Iker Jiménez
Campus Sanctus
s&p 12/2007
Auf einem Friedhof in der Nähe von Toledo wird die Leiche eines Mannes gefunden. Das Gesicht des Toten ist schmerzverzerrt, sein Körper merkwürdig verkrampft. Was hat der Tote gesehen? Was ist mit ihm geschehen? Jahre später verfolgt der Reporter Aníbal Navarro die Spur des Toten. Doch niemand will über den verlassenen Friedhof sprechen. Seitdem eine ketzerische Sekte dort von der Inquisition brutal verfolgt wurde, gilt der Ort als verflucht. In der Kapelle entdeckt Aníbal mysteriöse Inschriften und rätselhafte Fresken. Die dargestellten Szenen erinnern ihn an die Bilder von Hieronymus Bosch und dessen schreckliche Visionen vom Tod. ISBN: 978 3 499 24520 6 Original: Camposanto (2005) Deutsch von Daniela Pérez y Effinger Verlag: Rowohlt Erscheinungsjahr: 2007 Umschlaggestaltung: anyway, Wiebke Jakobs
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Iker Jiménez (Jg. 1975) stammt aus Madrid, wo er als Journalist arbeitet und ein eigenes Radioprogramm zu paranormalen Phänomenen bestreitet.
1 KLOSTER SAN LORENZO DE EL ESCORIAL 1598 Die letzten Nächte Philipps II. waren furchtbar. Das Schlafgemach war vollgestopft mit Schutzreliquien, mit schwärzlichen Oberschenkel- und Schlüsselbeinknochen, mit zahnlosen Schädeln von Heiligen, die er angesichts seines langsam herannahenden Todes eifrig erworben hatte. Der treue Ratgeber wollte sie herrichten und reinigen. Doch der König weigerte sich, etwas an ihnen zu verändern. Er hatte Angst und störte sich nicht an dem Gestank jener menschlichen Überreste, die schweigsam von den Vorhängen herabbaumelten. Ihre Wirkung als Schutzschild gegen das Böse war das Einzige, was ihm wichtig schien. »Es heißt, der Schwarze Hund sei zurückgekehrt …« Pater Atienza schüttelte verneinend den Kopf, ohne dabei den Blick vom Boden zu heben. Dann erklärte er mit sehr dünner Stimme, dass dies nur Gerede sei, Märchen, die dem ungebildeten und zu Phantastereien neigenden Pöbel entsprangen. Doch der Monarch beharrte darauf. »Zweifelt nicht daran: Auf der anderen Seite erwarten mich die Schatten der Ketzer, um mich zu quälen. Das ist ihre Rache.« Der Mönch wollte den König von jenen fiebrigen Gedanken abbringen und schob die Bibel unter das Laken bis zur leichenhaften und wundgescheuerten linken Hand des Monarchen. Sie war allerdings noch kräftig genug, eine Faust zu ballen. Ohne die Bibel eines Blickes zu würdigen, schob er sie 3
sanft mit den Knöcheln weg und fuhr mit seiner angsterfüllten Beichte fort. »Wenn das Ende naht, streunt er auf diesen Felsen herum. Er hat es schon mehrmals getan, ich habe ihn durch die Fenster gesehen. Dieser dort, der ist es.« Sein Finger zeigte genau geradeaus auf eines der Bilder, die er fünf Jahre zuvor hatte anschaffen lassen, ungeachtet der Experten, denen die Kompositionen einhellig missfielen. In der unteren Ecke des Triptychons erschien, schwarz wie die mondlose Nacht und bis auf die Knochen ausgehungert, ein Raubtier mit langen menschlichen Händen. Als wolle es die Leinwand verlassen, blickte es durch sein einziges rundes, blaues Auge, während es die Eingeweide eines Christen verschlang, der um Gnade flehte. »Ich hätte es niemals tun dürfen. Seitdem warten sie dort auf mich, zwischen den Welten, in ihrem Gebiet, wohl wissend, dass meine Stunde bald geschlagen hat.« Pater Atienza befürchtete das erneute Erscheinen des Fieberphantoms. Ohne ein Wort holte er mehrere kalte Umschläge aus einer Schüssel und legte sie auf die Stirn des Kranken. Darauf setzte er wie ein Amulett einen kleinen Knochen, der so krumm wie ein verrosteter Angelhaken war: der unversehrte Finger eines Märtyrers. »Majestät, all die Zeit habt Ihr stets den einzig wahren Glauben vor der Gefahr der falschen Propheten verteidigt. Ich habe die Gewissheit, dass Ihr für diese tapfere Arbeit durch unseren Herrn Jesus Christus im Paradies belohnt werdet. Ihr könnt Eure Seele ohne jede Furcht übergeben.« Die Finger, die immer noch das Reich regierten, verkrampften sich und griffen mit höchster Anstrengung und voller Wut nach der langen Soutane: »Ihr wisst nicht, wovon ich spreche. Ihr wisst es nicht!«
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Der Schrei ließ den Mönch instinktiv zusammenzucken, wie ein verschrecktes Tier. »Sogar hier innerhalb dieser Gemächer konnte ich ihn sehen. Versteht Ihr nicht?« Es fiel ihm schwer zu sprechen, und sein Mund war durch die angestrengte Grimasse verzerrt. »Er verwandelt sich in ein kleines Kind. Ein Junge, der soeben seinem vorzeitigen Grab entstiegen ist, mit Erde im Haar, schwarzen Fingernägeln und verfaulten Zähnen, und der mich dort geduldig erwartet. Genau dort …« Der Ratgeber schaute an den Punkt, auf den sich die wässrigen Augen des Königs immer wieder richteten, um nur das Offensichtliche vorzufinden: Die Bilder des verrückten Malers, des Schöpfers von Delirien, der durch die seltsame Kraft seiner Werke den mächtigsten Mann des Reiches hypnotisiert zu haben schien. Die Bilder waren vor einer Woche nach genauen Anweisungen des Monarchen aus unterschiedlichen Sälen geholt worden und bildeten nun alle zusammen aufgestellt ein großes Kreuz, ein finsteres Mosaik vor dem Sterbebett des Königs. »In meinem Kopf dröhnen noch all die Warnungen, das Gelächter und die Stimmen nach. Sie wollen mich nur schwächen, damit ich wehrlos vor sie trete. Daher kann ich mich dem Schlaf nicht einen Augenblick hingeben. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass sie durch diese Dunkelheit, sei sie auch noch so kurz, in meine Seele eindringen werden … Aus diesem Grund muss ich meine letzten Kräfte sammeln, um in dieser christlichen Wache zu verweilen, ihnen die Stirn bieten und mich an die Gräuel gewöhnen, die mich im Jenseits erwarten.« »Ihr wisst sehr wohl, es ist meine heilige Pflicht, über Eure Krankheit zu wachen. Um dieser Arbeit willen, auch wenn ich Euch widerspreche, muss ich Euch sagen, dass ich seit sechs
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Nächten Wache halte und Euch versichern kann, dass in diesen Gemächern nichts geschehen ist, das …« »Stellt Ihr etwa mein Wort in Frage? Wagt Ihr es anzudeuten, ich würde meinen Verstand verlieren?« Nach diesem Wutausbruch bemächtigte sich die Ruhe erneut des Zimmers, als ob das Gespräch niemals stattgefunden hätte. Der Sterbende, der immer weiter in den Kissen versank, kämpfte darum, die Augen offen zu halten, die immerzu auf das Herz jenes mittleren Tafelbildes starrten. So kehrte vollkommene Stille ein. »Majestät, soll ich die Öllampe löschen?« Der König antwortete nicht, sondern schüttelte nur mehrmals sein Haupt. Es war eine Geste der Angst. Der Tag brach bereits an, als der Geistliche bemerkte, dass die Atmung des Königs schneller wurde. Die plötzliche Unruhe seines Herrn holte ihn aus dem Halbschlaf, in den er versunken war, und warf ihn zurück, sodass er beinah das Gleichgewicht auf dem Stuhl verlor. »Majestät, was ist mit Euch?« Pater Atanas Blick färbte sich ebenfalls mit Entsetzen. Jetzt sahen beide in dieselbe Richtung, und es hatte den Anschein, als ob … »Wer ist da?« Es war nur eine Sekunde, ein Reflex, eine Täuschung der Sinne, die durch die lange Wartezeit abgestumpft waren. Was konnte jene dunkle Gestalt ohne Gesicht sonst sein, die sich langsam dem Fuße des Bettes näherte und immer näher kam, mit erhobenen Armen und ausgestreckten schwarzen Händen? Völlig außer sich stürzte der Mönch aus dem Schlafgemach und ließ Philipp II. regungslos inmitten des riesigen Bettes zurück. Mit dem Kruzifix fest in den Händen hetzte er den Flur voller Bilder entlang, die sich unter seinem ängstlichen Blick zu 6
verwandeln schienen, als ob sie irgendeinem teuflischen Einfluss unterlägen. In der Bibliothek angekommen, atmete er erleichtert auf, als er am letzten Tisch einen zierlichen Mann mit schütterem Haar und Brille vorfand, der in einem dicken, weit geöffneten Buch las. »Er hat ihn wieder gesehen, und dieses Mal könnte ich schwören …« Benito Arias Montano, Gelehrter und Astrologe, legte den Zeigefinger auf seine Lippen und zwang den Geistlichen, den Satz jäh zu beenden. Obwohl er das Kloster vor neun Jahren verlassen hatte, um sich als Eremit in die Höhlen im Süden zurückzuziehen, war er von der Inquisition aufgefordert worden, die Bibliothek des Klosters, jenen Wissenstempel, den er selbst vor geraumer Zeit begründet hatte, von verbotenen Büchern zu reinigen. Seit seiner erzwungenen Rückkehr war er überzeugt davon, dass ein Zensor der Inquisition jeden seiner Schritte überwachte, sich verborgen hielt hinter den Regalen, hinter den Schiebetüren oder im unauffälligen Halbschatten der Fackeln. Er ließ deshalb seit geraumer Zeit äußerste Vorsicht walten und bemühte sich, niemals die Stimme zu erheben. Doch Pater Atienza konnte sich nicht beherrschen. »Es war eine Gestalt, die dort wie eine Stichflamme aufloderte und …« »Fahren Sie nicht fort, denn ich kenne die Erfahrung nur zu gut«, erwiderte Arias Montano in einem schneidenden Ton und schaute sich auffällig nach allen Seiten um. »Barmherziger Gott! Es kam aus dem Nichts. Meine Augen haben es gesehen, wie ich jetzt Sie sehe.« »Haben Sie die Wache verständigt?« Pater Atienza, von Panik ergriffen, verneinte. Seine Hände zitterten unkontrolliert und ließen den Tisch wackeln. Noch immer wunderte er sich über die Kälte dieses Mannes. 7
»Umso besser. Haben Sie ihn übrigens über die Existenz des Pergaments unterrichtet?« »In seinem Zustand wäre das verheerend. Das Beste ist, er begegnet dem Paradies ohne Kenntnis dieser schrecklichen Einzelheiten. Nach dem, was ich gesehen habe … Selbst ich bezweifle, dass alles Wahnvorstellungen waren. Gütiger Himmel! Sind wir alle dabei, den Verstand zu verlieren?« Hingebungsvoll küsste er die Christusfigur aus Elfenbein und stand auf, um in die Schlafgemächer des Königs zurückzukehren. Bevor er sich entfernte, flüsterte Arias Montano ihm jedoch zu: »Alles hat mit dem zu tun, was vor sechs Jahren passiert ist. Und ich weiß nicht, ob wir gut daran tun, dieses Manuskript zu unterschlagen. Wir sollten es nicht vor unserem König geheim halten.« »Und wenn es sich nun nur um ein makaberes Vergnügen handelt?« »Seien Sie nicht so naiv, Pater. Was der anonyme Reiter vor sechs Nächten in den Garten der Mönche geworfen hat, genau in dem Augenblick, als die Wachablösung stattfand, ist eine sehr ernste Sache. Sie sind es! Sie sind aus den Schatten zurückgekehrt. So wie sie es an jenem unheilvollen Abend versprochen haben.« »Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Unterschrift sehen konnten, bevor das Dokument zerstört wurde?« »Mit meinen eigenen Augen, kurz bevor die Wache es in den Kamin geworfen hat. Dort prangte das unverwechselbare Emblem der Ketzer. Eine Warnung an uns alle.« »Uns alle?« »Ja, uns, die wir jenes grausame Gemetzel an Männern, Frauen und Kindern möglich machten.« Nach diesem geheimen Treffen stieg der Mönch in die Gemächer des Königs hinauf, möglicherweise mit der Absicht, 8
von jenem seltsamen Ereignis zu berichten, das er seit einer knappen Woche aus Angst verschwiegen hatte. Doch als er die letzten Stufen erreichte, glaubte er im Dunkeln ein Lachen zu vernehmen. Das unverwechselbare Lachen eines Kindes, das sich wie ein böser Traum entfernte. Er beschleunigte seinen Gang. Als er die Flügeltür weit aufriss, erblickte er das Antlitz des Monarchen. Sein Mund war schmerzverzerrt, und seine offenen Augen, die noch starr nach vorne gerichtet waren, spiegelten die unverwechselbare Farbe des Todes wider. Alles musste sehr schnell gegangen sein, als sich in der kurzen treulosen Abwesenheit des Ratgebers die Gelegenheit bot. Am 13. September 1598, um fünf Uhr morgens, unterschrieb der königliche Chirurg Victoriano Morgano die Sterbeurkunde. Von der offiziellen Geschichtsschreibung unerwähnt blieb der Tumult, der sich eine halbe Stunde zuvor ereignet hatte. Der Arzt musste drei Diener aus dem Speisesaal herbeirufen lassen, um Pater Atienza festzuhalten, der dabei überrascht worden war, wie er auf eines der Triptychen losgegangen war. In seiner rechten Hand hielt er einen Dolch, und seine Augen waren blutunterlaufen. Benito Arias Montano, der durch den Lärm aufmerksam geworden war, sah, wie man den Geistlichen überwältigte, während dieser wutentbrannt Worte schrie, die für alle anderen keinen Sinn machten. Vom Boden aus, schäumend vor Wut und in einem Anfall von Hysterie, hörte er nicht auf zu brüllen, als ob er sich an den leibhaftigen Teufel wenden würde: »Man muss sie vernichten! Sie sind alle verflucht! Sie sind wieder da! Satans Kinder!«
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2 Meine Geschichte beginnt mit der Suche nach einem Reporter, der 1977 gestorben war. Das heißt, eigentlich ging ich einer seiner Geschichten nach. Seit einiger Zeit verfolgte ich bereits die Spuren seines Todes, der in der Hektik des journalistischen Tagesgeschäfts ungeklärt geblieben war. Als ob die Zeit noch nicht reif gewesen wäre. Manchmal, wenn ich in Bücher und Projekte vertieft war, schloss ich fest die Augen und stellte mir sein Gesicht vor, wie es in der Dunkelheit schwebte. Die Hakennase, das glatte lange Haar, der abwesende Ausdruck. Es war das Bild, das ich eines Tages in einer alten Zeitschrift entdeckte, das Gesicht jenes Mannes, der es zu einem bedeutenden Radiomoderator gebracht hatte und den man dann vergessen hatte, als ob es ihn nie gegeben hätte. Ein Mann, von dem niemand mehr sprach. Einer, dessen Namen jedes Gespräch zwischen den älteren Kollegen meiner Zunft verstummen ließ, bevor man sich wieder anderen Dingen zuwandte. Manchmal, ganz selten, sprach jemand von ihm hinter vorgehaltener Hand. Doch es war meist nichts Gutes: »Wahnsinn … Genie … Er endete wie ein Bettler … Er war boshaft. Sogar grausam … Ein schwieriger Charaster … Seine Halluzinationen … Eine Schande um sein Talent …. Er war der Größte … bis er scheiterte …. Er hatte etwas Beängstigendes an sich. Er war zu allem fähig … Er hatte alles … Und hat alles verloren …. Der Alkohol, die Frauen … Delirium Tramens.« Angetrieben vielleicht von meiner Arbeit beim Radio, oder weil mich die Berichterstattung über außergewöhnliche, paranormale Ereignisse begeistert, oder aufgrund der seltsamen Faszination, die das unerwartete Scheitern eines Helden manchmal ausübt, versuchte ich jahrelang alles anzuhäufen, was 10
er jemals geschrieben, fotografiert und gesagt hatte. Der größte Teil des Materials war allerdings für immer verloren, aber mit jedem kleinen Erfolg, mit jeder neuen Tonbandaufnahme seiner legendären Sendung »Vollmond« und mit jedem noch so vergilbten Artikel kehrte der Wunsch zurück, zu erfahren, was aus ihm geworden war. Sein trauriges Ende kennenzulernen. Und manchmal sah ich jene schweigsame Gestalt noch vor mir, die sich in eine Ecke des Zimmers zurückzog und wartete, wie jemand, der über alle Zeit der Welt verfügt. Groß, schlank, die Hände immer in den Taschen seines abgetragenen, dunklen Mantels. Ja, das war er: Lucas Galván, der Reporter unbekannter Phänomene. Der Beste von allen, die diesen Beruf jemals ausgeübt haben. »Sagten Sie Hieronymus van Akne?« »Genau der. Überrascht Sie das?« Es war an einem frühherbstlichen Nachmittag, als ich Sebastián Márquez das erste Mal anrief. Mit der unfehlbaren Gewissheit, die uns leitet und die von einigen Instinkt genannt wird, wusste ich, dass ich bereits dabei war, in die Schatten einer verbotenen Geschichte vorzudringen. Kurz vor dieser telefonischen Antwort war ich die Cuesta de Moyano entlanggegangen mit ihren Ständen antiquarischer Bücher. Ich wollte zu Cándido, einem der erfahrensten Bücherliebhaber in Madrid, dessen Frühdrucke und Radierungen seinen mit Holz verkleideten Stand in einem geordneten Durcheinander fast bis zur Decke füllten. Er war der Erste, dem ich die Seiten zeigte, die ich in Barcelona für eine beträchtliche Summe erstanden hatte und die er sich jetzt mit großem Interesse anschaute. Ich wollte ihm weder ein Geschäft vorschlagen, noch konnte jenes Papier in irgendeiner Weise mit seinen Museumsstücken verglichen 11
werden. Worum ich ihn bat, war seine Meinung als Experte, sein Rat oder irgendein Hinweis. »Und wer, sagst du, hat das hier gemacht?«, fragte er mich, während er seinen blauen Kittel aufknöpfte und sich auf den Hocker setzte, den er manchmal mit hinausnahm. »Also, das ist nicht so wichtig, was mich vor allem interessiert, sind diese Anfangsbuchstaben hier, die sich wiederholen. Vielleicht beziehen sie sich auf irgendein altes Werk, das du kennst.« »Die Figur des Alten hier«, antwortete er, nachdem er mit der Lupe über die gesamte Oberfläche gegangen war, »erinnert mich an Gestalten aus Büchern über Dämonologie aus dem 16. Jahrhundert: der Hexenhammer, der Malles Maleficarum … Du weißt schon, womöglich ist es eine Kopie jener Radierungen – eine ziemlich schlechte übrigens. Wer das skizziert hat, war kein besonders guter Zeichner …« »Schon klar. Und das hier? Kann das was mit einem dieser Schmöker zu tun haben? Sagen dir die Initialen etwas?« Cándido verzog das Gesicht, winkte ab und wandte sich einem anderen Kunden zu. Doch als ich schon weiterzog, muss ihm etwas durch den Kopf geschossen sein, das seine Erinnerungen im letzten Augenblick erhellte. Er stand auf, entschuldigte sich bei dem potenziellen Käufer und schlängelte sich in aller Eile durch die Menge, bis er mich einholte. »Hier«, sagte er außer Atem nach dem kurzen Lauf und gab mir einen Papierfetzen, »das ist die Telefonnummer von einem Kunstexperten, der sich mit Symbolik auskennt. Er hat viele exklusive Fachbücher verlegt. Er ist vollkommen vertrauenswürdig, und das hier sagt ihm sicherlich mehr als mir …« Eilig tippte ich die Ziffern in mein Handy. Sebastián Márquez war von meinem Anruf nicht weiter überrascht, konnte ich mich doch auf den bekannten Buchhändler berufen. Das muss ihn
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beruhigt haben. Ich kam sofort zur Sache: »Wissen Sie, wer HVA sein könnte? Gibt es jemanden mit dieser Unterschrift?« So begann diese Geschichte. Doch zunächst muss natürlich noch erklärt werden, wie jene geheimnisvollen Papiere in meine Hände gelangt waren.
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3 In einer Wohnung im modernistischen Stadtteil Ensanche in Barcelona gab mir der frühere Chefredakteur der legendären Zeitschrift Universo, Ramón Gisbert, einen Text, der niemals gedruckt worden war. Den Tipp hatte ich von einem Redaktionsmitglied bekommen. Jemand, der mal bei dem Blatt gearbeitet hatte und wohl noch etwas nachtragend war. »Der Alte hat alles bei sich zu Hause aufbewahrt. Auch das hier.« Es waren zwei Seiten Text. Eigentlich handelte es sich um keine Reportage, sondern vielmehr um eine Reihe von scheinbar unzusammenhängenden Sätzen, die auf einer alten Olivetti geschrieben worden waren. Ein paar vergilbte Schwarz-WeißFotos und zwei farbige Polaroids waren mit einer Büroklammer an die Seiten geheftet. Ehrlich gesagt, hatte ich nach den Andeutungen des Kollegen mehr erwartet. Doch das war alles. Offiziell waren es die Zweifel am geistigen Gesundheitszustand des Verfassers, seine anhaltenden Alkoholprobleme und die fristlose Kündigung gewesen, die seinerzeit dieses Dossier in einer Schublade der Zeitschrift hatten verschwinden lassen. Kein Mensch erinnert sich mehr an die Exklusivberichte, die aus jenem Kellerbüro in Umlauf gebracht wurden, in dem heute zwei Russinnen einen Schönheitssalon betreiben. Nachdem die Zeitschrift eingestellt worden war, hatte Gisbert alle Papiere bei sich zu Hause gelagert, wo sie schließlich in einem Schrank im Abstellraum landeten. Darunter verbarg sich – wie ein persönlicher Schatz – auch der letzte Artikel seines besten und polemischsten Reporters. Sehr zu meinem
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Leidwesen schien Gisbert aber fest entschlossen, diesen Artikel mit ins Grab zu nehmen. Der fünfundsiebzigjährige Rentner, der alle drei Stunden an ein Sauerstoffgerät angeschlossen werden musste, weigerte sich strikt, mein Geld anzunehmen. »Das hier hat niemanden zu interessieren«, sagte er, ohne den Blick von den Geldscheinen abzuwenden, die ich noch in der Hand hielt. Glücklicherweise erwies sich dann seine Frau zum Tauschhandel bereit. In ihrem gesteppten Morgenmantel schlurfte sie durch den Flur und brummelte, das alles sei nur Müll und es werde höchste Zeit, sich davon zu trennen, weil es ihnen so viel Unglück gebracht habe. Sie meinte auch die Aktenordner, Mappen und Dias und alles, was sich sonst noch in dem Schrank befand. »Was bietet dir denn der junge Mann für den ganzen Papierkram?« Es war offensichtlich, dass sie Geld brauchten. Angesichts der Summe kam ich mir allerdings ziemlich blöd vor, und ich erinnere mich, wie Gisbert dasselbe Wort – »Müll!« – zischte und mich dabei scharf ansah. Das vergisst man nicht so leicht. Mit seinen weißen, kurzgeschorenen Haaren und seinem hasserfüllten Blick ließ ihn die Geschichte eines jungen Journalisten, der ihn bewunderte, völlig kalt. Er glaubte mir nicht. Im Gegenteil. Sein Blick war bitterböse. »Du hast doch noch in den Windeln gesteckt, als wir hier richtigen Journalismus gemacht haben. Du kannst dich nicht mit uns vergleichen.« Bis zum Schluss hielt er den alten Umschlag an seine Brust gedrückt. Die Niederlage stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er tat mir leid, aber ich konnte meine Augen nicht von dem vergilbten Papier lassen, so als ob mein Leben auf dem Spiel stünde. Die Sache war ganz einfach: Er wollte mir den 15
Umschlag nicht geben … und ich würde nicht mit leeren Händen abziehen. »Ich bin bereit, das Angebot zu verdoppeln, wenn Sie mir alles erzählen, was passiert ist. Gestern am Telefon waren Sie doch praktisch einverstanden.« Sein Kiefer zitterte wie bei einem Wachhund, kurz bevor er sich auf den Eindringling stürzt. Unter dem Druck seiner buckligen Frau gab er mir schließlich, was ich so dringend haben wollte, und fügte als persönlichen Hinweis noch hinzu: »Das Geld der gesamten Welt reicht nicht aus, damit ich dir erzähle, was ich weiß … Und jetzt verschwinde.« Seine Frau zählte das Geld, und Gisbert, der jetzt mit offenem Mund heftig atmete, weigerte sich, auch nur ein einziges Wort über Galván zu verlieren. Nicht einmal die kursierenden Gerüchte wollte er abstreiten, die mit Sicherheit das Werk von Neidern und mittelmäßigen Reportern waren. Alles um den Autor und seinen letzten unvollendeten Artikel hüllte sich in Schweigen. Während Gisbert langsam die Tür hinter mir verriegelte, sagte er noch, ich solle mich dort nie wieder blicken lassen. Als ich die Treppe herunterlief, hatte ich den Eindruck, dem Alten einen Teil seiner Seele gestohlen zu haben. War dieser Text denn so wichtig und aufschlussreich? Oder lag der Schlüssel in den Fotografien? Noch am selben Abend breitete ich in einem kleinen Hotel in der Gegend die Notizen im Licht der Nachttischlampe auf dem Boden aus. Ich las sie im Stillen und spürte, dass meine Ermittlungen wieder Sinn ergaben. Ich würde Galváns unvollendete Arbeit fortfuhren, auch wenn sich niemand an die traurigen Ereignisse erinnern wollte. Dreißig Jahre später würde ich diesen angsterfüllten Sätzen, die keiner verstanden hatte, Leben einhauchen: 16
Auf Adams Spuren von Lucas Galván Kein menschliches Wesen sollte jemals sehen, was ich gesehen habe, geschweige denn davon erfahren. Und wer es bereits gesehen hat, sollte besser bald sterben. Meine Ermittlungen sind so gut wie beendet. Jetzt weiß ich, warum das verfluchte Dorf in der Finsternis versank. Ich weiß, wer es bewohnte und wer durch das Feuer gewaltsam verhinderte, dass die reinen Seelen ins Paradies kamen. Es war die Rache der weißen Hände. Meine Vermutungen haben mich zu einer Gewissheit geführt, die nur wenige verstehen können. Hinter mir liegen belanglose Berichte, alltägliche Berichterstattung und der Neid der Kritiker. Nur diese eine große Mission zählt, die einzige, die sich lohnt und die mich vom Licht und der Finsternis lernen ließ. Die mir nach so vielen Jahren der Suche endlich Beweise geliefert hat, um nie wieder zu zweifeln. Sie hatten die Gegend wegen der geeigneten Bedingungen gewählt. Bedingungen, die nur die Auserwählten wahrnehmen können und nicht die falschen Propheten. Dank der unfreiwilligen Hilfe von Leuten, die dort eine Reihe von übernatürlichen Erfahrungen gemacht haben, fand ich heraus, dass dieser Ort eine Macht besaß. Beide Fotografien bewiesen dies eindeutig. Aus reiner Unwissenheit fürchteten diese Leute sich vor jenen Gestalten, die in der Lage sind, von unseren Ängsten Besitz zu ergreifen. Ihre Reaktion ist durchaus menschlich, aber wenn das Entsetzen erst einmal überwunden ist 17
und die nötigen Formeln gesprochen werden, können wir über die Schwelle in den Lichttunnel treten. Das alles zeigt mir, dass der Schmerz dennoch bleibt und wiederkehrt und sich uns erst offenbart, wenn wir den Schlüssel kennen. Deshalb wurden heimlich Tempel in den Epizentren der Träume errichtet und Regeln aufgestellt, damit nichts in Vergessenheit geriet. Die Kirche wollte sie vom Angesicht der Erde hinwegfegen, aber der Meister HVA, ein Reisender an den Abgründen, ein Chronist der dunklen Seite der Seele, ließ sie wieder auferstehen, als es niemand erwartete. Seine entscheidende Begegnung in den Katakomben ist der Schlüssel zu dieser alten und neuen Wahrheit. Es ist von nun an meine Aufgabe, sein großartiges Werk zu verbreiten; die Menschheit soll durch mein Zeugnis, durch meine heilige Mission davon erfahren. Die Kirche mit dem falschen Kreuz glaubte, sie hätte die reine Wahrheit ausgerottet und sie durch Blut und Feuer mit ihren vermeintlich göttlichen Worten und Gesetzen im Keim erstickt. Doch dann erschien der Mann, der das verlorene Wissen ballte und sie herausforderte. Er tat es auf eine Weise, mit so wunderbaren Visionen, dass viele andere nach ihm sein Werk fortführen konnten. Seine Brüder des Elektrischen Zirkels brachten mit der Dreifachen Anrufung Licht in das Bild, das uns erwartet. Sie schöpften aus den verschlüsselten Zeichen und konnten die Seelen wieder zum Vorschein bringen. So ist es bis heute. So ist es auch bei mir. Entwurzelt und ärmlich wie ich mittlerweile bin, werde ich dennoch nicht gleich sterben, weil ich den Weg zur letzten Wahrheit beschreite. Jene Wahrheit, die nicht einmal die verlogene Pest, die sich die 18
Priester in ihren Soutanen ausgedacht hatten, von dieser Erde fegen konnte. Zu einem geeigneten Zeitpunkt wird mir die Dreifache Anrufung erlauben, mit festem Schritt und auf der Suche nach neuen Kenntnissen ins Jenseits zu gelangen, um mich so in einen wahren Baummenschen zu verwandeln, der das Vergehen aller Dimensionen von seinem Wachturm aus beobachtet. Ich bin bereits auf dem Weg in die ewigen Dimensionen … Dann folgte bis zum Ende der Seite eine Reihe von Buchstaben ohne Sinn und Zusammenhang. Auf der Rückseite befanden sich oben rechts ein Brandfleck sowie Kugelschreibermarkierungen – die scheinbar seine eigene Hand umrahmten – und schließlich ein paar vereinzelte Zahlen. Es waren Ziffernreihen im phantasierenden Bericht eines Mannes, der – offiziell – verrückt geworden und verschwunden war. Ich verstand kein Wort. Adam, Gottvater der reinen Welt, die verloren ging. Mit diesem Satz auf der Rückseite endete die kurze Abfassung, die aus nachvollziehbaren Gründen niemals veröffentlicht worden war. An einer Seite zeigte eine Bleistiftskizze das faltige Gesicht eines sehr alten Mannes mit einem seltsamen Hut. Überaus sonderbar waren die Wurzeln und dicken Äste, die aus seinem Hals wuchsen und sich fast über die ganze Seite erstreckten. Als ich schließlich auch die Fotos aus dem Umschlag holte, wurde ich unruhig. Auf dem einen war eine alte halb zerstörte Kirche abgebildet. Auf der Rückseite stand ein Vermerk:
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Kapelle San Miguel, Ort einer Reihe von Phänomenen, die im vergangenen Jahrhundert das gesamte Tal in Blut tauchten. Bis hierher reichte der Einfluss des Meisters. Galván hatte dieses Bild offensichtlich seinem Artikel mit einer Bildunterschrift für die Veröffentlichung beigefügt. Ungewöhnlich waren dagegen die zwei Polaroidaufnahmen in Farbe, die von einem scheinbar verlassenen Friedhof stammten. Was zum Teufel sollte das alles? Was hatte dieser Mann in seinen letzten Stunden gesehen? Ich ließ alles auf dem Boden liegen, löschte das Licht und versuchte einzuschlafen, während ich die Schatten an der Decke anstarrte, die sich im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos immer wieder veränderten. Um Viertel nach fünf – das konnte ich auf den Leuchtzeigern meiner Armbanduhr erkennen – ließ mich etwas aufschrecken. Unbewusst hatte ich etwas Wichtiges übersehen. Oder hatte ich mich bei der eiligen Lektüre nur verguckt? Hatte er das womöglich selbst geschrieben und damit sein Ende prophezeit? Und warum war mir dieses Zeichen nicht früher aufgefallen? Ich richtete mich ruckartig auf und tappte im Dunkeln nach der Nachttischlampe. Erneut nahm ich den Umschlag, der 1977 aus Toledo an die Redaktion der Zeitschrift Universo gegangen war, und drehte ihn um, damit ich mir den verschmierten Absender genauer ansehen konnte. Auf der kleinen dreieckigen Umschlagklappe hatte Lucas Galván seinen Namen ohne Anschrift geschrieben und ihm etwas hinzugefügt: Lucas Galván (†)
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4 HERZOGENBUSCH, HERZOGTUM BRABANT NIEDERLANDE, 13 JUNI 1463 An jenem Tag starben siebenhundertdreiundvierzig Menschen. Das Strohdach der großen Viehmarkthütte hatte Feuer gefangen und war über der Menge zusammengebrochen. Man hat nie erfahren, ob das Feuer absichtlich gelegt worden war. Um sechs Uhr abends hatte eine Seitenwand des Gebäudes Feuer gefangen. Fast augenblicklich brach ein flammendes Inferno aus. Die Hilfeschreie und der Anblick der menschlichen Gliedmaßen, die unter der verkohlten Masse knisternd herausragten, sowie die Ohnmacht der übrigen Bewohner prägten sich für immer tief ins Gedächtnis derer ein, die jenes Horrorszenarium mitansahen. »Du gehst besser nach Hause, Hieronymus. Hörst du? Geh nach Hause!« Wie viele andere machte Jan van Akne keine Anstalten, zum öffentlichen Brunnen zu laufen und Wassereimer zu füllen. Der durch das Tierfett geschürte Scheiterhaufen hatte sich in einen rot glühenden Berg verwandelt, der wie eine Kralle am Abendhimmel kratzte. Angesichts dieser Naturkräfte waren die Eimer und Schüsseln lächerlich, die einige in guter Absicht in ihren Armen herantrugen. In den Augen der Versammelten spiegelte sich stundenlang eine Szene, wie sie auf den mittelalterlichen Fresken zu sehen war, wo die Seelen nach dem Jüngsten Gericht in die Hölle fahren. 21
Das zumindest meinte jener Junge von gerade mal zwölf Jahren zu erkennen, obwohl es in diesem Fall die Hölle war, die auf die Köpfe der Bewohner von Herzogenbusch hinabstürzte. »Du sollst das hier nicht mitansehen! Verschwinde endlich!« Der alte Mann schrie seinen Enkel wütend an, denn er wusste, dass dieser Anblick dem Verstand des Jungen unwiderruflichen Schaden zufügen würde. Aber durch den Gefühlsausbruch machte er auch seiner eigenen Ohnmacht Luft. Das Feuer ließ sich durch nichts löschen. Die Bewohner mussten tatenlos zusehen, bis es von selbst ausging. Tagelang flackerten die Flammen lichterloh und erfüllten die ganze Gegend mit einem widerlichen Gestank. Manche sprachen seitdem von dem Fluch. »Sie sind schuld! Gott hat ihre Verwegenheit und unsere Nachsicht bestraft! Wir wollen Rache!« Es wurde eine Trauerzeit von mehreren Tage verordnet. Doch in den darauffolgenden Nächten kam es zu Gewaltakten. Der kleine Hieronymus konnte von seiner Pritsche auf dem Dachboden aus alles mitansehen. Das Haus, in dem er mit seinem Großvater wohnte, lag ganz nah am Ort des Geschehens. Am Ende des zweiten Trauertages lagen auf dem Dorfplatz mehrere Leichen. Es waren drei Frauen und ein bärtiger Mann, die man entblößt und zu Tode geprügelt und schließlich gevierteilt hatte. Der Frevel war gänzlich unbehelligt mitten im Dorf geschehen, mit dem stillschweigenden Einverständnis der Bewohner, die sich trotz der Hilfeschreie nicht hatten blicken lassen. Als der Großvater und sein Enkelsohn am nächsten Morgen mit ihren Pinseln und Leitern auf dem Weg zur Kirche waren, um dort ihre Arbeit an einem Fresko zu beenden, stießen sie auf das makabere Schauspiel. Der erfahrene Kunstmaler schämte sich für seine Mitmenschen und drückte den Jungen fest an sich.
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»Bei allen Heiligen! Gehen wir zurück nach Hause. Wir werden morgen mit der Arbeit fortfahren.« »Aber heute sollten wir mit der rechten Mauer fertig werden und …« »Schau da nicht hin und tu, was ich dir sage! Schnell!« Hieronymus hatte außer seinem Großvater niemanden auf der Welt. Er schätzte sich glücklich, von ihm, dem angesehensten Künstler der Stadt, die Kunst der Malerei zu erlernen. An jenem Morgen, als sie unter der großen Säule auf dem Platz auf diese verrenkten Figuren stießen, sah er ihn zum ersten Mal weinen. »Waren sie dafür verantwortlich?«, fragte der Junge, aber er erhielt keine Antwort. Noch bevor sie einen anderen Heimweg einschlugen, konnte er die deformierten Körper durch die faltigen Finger seines Großvaters sehen, die ihm jenen schrecklichen Anblick ersparen sollten. Es waren vom Rumpf abgetrennte Köpfe mit weit aufgerissenen Augen, als ob sie ihre Henker immer noch anstarren würden. Hieronymus bemerkte die acht abgehackten Hände, die auf dem Pflaster ein Kreuz aus menschlichem Fleisch bildeten. Alle zeigten eine Art Markierung auf der Haut, Buchstaben oder Zeichen, die er nicht identifizieren konnte, und die wie ein böser Traum verschwanden, als sie um die Ecke bogen. Am selben Nachmittag brach im Lebensmittelladen von Herrn Melchiott eine hitzige Diskussion aus, die der Junge von seinem Platz auf einem Sack Hülsenfrüchten mit größter Aufmerksamkeit verfolgte. »Das ist abscheulich! Woher wissen wir, dass sie es waren?«, rief van Akne entrüstet. »Mein lieber Jan«, antwortete der dickbäuchige Ladenbesitzer, während er einem Hasen das Fell abzog, »die Anwesenheit dieser Teufelsanbeter macht uns nur Schwierigkeiten. Es ist eine 23
Tatsache, dass sie uns Unheil bringen! So ist es seit Jahren und so wird es bleiben, wenn wir uns nicht wehren!« »Uns wehren?«, erwiderte der Maler und steckte das Stück Wild in seinen Korb. »So nennst du dieses Gemetzel?« »Aber sie praktizieren einen Teufelskult und rufen die Toten an. Damit verfluchen sie unsere Felder, unsere Tiere und vergiften uns. Was geschehen ist, ist das Ergebnis ihrer Beschwörungen.« »Ich bitte dich! Red doch keinen Unsinn! Ist denn das ganze Dorf verrückt geworden?« Aus der gegenüberliegenden Ecke meldete sich nun ein großer schlanker Mann mit rauer Stimme zu Wort. »Die Ketzer zu verteidigen, Herr van Akne, ist meiner Ansicht nach nicht sehr ratsam. Wir werden bis zum Äußersten gehen, um dieses Lumpenpack auszurotten, sie und alle, die sie beschützen, wie eine übelriechende Pustel.« »Das ist nicht die Art und Weise, wie man vorgehen sollte, Pater.« »Wie können Sie es wagen? Haben Sie etwa eine bessere Idee? Oder wollen Sie sich unbedingt gegen Gottes Gesetze wenden?« »Gott befiehlt uns nicht, unsere Mitmenschen zu zerstückeln!«, antwortete van Akne mit hochrotem Kopf und schlug mit der Faust auf den Holztresen. »Sie stellen sich auf ihre Seite? Sympathisiert unser Künstler etwa mit dem Hexenglauben?«, entgegnete der Mann in dem langen schwarzen Gewand, während er wutentbrannt mit dem Finger auf den alten Maler zeigte. Jan van Akne nahm seinen Enkel am Arm und beendete die Diskussion, denn er wusste, es könnte ihm sonst ernsthaft Ärger einbringen. Er schlug die Tür des Lebensmittelladens so heftig hinter sich zu, dass sie wieder aufflog. Und dort, zwischen den 24
aufgehängten Fasanen und der großen Waage, konnte man nun sehen, wie die beiden anderen Männer sich etwas ins Ohr flüsterten. Die ganze Zeit über hatte Melchiott sein geschärftes Fleischermesser gestreichelt. Er hing so sehr an seinen Werkzeugen, dass er die sonderbare Angewohnheit hatte, seine Initialen auf die Schneide eingravieren zu lassen. »Hör nicht auf diese Barbaren, Hieronymus. Rache bringt nie etwas Gutes. Erinnere dich an meine Worte! Hörst du?« In den Nächten nach der großen Tragödie blieb Hieronymus häufig wach und beobachtete, was auf dem dunklen Dorfplatz geschah. Zu später Stunde näherten sich einige Gestalten. Beim ersten Mal war er erschrocken und wollte seinem Großvater Bescheid sagen. Doch es war ein so seltsamer Anblick, dass er sich in seine Decke eingehüllt nicht dazu entschließen konnte, sondern die Gestalten erst noch eine Weile beobachten wollte. Gut versteckt, um nicht entdeckt zu werden. Dann fiel ihm etwas ein. Mit einer kleinen Öllampe neben der Dachluke und einer Holztafel auf der Staffelei begann der Junge, der bereits ein besonderes Geschick im Umgang mit dem Pinsel bewiesen hatte, sein erstes persönliches Werk. Getrieben von dem Bedürfnis, diese außergewöhnlichen Geschehnisse wiederzugeben, die sich nur wenige Meter von seinem Zuhause abspielten, beschloss er, dem angegriffenen Gesundheitszustand seines erfahrenen und mürrischen Lehrmeisters nicht weiter zuzusetzen. Stundenlang arbeitete er zusammengekauert und ohne gesehen zu werden mit den Farben. Dort waren sie, diese rätselhaften Gestalten, und durchsuchten die noch rauchenden menschlichen Scheiterhaufen, um ihre Wagen mit den Überresten zu beladen. Und vor allem war da eine Gruppe in schweren Umhängen, die sich bei Vollmond
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entblößt in einen Kreis stellte und unverständliche Worte von sich gab. Wer waren diese Leute? Warum sammelten sie Leichenteile ein, die niemand haben wollte, und schmierten sie mit Öl ein, um sie anschließend auf kleinen Scheiterhaufen zu verbrennen, bis sie zu Staub verfielen? Eines Nachts überraschte Jan van Akne seinen Enkel beim Malen. Vielleicht waren es die Schreckenserlebnisse in jenen Nächten oder möglicherweise die schlechten Träume durch den Schlafmangel. Niemand weiß es genau. Doch es wird erzählt, dass das Ergebnis so faszinierend und unglaublich war, dass selbst der alte Meister erstaunt und entsetzt auf die Schöpfung seines Schülers starrte. »Ich weiß, dass ich falsch gehandelt habe, Großvater. Ich werde es zerstören.« »Nein, das ist nicht nötig. Aber sag mir … Das, was du hier gemalt hast, … hast du das wirklich gesehen? Ist das dort unten geschehen, Hieronymus? Sind diese Schatten echt?« Der Junge verfiel in ein Schweigen, ein Schweigen und eine Abgeschiedenheit, die er in seinem Leben nur noch selten aufgeben würde. *** In jener Zeit geschahen viele rätselhafte Dinge in Herzogenbusch. Zu viele Dinge für einen Ort, an dem bisher nur Ruhe geherrscht hatte. Auf das große Unglück folgten zahlreiche ungestrafte Verbrechen, seltsame Zeremonien, endlose Diskussionen und eine allgemeine Angst, die die Leute bei Einbruch der Dunkelheit alle Türen verriegeln ließ. Dennoch würde im Laufe der Jahre die Erinnerung verblassen, bis zu dem 26
Punkt, dass viele sich fragten, ob das alles jemals geschehen war. Niemand zweifelte allerdings an der Existenz jenes ersten Werkes von einem der größten Genies der Kunstgeschichte. Mitten im kollektiven Schmerz war die einzigartige Vision eines Menschen sichtbar geworden, der Dinge widerspiegelte, die nur in den tiefsten Ängsten des menschlichen Wesens vorstellbar sind. Und möglicherweise ahnte dieser Junge die Bedeutung, die er für andere in der Zukunft haben würde, als er seinen feinsten Pinsel nahm und vor den Augen seines alten Meisters, der in diesem einzigen Augenblick selber übertroffen wurde, entschlossen sein Namenszeichen unter das Werk setzte. Hieronymus fügte seinem Namen den Herkunftsort als Zeichen der Identifikation mit jenem trostlosen Ort hinzu. So gelangten auf den rechten Rand des heute verschwundenen Gemäldes, das von den Experten viele Jahrhunderte später Der Totenkopfwagen genannt wurde, gut sichtbar seine drei Initialen und ein Name, der in die Geschichte eingehen würde: HVA Hieronymus van Akne Das Kunstwerk verschwand 1911, doch die Anmerkungen des berühmten Professors Madariaga liefern ein klares Zeugnis der Schrecken, die der Junge in seinem ersten finsteren Werk darstellte. Der Totenkopfwagen Anmerkungen von Prof. Madariaga Öl auf Holztafel Maße: 48 x 35 Standort: Privatsammlung, Lüttich bis 1911 27
Datierung: 1463 Zustand: verschwunden Mitten auf dem Feld ist eine Art Hausierer zu sehen in einem langen Umhang mit Kapuze, die sein Gesicht verdeckt. Er verkauft nichts und bietet auch keine exotischen Produkte aus fernen Ländern an. Stattdessen lädt er mitten in der Nacht in aller Verschwiegenheit einige Leichen auf. In der ganzen Region kursierten damals schreckliche Geschichten von Fetthändlern, die mit toten Körpern Geschäfte machten, was diese Szene beeinflusst haben könnte. An den Seiten des Wagens hängen grobe Messer, und hinten steckt ein Totenkopf auf einem Stab. Der Schädel ist in einen schwachen Schimmer eingehüllt. Auf dem Wagen sind ebenfalls die Anatomien einiger verbrannter Kinder und Frauen zu erkennen, deren Körper sich in der offenen Kiste stapeln. Auf den Hügeln der Umgebung sind noch kleinere Brände wie Irrlichter sichtbar. Daneben kann man einzelne Figuren beobachten, die zu meditieren scheinen. Die Landschaft ist in einem trostlosen Schwarz gehalten. Der Kontrast zu dem unheimlichen Licht des Feuers wird zu einem wiederkehrenden Thema und zum Kennzeichen von Hieronymus Boschs eigentümlichem Stil werden. Das Pferd ist mit größter Präzision und Kenntnis der tierischen Anatomie gezeichnet. Es ist jedoch voller Wunden oder lepraähnlicher Male. Ein weiteres Detail ist außergewöhnlich: Das Tier hat wie ein Zyklop nur ein Auge. Ein blaues Auge. 1902 hat Alexander Frebauer bei einer genaueren Untersuchung entdeckt, dass einige der Toten, genau genommen drei, die in der Ebene zurückgelassen wurden, mit ihren eigenen Schatten erscheinen. Diese düsteren 28
Schatten zeichnen sich in der herrschenden Dunkelheit etwas klarer ab. Sie scheinen aufrecht zu stehen, als ob sie ein Eigenleben hätten und von der plötzlichen Abspaltung überrascht worden wären. Eines der seltsamsten Motive und Vorläufer der Anomalien, die in der gesamten schöpferischen Laufbahn von Hieronymus Bosch auftauchen, ist der Mond. An seiner Stelle erscheint in diesem Werk das bleiche, lachende Gesicht eines Mannes, der nie identifiziert werden konnte. Einige Fachleute erkennen darin einen abgeschlagenen bärtigen Kopf, der schwerelos im Raum schwebend die Szene beobachtet. Nach Meinung des deutschen Experten Prof. Klaus Kleinberger, eines Spezialisten in der Psychologie alter Kunstwerke, bekundet dieses Gemälde eine früh entwickelte Genialität des Künstlers, die alles Bekannte übertrifft. Er spekuliert sogar, es könne sich um eine Arbeit handeln, die ein Ereignis aus dem Jahre 1462 widerspiegelt. Für die meisten Experten liegt das größte Geheimnis in der plastischen Qualität und der eindrucksvollen Kraft dieses meisterhaften Jugendwerks. Ein Rätsel, das aufgrund des unglückseligen Verschwindens der kleinen Tafel nicht gelöst werden konnte. Die Biographen von Albrecht Dürer versichern, dieser habe das Gemälde Der Totenkopfwagen gesehen, als er 1520 durch Herzogenbusch kam. Hieronymus Bosch war da schon ein knappes Jahrzehnt tot. Als Dürer das Bild in dem Zimmer betrachtete, in dem es entstanden war, kniete der Künstler angeblich nieder und stammelte die Worte: »Diese Ängste hat kein anderes Wesen jemals erfahren.«
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5 »Er hatte eine Freundin. Heute ist sie … Weißt du nicht, wen ich meine?« Was der ehemalige Kollege von Lucas Galván mir da erzählte, überraschte mich sehr, aber dann fügte ich die Daten und Namen zusammen, und tatsächlich … es konnte hinkommen. Es war schon erstaunlich, was ich bei einem eiligen Mittagessen auf dem Flughafen El Prat in Barcelona kurz vor meinem Rückflug nach Madrid alles erfuhr. »Nun kann ich den Flug nicht mehr umbuchen! Hättest du mir das früher gesagt, wäre ich noch hiergeblieben, um gleich morgen mit ihr zu sprechen!« Ich wusste nicht, ob dieser Journalist – heute ein erfolgreicher Unternehmer beim Fernsehen – sich nur über mein übermäßiges Interesse wunderte oder ob mir sein Gesichtsausdruck zeigen sollte, dass es nicht so einfach sein würde, mit dieser Frau zu sprechen. Ohne weiter darauf einzugehen, verabschiedete ich mich und klopfte ihm dabei freundschaftlich auf die Schulter. Ich musste diese Person treffen. Den gesamten Flug verbrachte ich damit, mir eine Strategie zu überlegen, und als ich in Madrid ankam, versuchte ich sofort diese vermeintliche Freundin von Lucas Galván zu kontaktieren. »Die Chefredakteurin ist zur Zeit in einer Besprechung. Sie können ihr gerne eine Nachricht hinterlassen …« Telefonisch einen Termin mit Helena Sarasola zu vereinbaren, wurde zu einer Odyssee und zeigte mir im Laufe des Nachmittags, wie gefragt sie war. Ich versuchte es schließlich per E-Mail und erhielt überraschend schnell eine Antwort.
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Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: Re: Interview Sehr geehrter Freund, Ihre Nachricht hat mich sehr überrascht, da nur wenige von meiner früheren Tätigkeit als Sekretärin bei einer so, sagen wir mal, »besonderen« Zeitschrift wissen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie Sie davon erfahren haben, so lange wie das schon her ist. Ich würde mich aber sehr freuen, Sie hier in Barcelona zu empfangen, obwohl ich in nächster Zeit geschäftlich nach Frankfurt und Mailand reisen muss. Ich sage Ihnen vorab, dass ich nicht weiß, ob ich für Sie von großem Nutzen sein werde, da seitdem eine Menge Zeit vergangen ist. Dennoch möchte ich Sie im Augenblick um höchste Diskretion bitten. Nicht, dass ich meine Vergangenheit verleugnen würde, aber jetzt beschäftige ich mich mit ganz anderen Dingen. Ich verstehe Ihr Interesse an Lucas Galván. Er war ein ganz besonderer Mensch, und manchmal erinnere ich mich völlig unvermittelt wieder an ihn. Vereinbaren Sie bitte sicherheitshalber einen Termin mit meiner persönlichen Assistentin Erika Gufftansen. Herzliche Grüße Helena C. Sarasola
Helena Sarasola war gerade mal zwanzig Jahre alt, als sie noch mit ihrem eigentlichen Namen Elena Casado nach einem Schreibmaschinenkurs Sekretärin bei der Zeitschrift Universo wurde. Ein Blatt, das den »Enthüllungsjournalismus« nach Spanien brachte. Dort blieb sie, bis die Zeitschrift eingestellt 31
wurde. Jetzt, dreißig Jahre später, war sie Teil einer aufstrebenden Verlagsgruppe mit Geschäftsbereichen in diversen Medien und Ländern. Es ging um Mode, Trends und Schönheit. Frauenzeitschriften auf hohem Niveau, und an deren Spitze Perfect Woman. Zwei Tage nachdem ich ihre Nachricht erhalten hatte, konnte ich in der riesigen Eingangshalle des Verlages feststellen, wie überaus out ich war: Meine Stiefel und meine Kordjacke passten so gar nicht in die lichtdurchfluteten Räume mit ihrem minimalistischen Mobiliar, das offensichtlich den neuesten Trends entsprach. Eine Reihe von männlichen und weiblichen Models mit müden Gesichtern und Körpern wie aus dem alten Griechenland fuhren mit mir in einem der beiden gläsernen Aufzüge. Wie ein riesiger doppelter Auspuff verbanden sie den ersten Stock mit den Fotostudios und dem Büro der Chefredakteurin, in das ich wollte. »Helena freut sich sehr, Sie zu empfangen. Warten Sie hier bitte noch ein paar Minuten«, begrüßte mich die Assistentin und wies auf einen weißen Ledersessel. Ich hatte das Gefühl, in den Hochsicherheitsbereich des Pentagons einzudringen. Ein moderner, sehr kleiner Raum trennte mich von Helena – heutzutage mit H –, die ihr Reich mit eiserner Hand regierte. Durch die Tür hörte ich ihre Stimme oder vielmehr ihr Schreien: »Das sollte doch um 10 Uhr fertig sein! Ten o’clock, Fabricio! Die Custo-Sache kann nicht länger warten! Ist das klar? Die Reportage muss morgen fertig sein! Seht also zu, wie ihr das macht!« Die ein Meter achtzig große Walküre Erika Gufftansen schaute mich hinter ihrem Stehtisch mit dem Logo der Verlagsgruppe vielsagend an, während sie einen Schluck Evian-Wasser trank. Nach exakt fünf Minuten, wie ich anhand der Ziffern auf der höchst modernen Plasma-Uhr an der Wand erkennen konnte, durfte ich eintreten. Helenas skandinavische Assistentin drückte 32
auf einen Knopf, und die dunkle Holzschiebetür ging augenblicklich auf und gab den Blick frei auf einen riesigen Raum, der in einem erlesenen Geschmack eingerichtet war. Es gab drei Bücherregale – hauptsächlich mit Romanen vollgestellt – und einige orientalische Kunstobjekte. Endlich trat ich Helena Sarasola gegenüber, einer modernen und mächtigen Frau, die seit ihren beruflichen Anfängen eine beeindruckende Karriere gemacht hatte. Das staatliche Programm Unternehmen hatte ihr den Preis für die Managerin des Jahres verliehen. Seinerzeit sollte diese starke Frau also sehr engen Kontakt zum früh verstorbenen Lucas Galván gehabt haben. »Wenn ich nicht im Ausland bin, höre ich ab und zu Ihre Sendung. Und obwohl sie mir manchmal Angst macht, gefällt sie mir!« Ich war sofort erleichtert. Helena Sarasola war eine von diesen vitalen Personen zwischen fünfundvierzig und fünfzig mit einem sehr gepflegten Äußeren, die es gewohnt war, sich mit Yuppies, Bilanzen und Besprechungen herumzuschlagen und deren energische Art sogar ein wenig einschüchternd wirken konnte. Doch nach dieser positiven Aussage gleich zu Anfang unserer Unterhaltung entspannte ich mich. Es sah so aus, als würden wir uns gut verstehen. »Mögen Sie makrobiotisches Essen? Ich habe einen Tisch im Fresh reserviert.« Ich schwieg. In meinen Gedanken versuchte ich mir ein junges Mädchen vorzustellen, zwanzig Jahre alt, verschüchtert und bleich – kein Vergleich zu der leichten Sommerbräune, die jetzt auf ihrer Haut lag, obwohl wir uns mitten im Winter befanden –, und die mit dem argentinischen Reporter Lucas Galván liiert war. Ich erinnere mich, ihr Gesicht in irgendeiner Ausgabe von Universo gesehen zu haben, wo sie mit der gesamten Redaktion abgebildet war. Ich könnte schwören, dass sie in den Jahren an Schönheit und Selbstsicherheit gewonnen hatte. Der Kontrast zu 33
dem unschuldigen Gesicht mit Pony von damals ließ mir jetzt, als ich sie fest ansah, viele Dinge durch den Kopf gehen. Hatte sie die Charakterveränderung von Galván miterlebt? Die Halluzinationen, von denen mir einige ältere Kollegen erzählt haben? Und seine Wutausbrüche? Und die wiederholten Selbstmordversuche? Wusste sie etwas über seinen Tod, über den sonst niemand sprechen wollte? Und wenn ja, würde sie sich daran erinnern wollen? »Gehen wir?«, fragte sie, während sie eine runde silberne Dose öffnete und sich die Nase puderte. Obwohl der schwierigste Teil schon geschafft war, nämlich sie zu finden, wurde mir klar, dass es nicht so einfach sein würde, mit ihr in die dunkle Vergangenheit jenes Mannes abzutauchen. Vor allem nicht jetzt, wo sie eine berühmte Persönlichkeit war und sich so sicher in diesem glamourösen Ökosystem bewegte. Andererseits verlangte ich ja auch nicht viel. Ich wollte lediglich wissen, wie ein bekannter Journalist ums Leben gekommen war. Oder verfolgte ich unbewusst noch mehr? Es waren die quietschenden Reifen ihres brandneuen schwarzen Audi A3, die mich schließlich aus meinen Gedanken rissen, als wir aus der Garage fuhren. Zu meiner Überraschung war sie es dann, die das Thema ohne Umschweife ansprach: »Man hat Ihnen sicher viele Dinge über ihn erzählt … Das meiste ist gelogen.« Ich nickte schweigend, während ich mich anschnallte. Tatsächlich hatten nach fast dreißig Jahren nur sehr wenige über Lucas Galván reden wollen. Eine Zirrhose habe seine Leber zerstört, ein Fehler sei bei der Bluttransfusion aufgetreten. Andere behaupteten, er sei ermordet worden, er habe sich selbst ein Messer in den Körper gerammt oder sich das Genick im Delirium gebrochen, als er tote Kinder sah, die sich ihm näherten und bis ans Fußende seines Bettes kamen.
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»Er war kein schlechter Mensch … nur sensibel. Und die Sensiblen haben es schwer in dieser Scheißwelt. Sehr schwer. Oder etwa nicht?« Ihre direkte Art überraschte mich. Bisher hatte ich die Informationen mit der Kneifzange aus den Leuten herausholen müssen. Doch das würde diesmal nicht nötig sein. Ich musste nur zuhören, während Helena zügig auf einer der Hauptstraßen Barcelonas entlangfuhr. Doch da ertönte plötzlich eine blecherne Melodie. »Ich sage dir zweihunderttausend!«, rief sie aufgebracht, sobald sie das winzige Gerät am Ohr hatte. »Schließlich wird das die erste Ausgabe der Elegance. Wir müssen einen hohen Einsatz bieten, um Marktführer zu werden. Du weißt also, welches Model auf das Titelbild kommen muss.« Ein zweifellos ungelegener Anruf. Schon bald kamen wir in die exklusivste Gegend der Stadt, mit ihren Villen und den Luxuslimousinen in zweiter Reihe, den Leibwächtern und dem einen oder anderen uniformierten Chauffeur. Der Portier des Restaurants grüßte uns ehrerbietig, nahm den Autoschlüssel und wies uns den Weg zum Eingang des Fresh, ein absolutes Szene-Lokal, das ich selbstverständlich noch nie in meinem Leben betreten hatte. »Entschuldigung«, sagte sie, während wir über den glänzenden Marmorboden gingen, »wir sind kurz davor, zwei neue Blätter herauszubringen …« Der Maître im italienischen Nadelstreifenanzug begrüßte uns mit einem übertriebenen Lächeln. »Ihr üblicher Tisch?«, fragte er, während er uns an das Ende des Lokals führte. Die Dekoration des Restaurants, die gänzlich in Schwarz-Weiß gehalten war, passte perfekt zu Helenas schachbrettartigem
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Hosenanzug. Vielleicht hatte sie deshalb diesen Ort gewählt, dachte ich. Bei diesen Leuten konnte man nie wissen. »Ich nehme den Soja-Salat und Sashimi«, erklärte sie noch bevor sie Platz genommen hatte. »Dasselbe für mich«, ergänzte ich, ohne die elegante Karte zu öffnen, die mir der Maître vor die Nase hielt. »Dazu einen Chardonnay Pensec?«, fragte Helena mich und zeigte auf eine grünliche Flasche, die gerade am Nebentisch serviert wurde. »Aber selbstverständlich!« Sie lächelte, wohl wissend, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich gerade bestellt hatte. Doch ihre freundliche Miene änderte sich augenblicklich, als ich den Faden wieder aufnahm: »Ich will Ihnen nichts vormachen: Ich will alles über Galván wissen. Beschreiben Sie ihn mir, bitte. Sein Wesen, seine Art und …« »Es ist viel Zeit seitdem vergangen«, unterbrach sie mich, »und alles ist irgendwie verschwommen, wie aus einer anderen Welt. Wie ein Traum aus der Kindheit, den man nicht vergisst, an den man sich aber gleichzeitig nicht mit aller Klarheit erinnern kann. Wissen Sie, was ich meine?« Ich stimmte ihr zu, während der Wein serviert wurde. »Die Dame wird ihn probieren«, merkte ich an. »Sie ist die Kennerin. Danke.« Die Flüssigkeit lief geräuschvoll ins Glas. »Immerhin«, fuhr ich fort, »haben Sie ihn nicht vergessen wie die anderen. Ramón Gisbert gab mir nur äußerst widerwillig Galváns letzte Arbeit. Ich konnte den Hass in seinen Augen sehen. Er hat mich förmlich verflucht.« »Gisbert?«, erwiderte sie, nachdem sie den Wein gekostet hatte. »Lebt der Alte noch? Und wie geht’s ihm?« »Nicht so gut wie Ihnen …« 36
»Ist alles nach Ihrem Geschmack?«, erkundigte sich der Maître. »Ja, perfekt, wie immer.« Als er sich entfernt hatte, öffnete ich meinen Aktenkoffer. »Helena, wissen Sie, was er mit diesem ganzen Zeug sagen wollte?«, fragte ich, während ich den grauen Umschlag herausholte. Sie wirkte überrascht, und ich könnte schwören, dass auf ihrem Gesicht ein Anflug von Angst zu erkennen war, als sie die Reportage in Händen hielt. »Gütiger Himmel! Er hat es tatsächlich aufbewahrt!« »Ich sagte doch bereits, dass Gisbert mir Galváns letzte Arbeit gab.« »Ach so, ja, ja«, sagte sie etwas aufgeregt, ohne den Blick von dem Umschlag auf dem Tisch zu nehmen. »Ich dachte natürlich, Sie meinten die Zeitschrift und das, was dort veröffentlicht worden war. Nicht das hier …« »Wissen Sie, was drinsteht?« Die Antwort kam schnell, und mir wurde in diesem Augenblick klar, dass diese Frau, die Perfect Woman und so viele andere Zeitschriften, Werbeagenturen, Internetseiten und Modekataloge leitete, eine große Menge an Informationen in ihrem Kopf gespeichert hatte. Ich war mir sicher, dass in ihren Speicherzellen blitzschnell Tausende von Daten hin- und herschossen, während sie gleichzeitig abwägte, ob sie den Mund aufmachen oder das Gespräch freundlich beenden sollte, das rein gar nichts mit ihrer erfolgreichen Glitzerwelt zu tun hatte. »Als das aus Toledo kam, war er schon verschwunden.« »Und wie Sie sehen«, sagte ich, während ich den Umschlag umdrehte und ihr den Absender mit dem Kreuz dahinter zeigte, »hielt er sich bereits für todgeweiht, als er die Sachen in den Briefkasten steckte.« 37
Ich bemerkte, wie sie betroffen schluckte, als sie die Schrift des Mannes sah, den sie vor fast dreißig Jahren geliebt hatte. »Tut mir leid, wenn ich Sie mit diesen Erinnerungen konfrontiere, aber ich möchte wissen, was geschehen ist, was ihm passiert ist, als er …« »Es hat ihn umgebracht«, fiel sie mir ins Wort. »Lassen Sie sich nichts anderes erzählen. Das, was er recherchiert hat, worüber er schreiben wollte, das hat ihn umgebracht.« »Aber ich verstehe nicht ganz«, erwiderte ich. »Es war doch eine simple historische Reportage über Ketzer in der Gegend von Toledo. Denn das hier ist ein Dorf in der Provinz Toledo, nicht wahr?« Ich holte das Foto der halb zerstörten Kapelle heraus. Helena senkte den Blick und starrte in ihr Glas. In diesem Augenblick brachte man uns den ersten Gang. »Ich glaube schon. Er war mindestens zwei Monate in Toledo. Wir hörten so gut wie nichts mehr von ihm. Er sagte, er habe etwas entdeckt, und zog los. So war er.« »Aber haben Sie denn nie den Namen von diesem Ort erfahren?« »Nein. Er war von dem Thema besessen und verließ die Zeitschrift endgültig, obwohl er nach diversen Misserfolgen beim Radio zu uns zurückgekommen war, als wären wir seine letzte Zuflucht. Es ging ihm nicht gut. Jemand hatte ihn wohl mit ein paar Fotos auf diese Geschichte aufmerksam gemacht. Aber er distanzierte sich von allem und jedem. Irgendwas hat ihn dann um den Verstand gebracht. Wie gesagt, eines Morgens fuhr er nach Toledo und begann mit der Recherche. Ich weiß nicht genau wie, er hatte nämlich keinen Cent mehr.« »Haben Sie seine Spur denn nicht verfolgt?« »Nein. Ich versuchte anfangs noch, ihn zu kontaktieren, aber es war umsonst. Er phantasierte, lief herum wie ein Bettler … Er 38
sprach mit sich selbst und immer über das gleiche Thema, immer konfuser. Es war schrecklich! Ich hatte das Gefühl, er steuerte auf etwas zu, was ihn vernichten würde. Und ich habe recht behalten. Halten Sie mich ruhig für verrückt, aber ich wusste, ich würde ihn nie wiedersehen. Und dann bekam ich es mit der Angst zu tun. Eine Angst, die mich manchmal mitten in der Nacht in meinem Zimmer überfällt und weckt …« Ich wollte sie nach Hieronymus Bosch fragen, warum er in diesem letzten Text auftaucht und ob Galván ihn erwähnt hatte. Doch ich schwieg, denn Helena sprach jetzt in der Gegenwartsform, als ob diese unbestimmte Furcht sie noch immer quälen würde. Dann wünschte ich von ganzem Herzen, das verfluchte Sashimi würde noch etwas länger brauchen, um die unerwartete Reise in die Vergangenheit nicht zu unterbrechen. »Eines Nachts, um drei Uhr morgens, bin ich plötzlich aufgewacht. Etwas war passiert. Ich kann es nicht vergessen, sosehr ich es auch versuche …« Ich wollte sie beruhigen und schenkte ihr etwas Wasser ein. Sie nahm einen tiefen Schluck und fuhr fort. »Es war im Winter in demselben Jahr. Etwas Schreckliches geschah … Etwas, das ich immer noch nicht erklären kann.« »Bitte, versuchen Sie es.« »Ich bin mitten in der Nacht hochgeschreckt. Ich lebte damals mit einer Freundin zusammen, aber an jenem Abend war ich allein. Ich träumte, wie ich in meinem eigenen Zimmer aufwachte und die Umgebung so sah, wie sie in Wirklichkeit war und … mein Gott!« Sie legte sich die Hände vors Gesicht. Ich bemerkte, wie einige Gäste von ihrem Essen aufblickten und zu uns herüberschauten. Die Situation war unbehaglich. »Ganz ruhig. Wenn Sie wollen, können wir an einem anderen Tag weiterreden. Ich wollte nicht …« 39
»Ich schwöre Ihnen, ich sah einen Mann! Ich sah ihn ganz deutlich, wie er mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte …« Ich spürte, wie mein Herz heftig zu schlagen anfing. Ich war wie versteinert. »Jemand war in Ihrem Zimmer? Wer?« »Also, es war … Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es war niemand. Es waren eher Teile. Teile von jemandem … Dort!« Teile? Mein Gesicht verwandelte sich in ein großes Fragezeichen. Sie sprach jetzt immer schneller. »Ein Kopf, ein Bein, ein Arm, eine Hand … Das Bild eines gevierteilten Körpers, der schmerzerfüllt in der Dunkelheit schwebt. Und ein Geräusch wie ein Schrei, wie ein ständiges Klagen, das immer lauter wird … Manchmal spüre ich, wie es zurückkehrt.« In dem Moment konnte ich nicht einmal mehr den Mund öffnen. Ich hörte nur entgeistert zu. »Während diese Menschenteile langsam näher kamen, konnte ich im Traum ganz deutlich ein Telefon wiederholt sehr laut klingeln hören. Dann bin ich schweißgebadet aufgewacht, mit dem Gefühl, als würde jemand auf mich einschlagen. Ich konnte spüren, wie diese Hände mich angriffen … Ich saß mit dem Rücken am Kopfende des Bettes und hatte große Angst. Ich blickte mich um und wusste …« Ich wartete mit gestocktem Atem und ballte gespannt die Fäuste. »Ich wusste, er ruft an. Es war drei Uhr in der Nacht, und plötzlich fing das Telefon im Wohnzimmer tatsächlich an zu klingeln … Ich bekam panische Angst. Dennoch stand ich auf.« »Sie sind aufgestanden?«, brach es ungläubig aus mir heraus.
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»Ich tat es, ich schwöre es Ihnen, und ich kann immer noch die kalten Fliesen unter meinen Füßen spüren. Ich wollte Licht anmachen und …« »Und?«, fragte ich ungeduldig. »Der Strom war weg … doch das Telefon klingelte immerzu. Dann verspürte ich eine Angst wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich tastete mich vor und dachte an das, was mir im Traum erschienen war. Das entstellte Gesicht, zerquetscht, mit einem schiefen Mund … Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich wusste, es war Galván. Er rief mich an, ich wusste es einfach irgendwie.« Sie stockte und nahm einen Schluck Wein. Tränen standen ihr in den Augen, die jeden Augenblick hervorzubrechen drohten. »Ich spürte eine schreckliche Kälte, als ob mitten in der Nacht ein Fenster aufgegangen sei. Ich ging ins Wohnzimmer, und tatsächlich wirbelten dort die Vorhänge im eisigen Wind, der ins Zimmer blies. Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Wir wohnten in einem Viertel außerhalb der Stadt, die Straßen waren menschenleer und die Laternen brannten … Der Stromausfall war also nur in unserem Haus.« »Aber … Sind Sie nun ans Telefon gegangen?« Ich fragte sie geradeheraus, ohne zu bemerken, dass die großen Pupillen der starken Helena C. Sarasola auf ihrer persönlichen Reise in die Vergangenheit immer kleiner geworden waren, um sich schließlich wieder in die Pupillen der jungen Elena Casado zu verwandeln: des Mädchens für alles, der Sekretärin, der Schreibkraft, die morgens den Kaffee aus dem versifften Café von nebenan holte. Diese Augen hatten Dinge gesehen, die nichts und niemand aus den Tiefen ihrer Seele hervorlocken würde. Zwei große Tränen liefen ihr jetzt über die Wangen, und ich schämte mich sehr. Die eleganten Leute an den anderen Tischen musterten uns prüfend. Es waren dieselben Leute, die uns schon 41
beim Betreten des Lokals neugierig angeschaut hatten, weil wir ein so seltsames Paar bildeten. Es musste den Anschein erwecken, als ob ich, der Sonderling in den abgewetzten Klamotten, einer eleganten Frau, noch dazu einem Stammgast, Kummer bereitete. Und das konnte nun wirklich nicht sein. »Alles in Ordnung, Señora?«, erkundigte sich der Maître und sah mich an wie eine Bulldogge. Helena wehrte ihn mit einer Handbewegung ab. Wütend darüber, mich nicht hochkant hinauswerfen zu dürfen, bot er ihr ein Taschentuch an. Sie lehnte jedoch ab und benutzte ihr eigenes. Ich wollte mich entschuldigen, doch sie kam mir zuvor. »Es tut mir leid. Ich komme gleich wieder.« Als ihre Absätze auf dem Weg zu den Toiletten durch den Raum hallten, blieb der giftige Blick des Mannes im italienischen Anzug auf dem Umschlag haften. Eilig steckte ich ihn wieder dorthin, wo ich ihn vielleicht niemals hätte herausholen sollen. Ich hatte das sichere Gefühl, dass Lucas Galván dieser verängstigten und zerbrechlichen Frau sehr viel mehr bedeutete, als ich jemals hätte erahnen können. Die Erinnerung an ihn schwebte noch immer in der Luft wie eine Erscheinung mitten in der Nacht.
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6 »Selbstverständlich gab es im 2. und 3. Jahrhundert Christen, die an einen einzigen Gott glaubten. Aber in der gleichen Gemeinde waren sich andere sicher, es existierten zwei. Einige beharrten sogar auf dreißig Göttern. Wieder andere sprachen von dreihundertfünfundsechzig … Doch sie alle waren Anhänger Jesu.« Als ich sah, dass Pater Aquilino Moraza, langjähriger Priester der Kirchengemeinde San Pedro Mártir in Toledo, sich ausgiebig an dem marinierten Rebhuhn erfreut hatte, gab ich dem Kellner ein Zeichen. Ich bestellte Kaffee und machte mir in der Nische des Lokals, in dem Ackergeräte als Dekoration von den Wänden hingen, Notizen, während ich der rauchigen Stimme des Priesters lauschte. »Gleichzeitig glaubten viele, Gott habe die Welt erschaffen. Andere meinten, eine untergeordnete und ignorante Gottheit habe dies vollbracht. In der Gewissheit, ihre Wahrheit sei die einzig richtige, zweifelten sie nicht daran, die Welt als kosmischen Fehler zu sehen, der durch ein böswilliges Wesen als Kerker für die Menschen erzeugt worden war, um ihnen Schmerz und Leid zuzufügen … Doch sie alle …« »… waren Anhänger Jesu«, beendete ich den Satz. »Das ist so wahr wie dieses Messer! Und Sie werden sich fragen«, hob Pater Moraza energisch die Stimme: »Warum zum Teufel haben diese Leute mit einem Glauben, der heutzutage so verschroben wirkt, nicht die Heilige Schrift konsultiert, um sich Klarheit zu verschaffen?« Er schaute mich aus weit aufgerissenen blauen Augen an. »Sie taten es nicht«, fuhr er dann fort, »weil es das Neue Testament noch nicht gab. Die Bücher, die es bilden würden, 43
gab es zwar bereits, doch waren sie noch nicht in einem autorisierten und anerkannten Kanon zusammengestellt worden. Vielmehr existierten neben den berühmten Schriften von Lukas, Matthäus, Markus und Johannes andere Aufzeichnungen, andere verloren gegangene Evangelien, die ganz andere Dinge offenbarten. Eines dieser Evangelien soll von dem Jünger stammen, der Jesus am nächsten stand: Simon Petrus, der in die Hölle hinabstieg, um die Qualen der Seelen zu betrachten. Bis heute gibt es keine Möglichkeit, herauszufinden, welche Schriften einen Teil der Wahrheit enthielten.« Schon beim ersten Gang dachte ich, in Pater Moraza jemanden gefunden zu haben, der mich in dieser Geschichte weiterbringen könnte. Deshalb kramte ich jetzt den Umschlag mit den Fotos hervor. Die alte Kapelle mit den Symbolen auf den Mauersteinen stammte zweifellos von einer sehr alten religiösen Gemeinde. »Ich glaube, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Das ist wahrscheinlich nicht einmal hier in der Provinz.« »Doch, das ist es, Pater. Hier steht es, in diesem Artikel.« Ich merkte, dass er das Thema um jeden Preis umgehen wollte. Daher steckte ich die Bilder wieder ein und hörte ihm wie ein aufmerksamer Schüler weiter zu. Man hatte mir versichert, Pater Moraza sei in der ganzen Region die sachkundigste Stimme in Bezug auf ein dunkles Kapitel in der Geschichte des Glaubens: die primitiven Gemeinden oder Sekten, die einst als Anhänger der Worte Jesu vereint waren, sowie deren beginnenden Zerfall bis hin zur Unversöhnlichkeit. »In dieser Gegend gab es Leute, die in ihrem religiösen Wahnsinn zu Priestermördern wurden. Ja, Sie haben richtig gehört!« »Ich kann es mir vorstellen. Über die Jahrhunderte ist schließlich viel im Namen Jesu getötet worden. Und ich glaube, es waren nicht nur die Ketzer …« 44
Sein Kiefer zitterte. Bevor er antwortete, öffnete er die silberne Pillendose, die auf dem Tisch lag, und schob sich eine Kapsel in den Mund. Danach fuhr er fort: »Der Hass derer, die einem Teufelskult anhingen, lässt sich mit nichts vergleichen. Sie waren vom Satan besessen. Für mich jedenfalls rechtfertigt das die Reaktion einiger frommer Christen. Zu jener Zeit musste man die Andersgläubigen vernichten, oder man wäre von ihnen verschlungen worden.« Ein Kollege bei Radio Toledo hatte mir erzählt, der hochgewachsene und leidenschaftliche Pater Moraza habe an der Sorbonne promoviert – über das primitive Christentum – und sei fünfzehn Jahre lang ein herausragendes Mitglied der vatikanischen Glaubenskongregation gewesen. Offenbar wollte er seinen Lebensabend in seiner Heimatstadt verbringen. Wegen seiner guten Dienste hatte man ihm diesen Wunsch erfüllt. »Es war ein schonungsloser Kampf. Damals behaupteten manche, Jesus sei sowohl göttlich als auch menschlich gewesen. Andere Christen hielten ihn nur für einen Menschen, da beide Kategorien unvereinbar seien. Und eine ganze Menge Leute dachte, er sei ein menschliches Wesen aus Fleisch und Blut wie du und ich, und nur vorübergehend habe ein göttliches Wesen von ihm Besitz ergriffen und ihn nach der Kreuzigung wieder verlassen …« »Also quasi von Gott besessen?«, warf ich ein, während Pater Moraza eine Schachtel Bisonte nahm und sich eine Zigarette in den Mund steckte. »Nicht ganz …« »Ich glaube«, fuhr ich fort, »es gab sogar gewisse Gruppen, die glaubten, Jesus sei niemals gestorben. Oder irre ich mich?« »Keineswegs. Einige glaubten, sein Tod brächte die Rettung der Welt, andere versicherten wiederum, sein Ableben habe rein gar nichts mit der Rettung irgendeines Menschen zu tun. Und einige wenige dachten tatsächlich, er sei niemals gestorben. Im 45
vierten Jahrhundert entwickelte sich schließlich ein Bewusstsein dafür, was göttlich inspiriert und was erdichtet war und somit falsch und verboten war.« »Demnach existieren seitdem eine absolute und eine ketzerische Wahrheit …« Pater Moraza runzelte die Stirn und trank seinen Kaffee in einem Zug aus. »Zwei unversöhnliche Welten. Per Dekret wurden nur die siebenundzwanzig Bücher gerettet, die man für heilig hielt. Der Rest wurde von der Erde und dem Feuer verschluckt. Und so war es zwar nur natürlich, aber eben doch verwerflich, dass einige dieser sehr primitiven Strömungen, die sich im Schatten einer etablierten Macht in unterschiedliche Richtungen entwickelt hatten, andere Wege suchten, ihre zum Teil nicht zu entschlüsselnden Texte zu verbreiten und damit ein völlig anderes Christentum zu schaffen. Die meisten dieser Bewegungen wurden zerstört und von der Nachwelt vergessen. Andere, die sich standhafter widersetzten, bekamen ihre verdiente Strafe.« »Wie bitte?« »Ich weiß, das ist nicht gerade politisch korrekt, aber diese Leute verwandelten sich in Mörderbanden. Das steht fest. Es waren vom Bösen besessene Sünder.« »Ich nehme an, man wird das nicht verallgemeinern können.« »Ich sage nur, wie es ist! Übrigens, ich glaube, es wird langsam Zeit …« Bevor er den Satz beendete, wischte er sich etwas Asche von der langen Soutane. Trotz seines Alters wirkte Pater Moraza nach wie vor äußerst energisch. Er schien außerdem zu den wenigen zu gehören, die das Priestergewand noch voller Stolz trugen. Mit Sicherheit sorgte seine hünenhafte Erscheinung, eingehüllt in diesen schwarzen Talar, für großes Aufsehen, wenn er durch die Straßen des alten Toledo ging. 46
Es dauerte eine Weile, bis wir das Restaurant verließen, da er an jedem Tisch höflich begrüßt wurde. Als wir schließlich ins Freie traten, schlug ich den Kragen meiner Jacke hoch, weil ein eisiger Wind wehte. Es würde bald schneien. »Man hat mir versichert, Sie wüssten alles über die Ketzerbewegungen in dieser Gegend.« »Es ist so, mein Freund«, sagte er und streckte mir dabei in einer ehrlichen Geste seine Handflächen entgegen, »viele dieser Geschichten sind frei erfunden. Es hat hier keine wichtigen Gruppierungen gegeben.« »Das wundert mich. Wussten Sie übrigens, dass dieser Reporter hier gestorben ist?« Sein Schweigen dehnte sich aus. »Ich weiß nicht viel darüber, aber offensichtlich handelte es sich um einen Mann, der krankhaft phantasierte. Er erlitt angeblich einen Herzinfarkt. Dem eine größere Bedeutung beizumessen wäre reiner Sensationalismus … und das wollen Sie doch vermeiden, nicht wahr?« »Da Sie mir offensichtlich nicht weiterhelfen können, werde ich versuchen, mich an einen Buchhändler hier in Toledo zu wenden, der mir von einem Kollegen empfohlen wurde. Wissen Sie zufällig, wo ich diesen Mann finden kann?« Ich zeigte ihm den zerknitterten Zettel, den ich in der Hosentasche trug. Nachdem Pater Moraza den Namen gelesen hatte, änderte sich seine Miene. »Ich bin seit über dreißig Jahren mit Mateo befreundet. Er hat eine religiöse Buchhandlung neben der Kathedrale.« »Das hat mir der Kollege vom Radio auch erzählt. Er sagte, dieser Mann kennt jeden Winkel in der Gegend und dass er vielleicht …« »Das bezweifle ich. Seit jenem Vorfall ist sehr viel Zeit vergangen.« 47
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie nochmals danach frage, aber diese Ruinen auf dem Foto sind doch ziemlich auffällig. Ein solcher Ort muss Ihnen doch bekannt sein!« »Wenn Sie so alt sind wie ich, werden Sie merken, dass das Gedächtnis immer schlechter wird. Die Zeit geht an niemandem spurlos vorüber.« »Aber diese Markierungen und Zeichen … Können Sie die nicht irgendeiner Abspaltung des Christentums zuordnen?« »Ich sehe da nur eine typische Kapelle wie so viele, die in dieser Gegend errichtet wurden.« »Aber im Gemeindearchiv könnte vielleicht etwas darüber stehen.« »Gar nichts steht dort!«, wehrte er ab, ohne mich anzusehen, und bestand darauf, mich zum Buchhändler zu begleiten. »Aber vorher zeige ich Ihnen noch unsere Kathedrale!« Ich wusste diese Aufmerksamkeit zu schätzen und hielt es für eine Art freundliche Entschädigung dafür, dass er mir sonst nichts sagen konnte. Mit festem Schritt gingen wir durch die schmalen Gassen des Judenviertels zur Kathedrale. Im Inneren war ich wie üblich von der riesigen Gestalt auf dem Fresko an einer Seitenwand fasziniert. Schon als kleiner Junge hatte mich dieses Bild tief beeindruckt und sogar etwas verängstigt. Dieser Bart, dieses Gesicht … »Das ist der heilige Christophorus«, erklärte Pater Moraza, ohne sich zu mir umzudrehen, während er schon wieder in Richtung des gegenüberliegenden Ausgangs eilte. »Der Schutzheilige der plötzlichen Todesfälle. Er bringt den Glauben und die Botschaft ans andere Ufer, auf die andere Seite.« Ich beschleunigte meinen Schritt, um ihn einzuholen. »Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, Pater, sind alle Ketzerbewegungen oder ausgegrenzten Religionsgruppen aus
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jener anfänglichen Abspaltung im 4. Jahrhundert entstanden. Und sie sind bis heute mit dem Christentum unversöhnlich.« Seine Antwort vermischte sich mit dem Echo unserer Schritte auf dem Steinboden, die im Gewölbe widerhallten. »Waldenser, Dolcinianer, Katharer …« Die Aneinanderreihung von Namen, die aus einem dunklen Zeittunnel zu kommen schienen, wirkte an jenem Ort beängstigend. So sehr, dass ich nicht wusste, ob ich meinen Block herausholen und mir Notizen machen sollte. Ich merkte, wie sein Gesichtsausdruck immer angespannter wurde, als ob jede dieser jahrhundertealten Bewegungen noch immer ein Geheimnis darstellte und womöglich eine persönliche Beleidigung. »… Joachimisten, Fratizellen, Beginen, Utraquisten …« Ohne mit der Wimper zu zucken, ging er schnurstracks auf eine Holztür zu. Als sein flatterndes Gewand davor zum Stehen kam, eilte ich voraus und öffnete die Tür. Er fuhr fort mit seiner seltsamen Litanei, deren hervorgestoßene Worte seine Halsadern oberhalb des Kragens hervortreten ließen. »… Taboriten, Pataria, Bogomilen, Mennoniten und …« Plötzlich legte er eine Pause ein und schien unschlüssig, ob er den Mund schließen sollte oder nicht. Er wartete, bis hinter der quietschenden Tür das Tageslicht zum Vorschein kam. Dann zischte er: »… und die Brüder und Schwestern des freien Geistes.« Ohne ein weiteres Wort schritt er die Puerta Llana hinauf. Er schien versunken in einer Art Autismus, der ihn sogar an dem spitzbogigen Tor zur Buchhandlung vorbeigehen ließ. »Pater, hier ist es doch!«, rief ich ihm hinterher. Der Buchhändler war ein erfahrener Bergsteiger, der kein Wochenende verstreichen ließ, ohne über die Hügel Toledos zu 49
wandern. Sogar in seinem großen Laden im Souterrain, in den man über eine Freitreppe gelangte, trug er Wanderstiefel mit auffälligen Schnürsenkeln. »Hier ist ein Journalist«, sagte Pater Moraza, als wir den Laden betraten, »der unbedingt einige Dinge erfahren will. Ich habe ihm gesagt, dass du jeden Winkel in der Gegend kennst.« »Wir haben in all der Zeit ja auch ein paar schöne Wanderungen unternommen!«, erwiderte der Angesprochene und ließ unter dem gestutzten Schnurrbart ein Lächeln erkennen. »Also, eigentlich möchte ich alles über einen ganz konkreten Ort erfahren …« Der Buchhändler unterbrach mich. »Einen Augenblick, einen Augenblick … Da Sie sich für die Natur interessieren, werde ich Ihnen mein Buch von 1981 schenken, das ein echter Erfolg war.« Er näherte sich einem Drehständer aus Metall und nahm eine Art Broschüre heraus, die kaum mehr als 20 Seiten umfasste und einen erstaunlichen Titel hatte: Das unbekannte und unterirdische Toledo. Routen und Wege. »Ich werde es mit großem Interesse lesen. Vielen Dank.« »Und noch besser wäre, wenn Sie es in Ihrer Radiosendung besprechen könnten«, sagte er mit einem schallenden Lachen. Ich lächelte etwas gezwungen zurück, da ich endlich zur Sache kommen wollte. Ich nahm eines der Schwarz-Weiß-Fotos, die zu Galváns Artikel gehörten, aus der Mappe unter meinem Arm und legte es auf den Ladentisch aus Glas. »Aber das …« Ohne weiterzusprechen verschwand der schmächtige Mann in einem dunklen Hinterzimmer und kehrte kurz darauf mit einer kleinen Lupe zurück, wie sie von Briefmarkensammlern verwendet werden. Sobald er eines der Bilder genauer geprüft hatte, war er sich sicher. 50
»Tinieblas … Tinieblas de la Sierra.« Als er den Namen aussprach, bemerkte ich, wie Pater Moraza, der bis dahin unruhig im Laden auf und ab gegangen war, plötzlich stehenblieb. Mateo starrte ihn an, als ob er mit der Antwort einen Fehler gemacht habe. Dann hielt er das Foto unter die Tischlampe zu seiner Rechten. »Ich glaube, das ist das alte Viertel Goate. Ja, genau. Doch da gibt es ein Problem: Alles, was hier zu sehen ist, existiert nicht mehr. Kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Die Häuser wurden abgetragen. Wer hat denn überhaupt die Fotos gemacht?« Pater Moraza, dessen Gestalt sich in der Büchervitrine spiegelte, kam mir bei der Antwort zuvor. Ich hörte, wie seine gewaltige Stimme von hinten dröhnte. »Erinnerst du dich nicht mehr an den ausländischen Journalisten, der vor dreißig Jahren hier war?« Der Buchhändler nickte und konnte sein Erstaunen nur schwer verbergen. Er griff erneut zur Lupe und überprüfte eine ganze Weile die glänzende Oberfläche der Schwarz-Weiß-Fotografie mit dem gezackten Rand. Nach ein paar Minuten sagte er in die schon unangenehme Stille hinein: »Wer weiß, ob dieser Verrückte nicht dabei war, irgendetwas auszugraben. Das hier sind die primitiven Fundamente einer Kapelle, von der wahrscheinlich nicht mal ein Schatten übrig ist.« »Und was ist das hier?«, fragte ich und zeigte auf die eingemeißelten Symbole, die deutlich auf den Steinen zu erkennen waren. Als Pater Moraza zweimal hustete, blickte Mateo wieder in seine Richtung und wirkte zunehmend beunruhigt. Er legte das Vergrößerungsglas auf das Foto, sodass die seltsamen Darstellungen anwuchsen, als ob sie sich von den Steinen lösen wollten.
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»Also, das müssen Markierungen der Steinmetze sein … Um ehrlich zu sein, habe ich ausgerechnet diese Gegend nicht so gründlich durchkämmt. Sie ist völlig bedeutungslos.« Die Ungläubigkeit musste mir wohl ins Gesicht geschrieben stehen. »Ich weiß ja, welches Schicksal diesen Unglücksraben ereilt hat, aber dort ist nichts mehr zu sehen. Als er 1977 dort war, gab es vielleicht noch etwas, aber ich wette, er hat die Fotos nicht selbst gemacht. Die sehen viel älter aus.« »Und welches Schicksal hat diesen Journalisten ereilt?«, fragte ich sofort nach. Als genau in diesem Augenblick die Glocken der Kathedrale zu läuten begannen, fuhren wir drei vor Schreck gleichzeitig in die Höhe. Dann schauten wir uns lächelnd an, weil wir wussten, wie lächerlich es war, sich so zu erschrecken. Wir taten so, als sei nichts passiert.
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7 Der Ort war überraschend leicht zu finden. Ich ging an der Mauer entlang und öffnete das verrostete Gittertor. Nachdem ich mich bekreuzigt hatte, betrat ich mit festen Schritten den Friedhof. Mit dem Foto in der Hand ging ich etwa dreißig Meter geradeaus und stieß auf das Kreuz, das sich genau in der Mitte des Friedhofs erhob. Eine massive Säule, an deren Spitze eine sehr primitive Christusfigur an einem Kreuz befestigt war. Die Gesichtszüge waren mit der Zeit unkenntlich geworden. Die Figur hatte unverhältnismäßig große Füße und Hände, die in das Kreuz genagelt waren. Auf einem Steinblock darunter stand die Inschrift: Den Seelen der B … Der Rest der Buchstaben ließ sich kaum erahnen. Ich hatte den Eindruck, die Figur müsste viel älter sein als die Säule und das Fundament, auf dem jemand diesen Text eingemeißelt hatte. Der Satz stammte vermutlich aus dem 19. Jahrhundert, während die Christusfigur höchstwahrscheinlich bis in die Romanik zurückging. Eine sonderbare Wiederverwendung. Ich nahm das andere Foto aus der Jackentasche, um festzustellen, ob darauf mehr zu erkennen war. Doch ich hatte kein Glück. Ich war es leid, bei meinen Nachforschungen nur auf schweigende Journalisten zu treffen sowie auf Priester und Bergsteiger, die sich plötzlich an nichts mehr erinnerten, oder auf ehemalige Freundinnen, die ab einem gewissen Punkt ihrer Erinnerung keinen Ton mehr herausbrachten. Ich hatte daher 53
beschlossen, etwas zu unternehmen, und war nach Tinieblas de la Sierra gefahren, um vor Ort zu recherchieren. Obwohl die beiden Orte auf keiner Straßenkarte zu finden waren und Pater Moraza und sein Freund mich um jeden Preis von einem Besuch abbringen wollten, hatte ich von einem guten Freund bei der Kriminalpolizei am Tag zuvor die genaue Beschreibung anhand einer Militärkarte bekommen. Aber was glaubte ich eigentlich hier zu finden? Ich drehte mich um hundertachtzig Grad und war mir plötzlich absolut sicher. Hier muss es gewesen sein. Hier hatte sich Lucas Galván zum letzten Mal verewigt, mit seinem verquollenen Gesicht, dem abwesenden Blick und den vorzeitigen Falten, blass und voller blauer Flecken, wie immer in seinen abgetragenen Mantel gehüllt, mit hochgeschlagenem Kragen, ungewaschenem Haar und den knochigen Händen, die aus den Ärmeln ragten. Hier hatte er sich für seine letzte Reportage fotografiert, in dem Bewusstsein, dass hinter seinem Namen bereits ein Kreuz stand. Genau so ein Kreuz, wie es hier den gesamten Friedhof überragte. »Eine Hand.« Ich hatte die Worte laut in meinen MiniDisc gesprochen, weil es das war, was ich sah. Ja, da war eine weiß gemalte, kleine Hand auf dem Gedenkstein, auf dem ich stand. Als ob ein Kind einen Abdruck im Zement hinterlassen hätte. Wo hatte ich so etwas Ähnliches nur schon mal gesehen? Ich machte mehrere Fotos davon. Als plötzlich ein eisiger Wind aufkam, konnte ich den Auslöser nicht mehr hören. Die leblose Umgebung stimmte in das Heulen des Windes mit ein. Alles um mich herum schien zu erwachen, und mir war so, als würde sich alles erst wieder beruhigen, als ich von dem
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Gedenkstein heruntertrat. Eine merkwürdige Unruhe, vielleicht auch eine beginnende Besessenheit machte sich in mir breit. Galván hatte sich genau dort abgelichtet. Und er hatte dies aus irgendeinem Grund getan. Ich hockte mich hin und überprüfte alle Einzelheiten auf den Fotos: Die Überreste des spitz zulaufenden Eisengatters im Hintergrund, der kleine Hügel, die Mauer dahinter … Mit Ausnahme eines Trümmerhaufens, der jetzt an einer Seitenwand der Friedhofsmauer lag, war alles identisch. Als ob an jenem Ort die Zeit stehengeblieben war. Ein unheimlicher Kreislauf, dachte ich, als ich die Digitalkamera auf einen Stein stellte, der mir als Stativ dienen sollte. Vor über dreißig Jahren hatte Galván ein paar Fotos erhalten, die irgendjemand aus irgendeinem Grund hier aufgenommen hatte. Später, als er bereits todkrank am Abgrund stand, hatte sich Galván genau an diesem Punkt fotografiert, um etwas herauszufinden. Und jetzt war ich dort, ohne so recht zu wissen, was ich eigentlich suchte. Den ganzen Nachmittag über lief ich auf dem Friedhof herum und atmete die kalte Luft ein. Die anderen Grabsteine, die sich auf den Bildern des Argentiniers erahnen ließen, konnte ich nicht finden. Das Gestrüpp bedeckte mittlerweile den gesamten Friedhof. Nur der Gedenkstein mit der weißen Hand war nicht überwuchert, ein kleines Rechteck ohne Inschrift. Obwohl es schon dämmerte, tastete ich mich langsam mit den Händen voran und versuchte in den Bereich der Mauer vorzudringen. Dann sah ich ein paar ziemlich große, durchsichtige Spinnen mit langen Beinen, die ihr Netz in den Mauernischen spannten. Eine der Spinnen, die sich wohl durch meine Anwesenheit gestört fühlte, krabbelte in ein tiefes Loch hinein. Der Anblick war unangenehm und löste bei mir den dringenden Wunsch aus, umzukehren. Doch etwas weckte 55
meine Aufmerksamkeit. Genau über dem Loch der Spinne hing eine kleine Plakette: Bereich der Mädchen. 1819 Ich wollte mich dem grauen Mauerwerk gerade nähern, als mein Knie an etwas Hartes mit scharfen Kanten stieß, das mich abrupt zurückweichen ließ. Ich spürte, wie das warme Blut unter der Hose am Bein entlang in meine Stiefel lief. Das Gefühl von absoluter Stille, die in den Ohren wehtut, sagte mir, dass ich so schnell wie möglich von dem Friedhof verschwinden sollte. Als ich das Gelände verlassen hatte, ging ich den kleinen Hügel hinauf und spürte es noch deutlicher: Kein Vogel war zu hören, kein Wind und kein Ast bewegte sich. Nichts. Als ich den Blick zurückwandte, sah ich ganz hinten auf einer Anhöhe die verschlafenen Überreste der eingestürzten Kapelle im südlichen Bereich des Friedhofs. Ein aus dem 12. Jahrhundert stammendes Gebäude, dessen Ruinen ich von oben bis unten fotografiert hatte. Auf einigen herumliegenden Kapitellen waren Szenen von Menschen und Tieren zu erkennen gewesen. Das meiste hatte jedoch die Witterung zerstört oder war zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte abgetragen worden. Doch jene tief eingemeißelten schematischen Symbole waren nicht aus den massiven Mauern entfernt worden. Diese Mauern mussten auch Lucas Galván aufgefallen sein. Mauern, die laut dem Priester Moraza und seinem bergsteigenden Freund schon seit Jahren nicht mehr existierten. In der Mitte einiger Steinblöcke hatte ich eine weitere kleine weiße Hand entdeckt. Oberhalb waren zwei Figuren abgebildet: eine mit zerteiltem Leib, die andere betrachtete die Szene 56
gelassen. Das konnte alles Mögliche sein … nur keine Markierungen von Steinmetzen! Dann gab es da noch eine Figur, die waagerecht über dem Boden zu schweben schien und von einer Art Liane oder einem Tentakel gehalten wurde, der wie eine lange Nabelschnur aus ihrem Bauch wuchs. Noch nie hatte ich in der christlichen Ikonographie eine vergleichbare Darstellung gesehen. Im Inneren der Kapelle befand sich dort, wo vermutlich einmal der Altar gestanden hatte, noch ein Teil eines riesigen Wandfreskos mit einer Darstellung des Fegefeuers. Jene ätherische Sphäre, wo nach christlichem Glauben die Seelen zwischen Himmel und Hölle schweben. Gequälte Seelen zwischen zwei Welten, die auf das Jüngste Gericht warten. Der große schwarze Bereich daneben schien zu einem späteren Zeitpunkt übermalt worden zu sein. In dem Teil des Gewölbes, der noch stand, entdeckte ich eine weitere Darstellung, die meine Aufmerksamkeit erregte: der himmlische Vater, sitzend und mit einem Blick, der bei jedem Blitzlicht den Eindruck vermittelte, plötzlich wieder zum Leben zu erwachen. Neben ihm eine zweite Gestalt, die übermalt und geschwärzt worden war. Nur noch der schreckliche Teufelskopf war zu sehen. Ein aufgedunsener Schädel mit zwei Löchern als Nase und einem unvollkommenen Ausdruck, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Gott hatte eine Hand erhoben, eine weißliche Handfläche mit einem überproportional großen Zeigefinger, und zeigte in den Kosmos. In der anderen Hand – ebenfalls weiß, als ob er einen urzeitlichen Handschuh tragen würde – hielt er ein aufgeschlagenes Buch, auf dessen Seiten stand: Ego sum lux mundi. »Ich bin das Licht der Welt«. Durch den digitalen Sucher war mir der lächelnde, halb geöffnete Mund aufgefallen, der der Gestalt einen fratzenhaften Ausdruck verlieh. Zu seinen riesigen verzerrten Füßen, die unter 57
der weißlichen Tunika hervorragten, schmorten nackte Menschen im Höllenfeuer. Ihre entstellten Körper waren in den Flammen zu erkennen. In der Stille glaubte ich förmlich hören zu können, wie die Schreie der dort abgebildeten gemarterten Menschen in dem zertrümmerten Gewölbe widerhallten. Wie die dunklen Silhouetten von Dämonen sie bei lebendigem Leibe in der Mitte zersägten, vierteilten und in heißem Öl verbrannten. All das geschah unter dem Blick des Pantokrators, eines unbarmherzigen Gottvaters mit vereinzelten Haarbüscheln auf dem kahlen Kopf und diesen großen Augen ohne Pupillen, die einen verfolgen, wohin man auch geht. Wohin man auch schaut. »Und Sie sagen, Sie haben sich das in Tinieblas zugezogen?« Der Gesichtsausdruck der alten Krankenschwester in der kleinen Ambulanz in Toledo veränderte sich, sobald ich diesen Namen aussprach. Offenbar war sie überrascht, dass ein Fremder sich an jenen Ort begab, statt sich an anderen beliebten Tourismuszielen in der Gegend zu erfreuen. »Dort leben doch höchstens noch zehn oder zwölf Menschen.« Ich wollte ihr antworten, doch ein stechender Schmerz ließ mich die Zähne zusammenbeißen. »Ich habe Ihnen gesagt, es wird wehtun. Halten Sie durch. Nur noch ein bisschen, wir haben es gleich.« Die kalte alkoholische Flüssigkeit brannte mir vom Bein bis in die Leiste. Die gute Frau war wohl etwas nervös und traf zunächst den Knochen, bevor sie mit der Nadel dort ins Fleisch stach, wo sie nähen sollte. »Die Wunde ist recht tief. Ich rate Ihnen, das in Madrid nochmal gründlich untersuchen zu lassen. Wie ist das denn genau passiert?« Zunächst wusste ich nicht, was ich sagen sollte. 58
»Äh, mit einem verrosteten Eisenteil.« Sie sah mich ungläubig an. Langsam ärgerte mich dieser Gesichtsausdruck. »In Tinieblas? Von einem Wagen oder so was?« Ihre Neugier grenzte an Indiskretion. »Es war eher ein landwirtschaftliches Gerät. Ich bin gestolpert und drauf gefallen.« »Besitzen Sie dort Land?« Zweifellos war ich an den Privatdetektiv der Region geraten. »Nein. Schauen Sie, ich arbeite gerade an einem Bericht über das Leben in den Dörfern der Gegend. Ich bin Fotograf«, sagte ich und schwenkte die winzige Kameratasche. »Also, ich habe den Eindruck«, erwiderte sie, während sie den schwarzen Faden abschnitt, »dass die Wunde schon seit einigen Stunden offen ist, und das ist gar nicht gut. Ich weiß nicht, ob es mit dem Alkohol reichen wird. Sie sollten wirklich noch in ein Krankenhaus gehen, damit man Ihnen dort so schnell wie möglich eine Tetanusspritze gibt.« Ich stimmte ihr mit einem Lächeln zu. Dann erhob ich mich von der Liege und stützte mich dabei an der grün gekachelten Wand ab. Ich war kurz versucht, sie nach der Geschichte des Dorfes zu fragen, und sah sie eindringlich an, während sie das Verbandszeug in einen Metallkasten packte. »Ja?« Doch ich hielt mich zurück und beschloss, das Gespräch mit einem Händedruck zu beenden. Letzten Endes wusste sie bestimmt auch nicht mehr als die drei einzigen Personen, denen ich zuvor in Tinieblas de la Sierra begegnet war. Drei Greise, von denen zwei sich darauf beschränkt hatten, unter ihrer Baskenmütze zu schweigen. Nur einer, der bereits über hundert Jahre alt zu sein schien, hatte entschlossen auf die andere Seite
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des Berges gezeigt, wo sich angeblich der alte Friedhof befand. Ein Gelände im Unterbezirk Goate, das niemand mehr betrat. »Dort sind nicht mal mehr die Toten«, sagte er mir, während er sich auf seinen Stock stützte. »Aber damals war das ein Dorf fast so groß wie dieses hier, oder?« »Wie dieses? Niemals«, erwiderte er empört und fuchtelte dabei mit seinem Stock. »Sie müssen wissen, Tinieblas ist schon Bezirkshauptstadt, seitdem ich denken kann.« »Kannten Sie jemanden von dort?«, drängte ich. »Aus dem verlassenen Viertel? Ich nicht, aber mein verstorbener Vater kannte einen, der sein Vieh dort weiden ließ.« Das gab mir Hoffnung, doch er brach das Gespräch kurzerhand ab. »Junger Mann«, sagte er knapp, während er zu den Bergen hinübersah, »ein Gewitter zieht auf. An Ihrer Stelle würde ich mich auf den Weg machen. Und zwar schnell. Die Straßen hier sind nicht die besten. Was ist eigentlich mit Ihrem Bein los? Es ist ja ganz steif und blutig.« »Ist nicht so schlimm. Aber, hören Sie, ich würde gerne noch wissen …« Doch der alte Mann stellte sich taub und drehte mir den Rücken zu. Dann schlurfte er in seinen karierten Hausschuhen davon und verschwand in dem dunklen Hauseingang. Wie eine Spinne, die sich in ein Mauerloch verkriecht.
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8 Javier Bravo näherte sich mit schnellen Schritten. »Was ist?«, fragte ich, als ich mich vom Kaffeeautomaten zu ihm umdrehte. Der Tontechniker bei dem Sender, für den ich arbeitete, machte ein ernstes Gesicht und gab mir mit der Hand ein Zeichen, ihm ins Aufnahmestudio zu folgen. »Da ist es!« Seine Finger bewegten sich mit der Schnelligkeit jahrzehntelanger Berufserfahrung. Er schaltete einen Monitor ein, auf dem die Darstellung eines Tonsignals erschien. »Man kann es ganz klar sehen. Schau, wie es an diesem Punkt beginnt und sich von dem Rest abhebt.« Ich starrte gebannt auf die Oberfläche des Monitors, dessen weißer Schimmer das einzige Licht im Raum war. Es handelte sich um die digitale Aufnahme, die ich während meines Aufenthalts in Tinieblas de la Sierra mit meinem MiniDisc gemacht hatte. Javier hatte das Heulen des Windes und andere Naturgeräusche herausgefiltert und nun offensichtlich etwas entdeckt. »Wir hören es uns nochmal an. Setz dir lieber die hier auf«, sagte er und reichte mir ein paar schwarze Kopfhörer über die Schulter, die mit einem spiralförmigen Kabel mit dem Tisch verbunden waren. »Kann ich den Ton mit diesem Drehknopf lauter stellen?«, fragte ich. »Ja, mach ruhig lauter.« 11 seconds, 8 seconds, 3 seconds …
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Das hochentwickelte Programm Dalet 5.1. brauchte nicht lange, um die Daten in etwas Hörbares zu verwandeln. Ich hatte auf dem Friedhof noch etwas anderes aufgezeichnet. Etwas, das sich wie ein Wehklagen anhörte, was jedoch beim normalen Abspielen unverständlich blieb. Die Geräusche waren nach der Tonbearbeitung jetzt viel deutlicher … »Fegefeuer!« Die Digitaluhr an der Wand zeigte 1:13. Wir fragten uns, ob wir das gerade wirklich gehört hatten. Aber der Schrei war so deutlich, als ob einer von uns das Wort voller Angst ausgesprochen hätte. Die Stimme konnte von einer Frau oder einem Mann stammen. Auf jeden Fall war es die Stimme eines alten Menschen, die aus tiefster Kehle kam und am Ende etwas dünner wurde. Dennoch war sie klar und deutlich zu verstehen. »Das kann nicht sein. Spiel es noch mal ab, Javi, bitte.« Nachdem wir den Prozess mehrfach wiederholt hatten, wurde ich unruhig. Dabei fasste ich mir instinktiv ans Knie, das immer noch taub war. Als er mein schmerzverzerrtes Gesicht sah, machte sich Javier Sorgen. »Warum gehst du nicht nach Hause?« Ich schüttelte den Kopf und legte das Bein auf einen Hocker, während Javier wieder ungläubig auf den Monitor schaute. »Für mich«, sagte er und zeigte auf die kantigen Linien auf dem flachen Bildschirm, »ist das ein Beispiel für das Phänomen der so genannten Tonbandstimmen. Ein Schrei von jemandem, der leidet, sich aber auf einer anderen Ebene befindet …« »Ach, hör schon auf!«, fiel ich ihm ins Wort. »Das könnte auch meine eigene Stimme sein!« Javier war beleidigt. »Mann, wenn ich nach dreihundert Wochen Zusammenarbeit mit dir deine Stimme nicht von einer ›Tonbandstimme‹
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unterscheiden kann, sollte ich vielleicht lieber Pizzen ausliefern. Meinst du nicht?« »Also, warte mal«, sagte ich, während ich auf das silberfarbene Gerät vor uns zeigte. »An einigen Stellen hört man mich sprechen. Ich beschreibe die jeweiligen Plätze. Vielleicht bin ich gerade abgeschweift, oder rede mit mir selbst.« Doch Javier antwortete nicht. Er beschränkte sich darauf, in die Tastatur zu tippen und dem Computer einen bestimmten Befehl zu geben: Audio repeat. Das Wehklagen dröhnte dieses Mal in höchster Lautstärke aus den Lautsprechern. Dann schaute er mich sehr ernst an. »Das ist nicht deine Stimme. Und das weißt du.« Mittlerweile war ich beinahe von dem überzeugt, was die Computertechnik so kalt und unerbittlich unter Beweis stellte: Nach einer Laufzeit von einer Stunde und siebzehn Minuten schlich sich eine fremde Stimme ein. Nach meinen Berechnungen muss es genau in dem Moment passiert sein, als ich vor dem Kreuz auf dem Friedhof stand. Als ich in dieser Nacht nach Hause kam, wurden die Schmerzen im Knie schlimmer. Um mich abzulenken, nahm ich den Laptop mit ins Bett, um meine E-Mails zu lesen. Die sechste Nachricht war eine weitere Überraschung an diesem ereignisreichen Tag.
Von:
[email protected] Für:
[email protected] Betreff: Re: Fotos Friedhof Hallo Aníbal, ich habe gerade den Laborbericht der Kriminalpolizei erhalten und werde bald auch mit meinem fertig sein. Im Moment kann ich dir aber schon so viel sagen, 63
dass die Bilder nicht nachträglich bearbeitet worden sind. Bei dem Fotografierten handelt es sich entweder um eine optische Täuschung oder um etwas tatsächlich sehr Sonderbares. In der Abteilung 21 hat man die gescannten Kopien, die du mir geschickt hast, sehr gründlich untersucht. Es handelt sich sicher nicht um einen Fehler bei der Entwicklung oder um einen Lichtstrahl, der dieses Phänomen erzeugt. Es ist auch keine gewollte Überlappung zweier Bilder. Ich sende dir noch die Kopie des vollständigen Berichts. Um die Wahrheit zu sagen, war mein Vorgesetzter von den Aufnahmen fasziniert. Wie du weißt, ist er einer der führenden Experten in Sachen Bildbearbeitung und abgesehen davon ein großer Skeptiker, was übersinnliche Phänomene angeht. Daher wird sein Urteil besonders wertvoll sein. Er glaubt, dass dieser seltsam gekleidete Junge auf dem Bild real ist. Und dass er vielleicht gerade zufällig vorbeikam, ohne dass der Fotograf es merkte. Vielleicht jemand, der sich einen üblen Scherz erlaubt hat. Andernfalls wird uns das weiter Kopfzerbrechen bereiten. Ich halte dich auf dem Laufenden. Liebe Grüße Sergio
Für einen Journalisten, der wie ich ein Interesse an sonderbaren Phänomenen hatte, wäre diese Mail von Sergio Zabala, dem Chef der Informatikabteilung bei der Kriminaltechnik der Polizei, an sich schon eine außergewöhnliche Nachricht gewesen. Doch um fünf Uhr morgens wirkte sie vor allem beunruhigend auf mich. Ich machte den Computer aus und löschte das Licht. Ich musste versuchen zu schlafen. Doch nach einer halben Stunde schreckte ich hoch, weil ich glaubte, etwas gehört zu haben. 64
Ein Geräusch. In meinem Zimmer. Ich schaute in den langen Spiegel vor mir an der Wand und sah im Halbdunkel mich selbst mit fiebrigen Augen und nassgeschwitztem Haar. Ich sah in das Gesicht eines Halbtoten. Hatte ich vielleicht die Tetanusspritze nicht rechtzeitig bekommen? Spürte ich deshalb den langsamen Anstieg des Fiebers in meinem Körper? Hätte ich vielleicht besser nicht an diesen Ort gehen sollen? Ich wusste, rechts auf dem Nachttisch lagen der Mini-DiskRekorder mit der Tonaufnahme und die Kopfhörer. Ich weiß nicht warum, aber ich setzte sie auf und drückte wie in Trance auf Play. »Fegefeuer!« Mich überkam ein seltsames und unangenehmes Gefühl. Vermutlich das Fieber … Ich wiederholte den Vorgang, während ich mich im Spiegel betrachtete, als ob die Person dort jemand anderes wäre. Da war das Wehklagen wieder. Und genau in diesem Augenblick wurde es spürbar. Ein Gefühl der Angst. Etwas, das man wahrnehmen, das man spüren kann, ohne dass es sich in einem Labor messen ließe. Aber ich war mir ganz sicher. Im Spiegel schwebte das Gesicht eines Wahnsinnigen in der Dunkelheit. Mein eigenes Gesicht, das mich in dem Moment an das von Galván erinnerte. Was geschah mit mir? Was zum Teufel war hier los? Ich nahm die Kopfhörer ab, setzte mich auf und wollte gerade aufstehen, als ich erneut ein Geräusch vernahm. Ein Klopfen? Schritte? Aber wer sollte um diese Zeit an meine Tür klopfen? Ich zog die Decke über den Kopf und folgte diesem absurden Instinkt, der uns glauben lässt, wir könnten dadurch dem unguten Gefühl mitten in der Nacht entgehen. 65
Ich spürte meinen Schweiß, meine aufgeheizte Haut und den pochenden Schmerz im Knie. Während ich alles auf die entzündete Wunde schob, versuchte ich die Situation rational zu betrachten. Aber mir war bewusst, dass ich am Ende höchstwahrscheinlich doch an das denken würde, woran ich nicht denken wollte: die Erscheinung, die Helena Sarasola vor langer Zeit nachts gehabt hatte. Auch sie war durch etwas geweckt worden: von der Vision eines schwebenden gevierteilten Körpers. Das Bild hatte sich in mein Unterbewusstsein eingebrannt. Und jetzt, mitten in der Dunkelheit, wollte mein Bewusstsein die Erinnerung daran um jeden Preis verhindern. Dann klingelte plötzlich das Telefon im Wohnzimmer.
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9 PALAST DER FAMILIE GUEVARA MECHELEN, FLANDERN 1593 Pater Atienza verzog angewidert das Gesicht. Dann schwenkte er das Kruzifix über die Gemälde, während er ein seltsames Gebet sprach. »Ihr sollt wissen, dass ich von diesen Schmierereien nichts halte«, sagte er und ordnete die Wachen an, die Bilder unverzüglich in Decken zu hüllen und sie auf die Kutsche zu laden. Einer der Männer reichte dem Sohn des großen Kunstsammlers Don Diego de Guevara einen kleinen Lederbeutel. Als Felipe Saulo de Guevara das Säckchen aufschnürte, protestierte er verärgert. »Aber das ist nicht das, was wir vereinbart hatten!« Pater Atienza, schon mit einem Fuß auf den Stufen der Kutsche, drehte sich um. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen. »Verdienen diese Werke des Teufels etwa mehr? Auf dem Scheiterhaufen sollten wir für sie und ihren Schöpfer einen Platz bereithalten!« Der gut aussehende Jüngling erhob sich von seinem Samtstuhl, sodass sein Kopf den Mönch weit überragte. »Vereinbart wurde der Gegenwert von zweitausend Dukaten. Und das werdet Ihr mir geben müssen, wenn Ihr die Bilder mitnehmen wollt. Nicht ich will sie inbrünstig besitzen, sondern der König. Erörtert mit Seiner Majestät die theologischen
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Zweifel, die sie in Euch wecken mögen, und nicht mit mir. Ich verkaufe sie lediglich an den Meistbietenden.« »Ich sehe schon, Euch ist gar nichts heilig!«, gab Pater Atienza zurück und deutete dabei auf seine Augen. In der Tat hatte sich Pater Atienza als oberster Ratgeber des Königs sehr zu seinem Leidwesen erneut in die belebte und lärmende Stadt Mechelen begeben müssen. Es war ein kulturelles Zentrum und stets voller Händler und Künstler. Für ihn war der Befehl Philipps II. beinahe demütigend. Er sollte in den gotischen Palast zurückkehren, in dem prächtige, aber auch viele seltsame Werke ausgestellt wurden, die nur für ganz besondere Käufer vorbehalten waren. »Ich sagte Euch bereits bei Eurem letzten Besuch, dass Ihr keineswegs die interessantesten Bilder mitgenommen habt«, verkündete der Händler mit einem Lächeln und amüsierte sich über die Wut des Käufers. »Diese Gemälde und wer immer daraus Nutzen zieht, werden eines Tages dem läuternden Feuer gegenüberstehen, dem sie niemals entrinnen sollten!«, antwortete der Geistliche daraufhin zornig. »Wie Ihr meint, doch Ihr werdet sie nicht von hier mitnehmen, solange ich nicht das bekomme, was sie wert sind.« Pater Atienza zitterte am ganzen Körper und ließ das Kruzifix fallen. Es landete fast geräuschlos auf dem roten Teppich. Nachdem er es umständlich aufgehoben hatte, schnippte er mit den Fingern. Gleich darauf kam eine der beiden Wachen, die ihn begleiteten, näher und legte einen weiteren verschnürten Lederbeutel auf den Tisch. »Wollt Ihr vielleicht das Angebot eines Monarchen missachten? So weit geht Eure Verwegenheit als gottloser und geiziger Mann?«
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»In meinem Geschäft wird denen Geiz nachgesagt, die eine Vereinbarung treffen und dann versuchen, diese im letzten Augenblick zu brechen!« Der Geistliche konnte sich kaum noch beherrschen. Diese Respektlosigkeit wäre in Spanien nicht geduldet worden, und das wusste Guevara. Doch der königliche Befehl war unmissverständlich: Die Bilder mussten um jeden Preis nach El Escorial gebracht werden. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass Pater Atienza die Gründe für diese inbrünstige Besessenheit seines Monarchen nicht verstand, die ihn so sehr in Rage brachte. »So ist es recht«, erklärte Felipe Saulo, nachdem er bis auf die letzte Münze nachgezählt hatte. »Ihr ahnt nicht, wie sehr es mich freut, im Herzen des Reiches eine Vorliebe für die große Kunst zu wissen. Ich wünsche Euch eine angenehme Heimreise! Und beherrscht Euren Zorn, der einem Mann des Glaubens gar nicht angemessen ist!« Pater Atienza bestieg die Kutsche und setzte sich ans hinterste Ende der Sitzbank, so als wolle er unter keinen Umständen mit diesem verfluchten Erwerb in Berührung kommen. Nachdem er es sich bequem gemacht hatte, wandte er sich in feierlichem Ton an den jungen Herrn: »Ihr wisst, welches Schicksal ich für all dies voraussehe. Im Übrigen gibt es ein weiteres Gemälde, an dem mein König ebenfalls Interesse hat und für das er bereit wäre, eine große Summe zu zahlen. Es stammt von demselben ketzerischen Maler und hat bereits einen gewissen Ruf.« »Ich glaube, ich weiß, welches Ihr meint. Ich höre seit Jahren davon. Doch es ist weder hier noch in irgendeinem anderen Palast in Flandern aufgetaucht. Dessen könnt Ihr Euch sicher sein.« »Und woher soll ich wissen, dass Ihr mich nicht betrügt, Ihr Scharlatan?«, fragte Atienza mit hasserfülltem Blick.
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»In aller Offenheit, sollte ich dieses Bild besitzen, blieben mir nur zwei Möglichkeiten: der Wahnsinn oder der Tod. Und glaubt mir, ich ziehe es vor, so zu bleiben wie ich bin: lebendig und bei Verstand.« In dieser Nacht machten die Ritter dem Gefolge den Weg frei. Als sie schon beinahe Frankreich erreicht hatten, erwachte der gekränkte Ratgeber im Inneren der Kutsche wie aus einem bösen Traum. Der Mond schien hell, und die Umgebung war ganz klar zu erkennen. Die Bäume, die Hügel, die kleinen Dörfer und ihre Häuser mit den blumengeschmückten Balkonen. Ohne genau zu wissen, warum, streckte er plötzlich die Hand nach den verhüllten Bildern aus und entfernte mit beinahe ehrerbietiger Furcht nach und nach die Decke. Das Mondlicht drang durch das Fenster der Kutsche, sodass Pater Atienza einen Ausschnitt des ersten Gemäldes sehen konnte. Entsetzt glaubte er auf einmal eine andere Darstellung darauf zu sehen als noch zuvor im Palast der Familie Guevara. Vor lauter Schreck machte er sich ganz klein, als ob ihm der Teufel persönlich erschienen wäre. In einem Reflex nahm er die kleine kugelförmige Kapsel aus Metall, die er zusammen mit dem Kreuz am Hals trug, und öffnete sie mit einem Handgriff. In dem Moment, als das Weihwasser die Oberfläche des Gemäldes berührte, kam das gesamte Gefolge unter fürchterlichem Wiehern plötzlich zum Stehen. Die Kutsche hatte so jäh angehalten, dass Pater Atienza an die gegenüberliegende Wand geschleudert worden war. Die Gemälde waren auf den Boden zwischen die Sitzbänke gefallen und wären beinahe zerbrochen. Während eine der beiden Wachen vergeblich versuchte, die aufgeregten Tiere zu beruhigen, eilte die andere dem verletzten Priester zu Hilfe. Er war durch die Wucht des Aufpralls ziemlich benommen und fasste sich an den runden Haarkranz seiner Tonsur. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. 70
Schließlich setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung, und zurück blieben die Silhouetten einiger grober Baumstämme, die ohne sichtbare Ordnung mitten auf dem freien Gelände standen. Am nächsten Tag sollten dort mehrere Menschen lebendig verbrannt werden. Sie fuhren über ein Feld voller Scheiterhaufen. »Ich gestehe, dass Eure zweite Reise erfolgreicher gewesen ist. Doch noch fehlt das wichtigste Werk. Wann werde ich es bekommen?« Philipp II., der in seiner Privatbibliothek im Kloster El Escorial nervös auf und ab ging, hatte die beiden Bilder nicht einmal aus den Decken gepackt. Seine zwölf Ratgeber in Okkultismus, schwarzer Magie und Geisterbeschwörung warteten gespannt auf den Augenblick ihrer Präsentation. Als der König endlich befahl, die Gemälde auf einen Ständer zu stellen, um sie zu zeigen, kehrte absolute Stille ein. Die Männer hielten die Luft an. »Es sind zwei beeindruckende Stücke, Majestät. Seid Ihr sicher, dass Ihr sie in Euren Gemächern aufstellen möchtet?«, fragte Pater Atienza, während er misstrauisch in die Runde sah und erneut sein Kruzifix küsste. »Mein Entschluss ist unumstößlich. Doch für die Komposition, die ich wünsche, fehlt noch das mittlere Gemälde.« »Wir haben bereits in sechs Ländern gesucht! Und wenn es sich nun um eine Legende handelt?«, bemerkte Benito Arias Montano von seinem Platz aus. Der Bibliothekar saß mit dem Rücken zum einzigen Fenster des dunklen Gemachs. »Es ist keine Legende!«, warf einer der Ratgeber ein, ein sehr alter Mann mit langem Bart und einem braunen Umhang mit einer Kordel am Hals. »Sie müssen wissen, mein Vater hat es einmal gesehen … und wurde verrückt. Jahre später stürzte er sich in die Lagune.« 71
Pater Atienza bekreuzigte sich schnell. Die übrigen Ratgeber schauten gespannt den König an, der jetzt in der Mitte des Raumes stand. Keiner wagte es, sich auch nur einen Zentimeter auf den ordentlich aufgereihten Stühlen zu bewegen. Schließlich war es der Monarch selbst, der neugierig nachfragte: »Und wieso habt Ihr mir bisher nichts davon gesagt, Bruder Domenikus?« »Es gibt Dinge, die man besser vergisst. Doch im Hinblick auf Euren großen Wunsch muss ich diese Geschichte erzählen, falls sie dazu dient, das Gemälde zu finden, das ich mir erlaube als teuflisch zu bezeichnen.« »Warum sagt Ihr das?«, fragte der Monarch und ging auf den Mönch zu, bis er direkt vor ihm stand. »Wegen der Träume und Albträume, von denen mein Vater heimgesucht wurde, bis er zum Schluss den Verstand verlor und seinem Leben ein Ende setzte. Das erzählte mir jedenfalls meine Mutter viele Jahre später in Neapel. Ich bin jetzt siebenundachtzig Jahre alt, und als das geschah, war ich nicht älter als ein Jahr.« »Bei allen Heiligen! Wäre es mit einer solchen Vorgeschichte keine Sünde, jenes Bild an diesen heiligen Ort zu bringen, der zu Ehren unseres ruhmreichen Königs errichtet worden ist?«, warf einer der Gelehrten besorgt ein. »Ganz im Gegenteil! Ich denke, dies ist genau der Ort, wo es sein sollte, denn hier könnte seine Macht gebannt werden. Und man könnte sogar davon lernen«, rief ein anderer Ratgeber entschlossen. »Schweigt!« Der Befehl Philipps II. ließ sie verstummen, als ob ein glänzendes Schwert ihre Zungen durchtrennt hätte. »Ich möchte Domenikus weiter anhören. Wo hat Euer Vater dieses Gemälde gesehen? Ihr sagtet Neapel?« 72
»Nein, Majestät. Es war in Venedig. In den Verliesen der Stadt, wo er seine Strafe verbüßte. Wie mir meine verstorbene Mutter erzählte, hing es dort bis zu jenem großen Feuer, und seitdem hat man nie wieder davon gehört.« »Ich will, dass dieses Bild gefunden wird! Um jeden Preis. Das ist ein Befehl!« Mit der Hand im roten Samthandschuh gab er ein Zeichen, und die Versammlung löste sich auf. Die Ratgeber erhoben sich gleichzeitig, sodass die Holzstühle großen Lärm auf dem Boden verursachten. Kurz darauf machte ein sehr hagerer Mann in einem weißen Gewand, das zu keinem der bekannten Orden zu gehören schien, ein überraschendes Geständnis. Er sprach ganz langsam, als ob er jedes Wort genau überlegen müsste. »Majestät, ich habe gehört, dass dieses Gemälde schon vor langer Zeit nach Spanien gelangt ist. Und dass es gar nicht so weit weg ist, wie wir glauben.«
*** Acht Monate zuvor war der geplagte Pater Atienza zum ersten Mal nach Mechelen aufgebrochen. Als großer Kenner der flämischen Kunst reiste er allein und erstand dort die ersten Werke. Dennoch erhielt er am Tag seiner Rückkehr die strengste Rüge, an die man sich im Kloster El Escorial erinnern konnte. Die Werke, für die er sich entschieden hatte, stammten zwar alle von dem geheimnisvollen Maler, doch hatten sie nichts mit dem zu tun, was der König konkret verfolgte. Eines davon war Das Steinschneiden, ein anderes Die Anbetung der Heiligen Drei Könige, die beide heute im Prado in Madrid zu sehen sind. Der Geistliche hatte sie gewählt, weil sie ihm konventioneller und schöner erschienen als der Rest, den er dort zu sehen bekam. Die übrigen Bilder hatten ihm nicht nur missfallen, er hielt sie sogar 73
für Werke des Teufels, die für die unreinen Geister gemalt worden waren. Daher missachtete er den eigentlichen Auftrag seines Königs: »Besorg mir ein Gemälde von Hieronymus Bosch, das zum ersten Mal in der Geschichte eine teuflische Gestalt zeigt und in der Lage ist, jeden in seinen Bann zu ziehen, der es lange betrachtet.« Als Pater Atienza ohne ein solches Bild wiederkehrte, wäre er beinahe eingesperrt worden, weil er eigenmächtig entschieden und sich nicht an die königliche Anordnung gehalten hatte. Er sah sich gezwungen, eine weitere Reise mit genaueren Anweisungen anzutreten. Gesenkten Hauptes kehrte er am 2. Juni 1593 nach El Escorial zurück, mit zwei Gemälden im Gepäck, für die er ein wahres Vermögen bezahlt hatte. Noch in der gleichen Nacht ließ Philipp II. die Bilder direkt in seine Gemächer bringen. Bei einem dieser Bilder handelte es sich um Die sieben Todsünden, welches sich ebenfalls im Prado befindet. Eine Art großes göttliches Auge offenbart darauf die weltlichen Schwächen. Das andere Gemälde ging während eines großen Feuers im Kloster nach dem Tod des Königs verloren und regt bis heute die Phantasie von Kunsthistorikern und Sammlern an. Die meisten sind sich jedoch darin einig, dass es sich um ein spätes Werk im Leben des Künstlers handelt. Dieses Gemälde wird im alten Inventarverzeichnis der königlichen Säle des Klosters mit einer kurzen Beschreibung erwähnt: »CL7 – Der Antichrist oder Die Nacht ohne Christus. Gemälde des Malers aus Brabant, genannt van Akne, auch bekannt unter dem Namen Hieronymus Bosch. Ort: königliche Gemächer.« Von diesem heute verschollenen Bild hielt der Historiker Lamarcus folgende Daten fest: Der Antichrist Öl auf Holz 74
Maße: 120 x 150 Standort: El Escorial Datierung: 1499? Status: Verschollen Wir können dieses Werk aufgrund von Abbildungen beschreiben, die zu einem viel späteren Zeitpunkt in der Werkstatt des Druckers Heinz Küipper heimlich hergestellt worden sind. Diese basieren auf Kopien des so genannten Bosch-Zirkels, der im Laufe des 16. Jahrhunderts aktiv war. Diese Bosch-Anhänger waren der Symbologie und Kunstfertigkeit ihres Meisters zugetan. Sie nahmen einige der Themen der verbotenen oder verbrannten Bilder Boschs wieder auf und stellen heutzutage den einzigen Zugang zur Ikonographie der Originalgemälde dar. Der Kontext, in dem das Bild entstand, ist das apokalyptische Europa, das sich vor dem Antichristen fürchtet: Als erklärter Feind Gottes und der Menschheit kehrt er als mächtiger König auf die Erde zurück. In der grausamen Darstellung von Hieronymus Bosch wird er erstmals als Neugeborenes dargestellt. Dieses Kind ist die zentrale Figur der Komposition. Es lächelt und zeigt dabei wie bei einer Schlange zwei lange Schneidezähne. Es hat vereinzelte Haarbüschel auf dem Kopf und sitzt auf einem königlichen Thron, der auf vier robusten Löwenköpfen ruht. Seine Augen haben keine Pupillen: Es sind weiße, glänzende und ausdruckslose Kugeln. Es trägt ein goldenes Zepter in der Hand sowie eine lange rötliche, mit Schmuck und Medaillen besetzte Tunika am Körper. Auf dem Kopf befindet 75
sich eine kleine mit Edelsteinen besetzte Krone. Auf der Stirn prangt eine scheinbar eingebrannte Ziffer: 666. Dahinter ist eine Hügellandschaft mit einem Scheiterhaufen dargestellt. In den Flammen erscheint eine robuste Frau, die um die Taille an einen großen Pfahl gebunden ist und die Arme schreiend in die Höhe streckt, wobei sie die Handflächen in einer Art letzter feierlicher Pose nach vorne hält. Es handelt sich zweifellos um die Verbrennung der Ketzerin Margarita Porete im Jahre 1310. Anstelle der Initialen I.N.R.I. findet sich diese Jahreszahl in römischen Zahlen auf dem Holzpfahl. Porete wurde verfolgt, verurteilt und in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt, zusammen mit den Exemplaren ihres verbotenen Buches Miroir des simples âmes (Spiegel der einfachen Seelen), einem Abriss der Ketzerlehre der Brüder und Schwestern des freien Geistes. Dies waren Adamiten, eine Sekte, die sich schwere Kämpfe mit der Kirche lieferte und brutal verfolgt wurde. Sie lebten in Armut und glaubten nicht an die Erbsünde, da sie dieses Konzept der Kirche für viel negativer hielten als das eigentlich Böse im Menschen. Nach ihrer Überzeugung hatte Gott die Menschen als unvollkommene Wesen erschaffen, die ihren Instinkten nicht entgehen können. Das Leben im völligen Einklang mit den natürlichen Trieben war für die Adamiten der einzige Weg zu der von ihnen definierten Wahrheit: das wahre Paradies vor der Erbsünde. Zwar fürchteten sie die Verfluchung mancher Seelen, aber interessierten sich brennend für deren Angaben über die andere Seite. Das Begräbnis wurde abgelehnt. Im Todesfall praktizierte man die rituelle Einäscherung. 76
Die Mitglieder verstanden sich nicht als Anhänger Gottes, sondern als dessen Erleuchtete. Weder akzeptierten sie die Jungfrau Maria noch die Heiligen. Die Institution Kirche erklärten sie zu ihrem Feind, da sie an eine direkte Verbindung zu Gott glaubten. In einigen späteren Abspaltungen der Sekte, für die Hieronymus Bosch scheinbar schon frühzeitig Sympathie hegte, entwickelten die Mitglieder einen blinden Hass auf die Vertreter der Kirche, die sie für die wahren Feinde und Unterdrücker der Welt hielten. Vor diesem Hintergrund und angesichts des zwar unauffälligen, aber mit einer einfachen Lupe gut erkennbaren, verkehrten Kreuzes sowie der zwei am rechten Rand dargestellten Schweine in Nonnenhauben – die Hieronymus Bosch Jahre später an gleicher Stelle im Garten der Lüste abbilden wird –, ist es nicht verwunderlich, dass dieses Werk auf den theologischkünstlerischen Index verbotener Werke innerhalb des Klosters El Escorial kam, sobald Pater José de Atienza das Bild ausgepackt hatte. Nur ein direkter Befehl Philipps II. bewahrte das Gemälde vor der unmittelbaren Zerstörung. Die Inschrift auf dem Umhang des apokalyptischen Kindes lautete: »Der Antichrist wird der letzte Mensch sein und bei der Geburt zwei Zähne haben.«
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10 »Hinrichtung eines Verbrechers durch Erdrosselung am Knüppelgalgen.« Während sich Sebastián Márquez an einem Waschbecken an der Wand die geschwärzten Hände wusch, hielt ich die Druckplatte unter eine der alten Lampen der Werkstatt. Er trocknete sich mit der Lederschürze ab, stellte sich neben mich und legte den Zeigefinger auf das Gesicht des Sterbenden. »Er starb durch einen Vorläufer der berühmten Würgschraube ganz im Stil von Goyas Schwarzen Bildern.« »Und über so etwas Makaberes willst du ein Buch machen?«, fragte ich. »Auf jeden Fall. Eine meiner limitierten Auflagen. Du kennst mich ja mittlerweile.« In dieser Woche war ich bereits unzählige Male in der kleinen Druckerwerkstatt von Sebastián Márquez gewesen. Ich hatte sofort Vertrauen zu ihm gefasst, und bei unseren Gesprächen schien er mir über ein schier unbegrenztes Wissen zu verfügen. Wir duzten uns inzwischen, und ich zögerte nicht länger und zeigte ihm die letzte Reportage von Lucas Galván, die Fotos und signalisierte mein großes Interesse an Hieronymus Bosch. Der Maler aus Herzogenbusch übte auf uns beide gleichermaßen eine besondere Anziehungskraft aus. »Er war eines der größten Genies der Welt, doch komischerweise weiß man nicht, wann er genau geboren wurde, welcher Schule er angehörte, für wen er seine Bilder malte oder was er uns mit seinen Werken sagen wollte. Es existiert keine einzige Schrift aus seiner Feder. Man weiß noch nicht einmal, ob das
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berühmte Porträt im Alter tatsächlich ihn darstellt. Man weiß auch nicht, wie er gestorben ist …« Grauhaariger Pferdeschwanz, Kordhose und altmodische Brille: Das war Sebastián, früher einmal angehender Priester und seit dreißig Jahren Verleger exklusiver Fachbücher. Das wenige, was ich über seine Biographie wusste – seine wechselnden politischen, philosophischen und religiösen Überzeugungen –, hätte allemal dazu gereicht, einen seiner in Kalbsleder eingeschlagenen Bände zu füllen. »Von diesem Galván«, sagte er jetzt und kniff dabei die Augen zusammen, wie jemand, der angestrengt in die Vergangenheit zurückblickt, »ist mir schon vor über dreißig Jahren etwas zu Ohren gekommen. Ich erinnere mich dunkel an seine nächtliche Sendung über Horrorgeschichten. Aber damals ahnte ich nichts von seinem sonderbaren Interesse für Bosch.« Durch seine Liebe zum Beruf – und dank einer beträchtlichen Erbschaft – war Sebastián das lebendige Beispiel für einen glücklichen Menschen. Er genoss, was er tat. Leute wie ihn gibt es nur noch selten, mit diesem Glanz in den Augen, weil sie in ihr eigenes Dasein verliebt sind. Zwar war sein Glaube nicht mehr so stark wie früher – weder an den Katholizismus noch an die Lehren einzelner Orden, in denen er Mitglied war –, doch er machte Bücher. Und er liebte diese Verdammten. »Du siehst übrigens schlecht aus. Du bist leichenblass«, sagte er, als er mich unter dem Schein der Glühbirne genauer ansah. An diesem Abend war ich sicher kein schöner Anblick. Die Angst und das Fieber hatten sich mir in dunklen Augenringen ins Gesicht gebrannt. »Mir geht’s nicht gut mit dieser Sache. Es geschehen Dinge … rätselhafte Dinge.« Sebastián hängte seine Kluft auf eine Art Fleischerhaken und öffnete die Tür. Ein Windstoß ließ einige Papiere herumwirbeln.
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»Hast du schon die Ergebnisse der Fotoanalysen?«, fragte er und gab mir seinen karierten Schal, bevor er hinter uns abschloss. »Offenbar ist es keine Montage.« Wir traten auf die Straße Tres Cruces, die trotz des bevorstehenden Weihnachtsfestes leer war. Von weitem drang der Klang von Weihnachtsliedern aus den großen Kaufhäusern mit ihren Menschenmassen zu uns herüber. Die etwas düstere Gegend, in der sich Sebastiáns Werkstatt befand, lag am Rande der Einkaufszone. Es war die letzte Bastion des ursprünglichen Madrid, ein nahezu schmuckloses Viertel, in dem die Zeit stehengeblieben war. Eine Enklave, wo noch einige Kunsthandwerker, Schuhmacher oder Gerber zu finden waren: kleine Werkstätten mit grellem Licht und Holzregalen, in denen die Besitzer hämmerten, während im Hintergrund das Radio auf dem Ladentisch lief. Außerdem gab es noch Lebensmittelgeschäfte mit den Gemüsekisten auf den Gehwegen und alten Zeigerwaagen neben dem Kalender. Drinnen wartete vielleicht ein Kunde, der genauso alt war wie der Besitzer selbst. Kein Vergleich zu dem Trubel vier Straßen weiter. »Ich fühle mich in diesem Viertel sehr wohl. Jeder kennt jeden, weißt du? Im Grunde sind wir wie ein Zunftdorf im Mittelalter«, erklärte Sebastián, als er die Hand hob, um einen Friseur im weißen Kittel zu begrüßen. So war Sebastián, enthusiastisch und rastlos, auch wenn sein laufendes Konto einer täglichen Anstrengung nicht bedurfte. Sein Verlag – spezialisiert auf Kunstgeschichte und Okkultismus – warf genug für ihn und seine zwanzig Mitarbeiter ab. Doch sobald es ihm möglich war, verließ er das moderne Gebäude mit der großen Fensterfassade, um in diese kleine Welt abzutauchen, die selbst Gutenberg in Begeisterung versetzt hätte: Es war ein Mikrokosmos aus Druckplatten, dunklen Räderwerken, Hebeln und dem Duft nach frischen Papierrollen. Hier machte er sich abends ans Werk und erstellte limitierte 80
Auflagen – höchstens fünfzig oder hundert Exemplare. Schmuckstücke für Spezialisten. »Ich wundere mich immer noch über die Leute, die im Zeitalter von Internet und Kabelfernsehen bereit sind, ein Heidengeld für eins deiner Bücher auszugeben.« »Ja, zum Glück! Wir müssen diesen Leuten dankbar sein, da sie Qualität noch zu schätzen wissen und sich dem allgemeinen Einheitsgeschmack entziehen können«, antwortete Sebastián lachend und deutete auf ein Café an der gegenüberliegenden Straßenecke. Während hinter uns die Metallrollläden der Geschäfte einer nach dem anderen krachend heruntergelassen wurden, setzten wir uns an einen der kleinen Tische. Dem vorangehenden Jux folgte nun ein ernster Ton. »Also, erzähl mir von den seltsamen Dingen, die dir passieren.« »Gestern hat mich um drei Uhr morgens das Telefon geweckt, mitten in meinen Albträumen.« »Und weiter?«, fragte Sebastián, während er ein Taschentuch hervorholte, um damit seine Brille zu putzen. »Ich wusste, dass es passiert. Verstehst du? Ich bin aus dem Schlaf hochgeschreckt und habe an sehr seltsame Dinge gedacht und dann …« »Aber dafür gibt es doch eine Erklärung«, unterbrach er mich. »Wenn das Telefon klingelt, während wir schlafen, bauen wir das Geräusch noch in unseren Schlaf ein und wachen dann auf. Wenn der Anrufer es später erneut versucht, glauben wir, es handelt sich um eine Vorahnung.« »Kann ja sein, aber …« »Wer hat dich denn um diese Zeit angerufen?« »Na, deshalb erzähle ich dir das alles ja. Mit solchen Dingen würde ich nie spaßen, und …« 81
»Aníbal, wer war verdammt nochmal am Telefon?« Sebastiáns Augen waren jetzt sehr klein. Bläulich glänzend und von Falten umrahmt, erwarteten sie eine sofortige Antwort. »Niemand. Ich bin rangegangen und da war nichts.« »War niemand dran?«, fragte er ungläubig. »Nein, da war nur noch das Freizeichen. Ich habe wohl nicht rechtzeitig abgehoben.« »Dann hat sich jemand bestimmt verwählt. Du darfst dich da nicht reinsteigern, sonst wird das böse enden.« »Verwählt? Um drei Uhr morgens?« Sebastián blies über seinen Kaffee, nachdem er feststellen musste, wie heiß die Tasse war, die man ihm gerade serviert hatte. Dann sprach er ganz langsam und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Bei solchen Dingen darf man nicht die Nerven verlieren. Ich kenne Leute, die deshalb in der Psychiatrie gelandet sind. Mehrere sogar. Was hier irgendwie deine Aufmerksamkeit fordert, ist vielleicht kein Spiel.« »Könntest du dich bitte klarer ausdrücken«, antwortete ich und wurde zunehmend nervöser. »Das würde aber sehr lange dauern. Ich müsste am Anfang beginnen und dabei Jahre, Jahrhunderte, ach was, Jahrtausende zurückgehen!« »Sebastián Márquez«, unterbrach ich ihn, »komm mir jetzt nicht mit der Antike! Was ist auf den Fotos zu sehen? Was denkst du, was das ist?« Er schien von meiner plötzlichen Aufregung nicht überrascht zu sein. Ihn konnte so leicht nichts aus der Ruhe bringen. Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr dann sehr ernst fort: »Larven.« Wie versteinert wartete ich auf eine logische Erklärung. 82
»Es sind Larven der Angst … und der Schmerzen. Gefäße, in denen die zwei stärksten und dichtesten Energien irgendwie zusammenfließen. Die einzigen Energien, die einen Ort erfüllen können, wenn die geeigneten Bedingungen vorliegen.« »Bedingungen?« »Wenn die drei Elemente vorliegen, ergibt sich eine klare Gleichung«, sagte er, während er mit dem Löffel langsam seinen Kaffee umrührte. »Ich versteh kein Wort. Rede Klartext, Sebastián.« »Mein lieber Aníbal, wenn wir nicht bis zu den Anfängen zurückgehen, bis zum Ursprung, kannst du es weder verstehen noch glauben. Also rate ich dir …« »Aber was zum Teufel soll denn das mit den Larven? Und was sind das für drei Elemente?«, unterbrach ich ihn gereizt. Aber es war mir nicht möglich, mehr Informationen aus ihm herauszuholen. Sebastián bestand darauf, dass ich auf ältere Quellen zurückgriff. Ich war fassungslos. »Du siehst das alles so entspannt, weil ich dir noch nichts von der Stimme erzählt habe, die ich auf dem Friedhof aufgenommen habe. Du weißt auch noch nichts über …« »Das ist auch gar nicht nötig«, bemerkte er scharf, »da im Grunde alles auf ein Kräftemessen hinausläuft. Ich kann dir nur einen Rat geben: Wenn die Sache dich fertigmacht, lässt du es besser bleiben. Und zwar sofort. Solltest du Angst bekommen, gib auf! Mach Schluss! Du wirst schon sehen, wie dann alles verblasst, bis es schließlich ganz verschwindet. Wie ein böser Traum.« »Na ja, es ist nicht unbedingt Angst, es ist eher …« »Das ist eindeutig Angst. Und man muss sich deswegen nicht schämen«, urteilte er bestimmt. Wie jemand, der möglicherweise irgendwann in der gleichen Situation gewesen ist. 83
Einen Moment lang schwiegen wir, und ich konzentrierte mich auf den schwarzen Kaffee. Ich wusste, mein Freund hatte nicht ganz unrecht. Er wollte nur das Beste für mich, denn ich hatte wirklich Angst. »Du hast jahrelang über Okkultismus geforscht. Ich muss wissen, ob das alles wahr ist. Du bist der Einzige, der mir helfen kann. Jetzt oder nie.« Sebastián runzelte die Stirn, als ob ihm der Begriff nicht gefiel. »Das ist weder Okkultismus noch Esoterik, sondern schlicht und einfach die Natur der Dinge. Die Sache ist nämlich so: Es gibt eine Seite, über die nie gesprochen wird. Sie ist da, aber wir wollen sie nicht sehen, weil sie uns Angst macht und unser bequemes und rationales Denken in tausend Stücke reißen würde. Ein Denken, das uns seit ein paar Jahrhunderten durch Wissenschaftler auferlegt wird, die genauso dogmatisch wie die alten Geisterbeschwörer sind. Dank ihrer modernen Doktrin leben wir, ohne uns über das Übernatürliche zu kümmern, wie der Esel mit Scheuklappen, der darauf wartet, dass sein Herr ihn mit dem Stock führt. Aber nichts von all dem, was ich dir hier erzähle, lässt sich beweisen. Man wird immer sagen können, dass du verrückt geworden bist. So ist es vielen ergangen. Und so wie die Inquisition die Leute früher verbrannt hat, fällt man heute das gleiche Urteil. Auch die Strafe ist dieselbe: die gesellschaftliche Ausgrenzung, Isolation, Vergessenheit.« »Aber ich muss es wissen«, wiederholte ich, während meine Schläfen wieder zu pochen begannen. »Ich will meinen Hörern und Lesern diese Information nicht vorenthalten. Das ist mein Auftrag.« »Ein schönes Klischee. Aber leider falsch«, entgegnete er hämisch. »Wieso?«
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»Das hier ist eine persönliche Sache, die nur dich betrifft. Sie kann dein Leben verändern, aber höchstwahrscheinlich wirst du nie etwas beweisen können. Jedenfalls nicht glaubhaft. So ist das Spiel, und die andere Seite weiß das ganz genau. Wenn du bei allem, was du machst, immer an deine Leser und Hörer denkst, brauchst du es gar nicht erst zu versuchen. Der Preis könnte zu hoch sein. Denk daran, was mit anderen geschehen ist …« »Du meinst Galván?« »Genau. Du willst doch nicht etwa seinem Beispiel folgen?« »Aber ich …«, stotterte ich. »Ich erfülle doch einen Auftrag als Berichterstatter. Du weißt das. Ich muss Beweise für die Leute finden.« »Du brauchst die Beweise nur für dich!«, rief er und zeigte mit dem Finger auf mich. »Alles andere ist egal. Aber was ich dir zeigen kann, ist ganz und gar nicht objektiv. Hier geht es um Überzeugungen und Lehren über ein Universum, das immer im Verborgenen geblieben ist. Vergiss dein neutrales Verständnis vom Journalismus, denn das wird dir in dieser anderen Welt nichts nützen. Wenn man die Sache falsch angeht, kann sie einen vernichten. Ich habe dir schon gesagt, dass Freunde von mir genau jetzt in einer Gummizelle im Irrenhaus sitzen, während sie mit den Schatten ein Gespräch führen, das nur sie verstehen.« In diesem Augenblick sah ich, wie seine Augen feucht wurden. »Und so verbringen sie Monate, Jahre. Mit der Zwangsjacke als einziges Kleidungsstück. Kollegen von mir, die sich auf der dunklen Seite verlaufen haben und mich nicht mehr erkennen.« Vorsichtig legte ich ihm die Hand auf die Schulter. Nach einem langen Schweigen hob er den Blick und fuhr fort: »Du bist zufällig auf etwas gestoßen, und es überrascht dich. Aber für mich ist alles klar. Es ist eine Frage des Glaubens.« 85
»Aber ich suche keinen Glauben, Sebastián, ich suche Beweise. Ich bin ein seriöser Journalist.« Er warf zwei Münzen auf den Tisch, stand auf und zog sich seinen grauen Mantel über. »Ein seriöser Journalist? Ja, sicher. Das meine ich ja. Das hier kann man nicht beweisen, aber es existiert. Und das sage nicht nur ich, das sagen dir auch die Erleuchteten vergangener Jahrhunderte. Sieh dir die schrecklichen Gemälde von Hieronymus Bosch an.« »Wieso?« »Diese Werke spiegeln etwas Boshaftes und Magisches wider und verdeutlichen auf den ersten Blick, dass man besser niemals in diesen Nebel eindringt. Es sind Werke von Menschen, die Dinge gesehen haben, die für uns unvorstellbar sind.« »Weil diese Künstler Dinge mitansehen mussten, die heutzutage nicht einmal in unseren schlimmsten Albträumen auftauchen: Ketzerverbrennungen, Kreuzzüge, die Pest …« »Das und noch vieles mehr.« »Meinst du die Gemälde von Hieronymus Bosch, die im Prado hängen?« Als er meine Frage hörte, ließ sich Sebastián wieder auf den Stuhl fallen. Dann sprach er sehr langsam und in einem feierlichen Ton: »Hast du dir zum Beispiel den rechten Flügel vom Garten der Lüste genauer angesehen? Viele nehmen lediglich die mehr oder weniger berühmten Figuren und Qualen wahr. Doch wenn du das Bild ganz genau betrachtest und mit gewissen Codes in sein tiefes Geheimnis eindringst, kann es dich auf die andere Seite bringen.« Ich wagte nicht zu blinzeln. »Aber ich kann dich nur warnen: Wenn du sehr sensibel bist, kannst du mitgerissen werden, von etwas, das noch in der Seele dieser Bilder atmet.« 86
»Die Hölle von Hieronymus Bosch …«, flüsterte ich, während ich mir das große Triptychon in Erinnerung rief, das eine dunkle und bittere Seite hat, die im brutalen Gegensatz zu den bukolischen und glücklichen Paradiesszenen auf den beiden anderen Teilen des Werkes steht. »Er war der Erste, der mit einer Reihe von sehr alten Lehren experimentierte, die im Laufe des Mittelalters in einem langen und blutigen Krieg bekämpft worden waren. Zahlreiche Ketzerbewegungen, darunter auch einige sehr gefährliche Gruppen, sind Ende des 15. Jahrhunderts wiederbelebt worden, was die Kirche natürlich beunruhigte. Hieronymus Bosch spiegelte in seinen Werken die verlorene Essenz wider, und nur Wenige verstanden die Botschaft. Eine Botschaft, die gleichzeitig die Lebensgrundlage und das energetische Prinzip dessen ist, was auch auf den Polaroidbildern vom Friedhof zu sehen ist. Also genau das, was deinen verrückten Reporter gequält haben muss, bis es ihn umgebracht hat.« Sebastián verstummte, vielleicht um die Worte zu analysieren, die nur so aus ihm herausgesprudelt waren. Ich schwieg ebenfalls. »Um zu erkennen, was sich dort verbirgt«, fuhr Sebastián schließlich fort, als er sich erhob, »muss man weit in der Zeit zurückgehen und in eine Welt eintauchen, die kaum Beweise liefert, aber bei der richtigen Einstellung in der Lage ist, uns Gewissheit zu verschaffen.« »Gewissheit ohne Beweise?«, rief ich und folgte ihm auf die schon dunkle Straße. »Genau. Und das …« – er biss die Zähne zusammen – »das zählt mehr als jedes Buch.« Wie früher die Nachtwächter entfernte sich Sebastián langsam auf dem Kopfsteinpflaster. Als er schon fast die nächste Seitenstraße erreicht hatte, rief ich ihm von der beleuchteten Tür des Cafés hinterher: »Hilf mir dabei!« 87
Er machte keinerlei Anstalten, sich umzudrehen und auf mich zu warten. Ich lief ihm nach und sah sein Lächeln im Profil. »Du wirst dich nie ändern«, grinste er, während er sich eine Zigarette in den Mund steckte. »Begleite mich in die Werkstatt, ich will dir etwas zeigen.« Jede Lampe beleuchtete einen bestimmten Bereich im Raum. Ich konnte feststellen, wie der Druck von der Hinrichtung des Verbrechers, der nun auf einem Pult stand, im Gegenlicht einen ganz anderen Eindruck vermittelte. Als ob sich die starren Gesichtszüge der Gestalt verändert hätten. Das war die gespenstische Wirkung von Licht und Schatten, die von den alten Meistern so gut beherrscht wurde. »Mein Wissen über das Universum von Hieronymus Bosch ist eher bescheiden, aber ich bin mit einem der größten Forscher seiner Psyche und seiner Geheimnisse befreundet. Er ist mittlerweile der größte lebende Bosch-Spezialist. Ich habe ihn vor einigen Jahren selbst übersetzt und seine bis dahin unveröffentlichte Untersuchung herausgebracht.« Sebastián reichte mir einen dicken Band, dessen Titelseite das Porträt Hieronymus Boschs zierte. Es war das Gesicht eines faltigen Mannes mit festem und ruhigem Blick. Er trug ein Hemd mit Knopfleiste und eine Art Stoffhut auf dem Kopf. Darunter stand der Titel: Reise ins Böse. Psychologische Analyse der Gemälde von Hieronymus van Akne (Hieronymus Bosch), von Prof. Klaus Kleinberger. »Dies«, erklärte er, während er mit den Fingerkuppen sanft über die Titelseite fuhr, »ist die einzige bildliche Darstellung von Hieronymus Bosch. Eine Radierung, die seine Anhänger angefertigt haben und die nach seinem Tod in der Bibliothek im französischen Arras gefunden wurde. Die Historiker streiten sich noch heute darüber, ob es authentisch ist.«
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»Das ist ja merkwürdig«, sagte ich, ohne den Blick von dem Porträt abzuwenden, das der Zeichnung von Lucas Galván auf dem Rand seines letzten Textes so ähnlich war. »Obwohl wir fast nichts von Bosch wissen, weder von seiner Methode noch von seinen Absichten, ist er heute einer der meistgeschätzten Künstler. Von einigen seiner verbotenen Bilder sind damals Radierungen als Kopien angefertigt worden. Über Nacht wurden sie dann zu Ketzerschöpfungen. Der Scheiterhaufen ist ein trauriges Schicksal!« »Man hat sie verbrannt?« »Ja, und nicht nur die Kopien. Auch Drucker wie Heinz Küipper wurden verurteilt und verbrannt.« »Na, jedenfalls vielen Dank für das Buch! Ich weiß zwar nicht, welche Verbindung zu den Fotos vom Friedhof besteht, aber ich verspreche dir, ich fange gleich heute Abend an, es zu lesen.« »Halt, halt!«, erwiderte Sebastián und riss mir das Buch aus der Hand, als ob sein Leben davon abhinge. »Du willst es mir nicht geben?« »Nein, mein Lieber. Ich glaube, du hast nicht richtig verstanden. Du musst weiter zurückgehen, um zu begreifen. Alles hat einen Weg, und man sollte nicht am Ende anfangen. Du musst die Zeit zurückspulen, bis du beim gleichen ursprünglichen Kern ankommst, aus dem auch er geschöpft hat.« »Das ist doch verrückt. Du hast mir doch gerade versichert, dieser Mann sei der größte Experte auf dem Gebiet? Wo ist das Problem? Ich lese das Buch, und so erfahre ich alles.« »Du wirst noch genügend Zeit haben, Kleinbergers Studien kennenzulernen. Er war Professor in Löwen und ist jetzt an der Sorbonne emeritiert. In ein paar Wochen werde ich ihn in Venedig treffen. Wenn du’s nicht vermasselst, fahren wir zusammen dort hin, und ich stelle ihn dir persönlich vor.« 89
Ich nickte, ohne genau zu wissen, was er meinte und ohne den Blick von diesem hypnotischen, anziehenden Porträt zu lösen. »Es ist ein alter Traum von mir: Ich will in Venedig eine Radierung ergattern, von einem jener Bosch-Werke, die nach dem großen Brand in El Escorial verschwunden sind.« »Ja, aber … Warum lächelst du?« »Weil es schon merkwürdig ist. Das Feuer an jenem Weihnachten im Jahre 1598 nach dem Tod des Königs vernichtete nur die Werke bestimmter ketzerischer Künstler, während es andere verschonte.« »Also wurde das Feuer gelegt?« »Na ja, das erzählt dir besser Klaus.« Sebastián lachte jetzt wie ein Kind und verscheuchte mit einer Geste die sorgenvolle Miene, die er während des gesamten Gesprächs hatte. »Was ist denn auf dem Bild zu sehen, das du kaufen willst?« »Ach, du willst immer alles gleich ganz genau wissen, aber ich habe dir schon gesagt, so einfach geht das nicht«, erklärte Sebastián, während er das Buch exakt auf den gleichen Stapel zurücklegte, von dem er es zuvor genommen hatte. »Alles zu seiner Zeit!« Mit diesen Worten verschwand er im hinteren Teil der Werkstatt. Fünf Minuten später kam er mit verstaubter Brille und sichtlich stolz mit einem Buch in den Händen zurück. Es war so abgenutzt, dass auf dem alten grünen Einband kaum noch etwas zu erkennen war. »Nimm das mit nach Hause, lies und erinnere dich. Dort fängt alles an.« »Und das soll mir das Rätsel der Fotos offenbaren?«, fragte ich enttäuscht und blätterte in dem Wälzer. Sebastián setzte sich auf seinen Hocker und kehrte mir beleidigt den Rücken zu. 90
»Du bist einfach nicht in der Lage, etwas weiter zu denken. Und das ist dein größtes Problem. Es ist das Problem von allen, die wie du nur für den Tag leben. Ihr seid übersättigt von so vielen Nachrichten, so vielen Neuigkeiten. Ihr ruht nicht in dem, was wirklich wichtig ist, was wesentlich ist …« »Und was ist das Wesentliche? Hieroglyphen?«, fragte ich erstaunt. »Lies und erinnere dich. Du hast mir erzählt, du bist mehrmals in Ägypten gewesen, und ich sage dir, dieses Buch wird dein Gedächtnis sofort auffrischen. Probier es aus, und wir reden morgen weiter.« Während ich nach Hause ging und gegen die bleierne Schwere ankämpfte, die mich plötzlich überfiel, versuchte ich, seinem Rat zu folgen. Also fing ich an, mich zu erinnern und in der Zeit zurückzureisen, so wie er es mir geraten hatte. Ich blickte in das Buch in meinen Händen. Es war eine alte Ausgabe des ägyptischen Totenbuchs.
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11 Die hungrige verlorene Seele der Toten kann in ihr irdisches Zuhause zurückkehren und jene vor Schrecken aufheulen lassen, die sie nähren sollen, von Generation zu Generation. Ja, verflucht seien alle, die es zulassen, dass sich die Vergessenen in den schwarzen Schatten des Khaivit verwandeln, während sie in der Stille der Nacht ihr Wehklagen hinausschreien … Als ich die erste Seite aufschlug, stieß ich auf eine Begebenheit, die sich in einer bestimmten Nacht und an einem ganz bestimmten Ort in Ägypten zugetragen hat: Im Inneren der Großen Pyramide von Gizeh ging ein Flehen durch die tausend Jahre alte Dunkelheit: O Khaivit! Du zweifaches Wesen, das von der reinen Seele und dem irdischen Körper getrennt ist. Bleib in dieser Stätte und vollende deine Mission, so wie es das Wissen der Ewigkeit vorsieht! Langsam begann ich die Zeilen aus dem Buch mit meiner zweiten Reise nach Kairo zu verknüpfen. Die Sätze, die ich fünf Jahre zuvor auf Arabisch gehört hatte, als sie im tiefsten Inneren der Pyramide widerhallten, während ich den Druck von zwei Millionen Steinblöcken über unseren Köpfen spürte. Es war unser alter Führer Nabbil Arab, der dieses Gebet sprach, um die Ruhe der Schatten nicht zu stören, die sich seinem Glauben zufolge seit Anbeginn der Zeit dort versammelten. 92
»Das machen wir jedes Jahr, um den Ort zu reinigen und die Seelen zu besänftigen. Auch unsere Vorfahren haben das schon so gemacht. Sie brachten Essen, Amulette und Schmuck, damit ihr umherirrender Geist eine Zeit lang eingeschlossen blieb und beschäftigt war.« Ich erinnerte mich: Das Echo seiner heiseren Stimme in den Gängen war beängstigend. Nach der Überlieferung durfte man nur in dieser einen Nacht hineingehen. Zweimal dort einzudringen wäre der sichere Tod. So war es zumindest in den vergangenen dreitausend Jahren gewesen, und vielleicht krochen wir deshalb etwas nervös auf dem Bauch durch den schmalen Gang, während wir mit unseren Köpfen ständig an die niedrige Decke stießen. Doch die Gelegenheit, an der Zeremonie teilnehmen zu können, war es mir wert. Ich nahm das beklemmende Gefühl in Kauf, in einem sechzig Meter langen unterirdischen Schlauch fast zu ersticken. Als ich so zwischen dem Führer und meinem Freund, dem Archäologen Ignacio Cabo, eingekeilt war, dachte ich einen Moment daran, wie furchtbar es wäre, dort eingesperrt zu sterben. »Eines Nachts im Jahre 1000 nach eurer Zeitrechnung versammelten sich hier viele meiner Vorfahren. Man weiß nicht warum, aber sie erstickten alle. Deshalb nennen wir diesen Teil in meiner Familie Das lange Grab.« Ich wollte über den überaus angebrachten Kommentar lachen, ließ es aber bleiben, um nicht noch mehr Staub zu schlucken, der bei der geringsten Unachtsamkeit in den Mund drang und sich an meine Kontaktlinsen heftete, bis es unerträglich juckte. »Bist du frei von Schuld?«, rief mir Nabbil plötzlich zu. Ich konnte nur seinen riesigen Hintern und seine Sandalen vor mir sehen. »Was? Was soll das denn jetzt heißen?«, rief ich zurück und hielt unvermittelt an, sodass ich der Taschenlampe meines Kollegen direkt hinter mir einen Tritt versetzte. 93
»Wenn du in deinem Inneren nicht rein bist, solltest du nicht hineingehen«, erwiderte unser Führer, während er wie ein gestrandeter Wal die Öffnung zur Kammer verstopfte. Er machte mir Angst. Ich wollte hier nicht sterben. Wäre ein Messer zur Hand gewesen, hätte ich vielleicht ohne weiteres zum Verbrecher werden können … Sollte etwa die Theorie stimmen, nach der sich im Herzen der Pyramide das Gute und Schlechte im Menschen bemerkbar macht? In dieser Sekunde erwachte zweifellos meine dunkle Seite. »Ja, sind wir!«, riefen Ignacio und ich gleichzeitig und leuchteten völlig geschwächt mit unseren Taschenlampen zur Öffnung. »O mächtiger Khaivit!«, rief Nabbil in gequältem Ton und kniete nieder, damit seine schwarze Stirn den Boden berührte. »Möge dein Unheil in dieser Höhle eingesperrt bleiben. Kehre nicht an andere Orte zurück, um die Deinigen zu ängstigen! Ruhe hier oder geh zurück in die andere Welt!« Es war eine unheimliche Erinnerung. Aber, was hatte dies wohl mit den Recherchen zu Galváns Tod zu tun? Welche Verbindung gab es zu den Fotos vom Friedhof aus seinem letzten Artikel? Und zu den Gemälden von Hieronymus Bosch? War es wirklich nötig, wie Sebastián meinte, bis zum Anbeginn der Zeit zurückzugehen? Ich legte mich mit dem Rücken aufs Bett und hielt mir das offene Buch so nah vor das Gesicht, bis ich fast mit der Nasenspitze daran stieß. Ich sah die schwarze Gestalt wie eine abgehobene Silhouette, die über dem Boden schwebte. Liegt der Schlüssel in diesem Bild? War es das, was Sebastián mir sagen wollte? Waren das die Larven, die seit Anbeginn der Zivilisation mit uns zusammenlebten?
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Vernachlässigung oder unterdrückte Bosheit können zwischen den zwei Welten einen verlorenen Schatten hervorbringen, der das Licht nicht erreicht und umherirrt, ohne zu wissen, an wen er sich wenden soll. Meidet ihn! Sucht nicht die Begegnung, oder er wird zu euch kommen, angezogen vom Licht in eurer Seele. Ich war damals mit dem Ziel nach Ägypten gereist, eine ausführliche Reportage für die Zeitschrift zu machen, bei der ich in jener Zeit arbeitete. Dabei stieß ich auf Passagen aus dem Totenbuch des königlichen Schriftgelehrten Ani, einem umfangreichen Abriss von Texten, die vor viertausend Jahren als Handbuch über die Lehren des Übergangs in die andere Welt zusammengestellt worden waren und die man in den Pyramiden gefunden hatte. Während ich nun auf meinem Bett lag, erinnerte ich mich an die Worte unseres alten Führers: »Der Khaivit muss sein Schicksal verstehen und ins Licht aufsteigen. Er darf nicht hierbleiben«, sagte Nabbil, während er seine Hände auf den Boden presste und einen Abdruck im gelblichen Staub hinterließ. »Die Handflächen mit den gespreizten Fingern waren ein überliefertes Zeichen derer, die das Geheimnis kannten. Ein Zeichen der Eingeweihten, die mit den Schatten in Verbindung standen. Meine Spuren dienen der Verbindung mit der anderen Seite. Sie drücken meinen Respekt und meine ewige Verehrung aus.« Wie hätte ich seine Worte vergessen können? Als wir bei unserer Expedition in die Pyramide das Ende der Kammer erreichten, die nur schwach beleuchtet war, überkam mich ein Schaudern, wie ich es nur ganz selten in meinem Leben erlebt habe. Das war also der Ort, an dem Bonaparte eine Nacht im Ungewissen verbracht hatte. Völlig ausgemergelt war er wieder herausgekommen und hatte seinen Biographen befohlen, jegliche Anspielung an das Erlebnis zu streichen. 95
Als ich nach oben blickte, stellte ich fest, wie die Felswände, die scheinbar von riesigen Fingernägeln einer primitiven Gottheit durchbohrt worden waren, in unendliche Höhen ragten, deren Ende mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Der Lichtstrahl der Lampe brach auf halbem Wege ab, als ob die Elektrizität jenen heiligen und geheimen Bereich nicht entweihen sollte. Unser Führer hockte sich in den Lotussitz. Ich beschränkte mich darauf, die Szene im Stehen zu verfolgen, während er uns anwies, alle Lichter zu löschen. »Es muss vollkommen dunkel sein!« Obwohl ich zunächst misstrauisch war, gehorchte ich. Der tiefe Kern der Pyramide wurde wieder in eine dichte Dunkelheit gehüllt, und ich konnte die Hand vor Augen nicht mehr erkennen. Das Gefühl, plötzlich keine Luft mehr zu bekommen, war kurze Zeit später so groß, dass ich glaubte, ich müsste durch den Sauerstoffmangel in Ohnmacht fallen. Ich entschied mich hinauszugehen und schleppte mich wie ein Schiffbrüchiger durch den schmalen Gang. Meinen Freund und den Ägypter ließ ich hinter mir zurück. Wenige Minuten später kam auch Ignacio völlig verwirrt und bleich heraus. Nabbil allerdings lächelte. Ich erinnere mich, wie Ignacio, dieser sachliche und rational denkende Wissenschaftler, auch einen Tag nach unserer unvergesslichen Expedition immer noch sehr mitgenommen war. Beim Frühstück im Hotel neben dem Pool brach es schließlich aus ihm heraus, und er gestand mir, dass er die ganze Nacht furchtbare Albträume gehabt hatte. Mehr wollte er mir nicht sagen. Eine Stunde später im Tal der Könige suchte er die Fresken nach einer Darstellung ab, die ihm in seinen Träumen erschienen war. »Wenn die Seele von den Schatten beherrscht wird, von den niedersten Instinkten, ohne Neigung zum Licht, heißt sie 96
Khaivit. Und das fürchteten die Vorfahren dieser Herren mehr als alles andere auf der Welt«, erklärte er mir, während er auf einen bestimmten Punkt in dem länglichen und einsamen Grab zeigte. Ich habe nie erfahren, was Ignacio im Herzen der Pyramide widerfahren ist. Seitdem war er nie wieder der Alte und wurde zu einem schweigsamen und mürrischen Menschen. Am Ende dieser vor viertausend Jahren bemalten Mauer sah ich die Darstellung eines dunklen Wesens ohne Gesicht. Es blickte auf eine Gestalt, die neben ihm lag und scheinbar gerade gestorben war. In der nächsten Szene hatte der Sterbende eine offene Brust, und auf seinem Herzen erschien ein Gesicht mit einem unheimlichen Lächeln. Daneben stand eine Hieroglyphe, die mir Ignacio übersetzte. Es war ein seltsames Gefühl, als mein Blick erneut auf das Gesicht mit den weißen Augen fiel, das aus der Brust erwuchs, um sich anschließend in einen Schatten zu verwandeln: Khaivit, der in unserem Tod lebt. Eingesperrt in jahrhundertelange Dunkelheit hatten diese Wesen keine Gesichter, keine Köpfe oder Extremitäten. Die Unvollkommenheit ihrer Seelen hatten sie zu menschlichen Stummeln gemacht. Sie waren boshaft gewesen, hatten das Gute nicht erreicht und kehrten so zurück: deformiert, verkrüppelt, verstümmelt. Ich erinnerte mich an ein bislang unbekanntes Schwindelgefühl, das mich überkam, als ich später im Tal der Könige, auf der Suche nach der verlorenen Sprache der Toten, in die letzte Ruhestätte Ramses’ VI. hinabstieg. Dieses Gefühl war so ähnlich wie auf dem vergessenen Friedhof mitten in Kastilien! In dieser Nacht, als mir der Schweiß am ganzen Körper herunterlief, spielte ich im Geiste immer wieder diese Szene ab, pausenlos, als würde sie durch einen unermüdlichen Motor 97
projiziert. Wieder und wieder. Bis zum Delirium. Bis ich atemlos aufwachte und mich nach allen Seiten umschaute. Ich hatte Angst, mich wieder auf die durchgeschwitzte warme Matratze zu legen. Angst vor der Verbindung, die in meinem Kopf erschien, sobald ich die Augen schloss: die Polaroidbilder vom Friedhof und die Zeichnungen aus den Grabkammern, übereinandergelagert wie alte Dias. Ich war überzeugt davon, dass Galváns Entdeckung kurz vor seinem Tod und die Erscheinungen auf den Fotos mit diesem Phänomen zusammenhingen, mit dem aktiven Prinzip, das schon die alten Ägypter kannten und das unter verschiedenen Namen und Aufmachungen die Menschen seit jeher in Angst und Schrecken versetzt hat. Als ich aufstand, sah ich das Totenbuch auf dem Boden liegen, aufgeschlagen auf der Seite 51. Die so vergesslichen Lebenden dringen zuweilen in ein Universum ein, das nur den ausgehungerten Schatten auf der Suche nach Nahrung gehört. Nur der Priester, der die wahren Schlüssel und Rituale kennt, wird sie an einem einzigen Tag, der durch die Sterne bestimmt wird, von Angesicht zu Angesicht sehen können. Sollte man auf andere Weise und ohne diese Kenntnisse auf sie zugehen, ist man ihnen ausgeliefert. Und sie verpassen keine Gelegenheit, den Unbedachten mitzureißen. Über den Tod hinaus. Bis ins ewige Nichts.
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12 »Das war das letzte Mal, dass ich seine Stimme hörte. Er atmete schwer und faselte wirres Zeug am Telefon. Wie jemand, der den Verstand verliert.« Helena empfing mich in ihrer beeindruckenden Wohnung in der besten Gegend Barcelonas. Mittlerweile hatte ich mich vom Fieber erholt und versuchte in meinem besten Anzug einen guten Eindruck zu machen. In dem einzigen Anzug, den ich besaß. »Er sagte, er würde jetzt alles verstehen, und fing an zu lachen. Ich schrie ihn an, aber er antwortete nur mit unverständlichen Worten, die arabisch klangen, als ob er beten würde oder so. Voller Angst legte ich schließlich auf.« Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Schließlich holte ich ein Buch aus meinem Koffer hervor und legte es unvermittelt auf den Tisch. »Was halten Sie davon?« Helenas Reaktion werde ich nie vergessen. Sie krallte ihre Hände in den Sitz und wich instinktiv zurück. »Ganz ruhig! Ich weiß nicht, ob Ihnen Lucas in seinen letzten Tagen hiervon erzählt hat. Sollte er das getan haben, wüsste ich gerne, ob …« »Der Meister«, unterbrach sie mich. »Wie bitte?« Mein Erstaunen schien Helena noch mehr Angst einzujagen. »Der Meister! Genau das hat er bei seinem letzten Besuch in der Redaktion mehrmals gerufen. Ich hörte, wie er in Gisberts Büro laut schrie, dass in jenen Bildern die ganze Wahrheit sei, und er irgendwas entdecken würde, das ihn unsterblich macht.« 99
»Und hat er Ihnen sonst nichts gesagt?« Einen Moment lang befürchtete ich, Helena könnte erneut in Tränen ausbrechen. Wahrscheinlich bekam man die Chefredakteurin der Zeitschrift Perfect Woman nicht häufig so zu sehen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Irgendetwas ließ sie nicht los. »Das alles ist sehr schmerzlich für mich. Eigentlich war er zu dem Zeitpunkt schon ein ganz anderer Mensch.« »Es ist wirklich enorm wichtig für mich, dass Sie sich erinnern, Helena. Vielleicht sind wir kurz davor zu erfahren, was mit ihm geschehen ist, verstehen Sie?« »Manchmal frage ich mich, ob man nicht besser alles so belässt, wie es ist. Das dachte ich jedenfalls, bevor ich Sie anrief. Es geht mir nicht gut dabei, das alles wieder aufleben zu lassen.« Ich nahm ihre Hand und drückte sie ganz fest. »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Ich glaube, wir sind dabei, auf etwas Wichtiges zu stoßen.« Sie nickte schweigend und hatte einen traurigen Glanz in ihren Augen. Dann schenkte sie sich einen Whisky ein. Ich folgte ihrer Einladung und nahm auf dem riesigen Ledersofa Platz. »Damals, bei seinem letzten Besuch in der Redaktion, war er bereits in Toledo gewesen, oder?« »Ja. Er hatte Universo schon vor einiger Zeit verlassen. Und das Radio auch. Er hatte mit allem und jedem gebrochen.« »Und er war mittellos?« »Ich glaube, der arme Lucas hatte nicht mal genug, um zu essen.« Wenn meine Informationen stimmten, trug er an jenem Nachmittag, an dem seine Leiche gefunden wurde, seinen abgetragenen Mantel und eine Kordhose. Er hatte kein Hemd an, und es fehlte ihm ein Schuh. 100
»Ich habe ihn geliebt. Auf meine Weise. Aber ich wusste, es gab keine Zukunft für uns«, sagte Helena plötzlich, als wollte sie etwas loswerden, das sie bis dahin nicht hatte zugeben können. Wieso hatte ich diesen Satz erwartet? Ich nahm die silberne Zange und holte einen Eiswürfel aus der Schale, der laut auf den Tisch fiel. »Er war der typische Abenteurer«, fuhr sie mit einem spontanen Lächeln fort, als sie sah, wie ungeschickt ich mich anstellte. »Unerschrocken und verrückt. Er umgarnte jeden mit seiner leidenschaftlichen und wilden Art zu sprechen. Er gehörte zu denen, die das Leben in vollen Zügen genießen, ohne an den nächsten Tag zu denken.« »Es war wohl reichlich Alkohol im Spiel«, stellte ich fest und schaute zur offenen Whiskyflasche auf dem Barschrank hinüber. »Ja, aber auch nicht so viel, wie Ihnen wahrscheinlich manche weismachen wollen. Sie kennen ja die Welt des Journalismus. Alles dreht sich ums Ego, dazu kommt der Neid … Und Lucas war natürlich für viele eine Zielscheibe.« »Warum war er so anders als die anderen?« Sie schloss kurz die Augen, als ob sie sich in rasender Geschwindigkeit in die Zeit zurückversetzen würde. »Er war engagiert. Er glaubte an das Jenseits, an das Unbekannte, an … Haben Sie seine Reportagen gelesen?« Ich nickte und beschloss, etwas persönlicher zu werden. »Stimmt es, dass er Erfolg bei den Frauen hatte?« Helena senkte abrupt den Blick hinunter auf ihre Schuhe, was vermutlich an meiner plötzlichen und unüberlegten Indiskretion lag. »Er war anders und hatte ein eigenartiges, düsteres Gesicht, aber er gefiel, gerade weil er anders war. Seine Ausstrahlung ist schwer zu beschreiben. Nur wenige Menschen haben so etwas 101
an sich. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Er tauchte in jede seiner Geschichte ein und lebte nur noch dafür. Er ließ sich bis zum Äußersten mitreißen. Und manchmal, ziemlich oft sogar, hielt er leidenschaftliche Reden, mit denen er seine Zuhörer begeistern konnte. Als es ihm noch gutging, schilderte er uns in der Redaktion schreckliche Ereignisse, über die er berichtet hatte. Er spielte sie nach, imitierte Stimmen und gestikulierte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er uns von der Hinrichtung eines mittelalterlichen Hexers erzählt hat. Er simulierte die Würgschraube. Wir waren alle wie gebannt, denn er gehörte zu denen, die eine Geschichte nicht nur erzählen, sondern völlig in ihr aufgehen. Ich weiß noch, wie er den Zeichner Andreu dazu gebracht hat, sich als Henker hinter ihn zu stellen und ihm die Augen zu verbinden.« Helena lächelte, wie sie es sonst nur selten tat. »Wo ich jetzt so darüber nachdenke, eigentlich …« »Eigentlich?«, ermunterte ich sie. »Als er vom Radio in Barcelona wegging und das Angebot in Madrid annahm … Ja.« »Ja?«, wiederholte ich, ohne zu begreifen. »Er wurde damals bei einem größeren Publikum bekannt, er wurde eine Art Star in Madrid … Und man weiß ja, welche Gefahren in der Hauptstadt lauern.« »Ich kann es mir vorstellen. Haben Sie damals Schluss gemacht?« Sie trank ihren Whisky in einem Schluck aus. Danach huschte ein bitterer Zug über ihr Gesicht. Ich spürte, dass ich mit meinen Fragen alles überstürzte. »Er ist gegangen, und ich habe nichts mehr von ihm gehört. Es gab keinen Abschied. Er hatte mir ja aber auch nichts versprochen. So war er: ein Zugvogel, ein Nomade, wie er immer sagte. Ich verlor ihn völlig aus den Augen, bis er einige 102
Zeit später plötzlich wieder auftauchte, als man ihn entlassen hatte. Das kam für mich völlig unerwartet.« War er wieder zur Zeitschrift zurückgegangen? Und wenn ja, mit welchem Ziel? Wollte er Gisbert von den Bildern von Hieronymus Bosch erzählen? Ich wagte nicht, Helena mit meiner Ungeduld zu drängen. »Da war er aber schon verrückt. Mit dieser schrecklichen Demenz, die ihn mitriss. Er war ein anderer Mensch.« »Und selbstverständlich waren Sie nicht mehr …« »Ob wir noch eine Beziehung hatten?« Sie machte eine kurze Pause. »Natürlich nicht. Es war merkwürdig. In seinen Augen war kein Licht mehr. Mich schaudert bei dem Gedanken, aber er hatte so einen Gesichtsausdruck wie die Leute in den Reportagen über Besessene oder Verhexte. Er hatte so einen eisigen Ausdruck im Gesicht …« »Wie die Seelenlosen«, murmelte ich. »Genau. Er sprach nicht mehr, er stammelte nur noch. Er behauptete zu fasten, als wolle er damit rechtfertigen, wie schrecklich dünn er geworden war. In nur wenigen Monaten hatte sich dieses Wunder der Redekunst in jemanden verwandelt, der die Worte kaum noch richtig aussprechen konnte. Auch seine Bewegungen waren jetzt spröde und steif geworden. Er war einfach nicht mehr derselbe Mensch.« »Und hat er bei diesem letzten Besuch irgendetwas Besonderes zu Ihnen gesagt?« »Nein«, antwortete Helena mit dünner Stimme. »Er hat nur mit Gisbert gesprochen. Sie haben sich gestritten und angeschrien. Einer der Redakteure musste dazwischengehen. Lucas hat sie beschimpft, geflucht und wild mit seinen Händen gefuchtelt. Seine Faust flog dem Redakteur mitten ins Gesicht, aber schließlich konnten sie ihn überwältigen.« »Sie haben sich im Büro geprügelt?«, fragte ich ungläubig. 103
»Ja, aber am Ende bekam er einen Scheck als Vorschuss für seinen nächsten Artikel. Praktisch ein Almosen. Für den großen Exklusivbericht, Sie wissen schon. Er war immer hinter dem großen Exklusivbericht her. In dieser Hinsicht war er nicht zu bremsen.« Als ich das Haus verließ und Helena zum Abschied zuwinkte, wusste ich, dass dies nicht unser letztes Gespräch gewesen sein würde. Unsere Verabredung zum Abendessen war zwar etwas vage und ungenau, aber ich wollte nichts erzwingen. Ich versprach ihr lediglich, sie über meine Nachforschungen auf dem Laufenden zu halten. Ihr Vertrauen wurde stärker, aber mir war klar, dass diese Frau einen Großteil ihrer Erinnerungen noch unter Verschluss hielt. Erinnerungen, die sie nicht mit jemandem teilen wollte, der wie ich gerade erst in ihr Leben getreten war. Aber, was zum Teufel trieb mich letzten Endes dazu, die Geschichte eines Mannes wieder aufleben zu lassen, der vor so langer Zeit gestorben war? Was verfolgte ich eigentlich?
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13 Nachdem ich mich von Helena verabschiedet hatte und ihre Straße mit den weißen Zäunen und Mauern im mediterranen Stil hinter mir ließ, machte ich mich auf die Suche nach einem Restaurant in der Gegend. Ich fand ein exklusives Lokal mit einer großen Fensterfront, hinter der man die Gäste bei ausgewählten Speisen plaudern sah. Zu meiner Überraschung wurde ich unverhohlen abgewimmelt. Man sagte mir, das Restaurant sei nur für Mitglieder. Die Maîtres in der Gegend waren definitiv nicht mein Fall! Da war kein Entgegenkommen zu erwarten. Verstimmt ging ich weiter, bis ich in einem weniger exklusiven Viertel auf die Holztür des Can Faba stieß. Auf den ersten Blick schien es der passende Ort zu sein: ein reichhaltiges Tagesmenü, guter Kaffee und wenig Leute. Und so setzte ich mich in eine Ecke ans Fenster, wo die Wintersonne unerwartet warm hineinschien, und rekapitulierte, was ich bisher über den Mann wusste, von dem ich mittlerweile beinahe besessen war. In meinem Kopf wirbelten tausend Geschichten herum. Ausschnitte aus seinen Reportagen, Aufzeichnungen in meinem Notizblock, Skizzen und Telefonnummern … Sein ganzes Leben befand sich in der Mappe vor mir. »Noch einen Kaffee?«, fragte der Kellner, als er die Menge an Papieren und alten Dokumenten auf dem Tisch sah. »Einen Irish Coffee, bitte. Ich werde mich hier eine Weile aufhalten«, erwiderte ich lächelnd. »Kommt sofort!« Der letzte Anruf von Lucas Galván, den Helena erwähnt hatte und der sich so sehr in ihre Gedanken eingebrannt hatte, war aus einem alten Mietshaus mitten in der Altstadt Toledos in einer 105
Nacht im Dezember 1977 gekommen. Nur ein Jahr vor diesem kurzen und scheinbar absurden Gespräch wurde er jeden Abend von seinem Chauffeur zum angesehensten und größten Radiosender des Landes gefahren. Er war damals noch ein beliebter Radiomoderator und hatte fast alles erreicht. Die Fans, die Nacht für Nacht seine unvergessene Sendung landesweit verfolgten und stets neugierig auf Berichte über Mysterien warteten, erlebten eines Nachts selbst das größte Rätsel, als ohne Vorankündigung in den anderthalb Stunden Sendezeit des berühmten Programms Vollmond nur klassische Musik zu hören war. Was war geschehen? Wo war die Grabesstimme, die diese Geschichten erzählte? Wo blieb das rätselhafte Ereignis, das Mysterium oder das Verbrechen, deren Gegenwart schon fast alltäglich geworden war? Offiziell hieß es, die Sendung sollte überarbeitet werden. Aber Galváns Wutausbrüche und sein exzentrisches Wesen hatten wohl ein nicht mehr zu ertragendes Ausmaß erreicht. Ältere Mitarbeiter berichteten, dass er sich ständig mit Kollegen stritt. Eine alte Angewohnheit, die er leider auch gegenüber dem Sohn des Hauptaktionärs des Senders nicht ablegte. Das war das Letzte, was er dort tat. In der Überzeugung, absolut unentbehrlich zu sein, packte Galván wütend seine Siebensachen und verschwand, ohne sich zu verabschieden – nicht einmal bei seinen Hörern. Er war sich sicher, alle übrigen Medien würden sich nach Bekanntwerden seiner Lage bereits am nächsten Morgen um ihn reißen und ihr Scheckheft zücken. Galván arbeitete noch einmal für drei Monate bei Cadena Intercontinental: einem alten Sender, der zwar nicht an den technischen Fortschritt glaubte, doch immer noch einen festen Hörerstamm hatte. Sonst interessierte sich niemand für ihn, und sein unbestreitbares journalistisches Talent geriet schnell in 106
Vergessenheit. Von dem ganzen Wirbel um seine Person, dem Topgehalt und dem Chauffeur des dunkelblauen Seat 1430 blieb am Ende nur noch eine alte Olivetti mit zwei fehlenden Tasten und ein stummes schwarzes Telefon in der Ecke eines Großraumbüros übrig. Keiner erkannte ihn mehr. Man reservierte ihm nicht länger einen Tisch in den exklusiven Restaurants oder einen bevorzugten Platz, wenn er mit einer jungen Dame ins Tanzlokal Boccaccio kam. Böse Zungen behaupten, er sei eines Tages noch einmal dort aufgetaucht, weil er glaubte, er habe dort noch Freunde. Der Pförtner, der ihn sonst immer mit Schulterklopfen und freundlichem Lachen empfangen hatte, ließ ihn nicht hinein. Galván war empört und bestand auf sein Recht. Es kam zu einem tumultartigen Handgemenge, und er verließ den Ort schließlich mit einem blauen Auge. Das Hämatom war sicher nicht so schmerzhaft wie die Demütigung über das Vergessen und das Gelächter der Kollegen, mit denen er einst befreundet gewesen war und die jetzt hinter seinem Rücken tuschelten. Ich blätterte weiter und stieß in meinen Aufzeichnungen auf die Worte von Carmen Castillejo, der heutigen Chefin von Cadena Intercontinental, die zu jener Zeit noch Volontärin beim Radio war. Auch sie hatte in einem abfälligen Ton über Galván gesprochen, als ich sie in ihrem Büro interviewte. »Ich traf ihn einmal auf der Gran Vía, vor der Buchhandlung Casa del Libro. Er starrte auf das Gebäude seines ehemaligen Senders gegenüber, dem er so sehr nachtrauerte. Er konnte es immer noch nicht fassen, was mit ihm geschehen war. Er hatte doch so eine hohe Meinung von sich selbst! Aber jetzt interessierte sich eben niemand mehr für ihn. Keiner wollte ihn haben. Er war immer so jähzornig, distanziert und barsch gewesen … Aber Anfang des Jahres 1977 fing er an, sehr seltsame Dinge zu tun, und wurde kurz darauf entlassen. Man munkelte, er stünde unter Drogen.« 107
Lucas Galván, geboren in einem Dorf in der ärmsten Region Argentiniens, kam 1973 nach Barcelona. Seine Reportagen über alte Kulturen und aktuelle Ereignisse, die er per Post nach Spanien geschickt hatte, waren so gut angekommen, dass man ihn sofort anstellte. Er nannte es »vorgreifenden Journalismus«. Beim Radio erlebte er dann eine Glanzzeit und begeisterte mehrere Millionen Menschen mit seinem unverkennbar direkten, einzigartigen und kompromisslosen Stil. Jorge Bustos, der in den Anfängen Galváns rechte Hand gewesen ist und den ich am Anfang meiner Recherchen aufgesucht hatte, erklärte mir diesen Stil folgendermaßen: »Galván stellte sich die gleichen Fragen wie die Menschen auf der Straße. Das war der Schlüssel zu seinem Erfolg. Und er tat dies mit einer sehr klangvollen Stimme und wusste die Dinge seinen Hörern verständlich zu machen. Es war eine Zeit des Aufbruchs ins Unbekannte, und er hat diesen Trend voll erwischt. Nachdem er ein Jahr hier in Barcelona bei Radio Onda Peninsular war, kam ein gutes Angebot aus Madrid. Er ging von hier weg und rief mich nicht ein einziges Mal mehr an. Ich schon, weil ich mich für seinen Freund hielt. Aber jedes Mal war diese Sekretärin dran, die mir sagte, der Señor Galván habe viele Termine. Dabei war ich es doch, der seiner Sendung den Namen gab!« Auch Jorge Bustos waren die genauen Umstände von Galváns Tod unbekannt. Und er schien auch nicht sonderlich daran interessiert zu sein, als ich ihn mit meinem Block in der Hand interviewte. »Ich glaube, er endete in einem Obdachlosenheim. Sein halber Körper war gelähmt. Er hatte keine Familie und starb angeblich an einer Zirrhose. Das hat man mir jedenfalls erzählt.« Aber es stimmte nicht. Versionen über Galváns Tod gab es viele, doch nur eine schien der Wahrheit zu entsprechen: Sein Gesicht war noch schmerzverzerrt und sein Körper verkrampft, als man ihn zusammengerollt wie einen Fötus fand. 108
So stand es zumindest in der Todesanzeige, die als flüchtiger Vermerk im Lokalteil eines Provinzblättchens erschien. Sehr wenig für jemanden, der fünf Jahre lang die unverwechselbare Stimme des Mysteriums gewesen war.
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14 »Was hältst du davon?« »Das muss ein Fehler oder eine optische Täuschung sein«, sagte ich, ohne den Hörer loszulassen. »Ganz und gar nicht«, erwiderte Sergio, der in seinem Büro ebenfalls vor dem Computer saß. »Ich glaube eher, es handelt sich um ein Muster, das man nur aus einer gewissen Höhe sehen kann.« Um mir die Luftaufnahme von Tinieblas genauer anzusehen, ging ich so dicht an den flimmernden Monitor heran, dass ich ihn fast mit der Nase berührte und die Augen zusammenkneifen musste. »Vielleicht solltest du das Programm vorsichtshalber neu installieren und es dann nochmal versuchen«, hörte ich am anderen Ende der Leitung. »Auch ich habe den Vorgang heute Nacht fünf- oder sechsmal wiederholt.« »Aber diese Software ist zuverlässig, oder?« »Ja, absolut. Das Basisprogramm haben Kollegen von mir entwickelt.« Ich legte auf, ohne die Augen von den Pixeln auf dem Bildschirm zu lösen. Jetzt wusste ich, warum Sergio mehrere Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Er hatte die Polaroidbilder von Galváns Artikel untersucht und war dabei auf etwas Merkwürdiges gestoßen. Sergio rief einen grundsätzlich nie auf dem Handy an, selbst wenn die Angelegenheit wichtig war. Er meinte, dass sogar ein Kind die Dinger anzapfen könne, und ich bin mir sicher, er wusste, wovon er sprach. Ich startete den Computer neu und rieb mir die Augen. Es war nachts um halb drei. Alles war so, wie ich es hinterlassen hatte, 110
bevor ich nach Barcelona geflogen war. María, meine Putzhilfe, hatte meine Post auf den Tisch im Flur gelegt. In einem Umschlag war ein Buch mit dem Titel Mittelalterliche Ketzerbewegungen auf der Iberischen Halbinsel. Ich hatte es neben die Tastatur gelegt, um zunächst Sergio zurückzurufen. Im Augenblick erschien es mir dringender, festzustellen, ob die geographische Anomalie auf den Luftaufnahmen mehr als nur purer Zufall war. Für die Lektüre des Buches blieb noch genug Zeit. Ich schenkte mir ein Glas Milch ein und löschte nach alter Gewohnheit die Lichter in meiner Dachgeschosswohnung. Nur die Schreibtischlampe ließ ich brennen. Mit den Passwörtern, die ich von Sergio erhalten hatte, loggte ich mich in dieses neuartige und wenig erprobte Computerprogramm ein. Anschließend erschien die Iberische Halbinsel auf fast dem gesamten Bildschirm. Auf einer einfachen Menüleiste konnte man den Bereich auswählen, den man aus der Luft betrachten wollte. Ich fügte die genauen Koordinaten ein, die Sergio mir durchgegeben hatte: X-527940.60. Das Feld wanderte bis zu einem bestimmten Punkt auf der Karte und veränderte darauf die Farbe. Dann wurde ich zur Eingabe weiterer Ziffern aufgefordert, um auf das ausgewählte Bild zuzugreifen: Y47533190.46. Ich wartete einige Sekunden. Was bis dahin ein grob gepixeltes Bild war, verwandelte sich in eine detaillierte Luftaufnahme. Unten erschien das Tool »Lupe«, mit dem ich die Aufnahme vergrößern konnte. So erhielt ich nach und nach eine hervorragende Sicht auf die betreffende Gegend. Und plötzlich sah ich es. Als ob diese Unregelmäßigkeit völlig überraschend aufgetreten wäre. Ich benutzte die virtuelle Lupe, um einen noch größeren Ausschnitt zu erhalten. Nach den Angaben auf der Messleiste an 111
der Seite näherte ich mich dem Boden jetzt auf etwa fünfhundert Meter. In dieser Höhe war etwas Dunkles und Rundes mitten in dem trockenen Gelände zu erkennen. Es hatte die Form eines Kreuzes. »Siehst du, ich hatte recht!«, sagte Sergio, als ich ihn wieder anrief. »Hast du das Bild noch vor dir?« »Ja, auf drei verschiedenen Bildschirmen mit unterschiedlichen Auflösungen.« »Ein Fehler ist also ausgeschlossen«, bemerkte ich und wurde immer unruhiger. »Kumpel, das da ist kein technischer Fehler. Es ist echt. So real wie du und ich. Vielleicht ist es irgendeine Markierung.« Ich löschte auch das Licht der Schreibtischlampe und nahm einen Block hervor. Mit groben Strichen versuchte ich aufzuzeichnen, was ich sah, ohne den Blick vom Monitor zu wenden. »Bist du noch da?«, fragte Sergio am anderen Ende. »Ja, klar … Sag mal, wozu dient dieses Programm eigentlich genau?« »Eigentlich«, erwiderte er sofort, »dient es zur Kontrolle bei der Einteilung von Ackerland. Das gesamte nationale Territorium wurde fotografiert und eingescannt. Damit werden Grundstücksgrenzen festgelegt, Bodenarten katalogisiert und so weiter.« »Und wann wurden diese Luftaufnahmen gemacht?« »Erst vor einem Jahr.« »Aber man kommt nur bis auf 100 Meter heran, oder?«, fragte ich, als ich feststellte, dass die Vergrößerung ab dieser Höhe blockiert war. »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, es gibt da ein System, um … Warte mal einen Moment.« 112
Ich hörte einen Stuhl quietschen, dann wurde auf diverse Tasten gehauen. »Nichts. Es muss inaktiviert worden sein. Genau hundert Meter. Das wird die Grenze sein, mit der man das ganze Land gefahrlos röntgen kann. Auf jeden Fall ist ziemlich klar, dass dies keine zufällige Erscheinung im Gelände ist.« »Aber der ganze Hügel ist voll von …« »Ich weiß«, unterbrach mich Sergio. »Ist das dort eigentlich eine Kirche?« »Es ist eine halb zerstörte Kapelle. Im Inneren gibt es noch ein paar Fresken.« »Und mit bloßem Auge konntest du dort nichts von dem erkennen, was hier erscheint?« »Absolut nichts. Aber ich bin auch von der anderen Seite des Berges gekommen. Ach, wo wir gerade davon sprechen, wie kann man bei diesem Programm den Abstand zwischen zwei Punkten messen?« »Das ist etwas komplizierter, aber sag mir, welchen Bereich du ausmessen willst, und ich mache das von hier aus.« Ich berührte den Bildschirm und ließ meinen Finger einige Zentimeter hinabgleiten. »Okay«, fuhr ich fort. »Siehst du das viereckige Gelände neben dem Hügel, das dunkel hervorgehoben ist?« »Ja. Was ist das?« »Das ist der verlassene Friedhof, von dem ich dir erzählt habe. Dort sind die Fotos entstanden, die jetzt bei deinem Chef im Büro liegen.« Sergio pfiff durch die Zähne. »Ich hätte gerne den Abstand zwischen dieser Anlage und der Wand der Kapelle.« »Also den gesamten Bereich, in dem …« 113
»Genau.« Eine Minute lang hörte ich nur das schnelle Klicken der Maus. »Hundertelf Meter«, sagte er schließlich mit Bestimmtheit. »Und alles ist voller Gräber. Gräber, die in den Stein gehauen wurden und ein großes Kreuz bilden.«
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15 Um neun Uhr morgens weckte mich das schreckliche Geräusch der Gegensprechanlage, nachdem ich kaum ein Auge zugetan hatte. Der Kurier entschuldigte sich, als er mich wie den Ritter von der traurigen Gestalt in der Türschwelle stehen sah. Nur in Pyjamahose und mit zerzaustem Haar musste ich den Eindruck erwecken, als ob ich noch in weit entfernten Sphären schweben würde. Ich konnte kaum die Augen öffnen. »Aníbal Navarro?«, fragte der Mann im dicken blauen Anorak, während er etwas aus seinem Rucksack holte. Ich brachte als Antwort lediglich einen kehligen Laut heraus. Nach den immer wiederkehrenden Albträumen während der drei Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht fühlte sich mein Körper an wie nach einer ordentlichen Tracht Prügel. Als ich unterschreiben sollte, merkte ich, dass ich das Formular kaum lesen konnte. »Nein, da nicht.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf ein anderes Feld. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich befürchtete kurz, der Länge nach hinzufallen. Ich unterschrieb und schloss ohne ein Wort die Tür hinter mir. Am Ende des Flurs bemerkte ich plötzlich etwas Sonderbares im Spiegel. Irgendetwas stimmte nicht mit meinem Rücken. Ich blieb stehen und versuchte genauer hinzusehen. »Scheiße!« Ich erschrak und ging ins Schlafzimmer zurück, das mit heruntergelassenen Rollos noch im Dunkeln lag. Auf der einen Seite des Bettes konnte ich mehrere offene Bücher ertasten und nicht verschlossene Textmarker. Überbleibsel einer arbeitsintensiven Nacht. Im Dunkeln tappte ich weiter nach der Brille, die 115
ich immer zum Lesen aufsetzte. Ich setzte sie auf, ging ins Bad und betrachtete meinen Rücken im Spiegel. Wenn ich den Kopf nach hinten verdrehte, konnte ich die zwei roten Kratzer sehen, die wie ein Prankenschlag von der Schulter bis etwa auf die Höhe der Niere reichten. Ich musste mich in der Nacht selbst gekratzt haben. Die Striemen sahen aus, als hätte ich mit jemandem gekämpft. Aber mit wem? Ich blickte auf meine Hände, um zu sehen, ob sich Blutspuren unter meinen Fingernägeln befanden. Aber dort war nichts. Was war also passiert? Ich spürte erneut meinen Kreislauf absacken und schleppte mich auf der Suche nach einem Schluck Koffein in die Küche. Die wohltuende Kälte der silberfarbenen Kühlschranktür an meinem Wangenknochen machte mich schon etwas wacher. Ich nahm eine Dose Nescafé Xpress heraus und trank sie in einem Zug aus. Dann setzte ich mich an den Küchentisch und wartete auf die kräftigende Wirkung. Mein Blick fiel auf den Absender des Päckchens, das ich gerade erhalten hatte. »Sebastián …«, stammelte ich und öffnete in Zeitlupe die bräunliche Sendung. Aníbal, wie ich dich kenne, hast du bereits den ersten Schritt mit dem Totenbuch gemacht und hast verstanden, dass die Schatten seit jeher existieren. Jetzt ist es Zeit, zu lesen, was der Meister getan hat. Viel Glück, Die Mitteilung war knapp und geheimnisvoll, ganz im Stil von Sebastián Márquez. Aufgrund der Größe des zweiten Umschlags wusste ich sofort, dass er mir das Buch von Prof. Kleinberger 116
schickte. Jenes Buch, das mich vor einigen Tagen in seiner Druckwerkstatt so neugierig gemacht hatte und in dem ich auf dieses rätselhafte Porträt von Hieronymus Bosch gestoßen war. Ich verstand nur nicht, warum er mir einen Kurier schickte, wo wir uns doch fast täglich sahen und er mir das Buch auch ganz bequem hätte persönlich übergeben können. Erst als ich auf den Poststempel guckte und den zweiten Absender las, begriff ich: »Centre Panthéon. 14, Rue de la Sorbonne. 75005 Paris«. Ich nahm das Buch heraus, und mein Blick blieb genau wie vor einigen Tagen schon an dem Porträt Hieronymus Boschs hängen. Dieser kleine Mund, die geschwungenen Augenbrauen, die ausdrucksvollen Augen, die in einer seltsamen Melancholie versunken schienen, die Falten auf der Stirn, die lange Nase und das gestufte Haar, das über die Ohren fiel … Ich ging wieder ins Bad und schaute mich gründlich im Spiegel an, während ich das Bild neben mein Gesicht hielt. Dieser Mann sah so aus wie ich. Oder vielleicht so, wie ich in ein paar Jahren aussehen würde. »Was sieht dein verblüfftes Auge, Hieronimus? Was sieht dein blasses Gesicht? Siehst du die Ungeheuer und Gespenster aus der Hölle vor dir? Man könnte meinen, du hast die Grenzen überschritten und bist in Tartaros’ Reich eingedrungen, so gut malte deine Hand all das, was in der tiefsten Hölle existiert.« Diese Worte befanden sich ursprünglich auf der Rückseite des Porträts. Als ich weiterblätterte, entdeckte ich eine mit schwarzer Tinte geschriebene Widmung:
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Lieber Freund, der Kollege Márquez hat mir ausführlich von Ihren interessanten Recherchen berichtet. Ich widme Ihnen diesen Band mit dem festen Wunsch, dass Sie ihn als Führer in der verborgenen Welt von Hieronymus Bosch nutzen und die Dinge offenbaren, die niemand sonst zu erzählen wagt. Ich glaube, der Meister hat sich zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens mit einem ganz konkreten Ziel in Spanien aufgehalten, obwohl die Kunstgeschichte dies bezweifelt. Manche seiner Gemälde enthalten einen magischen Schlüssel, der in den Wahnsinn treiben kann … Mehr werde ich hier nicht verraten, denn ich weiß, es gefällt Ihnen, Dinge selbst zu entdecken. In Erwartung eines baldigen Treffens grüßt Sie herzlich K. Kleinberger
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16 Es war mir völlig egal, dass ich mit dem Wagen die Steinsäule streifte. Das düstere Parkhaus gegenüber vom Alcázar war kein einfacher Ort zum Parken. Es verlangte wahre Präzisionshochleistungen, und an jenem Nachmittag war ich nervös. Sehr nervös. Ich legte den Rückwärtsgang ein, hörte erneut ein blechernes Geräusch, stieg ohne mir den Schaden überhaupt anzusehen aus dem Auto und lief wie ein geölter Blitz aus dem Parkhaus. »Diese Gauner!« Schnaubend lief ich durch den Regen die steilen Straßen von Toledo entlang und konnte es kaum erwarten, Pater Aquilino Moraza und seinen Freund zu treffen, den wandernden Buchhändler Mateo. Wenn mich im Leben etwas wütend machte, dann, für dumm verkauft zu werden. Und genau das hatten die beiden getan. Als ich an der Kathedrale vorbeiging und mein Blick auf einen der wachsamen wasserspeienden Köpfe fiel, lief mir ein Schauer über den Rücken. Aus irgendeinem Haus in dieser engen alten Gasse musste Lucas Galván seinen letzten Anruf gemacht haben. Damals hörte Helena, wie er am anderen Ende der Leitung wie ein Wahnsinniger lachte und Worte in einer fremden Sprache stammelte. »Nichts belebt meeeehr …« Als ich die heisere Stimme einer alten schwarzgekleideten Frau hörte, blieb ich abrupt stehen. Mir bot sich eine Szene wie aus einer anderen Zeit, und ich zuckte kurz zusammen. In ihren faltigen Händen hielt die Alte ein verrostetes Glöckchen und klingelte. »… als ständig an den Tod zu denkeeeen …!« 119
Sofort dachte ich an ein Straßentheater, das bestimmte mittelalterliche Romanzen oder Knittelverse aufführt. Doch dieser Blick und dieses Gesicht, das auf mich zukam … »Haben Sie Mitleid mit einer Magd der toten Seelen! Haben Sie Mitleid!« Mit kurzen, aber überraschend schnellen Schritten überquerte sie die Gasse. Ich verspürte einen unmittelbaren Abscheu. Ihr Gesicht war voller blutiger Male. Und dort, wo das Tuch den Kopf nicht bedeckte, waren kahle Stellen und Schorf zu sehen. Als sie schon vor mir stand und den Mund öffnete, sah ich darin nur einen einzigen schiefen, spitzen Zahn. Es gelang ihr, mich am Handgelenk zu packen. Vergeblich versuchte ich, sie abzuschütteln, denn sie hatte ihre widerlichen Krallen bereits tief in meine Haut gebohrt. »Man muss sich vor den Seelen schützen! Sie haben sie erweckt und brauchen den Schutz mehr als je zuvor. Hören Sie die Schreie der Seelen im Fegefeuer? Hören Sie doch!« Ihre Augen strahlten die gleiche Kraft aus wie die Hand, die mich wie eine Zange festhielt. Es waren weit vorstehende Augen, vom grauen Star getrübt, die jeden Moment aus den Augenhöhlen zu springen drohten. Auf der Suche nach anderen Passanten blickte ich mich mehrmals um, doch es war niemand zu sehen. »Sie warten nur auf uns! Retten Sie sich, oder sie werden Ihnen wehtun! Gehen Sie nicht wieder in ihr Reich! Schwören Sie, dass Sie nicht wieder dort hingehen!« Die alte Frau ergriff die angelaufene Medaille, die um ihren Hals hing, und küsste sie. Dann streckte sie ihre schmutzige Hand aus, auf die langsam der Regen tropfte. »Sie werden es bereuen, wenn Sie mir jetzt nicht helfen! Denn sie sind hier! Sie beobachten Sie!«
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Wovon sprach diese Frau? Warum hielt sie mich fest? Warum lag in ihrem zerfurchten Gesicht so etwas Boshaftes? »Was wollen Sie von mir?« »Ich kann Sie retten oder verdammen.« Mit einer automatischen Bewegung holte ich einen Geldschein aus der Hosentasche und steckte ihn zwischen ihre knochigen Finger, ohne auf den Wert zu achten. An einem der Finger blitzte ein breiter Goldring auf, der genauso abgegriffen war wie die Medaille, die sie kurz zuvor an die Lippen gehalten hatte. Sie rieb mit den Fingernägeln am Geldschein, so als ob sie ihn nicht sehen könnte. Ich nutzte den Augenblick, um mich loszumachen und davonzueilen, während sie mir hinterherlachte: »Das Fegefeuer erwartet uns! Suchen Sie es nicht auf, bevor die Zeit reif ist!« Erst als ich um die Ecke bog, fühlte ich mich ein wenig sicherer. Fast wäre ich noch einmal umgekehrt, um zu sehen, ob die Alte mit anderen Fußgängern das Gleiche machte. Doch eine innere Unruhe trieb mich weiter. Als ich die religiöse Buchhandlung betrat, hatte der feine, geräuschlose Nieselregen aufgehört, der Toledos Straßen so leergefegt haben musste. Ich stieg die Freitreppe hinunter und sah, wie der Buchhändler und Pater Moraza über den Ladentisch gebeugt freundschaftlich miteinander plauderten. »Ich nehme an, das hier kannten Sie auch nicht, oder?«, fragte ich ohne Begrüßung und knallte ihnen zwei Ausdrucke der Luftaufnahme des alten Friedhofs auf den Tisch. Sie sahen mich schweigend an. Mateo räusperte sich und sprach als Erster: »Was ist das?« »Ach! Immer noch zu Scherzen aufgelegt, wie?«, erwiderte ich und nahm eins der Blätter, um ihnen damit vor der Nase
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herumzuwedeln. »Ich glaube, es ist deutlich zu erkennen! Oder sind wir so blind wie die alte Bettlerin da draußen?« Sie schauten mich so verblüfft an, als hätten sie einen Marsmenschen auf der Erde landen sehen. »Gräber aus Stein! Hunderte alter Grabnischen, die in den Felsen geschlagen wurden! Und Sie wussten nichts davon? Sie sind nie dort gewesen? Es handelt sich also um einen völlig bedeutungslosen Ort, wie?« Ruhig und besonnen machte sich Pater Moraza an seinem Kragen zu schaffen, ohne die Aufnahmen auch nur eines Blickes zu würdigen. »Glauben Sie mir, wir taten das in guter Absicht. Es ist nämlich so, dass …« »Absicht?«, unterbrach ich ihn. »Davon ist hier nicht die Rede, Pater. Ich sehe schon, ich kann Ihnen nicht trauen. Warum haben Sie mir nichts über die Sekte erzählt? Warum haben Sie mir nichts von dem erzählt, was sich hier in der Vergangenheit abgespielt hat?« Ich fuchtelte weiter wütend mit den Papieren vor seiner Nase herum. »Wir haben Sie nicht angelogen!«, schaltete sich jetzt Mateo ein. Er starrte auf die Aufnahme, auf der das Kreuz aus Grabnischen im Felsen aus hundert Metern Höhe zu sehen war. »Wir dachten nur, es sei besser …« »Es ist immer besser, die Wahrheit zu sagen!«, erklärte ich. Unerschütterlich wie Granit nahm Pater Moraza die Papiere und faltete sie sorgfältig zusammen. Dann öffnete er meine Mappe, wo ich sie kurz zuvor herausgeholt hatte, und legte sie wieder hinein. »Ich verstehe Ihre Aufregung, aber ich sage Ihnen ganz ehrlich, es gibt Angelegenheiten, die zu nichts führen und reine Zeitverschwendung sind.« 122
»Überlassen Sie doch bitte mir die Entscheidung, womit ich meine Zeit verbringe!«, entgegnete ich mit geballten Fäusten. »Wenn man belogen und getäuscht wird, dann vergeudet man seine Zeit!« »Aber …«, stammelten beide gleichzeitig. »Trifft es etwa nicht zu, dass sich in dieser Gegend Ketzer angesiedelt hatten? Als ich Sie vor knapp einer Woche nach den Symbolen auf den Fotos fragte, die dort auf den Mauern der Kapelle zu sehen sind, war es nicht so, dass Sie mir nichts dazu sagen konnten?« »Ich habe Sie aber nicht angelogen!«, sagte Pater Moraza schnell und hob dabei abwehrend die Hände. »Genau!«, ergänzte Mateo, während er hinter dem Ladentisch hervorkam. »Wir haben Ihnen nur gesagt, dass wir die Gegend und diese Zeichen nicht so gut kennen. Und das ist die Wahrheit!« »Steinmetzmarkierungen! Sie sagten mir, das, was ich mit meinen eigenen Augen in der Kapelle gesehen habe, seien Steinmetzmarkierungen!« Der Buchhändler wirkte jetzt beleidigt und wollte mir im gleichen Ton antworten, hielt sich jedoch zurück, als er einen Blick des hochgewachsenen Moraza in seinem schwarzen Priestermantel auffing. »Das ist alles ein Missverständnis. Mateo hat wie so viele andere Leute hier eine Abneigung gegen diesen Ort. Das ist seine Sache, und man muss das respektieren. Hier spricht man nicht gerne darüber. Und wir wollten Ihnen die Mühe ersparen, denn wen interessieren schon die absurden Vorstellungen der Dorfbewohner?« »Für die Gegend wäre es einfach verheerend, wenn wieder über all das berichtet wird«, seufzte Mateo.
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»Ich nehme an, was Galván angeht, haben Sie mich auch belogen«, sagte ich zähneknirschend. »Was meinen Sie damit?«, fragte Pater Moraza. »Ich bin mir sicher, er war ebenfalls hierhergekommen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sie haben ihn doch kennengelernt, oder irre ich mich?« Er runzelte seine hohe Stirn. »Also, das ist eine lange Geschichte, und Sie müssen das absolut vertraulich behandeln.« »Wie Sie wissen, bin ich Journalist und kann nichts versprechen. Umso weniger, nachdem Sie mir bisher wertvolle Informationen verschwiegen haben.« »Also gut. Aber bedenken Sie, dass ich auch weiter schweigen könnte …!« »Keine Sorge!«, erwiderte ich schnell. »Wenn Sie weiter schweigen, werde ich mir die Informationen, die Sie so argwöhnisch hüten, auf andere Weise beschaffen. Wussten Sie etwa auch nichts über seltsame Fotografien, die auf dem Friedhof gemacht wurden? Und was darauf zu sehen war?« Es folgte ein kurzes, aber intensives Schweigen. Ein wohlüberlegtes Schweigen. »Mein lieber Freund«, begann er und legte mir eine Hand auf die Schulter, »ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir in guter Absicht gehandelt haben. Ich sage es Ihnen nochmal, es gibt Dinge, die zu nichts führen. Außer vielleicht zu Gerüchten, die der Gegend extrem schaden würden. Mythen, nichts als Mythen. Die Leute dort haben schon genug gelitten, und die wenigen, die dort noch leben, sollen ihren Frieden haben.« »Ihren Frieden haben sie schon, Pater. Dort gibt es nur Tote.« Ich bemerkte, wie der Buchhändler den Blick senkte. Beharrlich fuhr ich fort: »Ich vermute, all diese Gräber in Form eines Kreuzes sind auf die Unterdrückung und Vernichtung 124
gewisser alter Kulte in der Gegend zurückzuführen. Oder bestreiten Sie das?« »Es ist tatsächlich etwas vorgefallen …, aber in Tinieblas wird sich niemand daran erinnern wollen«, betonte Mateo und zog sich seinen Mantel an. »Die Leute dort sind so verschlossen!« »All das ist zu kompliziert, um eine unterhaltsame Geschichte daraus zu machen, so wie es euch Journalisten gefällt«, fügte Pater Moraza in einem etwas anmaßenden Ton hinzu, während er die Tür öffnete und damit das Glöckchen in der Türangel zum Klingeln brachte. »Das muss es wohl sein, wenn Sie mich auf diese Weise belügen.« Ich wusste, der hochgewachsene Priester hatte den Seitenhieb verstanden. Als er mich gleich darauf zum Gehen aufforderte, sah er mich mit seinen blauen Augen scharf an. »Sprechen wir bei einer Tasse Kaffee weiter?« Es regnete zwar nicht, aber die eisige Luft war schneidend. Den kurzen Weg zum Café schwiegen wir. Sobald wir uns an einen der Tische gesetzt hatten, holte ich das Buch über die mittelalterlichen Ketzerbewegungen hervor, das ich in nur einer Nacht gelesen hatte, und öffnete es auf der Seite 333. Ich zeigte ihnen, was dort zu sehen war, obwohl ich davon ausging, dass sie die Abbildung bereits kannten. »Wie erklären Sie sich das hier?« Auf der Seite war eine Art dunkles Medaillon mit zwei grob eingravierten Figuren in einer erotischen Position abgebildet. Die Bildunterschrift lautete äußerst vielsagend: »Stück 304 R. Anhänger aus Bronze aus dem 14. Jahrhundert mit einer Darstellung des Geschlechtsverkehrs. Im Jahre 1903 bei Ausgrabungen im Unterbezirk Goate der Gemeinde Tinieblas de la Sierra 125
gefunden. Zugeschrieben wird der Anhänger einer der Familien, die sich von der als Brüder und Schwestern des freien Geistes bekannten Ketzerbewegung abspalteten und im Süden Kastiliens ansiedelten.« Pater Moraza wirkte nun zum ersten Mal nervös. »Das wurde tatsächlich dort gefunden, so wie es hier steht. Ich kann es nicht leugnen. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass es gefährlich wäre, voreilige Schlüsse zu ziehen.« »Es gab dort also Ketzer. Und zwar genau die, die Sie mir bei Ihrem Überblick über die gefährlichen Sekten aufgezählt haben!«, rief ich erregt. »Ein Beweis sind die Ihnen wohlbekannten Zeichen, die sie an den Wänden der Kapelle hinterlassen haben! Lucas Galván muss also an diesem Ort etwas gefunden haben!« Pater Moraza bedeutete mir mit den Händen, mich zu beruhigen, während er gleichzeitig seine Antwort vorbereitete. Möglicherweise war er überrascht, wie viel glaubwürdiges Material ich gesammelt hatte, ohne auf seinen Rat zu hören. »Als Zeichen meines guten Willens werde ich Ihnen etwas erzählen, um Ihren Horizont zu erweitern …« »Aber wer sind all diese Toten?«, unterbrach ich ihn erneut. »Wer hat sie außerhalb des Friedhofs begraben und damit dieses Kreuz hinterlassen? Hat man versucht, auf diese Weise einen Ort zu reinigen, der durch die Sekte verdorben worden war?« »Nicht so schnell, immer mit der Ruhe!«, erwiderte er und wiederholte seine beschwichtigende Handbewegung. »Wie in anderen Teilen Spaniens gab es auch in dieser Region einige gescheiterte Annäherungsversuche mit bestimmten Sekten und Gruppierungen, die sich weigerten, den christlichen Glauben zu empfangen. Sie waren ein Problem für die Kirche, aber auch für jeden guten Bürger.« 126
»Wie das?«, fragte ich gereizt, weil ich es langsam leid war, ihm jedes Wort einzeln aus der Nase zu ziehen. »Diese Gruppen wuchsen zu einer ausschweifenden Kommune an, die sich von allem lossagte, was heilig war. Sie tötete Priester, feierte Orgien und praktizierte verbotene Rituale wie die Verbindung zu den Toten. Sie verstieß gegen jedes einzelne Prinzip unseres Glaubens!« »Dann sind das also die Gräber der Ketzer? Hat man etwa das ganze Dorf vernichtet?« »Nein. Die Kirche reagiert niemals mit solchen Repressalien. Es war die Pest, die über die ganze Region hereinbrach. Ein furchtbarer Fluch … Und eine verdiente Strafe!« »Und durch die Pest verschwand das Dorf von einem Tag auf den anderen?« »Natürlich. Haben Sie nicht zugehört?«, mischte sich jetzt Mateo ein. »Der schwarze Tod«, fuhr Pater Moraza fort, »hat die Bevölkerung dezimiert, bis keiner mehr übrig war. Das ist in vielen anderen Dörfern Spaniens auch passiert und nicht weiter ungewöhnlich.« »Und die Fresken in der alten Kapelle? Was stellen die genau dar? Von wem stammen die?« »Steckt für Sie da etwa auch ein Geheimnis dahinter?«, fragte er spöttisch. »Kommt darauf an. Was sagt Ihnen der Name Hieronymus Bosch?«, fragte ich geradeheraus, als ich sah, dass er seine Tasse austrank und Anstalten machte, sich zu erheben. »Der hat den Garten der Lüste gemalt!«, platzte es aus Mateo heraus. Mit einem Lächeln gab ich ihm zu verstehen, wie offensichtlich sein Einwurf war. Daraufhin biss er die Zähne zusammen und sah Pater Moraza hilflos an.
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»Und was hat Bosch bitte schön mit dieser Sache zu tun?«, fragte der Geistliche, der jetzt bemüht gelassen wirkte. »Mir sagt er rein gar nichts.« »Es sieht so aus, als ob Bosch sich irgendwann zwischen 1500 und 1505 in Spanien aufgehalten haben könnte. Eine unerforschte Zeit in seinem Leben, von der man annimmt, dass er durch den Süden Europas gereist ist.« »Wollen Sie etwa andeuten, Hieronymus Bosch habe die Fresken in Tinieblas gemalt?«, fragte Pater Moraza und erhob seine Stimme, als ob ich gerade eine gewaltige historische Dreistigkeit von mir gegeben hätte. »Ich habe nichts dergleichen behauptet, Pater. Und das wissen Sie ganz genau. Aber er war kein gewöhnlicher Maler und …« »Na ja«, warf er ein, »der offiziellen Geschichtsschreibung zufolge ist er jedenfalls niemals in Spanien gewesen.« »Ich halte nicht besonders viel von dem, was offiziell ist, Pater. Hieronymus Bosch war die treibende Kraft bei der Verbreitung eines Ketzerglaubens, der von der Kirche aufs härteste bekämpft wurde. In jenen fünf Jahren lehrte er seine Botschaft durch seine Werke. Es gab eine kleine Anhängergruppe, die sich Der BoschZirkel nannte und später diese Lehre in gewissen Fresken und Gemälden verbreitete. Haben Sie denn nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass …?« »Mein Freund«, unterbrach er mich mit einem bitteren Lächeln, »Sie machen einen Fehler, wenn Sie solche Legenden für bare Münze nehmen. Bosch könnte vielleicht für einen sehr kurzen Zeitraum in Italien gewesen sein, doch niemals hier. Und vermutlich ist er überhaupt nie aus seiner kleinen Provinzstadt herausgekommen. Das belegen die Quellen, und Sie sollten sich nicht auf das Geschwätz von Erleuchteten verlassen, wenn Sie bei Ihren Nachforschungen objektiv sein wollen.«
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»Wie ich sehe, kennen Sie den Künstler doch recht gut«, erwiderte ich, als er diese Daten über Bosch preisgab, die nur ein Spezialist kennen konnte. »Pater Moraza ist eben sehr gebildet und hat ein umfangreiches Wissen. Was ist daran so ungewöhnlich?«, brachte sich der mittlerweile eher abwesend wirkende Mateo ein, als er die Not des Priesters erkannte. Und wie immer hatte er dabei nur mäßigen Erfolg. »Haben Sie dieses Buch gelesen?« Ich richtete mich lieber wieder direkt an den Geistlichen und tippte auf die Studie von Prof. Kleinberger. »Ich weiß vor allem aus erster Hand, wie der Autor des Buches aussieht.« »Wie bitte? Sie kennen Professor Kleinberger persönlich?« »Es gibt gewisse Leute, an die man sich besser nicht erinnert«, erklärte er und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass das Gespräch in diesem Augenblick beendet war. »Gehen Sie ruhig. Ich recherchiere trotzdem weiter!«, sagte ich bestimmt. »Immer mit der Ruhe«, erwiderte er. »Ich kenne Ihren Dickkopf. Ich versuche also besser erst gar nicht, Sie umzustimmen. Ich will schließlich nicht, dass Sie behaupten, ich behindere Ihre Nachforschungen. Nicht, dass Sie nachher herumerzählen, die Kirche in Toledo habe Ihnen das Leben schwer gemacht …« »Den Eindruck habe ich aber!« »Passen Sie auf, Navarro, ich werde Ihnen sagen, an wen Sie sich wenden müssen, um mehr zu erfahren. Sie werden allerdings sehen, es gibt für alles eine traurige, irdische Erklärung: die Beulenpest. Ich gebe Ihnen eine Visitenkarte mit der Nummer eines Freundes. Und wenn Mateo will, kann er Ihnen noch erzählen, was er weiß.« 129
»Was meinen Sie? Sie beide verwirren mich …« »Na, über diesen Verrückten. Über diesen Galván, für den Sie sich so sehr interessieren. Was sollte ich denn sonst meinen?«, fragte er, bevor er eine Visitenkarte auf den Tisch legte und mit einem lauten Knall durch die Hintertür des Cafés verschwand.
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17 Ich bestellte uns noch einen Kaffee und machte es mir auf dem grünen Sofa bequem, um Mateos Geschichte anzuhören. Von Pater Moraza hatte er offensichtlich gerade die Erlaubnis erhalten, mir sein Geheimnis zu verraten. »Es geschah im Jahre 1977, als Pater Moraza in Rom war und vom Vatikan mit wichtigen Dingen betraut wurde. Ich rief ihn mehrmals an, um ihn über die Ereignisse hier zu informieren, und er riet mir, Ruhe zu bewahren. Vor allem sollte ich mit niemandem darüber reden.« »Scheinbar hat Moraza viel Erfahrung damit, andere zum Schweigen zu bringen«, warf ich ein. »Es war jedenfalls ein Tag wie heute«, fuhr der Buchhändler fort, ohne meine Bemerkung zu beachten. »Das Wetter war winterlich kalt, und ich wollte gerade abschließen, als ich sah, wie sich eine Gestalt näherte, die ich ehrlich gesagt für einen Bettler hielt.« »Galván? Lief er so zerlumpt herum?«, fragte ich, während ich mir die Hände an meinem Milchkaffee wärmte. »Es war eher sein unrasiertes Gesicht, die hängenden Schultern und sein Blick, der mich erstarren ließ.« »Erstarren?« »Ja, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll … Irgendwie … Ich konnte mich nicht mehr bewegen!« Ich sah ihn skeptisch an. »Halten Sie mich nicht für einen ängstlichen Menschen, aber seine Augen hatten etwas Hypnotisierendes. Das schwöre ich!« »Und hat er was zu Ihnen gesagt?« »Ja, mit einer Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam.« 131
»Dann kennen Sie also seine berühmte Radiosendung Vollmond?«, erkundigte ich mich überrascht. »Ja, ja, manchmal, wenn ich im Laden umsortiert habe oder bis spät in die Nacht Bücher schleppen musste, hörte ich die seltsamen Geschichten, die er dort erzählte. Na ja, mit derselben Grabesstimme fragte er mich an jenem Tag, ob er noch hereinkommen könne. Ich sagte ihm, er dürfe selbstverständlich eintreten, wenn es nicht allzu lange dauere. Also schloss ich die Tür wieder auf.« Ich bemerkte, dass Mateo zitterte, als er seine Tasse abstellte und dabei etwas Kaffee verschüttete. »Von dem Moment an hatte ich ein seltsames Gefühl. Als ob ich in Gefahr sei. Als ob mir diese Person etwas antun wollte.« »Und was hat er gemacht? Hat er etwas gekauft?« »Ich habe ihn keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Sein bleiches, ausgemergeltes Gesicht war alles andere als vertrauenswürdig. Sein Haar war ungekämmt, und er trug einen langen Mantel bis zu den Füßen: einen dicken, schwarzen, ungepflegten Trenchcoat. Ich sah seine dreckigen Fingernägel und befürchtete schon das Schlimmste. Keine Ahnung, er sah aus, als stünde er unter Drogen. Er war nicht betrunken, das nicht. Es war etwas anderes, er wirkte wie ein Roboter, willenlos. Kurzum, er fragte mich nach einem sehr alten Buch. Einem Fachbuch. Ich war überrascht, weil es sehr schwer zu bekommen ist. Wofür zum Teufel wollte er es haben?« Ich holte mein Notizbuch heraus. Sichtlich nervös fuhr Mateo fort: »Er fragte nach der Medizinischen Studie über die Pest in der Provinz Toledo von Dr. Leandro Sárraga. Ein Buch aus den zwanziger, dreißiger Jahren für Arzte oder Gerichtsmediziner, das ich natürlich nicht hatte und auch sonst niemand in der Stadt. Außerdem fragte er mich nach einer Landkarte von der Gegend, aber ich sagte ihm, dass ich auch damit nicht dienen könne. Ich erinnere mich, wie er dann auf diese alte Karte 132
gezeigt hat, die in meiner Buchhandlung eingerahmt an der Wand hängt. Wissen Sie, welche ich meine?« Ich nickte und dachte an die große Karte im Eingang. »Er ging ganz langsam darauf zu. Ich befürchtete schon, er würde Schwierigkeiten machen, und schaute zur Tür, um zu sehen, ob Leute in der Nähe waren: Aber da war niemand, kein Mensch, wie immer, wenn es dunkel wird.« »Und was hat er mit der Karte gemacht?« »Er hat sie eine Weile angeschaut und dann auf einen ganz bestimmten Punkt gezeigt.« »Tinieblas?« »Genau. Er legte den Finger auf das Zeichen der Ruinen von Goate und fragte mich, ob über diesen Ort etwas veröffentlicht worden sei. Ich sagte ihm die Wahrheit: Über diese Gegend war nichts geschrieben worden. Dann sah er mich plötzlich hasserfüllt an.« Mateo führte sich die Tasse an die Lippen, ohne zu merken, dass sie bereits leer war. Irritiert stellte er sie zurück. »Ich dachte schon, er geht gleich auf mich los. Er sah aus wie ein Raubtier, das sich auf seine Beute stürzen will. Seine langen Finger waren schon gespreizt … Ich blieb wie angewurzelt stehen und bewegte mich nicht vom Fleck. Aber statt anzugreifen, machte er auf dem Absatz kehrt und ging. Er murmelte etwas, das ich aber nicht verstehen konnte. Er hat dann angeblich noch eine Zeit lang in einem Haus in der Straße Hombre de Palo gewohnt. In so einem dreckigen Loch. Damals war die Gegend ja noch nicht saniert, die Häuser waren baufällig und billig. Aber er ist mir danach nie wieder über den Weg gelaufen.« »Er verschwand einfach so?« »Ja. Wie von der Erde verschluckt. Aber als seine Leiche auf dem Friedhof gefunden wurde und diese Notiz in La Tribuna 133
erschienen war, wurde ich neugierig. Ich habe sogar mit María Lardín gesprochen, die die Todesnachricht geschrieben hatte, aber sie wusste weiter nichts zu berichten. Es war mehr oder weniger das, was die Polizei ihr erzählen wollte. Wie Sie sehen, sind wir hier nicht gewohnt, Nachforschungen anzustellen.« »Mehr ist also nicht veröffentlicht worden?« »Nur das. Er war bereits einige Tage tot, als man ihn fand. Dort geht ja auch normalerweise niemand hin. Ich rief dann Pater Moraza in Rom an, weil ich die Vergangenheit des Ortes kannte. Mir kam diese Besessenheit eines Journalisten merkwürdig vor: Ein Ort, den nur wenige kennen und wo vor sehr vielen Jahren seltsame Dinge geschehen waren. Vielleicht wollte er ja über die Geschichte dieses Ortes berichten … Wer weiß.« Es war zwei Uhr nachts, als wir uns schließlich verabschiedeten. Ich wollte noch einen kleinen Rundgang machen und in Ruhe nachdenken. Ich brauchte frische Luft und spazierte umher, bis ich die Straße Hombre de Palo entdeckte. Während ich mir die Schaufenster der geschlossenen Läden ansah, in denen sich die Dunkelheit widerspiegelte, spielte mir meine Phantasie plötzlich einen Streich. In einigen Fenstern glaubte ich den Widerschein von Galváns Gesicht zu sehen, seine unheimlichen Augen, die mich beobachteten. Fleischerei Garcinuño. Seit 1879. Hinter der Fensterscheibe blickte mich das Gesicht eines Schweins am Fleischerhaken mit einem verzerrten und makaberen Lächeln an. Aus seinem Maul tropfte eine dünne Blutspur. Auf dem Ladentisch aus weißem Stein waren zwei geschärfte Messer zu sehen. Hinter den Gardinen der anderen Holzfenster war es dunkel. Hinter einem dieser Fenster muss sich Galván in den letzten Tagen seiner fieberhaften Recherche
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verkrochen haben, die durch seinen Tod schließlich so gewaltsam unterbrochen wurde. Ich ging weiter bis zum Ende der Straße. Dort fiel mein Blick auf eine Kachel mit einem seltsamen Wesen an der Wand. Ich räusperte mich und las mir die Inschrift leise vor, in der Absicht, die erdrückende Stille zu brechen: »Der Legende nach baute der erlauchte Juanelo Turriano, Erfinder, Okkultist, Genie und Uhrmacher von Karl V., einst eine Holzpuppe, die durch einen Mechanismus wie ein menschliches Wesen laufen konnte. Ihr Schöpfer stellte die Figur so ein, dass sie durch die Straßen Toledos lief und für ihn Besorgungen erledigte. Manche sagen, diese Besorgungen bestanden darin, täglich in den Bischofspalast zu gehen, um für den Künstler selbst eine Essensration oder ein Almosen abzuholen.« Während ich diese Zeilen las, verspürte ich eine plötzliche Kälte, wie eine eisige Zunge, die mich von den Knöcheln bis zum Nacken einmal abgeleckt hatte. Ich drehte mich unvermittelt um und schaute auf die lange, völlig leere Straße hinter mir, während ich etwas zu erkennen versuchte. Aber da war nichts. Nicht mal eine armselige schwarze Katze. Als ich weiterging und die Querstraße schon fast verlassen hatte, drehte ich mich aus einem Impuls heraus erneut sehr schnell um und entdeckte einen Schatten an der Wand, nicht sehr weit von mir. Es war der Schatten einer alten Frau mit einem Kopftuch, der an der linken Häuserwand entlangglitt und auf mich zukam. So schnell ich nur konnte, lief ich los, an Läden und Kneipen vorbei, die schon vor Stunden geschlossen hatten. In der Stille hörte ich mein eigenes Keuchen. Als ich beim Alcázar ankam, war immer noch keine Menschenseele zu sehen. Von Panik 135
ergriffen lief ich ins Parkhaus, stieg ins Auto und startete den Motor. Doch plötzlich ertönte ein furchtbares Geräusch, wie ein langgezogener Schrei, der mir durch Mark und Bein ging. Ich trat auf die Bremse und begriff: Wieder hatte ich mit der Hintertür die Säule gestreift. Der Schaden war mir völlig gleichgültig. Im Rückwärtsgang schlängelte ich den Wagen durch die freien Parkplätze und tastete in meiner Jackentasche nach der Visitenkarte, die mir Pater Moraza gegeben hatte: Esteban Plaza Marcos Diözesanarchivar In der Überzeugung, diese schreckliche Gestalt könnte jeden Augenblick vor der Kühlerhaube auftauchen, schaltete ich das Fernlicht ein. Und als ich schon auf der Schnellstraße war, stellte ich sie mir in der dunklen Nische hinter dem Fahrersitz vor. Dort, wo man auch durch den Rückspiegel nicht hinsehen konnte.
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18 »Können wir uns denn nicht woanders treffen?« Es gab einen Ort, vor dem ich besonders großen Respekt hatte. Vielleicht suchte ich deshalb an diesem Morgen nach einer Ausrede. »Kommt nicht in Frage«, erwiderte Dr. Baltasar Trujillo am anderen Ende der Leitung. »Ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit. Es hat einen schweren Unfall in Aluche gegeben. Also werde ich bis spät im Institut sein. Das kann die ganze Nacht dauern.« Er war einer der angesehensten Gerichtsmediziner im Land. Mit viertausend Autopsien hatte er einen beachtlichen Lebenslauf vorzuweisen, mit dem sich nicht jeder schmücken konnte. Er sprach stets langsam und leise. »Die Toten erzählen uns viele Dinge. Auf ihre Weise sprechen sie zu uns. Wie hieß der Mann nochmal, für den du dich so sehr interessierst?« Trujillo war ein unverbesserlich neugieriger Mensch und einer dieser Freunde, die Gold wert sind. Ich hatte ihn bei einer Reportage bei Radio Nacional de España kennengelernt. Damals ging es um ein berühmtes Verbrechen im Landhaus Los Galindos, das seinerzeit ungestraft geblieben war und nach zwanzig Jahren plötzlich viel Staub aufwirbelte. Damals sprang bei der Arbeit zwischen uns der Funke über. Die Chemie stimmte einfach. Wir sprachen dieselbe Sprache: eine Sprache der Suche nach dem Unbekannten. Von diesem Augenblick an zog ich Dr. Trujillo als Spezialisten häufiger in meiner Radiosendung zu Rate. Er wurde vom gesamten gerichtsmedizinischen Berufsstand respektiert und war es gewohnt, seine Fühler in Bereiche auszustrecken, an 137
die andere sich nicht heranwagten. Meine Hörer wussten außerdem seine sachlichen Kommentare und seine einfache Ausdrucksweise zu schätzen. »Du und deine ungewöhnlichen Abenteuer. Also sag schon, was ist diesmal passiert?« »Ich weiß es noch nicht so genau«, antwortete ich, während ich in meinem Block herumkritzelte, »aber möglicherweise ging die Leiche dieses Mannes ja durch deine Hände. Man hat ihn vor fast dreißig Jahren auf einem verlassenen Friedhof tot aufgefunden. Er lag auf einem Grabstein. Sein Gesicht war verzerrt und sein Körper merkwürdig verkrampft. Vielleicht erinnerst du dich, denn viele solcher Fälle dürfte es nicht geben, oder?« Ein lautes, metallisches Kreischen war zu hören. Es war so unangenehm, dass es in den Zähnen wehtat. »Mmh, nun ja, ich habe gerade viel Arbeit. Aber komm doch um halb elf in der Fakultät vorbei. Ich werde noch arbeiten.« Wieder konnte ich das unverwechselbare Geräusch der Kreissäge hören, mit der er menschliche Knochen sauber durchtrennte. »Ich muss auflegen, mein Freund, ich sagte ja schon, dass hier viel zu tun ist.« Ich überlegte, wie ich den Tag bis zu dem Treffen mit Trujillo sinnvoll nutzen konnte, und beschloss, der Nationalbibliothek einen Besuch abzustatten. Mein Ziel war klar: Ich wollte das gleiche Buch lesen, nach dem Lucas Galván in seinen letzten Tagen in Mateos religiöser Buchhandlung gefragt hatte. Vielleicht lag darin der Schlüssel zu dem Rätsel, das ihn in den Tod gestürzt hatte. Bevor ich durch die Säulenhalle des eindrucksvollen Gebäudes ging, betrachtete ich den prächtigen Cervantes-Saal, wo ich in den vergangenen fünfzehn Jahren schon so viel recherchiert 138
hatte. Ein fleißiger Student machte sich in einer Ecke Notizen, ein Gelehrter mit Nickelbrille strich zwischen den unendlichen Bücherregalen herum, und weiter hinten, fast in der Mitte des Saals, gähnte ein Bibliotheksangestellter, während er Briefmarken auf verschiedenfarbige Zettel klebte, mit denen besondere Akten oder Fotokopien bestellt wurden. Ich ging weiter, füllte die entsprechende Karteikarte für meine Bestellung aus und legte meine Sachen auf einen der Holztische. Im schummrigen Licht zwischen dem dunklen Holz hingen ein paar Bildschirme an der Wand. Rote Digitalziffern zeigten jedem Besucher an, wann seine Bestellung bereitstand und abgeholt werden konnte. Aus dem Augenwinkel schaute ich auf die Uhr und beschloss, in der mir so vertrauten Cafeteria im Keller zu warten. Wie viele Stunden meines Lebens hatte ich wohl dort bei einem Kaffee und einem Stück Kuchen verbracht? Wie vielen Geheimnissen war ich in diesem Gebäude schon auf die Spur gekommen? Würde ich auch das Rätsel um Lucas Galván hier lösen können? Das Gelächter von drei Archivarinnen, die an den unverwechselbaren weißen Kitteln und den Namensschildern am Revers zu erkennen waren, riss mich aus meinen Gedanken. Ich beschloss mit dem Aufzug wieder nach oben zu fahren und in dem hellen und stillen Raum der Buchausgabe zu warten. Im Aufzug schaute ich in den Spiegel und erkannte die grässliche Wirkung des weißlichen Lichts auf die dunklen Augenringe in meinem Gesicht. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, gab mir eine junge Bibliotheksangestellte die durchgestrichene Karteikarte zurück. »Dieses Buch können wir Ihnen nicht aushändigen«, sagte sie mir mit frisch lackierten Fingernägeln.
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Der Ausdruck von Skepsis in meinem Gesicht ließ sie sofort hinzufügen: »Dieses Buch, ein Einzelexemplar, ist nicht an seinem Platz. Die Signatur ist korrekt, aber die Studie ist nicht mehr da.« »Sie ist nicht mehr da?«, wiederholte ich lautstark, während sich von rechts ein Mann mit herausgeputztem Bärtchen näherte und mit einer beschwichtigenden Handbewegung um Ruhe bat. Es war zweifellos der Leiter dieser Abteilung. »Sie haben es doch gehört. Das hier«, erklärte er, nachdem er die rosafarbene Karte aus den Händen seiner Kollegin gerissen hatte, »kann nicht konsultiert werden. Ich bitte Sie, ein anderes Buch zu bestellen.« »Aber ich suche nun mal dieses spezielle Buch. Und im Katalog ist nicht vermerkt, dass es fehlt.« »Aber das tut es! Es fehlt seit …« Er hielt sich den bekritzelten Zettel näher vor die Augen. »Seit 1977!« Als zweifelte er an seinen eigenen Worten, schaute er das Mädchen überrascht an. »Und Sie haben es seitdem nicht ersetzt?«, fragte ich und lehnte mich an den Schalter. »Also, es sieht so aus, als habe es jemand bestellt und dann nicht zurückgebracht. Das kommt manchmal vor.« »Und dürfte ich erfahren«, beharrte ich, »wer es als Letzter eingesehen hat?« »Also, ähm …«, stotterte er, während er seinen Bart kraulte, »das sind persönliche Daten, die keinen etwas angehen. Besitzen Sie überhaupt einen Ausweis für die Nationalbibliothek?« »Selbstverständlich. Ich bin Leser am Tisch 104. Sie können das gerne überprüfen.« Ich zeigte auf den kleinen vorsintflutlichen Karteikasten, wo die Ausweise beim Eintreten in diesen Bereich normalerweise aufbewahrt werden. Der Mann sah mich misstrauisch an, und 140
ich glaubte, so etwas wie Verachtung in seinem Blick zu erkennen. »Sie müssen verstehen«, fuhr er bemüht freundlich fort, während er den Karteikasten öffnete, »dass ich bei Ihrem sturen Beharren auf ein Buch, das vor so langer Zeit gestohlen wurde, gezwungen bin …« Plötzlich hielt er inne. Schweigend überprüfte er erneut meine Daten. Anschließend musterte er mich von oben bis unten. Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. »Sie sind Aníbal Navarro, der mit der nächtlichen Radiosendung! Das sind Sie doch, nicht wahr? Warum haben Sie das nicht früher gesagt?« Ich lächelte gezwungen und ergriff seine ausgestreckte Hand. »Federico Alonso. Sehr erfreut. Zusammen mit meiner Frau höre ich immer Ihre Sendung! Bitte, Sie müssen ihr ein Buch signieren! Ich zahle auch dafür, ja? Was für ein Geburtstagsgeschenk!« Während er mich mit Komplimenten überschüttete, wartete ich darauf, dass er mir meinen Ausweis zurückgab. Wenig später folgte ich ihm durch einen Bereich, der für Besucher normalerweise unzugänglich war. Ich hatte das Gefühl, eine für den Normalsterblichen verborgene andere Welt zu betreten. Das Zentralarchiv der Nationalbibliothek! Kilometerlange Regale. Hunderte von Räumen. Millionen von Bänden. Milliarden von Wörtern, Gedanken, Abenteuern, Liebschaften, Tragödien! Alles schlummerte in jener Dunkelheit, die sich nun vor meinen Augen auftat. »Und was verbirgt sich hinter diesem Buch, mein lieber Freund? Etwa ein neues Geheimnis? Ein neues paranormales Phänomen?«, fragte mich Alonso, während er eine lange Metallleiter auf Laufschienen stellte, die ins Nichts zu führen schien.
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»Na ja, neu würde ich nicht sagen. Ein Reporter hat sich vor vielen Jahren sehr für dieses Buch interessiert. Er kam unter seltsamen Umständen ums Leben. Vielleicht hatte er in dem Buch etwas entdeckt.« »Heiliger Strohsack! Hat ihn etwa das, was er gelesen hat, ins Grab gebracht?« Der Abteilungsleiter blickte mir fest in die Augen und hoffte auf weitere Einzelheiten. Da ich weiter schwieg, zog er sich die Strickjacke aus und drückte sie mir in die Hand. Dann kletterte er geschickt die Stufen der Leiter hinauf. Das Geräusch des Blechs unter den Schuhen war mehrmals zu hören, bis es vor einer der Kassetten Halt machte, die mich an die Grabnischen auf dem verlassenen Friedhof erinnerten. »Voilà!«, hörte ich ihn dumpf rufen, da er mit halbem Körper in dem Hohlraum steckte. Als er sich wieder im Freien befand, hielt er sich mit der linken Hand an der Leiter fest und klopfte sich mit der anderen den Staub von seinem Hemd. Er hielt eine cremefarbene Karteikarte in der Hand. Sie war etwas größer als die anderen Karten, und eine Ecke hatte sich durch die Feuchtigkeit gewölbt. »Danach haben wir gesucht!«, sagte er abenteuerlustig und stieg eilig die Stufen wieder herab. Ich lächelte ungeduldig. Neugierig nahm er den Zettel in beide Hände und hielt ihn unter das weißliche Licht der Lampe in der Mitte des schmalen Ganges. »Galván Giménez, Lucas. Ausweisnummer: 11.267. Letzter Besuch: 30. Oktober 1977. Pass 18599, Tisch 73. Das ist der Dieb! Das ist er!« Als ich den Namen hörte, wurde mir plötzlich schwindelig. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich musste mich am Geländer festhalten. 142
Stolz reichte Alonso mir die Karteikarte, die wegen des Diebstahls einbehalten worden war. Dort erkannte ich die unleserliche Unterschrift von Lucas Galván und die typisch kantigen Buchstaben. Sie wirkten so unstrukturiert und wirr wie seine Gedanken und ragten sogar über die für die Einträge vorgesehenen gepunkteten Felder hinaus. Bevor Lucas Galván wie ein Gespenst verschwunden war, hatte er offenbar regelmäßig zwei Abteilungen der Nationalbibliothek besucht: antike Kunst und Epidemiologie. Sonderbare Mischung. »Wurde er deshalb angezeigt?«, fragte ich, während ich den Zettel wie die letzte Reliquie eines Heiligen an mich nahm. »Das steht hier nicht. Das Buch war kein Frühdruck, um es mal so zu sagen. Nur bei wirklich wertvollen Werken strengen wir eine polizeiliche Verfolgung an. Dieser Diebstahl hat sicher nicht dazu geführt, höchstens zu einer Abmahnung. Es handelt sich um ein Fachbuch, das im Laufe fast eines Jahrhunderts nur sehr selten konsultiert worden ist.« »Und wie hat er es geschafft, mit dem Buch an sämtlichen Sicherheitsvorkehrungen vorbeizukommen? Wo hat er es versteckt? Wie hat er es aus dem Gebäude gebracht?« »Sie müssen bedenken«, erklärte Alonso und wies auf die Tür am Ende des Ganges, »dass vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren hier alles viel einfacher war. Es gab noch nicht einmal Sensoren an den Ausgängen. Das Buch muss ihm aber wirklich sehr wichtig gewesen sein, denn sicher wusste er nur zu gut, dass er hier nie wieder etwas würde ausleihen können.« »Steht da seine Adresse?«, fragte ich und überflog den Zettel. »Aber, wenn er schon tot ist, wofür wollen Sie dann …« »Bitte, es ist wichtig. Sehr wichtig.« Der Mann lächelte und fühlte sich schon mitten im Abenteuer. »Ich verstehe. Das Geheimnis. Die Nachforschungen … Keine Sorge, alles streng vertraulich!« 143
Er legte den Zeigefinger an die Lippen, nahm die Karteikarte und ging leichten Schrittes hinaus. Ich folgte ihm. Als ich sah, wie der Abteilungsleiter eine von diesen flexiblen, fünf Zoll großen Microfiche-Disketten nahm, die aus einer Zeit stammten, in der das Internet noch in weiter Ferne lag, befürchtete ich zunächst das Schlimmste. Doch der vorsintflutliche Computer brummte eine Minute lang, dann tauchten auf dem kleinen unscharfen Bildschirm lauter Großbuchstaben auf. Die grün phosphoreszierenden Zeichen ließen mich vor Freude in die Luft springen. Hombre de Palo, 66, 1. Stock. Toledo. Was nicht einmal die Leute wussten, die ihm nahe gestanden hatten, verriet mir nun dieses Gerät aus der Steinzeit der Informatik. Ich war drauf und dran, mich auf den Monitor zu stürzen und ihn zu umarmen. Doch ich hielt mich zurück. Bevor ich mich von dem hilfsbereiten Abteilungsleiter verabschiedete, versprach ich ihm eine signierte Ausgabe meiner letzten Veröffentlichung für seine Frau. Beim Abschied sagte er etwas, was meine Laune noch weiter hob: »Ich glaube, es gibt noch eine andere Möglichkeit, mehr über diese Person herauszufinden, oder zumindest darüber, was er hier gemacht hat. Ich halte sie auf dem Laufenden.«
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19 Der alte Pförtner am Gerichtsmedizinischen Institut für Anatomie der Universität Madrid konnte mich durch den heftigen Platzregen kaum hinter der Scheibe erkennen. Er kam hervor und hörte sich meinen Wunsch an. Nachdem er mir den Weg gezeigt hatte, verschwand er schnell wieder in seiner Pförtnerloge, wo gerade die letzte Ausgabe der Nachrichten im Fernsehen lief. Ich kam spät. Doch ich war mir sicher, Baltasar Trujillo arbeitete noch und versuchte den Geheimnissen der Toten auf die Spur zu kommen. Der lange, grün gekachelte Flur mit großen Fenstern, durch die man normalerweise in den Garten sehen konnte, zwang den Besucher zu einer plötzlichen Drehung um neunzig Grad. Ein Schild mit einer verblassten Aufschrift kündigte an: Gerichtsmedizin / Leichenschauhaus Ich hörte meine eigenen Schritte, als ich im grellen Licht wie in einem alten Krankenhaus der Nachkriegszeit zügig weiterging. Die entsetzlichen Fotos an den Wänden wollte ich mir eigentlich nicht genauer ansehen. Es waren Bilder aus einer anderen Zeit. Schwarz-Weiß-Szenen wie die Fotos in Lucas Galváns letzter Reportage: Eingefallene Gesichter mit offenem Mund. Menschen, die verkrüppelt, niedergestochen, von Kugeln durchlöchert und ertränkt worden waren. Sie waren dort gefangen in einem eingerahmten Fegefeuer, das niemand mehr beachtet.
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»Teruel, Oktober 1922, Autopsie von Dr. EscalanteVillanueva. Bäuerin, die durch einen elektrischen Schlag gestorben ist. Tod nach Verbrennungen durch Blitzeinschlag«. Der Rücken der Toten war aufgedunsen, die Arme lagen zu den Seiten ausgestreckt. Der Kopf war auf die Größe eines Puppenkopfes verbrannt. Wie ein tödliches Tattoo verlief vom Nacken bis zum Steißbein ein tief eingebranntes ZickzackMuster auf der Haut. Bei näherem Hinsehen konnte ich erkennen, wie die Wirbelsäule als Blitzableiter gedient haben musste. Schnell ging ich weiter. Am Ende des Ganges führte eine Wendeltreppe nach oben. Dort hing ein weiteres Hinweisschild: Zum zweiten Stock / Leichenschauhaus Da dieser Bereich fast völlig im Dunkeln lag, musste ich mich am Holzgeländer festhalten und langsam vortasten. Am Ende des Flurs im zweiten Stock tauchte ein einsamer Glaskasten auf, der direkt angestrahlt wurde. Ich ging näher heran, um den Text zu lesen. »Tarancón, Cuenca, 1904. Zyklopen-Baby mit schlauchartiger Rüsselnase, das zwei Tage lebte«. Schwerelos schwamm der kleine Körper in einem Glasbehälter mit verschmutztem Formaldehyd. Auf den durchscheinenden Händen zeichneten sich Knorpel und rötliche Venen ab. Die Finger waren zusammengekrallt. Mit nur einem einzigen bläulichen Auge mitten im Gesicht wirkte das Wesen wie ein Wachposten, der dort vergessen worden war. 146
»Mitten in der Nacht ist es hier ja wie in der Geisterbahn!«, rief ich Trujillo zu, als ich endlich in den länglichen, hell erleuchteten Raum gelangte, in dem er arbeitete. »Gilt das auch mir?«, erwiderte er mit einem Lachen, wofür ich ihm augenblicklich dankbar war. Mit seiner breiten Glatze und dem weißen Haarkranz, der ihm über die Ohren fiel, wirkte Trujillo wie eine freundliche Lichtgestalt. Ich ging auf ihn zu und wollte ihn umarmen, aber er wies mich zurück. Sein Kittel war voller Blut. Erst jetzt sah ich, dass auf dem Metalltisch mitten im Raum ein Körper lag oder vielmehr die Hälfte eines menschlichen Körpers, der millimetergenau zerlegt worden war. Noch immer war das dumpfe Geräusch abfließender Flüssigkeit zu hören. Trujillo muss sich im Laufe der Jahre an den Geruch gewöhnt haben, jedenfalls schien er ihn nicht mehr wahrzunehmen. Doch mir wurde augenblicklich schwindelig von der Luft, die nach Lösemittel oder sehr starker Lauge roch und alles andere überlagerte. »Aníbal, du wirst ja ganz bleich! Ich decke ihn ja schon zu.« Obwohl sich seine Hände in den cremefarbenen Gummihandschuhen schnell bewegten, konnte ich den Torso einer Frau ohne Kopf erkennen, bevor Trujillo ihn mit einer Plastikplane bedeckte. »Es ist wirklich bitter hierherzukommen, Herr Doktor. Mir wird ganz schlecht!« Prof. Baltasar Trujillo, fünfundsechzig Jahre alt, Emeritus und außerdem Dr. h. c. an drei Universitäten, nahm diverse Utensilien, die wie Zahnarztbohrer aussahen, und legte sie unter den Wasserhahn. »Solange du als lebendiger Journalist hierherkommst, ist alles gut. Ich hoffe, ich muss dich nie auf andere Weise empfangen!« Den typischen schwarzen Humor der Gerichtsmediziner habe 147
ich nie verstehen können. Nachdem ich mein Gesicht zu einem Lächeln verzogen hatte, legte Trujillo die Arbeitskleidung ab, einschließlich der durchsichtigen Haube, mit der er wie ein Lebensmittelhersteller aussah. Er faltete sie zusammen und legte sie auf einen der leeren Tische. Auf vier weiteren Tischen lagen verdächtige Bündel. »Ein Gerüst ist bei dem Unwetter zusammengebrochen, und nun schau dir das an! Diese Menschen stammen aus Osteuropa und haben keine Papiere. Eine Tragödie, von der nur wenige Zeitschriften berichten werden. Magst du einen Kaffee?« Ich verneinte mit dem Kopf. In diesem Moment hätte kein einziger Tropfen in meinen Magen gepasst, ohne Brechreiz auszulösen. Wir gingen hinaus, und ich beschloss, zur Sache zu kommen. »Weißt du schon etwas über meinen Fall?« »Ich habe kaum Zeit gehabt«, erklärte Trujillo, während er auf den Kaffeeautomaten einschlug, der gerade eine Euromünze verschluckt hatte, aber nichts ausspuckte. »Aber zum Glück habe ich ein paar Dinge entdeckt, die dich interessieren könnten.« Wie durch Zauberhand war meine Übelkeit plötzlich verschwunden. Ich nahm sogar die Einladung zum entkoffeinierten Automatenkaffee an. »Es sieht so aus, als ob dieser Mann, dieser Galván, in einem sehr schlechten Zustand war, als man seine Leiche fand. Er muss hier gelandet sein«, sagte Trujillo und zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Tür vom Leichenschauhaus, »als ich gerade an der Fakultät in Dublin war. Deshalb kann ich mich an keine Einzelheiten erinnern. Wie du weißt, behalte ich alle seltsamen Fälle, und diesen hätte ich sicher nicht so leicht vergessen.« »Und wer hat die Autopsie durchgeführt?« 148
»Das war ein hervorragender Fachmann, der …« »War?«, unterbrach ich ihn. »Darauf wollte ich gerade hinaus. Er starb 1983. Und du wirst es nicht glauben, aber es dürfte sehr schwer werden, diese Akten von damals zu finden.« Ich trank meinen Kaffee aus, zerdrückte den braunen Plastikbecher und warf ihn in Richtung Papierkorb, ohne zu treffen. »Ich brauche dir nichts zu erzählen: Keine Umstellung auf EDV, katastrophale alte Archive, die übliche Nachlässigkeit … Nur die wichtigsten Fälle wurden auf das Programm CDE1 übertragen, also auf den digitalen Aktenkatalog erster Kategorie. Ohne die Totenscheinnummer aber ist es unmöglich, etwas zu finden.« »Galván war nicht im Entferntesten ein Fall erster Kategorie, oder?« »Ganz sicher nicht. Ein armer Teufel, der auf einem Friedhof an einem Herzinfarkt stirbt, ist kein Staatsverbrechen oder ein Grund zur Exhumierung.« »Und woher weißt du, dass er in einem sehr schlechten Zustand war?« Der Gerichtsmediziner nahm einen letzten Schluck Kaffee, warf den Becher weg und zog sich makellose neue Gummihandschuhe über. »Ich habe einen alten Freund am Gericht in Toledo, mit dem ich telefoniert habe. Er war zwar nicht dort, als es geschah, aber jetzt, wo er im Ruhestand ist, hat er Zeit, sich die ein oder andere Pressenotiz anzusehen. Er konnte sich außerdem an die Bemerkung eines Gerichtsdieners erinnern, der wohl die ersten Fotos am Fundort geschossen hat. Auf einem nicht mehr genutzten, entlegenen Friedhof fand man einen Körper im fortgeschrittenen Verwesungszustand. Die Leiche war bereits so 149
stark verwest, dass man zunächst annahm, sie sei bei einer Grabschändung an die Oberfläche gebracht worden.« Plötzlich fühlte ich mich wieder nach Tinieblas versetzt und stellte mir den Friedhof vor: diesen einsamen Ort und die gemalten Gestalten an der Wand mit den leeren Augen. »Immerhin könnte man aber doch vorsichtshalber einen Blick ins Archiv werfen«, beharrte ich. »Das ist Zeitverschwendung, mein Freund. Wenn ich dir das Zimmer zeige, in dem nicht zurückgesendete oder nicht eingeforderte Akten aufbewahrt werden, kriegst du einen Anfall. Man muss zumindest die Aktennummer haben, um …« »Zeig mir die Akten!«
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20 ATELIER VON HIERONYMUS BOSCH 1500 Der Dachboden lag im Dunkeln. Nur in einer Ecke schimmerte ein rötlich pulsierender Punkt. Das verzerrte Gesicht des Malers näherte sich einem Spiegel. In dem Haus, in dem er mit seinem Großvater gelebt hatte und das ihm jetzt als Atelier diente, herrschte absolute Stille. Selbst seiner Frau, der schönen jungen Aleyt, war der Zutritt zum Atelier untersagt. So wie es der geheime Glaube vorschrieb, hatte er seit vier Tagen nichts mehr gegessen und war in die Schattenwelt abgetaucht. Während er immer wieder gebetsartige Formeln aufsagte, reiste er in die Tiefen seiner eigenen Abgründe auf der Suche nach etwas, was die meisten Menschen nicht kennen und erst beobachten können, wenn es keine Möglichkeit mehr zur Rückkehr gibt. Vor dem einzigen Fenster hing eine schwere Decke, sodass man nicht wusste, ob es draußen taghell oder schon die Dunkelheit der Nacht hereingebrochen war. So verweilte er stundenlang. Außer einer Schüssel mit Wasser, den verbotenen Büchern über die geheimen Lehren und einer Art glühendem Hufeisen, das ein wenig abseits leuchtete, hatte er nichts bei sich. Hieronymus war nackt. Über seine weiße Haut liefen durchsichtige Schweißtropfen, die sich bis auf den Holzboden schlängelten. Die Luft war stickig. Das Gesicht im Spiegel bewegte sich und veränderte seinen Ausdruck. Plötzlich schien es verzerrt wie eine Monsterfratze. Dann drehte sich alles wie in einem unaufhörlichen Taumel. Der Maler stürzte einen steilen, scheinbar unendlichen Abhang 151
hinab. Er fiel wie ein Sack, der von einem Schiffsmast ins Meer geworfen wird. Dabei prallte er gegen ein festes Hindernis und schrie auf vor Schmerzen. Dann spürte er seinen kurzen Atem und die Taubheit in den Ohren. Auf dem Boden rollte er sich hin und her, bis er so heftig gegen die Wand stieß, dass er zurückgeworfen wurde, nur um sich kurz darauf erneut dagegen zu werfen. Immer wieder fielen seine Gedanken ins Bodenlose, während der Magen in die Brust wanderte und er nicht atmen konnte, weil so viel Luft in Nase und Lunge drangen, dass sie blockiert waren. Alles war rot, dunkel, unendlich. Und plötzlich herrschte Ruhe. Er hatte die Schmerzgrenze überschritten und das Bewusstsein verloren. Hieronymus spürte, wie er sich ganz langsam löste. Leicht wie eine Feder, weißlich und faserig, stieg er nach oben und schwebte mitten in einem sternlosen Nichts. Die Arme versanken in der Luft; sie verschwanden und tauchten wieder auf, als würden sie im Äther schwimmen. Dann erschien ein Gesicht. Ein Mensch? Ein Tier? Es war sowohl Mensch als auch Tier, ein Ungeheuer, das näher kam. Eine Spinne mit dem lächelnden Gesicht einer alten Frau kroch sehr schnell auf ihn zu und drang mit ihren giftigen Beinen in den Äther ein. Auf ihrem dicken Körper prangte ein gelbes Kreuz. Hieronymus spürte seine Hände und Füße nicht mehr. Sie waren verschwunden. Dort, wo sich die Gliedmaßen befanden, hatte sich alles in eine widerlich glänzende Kugel verwandelt. Das tödliche achtäugige Spinnentier gab ein summendes Geräusch von sich. Im Maul blitzten zwei große scharfe und glänzende Dolche auf. Wie Eckzähne aus Metall hingen sie über einem offenen Schlund, in dem ganz hinten aus dem Magen Gesichter zu erkennen waren. Es waren die 152
Gesichter von gequälten Kindern, die ineinander verschmolzen und aus der Tiefe dieser widerlichen Gedärme nach ihm riefen. Er versuchte, sich aus der gallertartigen Falle zu befreien, schwitzte und atmete schwer. Die Luft blieb ihm weg. Er schaute auf seinen Unterleib und begriff, dass er sich in eine Fliege verwandelt hatte, in eine faulige Fliege, die ins Netz gegangen war und gleich verschlungen werden würde. Durch einen kräftigen Schlag auf die Schläfe löste sich plötzlich alles auf. Wie ein Kartenhaus fiel die Szene in sich zusammen. Das giftige Ungeziefer verschwand in eine ferne Dimension. Hieronymus hielt sich an der Nabelschnur fest, die aus seinem Bauch wuchs. Er zog daran, als wäre sie die Verbindung zu einer anderen Welt. Er spürte, wie das Blut wieder durch seine Adern floss. Er spürte den Druck auf dem Brustbein, den inneren Knall, den man fühlt, wenn man aus der Tiefe auftaucht, wenn man schon fast keine Luft mehr in der Lunge hat und endlich die Oberfläche erreicht. Seine Hände berührten die Stelle am Kopf, die getroffen war. Er konnte sich kaum aufrichten. Als er die Augen öffnete, stellte er jedoch fest, dass alles beim Alten war: das Eisen, das ein wärmendes, funkelndes, kristallenes Licht ausstrahlte, das verdeckte Fenster, der stickige Dampf. Seine Fingerkuppen strichen über die Wunde, um die Größe des Lochs festzustellen. Mühsam schleppte er sich bis zu dem großen Tafelbild auf der Staffelei. Es war fast fertig. Vielleicht fehlte sogar nur noch die Unterschrift. Es war ein düsteres Bild mit vielen, bis dahin unvorstellbaren Gestalten. Ein Christus ohne Kopf tanzte mitten in einem Kreis von Ungeziefer, das in keinem wissenschaftlichen Verzeichnis zu finden war. Unter Schmerzen streckte er den Arm aus. Dann brach er zusammen, noch bevor er die Wasserschüssel erreicht hatte. Er fiel in einen tiefen Schlaf und spürte, wie er erneut abhob, wie er 153
bis an den Dachstuhl nach oben geschleudert wurde und dort mit dem Rücken am First hängen blieb. Der Rücken klebte an den Balken, während das Haar und das Geschlechtsteil herabhingen. In einem Zustand völliger Entspannung konnte er sich selbst wie in einem riesigen Spiegel auf dem Boden liegen sehen. Kurz darauf kehrte das Summen zurück. Er hörte das Getöse von mehreren Personen, die heraufkamen. Ein Durcheinander kreischender Menschen, verstimmter Instrumente und unverständlicher Sätze stiegen die Treppe herauf. Sie verlangten Einlass. Wie war das möglich, wo doch nur Jakob den Schlüssel zu diesem heiligen Ort hatte? War es womöglich eine Bande von Verbrechern, die seinen teuren Freund umgebracht hatte und nun ihn hinrichten wollte? Hatte sich vielleicht seine Zugehörigkeit zu der Bewegung herumgesprochen? Erschrocken versuchte er von der Decke herunterzukommen, doch die Balken waren mit einer pechartigen, klebrigen Masse überzogen. Ein brennender Leim hielt ihn dort fest wie eine Schnecke am Stein. Aber er wusste, er musste sofort in seinen Körper zurückkehren und wieder zur Besinnung kommen. Seine Seele musste in das leblose Fleisch dort unten auf dem Boden eindringen, damit er wieder zu sich zu kam und seinen Feinden entgegentreten konnte, die jetzt immer näher kamen. Aber es war zwecklos, er steckte vollkommen fest, die Arme zu den Seiten ausgestreckt und die Beine gespreizt. Er schaute zur Tür und drehte dabei den Kopf so weit er konnte. Von der anderen Seite der Tür waren schon Trompetengeräusche zu hören. Er wusste, sie würden ihn umbringen und seinen Zustand ausnutzen, so bewusstlos, schweißgebadet und ohne Verstand. Er schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht und sah, dass die Besucher schon im Raum waren, ohne dass die Tür geöffnet worden wäre. Doch es waren keine blutrünstigen Nachbarn, die jetzt auf ihn zukamen. Viel schlimmer. Es war eine Schar aus 154
der Schattenwelt, ein Bataillon von Kreaturen, die kein anderer Mensch jemals erdacht oder gesehen hatte. Das Gefolge aus dem Fegefeuer. Verantwortlich für jene Gräuel, die ihn nächtelang verfolgt hatten, nachdem er gewisse Rituale auf dem Brachland vollzogen hatte, wo Jahre zuvor das große Feuer ausgebrochen war. Jene Gräuel, die zusammen mit den Schatten im Fegefeuer erschienen. Ein Zwerg mit Entenschnabel, einem Hut aus Metall und zangenartigen Händen war der Erste, der sich auf den leblosen Körper stürzte. Er stach ihn in die Füße und schüttelte ihn. Hieronymus konnte den Schmerz dort oben spüren, den Stich, der den Fuß durchbohrte, als habe man ihm wie Jesus einen Nagel in den Spann gerammt. Diese grotesken Wesen, diese Flotte des Bösen am Rande des Bewusstseins, schlugen unbarmherzig auf ihn ein. Ein leichenhafter Harfenspieler mit dem Gesicht eines Lamms ohne Haut und Haar spielte ununterbrochen seine Höllenmusik. Eingehüllt in einen grünen Umhang stand er auf dem Rücken einer schrecklichen Amphibie. Ein schleimiger Salamander näherte sich dem verlassenen Maler und biss ihm das Ohr ab, bis die Sehnen freilagen. Hieronymus fühlte das Brennen auf einer Gesichtshälfte. Instinktiv versuchte er, die Blutung mit der Hand zu stillen, doch es gelang ihm nicht. Der Leim an der Decke war stärker. Jetzt tauchten aus der ockerfarbenen Masse winzige Hände auf, Tausende und Abertausende kleiner Kinderhände, die ihn festhielten. Seine abgespaltene und kraftlose Form musste das Grauen mitansehen, das sich dort unten in der Dunkelheit des Ateliers abspielte. Ein riesiger Fisch mit schwarzen menschlichen Beinen und einer Knochenkrone auf dem Haupt lief im Raum umher und stieß aus tiefster Kehle einen Schrei aus, der in den Ohren schmerzte und das Trommelfell zum Platzen brachte. Ein anderes Wesen der Höllenarmee stieg jetzt auf den rutschigen, fettigen Fischrücken. Es war ein Vogel mit einem spitzen 155
Schnabel und einer Gelehrtenbrille. Er hatte einen länglichen, schlangenförmigen Körper und trug Stiefel mit Eisklingen an den Spitzen. Dann lief er zwei-, dreimal durch den Raum und holte schließlich ein dickes altes Buch unter seiner roten Tunika hervor. Er schlug es auf und las ein paar seltsame Worte daraus vor. Der Rest des Gefolges hielt augenblicklich inne. Ruhe kehrte ein. Das große Meerestier erstarrte, und der teuflische Vogel stürzte von der schuppigen Höhe mit seinem langen tödlichen Schnabel nach unten. Er fiel langsam und bedächtig, während er noch mit dem satanischen Buch in den Händen herumflatterte. Am Ende seines Fluges durchbohrte er die Brust des verzweifelten Malers mit solcher Wucht, dass sich sein Schnabel durch den Körper hindurch in den Holzfußboden rammte. Der starke, intensive Schmerz ließ alles schwarz werden. Wie in einem Tubus, in dem nichts und niemand mehr zu erkennen ist. Am Ende des Tubus erschien ein Kreis aus Licht. Es strahlte in so grellem Weiß, dass es in den Augen wehtat. In diesem Licht gab es nur grenzenlose Klarheit, aber in ihrer Unermesslichkeit wirkte sie beängstigend. So vergingen Stunden und womöglich ganze Tage. Schließlich war eine Gruppe von Schatten zu erkennen, die in der Ferne ihre Arme in die Höhe streckte. Dann verblasste alles nach und nach. Vier harte Schläge gegen die Tür weckten Hieronymus auf. Er lag zusammengekauert mitten auf dem Fußboden, und sein Körper war übersät mit blauen Flecken und Kratzern. Bevor er die Augen aufschlug, spürte er, wie sich die Szenen langsam aus seinem Kopf verflüchtigten. Nach und nach lösten sich etliche unterschiedlich dicke Schichten. Die kräftige silberne Schnur, die zuvor aus seinem Nabel gewachsen war, hatte einen roten Abdruck hinterlassen. »Bruder Hieronymus! Seid Ihr da?« 156
Er hatte nicht die Kraft, sich aufzurichten, und hörte, wie die Tür entriegelt wurde. Dann spürte er die Erleichterung, als er eine vertraute Gestalt vor sich sah: ein großer Mann in schwarzer Kleidung. Hose, Strümpfe und Anzug waren aus Samt. Auf dem Kopf trug er einen eleganten Filzhut. Auf den runden Knöpfen spiegelte sich ein rotes Licht, das immer noch in einer Ecke glühte. Auf der Brust des Mannes prangte ein goldenes Wappen. Er hatte einen großen Schnurrbart und tiefgründige Augen. In der Grafschaft Brabant war dieser Mann bekannt als Jakob von Almaigen. Doch für den Maler war er der Großmeister, der Einzige, der an diesem Ort die Geheimnisse mit ihm teilte. Sie sprachen einige Minuten miteinander, doch der elegante Besucher half Hieronymus nicht beim Aufstehen. Er schien zu wissen, dass jeglicher Kontakt mit der Haut des Malers in diesem Moment tödlich sein konnte. Noch stand der Reisende aus der Schattenwelt unter dem Einfluss sehr mächtiger Energien. Almaigen näherte sich dem kreisförmigen Bild und sah, dass es fertig war. Er lächelte und nickte, während Hieronymus ganz langsam seinen nackten Rücken aufrichtete und gegen die Wand lehnte. Er sah das Bild verwundert an, als ob es nicht von ihm stammte und andere es in den Stunden oder Tagen seines Deliriums beendet hatten. Er wusste nicht mehr, wie er es vollbracht hatte. Er erinnerte sich an Umrisse, Fragmente, Lichter und Schatten inmitten des soeben erlebten Albtraums. Jakob von Almaigen trat noch näher an das Bild heran, bis er fast mit der Nase auf das feuchte Öl stieß. Plötzlich fuhr er zusammen: Was er sah, war die leibhaftige Erscheinung eines Imprimatur, der einen um Gnade flehenden Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Es war ein Gesandter der Dunkelheit, der von einem unbekannten und dennoch nahen Ort gekommen war, um in der irdischen Welt Furcht und Wahnsinn zu verbreiten. 157
In seinen nächtelangen unerklärlichen Trancezuständen hatte der Meister das Werk vollendet. Dabei war er dem Entsetzen so treu, als sei dieser Teufel persönlich im Atelier erschienen, um für den Maler zu posieren. »Kann ich mit dem Diamanten darübergehen?« Hieronymus Bosch hockte zusammengekauert in einer Ecke und nickte. Der Mann nahm das rötlich glühende Hufeisen und schüttete etwas Wasser darauf. Eine Rauchwolke erfüllte den Raum. Nun verwandelten sich die Spitzen und fingen mit pulsierender Energie an zu klingen. Trotz der Gefahr, sich zu verbrennen, legte er einen großen Diamanten auf eine der Spitzen. Dann führte er langsam und in sicherer Distanz das Artefakt aus glühendem Eisen und Edelstein über das Bild und hüllte es in Dampf. Eine Farbenexplosion erhellte die Dunkelheit. Dann waren für den Bruchteil einer Sekunde seltsame Dinge auf dem Bild zu sehen, die man mit bloßem Auge nur schwer erkennen konnte: eine dunkle Handfläche und im Hintergrund ein verkehrtes Kreuz. »Wundervoll!«, rief Almaigen mit glänzenden Augen, die in dem stickigen Raum rötlich schimmerten. Nach einer ganzen Weile reichte der schwarzgekleidete Mann dem Künstler ein weißes Nachthemd und sprach begeistert von einer baldigen Anrufung unter freiem Himmel. Hieronymus lächelte zufrieden. Gemeinsam besprachen sie sein nächstes Werk. Doch wie bei dem Bild, das er soeben vollendet hatte, würde niemand den tieferen Sinn verstehen. Bis in alle Ewigkeit würden Vermutungen angestellt werden über den dargestellten Kosmos mit Himmel und Hölle. Es war ein Spiegel der Dimensionen auf beiden Seiten der alltäglichen Wirklichkeit, der nur von Eingeweihten gedeutet werden konnte. Noch bevor die Tür ins Schloss fiel und Hieronymus wieder allein in der Dunkelheit zurückblieb, betrachtete er auf der 158
Staffelei erneut den letzten Teil vom ursprünglichen Paradies, in das man zurückkehren musste. Dies war das oberste Gebot aller Brüder und Schwestern des freien Geistes. Er suchte einen Titel, eine Bezeichnung, die all das umfasste und sein Eintauchen in andere Welten zum Ausdruck brachte. Der Garten der Lüste. »Mein lieber Meister«, sagte Almaigen, als er schon in der Türschwelle stand, »nach diesem großen Werk, das unseren Geist zum Ausdruck bringt und ihn zweifellos jahrhundertelang tragen wird, will ich Euch eine Mission vorschlagen, die über alle bisherigen Erfahrungen hinausgeht. Ich lade Euch zu einer Begegnung ein, die kein Künstler je erlebt hat. Ihr selbst werdet sie porträtieren, um sie all jenen zu zeigen, die sie entschlüsseln können. Ich gebe Euch mein Wort, es wird die endgültige Erfahrung sein, nach der Ihr schon so lange gesucht habt.«
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21 »Ich muss sowieso auf die Antiquariatsbuchmesse in Bilbao. Wenn du willst, verlege ich meine Reise vor, und wir fahren zusammen.« Die Worte von Sebastián Márquez in seinem modernen Verlagsbüro bauten mich auf. »Außerdem habe ich diese letzten Seiten von Lucas Galván gelesen, die du mir gegeben hattest, und ich glaube, in dem scheinbaren Chaos steckt tatsächlich eine Botschaft für Eingeweihte.« »Hast du irgendwas davon verstanden?«, fragte ich neugierig. »Ich glaube, er besaß exklusive Informationen. Aber das erkläre ich dir auf der Fahrt.« »Ich weiß nicht«, antwortete ich niedergeschlagen. »Beim Sender stapelt sich die Arbeit, und ich kriege bestimmt bald Ärger.« Sebastián holte eine Fotokopie von Galváns letztem Artikel aus dem Ablagefach. Außer mir war er der Einzige, der den Artikel besaß. Die Seiten waren mit roten Kreisen versehen und mit Pfeilen übersät, die einzelne Worte miteinander verbanden. »Also, auf seine Weise ist das hier eine Art Testament. Wir sollten in Ruhe darüber sprechen … Zum Beispiel auf dem Weg nach Bilbao!« »Mensch, Sebastián, die vom Radio schmeißen mich noch raus!«, erwiderte ich entschuldigend. »Dann arbeitest du eben für mich. Zum Beispiel könntest du über den Imprimatur schreiben. Das hat deinen Freund, den Reporter, sehr interessiert.« Ich sah ihn skeptisch an. 160
»Vertraue meinem Instinkt. Galván wusste von einigen Dingen, die irgendwie mit den alten animistischen Kulten zusammenhängen, von denen ich dir erzählt habe. Es ist möglich, dass er etwas Bedeutendes entdeckt hat. Komm schon, ich hole dich in zwei Stunden bei dir zu Hause ab. Auf der Fahrt habe ich Zeit, dir alles zu erklären.« »Und was hast du ausgerechnet in Bilbao verloren?« »Ich will ein paar Dinge kaufen«, antwortete er geheimnisvoll und zwinkerte mir zu. »Bücher?« »Verbotene Bücher.« Kurz erwiderte ich seinen Blick. Dann schaute ich wieder auf die Visitenkarte des Fotografen, der wohl nicht im Entferntesten ahnte, dass ich ihm wie ein Spürhund auf den Fersen war. Dieses Stück Papier war das einzige Interessante, was ich nach einer ganzen Nacht fieberhafter Suche zwischen den verstaubten Aktenordnern des Gerichtsmedizinischen Instituts gefunden hatte. Die Kartei über Toledo war zu meiner großen Enttäuschung so gut wie leer. Das einzig Verwertbare war diese weit zurückliegende Referenz auf einen Fotografen, der in den siebziger Jahren alle Aufnahmen und Abzüge für das Gericht gemacht hatte. Wie ich nach einigen Telefonaten herausgefunden hatte, war das Fotostudio Ridaura 1980 an die Meeresbucht Bilbaos gezogen. Dort würde ich suchen müssen. Noch voller Zweifel begab ich mich auf den Heimweg, um ein paar Sachen zu packen. Die Reise kam mir vor wie eine Kamikaze-Aktion. Würde sich dieser Mann überhaupt an die makabere Leiche auf dem Friedhof erinnern? Und falls er sich erinnerte, war er bereit, zu reden? Hatte er weitere Abzüge der Fotos aufbewahrt? Und warum zum Teufel sollte er sie mir dreißig Jahre später geben wollen? Stundenlang hatte ich versucht, dort anzurufen. Doch unter der Nummer war immer die gleiche weibliche Stimme zu hören, die 161
ich mittlerweile abgrundtief hasste: »Der von Ihnen gewählte Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Der grüne Jaguar von Sebastián Márquez sauste wie ein Blitz über die Schnellstraße, während wir die Betonblöcke der Madrider Vororte hinter uns ließen und sich vor uns die ländliche Ebene auftat. Das ungezwungene Erscheinungsbild des Verlegers im karierten Hemd, der sich stundenlang in einer schmierigen Werkstatt im Zentrum Madrids aufhalten konnte, bildete einen interessanten Gegensatz zu dem britischen Luxus aus Leder und edlem Holz, den der Wagen ausstrahlte. Auf der Höhe von San Agustín de Guadalix waren wir bereits in ein intensives Gespräch vertieft. »Diese Formel, die dich so beunruhigt und auf die sich Galván in seinem letzten Text zweifellos bezieht, ist nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt«, erklärte Sebastián mir, während er lässig einen Laster überholte. »Du meinst die Dreifache Anrufung?« »Ich will damit sagen«, fuhr Márquez fort, »dass nur bestimmte heterodoxe Gruppen diese Anrufung kannten. Und wenn er in Galváns Text auftaucht, bedeutet das etwas. Es ist eine mehr oder weniger freie Adaptation der Trilogie der Anrufung.« Erstaunt riss ich die Augen auf. »Dabei wird in drei Schritten eine Reihe von Bedingungen nachgestellt, um einen Zustand, einen Raum, eine Dimension zu erzeugen, wo Kräfte aus einer parallelen Ebene erscheinen können. Vorausgesetzt, dass dies am geeigneten Ort geschieht.« »An einem geeigneten Ort? Ich glaube, Galván schrieb so etwas wie ›Epizentren der Träume‹. Meinte er damit einen besonderen Ort?«
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»Bestimmt. An manchen Orten geschehen schon seit jeher ungewöhnliche Dinge. Erdkräfte laufen dort in komplexen Knoten zusammen. Mit Hilfe konkreter Formeln lässt sich an diesen Orten ein Blick auf die andere Seite werfen.« »Die andere Seite?«, fragte ich skeptisch. »Hör mal«, beharrte er, »ich meine das völlig ernst. Ich habe es selbst gesehen, aber ich respektiere es und will nichts riskieren. Mich interessiert das nur noch im Hinblick auf die eigene Gewissheit, aber ich kann verstehen, dass andere Leute davon mitgerissen werden, vor allem wenn sie besonders sensibel sind. Ich habe dich bereits vor der Gefahr des Wirbelsturms gewarnt, vor dem Trichter, der dich nach und nach verschluckt und dich in eine Welt eintaucht, die irgendwo da draußen ist, aber auch hier drinnen.« Er deutete auf seinen Kopf. »Und hier.« Diesmal zeigte er auf sein Herz. »Ich verstehe nicht ganz, Sebastián. Entschuldige, aber …« »Also, es ist doch ganz einfach. Dieser Journalist hat sich langsam in diese andere Dimension ziehen lassen, die uns umgibt, ob wir sie nun sehen wollen oder nicht. An bestimmten Orten ist diese Kraft da, sie ist aktiv, und man kann mit ihr experimentieren. Einige Kulturen haben rudimentäre Karten angefertigt, um die Lage dieser Machtzentren bestimmen zu können. Man sagt, sogar Philipp II. habe bei den Schwarzkünstlern seines Hofstaats eine solche Karte in Auftrag gegeben.« »Jetzt fängst du wieder davon an. Leute, die verrückt werden, weil sie zu nah mit etwas in Berührung gekommen sind?« »Aber es ist kein Wahnsinn im üblichen Sinn. Hier drinnen, in unserem Kopf und unserer Seele, geschehen Dinge … Es sind Kräfte, deren tiefste Gesetze wir nicht kennen. Und ich schwöre 163
dir, an manchen Orten, wo sich Tragödien abgespielt haben, sind diese Kräfte stärker. Das ist der Schmerz, der nicht vergeht. An solchen Orten entfaltet dann der Imprimatur seine Macht. Einem dafür empfänglichen Menschen kann an solchen Stellen schwindelig werden, er muss sich übergeben und hat Visionen. Das kann tragisch enden. Ganz ehrlich, dieses Dorf auf den Fotos von Galván …« »Goate, das kleine verlassene Viertel außerhalb von Tinieblas de la Sierra«, fiel ich ihm ins Wort. »Genau. Solch eine Enklave wäre unter bestimmten Umständen eine Art Batterie, die sich ständig auflädt. Wenn die Menschen von dort weggegangen sind, den Ort verlassen haben, gab es einen Grund dafür. Wenn ich nur daran denke, was sich auf diesen Fotos erahnen lässt, bekomme ich eine Gänsehaut. Da sind diese Kinder, die wie Nebel zwischen den Gräbern auftauchen und ins Objektiv schauen …« »Aber Tragödien gibt es täglich in Hülle und Fülle, und zwar auf allen fünf Kontinenten! In dem Fall wäre die Welt voller Orte, an denen der Imprimatur wirken kann.« Länger, als es eigentlich ratsam gewesen wäre, schaute Sebastián mich durch seine altmodische Brille an. Er achtete nicht mehr auf die Straße. »So einfach ist das nicht. Es müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. Früher glaubte man, bestimmte Steinarten wie zum Beispiel Granit könnten solche Energien speichern.« »Na, Granit haben wir hier ja genug …« »Abgesehen davon muss in der Vergangenheit eine Öffnung der Pforten vorliegen …« Bevor ich ihn seinen Vortrag fortsetzen ließ, wies ich nach vorne auf die Maut-Station. Als Sebastián das Fenster öffnete, um die Autobahngebühr zu zahlen, kam ein eisiger Wind herein, der sogar die Augen gefrieren ließ. Die Schranke ging hoch, er gab Gas und erzählte weiter. 164
»Du hast doch einige Fälle von Häusern recherchiert, in denen es angeblich spuken sollte, oder?« »Ja, und?« »Dann erinnere dich mal, mein lieber Reporterfreund. In den Fällen, in denen tatsächlich etwas passiert ist und Polizei, Richter oder Priester eingeschaltet werden … welche Vorgeschichte findest du da? Was war in diesen Häusern geschehen? Gibt es nicht zwei Dinge, die immer zusammenfallen?« Im Schnelldurchlauf zogen die Gesichter von Menschen jeglicher Art und Überzeugung an mir vorbei, die in den letzten fünfzehn Jahren vor meinem Mikrophon gesessen hatten. Menschen, die von etwas gequält wurden, das scheinbar von ihrem Haus Besitz ergriffen hatte. Menschen, die nicht wussten, an wen sie sich wenden sollten, und die jeden Abend Angst hatten, in ihr eigenes Zuhause zurückzukehren. »Verbrechen und Spiritismus«, sagte ich sehr ernst. Es schmeckte mir nicht, ihm durch meine Erfahrung recht zu geben. »Genau! Siehst du? Aber es sind nicht nur blutige Verbrechen. In vielen solchen Fällen hatten junge Leute, vor allem Frauen, aus Spaß oder Neugier Geister beschworen. War es nicht so?« »Aber der Spiritismus ist ein Phänomen, das erst im 19. Jahrhundert entstand, und wir sprechen über ein viel älteres Dorf.« »Versuche zur Kontaktaufnahme hat es immer gegeben.« »So etwas wurde aber durch die Kirche streng kontrolliert!« »Ja, schon. Doch selbst die Repressionen der Kirche konnten die Existenz von Ketzergruppen nicht verhindern. Erinnerst du dich an die Brüder des freien Geistes und vergleichbare Gruppen? Also, für sie war es ganz klar: Von einem Pfarrer wollten sie nichts über das Himmelreich oder die Hölle hören. 165
Sie wollten es selbst erfahren. Und dann, an bestimmten Orten, wo sie sich niederließen …« »… blieben die Pforten offen.« Nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, die sich kaum mit meinem journalistischen Grundsatz der Objektivität bei solchen Themen vereinbaren ließen, musste ich an Galváns Erscheinung denken: sein ewig dunkler Mantel und der beeindruckende Adlerblick. »Aber Lucas Galván war ein erfahrener Mann und außerdem ein alter Fuchs. Ich glaube kaum, dass er von ein paar Polaroidbildern, so seltsam sie auch sein mögen, und einem Dorf, in dem niemand mehr wohnt, so einfach besessen wird. Es muss noch mehr mit ihm geschehen sein.« »Noch mehr? Schau mal, es gibt einen schmalen Grat«, sagte Sebastián und fuhr dabei langsam mit dem Zeigefinger durch die Luft, »den wir alle in einem bestimmten Moment überschreiten können. Und genau diese Gratüberschreitung bewirkt, dass ein ganz normaler Familienvater plötzlich zur Axt greift und seine Frau und seine Kinder zerstückelt, als wäre er von einer fremden Macht besessen.« »Aber dafür hat die Psychiatrie doch eine Diagnose!« »Klar«, sagte er, während er den Blick erneut von der Straße löste, »so regeln wir immer alles. Aber ehrliche und professionelle Psychiater wissen, dass wir uns auf ein völlig unbekanntes Terrain begeben. Dass in uns geheimnisvolle Kräfte existieren, die manchmal ohne innere oder äußere Symptome unerwartet auftreten. Das ist eine erschreckende Sache, die nicht nur durch einen weißen Kittel und eine Krankengeschichte erklärt werden kann. Etwas anderes umgibt uns und schlüpft durch die Fugen. Wenn wir einen Zugang schaffen, kann es zu uns kommen … und unseren Namen rufen.«
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»Dann glaubst du, Galván hat die Formel für diese Dreifache Anrufung erfahren und sie an dem Ort angewandt, wo er tot aufgefunden wurde?« »Ich denke, alles ist eine Frage der Vertiefung. Es geht über das Organische und Mentale hinaus. Und es geschieht ständig. Lass mal sehen. Wenn ich das Lenkrad nur so ein wenig herumdrehe …« Er griff das Lenkrad von unten und zog es abrupt zur Seite. Wir kamen derart ins Schleudern, dass ich mich schnell mit dem Unterarm abstützen musste, um nicht mit dem Kopf ans Seitenfenster zu schlagen. »Bist du verrückt? Du wirst uns noch umbringen!«, schrie ich ihn an. »Ganz ruhig. Stell dir vor, wir prallen gegen die mittlere Leitplanke und du wirst schwer verletzt.« »Fällt dir kein anderes Beispiel ein? Was zum Teufel ist mit dir los?« »Jetzt hör mir doch erst mal zu. Wir werden also schwer verletzt und du hast eine AKE.« »Eine AKE?« »Ja, eine außerkörperliche Erfahrung. Die Wahrnehmung deines Körpers, der im Autowrack steckt, während du gleichzeitig eine komplette Panoramasicht der Umgebung hast.« »Also eine Art Nahtod-Erfahrung?« »Ja. Du merkst, wie etwas, die Seele oder dieses Ka, von dem die Ägypter vor so langer Zeit sprachen, aus dem Körper steigt und die Szene von oben ganz genau beobachten kann. Das bist dann du, aber eigentlich bist du da unten … Verstehst du, was ich meine?« Ich wusste es genau. Erst kürzlich hatte ich einen Arzt aus Sevilla zu Gast in meiner Sendung, der eine erstaunliche Studie von fünfunddreißig Patienten zusammengetragen hatte, die nach 167
schwersten Unfällen von ganz ähnlichen außerkörperlichen Erfahrungen berichteten. Der ungewöhnlichste Fall hatte sich 1981 in Córdoba ereignet. Nach einem schweren Verkehrsunfall war eine fünfunddreißigjährige Frau vom Operationstisch »aus ihrem Körper getreten«, wie sie es formulierte. Nach vier Tagen Bewusstlosigkeit auf der Intensivstation beschrieb sie bei ihrer Rückkehr haargenau, was im Operationssaal geschehen war. Ihr anderes Ich war in einem körperlosen Zustand sogar nach draußen gelangt und hatte die Umgebung des Gebäudes betrachten können. So konnte sie beispielsweise den furchtbaren Zusammenprall eines Motorrades mit einem Lieferwagen detailgenau beschreiben. Die Frau erwähnte nicht nur die orangefarbene Jacke des Motorradfahrers, sondern auch die dunkelhäutige Gesichtsfarbe des anderen Fahrers und sogar die genaue Stelle des Aufpralls vor dem Krankenhaus. Ich erzählte Sebastián von dieser Studie. »Patienten aus verschiedenen Kulturen, Religionen und sozialen Schichten haben genau das Gleiche beschrieben«, erklärte ich, während ich mit dem Daumen und Zeigefinger einen Kreis formte. »Ein Licht kommt näher und verwandelt sich in einen Tunnel. Szenen aus dem eigenen Leben laufen plötzlich sekundenschnell vor dem inneren Auge ab. Es erscheinen gütige oder engelhafte Wesen, die dir sagen, dass dein Augenblick noch nicht gekommen ist …« »Aber es ist nicht immer so«, unterbrach er mich. »Es gibt auch andere Formen von Erscheinungen, andere Visionen, von denen man logischerweise nicht spricht, um die Menschen nicht zu beunruhigen.« Ich ahnte, was er meinte, und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Gelegentlich tauchten am Ende dieses Tunnels keine Lichtwesen in Gestalt unserer liebsten Vorfahren auf. Es war Sebastián, der mit einer offenbar telepathischen Fähigkeit meine Gedanken in Worte fasste. 168
»Nein, manchmal taucht ein schwarzer Schatten am Ende des Tunnels auf. Jemand, der leidet. Manchmal ist es ein entstelltes Kind oder ein zahnloser Tattergreis, der auf den Sterbenden zukommt. Manchmal ist es das faltige Gesicht einer alten Frau mit eingefallenen Augen. Sie breitet ihre Arme aus, um uns in einem Universum aufzunehmen, in das wir nicht wollen. Wir wollen stehen bleiben und versuchen, uns an den immateriellen Wänden des Tunnels festzuhalten, der uns irgendwo hinführt, wo es uns nicht gefällt. Wir können sogar andere, schwer verletzte Menschen sehen, mit fehlenden Körperteilen, die uns rufen, an unseren Beinen zerren und uns mit sich reißen. Nach Erkenntnissen der Neuropsychologie hat es sich häufig so abgespielt. Und ich frage dich, mein Freund, wo hast du das schon erlebt?« »In Ägypten«, antwortete ich, ohne zu zögern, während ich starr nach vorn schaute. »Die Gräber, die Wesen ohne Gesicht, die umherirrenden Schatten, die fehlenden Gliedmaßen, die einzelnen Körperteile … Unvollkommene Seelen.« »Siehst du! Sie sind da und warten! Die Ägypter wussten das bereits vor fünftausend Jahren und experimentierten mit ihren eigenen Formeln und Ansichten, ohne sich unmittelbar in einen Kampf um Leben und Tod zu begeben.« »Sie blieben an der Schwelle zum Tod stehen und beobachteten?« »Genau. Dafür haben sie sich sogar den Schädel mit präziser Wucht verletzt, um ins Koma zu fallen und möglichst lange in diesem Zustand zu verweilen. Manche kehrten natürlich nie zurück. Aber andere schon. Die Hohepriester begleiteten die langsame Erholungsphase. Danach berichteten die Rückkehrer der Gruppe von Eingeweihten, was sie gesehen und gefühlt haben. All das wurde in Hieroglyphen auf Tontafeln festgehalten, praktisch wie in einem Archiv über das Wissen aus dem Jenseits. Auch einige Abspaltungen des primitiven Christentums übten diese äußerst gefährlichen Praktiken aus. Sie 169
gingen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie lange Traumzustände durch die hypnotische Wirkung von Bildern oder Musik hervorriefen. Ein fast mystischer Trancezustand, der zum Teil dadurch verstärkt wurde, dass sie tagelang nichts aßen und tranken.« Sebastián erdrückte mich mit seinem Wissen. So vertieft war ich in diese für mich völlig neue Welt, dass ich auch die hohen Türme der Kathedrale von Burgos nicht registrierte, die wir gerade hinter uns ließen. »Bei den Etruskern galt zum Beispiel Folgendes: Trug der Experimentierende etwas Böses in sich – Niedertracht, Missgunst oder ein ungesühntes Verbrechen –, dann tauchte während der Reise unerwartet ein Schatten auf und versuchte ihn tatsächlich in den Tod zu reißen. Der Zeuge wurde dann von Krämpfen geschüttelt und von einem unbeschreiblichen Entsetzen erfasst.« »Und die Kirche ist dann später in ganz Europa gegen diese Praktiken hart vorgegangen, oder?« »Sie hat sie jahrhundertelang unterdrückt, stimmt. Denn sie wusste, in diesen Praktiken liegen Wahrheiten aus dem Bereich eines höheren Wissens. Diese Wahrheiten durften dem armen Sterblichen niemals offenbart werden, es sei denn, es geschah durch die Heilige Schrift. Aber einige der Bewegungen, wie zum Beispiel die Brüder und Schwestern des freien Geistes, gewannen viele Anhänger durch die verlockenden Jenseitsvisionen.« »Dein Freund Klaus Kleinberger schreibt in seinem Buch, diese Sekte sei auch in Spanien verbreitet gewesen. Er vermutet, dass Hieronymus Bosch andere Maler beeinflusst haben könnte, diese Lehren zu vermitteln.« »Das ist mehr als wahrscheinlich, aber das erzählt er dir besser selbst. Angeblich zeigen Boschs Gemälde eine Form, die Riten zu organisieren, was letztlich ein Leitfaden zum Eindringen in 170
eine Tabuwelt wäre. Auf zwei seiner Tafelbilder ist zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst die Jenseitsvision eines Trichters zu sehen. Heute befinden sich diese Bilder in Venedig, aber es fehlt das mittlere Tafelbild.« »Das mittlere Tafelbild?« »Es wurde an den Scharnieren herausgerissen. Darauf war zum ersten Mal der Imprimatur zu sehen. So jedenfalls wurde das Werk vom Künstler getauft.« »Und war es auch unter den Gemälden im Kloster von El Escorial?« »Man weiß, dass es dort gewesen sein muss. Ausgerechnet an einem anderen Ort der Macht aus Granitstein! Doch nach dem Tod Philipps II. ist es im Feuer verbrannt. Seltsamerweise haben andere scheinbar unschuldigere Werke das Feuer überlebt.« »Die Botschaften steckten doch angeblich in allen Werken, oder?« »Und ob! Die Dominikanermönche und der Berater des Königs, Pater Atienza, glaubten, die Bilder führten zum Wahnsinn, zu Visionen, und dass sie gegen das Christentum verstießen. Zu den Ketzern zählte man mittlerweile auch Hieronymus Bosch, der zu seinem Glück aber schon fast hundert Jahre tot war.« »Ich kann mir die Beziehung eines so orthodoxen und streng katholischen Mannes wie Philipp II. zu Boschs Bildern irgendwie nicht ganz erklären.« »Davon weiß Klaus mehr als ich. Es gibt Leute, die behaupten, der Monarch habe wegen der zum Teil brutalen Repressalien gegen die Brüder des freien Geistes Gewissensbisse gehabt. Vielleicht lag ihm etwas an den Opfern. Und dann wird ihm einer seiner Ratgeber, vermutlich der Bibliothekar, Alchimist und Astrologe Benito Arias Montano, von der Existenz einiger nahezu magischer Bilder berichtet haben, auf denen das gesamte verborgene Wissen dieser Leute abgebildet war.« 171
»Natürlich, denn diese Männer und Frauen verhielten sich wie wahre Märtyrer. Ich habe zwar nur wenig darüber gelesen, doch angeblich sollen sie sich tanzend in die Flammen gestürzt haben.« »Ja, sie hatten keine Angst vor einem gewaltsamen Tod und stürzten sich mit geheimnisvollen Gesängen ins Feuer.« »Stimmt es, dass diese Bilder Philipp II. bis an sein Totenbett begleitet haben? Und sein Todeskampf durch sie ausgelöst oder verstärkt wurde?« »Na ja, so genau weiß man das wohl nicht, aber einige Fachleute sprechen in der Tat von Ängsten und nicht von Gewissensbissen. Es war wohl ein furchtbarer Todeskampf.« Das Gespräch verstummte, und während wir die Provinz Álava hinter uns ließen und sich vor uns eine grüne Berglandschaft auftat, hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Dann überkam mich plötzlich ein neuer Zweifel. »Wurden die Toten eigentlich schon immer außerhalb der Städte und Dörfer bestattet?« »Selbstverständlich. Darauf haben alle Kulturen genau geachtet. Manche Gebiete waren dadurch für immer gebrandmarkt.« »Mmh, im Inneren der Kapelle in Tinieblas gibt es Malereien, die irgendwie …« »Du meinst die Fresken, die du bei deinem Ausflug auf den Friedhof fotografiert hast?« »Ja, die. Ich habe ein komisches Gefühl bei diesen Bildern. Es gibt da gewisse Übereinstimmungen mit den verbotenen Werken von Hieronymus Bosch.« »Es kann eine gewisse Verbindung bestehen, obwohl die Malereien etwas älter sein dürften, denke ich. Bei dieser Frage kann dir sicher auch Klaus weiterhelfen. Er ist von deinen
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Entdeckungen begeistert, und ihr könnt sie euch dann zusammen ansehen.« »Du meinst wohl: Wir können sie uns dann alle zusammen ansehen.« »Nein, mein Freund. Ich helfe dir mit dem, was ich weiß, aber bitte mich nicht um mehr.« »Aber wenn ich dir die Luftaufnahme zeige, die mir ein Freund bei der Polizei vor ein paar Tagen besorgt hat, wirst du bestimmt auch neugierig. Darauf sind Grabstätten in Form eines Kreuzes zu sehen. Sie liegen außerhalb des Dorfes und außerhalb des eigentlichen Friedhofs. Es sind Dutzende sehr alter Gräber, die …« Ich wollte mich umdrehen, um mein Notizheft vom Rücksitz zu holen, doch Sebastián hielt mich am Arm zurück. »Bemüh dich nicht. Ich werde niemals dort hingehen.« Wir schwiegen, bis vor uns die ersten Gebäude Bilbaos auftauchten. Sebastián fuhr ins Zentrum der Stadt und hielt genau vor dem Eingang des Luxushotels Carlton. »Jetzt ist es zunächst einmal wichtig, dass du diesen Fotografen findest, glaub mir. Ich werde lange zu tun haben. Wir sprechen uns dann morgen in Ruhe.« Wunder geschehen! Im Industriegebiet Baracaldo existierte tatsächlich noch ein kleiner Laden mit Namen Foto Kidaura, und sein Besitzer war vor langer Zeit aus Toledo hergezogen. Das musste der Richtige sein. Es war bereits dunkel, als ich aus dem Bus stieg. Die gleichförmigen Häuserblöcke waren über die Jahre durch die Schornsteine der Industrieanlagen geschwärzt. Ohne sichtbare Ordnung gingen in den Häusern zwischen den Lagerhallen und freien Feldern nach und nach weißliche Lichter an. Auch ein
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riesiger Kran mit einem verrosteten Haken erinnerte noch an alte Zeiten. Im Schaufenster des Fotostudios waren Luftaufnahmen der Stadt aus den sechziger Jahren zu sehen. Daneben ein Bild der lokalen Fußballmannschaft in engen gelb-weißen Trikots mit einer Restaurantwerbung auf der Brust. Die alten Aufnahmen zeigten noch die aktiven Schornsteine und das Flussbett mit seinem chemisch verfärbten rötlichen Wasser. Auf den Häusern lag bereits eine schwarze Schmutzschicht, und ein wahrscheinlich giftiger Dunst breitete sich über die ganze Stadt aus. »Was kostet das?«, fragte ich den Mann mit den grauen Haaren und zeigte beim Hineingehen auf eines der Bilder im Schaufenster. Es war vermutlich der Besitzer, der dort auf einem Plastikfilter ohne Zigarette herumkaute und etwas auf Fotoumschlägen notierte. »Das ist nicht zu verkaufen«, erwiderte er verwundert, während er mich auffällig von oben bis unten musterte. Außer mir war sonst kein Kunde im Laden. Ich räusperte mich und blickte zu Boden. »Also, wie soll ich es Ihnen erklären … Sie sind Señor Ridaura, richtig?« In dem nun folgenden Gespräch in einem Hinterzimmer voller Dosen mit Fixiermittel und ausgeschalteter Scheinwerfer hatte ich bisweilen das Gefühl, dieser Mann habe fast dreißig Jahre lang nur darauf gewartet, dass jemand wie ich durch seine Tür kam. Seit jenem regnerischen Nachmittag, an dem er diesen Körper auf dem Friedhof eines Dorfes bei Toledo liegen gesehen hatte, schlummerte etwas in ihm. Die Eile der Behörden, diesen Fall ad acta zu legen, die ständigen Bitten um absolute Diskretion und die seltsamen Todesumstände hatten bei Ridaura Zweifel und Angst ausgelöst und jede Menge Fragen aufgeworfen, die nicht einmal der Umzug nach Bilbao hatte 174
ausradieren können. Wir verabredeten uns für den nächsten Mittag.
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22 »Ich bin mir sicher, dass er sie gemeint hat, als er vom ›Elektrischen Zirkel‹ schrieb.« Auf dem Tisch der luxuriösen Hotelbar aus dunklem Edelholz lag der letzte von Lucas Galván geschriebene Text, den ich bereits unzählige Male gelesen und Zeile für Zeile studiert hatte. Doch mit seinem enormen Wissen und einer nicht minder erdrückenden Selbstsicherheit entdeckte Sebastián immer wieder neue Schlüssel darin, die für einen Laien wie mich unergründlich waren. Deshalb nickte ich verblüfft, als er mit dem Finger auf einen bestimmten Abschnitt in der Reportage deutete. Während ich ihn laut vorlas, schien er plötzlich eine neue Bedeutung zu bekommen: Seine Brüder des Elektrischen Zirkels brachten mit der Dreifachen Anrufung Licht in das Bild, das uns erwartet. Sie schöpften aus den verschlüsselten Zeichen und konnten die Seelen wieder zum Vorschein bringen. So ist es bis heute. So ist es auch bei mir. »Die Geschichte von Andrew Crosse und seinem engsten Kreis ist eine traurige Geschichte«, erklärte Sebastián, während er seinen Wein austrank. »Aber es passt sehr gut zusammen und gibt dem Ganzen einen Sinn. Irgendwie haben sie die alten Experimente fortgeführt, von denen wir gestern sprachen. Als Eingeweihte machten sie sich im 19. Jahrhundert das Magische der noch jungen Elektrizität zunutze, um in die Dunkelheit der Dimensionen vorzudringen. Es ist nur so: Diejenigen, die ganz
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eintauchten und auf der anderen Seite gefangen blieben, nahmen ein ganz übles Ende. Schrecklich!« Während des einstündigen Vortrags in der altenglischen Atmosphäre der Hotelbar konnte ich mich leicht in die Geschichte jenes Mannes hineinversetzen, der zweifellos auch für meinen unglückseligen argentinischen Reporter von Bedeutung gewesen sein dürfte. »Du kannst davon ausgehen, dass Galván, dieser arme Teufel, die Arbeiten von Crosse gelesen hat. Ich bin davon überzeugt, er wollte dessen Ideen in seinem Wahnsinn vielleicht sogar in die Tat umsetzen. Und wir wissen ja, wie es ausgegangen ist.« Zusammen mit anderen Pionieren der neuartigen Energie, die damals die Welt in Bewunderung versetzte, führte Andrew Crosse im 19. Jahrhundert bestimmte Versuche zur Erfassung der so genannten Astralwelt durch und entwickelte damit die Grundlagen für die Trilogie der Anrufung: ein rudimentäres System, mit dem durch direkte Lichteinstrahlung in die Augen ein veränderter Bewusstseinszustand erzeugt wurde und an bestimmten zuvor ausgewählten Orten elektromagnetische Gewitterbedingungen nachgebildet wurden. Eine dieser Sitzungen endete mit Crosses Tod am 26. Mai 1865 in seinem eigenen Haus Fyne Court. Es galt seitdem als verflucht und wurde auf Wunsch der Nachbarn sogar von einem Pfarrer exorziert. »Und was war tatsächlich mit ihm passiert? Wie ist er gestorben?«, fragte ich Sebastián, als wir durch die riesige Drehtür hinaus in Richtung Altstadt gingen auf der Suche nach dem Restaurant, in dem das Treffen mit dem Fotografen stattfinden sollte. »Er wurde verrückt und starb.« »Und all die Wissenschaftler, die mit ihm zusammengearbeitet haben?«
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»Die Ratten verlassen immer als Erste das sinkende Schiff. Am Ende war er allein, ganz allein, obwohl wir das wahrscheinlich erst mit hundertprozentiger Sicherheit sagen können, wenn die letzten Seiten seines Tagebuchs wieder auftauchen sollten.« »Er hat Tagebuch geführt?« »Es wurde seinerzeit zu einem guten Preis versteigert, aber die letzten vierunddreißig Seiten fehlten. Aus der Zeit, als es schon mit ihm zu Ende ging, stammt jener berühmte Satz: ›Die Summe aller menschlichen Kenntnisse ist nichts weiter als Unwissenheit‹.« »Der Satz ist nicht schlecht.« »Fest steht, dass er ein paar sehr interessante Entdeckungen gemacht hat. Die Wissenschaft hat ihn aber letztlich verstoßen. Du weißt ja, wie so etwas läuft. Auf seinem Grabstein am Eingang seines Hauses steht jedenfalls The Electrician – im Gedenken an die magisch erscheinenden Energiefelder, die damals praktisch erst entdeckt wurden.« »Das heißt, irgendwas hat von seinem Geist Besitz ergriffen …«, murmelte ich nachdenklich. »Seine Versuche mit der dunklen Seite fraßen ihn schließlich auf.« »Worin bestanden denn diese Versuche?« »In seinem letzten Vortrag vor der Gesellschaft für Bioelektromagnetismus in London war von Visualisierungen die Rede. Bei dem ›Phosphen‹-Verfahren, also der Erweiterung der visuellen Wahrnehmung durch direkte Lichteinstrahlung in einem dunklen Raum, wird mit einem speziellen Scheinwerfer eine aufgeladene Stelle abgesucht.« »Und wie legte man fest, ob eine Stelle aufgeladen war oder nicht?«
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»Ich sagte dir bereits, schon die primitiven Kulturen konnten Erdbereiche mit positiven oder negativen Energien unterscheiden. Crosse und seine Gruppe hatten aufgrund ihrer Arbeit eine Vorliebe für bestimmte uralte Megalithzentren sowie für Schauplätze brutaler Schlachten oder Orte, an denen die Pest die Bevölkerung drastisch dezimiert hatte.« »Und dorthin brachten sie ihre Ausrüstung für die Versuche?« »Genau. Sie hatten primitive Scheinwerfer und tragbare Labore dabei. Manchmal machten sie stundenlange Versuche mit der eigenen Netzhaut, bis sie einen ganz bestimmten Trancezustand erreicht hatten. Dann leuchteten sie die Dunkelheit ab, und es tauchten vereinzelt Schatten auf, Gesichter, die näher kamen, Kinder …« »Und am Ende war Crosse also allein?« »Ja, und obwohl ihn alle verließen, machte er weiter. In seinen letzten Aufzeichnungen steht, dass er diese Visionen mit der gerade entstehenden Technik der Fotografie einfangen wollte. Soweit man weiß, ist es ihm aber nie gelungen. Man hat ihm keine Kameraausrüstung zur Verfügung gestellt. Schließlich fand man ihn tot in seinem eigenen Labor vor den abgeschalteten Scheinwerfern, sein Gesicht war verzerrt, als habe er in seiner letzten Nacht etwas gesehen, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er war vor Angst gestorben.« »Gütiger Himmel!« »Das ist nicht der einzige Fall, und es wird auch nicht der letzte sein. Erinnerst du dich denn nicht an den schwedischen Kunstmaler und Opernsänger Jürgenson und an so viele andere?« Natürlich erinnerte ich mich an ihn. Friedrich Jürgenson hatte die zweifelhafte Ehre, der offizielle Entdecker der »Tonbandstimmen« zu sein: jener vermeintlich paranormalen Stimmen, die auf magnetischen oder digitalen Tonbändern erscheinen, ohne dass wir sie zuvor selbst gehört haben. Wie die Stimmen 179
auf der Aufnahme, die ich auf dem Friedhof in Tinieblas gemacht hatte. Im Jahre 1959 nahm Jürgenson an einem entlegenen Ort in der Nähe von Mölnbo Vogelstimmen auf. Als er die Tonbänder anschließend abspielte, waren aus der Ferne Worte zu hören. Sätze, die in einen Schrei eingebettet waren und ihn scheinbar riefen oder beschuldigten. Doch weit und breit war dort kein Mensch gewesen. Als er die Lautstärke aufdrehte, vernahm er die Worte deutlicher: »Friedel … Friedel … Kannst du mich hören?« Sofort erkannte er ohne jeden Zweifel die Stimme seiner verstorbenen Mutter. Sie war die Einzige, die ihn so nannte. Manchmal hörte er vereinzelt freundliche Worte, aber auch Drohungen. Sogar Todesdrohungen. Jene nicht identifizierten Stimmen von irgendwo in Raum und Zeit begannen Ereignisse aus seinem vergangenen oder zukünftigen Leben zu beschreiben. Bisweilen entwickelte sich sogar ein gewisser Dialog, und er erhielt Antworten auf vorher aufgenommene Fragen. Von da an litt er unter akustischen Halluzinationen. Jürgenson starb völlig besessen und nur noch auf die gesichtslosen Stimmen fixiert, die ihn irgendwie aus der Wirklichkeit gerissen hatten. Hatte Galván eine ähnliche Entwicklung durchgemacht? Sebastiáns Worte machten klar, wie gefährlich es war, die dunkle Seite zu erforschen. Wenn man zu weit ging, konnte es tödlich enden.
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23 Sebastián öffnete die Tür zu einem in Bilbao beliebten Restaurant, dessen gefeierte Küche die Leute schon früh Schlange stehen ließ. Am Ende des Tresens wartete Señor Ridaura auf uns. Er trug einen grauen Trenchcoat und hielt ein Glas in den Händen. Sein Blick ging ins Leere. Doch sein Gesicht war blasser als am Tag zuvor. Er sah besorgt aus. »Ich war drauf und dran, nicht zu kommen«, sagte er und lud uns ein, in den nächsten Raum zu gehen, wo einige wenige Tische für Stammgäste bereitstanden. Sebastián stellte sich vor und überreichte dem Kellner unsere Mäntel. Der etwa fünfundfünfzigjährige Fotograf mit dem länglichen Gesicht und dem graumelierten zurückgekämmten Haar schüttelte ihm schweigend die Hand und setzte sich hin. Die sorgenvolle Miene des Mannes, der vor langer Zeit für das Gericht in Toledo gearbeitet hatte, sagte mir, dass etwas nicht stimmte. Mit angsterfüllter Stimme sprudelte es auch schon beinahe vorwurfsvoll aus ihm heraus: »Seit Jahren hatte ich die Abzüge nicht mehr angerührt. Und gestern Abend, nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte, ging ich also zum Aktenschrank, in dem ich die Arbeiten aus jener Zeit aufbewahre. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, ohne dass Sie über mich lachen, aber …« Sebastián und ich warfen uns schweigend einen Blick zu, als ahnten wir schon, was der Grund für seine Besorgnis war. »Das alles hat mich tief erschüttert. Ich halte mich ja eigentlich nicht für besonders ängstlich, wo ich doch schon so viel Unglück fotografiert habe.« »Wir werden nicht lachen. So ignorant sind wir nicht. Glauben Sie uns, wenn wir hier vor Ihnen sitzen, dann aus dem Grund, 181
weil wir glauben, dass an dieser ganzen Geschichte irgendetwas faul ist. Und diese Bilder könnten der Schlüssel sein, verstehen Sie?« Obwohl die Worte meines Freundes beruhigend klangen, verfehlten sie ihre Absicht. Ridaura schien ganz im Gegenteil nur noch nervöser zu werden. »Warum kommen Sie damit nach dreißig Jahren? Was genau bezwecken Sie damit? Womöglich werde ich da in etwas hineingezogen … und, ganz ehrlich, das kann ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen.« Seine plötzlich kritischen Fragen gefielen mir gar nicht. Dieser Mann wirkte heute viel distanzierter als am Tag zuvor in dem dunklen Hinterzimmer seines Fotostudios. Instinktiv schaute ich auf die Tasche, die auf dem Stuhl neben ihm lag. Abwehrend legte er schnell die Hand darauf. »Wir müssen diese Fotos unbedingt sehen«, erklärte ich ihm, ohne den Blick von meinem Ziel abzuwenden. Vielleicht war der Mann verängstigt, weil er nicht wusste, wer wir waren. Vielleicht hatte er Angst, dass wir ihn betrügen wollten. Er wand sich auf seinem Stuhl hin und her und stammelte: »Schauen Sie, ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob ich nicht vorher beim Gericht in Toledo anrufen müsste. Damals haben sie uns strikte Anweisungen gegeben. Und ich will keine Probleme bekommen. Ich habe zwei Töchter und …« Mit zitternden Händen zog er den kleinen Reißverschluss der Tasche vollständig zu und machte damit klar, dass sich dort befand, was wir suchten. Aber wovor hatte er solche Angst? Plötzlich drang ein lautes Rufen aus dem allgemeinen Gemurmel und Küchenlärm zu uns herüber. »Hier kommen die Anchovis mit grünem Paprika, der Kabeljau und der Thunfischeintopf!«
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Wir mussten alle drei gleichzeitig erleichtert lachen und waren dem Maître für die Unterbrechung dankbar. Beim Essen ließen wir das Gespräch zunächst ruhen, wobei wir es vermieden, uns anzusehen. Doch als Ridaura das erste Glas Wein in einem Zug ausgetrunken hatte, wurde er gesprächiger. »Sie müssen mir verzeihen, aber letzte Nacht hatte ich einen Albtraum, der so real war …« »Was?«, unterbrach ich ihn. Die anfängliche Anspannung kehrte zurück. »Nun, nachdem ich die Mappen geöffnet hatte und die Fotos ansah, bekam ich Angst. Keine Ahnung, seit gestern ist es irgendwie verrückt.« »Aber wovor sollten Sie Angst haben?«, fragte Sebastián, während er sein Besteck parallel auf den leergeputzten Teller legte. »Meine Frau hat mich in der Nacht geweckt. Es war furchtbar. Sie selbst war ganz erschrocken. Sie hat mich durch Schläge wachrütteln müssen!« Er schluckte. Scheinbar vertraute er uns noch nicht genug, um uns zu verraten, was im Einzelnen passiert war. »Sie hat so schrecklich geweint. Sie sagte, ich sei so gegen drei Uhr morgens schreiend aufgewacht.« »Sie sind aufgewacht?« »Na ja, ich habe mich aufgerichtet und den Rücken ans Kopfteil gelehnt. Dann fing ich an zu lachen. Aber es muss ein seltsames Lachen gewesen sein. Ich konnte nicht aufhören. Verstehen Sie?« In diesem Augenblick spürte ich, wie mir langsam ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Ich lachte wohl eine ganze Weile so, und sie wusste nicht, was sie tun sollte, denn angeblich ist es sehr gefährlich, Schlafwandler zu wecken.« 183
»Aber schlafwandeln Sie denn?«, fragte Sebastián. »Ich? Keineswegs! Nicht mal als Kind! Deswegen war meine Frau auch so beunruhigt. Dann hörte ich auf zu lachen und war eine Zeit lang still. Meine Frau rief meinen Namen, berührte meine Schulter, aber ich reagierte nicht. Ich starrte einfach nur geradeaus auf die Türschwelle und bewegte mich nicht. Natürlich glaubte sie langsam, ich habe einen Anfall oder so.« Er machte eine kurze Pause und trank mit zitternder Hand ein weiteres Glas Wein in einem Zug aus. »Nach einer Minute oder so fing ich an, mit jemandem zu reden. Meine Augen waren geöffnet, aber ich blinzelte nicht. Meine Frau schüttelte mich und rief wieder meinen Namen. Aber keine Reaktion. Scheinbar habe ich seltsame Dinge gesagt, die keinen Sinn ergeben. Ich sprach offensichtlich mit jemandem an der Türschwelle.« »Und Ihre Töchter?«, fragte ich. »Sind die auch wach geworden?« »Das ist das Schlimmste, das, was mir wirklich Angst macht.« Plötzlich stiegen dem Mann Tränen in die Augen, die er nur schwer zurückhalten konnte. Ich bemerkte, wie sich sein Kiefer anspannte. »Beide tauchten plötzlich im Flur auf und weinten. Und dann bin auch ich aufgewacht. Wie nach einem Albtraum, einem furchtbaren Albtraum. Aber ich kann mich an nichts erinnern. Ich sah meine Frau, die mich hysterisch schüttelte und umarmte, und ich sah meine beiden Töchter, zitternd und halb tot vor Angst. Meinen Mädchen war auch etwas passiert.« Obwohl Sebastián sich nachdenklich über das Kinn strich und unseren Gesprächspartner fest ansah, könnte ich schwören, dass auch ihm in dem Moment das Herz ebenso bis zum Hals schlug wie mir. »Erklären Sie uns das, bitte.« 184
»Die beiden sind nicht durch mich oder meine Frau wach geworden. Offenbar hatten sie so etwas wie ein Weinen gehört. Es war das Weinen eines Mannes, ganz in ihrer Nähe. Das Weinen näherte sich langsam. Und dann rief jemand ihre Namen.« »Haben die beiden das im Schlaf gehört?«, fragten Sebastián und ich fast gleichzeitig. »Das wussten sie nicht, aber irgendwas hat sie aufgeweckt, und da ihr Zimmer in einen Innenhof führt, befürchtete ich schon das Schlimmste. Einen Einbrecher oder so. Ich nahm also ein scharfes Messer aus der Küche und ging in das Kinderzimmer. Aber dort war niemand. Meine beiden Mädchen sagten immer wieder, sie hätten auch etwas gesehen … Ein Gesicht … Das blasse Gesicht eines Toten, mit offenem, verzerrtem Mund und weit aufgerissenen Augen. Sie haben gesehen, wie er immer näher kam, als würde er schweben, bis er genau über ihnen war. Beide beschreiben genau das Gleiche. Dasselbe männliche Gesicht.« Zwei dicke Tränen liefen Ridaura jetzt über die Wangen. Nachdem er aus seiner karierten Jacke ein Taschentuch geholt hatte, griff er entschlossen zu der schwarzen Ledertasche und stellte sie auf den Boden. Danach schob er sie mit Schwung unter dem Tisch bis zu meinen Füßen. »Ich will nichts mehr davon wissen. Meine eigene Familie weiß nichts darüber, ich habe ihnen nie davon erzählt. Es macht mir Angst, und ich weiß, es hat etwas mit gestern Nacht zu tun. Ich weiß, dieser Traum und das, was meine Töchter gesehen haben, hat etwas mit dieser Sache zu tun. Ich gebe Ihnen die Fotos, wenn Sie mir dafür nur einen einzigen Gefallen tun …« Wir nickten wortlos. »Fragen Sie mich nie wieder danach. Ich schwöre Ihnen, ich weiß nicht, was passiert ist, und ich will es auch gar nicht wissen. Hier ist alles drin, alle Fotos, die ich gemacht habe. 185
Sollte man mich irgendwann danach fragen, was ich nicht glaube, werde ich behaupten, dass bei mir eingebrochen wurde. Einverstanden?« Der Maître trat schweigend an den Tisch. Unsere Gesichter müssen Bände gesprochen haben, sodass ihm vermutlich die Lust vergangen war, die Vorzüge der Nachspeise hervorzuheben, die er auf drei warmen kleinen Tellern brachte. »Was Sie uns erzählt haben«, erklärte ich, als der Maître wieder verschwunden war, »ist ein Traum, eine Suggestion. So was kommt vor, aber glauben Sie mir, wir haben noch wichtige Fragen, um diesen beunruhigenden Fall zu lösen. Wir brauchen Sie. Sie waren dort und konnten diesen Körper fotografieren, bevor die Behörden ihn entfernt haben. Gestern noch hatten Sie damit kein Problem, und es ist wichtig, dass …« Ich wurde durch eine mürrische Geste jäh unterbrochen. »Ich denke, ich habe mich klar ausgedrückt. Heute ist nicht gestern. Sollte Ihnen das jedoch nicht reichen, schauen Sie sich das hier an.« In seiner linken Hand hielt er ein Stück kariertes Papier. »Das hat meine Frau aufgeschrieben, als ich nicht aus dem Albtraum erwachen konnte. Dieses Wort habe ich angeblich über hundertmal wiederholt, lächelnd und mit offenen Augen, während ich zur Türschwelle sah und mit einem unsichtbaren Wesen sprach, das sich scheinbar genau dort befand. Ich weiß, was das bedeutet, und Sie wissen es auch, aber meine Familie weiß es nicht. Und wenn Sie jetzt gestatten …« Er nahm einen letzten Schluck, reichte uns die Hand und verschwand durch das Gedränge aus dem engen Restaurant. Sebastián und ich blieben wie versteinert sitzen und wussten nicht, was wir sagen sollten. Wir schauten auf den Papierfetzen, auf dem ganz deutlich ein Wort in Großbuchstaben zu lesen war: TINIEBLAS. 186
24 VENEDIG IRGENDWANN ZWISCHEN 1500 UND 1505 Das Gesicht von Hieronymus Bosch lag halb im Schatten. Der weiße Mondschein fiel durch die kleine Luke auf Augen und Nase. »Von wem stammen diese Wehklagen?«, fragte er seinen in Samt gekleideten Begleiter, dessen Schritte in den Katakomben widerhallten. »Das sind Christen auf ihrer letzten Reise«, erwiderte der Mann. Es war Jakob von Almaigen, Großmeister der Brüder und Schwestern des freien Geistes, und er versuchte, den Künstler von der Szene loszureißen, die sich vor ihren Augen abspielte. »Das sieht ja genauso aus wie die Fähre des Charon, der in der griechischen Mythologie die Seelen in die Unterwelt befördert!«, bemerkte der Meister, ohne sich von der viereckigen Öffnung in der Mauer zu lösen. Die wehleidigen Stimmen kamen aus einer großen schwarzen Gondel, die unter der Steinbrücke entlangfuhr. Die Bemerkung des Malers konnte nicht zutreffender sein. Ein Mönch im Kapuzengewand am Bootsheck hatte das Kommando über diese besondere Überfahrt: Auf dem Boot waren zehn Menschen und ebenso viele Tote ohne Köpfe, aus deren Körper noch das Blut quoll. Der Rest schrie bei dem entsetzlichen Anblick mit der Gewissheit, ein ebenso dramatisches Ende zu erleiden. »Der Draccatore, ein führendes Mitglied der Signori di Notte, bringt sie zur Bucht hinter der Südwand. Dort wird ihnen ein 187
Stein wie dieser um den Hals gebunden«, erklärte der Großmeister und schlug dabei auf einen der riesengroßen, kugelförmigen, glatten Felssteine mit Metallringen, die sich im gesamten Gang stapelten. »Und ihre Füße werden mit einem Strick an eine enthauptete Leiche gefesselt. Das ist das Ritual bei Verurteilungen wegen Vergewaltigung.« »Bruder Jakob, bin ich hier wirklich …?« »… sicher? Selbstverständlich! Ich habe Euch bereits mein Wort gegeben, dass Euch nichts geschehen wird, solange Ihr die Regeln befolgt. Meine Handelsbeziehungen zu den Dogen dieser Stadt sind ein mächtiger Geleitbrief. Sie akzeptieren meinen Glauben. Und ich bemühe mich, sie nicht unnötig zu erzürnen und vor allem sehr großzügig zu sein.« »Aber diese Signori …!« »Ihr müsst Euch nicht fürchten, denn Ihr werdet ihnen in der ganzen Zeit nicht begegnen. Euer Verlies ist am Ende eines Ganges, in den sie unter keinen Umständen gelangen können. Ich habe bereits die nötigen Vorkehrungen getroffen, damit er unauffällig bewacht wird. So müsst Ihr Euch nur um die wirklich wichtigen Dinge kümmern.« »Und wenn sie eines Tages den tatsächlichen Grund für meinen Aufenthalt und den Gegenstand meiner Bilder herausfinden?« »Ich sage Euch doch, das wird niemals geschehen! Der Doge hat seinen Anteil bereits erhalten, und wir haben eine Abmachung. Hier ist das wie ein Gesetz.« Ihre einzige Lichtquelle war die Öllampe in Almaigens Hand. Als sich der Gang nach links und rechts teilte, waren plötzlich ein Husten und schwache Stimmen am Ende des feuchten Ganges zu hören. Sie hielten das Licht an ein niedriges Guckloch in der Wand und sahen in ein Verlies ohne Betten oder Strohsäcke, auf die sich die dicht zusammengedrängten Menschen hätten legen können. Alle waren dreckig und mit 188
Kohlenstaub bedeckt. Viele hatten Wundmale und Flecken auf der Haut. Manche waren scheinbar schon vor längerer Zeit gestorben. Wie in sich zusammengesunkene Puppen lagen ihre Körper in einer Ecke voller Urin, wo sich als Latrine ein Loch im Boden befand. Keiner sprach mehr ein Wort, und alle Augen starrten wie Nachtinsekten auf den Lichtköder und verschwanden wieder, sobald der Großmeister die Flamme ausblies. »Diese Dunkelheit scheint voller schlechter Omen«, sagte Hieronymus, während er nach der kleinen Felstür tastete, die sein Mentor unter lautem Quietschen vor ihm geöffnet hatte, indem er die drei Riegel entfernte. »Das ist die Umgebung, in der Ihr Euch entfalten sollt, so wie Ihr es im Grunde schon immer getan habt, Meister. Sind das Fasten und das Gebetsritual vollendet, beginnen Eure Visionen. Ich verspreche Euch, es wird viel stärker sein als zuvor. Ihr müsst darauf vorbereitet sein.« Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte Hieronymus dunkle Umrisse an der Wand. Überall waren dunkle Handabdrücke und Kritzeleien, die möglicherweise mit menschlichem Blut dort hinterlassen worden waren. »Wie Ihr seht, waren einige unserer Leute bereits hier, bevor sie gnadenlos hingerichtet worden sind. Morgen wird Euch eine Wache, die über unsere heilige Mission Bescheid weiß, drei Tafeln und Eure Pinsel bringen.« »Wie viele sind hier gestorben?«, fragte Hieronymus, während er sich vor die Zeichnungen und Schriftzeichen in unterschiedlichen Sprachen hockte, die jetzt besser zu erkennen waren. Es schien ihm, als ob sie von einer unbekannten Substanz umgeben auf der grauen Mauer reflektierten.
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»Wir befinden uns in der ältesten Folter- und Hinrichtungsfestung Europas. Die Anzahl der Toten ist unbezifferbar.« »Wie viele?«, fragte Hieronymus beharrlich und fuhr mit der Hand über die Signaturen. Kurz vor ihrer Hinrichtung hatten diese Menschen ihren letzten Schrei auf diesen vier Wänden verewigt. Bei der bloßen Berührung durchfuhr es ihn wie ein Blitzschlag. In diesem Augenblick, als könnten seine Gedanken durch irgendeine wunderbare Gabe in der Zeit zurückgehen, erschienen ihm unzusammenhängende Szenen, Gesichter ohne Körper, schwarze Fratzen, zahnlose lachende Kinder, abgerissene Hände mit blutenden Handwurzeln, schleimige Auswürfe von Tuberkulosekranken … und er hörte seinen eigenen Namen. Unbekannte Stimmen riefen nach ihm, während sie langsam näher kamen und ihn in dieser Albtraumwelt willkommen hießen. »Sie sind hier, Bruder Jakob. Ich fühle es. Es ist eine Sinfonie aus Wahnsinn und den Schatten, die hier zurückgeblieben sind. Sie sind hier, um …« Hieronymus stockte. Der Großmeister hatte alles genau so geplant, doch der Abschied konnte sich als besonders schwierig erweisen. Er befürchtete, der Meister könnte es sich anders überlegen. Deshalb schlich er sich jetzt wie eine der Wasserschlangen hinaus, die es zuhauf gleich hinter der Zellenmauer gab, und verriegelte rasch die Tür. Der Maler, der sich ganz und gar nicht verlassen fühlte, legte sich mit ausgebreiteten Armen mitten in den Raum. Aus den Rissen auf dem Boden wuchsen grünliche Pilze. Hieronymus fing an zu lächeln und sagte: »Kommt zu mir …« Hieronymus Bosch war kurz davor, seine große Reise in die Abgründe von Leid, Wahnsinn und Tod anzutreten. Ihn erwartete die entscheidende Begegnung mit den Wesen, die er 190
bald malen würde, wie es keinem anderen Menschen zuvor gelungen war. Nichts war ihm mehr wichtig. Weder die Zahl der Menschen, die in diesem Raum, der ab jetzt sein neues Zuhause sein würde, ihr Leben verloren hatten, noch das seltsame Geräusch, ein dumpfes, rhythmisches Hämmern, das von draußen zu hören war. Wäre Hieronymus in der Lage gewesen, den beunruhigenden Klängen auf den Grund zu gehen, hätte er wieder einen dieser Mönche im Kapuzengewand gesehen, die er während seines Aufenthalts in der unterirdischen Welt des Dogenpalasts in Venedig um jeden Preis meiden sollte. Der Mönch war aus einer kleinen Tür herausgetreten, die direkt zum Kanal führte, und hielt einen großen Sack in den Händen. Nachdem er den Sack geöffnet hatte, kniete er wie bei der täglichen Messe nieder und ließ dann die Köpfe der zehn Enthaupteten einen nach dem anderen ins Wasser fallen. Jedem Platschen folgte eine kurze Pause. Und in dieser Zeit flüsterten seine Lippen ein unverständliches Gebet. Die schmerzverzerrten Gesichter der Geköpften verschwanden nach und nach in den Tiefen der dunklen Strömung, während ihre weit aufgerissenen Augen auf das Leben blickten, das sie hinter sich zurückließen.
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25 Auf dem Heimweg dachte ich einen Moment daran, Helena anzurufen, um ihr von dem Fund zu berichten. Aber würde sie ein so grausames Bild von der Person sehen wollen, die sie einmal geliebt hat? Ich entschied mich schließlich dafür, ihr den Anblick lieber zu ersparen. Stattdessen bat ich Sebastián, mich mit seinem Jaguar beim Gerichtsmedizinischen Institut abzusetzen. Es war seltsam, aber auf der gesamten Rückfahrt nach Madrid hatten wir kaum über die Fotografien gesprochen. Sebastián weigerte sich strikt, sie anzuschauen, so als wolle er nicht auch nur für eine Sekunde mit dem Material in Berührung geraten. Viel lieber schwärmte er von den drei dicken Wälzern, die er zu keinem geringen Preis auf der Buchhändlermesse in Bilbao erstanden hatte: dem Malles Maleficarum aus dem Jahre 1596, dem Disquisitorium magicarum von 1699 und dem Handbuch für Exorzisten von Girolamo Menghi aus dem Jahre 1703. Diese Werke waren schließlich der eigentliche Grund seiner Reise gewesen. »Ich setze dich hier ab«, erklärte Sebastián, als wir spät an diesem Abend in Madrid ankamen. »Meine Familie wartet auf mich, und wenn ich ehrlich bin, gehst du besser alleine ins Gerichtsmedizinische Institut. Ich bin nicht gern an solchen Orten, und schon gar nicht um diese Zeit.« Die schwarze Tasche von Señor Ridaura in der einen und meine Reisetasche in der anderen Hand, blickte ich ihm nach und wartete, bis die Rücklichter des Wagens im Verkehr verschwunden waren. Doktor Baltasar Trujillo schien an diesem Abend nicht zu beschäftigt zu sein. Der Leichenwagen parkte jedenfalls nicht im 192
Eingang. Also stieg ich so schnell ich konnte die Treppe des düsteren Gebäudes hinauf. »Meines Erachtens handelt es sich um eine Panik der Stufe 7.« Ich verstand nicht richtig, wartete aber, bis Trujillo das Material mit der schwarz umrandeten Lupe vollständig geprüft hatte. Eines der Fotos erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Er heftete es mit einer Nadel an eine Pinnwand und beleuchtete es eingehend mit der verstellbaren Tischlampe. Der gequälte und verzerrte Gesichtsausdruck wirkte für einen Augenblick dreidimensional und erschreckend deutlich. »Also, ich kann mich nur wiederholen: ›Panikstufe 7‹, ganz klar.« Er räusperte sich und legte eine durchsichtige Plastikfolie auf das Foto. Dann erklärte er mir den Begriff »Panikstufe 7« in allen Einzelheiten: Spezialisten aus aller Welt seien sich einig, dass plötzlich eintretende panische Angst zum Tod führen könne. Auf einer Angstskala bedeute die Zahl 7 den sofortigen Tod durch Herz- und Atemstillstand. »Diese Anspannung«, sagte er und malte mit dem Zeigefinger einen Kreis um das Gesicht, »ist keine Folge von Unterkühlung oder Erfrierungen. Die sind später eingetreten. Vorher scheint er einen schweren Schock erlitten zu haben.« Trujillo erklärte weiter, die Symptome dieser Phase seien ein plötzlicher Druck in der Brust sowie ein schneller tödlicher Zusammenbruch. »Der Betroffene fällt einfach um. Er fällt quasi aus dem Leben in den Tod, ähnlich wie ein Abgrund, der sich bei uns manchmal im Traum auftut. Dann schrecken wir aus dem Schlaf hoch und uns ist ganz schwindelig. In weniger als einer Sekunde haben diese Menschen ihre letzte Reise bereits hinter sich.«
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Die Verrenkung der Gliedmaßen deutete darauf hin, dass so etwas auch mit Galván geschehen sein musste. »Häufig sind bei den Opfern vorher bedingende Faktoren zu finden, wie zum Beispiel ein erhöhter Cholesterinwert im Blut, der die Arterien verstopft. War die Person gesund, lässt sich die ›Panikstufe 7‹ nur schwer vom plötzlichen Tod durch Herzstillstand unterscheiden. Doch in manchen Fällen«, fuhr er fort, während er die Hand auf seine Brust legte, »wird eine Kette sehr starker chemischer Reaktionen ausgelöst, die dazu führen, dass Kalzium ins Innere der Herzzellen gerät. Dadurch blockiert der Herzmuskel und zieht sich so stark zusammen, dass er versagt.« »Dann muss er einen furchtbaren Todeskampf gelitten haben«, sagte ich, ohne den Blick von dem Foto an der Pinnwand zu lösen. »Richtig. Das Gefühl der Angst verursacht einen starken Reiz auf den Hypothalamus. Dieser führt dazu, dass die Adrenalindrüsen eine große Menge von dem, was wir ›Katecholamine‹ nennen, ausschütten.« Trujillo sprach betont langsam, damit ich mir alles notieren konnte. »Diese Stoffe ziehen die Blutgefäße zusammen und vergrößern die Möglichkeit eines Gerinnsels. Das ist ein schrecklicher Tod, der schlimmste, den man sich vorstellen kann.« »Und all das siehst du hier, in diesem Gesicht?«, fragte ich erstaunt und trat näher an das Bild heran, um es mit dem Finger zu berühren. Er nahm die restlichen sechs Abzüge und breitete sie auf dem Tisch aus, während er einige Akten und eine Druckwaage beiseite schob. Er wies auf eine Aufnahme des gesamten Leichnams.
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»Die Toten können uns erzählen, was mit ihnen passiert ist. Im Grunde – und das sollten meine Kollegen lieber nicht hören – ist es eine letzte Botschaft, ein allerletztes Geständnis darüber, was mit ihnen geschehen ist und warum. Wenn wir uns die Schwellung und diese grünlichen Hämatome an den Handgelenken anschauen, können wir davon ausgehen, dass der Herzrhythmus beschleunigt wurde und Blut aus dem Magen und dem Darmtrakt in die Muskeln und in den Körper geflossen ist. Mit anderen Worten: der gesamte Organismus wurde in Alarmzustand versetzt, um zu fliehen oder zu kämpfen. Das ist die konkrete Botschaft, die sein Hirn erhalten hat. Das wiederum sorgt für die Ausschüttung von Katecholaminen über das Nervensystem. Dieser Prozess fügt allen Organen den größten Schaden zu. Die typischen Folgen kannst du hier sehen.« Tatsächlich konnte man auf zwei Aufnahmen die stark hervortretenden Venen auf Lucas Galváns verkrampften Händen sowie eine Art schwarzes Geflecht unter der fast durchsichtigen Haut sehen. Um die Halsschlagader bot sich ein ähnliches Bild. Auf einem anderen Abzug, einer Nahaufnahme vom Profil mit den weit aufgerissenen Augen und dem zum Schrei verzerrten Mund, war das dunkle Geflecht auch an den Schläfen zu erkennen. Es hatte die Form eines Sterns oder vielmehr einer Spinne. Dennoch passte etwas nicht ganz ins Bild. »Und was ist das hier auf der Höhe der Schläfe?« »Wahrscheinlich kommt das vom Aufprall auf sein eigenes Grab. Ich würde aber ein Verletzungstrauma durch eine Quetschung praktisch ausschließen. Meines Erachtens sprechen alle Anzeichen für einen vorher eingetretenen Angsttod. Er spürte oder sah etwas Furchtbares und fiel dann hin. Schau her« – Trujillo wies auf das Auge – »und sag mir, was du siehst.« »Die Pupille ist stark erweitert.« »Genau. Eine dreieinhalbfache Erweiterung im Vergleich zur normalen Größe. An dieser Vergrößerung beider Augäpfel lässt 195
sich die Zahl 7 diagnostizieren, der höchste Wert in der Skala des plötzlichen Paniktods. Jede Ziffer entspricht einer halbfachen Vergrößerung.« »Also ist das die Grenze, die ein Mensch ertragen kann?«, fragte ich, während ich wie gebannt auf das Auge starrte. »Offiziell schon, und dieser Tote hier war kurz davor, diesen Wert zu überschreiten. In vierzig Jahren Berufserfahrung habe ich nur wenige Fälle einer solchen Erweiterung gesehen. Im Studium wurden uns Fotos von Experimenten der Nazis vorgelegt. Josef Mengele, der berüchtigte KZ-Arzt im Dritten Reich, stellte Erschießungen mit Platzpatronen nach, um die Angstskala beim Menschen zu messen. Er hat zahlreiche Experimente dieser Art durchgeführt. Es gibt das Foto eines Juden, das ich nie vergessen werde. Darauf ist ein Mann zu sehen, der mit Elektroden versehen an Händen und Füßen an verrostete Schienen gebunden war. Offenbar sollte der Herzschlag bis zu dem Moment gemessen werden, an dem die Lokomotive den Körper erfasste. Ein besonders makaberer Umstand war, dass es manchmal gar keinen Zug gab. Stattdessen wurde das Geräusch über ein Grammophon abgespielt und kurz vor dem vermeintlichen Unglück angehalten.« Trujillos Augen füllten sich mit Tränen. Vermutlich sollte ich es nicht bemerken, denn er nahm erneut die Lupe und betrachtete die Fotos. »Gibt es Anzeichen dafür, dass Galván irgendwelche seltsamen Substanzen eingenommen hatte?«, fragte ich schnell. »Wie kommst du darauf?« »Weil er in seinem letzten Brief ein Kreuz hinter seinen Namen gesetzt hat. Als ob er damit ankündigen wollte, dass er bald sterben würde. Als ob er da schon wusste, was passieren würde.«
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»Das lässt sich ohne entsprechende Laborwerte unmöglich feststellen. Was du hier siehst, ist die Macht der Panik, mein lieber Freund. Die Macht purer Angst und die Gewissheit, keinen Ausweg zu haben.« »Was hat ihm bloß so starke Angst gemacht?« Das runde Glas der Lupe vergrößerte die vom Regen durchnässte Gestalt, die auf dem Bauch lag und schon kurz vor der Verwesung stand. Wie ein Sandsack war Galván auf einen Grabstein geprallt. Er trug spitze Stiefel mit Absatz, eine am linken Bein aufgekrempelte Kordhose, ein zerrissenes Hemd und einen langen dunklen Mantel. Auf einem der Fotos sah man einen Schatten auf seinem Rücken. Vielleicht war es aber auch nur ein Fleck auf dem Negativ. Auf dem weißen Rand der insgesamt sieben Fotos war hinter einer Ziffernreihe ein handschriftlicher Vermerk zu lesen: »Nicht identifizierter Mann, Bauchlage, Tinieblas de la Sierra, 22. Dezember 1977«. Trujillo wies auf die Zahlenreihe hin, die einen Anhaltspunkt bieten könne, um in den Archiven zu stöbern. Er konnte mir aber nichts versprechen. Zum Abschied klopfte er mir wie immer freundschaftlich auf den Rücken und schenkte mir ein ermutigendes Lächeln, bevor er in aller Ruhe wieder in den Räumen des Leichenschauhauses verschwand. »Was würdest du nicht darum geben, zu erfahren, was diese Netzhaut vor ihrem Tod gesehen hat, nicht wahr?«
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26 Als ich das Universitätsgelände verließ, war bereits eine dunkle, mondlose Nacht hereingebrochen. Zwischen den Grünanlagen und leeren Gebäuden machte ich mich auf die Suche nach einem Taxi, doch in dieser Gegend weit ab vom Zentrum war es praktisch unmöglich, eins zu finden. Bis auf einen großen Mann mit Hut und wehendem Mantel war niemand zu sehen. Er überquerte den fast leeren Parkplatz der Universität und kam näher. Ich spürte, wie ein Alarmsignal in mir ausgelöst wurde. Ich presste die Tasche mit Galváns Fotos an meine Brust und ging die breite Straße hinunter. Plötzlich spürte ich einen Windstoß und hörte, wie hinter mir die Bäume auf der Böschung zur tiefer liegenden Umgehungsstraße raschelten. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, die Böschung hinunterzulaufen, da mir die Situation mehr als seltsam vorkam. Woher kam plötzlich diese Angst? Was sollte der Mann mir schon tun? Er konnte dort doch auch einfach nur spazieren gehen. Ich wollte ihn gerade unverhohlen ansehen, als ich plötzlich eine Berührung an meinem Oberschenkel spürte. Instinktiv griff ich in die Hosentasche, als würde ich einen Revolver ziehen. Es war mein Handy, das vibrierte. »Hallo?« »Señor Navarro? Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät …« »Wer ist denn da?« Die Verbindung war äußerst schlecht, und die Stimme am anderen Ende wurde durch Rauschen und Knistern unterbrochen. 198
»Hier ist Alonso, Federico Alonso, aus der Nationalbibliothek.« Verblüfft presste ich das Handy ans Ohr und ging weiter. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich den Mann, der mir im Licht der runden Laternen zu folgen schien. »Sagen Sie nicht, dass Sie ein weiteres Exemplar der Medizinischen Studie über die Pest in der Provinz Toledo gefunden haben!« »Nein, aber ich glaube, ich habe was Besseres. Wir sollten uns unbedingt treffen. Vielleicht gleich morgen.« »Morgen? Um wie viel Uhr denn?«, fragte ich etwas gereizt, ohne meinen vermeintlichen Verfolger aus dem Blick zu verlieren. »Gegen Mittag? Ich glaube wirklich, das könnte Sie interessieren. Ich sagte Ihnen ja bereits, wenn ich erst nachforsche, bin ich nicht zu bremsen!« »Warten Sie einen Augenblick.« Ich hatte plötzlich das seltsame Gefühl, als ob sich mir jemand von hinten näherte. Ich blieb stehen und drehte mich einmal im Kreis. Doch der Mann war verschwunden. Wenn ich richtig lag, gab es außer einem kleinen Gartenstück keine Möglichkeit, um von dort zu verschwinden. Sonst waren überall Mauern von angrenzenden Häuserblocks ohne Zwischenräume oder Seitenstraßen. Eine breite Allee ohne Ausgang, die durch zehn Laternen dürftig beleuchtet wurde. Sonst nichts. Es war unmöglich zu verschwinden, ohne dass ich es gesehen hätte. »Señor Navarro?« Alonsos Stimme ertönte aus dem Handy. »Ist gut, also bis morgen«, beendete ich rasch das Gespräch. Mein Herz schlug immer heftiger. Ich war überzeugt, irgendetwas verbarg sich vor meinen Augen und beobachtete mich. Das gleichmäßige Geräusch meiner Schritte auf dem 199
Asphalt wurde immer schneller. Ich ging zu der Stelle zurück, wo eben noch der Mann mit dem wehenden Mantel entlanggegangen war. »Ist da jemand?« Doch niemand antwortete. Ich entschloss mich, zurück zum Gerichtsmedizinischen Institut zu gehen und von dort ein Taxi zu rufen. Als ich den Parkplatz erreichte, blickte ich zurück. Ich könnte schwören, ich sah den Mann dort stehen, weit hinten, mitten auf der Straße. Er schaute mir nach.
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27 Federico Alonso hatte mich in ein Café am Paseo del Prado bestellt, genau gegenüber dem Prado, einer der bedeutendsten Gemäldesammlungen der Welt. Er hatte eine Tasche unter dem Arm und tat geheimnisvoll. Scheinbar faszinierten ihn diese Recherchen fernab seines eintönigen Berufsalltags. Er kam an meinen Tisch und setzte sich ohne Begrüßung mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen neben mich. »Ich habe Ihnen das hier mitgebracht, damit Sie es selbst sehen können.« Ich schaute auf die lederne Aktentasche, aus der er jetzt eine alte vergilbte und leicht zerfledderte Zeitung hervorzog. Auf der letzten Seite fand sich folgender Beitrag: 4. März 1961 Dieb stirbt bei Einbruchsversuch in den Prado War der Mann verrückt, geistesgestört oder wollte er unbedingt berühmt werden? Viele Versionen und Mutmaßungen kursieren um den Vorfall im Prado, doch womöglich wird die ganze Wahrheit nie ans Licht kommen. Wer käme schon auf die wahnwitzige Idee, einen solchen Raub zu unternehmen? Angesichts der strengen Sicherheitsmaßnahmen hätten nicht einmal extrem gut ausgerüstete Profis die geringsten Erfolgsaussichten bei diesem Einbruch … Ich überflog den ersten Absatz und verstand kein Wort. 201
»Und was zum Teufel hat das mit Lucas Galván zu tun?« Alonso drehte die Zeitung um und deutete auf eine mit Filzstift geschriebene Nummer am oberen rechten Rand. »Dort. Sehen Sie nur!«, sagte er wie ein Spion, der sein geheimes Losungswort preisgibt. »Rv 1058/461. Und?« »Es ist die Signatur!«, entgegnete der Bibliothekar etwas enttäuscht, weil es nicht aus meinem Mund kam. »Die Signatur der Bibliothek!« Ich starrte ihn schweigend an. »Rv bezieht sich auf Zeitschriften und regelmäßige Veröffentlichungen, die nicht auf Mikrofilm gespeichert sind. Die erste Ziffer entspricht der Wochenzeitung und die 461 ist die Nummer der Ausgabe. Verstehen Sie jetzt?« Nachdem er mich angesichts meiner Begriffsstutzigkeit enttäuscht ansah, öffnete er erneut die elegante Mappe und holte eine vollgeschriebene rosafarbene Karte heraus. Da fing ich an zu begreifen. Es war die komplette Bestellkarte des Benutzers Lucas Galván aus dem Jahr 1977. Dort war alles registriert, was er jemals in der Nationalbibliothek bestellt hatte. Und der Vermerk Rv 1058/461 war wiederholt darauf zu finden. »Das bedeutet, er hat diese Ausgabe gründlich studiert, und wie Sie hier sehen können«, sagte er und zeigte auf die Vermerkliste, »hat er mehrfach Kopien von der letzten Seite beantragt. Es muss ihn sehr interessiert haben. Aber da ist noch etwas …« Er schob mir die Karte voller Nummern über den Tisch. Bei genauerem Hinsehen konnte ich feststellen, dass sich eine weitere Signatur auffällig oft wiederholte, etwa dreißigmal. Ich schaute den Bibliothekar an und wartete auf eine Erklärung. »Das sind gesonderte Bestellungen von Monographien. Ein Abonnement, mit dem man die Bücher in einem persönlichen 202
Depot reservieren kann, um nicht auf die tägliche Buchausgabe zu warten. Es ist so etwas wie ein eigenes Postfach. Dort werden dann die Bücher gelagert, an denen man gerade arbeitet. Lucas Galván hat sich mindestens drei Monate lang ganz intensiv mit diesen zehn Büchern beschäftigt.« »Bis er mit der Medizinischen Studie über die Pest in der Provinz Toledo unter dem Arm abgehauen ist.« »Richtig. Die Studie war eines dieser zehn Bücher. Es gab aber noch zwei weitere sonderbare und alte Werke. Eines davon über Venedig. Die restlichen Bücher waren diverse Abhandlungen über einen einzigen Maler: Hieronymus Bosch.« Ich ließ mich verblüfft in meinem Stuhl zurückfallen. »Ich habe jeden einzelnen Band durchgesehen. Auf vielen Seiten sind Symbole, Notizen, einzelne Buchstaben und Zahlen eingefügt worden. Es liegt sogar die Beschwerde eines Lesers vor, der sich über das Gekritzel beklagt hat. Ich habe Ihnen eine Seite aus einem der Bücher kopiert. Die Zeichnung darauf erscheint in allen Büchern am häufigsten. Sie wurde allerdings mit dünnem Bleistift gemacht, sodass sie kaum zu erkennen ist.« Auf der Kopie entdeckte ich eine kleine Hand, die Galván aus irgendeinem Grund, den ich nicht kannte, dort verewigt hatte. Ich bat Alonso, mir nochmal die Ausgabe der Tageszeitung zu geben, und begann erneut zu lesen: … Genaro Castro, ein neunzehnjähriger Aufseher und Sohn des Museumsgärtners, trat aus seiner Wohnung auf dem Gelände des Prado, nachdem er ein dumpfes Geräusch in der Nähe seines Fensters gehört hatte. Wie er unserem Reporter berichtete, hat sich der Vorfall gegen fünf nach eins in der Nacht zugetragen. Als Castro unterhalb der Fassade der Gemäldesammlung einen zusammengekauerten Mann auf 203
dem Boden sah, dachte er zunächst, ein Bauarbeiter sei im Dunkeln von einem Gerüst gefallen. Doch als er feststellte, dass die Person ganz dunkel gekleidet war, Turnschuhe trug und eine Tasche bei sich hatte, bekam er Angst. Castro berichtete der Kriminalpolizei, er habe am Hals des Eindringlings eine tiefe Wunde entdeckt, die der vermeintliche Einbrecher sich am Stacheldraht an einem der Fenster zugezogen haben musste. Vermutlich war der Mann im Augenblick der zentralen Wachablösung über das Eisengatter geklettert und hatte die Regenrinne an der hinteren Fassade bis in den zweiten Stock erklommen. Er muss dann auf dem Fenstersims ausgerutscht sein, der von den letzten Regenfällen noch feucht war. Der Aufprall aus etwa 10 Metern Höhe verlief tödlich. Seine Tasche wurde später von den Beamten sichergestellt. Scheinbar besaß er einen groben Plan des Museums, der mit mehreren Hinweiskreuzen versehen war. Der Eindringling hatte ein paar Rollen Filzstoff bei sich, vermutlich um darin die wertvollen Stoffe oder Tafelbilder einzuhüllen, die er entwenden wollte. Castro konnte den etwa vierzigjährigen Mann als Besucher des Museums identifizieren. Er habe sich mehrfach länger in einem bestimmten Saal des Prado aufgehalten. Außerdem versicherte er, er habe jemand weglaufen sehen. Auch diese Person habe dunkle Kleidung und einen Hut getragen und die Szene von der anderen Seite des Eisengatters aus beobachtet. Bei ihren Ermittlungen hat die Kriminalpolizei die Identität des Verstorbenen jedoch bisher nicht feststellen können.
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28 Der Anblick der Tafelbilder von Pedro Berruguete verursacht beim Betrachter ein seltsames Gefühl. Darauf wird die Verbrennung von Büchern dargestellt, die von der Inquisition verboten wurden. Während ich die Szenerie betrachtete und dabei der mittelalterlichen Musik durch die Kopfhörer lauschte, tauchte ich in eine turbulente Zeit ein, eine Zeit der Hetztiraden, Ketzerverbrennungen und Epidemien. Ich ging weiter und gelangte in den Bereich der primitiven flämischen Maler. Hier hingen die Porträts und Epochengewänder mit ihren Bibelmotiven und volkstümlichen Themen. Doch das freundliche Farbenspiel, die Goldplättchen und die sanften Heiligen- und Madonnengesichter fanden mit dem Eintritt in den nächsten Raum ein jähes Ende. In dem Saal 57A des Prado ist plötzlich alles anders. Hier verändert sich alles, so wie sich der Himmel vor einem Gewitter wandelt. Das Lachen wird zu einem Weinen, die abgebildeten Dörfer sind verwüstet und die Flammen der Hölle bemächtigen sich der toten, unfruchtbaren Erde. Beim Überschreiten der Türschwelle haben sich die Tafelbilder in graphische Dokumente einer Zeit verwandelt, in der die Menschen vom ungewissen Schicksal ihrer Seelen und der ständigen Gegenwart des Teufels besessen waren. Hier haben Beklemmung, Angst sowie körperlicher und moralischer Verfall bereits die Oberhand gewonnen. Dämonen, entstellte Geschöpfe und boshafte Schattenwesen lassen den Besucher schon beim Anblick der ersten Bilder zurückschrecken. Manche gehen ganz intuitiv schnell daran vorbei. Andere lassen sich auf die Bilder ein. Hieronymus Bosch ging als Maler über die Grenzen seiner Zeitgenossen hinaus und drang in bis dahin unbekannte Tiefen vor. Er sah die Dinge mit anderen Augen und war in der Lage, 205
die menschliche Angst von innen zu durchleuchten. Anders als die übrigen Künstler seiner Epoche schien er mit seinem Pinsel die Grenzen zu überschreiten und das Fleisch auf der Suche nach den Seelenqualen durchdringen zu können. »Entschuldigen Sie, wissen Sie, ob die Bilder schon immer hier untergebracht waren?«, fragte ich die Museumswärterin, die auf einem Stuhl am Ende des Raumes saß. »Ich bin seit zwanzig Jahren hier, und seitdem hingen sie immer in diesem Saal.« Unverhohlen starrte sie auf meinen offenen Notizblock. »Die Reaktionen der Leute hier sind sicher sehr interessant …« »Und ob. Vor dem Bild dort stehen manche Gruppen stundenlang, vor allem die Ausländer. Wenn man abends das Licht ausmacht, leuchtet es immer noch auf ganz besondere Weise.« Ich folgte ihrem Zeigefinger bis zu dem beeindruckenden Triptychon Der Garten der Lüste. Auf einem Seitenteil war noch die Nummer 122.69 aus der ursprünglichen Katalogisierung im Kloster El Escorial zu sehen, dort, wo es jahrhundertelang als verflucht gegolten hatte und vergessen worden war. Ich versank in der unbestreitbar ketzerischen Botschaft, die überall in der christlichen Welt sofort zerstört worden wäre, hätte Philipp II. dieses Bild nicht mit seinem eisernen Willen beschützt. Denn dem Betrachter eröffnet sich eine Welt der Wollust, ein Frevel für den kirchlichen Blick einer Zeit, in der man nackte Körper argwöhnisch vermieden oder gründlich bedeckt hat. Vor allem Frauenkörper. Hier tollten Hunderte von Personen jeglicher Rasse auf einem Feld herum: ein wahrlich verbotenes Paradies, ein ursprüngliches Paradies mit rötlichen Früchten, Brunnen ewiger Jugend und in sich verschlungener sündhafter Körper in 206
endlosem Genuss. Nach Meinung großer Experten entsprach dies detailgetreu dem Ideal der Adamiten. Nicht mehr und nicht weniger. Aber irgendetwas passte hier nicht zusammen. Was zum Teufel hatte dieses Bild in den Privatgemächern des mächtigsten Königs der katholischen Orthodoxie zu suchen? »Auf der rechten Seite hat sich der Maler porträtiert. Sehen Sie?« »Ach ja?«, fragte ich überrascht, während ich das mittlerweile vertraute Gesicht von Hieronymus Bosch auf den drei riesengroßen Tafeln des Triptychons suchte. »Ja. Dort ist es, mitten in der Musikalischen Hölle.« Plötzlich überkam mich ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Inmitten der apokalyptischen Darstellung sah ich ein menschliches Gesicht. Dort, wo entstellte Hybriden mit ihren Musikinstrumenten den Gläubigen Qualen bereiten, wo Zwerge in Priesterkleidung und Schweine mit Nonnenhauben als deutlicher Angriff auf die Kirche erscheinen. Dort, wo eine weiße amputierte Hand, die heilige Hand Gottes, mit einem Messer auf einem Tisch aufgespießt ist und einen rätselhaften Würfel hält. Und wie auf fast allen Messern in den Werken des Künstlers aus Brabant erscheint auch hier ein M auf der geschärften Klinge. Jene Hand erinnerte mich sofort an die des riesenhaften Weltenherrschers in der Kapelle in Tinieblas de la Sierra. Wahrscheinlich wegen der unverwechselbaren Tönung und der Geste mit dem ausgestreckten unproportionierten Zeigefinger. »Sie haben recht«, sagte ich erstaunt über dieses Detail, das mir zuvor nie aufgefallen war. Tatsächlich prangte dort das unverwechselbare Gesicht von Hieronymus Bosch und blickte aus dem Bild heraus. Wie aus einer anderen Welt schaute er mich an und gleichzeitig an mir vorbei. Sein Körper spross aus zwei beinartigen alten Stämmen 207
und stand auf Füßen in Form von kleinen Booten inmitten der Strömung eines tiefen Flusses. Er hatte denselben Ausdruck wie auf dem Bild von Klaus Kleinbergers Buch. Es war das Porträt eines Mannes, der nach und nach hoffnungslos in seiner eigenen Hölle versinkt, während er einen finsteren Kosmos betrachtet, der ihn aufsaugt und ins ungewisse Jenseits treibt. Das trostlose Gesicht eines Menschen, der am Ende in seinen eigenen Albträumen gefangen geblieben ist und sich selbst für alle Zeiten im Epizentrum des Bösen verewigt hat. Als wollte er eine angsterfüllte Botschaft hinterlassen. Es war das Bild eines Wesens, das Lucas Galván ohne jeden Zweifel in seinem letzten Schreiben gemeint hat: der Baummensch. »All diese Bilder kamen aus El Escorial«, begann die Frau und riss mich aus meinen Gedanken. »Es handelt sich um die weltweit bedeutendste Sammlung von Bosch-Gemälden. Allerdings müssen sie dort in den Fluren und Gemächern des Klosters noch beeindruckender gewesen sein.« Die Museumsaufseherin war eine redselige Frau um die vierzig. Sie hatte eine Brille an einer Kette um ihren Hals und trug den für die Angestellten üblichen dunkelblauen Anzug. Am Gürtel steckte eine Art Walkie-Talkie, aus dem manchmal Geräusche ertönten. Sie schien Gefallen an meinen Fragen an diesem langen Dienstagvormittag zu finden, an dem es kaum Besucher gab. »Mittlerweile sind Sie bestimmt eine Expertin für diesen Künstler. Ich wette, nur wenige Menschen haben so viele Stunden vor diesen Werken verbracht wie Sie.« Die Frau zögerte keine Sekunde. »Alle hier ausgestellten Werke waren bis zu seinem Tod im Schlafgemach von Philipp II. untergebracht. Es heißt, dort gab es auch noch viele andere Bilder, von denen die meisten einem Brand kurz nach dem Tod des Königs zum Opfer fielen. Zum Beispiel weiß man, dass dieses hier, Die sieben Todsünden«, 208
erklärte sie und ging auf ein Tafelbild zu, auf dem ein großes Auge über die Welt zu wachen schien, »eins seiner Lieblingsbilder war. Zum Glück konnte es gerettet werden.« »Wo wir gerade über verschwundene Bilder reden: Hat es in diesem Saal jemals einen Diebstahl gegeben?« Ich wusste, ich hatte ein Tabuthema angeschnitten, doch diese äußerst freundliche Frau erwies sich als unerwartete Helferin und wahre Kennerin. Ich erfuhr, dass die Bilder von Hieronymus Bosch bis 1970 anscheinend in einem ganz anderen Saal untergebracht waren. Die Lieblingswerke des Monarchen befanden sich damals noch im zweiten Stock, genau dort, wo der gescheiterte Dieb abgestürzt war. Nach dem versuchten Einbruch richtete man einen Übergangssaal für die Bilder ein. Und sie teilte mir noch eine Überraschung mit: Genaro Castro, der junge Aufseher, der Zeuge des tödlichen Unfalls gewesen war, übte noch immer seinen Beruf als Museumswärter aus. Im Kloster San Lorenzo de El Escorial.
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29 »El Escorial gilt als einer der wichtigsten Orte der Macht in Spanien. Eine energetische Schlüsselstätte ersten Ranges, wo ohne Zweifel alles ganz genau geplant wurde. Es hat einen Grund, warum ausgerechnet dieser Ort ausgesucht wurde und kein anderer. So etwas geschieht nicht zufällig.« Sebastián Márquez’ Stimme wurde einige Male unterbrochen, als ich die Straße in das kurvenreiche Gebirgsmassiv Abantos hinauffuhr. Schließlich brach die Verbindung ganz ab. »Blöde Freisprechanlage«, dachte ich und schlug leicht auf das Lenkrad. Auf dem letzten Stück des Weges, von wo aus man bereits das beeindruckende Gelände sehen konnte, das viele als achtes Weltwunder bezeichnen, rief er wieder an. Und jetzt klangen seine Worte so klar wie der Schnee am Straßenrand und auf den Berggipfeln. »Juan de Herrera und Juan Bautista de Toledo waren wahre Spezialisten auf dem Gebiet der klerikalen Architektur. Wie gesagt, sie haben diesen Ort nicht zufällig gewählt. Sternen-, Zahlen- und Erdkoordinaten waren ganz genau berechnet. Man wollte so etwas wie einen neuen Tempel Salomons bauen. Auf dem fünfunddreißigtausend Quadratmeter großen Gelände sollte alles an offiziellem und ebenso okkultem Wissen zusammengeführt werden. Ich bin mir sicher, in diesen aufregenden Grenzbereich fiel auch die Leidenschaft für die Bilder von Hieronymus Bosch. Der König wollte sie aus einem bestimmten Grund unbedingt dort haben.« »Bist du sicher, dass wir über denselben Philipp II. sprechen?«
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»Selbstverständlich. Dieselbe Person, die hoch oben in diesen spitzen Turm mit Kreuz und Windfahne, den du jetzt vor dir haben dürftest, Hunderte von Schutzreliquien einschließlich mumifizierter Körperteile von Heiligen packte, um der bösen Energie entgegenzuwirken, die nach den Berechnungen der damaligen Gelehrten diesen Ort umgab …« Wie ein gerader grauer Dolch ragte der Turm mit seiner glänzenden Bronzekugel an der Spitze jetzt in den eisigen Himmel vor mir. »… Er versammelte dort bis zu achttausend Reliquien in über fünfhundert Kisten und Schreinen. Die größte jemals zusammengestellte Sammlung. Ganz zu schweigen von der Alchimistenküche, den Dutzenden von Schwarzkünstlern aus allen Winkeln Europas, die er für sich arbeiten ließ, oder von der damals größten Bibliothek mit ketzerischen Büchern unter der Leitung von Benito Arias Montano, einem rechtschaffenen Andersgläubigen. Kurzum, hinter der offiziellen Geschichte des großen Philipp II. verbirgt sich eine ebenso spannende inoffizielle Version. Viele Schreiber und Höflinge wollten diese Seite nach seinem schrecklichen Tod vertuschen.« »Gibt es denn irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen?« »Nein. Und das ist eines seiner größten Geheimnisse. Er war der einzige Monarch, der keine offizielle Chronik über die Ereignisse am Hof zuließ. Zuletzt durchlebte er eine qualvolle und einsame Zeit. Seine schon vorhandenen Ängste wurden nur noch verstärkt. Es gibt Geschichten von angeblich umherziehenden Schattenwesen in den Gemächern, vom Geheul eines schwarzen Hundes, der in bestimmten Momenten erschien, von tödlichen Unfällen bei Bauarbeiten. Einige Experten sind der Meinung, dass …« Als ich durch die Torbogeneinfahrt ins Parkhaus neben dem Kloster fuhr, brach die Verbindung endgültig ab. Blöde Freisprechanlage! 211
Der riesige Innenhof des Granitmauerwerks von El Escorial versetzte mich unter den grauen Wolken und dem Eisregen sofort in eine längst vergangene Zeit. In eine Zeit, in der die schlanke Gestalt von Philipp II., dem mächtigsten Mann seiner Epoche, König von Spanien und der Neuen Welt, von Neapel, Sizilien, Mailand und den Niederlanden, in den letzten Tagen seines Lebens schweigsam und abwesend hier spazieren gegangen war, während er in seltsame Gedanken vertieft war und seinen Blick über das Gebiet streifen ließ, in dem auch der Königsadler seine Kreise zog. Mit einem Strich radierte ich die modernen Gebäude und die Sommerhäuser auf dem Hügel weg. Dann stellte ich mir den einsamen Steinkoloss mit seinen Türmen vor, die in den Himmel ragten. Ich sah es so, wie es einst gewesen sein musste: das Kloster mitten in einem Meer aus Felsen, erbaut an einem Ort, der scheinbar nicht zufällig gewählt worden war. »Durch diese Tür dort, Señor«, sagte ein Angestellter, der viel zu jung war, um der zu sein, den ich suchte. Als ich hineinging, erblickte ich als Erstes einen etwas schäbigen, aber riesengroßen Wandteppich. Irgendetwas kam mir daran bekannt vor. Mein Blick fiel auf ein Gesicht mit einem grotesken Hut auf dem Kopf. Die Gestalt war von seltsamen Figuren umgeben. »Bist du’s?«, fragte ich leise, während ich meine Fingerkuppen über das Gewebe gleiten ließ. Das gespenstische Gesicht schien mich aus einer anderen Welt direkt anzusehen. Es war das Antlitz des unverwechselbaren »Baummenschen«, das mich hier wie ein Wegweiser willkommen hieß. Fassungslos sah ich auf die rechteckige Plakette neben dem Wandteppich: Dieser älteste Wandteppich im Kloster wurde vom König als Kopie des Werkes Der Garten der Lüste 212
von Hieronymus Bosch Entstanden ist er um 1580.
in
Auftrag
gegeben.
Ich war von dieser zufälligen Begegnung tief beeindruckt – oder geschah gar nichts mehr rein zufällig? Ich löste eine Karte und ging langsam durch die einzelnen Räume. Mitten auf den schlichten, geradlinigen Fluren drehte ich mich manchmal um. Der hintere Teil dieser endlos scheinenden Gänge lag jeweils im Dunkeln. Ich versuchte, mir die Wirkung von Boschs schrecklichen Schöpfungen an einem so entlegenen und düsteren Ort vorzustellen. Über eine lange Marmortreppe, die von kleinen Lampen erhellt wurde, stieg ich schließlich in die königliche Gruft hinab. Ganz hinten im runden Saal des Pantheons, wo die Monarchen zur ewigen Ruhe gebettet waren, sah ich einen alten Mann in einem blauen Anzug. Im Flüsterton sprach er mit einem Besucher, der eine große Hornbrille trug und ein Notizbuch in der Hand hielt. Als ich mich so weit genähert hatte, dass ich das Gespräch verstehen konnte, blieb ich unvermittelt stehen. »… das Prinzip, auf dem hier alles basiert. Das Kloster wurde nämlich nach denselben Plänen konstruiert wie der Tempel des Salomon. Haben Sie die Skulptur vom weisen König Salomon im Hof gesehen? Die Erbauung El Escorials ist ein Spiel der Übertragung von Wörtern und Nummern. Eine Wissenschaft für sich. Die Kabbala, von der wir heutzutage so gut wie gar nichts mehr verstehen. König Philipp II. kannte sie allerdings ganz genau.« »Man ersetzt die Wörter durch Nummern?« »Ja, so ungefähr. Das ist die einfachste Variante. Nehmen Sie zum Beispiel das Wort ADAM. Nach der Position der Buchstaben in unserem Alphabet wäre das dann 14114, nicht wahr?«
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Warum hatte der Mann wohl ausgerechnet diesen Namen ausgesucht? Den Namen der Ketzerbewegung, der auch Hieronymus Bosch angehörte? Warum Adam? War ich mittlerweile zu misstrauisch geworden? Oder war ich schlichtweg dabei, verrückt zu werden, und sah überall nicht vorhandene Zeichen, wo es nur unschuldige Zufälle gab? »Wenn man die einzelnen Zahlen summiert, also 1 + 4 + 1 + 1 + 4, ergibt das 11. Also, 1 + 1 = 2. Verstehen Sie?« »Ich glaube schon. Der Name Adam wird auf die Zwei reduziert. Und diese Zahl hat somit eine bestimmte Bedeutung in den geheimen Gesetzen, die nur die Eingeweihten kannten.« »Genau! Sie haben es verstanden! Die Reduzierung auf den Ursprung bestimmt die gesamte Konstruktion. Alles, was Sie hier sehen, wird davon beherrscht.« Das musste Genaro Castro sein. Jetzt war mir alles klar. Und trotzdem schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich wartete, bis der andere Besucher an mir vorbei die Treppe hochging. Als er verschwunden war, nutzte ich die Gelegenheit, um selbst mit Castro zu sprechen. Ich wunderte mich darüber, wie gebildet der Mann war. Aber er interessierte mich auch noch aus einem anderen Grund. »Genaro Castro?« »Ja, das bin ich. Und Sie sind …?« Wir sprachen mehrere Stunden miteinander. Seine Vorliebe für Zahlenmystik und die Legenden dieses Ortes war verständlich. Fast zwanzig Jahre lang hatte er die verschlüsselten Zeichen in jedem Quadratmeter des Klosters in sich aufgesogen. Im Verlauf der Unterhaltung bestätigte er zahlreiche Dinge, die Sebastián Márquez schon am Telefon erwähnt hatte: die Turmspitze voller Reliquien, die Alchimistenküche, die verbotenen Bücher, die Versammlungen von Zauberern und Schwarzkünstlern. Er gestand mir außerdem, unter Pseudonym ein Buch mit dem Titel 214
El Escorial und seine Geheimnisse veröffentlicht zu haben. Darin gab er all das wieder, was er im Laufe vieler einsamer Runden durch das Gebäude erfahren hatte. Ich kaufte ihm ein Exemplar ab und bat ihn um eine Widmung: Für Aníbal Navarro, der wie ich Interesse an den Geheimnissen des großen Tempels El Escorial, dem achten Weltwunder, verspürt. Genaro Castro Castro hatte Vertrauen zu mir gefasst. Schließlich bot er an, mir einen echten Bosch zu zeigen – eine zweite Version des Heuwagens –, der in einem dunklen Kapitelsaal hing. Als wir vor dem Bild mit den seltsamen Kreaturen und der Höllenlandschaft standen, sagte er seltsamerweise kein einziges Wort. Schweigend stand er mit verschränkten Armen neben mir, und es sah fast so aus, als verneige er sich in tiefer Ehrfurcht. Später sagte er mir ganz offen, dass alle Nachtwachen hier schon einmal von einer »Erscheinung« gesprochen hätten. Nach einer langen Nachtschicht in den Gemächern des Königs soll ein Kollege sogar freiwillig um seine Beurlaubung gebeten haben. »Man hat mir bereits viel von der Legende des Schwarzen Hundes berichtet«, bemerkte ich, während er das Licht in einem Saal hinter uns löschte. »Da hat man Ihnen nichts Falsches erzählt. In den Chroniken taucht er erstmals im Jahre 1593 auf, nachdem mehrere Urteile gegen Ketzerbewegungen in Kastilien unter dem Vorsitz des Königs vollstreckt worden waren. Glauben Sie mir, das sind keine Märchen, und es ist auch kein Altweibergeschwätz. Ganz und gar nicht. Es heißt dort, dass ein buckliger, Aas fressender Hund immer dann erschien, wenn ein Arbeiter beim Bau der 215
Türme einen tödlichen Unfall erlitten hatte. Angeblich streifte das Wesen durch die Gärten und verwandelte sich manchmal, wenn es schon ganz nah am Kloster war, in einen Menschen, genauer gesagt in ein Kind. Die Mönche haben viel darüber diskutiert. Einer von ihnen soll am 13. Juni jenes Jahres durch einen Schock gestorben sein, als er der Gestalt auf genau diesem Flur begegnete, auf dem wir uns gerade befinden. Mit einem bösartigen Gesicht und erhobenen Händen kam das Kind auf ihn zu.« »Genau hier?«, fragte ich und schaute mich um. »Ja, genau hier. Und so, wie es nicht nur in einer, sondern in vielen der hier zugänglichen Chroniken steht, muss es weitere Erscheinungen zu ganz bestimmten und entscheidenden Zeitpunkten gegeben haben. In solchen Nächten verwandelte sich das Gebell des Schwarzen Hundes nach und nach in ein Weinen. Manchmal ging es auch in Gelächter über. Es muss schrecklich gewesen sein.« »Soweit ich weiß«, unterbrach ich ihn, »hat Philipp II. sehr viel Wert darauf gelegt, dass darüber nichts berichtet wird.« »Stimmt, er hatte zu große Angst. Aber es gibt Dokumente, in denen sehr wohl die Rede davon ist. Kommen Sie mit. Ich werde Ihnen etwas zeigen.« Castro drehte sich um und führte mich durch ein Labyrinth aus Türen und Gängen. Zuweilen mussten wir gebückt gehen und konnten vor lauter Dunkelheit kaum etwas erkennen. Schließlich kamen wir zu einer spartanischen Zelle. Darin befanden sich lediglich ein Tisch an der Mauer, eine Pritsche, ein Stuhl und eine Öllampe, die Castro beim Eintreten anzündete. Ein großer Stapel Bücher lag auf dem Boden. »Hier lese ich in den vielen Stunden, die ich totschlagen muss.« Er nahm das oberste Buch und schlug es auf. »Lesen Sie selbst, was dort steht.« 216
… Und so mancher Zeitgenosse behauptet, er habe den Schwarzen Hund und den seltsamen Knaben an zentralen Wendepunkten im Leben des Monarchen in der Umgebung des Klosters gesehen. Zum Beispiel am Todestag der Königin Isabella und als der König selbst gestorben ist. All das fachte die Diskussionen darüber an, ob der Standort von El Escorial richtig gewählt worden sei. Und ob man das Glück nicht herausgefordert habe, als man das Kloster auf einem Höllenschlund baute. Nach den Ereignissen in jener verhängnisvollen Nacht vom 13. September 1598 wurde über alles der große Mantel der Verschwiegenheit gebreitet. Sollte es jemand wagen, diese Staatsgeheimnisse zu verbreiten, drohten ihm Einzelhaft und Todesstrafe. »Das hier«, sagte Castro, als er den dicken, von der Feuchtigkeit gewellten Umschlag schloss, »schrieb Ricardo Sepúlveda im Jahre 1888, als er eine Reihe von Ereignissen dokumentierte, die hier geschehen sein sollen.« »Höllenschlund? Was war damit gemeint?« Castros Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Er schien sich die Antwort genau zu überlegen. »Es geht um eine sehr alte Überlieferung. Demnach ist die Erde von Energielinien durchzogen. In den königlichen Gemächern gab es eine Karte, die vor langer Zeit gestohlen wurde, wo diese Linien rot eingezeichnet waren. Man glaubte, positive und negative Strömungen umgäben die Welt und träfen nur an ganz bestimmten Punkten aufeinander. Normalerweise liegen diese Punkte dort, wo unterirdische Flüsse zusammenfließen. Das ist hier der Fall. Der König hatte diesen Ort zusammen mit seinen Ratgebern, Baumeistern und Okkultismusexperten 217
aus einem bestimmten Grund ausgewählt. Viele behaupten, er habe dem Höllenschlund entgegenwirken wollen, indem er darauf das größte magisch-religiöse Bauwerk der gesamten Christenheit stellte. Man glaubte nämlich, die Schnittstelle hier unten sei negativer Art. Philipp II. verstand den Bau also als Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen; ein offenes Gefecht mit Symbolen und Energien der Vergangenheit und der damaligen Gegenwart.« Ich war erleichtert, als wir die Zelle wieder verließen. Wir liefen noch durch unzählige Räume und gelangten schließlich zu den königlichen Gemächern. Neben dem erstaunlich kargen Himmelbett stand ein Schreibtisch, und dort, wo vor einigen hundert Jahren die Gemälde von Hieronymus Bosch ihren Platz hatten, hingen heute Bilder von Pflanzen. Philipp II. hatte Boschs Werke über Jahre geduldig zusammengetragen und dafür ein wahres Vermögen ausgegeben – zur Überraschung einiger Ratgeber und zum Ärgernis der Geistlichen im Kloster. »Hier hing außerdem die Karte mit den Machtlinien«, erklärte Castro, während er die rote Kordel aushängte, die den Weg versperrte. Als ich ihn nach dem Todeskampf von Philipp II. fragte, war seine Antwort kategorisch: »Es war furchtbar. Die Visionen und das Fieber brachten ihn an den Rand des Wahnsinns. Genau hier hat sich das alles abgespielt, doch kaum etwas davon ist außerhalb dieses Raums gedrungen. Es war ein Staatsgeheimnis.« »Aber wissen Sie, ob er diese Erscheinungen tatsächlich hatte?« »Man weiß aus den Schriften seines Ratgebers Pater Atienza, dass der König in seinen letzten Stunden nach dem Schwarzen Hund oder dem Schwarzen Kind gefragt hat. Diese Gestalten seien ihm mehrmals erschienen. Ihre Wehklagen weckten ihn auf und machten ihm große Angst. Er befahl dem Geistlichen, 218
Banngebete zu sprechen. Doch dann verlor er die Besinnung und hörte auf zu atmen.« »Dieser Atienza war Zeuge des Geschehens?« »Ja, und es heißt, er habe am Schluss selbst epileptische Anfälle gehabt und sei wahnsinnig geworden.« Castros Beschreibung von Hieronymus Bosch fiel dagegen wesentlich schmuckloser aus: »Es ist so viel darüber spekuliert worden. Ich glaube nicht, dass er ein gefährlicher Ketzer war. Er muss ein Mann mit weitreichenden esoterischen Kenntnissen gewesen sein, und sein Wissen hat den König fasziniert. Manchmal verbrachten Philipp II. und seine Schwarzkünstler ganze Nächte vor einem der Bilder. Sie näherten sich mit Fackeln und erzeugten dadurch merkwürdige Schatten. So manches Werk von Hieronymus Bosch wurde durch die Experimente sogar geschwärzt. Bestimmte Bilder sind mit Kerzen und sogar Salben behandelt worden. Möglicherweise wollten der König und seine Ratgeber darin etwas entschlüsseln. Bis heute hat es niemand herausgefunden.« Als wir auf unserem Rundweg am Ausgang angelangt waren, dem großen gepflasterten und rechteckigen Atrium, wo sich bereits der Vollmond widerspiegelte, fragte ich Castro schließlich nach jener merkwürdigen Episode in seiner Jugend. Da wir in den letzten Stunden so vertraulich gesprochen hatten, dachte ich, der Augenblick sei günstig, ihn nach dem Dieb zu fragen, der an der Fassade des Prado bis zu dem Raum hinaufgeklettert war, in dem damals die Bilder von Hieronymus Bosch ausgestellt waren. Und nach dem Mann, den er in die Tiefe stürzen sah. Aber ich hatte mich geirrt. »Das stimmt nicht. Ich war gar nicht dort. Und jetzt muss ich Sie bitten, zu gehen.« Kaum hatte er das gesagt, verschwand er auch schon im dunklen Innenhof. Seltsamerweise hatte er im Laufe unseres 219
Gesprächs durchaus erwähnt, als Gärtner und Wachmann im Prado gearbeitet zu haben. Warum stritt er es jetzt ab? Ich lief ihm nach, kramte eilig den Zeitungsbericht aus meiner Tasche und hielt ihm die Seite unter die Nase, auf der eindeutig sein Foto zu erkennen war. Castro starrte mich mit einem stechenden Blick an. »Möchten Sie vielleicht mit mir zu Abend essen?« Wir gingen in das angrenzende Restaurant El Charolés, das für seine Regionalküche berühmt war. Im Laufe des Abends notierte ich eifrig alles, was Castro mir anvertraute. Er schien immer noch nicht ganz zu begreifen, wie zum Teufel ich an diesen Originalzeitungsausschnitt gekommen war. Aber gleichzeitig war er dankbar, sich endlich von der schweren Last eines so alten Geheimnisses befreien zu können. Dann begann er mit seiner Geschichte: »Was dort steht, ist nicht die ganze Wahrheit. Die Polizei gab eine abgespeckte Version bekannt, um sich Ärger zu ersparen, und der Journalist beschränkte sich darauf, sie wiederzugeben. In jener Nacht hörte ich einen lauten Knall und lief nach draußen. Mit Schlagstock und Kette bewaffnet, entdeckte ich einen Mann, der sich beim Sturz von der Fassade zweifellos den Rücken gebrochen hatte. Er hatte versucht, das Sicherheitsgitter vor dem Fenster im zweiten Stock aufzubrechen, wo sich die Bilder von Hieronymus Bosch befanden. Das Gesicht des Mannes war schmerzverzerrt. Er beschwor mich, ihn gehen zu lassen, sonst würde ich es büßen. Das machte mir Angst. Auf dem Paseo del Prado erblickte ich plötzlich eine weitere schwarzgekleidete Person. Die Gestalt trug einen weiten Mantel und einen Hut und starrte mich an. Ich begann zu zittern, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Einbrecher lag im Sterben, und ich glaube, irgendwann wurde ihm bewusst, dass er selbst mit meiner Hilfe nicht hätte 220
aufstehen können. Als er merkte, dass es mit ihm zu Ende ging, bat er mich, dem Mann, der hinter dem Eisenzaun Wache schob, ein paar Papiere aus seinem kleinen Rucksack zu geben. Zunächst weigerte ich mich. Ich sagte, ich würde die Polizei rufen. Daraufhin fing der Mann, der jetzt schon aus Nase und Mund blutete, wild an zu fluchen. Er schrie, wenn ich die Papiere nicht übergäbe, kämen sie wieder – er sprach in der Mehrzahl –, und dann müsste meine Familie dafür büßen. Man würde uns alle niederstechen. Sie seien viele, und ein einfacher Wächter wie ich könne ihre Mission nicht vereiteln. Und währenddessen stand der andere Mann eiskalt und gelassen neben einem dunklen Wagen. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber mir war klar, er verfolgte jede Einzelheit unseres Gesprächs. Wie in Trance öffnete ich schließlich den Rucksack. Darin befanden sich Werkzeuge und eine Decke, aber auch ein paar zusammengefaltete Papiere. Ohne genau zu wissen, was ich tat, nahm ich die Dokumente heraus und lief eilig zur Straße. Ich hörte, wie hinter mir das Jammern des Einbrechers in ein Röcheln überging. Als ich etwa dreißig Meter vom Zaun entfernt war, hörte ich die Polizeisirene. Scheinbar hatte einer der Wachmänner im Museum etwas gesehen oder gehört und Alarm geschlagen. Ich rannte zu dem Mann auf der Straße und konnte ein Gesicht mit einem Schnauzbart erkennen. Die Haut war durch Verbrennungen, Falten oder Pockennarben entstellt. Keine Ahnung. Ich war schon fast bei ihm, als ein Polizeiwagen mit quietschenden Reifen um die Ecke gerast kam. Der Mann in dem Mantel drehte sich ruckartig um, sprang ins Auto und fuhr in aller Eile davon. Ich blieb mitten im Garten stehen, ohne meinen Auftrag ausgeführt zu haben, mit den Papieren in der Hand und dem Toten hinter mir. Vor lauter Angst erzählte ich der Polizei nichts von all dem. Ich glaube, die Identität des Einbrechers konnte nie endgültig geklärt worden. Er hatte keine Papiere bei sich. 221
In den folgenden Nächten wartete ich am Fenster auf den Unbekannten. Ich war davon überzeugt, er würde irgendwann zurückkehren. Aber er kam nie wieder. Nach einiger Zeit konnte ich dem Drang nicht widerstehen, mir die Dokumente anzuschauen. Es war der Grundriss vom zweiten Stock des Museums. Der Saal mit den Bosch-Bildern war mit zwei Kreuzen versehen. Ein Kreuz war genau dort eingezeichnet, wo ein ganz bestimmtes Werk von Hieronymus Bosch hing: Die sieben Todsünden. Auf der anderen Seite der Skizze prangte der Handabdruck eines Kindes. Es war eine dunkle Handfläche. Das alles werde ich nie vergessen, und manchmal träume ich sogar davon. Dann taucht der Mann mitten in der Nacht auf und versucht, mich zu erwürgen. Als mein Vater in den Ruhestand versetzt wurde und in sein Dorf zurückging, bat ich um meine Versetzung. So kam ich nach El Escorial. In manchen Nächten, in denen ich Wachdienst habe, meine ich, Stimmen zu hören und einen Schatten zu sehen: ein Kind, das am Ende des Flurs entlangläuft. Aber seitdem mir ein paar ältere Kollegen erzählt haben, was hier in den vierziger Jahren passiert ist, nimmt meine Angst zu …« »Damals war ein Dieb ins Kloster eingebrochen, nicht wahr?«, fragte ich ungeduldig. »Ja, und dieser erreichte leider sein Ziel.«
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30 Als Helena am nächsten Tag einer Gruppe ausgewählter Sponsoren ihre neue Zeitschrift in Madrid vorstellte, nutzten wir die Gelegenheit, uns am Nachmittag in einem Café zu treffen. Ich musste sie unbedingt über den Stand meiner Recherchen informieren. Die neueste Quelle hatte ich gerade vor mir liegen. Es war eine gründliche Abhandlung über die Geschichte des Klosters El Escorial, wo auch Diebstähle und Unfälle erfasst waren. Ein Eintrag war äußerst sonderbar: »13. November 1941. Einem Dieb ist es gelungen, die Wache zu überlisten und über eine Leiter in den Kapitelsaal einzudringen, in dem sich zahlreiche wertvolle Bilder befinden. Ihm gelang es, eines der Werke – keineswegs das bedeutendste – zu entwenden. Es handelt sich um die Leinwand der Träume von Hieronymus Bosch. Darauf ist eine Hexe zu sehen, die ein Kind aus einem Leichentuch wickelt, sowie ein großer Friedhof, auf dem die Toten aus ihren Gräbern steigen.« Welche Bedeutung hatte dieses Bild für den Dieb? Wer hatte ein Interesse daran, genau dieses Werk zu stehlen? »Ich weiß, ich habe mit dem Sonnenstudio etwas übertrieben …«, sagte die gerade eingetroffene Helena und holte mich aus meinen Gedanken. Sie lächelte, drückte mir zwei Küsschen auf die Wangen und fragte: »Wie laufen die Nachforschungen?« Ihr Erscheinungsbild war wie immer makellos. Unter dem edlen Mantel trug sie einen Nadelstreifenanzug. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie war sehr braun. 223
»Über Lucas Galván habe ich nicht viel mehr herausgefunden«, erwiderte ich. »Aber über Hieronymus Bosch und seine Bilder, die ihn so sehr beschäftigten, schon. So wie es aussieht, versuchen Unbekannte seit geraumer Zeit, die Bilder an sich zu bringen, und setzen dabei sogar ihr Leben aufs Spiel.« Ich wollte ihr die Fotos von dem toten Lucas Galván nicht zeigen, ihr noch nicht einmal sagen, dass ich sie besaß. Der Glanz in ihren Augen verriet mir, dass sie ihn auch nach dieser langen Zeit noch immer nicht vergessen hatte. Außerdem hatte ich sie schon oft genug zum Weinen gebracht. »Haben Sie nie daran gedacht, dass etwas Böses hinter Lucas’ Tod stecken könnte?« Ich zog eine Augenbraue hoch und verstand nicht ganz. »Ich meine etwas Teuflisches. Keine Ahnung. Aber wer weiß, ob dieser Hieronymus Bosch nicht einen Pakt mit der dunklen Seite geschlossen hat. Fest steht doch, dass all die Menschen, die sich in die Welt dieses Malers begeben haben, für immer darin gefangen blieben. Langsam kommt mir das alles vor wie schwarze Magie, und es macht mir Angst. Ich habe wirklich Angst um Sie!« »Ich will doch nur aufdecken, was mit ihm passiert ist, warum er gestorben ist, was er herausgefunden hat und was der verdammte Maler mit der ganzen Geschichte zu tun hat.« »Schauen Sie, Aníbal. Sie haben noch das ganze Leben vor sich. Ihre Radiosendung läuft bestens … Lucas kann keiner mehr zum Leben erwecken.« »Aber ich komme von dieser Geschichte nicht los. Ich muss weitermachen. Ich weiß, es ist schwer zu begreifen, aber ich muss wissen, was Galván in dem verlassenen Dorf entdeckt hat, warum er diese letzten Zeilen geschrieben hat und was es mit den Anspielungen auf Bosch und mit dem ›Baummenschen‹ auf sich hat. Ich muss wissen, was der Elektrische Zirkel tat und wie
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er den Imprimatur zum Leben erweckte, wie er die Orte auswählte. Der Rest ist nicht mehr wichtig.« Helena legte mir besorgt die Hand auf den Arm. Sah sie in meinen Augen etwa das Gleiche wie bei Lucas Galván in seinen letzten Tagen? »Ich möchte Ihnen ja nur helfen. Aber ich habe Angst um Sie, denn ich habe das alles vor vielen Jahren schon einmal erlebt. Sie dürfen die Kontrolle über sich nicht verlieren. Sie müssen so bleiben, wie Sie sind, unbeirrbar und standfest. Sie dürfen die Realität nicht aus den Augen verlieren. Verstehen Sie?« Ich antwortete nicht, aber in dem Moment fiel mir das schwebende unwirkliche Porträt von Hieronymus Bosch ein. Ich fühlte mich wie der abdriftende und schwankende »Baummensch«, der auf den Abgrund zusteuert. War ich dabei, mich auf dieselbe Reise in den Wahnsinn zu begeben? »Konnten Sie wenigstens herausfinden, wo man ihn begraben hat?«, fragte sie jetzt und schaute ängstlich nach links und rechts, als wollte sie sichergehen, dass sie niemand gehört hatte. »Dasselbe wollte ich Sie gerade fragen! Waren Sie denn nie an seinem Grab? Sind Sie nicht auf seine Beerdigung gegangen?« Sie schwieg. »Soll das heißen, Sie wissen nicht einmal, wo sein Leichnam abgeblieben ist?«, beharrte ich und hob ein wenig die Stimme, da ich es nicht glauben konnte. Helena antwortete stockend, während sie das Zuckertütchen von ihrem Kaffee in Streifen riss und den Blick hinter ihrer Designersonnenbrille verbarg. »Wir hatten seine Spur verloren und nichts mehr von ihm gehört. Ein Beamter der Kriminalpolizei rief schließlich in der Redaktion an.« »Die Kripo? Was hatte die denn damit zu tun?« »Vielleicht haben sie ermittelt, ob es Mord war.« 225
»Hat man Sie gebeten, die Leiche zu identifizieren?« Helena schüttelte mehrmals den Kopf. Ohne ihre Augen sehen zu können, merkte ich, wie sie den Hals leicht streckte und schluckte. »Der Polizist erzählte uns, Lucas sei in Toledo begraben worden. Aber ich weiß nicht, ob er die Stadt Toledo meinte oder die Provinz.« »Wollte er Ihnen die Information nicht geben?« »Lucas war ja Argentinier, und von Ausländern wird der Leichnam zunächst für einige Zeit aufbewahrt, damit die Angehörigen ihn zur Überstellung anfordern können. Aber Lucas besaß keine Familie mehr, und weil sich auch sonst niemand meldete, wurde er wohl in einem Massengrab bestattet. In einem so genannten ›Wohltätigkeitsgrab‹. Schreckliches Wort!« »Aber hat man Ihnen denn nicht einmal gesagt, wo und wie die Leiche gefunden wurde?« »Nein. Wir haben es rein zufällig erfahren. Ein Leser schickte uns seine Todesanzeige aus der Provinzzeitung, in der es hieß, man habe ihn im Freien gefunden, auf einem verlassenen Friedhof.« »Und was haben Sie in der Redaktion davon gehalten?« »Wir hatten kaum Zeit, darüber nachzudenken. Gisbert sagte, Galváns Name sei ab sofort in der Redaktion tabu. Niemand solle auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen, ihn je wieder zu erwähnen.« Ich erinnerte mich an den alten, ängstlichen Chefredakteur und wie er mich hinter seiner nur halb geöffneten Tür hasserfüllt angesehen hatte, als ich ihm Galváns letzte Texte abkaufen wollte. »Aber man kann doch niemanden zwingen, seine Gefühle zu vergessen!«, rief ich empört. 226
»Mich hat Gisberts Reaktion auch sehr gewundert. Später erfuhr ich dann den Grund für sein Handeln.« Gespannt setzte ich die Tasse wieder ab, die ich mir gerade an den Mund führen wollte. »An meinem letzten Tag in der Redaktion rief er mich in sein Büro. Er war ganz herzlich, obwohl er sonst ein eher mürrischer Mensch war. Seit Lucas’ Tod waren mindestens zwei Jahre vergangen, und Gisbert hatte sich seitdem sehr verändert. Er wirkte deprimierter als früher. Ich erinnere mich, wie er seine Schublade öffnete und mir die letzten Seiten zeigte, die Galván ihm einige Zeit vor seinem Tod aus Toledo geschickt hatte. Die Seiten, die Sie ihm für viel Geld abgekauft haben.« »Und? Was hat er zu Ihnen gesagt?« »Seine Hände zitterten, als habe er Angst davor, die Seiten anzufassen. Er zeigte mir die Fotos der verfallenen Kapelle, die mit einer Büroklammer an dem Text befestigt waren. Es gab auch Aufnahmen von einem halb verlassenen Dorf. Und dann noch ein paar scheinbar sinnlos bekritzelte Papiere, auf denen die Sätze wild durcheinander standen und mittendrin plötzlich abbrachen. Teilweise waren sie in einer fremden Sprache geschrieben … Na ja, das wissen Sie ja bereits.« »Und hat er Ihnen auch zwei Farbfotos gezeigt?« »Ja, zwei Polaroidbilder. Angeblich hatte ein Dorfbewohner die Fotos gemacht und sie Lucas anonym zugeschickt. Gisbert hielt sie mir vor die Nase und fragte: ›Siehst du etwas?‹« »Und was haben Sie geantwortet?« Helena streckte erneut ihre Hand nach mir aus. »Aníbal, haben Sie ihm diese Bilder auch abgekauft?« Ich nickte schweigend. Dann spürte ich, wie sie meine Hand fester drückte, so stark, bis es schon fast unangenehm war. Ihre lackierten Fingernägel bohrten sich in meine Haut, und plötzlich kam mir das Bild der alten Bettlerin in Erinnerung, die sich in 227
Toledo an mich geklammert hatte. Ich weiß auch nicht, warum ich daran denken musste. Ich weiß nur, ich erschrak und zog aus einem Impuls heraus meine Hand zurück. »Entschuldigen Sie, aber ich habe niemandem davon erzählt, nicht einmal meinem Ex-Mann, und die Angst bringt mich um.« Ex-Mann? Ich sah, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen, und streichelte ihr besänftigend über die Wange. »Ganz ruhig. Ich bin auch gerade sehr empfindlich, Helena … Mir sind in den letzten Tagen seltsame Dinge passiert. Verzeihen Sie mir.« »Ich habe ganz deutlich gesehen, was auf den Fotos war, verstehen Sie? Ich sah diese Gestalten in altertümlicher Kleidung, wie sie in der Dunkelheit in die Kamera starrten. In der Mitte des einen Bildes war ein Junge zwischen den Grabsteinen zu sehen und in einer Ecke eine Gruppe Mädchen. Sie hielten sich an den Händen und schienen näher zu kommen.« Ich spürte, wie mir die Haare zu Berge standen. »Das sagte ich auch Gisbert.« »Und wie hat er reagiert?« »Ich übertreibe jetzt nicht: Er griff sich an die Brust, sank in seinen Stuhl und lockerte seine Krawatte. Sein Gesicht war geschwollen und rot angelaufen. Er sah so aus, als ob er gleich einen Herzinfarkt bekäme. Das machte mir Angst. Ich glaube, er hatte nicht erwartet, dass ich darauf irgendetwas erkennen konnte.« »Was ich nicht verstehe: Warum hat er die Fotos nicht in seiner Zeitschrift veröffentlicht?« »Keine Ahnung. Aber ich hatte Gisbert im Laufe der vier Jahre, die ich dort gearbeitet habe, noch nie so besorgt gesehen. Letztendlich hatte wohl alles mit einem Vorfall zu tun, von dem
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er mir auch an meinem letzten Tag erzählte – warum auch immer. Es schien sein großes Geheimnis zu sein.« »Sprechen Sie weiter. Ich höre Ihnen zu.« »Eines Nachts, erzählte Gisbert, ist er in seinem Bett durch etwas wach geworden, das sich wie ein Wehklagen anhörte. Ein Jammern, das mal lauter, mal leiser wurde und näher kam. Er war in seinem Landhaus in Sitges. Allein. Gegen drei Uhr morgens hörte er also diese Geräusche. Er dachte zunächst, draußen habe sich vielleicht jemand verletzt. Ängstlich stand er auf und schaute durch das Fenster in Richtung Strand. Aber alles war ruhig, und auch das Geräusch war jetzt nicht mehr zu hören. Er trat dann in den Flur und machte Licht. Und dort sah er es …« »Was sah er? Eine Person?«, fragte ich ungeduldig. »Nein, etwas schwebte eineinhalb Meter über dem Boden. Es war eine Art schwarzes Rechteck, wie ein ausgeschalteter Fernsehbildschirm. Und es kam langsam näher …« »Und was hat er gemacht?« »Er rannte zurück ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Er wurde nervös, weil er den Schlüssel nicht auf Anhieb im Schloss umdrehen konnte. Und dann hörte er das Jammern wieder, vollkommen klar diesmal. Er blieb stehen und überlegte, ob er die Guardia Civil anrufen sollte. So vergingen einige Minuten. Als alles wieder ruhig schien, öffnete er die Tür, um sich davon zu überzeugen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Dann sah er das schwarze Rechteck, wie es direkt vor seinem Gesicht schwebte, undurchsichtig und düster …« Helena malte die Form eines Rechtecks in die Luft. Ich hörte ihr zu und starrte sie ungläubig an. »Gisbert war kurz vor einem Herzstillstand. Zitternd schloss er die Tür und stellte von innen einen Stuhl davor. Er wollte an den Nachttisch gehen, um seine Herztabletten einzunehmen. Doch dann ging plötzlich das Licht aus. Die Sicherung war 229
durchgebrannt. Und plötzlich sah er das schwarze Rechteck im eigenen Schlafzimmer … Als habe es sich langsam durch die Wand gearbeitet.« »Es war im Zimmer?« »Es schien vielmehr von woanders aus projiziert zu werden und tauchte als Spiegelbild neben dem Türrahmen auf. Gisbert wich zurück, stürzte ins Bett und zog sich instinktiv die Bettdecke bis zum Hals, um sich zu schützen. Er konnte jetzt deutlich hören, wie jemand mit Kreide auf eine Tafel schrieb. Nach und nach zeichnete sich in der Dunkelheit eine schwarze Hand ab, eine Kinderhand, und dahinter, als ob die Hand ein imaginäres Kreidestück hielt, tauchten Buchstaben auf der schwarzen Fläche auf.« »Lesbare Buchstaben?« »Ja, sie ergaben das Wort ›Fegefeuer‹.« Ich spürte ein leichtes Kribbeln in den Unterarmen. Ich erinnerte mich, dass ich bei meinem Besuch auf dem Friedhof in Tinieblas eine Stimme aufgenommen hatte, die dieses Wort sprach: Fegefeuer. Im Grunde war es ein christianisierter Begriff für den Ort, an dem der Imprimatur herrscht: die Zwischenphase, wo bestimmte Kräfte und Energien umherstreifen, die ihre Situation noch nicht verstehen. »All das geschah um drei Uhr morgens in der Nacht vom 18. Dezember 1977. In derselben Nacht erhielt ich zur gleichen Zeit einen Anruf, der mich aus einem Albtraum riss. Ich träumte von einem gevierteilten Körper …« Ich hielt die Luft an. »Mittlerweile denke ich, es war eine Botschaft von Lucas. Er hat uns gerufen, damit wir erfahren, was mit ihm geschehen ist.« »Sie sehen da eine Verbindung? Er wurde aber doch am 22. gefunden!«
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»Ja, aber nach den Informationen des Kripobeamten hatte man ihn da schon mehrere Tage nicht mehr gesehen. Also kann der genaue Todeszeitpunkt auch ein paar Tage früher gewesen sein.« »Und seitdem haben Sie Gisbert nicht wiedergesehen?« »Nie wieder. Ich glaube, wir haben uns beide bemüht, die Sache zu vergessen. Bis Sie, Aníbal, in unserem Leben aufgetaucht sind.«
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31 Es gab einfach zu viele Fragen. Deshalb schloss ich mich drei Tage zu Hause ein, stöpselte das Telefon aus und rührte den Computer nicht an. Die ganze Zeit über hörte ich eine CD mit Musik aus der Zeit Leonardo da Vincis. Die fünfhundert Jahre alten Klänge des Clavicembalos und der Kantaten wirkten äußerst entspannend auf mich. Ich wollte rekapitulieren, was ich bisher alles herausgefunden hatte, um nicht im Sturm der Ereignisse unterzugehen. Ich war auf die Spur eines alten Geheimnisses gestoßen, eines uralten verborgenen Wissens. Und irgendwie hing dieses Geheimnis mit der rätselhaften Person Hieronymus van Akne zusammen, mit Hieronymus Bosch. Durch seine direkte Verbindung zu den Ketzern und sein Eintauchen in deren Bräuche und Zeremonien war er möglicherweise in der Lage gewesen, manche verbotene Dinge jenseits der gewöhnlichen Sinne besonders deutlich zu begreifen. Und diese Dinge hat er nicht nur mit seinen eigenen Augen gesehen, er hat sie auch gemalt. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde dargestellt, was sich hinter dem Vorhang der dunklen Schwelle verbirgt, über die wir alle eines Tages treten müssen. Der verlassene Ort, wo Galváns Leichnam vor nunmehr dreißig Jahren aufgefunden worden war, stand mit einer uralten Sekte im Zusammenhang. Der Maler aus Brabant belebte den Kult dieser Eingeweihten zu einem Zeitpunkt, als er selber schon besonders massiv verfolgt wurde. Jener Friedhof muss Teil eines Dorfes gewesen sein, in dem in alten heidnischen Tempeln die Zeremonien der Verdammten abgehalten wurden. Diese Menschen kannten die positiven oder negativen Energieströme bestimmter Orte. Heterodoxe Gelehrte trugen 232
diese Linien Jahrhunderte später auf Landkarten ein, wie sie zum Beispiel in El Escorial zu sehen waren. Fasziniert von der Botschaft und den Visionen von der anderen Seite, versuchten die Eingeweihten an diesen Orten durch Experimente an Wahrheiten zu gelangen, die in keiner heiligen Schrift stehen. Die Kirche verdammte sie als ketzerische Außenseiter und verfolgte sie brutal. Und seitdem schwebt etwas über diesen Orten der Trauer und des Leids, das nur durch bestimmte Personen oder zufällige Begebenheiten wahrgenommen werden kann. Vielleicht war auch die Besessenheit Philipps II. von den Höllenlandschaften Hieronymus Boschs darauf zurückzuführen, dass er in gewissen Bildern magische Kräfte vermutete. Wollte er möglicherweise ihre geheimnisvolle und dunkle Energie neutralisieren, indem er die Bilder an einen christlichen Ort voller heiliger Reliquien brachte? Oder wollte er die seltsame Wirkung der Bilder selbst erleben und ihre versteckten Zeichen entschlüsseln? War der Monarch vielleicht selbst der unwiderstehlichen Verführung verfallen, ins Jenseits blicken zu wollen, so wie die Adamiten des freien Geistes, die er im Laufe seines Lebens mit aller Härte bekämpft und unterdrückt hatte? War es die Macht der Bilder, die auch Galván vor dreißig Jahren aufsog? Und wer waren die Unbekannten, die seit geraumer Zeit diese Werke um jeden Preis besitzen wollten? Was hatte die kleine schwarze Kinderhand zu bedeuten? Und was hatte es mit der weißen Hand auf den Gräbern in Tinieblas auf sich? Alle, die bisher mit dieser Geschichte zu tun hatten, haben eine Reihe überaus beunruhigender Erfahrungen gemacht. Und soweit ich feststellen konnte, erlebten die Betroffenen seit fünfhundert Jahren etwas Ähnliches. Was hatten die Visionen oder Albträume zu bedeuten? War es eine Botschaft? Eine Warnung? Waren die Erscheinungen von 233
schauderhaften Hunden und Kindern eine Folge der Versuche in den Zellen des Klosters? War es immer dasselbe herumirrende ruhelose Wesen, ein gevierteilter Mann, eine düstere Tafel, eine Stimme, die »Fegefeuer« sagt, der Abdruck einer Kinderhand, ein gesichtsloser Schatten in den Grabstätten Ägyptens …? Es gab einfach zu viele Fragen. Ich drehte mich im Kreis. Vielleicht war ich deshalb so dankbar, als mich Sebastián Márquez am nächsten Tag fragte, ob ich ihn nach Venedig begleiten würde. Dort fand eine große Auktion von alten Radierungen aus dem Bosch-Zirkel statt. Diese Künstler hatten zahlreiche Schlüsselwerke des Meisters kopiert, um Boschs Botschaft zu verbreiten und zu verewigen. Ohne ihre Arbeit hätte die Nachwelt vielleicht niemals erfahren, was auf einigen der seltsamsten und mächtigsten Bilder zu sehen war, die im Laufe der Zeit gestohlen, verbrannt und von offizieller Seite aus dem Verkehr gezogen wurden. Auch Klaus Kleinberger würde in Italien sein. Sebastián betonte, dass sich der in Paris lebende Experte nach wie vor sehr für meine Nachforschungen interessiere und er alle Kosten der Reise übernehmen würde. In knapp zehn Stunden sollte ich am Alitalia-Schalter des Madrider Flughafens Barajas ein auf meinen Namen hinterlegtes Ticket abholen. Sebastián wiederholte mehrfach das Kennwort. Wie hätte ich so viel Freundlichkeit ausschlagen können?
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32 Venedig hat zwei Gesichter, wie eine lachende und eine weinende Karnevalsmaske. Tagsüber, wenn die Stadt im hellen Sonnenlicht liegt und der frühe Bodennebel sich langsam verflüchtigt, sieht alles wie auf einer romantischen und leicht dekadenten Postkarte aus: die gondolieri, die großen Paläste, die Brücken über den Canal Grande … Doch bei Einbruch der Dunkelheit wird alles anders. Das Mauerwerk wirkt plötzlich düster, die ausgestorbenen Gassen erscheinen dem Betrachter schmaler und beengend, und die abgebröckelten Stellen an den Wanden stechen wie Pocken aus dem Stein hervor. In den dunklen Schaufenstern tauchen weiße Masken mit heruntergezogenen Mundwinkeln auf. Und unser Besuch zu später Stunde schien ihnen zu missfallen. »Die Auktion findet aus einem bestimmten Grund in Venedig statt«, hatte mir Klaus Kleinberger erklärt, als er uns gegen Abend mit einem Wassertaxi am Flughafen Marco Polo abholte. »Hieronymus Bosch ist nämlich in Wahrheit im Herzen dieser Stadt gestorben.« Kleinberger war eine beeindruckende Erscheinung: Er war über ein Meter neunzig groß, trug eine beige Kordhose und ein kariertes Jackett mit Ellenbogenverstärkung. Das blonde Haar hatte er zu einem Seitenscheitel gekämmt. Der dichte Schnauzbart war an den Spitzen beinahe weiß. Im Mund hatte er eine Pfeife, die er mit einem massiven goldenen Feuerzeug ständig wieder anzündete. Er sah Bismarck zum Verwechseln ähnlich. Seine Stimme war so kraftvoll, tief und gewaltig, dass Sebastián und ich augenblicklich schwiegen, sobald sie ertönte. Sie verlieh ihm eine unbestreitbare Autorität.
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Während wir im Luna Baglioni, einem prächtigen FünfSterne-Hotel auf der Rückseite des Markusplatzes, Quartier bezogen, ließ mir eine Erwähnung Kleinbergers die Haare zu Berge stehen. Eine Restauratorin hatte vor ein paar Jahren im Dogenpalast eine erstaunliche Entdeckung gemacht, die bisher nicht an die Öffentlichkeit gelangt war. In den Kerkern des Palastes hatte diese Frau eine Unterschrift von Hieronymus Bosch entdeckt. Sie war unter diversen Farbschichten verborgen, die man im Laufe der Jahrhunderte auf die Wand aufgetragen hatte. Ich packte eilig meinen Koffer aus und konnte es kaum erwarten, in Kleinbergers Suite hinaufzufahren, um eine digitale Aufnahme der Signatur zu sehen. Was zum Teufel hatte die Unterschrift von Hieronymus Bosch in einem der härtesten Gefängnisse der Welt zu suchen? Warum hatte bisher niemand öffentlich darüber gesprochen? Wovor hatte man nach so langer Zeit noch Angst? Als ich zusammen mit Sebastián an die Tür des Zimmers 609 klopfte, bemerkte ich die Aufregung im Gesicht meines Begleiters. Der Fund war auch für ihn neu. Kleinbergers Laptop stand bereits eingeschaltet auf dem Schreibtisch. Auf dem Bildschirm erkannten wir die unverwechselbare Unterschrift des Meisters aus Brabant. »Legt man diese Signatur auf Boschs Unterschrift zum Beispiel in dem berühmten Gemälde Der Heuwagen, dann wird deutlich, dass sie exakt übereinstimmen«, erläuterte Kleinberger und öffnete ein weiteres Fenster am rechten Bildschirmrand, auf dem ein Ausschnitt jenes Gemäldes zu sehen war, das heute im Prado hängt. Die Buchstaben stimmten millimetergenau überein. Es bestand nicht der leiseste Zweifel. Aber wie kamen die Signaturen auf diese schmutzige weiße Wand im Dogenpalast?
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»Bosch hat dort experimentiert. Er ist in eine Welt des konzentrierten Leidens abgetaucht. Und diese Erfahrung hat er in seinem letzten großen Werk festgehalten.« Mit erwartungsvollen Gesichtern starrten wir auf den Bildschirm und warteten, dass Kleinberger uns weitere Informationen gab. »Vor etwa drei Jahren ist diese Restauratorin bei den Renovierungsarbeiten in den so genannten pozzi, also in den Kerkern des Dogenpalastes, auf diese Signatur gestoßen. Sie war dabei, die Schriftzüge von Verurteilten, die man auf den Wänden entdeckt hatte, zu katalogisieren. Zum Gedenken an die Errichtung der berühmten Seufzerbrücke vor vierhundert Jahren sollten Gipsversionen dieser schriftlichen Zeugnisse der Gefangenen erstellt werden.« Das Bauwerk, das Kleinberger meinte, die berühmte Seufzerbrücke, war ein gutes Beispiel für Venedigs zwei Gesichter. Tagsüber drängten sich zahlreiche Menschen auf der Brücke, in dem falschen Glauben, dass der Name etwas mit der Melancholie von Verliebten zu tun habe. Doch mit Einbruch der Nacht kommt das wahre Gesicht zum Vorschein: Die weitaus weniger romantischen Seufzer stammten von den zum Tode verurteilten Gefangenen, während man sie in die feuchten Zellen brachte, die genau unter dem Schatten des Brückenbogens fast auf der Höhe des Wasserspiegels lagen. »Die Inquisition«, fuhr Kleinberger fort, »errichtete hier eine richtige unterirdische Totenstadt. Daher stammt auch der Name der Signori di Notte. Sie waren für die Verkündung der Todesstrafen und für die Folterkammer verantwortlich. Den Verhafteten wurden dort Geständnisse entrissen, um bestimmte Ketzergruppen zu bekämpfen. Es handelte sich um eine Art Elitetruppe, die bei ihrer Arbeit schließlich zu weit ging.« Kleinberger schlug vor, beim Abendessen weiterzusprechen, und so verließen wir das Hotel und gingen durch das nächtliche 237
Venedig. Am Hospiz San Lorenzo vorbei gelangten wir durch immer schmalere Gassen, die an manchen Stellen so eng wurden, dass wir nur noch im Gänsemarsch hindurchkamen. Ich stellte mir die düsteren Razzien der Mönche in ihren Kutten vor, die auf der Suche nach Ketzern durch die Stadt zogen, die sie tief in den pozzi zum Reden bringen wollten. »Sie hatten den tiefsten Keller des Palastes zu ihrer Verfügung, die dunkelste Ebene, in der es heute noch neun Einzelzellen auf Höhe des Wasserspiegels der Lagune gibt. Dort ist auch die Unterschrift Boschs aufgetaucht.« Am Ende eines höchstens ein Meter breiten Durchgangs kamen wir zu einer winzigen Trattoria, die in Venedig sehr beliebt war. »Man hat keine echte Pasta probiert, solange man nicht bei Domenico León war. Vorwärts!«, rief Kleinberger und hielt uns die schmale Tür auf. Selbst für die einheimischen Gäste war es schon reichlich spät, sodass wir fast allein im Lokal waren. Bei einer Flasche Lambrusco, überquellenden Tellern köstlicher Speisen und dem sanften Schein der roten Kerze vor uns auf dem Tisch lauschten Sebastián und ich mit offenem Mund dem Bericht Kleinbergers, der den bekannten Fakten um Hieronymus Bosch eine bedeutende Wendung gab. »Über das Leben von Hieronymus Bosch ist zwischen 1500 und 1505 nichts dokumentiert. Stimmt doch, Sebastián?« Der Verleger nickte und reichte uns das Schälchen mit dem geriebenen parmigiano. »Außerdem weiß niemand so genau, wie seine letzten Jahre ausgesehen haben, die Jahre, in denen seine vielleicht geheimnisvollsten Bilder entstanden sind.«
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»Meinen Sie die Visionen aus dem Jenseits?«, fragte ich und sah, wie Sebastián stolz lächelte, als ich das Wissen, das er mir beigebracht hatte, unter Beweis stellte. »Genau«, antwortete Kleinberger. »Dieses wundervolle Triptychon, von dem das mittlere Tafelbild fehlt. Dort könnte auch die Gestalt des Imprimatur dargestellt sein. Es wurde aber schon vor langer Zeit aus einem Grund entwendet, den wir nicht kennen.« »Wir wissen aber, dass es sich um dasselbe Werk handelt, das während des Todeskampfes von Philipp II. an der Wand seines Schlafgemachs im Kloster El Escorial hing. Leider verliert sich die Spur seit dem verheerenden Brand nach dem Tod des Königs«, erklärte Sebastián. »Und es ist doch sehr sonderbar«, gab Kleinberger zu bedenken, während er seine Spaghetti meisterhaft aufrollte, »dass das Tafelbild nach einem Brand im Dogenpalast im Jahre 1505 nach Spanien gelangte, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem wir annehmen, dass Hieronymus Bosch seine Versuche tief unten in dem pozzo entweder tot oder lebendig abgeschlossen hat. Dieses Gemälde scheint immer im Zusammenhang mit einem großflächigen Feuer zu verschwinden. Die Frage ist: Wurden die Brände von denjenigen gelegt, die das Bild an einen anderen Ort bringen wollten? Oder wurde es einfach von Händlern gestohlen, die es später an den Meistbietenden verkauften? Doch warum wurde das Triptychon dann auseinandergebrochen und nur ein Teil entwendet?« »Für Diebe, die auf eine Belohnung aus waren, wäre es schlauer gewesen, das ganze Bild mitzunehmen«, fügte Sebastián hinzu. »Also fehlt heute jede Spur von dem Mittelteil. Auch Sie haben keine Ahnung, wo es abgeblieben sein könnte, ist das richtig?«, fragte ich Kleinberger irritiert.
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»Seit dem Tod Philipps II. im Jahre 1598 weiß niemand, wo es sich befindet. Wir wissen nur, dass die Gesandten des Monarchen das Triptychon um 1592 gekauft haben. Aber von wem? Es tauchte damals plötzlich zusammen mit anderen Werken von Hieronymus Bosch im Bestandsverzeichnis des Klosters auf. Dort war es als düsteres, dem Wahnsinn entsprungenes Bild katalogisiert worden.« »Und was war darauf zu sehen, dass es eine derartige Faszination auslöste?«, hakte ich nach. »Auf einem Teil ist der Aufstieg der Seelen ins Jenseits gemalt«, erläuterte Sebastián. »Zum ersten Mal wird dies durch eine Reihe konzentrischer Kreise dargestellt. Gleichzeitig halten furchteinflößende Wesen die Verdammten fest, um sie in eine Welt der Finsternis hinabzureißen. Wir haben es also mit der klassischen Zweiteilung von Himmel und Hölle zu tun …« »Dennoch«, unterbrach ihn Kleinberger mit seiner gewaltigen Stimme, »sind wir davon überzeugt, dass sich diese Darstellung an den persönlichen Grenzerfahrungen von Bosch orientiert. Letzten Endes malte er etwas an der Grenze zwischen Leben und Tod, das ihn für immer gezeichnet hat. Er muss die Lehren angewandt haben, die den Brüdern und Schwestern des freien Geistes seit jeher dazu gedient haben, die andere Seite kennenzulernen. Eins dieser Tafelbilder zeigt den leuchtenden Lichttunnel, der sich zwischen der Welt der Lebenden und der Toten öffnet. Auf einem anderen ist der Abstieg in die Welt der Schatten dargestellt. Demzufolge muss im Zentrum …« »In diesem Zentrum«, warf jetzt Sebastián ein und zitterte vor Aufregung, als er sein Glas absetzte, »befand sich die Zwischenphase, ein Phänomen, das Bosch bei seinem langen düsteren Aufenthalt in dem pozzo erlebt hatte. Dort verdichtete sich das Leiden der Welt. Tausende von Toten. Endlose Stunden des Wehklagens und der Schmerzen waren innerhalb der Mauern gefangen. Es waren Mauern aus isolierendem Granitstein, von dem man seit der Antike glaubt, er könne ein 240
Leiter dieser Phänomene sein. Bosch sah diese Phänomene und wollte sie malen: die Dämonen, den ägyptischen Khaivit, lächelnd und diabolisch, die seltsamen Kinder …« Das hausgemachte Tiramisu blieb mir im Hals stecken. Ich musste mehrfach schlucken, bevor ich eine weitere Frage stellen konnte. »Dann entstand der vermeintliche Bosch-Zirkel also hier in Venedig?« »So ist es. Die ersten Radierungen tauchen nach dem Tod von Hieronymus Bosch in dieser Stadt auf. Hier muss er seinen Schülern seine Lehren und Geheimcodes beigebracht haben. Wer weiß, ob diese Lehrlinge in ihren bitteren Stunden in den Tiefen der Gefängniszellen dasselbe sahen wie der Meister. Wir sind auch nicht sicher, ob Bosch tot oder lebendig aus dem pozzo herausgekommen ist. Die Leiche wurde seiner geliebten Aleyt in sehr schlechtem Zustand in Herzogenbusch übergeben.« »Vermutlich«, ergänzte Sebastián, »ist er später verbrannt worden. Durch ein einziges verbliebenes Dokument, auf das sich alle Historiker beziehen, ohne weiter nachzuforschen, wissen wir, dass damals zahlreiche Messen für ihn gehalten wurden. Tatsächlich weiß aber niemand, wo er begraben liegt oder was mit seinem Leichnam passiert ist.« »Das Verbrennen der Körper war außerdem ein wichtiges Dogma im Glauben der Brüder und Schwestern des freien Geistes«, bestätigte Kleinberger, während er seinen bitteren Espresso austrank. »Die Toten sollten nicht an der Erde haften, sie mussten sofort verbrannt und ihre Asche verstreut werden. Die Kirche kannte diese Überzeugung ihrer Feinde und ließ in ihrem brutalen Kampf zur Ausrottung der Ketzerei als Strafe rudimentäre Friedhöfe außerhalb einiger Ortschaften errichten. Die Sünder sollten so auf ewig verdammt sein und ihre Seelen dort für immer gefangen bleiben.« 241
»Das würde also die Luftaufnahme von Tinieblas de la Sierra erklären!«, rief ich und sprang von meinem Korbstuhl auf. »Dort wurden alle Mitglieder der Sekte begraben! Im Felsgestein!« Kleinberger nickte. »Das war zumindest eine gängige Praxis. Man begrub die Ketzer im Stein, um gegen einen ihrer heiligsten Grundsätze zu verstoßen. Aber die Anhänger öffneten die Gräber und verbrannten die Toten auf Scheiterhaufen, um sie von ihrer Verbindung zur Erde zu befreien. Auch wenn sie dabei ihr eigenes Leben riskierten.« »Und so wurde der Hass auf beiden Seiten immer weiter geschürt.« »Dieser Teufelskreis hinterließ eine negativ aufgeladene Umgebung und damit freie Hand für den Imprimatur«, ergänzte Sebastián ohne zu zögern. »Aber da ist noch etwas, was ich in Bezug auf die Macht des geheimnisvollen Tafelbildes nicht ganz verstehe«, sagte ich und richtete mich an Kleinberger. »Hätte jemand das alles von Anfang geplant haben können? Jemand, der wusste, dass das Bild die Neugier des Monarchen wecken würde, dass er es in seine eigenen Gemächer hängen und sich somit seinem Einfluss aussetzen würde?« Beide blickten mich erstarrt an. »Und wenn dies der Fall war«, fuhr ich fort und führte meine Überlegungen weiter aus, »wer könnte das gewesen sein?« »Mmh … das ist schon möglich. Obwohl auch der König zwei Gesichter gehabt haben kann. Denn er war einerseits ein Mensch, der die katholischen Überzeugungen bis aufs Äußerste verteidigte, aber andererseits vom Blick in die Abgründe des Unbekannten fasziniert war. Einer seiner Ratgeber oder Schwarzkünstler, mit denen er sich umgab, könnte ihm zum Beispiel von einem sehr mächtigen Werk erzählt haben, das 242
unter bestimmten Umständen gewisse Wirkungen auslöste. Sie waren sicher über die seltsamsten Praktiken und Theorien der Ketzer informiert. Und das Tafelbild war zweifellos die mächtigste Schöpfung von Hieronymus Bosch, schließlich war es das Ergebnis von monatelangen Visionen in der feuchten Zelle seines pozzo.« »Aus all dem lässt sich also schließen, dass der Bosch-Zirkel in Wirklichkeit ein Teil der Glaubensgemeinschaft des freien Geistes war …« »Es bestand mit Sicherheit eine Verbindung. Wie alle kreativen Geister waren die Künstler des Zirkels neugierig und wollten experimentieren. Dabei wurden sie jedes Mal mehr in Erstaunen versetzt. Die Anhänger der Glaubensgemeinschaft waren bereit, sich für ihren Glauben und ihre Lehren zu opfern oder sogar dafür zu töten. Aber nur wenige Schüler von Hieronymus Bosch dürften die Grenze zwischen Kunst und Glauben überschritten haben. Wir wissen, dass sein letztes Werk unter extremen Bedingungen entstanden ist. Einige seiner Schüler verfolgten dabei hautnah die Entwicklung ihres Meisters, während er das Böse porträtierte. Heute, nach fünfhundert Jahren, haben wir nur eine vage Vorstellung davon, was auf dem mittleren Bild zu sehen war, weil es das hier gibt …« Auf einen Wink von Kleinberger holte Sebastián ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Jackentasche und breitete es vor uns aus. Das schreckliche Gesicht eines boshaften Wesens war dort zu sehen. Ein Gesicht, dessen Blick ich nur schwer standhalten konnte. Darunter prangte eine rätselhafte Unterschrift: TS. »Und das werden wir hier in Venedig erstehen und damit beweisen, dass wir die Besten sind!« erklärte Sebastián euphorisch.
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Anschließend schlugen die beiden begeistert die Hände aneinander, wie zwei Fußballfans, die ein Tor ihrer Mannschaft feiern. Ich hatte es fast vergessen: In nur wenigen Stunden begann die herbeigesehnte Auktion, die uns nach Venedig geführt hatte. So gefesselt war ich von dem Gespräch gewesen und meinen Gedanken um das ausgestorbene Dorf mit seinem Friedhof, dass ich alles andere vergessen hatte. Als wir schließlich das Lokal verließen, überkam mich wie schon damals in Toledo plötzlich wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Hinter jedem kleinen Fenster glaubte ich jemanden zu erkennen, der mich beobachtete und meine Schritte mit einem böswilligen Grinsen verfolgte.
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33 Diese Nacht sollte ich so schnell nicht vergessen. Gegen zehn Uhr abends überquerten wir den beeindruckenden Markusplatz, und ich war überrascht, wie leer das historische Zentrum der Stadt um diese Zeit war. Der Dogenpalast, das helle Gebäude an einer Seite des Markusplatzes, leuchtete in der Dunkelheit. Durch die fast arabisch aussehenden Bögen und die kleeblattförmigen Öffnungen in der Fassade wirkte der Palast märchenhaft und ein wenig geheimnisvoll. Am Ende dieses Tages zog Kleinberger noch einen Trumpf aus dem Ärmel: Wir waren mit der diensthabenden Restauratorin verabredet, der Frau, die die Unterschrift von Hieronymus Bosch an der Wand der Isolationszelle in den Kellergewölben des Gebäudes entdeckt hatte. Ohne ein Wort zu wechseln, überquerten wir die Piazzetta und bogen links ab, wo sich der Eingang für die Angestellten befand. Beim Betreten des Dogenpalastes fiel mir vor allem der Kontrast zwischen der Decke und dem Boden besonders auf. Während wundervolle Meißelungen, goldene Reliefs und Voluten sowie Fresken mit idyllischen Szenen großer Künstler der venezianischen Schule die Höhe zierten, änderte sich das Bild, sobald man nach unten sah: Auf dem feuchten, rutschigen Stein bildeten sich kreisförmige Schimmelflecken. Eine jahrhundertealte Dunkelheit und Kälte hieß uns willkommen und drang uns bis ins Mark. In dieser unfreundlichen Umgebung war das plötzliche Erscheinen unserer Führerin eine angenehme Überraschung. Laura Burano war etwa fünfunddreißig und eine sehr attraktive Frau mit mahagonifarbenen langen Haaren. Unter einem sehr sauberen weißen Kittel trug sie einen Rock und eine schwarze 245
Strumpfhose. Die Brusttasche war mit ihrem Namen bestickt, und in der linken Hand hielt sie eine Aktentasche. Ihre großen mandelförmigen Augen waren beinahe so grün wie Smaragde und erinnerten mich schlagartig an Helenas Augen. Abgesehen von ihrer beeindruckenden klassischen Schönheit galt sie als eine der besten auf ihrem Gebiet. Nach einer herzlichen Begrüßung führte sie ihre Plastikkarte in den Computer am Eingang und öffnete die Schranke für uns. Dann tippte sie zügig einen Code ein, mit dem offenbar das Alarmsystem des Gebäudes ausgeschaltet wurde. Ein Klacken in den Stockwerken unter uns war zu hören, so als ob Dutzende von Türen gleichzeitig entriegelt worden wären. Ich fühlte mich wie in einem Spionagefilm, während ich dem wehenden Kittel jener Frau folgte, die im Eiltempo durch zahlreiche Säle schritt, vorbei an den Werken von Tintoretto und Veronese, die alles schweigend aus der Höhe überwachten. Der Dogenpalast war der ehemalige Sitz der Regierung und der Justiz für die gesamte Republik Venedig. Dieses bedeutende Gebäude beherbergt riesige prächtige Säle mit glänzendem Mahagoniholz, edlen Vorhängen und grandiosen Fresken voller mythologischer Motive. Sie spiegeln den Luxus einer glanzvollen Zeit wider, die nach und nach dem Verfall zum Opfer gefallen war. Doch unser Ziel lag in den Katakomben, dort, wo sich das andere Gesicht der Stadt verbarg, das nur wenige gesehen hatten und das auf keiner Postkarte zu finden war. Wir stiegen die schmale Treppe hinunter, wobei das Klappern unserer Schuhe auf den Stufen eine Geräuschlawine verursachte. Die Treppe führte in einen riesigen Innenhof, in dem überdimensionale Gestalten aus Stein schon seit Jahrhunderten den schmalen Eingang zum Gefängnis bewachten. Auf einem Schild an der Mauer stand Prigioni. Der Pfeil wies auf eine kleine robuste Tür. Hier gab es keine Verzierungen 246
mehr, keine Adelswappen oder filigranen Holzarbeiten. Wir betraten eine Welt aus nacktem Granitfels. Jene Steinart, die angeblich Energien aufnehmen und den unheimlichen Imprimatur festhalten kann. Laura Burano sprach langsam und in einem auch mir sehr verständlichen Italienisch, so wie bei den Führungen der Touristengruppen am Tag, die jedoch in den oberen Etagen bleiben. Sie verriet uns, dass bestimmte Bilder von Bosch an der Hauptmauer der Verliesanlage gehangen haben, weit weg von den übrigen farbenfrohen und freundlichen Kunstwerken. Als seien sie auf ewig in der Dunkelheit gefangen, wachten sie dort über die Wehklagen der zum Tode Verurteilten. Für Laura bestand kein Zweifel: Das Experiment von Hieronymus Bosch hatte mindestens vier Jahre gedauert. Kleinberger teilte ihre Theorie und nickte schweigend, während er stolz seiner begabtesten Schülerin zuhörte. »In den Inquisitionsarchiven gibt es keine Strafakte von ihm. Bosch ist also niemals ein Gefangener gewesen, der hier seine Strafe verbüßte. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass er freiwillig im Verlies war. Er hatte im Vorfeld ein Bittgesuch gestellt und war mit einem Empfehlungsschreiben des mächtigen Jakob von Almaigen vor die Richter getreten. Almaigen war der Großmeister der Ketzerbewegung des freien Geistes im gesamten Herzogtum Brabant. Er stammte aus dem alten Adel und war äußerst wohlhabend.« Hieronymus Bosch wollte offensichtlich eine Zeit lang in einem echten pozzo verbringen, um bestimmte Grenzerfahrungen zu machen und mit den Schatten in Verbindung zu treten. Hat er also die Erfahrung anschließend in seinen Bildern verarbeitet? Von den Werken aus jener Zeit sind heute nur noch ein paar Einzelstücke erhalten, die uns die gesamte Botschaft aber nicht preisgeben. 247
»Wie er es letztlich schaffte, hier tatsächlich eingesperrt zu werden, ist nicht bekannt«, fuhr Laura Burano fort. »Aber die Bilder, die in dieser Zeit entstanden sind, blieben in den Kerkern. Man weiß auch nicht, ob Bosch im Laufe seiner freiwilligen kreativen Isolation in dieser feuchten und schmutzigen Zelle verrückt geworden ist und hier in diesem pozzo womöglich sogar starb.« Ich war so sehr in den Vortrag der Restauratorin versunken, dass ich kaum wahrgenommen hatte, dass wir mittlerweile genau vor den Zellen angekommen waren. Dort befanden sich in Mauervertiefungen hinter Glas mehrere schwarze Kästen. Ein quadratisches Gerät mit einem Blinklicht war wie eine Alarmanlage daran befestigt. »Das ist ein Luftbefeuchter, um die exakte Raumtemperatur für diese Werke zu garantieren«, erklärte Laura, als sie sah, wie Sebastián und ich direkt in das rote Licht schauten. Kleinberger, der hinter uns geblieben war, drückte plötzlich auf einen Schalter an der Eingangstür. Nacheinander gingen die Lichter in den Glasvitrinen an, und aus der Dunkelheit tauchten endlich die Tafelbilder auf, von denen ich in letzter Zeit so viel gehört hatte. Ich wurde ganz aufgeregt, und schon nach einer Sekunde wusste ich, dass sich die Mühe gelohnt hatte. Da waren sie: die Visionen aus dem Jenseits. Vor uns erschien der übernatürliche Lichttunnel mit seiner wundervollen Formation konzentrischer Kreise, die so häufig in den Nahtod-Erfahrungen beschrieben wurden. Die Seelen schienen ins leuchtende Epizentrum des Tunnels zu schweben, wo sie auf die gesichtslosen Wächter trafen, die an der Grenze zwischen den Welten warteten. Es war beeindruckend. Ich ging in die Hocke, fast wie in einer Verbeugung vor diesem großartigen Mysterium. Meine Nackenhaare standen mir zu Berge, und mir blieb die Luft weg: Die Bilder lebten. Man hätte
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es in keinem Labor mit wissenschaftlichen Parametern beweisen können, doch es drang tief in die Seele. Wir schwiegen eine Zeit lang und standen regungslos vor dem zweiten Tafelbild, auf dem der Abstieg der Sterbenden in die Hölle dargestellt war. Schreckliche grünliche Dämonen mit langen Borsten im Gesicht schienen über dem Abgrund zu schweben und die Verdammten in ein endlos schwarzes wässriges Loch versenken zu wollen. Ich sah eine nackte menschliche Gestalt, die etwas abseits am Rande des höllischen Abgrunds in Gedanken versunken auf einem Stein saß. Der Mann hatte eine Hand an den Kopf geführt, während er sein Schicksal auf dem pechschwarzen Stein der Hölle zu verfluchen schien. Hinter seinem Rücken kam eine der Kreaturen unbarmherzig näher. Sie würde ihn ins tiefste Nichts mitreißen. Auf der anderen Seite des Bildes, wo die Menschen schon im Herzen des Bösen gefangen waren, hielt ein Dämon in einem unverwechselbaren grauen Priestergewand eines der Opfers fest und durchbohrte seine Luftröhre mit einem Dolch. Ich war überzeugt davon, dass meine Freunde recht hatten: Das waren reale Erfahrungen des Malers, eigene Erlebnisse und Eindrücke. Eine immerwährende dämonische Bosheit, die scheinbar die Welt beherrschte, zeigte sich dort, als hätte sie sich selbst gemalt. Bosch musste es gesehen haben, als er auf der Suche nach den Grenzen des Guten und des Bösen gereist war. Dort war eine Botschaft, eine Lehre. Und vielleicht noch mehr. »Es gilt als sicher«, sagte Sebastián feierlich in die Stille hinein, »dass gewisse geheime Anrufungen und veränderte Bewusstseinszustände, die durch Isolation und Fasten in der Art der Mystiker hervorgerufen wurden, eine bestimmte Wirkung auf den Betrachter dieser Bilder hatten. Ich zweifle nicht daran, dass auch Philipp II. dies wusste.« 249
Kleinberger schien mit einem einzigen Blick meine Gedanken lesen zu können und öffnete den Aktenkoffer, den Laura ihm zuvor gegeben hatte. Darin befanden sich zwei Dutzend perfekt sortierte Geräte aus glänzendem Stahl, die wie feine Skalpelle und Lupen diverser Stärken aussahen: wie die Instrumente eines Chirurgen schimmerten sie im Halbdunkeln. »Ich habe jahrelang auf diesen Moment gewartet«, sagte er mit Inbrunst in seiner Stimme. »Die digitale Reflektographie hat große Fortschritte gemacht und wird uns durch die Auflösung der Farben hier und jetzt erlauben, ins Innere dieser Bilder einzutauchen und ihre Geheimnisse zu entschlüsseln. Ihr werdet gerade Zeugen eines historischen Augenblicks!« Während er weitersprach, hantierte er geschickt mit den Utensilien herum. Die italienischen Behörden hatten eine Untersuchung dieser Art bislang offensichtlich verhindert, trotz diverser Anträge, die der deutsche Experte über Jahre gestellt hatte. Die Unnachgiebigkeit der Administration hatte den außergewöhnlich dickköpfigen Kleinberger dazu gebracht, nun heimlich vorzugehen und sich zusammen mit seiner Kollegin Burano über alle bürokratischen Hürden hinwegzusetzen. »In der Zeit von Hieronymus Bosch benutzte man die so genannte Diamantentechnik«, erklärte uns Laura jetzt. »Es handelt sich um eine Prozedur, die auf dem gleichen Prinzip basierte wie das, was Sie gleich sehen werden.« Während sie die langen Zylinder, die wie Taktstöcke eines Dirigenten aussahen, mit einem USB-Stick an Kleinbergers Laptop anschloss, erzählte sie, wie ketzerische Maler schon vor Jahrhunderten verborgene Botschaften in ihren Werken hinterlassen hatten. Sie bedienten sich dabei unterschiedlicher Tinkturen, die durch spätere Farbschichten absorbiert wurden und so für das bloße Auge nicht zu erkennen sind. Durch eine komplexe Prozedur der Farbzersetzung, die so ähnlich wie ein Laser oder ein UV-Strahlensystem funktioniert, sei eine grobe Entschlüsselung möglich. 250
»Auch in den Kreisen um Hieronymus Bosch wurde diese Technik regelmäßig benutzt. Damals hat man eine Art Eisenzange erhitzt, bis sie glutrot war. Der Raum wurde vollständig verdunkelt und der Sauerstoff aufs Äußerste reduziert. Dann legte man mit größter Vorsicht einen Diamanten auf die Spitze des Eisens und fuhr damit mehrmals über das Bild. Diese Technik erlaubte es, die diversen Linien des Farbspektrums zu zerlegen, wodurch für Sekunden tiefere, verborgene Farbschichten sichtbar wurden. Und so war es möglich, verschlüsselte Codierungen und verbotene Botschaften in den Bildern zu lesen, die die Maler sonst direkt auf den Scheiterhaufen gebracht hätten.« Jetzt begriff ich, was mir vor ein paar Tagen im Gespräch mit Genaro Castro, dem Wachmann in El Escorial, absurd erschienen war: Die sonderbaren Sitzungen von Philipp II. und seinen Okkultismusberatern, die angeblich »Feuer« an die Bilder von Hieronymus Bosch hielten, hatten also einen tieferen Sinn gehabt. Sie hatten etwas gesucht. »Die venezianischen Behörden«, fuhr Laura fort, »ebenso wie die Behörden in Lissabon und Madrid, wo sich heute die bedeutendsten Werke Hieronymus Boschs befinden, haben bisher jede Form der Untersuchung verhindert. Der lange Arm der Kirche ist hier immer noch deutlich spürbar.« Lauras Worte machten mich nachdenklich. An der Wand war ein schwarzer Knopf, den sie jetzt nach innen drückte. Ein hydraulisches Geräusch war zu hören, und ich sah, wie die Glasscheiben vor den Bildern ganz langsam nach oben fuhren. Ich ging ein paar Schritte näher heran und schaute mir die Oberfläche der beiden länglichen Tafelbilder genauer an. Zu meiner Überraschung entdeckte ich dort die gleichen leichten Brandmale wie bei den Werken in El Escorial oder im Prado. Kleine Bläschen auf der Ölfläche, die durch hohe Temperaturen entstanden sein mussten. 251
»Man hat es mit fast allen Bildern von Hieronymus Bosch versucht«, sagte Klaus Kleinberger jetzt, als ob er wüsste, worüber ich mir den Kopf zerbrach. »Wir glauben, Jakob von Almaigen, der als Großmeister der Glaubensgruppe eine Schlüsselrolle in Boschs Leben spielte, hat die Bilder mit großem Geschick entschlüsselt. Ebenso wie die Mitglieder des Bosch-Zirkels, die genaue Anweisungen für die Entschlüsselung in einer Radierung hinterließen. Wir wissen, dass zum Beispiel im Garten der Lüste auf der linken Tafel, wo Gott Eva erschafft, auf einer der darunterliegenden Schichten ein schrecklicher Teufel mit dem Kopf eines lächelnden Kindes, überproportional großen Händen und zwei Eckzähnen zu sehen ist. Das hat ein Fachmann aus Madrid bereits in den dreißiger Jahren mit einer alten Technik herausgefunden. Sofort schloss man ihn aus dem Nationalen Verband der Kunstkritiker aus und zog seine Bücher aus dem Verkehr. In der Kunstszene geächtet, starb er schließlich völlig mittellos. Eine grausame Geschichte, die ich euch später mal erzähle. So, und nun setzt die hier auf und tretet zurück.« Kleinberger gab jedem von uns eine Art Schwimmbrille mit dunkelvioletten Schutzgläsern, die mit einem Gummiband am Kopf befestigt wurde. Wir sahen aus wie professionelle Schweißer auf einer modernen Baustelle. Sebastián und ich gehorchten automatisch und ließen uns von den blauen Funken einschüchtern, die kurz darauf aus den zwei Stäben in Kleinbergers Händen traten. In Form eines violetten Kreises von einem halben Meter Durchmesser wurde das Licht an die Wand geworfen. Als es auf die Mauer traf, sahen wir, wie darauf mehrere kugelförmige Flecken erschienen, die zu unterschiedlich geformten Wolken anwuchsen. »Das ist die Feuchtigkeit in der Wand. Hiermit kann man ins Herz der Dinge vordringen! Ist das nicht wundervoll?« Während uns Kleinberger begeistert ansah, unternahm Laura eine Reihe von Versuchen, indem sie einen der Stäbe auf den 252
Boden hielt und ihn anschließend auf die Visionen aus dem Jenseits richtete. Das Leuchten, das nun davon ausging, war quadratisch und tauchte die gesamte Mauervertiefung in ein hellrotes Licht. Schließlich richtete sie das Gerät auf diese Position ein. Dann setzte sie sich hinter uns, nahm den Laptop auf die Knie und begann zu tippen. »Sie können anfangen, Chef.« Der Kreis von Kleinbergers Lasergerät traf auf den durch das andere Licht abgegrenzten Bereich. Als beide Lichtfrequenzen übereinanderlagen, entstanden unterschiedliche Farbstrahlen und entluden sich in kleinen Explosionen aus funkelnden Regenbogenfarben. »Das ist die Wirkung der Zersetzung der einzelnen Farblinien!«, rief Sebastián voller Bewunderung und zeigte damit, dass er auch bei diesem Thema in nichts zurückstand. Der Lichtkegel fuhr langsam über die gesamte Bildoberfläche. Mit bloßem Auge war jetzt zu erkennen, dass unter der dunklen Höllendarstellung weitere dämonische Gestalten verborgen waren. Die kindlichen und fast embryoähnlichen Wesen schwebten mit nach oben ausgestreckten Armen über dem Abgrund. Doch die größte Überraschung erlebten wir, als Kleinberger den Bereich um den Lichttunnel untersuchte. »Mein Gott! Laura, vergrößern Sie um zwei Punkte Intensität!« Sebastián und ich standen mit dem Rücken zur Wand und waren beeindruckt. Wir hörten, wie die Restauratorin eilig auf der Tastatur herumtippte. Der Lichtstrahl wuchs. Mitten in dem Tunnel aus konzentrischen Kreisen und hinter diversen Schichten weißer Pinselstriche, die diesen besonderen Glanz erzeugten, tauchte eine schwarze Struktur auf. Sie ließ sich anfangs nur erahnen, kam dann aber klar und deutlich zum
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Vorschein. Es war eine schwarze Hand, die sich drohend erhob und fünfhundert Jahre Finsternis durchbrach. »Das Emblem der Bruderschaft! Ich wusste es!« Kleinbergers Ausruf ließ mich zusammenfahren. Wovon zum Teufel redete er? »Genau so eine Hand habe ich auf dem Friedhof entdeckt, allerdings in Weiß. Und genau so eine Hand hatte der Wachmann aus El Escorial auf den Plänen jenes Diebes im Jahre 1961 gesehen. Und Galván hat sie in die Bücher der Nationalbibliothek gezeichnet. Und …« Kleinberger legte mir seine riesige Hand auf die Schulter und flüsterte mir zu: »Die schwarze und die weiße Hand, der ewige Kampf zwischen den Ketzern und der Inquisition im 16. Jahrhundert … Ich erkläre Ihnen später alles. Aber jetzt haben wir nur wenig Zeit.« Er drehte den Lichtstrahl weiter, und plötzlich kamen gotische Buchstaben und Nummern auf dem gesamten Tafelbild zum Vorschein. Wir verbrachten die nächste Stunde damit, die Zeichen aufzuschreiben und uns nicht von der schrecklichen Hand irritieren zu lassen, die wir aus ihrem jahrhundertealten Schlaf gerissen hatten. Als die Untersuchungen abgeschlossen waren, packten Klaus Kleinberger und seine Assistentin alles in Windeseile zusammen und schoben uns durch die schmalen Gänge weiter abwärts. Als einzige Beleuchtung diente Lauras Taschenlampe, mit der sie uns den Weg wies. Ich stolperte und prallte gegen ein Fenster mit dicken, verrosteten Gitterstäben. Wir befanden uns bereits mitten in dem albtraumhaften Labyrinth der pozzi, diesem erdrückenden und gefürchteten Gefängnis der Renaissance. Ich erinnerte mich an das, was Kleinberger uns zuvor erklärt hatte: Über fünfunddreißigtausend Menschen waren hier als Ketzer durch 254
die Signori di Notte gefoltert und hingerichtet worden. Andere starben durch Krankheiten, Knochenfäule, Lungenentzündung, Schwindsucht, Hunger, Prügel, Wahnsinn … »Herr Kleinberger, erzählen Sie mir bitte mehr über diese Hände. Sie sagten, sie stammen von der Inquisition?« »Nein.« »Aber Sie haben doch gerade …« »Schschsch!« Er legte den Zeigefinger auf den Mund und sah mich streng an, sodass ich abrupt innehielt. Laura Burano und Sebastián waren schon in eine der Kammern hineingekrochen, und nun folgten auch Kleinberger und ich geduckt durch die massive Steintür. Sie war etwa einen halben Meter breit und hatte ein Bullauge in der Mitte. Laura leuchtete mit ihrer Taschenlampe das Innere der Kammer aus. Es war furchtbar eng, und ich spürte die klebrige Feuchtigkeit der Steine und konnte die Kanäle von draußen riechen. Wir waren auf Höhe des Meeresspiegels, genau unter der Seufzerbrücke. »Da ist sie! Da haben Sie sie!« Nachdem die unerschrockene Restauratorin ihren Jubelschrei ausgestoßen hatte, folgte ich ihrem Blick nach oben an den Rand des Lichtkegels. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich zuckte zusammen wie ein erschrockenes Tier. An den Wänden waren einzelne Buchstaben, Zeichnungen von ausdruckslosen Gesichtern, Kreuze und Sätze zu erkennen wie Marco Ronconi, condannato a morte. Laura bat mich, die Taschenlampe zu nehmen und sie auf einen bestimmten Punkt etwas tiefer zu richten, den sie dann selbst mit einem winzigen Bleistiftkreuz markierte. Anschließend holte sie etwas Watte und ein Fläschchen aus ihrer Tasche, in dem sich vermutlich Alkohol befand. Nach mehrmaligen Reiben über die Stelle verschwand die weiße 255
Farbe, und zu unserer großen Überraschung erschienen dort die Worte: Hieronymus van Akne, 1505 »Bravo! Bravissimo!«, rief Kleinberger, der sich hingehockt hatte, um nicht mit dem Kopf an die Decke der Todeszelle zu stoßen, und nun seine riesige Hand auf die Schulter seiner freudig erregten Kollegin legte. Ich war kein Bosch-Experte, aber das musste die Originalunterschrift von Hieronymus Bosch sein. Er war tatsächlich hier gewesen. »Habt ihr das gerade gehört?« Der ängstliche Tonfall in Sebastiáns Stimme, der als Nächster an der Tür hockte, ließ uns automatisch die Köpfe zu ihm umdrehen. Angesichts der unbequemen Position in der schimmeligen Grotte und der uns umgebenden Dunkelheit war seine Frage äußerst beunruhigend. »Aber sagtest du nicht, wir wären allein?«, richtete sich Kleinberger vorwurfsvoll an seine Assistentin. Sein Gesicht war weiß wie Kalk. Laura schaute auf die Leuchtzeiger ihrer Uhr und entgegnete: »Der Alarm ist noch fünfunddreißig Minuten ausgeschaltet. Im gesamten Gebäude kann sich niemand befinden, weil …« »Ruhe!«, unterbrach ich sie. »Jemand kommt die Stufen herunter! Machen Sie das Licht aus!« Kurz bevor ich das Klicken der Taschenlampe hörte und alles in eine feuchte und drohende Dunkelheit gehüllt wurde, sah ich noch in das entsetzte Gesicht von Sebastián, der mich anstarrte. Hinter ihm näherte sich eine große Gestalt in einem schwarzen Gewand, als würde sie über den Steinflur auf uns zu gleiten.
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34 Licht, viel Licht strömte am nächsten Morgen durch die riesigen Fenster des Speisesaals im Luna Baglioni auf unsere müden Gesichter. Das Licht hatte uns während des gestrigen Albtraums im Inneren der pozzi am meisten gefehlt. Doch daran wollten wir uns lieber nicht mehr erinnern. Klaus Kleinberger, Sebastián und ich saßen mitten im Marco-Polo-Salon zwischen Wandteppichen, Kronleuchtern und roten Samtsofas. Vor uns, auf einem Silbertablett, ein üppiges Frühstück aus Panini, Milchkaffee, Eiern mit Bacon und Orangensaft. »Sie können nur von der Wasserseite aus hereingekommen sein. Laura ist jedenfalls davon überzeugt.« Jemand hatte gestern Abend versucht, uns mit einem primitiven und ebenso ausgefeilten System zu ersticken. Und das wäre ihm auch beinahe gelungen. »Sie? Glauben Sie etwa, es waren mehrere?«, fragte ich Kleinberger, dessen Augen ganz geschwollen waren, weil auch er kein Auge zugetan hatte. »Selbstverständlich! Als ich nach dem Ausschlag wieder aufgestanden bin, hörte ich mehrere Personen die Treppe hinaufsteigen.« Wir alle waren nicht nur verwirrt, sondern vor allem völlig verängstigt. Wir konnten es immer noch nicht fassen: Mitten in der Dunkelheit hatten wir einen Schatten auf uns zukommen sehen. Und plötzlich strahlte alles hell auf, als wäre eine Sternschnuppe ins dunkle Verlies gefallen. Ein Knäuel aus Tiereingeweiden und Fett, aus dem blaue, durch Benzin geschürte Flammen schossen, landete in der Zelle. Und im Bruchteil einer Sekunde war alles in einen gräulichen,
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giftig stinkenden Rauch gehüllt. Ich hatte gesehen, wie eine hochgewachsene Silhouette immer näher gekommen war. Kurz darauf merkten wir, wie sich die Tür in den Angeln bewegte. Man wollte uns zweifellos dort einschließen. Wir schrien aus voller Kehle und stürzten uns mit all unserer Kraft kopfüber auf die Tür. Auf der anderen Seite versuchte jemand die Tür zu verriegeln. In dem giftigen Rauch wurde mir ganz schwindelig, und ich befürchtete schon das Schlimmste, als ich sah, dass nur noch wenige Zentimeter fehlten, bis die Tür ins Schloss fiel und damit die Zelle zu einem tödlichen Ofen werden würde … »Das alles bestätigt meine Hypothese: Die Signori di Notte sind nicht tot!«, flüsterte Kleinberger. Er misstraute selbst dem amerikanischen Paar, das jetzt mit seinen neonfarbenen Gürteltaschen und den Kameras um den Hals von ihrem Tisch aufstand. »Aber dieser Orden der venezianischen Inquisition löste sich 1806 auf. Es ist also unmöglich, dass er gestern …« »Die Geschichtsbücher können sagen, was sie wollen, Sebastián«, donnerte Kleinberger nun wieder mit seiner üblichen Stimmgewalt. »Aber offensichtlich soll niemand die Wahrheit über Hieronymus Bosch enthüllen. Sein Ketzerglaube darf auf keinen Fall bekannt werden! Für sie geht der Kampf weiter, gegen jeden, der etwas über die Brüder und Schwestern des freien Geistes verbreitet. Tot sind weder die einen noch …« »Die anderen?«, hakte ich irritiert nach. »Lieber Aníbal, glauben Sie denn, die Diebstähle in El Escorial, im Prado oder der sieben Werke, die im letzten Jahrhundert aus Museen in Lissabon und Wien verschwanden, sind reiner Zufall? Ich nicht.« »Wollen Sie damit etwa sagen …« »Ganz richtig! Sie glauben doch nicht, nur die Nazis im Dritten Reich hätten Machtobjekte und mythische Kunstwerke 258
gestohlen! Wie Sie sehen, will man seit langer Zeit unbedingt an bestimmte Werke von Hieronymus Bosch herankommen, koste es, was es wolle. Das sind keine professionellen Sammler!« »Und wozu wollen sie die Bilder? Will man sie wieder auf die Art und Weise aufstellen wie Philipp II. in seinem Schlafgemach?« »Vielleicht. Oder der Geist der Adamiten ist trotz der offiziellen Vernichtung der Ketzer am Leben geblieben. Und nun verlangen die Anhänger, was ihnen zusteht. Auf den Dokumenten, die der Dieb im Prado bei sich hatte, war ihre Hand zu sehen. Könnte das nicht ein Beweis für die Wiederbelebung der Sekte sein?« Unsere Situation war kompliziert. Wir konnten nicht einfach melden, was uns passiert war, schließlich hatten wir verbotenerweise alle Sicherheitssysteme im Dogenpalast außer Kraft gesetzt. »Was uns geschehen ist«, fuhr Kleinberger fort, »zeigt doch, dass trotz der offiziellen Auflösung der Inquisition und ihrer Gerichte überall auf der Welt Personen existieren, die heimlich und auf eigene Faust operieren und ihren Kreuzzug gegen die Andersgläubigen fortführen.« »Es sind also Kreuzritter des 21. Jahrhunderts?«, fragte ich verblüfft. »Ja. Und an den Orten, an denen eine latente Gefahr besteht, dass bestimmte, in ihren Augen ketzerische Glaubensrichtungen wiederbelebt werden könnten, muss es Wachposten geben.« »Es ist anzunehmen«, ergänzte Sebastián, »dass sic ohne irgendwelche päpstliche Anordnungen jahrelang aus eigener Überzeugung wie eine Stoßtruppe agiert haben. Eine Art christlich-fundamentalistische Zelle, die sich nur nach den eigenen internen Regeln richtet. Und das, wie Klaus schon sagte, vor allem an bestimmten Orten.«
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Meinte er etwa Orte, an denen ein bestimmtes Machtfeld vorherrschte und die sich deshalb dazu eigneten, die alten Ketzerrituale wiederzubeleben? Wer die verbotenen Riten praktizierte, musste von der Macht dieser Orte wissen. Die primitiven Sekten hatten dieses Wissen von Generation zu Generation mündlich überliefert. Gleichzeitig wollte man nach wie vor diese ketzerischen Glaubensrichtungen unbedingt vernichten. Deshalb mussten vor allem die Energiequellen bewacht werden, die für all jene so verführerisch waren, die den offiziellen Glauben verlassen hatten. Offensichtlich setzte sich der Kampf über die Jahrhunderte fort und nahm verheerende Formen an. Wir hatten dies am eigenen Leib erfahren. Plötzlich musste ich an Lucas Galván denken und seinen verrenkten Leichnam auf dem alten namenlosen Grab. Welcher Seite war er in die Hände gefallen? »Ich weiß, es ist schwer zu glauben«, sagte Kleinberger und riss mich aus meinen Gedanken, während er mich mit sorgenvoller Miene anschaute, »aber viele Todesfälle, die mir gerade einfallen, waren kein Zufall. Im Gegenteil, diese Morde wurden kaltblütig geplant. Außerdem ging man davon aus, dass niemand die Schuldigen findet …« »Vielleicht haben Sie recht, denn wer würde schon auf die Idee kommen, dass die Häscher der Inquisition noch unkontrolliert umherziehen?«, bemerkte ich und machte mir immer größere Sorgen, weil ich feststellen musste, wie zutreffend die Vermutungen meiner Begleiter waren. Wir beschlossen in die Markuskirche zu gehen. Dort war seinerzeit die unheilvolle Gruppe der Signori di Notte entstanden, die die dunkle Seite der blühenden Renaissance verkörperte. Beim Betreten bewunderten wir zunächst die glänzenden Kuppeln und die goldenen Mosaikverzierungen. Wir schauten 260
uns alles an, aber ab einem bestimmten Punkt versperrten eine Tür und ein paar Ketten den Weg. Von den vielen Touristen unbemerkt, befand sich dahinter der feuchte Zugang zu den Verliesen, der offiziell zugemauert war. Über einen sehr schmalen, in den Fels geschlagenen Steg, der die Basilika mit der Ostwand des Gebäudes verband, konnte man in die Kellergewölbe des Dogenpalasts gelangen. Diesen Kanal nutzten die Signori di Notte im 16. Jahrhundert, um ungesehen die pozzi zu erreichen und die Gefangenen dort zu foltern und hinzurichten. Jemand musste diesen alten Weg benutzt haben, um uns zu überfallen. »Was ich nicht verstehe«, fragte ich Kleinberger, als wir wieder auf den hellen Markusplatz hinaustraten, »ist, dass man die Versuche von Hieronymus Bosch in einer solchen Zelle überhaupt erlaubt hat. War das allein nicht schon eine Form der Ketzerei?« Kleinberger lächelte. »Vielleicht hat man es ja gar nicht erlaubt. Diese Unterschrift, die Sie gestern gesehen haben, ist das letzte Zeugnis von ihm. Ich bin davon überzeugt, dass sie ihn dort erledigt haben. Ganz egal, was in den Geschichtsbüchern steht.« Ich dachte nach. Hieronymus Bosch könnte bis 1505 im Inneren der pozzi gewesen sein und dort, in seine Visionen eingetaucht, tatsächlich einige seiner Bilder gemalt haben. Andere Künstler könnten ihn dort besucht haben, als bekannt wurde, dass sich das seltsame Genie in Venedig aufhielt. Sicher ist, dass von diesem Moment an nichts mehr über ihn bekannt ist. Es existiert nur noch eine kurze Aktennotiz in der Kathedrale seiner Geburtsstadt Herzogenbusch. Dort ist vermerkt, dass im Winter des Jahres 1509, also vier Jahre später, seine Frau Aleyt zum Gedenken an seine Seele mehrere Messen in Auftrag gegeben hat. Sonst nichts. 261
»Dieser Mordversuch sollte uns zu denken geben.« Klaus Kleinberger hörte sich besorgt an, und wahrscheinlich fühlte er sich für das Geschehene verantwortlich. »Vielleicht ist es das Beste, wenn wir unsere Nachforschungen einstellen. Wenn wir von hier verschwinden und alles vergessen. Immerhin wussten die Angreifer genau, wer wir sind und was wir dort machten. Sicher haben sie uns schon seit unserer Ankunft auf dem Flughafen überwacht. Vielleicht auch schon vorher. Außerdem sind wir nicht die Ersten, die eine solche Überraschung erleben.« »Was meinst du damit?«, fragte Sebastián unruhig. »Zum Beispiel der Experte, der den Teufel im Garten der Lüste entdeckt hat und schließlich völlig ruiniert in Vergessenheit geriet. Ich habe euch noch nicht von seinem grausamen Ende erzählt.« Wir blieben wie angewurzelt stehen und sahen Kleinberger entsetzt an. »Antonio Quijorna, der Historiker aus Madrid, den ich gestern schon erwähnt habe. Er wurde tot in seinem Haus gefunden … Er saß vor ein paar Büchern über Hieronymus Bosch. Der Gerichtsmediziner entdeckte fünf sehr tiefe Stichverletzungen im unteren Bereich des Rückens …« Unser Schweigen wurde beklemmend. »… Drei Einstiche entlang der Wirbelsäule und zwei horizontale Einstiche auf der Höhe von Leber und Niere. Es war ein Kreuz, ein lateinisches Kreuz. Außerdem fanden sich auf allen Buchdeckeln vor ihm weiße Handabdrücke. Die Haustür war nicht aufgebrochen worden. Scheinbar hatte er ganz vertrauensvoll einem Kollegen oder einem Bekannten die Tür …« »Die weiße Hand!«, rief ich, während ich meine Finger spreizte. »In der letzten Reportage von Galván war von der ›Rache der weißen Hände‹ die Rede!« 262
»Er muss über die grausamen Ereignisse in dem Dorf bei Toledo Bescheid gewusst haben. Das Zeichen der schwarzen Hand ist seit Urzeiten das Zeichen der Sekte des freien Geistes. Manche Mitglieder ließen sich dieses Emblem sogar auf die Haut tätowieren. Angeblich tauchten bei ihren Experimenten immer wieder schreckliche Kinderhände von der anderen Seite auf.« »Die schwarze Hand verkörperte also die dunkle Kehrseite«, gab Sebastián zu bedenken, »eine Art Fotonegativ unserer Dimension und damit eine deutliche Anspielung auf die Welt des Imprimatur. Diese Kreatur hütet die Orte, wo das Leid ganzer Generationen konzentriert auftritt. In seine Welt einzudringen, ohne von der Angst überwältigt zu werden, war eine Mutprobe und ein Ritual.« »Die Kirche sprach im Zuge der blutigen Vernichtungskämpfe von den Händen des Antichrist«, fuhr Kleinberger fort, »aber die Ketzer waren nicht minder grausam. Sie töteten Priester und Geistliche, und manchmal verstümmelten sie die Körper und ritzten ihnen ihr Zeichen mit dem Messer auf den Rücken. Dort, wo die Inquisitionstruppen Mitglieder der Glaubensbewegung des freien Geistes aufspürten, wurden deshalb als Erstes die schwarzen Hände auf Mauern und Häusern weiß übermalt. So wollte man diese Orte von den Glaubensfeinden reinigen.« Ich musste an das verlassene Dorf bei Tinieblas de la Sierra denken, wo 1977 die Leiche von Lucas Galván gefunden worden war, wo ich auf Gräber in Form eines Kreuzes gestoßen war und wo Zeichen auf der Fassade darauf hinwiesen, dass dort zuvor der Tempel eines verbotenen Kults gestanden hatte. Ich sah wieder die Gestalt des furchterregenden Pantokrators auf den Fresken vor meinem geistigen Auge, der seine weiße Hand erhob und beim Anblick der Sünder lächelte, die langsam zu seinen Füßen verbrannten. Alles passte zusammen. 263
Plötzlich fiel mir ein, dass Kleinberger in der Hektik der vergangenen Tage das ganze Material meiner Nachforschungen noch gar nicht gesehen hatte. Es blieb noch eine Stunde bis zur großen Auktion. Also bat ich die beiden, in einem der Straßencafés auf mich zu warten, während ich rasch die Luftaufnahmen sowie den Text und die Bilder der letzten Reportage von Lucas Galván aus dem Hotel holen würde. Als der Aufzug auf meiner Etage hielt und ich auf den langen, menschenleeren Flur trat, fiel mir sofort auf, dass die Tür zu meinem Zimmer offen stand. Zunächst dachte ich an die Putzfrau, obwohl ich das wohlbekannte Schild Nicht stören gut sichtbar an die Tür gehängt hatte. Irritiert trat ich ein und sah mich vorsichtig um. Weder waren das Bett gemacht noch die Handtücher in dem geräumigen Bad gewechselt worden. Ich blieb ein paar Sekunden unschlüssig stehen und stürzte mich dann wie ein Besessener auf meinen Koffer. Mir schwante nichts Gutes. Das Schloss war aufgebrochen, und jemand hatte die Klamotten durchwühlt. Komischerweise lagen mein Handy und meine Kameratasche unberührt auf dem Stuhl. Zu meiner Verzweiflung fand ich allerdings keine Spur von der Ledermappe, in der ich das gesamte Material meiner Nachforschungen über Tinieblas sorgfältig aufbewahrte. Die Fotos, Galváns Artikel, eine CD mit den Aufnahmen, die ich auf dem Friedhof gemacht hatte, alles war verschwunden. Ich sah mich um und entdeckte vor dem Fenster ein langes Rohr mit Vorsprüngen, das von der Fassade auf den Kanal führte. Die Eindringlinge mussten über diese primitive Feuerleiter eingestiegen sein. Vermutlich waren sie in einem Boot gekommen und hatten sich die ruhige Gegend zunutze gemacht.
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Die Überraschung wurde noch größer, als ich den Diebstahl an der Rezeption meldete und der aufgeregte Angestellte nach drei oder vier Telefonaten feststellte, dass die Diebe in kein anderes Zimmer eingedrungen waren und auch sonst keinerlei Wertsachen mitgenommen hatten. Das alles war äußerst seltsam. Mit besorgter Miene stieß ich zu den anderen und berichtete ihnen von dem Diebstahl. Doch trotz dieses neuerlichen Zwischenfalls und dem beklemmenden Gefühl, beobachtet zu werden, entschieden wir, zumindest das zu Ende zu bringen, wofür wir eigentlich nach Venedig gekommen waren. Wir sprachen uns gegenseitig Mut zu und brachen auf in das nahe gelegene Museum Correr, wo die außergewöhnliche Auktion von Radierungen aus dem Bosch-Zirkel stattfinden sollte.
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35 Der Einbruch machte uns klar, dass unsere Anwesenheit in Venedig unerwünscht war. Man wollte uns aus der Stadt vertreiben, von den Tafelbildern fernhalten und von allem, was mit Hieronymus Bosch zu tun hatte. Wahrscheinlich waren Sebastián und ich deshalb nicht sonderlich überrascht, als uns Klaus Kleinberger in einem Vorraum des Auktionssaals, wo zwei Dutzend Menschen ihre Gebote machten, eine telefonische Nachricht von Laura Burano übermittelte. »Das arme Mädchen ist noch immer völlig irritiert von dem Erlebnis in den pozzi. Dennoch ist sie dorthin zurückgegangen. Aber sie hat keine Spur von der Rauchbombe gefunden, geschweige denn irgendwelche anderen Spuren. Nur den Ohrring, den sie verloren hatte, als sie mit dem Gesicht auf den Boden schlug. Jemand muss allerdings vor ihr dort gewesen sein, um alle Spuren zu verwischen, einschließlich der Unterschrift von Hieronymus Bosch, die nun wieder mit einer Schicht weißer Farbe bedeckt ist!« Noch völlig benommen von dieser Neuigkeit betraten wir den großen Saal des Museum Correr, und für einen Augenblick waren unsere Ängste wie weggeblasen. Der Raum war atemberaubend. An den hohen Wänden türmten sich Regale mit unzähligen alten Büchern. Zwei über fünfhundert Jahre alte, riesige Weltkugeln, die eine mit der Erdkarte und die andere mit der Sternenkarte, hießen uns willkommen. Es war, als betrete man das Herz der strahlenden italienischen Renaissance. Kein Vergleich zu den albtraumhaften Verliesen von gestern Abend. In imposanten Glaskästen waren die einzelnen Radierungen für die Auktion aufgebaut. Als wir an den pergamentartigen Seiten in unterschiedlichen Größen entlanggingen, fasste Kleinberger leise das Wesentliche für uns zusammen: »Dies ist 266
eine Radierung aus dem Jahre 1516 von Albert Coek, einem berühmten Drucker aus Antwerpen. Er heißt Der Antichrist oder Die Nacht ohne Christus. Das Original von Hieronymus Bosch wurde seinerzeit von Philipp II. für El Escorial erstanden und gilt heute als verschwunden. Die Originaldruckplatte war hundert Jahre später bei einem öffentlichen Ketzerprozess vor dem Kölner Dom verbrannt worden, weil das Bild als verflucht galt. Und hier haben wir ein weiteres wunderbares Werk. Ich überlege, ob ich mein Gebot dafür verdoppeln soll. Ist es nicht wundervoll?« Mit dem Lächeln eines Kindes vor dem Schaufenster eines Süßigkeitenladens wies er auf eine Darstellung, die mir sofort bekannt vorkam: der Baummensch. Die Gestalt war identisch mit dem Selbstbildnis Boschs auf dem rechten Tafelbild des Gartens der Lüste. Aber es war nicht dieses Wesen, das meine Aufmerksamkeit erregte. Meine Augen wanderten zu dem großen Gesicht darüber. Wie eine bärtige Sonne ragte es mit seinem offenen schwarzen Schlund über dem Meer empor, um die umherirrende Gestalt zu verschlingen. Am unteren rechten Rand war die Unterschrift TS zu lesen. »Hier haben wir wieder das geheimnisvolle Monogramm TS«, erklärte Kleinberger. »Dieser Künstler war für die Wiederbelebung der Bewegung des freien Geistes im 16. Jahrhundert in Kastilien verantwortlich. Von ihm stammen auch die zwei Radierungen, die wir um jeden Preis von hier mitnehmen wollen.« »Ein spanischer Anhänger?«, fragte ich sofort. »Ein unbekannter Künstler, der seine Werke immer mit diesen zwei ineinandergreifenden Buchstaben signierte.« Mir war etwas Merkwürdiges aufgefallen, und plötzlich wusste ich, was es war: Das bedrohliche Gesicht, das kurz davor war, den verwirrten »Baummenschen« zu verschlingen,
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erinnerte mich an etwas. Ich ging ein paar Schritte zurück, um meinen Verdacht zu bestätigen. »Der Pantokrator in Tinieblas de la Sierra! Das ist der Pantokrator!«, rief ich in die Stille des Saals. Eine kleine Gruppe von Käufern, die alle den gleichen runden blauen Aufkleber am Revers trugen, den man auch uns am Eingang angesteckt hatte, strafte mich mit bösen Blicken. Kleinberger lächelte ihnen zu und entschuldigte sich für mein lautes Verhalten. »Reißen Sie sich zusammen!«, zischte er mir zu. »Sie dürfen nie übermäßige Begeisterung für ein Werk zeigen, sonst kann uns das teuer zu stehen kommen!« Kleinberger erwies sich als alter Fuchs bei diesen Auktionen. Er wusste, die Sammler trafen sich weltweit und waren bereit, für bestimmte Museumsstücke hart zu kämpfen. Alle saßen schon in den Startlöchern und warteten nervös darauf, dass die Versteigerung begann. Aus diesem Grund gingen wir nur zügig an der letzten Vitrine vorbei. Darin befand sich die Radierung, von der ich am Abend zuvor bei Sebastián eine Kopie gesehen hatte: der Imprimatur, signiert von TS. Meine plötzliche Überzeugung muss Kleinberger dennoch beeindruckt haben, denn als wir uns endlich hinsetzten, versicherte er mir, bis zu hundertfünfzigtausend Euro für diese Darstellung bieten zu wollen, die unter Umständen die rätselhafte Verbindung Boschs nach Toledo unter Beweis stellte. Während der Auktionator zwischen jedem Posten den Hammer schwang, dachte ich über Kleinbergers Erläuterungen zu dem rätselhaften Künstler TS nach, einem der aktivsten Maler im Bosch-Zirkel. Angeblich stammte er aus der Provinz Toledo. Darauf lassen jedenfalls einige Altaraufsätze mit demselben Monogramm in den Dörfern der Umgebung schließen. Er war zweifellos sehr begabt, aber als er begann, abstoßende und 268
irritierende Radierungen anzufertigen, stempelte ihn die kastilische Kirche zum Ketzer ab. Manche vermuteten, er habe sich schließlich in eine Höhle zurückgezogen. Vielleicht waren die Fresken in der verfallenen Kapelle in dem verlassenen Dorf also sein letztes großes Vermächtnis? »Wir haben sie bekommen, Aníbal! Wir haben sie!« Sebastián riss mich aus meinen Gedanken und strahlte mich an. »Sie gehören uns! Wundervoll!« Offensichtlich hatte Kleinberger den Kampf trotz der harten Konkurrenz gewonnen. »Der Imprimatur ist in unseren Händen! Ist das nicht wundervoll?«, rief Sebastián und ahmte die Redewendung des Deutschen nach, während er mich mit Tränen in den Augen an sich drückte. Sie hatten die beiden Radierungen des unbekannten Malers erstanden. Zweihunderttausend Euro kostete sie der Traum. Auf dem ersten Bild war ein schrecklicher Schatten zu sehen, möglicherweise von einem verhexten Kind, das starr nach vorne schaute und bei einem makaberen Tanz mitten in einer Grotte zu schweben schien, die mich an die beklemmenden pozzi erinnerte. Handelte es sich um eine originalgetreue Darstellung des Imprimatur? Jenes Motivs, das scheinbar seinerzeit den mittleren Teil des Triptychons Visionen aus dem Jenseits bildete? Kleinberger war jedenfalls davon überzeugt, dass der unbekannte Maler aus Toledo die Radierung angefertigt hatte, als er Hieronymus Bosch beim Malen des Originals in der Einzelzelle beobachtete. »Sehen Sie diese Inschrift?«, fragte er und zeigte auf die winzigen gotischen Buchstaben an beiden Rändern der Szene. Tatsächlich hatte ich die Buchstaben vorher nicht bemerkt. 269
»Ja«, sagte ich und las auf der einen Seite »Inferno« und auf der anderen die fast abgeschnittenen Worte »Anima Lux«. »Ich vermute, dass es sich um eine Beschreibung für die Zusammenstellung der Teile des Originals handelt. Also die Teile, die wir gestern im Dogenpalast gesehen haben: der Lichttunnel der Seelen und der Sturz in den Abgrund der Hölle. Aus irgendeinem Grund wurde dieser mittlere Kern herausgetrennt. Soweit bekannt ist, hat der spanische Künstler nur diesen Teil hier kopiert. Vielleicht hatte er den Auftrag, die wichtigste Botschaft zu erhalten.« »Könnte es sein, dass er diese Radierung als Vorlage benutzt hat, um das Bild später an einem anderen Ort abzumalen?«, fragte ich und war mir nicht sicher, ob ich nicht gerade großen Unsinn redete. Meine beiden Begleiter verstummten plötzlich und wurden nachdenklich. Vor uns hatten wir das Schema von dem, was Bosch in seinem schrecklichen Exil kreiert hatte und was nach einiger Zeit auf mysteriöse Weise in El Escorial wieder aufgetaucht war, vor dem Sterbebett des mächtigsten Mannes der damaligen Welt: ein schwebendes Kind mit Greisengesicht und zwei markanten Eckzähnen, das die Holzfläche zu verlassen schien und in unsere Welt eindrang. »Alles, worüber wir in den letzten Wochen gesprochen haben, was in dem Dorf geschah, was Galván umbrachte, was an manchen Orten der Macht weiterhin präsent ist … Alles ist hier zusammengefasst.« Ja, dort lebte die Erinnerung an die Vergangenheit, die Energie, die uns seit Anbeginn der Zeit begleitet und nur unter ganz bestimmten Umständen zu erkennen ist und nicht leichtfertig angerufen werden darf. Sie ist in der Lage, uns zu Tode zu quälen, bis wir uns in eine verlorene Seele verwandeln, die dazu verdammt ist, herumzuirren.
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Ich erschrak und legte die Hände vor das Gesicht. Diese schwarze apokalyptische Gestalt hatte ich auch auf dem Fresko der Kapelle in Tinieblas gesehen … »Und wenn wir dort ein Experiment nach altem Ritual machen?« Bei meiner Frage bekam Klaus Kleinberger glänzende Augen und rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl herum. Sebastián blickte mich dagegen besorgt an. Vielleicht befürchtete er auch einfach nur, wir könnten unseren Flug verpassen, weil uns nicht mehr viel Zeit in Venedig blieb. Oder aber er hatte zu viel Respekt vor den geheimen Kräften der Natur, die offiziell zwar nicht existierten, die er aber gut zu kennen schien. »Wir spielen hier mit dem Feuer. Ich kann euch nur warnen. Seht doch, was am Ende mit Lucas Galván geschah: Er lag tot auf einem fremden Grab. Für mich besteht nicht der geringste Zweifel, dass er dort eine solche Anrufung versucht hat. Ich würde euch nur ungern auf die gleiche Weise verlieren. Deutlicher kann ich es nicht sagen.« Wir verabredeten dennoch, uns bald in Spanien wiederzusehen, damit Kleinberger vor Ort die beschädigten Fresken untersuchen konnte, die übermalten Hände, die Gräber in Form eines großen Kreuzes im Felsen, das Gesicht des Teufels, das mit dem Antlitz auf dem Tafelbild identisch war … Er musste diesen Ort begutachten. Vielleicht würde uns das weiterbringen. Während die beiden noch im Museum bleiben mussten, um den Papierkram zu erledigen, beschloss ich, in der knappen uns noch verbleibenden Zeit ins Hotel zurückzugehen, um meinen aufgebrochenen Koffer zu packen. Ich hatte es plötzlich ziemlich eilig, diese Stadt zu verlassen. Auf dem Rückflug beschloss ich, meine letzte Karte auszuspielen. Einen Trumpf, den ich schon beinahe vergessen hatte. Ich holte die Visitenkarte, die mir Aquilino Moraza, der 271
Pfarrer aus Toledo, zähneknirschend zugesteckt hatte, aus meiner Jackentasche und legte sie auf das Plastiktablett der Alitalia-Maschine, die sich schon dreiunddreißigtausend Fuß über dem Boden befand. Ich würde dem Diözesanarchivar einen Besuch abstatten. Sebastián schlief mit dem Gesicht zum ovalen Fenster, hinter dem der nächtliche Himmel an uns vorbeizog. In den zweieinhalb Stunden Flug gingen mir noch viele Dinge durch den Kopf. Ich musste auch an Laura Burano denken, die mich wahrscheinlich nie wieder mit ihren tiefgrünen Augen ansehen würde …
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36 »Wussten Sie, dass noch ein anderes Tinieblas de la Sierra in der Provinz Burgos existiert?« Ich hatte mir ein völlig falsches Bild von Esteban Plaza Marcos gemacht. Weder war der Archivar alt und dickbäuchig, noch trug er eine Brille. Er war vielmehr eine schmale und kränkliche Erscheinung und hatte sein Haar nach vorne gekämmt, um die beginnende Glatze zu verbergen. »Ich interessiere mich für alles, was mit der Geschichte des Ortes zu tun hat. Ich arbeite gerade an einer Reportage und …« »Ich weiß, ich habe Sie schon verstanden«, unterbrach er mich mit seiner hellen Stimme, die durch das Echo in den Fluren des Klosters immer tiefer zu werden schien. »Und Pater Moraza meinte also, die Unterlagen befänden sich hier?« »Er selbst gab mir Ihre Visitenkarte«, erwiderte ich, während ich die Hand in die Jackentasche steckte. »Wenn Sie wollen, rufe ich ihn gleich an, dann können Sie persönlich mit ihm sprechen.« »Schon gut. Wenn er Sie hierhergeschickt hat, wird es seine Richtigkeit haben. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Es ist nur so, dass ich jetzt die Ein-Uhr-Messe halten muss und anschließend bei einem Essen in der Gemeinde bin. Ich werde Ihnen also den Schlüssel geben, und Sie müssen sich da oben dann selbst zurechtfinden. Es ist am Ende des Flurs. Ich weiß, es ist unhöflich, aber …« »Ich bitte Sie. Seien Sie unbesorgt. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Ich hoffe, ich finde rasch, wonach ich suche, und bringe nicht viel durcheinander.«
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»Das, was Sie suchen, müsste sehr einfach zu finden sein. In fast allen alten Dokumenten ist von der Pest die Rede. Sie hat viele Opfer in dieser Gegend gefordert.« Noch nie hatte ich während meiner Recherchen mit solcher Leichtigkeit grünes Licht bekommen. Beinah wäre ich dem jungen blassen Mann im Priestergewand um den Hals gefallen. An der Türschwelle drehte er sich nochmal nach mir um. »Ich möchte Sie allerdings noch darauf hinweisen, dass sich in der Geschichte dieser Gegend schönere Dinge finden lassen.« »Ich weiß, ich weiß. Vielen Dank für Ihre Hilfe! Übrigens, kennen Sie zufällig ein Buch mit dem Titel Medizinische Studie über die Pest in der Provinz Toledo von einem Arzt, der …« »Was? Hat Ihnen Pater Moraza nicht davon erzählt?« »Nein, eigentlich nicht.« »Und warum interessieren Sie sich ausgerechnet für diese Studie?«, fragte er und machte wieder ein paar Schritte auf mich zu. Sein Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich drastisch verändert. »Ach, nur so«, stammelte ich verlegen. »Ein Freund von mir ist Bibliothekar und hat mich gebeten …« »Aha. Hören Sie, vielleicht geben Sie mir besser den Schlüssel zurück und warten nach der Messe auf mich. Dann kann ich Ihnen alles zeigen. Oder besser Sie sprechen nochmal in Ruhe mit Pater Moraza.« »Läuten da nicht schon die Glocken zur Messe? Sie müssen gehen, die Gemeinde wartet auf Sie! Ich garantiere Ihnen, ich beeile mich.« Kurzerhand lief ich die Treppe hinauf und ließ den verdutzten Archivar vor dem spitzbogigen Säulengang stehen. Ich ließ ihm einfach keine Zeit zu reagieren und lief blitzschnell nach oben auf die Galerie.
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Warum war der Mann bloß so hellhörig geworden, als ich das Buch erwähnte, das Galván gesucht und schließlich aus der Nationalbibliothek entwendet hatte? In einer stillen und abgelegenen Klosterzelle ganz am Ende des Flurs wurde seit etwa hundert Jahren die Kirchengeschichte der Region gesammelt und ausgewertet. Trotz meiner inneren Unruhe versuchte ich den Frieden an diesem Ort nicht zu stören. In den Regalen türmten sich unzählige uralte und ungebundene Dokumente. Manche Papiere waren in versiegelten Röhren zusammengerollt und andere mit einer Schnur zusammengebunden. Ganz hinten hing eine kleine Christusfigur an der hohen weißen Wand. Darunter standen mehrere Aktenordner mit der Aufschrift »Todesfälle« und »Taufen«. Auf einem spartanischen Tisch standen zwei halb offene Karteikästen, die offenbar vor kurzem eingesehen worden waren. Mit Hilfe der maschinengeschriebenen Karteikarten konnte man nach bestimmten Akten und Dokumenten suchen. Von unten waren Stimmen zu hören. Ich musste mich beeilen. Zügig blätterte ich in den Karteikarten auf der Suche nach dem T für Tinieblas und hatte Glück. Unter dem Eintrag 26, einer Zahl, der dem Gemeindebezirk entsprach, hefteten drei Karteikarten mit den Signaturen der entsprechenden Akten sowie folgender Vermerk: Tinieblas, Gerichtsbezirk der Provinz Toledo, 31,2 km2 Fläche, 11 Einwohner. Bevölkerungsentwicklung: 181 Einwohner im Jahre 1900, 97 Einwohner im Jahre 1930, 49 Einwohner im Jahre 1960. Umfasst folgende Ortsteile: Alquería de Jiloca, 3 Einwohner, und Goate, verlassen.
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Sankt-Marien-Kirche und Inquisitionspranger. Landwirtschaftliche Erträge durch Anbau von Hülsenfrüchten und Wollvieh. Ich machte mir von allem Notizen. Mein Instinkt sagte mir, dass ich so schnell wie möglich vorgehen musste. Der Archivar würde sonst womöglich versuchen, meine Recherchen zu unterbinden. Plötzlich hörte ich Schritte auf der Galerie. Ich spitzte die Ohren und rührte mich nicht. Die Schritte kamen langsam und vorsichtig näher. Doch auf dem jahrhundertealten Holzboden konnte ich sie deutlich hören. Jetzt waren sie an der Zelle angekommen. Ich war mir sicher, jemand horchte für ein paar Sekunden an der Tür. Eigentlich hätte derjenige klopfen müssen oder wäre einfach hereingekommen. Schließlich war ich dort der Eindringling. Beunruhigt stand ich ganz langsam auf und versuchte keinen Lärm zu machen. Ich schlich zur Tür und hörte gleich darauf, wie sich die Schritte wieder entfernten. Anstatt hinauszugehen und nachzusehen, schloss ich die Tür von innen ab und setzte mich wieder an den Tisch. Goate: Unbewohnter Ortsteil im Gemeindebezirk Tinieblas de la Sierra. Kapelle El Salvador (Ruine), Steinkreuz für die Seelen auf dem Friedhof, Gräber aus der Zeit vor dem 11. Jahrhundert und Friedhof aus dem 16. Jahrhundert. Ich fing an, die alten gedrängten Buchstaben ganz schnell abzuschreiben. Aber es war zu viel Text, und die Zeit war zu
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knapp. Da hörte ich plötzlich, wie gegen die Tür geschlagen wurde. Jemand polterte regelrecht dagegen. »Machen Sie auf! Wir wissen, dass Sie da drin sind!« Die gebrochene Stimme eines alten Mannes erschien mir überhaupt nicht vertrauenswürdig. »Machen Sie auf oder wir treten die Tür ein!« Ich schätzte das Gewicht der Dokumente ab und stopfte mir eilig einige Akten unter den Pullover. Konnte ich es wagen? »Zum letzten Mal: Machen Sie endlich auf!« Ich ging zur Tür und wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als mir etwas ins Auge fiel: Auf einer kleinen Kommode mit Schubladen und einem Schloss prangte eine weiße Hand. Es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Ich holte den Schlüssel hervor, den mir der Archivar gegeben hatte, und tatsächlich, an dem Bund hing noch ein weiterer kleinerer Schlüssel. Das Schloss der Kommode ließ sich problemlos öffnen. Wahllos griff ich hinein und zog eines der Bücher heraus, die sich dort befanden. Das Poltern an der Tür wurde jetzt immer lauter, und ich entschloss mich zu öffnen. Vor mir standen zwei Geistliche in ihren Kutten. Die Kapuzen ins Gesicht gezogen. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. »Verdammter Journalist … Haben Sie uns denn nicht gehört?«, raunte mich der Ältere der beiden an und streifte seine Kapuze ab. Er hatte einen weißen Bart mit kahlen Stellen und Pusteln um den Mund. Ich glaube, es fehlten ihm außerdem noch ein paar Zähne. Richtig unheimlich war mir allerdings der andere Mönch. Er trug eine dicke Kordel um die Taille, wirkte sehr kräftig und war bestimmt zwei Köpfe größer als ich. Ohne ein Wort zu sagen ging er an mir vorbei zu den Regalen mit den Akten. 277
»Sie werden uns jetzt sagen, wonach Sie gesucht haben und was Sie sich notiert haben. Sie erklären uns besser alles, sonst …« In diesem Moment nahm der stille Mönch eines der versiegelten Rohre aus Pappe, in dem die Akten über Tinieblas steckten. Geräuschvoll hob er den Deckel ab und kehrte zu uns zurück. Noch immer konnte ich sein Gesicht nicht richtig erkennen, nur einen tiefen schwarzen Schatten unter der Kapuze. So schwarz und tief wie das Innere des Rohrs, das er mir jetzt entgegenhielt. Es war leer. »Du Sohn des Satans hast uns beklaut! Du hast Schande über das Haus des Herrn gebracht!« Nur selten habe ich ein so hasserfülltes Gesicht gesehen wie bei dem alten Mönch, der jetzt begann, nach mir zu schlagen und mir dabei seine widerlichen Krallen in meine Hand bohrte. Ich spürte, wie seine langen, schmutzigen Fingernägel Kratzspuren auf meiner Haut hinterließen. Wie der Prankenhieb eines Raubtiers. Reflexartig schubste ich den Alten mit aller Kraft gegen den vermummten Mönch und rannte los. Ich rannte, als wäre der Teufel hinter mir her.
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37 »Ich weiß nicht, ob es sich gelohnt hat, für diese Papiere mein Leben aufs Spiel zu setzen«, sagte ich seufzend, während Sebastián die Lampe auf dem Tisch in seiner Werkstatt anknipste und die Pergamentschriften gegen das Licht hielt, als ob darauf verborgene Zeichen zu entschlüsseln wären. Ich saß in einer Ecke und tupfte mir Alkohol auf die Wunde, die mir der alte Mönch als Andenken hinterlassen hatte. »Ich bin ins Auto gestiegen und so schnell ich konnte hergekommen. Ich glaube, die wollten mich umbringen oder was weiß ich! Überall in Toledo fühlte ich mich durch die unheimlichen Mönche beobachtet.« »Beruhige dich, mein Freund. Immerhin hast du ihnen etwas gestohlen, was möglicherweise sehr wertvoll für sie ist«, antwortete Sebastián und rollte das Pergament sorgfältig wieder ein. Fast alle Blätter waren unleserlich, als ob Säure an einigen Stellen die Tinte aufgelöst hätte. Nur im ersten Abschnitt, einer Art Zusammenfassung, ließen sich Teile entziffern: Ab 1593 war die Gegend nach der Beulenpest unbewohnt geblieben, die alle Einwohner ins Grab brachte. Mehr war den hundert Jahre alten Dokumenten nicht zu entnehmen. Anders verhielt es sich mit dem Buch, das ich aus der Kommode mit der aufgemalten weißen Hand gezogen hatte. »Ich würde die Hand nicht unbedingt mit dem Zeichen der Ketzerverfolgung verbinden«, sagte Sebastián, als er das Werk genauer untersuchte. »Aber das ist doch ganz eindeutig das gleiche Zeichen!« »Du irrst dich. Damit wurden auch verbotene Bücher gekennzeichnet.« 279
Er ging zu einem Bücherregal, nahm einen der Wälzer, die sich fast bis zu den Dachbalken der Werkstatt stapelten, und legte ihn auf den großen Holztisch: Index der verbotenen Bücher durch die spanische Inquisition. Es war die letzte Ausgabe, die 1819 gedruckt worden war. Er schlug eine bestimmte Seite auf und zeigte auf einen Absatz: Viertes Gesetz Die Bücher, die selbst für Personen mit Leseerlaubnis indizierter Bücher verboten sind, werden mit dieser Hand gekennzeichnet. »Du hast recht. Man dachte also, das Werk sei wegen seines Inhalts verflucht.« Es war keine Handfläche wie auf den Gräbern oder Fresken gewesen, sondern eine geschlossene Hand, die mit dem Zeigefinger auf etwas ganz Bestimmtes deutete. Etwas, das nicht gelesen werden durfte, weil es als Todsünde galt. Als wir den Teil über Tinieblas de la Sierra lasen, wurde uns klar, warum die Mönche das Buch im Kloster verschlossen hielten und warum Galván vor dreißig Jahren damit aus den Hallen der Nationalbibliothek verschwunden war. »Das hier«, sagte Sebastián, während er sehr vorsichtig umblätterte, »ist vielleicht die einzige seriöse Untersuchung über die besagte Gegend. Die Daten in diesem Buch stehen im völligen Widerspruch zu den Angaben in den offiziellen Geschichtsarchiven. Das ist eine regelrechte Anklageschrift. Vielleicht war es deshalb in einem Sonderbereich für verbotene Bücher.« »Merkwürdig ist nur, dass die Inquisition Anfang des 19. Jahrhunderts keine Indices mehr aufgestellt hat, und dieses Buch ist von 1935!« 280
»Zweifelst du also immer noch daran, dass bestimmte Personen weiterhin nach den alten Dogmen vorgehen? Wir sollten besser nicht nach Tinieblas fahren.« Sebastián war nach wie vor der Meinung, dass uns ein Besuch in Tinieblas oder Goate nicht weiterbringen würde. Er hatte Angst. Obwohl es mir nicht besonders gutging, versuchte ich ihn aufzumuntern. Ich fragte nach der Radierung, die er in Venedig ersteigert hatte. »Sotheby’s hat mich heute angerufen. In ein paar Tagen kann ich wohl damit rechnen«, erklärte er freudig. Nachdem ich meine Wunde desinfiziert hatte, verließ ich mit meinen Schätzen unter dem Arm die Werkstatt. Ich wollte mich ein wenig erholen und in Ruhe über alles nachdenken. Zu Hause angekommen, taute ich mein trauriges Abendessen auf und setzte mich vor den Fernseher. Vorsichtshalber scannte ich später noch die Seiten des alten Buches über Tinieblas ein, um sie auf der Festplatte zu speichern. Als ich fertig war, hörte ich den Anrufbeantworter ab. Zwei neue Nachrichten waren darauf. Die erste stammte von einer vertrauten, aber ziemlich trostlosen Stimme: »Hier ist Helena. Es ist so, mir geht’s gerade nicht besonders gut. Außerdem mache ich mir Sorgen. Irgendwie sind Sie mir ans Herz gewachsen. Ich rufe Sie bald wieder …« Da brach die Stimme ab. Die zweite Nachricht war nur eine Minute später aufgenommen worden. Sicher war es noch einmal Helena. Aber nach dem Piep war nur ein einziges Wort zu hören: »Fegefeuer!« Es folgte ein langes, scheinbar endloses Lachen. Ein Lachen, das mich instinktiv erstarren ließ. Verunsichert sah ich mich im dunklen Arbeitszimmer um. Wenn der vermummte Mönch aus
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Toledo ein Mensch aus Fleisch und Blut war und er eine Stimme hatte, musste sie so klingen.
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38 Nachdem ich erfolglos versucht hatte, Helena zu erreichen, nahm ich mir das Buch über die Pest in Toledo vor und begann in dem Kapitel über Tinieblas zu lesen. An Schlaf war in dieser Nacht sowieso nicht zu denken. Und was ich las, war faszinierend: Medizinische Studie über die Pest in der Provinz Toledo von Dr. Leandro Sárraga Aufzeichnungen über Tinieblas de la Sierra und den Ortsteil Goate Dieses Dorf in der Provinz ist angeblich aufgrund einer Epidemie ohne Präzedenzfälle ausgestorben. Die Thesen meiner Studie bieten Anlass zu zahlreichen Zweifeln an dieser offiziellen Version der Geschichte. Dabei stütze ich mich nicht auf Mutmaßungen, sondern auf konkrete Daten und Dokumente, die man nun offenbar angreifen oder lächerlich machen will, um die Wahrheit zu vertuschen. Es handelt sich um Dokumente, die bei Renovierungsarbeiten in den Zwischenwänden einer Stadtvilla in Toledo gefunden worden sind, und die Aufschluss geben über die wahre Geschichte des Dorfes. Leider musste ich diese Dokumente unter Androhung einer Gefängnisstrafe an das Diözesanarchiv Toledo aushändigen. Als Wissenschaftler und Spezialist auf meinem Gebiet halte ich die Erklärung der Kirchenbehörden 283
für Unsinn, eine Art Fluch sei für die Pest verantwortlich gewesen und habe dieses Dorf ein für alle Mal vernichtet, weil sich – und das ist unbestreitbar – zahlreiche Glaubensabtrünnige unter den Einwohnern befunden haben. Aber in den entscheidenden Jahren gab es in keinem der Dörfer der Provinz Fälle von Pest- und Choleraerkrankungen. Ich behaupte daher, dass hier im Jahre 1592 vielmehr eine bewusste Ausrottung der Bewohner Goates stattgefunden hat und diese schreckliche und schändliche Tat aus allen existierenden Akten gelöscht werden soll, damit in der Zukunft niemand davon erfährt. Historische Daten zum Standort Archäologische Funde bestätigen das Vorkommen einer sesshaften Bevölkerung im Ortsteil Goate seit mindestens fünftausend Jahren. Lange vor der Gründung des Dorfes Tinieblas de la Sierra im 12. Jahrhundert wurden Hünengräber auf den Feldern angelegt, wo sich heute das ausgestorbene Dorf befindet. In den umliegenden Bergen fand man Höhlenmalereien aus Blut und pflanzlichen Tinkturen von einer Reihe prähistorischer Gottheiten mit großen Körpern mit Schutzschilden, Lanzen und Kronen. Auf einigen Felsvorsprüngen gibt es sogar noch ältere Spuren von Männer- und Frauenhänden. Vieles deutet auf uralte überlieferte Bestattungsriten hin. Schon vor der schwachen Romanisierung der Gegend scheinen sich hier Einsiedlergemeinden niedergelassen zu haben. Von ihnen finden sich noch primitive Tempel und natürliche Sarkophage im 284
Felsgestein. Allerdings hat man in den Steingräbern keine menschlichen Überreste gefunden, lediglich Spuren von Einäscherungen. Erstmals schriftlich erwähnt wird Goate als Ort mit extremen Temperaturen und karger Vegetation in dem so genannten San-Provencio-Verzeichnis aus dem Jahre 1212. In dem primitiven Volkszählungsregister werden achtzehn Häuser und fünfzig Einwohner aufgeführt. Die Kapelle mit Turm, auf dessen Fassade der Erzengel Michael gegen einen Drachen mit Menschenkopf kämpft, stammt vom Ende des 11. Jahrhunderts. Der Turm brannte 1593 bis auf die Grundmauern nieder. Das Innere der Kapelle wurde im Laufe der Zeit mehrmals umgestaltet. Dort finden sich noch immer gotische Fresken eines unbekannten Künstlers. Die Darstellung der Figuren auf den Fresken ist sehr schematisch und unterscheidet sich stark von den Malereien in anderen Dörfern der Gegend. Das zentrale Thema ist die Apokalypse. Ein primitiver Pantokrator mit nahezu byzantinischen Zügen beherrscht und überwacht die Szene. Die Darstellungen der Ursünde und der Hölle sind übermalt und ausgebessert worden. Maßnahmen der Inquisition in Toledo Im Jahre 1231 taucht Goate erstmals in den Prozessakten der Inquisition auf. Sechs Einwohner werden der Hexerei beschuldigt und durch das Schwert hingerichtet. Aus der Akte 26/05/11 im Diözesanarchiv geht hervor, dass im Auftrag des Bischofs von Toledo einige Richter in das Dorf gesendet worden waren. Sie sollten die besonderen Vorkommnisse und Aktivitäten der Ketzerbewegung untersuchen wie zum Beispiel die angeblichen 285
Schändungen auf dem örtlichen Friedhof durch die sechs Hexen. Die Anschuldigungen gegen die Bewohner des Ortes nahmen seitdem stetig zu. In einem weiteren Vermerk taucht Goate dann im Zusammenhang mit einer Militäraktion gegen die Glaubensgemeinschaft des freien Geistes auf. Die Behörden ordneten die Hinrichtung einer Gruppe von zwölf Personen an, die der Mitgliedschaft in der Ketzerbewegung beschuldigt wurden. Ohne Prozess und Verhör stellte man sie öffentlich an den Pranger, nachdem Bewohner der benachbarten Dörfer sie beschuldigt hatten, durch ihre unreinen Rituale den schwarzen Tod in die Gegend gelockt zu haben. Seit dieser Zeit häuften sich die Gewaltakte, unnatürlichen Todesfälle und Anschuldigungen in Tinieblas und schürten den gegenseitigen Hass. Vor allem gegen die Brüder und Schwestern des freien Geistes ging die Inquisition dabei hart und brutal vor. In einem Edikt aus dem Jahre 1331 wird die Verfolgung der Glaubensgemeinschaft schließlich offiziell angeordnet. Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts wird Goate auf den Index von Orten gesetzt, die unter besondere Überwachung durch die Inquisition gestellt werden. Um die Ausrottung bestimmter Ketzerpraktiken in der Provinz zu gewährleisten, werden erfahrene Kenner dieser Ketzerlehre auch nach Goate geschickt. Papst Hadrian VI. erließ eine Bulle mit dem Ziel der Vernichtung dieser Gemeinschaft. Im Morgengrauen des 9. Juni 1591 sind dann in Toledo vor den Augen von Philipp II. drei Frauen bei lebendigem Leib verbrannt worden. Die drei Witwen 286
waren zwei Nächte zuvor in Goate festgenommen worden, als sie in einem Sack die Körper mehrerer gerade verstorbener Kinder schleppten. Aus Angst, das gesamte Dorf könne verflucht sein, führte Bischof Gaspar de Mendoza mit Hilfe von sechs Priestern eine Reihe von öffentlichen Exorzismen durch. Aber in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 1592 ereignen sich die schwersten Vorfälle. In dieser Nacht wird der Obrigkeit der brutale Mord an Pfarrer Miguel Guevara gemeldet, der seit knapp zwei Monaten in Goate Dienst tat. Bevor die Ordnungskräfte eintreffen, haben sich die meisten Dorfbewohner bereits selber gerichtet. Jene, die noch in der Lage sind zu schreien, als die Flammen der Scheiterhaufen ihre Füße verschlingen, versichern mit entsetzlich entrückten Grimassen, nur der wahren Lehre Adams zu folgen: mit dem Ziel der Wiederherstellung der reinen Welt vor der Ursünde. Ein königliches Gefolge mit Philipp II. an der Spitze wohnte schließlich der Vernichtung der gesamten Bevölkerung bei. Offenbar war das letzte Opfer ein kleiner Junge, der sehr lange in den Flammen ausharrte, bevor er starb. Die Überreste der beinahe siebzig Toten legte man in die frühzeitlichen Steingräber der Umgebung. Die dortigen Götzenbilder und Malereien wurden übermalt, und man untersagte eine neue Ansiedlung von Menschen an diesem Ort. Auch das Abtragen von Mauersteinen für andere Bauten wurde verboten, sodass das Dorf beinahe intakt blieb. In den offiziellen Akten heißt es seit jener Nacht, die Beulenpest habe die Entvölkerung verursacht. Die Statistik beweist jedoch, dass es in der gesamten Region weder in jenem Jahr noch in den folgenden 287
fünfzehn Jahren eine Epidemie gegeben hat. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Männer, Frauen und Kinder aus dem Dorf Goate in der Johannisnacht im Jahre 1592 ohne Prozess ausnahmslos ausgerottet worden sind. Im 19. Jahrhundert bestattete man dort auf dem Friedhof die Kinder aus der gesamten Region, die ansteckenden Krankheiten zum Opfer gefallen waren. Mögen diese Zeilen dazu dienen, den Unschuldigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auch wenn dies erst viele Jahre später geschieht.
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39 Um diese Uhrzeit war der Raum 6 der Informatikabteilung bei der Kriminalpolizei voller Leute. Ich musste mich vorsichtig durch die Menge schlängeln, um die beiden Milchkaffees in Plastikbechern nicht zu verschütten. »Beeil dich! Schnell!« Mein guter Freund Sergio Zabala war sofort bereit gewesen, mir bei meinen Recherchen erneut zu helfen. Ich setzte mich neben ihn und schaute auf die beiden Flachbildschirme. Auf einem der Monitore stand mit grünen Buchstaben auf schwarzem Grund Stimme 1 und auf dem anderen Stimme 2. Sergio klickte auf »Intro«, und beide Stimmen ertönten gleichzeitig. »Es ist dieselbe Stimme! Genau dieselbe!«, rief ich und zog die Aufmerksamkeit der anderen Informatiker im Raum auf mich. »Die Stimme ist nicht nur identisch, es könnte sich sogar um ein und dieselbe Aufnahme handeln, die man ein zweites Mal eingesetzt hat, um dich zu erschrecken.« In dem ansonsten kahlen Raum hing eine blinkende Schalttafel mit dem Stadtplan von Madrid. Ein großer kräftiger Mann durchquerte entschlossen den Raum, bis er mit quietschenden Gummisohlen unseren Tisch erreichte. Er stützte sich mit den Händen auf der Tischkante ab und beugte sich zu uns herunter: »Wir haben ihn.« Die Aussage ließ mich erschrocken in die Höhe fahren. Vor vierundzwanzig Stunden hatte ich meinen Freund Sergio gebeten, die Stimme auf meinem Handy zu analysieren. Da er selbst nicht viel ausrichten konnte, hatte er die Angelegenheit seinem Vorgesetzten Kommissar Robles gemeldet. Ihm folgte 289
ich jetzt durch einen schmalen Flur, der wie die Gangway zu einem Flugzeug aussah. »Im Zentralcomputer ist keine Spur. Aber im Archiv bin ich fündig geworden.« »Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin! Ich …« »Gewöhnen Sie sich nicht daran«, unterbrach er mich, während er eine der Türen aufstieß und festhielt, damit ich eintreten konnte. Der Raum glich einem riesigen Bienenstock. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit kleinen Holzschubladen verstellt, an denen jeweils ein Buchstabe oder ein Jahr prangte. Auf dem Tisch in der Mitte lag eine Mappe. Darauf war das Wappen mit dem Adler und darunter das Wort Toledo zu sehen. Robles öffnete die Polizeiakte und begann im Stehen laut vorzulesen. Ich konnte nicht einmal einen Blick auf die Seiten werfen. Blitzschnell holte ich meinen Block heraus und fing an, mir Notizen zu machen. Die Gelegenheit würde nicht wiederkommen. »Aquilino Moraza y Díaz, geboren am 15.1.1929, besucht mit dreizehn Jahren das Dominikanerseminar. Dort wird er wegen Störung der öffentlichen Ordnung und tätlichen Angriffs aktenkundig. Macht als einziger Angeklagter im Ermittlungsverfahren TO/13/5/55 am 7.6.1955 eine Aussage. Er wird mangels Beweisen freigesprochen. Man schickt ihn nach Paris, wo er sein Studium an der Sorbonne fortsetzt und eine Doktorarbeit über das primitive Christentum schreibt. In einem Bericht von Interpol aus dem Jahr 1971 ist von Körperverletzung die Rede … Sie müssen bedenken«, beendete Robles seinen Vortrag, »dass ich Ihnen eine Akte aus den siebziger Jahren vorgelesen habe. Wenn er danach aktenkundig geworden sein sollte, müsste das im Lochkarten- oder Computersystem sein. Und dort steht wie gesagt nichts.«
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Pater Moraza, der scheinbar so gelehrte und kluge Priester aus Toledo, entpuppte sich plötzlich als rätselhafte Gestalt, über die ich eigentlich recht wenig wusste. Vielmehr wusste ich bisher nur das, was ich wissen sollte. »Merkwürdig, das erwähnte Ermittlungsverfahren in Toledo erscheint hier gar nicht.« »Meinen Sie die Akten seiner Aussage?«, erwiderte ich nervös. »Nein. Ich meine das gesamte Ermittlungsverfahren. Nur die Mappe ist noch da. Der Inhalt fehlt. Nun ja, damals konnte ein Befehl von oben so etwas wohl beseitigen.« »Ein Befehl von wem?« »Das ist doch klar«, antwortete er mit einem Lächeln. Ich verstand kein Wort und zuckte mit den Schultern. »Dieser Vogel war doch ein Priester, oder? Und wenn er gute Beziehungen hatte, wollte man ihm seine glänzende Karriere sicher nicht versauen.« »Und der Bericht von Interpol ist da?« »Ja, aber er ist nur ganz kurz. Ein Aktenvermerk wegen Körperverletzung an der Uni in Paris. Nichts Schwerwiegendes. Anscheinend war der Mann ganz schön aufsässig.« »Mmh, das ist er vermutlich immer noch. Was steht denn da nun?« »Sonst weiter nichts. Ihr Journalisten wollt aber auch immer alles ganz genau wissen«, stöhnte Robles. Nachdem sich Kommissar Robles eilig von mir verabschiedet hatte, überkam mich eine dunkle Vorahnung. Ich würde noch einmal mit dem Auto nach Toledo fahren müssen. Während ich meinen Mantel von der Garderobe nahm, fragte ich Sergio, was es mit den Kennnummern der Ermittlungsverfahren auf sich hatte. 291
»Das Buchstabenkürzel bedeutet immer das Landgericht, und die Nummern stehen für das Datum. In diesem Fall also TO für Toledo und 13/5/55 für den 13. Mai 1955.« Seine Antwort bestätigte meinen Verdacht. Aber um ganz sicherzugehen, musste ich noch etwas anderes klären. Ich dankte Sergio für seine Hilfe und griff auf dem Weg nach draußen zum Handy. »Aníbal! Sagen Sie bloß, es ist schon alles bereit für unsere Erkundung?« Die gewaltige Stimme von Klaus Kleinberger klang so nah, als wäre er gleich nebenan statt in seiner luxuriösen Winterresidenz in Köln. »Noch nicht. Jetzt bin ich einer Sache auf der Spur, die wichtiger sein könnte. Deswegen rufe ich an.« »Schießen Sie los!« »Hat man Sie jemals an der Sorbonne verprügelt?« »Woher wissen Sie das denn?«, antwortete er überrascht. »Meine Kontakte … Sie wissen schon.« Er lachte und fuhr dann ernst fort: »Man hat mich damals übel zugerichtet. Fast wäre ich an den Folgen gestorben!« »Und das bei Ihrer Statur«, erwiderte ich nachdenklich. »Ich hatte gerade mein erstes Buch über Hieronymus Bosch vorgestellt, in dem ich bereits auf seine Verbindung zur Ketzerbewegung der Brüder und Schwestern des freien Geistes hinwies. Aber das ist lange her. Ich war damals knapp dreißig.« »Es muss am 1. November 1971 gewesen sein.« »Es war an Allerheiligen, das stimmt … Aber, wie können Sie das wissen?« »Das erzähle ich Ihnen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Was ist denn damals genau passiert?« »Ach, wissen Sie, mein Buch war ziemlich schlecht und meine 292
Thesen nicht gut belegt. Deshalb benutzten mich die Leute wohl lieber als Punchingball, statt mir zuzuhören …« »Im Ernst, Prof. Kleinberger. Es ist wichtig.« »Also schön. Ich kam abends aus der Universitätsbibliothek, wo ich einen Diavortrag über meine Theorien gehalten hatte, und ging zu meinem Auto. Dort haben mich drei vermummte Gestalten abgefangen. Sie haben mich beschimpft, auf mich eingeschlagen und getreten und mir schließlich das Nasenbein gebrochen. Deshalb habe ich diesen komischen Zinken im Gesicht.« »Haben Sie einen davon erkannt?« »Alle drei waren ganz in Schwarz gekleidet und hatten eine Art Mönchskutte mit Kapuzen an. Während die Schläge auf mich niederprasselten, haben sie mich wüst beschimpft: ›Ketzer‹, ›Teufelsbrut‹ und solche Sachen. Ich lag drei Wochen mit mehreren Knochenbrüchen im Krankenhaus. Dort sagte man mir, die Angreifer hätten meine Bücher, meinen Wagen – ein VW Käfer, der mir sehr am Herzen lag – und alle Dias verbrannt.« »Hat die Polizei die Schuldigen denn nie gefasst?« »Nein, nie. Ich habe Anzeige erstattet, aber weiter geschah nichts. Ehrlich gesagt hatte ich eine Zeit lang große Angst, und …« »War einer von ihnen sehr groß?«, unterbrach ich ihn. »Wie bitte?«, entgegnete er hörbar irritiert. »Ob einer so groß war wie Sie. Oder noch größer.« »Hm, also, wo ich jetzt so darüber nachdenke … Ja, einer von ihnen war sehr groß und dünn. Und wie gesagt, ganz in Schwarz gekleidet.«
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Gleich nach dieser Auskunft fuhr ich mit dem Auto nach Toledo. Ich wollte zunächst der Redaktion von La Tribuna einen Besuch abstatten. Die Journalisten der Zeitung waren alle sehr jung und freundlich. Einige kannten meine Radiosendung, was mir zugegebenermaßen den Einstieg erleichterte. Mir war es ungemein wichtig, dass meine Anwesenheit dort nicht bekannt wurde, und ich entschuldigte mich für die Geheimniskrämerei, die so faszinierend auf die jungen Kollegen wirkte. Sie versprachen mir aber, meinen Besuch geheim zu halten, und so zog ich mich beruhigt ins Archiv der Zeitung zurück. In den Regalen entdeckte ich schließlich die Zelluloidrolle mit dem gesuchten Datum auf der Hülle: 13. Mai 1955. Ich stellte den Mikrofilmprojektor an, spannte das Band zwischen die Metallhalter und starrte auf den Bildschirm. Ich spulte vorwärts und rückwärts, bis ich endlich auf die Nachricht stieß, die ich suchte. Es war nur eine Spalte, aber völlig ausreichend: Rätselhafter Leichenfund nahe der Kathedrale Gestern Abend fanden Mitarbeiter der städtischen Müllabfuhr gegen 22:30 Uhr die Leiche eines sechzigjährigen Mannes in der näheren Umgebung der Gasse Niños Hermosos. Polizeiangaben zufolge wies der Leichnam mehrere Stichwunden am Rücken und im Nierenbereich auf. Der Mann lag auf dem Bauch. Er trug einen dunklen Anzug, Schnürstiefel und einen Hut. Der Leichnam wurde ins Kreiskrankenhaus gebracht. Am Tatort sind keine Kampfspuren gefunden worden, und das Opfer ist auch nicht ausgeraubt worden: Es trug dreihundertzwanzig Peseten sowie eine goldene Taschenuhr in der Westentasche bei sich. Die Identität des Verstorbenen ist noch nicht bekannt. Unter den überwiegend älteren Anwohnern des 294
Viertels hat sich Angst breitgemacht. Niemand hat etwas gehört. Die Polizei vermutet aber, dass es sich hier um eine Einzeltat handelt und bittet die Bürger um Vertrauen in ihre Arbeit. In den beiden darauffolgenden Tagen wurde der Vorfall in der Zeitung mit keinem Wort erwähnt. Als ob gar nichts passiert wäre. Am dritten Tag erschien folgender Hinweis in der Nähe der Todesanzeigen: Gestern wurden auf dem Friedhof La Vega die sterblichen Überreste des Epidemiologen und Chirurgen Dr. Leandro Sárraga beigesetzt. Im Anschluss an eine Messe in der Kapelle erwiesen zahlreiche Verwandte und Freunde dem Verstorbenen die letzte Ehre. Der Leichnam befand sich zuvor zur gerichtsmedizinischen Untersuchung im Kreiskrankenhaus. Wie kürzlich gemeldet, war Sárraga am vergangenen Dienstag unter rätselhaften Umständen tot aufgefunden worden. Die Kriminalpolizei gab bekannt, dass eine Person im Zusammenhang mit dem traurigen Vorfall verhört worden ist. Wir halten Sie auf dem Laufenden. Doch die Reporter von damals hielten ihr Wort nicht. Ich überprüfte die Ausgaben der folgenden Wochen und fand keine Spur einer Nachricht. Der Fall wurde offensichtlich mit größter Diskretion behandelt. Nichts konnte die gemächliche Stadt Toledo aus der Ruhe bringen. Auch vom einzigen Verdächtigen war nie wieder die Rede. Möglicherweise wurde schon damals durch entsprechend einflussreiche Leute ein Skandal verhindert, der mit Sicherheit entstanden wäre, wenn Mitglieder eines
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religiösen Ordens in einen so undurchsichtigen Mordfall verwickelt gewesen wären. Als ich das Gebäude von La Tribuna spätabends verließ und über den Tajo auf die dunkle Altstadt Toledos schaute, dachte ich an drei Dinge: Erstens an die etwa ein Meter fünfundneunzig große Gestalt von Aquilino Moraza, dem Priester, der sich so sehr erregen konnte, wenn er über Ketzerei sprach, und der behauptete, nichts über die Ereignisse in Tinieblas de la Sierra zu wissen. Zweitens an die Stichwunden am Rücken von Dr. Sárraga, die vielleicht genauso kreuzförmig angeordnet waren wie bei dem Kunsthistoriker aus Madrid, der in der Nachkriegszeit seltsame Zeichen und verborgene Figuren in Boschs Garten der Lüste entdeckt hatte. Und drittens an die ungeheure Statur des vermummten Mönchs ohne Gesicht, der an jenem Morgen im Diözesanarchiv auf mich losgegangen war, als wolle er mich umbringen. Er war so etwa eins fünfundneunzig groß.
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40 Der Imprimatur. Erstdruck des verschwundenen Originalwerkes von Hieronymus van Akne, auch Hieronymus Bosch genannt. Hergestellt in der Druckwerkstatt von Heinz Küipper. Wird einem Mitglied des Bosch-Zirkels zugeschrieben. Erstanden für zweihunderttausend Euro. »Das hier«, sagte Sebastián und deutete auf die knappe Beschreibung, die Sotheby’s der Verpackung beigefügt hatte, »ist im Grunde das Gleiche wie mit deinen Polaroidbildern.« »Druck und Fotografie, Fotografie und Druck. Schon klar. Fünfhundert Jahre später, aber genauso deutlich … Dieselbe Angst. Bosch wusste das nur zu gut.« Sebastián kannte den Stand meiner Nachforschungen und bat mich um Geduld. Für ihn gab es keine stichhaltigen Beweise, um gegen Pater Moraza vorzugehen. Da waren nur ein paar sehr alte, abhanden gekommene Polizeiakten. Sonst nichts. Dennoch wirkte er beunruhigt und ängstlich. Er sah überhaupt schlecht aus. Er hatte mich in seine geliebte Werkstatt gebeten und tat überaus geheimnisvoll. Doch jetzt nahm er das Paket von Sotheby’s in beide Hände und reichte es mir, damit ich es feierlich öffnete. »Es ist heute angekommen, und ich habe mir gedacht, wir sollten es gemeinsam öffnen, weil es uns fast das Leben gekostet hat.« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute ihm vertrauensvoll in die Augen.
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»Du solltest das machen. Es ist schließlich deine Eroberung. Übrigens, geht es dir sonst gut?« »Wie bitte?«, fragte er, während er sich daranmachte, das Paket zu öffnen. »Du wirkst seit unserer Rückkehr aus Venedig etwas nervös. Ist was passiert?« Obwohl er es kaum erwarten konnte, die faszinierende Radierung endlich auszupacken und in Händen halten zu dürfen, legte Sebastián das Päckchen wieder auf den Tisch und deutete auf die grüne Eingangstür. »Es ist mehrmals spät in der Nacht geklopft worden.« »Und wer war es?«, fragte ich und spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam. »Ich habe mich nicht getraut aufzumachen. Ich war gerade dabei, ein Buch zu binden, als ich so gegen drei Uhr morgens höre, wie jemand an die Tür klopft.« »Es hat nicht geklingelt?« »Nein. Das hat mich auch sehr gewundert. Ich dachte erst, es sei vielleicht irgendein Betrunkener oder so. Aber dann bekam ich ein seltsames Gefühl.« »Eine Vorahnung?« »Ja. Ich kauerte mich also dort zusammen, wo du jetzt stehst, und wartete. Über eine halbe Stunde saß ich dort. Dann ging ich hinaus.« »Und?« »Da war niemand. Die Straße war menschenleer. Doch dann sah ich jemanden an der Ecke beim Café stehen. Als würde er auf etwas warten.« »Es war ein Mann?« »Das konnte ich nicht so genau sehen. Ich schloss ab und rannte einfach in die andere Richtung, obwohl es ein Umweg 298
war. Aber das war nicht das Schlimmste. In der nächsten Nacht, wieder um dieselbe Uhrzeit, klopfte es erneut. Allerdings war diesmal der schwere Atem eines älteren Menschen und eine kränkliche Stimme deutlich durch das Holz der Tür zu hören: Helfen Sie mir, bitte. Machen Sie auf. Öffnen Sie einem armen Pilger die Tür …« Sebastián zitterte, und seine Worte kamen nur noch stockend. Er hatte in dieser zweiten Nacht noch länger gewartet als am Abend zuvor, bis er die Werkstatt verließ. Erst um vier Uhr morgens, als die ganze Stadt schon schlief, war er in der Lage gewesen, einen Fuß auf die Straße zu setzen. Das erklärte auch die Augenringe, den unrasierten Bart und sein ungepflegtes Aussehen. »Du hast doch nicht etwa hier geschlafen?«, rief ich und konnte es kaum glauben. »Schschsch! Sei bitte leise. Ich bin hiergeblieben, weil ich eine Menge Arbeit habe. Die Polizei kann mich nicht jedes Mal nach Hause fahren.« »Die Polizei?« Er zeigte auf seinen Gürtel, an dem ein ziemlich altes Handymodell in einer Plastikhülle hing »Du weißt ja, dass ich es fast nie benutze. Aber nach der zweiten Nacht habe ich es mir anders überlegt. Letzte Nacht habe ich dann die Polizei angerufen.« »Und?« »Ein Polizeiwagen kam vorbei und brachte mich nach Hause. Ich sagte ihnen, ich werde bedroht …« War es Paranoia, Übermüdung oder Verwirrung? Was war mit meinem Freund geschehen? In der dritten Nacht war er, bewaffnet mit dem Telefon und einem Stuhlbein aus Metall, wieder zur Tür gegangen, als es klopfte. Doch was er diesmal hörte, ließ ihm das Blut in den 299
Adern gefrieren und ihn instinktiv zurückweichen. Er hörte ein deutliches Wispern, das die gesamte Druckwerkstatt zu erfüllen schien: »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name …« Als das Klopfen stärker geworden war, hatte er die Nummer der Polizei in sein Handy getippt. »Als sie mich mit der Polizeizentrale sprechen hörten, sind sie gegangen. Es waren mindestens zwei. Ich habe extra sehr laut gesprochen, damit sie es mitbekommen. Ich hörte, wie jemand anfing zu lachen. Die Stimme stammte vielleicht von einer alten Frau. Das Gelächter hielt einige Sekunden an, bis es schließlich weiter die Straße hinauf verhallte. Ob sie wussten, dass dieses Paket heute hier ankommt? Nun denn, jetzt ist der ersehnte Augenblick gekommen.« Mit einem Teppichmesser durchschnitt Sebastián die Luftpolsterfolie des Pakets. Vorsichtig entnahm er ihm einen langen Pappzylinder und hielt ihn wie eine Trophäe hoch. Für einen Moment schien er den nächtlichen Albtraum vergessen zu haben und sah so gerührt aus, dass ich dachte, ihm kämen gleich die Tränen. »Von jenem Bild Imprimatur, von seiner Macht und von der Angst, die es einflößte, bleibt nur dieses Zeugnis aus dem treuen Kreis von Eingeweihten. Es überlebte, um zurückzukehren. Verstehst du? Dieses Stück Geschichte kommt aus dem Zeittunnel zurück, um uns seine Botschaft zu zeigen!« Genau in dem Moment, als er das sagte, blieb die Klinge seines Messers in einer Verpackungsfalte der Röhre hängen. Ein dumpfes Knirschen war zu hören. Ein Splitter brach ab und schoss mit großer Wucht in Richtung seiner Kehle. Nur eine schnelle Bewegung konnte verhindern, dass sich der Splitter wie ein Pfeil in Sebastiáns Haut bohrte. Das Geschoss prallte an der Wand ab und fiel genau auf das rote Lacksiegel am Verschluss der Röhre, in dem sich der Druck befand. Wir starrten uns an, 300
fassungslos und ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, als hätte er den möglichen Unfall erwartet. »Gib mir doch bitte die Schere aus dem Regal rechts von dir … Und mach nicht so ein Gesicht! Es ist doch gar nichts passiert!« »Es hätte dich am Hals treffen können«, stammelte ich. Aber Sebastián schenkte meiner Bemerkung keine Beachtung. Er nahm den Metallsplitter zwischen die Fingerkuppen und hielt ihn sich ganz nah ans Gesicht. »Wusstest du, dass Nicholas Tarnat, einer der größten Experten für die Radierungen des Bosch-Zirkels, vor fünfzig Jahren in Lüttich erblindet ist?« Ich zuckte mit den Achseln. Wie sollte ich das wissen, wenn er mir nie davon erzählt hatte? »Im Jahre 1956, als er eine gefälschte Radierung der Nacht ohne Christus auspackte, brach seine Klinge in zwei Teile und zerfetzte ihm beide Augen. Wie durch ein Wunder ist er daran nicht gestorben.« Ich schwieg. »Er starb drei Tage später im Provinzsanatorium«, fuhr Sebastián fort, während er den scharfen Splitter auf den Tisch legte, »nachdem er plötzlich von Ängsten und Visionen heimgesucht worden war.« Mit der Scherenspitze stach Sebastián jetzt in den Pappdeckel. Nachdem die Druckluft entwichen war, nahm er das eingerollte Pergament heraus und hielt es vor sich. Sein Gesicht strahlte vor Verzückung. »Schau doch nur, wie wunderbar!« Bei dem Anblick des Porträts wurde mir augenblicklich schlecht. Ich bereute es, mit diesem Fall überhaupt begonnen zu
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haben, und wandte den Blick ab. Aber Sebastián war nicht mehr zu bremsen. »Wir Glücklichen! Hier haben wir die vermutlich einzige Kopie dieses Eintauchens ins Dunkelste der Seele! Nur er war in der Lage, das festzuhalten, was andere fürchteten. Nur er drang ins Magma der menschlichen Hölle vor, in die Unsicherheit angesichts des Todes, in die unerforschten Bereiche des Unterbewusstseins. Nur der Meister …« Sebastián verstummte, und wir verbrachten ein paar Minuten in völliger Stille. In dem spärlichen Licht der Werkstatt kamen unterschiedliche Nuancen auf der Grimasse dieses Wesens zum Vorschein. Waren wir inzwischen so weit, den Verstand zu verlieren? »Hier siehst du, was dich die ganze Zeit so sehr gequält hat: das desorientierte Wesen, das sich der eigenen Sünden bewusst ist. Der Tote, der mit einem bestimmten Ziel zurückzukehren versucht und manchmal böse ist. Hier ist es, in unseren Händen. Dank der herrlichen Kopistenarbeit des unbekannten Künstlers TS vor der Vergessenheit bewahrt!« »Wir müssen so schnell wie möglich nach Tinieblas!«, unterbrach ich seinen emotionsgeladenen Vortrag. »Ich nicht, mein Lieber. Und ich rate dir, besser auch nicht dort hinzugehen.« Er fand tausend Ausreden, und am Ende sagte ich ihm beinahe im Streit, dass wir auf der Zielgeraden nicht aufgeben dürften. Aber er blieb stur und betrachtete weiter seine Radierung. Vielleicht rechnete er fest mit einem weiteren Besuch in der Nacht. Allerdings lehnte er es strikt ab, dass ich ihm Gesellschaft leistete. Beim Abschied war er sehr bestimmt: »Diesmal werde ich mich schlauer anstellen. Ich gebe der Polizei schon etwas früher Bescheid, und dann wissen wir endlich, wer diese Typen sind!«
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41 »Crufixarium?« »Genau. Eine beliebte Hinrichtungsform im 16. Jahrhundert«, erklärte Baltasar Trujillo, den ich erneut um Hilfe bat. »Auf diese Weise hat man die gefährlichsten Ketzer bestraft. Die Praktik erforderte viel Geschick. Manchmal waren es vier Stiche mit zwei waagerechten, etwas höher angeordneten Wunden und manchmal sechs.« »Was müssen das für Schmerzen gewesen sein …« »Allerdings! Es dauerte eine Weile, bis man starb. Manchen wurde dieses so genannte ›Wundenkreuz‹ zugefügt, bevor man sie auf den Scheiterhaufen brachte. Die eigene Nierenflüssigkeit drang dann durch die Wunden und verursachte beim Kontakt mit dem Feuer einen furchtbar qualvollen Tod.« »Und ab wann wurde diese Methode nicht mehr praktiziert?« »Das Verbot kam Ende des 16. Jahrhunderts durch eine päpstliche Verfügung. Man hielt es für unmenschlich.« Trujillo hatte sich anhand alter Bücher und detaillierter Abbildungen ein genaues Bild dieser furchtbaren Tötungsform machen können. Er erklärte mir, es habe echte Spezialisten bei der Durchführung des crufixarium gegeben: Düstere Henker renkten mit einem einzigen Stich einige Wirbel aus und zerlegten die Nieren wie Gelatine. So ähnlich wie der Genickstoß, den der Stierkämpfer zur Tötung des Stiers anwendet. Allerdings wurde dieser Stich am unteren Ansatz der Wirbelsäule platziert. »Der ungläubige Sünder litt augenblicklich furchtbare Schmerzen und war für immer mit dem christlichen Kreuz auf dem Rücken gezeichnet. Das sollte vor allem abschreckend wirken.« 303
»Erinnerst du dich an den Fleck unter der Kleidung des toten Lucas Galván auf einem der Fotos?« »Ja, aber ich habe dir schon gesagt, das kann alles Mögliche sein. Was soll das mit dieser uralten Technik zu tun haben? Der Mann starb an einer Panik der Stufe 7, ganz sicher! Derartige Spuren müssten ihm erst nach seinem Tod zugefügt worden sein!« Nach dem Besuch bei Trujillo im Gerichtsmedizinischen Institut fuhr ich mit meiner gesamten Fotoausrüstung und den Aufnahmegeräten nach Tinieblas de la Sierra. Ich wollte schon mal alles für die bevorstehende Untersuchung mit Klaus Kleinberger vorbereiten. Wir mussten endlich weiterkommen in dieser Sache. Mit dem Auto schlängelte ich mich durch die Berge, um herauszufinden, wie weit man mit dem Geländewagen, den ich mir extra geliehen hatte, kam. Unsere Expedition würde wie bei einem Aufmarsch der NASA aussehen, dachte ich und lächelte in mich hinein. Ich war schon fast in der Gegend, wo der Handyempfang beim letzten Mal wie durch Zauberei schlecht wurde, als das Signal einer neuen SMS ertönte. Ich hatte Sebastián gebeten, mich zu informieren, wie seine Nacht verlaufen war. Aber diese Nachricht war nicht von ihm. Nachdem ich das Auto am Straßenrand geparkt hatte, las ich, was dort stand: »Aníbal, ich hatte wieder den schrecklichen Traum. Ich habe Angst. Rufen Sie mich an. Helena« Das tat ich. Aber es klingelte nur einmal, dann brach die Verbindung ab. Ich wusste, das Telefon war ab jetzt tot. Ich überlegte, ob ich fünf oder sechs Kilometer zurückfahren sollte, um aus den verschlungenen Bergwegen hinauszukommen und Helena anzurufen. 304
Was meinte sie mit dem Traum? Etwa das, was sie vor dreißig Jahren in Barcelona in der Nacht gesehen hat, in der Galván starb? Meinte sie die gevierteilte Gestalt, die im dunklen Flur ihrer Wohnung schwebte? Ich überlegte ein paar Sekunden, entschied mich aber weiterzufahren. Doch auch der Radioempfang verebbte nach und nach. Scheinbar war die Gegend ein wahrer Isolierungstrichter für sämtliche Wellen. In der nächsten Kurve hielt ich an, um die Landschaft zu betrachten und Fotos zu machen. Auf dem Abhang war der Wind in den Kuppen einiger verstreuter Bäume zu hören. Es war das Geräusch der wilden, einsamen Natur. Vor mir erhob sich Tinieblas mit seinen grauen Häusern, die sich farblich kaum von den Schluchten abhoben. Man könnte schwören, der Ort sei verlassen, wären da nicht die feinen Rauchschwaden, die langsam aus den Schornsteinen zweier Häuser stiegen. Ich fuhr hinab und stellte das Auto am Anfang der unbefestigten Straße ab, die zwischen den wenigen Häusern entlangführte. An der Ecke glaubte ich kurz einen der alten Männer vom letzten Mal zu sehen, der gerade die zweiflügelige Holztür zu seinem Haus hinter sich schloss. Ich lief ein paar Meter und klopfte. »Hallo?« Doch nur das Heulen des Windes war zu hören. Es wurde langsam kälter, und in der schneidenden Luft lagen kaum merkliche Eispartikel. Womöglich die Vorboten eines Unwetters. Es war gerade erst fünf Uhr nachmittags, doch langsam breitete sich überall Bodennebel aus. »Ist da jemand?« Ich trat ein paar Schritte zurück und lehnte mich gegen die kaputte Mauer auf der anderen Straßenseite. Von dort sah ich, dass aus dem Schornstein Rauch aufstieg. Und dann entdeckte 305
ich noch etwas: Auf dem Holzrahmen der Tür war eine weiße Hand gemalt. Eine Hand mit fünf gespreizten Fingern. Ich hatte das Gefühl, durch die Ritzen in der Tür beobachtet zu werden. Wo war der alte Mann? Auf dem Weg zurück zum Auto klopfte ich an die anderen drei Häuser, die noch weniger bewohnt aussahen. »Hallo?« Niemand antwortete. Ich versuchte, mich an den Weg zu erinnern, den ich neulich zu Fuß gegangen war. Mit dem Auto war das Gelände jedoch wesentlich schwieriger zu passieren, und ich musste ständig irgendwelchen Schlaglöchern und morastigen Stellen ausweichen. Plötzlich war ein Scheppern unter dem Auto zu hören. Als ich Gas gab, drehten sich alle vier Räder gleichzeitig und wirbelten Steine und Schlamm auf. »Komm schon!« Ich fluchte, als ob der Geländewagen meinen Worten gehorchen könnte, und trat erneut bis zum Anschlag aufs Gaspedal. Schließlich fing es an, verbrannt zu riechen, und ein verdächtiger Rauch stieg an beiden Seiten der Motorhaube auf. Ich öffnete kurz die Tür und sah, dass der Wagen praktisch bis zum Boden im Morast steckte. Während ich mit meinen dreckigen Stiefeln über die Pedale rutschte, legte ich den Rückwärtsgang ein. Doch das Getriebe des Autos bohrte sich noch tiefer in die Erde. Aus Angst, den Motor völlig kaputt zu machen, stellte ich ihn ab. Schlagartig wurde mir klar, dass ich besser nicht alleine hier hätte rausfahren sollen. Ich sah mich nach allen Seiten hin um und glaubte in der Ferne eine Gestalt zu erkennen. Ein Mann, der mit seinen Ackergeräten über der Schulter näher kam. Ich atmete erleichtert auf. Sicherlich waren die Bauern hier Idioten wie mich gewohnt, die mit ihren Autos an den unmöglichsten Stellen stecken blieben. Dieser Mann würde einem gestrandeten 306
Städter in seinem Geländewagen mit Vierradantrieb bestimmt helfen können. »Hierher! Ich brauche Hilfe!« Ich streckte mich so weit ich konnte aus dem Fenster, doch da war niemand. Hatte ich mir die Gestalt nur eingebildet? Wie eine Fata Morgana? Langsam machte mich die Situation nervös. Der dunkelblaue Himmel kündigte bereits den Einbruch der Dunkelheit an. Ich ließ den Motor wieder an und drückte das Gaspedal ganz durch, bis mir der Fuß wehtat. Ich merkte, wie der rechte Teil des Wagens einige Zentimeter vorwärts kam. Gerade als sich der Wagenboden von dem großen Stein oder der Wurzel oder was auch immer das Fahrgestell blockierte zu lösen begann, hörte ich einen weiteren dumpfen Schlag wie ein Peitschenknall. Dann ging der Motor aus. Ich schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Verfluchte Schrottkarre!« Ich kletterte auf den Beifahrersitz und öffnete die Tür, um zu sehen, ob der Morast auf dieser Seite nicht ganz so tief war. Vorsichtig testete ich mit dem Stiefel, ob der Boden mich tragen würde. Dann hörte ich plötzlich ganz in der Nähe jemanden lachen. Ich hatte diese Lache schon mal gehört, und sie jagte mir eine Heidenangst ein. Als ich den Blick hob, sah ich eine schwarz gekleidete, bucklige alte Frau mit einem Kopftuch vor mir. Sie atmete schwer und trug eine Sense. Mein Blick fiel auf etwas Goldenes in ihren Händen. Panisch vor Angst sprang ich mit all meiner Kraft aus dem Wagen, landete glücklicherweise auf festem Boden und rannte los. Meine Apparate, Kameras und sonstigen Geräte ließ ich zurück. Ich rannte um mein Leben.
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Hinter mir hörte ich diese Lache, die immer weiter zurückblieb, wie ein Albtraum, der sich langsam auflöst. Nach einigen hundert Metern drehte ich mich völlig außer Atem um. Dort stand mein gestrandeter Geländewagen mitten auf dem Feld, aber von der alten Frau fehlte jede Spur. Hatte mir meine Phantasie erneut einen Streich gespielt? Alte schwarz gekleidete Frauen lösen sich doch nicht plötzlich in Luft auf … Aber es musste sich um eine optische Täuschung gehandelt haben. Vielleicht hatte mein Unterbewusstsein wegen der aufgestauten Anspannung genau in dem Moment verschiedene Elemente miteinander verknüpft und ein Bild zusammengesponnen … »Nichts belebt meeeehr …« Meine Gedanken fanden ein jähes Ende. Als ich diesen bekannten Gesang in meiner Nähe hörte, drehte ich mich abrupt um. Doch da war nichts. »… als stets an den Tod zu denkeeeen!« Diese Seelenlitanei hatte ich schon von der teuflischen Alten vor der Kathedrale von Toledo gehört. Aber diesmal war mir, als ob ich von mehreren Stimmen umgeben wäre, die den Gesang im Chor anstimmten. Die Klagelaute und das Klingeln eines Glöckchens kamen näher. Instinktiv tastete ich die Taschen meiner Weste nach etwas ab, um mich zu verteidigen. Ich fand lediglich eine kleine Taschenlampe. »Wer ist da?« Ich schrie aus Leibeskräften und drehte mich einmal um die eigene Achse. Dabei musste ich feststellen, dass mein liegengebliebener Wagen schon beinahe völlig im Nebel verschwunden war. Der schwache Lichtstrahl meiner winzigen Taschenlampe kam kaum gegen die dichten Nebelschwaden an, die mich auf einmal umgaben. Im Lichtkegel glaubte ich 308
dennoch plötzlich ein Gesicht zu erkennen. Ein Kindergesicht. Es war ein kleiner lachender Junge mit schwarzen Zähnen. Das war keine Fata Morgana. Wie ein Verrückter rannte ich wieder los, stolperte und stieß lautstark mir bis dahin unbekannte Flüche aus. Ich lief in Richtung der Ruinen im verlassenen Viertel Goate, um mich dort zu verstecken. Dann tauchte vor mir eine Ansammlung rechteckiger Löcher auf, die schwärzer waren als die Dunkelheit, die mittlerweile über mich hereingebrochen war. Es war der Friedhof. Und die schwarzen Löcher waren Grabnischen. Ich verfluchte mein Schicksal. Und meine Verwegenheit. Ich richtete die Taschenlampe auf die Gräber und blieb vor einem verrosteten Zaun stehen. Dann sah ich plötzlich etwas, das mir bei meinem ersten Besuch auf dem Friedhof nicht aufgefallen war. Ganz langsam fuhr ich mit dem Lichtkegel über die eingravierten Buchstaben auf dem Fries des Eingangs. Friedhof für Opfer von Infektionskrankheiten Nun verstand ich, was der ermordete Dr. Sárraga in seinem Buch gemeint hatte: Durch die vermeintliche Pest hatte der Ketzerfriedhof den Ruf bekommen, verflucht zu sein. Die einstige Hinrichtungsstätte der Bewohner Goates und diverser Mitglieder der Glaubensgemeinschaft des freien Geistes musste eine Zeit lang als Massengrab für die Menschen gedient haben, die wegen ihrer ansteckenden Krankheit für alle anderen eine Gefahr darstellten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zwang der Volksglaube die Anwohner, ihre Toten an einem abgelegenen Ort zu begraben. Und was wäre dafür besser geeignet als dieser einsame Friedhof:
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Die sterblichen Überreste von Angelita González Cavero, 7 Jahre, und ihren Schwestern Elvira, 9 Jahre, und Agustina, 4 Jahre. Eure Eltern vergessen euch nicht. Aus Angst, man könnte mich bis dorthin verfolgen, schaltete ich die Taschenlampe aus. Mitten in der jetzt beinahe undurchdringlichen Dunkelheit hielt ich mir die Hand vors Gesicht und spreizte die Finger. So stellte ich das Zeichen nach, das mich die ganze Zeit verfolgte und vielleicht bis hierher getrieben hatte. »Komm!« Eine Kinderstimme kam jetzt ganz aus meiner Nähe. Stammte sie von dem entsetzlichen Kind, das im Lichtkegel meiner Taschenlampe erschienen war? Ich glaubte, es langsam in der Mitte des Friedhofs entlanggehen zu sehen. Es versteckte sich hinter dem Kreuz, genau an derselben Stelle, an der auf den Polaroidbildern von Lucas Galváns letztem Text ein Kind aufgetaucht war. Ich rieb mir die Augen und kauerte mich so weit ich konnte hinter dem kleinen Mauersockel des spitz zulaufenden Zauns zusammen. Ich wollte aus diesem Albtraum verschwinden. So verging eine Minute. Dann hörte ich, wie nach und nach das Gestrüpp um mich herum sanft beiseite geschoben wurde. »Komm!« Das Kind war jetzt nur noch eine Handbreit von meinem Gesicht entfernt. Mit beiden Händen hielt es sich an den verrosteten Eisenstäben fest und schob seinen großen, entstellten Kopf hindurch. Instinktiv wich ich zurück. Es lächelte und streckte sein dürres Ärmchen nach mir aus. Ohne hinzuschauen sprang ich hysterisch hinter dem Mauersockel hervor und lief quer über den Weg in die Kapelle. Das alte Gebäude schien der einzige überdachte Ort zu sein, der 310
einen Unterschlupf bot. Doch kaum war ich durch den halb zerstörten Eingangsbogen gekommen, stolperte ich und fiel der Länge nach hin. Eine ganze Weile verharrte ich so auf dem kalten Boden, während die Stimme draußen weiter nach mir rief. Ich hatte Angst, nach oben zu schauen, denn ich wusste, was mich dort erwartete. Schließlich schaltete ich die Taschenlampe aber doch ein. Und dort, an der Wand genau vor mir, tauchte er auf, als ob er auf meine Rückkehr gewartet hätte: der Pantokrator. Der fratzenhafte Gott, der beim Anblick der Hölle zu seinen Füßen lachte. Mir war fast so, als hörte ich sein Lachen im Gewölbe widerhallen. Wie er sich über mich lustig machte, genauso wie vor dreißig Jahren über den anderen Unglücksraben, der sein Geheimnis erforschen wollte. Ich konnte es hören, während ich mit der Lampe über die Silhouetten fuhr, die sich in den Flammen etwas weiter unten krümmten. Es waren die Ungläubigen, die von den Dämonen gevierteilt wurden. Die halbnackten schreienden Sünder, die sich an etwas zu klammern versuchten, während sie in den Abgrund stürzten. Und dann dieser Teufelskopf, dieses unbeschreibliche Wesen, das genauso aussah wie auf der Radierung in Venedig: der Imprimatur. Ich kroch bis zur Wand und tastete die Oberfläche ab. Sie war feucht. »O mein Gott!« Der schwindelerregende, schwere Schimmelgeruch der jahrhundertealten Farbe breitete sich im Raum aus. Ich nahm einen Steinsplitter vom rissigen Boden und begann wie verrückt an der Wand zu kratzen. Nach zwei Minuten blieb mir der Atem weg. »O mein …!« Ich wiederholte den Vorgang drei- oder viermal und entfernte dabei mehrere dicke Schichten des teerartigen Anstrichs. Die dürren Beine des Imprimatur kamen in derselben Position zum 311
Vorschein wie auf dem berühmten Druck des unbekannten Künstlers TS. Also genauso wie auf dem Original-Tafelbild, das Hieronymus Bosch in den pozzi des Dogenpalastes gemalt hatte. Endlich begegneten wir uns von Angesicht zu Angesicht. Ich kratzte weiter wie ein Besessener. Ich hatte beinah vergessen, was mir draußen geschehen war. Auf keinen Fall wollte ich hinter mich durch die zerstörte Wand schauen, wo der Friedhof mit dem Kind lag. Möglicherweise war auch schon die alte schwarz gekleidete Frau mit der Sense dort, angelockt durch den Lichtschimmer meiner Taschenlampe. Aber in dem Moment war mir das egal. Eine höhere Macht schien von mir Besitz ergriffen zu haben. Wie in Trance kratzte ich die Schichten vollständig von dem Fresko herunter. Und sah immer mehr … »TS!« Dort prangte das Monogramm des Mannes aus Toledo, der die ketzerische Botschaft von Hieronymus Bosch verbreitet hatte. Mit bloßen Händen kratzte ich jetzt die Schichten wie ein altes Fell herunter, um jenes Wesen wieder zum Leben zu erwecken: Der Imprimatur hatte seine schwarze Hand auf die weiße Hand des Pantokrators gelegt und umschloss sie förmlich mit seiner Macht. Ich betrachtete Gesicht und Körper der Kreatur. Auf seiner Brust prangten eine Reihe gotischer Buchstaben. Ich erkannte, dass es dieselben Buchstaben waren, die auch bei Klaus Kleinbergers und Laura Buranos Reflektographie auf dem Tafelbild Visionen aus dem Jenseits zum Vorschein gekommen waren: O magister, imprimatur anima ínvocat … Waren dies die geheimen Formeln, um in eine andere Welt einzudringen? Konnte man durch die Wiederholung dieser Sätze einen veränderten Bewusstseinszustand erreichen? Lagen hier die Geheimnisse der Ketzer des freien Geistes? 312
Ich musste an das Gesicht denken, das Klaus Kleinberger machen würde, wenn er vor dieser teuflischen Malerei stünde. Jemand hatte das Tafelbild von Hieronymus Bosch in diesem entlegenen Dorf in Großformat kopiert, um die alten Lehren aufrechtzuerhalten. Ich musste auch an Laura Burano denken und an die Versuche, die sie hier durchführen könnte. Ich dachte sogar an Helena. All das ging mir durch den Kopf, während ich fasziniert auf dieses Gesicht aus einer anderen Welt starrte. Doch plötzlich wurde ich mit einem Ruck zu Boden gerissen. Etwas hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Etwas Kaltes aus Eisen hatte sich durch meine Hose gebohrt und mich ins Leere gestoßen, sodass ich mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug. Die Taschenlampe war an die Wand geprallt und beleuchtete jetzt einen Stein. Im Halbdunkel konnte ich zwei Silhouetten erkennen. Eine stand ganz nah neben mir und lachte. Sie trug eine Sense in der Hand. Damit musste sie mich aufgespießt haben. Ich spürte ein warmes Rinnsal über die Wade laufen, aber ich fühlte keinen Schmerz. Die Angst war stärker. Die Angst vor der anderen großen, riesigen Gestalt, die erhaben im Eingang wartete und deren Gesicht von einer Kapuze verdeckt war. Dann hörte ich die Stimme der alten Frau: »Wer mir nicht gehorcht, wird verdammt …« Ich spürte ihre Krallen, die mich schon vor der Kathedrale in Toledo gepackt hatten. Sie bohrten sich in meine Schultern. Während ihre Haut einen ekelerregenden Gestank verströmte, sah ich, wie etwas an einem ihrer Finger aufblitzte. Dann war alles schwarz. »Jetzt geh mit den Seelen! Im ewigen Fegefeuer warten sie schon auf dich!« Es folgte höllisches Gelächter. In aller Eile schleppten sie mich fort. 313
An meinem rechten Wangenknochen fühlte ich eine kalte Steinplatte. Dann spürte ich einen dumpfen Schlag, und ein schmerzhaftes Kribbeln breitete sich über Nacken und Schulterblätter nach unten aus und schläferte alles ein. Plötzlich war ich von einem hellen Lichtkreis umgeben. Alles drehte sich. Da waren noch andere Geräusche und Stimmen. Hände schlugen auf mich ein und zerrten an mir. Von weitem hörte ich eine Sirene aufheulen. Dann zogen mich weiße trichterförmige Kreise auf die andere Seite.
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42 Fünfhundert Jahre. Genau fünfhundert Jahre nachdem Hieronymus Bosch die Brücke über die Ufer der Existenz überquerte, beginne ich meine eigene Reise. Ich durchlebe eine Szene aus einem seiner venezianischen Tafelbilder: Meine Seele steigt empor auf dem Weg zu den anderen Seelen. Ich eile ihrem Ruf nach, während ich durch den endlosen Tunnel gleite. Ich habe gespielt und verloren. Oder habe ich gewonnen? Ich halte mir die Hand vor die Augen, um nicht geblendet zu werden. Ganz weit hinten kann ich das pulsierende Licht des Lebens sehen. Das Licht vom Anfang und vom Ende. Wärme umgibt mich, und ich kauere mich mit angezogenen Knien zusammen. Die Atmosphäre ist salzig und sanft. Mein Hals ist steif nach vorn gerichtet, wie der Drachenkopf eines Wikingerschiffes. Ich kann nicht mehr umkehren. An den Seiten des kreisförmigen Schimmers tauchen plötzlich quadratische Bilder auf mit Szenen aus meinem eigenen Leben. Da bin ich. Da ist die Einsamkeit des ersten Schultages, ein Balkon, ein Frühstück mit meinen Eltern, die Sonne, die durch das Fenster scheint. Der erste Kuss. Die erste Niederlage. Alles dreht sich immer schneller, bis es zu einem stillen Streifen zusammenfließt, ohne Stimmen, aber mit Gerüchen. Es sind Gerüche der Erinnerung und der vergangenen Zeiten. Die alten Straßen aus der Kindheit, und die Vögel auf dem Fenstersims am Morgen. Ich lasse mich treiben und spüre das kalte Meer, während ich meinen Großvater sehe, der mich in den Arm nimmt, um mich vor den Wellen zu schützen. 315
Ich strecke meine Arme nach vorn und dringe wie ein Pfeil ins weiße Licht ein, von dessen Ende mich die Schatten rufen. Dann spüre ich Angst. Der Schimmer erlöscht langsam, und eine Gestalt zeigt mir ihre dunklen Handflächen. Es ist das Zeichen der Ketzer. Auf einer Seite meines Körpers, ganz in der Nähe der Leber, spüre ich, wie etwas hervorquillt. Ein Gesicht. Es ist der Kopf des »Baummenschen«. Er lacht und beobachtet mich mit seinen weißen Eieraugen. Ich spüre, wie ich nach rechts abdrifte und mit dem Rand des Tubus aus konzentrischen Kreisen verschmelze. Ich muss ins Licht der anderen Welt kommen und mich mit den Seelen vereinen. Aber ich kann nicht. Ich rudere mit den Armen. Die Luft wird dichter. Ich versinke und bin schon halb verschwunden. Dann folgt eine Szene, die nicht aus meinem Leben stammt: Pferde, Schreie, Feuer. Was hat das hier zu suchen? Etwas weiter hinten schwebt ein ungekämmter Typ mit Hakennase, glattem Schnurrbart und abwesendem Gesichtsausdruck in einem schwarzen Trenchcoat. Er erinnert mich an jemanden. Ich versuche, ihn genauer anzuschauen, aber etwas stößt mich weg. Ich spüre die eisernen Hände in den Nieren, die mich in den dunklen Bereich ziehen. Und dann bin ich in einem schwarzen Raum. Schwindel erfasst mich, wie in einem Fahrstuhl, der tausend Etagen in einer Sekunde nach unten rast. Ich spüre, wie ich falle. Das knisternde Geräusch von Flammen kommt immer näher und hüllt mich wie eine brennende Kapsel ein. Dann bin ich in einer anderen Zeitdimension. An einem Zeitpunkt der Geschichte, den ich niemals erlebt habe. Ich sehe ein Dorf, das mir dennoch vertraut vorkommt. Scheiterhaufen stehen mitten auf einem Friedhof. Und ich höre das Wiehern verschreckter Pferde. 316
»Elender Ungläubiger, Ihr wagt es, den Ort nicht preiszugeben, an dem sich das Tafelbild befindet, das der König verlangt?« Pater Atienza packt den Mann am Hals. Doch Philipp II. in seiner glänzenden Rüstung, die er bei wichtigen Anlässen zu tragen pflegt, fordert den Geistlichen auf, Ruhe zu bewahren. Benito Arias Montano, sein Bibliothekar, tritt an ihn heran und bittet um Gnade für den alten Mann, während er sich immer wieder umblickt und aus der offenen Tür der Kapelle entsetzt beobachtet, wie die gesamte Dorfbevölkerung zum Friedhof geführt wird. Dort werden drei große knisternde Scheiterhaufen von Mönchen in Kapuzengewändern geschürt. Männer, Frauen und Kinder müssen ihre Kleider ablegen. Sie lassen sich widerstandslos an die Pfähle binden. Sie wissen, dass ihr Schicksal bereits besiegelt ist. »Ketzer! Wir wissen von einem Ratgeber des Königs, dass man es vor langer Zeit hierhergebracht hat! Redet endlich!« Doch die Antwort ist Schweigen. »Wir werden all diese satanischen Werke und jeden Einzelnen von Euch dem Feuer überlassen, wenn wir das verfluchte Bild nicht mitnehmen, das Seine Majestät wünscht«, beharrt der Mönch und schlägt den Kopf des Mannes gegen die Wand der Kapelle. Der alte, bärtige Mann stöhnt auf, lehnt seinen Rücken an die Steine und hebt langsam die Arme. »Sohn des Teufels! Ihr wagt es noch, uns die schwarz angemalten Handflächen zu zeigen! Diener des Bösen! Ihr werdet sehen, wie wir dieses Land von Eurem übelriechenden Eiter reinigen!« Vom Friedhof sind Schreie zu hören. Das menschliche Fleisch knistert im Feuer. Die Steinmetze des Königs öffnen die Gräber. Im Inneren sollen die verkohlten Körper Platz finden. Danach 317
wird jede schwarze Hand auf der steinigen Oberfläche mit weißer Farbe übermalt. »Seid Ihr der geistige Führer dieser hoffnungslosen Menschen von Tinieblas? Wollt Ihr Eure Leute sterben lassen, um die Tafel zu schützen?« Schäumend vor Wut, versetzt der schweißgebadete Pater Atienza dem ausgehungerten, schweigsamen Mann mit den langen weißen Haaren einen Tritt ins Gesicht. Doch der Mann hebt ungerührt seine rechte Hand und deutet mit dem Zeigefinger auf das Fresko über seinem Kopf. Die prächtige Szene zeigt einen verzerrten grausamen Gottvater, der beim Anblick der Verdammten in der Hölle boshaft lächelt. An seiner Seite befindet sich eine weitere Gestalt. Ein Schatten aus einer anderen Welt, der versucht, den Pantokrator zu besiegen. Jetzt hebt auch Arias Montano zitternd seinen Arm und deutet auf das Buch in der Hand des Allmächtigen. Er fleht den Mann an: »Ego sum lux mundi. Ich bin das Licht der Welt! Begreift Ihr denn nicht? Gebt Euren niederträchtigen Kult der Schatten auf und bittet um die Gnade des Herrn. Quält Euch nicht länger und beichtet uns, wo sich das Tafelbild befindet. Habt Erbarmen mit den Euren!« Der alte Mann richtet seinen Blick auf den König und beginnt langsam zu sprechen: »Euer Ratgeber hat Euch nicht belogen. Wahrscheinlich war es ein Verräter, den wir an unseren Zeremonien teilnehmen ließen und der später seine Seele dem Meistbietenden verkauft hat. Das Gemälde, das Euch so sehr interessiert, wurde vor knapp hundert Jahren von einem Künstler hierhergebracht, der bei Hieronymus Bosch gelernt hat. Er sollte einen Teil des Werkes in dieses große Gewölbe kopieren. Unsere Leute lösten das Tafelbild im Gefängnis in Venedig aus, um es an einen sicheren Ort zu bringen. Mit dem Gemälde hinterließ er den Zugang zu dem, was sich jenseits des Lebens befindet. Aber Ihr werdet niemals hinter sein Geheimnis kommen.« 318
»Aber wo ist das Original? Sagt es endlich oder Ihr werdet mehr als alle anderen leiden!«, schreit Pater Atienza und stößt ihn zur Seite. »Ihr verdient dieses Wissen nicht. Ihr seid schon verflucht. Bis in alle Ewigkeit.« »Ausgeburt der Hölle! Man soll bei ihm sofort das crufixarium durchführen!«, brüllt der Mönch mit geballten Fäusten, während Philipp II., sichtlich beeindruckt von der Gelassenheit des alten Mannes, es vorzieht, die Kapelle zu verlassen. Einer der Mönche in Kapuzenkutte, die draußen die Leute zum Scheiterhaufen führen, betritt die Kapelle. In der Hand hält er ein kurzes breites Messer mit glänzender Klinge und einem schwarzen Holzgriff. Er dreht den alten Mann um und reißt ihm die Lumpen vom Leib. »O magister, imprimatur anima invocat …« Der Alte wiederholt die seltsame Litanei, die er vom Fresko abliest, bis das Messer ihn zwischen die Rippen trifft und ein perfektes Kreuz ins Fleisch zeichnet. Wie ein schwerer Sack fällt er lautlos nach vorn. »Um Gottes willen! So weit dürfen wir nicht gehen!«, ruft der Bibliothekar entsetzt. »Wir dürfen nicht in diesen bestialischen Wahnsinn verfallen, Pater!« »Schweigt und missbraucht nicht den Namen Gottes! Erinnert Ihr Euch etwa nicht, was diese Teufelsbrut mit dem Pfarrer gemacht hat?« »Ich weiß, aber wir dürfen nicht das ganze Dorf aus Rache niederbrennen. Das wird Folgen haben. Diese Spirale aus Blut und Feuer ist ein Werk des Teufels!« »Haltet den Mund! Eure Bücher haben Euch die Gedanken verunreinigt. Sie sollten verboten werden!« Arias Montano fällt immer mehr in sich zusammen. Er bricht in Tränen aus und schlägt die Hände vor das Gesicht. 319
»Der König und Ihr, mein lieber Bibliothekar, seid zu schwach. So wird man diese Satansbrut niemals vernichten!« »Pater, bitte, lasst uns das Tafelbild vergessen und von hier verschwinden. Lassen wir die Leute frei!« »Gebt nicht mir die Schuld, denn Ihr und der König wart es, die dieses verfluchte Gemälde unbedingt finden wollten. Ich führe lediglich die Befehle des Allmächtigen aus!« »Pater Atienza, Ihr wisst, wie die Glaubensdinge in Europa stehen. Was ich hier sehe, macht mir Angst.« »Seid unbesorgt. Ich weiß, was zu tun ist.« Der kleine Mönch kämmt sich das Haar über die Glatze und lacht mit stolzgeschwellter Brust. »Ich werde einen Orden gründen. Kreuzritter werden verhindern, dass diese Teufelsanbeter ihren Einfluss wiederbeleben.« »Existiert dieser Orden denn schon?« In diesem Moment wird die Holztür der Kapelle erneut geöffnet, und eine Rauchwolke aus verbranntem Fleisch dringt ins Innere und umhüllt den zerfetzten Körper des Alten, der in einer Ecke im Sterben liegt. Die beiden Ratgeber des Königs blicken unvermittelt zur Wand und der dort dargestellten Gestalt. Hatte sich der Gesichtsausdruck des Imprimatur gerade ein wenig verändert? Erschrocken weichen sie zurück. »Habt Ihr das auch gesehen?«, fragt Arias Montano zwei- oder dreimal, ohne den Blick vom Fresko abwenden zu können. »Was meint Ihr?« Doch Pater Atienza weiß es ganz genau. Das Gesicht des düsteren Wesens, das mit dem Gottvater im Gewölbe kämpft, hat einen anderen Ausdruck bekommen. Jetzt wirkt es noch viel unheimlicher als vorher. Und es schaut sie unvermittelt an. 320
»Man möge schwarze Farbe bringen und all das sofort beseitigen!«, ordnet Atienza bebend an. »Aber Ihr werdet es doch nicht wagen, den Gottvater zu übermalen? Das ist eine Todsünde!«, entgegnet der Bibliothekar, dessen Blick noch immer auf dem archaischen Gesicht haftet, das sich soeben gewandelt hat. »Lasst diesen elenden Teufel verschwinden! Schnell!«, befiehlt Pater Atienza einem bewaffneten Diener des Königs, der soeben die Kapelle betreten hat. »Hört Ihr mich nicht, Soldat?« »Ich komme in einer anderen Angelegenheit, Herr.« »Was wollt Ihr?«, erwidert Pater Atienza unwirsch. »Wir haben das Tafelbild gefunden. Es war in einem der Steingräber, auf dem eine schwarze Hand zu sehen war.« Die beiden Ratgeber stürzen hinaus. Draußen stellen sie fest, dass die Schreie noch nicht verstummt sind. Abrupt bleiben sie stehen, als sie eine fremde Stimme vernehmen. Ein Schauder läuft ihnen über den Rücken. Dann entdecken sie ihren Herrscher. »Majestät! Was ist mit Euch, Majestät? So hört doch die gute Nachricht: Wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben!« Doch Philipp II. antwortet nicht. Wie gebannt starrt er auf den letzten noch brennenden Scheiterhaufen. Im Feuer ist ein Kind zu sehen, das noch lebt. Ein Kind, das seine bereits schwarz verkohlten Hände zeigt und den mächtigsten Mann des Reiches fixiert. Das Feuer umhüllt seinen Körper, wirft es jedoch nicht um. Die umherstehenden Mönche in ihren dunklen Gewändern sind vor Erstaunen in die Knie gegangen. Niemand wagt es, auf das glühend rote Holzgeflecht zu steigen. Auch die Soldaten des Königs nicht. Aber nicht die Glut hält sie zurück. Es ist die Furcht vor dem Fluch. »Fegefeuer …!« 321
Bevor sein Kopf wie ein Stein nach hinten fällt, lacht der Junge kurz auf. Seine letzten Worte sind für alle deutlich zu verstehen, während er auf Philipp II. zeigt. »Ich werde dich auch noch im Fegefeuer verfolgen!« Danach wird alles verschwommen, aber ich höre weiter Stimmen. Ich weiß nicht, wo ich bin. Da ist wieder dieses Schwindelgefühl. Ein konstanter Pfeifton dröhnt in meinem Kopf, und ein starker eisiger Hauch umhüllt mich. Ich atme tief ein und rieche Minze.
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43 »Wir wissen noch nicht, ob er etwas hört oder fühlt. Aber lassen Sie ihn nicht spüren, wie besorgt Sie sind.« Die Stimme des Mannes verschwand, und ich sah wie durch einen Schleier zwei Frauen, die an meinem Kopfende saßen und mich anschauten. Ich konnte sie sehr wohl hören, nur bewegen konnte ich mich nicht. Es roch nach Minze, und jedes Mal, wenn ich ausatmete, sammelte sich der kalte Atem in einer Sauerstoffmaske auf meinem Gesicht. Ich sah die vielen Verbände an meinem Körper. Die Arme waren mit Nadeln und grün-weißen Kanülen übersät. An mehreren Tropfvorrichtungen hingen Beutel mit durchsichtigem Serum. Und es gab eine Menge Monitore. Die sahen so ähnlich aus wie bei meinem Freund Sergio von der Kriminaltechnik der Polizei oder wie die im Sender. Sobald der Arzt durch die Tür verschwunden war, fielen sich die beiden Frauen in die Arme und weinten bitterlich. Es waren Helena und Laura. Was war nur mit mir geschehen? Sie sprachen leise miteinander, und ich verstand ihre Worte nur, wenn ich aufhörte zu atmen und die verfluchte Atemmaschine stehenblieb. Aber wenn ich ein paar Sekunden die Luft anhielt, konnte ich deutlich hören, wie sie mit erstickter Stimme redeten. »Ich wusste es! Ich wusste, er geht wieder dort hin! Deshalb habe ich die Guardia Civil angerufen und …« Beim Versuch, die Luft so lange wie möglich anzuhalten, wäre ich fast erstickt. Ich spürte, wie schwach ich war. Nur bruchstückhaft konnte ich ihrem Gespräch folgen. »… in meinem Traum gesehen. Danach rief ich …« 323
Und so erfuhr ich von meinem Schicksal: Anscheinend war Helena in der Nacht vor meiner Fahrt nach Tinieblas etwas am Fußende ihres Bettes erschienen. Sie sah dort die Gestalt von Lucas Galván, oder glaubte zumindest, dass er es war. Doch statt sich wie vor dreißig Jahren zu fürchten, fühlte sie eine tiefe Traurigkeit und war sich plötzlich ganz sicher: Ich war in das verfluchte Dorf gefahren und würde dort vermutlich genauso sterben wie einst der argentinische Reporter. Mit dieser Gewissheit alarmierte sie die Guardia Civil in der Provinz Toledo. Die Männer fanden einen verlassenen Geländewagen mitten auf einem Feld. In einiger Entfernung entdeckten sie auf einem Friedhof einen Körper, der mit seitlich ausgestreckten Armen auf einem der Grabsteine lag. Es war mein Körper. Ich musste einen beinahe tödlichen Schlag auf den Kopf erhalten haben. Mit dem Messer hatte man mir in die rechte Niere gestochen. Aus der Wunde quoll noch immer Blut. Ich versuchte, mich bemerkbar zu machen. Und tatsächlich traten die beiden Frauen jetzt näher an mich heran. »Ob er uns sehen kann? Er hat die Augen geöffnet!« Laura Burano hielt einen Zeitungsausschnitt in der Hand. Sie bewegte ihn hin und her, während ich mich bemühte, etwas darauf zu erkennen. Schließlich legte sie ihn auf den Nachttisch. Dann wurde mir wieder schwindelig. »Aníbal, bitte, halten Sie durch!« In der Zeitung war ein Foto von Klaus Kleinberger abgebildet. Nur undeutlich erkannte ich sein rosiges Gesicht mit dem dichten Walross-Schnurrbart. Dort stand, er habe sich vom Balkon seines Arbeitszimmers gestürzt. Ich konnte noch folgende Passage lesen: … Selbstmord nachdem Diebe einen wertvollen Druck stahlen, den der Experte gerade erstanden hatte. 324
Nein! Ich spürte meine Wunden am ganzen Körper, als ob Dämonen mich mit tausend Höllenlanzen durchbohrten wie in den Bildern von Hieronymus Bosch. Meine Glieder zuckten wie bei einem Krampf. Ein schwarzer Schleier legte sich über meine Augen. »Der Puls ist angestiegen. Schwester, erhöhen Sie die intravenöse Dosis auf zweihundert Milligramm!« »Bitte, Herr Doktor, wir sind alle sehr erschrocken. Es passieren Dinge, die …« »Verzeihen Sie, Señora«, sagte der Arzt zu Helena, »aber das erzählen Sie besser alles der Polizei. Wir können nur über den Gesundheitszustand des Patienten wachen und ihn am Leben halten.« Offenbar war ich dreiundfünfzig Minuten dem Tode näher gewesen als dem Leben. Da meine Augen immer noch nichts wahrnahmen, hatte ich Angst, zu erblinden. Ich wollte schreien, um mich mitzuteilen, doch keiner schien mich zu bemerken. Ich hörte nur meine Atmung und nahm den Geruch von Minze wahr. »Wie sollen wir ihm bloß das von Sebastián beibringen?«, fragte die immer ferner klingende Stimme von Laura Burano. Und dann erfuhr ich an jenem Nachmittag auf Station neun im Krankenhaus von Toledo, dass nicht nur Klaus Kleinberger in die Tiefe gestürzt war, nachdem jemand wie ein Schatten durch sein Fenster gestiegen war. Auch mein enger Freund, der Verleger Sebastián Márquez, war in einer Ecke seiner Werkstatt ermordet aufgefunden worden. Es war in der Nacht geschehen, in der ich ihn zuletzt gesehen hatte. Anscheinend hatte er die Polizei nicht mehr rechtzeitig anrufen können. Oder die Unbekannten waren früher 325
aufgetaucht als sonst. Man hatte ihn durch vier Stichwunden im Rücken auf der Höhe der Nieren verletzt, und er war schließlich verblutet. Die Einbrecher hatten auch seine Radierung gestohlen. Davon wussten aber nur Helena und Laura. Die beiden Frauen waren durch die doppelte Tragödie Freundinnen geworden. Nach Kleinbergers Unfall und der Ermordung von Sebastián am gleichen Abend hatte die italienische Restauratorin stundenlang versucht, mich telefonisch zu erreichen. Schließlich war sie nach Madrid geflogen und hatte dort von meinem Unfall in Tinieblas erfahren. Im Wartesaal der Klinik von Toledo lernte sie Helena kennen, während ich im Koma lag. Etwas, das Helena jetzt sagte, ließ mich plötzlich aufhorchen: »Und auf der Tür der Werkstatt waren also weiße Hände?« Laura bejahte und erklärte, sie selbst habe die Farbe mit Alkohol entfernt. Es seien große Hände gewesen, die mit weißer Farbe oder Kalk auf der kleinen Tür hinterlassen worden waren. »Wir sollten uns jetzt besser von ihm verabschieden.« Ich spürte Helenas Hand auf meinem Arm. Bis dahin hatte ich gar nichts spüren können, doch jetzt fuhren ihre warmen Finger vorsichtig über meine Hand und meinen Unterarm. Die beiden schienen mich für sterbenskrank zu halten. Da hörte ich, wie ein Mann hereinkam und etwas sagte, das mich in Angst und Schrecken versetzte: »Ich muss Sie nun bitten zu gehen. Der Patient soll jetzt die Letzte Ölung erhalten. Darum wird sich der Pfarrer der San-Pedro-Mártir-Kirche persönlich kümmern. Er hat sehr darauf bestanden und wird sicher gleich hier sein. Sonst sollte niemand dabei sein. Nicht einmal die Ärzte.« Ich wollte schreien, mich auf den Boden werfen, die Arme ausbreiten. Aber ich konnte nicht. Da war nur dieser Schmerz in der Brust.
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Pater Aquilino Moraza! Er hatte mich belogen und die ganze Zeit über versucht, mich von dieser Geschichte abzubringen. Er hatte mich in das Diözesanarchiv geschickt, wo man mich beinahe umgebracht hätte. Er war der vermummte Mönch, der an jenem Nachmittag sein Gesicht unter der Kapuze verborgen hielt und mich in dem Zimmer mit den Akten zum Schweigen bringen wollte. Und er war es, den ich als Letztes in der Kapelle in Tinieblas gesehen hatte, als er in seiner wehenden Soutane hinter mir stand. Plötzlich sah ich es ganz deutlich vor mir. Und dieser Mann war gerade auf dem Weg zu mir … »Wer sind Sie? Sie dürfen da nicht …!« Ich hörte einen dumpfen Schlag. Unmittelbar darauf fiel ein Körper zu Boden. Dann näherten sich Schritte. Schritte von mehr als einer Person. Ich wollte mir die verfluchte Atemmaske herunterreißen, mich von den Verbänden und Kanülen befreien und weglaufen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Es dröhnte in meiner Brust wie eine Trommel und übertönte anscheinend noch das Piepen der Maschine. »Heilige Jungfrau Maria …« Morazas heisere Stimme kam jetzt näher. Weiter entfernt vernahm ich ein bekanntes Gelächter. Es war die unverwechselbare Lache der alten Frau. Ich hörte, wie sie einen Stuhl ans Bett schob, damit der Priester sich hinsetzen konnte. Dann spürte ich den eisigen Atem der Alten an meinem Hals. Mit ihrem Kopf konnte sie gerade das Kissen erreichen. Ich zitterte am ganzen Körper. Und was ich dann hörte, als ich dort blind und bewegungsunfähig im Bett lag, ließ mich nur schwer weiteratmen. »Wir wollen dir unsere besonderen Sterbesakramente darreichen. Meine treue Verbündete wird die Arbeit zu Ende bringen. Für sie war es einfach, über die Feuerleiter heraufzusteigen, ohne gesehen zu werden. Und mich wird 327
niemand verdächtigen, wenn man dich mit dem heiligen Zeichen auf dem Rücken findet, mein lieber Freund. Wir haben alles gut durchdacht.« Ich hörte zwei Metallteile aneinanderschlagen. Da fiel mir der Ring ein, den ich am Finger der Alten gesehen hatte, und der seltsame alte Siegelring, den Moraza trug. Wieso war mir diese Verbindung nicht früher aufgefallen? »Auch die Signorí di Notte waren bestens organisiert. Doch das Glück hat euch im letzten Moment in den pozzi in Venedig gerettet. Ein Jammer. Daher mussten wir unser Vorgehen ändern und uns jeden von euch einzeln vornehmen. Die beiden anderen haben es uns nicht sonderlich schwer gemacht.« Ich hörte das schneller werdende Piepen der Maschine, die meinen Herzschlag angab, und vertraute darauf, dass irgendein Arzt oder eine Krankenschwester kommen würde, um mich noch zu retten. »Um die Wahrheit zu sagen, hat Lucas Galván uns das Leben etwas schwerer gemacht. Er glaubte an die Ketzerlehren und musste natürlich dafür bezahlen. Seitdem wir diesen armen Historiker in den dreißiger Jahren hingerichtet haben, der die verborgene Botschaft im Garten der Lüste entdeckt hatte, war jahrelang alles ruhig geblieben. Dennoch versuchen die Brüder und Schwestern des freien Geistes nach wie vor an die Bilder des teuflischen Malers zu kommen, um sie wieder in ihrer ursprünglichen Macht zu vereinen. Dafür setzen sie sogar ihr Leben aufs Spiel!« Einen Moment lang schwieg der Priester. Dann befahl er der Alten plötzlich, sich zu verstecken. Ich hörte, wie die Tür leicht geöffnet und wieder geschlossen wurde. Die festen Schritte kehrten an mein Bett zurück. »Galván zu töten war sogar ziemlich unterhaltsam. In seiner letzten Nacht auf dem Friedhof sah er Dinge, die er sich gar nicht vorstellen konnte. Von hinten erhielt er den Todesstoß. Er 328
fiel der Länge nach auf den Bauch. Das Entsetzen stand noch in seinen Augen. Es war reinste Gottesfurcht.« Ich hörte, wie ein Messer aus der Scheide gezogen wurde, und da war auch wieder die Lache der Alten. Mit kurzen Schritten näherte sie sich aus der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers. Jetzt sollte sie ihr Werk vollenden. »Den argentinischen Reporter am Leben zu lassen wäre einfach zu gefährlich gewesen. Deshalb haben wir ihn in den Wahnsinn getrieben. Mit nächtlichen Telefonanrufen, Drohungen, falschen Fährten. Ihr Journalisten seid wirklich leichte Beute. Willst du die Stimme nochmal hören, die dich die ganze Zeit verfolgt hat?« Moraza lachte, und dann sagte die Alte das Wort »Fegefeuer«. Es war die gleiche markerschütternde Stimme, die ich auf dem Friedhof mit dem Tonbandgerät aufgenommen hatte und die später von der Mobilbox meines Handys zu hören war. »Als Herren der Nacht«, fuhr der Priester amüsiert fort, »befolgen wir treu die Weisungen unseres ehrwürdigen Meisters, Pater Atienza, der nach dem Brand in El Escorial wegen dieser verfluchten Bilder zu Unrecht verstoßen wurde. Man hat ihn wie einen Verrückten behandelt. Er schwor, einen Orden zu gründen, um den Tod des Königs zu rächen. Ja, er hat die Gefahr erkannt, in der die Menschheit damals schon schwebte, und den wahren Glauben verteidigt!« Moraza war jetzt ganz nah an mein Gesicht herangekommen. Ich konnte seinen rauchigen Atem spüren, der mir in den Augen brannte. »Philipp II., der Vorkämpfer der Christenheit, starb verflucht. Der letzte Ketzer, der auf dem Friedhof in Tinieblas verbrannt wurde, hat ihn verdammt. Seitdem geht der Kampf erbarmungslos weiter.« Plötzlich zerrten sie mir die Verbände, Sonden und Kanülen vom Leib und rissen mir dabei die Wunden auf. Die Schmerzen 329
waren unerträglich. Eine Flüssigkeit, bei der ich nicht wusste, ob es mein Blut oder ein Serum war, lief mir über die Unterarme. Ich fühlte mich wie eine Marionette in ihren Händen, die mich jetzt mit ihren geschickten Krallen auf den Bauch drehten. »Ich habe dich schon bei unserem ersten Gespräch gewarnt. Die Reportage lohnte sich nicht. Denn die Geschichte wird von uns geschrieben, und niemand wird sie ändern. Niemand darf unseren Plan durchkreuzen. Wie viele andere bist du dem ketzerischen Ruf gefolgt. Du bist in die Vergangenheit vorgedrungen und hast nicht begriffen, dass es ein Kampf zwischen Gut und Böse ist, den wir bestreiten. Und wir sind die Guten! Die Ketzer versuchen durch heidnische Riten Verbindung mit einer anderen boshaften Wirklichkeit aufzunehmen. Sie wollen die Menschen verführen! Ihre unvollkommenen Seelen suchen Menschen wie dich auf, die ihre falsche Wahrheit ans Licht bringen könnten, um die Geschichte neu zu schreiben. Das ist ihre Aufgabe. Wir sollen als Lügner hingestellt werden. Gelegentlich überbringen sie eine Botschaft, aber wir sorgen dann dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. Damit keiner Fragen stellt. Damit niemand es wagt, unsere Gebote zu hinterfragen. Damit alles so geschieht, wie der gerechte Gott es vorsieht.« Plötzlich war meine Angst verschwunden. Ich wusste jetzt, welches Schicksal mich erwartete. Ich spürte, wie die Spitze des Messers durch meine Wunde auf der Seite ins Fleisch drang. Eine Hand mit langen Fingernägeln hielt meinen Kopf fest. Dann hörte ich, wie Moraza anfing zu beten. »In nomine patris et filii …« Seine Stimme entfernte sich langsam, und ich hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss. Plötzlich schien auf dem Flur Chaos auszubrechen. Ich vernahm Schreie. »Stehen bleiben oder ich schieße!« 330
Ich hörte den Satz mehrmals. Dann fiel ein Körper krachend zu Boden. Ich wollte schreien, doch das war unmöglich. Ich fühlte mich immer schwächer, immer leichter, auf dem Weg ins unendliche Nichts.
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44 Eine Woche später erwachte ich aus dem Koma. Als Erstes sah ich einen Sonnenstrahl, der durch das Fenster auf die weißen Wände schien. Zunächst dachte ich, ich sei wieder in dem Lichttunnel auf dem Weg zur anderen Seite. Aber so war es nicht. Ich war wieder zurückgekehrt. Nach einem Monat wurde ich entlassen, obwohl ich mich auch heute noch erholen und viel liegen muss. Mit Helena spreche ich nur selten. Zu viel war in der langen dunklen Zeit geschehen, die ich im Krankenbett im Zimmer 901 verbracht hatte. Im Zuge der Expansion ihrer mächtigen Verlagsgruppe war sie in die USA gezogen. Eine einmalige Gelegenheit. Sie wollte diese finstere Geschichte vergessen und wieder in die glamouröse Welt der Mode eintauchen. Laura Burano kündigte ihren Job und ging nach Holland, um dort eine private Restaurationsfirma zu gründen. Auch sie wollte alles vergessen und so schnell wie möglich die düsteren pozzi verlassen. Sie rief mich an, als sie durch Herzogenbusch kam. Das Geburtshaus von Hieronymus Bosch stand immer noch dort, wo einst das große Feuer gewütet hatte. In diesen Tagen streife ich manchmal durch den Prado und bleibe vor dem Gesicht des »Baummenschen« stehen. Und wenn mich niemand beobachtet, stelle ich ihm Fragen. Ich versuche, so lange wie möglich ganz still zu stehen, und hoffe, eines Tages die Antworten zu bekommen, auf die ich noch warte. Aquilino Moraza war bei einem aufsehenerregenden Einsatz im Krankenhaus festgenommen und kurz darauf in eine psychiatrische Strafanstalt am Rande der Provinz eingewiesen worden. Wenige Tage später hatte er sich mitten in der Nacht erhängt. Die Zeitung La Tribuna widmete seinem Tod eine 332
Kurzmeldung auf der gleichen Seite, wo dreißig Jahre zuvor die Nachricht über Lucas Galván erschienen war. Allerdings erfuhr niemand, was mir der Gerichtsmediziner Baltasar Trujillo verriet: Unter der Soutane war auf dem weißen knielangen Unterhemd des Geistlichen der Abdruck einer schwarzen Hand zu sehen. Es war eine Kinderhand. Von der höllischen Alten, die mich durch das crufixarium ins Jenseits befördern sollte, fehlt jede Spur. Sie muss aus dem Krankenhaus geflohen sein wie eine giftige Schlange, die irgendwo hindurchgeschlüpft ist. Durch das Fenster, durch die Tür, über die Feuertreppe … Vielleicht schreibe ich deshalb dieses Buch. Weil ich weiß, dass der Kampf weitergeht. Und weil ich das ans Licht bringen will, was wir alle – einschließlich meiner lieben toten Freunde – in diesen Wochen herausgefunden haben. Wir mussten alle einen hohen Preis dafür zahlen. Auch meine Wunden verheilen nur langsam. Ich habe sechsundzwanzig Stichwunden an einer Seite meines Körpers. Aber ich kann laufen und auch wieder sehen. Und ich kann wieder ruhig schlafen. Einmal noch bin ich nach Tinieblas de la Sierra zurückgekehrt. Auf das einsame Grab, das eigentlich für mich bestimmt war, habe ich drei Blumen gelegt: in Erinnerung an Lucas, Sebastián und Klaus.
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ANHANG Wahr ist, dass … … Hieronymus Bosch in Venedig die Visionen aus dem Jenseits malte. Zwischen 1500 und 1504 besteht tatsächlich eine rätselhafte Lücke in seinem Lebenslauf, auch über die Umstände seines Todes ist nichts bekannt. … Philipp II. in seiner Todesstunde verlangte, dass alle Bilder von Hieronymus Bosch in seinem Schlafgemach aufgestellt werden. … die Signori di Notte eine Einheit der Inquisition waren, die in den pozzi des Dogenpalastes zahllose Ketzer folterte und hinrichtete. … große Spezialisten und Kunsthistoriker wie der Deutsche Wilhelm Fraenger den Zusammenhang zwischen dem niederländischen Maler und den Adamiten zweifelsfrei hergestellt haben und einige seiner größten Werke – zum Beispiel Der Garten der Lüste – auf Aufträge des Großmeisters dieser Sekte zurückführen. … Jakob von Almaigen wirklich existiert hat. Er war der Großmeister der Glaubensgemeinschaft des freien Geistes in Herzogenbusch und hat Boschs Werk entscheidend beeinflusst. … tatsächlich versucht worden ist, zahlreiche Bilder von Hieronymus Bosch zu stehlen. 334
… die Brüder und Schwestern des freien Geistes sich in manchen Dörfern in Spanien niederließen. Einige Mitglieder dieser Gemeinschaft wurden in der Provinz Toledo in Gegenwart von König Philipp II. lebendig verbrannt.
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