinen Sie Genick von Tarneverro dem Großen?« erkundigte sich Chan interessiert. »Ja. Er war hier in diesem Zimmer und sagte, er wolle mich sprechen. Ich war ziemlich überrascht, sagte aber, er solle warten. Ich richtete mich in der Bade-
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wanne auf und begann mich rasch abzutrocknen – würden Sie bitte ins Badezimmer mitkommen, Mr. Chan?« Überrascht stand Chan auf und folgte dem Briten. »Sie sehen, Inspektor, daß an der Badezimmertür ein riesiger Spiegel angebracht ist. Wenn die Tür halb offensteht – so – kann jemand, der in der Wanne steht, einen Teil des Zimmers überblicken – den Teil mit dem Schreibtisch. Ich war noch mit dem Abtrocknen beschäftigt, als ich plötzlich etwas sah, das mich brennend interessierte. Eine angebrochene Schachtel mit meinen kleinen Zigarren lag auf dem Schreibtisch. Ich sah im Spiegel, daß Mr. Tarneverro hinüberging und einige herausnahm. Er steckte sie in seine Tasche.« »Gut«, bemerkte Chan ruhig. »Ich fühle mich dem Spiegel sehr verbunden.« »Zuerst dachte ich, daß es nur ein Fall von harmlosem Stibitzen sei. Trotzdem war ich sehr verstimmt und hatte vor, ihn aus meinem Zimmer zu weisen. Aber als ich mich abgetrocknet hatte und meinen Morgenrock anzog, fiel mir ein, daß etwas in der Luft liegen müsse. Ich beschloß, nichts zu sagen, abzuwarten und, wenn möglich, herauszufinden, was der Kerl vorhatte. Ich kam aber nicht darauf – ich bin etwas beschränkt, fürchte ich – mir wäre nie eingefallen, daß er mich in den Mord an Shelah verwickeln wollte. Ich wußte zwar, daß er mich nicht leiden konnte, aber irgendwie – das ist keine Sache… Nun, ich kam aus dem Badezimmer und fragte ihn, was er wünsche. Er sah mir frech in die Augen und sagte, er sei nur hergekommen, um mir vorzuschlagen, Vergangenes zu begraben und uns zu versöhnen. Es gäbe doch keinen Grund, warum wir nicht Freunde sein könnten. Er füh-
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le, daß das Miß Fanes Wunsch gewesen wäre. Natürlich war ich versucht, ihn aus dem Fenster zu werfen, aber ich beherrschte mich. Aus Neugier bot ich ihm eine meiner Zigarren an. »O nein, danke«, sagte er. »Ich rauche nicht.« Er ließ sich weiter über Miß Fane aus, und daß es doch wirklich das Beste sein würde, wenn wir unsere Feindschaft vom vorhergehenden Abend begrüben. Ich war kühl, aber höflich; ich schüttelte ihm sogar die Hand. Als er gegangen war, dachte ich über die Sache nach. Aus welchem Grund mochte er diese Zigarren nur genommen haben? Wie gesagt, ich kam nicht darauf. Jetzt ist die Sache natürlich mehr als klar. Er hatte vor, einige falsche Indizien in die Welt zu setzen. Bei Gott, Inspektor – warum sollte er sich diese Mühe machen? Es gibt darauf doch nur eine Antwort, oder? Er selbst hat Miß Fane ermordet.« Chan zuckte die Achseln. »Ich wäre froh, wenn ich mich Ihren Schlußfolgerungen anschließen könnte, aber dem steht noch einiges im Wege. Zunächst einmal – ein perfektes Alibi.« »Zum Teufel damit!« rief Jaynes. »Ein kluger Mann hat immer ein Alibi.« Seine schweren Kinnbacken mahlten. »Ich weiß zu schätzen, was Mr. Tarneverro mir antun wollte – ich weiß es wirklich zu schätzen. Wenn ich ihn wiedersehe…« »Wenn Sie ihn wiedersehen, werden Sie sich ruhig verhalten«, fiel Chan ihm ins Wort. »Das heißt, wenn Sie mir helfen wollen.« Jaynes zögerte. »Oh – ausgezeichnet. Aber es wird nicht leicht sein. Ich werde jedoch meinen Mund halten, wenn Sie es wünschen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Nein, danke. Sie haben mich mit ausreichend Materi-
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al versorgt. Ich mache mich jetzt mit neuer Energie auf den Weg.« Während er auf den Lift wartete, dachte Chan über Jaynes’ Aussage nach. Stimmte sie? Vielleicht. Es schien zwar eine etwas abwegige Erklärung zu sein, aber war der Brite schlau genug, um ein solches Märchen aus dem Ärmel zu schütteln? Er machte den Eindruck eines schwerfälligen, langsam denkenden Menschen, der sich immer erst allein irgendwohin zurückziehen mußte, um sich Klarheit über etwas zu verschaffen. Wäre ein solcher Mann in der Lage – Charlie seufzte. So viele Probleme! Vorsichtig verließ er den Aufzug und spähte um die Ecke. Die Luft war anscheinend rein, und so ging er zum Empfangspult. »Ist Mr. Tarneverro schon aufgebrochen?« erkundigte er sich. Der Angestellte nickte. »Ja, er ist eben in großer Eile weggegangen.« »Meinen allerherzlichsten Dank«, sagte Charlie. Sein Chef kam gerade die Hoteltreppe hinauf, und er ging ihm entgegen. Zusammen begaben sie sich in eine diskrete Ecke. »Was gibt’s?« wollte der Chef wissen. »Eine ganze Menge«, erwiderte Chan. »Mr. Tarneverro hat eine Untersuchung nötig und bedarf unserer größten Aufmerksamkeit. « »Tarneverro?« Der Chef nickte. »Dieser Mann kam mir von Anfang an nicht geheuer vor. Was ist mit ihm?« »Erstens versteht er Kantonesisch.« Er berichtete von dieser Entdeckung, die ihn dazu gebracht hatte, sich Gedanken über den Wahrsager zu machen. »Aber seit ich Sie angerufen habe, ist noch wichtigerer Beweis aufgetaucht.« Er faßte Jaynes’ Erzählung über die Zi-
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garren kurz zusammen. Der Chef pfiff durch die Zähne. »Langsam kommen wir der Sache näher, Charlie«, rief er. Chan zuckte die Achseln. »Sie übersehen Tarneverros Alibi…« »Nein. Ich werde mich später damit befassen. Übrigens, wenn Sie dieses alte Ehepaar aus Australien hier irgendwo sehen sollten, so weichen Sie ihm bitte aus. Wie schon erwähnt, habe ich vereinbart, daß es zu mir ins Büro kommt, und ich will mich nicht hier mit ihm unterhalten. Wir können dort besser mit diesem Ehepaar reden. Und was haben Sie jetzt eigentlich vor?« »Ich möchte gründliche Durchsuchung von Tarneverros Apartment vornehmen.« Der Chef runzelte die Stirn. »Das entspricht aber nicht ganz den Vorschriften, Charlie. Ich weiß nicht so recht. Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl…« »Deshalb habe ich Sie ja auch hergebeten. Bedeutender Mann wie Sie kann das anordnen. Wir lassen alles so, wie es ist, und Tarneverro wird davon nichts merken.« »Wo ist er jetzt?« Charlie erklärte den gegenwärtigen Aufenthaltsort des Wahrsagers. Der Chef nickte. »Das war eine gute Idee. Warten Sie hier, während ich mich mit der Hotelleitung einige.« Gleich darauf kam er zurück, in Begleitung eines großen, mageren Mannes mit sandfarbenem Haar. »Alles ist geregelt«, sagte der Chef. »Sie kennen doch Jack Murdock, nicht wahr, Charlie? Er wird uns begleiten.« »Mr. Murdock ist alter Freund«, sagte Chan. »Na, Charlie, wie geht’s Ihnen?« fragte Murdock. Er war ein ehemaliger Polizeibeamter, der jetzt als Haus-
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detektiv für das Hotel arbeitete. »Ich erfreue mich üblicher guter Gesundheit«, erwiderte Chan und folgte Murdock zusammen mit dem Chef. Nachdem der Hausdetektiv die Tür aufgeschlossen hatte, betraten die drei Männer Tarneverros Wohnzimmer. Murdock warf Chan einen forschenden Blick zu. »Sie werden uns doch nicht eines unserer vornehmsten Gäste berauben, Charlie, oder?« erkundigte er sich. Chan lächelte. »Das steht noch nicht fest.« »Ganz hübsche Affäre da am Strand, gestern abend«, fuhr Murdock fort. »Und Sie stehen wieder im Rampenlicht, wie gewöhnlich. Manche Leute haben eben Glück.« »Dafür haben sie auch allen Ärger«, erinnerte ihn Chan. »Sie haben hier einen bequemen Job. Fischgericht war gestern abend ganz ausgezeichnet. Haben Sie es probiert?« »Ja.« »Ich auch – und weiter bin ich nicht gekommen«, seufzte Chan. »Rampenlicht hat viele schreckliche Nachteile.« Er blickte sich im Zimmer um. »Wir müssen alles gründlich durchsuchen und dürfen keine Spuren hinterlassen. Zum Glück können wir uns aber viel Zeit lassen.« Der Chef und er machten sich systematisch an die Arbeit, während der Hausdetektiv sich mit einer Zigarre in einem bequemen Stuhl rekelte. Die Wandschränke, die Schreibtischschubladen und der Sekretär wurden sorgfältig durchsucht. Schließlich stand Charlie vor einem Koffer. »Abgeschlossen«, stellte er fest.
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Murdock erhob sich. »Das macht nichts. Ich habe einen Dietrich.« Er schloß den Koffer auf, der zur Kategorie der Schrankkoffer gehörte, und öffnete ihn weit. Chan zog eine Schublade heraus und stieß einen leisen, zufriedenen Schrei aus. »Hier ist etwas, wonach wir suchen, Chef«, rief er und holte eine Reiseschreibmaschine heraus. Er stellte sie auf den Schreibtisch, spannte ein Blatt Papier ein und tippte einige Sätze. ›Ein warnendes Wort von einem Freund. Sie sollten unverzüglich in die öffentliche Bibliothek von Honolulu gehen… ‹ Er beendete den Brief, zog dann einen anderen aus seiner Tasche hervor und verglich die beiden. Mit einem erfreuten Lächeln zeigte er sie seinem Chef. »Sehen Sie sich doch bitte freundlicherweise diese Briefe an und sagen Sie mir, was Sie darüber denken.« Der Chef warf einen kurzen Blick darauf. »Ganz einfach«, stellte er fest. »Beide sind auf derselben Maschine geschrieben worden. Die Schleife des Buchstabens ›e‹ ist innen mit Farbbandflüssigkeit verschmiert, und das ›t‹ steht etwas außerhalb der Zeile.« Chan grinste und nahm die Briefe wieder an sich. »Langer Innendienst auf Polizeistation bewirkt bei Ihnen kein Einrosten. Ja – es ist so, wie Sie sagen. Die beiden Briefe sind identisch, beide wurden auf dieser zuverlässigen kleinen Maschine geschrieben. Ein Glück, daß unser Aufenthalt hier Früchte trägt. Ich muß jetzt Schreibmaschine zurückstellen, damit unser Besuch unbemerkt bleibt. Das würde er bestimmt auch, wenn nicht der lang anhaltende Duft der Zigarre von gutem Freund Murdock wäre.« Der Hausdetektiv machte ein schuldbewußtes Gesicht.
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»Entschuldige, Charlie – daran hatte ich nicht gedacht.« »Rauchen Sie Ihre Zigarre jetzt ruhig zu Ende. Schaden ist doch schon angerichtet. Aber passen Sie auf, daß Luxus von augenblicklichem Job Ihren Verstand nicht rosten läßt.« Murdock rauchte aber nicht weiter, sondern drückte seine Zigarre aus. Chan fuhr fort, den Koffer zu untersuchen. Er hatte die Suche ohne weiteres Resultat schon beinahe beendet, als er in der hintersten Ecke des untersten Faches auf etwas stieß, das sein Interesse erweckte. Er ging mit seinem Fund zum Chef. Auf seiner Handfläche lag ein Männerring, ein großer Diamant in schwerer Goldfassung. Sein Vorgesetzter starrte darauf. »Sehen Sie ihn sich genau an«, riet Charlie, »und prägen Sie ihn sich gut ein.« »Noch mehr Schmuck, Charlie?« Chan nickte. »Beim Versuch, diesen Fall zu lösen, irren wir anscheinend in Schmuckgeschäft umher. Vielleicht ist das ganz natürlich, nachdem wir es mit Hollywoodleuten zu tun haben.« Er legte den Ring an seinen Platz zurück und verschloß den Koffer. »Mr. Murdock, das ist Ende von Suchaktion.« Sie kehrten ins Foyer zurück, wo der Hausdetektiv sich von ihnen verabschiedete. Chan begleitete seinen Chef zur Auffahrt. »Was meinten Sie eigentlich mit dem Ring, Charlie?« »Kleine Geschichte, die ich vielleicht zu widerstrebend berichtet habe«, lächelte Chan. »Und warum? Vielleicht, weil sie widerwärtigsten Augenblick meiner langen Karriere betrifft. Sie werden sich daran erinnern, daß ich gestern abend in Haus am Strand mitten im
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Zimmer stand, den Brief von Shelah Fane fest in der Hand haltend. Plötzlich geht Licht aus. Ich werde sehr grob ins Gesicht geschlagen – geschlagen und in Wange geschnitten, was beweist, daß Angreifer Ring trug. Licht geht wieder an, und Brief ist verschwunden.« »Ja, ja«, rief der Chef ungeduldig. »Sofort mache ich Überprüfung – wer von den Herren im Raum trägt Ring? Ballou und Van Horn – ja. Die anderen nicht. Mr. Tarneverro, beispielsweise, nicht. Aber gestern morgen, als ich ihn in seinem Zimmer aufsuchte, habe ich jenen Ring, auf den ich Sie vorhin aufmerksam machte, an seinem Finger bemerkt. Mehr noch, als wir nach Nachricht von Mord zusammen zu Shelahs Haus fuhren, sah ich den Diamanten in Dunkelheit funkeln. Ich sah ihn wieder, als Tarneverro mir bei Untersuchung in Pavillon half. Aber als Licht nach Diebstahl von Brief wieder angeht, ist Ring nicht mehr vorhanden. Was würden Sie daraus schließen, Herr Vorgesetzter?« »Ich würde sagen«, erwiderte der Chef, »daß Tarneverro jenen Schlag im Dunkeln geführt hat.« Charlie rieb sich nachdenklich die Wange. »Sehr eigenartig«, stellte er fest, »aber zu diesem Schluß bin auch ich gekommen.«
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Kapitel 20
Ein Zipfel des Schleiers Bei Charlies Auto blieben sie stehen. Der Chef runzelte verwirrt die Stirn. »Ich verstehe das nicht, Charlie.« »Darin sind wir uns ähnlich wie zwei Schilfrohre am Strom.« »Tarneverro hat Sie geschlagen. Warum?« »Warum nicht? Vielleicht fühlt er sich als Athlet.« »Er hatte Ihnen doch selbst von jenem Brief erzählt – hatte gehofft, daß sie beide ihn irgendwo finden würden – und als Sie ihn dann ausgehändigt bekamen, schlug er Sie nieder und nahm ihn Ihnen weg.« »Zweifellos wollte er ihn allein lesen.« Der Chef schüttelte den Kopf. »Das geht einfach über meinen Horizont. Er stahl eine Zigarre von Jaynes, eilte zum Pavillon und deponierte die Kippe vor dem Fenster. Er schrieb Van Horn einen Brief und schickte ihn mit einem närrischen Auftrag in die Bibliothek. Er – er – was hat er sonst noch getan?« »Vielleicht hat er Shelah Fane ermordet«, schlug Charlie vor. »Dessen bin ich mir sicher.« »Er hat aber ein ausgezeichnetes Alibi.« Der Chef schaute auf seine Uhr. »Ja – um dieses Alibi werde ich mich um halb sechs kümmern, wenn die alten Leute wirklich kommen, wie sie versprochen haben. Was haben Sie jetzt vor?« »Ich werde bei diesem Gespräch anwesend sein, aber zuerst fahre ich noch bei Bibliothek vorbei.« »O ja, natürlich. Kommen Sie, so rasch Sie können. Ich – ich glaube, daß es jetzt vorwärts geht.« »Und wohin?« erkundigte sich Chan freundlich.
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»Das weiß der liebe Himmel – ich nicht«, erwiderte der Chef und eilte zu seinem Auto. Er fuhr als erster weg, und Charlie folgte ihm durch das große Tor auf die Kalakaua-Avenue. Es war fast fünf Uhr, die Badezeit war in Waikiki in vollem Gange, und ein ständiger Strom hübscher Mädchen in fröhlichen Strandkleidern und strammer, braungebrannter Männer in bunten Bademänteln promenierte über den Gehweg. Andere Leute hatten Zeit, ihr Leben zu genießen, er aber nicht, dachte Charlie. Die letzten Entdeckungen des Nachmittags hatten ihn völlig verwirrt, und er benötigte seine ganze orientalische Ruhe, um nicht vom Weg seiner Ermittlungen abzuweichen. Tarneverro, der geschworen hatte, daß es sein größter Wunsch sei, bei der Auffindung von Shelah Fanes Mörder mitzuhelfen, hatte die Untersuchung von Anfang an behindert. Das dunkle Gesicht des Wahrsagers mit den scharfsinnigen, geheimnisvollen Augen verfolgte Chan bei seiner Fahrt in die Stadt. Er hielt bei der Bibliothek und ging wieder zum Ausgabepult. »Können Sie mir freundlicherweise sagen, ob junge Frau, die Leseraum betreut, jetzt hier ist?« Das Mädchen erschien, bestürzt und entrüstet über den Vorfall des Vormittags. Nie wieder würde sie einen Zeitungsband auf einem Tisch liegenlassen, aber der japanische Junge, dessen Aufgabe es war, die Bände wieder in die Regale einzuordnen, hatte heute seinen freien Tag. Selbstverständlich erinnerte sie sich an Van Horn, den sie schon im Kino gesehen hatte. »Waren noch andere auffällige Personen heute vormittag im Lesezimmer?« fragte Charlie. Das Mädchen überlegte. Ja – an eine erinnerte sie
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sich. Ein ziemlich eigenartig aussehender Mann – sie erinnerte sich besonders an seine Augen. Chan bat sie um eine genaue Beschreibung und hatte danach keinen Zweifel mehr, um wen es sich handelte. »Haben Sie gesehen, daß er sich mit Zeitungsband beschäftigte, den der Filmschauspieler liegengelassen hatte?« »Nein; er kam, kurz nachdem Mr. Van Horn weggegangen war und blieb den ganzen Morgen, las verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und versuchte anscheinend, sich die Zeit zu vertreiben.« »Wann ist er weggegangen?« »Das weiß ich nicht. Er war noch hier, als ich zum Mittagessen ging.« »Ah ja.« Chan nickte. »Er mußte ja noch hierbleiben.« »Glauben Sie, daß er die Fotos herausgeschnitten hat?« »Ich habe keinen Beweis dafür und werde ihn leider wohl auch nie haben. Aber ich bin sicher, daß er den Band beschädigt hat.« »Ich würde ihn gern im Gefängnis sehen«, sagte das Mädchen hitzig. Chan zuckte die Achseln. »Wir haben gleichen Geschmack. Herzlichen Dank für wichtige Information.« Rasch fuhr er zur Polizeistation. Der Chef war allein in seinem Zimmer und redete gerade barsch ins Telefon. »Nein – nein – noch nichts.« Wütend legte er den Hörer auf. »Großer Gott, Charlie, sie hetzen mich noch zu Tode. Die ganze Welt will wissen, wer Shelah Fane ermordet hat. Die Morgenzeitung hat über hundert Telegramme erhalten. Nun, und was haben Sie in der Bibliothek erfahren? – Einen Augenblick!« Das Telefon läutete wieder. Die Antworten des Chefs
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waren nicht allzu freundlich. »Das war Spencer«, erklärte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Ich weiß nicht, was mit den Burschen los ist – sie scheinen alle hilflos zu sein. Sie können nirgends eine Spur von diesem verdammten Vagabunden finden. Er ist von großer Bedeutung, Charlie. Er war gestern abend in jenem Zimmer…« Charlie nickte. »Er muß auf jeden Fall gefunden werden. Ich bin sehr beschäftigter Mann, aber ich werde mich wohl selbst auf Suche nach ihm begeben müssen. Sobald Interview mit altem Ehepaar beendet ist…« »Gut! Das ist das Richtige! Sie erledigen das, sobald Sie können. Wo war ich eigentlich vorhin stehengeblieben? O ja – die Bibliothek. Was haben Sie dort erfahren?« »Gar keine Frage«, erwiderte Chan, »Tarneverro ist Mann, der Fotos von Denny Mayo vernichtete.« »So? Das dachte ich mir schon. Er will nicht, daß Sie wissen, wie dieser Mayo aussah. Warum? Ich werde noch verrückt, wenn das so weitergeht. Aber eines steht fest, und daran klammere ich mich. Tarneverro ist unser Mann. Er hat Shelah Fane ermordet, und wir müssen es ihm nachweisen.« Chan setzte zum Sprechen an. »O ja, ich weiß – dieses Alibi. Na, passen Sie auf. Ich werde dieses Alibi zertrümmern, und wenn es meine letzte Amtshandlung sein sollte.« »Ich wollte noch anderen Einwand vorbringen«, sagte Chan freundlich. »Und das wäre?« »Wenn er vorhatte, Shelah Fane zu ermorden, warum kündigte er mir dann zuerst an, daß wir in Kürze Mörder von Denny Mayo verhaften könnten? Warum sollte
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er so etwas aufziehen, wie mein Sohn Henry sagen würde?« Der Chef vergrub sein Gesicht in den Händen. »Großer Gott, ich weiß es nicht. Das ist ein schwieriger Fall, nicht wahr, Charlie?« Ein Polizist tauchte in der Tür auf und meldete Mr. Thomas MacMaster und dessen Frau. »Bitten Sie sie herein«, rief der Chef und sprang auf. »Wir können auf jeden Fall eins machen, Charlie«, sagte er. »Wir können dieses Alibi zerstören, und wenn uns das gelungen ist, sehen wir vielleicht etwas klarer.« Die alten schottischen Eheleute traten ein, und ihr argloser und unschuldiger Anblick versetzte dem Chef einen schweren Schock. Der alte Mann kam mit ausgestreckter Hand auf Chan zu. »Guten Abend, Mr. Chan. So sieht man sich wieder!« Charlie erhob sich. »Würden Sie bitte dem Polizeidirektor die Hand geben. Mrs. MacMaster, auch Ihnen möchte ich meinen Vorgesetzten vorstellen. Der Chef möchte einige höfliche Fragen stellen.« Er legte zwar nur ganz leichten Nachdruck auf das Wort ›höflich‹, aber sein Vorgesetzter verstand den Wink. »Guten Tag, gnädige Frau«, sagte er liebenswürdig. »Mr. MacMaster – es tut mir leid, Sie belästigen zu müssen.« »Sie belästigen uns überhaupt nicht, Sir«, erwiderte der alte Mann, wobei er das ›r‹ rollte wie alle Bewohner von Aberdeen. »Mutter und ich hatten zwar nie viel mit der Polizei zu tun, aber wir sind gesetzestreue Bürger und helfen Ihnen gern.« »Großartig«, sagte der Chef. »Nun, Sir, Sie haben Inspektor Chan erzählt, Sie seien alte Freunde des Man-
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nes, der sich Tarneverro der Große nennt.« »Ja, das sind wir. Wir kannten ihn, als er noch jung war, und er war ein Prachtkerl. Wir haben ihn sehr gern, Sir.« Der Chef nickte. »Sie sagen, daß Sie gestern abend von kurz nach acht bis halb neun mit ihm auf einer der Terrassen des Grand Hotels saßen?« »Das haben wir gesagt, Sir«, erwiderte MacMaster, »und wir werden es vor jedem Gericht beschwören. Es ist die Wahrheit.« Der Chef sah ihm intensiv in die Augen. »Es kann nicht die Wahrheit sein«, stellte er fest. »Was – was wollen Sie damit sagen?« »Ich meine, daß irgendwo ein Fehler steckt. Wir haben unbestreitbare Beweise, daß Mr. Tarneverro sich während dieser Zeit an einem anderen Ort aufhielt.« Der alte Mann richtete sich stolz auf. »Ihr Ton gefällt mir nicht, Sir. Das Wort von Thomas MacMaster ist noch niemals angezweifelt worden, und ich bin nicht hierhergekommen, um mich beleidigen zu lassen…« »Ich zweifle nicht an Ihren Worten. Ihnen ist einfach ein Fehler unterlaufen. Sie behaupten, daß Tarneverro Sie um halb neun verlassen habe. Haben Sie auf Ihre eigene Uhr geschaut?« »Ja.« »Vielleicht ging die Uhr falsch.« »Sie ging tatsächlich falsch.« »Was?« »Sie ging ein wenig vor – um drei Minuten. Ich habe sie mit der Hoteluhr verglichen, auf der es acht Uhr zweiunddreißig war.« »Sie sind kein – entschuldigen Sie bitte – kein junger Mann mehr, Mr. MacMaster.«
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»Ist das in den Staaten auch laut Gesetz verboten?« »Was ich sagen will, ist – Ihre Augen…« »Meine Augen, Sir, sind noch genauso gut wie Ihre und besser. Mr. Tarneverro hat uns um halb neun verlassen – nach der richtiggehenden Uhr. Er hat die ganze Zeit nach dem Abendessen mit uns verbracht, außer einer kurzen Zeitspanne, als er sich mit einem Herrn am entgegengesetzten Ende der Halle unterhielt. Und in dieser Zeit war er immer in unserer Sichtweite. Das sage ich – und dabei bleibe ich – «, er schlug mit seiner großen Faust auf den Tisch, »bis die Hölle gefriert!« »Vater – reg dich nicht so auf«, beschwichtigte die alte Dame. »Wer regt sich denn auf?« schrie MacMaster. »Mit einem Polizeibeamten muß man nachdrücklich reden, Mutter. Man muß seine Sprache sprechen.« Der Chef dachte nach. Gegen seinen Willen war er beeindruckt von der offenkundigen Aufrichtigkeit des alten Mannes. Er hatte vorgehabt, seine Zeugenaussage zu erschüttern, aber etwas sagte ihm, daß diese Taktik sinnlos wäre. Hol’s der Henker, dachte er, Tarneverro hatte tatsächlich ein Alibi, und ein ausgezeichnetes noch dazu. »Sie bestätigen die Aussage Ihres Mannes, gnädige Frau?« »Jedes Wort«, betonte die alte Dame. Der Chef machte eine hilflose Geste und wandte sich an MacMaster. »In Ordnung«, sagte er. »Sie haben gewonnen.« Charlie trat vor. »Dürfte ich die Ehre haben, an meine guten Freunde einige Fragen zu richten?« erkundigte er sich.
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»Natürlich. Fangen Sie an, Charlie«, erwiderte sein Chef, der sichtlich erschöpft war. »Ich stelle ganz einfache Frage«, fuhr Chan freundlich fort. »Ich glaube, Mr. Tarneverro war junger Mann am Anfang seiner Karriere, als er Ihre Ranch besuchte?« »So war es«, stimmte MacMaster zu. »War er Schauspieler auf Theaterbühne?« »Ja – und kein sehr erfolgreicher. Er war froh über die Arbeit bei uns.« »Tarneverro sehr merkwürdiger Name. Nannte er sich schon so, als er bei Ihnen arbeitete?« Der alte Mann warf seiner Frau rasch einen Blick zu. »Nein.« »Welchen Namen trug er damals?« MacMaster preßte den Kiefer zusammen und schwieg. »Ich wiederhole – welchen Namen trug er, als er bei Ihnen arbeitete?« »Es tut mir leid, Inspektor«, antwortete der alte Mann, »aber er bat uns, das niemandem zu verraten.« Chans Augen leuchteten plötzlich interessiert auf. »Er will nicht, daß Sie seinen richtigen Namen erwähnen?« »Ja. Er sagte, er hätte ihn abgelegt und bat uns, ihn Mr. Tarneverro zu nennen.« Charlie wägte seine nächsten Worte sorgfältig ab. »Mr. Mac-Master, wir sind mit ernster Situation konfrontiert. Letzte Nacht wurde Mord verübt. Tarneverro ist nicht schuldiger Mann. Sie beweisen das selbst durch Ihre Aussage, die von uns aufrichtig akzeptiert wird, weil wir wissen, daß sie ebenso aufrichtig vorgebracht wurde. Sie haben ihm diesen Gefallen erwiesen. Sie tun es gern, weil Sie Wahrheit lieben. Aber mehr darf auch lieber Freund nicht von Ihnen verlangen. Sie haben gesagt, daß Sie gesetzestreu sind, und niemand
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könnte so dumm sein, daran zu zweifeln. Ich möchte Mr. Tarneverros Namen wissen, als er bei Ihnen in Australien war.« Der alte Mann sah seine Frau unsicher an. »Ich – ich weiß nicht recht. Das ist eine schwierige Situation, Mutter.« »Sie werden ihn bestimmt nicht zu Mörder stempeln, wenn Sie es uns sagen«, wiederholte Chan. »Davor haben Sie ihn schon bewahrt. Aber Sie behindern unsere Arbeit, wenn Sie uns den Namen verheimlichen – und ich bin ganz sicher, daß Sie nicht der Mann sind, so etwas zu tun.« »Ich weiß nicht so recht«, murmelte der Schotte. »Mutter, wie denkst du darüber?« »Ich glaube, Mr. Chan hat recht.« Sie strahlte Charlie an. »Wir haben genug für ihn getan, wenn wir schwören, daß dieses Alibi stimmt. Wenn du es nicht sagen willst, Vater, werde ich es tun. Warum sollte ein Mann sich seines richtigen Namens schämen? Und ich bin sicher, daß es sein richtiger Name war.« »Gnädige Frau«, sagte Chan. »Sie sehen Dinge richtig. Bitte nennen Sie uns den Namen.« »Als wir Tarneverro auf der Ranch kannten, war sein Name Arthur Mayo.« »Mayo!« rief Chan. Er und der Chef wechselten einen triumphierenden Blick. »Ja. Er hat Ihnen heute morgen erzählt, daß er allein war, als er zu uns kam, um für uns zu arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er das gesagt hat – es stimmte nämlich nicht. Wissen Sie, er und sein Bruder kamen zusammen zu uns.« »Sein Bruder?« »Ja, selbstverständlich. Sein Bruder, Denny Mayo.«
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Kapitel 21
Der König der Geheimnisse Chan atmete schneller, als er diese unerwartete Neuigkeit hörte. Tarneverro war Denny Mayos Bruder! Dann war es natürlich nicht verwunderlich, daß der Wahrsager so sehr danach getrachtet hatte, Shelah Fane den Namen von Mayos Mörder zu entreißen. Es war nicht verwunderlich, daß er Chan angeboten hatte, ihm mit all seinen Kräften bei der Aufgabe zu helfen, herauszufinden, wer Shelah Fane zum Schweigen gebracht hatte, als sie gerade nahe daran war, Mayos Mörder zu entlarven. Und doch, hatte er denn sein Versprechen – zu helfen – gehalten? Im Gegenteil, er hatte offensichtlich Chan alle nur erdenklichen Hindernisse in den Weg gelegt. Rätsel, nichts als Rätsel! Chan fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Dieser Tarneverro war der König der Geheimnisse. »Gnädige Frau, was Sie sagen, ist äußerst interessant«, bemerkte der Detektiv. Seine Augen strahlten. Wenigstens in einer Hinsicht fiel jetzt etwas Licht auf die ganze Sache. »Könnten Sie mir freundlicherweise sagen, ob zwischen diesen beiden Männern eine Ähnlichkeit bestand?« Sie nickte. »Ja, sie bestand, obwohl sie vielen Leuten wohl nicht aufgefallen sein dürfte, wegen des unterschiedlichen Alters und der verschiedenen Haarfarben. Denny war blond, und Arthur sehr dunkel. Aber gleich als ich sie zum erstenmal nebeneinander in meiner Küche stehen sah, wußte ich, daß sie Brüder waren.« Chan lächelte. »Gnädige Frau, Sie haben etwas zur Lösung dieses Falles beigetragen, obwohl bis jetzt nur
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die Götter wissen mögen, was das ist. Ich denke, das ist alles, was wir im Augenblick von Ihnen erfahren wollten. Nicht wahr, Chef?« »Ja, das stimmt, Charlie. Mr. MacMaster, ich bin Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin für diesen Besuch sehr verbunden.« »Dazu besteht kein Grund, Sir«, antwortete der alte Mann. »Komm, Mutter. Mir – mir ist nicht ganz wohl bei dieser Sache. Vielleicht hast du ein wenig zuviel geredet.« »Unsinn, Thomas. Kein ehrlicher Mann schämt sich seines Namens – und ich bin ganz sicher, daß Arthur Mayo ehrlich ist. Wenn nicht, dann hat er sich seit der Zeit, als wir ihn kannten, von Grund auf geändert.« Die alte Dame erhob sich. »Was das Alibi betrifft«, sagte ihr Mann eigensinnig, »so bleiben wir dabei – durch dick und dünn. Tarneverro war von acht bis halb neun mit uns zusammen, und wenn der Mord in dieser halben Stunde verübt worden ist, so hat er ihn nicht begangen. Das werde ich beschwören, meine Herren.« »Ja, ja, das weiß ich«, erwiderte der Chef. »Guten Abend, Sir. Gnädige Frau – es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.« Das alte Ehepaar ging hinaus, und der Chef sah Charlie an. »Nun, und wo stehen wir jetzt?« fragte er. »Verfangen in endlosem Netz, wie gewöhnlich«, antwortete Chan. »Eins weiß ich – Tarneverro wartet im Young Hotel auf mich. Ich werde ihn sofort anrufen und herbestellen.« Nachdem er das erledigt hatte, setzte er sich neben seinen Vorgesetzten. Seine Brauen waren nachdenk-
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lich zusammengezogen. »Fall dehnt sich aus«, stellte er fest. »Tarneverro war Dennys Bruder. Das sollte uns eigentlich der Lösung ein gutes Stück näherbringen, aber es vermehrt im Gegenteil nur unsere Schwierigkeiten. Warum hat er mir das nicht gesagt? Warum hat er alles nur mögliche getan, um es vor mir zu verheimlichen? Sie haben ja gehört, was Dame über Ähnlichkeit gesagt hat. Das erklärt, warum alle Fotos von Mayo vernichtet wurden. Tarneverro war bereit, beträchtliche Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, um zu verhindern, daß wir von dieser Verwandtschaft etwas erfahren.« Er seufzte. »Jedenfalls wissen wir jetzt, warum Fotos zerstört wurden.« »Ja, aber das bringt uns nicht weiter«, entgegnete der Chef. »Wenn es sein Bruder war, der ermordet worden ist, und er Sie gebeten hat, den Mörder zu verhaften, sobald Shelah Fane den Namen preisgeben würde, hätte ich erwartet, daß er Ihnen von seiner verwandtschaftlichen Beziehung zu Mayo erzählt – besonders nach der Nachricht von Miß Fanes Ermordung. Es wäre eine logische Erklärung für sein Interesse an dem Fall gewesen. Aber statt dessen versucht er verzweifelt, die Verwandtschaft zu verheimlichen.« Der Chef legte eine Pause ein. »Eigenartig, daß niemand von diesen Hollywoodleuten je die Ähnlichkeit zwischen Mayo und dem Wahrsager bemerkt hat.« Chan schüttelte den Kopf. »Das wäre unwahrscheinlich gewesen. Die beiden waren zu verschiedenen Zeiten in Stadt, man hat sie nie zusammen gesehen. Mrs. MacMaster sagte ja, daß vielen Leuten die Ähnlichkeit nicht aufgefallen sei, aber Tarneverro schmeichelt mir, indem er annimmt, daß ich zu den wenigen gehöre,
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die sie doch bemerken würden. Was die anderen betrifft, so weiß er genau, daß es eine Ähnlichkeit ist, die fast niemand sieht, bevor daraufhingewiesen wird. Dann sieht sie jeder. So ist eben menschliche Natur.« »Die menschliche Natur wird mir langsam zuviel«, brummte der Chef. »Welchen Kurs, schlagen Sie vor, sollen wir bei dem Wahrsager einschlagen, wenn er gleich kommt.« »Ich beabsichtige, behutsam vorzugehen. Wir werden seine vielen Missetaten nicht erwähnen, aber wir werden über die Tatsache sprechen, die wir soeben erfahren haben. Welche Gründe wird er für sein Schweigen angeben? Sie können von großer Bedeutung sein.« »Na, ich weiß nicht so recht, Charlie. Vielleicht wäre es besser, ihn auch über diesen Punkt im unklaren zu lassen.« »Nicht, wenn wir so vorgehen, als ob wir keinerlei Verdacht hegen. Wir werden statt dessen helle Begeisterung an Tag legen. Jetzt wissen wir, daß er allen Grund hat, uns zu helfen, und Himmel hellt sich über unseren sorgenschweren Köpfen auf.« »Nun gut, Sie reden mit ihm, Charlie.« Gleich darauf betrat Tarneverro höflich das Büro. Sein Benehmen war distanziert und etwas herablassend, als befände er sich in seltsamer Gesellschaft, wäre aber so sehr ein Mann von Welt, daß er sich überall zu Hause fühlte. Er nickte Chan zu. »Ah, Inspektor, ich habe lange auf Sie gewartet. Ich hatte Sie schon fast aufgegeben.« »Ich bitte tausendfach um demütigste Entschuldigung«, erwiderte Chan. »Ich wurde durch gewichtige Angelegenheit aufgehalten. Darf ich Ihnen meinen verehrten Vorgesetzten vorstellen?«
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Der Wahrsager verbeugte sich. »Es ist mir eine große Freude. Wie kommen Sie voran, Inspektor? Das möchte ich nur zu gern wissen.« »Verständlich. Soeben haben wir Tatsache erfahren, die uns Ihr tiefes Interesse erklärt.« Tarneverro warf ihm einen scharfen Blick zu. »Was wollen Sie damit sagen?« »Wir haben entdeckt, daß Denny Mayo Ihr Bruder war.« Tarneverro legte seinen Spazierstock auf ein Pult. Das verschaffte ihm einen kurzen Augenblick zum Nachdenken. »Das stimmt, Inspektor«, bestätigte er und sah Chan erneut an. »Ich weiß zwar nicht, wie Sie es herausgebracht haben…« Charlie erlaubte sich ein ruhiges, befriedigtes Lächeln. »Nicht viele Dinge bleiben unentdeckt im Laufe von Untersuchung wie dieser«, sagte er freundlich. »Offensichtlich nicht.« Tarneverro zögerte. »Ich nehme an, Sie wundern sich, warum ich Ihnen das nicht selbst erzählt habe.« Chan zuckte die Achseln. »Zweifellos hatten Sie guten Grund.« »Sogar mehrere«, beteuerte der Wahrsager. »Zunächst einmal habe ich nicht geglaubt, daß Ihnen diese Kenntnis bei der Lösung des Falles helfen würde.« »Was wohlbegründete Annahme war«, stimmte Chan bereitwillig zu. »Dennoch – ich muß gestehen, daß Herz leicht verletzt ist. Offenheit unter Freunden ist wie warme Sonne nach Regen. Freundschaft wächst dann.« Tarneverro nickte und setzte sich. »Vermutlich ist an Ihren Worten viel Wahres. Es tut mir sehr leid, daß ich
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die Verwandtschaft für mich behalten habe, und ich entschuldige mich demütig. Wenn es nicht zu spät ist, Inspektor, werde ich Ihnen jetzt die ganze Geschichte erzählen…« »Es ist dafür keineswegs zu spät«, strahlte Chan. »Denny Mayo war tatsächlich mein Bruder, Inspektor, mein jüngster Bruder. Unsere Beziehung war mehr wie die zwischen Vater und Sohn. Ich hatte ihn sehr gern. Ich gab auf ihn acht, half ihm bei seiner Karriere und war stolz darauf. Als er brutal ermordet wurde, war das ein entsetzlicher Schock für mich. Sie werden deshalb leicht verstehen können, wenn ich sage« – seine Stimme zitterte plötzlich vor Leidenschaft- »daß es seit Jahren mein Hauptziel ist, seinen Tod zu rächen – eigentlich sogar men einziges Ziel. Wenn die Person, die Shelah Fane ermordete, derselbe Mann oder dieselbe Frau ist, die Denny ermordete, – dann, bei Gott, werde ich nicht eher ruhen, bis diese Tat gesühnt worden ist.« Er stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. »Als ich die Nachricht von Dennys Ermordung erfuhr, spielte ich gerade in einer Londoner Produktion. Ich konnte im Augenblick überhaupt nichts tun – ich war zu weit entfernt. Aber bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ging ich nach Hollywood, fest entschlossen, das Geheimnis um seinen Tod aufzuklären. Ich dachte, daß ich bessere Chancen haben würde, mein Ziel zu erreichen, wenn ich in der Filmkolonie nicht als Dennys Bruder, sondern unter einem angenommenen Namen auftauchen würde. Zuerst nannte ich mich Henry Smallwood – es war der Name einer kurz vorher von mir verkörperten Bühnengestalt.
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Ich schaute mich gründlich um. Es war ganz offenkundig, daß die Polizei bei diesem Mordfall vollständig im Dunkeln tappte. Und dann beeindruckte mich die große Anzahl von Hellsehern und Wahrsagern verschiedener Art in Hollywood. Sie schienen alle ausgezeichnet zu leben, und es hieß, daß sie aus dem Munde der Filmleute die erstaunlichsten Geständnisse und Geheimnisse zu hören bekämen. Ich kam auf eine großartige Idee. In meiner Jugend war ich Assistent bei Maskelyno dem Großen gewesen, der einer berühmten Familie von Magiern entstammte und ein Mann mit wirklich bemerkenswerten magischen Kräften war. Ich hatte auf psychischem Gebiet ziemlich viel Talent, hatte schon als Amateur wahrgesagt und hatte auch den Mut, die Sache durchzuführen. Warum sollte ich mir also nicht einen eindrucksvollen Namen zulegen, mich als Wahrsager niederlassen, in Hollywoods Geheimnissen herumschnüffeln und dabei versuchen, das Rätsel um den Tod meines armen Bruders Denny zu lösen? Der ganze Plan wirkte überraschend einfach und leicht.« Er setzte sich wieder hin. »Und so, meine Herren, bin ich seit zwei Jahren Tarneverro der Große. Ich habe Geschichten von unerwiderter Liebe, von überwältigendem Ehrgeiz, von Haß und Intrigen, Hoffnung und Verzweiflung erfahren. Es war interessant – viele Geheimnisse wurden mir ins Ohr geflüstert; aber bis vor kurzem war das eine große Geheimnis, auf das es mir ankam, nicht darunter. Und dann kam gestern morgen im Grand Hotel, wie aus heiterem Himmel, für mich der große Augenblick. Endlich war ich Dennys Mörder auf der Spur. Ich benötigte meine ganze Willensstärke, um mich zu beherr-
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schen, als ich begriff, was vorging. Shelah Fane erzählte mir, daß sie in jener Nacht in Dennys Haus gewesen war – sie hatte seine Ermordung mitangesehen. Es fiel mir sehr schwer, mich zurückzuhalten – ich hätte mich am liebsten an Ort und Stelle auf sie gestürzt und den Namen dieses Mörders ihren widerstrebenden Lippen entrissen. Drei Jahre zuvor hätte ich das auch getan – aber die Zeit – nun, wir werden ruhiger, wenn die Zeit vergeht. Aber nachdem ich nun entdeckt hatte, was sie wußte, wollte ich sie nicht in Ruhe lassen, bevor sie mir den Namen des Mörders genannt hatte. Als Sie mich gestern abend sahen, Inspektor, war ich voller Hoffnungen. Ich beabsichtigte, Sie nach der Party in Shelahs Haus zu bringen, und ich war überzeugt davon, daß wir ihr den Namen schließlich entlocken würden. Ich hatte vor, den Schuldigen sofort der Polizei zu übergeben, denn« – er sah bei diesen Worten den Polizeichef an – »ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß ich nie daran gedacht habe, das Verbrechen auf irgendeine andere Weise zu rächen. Von Anfang an war es meine Absicht, Dennys Mörder den Gerichten zu übergeben. Das war selbstverständlich der einzig vernünftige Weg.« Der Chef nickte ernst. »Der einzige Weg – selbstverständlich.« Tarneverro wandte sich erneut an Chan. »Sie wissen ja, was geschah. Irgendwie hat diese Person entdeckt, daß Shelah nahe daran war, sie zu verraten und hat sie dann ermordet. An der Schwelle des Triumphs habe ich eine Niederlage erlitten. Wenn Sie nicht herausfinden, wer die arme Shelah ermordet hat, waren meine Jahre im Exil von Hollywood wahrscheinlich
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vergebens. Deshalb bin ich auf Ihrer Seite – deshalb will ich« - seine Stimme zitterte wieder – »den Mörder von Shelah Fane zur Strecke bringen, mehr als ich je etwas in meinem Leben gewollt habe.« Charlie betrachtete ihn mit einer Art Ehrfurcht. War dies derselbe Mann, der überall die falschen Indizien verstreut hatte? »Ich bin glücklich über Ihre Offenheit, auch wenn sie ziemlich spät kommt«, sagte der Detektiv, wobei er eigentümlich lächelte. »Ich nehme an, ich hätte es Ihnen sofort sagen sollen«, fuhr der Wahrsager fort. »Ich war tatsächlich auch nahe daran, Ihnen meine verwandtschaftliche Beziehung zu Denny zu offenbaren, während wir zu Shelahs Haus fuhren. Aber, so überlegte ich, diese Information würde Ihnen nicht im geringsten helfen. Und ich wollte nicht, daß es bekannt würde, warum ich in Hollywood als Wahrsager arbeitete. Meine Karriere wäre damit natürlich beendet gewesen. Angenommen, so sagte ich mir, es gelingt Inspektor Chan nicht, Shelah Fanes Mörder zu finden; in diesem Falle müßte ich nach Hollywood zurückkehren und meine Nachforschungen fortsetzen. Die Leute kommen immer noch mit ihren Geheimnissen zu mir. Diana Dixon hat mich heute um Rat gefragt. Deshalb will ich nicht, daß mein richtiger Name publik wird, bevor Dennys Mörder gefunden ist. Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion, meine Herren.« »Das können Sie auch«’, versicherte Chan. »Angelegenheit bleibt begraben wie unter großer chinesischer Mauer. Zu wissen, wie entschlossen Sie uns bei dieser Untersuchung helfen wollen, gibt uns neue Hoffnung. Wir werden Shelah Fanes Mörder finden, Mr. Tarnever-
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ro – und gleichzeitig den Ihres Bruders.« »Machen Sie Fortschritte?« fragte der Wahrsager eifrig. Charlie beobachtete ihn scharf. »Wir kommen der Wahrheit immer näher. Noch ein- zwei kleine Angelegenheiten – und wir sind am Ziel.« »Ausgezeichnet«, sagte Tarneverro herzlich. »Sie kennen jetzt meinen Einsatz in dieser Affäre. Ich hoffe, Sie werden mir vergeben, daß ich ihn Ihnen nicht gleich am Anfang mitgeteilt habe.« »Erklärung war sehr einleuchtend«, lächelte Chan. »Alles ist vergeben. Ich denke, daß wir Sie jetzt nicht länger aufzuhalten brauchen.« »Danke.« Tarneverro schaute auf seine Uhr. »Es geht schon auf die Abendessenszeit zu, nicht wahr? Es tut mir leid, daß meine Mitteilungen für Ihre Ermittlungen keine wesentliche Bedeutung haben. Wenn ich nur einen wirklich wertvollen Beitrag leisten könnte…« Chan nickte. »Ich verstehe Ihre Gefühle sehr gut. Wer weiß, vielleicht kommt Ihre Chance noch.« Er begleitete Tarneverro bis zum Haupteingang der Polizeistation. Als er zurückkehrte, war sein Chef auf seinem Stuhl in sich zusammengesunken. Er schaute mit verzerrtem Lächeln hoch. »Nun«, fragte er, »was stimmte an dieser Darstellung nicht?« Charlie grinste. »So ziemlich alles stimmte nicht. Tarneverro ist sehr sonderbarer Mann. Er will uns helfen – deshalb stiehlt er Zigarre von Mr. Jaynes und deponiert sie unter Pavillonfenster. Er dürstet nach meinem Erfolg – deshalb schreibt er Brief, der mich veranlaßt, Zeit mit unschuldigem Mr. Van Horn zu vergeuden. Er hat unwesentlichen Grund, mir zu verheimlichen, daß er Denny Mayos Bruder ist – aber er rast umher und
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vernichtet Dennys Fotos, als wolle er eher sterben, als mich die Bilder sehen lassen. Er sieht Brief, in dem eventuell Name von Dennys Mörder steht, und als ich ihn öffnen will, löscht er Licht aus und schlägt mir ins Gesicht.« Chan rieb sich nachdenklich die Wange. »Ja, dieser Tarneverro ist sehr eigenartiger Mann.« »Nun, und wie geht es jetzt weiter?« erkundigte sich der Chef. »Die Sache sieht allmählich ganz nach einer Ihrer Steinmauern aus, Charlie.« Chan zuckte die Achseln. »In diesem Fall drehen wir um und suchen neuen Weg. Ich für meine Person habe großes Interesse an Vagabund. Warum war er gestern abend in Pavillonzimmer? Und, noch wichtiger, was hat er von Gespräch zwischen Shelah Fane und Robert Fyfe mitgehört, daß Fyfe ihm für Schweigen ansehnliche Summe zahlt?« Er ging auf die Tür zu. »Kashimo hat jetzt lange genug Suchhund gespielt. Ich werde jetzt kleine Stärkung zu mir nehmen, und danach werde ich mich selbst ein wenig mit Abschaum dieser Stadt beschäftigen.« »Das ist genau das Richtige!« rief sein Chef. »Sie suchen diesen Vagabunden selbst. Auch ich werde in der Innenstadt etwas essen und danach sofort wieder hierher zurückkommen. Ab sieben Uhr finden Sie mich jederzeit hier.« Charlie ging zum Telefon und rief bei sich zu Hause an; seine Tochter Rose war am Apparat. Er teilte ihr mit, daß er zum Abendessen nicht heimkommen würde. Ein scharfer Protestschrei ertönte als Antwort. »Aber, Paps – du mußt heimkommen. Wir alle wollen dich sehen.« »Aha – endlich beginnt ihr herzliche Zuneigung für armen, alten Vater zu entwickeln.«
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»Klar. Und wir sterben vor Neugier, alle Neuigkeiten zu erfahren.« »Bleibt noch eine Weile am Leben«, riet er ihr. »Es gibt bis jetzt keine Neuigkeiten.« »Na, was hast du denn den ganzen Tag gemacht?« wollte Rose wissen. Chan seufzte. »Vielleicht sollte ich meine elf Kinder auf diesen Fall ansetzen.« »Vielleicht solltest du das wirklich«, lachte sie. »Ein bißchen amerikanischer Schwung könnte Wunder wirken.« »Das ist wahr. Ich bin ja nur dummer alter Orientale…« »Wer sagt denn das? Ich bestimmt nicht. Aber, Paps, beeile dich bitte, wenn du mich liebst.« »Das werde ich tun«, antwortete er. »Ich nehme an, daß ich mich sonst heute abend nicht zu Hause sehen lassen kann.« Er legte den Hörer auf und ging in ein nahegelegenes Restaurant, wo er ein üppiges Abendessen verzehrte. Erfrischt und gestärkt machte er sich sodann auf den Weg zum Aala-Park. Dämmerung herrschte in diesem ungepflegten Park, dem Aufenthaltsort der im harten Lebenskampf Gescheiterten. Sie rekelten sich auf den Bänken, und einige warfen Charlie unter gesenkten Lidern hervor feindselige Blicke zu. Ein Gemurmel entstand, als er vorbeiging, ein gelegentlicher Fluch aus dem Mund von jemand, der den Detektiv schon unter nicht gerade erfreulichen Umständen kennengelernt hatte. Er beachtete sie überhaupt nicht – er suchte einen Mann in Samtjacke und Segeltuchhosen, die einstmals weiß gewesen waren. Der Park führte zu nichts. Chan ging durch eine Straße
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voller armseliger Läden und schäbiger Geschäfte. Über ihm paffte ein riesiges Weib von den Philippinen in verschlissenem Kimono auf einem baufälligen Balkon ihre Zigarre. Charlie drang immer weiter in ein Stadtviertel Honolulus vor, das den Touristen völlig unbekannt ist, die die reine Luft am Strand atmen und von der Schönheit dieser Insel schwärmen. Im River District gab es keine Schönheit, nur Schmutz und Elend; sieben Rassen vermengten sich in einem internationalen Slum. Er hörte bitter argumentierende, erhobene Stimmen, Kindergebrüll, Sandalengeklapper, und – sogar hier – die weichen Klänge hawaiischer Musik. ›The Song of the Islands‹, ertönte getragen durch die stinkende Luft. Über einem Torbogen, der zu einer dunklen, dreckigen Treppe führte, sah er das Schild: Orientalisches Kabarett. < Er blieb einen Augenblick im Lichtschein dieses Schildes stehen. Ein Mädchen näherte sich, dunkelhäutig, dünn, anmutig. Er trat beiseite, um sie vorbeizulassen und sah dabei ihr Gesicht. Die Tropen, einsame Inseln, verloren in der weiten Südsee – ein lieblicher Kopf gegen einen Hintergrund von kühlem Grün. Rasch folgte er ihr die Treppe hinauf. Er betrat einen armseligen Raum mit absackender Decke. Viele Tische mit blauweiß karierten Decken standen herum; geschminkte Mädchen aßen im Hintergrund. Ein verbindlicher kleiner Mann, der Besitzer, trat auf Charlie zu, rieb sich die Hände mit äußerlicher Ruhe, war aber innerlich ziemlich verstört. »Was wünschen Sie, Inspektor?« Charlie schob ihn beiseite und ging dem Mädchen nach, das er unten gesehen hatte. Sie hatte inzwischen ihren Hut abgenommen und hängte ihn an ei-
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nen Nagel. Offensichtlich arbeitete sie hier. »Entschuldigen Sie bitte«, begann Chan. Sie sah ihn an, und in ihren schwelenden Augen vermischte sich Angst mit Herausforderung. »Was wollen Sie?« »Sie sind doch bekannt mit ›haole‹ – weißem Mann – Smith, dem Strandvagabunden?« »Vielleicht.« »Er hat Ihr Porträt gemalt – ich habe es gesehen. Ein herrliches Bild.« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Ja, manchmal er kommt her. Ich lasse ihn Bild malen. Was ist denn dabei?« »Haben Sie Mr. Smith kürzlich gesehen?« »Schon lange nicht mehr – nein.« »Wo wohnt er?« »Am Strand, glaube ich.« »Aber wenn er Geld hat – wo dann?« Das Mädchen gab keine Antwort. Der Besitzer mischte sich ein. »Sag es ihm, Leonora. Sag dem Inspektor, was er wissen will.« »Nun gut. Manchmal wohnt er im Nippon-Hotel, in der Beretania-Street.« Chan verbeugte sich. »Herzlichen Dank.« Er verschwendete in diesem übelriechenden, überfüllten Raum keine Zeit, sondern eilte die dunkle Treppe hinab. Wenige Minuten später betrat er das Nippon-Hotel. Der aalglatte kleine Japaner hinter dem Pult begrüßte ihn mit einer Herzlichkeit, von der Chan wußte, daß sie äußerst unaufrichtig war. »Inspektor, Sie beehren mein Haus.« »Das ist aber nicht Zweck von Besuch. ›Haole‹ namens Smith – wohnt er hier?«
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Der Japaner holte ein Register unter dem Pult hervor. »Ich muß nachsehen…« Charlie nahm ihm das Buch aus der Hand. »Ich werde selbst nachschauen. Sie haben bemerkenswert schlechte Augen. Archie Smith, Zimmer sieben. Führen Sie mich dorthin!« »Mr. Smith ausgegangen, glaube ich.« »Das werden wir gleich feststellen. Beeilen Sie sich bitte.« Widerwillig führte der Japaner ihn über einen offenen Hof voller vernachlässigter Pflanzen und Blumen. Das Nippon-Hotel bestand aus einer Ansammlung schäbiger Schuppen und veralteter Nebengebäude. Sie kamen auf eine Veranda; eine japanische Gepäckträgerin stolperte an ihnen vorüber, tief gebückt unter einem schweren Blechkoffer. Der Japaner betrat einen muffigen Flur und deutete auf eine Tür. Die Zahl sieben – oder was davon noch übrig war – hing an einem Nagel in der Türfüllung. »Da hinein«, sagte der Japaner und verschwand mit einem feindseligen Blick. Chan öffnete die Tür von Nummer sieben und trat in ein düsteres Zimmer mit niedriger Decke. Eine schmutzige Glühbirne brannte über einem Holztisch, und an diesem Tisch saß Smith, der Vagabund, mit einer Leinwand auf dem Schoß. Bestürzt blickte er auf. »Oh, Sie sind das!« sagte er. Chan betrachtete ihn schläfrig. »Wo waren Sie ganzen Tag?« Smith deutete auf die Leinwand. »Hier haben Sie die Antwort, Inspektor. Ich saß in diesem fürstlichen Atelier und malte den Hof da draußen. Ich bin froh, daß Sie gekommen sind – es war etwas langweilig, seit ich
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fertig bin.« Er lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete sein Werk. »Sehen Sie sich das einmal an, Inspektor. Wissen Sie, ich glaube, ich habe darin etwas eingefangen – eine gewisse unheilvolle Ausstrahlung. Haben Sie schon jemals bemerkt, daß Blumen böse und unheilvoll aussehen können? Sie können es wirklich – im Hof des Nippon-Hotels.« Chan warf einen Blick auf das Gemälde und nickte. »Ja, sehr gut, aber ich habe jetzt keine Zeit für Kritik. Nehmen Sie Ihren Hut und kommen Sie mit.« »Wohin gehen wir – zum Abendessen? Ich kenne da einen Platz am Boulevard St. Germain…« »Wir gehen zur Polizeistation«, erwiderte Chan. »Wohin Sie wollen«, nickte Smith, legte die Leinwand beiseite und holte seinen Hut. Sie gingen durch den Aala-Park zur King-Street. Chan bedachte das menschliche Wrack an seiner Seite mit geradezu herzlichen Blicken. Bevor er und der Vagabund sich wieder trennten, würde Smith ihm viel erzählt haben – vielleicht genug, um das Problem zu lösen und all seinen Sorgen ein Ende zu bereiten. Der Chef war allein im Büro. Beim Anblick von Charlies Gefährten hellte sich sein Gesicht auf. »Aha, Sie haben ihn also gefunden. Das habe ich mir schon gedacht.« »Was soll das alles?« fragte Smith munter. »Ich fühle mich natürlich über all diese Aufmerksamkeiten sehr geschmeichelt, aber…« »Setzen Sie sich«, sagte der Chef. »Und nehmen Sie den Hut ab.« Gott sei Dank, hier war jemand, den man nicht mit Samthandschuhen anzufassen brauchte. »Sehen Sie mich an. Gestern abend wurde in Waikiki eine Frau ermordet, in einem Pavillon auf ihrem
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Grundstück. Was haben Sie in dem Zimmer gemacht, in dem sie ermordet wurde?« Unter dem gelben Bart erbleichte Smith. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich bin nie in dem Zimmer gewesen, Boss.« »Sie lügen! Wir haben Ihre Fingerabdrücke auf dem Fensterbrett gefunden. Sehen Sie mich an. Was haben Sie in dem Zimmer gemacht?« »Ich – ich…« »Los, nur Mut! Sie sind an einem sicheren Ort. Sagen Sie die Wahrheit, oder Sie werden es noch bereuen. Was haben Sie…« »In Ordnung«, sagte Smith leise. »Ich werde es Ihnen sagen. Geben Sie mir eine Chance. Ich habe niemanden umgebracht. Es stimmt, ich war in dem Zimmer – in gewisser Weise…« »In gewisser Weise?« »Ja. Ich öffnete das Fenster und stieg auf den Sims. Sehen Sie…« »Fangen Sie bitte von vorne an«, unterbrach Chan. »Wir wissen, daß Sie zum Pavillonfenster kamen und drinnen Mann und Frau sprechen hörten. Was gesagt wurde, wollen wir im Augenblick übergehen. Sie hörten, wie der Mann das Zimmer verließ…« »Ja – und ich folgte ihm. Ich wollte ihn sprechen, aber er stieg in ein Auto und fuhr die Avenue entlang. Ich konnte ihn nicht einholen. Also ging ich zurück und setzte mich an den Strand. Kurz darauf hörte ich einen Schrei – den Schrei einer Frau – aus dem Pavillon. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich wartete ein Weilchen, und dann ging ich hin und schaute durchs Fenster. Der Vorhang war vorgezogen, aber er flatterte umher. Alles war ruhig – ich dachte, das Zimmer sei
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leer. Und dann – nun ja, glauben Sie mir – die Sache ist mir ziemlich peinlich. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Aber ich war verzweifelt – völlig abgebrannt – und wenn man sich in dieser Situation befindet, bekommt man irgendwie das Gefühl, daß die Welt einem etwas schuldig ist…« »Weiter!« brüllte der Chef. »Nun, direkt unter dem Fenster erblickte ich eine – eine Diamantnadel. Ich dachte, niemand sei im Zimmer, deshalb schob ich die Scheibe hinauf und kletterte auf das Fensterbrett. Ich stieg hinein und hob die Nadel auf – und dann sah ich sie – die Frau – sie lag in der Nähe des Tisches – erstochen, tot. Na ja, natürlich war mir sofort klar, daß das nicht der richtige Aufenthaltsort für mich war. Ich schloß das Fenster von außen wieder, versteckte die Nadel in meiner kleinen, geheimen Schatulle am Strand und schlenderte so unauffällig wie möglich die Avenue entlang. Eine Stunde später hat mich dieser Bulle dort aufgegriffen.« »Ist Nadel noch am Strand?« fragte Chan. »Nein – ich habe sie heute morgen geholt.« Smith griff in seine Hosentasche und holte sie heraus. »Nehmen Sie sie rasch, ich will sie nicht mehr sehen. Ich muß verrückt gewesen sein, glaube ich. Aber, wie gesagt, wenn man völlig abgebrannt ist…« Charlie untersuchte die Nadel. Sie war sehr fein gearbeitet, eine Reihe schöner Diamanten in Platinfassung. Er drehte sie um. Die Nadel selbst war in der Mitte abgebrochen, das Ende fehlte. Der Chef warf dem Vagabunden einen strengen Blick zu. »Nun«, sagte er, »Sie wissen ja, was das bedeutet. Wir müssen Sie einsperren…« »Einen Augenblick, bitte«, unterbrach Chan. »Fund
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von hübscher Nadel ist ganz gut, aber für uns nicht wesentlich. Wesentlich ist, was dieser Mann von dem Gespräch zwischen Shelah Fane und Robert Fyfe belauscht hat, während er vor Pavillonfenster herumlungerte. Etwas von großer Bedeutung - etwas, das Mr. Fyfe zu falschem Geständnis veranlagte, um Smith zum Schweigen zu bringen – etwas, wofür er Mr. Smith nette Summe bezahlt hat, damit dieser schweigt. Aber jetzt ändert Mr. Smith Meinung. Er wird nicht länger schweigen.« »O doch, das werde ich«, rief Smith. »Ich meine – es war nichts – nichts…« »Wir halten Sie für Dieb«, schnitt Chan ihm das Wort ab. »Gefallen Ihnen Gefängnisse? Ich glaube kaum. Und unserem Distrikt gefällt es ebenso wenig, für Ihren Unterhalt dort aufkommen zu müssen. Unter gewissen Umständen könnte Erinnerung an Diebstahl für immer aus unseren Köpfen verschwinden. Habe ich recht, Chef?« Der Chef hatte noch Zweifel. »Glauben Sie denn, daß es so wichtig ist, Charlie?« »Es ist von immenser Bedeutung«, erwiderte Chan. »In Ordnung.« Der Chef wandte sich an den Vagabunden. »Sagen Sie uns die Wahrheit darüber, was Sie gestern abend gehört haben, und Sie können gehen. Es wird keine Anklage gegen Sie erhoben werden. Aber – es muß diesmal die volle Wahrheit sein.« Smith zögerte. Sein rosiger Traum vom Festland, von anständigen Kleidern und von Achtbarkeit zerrann. Aber beim Gedanken an das Oahu-Gefängnis schauderte ihn. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich werde Ihnen alles sagen. Ich hasse es, das tun zu müssen, aber –
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nun ja – da ist Cleveland. Mein Vater – ein peinlich genauer Mann. Leicht zu verärgern – er wird alt, wissen Sie. Ich muß schon um seinetwillen versuchen, aus diesem Schlamassel herauszukommen, wenn nicht um meinetwillen. Als ich bei jenem Fenster ankam, Inspektor…« Chan hob die Hand. »Einen Augenblick, bitte. Ich habe großes Verlangen, Robert Fyfe hier in Zimmer zu sehen, wenn Sie Geschichte erzählen.« Er schaute auf die Uhr. »Ich kann ihn im Hotel erreichen, denke ich. Entschuldigen Sie mich.« Er nahm den Hörer ab und rief Fyfe an. Dann setzte er sich auf einen Stuhl neben den Vagabunden. »Jetzt wollen wir so gemütlich wie möglich ausruhen. Smith, Sie erinnern sich und bringen Ihre Geschichte in richtige Reihenfolge. Und denken Sie daran – die Wahrheit.« Der Vagabund nickte. »Ich habe verstanden, Inspektor. Diesmal wird es die Wahrheit sein.« Er betrachtete seine mitgenommenen Schuhe. »Ich wußte, daß es zu schön war, um lange dauern zu können. Haben Sie zufällig eine Zigarette? Nein? Ich auch nicht. Aber so ist das Leben nun einmal.«
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Kapitel 22
Was der Vagabund hörte Schweigend saßen sie da, während die Minuten nur sehr langsam verstrichen. Smiths blaßgraue Augen starrten hoffnungslos in die Zukunft, eine Zukunft, in der er für immer, gebrochen und einsam, einen geschwungenen Strand entlanglief. Der Chef zündete sich eine dicke Zigarre an und griff nach der Abendzeitung. Charlie Chan holte die Diamantnadel aus seiner Tasche und untersuchte sie, tief in Gedanken versunken. Zehn Minuten später betrat Robert Fyfe das Zimmer. Er kam herein, als betrete er eine Bühne: verbindlich, lächelnd, selbstsicher. Aber als er Smith entdeckte, verschwand das Lächeln plötzlich, und es wurde von einem Stirnrunzeln abgelöst. »Guten Abend«, sagte der Schauspieler. »Ich habe ungefähr zwanzig Minuten Zeit, Mr. Chan, und dann muß ich mich sehr sputen. Ich kann heute nicht schon wieder zu spät ins Theater kommen.« »Zwanzig Minuten werden vollkommen ausreichen«, beteuerte Chan. »Mr. Smith und Sie kennen sich ja bereits. Und das hier ist mein Vorgesetzter.« Fyfe verbeugte sich. »O ja. Ich nehme an, Sie hatten einen wichtigen Grund, mich hierher zu bestellen, Inspektor?« »Uns scheint er wichtig«, entgegnete Chan. »Ich will keine unnötigen Worte verlieren. Gestern abend hatten Sie berühmte Unterhaltung mit Exfrau in Strandpavillon. Der eigentliche Wortlaut dieser Unterhaltung ist noch nicht zur Sprache gekommen. Als zuerst über diese Angelegenheit gesprochen wurde, gestanden Sie
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Verbrechen, das Sie nicht begangen haben, um das Gesprächsthema zu wechseln. Dann, heute morgen, werden Sie auf einmal Kunstliebhaber und kaufen Smith ein Bild ab, um ihn zum Schweigen zu bringen.« Er beobachtete den Schauspieler genau. »Ich freue mich, daß Sie gutes Bild erworben haben, Mr. Fyfe. Denn etwas anderes werden Sie nicht bekommen. Smith kann nicht länger schweigen. Smith wird gleich Farbe bekennen müssen.« Ein verzweifelter Ausdruck glitt über das Gesicht des Schauspielers und wurde von einem zornigen abgelöst. Er drehte sich um und starrte den Vagabunden an. »Sie erbärmlicher…« Smith hob protestierend die Hand. »Ich weiß – ich weiß. Ich habe mich als ein geknicktes Schilfrohr erwiesen. Mir tut diese Sache ebenso leid wie Ihnen, alter Junge. Aber diese klugen Burschen hier haben etwas gegen mich in der Hand – etwas ziemlich Ernstes – das bedeutet Gefängnis, es sei denn, daß ich Sie verrate. Und ich habe so oft unter freiem Himmel geschlafen – irgendwie habe ich keine Sehnsucht nach einer Gefängnispritsche. Es tut mir, wie gesagt, furchtbar leid, aber ich werde Sie im Stich lassen. Hätten Sie übrigens eine Zigarette für mich?« Fyfe starrte ihn einen Augenblick an, dann zuckte er die Achseln, öffnete ein silbernes Etui und hielt es dem anderen hin. Smith bediente sich. »Danke. Es ist eine unglückselige Affäre, Mr. Fyfe, und – nein, danke, ich habe Streichhölzer – je schneller wir sie hinter uns bringen, desto besser.« Er zündete die Zigarette an und zog gierig daran. »Um auf unser Lieblingsthema zurückzukommen – den gestrigen Mord und meine Anwesenheit am Strand – ich ging also zu diesem Pa-
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villonfenster, und sie waren zusammen dort – dieser Mann und Shelah Fane. Hauptsächlich bestritt sie die Unterhaltung – ich konnte einen Blick auf sie werfen – sie war zauberhaft, noch schöner als auf der Leinwand. Ich hätte sie sehr gern gemalt – in diesem cremefarbenen Kleid…« »Los, los!« rief der Chef. »Fahren Sie fort!« »Das versuche ich ja eben. Ich wollte nur darauf hinweisen, wie schön sie war – einer Frau wie ihr sollte eigentlich wenigstens ein – Schuß erlaubt sein.« Chan stand auf. »Was soll das nun wieder heißen?« »Das soll heißen, daß sie sich dieses Recht einfach angemaßt hatte. Sie erzählte Mr. Fyfe alles darüber – daß sie vor drei Jahren in Hollywood einen Mann ermordet hatte…« Mit einem Stöhnen sank Fyfe auf einen Stuhl und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Welchen Mann hatte sie ermordet?« fragte der Chef. »O ja – der Name.« Smith zögerte. »Ich glaube, sie nannte ihn Denny. Ja, das war der Name – Denny Mayo.« Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen, dann sprang Fyfe auf. »Lassen Sie mich das erzählen«, schrie er. »Es wird furchtbar klingen, wenn er es erzählt. Lassen Sie mich etwas über Shelah vorausschicken – sie war emotional, ungestüm. Ich werde versuchen, Ihnen zu erklären…« »Es ist mir gleichgültig, wer erzählt«, sagte der Chef. »Aber ich will die Geschichte hören, und zwar sofort.« Fyfe wandte sich an Chan. »Ich habe Ihnen ja schon erzählt, Inspektor, daß sie mich im Theater anrief – ein verwirrter, mitleiderregender Anruf- und sagte, sie müsse mich sofort sehen. Ich antwortete, daß ich nach
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der Vorstellung kommen würde, aber sie sagte, dann könne es schon zu spät sein. Wenn ich sie jemals geliebt hätte, müsse ich sofort kommen. Sie hätte mir etwas zu sagen, sie brauche meinen Rat, sie sei verzweifelt. Also – fuhr ich zu ihr. Wir trafen uns auf dem Rasen. Sie war ganz außer sich vor Angst und Schrecken. Wir gingen in den Pavillon, und sie stürzte sich sofort in ihre Geschichte. Einige Jahre nach unserer Scheidung, sagte sie, lernte sie Denny Mayo kennen – sie verliebte sich wahnsinnig in ihn – ich konnte es mir vorstellen. Ich wußte ja, wie Shelah liebte. Wild, unvernünftig. Mayo schien sich etwas aus ihr zu machen; er hatte eine Frau in London, die als Tänzerin in Musicals auftrat, aber er versprach, sich scheiden zu lassen und Shelah zu heiraten. Eine Zeitlang war sie glücklich – und dann bat Mayo sie eines Abends, zu ihm in sein Haus zu kommen. Das war vor drei Jahren – an einem Juniabend. Sie ging zur verabredeten Zeit zu ihm. Er sagte ihr, daß er mit ihr fertig sei, daß seine Frau einen Unfall gehabt hätte und nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten könne; daß er glaube, er sei dieser Frau etwas schuldig – kurz und gut, daß er ihr schreiben würde, sie solle zu ihm nach Hollywood kommen. Die arme Shelah hat daraufhin durchgedreht. Völlig den Verstand verloren. In Mayos Schreibtischschublade lag ein Revolver, sie holte ihn, richtete ihn auf Mayo und drohte, ihn und sich selbst umzubringen. Ich habe sie in solchen Augenblicken schon gesehen; ich weiß, daß sie nicht verantwortlich war. Sie kämpften um die Waffe, sie ging in ihrer Hand los. Sie sah Mayo tot zu ihren Füßen liegen. Das brachte sie wohl wieder zur Vernunft. Jedenfalls
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nahm sie ihr Taschentuch und wischte ihre Fingerabdrücke von dem Revolver ab. Sie schlich sich aus dem Haus und kam auch unbemerkt in ihre Wohnung. Sie war in Sicherheit. Bei den Ermittlungen wies nichts auf sie hin. Sie war in Sicherheit – aber nie mehr glücklich. Seit diesem Tage stand sie Todesqualen aus. Vor einigen Wochen lernte sie in Tahiti Alan Jaynes kennen. Sie wollte ihn heiraten, aber jene Erinnerung an die Vergangenheit verfolgte sie. Sie hatte die Gewohnheit angenommen, diesen Tarneverro wegen allem und jedem um Rat zu fragen; er hatte sie durch seine Klugheit tief beeindruckt. Sie schickte nach ihm, er kam hierher, und gestern morgen ging sie in sein Appartement. Auf dem Weg zu ihm hatte sie nicht vorgehabt, ihm etwas über Denny Mayo zu erzählen. Sie wollte nur, daß er in ihrer Zukunft lesen sollte, daß er ihr raten sollte, ob eine Ehe mit Jaynes glücklich verlaufen würde. Aber er – er hat anscheinend irgendeine dunkle Macht über sie gehabt. Vielleicht hat er sie hypnotisiert. Jedenfalls brachte er sie irgendwie dazu, ihm die ganze entsetzliche Geschichte zu erzählen…« »Halt!« rief Chan mit ungewohnter Schärfe. »Oh, entschuldigen Sie bitte – einen Augenblick. Wollen Sie damit sagen, daß sie Tarneverro gestand, sie selbst hätte Denny Mayo ermordet?« »Selbstverständlich. Ich…« »Aber Tarneverro erzählt andere Version…« »Dann lügt er. Shelah gestand ihm den Mord an Denny - verstehen Sie denn nicht? – deshalb hatte sie doch solche Angst, deshalb hatte sie mich gerufen. Sie sagte, ich sei der einzige, auf den sie sich verlassen könne. Das Licht in Tarneverros Augen, als sie ihr
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Geständnis ablegte. hatte ihr nicht gefallen. Sie hatte tödliche Angst vor diesem Mann. Sie war sicher, daß er vorhatte, ihr Geständnis auf irgendeine Art und Weise zu verwenden, die ihr unendliches Leid zufügen würde. Sie klammerte sich an mich, flehte mich um Hilfe an. Aber was konnte ich tun? Was konnte man jetzt überhaupt noch tun?« Fyfe setzte sich, als hätte der Bericht ihn erschöpft. »Ich versuchte, ihr Mut zu machen, versprach, ihr zu helfen, womit ich nur könnte – aber ich machte ihr klar, daß ich sofort ins Theater zurückkehren müsse. Sie bat mich zu bleiben, bei ihr zu bleiben – aber, wie Sie ja wissen, meine Herren – die Show muß weitergehen. Ich habe mein Publikum noch nie im Leben enttäuscht – ich weigerte mich auch gestern, es zu tun. Ich verließ sie und kehrte in die Stadt zurück.« Wieder vergrub Fyfe sein Gesicht in den Händen. »Wäre ich doch nur bei ihr geblieben – aber ich habe es nicht getan. Als Nächstes hörte ich, daß die arme Shelah ermordet worden war. Ich hatte zuerst vor, der Polizei die ganze Geschichte sofort zu erzählen, aber irgendwie – als es dann soweit war – brachte ich es nicht fertig. Shelah, die immer so redlich und gut gewesen war, ein solch guter Kamerad, so großzügig und freundlich. Ich malte mir aus, daß dieser Makel in ihrer Vergangenheit, diese wilde Tat, die sie in einem unbeherrschten Augenblick begangen hatte, in die ganze Welt gekabelt würde. Sie war tot. Ihren Mörder zu finden, würde sie doch nicht mehr ins Leben zurückbringen. Nein, dachte ich, laß Shelahs Namen unbefleckt. Das ist jetzt deine Aufgabe. Dann kam dieser verfluchte Vagabund herein und begann seinen Bericht. Ich verlor selbst ein wenig den
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Verstand. Ich hatte Shelah immer geliebt – ich liebe sie noch jetzt – mehr denn je, als ich sie gestern abend sah. Also legte ich mein melodramatisches Geständnis ab, um die Ermittlungen abzuschließen. Ich weiß nicht, ob ich weiter dabei geblieben wäre oder nicht – heute morgen, als ich aufwachte, kam es mir so vor, als hätte ich die Ritterlichkeit etwas übertrieben. Zum Glück für mich mußte ich nicht lange bei meinem Geständnis bleiben – Mr. Chan widerlegte es auf der Stelle. Aber ich hatte mein Ziel erreicht, ich hatte Smith einen Hinweis gegeben, und als er heute zu mir kam, war ich bereit, ihm alles zu geben, was ich besaß, damit er den Mund hielt. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Shelah vor aller Welt entehrt würde, deren Bewunderung sie bis dahin erregt hatte.« Charlie stand auf und legte dem Schauspieler eine Hand auf die Schulter. »Sie haben mir viel Ärger gemacht, aber ich vergebe Ihnen großzügig, denn Sie sind galanter Gentleman. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie weiterhin strapaziere, indem ich großen Nachdruck auf einen Punkt lege, der von ausschlaggebender Bedeutung ist. Sind Sie ganz sicher, daß Miss Fane Tarneverro genau die gleiche Geschichte erzählt hatte wie Ihnen?« »Absolut«, erwiderte Fyfe. »Und wenn Sie zwischen Tarneverro und Denny Mayo irgendeine Beziehung herstellen können, dann hat der Wahrsager sie ermordet. Das steht fest.« Charlie tauschte einen langen Blick mit seinem Vorgesetzten. Dieser wandte sich an Smith. »Sie können gehen«, sagte er. »Und lassen Sie sich hier nicht wieder blicken.«
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Der Vagabund sprang hastig auf. »Bestimmt nicht – wenn es nach mir geht«, beteuerte er. »Wenn man mich natürlich wieder hierherschleppt…« Er trat auf Fyfe zu. »Es tut mir wirklich leid, alter Knabe. Ich möchte Ihnen auch sagen – wenigstens in einer Hinsicht habe ich Wort gehalten – ich habe den ganzen Tag nichts getrunken. Ich saß in meinem Zimmer – mit dem Geld in der Tasche – saß da und malte eine Menge bösartig aussehender Blumen, während meine Kehle so trocken war wie die Sahara. Es war eine schwierige Aufgabe, aber ich habe sie bewältigt. Wer weiß – vielleicht habe ich doch noch eine Chance. Hier« – er holte ein Bündel Geldscheine aus der Tasche – »das gehört Ihnen.« »Warum, was ist das?« fragte Fyfe. »Zweiunddreißig Dollar – alles, was von den fünfzig noch übrig ist. Es tut mir leid, daß es nicht mehr ist, aber ich habe ein Stück Leinwand und einige Pinsel gekauft – wissen Sie, man kann nicht nur so in einem Zimmer herumsitzen.« Fyfe stand auf und schob das Geld beiseite. »Oh, das ist schon in Ordnung. Es ist ein sehr gutes Gemälde – das ist meine ehrliche Meinung. Behalten Sie das Geld und kaufen Sie sich davon anständige Kleider.« Smiths hellgraue Augen strahlten vor Dankbarkeit. »Bei Gott – Sie sind ein Gentleman. Es tut einem Kerl wie mir gut, jemanden wie Sie kennenzulernen. Etwas rumort in mir – kann es ein großer Entschluß sein? Mir wurde gesagt, daß auf den Schiffen großer Mangel an Stewards herrsche. Morgen früh werde ich mir einige neue Kleidungsstücke kaufen und mich für die Fahrt bis zur Küste zur Arbeit verpflichten. San Francisco – von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis Cleve-
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land. Ja – bei Gott – das werde ich tun!« »Viel Glück!« antwortete Fyfe. »Danke. Darf ich Sie noch einmal belästigen – wegen einer Zigarette? Sie sind sehr liebenswürdig.« Er ging auf die Tür zu, blieb aber plötzlich stehen und kam zurück. »Chef, irgendwie möchte ich Sie nicht verlassen. Wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?« Der Chef lachte. »Vielleicht.« »Sperren Sie mich bis zum Morgen ein«, bat der Vagabund. »Lassen Sie mich nicht mit diesem ganzen Geld auf die Straße. Ich könnte überfallen und ausgeraubt werden, oder möglicherweise – möglicherweise… Ich möchte sagen, bringen Sie mich für die Nacht an einem sicheren Ort unter, und die Chancen, daß Sie mich morgen loswerden, werden sehr viel besser sein als im Augenblick.« »Mit Vergnügen«, nickte der Chef zustimmend. »Kommen Sie mit.« Smith winkte Charlie Chan zu. »Erinnern Sie mich morgen früh daran, daß ich Ihnen zehn Cents schulde.« Er folgte dem Chef nach draußen. Charlie wandte sich an Fyfe. »Sie werden jetzt im Theater erwartet. Ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie uns erzählt haben.« »Mr. Chan – wenn Sie diese Sache über Shelah nur vor der Presse geheimhalten könnten…« Charlie schüttelte den Kopf. »Es tut mir sehr leid, aber ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Diese Sache steht mit Miß Fanes Ermordung in engem Zusammenhang.« »Vermutlich«, seufzte Fyfe. »Na, Sie waren jedenfalls sehr anständig zu mir, und ich weiß das zu schätzen.« Chan verbeugte sich zum Abschied.
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Als er allein war, starrte der Detektiv nachdenklich ins Leere. In dieser Haltung fand ihn sein Chef, als er wieder ins Büro kam. Einen Augenblick sahen sie einander an. »Tarneverros Geschichte war also eine Lüge«, sagte der Chef. »Und Sie haben Ihre ganze Untersuchung darauf aufgebaut. Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Charlie, sich so in die Irre führen zu lassen.« Chan nickte. »Wenn ich Zeit hätte, würde ich meinen Kopf vor lauter Scham tief hängenlassen. Ich ziehe es jetzt aber vor, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Von nun an nimmt Untersuchung neue Wendung…« »Was wollen Sie damit sagen – von nun an?« fragte sein Vorgesetzter. »Der Fall ist beendet – wissen Sie das nicht.« »Glauben Sie?« »Ich bin mir ganz sicher. Am Morgen erzählt Shelah Fane Tarneverro, daß sie Denny Mayo ermordet hat. Mayo war sein Bruder. Am Abend wird sie ermordet aufgefunden. Was könnte noch einfacher sein? Ich werde den Wahrsager sofort verhaften lassen.« Charlie hob die Hand. »Nein, nein – ich rate davon ab. Sie vergessen sein Alibi, solide wie Steinmauer, nicht zu erschüttern.« »Wir werden es erschüttern müssen. Es ist ganz offensichtlich falsch. Es muß einfach falsch sein. Entweder lügen diese alten Leute, um ihn zu retten, oder aber er hat sie irgendwie überlistet, wie er ja auch Sie hereingelegt hat…« »Ich bin nicht Ihrer Meinung«, sagte Chan eigensinnig. »Was ist los mit Ihnen, Charlie? Verlieren Sie etwa den Verstand? Wir hatten noch nie einen so klaren Fall wie diesen. Die kleine Schwierigkeit mit dem Alibi…«
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»Da ist noch etwas anderes«, erinnerte Chan. »Warum hat Tarneverro gesagt, er würde mich zum Strand rufen, um einen Mörder festzunehmen? Seine Worte haften in meinem Gedächtnis und wollen nicht verschwinden. Ich sage Ihnen klipp und klar, daß dieses Problem noch nicht gelöst ist.« »Ich kann Sie nicht verstehen, Charlie.« »Nur eines ist durch Mr. Fyfes interessante Geschichte jetzt klar. Ich weiß jetzt, warum Tarneverro nicht wollte, daß ich Shelah Fanes Brief las. Er befürchtete, daß ich daraus erfahren würde, daß sein Bericht von der Sitzung mit der Dame in den Einzelheiten gar nicht stimmte und daß Kartenhaus über seinem Kopf zusammenbrechen würde. Zum Glück für ihn war Inhalt von Brief, als ich ihn schließlich öffnete, derart, daß er seine Lüge noch bekräftigte. >Bitte vergessen Sie, was ich Ihnen erzählt habe. Ich muß verrückt gewesen sein – einfach verrückte Da wußte Tarneverro, daß Schlag in Dunkelheit gar nicht notwendig gewesen war. Er muß Wunsch gehabt haben, sich einige kräftige Fußtritte zu versetzen.« Chan legte eine Pause ein. »Ja, Mr. Tarneverro hat mich von Anfang an mit seinen Täuschungen in die Irre geführt. Trotzdem glaube ich nicht, daß er Mord verübt hat.« »Nun, und was würden Sie jetzt tun?« fragte der Chef. »Nur hier herumsitzen und Däumchen drehen, mit mir zusammen?« »Ich bin kein Däumchendreher«, erwiderte Chan würdevoll. »Ich schlage vor, zu handeln.« »Und wie? Wir haben keine weiteren Anhaltspunkte.« Charlie holte die Diamantnadel aus seiner Tasche. »Wir haben das hier.« Er übergab sie seinem Vorgesetzten. »Würden Sie so freundlich sein und sie genau
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betrachten?« Der Chef kam diesem Wunsch nach. »Die Nadel selbst ist in der Mitte abgebrochen, nicht wahr? Die Hälfte scheint verschwunden zu sein.« Chan nickte. »Sie ist zweifellos verschwunden. Und wenn wir fehlendes Stück finden, ist Fall gelöst.« Sein Chef sah verwirrt aus. »Wie meinen Sie das?« »Wie wurde Nadel zerbrochen? Als Uhr zerschmettert war, wollte Mörder weitere Beweise für Kampf liefern, damit zerschmetterte Uhr glaubwürdiger wirkte. Deshalb riß er Orchideen ab und zertrampelte sie unter Füßen. Als er Blumen abriß, löste sich Nadel und fiel herunter. Zweifellos lag sie auf Boden, mit Spitze nach oben. Vielleicht drang nun diese Spitze tief in Absatz von Schuh des Mörders und brach dort ab. Ist das passiert und hat Mörder nichts davon bemerkt? Es wäre möglich. Wenn ja, so könnten auf gebohnerten Fußböden von Haus in Waikiki verräterische Kratzer sein. Ich eile sofort dorthin, um danach zu suchen.« Der Chef dachte nach. »Nun gut, es könnte etwas dran sein. Ich werde Ihnen eine Chance geben, das herauszufinden. Gehen Sie. Ich werde hier auf Neuigkeiten warten.« An der Schwelle traf Charlie Kashimo. Der kleine Japaner war erschöpft und entmutigt. »Habe Stadt zwanzigmal, vielleicht auch fünfzigmal durchkämmt. Mr. Smith nicht mehr da.« »Ein feiner Detektiv bist du«, brummte der Chef. »Smith befindet sich jetzt da draußen in einer Zelle. Charlie hat ihn gefunden.« Enttäuschung und Kummer waren in den Augen des Japaners zu erkennen. Charlie blieb an der Tür stehen und kam zurück. Er tätschelte die Schulter des kleinen
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Mannes. »Kopf hoch!« sagte er freundlich. »Sei guter Junge, besuch alle Treffen des Buddhistischen Jungmännervereins, und du wirst doch noch Erfolg haben. Niemand ist perfekt. Sieh mich an. Siebenundzwanzig Jahre im Dienst, und ich bin nicht einmal annähernd so klug, wie ich dachte.« Langsam verließ er das Büro.
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Kapitel 23
Der verhängnisvolle Stuhl Charlie fuhr wieder zum Strand, um Shelah Fanes Haus einen, wie er hoffte, letzten Besuch abzustatten. Der Mond war noch nicht aufgegangen, der Himmel wirkte wie Purpursamt, übersät von Sternen, die die Dunkelheit dennoch nicht genügend zu erhellen vermochten. Die blühenden Bäume verbargen ihre Schönheit in der ruhigen, atemlosen Finsternis. Vor vierundzwanzig Stunden, während der gleichen Zeitspanne undurchdringlicher Nacht vor Aufgang des Mondes, hatte das schwarze Kamel an Shelah Fanes Tor gekniet. Obwohl er jetzt das Geheimnis in der Vergangenheit dieser Frau kannte, obwohl er wußte, daß sie ein schreckliches Unrecht begangen hatte, dachte er noch immer mit tiefem Mitgefühl an sie. Sie hatte nie vor Gericht gestanden, um sich für ihr Verbrechen zu verantworten, aber sie hatte nichtsdestoweniger gelitten. Was für eine Tortur mußten diese drei Jahre gewesen sein. ›Vielleicht kann ich schließlich doch noch ein wenig Glück finden. Ich möchte es so sehr.‹ – das hatte sie in ihrem letzten, mitleiderregenden Brief geschrieben. Und was hatte sie statt dessen gefunden? Das schwarze Kamel, das darauf wartete, sie ins Unbekannte zu tragen. Was auch immer das Motiv für diesen Mord gewesen sein mochte, dachte Charlie – die Tat selbst war herzlos und grausam. Er war fest entschlossen, die Person, die Shelah Fane ermordet hatte, zu finden und dafür bezahlen zu lassen. Zu finden – aber wie? Würde ihm die kleine Nadel
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in seiner Tasche helfen? Er hoffte es verzweifelt, denn er konnte sein Vertrauen nur noch auf sie setzen. Wie Tinte sah der Schatten des Feigenbaumes auf dem Rasen vor dem riesigen, ausladenden Gebäude aus, in dem der berühmte Star sein letztes Heim gefunden hatte. Chan stellte sein Auto ab, schaltete die Scheinwerfer aus und ging rasch über das Grundstück. Jessop, würdig und ruhig wie immer, ließ ihn ein. »Ah, Herr Inspektor, ich habe Sie schon erwartet. Welch ein schöner Abend, um außer Haus zu sein. Mild und duftend würde ich ihn nennen, Sir.« Chan lächelte. »Ich bin ein zu beschäftigter Mann, Jessop, um mich mit Düften der Nacht zu befassen.« »O ja, ich nehme an, daß Ihre Zeit sehr ausgefüllt ist, Herr Inspektor. Gibt es – wenn ich mir die Kühnheit herausnehmen darf zu fragen – irgendwelche neuen Entwicklungen bezüglich des Mordes?« Chan schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht.« »Ich bedaure, das hören zu müssen, Sir. Die jungen Leute sind am Strand – Miss Julie und Mr. Bradshaw, meine ich. Wen wollen Sie vernehmen?« »Ich wollte die Fußböden in diesem Haus vernehmen«, erklärte Chan. Jessop hob die weißen Augenbrauen. »In der Tat, Sir. Mein Vater pflegte zu sagen, daß Wände Ohren hätten…« »Auch Fußböden können eine Geschichte erzählen«, erwiderte Chan. »Wenn Sie keine Einwände haben, werde ich im Wohnzimmer beginnen.« Er schob die schweren Vorhänge beiseite. Diana Dixon saß am Klavier und spielte leise. Sie stand auf. »O hallo«, sagte sie. »Suchen Sie jemand?« »Ich suche jemand sehr intensiv«, bestätigte Chan.
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»Am Ende der Spur hoffe ich ihn zu finden – oder sie.« »Sie haben also bis jetzt noch nicht herausgefunden, wer die arme Shelah ermordet hat?« »Nein. Aber das ist unglückliches Thema. Warum sind Sie nicht am Strand? Das ist um diese Zeit richtiger Platz für Jugend.« Diana zuckte die Achseln. »Was ist schon der Strand ohne einen Mann? Und es gibt hier ganz offensichtlich nicht genug Männer.« »Ich wette, das ist eine seltene Situation für Sie«, lächelte Charlie. »Oh, Abwechslung tut uns allen sehr gut.« Sie beobachtete ihn, wie er sich ungeduldig im Zimmer umsah. »Was haben Sie jetzt vor? Das ist alles so aufwühlend für mich…« »Nun, ich werde jetzt unerträglich grob sein«, erwiderte er. »Ich befinde mich in unglaublicher Lage, auf Ihre Gesellschaft verzichten zu müssen. Würden Sie bitte auf Terrasse warten?« Sie schmollte. »Ich hatte gehofft, Sie würden mich bitten, Ihnen zu helfen.« »In so charmanter Gesellschaft wie der Ihrigen, fürchte ich, könnte ich mich nicht auf Arbeit konzentrieren.« Er hielt ihr die Verandatür auf. »Bitte, tun Sie mir den großen Gefallen…« Äußerst ungern ging sie hinaus, und er schloß die Tür hinter ihr. Er wollte nicht in Gegenwart einer Zeugin würdelos auf dem Fußboden herumrutschen. Er machte alle Lampen im Zimmer an und ließ sich mit einiger Schwierigkeit auf die Knie nieder. Dann holte er ein Vergrößerungsglas aus seiner Tasche und begann eine sorgfältige Überprüfung des Fußbodens, dort, wo dieser nicht mit Teppichen belegt war.
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Lange Zeit kroch er umher, bis seine Knie weh taten. Aber er achtete nicht darauf, denn seine Bemühungen wurden reich belohnt. Hier und dort stieß er auf zahlreiche feine Kratzer, die zweifellos erst vor kurzem entstanden waren. Er atmete schwer, und seine schwarzen Augen leuchteten zufrieden. Plötzlich kam ihm eine noch bessere Idee. Er sprang auf und eilte ins Eßzimmer. Er war sehr froh, als er feststellte, daß der Tisch noch ausgezogen war wie am vorhergehenden Abend. Jessop räumte Silber ins Büfett ein. Er drehte sich um. »Ich stelle fest«, sagte Chan, »daß Sie Größe von ausziehbarem Eßtisch noch nicht wieder auf normale Größe reduziert haben.« »Ich konnte nicht, Sir«, erwiderte der Butler. »Alle dafür notwendigen Tischplatten sind schon herausgenommen worden. Es hat den Anschein, als seien die früheren Bewohner dieses Hauses äußerst gastfreundlich gewesen.« »Sehr gut«, meinte Chan. Er war erfreut, daß der große Tisch auf dem blanken Fußboden stand; in diesem Zimmer gab es nur einen kleinen Teppich, der auf der Schwelle lag. »Bitte erweisen Sie mir großen Gefallen, Jessop. Stellen Sie zehn Stühle um diesen Tisch herum auf, in gleicher Position wie gestern abend.« Verwirrt gehorchte Jessop. Als er fertig war, stand Charlie einen Augenblick in Gedanken versunken da. »Stehen Stühle jetzt genauso, wie sie vor etwa vierundzwanzig Stunden standen, als Sie Gästen Kaffee servierten?« »Ganz genauso«, versicherte der Butler. Wortlos zog Charlie einen Stuhl zurück und verschwand unter dem Tisch. Nacheinander wurden die
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Stühle beiseitegeschoben, stumme Zeugen seiner Tätigkeit, während Jessop mit einem Erstaunen, das auf seinem unerschütterlichen Gesicht nur sehr selten zu sehen war, das Geschehen verfolgte. Mit einer Taschenlampe machte Chan die lange Runde um den Tisch herum. Endlich kam er hoch, als wollte er Luft schnappen. »Wurden für Abendessen gestern abend Tischkarten benutzt?« »Nein, Sir. Es war eine ziemlich formlose Einladung, und Miss Fane sagte, sie werde den Gästen selbst ihre Plätze zuweisen.« »Als sie zum Kaffeetrinken hier hereinkamen, setzten sie sich also nicht in vorbereiteter Tischordnung hin?« »O nein, Sir. Sie setzten sich einfach irgendwohin, wie es ihnen gerade einfiel.« »Besteht zufälligerweise Möglichkeit, daß Sie sich daran erinnern, wer wo saß?« Jessop schüttelte den Kopf. »Es tut mir sehr leid, Herr Inspektor, aber es war ein äußerst unruhiger Abend. Ich befürchte, ich hatte etwas die Nerven verloren.« Charlie legte seine Hand auf den Stuhl rechts von dem, den die Gastgeberin zweifellos eingenommen hätte. »Sie können mir also nicht sagen, wer auf diesem Platz saß?« »Leider nicht, Mr. Chan. Einer der Herren, glaube ich. Aber ich – ich weiß es wirklich nicht mehr.« Charlie dachte einen Augenblick nach. »Vielen Dank. Telefon befindet sich doch in einem Wandschrank des Vorzimmers, nicht wahr?« »Ja, Sir, ich werde es Ihnen zeigen.« »Machen Sie sich keine Umstände«, sagte Chan, »ich finde es schon.«
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Er ging in den Vorraum, schloß hinter sich die Tür in dem heißen Kämmerchen unter der Treppe und wickelte zahlreiche Telefongespräche ab. Zuletzt rief er seinen Chef an. »Hier ist Inspektor Chan«, sagte er. »Darf ich demütig vorschlagen, daß Sie einen tüchtigen Mann mitnehmen und sofort zu Haus von Shelah Fane kommen?« »Tut sich etwas, Charlie?« Chan schloß die Tür, soweit es möglich war. Kleine Schweißbäche liefen ihm über die Stirn. »Nadel führt uns bald zum Erfolg«, sagte er leise. »Auf Wohnzimmerboden befinden sich viele frische Kratzer. Mehr noch, gestern abend in Zeit von Verhören setzten sich Gäste, die eigentlich zum Abendessen gekommen waren, an Eßtisch zu kurzer Mahlzeit. Boden unter Tisch ist unbedeckt, und vor einem Stuhl – nur vor einem einzigen – befinden sich weitere Kratzer.« »Wer saß auf diesem Stuhl?« fragte der Chef. »Shelah Fanes Mörder«, antwortete Chan. »Seinen Namen kenne ich noch nicht. Aber ich habe soeben sechs Gäste ins Haus bestellt, die, mit den drei schon anwesenden, mit vollständiger Gästeliste von gestern abend übereinstimmen. Wenn alle versammelt sind, führen wir sie in Eßzimmer und bitten sie, die gleichen Plätze einzunehmen, die sie gestern innehatten. Stuhl von toter Gastgeberin befand sich am Kopfende von Tisch, gegenüber der Tür zum Vorraum. Passen Sie auf, wer sich auf Stuhl rechts von Gastgeberin setzt. Das ist Person, die wir so dringend suchen.« Der Chef lachte. »Sie machen ein großes Drama daraus, was, Charlie? Nun, mir ist es recht, wenn es zum Erfolg führt. Ich komme sofort zu Ihnen.« Charlie trat in den Vorraum hinaus und wischte sich
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die Stirn ab. Er sah gerade noch Jessops Rockschöße, der sich hastig durch die Vorhänge ins Wohnzimmer zurückzog. Müßig schlenderte Charlie umher und kam schließlich auf die Veranda, wo er Miss Dixon traf. »Wohnzimmer steht wieder zu Ihrer Verfügung«, sagte er mit einer Verbeugung. Sie stand auf und kam auf ihn zu. »Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?« fragte sie neugierig. Er zuckte die Achseln. »Wer auf dieser Welt findet schon, wonach er sucht? Erfolg – was ist das? Eine Luftblase, die zerplatzt, wenn Menschenhand sie berührt.« Und er schlenderte dem Strand entgegen. Rechts von ihm lag der Pavillon, der heute abend dunkel und leer war. Nahe am Meer stieß er auf Julie und Jimmy Bradshaw, die zusammen in einem Strandkorb saßen, der nur für eine Person gedacht war. Der junge Mann stand auf. »Das ist doch der gute alte Charlie«, rief er, »Honolulus berüchtigter Spürhund. Wie geht es Ihnen und was gibt’s Neues?« »Neuigkeit scheint zu sein, daß Zauber von Waikiki noch wirksam ist«, antwortete Chan. »Ich bedaure sehr, diese rührende Szene stören zu müssen.« Bradshaw streckte seine Hand aus. »Schütteln Sie mir die Hand, Charlie. Sie sind der erste, der es erfährt. Ich werde heiraten. Und, o ja, – Julie auch.« »Ausgezeichnete Neuigkeit«, erwiderte Chan herzlich. »Mögen Sie halb so viel Glück haben, wie ich Ihnen beiden wünsche – das volle Maß wäre unmöglich.« »Danke, Mr. Chan«, sagte Julie. »Sie sind ein großartiger alter Kumpel«, stellte Bradshaw fest. »Ich werde Sie vermissen. Ich werde auch
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diesen Strand vermissen…« »Was heißt das? Wollen Sie etwa Honolulu verlassen?« »Oh – natürlich.« »Sie verlassen diesen herrlichen Ort, über den Sie tausendfach geschrieben haben…?« »Ich muß, Charlie. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, welche Wirkung diese ganze schwüle Schönheit auf den Charakter eines jungen Mannes hat? Sie ist katastrophal. Was geschieht mit ihm an diesem Strand, wo der warme Atem des Südens ihn umfängt? Er welkt dahin, er stagniert, er verliert allen Elan. Keine Kokospalmen mehr für mich. Rotholz, Charlie. Wissen Sie über Rotholz Bescheid? Es gibt einem Kraft. Ab jetzt ist das mein Baum. Ein großer Holzfäller und ganzer Kerl aus dem Westen – das wird von nun an meine Rolle sein.« Chan grinste. »Es ist Ihnen also nicht gelungen, Miss Julie von Ihren Ansichten über Hawaii zu überzeugen?« »Es sieht ganz danach aus. Ich habe es fünfzigtausend Touristen schmackhaft gemacht, aber nicht dem Mädchen, das ich liebe. So ist nun mal das Leben!« »Wenn Sie von hier weggehen, werden Sie viel Schönheit zurücklassen«, sagte Charlie. »Aber Sie werden auch viel Schönheit mit sich nehmen, da Miss Julie bei Ihnen sein wird.« »Diese Bemerkung hätte eigentlich von Ihnen kommen müssen, Mr. Bradshaw«, lachte Julie. »Das wäre sie auch«, antwortete er. Chan betrachtete den aufgehenden Mond, die Lichterkette entlang des raunenden Ufers. Hawaiis traurige Musik klang aus dem Garten des Moana-Hotels zu ihm herüber. »Jung, verliebt und an diesem Strand zu sein
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– kann es noch größeres Glück geben? Kosten Sie es voll aus. Es widerfährt einem nur einmal, dann nimmt die Zeit ihren Lauf. Es kommt Augenblick, da Gold und Perlen die schwarzen Locken der Jugend nicht zurückkaufen können.« »Aber, Charlie – Sie werden ja sentimental!« rief Bradshaw. Chan nickte. »Ich denke an meine eigene Brautwerbung an diesem Ufer – es ist so lange her. Wie lange? Ich bin jetzt Vater von elf Kindern – rechnen Sie selbst nach.« »Sie müssen sehr stolz auf Ihre Kinder sein«, äußerte Julie. »So stolz, wie sie mir erlauben«, antwortete Chan. »Wenigstens habe ich meinen Teil dazu beigetragen, Vergangenheit und Zukunft zu verbinden. Wenn ich abtrete und elf Nachkommen hinterlasse, kann dann noch jemand behaupten, daß es mich nicht gegeben hat? Ich glaube nicht.« »Sie haben ganz bestimmt recht«, versicherte Bradshaw. »Kann ich Sie einen Augenblick unter vier Augen sprechen?« fragte Charlie. Er ging mit dem jungen Mann auf die Lichter des Hauses zu. »Was ist denn?« wollte Jimmy wissen. »Gleich wird hier sehr viel los sein. In weniger als einer Stunde werde ich Ihnen sagen, wer Shelah Fane ermordet hat.« »Großer Gott!« rief der junge Mann. »Zunächst einmal habe ich Aufgabe für Sie. Miss Julie war Shelah Fanes Freundin. Gehen Sie zu ihr und bringen Sie ihr zartfühlend bei, daß Miß Fane Denny Mayo erschossen hatte. Das steht jetzt ohne jeden
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Zweifel fest.« »Sie scherzen wohl?« »Nein, keineswegs. Bringen Sie es ihr bitte taktvoll bei. Dann wird Schlag sie nicht mit so grausamer Kraft treffen wie in Menschenmenge. Es wird schwerer Schock für sie sein, aber sie wird bald darüber hinwegkommen. Sie hat ja Ihre Liebe.« »Meine ganze Liebe, Charlie. Wissen Sie – das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen. Sie denken aber auch wirklich an alles.« »Ich versuche es zumindest, innerhalb meiner Grenzen. Wenn Sie es ihr eröffnet haben, müssen Sie beide sofort ins Wohnzimmer kommen.« »Das werden wir tun, Charlie. Und vielen Dank.« Als Chan das große Zimmer betrat, begrüßte Diana Dixon gerade Martino, Van Horn und Jaynes, die zusammen vom Hotel gekommen waren. Der Detektiv stellte zufrieden fest, daß alle drei Abendgarderobe trugen – war es eine übertriebene Hoffnung, daß sie auch dieselben Schuhe wie am Vorabend trugen? »Hallo, Inspektor«, sagte Martino. »Wir sind so rasch wie möglich gekommen. Was liegt denn in der Luft?« »Ein kleines Experiment«, antwortete Chan. »Vielleicht ist unser Fall noch heute abend ›pau‹.« Jaynes zündete eine kleine Zigarre an. »Pau – meinen Sie damit abgeschlossen? Bei Gott, ich hoffe es sehr. Auf dem morgigen Schiff wird für mich eine Kajüte freigehalten. Ich verlasse mich auf Sie, Inspektor.« »Das tun wir alle«, fügte der Filmdirektor hinzu. »Ich möchte selbst ja auch von hier wegkommen. Huntley – wir könnten doch auch das Schiff nehmen.« Van Horn zuckte die Achseln. »Oh, mir macht es nichts aus, für immer hierzubleiben. Ich habe gestern
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abend diesen Vagabunden beobachtet. Es würde mich gar nicht wundern, wenn er der glücklichste von uns ist.« »Primitives Leben, wie?« Martino lächelte. »Vermutlich ist das der Einfluß der Rolle, die Sie in Tahiti gespielt haben.« »Es ist der Gedanke an Hollywood«, widersprach Van Horn. »Unter allen künstlichen Orten, die ich je gesehen habe, gewinnt diese Stadt die Goldmedaille.« »Das haben Sie gesagt wie ein echter Kalifornier«, bemerkte Jimmy Bradshaw, der mit Julie gerade ins Zimmer kam. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie zitierte? Berühmter Filmschauspieler zieht das einfache Leben in Honolulu der fieberhaften Prahlerei in der Filmkolonie vor.« »Wenn Sie das tun«, erwiderte Van Horn grimmig, »werde ich einfach abstreiten, so etwas je gesagt zu haben.« »Da haben wir’s!« grinste Bradshaw. »Die besten Aussprüche aller Filmschauspieler dürfen in den Interviews nicht erwähnt werden.« Wilkie Ballou und seine Frau kamen herein. Ballou trug zu Charlies großem Kummer einen Leinenanzug und weiße Schuhe. Wenn Ballou sich im Eßzimmer auf den fraglichen Stuhl setzte, dann könnte dieser Fall auch jetzt noch von der Lösung weit entfernt sein. »Was soll das alles?« erkundigte sich Ballou. »Ich wollte heute abend früh zu Bett gehen.« »Der arme Wilkie kann Aufregungen nicht vertragen«, erklärte Rita. »Ich dagegen liebe sie. Hallo, Diana – was hast du heute gemacht?« Der Vorhang wurde beiseitegeschoben, und Tarneverro kam lautlos herein. Er starrte einen Augenblick in
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die Runde, und seine dunklen Augen nahmen einen ziemlich beunruhigten Ausdruck an. »Ah ja«, sagte er. »Wir sind alle wieder hier versammelt.« Jaynes erhob sich langsam, ging auf Tarneverro zu und holte sein Zigarrenetui heraus. »Guten Abend«, sagte er. »Möchten Sie vielleicht eine meiner Zigarren?« »Nein, danke«, antwortete der Wahrsager freundlich. »Ich rauche nicht.« »Wie schade«, entgegnete der Brite. »Und ich war mir fast sicher, daß Sie sie rauchen.« Charlie griff hastig ein. »Wollen Sie bitte Platz nehmen? Ja, wir sind alle hier – außer meinem Chef. Wir wollen noch einen Augenblick auf ihn warten.« Alle setzten sich. Rita, Diana und Julie unterhielten sich leise. Die Männer schwiegen und starrten in die Luft. Kurz danach hörte man Stimmen im Vorraum, und der Polizeichef trat ein. Spencer folgte ihm, groß und kompetent wirkend. Chan sprang auf. »Ah, Chef – jetzt können wir anfangen. Ich habe schon erklärt, daß wir kleines Experiment planen. Sie kennen einige der Anwesenden…« Wilkie Ballou schüttelte dem Polizeichef die Hand. »Ich bin froh, daß Sie hier sind«, bemerkte er mit einem Seitenblick auf Charlie. »Mr. Tarneverro ist Ihnen auch schon bekannt«, fuhr Chan unbeirrt fort. Er stellte die anderen vor. »Jetzt werden wir uns alle in Eßzimmer begeben«, schloß er. »Was? Noch eine Dinnerparty?« rief Rita Ballou. »Eine besondere Dinnerparty«, erklärte Chan, »bei der kein Essen serviert wird. Kommen Sie bitte.«
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Ernst und voller Unbehagen folgten sie ihm. Die Anwesenheit des Polizeichefs und des stämmigen Polizeibeamten in Uniform hatte dazu beigetragen, ihnen den Ernst der Situation klarzumachen. Erklärlicherweise fragten sie sich, was das alles zu bedeuten hatte. War es eine Falle? Jessop wartete im Eßzimmer, um ernst und würdig seinen Pflichten nachzukommen. Er wartete mit der gleichen Haltung darauf, ihnen die Stühle um den leeren Tisch zurechtzurücken, als wenn der Tisch von Silber auf schneeweißem Leinen gestrahlt hätte. »Wir haben jetzt Bitte an Sie«, sagte Chan langsam. »Ich möchte Sie zuvor daran erinnern, daß das ein wichtiger Moment ist, und daß Sie genau überlegen müssen, bevor Sie handeln. Es darf kein Fehler gemacht werden. Würden Sie jetzt bitte die gleichen Plätze einnehmen wie gestern abend?« Bestürztes Stimmengewirr folgte seinen Worten. »Aber ich war so aufgeregt, ich erinnere mich gar nicht mehr«, rief Diana, und die anderen plapperten es ihr nach. Einen Augenblick lang liefen sie kunterbunt durcheinander, verwirrt und unsicher. Dann setzte Jimmy Bradshaw sich ans untere Tischende, gegenüber dem leeren Platz der Gastgeberin. »Ich saß hier«, verkündete er. »Ich erinnere mich noch ganz genau. Julie, du saßest rechts von mir. Mr. Van Horn, Sie saßen zu meiner Linken.« Julie und der Filmschauspieler nahmen mit Jessops Hilfe ihre Plätze ein. »Mr. Ballou, Sie waren neben mir«, sagte Julie, und Chan atmete erleichtert auf, als sich Ballou hinsetzte. »Stimmt«, stellte dieser fest. »Danke, meine Liebe, daß Sie mich daran erinnert haben. Diana, Sie saßen
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zu meiner Rechten.« »Richtig«, stimmte Miss Dixon zu, und Jessop rückte ihren Stuhl zurecht. »Und, Val, du saßest rechts neben mir.« »Natürlich«, nickte der Direktor und setzte sich hin. Eine Tischseite war jetzt voll besetzt – aber es war nicht die Seite, die Charlie interessierte. »Du hattest den Platz genau mir gegenüber, Rita«, sagte Diana. Mrs. Ballou nahm ihren Platz ein. Zwei Stühle waren jetzt noch leer, abgesehen von dem am Kopfende des Tisches, und Jaynes und Tarneverro hatten noch nicht Platz genommen. »Ich glaube, Mrs. Ballou, daß ich die Ehre hatte, neben Ihnen zu sitzen«, sagte Tarneverro und setzte sich rechts neben sie. »So war es«, bestätigte Rita. »Und Mr. Jaynes saß auf der anderen Seite von mir.« Sie deutete auf den Stuhl zu ihrer Linken – den verhängnisvollen Stuhl, unter dem sich feine Kratzer befanden, die von einer abgebrochenen Nadel stammen konnten, die ein wenig aus einem Schuhabsatz herausragte. »Ich glaube, jetzt hätten wir’s!« lächelte Jaynes unschuldig und setzte sich. Kurze Zeit herrschte Schweigen. »Sitzen Sie jetzt genauso, wie gestern abend?« fragte Chan langsam. »Nein«, sagte Huntley Van Horn plötzlich. »Stimmt etwas nicht?« erkundigte sich Charlie. »Ja. Mr. Tarneverro sitzt jetzt links neben mir, während gestern Mr. Jaynes diesen Platz innehatte.« »Aber natürlich«, rief Rita Ballou. Sie wandte sich an Tar** verro: »Sie und Mr. Jaynes haben die Plätze vertauscht.«
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»Kann sein«, antwortete der Wahrsager liebenswürdig und stand auf. Jaynes erhob sich ebenfalls und nahm den Stuhl rechts von Rita ein. Nach kurzem Zögern ließ Tarneverro sich auf den verhängnisvollen Stuhl fallen. »Wir haben jetzt unsere Plätze eingenommen«, sagte er ruhig. »Jessop, Sie können die Suppe auftragen.« Charlie und sein Chef tauschten einen Blick und entfernten sich vom Tisch. Sie gingen in den Vorraum hinaus. »Tarneverro«, sagte der Chef milde. »Ich habe es doch gewußt. Werfen Sie einen Blick auf seine Schuhe…« Aber Chan schüttelte eigensinnig den Kopf. »Etwas stimmt hier nicht«, behauptete er. »Stimmt nicht? Unsinn! Was ist denn nur in Sie gefahren, Charlie?« »Es stimmt überhaupt nicht«, fuhr Chan fort. »Sie können einen Mann mit einem Alibi, wie er es hat, nicht überführen. Alle abgebrochenen Nadeln der Welt würden da nichts nützen!« »Also ist die ganze Sache Ihrer Meinung nach ein Mißerfolg?« »Bis jetzt – ja. Aber ich gebe Hoffnung noch nicht auf. Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken. Es muß irgendeine Erklärung dafür geben. O ja – kommen Sie mit!« Sie gingen wieder ins Eßzimmer. Die Gruppe um den leeren Tisch herum blickte sie erwartungsvoll an. »Behalten Sie bitte Ihre Plätze noch bei«, sagte Chan. »Ich komme gleich zurück.« Er eilte durch eine Drehtür in die Küche, und sie hörten, wie er sich leise mit Wu Kno-ching, dem Koch,
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unterhielt. Schweigend warteten sie; sogar die offenkundig Unschuldigen wirkten verängstigt und fühlten sich unbehaglich. Gleich darauf trat Charlie wieder ein, mit ungewohnter Lebhaftigkeit und grimmigem Gesichtsausdruck. »Jessop«, sagte er. Der Butler kam mit ziemlich erschrockener Miene herbei. »Ja, Herr Inspektor.« »Jessop, saßen noch andere Personen an diesem Tisch, nachdem diese Herrschaften gestern abend aufgebrochen waren?« Der Butler machte ein schuldbewußtes Gesicht. »Es tut mir außerordentlich leid, Sir. Es war nicht ganz korrekt – ich würde es in einem gutgeführten Haushalt für gewöhnlich nicht gestatten, aber alles ging sowieso drunter und drüber – und wir hatten nicht zu Abend gegessen – deshalb setzten wir uns kurz zu einer Tasse Kaffee hin; wir hatten ihn nötig…« »Wer setzte sich?« »Anna und ich, Sir.« »Sie und Anna saßen also an diesem Tisch, nachdem die Gäste gegangen waren? Wo saßen Sie denn?« »Dort drüben – wo Mr. Martino jetzt sitzt, Sir.« »Und Anna – wo saß Anna?« »Sie saß hier, Sir.« Und Jessop legte seine Hand auf die Lehne von Tarneverros Stuhl. Kurze Zeit schwieg Chan und starrte den Butler mit ausdruckslosen Augen an. Er seufzte schwer, wie jemand, der nach einer langen Reise endlich das Ziel erblickt hat. »Wo ist Anna jetzt?« fragte er. »In ihrem Zimmer, nehme ich an, Sir.« Charlie nickte Spencer zu. »Holen Sie diese Frau sofort«, ordnete er an, und der Polizeibeamte ver-
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schwand. Chan wandte sich an die Tischrunde. »Unser kleines Experiment ist beendet. Bitte kehren Sie ins Wohnzimmer zurück.« Leise befolgten sie seine Anweisung. Charlie und sein Chef warteten am Fuß der Treppe. Der Chef sagte nichts, und auch Charlie schien nicht zum Sprechen aufgelegt. Gleich darauf tauchte Spencer am oberen Ende der Treppe auf, in Begleitung von Anna. Langsam stiegen sie die Treppe hinab. Chan betrachtete die Frau genau, und seine Augen sahen im Halbdunkel wie schwarze Knöpfe aus. Mit kühler Gleichgültigkeit erwiderte sie seinen Blick. »Kommen Sie mit«, sagte er. Er führte sie ins Wohnzimmer und betrachtete dort kurze Zeit ihre Füße. Sie trug hohe schwarze Schuhe, die zu ihrer nüchternen Uniform paßten. Charlie fiel auf, daß der rechte um den Knöchel herum ziemlich dick aussah. »Anna, ich muß Sie um etwas sehr Merkwürdiges bitten«, sagte er. »Würden Sie so gut sein und rechten Schuh ausziehen?« Sie setzte sich und begann ihn langsam aufzuschnüren. Tarneverro kam herbei und stellte sich neben Chan. Der Detektiv ignorierte ihn. Er nahm Anna den schweren Schuh aus der Hand, drehte ihn um und ritzte mit seinem Federmesser den Gummiabsatz. Ein kleines Stück der goldenen Nadel von etwa einem Zoll Länge kam hervor, und mit einer triumphierenden Geste zog er es heraus und hielt es hoch. »Sie alle sind Zeugen«, erinnerte er sie. Er wandte sich an Anna. »Was Sie betrifft, so fürchte ich, daß Sie äußerst nachlässig waren. Als Sie Orchideen unter Ihren Füßen zertrampelten, bemerkten Sie dieses ver-
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räterische Beweisstück Ihrer Tat nicht. Aber ohne solche kurzen Augenblicke der Nachlässigkeit würden wir in unserem Beruf nicht weiterkommen.« Er betrachtete den Schuh genau. »Ich bemerke an Seiten eingearbeitete Stützen«, fuhr er fort. »Vermutlich um schwachen Knöchel zu schützen. Hatten Sie Unfall?« »Mein – mein Knöchel war gebrochen – vor langer Zeit«, antwortete sie mit kaum hörbarer Stimme. »Gebrochen?« rief Charlie rasch. »Wann? Wie? Haben Sie sich Knöchel gebrochen, als Sie auf der Bühne tanzten? O ja – so war es. Ich nehme an, Sie waren einmal Denny Mayos Frau.« Die Frau machte einen Schritt auf ihn zu. Ihre Augen waren hart und herausfordernd, aber ihr normalerweise dunkelgebräuntes Gesicht war weiß wie der Sand von Waikiki.
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Kapitel 24
Der Schleier ist gelüftet Charlie wandte sich an Tarneverro. In den tiefliegenden Augen des Wahrsagers erkannte er eine widerwillige Bewunderung. Er lächelte. »Ich bin sehr dumm gewesen«, sagte er. »Diese Frau ist nicht zufällig hier. Als Sie sich als Schleierlüfter in Hollywood niederließen, brauchten Sie – was? Spione – Spione, die überall herumlaufen und Ihnen allerlei Klatsch über Filmleute zutragen sollten. Die Frau Ihres Bruders hatte Unfall erlitten, sie konnte nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten, sie war mittellos und allein. Sie schickten nach ihr. Was wäre naheliegender gewesen als das? Sie verhalfen ihr zu Stellung, in der sie Ihnen helfen konnte.« Tarneverro zuckte die Achseln. »Sie haben eine bemerkenswerte Fantasie, Mr. Chan.« »Nein, nein – Sie schmeicheln mir«, rief Charlie. »Gerade erst wurde Beweis erbracht, daß ich nicht genug Fantasie habe. Ich nehme für mich nur eines in Anspruch – wenn endlich Licht hineinzuströmen beginnt, lasse ich nicht die Rolläden herunter. Jetzt strömt Licht herein. Annas Aufgabe bestand nicht nur darin, Ihnen alltägliche Informationen zuzutragen – sie sollte Ihnen auch dabei helfen, Fall von Denny Mayos Ermordung aufzuklären. Haben Sie sie deshalb bei Shelah Fane untergebracht? Hatten Sie bereits einen Verdacht gegen Miß Fane? Ich nehme es an. Gestern morgen gestand die Schauspielerin Ihnen in Ihrem Appartement ihre Missetat. Sie informieren sofort Anna, daß der Sieg errungen sei. Sie sind in Hochstimmung. Ihre eigene Absicht ist ehrlich, Sie wollen Miß Fane der Po-
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lizei übergeben. Andernfalls hätten Sie mir gestern abend im Grand Hotel nicht diese Ankündigung gemacht. Was geschah dann?« »Sagen Sie es mir, Inspektor.« »Das habe ich auch vor. Sie erfahren, daß Miß Fane ermordet worden ist. Sie wissen, ohne daß man es Ihnen hätte sagen müssen, wer Tat verübt hat. Sie sind in schwieriger Lage, aber Verstand arbeitet rasch wie immer. Sie erfinden falsche Geschichte über Ihre Sitzung mit Shelah Fane und lenken mich sofort auf falsche Spur. Sie reden über erfundenen Brief, den Miß Fane Ihnen angeblich schreiben sollte. Dann stellt sich, zu Ihrem Erstaunen und Schrecken, heraus, daß wirklich ein Brief geschrieben wurde. Das könnte Ihre Pläne mit einem Schlag zunichte machen, deshalb schlagen Sie mich nieder und ergattern Epistel. Wie sich herausstellt, eine unnötige Handlung. Sie rasen herum und zerstören Fotos von Mayo, um Ihre Verwandtschaft mit ihm zu verheimlichen. Sie versuchen, mich zu täuschen, indem Sie unschuldige Personen in die Sache hineinziehen. Oh, Sie waren sehr fleißiger Mann, Mr. Tarneverro. Ihnen könnte ich vielleicht verzeihen, aber es fällt mir schwer, mir selbst zu verzeihen. Wie konnte ich nur so dumm sein?« »Wer sagt denn, daß Sie dumm waren, Charlie?« fragte der Chef. »Ich sage es, und zwar mit bitterem Nachdruck«, antwortete Chan. »Mein kleines Duell mit diesem Wahrsager hätte schon vor vielen Stunden beendet sein müssen. Angelegenheit war klar genug. Ich wußte, daß er Spione beschäftigte. Ich erfuhr – obwohl ich dieser Tatsache nicht genug Aufmerksamkeit schenkte –, daß jemand in Tahiti und auf Schiff Miß Fane be-
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spitzelt hatte. Ich hörte, daß Anna Wertpapiere kaufte – was auf größeres Einkommen hindeutet als einfachen Dienstbotenlohn. Ich überprüfe Tarneverros Alibi und gelange zur vollen Überzeugung, daß er Mord nicht selbst verübt hat. Welche Erklärung kann es für seine Handlungen sonst noch geben? Logische Schlußfolgerung für guten Detektiv wäre gewesen, daß er jemand anderen deckt. Wen? Ich lese in Zeitung, daß Denny Mayo eine Frau hatte. Ich entdecke, daß Mayo Tarneverros Bruder war, und ich erfahre, daß Mayo durch Hand von Shelah Fane ermordet wurde. Später – als Krönung des Ganzen – wird mir berichtet, daß Mayos Frau Unfall erlitt und ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte. Zähle ich nun zwei und zwei zusammen? Addiere ich einzelne Posten und komme zu Resultat? Nein – ich tappe im Dunkeln – ich komme nur mühsam vorwärts wie altersschwacher Fisch – schließlich gleite ich aber doch in glücklichen Hafen des Erfolgs.« Er drehte sich abrupt zu Anna um, die bleich und wortlos vor ihm stand. »Denn ich bin jetzt in diesem Hafen angelangt. Stimmt es, oder stimmt es nicht? Sie haben doch Shelah Fane ermordet!« »Ja«, antwortete die Frau. »Sei keine Närrin, Anna«, schrie Tarneverro, »du mußt es durchstehen.« Sie machte eine hoffnungslose Geste. »Was hätte das für einen Sinn? Mir ist alles egal. Ich habe nichts, wofür es sich zu leben lohnte – es spielt keine Rolle, was aus mir wird. Ja, ich habe sie ermordet. Warum auch nicht? Sie…« »Einen Augenblick«, fiel der Polizeichef ihr ins Wort. »Sie wissen, daß alles, was Sie sagen, gegen Sie ver-
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wendet werden kann.« »Das sagen Sie aber reichlich spät, Chef«, bemerkte Tarneverro. »Sie sollte einen Anwalt haben…« »Ich will keinen«, widersprach Anna eigensinnig. »Ich will keine Hilfe. Ich habe sie ermordet – sie hat mir meinen Mann geraubt – sie war nicht damit zufrieden, seine Liebe zu nehmen – zuletzt nahm sie ihm auch noch das Leben. Ich habe meine Rache gehabt, und ich bin bereit, dafür zu bezahlen. Ich werde mich schuldig bekennen, um die Sache möglichst rasch hinter mich zu bringen.« »Gut«, stimmte der Chef zu. Das würde dem Distrikt die Kosten eines langen Gerichtsverfahrens ersparen. »Du bist verrückt, Anna«, schrie der Wahrsager. Sie zuckte die Achseln. »Kümmre dich nicht um mich. Ich nehme an, ich habe deine ganzen Pläne zerstört. Ich habe dir alles verdorben. Vergiß mich und geh deinen Weg allein.« Ihr Ton war bitter und kalt, und der abgewiesene Wahrsager wandte sich von ihr ab. Charlie bot ihr einen Stuhl an. »Setzen Sie sich bitte. Ich möchte kurzes Verhör durchführen. Stimmt es, daß Tarneverro Sie nach Hollywood geholt hat?« »Ja.« Sie setzte sich. »Ich werde Ihnen alles von Anfang an erzählen, wenn Sie wollen. Während Denny in Filmen mitspielte, tanzte ich weiterhin in Londoner Varietetheatern. Ich hatte Erfolg, aber dann passierte jener Unfall – ich brach mir den Knöchel – ich konnte nicht mehr tanzen. Ich schrieb Denny und fragte, ob ich zu ihm kommen könne. Ich bekam keine Antwort – und dann erfuhr ich, daß er ermordet worden war. Arthur – Dennys Bruder – der da – spielte damals ebenfalls in London. Er war freundlich zu mir – lieh mir
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Geld – und dann erzählte er mir, daß er in die Staaten fahren würde, um – wenn irgend möglich – herauszubringen, wer den armen Denny ermordet hatte. Nach einer gewissen Zeit schrieb er mir, daß er sich in Hollywood als Wahrsager niedergelassen hätte und sich Tarneverro nannte. Er schrieb, er brauche Hilfe – er könne mir Arbeit verschaffen, wenn ich bereit sei, in Stellung zu gehen. Ich arbeitete damals als Garderobiere bei einem Bühnendirektor, für den ich früher oft getanzt hatte. Es war eine schwere Arbeit – und die Erinnerungen – ich wollte von all dem wegkommen.« »Also gingen Sie nach Hollywood«, fiel der Chef ein. »Ja, und ich traf Tarneverro heimlich. Er sagte, er würde mich bei Miß Fane unterbringen. Er gab ihr den Rat, ihr Dienstmädchen zu entlassen, und schickte mich am selben Tag zu ihr, damit ich mich um die Stellung bewerben sollte. Er hatte herausgefunden, daß Miß Fane und Denny sehr eng befreundet gewesen waren, und er glaubte, ich könnte in ihrem Haus irgendeine Spur entdecken. Er riet mir, mein Aussehen so stark wie möglich zu verändern – meine Frisur – er befürchtete, daß Denny ihr Fotos von mir gezeigt haben könnte. Ich befolgte seine Anweisungen, aber es war eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Denny muß meine Fotos verloren haben – verloren oder weggeworfen. Miß Fane stellte mich an, und ich führte meine Arbeit zu ihrer vollsten Zufriedenheit aus. Sehen Sie – ich hatte früher selbst Dienstmädchen. Anderthalb Jahre war ich bei ihr – und half Tarneverro. Aber ich konnte nichts entdecken. Ich meine, nichts über Denny. Gestern nachmittag trafen Tarneverro und ich uns am Strand. Er erzählte mir, daß Shelah Fane den Mord an
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Denny gestanden hatte – am Morgen in seinem Appartement. Er wollte aber, daß sie ihr Geständnis wiederholte – in Anwesenheit eines Zeugen – er plante das für gestern abend im Pavillon. Er wollte dort unter vier Augen mit ihr sprechen, und ich sollte mich irgendwo verstecken. Anschließend wollte er dann die Polizei rufen. Ich kehrte in dies Haus zurück, völlig außer mir vor Haß auf die Frau, die Dennys Leben vernichtet hatte – und meines. Ich begann nachzudenken – allein in meinem Zimmer. Tarneverros Plan kam mir allmählich furchtbar töricht vor. Die Polizei? Ich wußte, wie eines Ihrer amerikanischen Gerichte mit einer Frau wie Shelah Fane verfahren würde – einer schönen, berühmten Frau. Sie würden sie niemals verurteilen – niemals. Es gab bessere Wege als die Polizei. Ich – ich dachte immer weiter – ich bedaure das.« Ihre Augen blitzten auf. »Nein – ich bedaure es nicht. Ich bin glücklich. Ich habe alles gründlich geplant. Gestern abend, während der Party – das war die richtige Zeit. Eine Menge Leute im Haus – eine Menge Leute, die es getan haben konnten. Ich dachte mir das Uhrenalibi aus – ich erinnerte mich daran aus einem Stück, in dem Denny einmal mitgespielt hatte. Ich war von zwanzig Minuten vor acht bis zehn nach acht in der Küche. Jessop und der Koch waren auch dort. Um Viertel nach acht bemerkte ich Shelah Fane im Pavillon – sie wartete dort – wartete auf ihren großen Auftritt bei der Party – wie immer. Sie war so. Ich ging in ihr Zimmer und holte ein Messer, das sie in Tahiti gekauft hatte. Ich brauchte etwas zum Einwickeln – ein Taschentuch – ein großes. Die Tür zum blauen Zimmer stand offen – ich sah Herrengardero-
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be. Ich ging hinein und nahm das Taschentuch an mich – holte es aus Mr. Bradshaws Jackett.« »O ja«, bemerkte Jimmy grimmig. »Danke für die öffentliche Aufklärung.« »Ich ging dann zum Pavillon. Sie hatte keinerlei Verdacht. Ich näherte mich ihr…« Die Frau vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Diesen Teil des Hergangs kann ich nicht erzählen. Dann zerbrach ich die Uhr in dem Taschentuch und zog sie ihr wieder an. Aber es gab kein anderes Anzeichen für einen Kampf, deshalb riß ich die Orchideen ab und zertrampelte sie unter meinen Füßen. Ich ging hinaus und vergrub das Messer tief im Sand – ich hörte Stimmen am Strand – ich hatte Angst. Ich rannte zum Haus und gelangte über die Hintertreppe in mein Zimmer.« »Und das Taschentuch?« fragte Charlie. »Haben Sie es Mr. Tarneverro gegeben, als er kam?« »Einen Augenblick«, sagte der Wahrsager. »Anna – wann haben wir zuletzt unter vier Augen gesprochen?« »Gestern nachmittag am Strand.« »Standen wir seitdem miteinander in Kontakt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Hast du mir erzählt, daß du Shelah Fane ermordet hast?« »Nein.« Der Wahrsager sah den Polizeichef an. »Das ist eine Sache«, stellte er fest, »auf die ich großen Wert lege.« »Aber das Taschentuch?« Der Chef wandte sich an Anna. »Ich warf es auf den Rasen. Ich – ich wollte, daß man es dort fand.« Sie warf Bradshaw einen Blick zu. »Es war ja nicht mein Taschentuch.«
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»Sehr rücksichtsvoll von Ihnen«, sagte der junge Mann und verbeugte sich. »Auf den Rasen, genau«, erklärte Tarneverro, »von wo ich es aufhob.« »Worauf Sie es mir in die Tasche steckten«, bemerkte Martino. »Übrigens habe ich mich noch gar nicht dafür bedankt.« »Machen Sie sich nichts draus«, riet Charlie ihm. »Sie waren nicht der einzige, den Mr. Tarneverro mit seinen Aufmerksamkeiten beehrte.« Der Polizeichef trat auf Anna zu. »Gehen Sie hinauf«, sagte er ernst, »und machen Sie sich fertig. Sie werden uns in die Innenstadt begleiten müssen. In der Polizeistation können Sie Ihre Aussage wiederholen.« Er gab Spencer durch ein Kopfnicken Anweisung, Anna zu begleiten. Die Frau erhob sich, eigensinnig und herausfordernd, und verließ das Zimmer, den Polizeibeamten an ihrer Seite. »Nun«, sagte Ballou, »ich nehme an, daß wir jetzt alle gehen können.« Der Chef gab ein Zeichen der Einwilligung. Wilkie und Rita gingen als erste, gefolgt von Martino, Van Horn und Jaynes. Letzterer blieb stehen, um Charlie die Hand zu schütteln. »Danke«, sagte er leise. »Ich werde mein Schiff bekommen. Und auf diesem Schiff- und allen anderen in Zukunft – werde ich versuchen, nicht den Kopf zu verlieren.« Diana stieg leise in ihr Zimmer hinauf. Chan wandte sich an Julie. »Gehen Sie wieder zum Strand«, sagte er freundlich. »Betrachten Sie Sterne, atmen Sie frische, klare Luft und denken Sie an künftiges Glück.«
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Das Mädchen starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Arme Shelah!« flüsterte sie. »Shelah Fanes Sorgen sind jetzt vorüber«, tröstete Chan. »Erweisen Sie armer Dame großen Gefallen und vergessen Sie alles. Jimmy wird Ihnen dabei helfen.« Bradshaw nickte. »Das werde ich bestimmt.« Er legte seinen Arm um das Mädchen. »Komm, Julie. Noch ein Blick auf die Kokospalmen, und dann sind wir schon auf dem Weg zur Küste, wo Bäume wirklich Bäume sind.« Sie gingen zur Verandatür. Bradshaw lächelte Chan über die Schulter hin weg zu. »Auf Wiedersehen, Charlie. Ich muß jetzt gehen und meine Adjektive auf Kalifornien abstimmen, damit sie passen.« Sie gingen hinaus, und Chan wandte sich um und stellte fest, daß sein Chef Tarneverro nachdenklich betrachtete. »Nun, Charlie«, sagte er. »Was sollen wir mit unserem Freund hier tun?« Chan antwortete nicht, sondern rieb sich nachdenklich die Wange. Als Tarneverro diese Bewegung sah, lächelte er. »Es tut mir sehr leid«, sagte er. »Ich habe Ihnen sehr viel Ärger gemacht, Inspektor. Aber ich war in einer entsetzlichen Lage – Sie werden das verstehen. Hätte ich Ihnen Anna sofort ausliefern sollen? Vielleicht; aber wie ich Ihnen gestern abend gesagt habe, war mir sofort bewußt, daß ich für die ganze Affäre verantwortlich war. Selbstverständlich habe ich diese Entwicklung nicht gewollt, aber trotzdem bin ich dafür verantwortlich. Ich hätte es ihr niemals erzählen dürfen – aber ich wollte eine Zeugin haben. Hätte ich doch nur meine Entdeckung für mich behalten!« »Der Mann, der zurückschaut, sieht seine Fehler hinter sich aufgetürmt«, bestätigte Chan.
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»Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß Anna so sehr den Kopf verlieren würde. Diese Frauen, Inspektor!« »Es sind eben primitive Wesen, die Frauen.« »Es scheint so. Anna ist schon immer eine seltsame, ruhige, unfreundliche Person gewesen. Aber es gab zwischen uns beiden ein Band – beide liebten wir Denny. Als sie gestern abend bewies, wie verzweifelt sie ihn liebte – nun, ich konnte sie nicht verraten. Statt dessen focht ich mein Duell mit Ihnen aus. Kämpfte bis zur Grenze meiner Fähigkeiten – und verlor.« Er streckte seine Hand aus. Chan ergriff sie. »Nur Flegel benehmen sich niederträchtig, wenn sie Sieg errungen haben«, bemerkte er. Der uniformierte Polizeibeamte schaute durch die Vorhänge. »Ich komme sofort, Spencer«, sagte der Chef. »Mr. Tarneverro, Sie sollten lieber mitkommen. Ich werde mich mit dem Staatsanwalt über Sie unterhalten. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir sind hier nicht sehr geneigt, viel Geld für zufällige Besucher vom Festland auszugeben.« Tarneverro verbeugte sich. »Das klingt sehr ermutigend.« »Haben Sie Ihr Auto dabei, Charlie?« fragte der Chef. »Ja«, antwortete Chan. Der Chef und Tarneverro gingen in den Vorraum, und gleich darauf hörte Charlie, wie die Tür zuschlug. Er sah sich in dem hellen Zimmer um, wo seine Arbeit endlich ›pau‹ war. Mit einem schweren Seufzer schob er sich dann durch die Vorhänge und nahm seinen Hut von einem Tischchen im Vorraum. Wu Kno-ching
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tauchte plötzlich aus dem Eßzimmer auf. Charlie sah seinem Landsmann in die runden Augen, ins verrunzelte gelbe Gesicht. »Erklären Sie mir etwas, Wu«, sagte er. »Wie bin ich nur zu diesem Beruf gekommen? Warum sollte sich eigentlich jemand unserer Rasse mit dem Haß und den Untaten der ›haoles‹ befassen?« »Was Sie meinen?« fragte Wu. »Ich bin erschöpft«, seufzte Chan. »Ich möchte jetzt Frieden haben. Ein sehr schwieriger Fall, guter Wu Kno-ching. Aber…« – er nickte, und ein Lächeln breitete sich auf seinem dicken Gesicht aus – »wie Sie wissen, mein Freund, wird ein Edelstein nicht ohne Schleifen poliert, und ebensowenig kann ein Mensch ohne Prüfungen vollkommener werden.« Leise schloß sich die Tür hinter ihm.
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