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»Zerreiß das Cellophan. Geh meilenweit durch die Wüste des Aberwitzes. Kletter auf die Pyramide. Heul den Mond an! « Mit »Buntspecht« liegt jetzt endlich der zweite Roman des amerikanischen Kultautors Tom Robbins in deutscher Übersetzung vor. Dieses Buch offenbart den Widerspruch zwischen sozialem Engagement und individueller Romantik, die Frage nach dem Zweck des Mondes, den Unterschied zwischen einem »Outlaw« und einem Allerweltsbanditen, kurz: das Problem der Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts. Daß es bei alldem auch um das Problem der Rothaarigen geht, sollte hier nicht vorenthalten werden.
Tom Robbins erblickte das (Mond-)Licht dieser Welt zum erstenmal im Jahre 1936. Von Geburt Südstaatler, fühlt er sich aber eher dem Planeten Argon zugehörig. Er lebt im Regengebiet nördlich von Seattle, USA, und verbringt seine Tage damit, herauszukriegen, was jener englische Kritiker im Sinn hatte, als er meinte: »Tom Robbins schreibt so wie Dolly Parton aussieht.«
TOM ROBBINS
BUNTSPECHT So was wie eine Liebesgeschichte
Aus dem Amerikanischen von Thomas Lindquist
ROWOHLT
75. - 81. Tausend April 1993 Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Mai 1983 Copyright © 1983 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Die Originalausgabe erschien 1 980 unter dem Titel »Still Life With Woodpecker« by Bantam Books, Inc., New York Copyright © 1980 by Tom Robbins Copyright Umschlagentwurf © 1980 by Leslie W. LePere Umschlagtypographie: Dieter Wiesmüller Foto des Autors: Chester Simpson Redaktion: Eberhard Naumann Alle deutschen Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Sabon (Linotron 404) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany s/k/l: rydell 990-ISBN 3 499 151480
Keith Wyman und Betty Bowen zum Gedenken: wenn es einen Ort gibt, den die Menschen nach ihrem Tode bevölkern, so haben dessen Besitzer mit diesen beiden alle Hände voll zu tun. All denen gewidmet, deren Briefe ich nie beantwortet habe. Für G. R., Sonderzustellung.
Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden. Franz Kafka
Und hierhin müßte ein Bild meines Lieblingsapfels. Akt & Flasche sind darin verborgen. Eine ganze Landschaft ist darin verborgen. Es geht nichts über Stilleben. Erica Jong
PROLOG Falls diese Schreibmaschine es nicht schafft, nun, zum Teufel, dann ist es nicht zu schaffen. Dies ist eine brandneue Remington SL3, die Maschine, die die Frage beantwortet: »Was ist schwerer, die Brüder Karamasov lesen zu wollen, während man Stevie Wonder-Platten anhört, oder auf den Tasten einer Schreibmaschine nach Ostereiern zu suchen?« Diese Maschine ist die Kirsche auf dem Cowgirl. Die Frikadelle, die dir von der Genie-Kellnerin serviert wird. Die Kaiserin-Karte. Ich spüre, daß der Roman meiner Träume in dieser Remington SL3 steckt – auch wenn sie viel schneller schreibt, als ich buchstabieren kann. Und ungeachtet der Tatsache, daß mein Tippfinger vorige Woche von einer riesigen Landkrabbe gezwickt wurde. Die Kleine spricht beim leisesten Anstoß elektrischen Shakespeare und rattert eine Seite runter, wenn man sie nur mal scharf ansieht. »Was erwarten Sie denn von einer Schreibmaschine?« fragte der Verkäufer. »Etwas mehr als Wörter«, antwortete ich. »Kristalle. Ich möchte meinen Lesern Armladungen von Kristallen schicken, manche davon in den Farben von Orchideen und Päonien, andere mit der Gabe, Funksignale aus einer verborgenen Stadt zu empfangen, die halb Paris, halb Coney Island ist.« Er empfahl die Remington SL3.
Meine alte Schreibmaschine hieß Olivetti. Ich kenne einen außergewöhnlichen Jongleur namens Olivetti. Weder verwandt noch verschwägert. Und doch gibt es eine Ähnlichkeit zwischen dem Jonglieren und dem Dichten auf einer Schreibmaschine. Wenn man einen Schnitzer macht, tut man so, als gehöre er zum Kunststück, das ist der Trick. In meinem Schrank, fest hinter Schloß und Riegel, habe ich die letzte Flasche Anaïs Nin (green label), die vor der Revolution aus Punta del Visionario herausgeschmuggelt wurde. Heut abend werde ich ihr den Korken ziehen. Ich werde zehn Zenti davon in eine reife Limone spritzen, wie es die Eingebornen tun. Ich werde saugen. Und anfangen … Wenn diese Schreibmaschine es nicht schafft, ich schwör’s, dann ist es nicht zu schaffen.
1. Phase
1 Im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, einer Zeit, in der die westliche Zivilisation zu rasch zur Neige ging, um es sich Wohlsein zu lassen, und doch wieder zu langsam, um richtig aufregend zu sein, hockte fast alle Welt auf der Kante eines immer teurer werdenden Theatersessels und wartete – je nach persönlicher Neigung – in Furcht, Hoffnung oder Langeweile darauf, daß etwas Bedeutsames passierte. Daß etwas Bedeutsames passieren mußte war klar. Schließlich konnte sich nicht das gesamte kollektive Unbewußte darin irren. Aber was würde es sein? Und: würde es Apokalypse oder Erneuerung bedeuten? Die Kur gegen Krebs oder den nuklearen Knall? Eine Veränderung des Wetters oder eine Veränderung im Meer? Erdbeben in Kalifornien, Killerbienen in London, Araber an der Effektenbörse, Leben aus dem Reagenzglas oder ein UFO auf dem Rasen des Weißen Hauses? Würde der Mona Lisa ein Schnurrbart sprießen? Würde der Dollar Pleite machen? Christliche Enthusiasten des Szenariums von der Wiederkehr des Herrn waren überzeugt, daß nach einem bangen Intervall von zweitausend Jahren bald auch der andere Schuh fallen würde. Und fünf der bekanntesten Spiritisten jener Zeit, die sich im Chelsea Hotel versammelt hatten, sagten voraus, daß Atlantis bald wieder aus den Fluten auftauchen würde.
Hierzu meinte Prinzessin Leigh-Cheri: »Es gibt zwei verlorene Kontinente … einer von ihnen war Hawaii, genannt Mu, die Mutter; seine Gipfel ragen noch immer in unsere Sinne: es ist das Land von Slap Dance, Fischermusik, Blumen und Glück. Es gibt drei verlorene Kontinente … Einer von ihnen sind wir: die Liebenden.« Was immer man von Prinzessin Leigh-Cheris Gedanken über die Geographie halten mochte, man mußte ihr zustimmen, daß das letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts eine rauhe Zeit für Liebende war. Es war eine Zeit, da Frauen sich offen gegen die Männer empörten, eine Zeit, da Männer sich von einer Frau verraten fühlten, eine Zeit, da es den romantischen Beziehungen so erging wie dem Eis im Frühling und viele Kindlein auf zerklüfteten und ungastlichen Schollen strandeten. Niemand wußte mehr etwas mit dem Mond anzufangen.
2 Lassen Sie uns eine gewisse Nacht im August betrachten. Prinzessin Leigh-Cheri starrte aus ihrem Dachbodenfenster. Der Mond war voll. Der Mond war so aufgeschwemmt, daß er jeden Moment umzukippen drohte. Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf und finden den Mond bäuchlings auf dem Boden Ihres Badezimmers liegen, wie Elvis Presley selig, vergiftet durch Banana Splits. Es war ein Mond, der eine Muh-Kuh zu wilder Leidenschaft aufwühlen konnte. Ein Mond, der den Teufel in
einem Hoppelhäschen erwecken konnte. Ein Mond, der lug nuts in Mondsteine, Rotkäppchen in den großen bösen Wolf verwandeln konnte. Mehr als eine Stunde lang starrte LeighCheri in das Himmels-Mandala. »Hat der Mond einen Zweck?« erkundigte sie sich dann bei Prince Charming. Prince Charming tat so, als habe sie eine törichte Frage gestellt. Vielleicht hatte sie das. Die gleiche Frage an die Adresse der Remington SL3 gerichtet, entlockte dieser die folgende Antwort: »Albert Camus hat geschrieben, die einzig ernste Frage sei, ob man sich umbringen soll oder nicht.« Tom Robbins hat geschrieben, die einzig ernste Frage sei, ob die Zeit Anfang und Ende hat. Camus ist eindeutig mit dem falschen Fuß aus dem Bett gestiegen, und Robbins muß vergessen haben, den Wecker zu stellen. Es gibt nur eine ernste Frage. Und die lautet: Wer kann die Liebe bleiben machen? Beantworten Sie mir dies, und ich will Ihnen sagen, ob Sie sich umbringen sollen oder nicht. Beantworten Sie mir dies, und ich will Sie über Anfang und Ende der Zeit beruhigen. Beantworten Sie mir dies, und ich will Ihnen verraten, welchen Zweck der Mond hat.
3 Historisch gesehen, haben sich die Angehörigen von LeighCheris Klasse nicht gerade oft verliebt. Sie verbanden sich für Macht und Reichtum, für Tradition und Erben und überließen die »wahre Liebe« den Massen. Die Massen hatten eh nichts zu verlieren. Jetzt aber schrieb man das letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, und mit Ausnahme einiger wilder Hanswurste in Afrika hatte sich der Hochadel dieser Welt seit langem mit der Tatsache seiner sterblichen, wenn auch nicht gänzlich demokratischen Dimensionen abgefunden. Leigh-Cheris Familie war dafür ein treffendes Beispiel. Der König hatte, seit er vor mehr als dreißig Jahren ins Exil ging, das Glücksspiel zu seinem Beruf gemacht. Poker war seitdem sein Tagewerk. Unlängst jedoch hatte er Bekanntschaft mit der Chirurgie am offenen Herzen gemacht. Eine der großen Herzklappen war entfernt und gegen ein Teflon-Ersatzteil ausgewechselt worden. Die künstliche Klappe funktionierte ganz ordentlich, machte aber beim Öffnen und Schließen ein metallisches Geklapper. Wenn der König in Erregung geriet, kriegte das jeder im Raum sofort mit. Bedingt durch das Geräusch seines Herzens, war es ihm nicht mehr möglich, das Pokern auszuüben, ein Spiel, bei dem es nicht ohne Bluff und Verstellung abgeht. »Jesus«, sagte er. »Wenn ich ein gutes Blatt in die Hand bekomme, hört sich das an wie eine Tupperware-
Party.« Er verbrachte seine Stunden damit, das Sportgeschehen im Fernsehen zu verfolgen, und klammerte sich an die guten alten Tage, als er einen Football-Star wie Howard Cosell an die Garotte hätte befehlen können. Seine Frau, die Königin, einst Schönste von sieben Metropolen, litt an Reizmangel und Übergewicht. In Amerika hatte sie an so vielen zweitklassigen Tee-Partys, Wohltätigkeitsmodeschauen, an Dies-Galas und Das-Galas teilgenommen, daß sie angefangen hatte, eine Art Pâte de foie gras-Gas abzusondern, und der Rückstoß dieser Ausdünstung trieb sie von Party zu Ball weiter, als wäre sie eine von Wagner aufgeblasene Wurstpelle. Ohne eine Hofdame, ihr beizustehen, benötigte sie zwei Stunden, um sich anzukleiden, und da sie dreimal täglich die Garderobe wechselte, lief das Drapieren, Schmücken und Bemalen ihrer Körpermasse auf einen Fulltime-Job hinaus. Seit langem hatte die Königin ihren Mann an die Röhre und ihre Tochter an den Dachboden verloren. Ihre Söhne (sie wußte kaum noch, wie viele es eigentlich waren) lebten über ganz Europa verstreut und waren – in endlose finanzielle Abenteuer vorwiegend finsterer Natur verwickelt – für sie längst verloren. So blieb ihr nur ein Vertrauter: ein Chihuahua, den sie an ihren Busen drückte. Auf die Frage, was er vom letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts erwarte, hätte der König wahrscheinlich erwidert: »Heute, da es nicht mehr vernünftig ist, auf die Wiederherstellung der Monarchie zu hoffen, habe ich nur noch den sehnlichen Wunsch, daß die Seattle Mariners den Wimpel holen, die Seattle Sonics die Endrunde der NBA erreichen, die Seattle Seahawks zum Super Bowl einziehen und daß die Stadionreporter durch Sir Kenneth Clark ersetzt werden.«
Die gleiche Frage, an die Königin gerichtet, hätte folgende Reaktion hervorgerufen: »Oh-oh, Spaghetti-O.« (Das war ihr Lieblings-Amerikanismus.) »Wass kaan man errwarten von verrickte Leute? Ich bin nur glicklich, daß mein Vadder und Mamma in därr Himmel sind und nicht mießen leiden an keine stinken moderne Zeiten. Sacre bleu! Ich tu meiner Pflicht für derr Krone und dass ist dat.« Die Königin hatte ihr Englisch in sieben Metropolen gelernt. Auf einem zerschlissenen aber üppigen Kasanteppich neben einer baldachinbespannten Barke von einem Bett beugte die Königin allabendlich ihre Knie, die großen Kaugummiklumpen glichen, und betete für die Errettung der Krone, die Gesundheit ihres Chihuahua, das Wohl der Grand Opera und nicht viel mehr. König Max stahl sich allabendlich in die Küche und aß dort löffelweise Salz und Zucker, beides Dinge, die die Ärzte aus seiner Diät verbannt hatten. »Was diese königliche Familie so verkorkst hat, ist mehr als fünf Jahrhunderte der Inzucht«, dachte Prinzessin Leigh-Cheri, die von Klatschkolumnisten kürzlich als »abgedankte Cheerleaderin«, als »mondsüchtige Sozialaktivistin« charakterisiert worden war, als »tragische Schönheit, die auf einem Dachboden die Einsamkeit sucht«. »Diese Familie hat den Letztes-Viertel-des-zwanzigstenJahrhunderts-Blues.«
4 Als Exilpalast diente den Furstenberg-Barcalonas, so hießen sie tatsächlich, ein geräumiges, dreigeschossiges gelbes Fachwerkhaus am Ufer des Puget Sound. Das Haus war 1911 für einen Holzbaron aus Seattle erbaut worden, der aus lauter Abscheu vor den Türmchen, Kuppeln und Mansardengiebeln, wie sie die Neue-Welt-Gotik der Ritterschlösser seiner Standesgenossen zierten, »ein amerikanisches Haus, ein Haus ohne Kinkerlitzchen« in Auftrag gegeben und genau das bekommen hatte: eine Scheune, ein Kasten mit einem spitzen Dach. Inmitten vier Hektar Brombeersträuchern stand es da wie eine verlassene Funkstation und morste sein Knarzen und Seufzen in den Regen. Dieses Haus also war Max und Tilli von dem CIA geschenkt worden. Die Heimat der Furstenberg-Barcalonas wurde mittlerweile von einer rechtslastigen Junta beherrscht, mit Unterstützung der Regierung der Vereinigten Staaten und natürlich der römischkatholischen Kirche. Die US-Öffentlichkeit bedauerte zwar, daß die Junta so wenig bürgerliche Freiheiten zuließ, war jedoch abgeneigt, sich in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Landes einzumischen, eines Landes vor allem, auf das man als Bündnispartner gegen jene linkslastigen Länder rechnen konnte, in deren innere Angelegenheiten die USA sich regelmäßig einmischten. Die USA zeigten sich beunruhigt, daß Max
und Tilli, nach wie vor treu ergebene Royalisten, die politische Stabilität in diesem Teil der Welt ins Wanken bringen könnten. Um die Form zu wahren und keine Flammen zu schüren, zahlten die USA König Max eine bescheidene Pension. Zu Weihnachten sandte der Papst Königin Tilli Jahr für Jahr ein Kruzifix, eine Kerze oder sonstwelchen, von ihm persönlich geweihten Schnickschnack. Einmal benutzte Prinzessin Leigh-Cheri eine päpstliche Kerze zum Zwecke der Selbstbefriedigung. Sie hatte gehofft, im entscheidenden Augenblick vom Lamm oder dem Tier heimgesucht zu werden, aber wie üblich erschien ihr nur Ralph Nader.
5 Falls der CIA sich eingebildet haben sollte, Max und Tilli Furstenberg-Barcalona würden vor lauter Begeisterung über soviel Gastfreundschaft aus ihren monogrammbestickten Socken kippen, so war das eine Fehlanzeige mehr. Zwar hatte sich das Königspaar in den ersten zehn Jahren seines Aufenthaltes nie über das schäbige alte Herrenhaus beklagt, aus Furcht, die Bude sei verwanzt; in späteren Jahren jedoch – mit fortschreitendem Alter schamlos geworden (wie der Lachs, scheint auch die Keckheit der Kindheit zu ihrem Ursprung zurückzukehren) – meckerten sie nach Herzenslust. Der König stand gemeinhin (während der Halbzeit oder der seventh-inning Stretch) am Fenster und starrte besorgt auf die
kriechende Brombeerflut. »Ich bin vielleicht der erste Monarch in der Geschichte, der von Brombeeren ermordet wird«, murrte er dann. Seine Teflonklappe fiel in sein Murren ein. Die Königin liebkoste ihren Chihuahua. »Weißt du, wer hier lebte vor untz? Smokey derr Bär.« Jeder Versuch Leigh-Cheris, ihre Eltern zum Umziehen zu ermutigen, blieb vergeblich. Max, ein großer, pferdegesichtiger Mann mit einem Hitlerbärtchen, schüttelte seinen Kopf so heftig und so lange, daß, hätte er seine Krone getragen, diese heruntergepurzelt und in die Beerenranken gekollert wäre. »Am Tisch die Plätze zu vertauschen, betrügt die Karten nicht«, sagte er. »Umziehän? Ich hab drei Tees diese Wochä«, sagte Königin Tilli. »Nein! Ich vergessen. Ich hab vier Tees. Oh-oh, SpaghettiO.« Wie ein in einem spanischen Songbuch gefangenes Pärchen von 'r's lungerten Tilli und Max in ihrem Schuhschachtelschloß und warteten darauf, gerollt zu werden.
6 Die Prinzessin wohnte auf dem Dachboden. Schon als Kind war das ihr Lieblingsspielplatz gewesen. Es war heimelig und gemütlich dort oben. Besonders die niedrige schräge Decke hatte es ihr angetan und das völlige Fehlen von wappenverzierten Tapeten. Sie liebte den Blick aus den beiden
Dachbodenfenstern: nach Westen hin sah man den Puget Sound, im Osten lagen die Cascade Mountains. Ein Berg hatte es ihr ganz besonders angetan, ein weißer Sporn, breit und wolkenrammend, der beinah das ganze Ostfenster ausfüllte, es sei denn, der Ausblick wurde von Nebel oder Regen verdüstert. Der Berg hatte einen Namen, aber Leigh-Cheri konnte sich nie daran erinnern. »Es ist ein indianischer Name, glaube ich.« »Tonto?« fragte die Königin. Mittlerweile waren die Fenster schwarz bemalt – bis auf eine einzige kleine Scheibe, durch die die Prinzessin gelegentlich ein Eckchen vom Mond empfangen konnte. Die Prinzessin wohnte auf dem Dachboden, ohne ihn jemals zu verlassen. Sie hätte ihn verlassen können, aber sie zog vor, es nicht zu tun. Sie hätte die Fenster hochschieben oder die Farbe abkratzen können, aber sie zog vor, auch das nicht zu tun. Die Fenster vernageln und schwarz anmalen zu lassen, war ihre Idee gewesen. Der Dachboden wurde von einer Vierzig-Watt-Birne beleuchtet. Auch das war ihre Idee gewesen. Darüber hinaus hatte die Prinzessin den Dachboden selbst möbliert. Die Dachbodenmöblierung bestand aus einem Feldbett, einem Nachttopf und einer Packung Camel-Zigaretten.
7 Einst hatte Leigh-Cheri, wie so manch andere junge Frau auch, im Haushalt ihrer Eltern gelebt. Sie hatte ein Zimmer an der
Nordseite der zweiten Etage, ein Zimmer mit einem breiten Bett und einem bequemen Sessel, einem Schreibtisch, an dem sie ihre Schularbeiten machen konnte, und einer Kommode voller Kosmetika und Unterwäsche. Es gab einen Plattenspieler, der getreulichen Wiedergabe von Rock ‘n’ Roll gewidmet, und einen Spiegel, der schmeichelhaften Wiedergabe ihres eigenen Bildes gewidmet. Es gab Gardinen an den Fenstern und altererbte Teppiche auf dem Boden, und an den Wänden rieben Poster von den hawaiischen Inseln ihre Kanten an Fotografien von Ralph Nader. Verglichen mit jener »großen weiten Welt da draußen«, nach der sie sich sehnte, erschien ihr das Zimmer manchmal beklemmend und stickig, aber sie mochte ihr Zuhause ganz gern und hatte ganz und gar nichts dagegen, jeden Abend, wenn die Kurse vorbei waren oder wenn dies oder jenes Komitee für diese oder jene gute ökologische Sache wieder mal vertagt worden war, dorthin zurückzukehren. Selbst nachdem sie aus der Cheerleader-Truppe der University of Washington vertrieben worden war – eine demütigende Erfahrung, die sie dazu bewegte, sich vom College zurückzuziehen –, bewohnte sie ihr Zimmer so selbstverständlich wie ein Zephalopode seine Muschel. Das war zu jener Zeit, als sie das Zimmer mit Prince Charming teilte. Prince Charming war eine Kröte. Er wohnte in einem Terrarium am Fußende von Leigh-Cheris Bett. Und, ja – Ihr Neugierigen –, sie hatte die Kröte geküßt. Einmal. Leicht. Und, ja, sie war sich beschissen albern dabei vorgekommen. Allerdings wird man als Prinzessin von Dingen versucht, die wir gewöhnlichen Menschen kaum begreifen, und außerdem waren die Umstän-
de, unter denen sie in den Besitz der Kröte gelangt war, dem Aberglauben förderlich; und mal ehrlich: war denn ein kleines rasches Teenie-Küßchen auf einen Froschkopf so viel alberner, als das Bild eines Ersehnten zu küssen – und wer von uns hat nicht schon mal eine Fotografie geküßt? Leigh-Cheri küßte ziemlich häufig ein Foto von Ralph Nader. An dieser Stelle könnte angemerkt werden, daß freudianische MärchenAnalytiker vermuten, das Küssen von Kröten und Fröschen symbolisiere Fellatio. In dieser Hinsicht war Prinzessin LeighCheri auf bewußter Ebene unschuldig, wenngleich nicht so naiv wie Königin Tilli, die dachte, Fellatio sei eine verschollene italienische Oper, und sich darüber ärgerte, daß sie die Partitur nicht finden konnte.
8 Prince Charming war Leigh-Cheri von der alten Gulietta geschenkt worden, der einzigen Überlebenden aus der kleinen Dienerschar, die Max und Tilli ins Exil begleitet hatte. Bei Leigh-Cheris Geburt, in Paris, standen noch vier dieser Königstreuen in Diensten, aber alle bis auf Gulietta starben, bald nachdem die Familie im Puget Sound-Palast die Zelte aufgeschlagen hatte. Vielleicht lag es an der Feuchtigkeit. Die US-Regierung hatte ebenfalls einen Diener beigesteuert, einen Mann namens Chuck, der als Gärtner, Chauffeur und allgemeines Faktotum fungieren sollte. Er war natürlich CIA-
Spitzel. Als das Alter ihm zu seiner angeborenen Trägheit noch Gebrechlichkeit bescherte, war Chuck den Brombeeren des Great Northwest nicht mehr gewachsen, und sie drängten immer näher an die Mauern des Hauses heran. Am Steuer war er fürchterlich. König Max und die Prinzessin hatten es bereits vor einigen Jahren abgelehnt, sich von ihm fahren zu lassen. Die Königin fuhr er jedoch nach wie vor zu ihren Galas und Tees, anscheinend taub für die Gegrüßet-seist-du-Marias und Oh-oh, Spaghetti-Os, die in schierem Entsetzen aus dem Fond blubberten. Regelmäßig, alle vierzehn Tage, setzte Chuck sich hin, um mit dem König zu pokern. Selbst mit seinem verräterischen Geticker zog der König Chuck alle vierzehn Tage bis auf die Unterhosen aus. Auf diese Weise fügte Max Chucks Gehalt seinem eigenen hinzu. »Das ist alles, wozu er taugt«, sagte Max, und sein großes Maultiergesicht lächelte matt über den, wie ihm scheinen mochte, kleinen Streich gegen den CIA. Gulietta hingegen war über achtzig, tüchtig und energisch. Wie durch ein Wunder hatte sie das riesige Haus von Spinnenweben und Schimmelpilz frei gehalten, während sie gleichzeitig die königliche Wäsche besorgte und sechs Mahlzeiten pro Tag zubereitete: da Max und Tilli Fleischfresser waren und LeighCheri Vegetarierin, bestand jede Mahlzeit eigentlich aus zweien. Die alte Gulietta sprach kein Englisch, und Leigh-Cheri, die nach Amerika gebracht worden war, als sie noch nicht viel größer als ein Weinkrug war, sprach nichts anderes. Und doch war es Gulietta, die Leigh-Cheri jeden Abend, bis sie fünfzehn war, ihre Gutenachtgeschichte erzählte, immer die gleiche Geschichte, in solch hartnäckiger Wiederholung, daß das
Mädchen schließlich nicht nur ihre allgemeine Bedeutung, sondern wirklich jedes einzelne Wort verstand, trotz der ihr unbekannten Sprache. Und es war Gulietta, die das wahre Ausmaß von Leigh-Cheris Depression empfand, als diese während eines Heimspiels der University of Washington eine Fehlgeburt erlitt. (Sie war – ganz Sprung – mitten in der Luft, als das Blut hervorbrach und Bächlein wie zum hämophilen touchdown unter ihrem winzigen Cheerleader-Röckchen hervorstürzten.) Gulietta war es, die spürte, daß ihre junge Herrin an diesem Herbstnachmittag mehr als ein Baby verloren hatte, daß sie in Wirklichkeit sogar mehr verloren hatte als den Vater des Babys (den second string quarterback, einen Jurastudenten, der die Campus-Gruppe des Sierra Clubs leitete und beabsichtigte, eines Tages für Ralph Nader zu arbeiten), obwohl die Erinnerung an ihn, wie er auf der Bank hockte und so tat, als bemerke er nicht, daß sie in Verlegenheit und Furcht auf schnellstem Weg aus dem Husky Stadion geschleppt wurde, ihren Sinn und ihr Herz verfolgte wie ein Gespenst in schmutzigen Schuhen. Gulietta war es, die nach jenem unglücklichen Nachspiel zu ihr gekommen war, die Hexenhände um eine Kröte gewölbt. Die Prinzessin war nicht sofort außer sich vor Freude. Aber sie hatte in Sagen von Totemtieren der Alten Welt gehört, und falls Krötenzauber helfen konnte, wollte sie’s damit versuchen – mochten die Warzen fallen wie sie wollten. Aber ach, Gulietta, dies war ein amerikanischer Frosch aus dem letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, einer Zeit, als das Wünschen offensichtlich zu nichts mehr führte, und so taufte Leigh-Cheri ihn schließlich Prince Charming, nach »diesem Hurensohn, der doch niemals durchkommt«.
9 Sandwiches sind vom Earl of Sandwich erfunden worden, Popcorn vom Earl of Popcorn und die Salattunke vom Oil of Vinegar. Der Mond hat den natürlichen Rhythmus erfunden. Die Zivilisation hat ihn wegerfunden. Prinzessin Leigh-Cheri hätte ihn gerne wiedererfunden, aber zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch keinen Schimmer. Sie hatte jenes Gummiplätzchen, genannt Diaphragma, in die Röhre geschoben und war schwanger geworden. Wie so viele Frauen. Sie hatte auch jenen schnörkeligen metallischen Hausfreund beherbergt, der sich Spirale nennt, und an Krämpfen und Infektionen gelitten. Wie so viele Frauen. Sie hatte, aus Verzweiflung und gegen ihre elementaren Instinkte, die Pille eingeworfen. Sie wurde krank, physisch emotional. Wie so viele Frauen. Sie hatte mit all den Mixturen und Marmeladen, Salben und Säuren, Sprays und Suppositorien, Schäumen und Schmieralien, Duschen und Desinfektionen herumexperimentiert und kam dabei nur ihrer romantischen Natur auf die Schliche – sie war mit europäischen Volksmärchen (mit einem Märchen zumindest) aufgewachsen und verabscheute technologische Texturen, industrielle Odeurs und den Duft von Napalm. Wie so viele romantische Naturen. Dieses dauernde Gefecht mit ihrem Reproduktionsprozeß, ein Krieg, bei dem ihr einzig und allein pharmazeutische Roboter zur Seite standen, fremde Agenten, deren künstliche Unterstützung ihr eher verräterisch als vertrauenswürdig erschien, nagte mit Plastikzähnen an ihren innigsten Vorstellungen von
Liebe. War es gänzlich paranoid, zu argwöhnen, daß all diese zur Empfängnisverhütung ersonnenen Stopper, Dingsdas und Substanzen nicht so sehr beabsichtigten, die Frauen von den – ihren natürlichen Leidenschaften auferlegten – biologischen und sozialen Strafen zu befreien, als vielmehr, nach den heimtückischen Plänen kapitalistischer Puritaner, den Sex technisieren, seine dunklen Säfte verwässern, seine wilden Feuer eindämmen, seine süße Schmutzigkeit zensieren, ihn sauber schrubben sollten (sauber wie einen Labor-Sterilisator, sauber wie ein Krankenhausbett), um ihn einheitlich ordnen, ihn sicher machen zu können; um das Risiko unkontrollierter Gefühle, unlogischer Bindungen und tiefer Verstrickungen zu eliminieren (und durch um soviel weniger geheimnisvolle Risiken, zahmere Risiken wie Infektion, Blutungen, Krebs und hormonelle Entgleisung zu ersetzen); ja, die sexuelle Liebe so sicher und sachlich und sanitär zu machen, so glatt und vergnüglich, so zwanglos, daß sie kein Manifest der Liebe mehr wäre, sondern ein fast anonymes, fast autonom hedonistisches Kratzen an einer Stelle, wo’s juckt, so bar jeden Zusammenhangs mit den fiebernden Rätseln von Leben und Tod, ein so gut programmiertes Kratzen, daß es unmöglich mehr den eigentlichen Zweck der Menschen in einer kapitalistischen, puritanischen Gesellschaft stören kann, nämlich Waren zu produzieren und zu konsumieren? Da sie diese Frage unmöglich beantworten konnte – sie konnte sie nicht einmal stellen, ohne außer Atem zu kommen – und da die Mittagspausen-Parkplatz-Rendezvous im Kombicamper ihres Boyfriends ehrlich gesagt gewisser romantischer Details ermangelten, die sie immer mit Sex assoziiert hatte,
beschloß die Prinzessin, in ein zweites Exil zu gehen: ins Zölibat. Bevor sie sich aber mit der nötigen Vorsicht über die Grenze schleichen konnte, holte die biologische Zollfahndung sie ein und forderte unerbittlich ihren Tribut.
10 Als ihr Geliebter, der Quarterback, sie anflehte, wegen ihrer Schwangerschaft »etwas tun« zu lassen, stützte Prinzessin Leigh-Cheri ihre Stirn gegen die Fensterscheibe des vegetarischen Restaurants, in dem sie aßen, und weinte. »Nein«, sagte sie. »Nein, nein-nein.« Sie hatte bereits mit neunzehn eine Abtreibung durchgemacht. Eine zweite würde sie nicht ertragen. »Nein«, sagte sie. Aus jedem ihrer blauen Augen hing eine Träne, wie zwei aus Mietskasernenfenstern gebeugte dicke Frauen. Sie ruckten, balancierten, ruckten wieder, als fürchteten sie die ungewisse Reise die Wangen hinunter. Derart unschlüssig, spiegelten ihre Tränen für einen Moment den Schimmer des Sojabohnenquarks auf ihrem Teller wider. »Keine Staubsauger mehr und keinen Stahl. Sie können mein Herz auskratzen, sie können mein Hirn auskratzen, bevor sie noch einmal meinen Uterus auskratzen werden. Seit meiner letzten Abtreibung ist schon mehr als ein Jahr vergangen, und ich fühle mich immer noch wund da drinnen. Es fühlt sich bitter an, wo es sich süß anfühlen sollte, es fühlt sich schartig an, wo es sich glatt anfühlen
sollte. Der Tod hat eine Herrenpartie im heiligsten Zimmer meines Körpers gefeiert. Von jetzt an gehört dieser Raum dem Leben.« Jedesmal, wenn die Technologie einen gutartigen Naturvorgang umstürzt, riechen die Sensiblen Schwefel. Für Prinzessin Leigh-Cheri hatten Abtreibungen nicht nur den Ruch von Totalitarismus an sich, sondern auch den Aufschrei mißbrauchten Fleisches. Wenn aber eine weitere Abtreibung ein unerträglicher Gedanke war, so war die Aussicht auf ungelegene Mutterschaft ebenso peinlich – und das nicht nur aus den üblichen Gründen. Die Furstenberg-Barcalonas waren ein altes Geschlecht, bei dem sich ein strenger Kodex entwickelt hatte. Wenn ein weibliches Mitglied der Familie ihr volles Privileg zu wahren wünschte, wenn sie eines Tages Königin sein wollte, durfte sie vor dem einundzwanzigsten Lebensjahr weder heiraten noch Mutter werden; auch konnte sie nicht vor diesem Alter ihr Elternhaus verlassen. Und obwohl sie sich für einen Menschen wie du und ich hielt, begehrte Leigh-Cheri das volle königliche Privileg ganz außerordentlich. Leigh-Cheri glaubte nämlich, sie könne dieses Privileg benutzen, um der Welt zu helfen. »Märchen und Mythen sind voll von Berichten über errettete Prinzessinnen«, räsonierte sie. »Ist es nicht an der Zeit, daß eine Prinzessin den Gefallen mal erwidert?« Leigh-Cheri hatte eine Vision von der Prinzessin als Held. Oder, wie Königin Tilli sich ausdrückte, als Max sie fragte, was ihre einzige Tochter ihrer Meinung nach vom Leben begehre: »Sie will derr Wält eine Coke spendieren.« »Was?«
»Sie will derr Wält eine Coke spendieren.« »Na«, sagte Max, »das kann sie sich nicht leisten. Außerdem würde die Welt sowieso eine Diät-Pepsi haben wollen. Warum spendiert sie mir nicht statt dessen einen Martini?«
11 Es war Herbst, Frühling des Todes. Regen prasselte auf faulendes Laub, und ein wilder Wind heulte. Der Tod sang unter der Dusche. Der Tod freute sich seines Lebens. Der Fötus sprang ins Leere – ohne Fallschirm. Er landete im Abseits des Astroturfs und brachte die Cheerleaderinnen so aus der Fassung, daß ihre »Hurras« für den Rest des Nachmittags kaum mehr als Piepser waren. Die Huskies gewannen auch so und servierten die favorisierte UCLA mit 28:21 ab. Im nahen UniversitätsKrankenhaus, wo Leigh-Cheri sich einen halben Liter gemeinen Blutes in ihren königlichen Kreislauf pumpen lassen mußte, befanden sich die jungen Ärzte in Hochstimmung. Für den Augenblick war Leigh-Cheris Problem gelöst, aber sie fühlte sich wie eine schwarze Kerze bei der Totenwacht für eine Schlange. Als ein Arzt »ProudMary« pfiff, verspürte sie keinerlei Neigung mitzusingen. Gegen acht Uhr desselben Abends rief ihr Boyfriend an. Er war in seinem Verbindungshaus. Sie feierten die Siegesparty. Er sagte, er würde am nächsten Tag im Hospital vorbeischauen, aber er muß wohl die Adresse verloren haben.
Als man spitz kriegte, wer sie war, wurde die Prinzessin in ein Privatzimmer verlegt. Sie bekam das beste Sedativ im Hause. Château du Phenobarbital 1979. Endlich eingeschlafen, träumte sie von dem Fetus. In ihrem Traum watschelte er eine holprige Sandstraße hinunter, wie Charlie Chaplin am Schluß eines Stummfilms. Am Dienstag war sie physisch soweit genesen, daß sie auf den Campus zurückkehren konnte, wo sie erfahren sollte, daß ihr Status als einzige echte Prinzessin von New York nicht genügte, um die moralische Empörung des CheerleaderKomitees zu entschärfen. Aufgefordert, aus der Kreischtruppe auszutreten, blieb sie auch den Kursen fern. Sie zog sich auch von den Männern zurück – reichlich spät, um König und Königin noch zu beschwichtigen. Max’ Herz ratterte wie ein Tablett voller Teller, als er LeighCheri sagte, sie müsse sich zusammenreißen oder ausziehen. »Wir waren immer tolerant mit dir«, sagte Max, »weil, nun ja, immerhin, dies ist Amerika …« Max versäumte darauf hinzuweisen, daß man sich außerdem im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts befand, aber das verstand sich zweifellos von selbst. »Adolphe Itlär war Wegetarier«, ermahnte Königin Tilli Leigh-Cheri zum dreihundertstenmal. Tilli versuchte ihre Tochter davon abzuhalten, sich einer Naturkost-Kommune in Hawaii anzuschließen, eine Möglichkeit, die ihr offenzustehen schien, falls sie es vorzog, auf königliche Privilegien zu verzichten. Leigh-Cheri wiederum hätte die Königin daran erinnern können, daß Hitler zwei Pfund Schokolade pro Tag gegessen hatte, aber sie war dieser Diät-Debatte überdrüssig geworden.
Außerdem hatte sie beschlossen, ihren Anspruch auf königliche Privilegien zu wahren, auch wenn das bedeutete, sich engeren sozialen Beschränkungen zu unterwerfen. »Du wirst also ein gutt Girl sein?« »Ja, Mutter.« »Wenn wir dir neue Karten austeilen, wirst du nach den Regeln spielen?« »Ja, Vater.« Die beiden sahen ihr hinterher, als sie sich umdrehte und die Treppe hinaufging. Sie sahen ihr hinterher, als wär’s das erste Mal seit Jahren, daß sie sie wirklich anschauten. Trotz ihrer bleichen Farbe und dem Unglück, das an ihr hing, wie ein böser Traum an einem zerknautschten Kopfkissen hängt, war sie reizvoll. Ihr Haar, glatt und rot wie geplätteter Ketchup, fuhr mit dem One-Way-Ticket der Schwerkraft bis zu ihrer Taille hinab; ihre blauen Augen waren sanft und feucht wie huevos rancheros, und die langen Ringel ihrer Wimpern ließen filigranhafte Schatten auf die Rundung ihrer Wangen fallen. Sie war nicht groß, aber die Beine, die unter ihrem Rock baumelten, schienen die Beine einer hochgewachsenen Frau zu sein, und unter ihrem Atomkraft-Nein-Danke-T-Shirt zitterten ganz leise ihre erstaunlich runden Brüste, wie auf den Nasen valiumfressender Seehunde balancierte Bälle. Tilli streichelte ihren Chihuahua. Max’ Herz machte ein Geräusch wie die Schlittenglocken an Frau Weihnachtsmanns Dildo.
12 Neotenie. Neotenie. Neot – Oh, wie die Remington SL3 dieses Wort genießt! Ungehindert, würde sie die Seite mit Neotenieneotenieneotenieneotenie füllen. Natürlich schert sich die Remington SL3 kein Komma darum, daß nur wenige Leser wissen, was das Wort bedeutet. Hätte sie dadurch aber die Gelegenheit, es noch einmal zu schreiben, würde sich die Maschine auch zu einer Definition breitschlagen lassen. »Neotenie« heißt »jung bleiben«, und es grenzt an Ironie, daß kaum einer das weiß, ist doch die menschliche Evolution davon beherrscht. Die Menschen haben sich zu ihrem relativ hohen Stand entwickelt, indem sie die unreifen Merkmale ihrer Vorfahren beibehielten. Die Menschen sind die fortgeschrittensten Säugetiere – obgleich man sich auch für die Delphine verwenden könnte –, weil sie selten erwachsen werden. Verhaltenszüge wie Neugier auf die Welt, Flexibilität der Reaktionen und das Spielerische sind praktisch allen jungen Säugetieren gemeinsam, verlieren sich aber meist rasch mit einsetzender Reife bei allen, außer den Menschen. Die Menschheit macht Fortschritte, falls sie Fortschritte macht, nicht weil sie nüchtern, verantwortlich und vorsichtig wäre, sondern weil sie spielerisch, rebellisch und unreif ist. Man braucht sich nicht für übermäßig ungebildet zu halten, falls man den Begriff Neotenie nicht kennt. Es hat Königinnen
und Könige und Prinzessinnen gegeben, die ebenfalls blind gegen diesen Begriff waren, in Worten wie in Taten. Während der Zeit, die auf Leigh-Cheris Fehlgeburt folgte, entwickelte sich im Puget Sound-Palast die sogenannte Tugend der Reife zur Kardinalfrage. Obgleich verständlicherweise im unklaren darüber, was Reife wirklich sein könnte, strebte LeighCherie mit Unterstützung ihrer Eltern danach, mehr davon zu erwerben. Allabendlich, bis sie fünfzehn war und noch ein paar Abende danach, war ihr eine Gutenachtgeschichte erzählt worden; bis vor wenigen Wochen hatte sie inmitten von Troddeln und Quasten anfallartig um sich gedroschen, hatte unverständliche Beschwörungen gekreischt, die das Glück einer Bande unschuldiger, dem Kult einer heiligen Frucht ergebener Kobolde fördern sollten (von dem Glück eben dieser FootballMannschaft hing für gewöhnlich das Bankkonto des reifen Königs Max ab, aber das ist eine andere Geschichte). Es war Zeit, daß sie erwachsen wurde. Prinzessinnen bekam man nicht gerade sechs für einen Heller. Und diese Prinzessin, so dämmerte es Tilli und Max plötzlich, war eine Sexpartie. Von ihr konnte man erwarten, sich, wenn sie das Alter von einundzwanzig erreichte, gut, ja sehr gut zu verheiraten. In der Tat gab es wahrscheinlich keinen Mann von Prinz Charles bis zum Sohn des Präsidenten der USA, dem sie nicht ebenbürtig gewesen wäre. Solche Aussichten gefielen König und Königin. Bislang, da sie unter dem wachsamen Auge der CIA lebten und einwilligen mußten, sich von den Kreisen des Hochadels »zurückzuziehen«, hatten die Furstenberg-Barcalonas keine besonderen Ambitionen für ihre Tochter gehegt und waren zufrieden, sie eine normale amerikanische Mädchenzeit genießen zu lassen
(wiewohl sie kaum überzeugt waren, daß Erscheinungen wie Vegetarismus und Ökologie normal sein könnten). Jetzt kam ihnen die Idee, daß, falls diese junge Frau die Aufmerksamkeit des richtigen Mannes auf sich ziehen sollte, eines der aufsteigenden arabischen Herrscher zum Beispiel, selbst die CIA keine Macht hätte, solch höchst vorteilhafte Verbindung zu verhindern. Es war der falsche Zeitpunkt, Leigh-Cheri mit Hochzeit zu kommen. Sie hatte einen hölzernen Pflock durchs Valentinsträußchen getrieben. Doch unter der Voraussetzung, daß es der Vorbereitung auf ihre Lebensaufgabe nützlich sein könnte, unter der Voraussetzung, daß sie sich, sollte sie jemals wieder ihr Studium der Umweltwissenschaften aufnehmen, nicht mehr so leicht von den Vibrationen des Halb-Muscheltiers/HalbPfirsichs, der das warme Becken ihrer unteren Regionen bewohnte, ablenken lassen würde, gab sie sich der Reife hin, falls die Reife sie denn haben wollte. Weg mit dem Teddybär. Weg mit den Beach Boys-Platten. Weg mit der Phantasie von hawaiianischen Flitterwochen mit Ralph Nader, dem Tagtraum von Ralph und ihr, wie sie mit angeschnallten Sicherheitsgurten in den Sonnenuntergang am Haleakala hineinfuhren. Nicht daß sie ihre Meinung geändert hätte, wie perfekt sie zu ihm passen würde – er arbeitete zu hart, lächelte zu wenig und speiste wie einer, dem Geschmack und Geschick gleichgültig sind; er war eindeutig ein Held, der der Rettung durch eine Prinzessin bedurfte – nur, daß genau solche romantischen Phantasien … unreif waren. Leigh-Cheri las Bücher über Sonnenheizung. Sie blätterte in Broschüren über die Überbevölkerung. Um mit den laufenden
Ereignissen Schritt zu halten, sah sie jede Nachrichtensendung, die sie sehen konnte, und floh sofort aus dem Fernsehzimmer, wann immer eine Love Story angekündigt wurde. Sie schenkte ihr Ohr Mozart und Vivaldi (Tschaikowski tat weh). Sie verfütterte Fliegen an Prince Charming. Und sie mühte sich ab, ihre Person und ihr Zimmer äußerst sauber zu halten. Sauberkeit kommt gleich nach Göttlichkeit, war eine der Reife-Parolen, die Leigh-Cheri gläubig unterschreiben konnte – ohne sich mit der Überlegung aufzuhalten, daß, wenn im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts Göttlichkeit vor nichts Interessanterem als Sauberkeit rangierte, es vielleicht an der Zeit war, unsere Vorstellungen von Göttlichkeit neu zu überdenken.
13 Am Sonntag nahm Gulietta ihren freien Tag. Das war nur fair. Sogar Freitag machte am Donnerstag blau, dank Robinson Crusoe. An Sonntagen pflegte Königin Tilli, ihren Chihuahua liebevoll an sich gedrückt, in die Küche zu wanken und für den Brunch zu sorgen. Der Duft von brutzelndem Speck, Wurstkringeln und Schinken trippelte auf Schweinefüßchen bis hinauf in den zweiten Stock. Unvermeidlich weckte er dort Leigh-Cheri. Unvermeidlich machte der Duft sie heißhungrig und widerte sie zugleich an. Sie haßte dieses Gefühl. Es erinnerte sie an die Schwanger-
schaft. Jeden Sonntagmorgen, ungeachtet ihres Zölibats, erwachte Leigh-Cheri mit einer Pfanne voll frittierter Furcht. Selbst wenn die Panik nachgelassen hatte, fand sie an einem Sonntag wenig Bewundernswertes. Für sie war der Sonntag ein Tag, an dem Gott seine wollenen Schlüpfer anbehielt. Es war ein Tag mit stumpfer Schneide, die noch soviel Freizeit nicht schärfen konnte. Manche finden ihn entspannend, aber die Prinzessin schätzte, daß viele, viele ihr Gefühl teilten, der Sonntag erzeuge eine übernatürliche Depression. Sonntag, ein bleicher starrer Schatten des robusten Sonnabends. Sonntag, der Tag, da geschiedene Väter mit »Besuchserlaubnis« ihre Kinder in den Zoo führen. Sonntag, erzwungene Muße für Leute, die keine Begabung zur Muße haben. Sonntag, da der Katzenjammer keine Grenzen kennt. Sonntag, der Tag, als der Boyfriend nicht ins Hospital kam. Sonntag, eine überfütterte weiße Katze, die Hymnen miaut und Footbälle furzt. Den Tag des vollen Mondes, wenn der Mond weder zunimmt noch abnimmt, nannten die Babylonier Sa-bat, und das heißt »Herzens-Ruhe«. Man glaubte, daß an diesem Tag die Frau im Mond, Ischtar, so hieß die Mondgöttin in Babylon, menstruiere; denn in Babylon, wie praktisch in jeder alten und primitiven Gesellschaft, hatte es seit frühesten Zeiten ein Tabu gegeben, das einer Frau verbot, zu arbeiten, Nahrung zuzubereiten oder zu reisen, wenn sie ihr Monatsblut vergoß. Am Sa-bat, aus dem unser Sabbat entstanden ist, war Männern wie Frauen befohlen zu ruhen, denn wenn der Mond menstruierte, lag das Tabu auf jedermann. Ursprünglich (natürlich) einmal im Monat eingehalten, sollte der Sabbat später von den Christen in ihren Schöpfungsmythos eingebaut und allwöchentlich began-
gen werden. Und deshalb sind heute harte Männer mit harten Muskeln und harten Hüten am Sonntag von ihren Jobs befreit – aufgrund einer archetypischen psychologischen Reaktion auf die Menstruation. Wie hätte Leigh-Cheri wohl gekichert, hätte sie das gewußt. An einem bestimmten Sonntag Anfang Januar, wobei der Januar für das Jahr etwa das darstellt, was der Sonntag für die Woche ist, wußte sie es aber noch nicht und erwachte schlechtgelaunt. Sie zog sich einen Morgenrock über ihren Flanellpyjama (sie hatte entdeckt, daß Seide die Tendenz hatte, den Pfirsichfisch zu erregen), bürstete sich die Knoten aus dem Haar, rieb sich mit den Fingerknöcheln die knusprigen Körnchen aus den Augenwinkeln und stieg gähnend und sich reckend in die heiße Schweinehölle des Brunch hinab. (Sie wußte ohne zu kosten, daß selbst ihr Sojabohnenquark etwas vom Schinkenfluidum aufgenommen haben würde.) Wie so vielen anderen seit urlanger Zeit, halfen auch ihr die Sonntagsblätter über den Tag. Ganz gleich was die Presse sonst noch zu unserer Kultur beigetragen haben sollte, ob sie nun unsere stärkste Waffe gegen den Totalitarismus oder aber eine launische Macht ist, die authentische Erfahrungen untergräbt, indem sie diese gemäß einem modischen öffentlichen Interesse in Rubriken einteilt, hat die Presse uns die dicken Sonntagsblätter geschenkt, um unsere allwöchentliche geistige Menstruationsblähung zu lindern. Prinzessin Leigh-Cheri, winde dich noch ein letztes Mal in deine Cheerleader-Uniform und zeige uns, wie man Hurra schreit: eins, zwei, drei vier, wen lieben wir? Die Sonntagsblätter, die Sonntagsblätter, yeah! Es war die Seattle-Zeitung, an diesem gewissen Sonntag, An-
fang Januar, in der Leigh-Cheri erstmals über das Geo-Therapy Care-Fest las, über die Was-tun-wir-für-den-Planeten-bevordas-einundzwanzigste-Jahrhundert-kommt-Konferenz. Es war ein Ereignis, das ihren Puls selbst dann beschleunigt hätte, wenn als Austragungsort nicht Hawaii festgesetzt worden wäre. Da es aber so war, hüpfte sie zum erstenmal seit Jahren ihrer Mutter auf den Schoß – nicht gerade ein Akt äußerster Reife – und läutete damit ihre Petition ein, an der Konferenz teilnehmen zu dürfen; denn nach dem Kode der FurstenbergBarcalonas, den sie jetzt strikt befolgte, würde die Königin sie begleiten müssen. Tilli auf Maui? Oh-Oh, Spaghetti-O.
14 Für das letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts kann gesagt werden: die Binsenwahrheit, daß wir, wenn wir eine bessere Welt wollen, bessere Menschen werden müssen, wurde von einer signifikant großen Minderheit endlich anerkannt, wenn auch nicht ganz verstanden. Trotz der Langeweile und Angst der Epoche, oder vielleicht gerade deswegen, trotz der unsicheren Meere, die die Geschlechter trennten, oder vielleicht gerade deswegen, schienen Tausende, Zehntausende bereit, ihre Körper, ihr Geld und ihre Fähigkeiten verschiedenen planetarischen Rettungsmissionen anzuvertrauen. Die Koordination solch weitgespannter Projekte war ein Hauptziel des Geo-Therapy Care-Festes, das während der
letzten Februarwoche in Lahaina, Maui, Hawaii, stattfinden sollte. Führende Experten auf dem Feld der alternativen Energiequellen, der organischen Landwirtschaft, der Wildniserhaltung, der alternativen Erziehung, der ganzheitlichen Medizin und Ernährung, des Verbraucherschutzes, des Recycling und der Weltraumkolonisation sollten Vorträge halten sowie Podiumsdiskussionen und Workshops leiten. Befürworter vieler verschiedener hausgemachter Systeme und BewußtseinsHeilslehren, von alt-orientalischen bis zu modernkalifornischen, sollten ebenfalls zugegen sein. Außerdem waren gewisse Futuristen, Artisten, visionäre Denker, Schamanen und poetische Seher eingeladen worden, wenngleich einige Dichter und ein Schriftsteller von den Organisatoren verdächtigt wurden, in den Reihen der Wahnsinnigen zu marschieren. Die Nachricht von dieser Konferenz hätte auf dreißig Schritt den Zuckerguß vom Hundekuchen geschmolzen, das könnt ihr mir glauben. Hätte Leigh-Cheri ihr Leben als Salat gefristet, sie wäre kopfüber in die Tunke gesprungen, um dieser Konferenz ein Crouton zu kredenzen. Nicht wenig trug zu ihrer Erregung die Mitteilung bei, Ralph Nader würde dort eine Schlüsselrede halten und ein ganzer Abend wäre dem Thema alternativer Geburtenkontrollmethoden gewidmet. Selbst in der eisigen Verbannung ihres Zölibats war Leigh-Cheri an Verhütung interessiert. Die damit verbundenen Probleme waren für sie frustrierender gewesen als das aggressive, rivalisierende, selbstbewußte, egozentrische und grobe Verhalten der Männer, mit denen diese Probleme hätten geteilt werden sollen, und obwohl sie gegenwärtig frei von dem Problem war, war sie zu intelligent, um Flucht mit Sieg zu verwechseln.
König und Königin hatten ihre Tochter seit Monaten nicht so lebhaft gesehen. Gewiß, diese Lebhaftigkeit war relativ: Leigh-Cheri bewegte sich umher wie ein Zombie, doch vor einigen Tagen hatte sie noch einer Leiche geglichen. Das war schon ein Fortschritt. Es gab jetzt Augenblicke, da sie, über das Care-Fest spekulierend, am Rande eines Lächelns zu sein schien. Und was würden in einer solchen Situation alle mitleidsvollen Eltern tun? Nachgeben, natürlich. Ihr ihre Konferenz erlauben. Als der Termin näherkam, befand Königin Tilli, Maui sei einfach zu barbarisch. Es war schlimm genug, am Stadtrand von Seattle festzustecken, wo es Tag und Nacht Forellenzähne regnete und die Brombeerranken sich einen Weg in die Privatsphäre ihres eignen Gemachs zu erzwingen suchten; sie wollte ihre strammen Pfunde nicht auch noch auf irgendeine Urwaldinsel transportieren, voll von Surferboys und urlaubenden Nutten, deren Kreis an diesem einen Wochenende noch um ein paar tausend Knallköpfe erweitert sein würde, die darauf aus waren, eine Welt zu retten, in die sie ohnehin nicht hineinpaßten. Die Seattle Opera Company brachte in der gleichen Woche Norma mit Ebe Stignani heraus, und obwohl die Stignani ein gutes Stück über ihre Blütezeit hinaus war, hatte sie ein echtes Legato zu bieten, knappe Ware in jenen rauhen Zeiten, und die Königin war eingeladen worden, bei einem Empfang für den alternden Sopran als Ehrengastgeberin zu fungieren. Da auch Max wegen seiner Klappe nicht zu reisen wagte, wurde Mitte Februar vereinbart, daß Gulietta die Prinzessin in Hawaii als Anstandsdame begleiten sollte. Gulietta war uralt und brachte keine zehn Wörter in englisch
zustande, aber sie war so geschickt und Leigh-Cheri so zugetan, daß Max und Tilli überzeugt waren, ihre Anstandsbegleitung würde ausreichen. Dennoch blickten sie einander nervös an, als die dürre alte Dienerin, kaum daß sie von ihrer Berufung erfuhr, zu J. C. Penny ging und sich einen Bikini kaufte.
15 Der Himmel ist unpersönlicher als das Meer. Über der Vogelflugbahn, hoch über der letzten Andeutung einer Wolke, in einer Höhe, die der Sauerstoff nicht freiwillig beehrt, durch eine Zone, in der das Licht Tempolimit fährt und niemals eine Kaffeepause einlegt, mitten durch jene Wüste, in der außer der Schwerkraft kein Scheich regiert, schnaubte ein Fahrzeug der Northwest Orient Airlines durch seine Nüstern und bäumte sich gegen den Luftzug des pazifischen Jetstroms. Leigh-Cheri wandte sich vom Fenster ab, durch das sie auf Wolkengipfel und Meeresdach hinabgespäht hatte. Leigh-Cheri sah auf die alte schlafende Frau im Sessel neben ihr. Leigh-Cheri mußte lächeln. Wie sie so dasaß und die Konservenluft der First-ClassKabine mit ihrem sanften Schnarchen kräuselte, schien Gulietta so ruhig, daß es schwerfiel, sie sich als Ursache all der Schwierigkeiten vorzustellen, die sie vor wenigen Stunden zu Hause auf dem International Airport, Seattle-Tacoma, verursacht hatte. Wie jedermann war auch Leigh-Cheri von der Sache mit
dem Frosch überrascht worden. Obwohl der Frosch relativ groß und ungewöhnlich grün war (bestenfalls ein entfernter Vetter von Prince Charming), hatte es keinen Hinweis auf seine Anwesenheit in Guliettas Weidenkörbchen gegeben. Nicht die Spur von einem Frosch – bis zum plötzlichen schrillen Schrei der uniformierten Frau bei der Sicherheits-Kontrolle. Ein ziemliches Spektakel hatte sich ergeben. PLEASE, NO JOKES, sagte das Schild über dem Checkpoint, und dies mußte ein Scherz sein. Oder etwa nicht? Noch komplizierter wurde der Zwischenfall durch die Tatsache, daß Gulietta keine englische Erklärung anbieten konnte und daß ihr Familienname einer Zeile aus der Testtafel eines Augenarztes glich. Die Sicherheitshüter nahmen Rücksprache. Gulietta und die Prinzessin wurden ein zweites Mal durchsucht. Ihr Handgepäck wurde noch einmal überprüft. Der Frosch wurde durchleuchtet, um festzustellen, ob er nicht eine Art Waffe war. Konnte man sicher sein, daß er nicht explodieren würde? »Er ist ihr Hätscheltier«, sagte Leigh-Cheri, die in Wirklichkeit nicht den geringsten Schimmer hatte, was der Frosch da im Koffer der alten Frau zu suchen hatte. Da half nicht einmal die Erinnerung an ein europäisches Volksmärchen. »Er ist ihr Hätscheltierchen.« Leigh-Cheri blinzelte mit ihren überlangen Wimpern, atmete auf eine Weise, daß ihre runden Brüste zwölf Grad um ihre Achsen zu rotieren schienen, und lächelte so breit, daß gewisse, lang vernachlässigte Mundmuskeln an zu zappeln fingen, um sich loszureißen. »Er ist ihr Kuschelhätscheltierchen.« Nachdem sie das Versprechen entgegengenommen hatten, daß Gulietta das Amphibium verschlossen halten würde – er
wurde in feuchten Handtüchern in ihrer Handtasche verstaut –, beschlossen die bezauberten Wächter, die zwei Frauen und ihr Kuscheltier weiterreisen zu lassen. An Bord des Jetliners aber, Sekunden vor dem Take-off, erschien plötzlich eine andere Gruppe von Wächtern, begleitet von einem Offiziellen der Fluglinie, und verlangte den Frosch. »Sie dürfen keinen lebenden Frosch nach Hawaii bringen!« ereiferte sich einer von ihnen. Sie waren ziemlich erregt. An diesem Punkt rief sich Leigh-Cheri ihren früheren Besuch auf den Inseln ins Gedächtnis. Sie erinnerte sich, wie unerbittlich man darin war, Reisende an der Einfuhr von Haustieren irgendwelcher Art zu hindern. Sie erinnerte sich, daß die Einfuhr von frischem Obst oder Blumen verboten war. Sie sah vor ihrem geistigen Auge die Insektenausstellung des Honolulu Airports, eine Sammlung aufgespießter Wanzen und Käfer, die an Bord zwischenlandender Flugzeuge entdeckt worden war. Sie erinnerte sich, daß die im Paradise-Park ausgestellten Papageien und Kakadus alle gestutzte Flügel hatten, damit sie nie entfleuchen und in der Wildnis brüten konnten. Die Ökologie der Inseln war so fein ausbalanciert, daß die Einführung einer neuen Spezies von Säugetieren, Vögeln oder Reptilien sie ins Chaos stürzen konnte; eine nichtheimische Pflanzenkrankheit, ein einfallendes Insektenweibchen konnte ein Milliarden-Dollar-Business ruinieren, seien es Ananas zum Essen oder Palmen zum Anschauen. Leigh-Cheri gab Gulietta ein Zeichen, doch die war gerade damit beschäftigt, die Wärter mit den gemeinsten Beleidigungen ihrer fremdartigen Sprache wüst zu beschimpfen. LeighCheri gab Gulietta ein Zeichen, den Frosch aufzugeben. Die
Vettel war nicht überzeugt. Sie zögerte. Der Kapitän, der Copilot und die Crew hatten sich dem Administrator und dem Wärter in der First-Class-Kabine angeschlossen. Passagiere der zweiten und Economyklasse standen auf den Gängen und spähten nach vorn, um zu erfahren, was das für ein Tumult war. Einer der Wärter riß den Weidenkorb aus Guliettas gichtigen Händen. Der Deckel flog auf. Der Frosch machte einen gewaltigen Satz. Er landete auf dem Kopf einer Stewardess. Sie kreischte: »Aiii! Schafft mir das Drecksding vom Leibe!« und löste damit schockiertes Geflüster längs und breit im Flugzeug aus. Der Frosch machte noch einen Satz und landete auf einem leeren Sessel. Mehrere Männer hechteten ihm nach. Sie trafen daneben. Es folgten noch mehrere Hechtsprünge und Fehltreffer, bis der Frosch schließlich im Cockpit gestellt wurde, wo ein Wärter ihn gefangennahm, nicht ohne vorher seinen Ellbogen in ein Navigationsinstrument geknallt zu haben, was eine eventuelle Funktionsstörung verursachte. Das Gerät mußte geprüft und nochmals geprüft werden. Alles in allem verzögerte sich der Flug um eine Stunde und sechsundvierzig Minuten. Gulietta war noch nie zuvor geflogen. Sie war durch die Einwände gegen den Inhalt ihres Gepäcks verwirrt und lehnte es ab, den von der noch immer aufgeregten Stewardess servierten Snack zu essen. Wie konnte ihr Leigh-Cheri nur die große hawaiianische Mungo-Reaktion begreiflich machen? Hawaii hatte einst ein Rattenproblem. Da fand jemand eine glänzende Lösung: Mungos aus Indien zu importieren. Die Mungos würden die Ratten töten. Es klappte. Und wie die Mungos die Ratten töteten. Die Mungos töteten auch Hühner,
Ferkel, Vögel, Katzen, Hunde und kleine Kinder. Es gibt Berichte über Mungos, die Motorräder, elektrische Rasenmäher, Golf Carts und James Michener angriffen. In Hawaii gibt es jetzt so viele Mungos, wie es einst Ratten gegeben hatte. Hawaii hatte sein Rattenproblem gegen ein Mungoproblem eingetauscht. Hawaii war entschlossen, so etwas nie wieder passieren zu lassen. Wie konnte Leigh-Cheri Gulietta die Analogie zwischen Hawaiis Ratten und der Gesellschaft im allgemeinen näherbringen? Die Gesellschaft hatte Probleme mit der Kriminalität. Also stellte sie Bullen ein, um die Kriminalität einzudämmen. Jetzt hat sie Probleme mit den Bullen. Die Antwort muß natürlich lauten, daß Leigh-Cheri diese Parallele überhaupt nicht ziehen konnte. Diese Parallele war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen. Bernard Mickey Wrangle aber war sie in den Sinn gekommen. Bernard Mickey Wrangle saß in der Economy-Klasse des Northwest Orient Airliners und sann über die Analogie zwischen Ratten/Mungos und Verbrechern/Polizisten nach. Bernard Mickey Wrangle saß im hinteren Teil des Flugzeugs und hatte sich sieben Stangen Dynamit an seinen Körper geschnallt. Bernard Mickey Wrangle war raffiniert. Wahrscheinlich wäre es ihm unter allen Umständen gelungen, mit sieben an den Körper geschnallten Dynamitstangen das Flugzeug nach Hawaii zu besteigen. Trotzdem hatte der Frosch bestimmt dabei geholfen, ihm den Weg zu ebnen. (Der Frosch, nebenbei bemerkt, wurde an einem Tümpel bei den Seattle-Tacoma-Rollbahnen freigesetzt. Dafür, daß er nahe an einem betriebsamen Flughafen lag, war es ein erfreulicher Tümpel. Er hatte Lilienpolster und Teichkolben und hatte
Mücken zum Lunch zu bieten. Aber machen wir uns verdammt noch mal nichts vor, es war nicht Waikiki.)
16 Der Jetliner, der eines kleinen grünen Passagiers verlustig gegangen war und statt dessen ein Extra von sieben Stangen Dynamit transportierte, setzte seine Überquerung der – wie jeder Surferneuling bestätigen wird – am unpassendsten getauften Wassermasse unseres Erdballs fort. Der Jetliner pfiff, um seine Angst vor der Schwerkraft zu verbergen. Leigh-Cheri las Zeitschriften, um ihre Erregung zu verbergen. Die Erregung flackerte in ihren Augen wie die Phasen am Ende von Leuchtschriftsätzen. Kommas der Erregung schlotterten in ihrem Bauch, und es ringelten sich dort auch Fragezeichen. Manchmal war ihr, als säße sie auf einem Ausrufezeichen. Das Geo-Therapy Care-Fest war solch eine wunderbare Idee, daß es sie überraschte, wieso es nicht schon früher stattgefunden hatte. Eine Versammlung der besten Denker, der fortschrittlichsten Techniker, der gewissenhaftesten Wissenschaftler, der aufgeklärtesten Künstler, die ihr Wissen und ihre Träume zum Besten aller vereinigten. So hätten die Vereinten Nationen aussehen können, befänden sich die Vereinten Nationen nicht in den Händen der Dummen und der Korrupten. Befänden sie sich nicht in Diensten der Ego-Politik. Auf der Konferenz von Maui würde Buckminster Fuller ei-
nen Vortrag über: »Umweltschutz ernten: Gold ist noch im letzten Dreck« halten. Gary Snider würde über: »Der buddhistische Weg im Kampf ums Rathaus« sprechen. Die Vorlesung des Umweltwissenschaftlers Dr. Barry Commoner (sein Name, Gemeiner, versetzte der Prinzessin einen Stich von Überlegenheitsgefühl, gefolgt von einem tieferen Stich von Schuldgefühl) würde: »So etwas wie ein freies Lunch gibt es nicht« heißen. Der Workshop über alternative Geburtenkontrolle sollte von Linda Coghill geleitet werden, der Frau, die ganz allein – ohne fremde Hilfe – die unehelichen Geburten- und Abtreibungsraten in Portland, Oregon, gesenkt hatte. Am Vormittag des 26. Februar würde Leigh-Cheri wählen müssen zwischen einer Demonstration der fotoelektrischen Zelle (ein Durchbruch in der Kostensenkung der Sonnenenergie) und einer von Dr. Linus Pauling geleiteten Podiumsdiskussion über Vitamin C als Vorbeugung und Heilung. O je, war das aufregend. Gab es ein einziges planetarisches Problem von Bedeutung, das das Care-Fest übersehen hätte? Leigh-Cheri konnte sich keines denken. Vielleicht wollte Leigh-Cheri der Tatsache keine Bedeutung zukommen lassen, daß die Artikel der Zeitschriften, die sie durchblätterte, hauptsächlich von Romanzen handelten: wer mit wem gebrochen – oder angebändelt – hatte, was zu tun sei, wenn Ehemänner das Interesse verlieren, wie man mit Einsamkeit und Zurückweisung fertig werden konnte und so fort. Die Annoncen in den Zeitschriften handelten fast ausschließlich davon, wie man sich für das andere Geschlecht attraktiv macht. Auch der Film, der an Bord des Flugzeugs vorgeführt wurde, war eine Liebesgeschichte. Der Film hatte ein trauriges Ende und galt daher als »realistisch«. Und als die Prinzessin einen
Kopfhörer aufsetzte, um der Tonbandmusik zu lauschen, die die Northwest Orient Airlines ihren Passagieren bot, da handelten die Songs von brechenden Herzen und schmerzenden Herzen oder von Herzen, die bebten, wenn sie funkenspeiend über die elektrisierende Schwelle neuer Liebe glitten. Kann sein, daß Leigh-Cheri über das Offensichtliche hinwegsah, weil es einfach zu persönlich war. Falls unterhalb der großen Probleme und allumfassenden Fragen (so sehr sie im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts heruntergespielt wurden) ein intimerer Kampf tobte, ein Kampf, dessen wahres Ziel die romantische Erfüllung wäre, war es vielleicht mutig und ehrenhaft, zu versuchen, diesen Kampf zu transzendieren, auf mehr als diesem zu beharren. Vielleicht. Im hinteren Teil des Flugzeugs griff Bernard Mickey Wrangle in sein Jackett … und zog aus seiner Brusttasche … nein, keine Sprengkapsel … auch keine Zündschnur … noch nicht …, sondern ein Päckchen … Hostess Twinkies. Wie schade, daß die Königin darauf bestanden hat, erster Klasse zu fliegen, Leigh-Cheri. Wie schade, daß du neben deiner dösenden alten Anstandsdame sitzt, statt neben Bernard Mickey Wrangle. Da Hostess Twinkies immer paarweise reisen – weil sich Hostess Twinkies wie der Koyote, der Killerwal, der Gorilla und der Brüllkranich fürs Leben paaren – hätte es für jeden von euch ein Twinkie gegeben.
17 Der Airliner umkreiste Honolulu in der gleichen Art, wie ein Tippfinger ein Tastenfeld umkreist. Er wartete auf die Botschaft vom Kontroll-Tower, die ihn anweisen würde, wann und wo er landen sollte. Und sie landen … … auf A. Rollbahn A. A wie »Alkoven«, sprich Dachboden. A wie »Amore«, sprich Liebe. Was wir hier vor uns haben, ist die unerwartete Landung auf der Rollbahn des Herzens. Dieser Flug konnte nur in einem Zimmer nahe beim Mond enden. Das »No Smoking«-Zeichen leuchtete auf. (Auf dem Dachboden sollte man die Camel-Zigaretten nie anzünden.) Das Signal »Gurte anlegen« wurde gegeben. (Bei Amore werden die Gurte in köstlichen Intervallen angelegt und abgelegt.) Gulietta umklammerte ihren Weidenkorb, der jetzt nur noch die leise Ahnung von Frosch enthielt. Leigh-Cheri umklammerte ihre Schenkel, die jetzt trocken waren, wie Prinzessinnenschenkel sein sollten. Bernard Mickey Wrangle, auf der Passagierliste eingetragen als T. Victrolta Firecracker, einst aber Millionen als der Buntspecht bekannt, umklammerte nichts, nicht einmal seine Schwarzpulverunterwäsche. Der Buntspecht hatte etwas Besseres zu tun, als sich zu umklammern und festzuhalten. Der
Buntspecht grinste. Er grinste, weil er Hawaii erreicht hatte, ohne entdeckt zu werden. Er grinste, weil Twinkie-Sahne ihn immer grinsen machte. Er grinste, weil man das letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb, und weil etwas Bedeutsames passierte.
ZWISCHENSPIEL Vielleicht irre ich mich in der Remington SL3. Ich bin nicht mehr überzeugt, daß sie es schaffen wird. Oh, sie ist ein vorzügliches Gerät – für den richtigen Schreibtisch, im richtigen Büro. Falls es sich darum handelt, daß Sie einen Essay schreiben wollen, einen Brief an den Herausgeber, eine Rechnung, eine Buchkritik, da wird sie Ihnen die ‘i’s tüpfeln, bevor Sie in ihre Nähe kommen, und ich bin sicher, daß es Sekretärinnen gibt, die sie ihren jeweiligen Lebensgefährten vorziehen würden. Aber für den Schriftsteller ist jede Schreibmaschine ein schreckliches Ding; und die Remington SL3, mit ihren auswechselbaren Typenrädern, ihren elektrischen Randsetzern, mit variablem Zeilen-Spacer, Papierzentrierskala, individuellem Anschlagregler, automatischem Absatzeinzug, vertikalem und horizontalem Halbschritt, Schnellrücklauf, Skiptabulator, verbessertem Umlautsetzer und Vertipp-Alarm? Nun, diesem Maß an mechanischer Kultiviertheit in Ihrem mitternächtlichem Sanktum zu begegnen, heißt, eine neue Sorte Angst kennenzulernen. Vor allem summt sie, schnurrt wie eine verführerische Haus-
katze, zittert geradezu auf dem Tisch; sie scheint begierig – allzu verflucht begierig – an die Arbeit zu gehen. Hey! Entspann dich, Süße. Ich denke. Dräng mich nicht. Dann ihre Farbe: blau. Nicht mattschwarz – geheimnisvoll tiefes, absorbierendes, akzeptierendes, unverbindliches, priesterliches Schwarz, wie bei den alten Schreibmaschinen – sondern ein hartes, kühles, modernes Blau, das sie sogar bei Kerzenlicht den argwöhnischen, zensierenden Blick des Zollinspektors oder Leistungskontrolleurs aufsetzen läßt. Sie scheint mir über die Schulter zu blicken, selbst wenn ich über die ihre blicke. Gut, diese Pilzsporen, die ich beim Ausputzen meines Kühlschranks unabsichtlich geschnupft habe, mögen meine Wahrnehmung erweitern, aber dies ist nicht das erste Mal, daß Einschüchterung durch die Schreibmaschine mich die Feder in Erwägung ziehen läßt. Bleistifte kommen nicht in Frage, ihre Zeichen sind unbeständig. Die Füllfeder leckt natürlich; Kugelschreiber haben keinen Stil und laufen immer aus dem Haus. Die Pfauenfeder sagt mir zu, die Spechtfeder noch mehr, aber letztere ist schwer zu bekommen, und erstere kratzig und langsam. Was ein Romancier vielleicht braucht, ist eine andere Art von Schreibwerkzeug. Etwa eine Remington aus Balsaholz, deren Teile wie ein Modell aus der Knabenzeit zusammengeleimt sind; zierlich, gefügig, stets bereit, wie ein As in die Höhe zu schweben. Besser noch, eine geschnitzte Schreibmaschine, aus einem einzigen Block der heiligen Zypresse gehauen; ausgeschmückt mit mineralischen Pigmenten, Beerensaft und Schlamm; ihre
Tasten lebende Pilze, ihr Band die lange schillernde Zunge einer Eidechse. Eine Tier-Schreibmaschine, ruhig, bis sie berührt wird, dann aber mit Knurren und Quieken und Kreischen, mit Jaulen und Blöken und Schnauben, mit Wiehern und Schnattern und dürrem Klappern aus dem Gebüsch die Seiten füllend; eine Schreibmaschine, die echte Küsse tippen, die Samen und Schweiß verströmen könnte. Oder – eine Schreibmaschine, von einem pensionierten Seemann aus winzigen Muscheln zusammengefügt, in eine Flasche eingebaut, so daß sie nur mit dem kleinen Finger der linken Hand eines Rechtshänders bedient werden kann. Eine linkshändige Schreibmaschine für eine Arbeit, die gemeinhin mit der linken Hand gemacht wird. (Sie sind sich, wie ich annehme, der wissenschaftlichen Entdeckung bewußt, daß unser Universum Seite an Seite mit einem parallelen Universum lebt. Die zwei Universen, in mancher Hinsicht identisch, sind nach elektrischer Ladung und magnetischen Eigenschaften einander entgegengesetzt: das sogenannte »Anti-Universum« ist in der Tat ein Spiegelbild, eine Umkehrkopie. Nun sind gewisse Aminosäuren linkshändig, manche sind ihr Spiegelbild und rechtshändig. Die Proteine in lebenden Organismen aber sind immer linkshändig. Die rechtshändigen Aminosäuren sind völlig unverdaulich und können lebensgefährlich sein. Es ist nicht klug, etwas zu essen, was man in einem Spiegel sieht. Und was jene Romane betrifft, die behaupten, die Realität zu »spiegeln« … möge ein Wort an die Einsichtigen genügen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sprang ein amerikanischer Flieger mit dem Fallschirm aus seiner brennenden Maschine und landete in einem isolierten Dorf in der Nähe des
japanischen Binnenmeeres. Die Dörfler, fromme Buddhisten, weit entfernt vom heißen Schauplatz der Ereignisse und den shinto/faschistisch/industriellen Philosophien, die diese Ereignisse ausgebrütet hatten, nahmen den Bruchpiloten auf und pflegten ihn. Sie hielten ihn mehrere Monate verborgen und am Leben, bis er schließlich dennoch verstarb. Da Buddhisten Ehrfurcht vor allem Leben haben, achteten sie auch die Anstandsformen des Todes. Die Dörfler wünschten, dem toten Ausländer das ihm zustehende Begräbnis zu gewähren, aber die einzigen Beerdigungsbräuche, mit denen sie vertraut waren, waren die buddhistischen, und diese wären natürlich unangebracht gewesen. Nachdem sie den Leichnam in Eisblöcke gepackt hatten, machten sie sich daran, Erkundigungen über christliche Beerdigungsverfahren einzuziehen, alles ganz diskret, um nicht den Argwohn der Behörden zu erregen. Sie hatten wenig Glück. Zuletzt schmuggelte irgend jemand eine japanische Übersetzung eines englischsprachigen Buches ins Dorf, das die Aufklärung zu bieten versprach, die sie suchten. Das Buch hieß Finnegans Wake. Wenn Sie sich diese fernen japanischen Bauern von 1945 ausmalen können, wie sie ernsthaft versuchen, eine trunkene irische Totenwache zu halten – James Joyces experimentelle Wortspiele machten die Sache nicht einfacher –, dann können Sie sich die Beziehung zwischen einem Schriftsteller, seiner Schreibmaschine und jener Realität ausmalen, zu deren Nachschöpfung er seinen Linksausleger einzusetzen verpflichtet ist, auch wenn er nur zu gut um die Funktion weiß, die Araber und Hindus der linken Hand zuweisen.)
Ich bin nicht so weit hinüber, daß ich erwarte, die Techniker könnten daran interessiert sein, Maschinen für Künstler zu entwerfen – ja, wenn die Romanciers hölzerne Schreibmaschinen bekämen, würden die Dichter dann nicht verlangen, daß die ihren aus Eis wären? Wahrscheinlicher ist, daß die Technologie die Künstler übergehen wird, daß ein Tag kommt, da unsere Romane von Computern geschrieben werden, den gleichen Geräten, die unsere Wandfreskos malen und unsere Lieder komponieren werden. Wenn ich jetzt kichere, dann, weil ich mir einen Computer vorstelle, den man dahingehend programmiert hat, logische Varianten auf achtzehn mögliche literarische Plots zu produzieren, und mir weiter vorstelle, wie dieser Computer darzustellen versucht, was in Leigh-Cheris Dachboden geschah. Wenn ich kichere, so bedeutet es, daß die Remington SL3 besser auf ihre A-a’s und Bä-bä’s aufpassen sollte.
2. Phase
18 Das Flugzeug rollte am frühen Nachmittag in Honolulu aus, fünf Stunden vor Aufgang des Mondes, aber schon wiegten sich die Mai Tais, baumelten die Ananas, paarten sich die Mungos und kugelten sich die Kokosnüsse in Ekstase. Die Sonne von Hawaii war, im Gegensatz etwa zur Sonne von Nebraska, offenbar unter den Einfluß des Mondes geraten und neigte dazu, sich auf eine ziemlich feminine Art und Weise zu betragen. Nicht, daß die Sonne von Hawaii Ihnen nicht das Fell geschmort hätte, falls Sie ihr mit Nichtachtung begegnet wären, aber sie hatte eine romantische Aura, eine entschieden lunare Einstellung zu Amore, die die Sonne von Mexiko als weichlich und schwach abgetan hätte. Abgesehen von dem Verkehrsgewühl, dem Getöse der Apartmentbaustellen, den qualmenden Zuckerraffinerien und dem seltsamen Anblick japanischer Touristen, die in Cityanzügen und Straßenschuhen über die heißen Strände schlenderten, war Hawaii tatsächlich ein Reisetableau, eine lebende Brustwickelsalbe für die Paradiesgrippe. Die hawaiianische Sprache war so bekloppt sinnlich, daß die Straßenschilder sich wie Einladungen zu heidnischen Humbarumbarummelorgien lasen, und auf jeder nüchternen Zungenspitze lag ein »Nucki«. Hawaiianisch war eine Sprache, die es fertigbrachte, einen Fisch »Humuhumunukunukuapua’a« und einen Vogel »O-o« zu benennen, ungeachtet, daß der Vogel größer war als der Fisch. Der Humuhumunukunukuapua’a
(eine Schreibmaschine, die dieses Wort so genießt wie die Remington SL3, kann eigentlich doch nicht ganz schlecht sein) tummelte sich noch immer in den hawaiianischen Gewässern, keine fünfzig Schritt von den Lederschuhen der Sony-Manager entfernt, aber der O-o, dieser prächtige Honigsauger, war längst verschwunden. Das hawaiianische Königtum stand auf O-oSchwanzfedern, wenn es darum ging, Zeremonienmäntel herzustellen. Hawaiis Herrscher waren Hünen, ihre Mäntel sehr lang. Es brauchte eine Menge Schwanzfedern, um einem König einen Mantel zu machen. Der O-o wurde bis zur Ausrottung ausgerupft. O-O Spaghetti-O. Obwohl die ökologischen Konsequenzen ihr widerstrebt hätten: Leigh-Cheri konnte sich durchaus in O-o-Federn vorstellen. Hätte unsere blasse Prinzessin sich ein Land aussuchen dürfen, um dessen Königin zu sein, so war es Hawaii. In dem Augenblick, als sie aus dem Jetliner trat, begann ihr Herz reinen Hibiskussaft zu pumpen. Wären ihr die Hände hinter dem Rücken gefesselt, und hätte die Welt Hawaii in ihrem Wandtresor, sie hätte einen Weg gefunden, um es herauszuholen. Hawaii machte den Mund ihrer Seele wäßrig. Aber ach, Leigh-Cheri hatte nicht viel Gelegenheit zu Träumereien. Wegen der Froschprobleme war ihr Flugzeug nur Minuten vor dem planmäßigen Anschlußflug nach Maui auf Oahu gelandet. Sie und Gulietta mußten von einem Ende des Honolulu Airport zum anderen rennen, falls man Guliettas Trippeln überhaupt als Rennen bezeichnen konnte. So fest entschlossen war ihr Spurt, daß sie nicht einmal bemerkten, daß Bernard Mickey Wrangle neben ihnen galoppierte.
19 Der Flug nach Maui war holprig wie der eines Papierdrachens. Während das kleine Flugzeug von Unterwinden herumgestoßen wurde, nahmen mehrere Passagiere den Farbton hawaiianischen Laubwerks an. Leigh-Cheri aber war an diesem Morgen von Chuck, dem Chauffeur, zum Airport gefahren worden, und nach einer solchen Fahrt hätte es mehr gebraucht als etwas turbulente Luft, um sie zu entnerven. Und Gulietta war einfach zu alt, um sich durch irgend etwas entnerven zu lassen, obwohl sie noch immer wegen der Beschlagnahmung ihres Totemtiers schmollte. Was Bernard M. Wrangle betraf, der hinter der Prinzessin saß und ihr rotes Haar studierte, so pochte sein Herz friedlich gegen die auf seine Brust geklebten Sprengkörper. Wie das Flugzeug hopste auch Leigh-Cheris Sinn auf und ab, von einer Ebene auf die andere, dachte einen Moment an den Zauber von Hawaii, nach dem sie eine leichte Sucht verspürte, dachte im nächsten an das Care-Fest und an all das Gute, das davon ausgehen konnte, stürzte sich dann auf Gedanken über sie selbst, wer sie sei und wer sie sein könnte. »Ich bin eine Prinzessin«, ermahnte sie sich mit einem Minimum an Überzeugung, »eine Prinzessin, die auf einem Brombeerfeld bei Seattle aufgewachsen ist, die niemals auch nur einen Tennisschuh in das Land gesetzt hat, in dem ihr königliches Blut entstand, eine Prinzessin, die keinen Deut vom Prin-
zessieren weiß, die sich wie Krethi und Plethi benimmt, die, naja, enttäuscht ist von Männern und romantischer Liebe, die ein bißchen verwirrt ist, die noch viel lernen muß, aber immerhin eine Prinzessin, hol’s der Henker, genauso gut wie Caroline oder Anne, und obgleich im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts schon die Idee des Königtums künstlich, archaisch und irgendwie dekadent erscheinen mag, beharre ich doch auf meinem Prinzessinnentum, denn ohne das bin ich nur eine beliebige, körperlich attraktive Frau mit jenem Ich-bin-aufsCollege-gegangen-aber-es-hat-mir-nicht-gutgetan-Blick und habe sonst nicht sehr viel zu bieten. Wenn ich auch als Liebende verloren bin, so bin ich doch als Mensch vorhanden. Ich spüre den Schmerz der Menschheit in mir, in meinem Bauch, etwa acht Zoll über dem Pfirsichfisch. Ob ich übermäßig empfindlich für diesen Schmerz bin, weil ich eine Prinzessin bin – ist vielleicht die ganze Welt die Erbse unter meiner Matratze? –, weiß ich nicht, aber weil ich eine Prinzessin bin, könnte ich in der Lage sein, etwas zu tun, um den Schmerz der Menschheit lindern zu helfen. Und vielleicht kann gerade das Care-Fest mir den Weg zeigen, es zu tun. Ich frage mich, ob Ralph in unserem Hotel absteigt? Hoffentlich habe ich mein Atomkraft-NeinDanke-T-Shirt eingepackt. Treiben sich nicht Crosby, Stills and Nash in Lahaina herum? Kann ich mehr als einen Mai Tai trinken, ohne den Duft eines erregten Schmetterlings anzunehmen?« Ihre Gedanken stürzten und hoben sich in der unbeständigen Luft. Nach nicht allzulanger Zeit waren sie über Molokai hinweg geflogen und konnten im Südosten die rötliche Korona des
Haleakala aufsteigen sehen – wie den Stein in einem Ring nach der Art Truman Capotes. »Maui«, flüsterte Leigh-Cheri Gulietta zu. »Maui.« Ihre eigene rote Krone schnellte hoch, als sie sich in ihrem Sessel aufrichtete. Bernard – der Buntspecht – betrachtete sie mit dem Blick eines Experten.
20 Bernard hegte den Verdacht, die Behörden könnten Kontrollen der Käufe von Haarfärbemitteln durchführen und mischte sich seine eigene Farbe aus Wurzeln und Baumrinde. Sie hatte einen eigenartigen Geruch, aber die Frauen fanden das nicht unattraktiv. Für Bernard beschwor der Duft Erinnerungen an Geierschatten und Wolfsgeheul; an Kokain, hochexplosive Stoffe und Schlachtrösser mit sicherem Tritt; an das Versteck hinter dem Wasserfall. Was seine Wirkung auf andere betraf, so war Bernard mehr als einmal gefragt worden, ob er sich die Haare mit root beer schamponiere. Er färbte ausschließlich sein Haupthaar und war aus diesem Grund darauf bedacht, nur im Dunklen Liebe zu machen. Einmal verschüttete er den Farbstoff über seine Schuhe. Seitdem zog er zum Färben immer seine Stiefel an. Die zwölf berühmtesten Rotköpfe: 1. Lucille Ball, Komikerin 2. General George Custer, militärischer Einzelgänger
3. Lizzie Borden, Machetenfrau 4. Thomas Jefferson, Revolutionär 5. Red Skelton, Komiker 6. George Bernard Shaw, Stückeschreiber 7. Juda Iskariot, Spitzel 8. Mark Twain, Humorist 9. Woody Allen, Humorist 10. Margaret Sanger, Feministin 11. Scarlet O’Hara, Hexe 12. Bernard Mickey Wrangle, Bombenwerfer Beim Betrachten dieser Liste könnten analytisch Begabte auf die Idee kommen, Personen mit rotem Haar neigten dazu, entweder gefährlich oder lustig zu sein. Und doch hat nur ein einziger aus diesem Dutzend je seine oder ihre Haarfarbe verbergen müssen. Sogar Judas ließ seine natürlichen Farben prangen. Judas Iskarottenkopf. Wie kam Bernard damit zurecht, seine Buntspechtfedern in Krähenfräcke zu hüllen? Den bewundernden Blicken nach zu urteilen, die er auf Leigh-Cheris Krone und die des Haleakala richtete, könnte ein oberflächlicher Beobachter zu der Ansicht gelangen, ihn mit einem unter einer Kohlenschütte gefangenen Liebhaber von Rubinen zu vergleichen. Bei sorgfältigerer Untersuchung aber müßte man vermelden, daß er sich ein geradezu diebisches Vergnügen daraus machte, seine Locken umherzuschmuggeln, ihre Glut durch eine hauchdünne Pigmentschicht vor dem kalten Auge des Gesetzes verborgen zu halten. Und natürlich trug Bernard, wie alle Männer, in seiner Hose den berühmtesten Rotkopf überhaupt mit sich herum – ein lustig und gefährlich Ding.
21 Bernard war nicht der einzige Bewunderer Leigh-Cheris an Bord des Aloha Airlines-Fluges 23. Ein junger Mann mit langem wogenden Bart, Aloha-Shirt und in seinen Pferdeschwanz eingeflochtenen Hibiskusblüten saß auf dem Sessel vor ihr und hatte sich umgedreht, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Er sei auf dem Weg zum Care-Fest, sagte er, um in einem Workshop Meditationstechniken zu lehren. Der junge Mann versuchte, Leigh-Cheri für sein Programm zu interessieren. Er erbot sich, ihr persönlich Unterricht in Meditation zu erteilen, kostenlos. Sie schien es ernsthaft zu erwägen. Bernard beugte sich vor, bis sein sommersprossiges Kinn auf ihrer Sessellehne zu liegen kam. »Yum«, sagte er. Die Prinzessin zuckte zurück, sah sich aber nicht um. Der junge Mann vor ihr fing gerade an, ihr seine Pukamuschelhalskette vorzuführen. Während er die Pukas befingerte, sprach er leise von tiefer Entspannung, innerem Frieden und der Weisheit, die Dinge fließen zu lassen. »Yum«, wiederholte Bernard. Er sagte es sehr nah am königlichen Ohr. Diesmal fuhr sie herum. Ihr Ausdruck war ungehalten. »Wie bitte!« Bernard lächelte süß wie eine verspätete Kürbiskopflaterne. »Das ist mein Mantra.« Leigh-Cheri funkelte ihn an, wie nur jemand von der rothaarigen Zunft funkeln kann. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte schlechte Zähne. Er trug eine Donald-Duck-Sonnenbrille.
Eine Ulkbrille. Sie wandte sich wieder dem Meditationslehrer zu, der Bernard finster anstarrte und ihr gleichzeitig einen mitfühlenden Blick zukommen ließ. »Es gibt nur zwei Mantras«, sagte Bernard. »Yum und Yuk. Meines ist Yum.« Es klang halbwegs logisch, aber die Prinzessin lehnte es ab, zu antworten. Sie umklammerte Guliettas Hand und fragte den Junior-Guru vor ihr, wie die Meditation dazu beitragen könne, die Leiden der Welt zu lindern. »Yum«, sagte Bernard. »Yuu-mmm.« Leigh-Cheri ignorierte ihn. Die anderen Passagiere betrachteten ihn befremdet. »Brauchen Sie etwas, Sir?« fragte die Stewardess. Bernard zuckte die Schultern. Er sah aus dem Fenster. Er sah auf den rosigen Rand des großen Vulkans. Haleakala – »Haus der Sonne«. Wenn es der Haleakala war, wo die Sonne ihr Zuhause hatte, wie lautete dann die Adresse des Mondes? Wohnte der Mond in Frankreich, an der Main Street?
22 Dem Ausbruch des Haleakala – im Verein mit einem kleineren Vulkan – verdankte die Insel Maui ihre Existenz. Das muß eine Riesenshow gewesen sein. Der Krater hatte einen Durchmesser von siebeneinhalb Meilen und eine Höhe von mehr als zehntausend Fuß, und doch muß der Haleakala eine Wucht gehabt haben, der selbst die eindrucksvollsten Zahlen nicht gerecht
werden. Der Haleakala war ein so unheimlicher, ungewöhnlicher Ort, daß die Neigung bestand, ihn mit anderen Welten, Welträumen in Verbindung zu bringen. In der Tat schwor ein äußerst hoher Prozentsatz der Besucher, die dort über Nacht kampierten, um den berühmten Sonnenaufgang des Haleakala, das Erwachen der Sonne in ihrem eigenen Schlafzimmer, zu besichtigen, seltsam beleuchtete Gebilde am Himmel gesehen zu haben. Dem schlummernden Vulkan mit seinen zerbröckelnden Steinrondellen, seinen lunaren Konturen, seinen schwarzen und roten Sandbahnen wurden schließlich übernatürliche Eigenschaften zugeschrieben. Viele hielten ihn für ein Weltenzentrum, einen intergalaktischen Verbindungspunkt, eine kosmische Peilstation, den irdischen Kopfbahnhof für Raumschiffe aller Grade von Materialität und Sichtbarkeit. Schließlich behaupteten so viele, sie hätten UFOs um den Haleakala schwirren sehen, daß er ein Mekka für Untertassenfanatiker und kosmische Möchtegern-Kosmopoliten wurde. Individuen und ganze Kulte mit Weltraumorientierung siedelten in den Tälern am Fuße des Berges. Als sich die Kunde von dem bevorstehenden Care-Fest aus Lahaina ins Innere Mauis verbreitete, rotteten sich die verschiedenen Fliegende-Untertassen-Gruppen zusammen, um zu verlangen, daß auch sie in die Konferenz einbezogen würden. Die Tatsache, daß Timothy Leary auf das Care-Fest eingeladen worden war, um dort seine Theorien über erdumkreisende Weltraumkolonien vorzutragen, gefiel ihnen, beschwichtigte sie aber nicht. »Die Zukunft der Erde hängt an der Zukunft des Universums«, argumentierten sie. Etliche gingen so weit zu
behaupten, daß die Zukunft der Erde in den Händen höherer Wesen auf fernen Planeten läge. Das Care-Fest wäre der totale Schwindel, sagten sie, es sei denn, die UFO-Gelehrten und Zwischenhändler würden mit einbezogen. »Die Tagesordnung ist bereits festgelegt, und sie ist ohnehin randvoll«, hielten die Organisatoren entgegen. Den Untertassenleuten war das wurscht. Sie ließen ihre Kryptonmaschinen rasen, ihr grünes Auspuffgas wogen. Vom dreizehnten Stock des Darth Vader Buildings gingen Verlautbarungen und Erklärungen heraus. Man einigte sich auf einen Kompromiß. Den Untertässlern von Maui wurde die Benutzung der Konferenzeinrichtungen für den Sonntag zugestanden, den Tag vor der offiziellen Eröffnung des Care-Fests, den Tag, an dem Leigh-Cheri in Lahaina eintraf. Als die Prinzessin und ihre Anstandsdame im Pioneer Inn eincheckten, war dort also bereits eine UFO-Tagung im Gange. »Wie eigenartig«, bemerkte Leigh-Cheri, als sie die fließenden Gewänder und geweiteten Augen der Delegierten bemerkte. In der Lobby hielt sich niemand auf, der auch nur im entferntesten so aussah wie Ralph Nader. Teufel auch, es war Sonntag. Sonntag ist Sonntag, selbst in Hawaii. Kein Quentchen Orchideennektar, kein O-o-Federkleid war in der Lage, die Farbe des Sonntags zu ändern, und die war … wie Buttermilch, Zahnpasta und Camembert-Käse. LeighCheri hatte Besseres zu tun, als an einem Sonntag voreilige Schlüsse zu ziehen. Nach dem Auspacken hockte sie sich auf die Lanai, wo sie, von tropischem Zwielicht wohlig umflutet, das Sonntagsblatt des Honolulu-Advertiser durchblätterte. Lanai, so nannte man
in Hawaii eine Veranda, aber Lanai war gleichzeitig der Name einer der kleinsten hawaiianischen Inseln. Die Insel Lanai lag gleich vor Maui, die Veranda von Maui könnte man sagen, und von Lahaina aus war sie deutlich zu erkennen. In jenen Tagen war Lanai ziemlich fest im Besitz der Dole Corporation, die dort Ananas anpflanzen ließ und die Zahl der Besucher klein hielt, aber Lanai war nicht immer eine Insel in Firmenbesitz gewesen. Nein, einst gab es eine Zeit, da war sie ein Territorium für Outlaws, ein Refugium für Flüchtlinge. Wenn ein hawaiianischer Gesetzesbrecher es bis nach Lanai schaffte, war er frei und in Sicherheit. So lautete die Abmachung. Die Polizei hatte ihre Amtsgewalt an der Küste Lanais freiwillig ausgesetzt. Wenn ein entsprungener Häftling oder ein Übeltäter auf der Flucht vor Vergeltung es fertigbrachte, sieben Jahre auf der Insel (die wenig Nahrung oder frisches Wasser bot) zu überleben, wurden die Anklagen gegen ihn fallengelassen, und er konnte als freier Mann in die Gesellschaft zurückkehren. Mag sein, daß Bernard Mickey Wrangle aus diesem Grund am Hafen von Lahaina stand und nach Laina hinüberschaute – er schaute lange hinüber, trat von einem Stiefel auf den anderen und murmelte von Zeit zu Zeit ein tonloses »Yum« vor sich hin. Der Buntspecht war seit über sechs Jahren auf der Flucht. Noch elf Monate und die Verjährungsfrist wäre abgelaufen; in den Augen des Gesetzes war er dann wieder »frei«. Der Specht starrte zu der früheren Outlaw-Insel hinüber, bis sich ihre Konturen auflösten wie brauner Zucker im flutenden Tee der Nacht. Dann ging er über die Straße zum Pioneer Inn, dem alten, wiederhergestellten Walfängerhotel, wo sich die übliche Ansammlung von internationalen Strandgammlern,
coolen Kamaainas, Yachtcrews, Amateurabenteurern, vagabundierenden Kellnerinnen, Studenten in der Metamorphose von mittelwestlichen Bücherwürmern zu südpazifischen Nachteulen (»Die Ananas-Universität ist meine Alma Papaya, ich habe mango cum laude promoviert«), Rockmusikern unterschiedlicher Qualität und Berühmtheit, geschiedenen jungen Frauen (die älteren fuhren nach Waikiki), Tauchern (Korallen-, Busenund Handtaschen-), Pukaverkäufern, T-Shirt-Spritzpistoleros und Berkeley-Radikalen (mit einer geheimen romantischen Ader) breit machte. Sie kamen und gingen, flirteten und schacherten, posierten und plusterten sich auf, schmiedeten Ränke und ließen Dampf ab, hatten stets einen Gin oder Rum vor den Lippen und ein Nirwana oder eine Revolution gerade nicht zur Hand. An diesem Sonntagabend mischten sich frisch eingetroffene Teilnehmer des Care-Fests unter die Stammgäste, berühmte sowie unbekannte; dazu ein Mann und eine Frau vom Planeten Argon, die sich von der UFO-Konferenz fortgestohlen hatten, um eine Pina colada zu trinken. Und der Buntspecht. Der Specht übte sich im Tequilatrinken. Die Pioneerbar war so überfüllt, daß viel trockene Zeit zwischen den Besuchen des Kellners lag, darum bestellte der Buntspecht Dreistöckige. Lanai, dieses trockene Asyl, hatte offenbar seine Durstpapillen stimuliert. Er schlürfte seine Tequilas mit einem Geräusch, das einem »Yum« nicht unähnlich war, suchte den Raum vergeblich nach einem Schimmer langen roten Haares ab und spürte die sieben Sprengstoffstangen beinah erotisch gegen die Sommersprossen seines Fleisches drücken. Nun mag Tequila der Lieblingstrank der Outlaws sein, was aber nicht heißt, daß er ihnen eine Vorzugsbehandlung ge-
währt. In der Tat hat der Tequila wahrscheinlich ebenso viele Outlaws verraten, wie es das Zentralnervensystem oder unbefriedigte Ehefrauen getan haben. Tequila, Skorpionhonig, herber Tau der Doglands, Essenz der Azteken, Crema de cacti; Tequila, ölig und thermisch wie die Sonne in gelöstem Zustand; Tequila, flüssige Geometrie der Leidenschaft; Tequila, der Bussard, der sich hoch in der Luft mit den Seelen auffahrender Jungfrauen paart; Tequila, Glühwürmchen im Haus des guten Geschmacks; oh, Tequila, wildes Wasser der Zauberei, welche Verwirrung, welches Ungemach schaffen deine hinterhältigen, rebellischen Tropfen! Zweifellos war es der Tequila, der Bernard ungeduldig machte, der ihn so benebelte, daß er die UFO-Konferenz mit dem Geo-Therapy Care-Fest verwechselte. Infolgedessen wurde die Untertassenkonferenz Arsch über Teetasse in die Luft gesprengt.
23 Sogar betrunken war Bernard Mickey Wrangle ein Meister der Sprengkunst. Er placierte das Dynamit so genau (indem er vier Stangen entzweibrach und sie außen, in Abständen von zwanzig Fuß, an die Wände legte), daß sich das Pioneer Inn wie ein nasser Hund schüttelte; jedes Fenster zersprang an der gleichen Seite, Wandbretter knackten, Elektroinstallationen und Topfpflanzen knallten auf den Boden des Konferenzraumes, Qualm
und Staub waberten eine halbe Stunde, und die Untertassenleute, versengt und zerkratzt, flatterten durcheinander, als wäre das jüdische Mutterschiff, Strahlen kochender Hühnersuppe verschleudernd, in ihrer Mitte gelandet – und doch wurde nicht ein Mensch ernstlich verletzt. Einerseits war es also ein Meisterstück feinster Dynamitsprengung, andererseits ein Fauxpas. Als er am Montagmorgen, sehr zur Freude seines Katers (ein Kater ohne Kopf, den er plagen kann, ist wie ein Philanthrop ohne Stiftung, die er beschenken kann) erwachte und erfuhr, daß er seine Ladung in die falsche Tonne gekippt hatte, zog der dämliche Ausdruck des Ejakulators praecox über sein Gesicht. Beim Frühstück, wo er, in der Hoffnung, Aufsehen zu vermeiden, seinen Tischgenossen zu verheimlichen suchte, daß er Bier über seine Haferflocken goß, widmete er sich selbst ein: »Yiks.« Er sagte noch einmal »Yiks«, ohne sich mit der Überlegung aufzuhalten, daß es drei Mantras geben könnte; sagte es gleich noch einmal: »Yiks.« – »Yiks, das war knapp. Knappe Gespräche sind die einzigen, die ein Outlaw führen sollte, aber mein lieber Specht, die Sache gestern abend grenzte an Wahnsinn. Bedenkt man den Tequila-Pegel in meinem Schlund und die Zahl menschlicher Kokosnüsse, die zu jeder Stunde in Lahaina herumhulahopsen, ist es direkt ein Wunder, daß ich nicht gesehen worden bin.« Ja, selbst im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts geschahen noch Wunder – doch das hier gehörte nicht dazu. Es gab einen Zeugen für Bernards Tat. Die alte Gulietta hatte die ganze Sache beobachtet.
24 Für Gulietta waren sanitäre Installationen Teufelswerk. Von allen Narrheiten der modernen Welt schien diese ihr die unnötigste. Es hatte etwas Unnatürliches, Törichtes und ein bißchen Schmutziges an sich, sein Geschäft im Haus zu verrichten. Auf den europäischen Gütern, wo sie aufgewachsen war, war es bei den Dienstmädchen allgemein üblich gewesen, draußen ihre Röcke zu lüften. Gulietta hatte keinen Grund gesehen, ihre Gewohnheiten in Seattle zu ändern. Obwohl es sich als schwierig herausstellte, dort seine natürliche Pflicht zu verrichten, ohne vollgeregnet zu werden oder von einer Brombeerranke einen Stich, brennend wie Hämorrhoiden, versetzt zu bekommen, fühlte sie sich wohl, sogar glücklich, wenn sie an der frischen Luft hocken konnte. Außerdem war es eine günstige Gelegenheit, Frösche auszuspähen. Die Alte hatte Leigh-Cheri, die über Programmen und Presseerklärungen brütete, in ihrem Zimmer zurückgelassen und war hinausgegangen, auf der Suche nach einem geeigneten Ort, ihre Blase zu leeren. Die weiche warme süße Nacht von Lelani schien ihr dafür genau richtig. Das Pioneer Inn lag unglücklicherweise mitten in Lahaina und hatte kein freies Gelände. Es hatte aber einen Hof, der am Sonntag um 11 Uhr abends ziemlich verlassen dalag; also war Gulietta unter die Bananenstauden neben einer Mauer geschlüpft und hatte ihren Schlüpfer fallen lassen. Bevor sie ein Bächlein auf die Reise schicken konnte, war Bernard, keine fünf Meter von ihr entfernt, unter das Laub
gekrochen. Sie dachte, auch er sei zum Pinkeln gekommen, und hatte nichts dagegen, doch die Länge des Dings, das er aus seiner Jeans zog, ließ ihr fast den Atem stocken. Als er es entzweibrach, war es soweit – er stockte. Gulietta war klein. Sie verstand es, still dazusitzen. Wie eine Kröte. Unentdeckt, ihr Wasser zurückhaltend, hatte sie die ganze Sache beobachtet. Nachdem er die Zündschnur angesteckt hatte, machte der Specht Beine. Gulietta zog ihren Reformschlüpfer hoch und machte es ihm nach. Sie hatte kaum ihr Zimmer betreten, als die Explosion auch schon losging. Schlagartig wurde ihr klar, was es hieß, im Haus zu pinkeln.
25 In der Welt, wie sie sich dem Positivisten darstellt, ist das Erhebende an Rühreiern, daß man sie drehen kann wie man will, und das Gelbe vom Ei ist immer oben. In der Welt, wie sie sich dem Existentialisten darstellt, ist das Hoffnungslose an Rühreiern, daß man sie drehen kann wie man will, und sie sind immer durcheinandergerührt. In der Welt, wie sie sich dem Outlaw darstellt, gab es Haferflocken mit Bier zum Frühstück, und es war völlig wurscht, wer zuerst über die Straße gelaufen kam, das Huhn oder das Ei. Aber wie man das Geo-Therapy Care-Fest auch drehte, es ließ sich nicht leugnen, daß Bernards Sprengung es indirekt durcheinandergerührt hatte. Da der Konferenzraum des Pioneer Inn arg reparaturbedürf-
tig war, Polizisten, Nachrichtenreporter und neugierige Gaffer an Ort und Stelle durcheinanderflitzten wie kauflustige Lemminge bei einer Selbstmordversteigerung und das Hotelmanagement sich einer scheußlichen Nervenkrise hingab, verbrachten die Organisatoren der Konferenz den ganzen Montag mit dem Versuch, ein neues Lokal zu finden. Halbherzig bemühten sie sich um Obdach in dem einen oder anderen der Luxushotels, ein paar Meilen weiter oben an der Küste, bei Kaanapali, und vernahmen teilweise erleichtert, daß dort kein Platz sei. Alt, aus Holz gebaut und voller Südseemoder, hatte das Pioneer Inn der Gefühlslage des Care-Fests weit mehr entsprochen. In der Tat war es das erste Mal seit seiner Eröffnung im Jahre 1901, daß das Pioneer Inn Schauplatz einer offiziellen Versammlung sein sollte, eine Tatsache, die dem Stab des Care-Fests gefallen hatte, aber ein Fehler, den das Inn wohl nicht wiederholen würde. Endlich, am Dienstag, gaben die Behörden von Lahaina den Weltrettern die Erlaubnis, sich unter dem riesigen Banyanbaum zu versammeln, dessen Äste einen halben Hektar des Stadtparks beschirmten. Phantastisch. Vielen schien dies ein noch passenderer Tagungsort zu sein als das Pioneer Inn, das schließlich ursprünglich zur Verpflegung der Walfängerzunft erbaut worden war, eine Ironie, die jenen Care-Festlern, denen die Erhaltung von Walen und Delphinen ein wichtiges, hochemotionales Anliegen war, nicht verborgen geblieben war. Bis aber alles unter dem Banyanbaum organisiert werden konnte, war es Mittwoch, eine halbe Woche war verpulvert, und eine ganze Reihe von Berühmtheiten, die vor der Versammlung hatten sprechen sollen, war abgereist oder zog es vor, nicht mehr
teilzunehmen. Viele konnten ihre emsigen Terminpläne einfach nicht auf das geänderte Programm abstimmen; einige fühlten sich von den UFO-Delegierten (einschließlich des durchreisenden Pärchens aus Argon) abgestoßen; versengt und zerprellt waren sie nach wie vor anwesend und verbreiteten Gerüchte über die erstaunlichsten Verschwörungen und Konspirationen; wieder andere sorgten sich wegen der Möglichkeit weiterer Explosionen, eine keineswegs unberechtigte Sorge, wenn man bedenkt, daß der Buntspecht nach wie vor auf Maui war, mit drei Stangen Dynamit im Gewande.
26 Prinzessin Leigh-Cheri ihrerseits verbrachte Stunde für Stunde damit, ihren frisch sonnenverbrannten Finger über die Liste der vorgesehenen Sprecher zu bugsieren – Dick Gregory, Marshall McLuhan, Michio Kushi, Laura Huxley, Ram Dass, David Brower, John Lilly, Murray Gell-Mann, Joseph Campbell, Elizabeth Kübler-Ross, Marcel Marceau et al. – und fragte sich, wer auftreten würde und wer nicht. Alles was recht ist, die Prinzessin hätte lieber, Care-Fest hin oder her, ihr geliebtes Hawaii genießen sollen; doch es war Gulietta, die in der Brandung umhertollte, während ihre junge Herrin im Schatten (Rotköpfe verbrennen leicht) dieses oder jenes Koa-Baums hockte, Listen überprüfte und einen Schmollmund zog, als sei sie selbst der Koa, dessen Blätter ja
auch wie Lippen oder Halbmonde aussahen. Es gab eine schwarze Wolke auf ganz Hawaii, und die parkte ausgerechnet über ihrem Kopf. Sie war, gelinde gesagt, enttäuscht über das Durcheinanderrühren des Care-Fests, und angedenk all der Enttäuschungen des vergangenen Jahres begann sie zu fürchten, sie sei womöglich verhext. Sie fragte sich, ob nicht Gulietta diesen Frosch mitgenommen hatte, um sie zu schützen. »Gottverdammt«, sagte sie. »Eine Prinzessin hat Besseres verdient.« Zu allem Überfluß hatte eine merkwürdig schöne Frau in Turban und Toga Leigh-Cheri in der Lobby angehalten, um ihr, über den Lärm der emsig neue Fenster einsetzenden Arbeiter hinweg, mitzuteilen, daß Rotköpfe auf dem Planeten Argon als böse gelten und daß sie, sollte sie irgendwelche Pläne für Weltraumreisen haben, dort lieber nicht vorbeischauen solle. Das wirkte wie Schmirgelpapier auf Leigh-Cheris Sonnenbrand. »Rotes Haar ist die Folge von Zucker und Wollust«, teilte ihr die Frau, die selbst blond war, vertraulich mit. »Höherentwickelte Wesen geben sich nicht dem Zucker und der Wollust hin.« Es war eine Unverschämtheit, so etwas zu sagen, besonders in Hawaii, wo Zucker und Wollust vor Ananas und Marijuana als Exportfrüchte Nr. 1 rangierten. Und nachdem LeighCheri erst kürzlich – ohne jeden Gedanken an ihren Status auf Argon – begonnen hatte, genau diese Schleckereien aus ihrem Leben zu verbannen, machten sie die Anschuldigungen der Frau defensiv und bewirkten, daß ein übermäßiges Schuldgefühl den Farbton ihrer Schwermut noch schwärzer färbte. Sie rollte durchs Paradies wie vier abgefahrene Reifen an einem Krankenwagen.
Dienstag, am späten Nachmittag, geschahen drei Dinge, die ihre Stimmung rundum erneuerten. Erstens checkte Ralph Nader im Pioneer Inn ein und ließ verlauten, er werde am nächsten Abend wie geplant im Banyan-Park sprechen. Zweitens bat ein Reporter vom People-Magazin um ein Interview, und sie glaubte zum erstenmal, diesen Medienvertretern, die seit Jahren immer wieder versuchten, aus ihr eine »Story« zu machen, etwas zu sagen zu haben. Drittens machte Gulietta, die in ihrem Bikini aus dem immer frischen Ozean hüpfte – mager und blau wie eine Knasttätowierung – sie auf einen Mann am Strand aufmerksam und identifizierte ihn, durch Gesten und Onomatopöie (»bum-bum« heißt in jedem Land »bum-bum«, Dynamit spricht einen universellen Jargon), als den Bombenwerfer. Die Prinzessin zögerte nicht lange. Sie ging direkt auf den Mann zu und stellte ihn unter Staatsbürgerarrest.
27 Leigh-Cheri hatte keine Ahnung, daß sie dabei war, einen Mann zu verhaften, den tot zu sehen ein halbes Dutzend amerikanischer Sheriffs auf die Familienbibel geschworen hatten, daß sie einen Flüchtling gestellt hatte, der, wie es hieß, ein Jahrzehnt lang den gierigsten Netzen des FBI entschlüpft war, obwohl man gestehen muß, daß das Interesse an seiner Verhaftung in den letzten Jahren nachgelassen hatte – eine Folge des veränder-
ten Sozialklimas sowie seiner Untätigkeit. Natürlich hatte Leigh-Cheri schon von dem Buntspecht gehört, aber in den Tagen, als er dadurch Schlagzeilen machte, daß er Musterungsbüros und Einberufungszentren in die Luft sprengte, in den letzten Tagen des Vietnamkriegs, war sie noch ein Schulmädchen, das Brombeeren pflückte, Teddybären hätschelte, einer gewissen Gutenachtgeschichte lauschte und sich mit Butterblumen die Nase gelb färbte. Durch ein Klistier, welches Gulietta ihr auf Königin Tillis Geheiß verabfolgt hatte, wunderlich erregt, hatte Leigh-Cheri gerade an jenem Abend zum erstenmal masturbiert, an dem Bernard seinerseits seinen größten Coup landete, und die verwirrende Lust geheimen Fingerspiels – die frische Glut, die ihre Wangen erhitzte, die undeutlichen Vorstellungen von schmutzigen Spielen mit Jungens, die klebrige Feuchtigkeit, die nach Froschwasser roch und wie Haftperlen am dichter werdenden Flaum rund um ihren Pfirsichfisch pappte – dieser geheimnisvolle und beschämende kleine Schmerz der Ekstase stellte die weniger intimen Ereignisse jenes Tages hoffnungslos in den Schatten, unter anderem auch die Nachricht, daß der berüchtigte Buntspecht ein ganzes Gebäude auf dem Campus einer großen Universität des Mittelwestens gesprengt hatte. Bernard Mickey Wrangle hatte sich in jener Nacht nach Madison, Wisconsin, geschlichen. Damals war sein Haar noch rot, und rot war die Farbe der Notarztwagen und der Rosen; rot war der Hut des Kardinals und der Hintern des Pavians; rot war die Farbe des Blutes, die Farbe der Marmelade; rot machte den Stier verrückt, rot brachte den Stier zur Strecke; rot war die Farbe der Valentinssträußchen, der Linkshändigkeit und des neuentdeck-
ten schuldbeladenen Hobbys einer kleinen Prinzessin. Sein Haar war rot, seine Cowboystiefel schmutzig, sein Herz ein einziger Stock voller musikalischer Bienen. Mit Hilfe und Unterstützung der Buntspechtbande jagte er den Chemiebau der University of Wisconsin in die Luft. Angeblich waren die in diesem Gebäude durchgeführten Arbeiten nützlich für den Krieg, den die US-Regierung damals in Südostasien führte. Die Explosion ereignete sich um drei Uhr morgens. Das Gebäude hätte leerstehen sollen. Unglücklicherweise befand sich ein graduierter Student in einem der Labors, um dort ein Forschungswerk abzuschließen, das ihm die Doktorwürde eintragen sollte. Der fleißige Student wurde in den Trümmern gefunden. Nicht alles von ihm, aber genug, daß es ins Gewicht fiel. An den Rollstuhl gefesselt, wurde er Stereojockey in einer Disko in Milwaukee; er wechselte flotte Redensarten mit freizeitstrichenden Büroarbeiterinnen und spielte Barry White-Platten, als ob er an sie glaubte. Er hätte ein anständiger Wissenschaftler werden können. Sein Projekt, das durch die Sprengung vernichtet wurde, war die Vervollkommnung eines oralen Verhütungsmittels für Männer. Bernard gelang es, sicher in den Westen zu gelangen. Nur die Radionachrichten verfolgten ihn in das Versteck hinter dem Wasserfall. Dies eine Mal machten die Berichte ihm keinen Spaß. »Ich habe einem Mann seine Beine genommen«, sagte er zu Montana Judy. »Ich habe ihm seine Mannheit genommen, ich habe ihm sein Gedächtnis genommen, ich habe ihm seine Karriere genommen. Schlimmer, ich habe ihm seine Frau genommen, die sich aus dem Staub gemacht hat, als es mit
Mannheit und Karriere aus war. Noch schlimmer, ich habe wahrscheinlich die Entwicklung der Männerpille verhindert. Yiks. Ich muß bezahlen. Ich habe es nicht anders verdient. Aber ich werde auf meine Weise bezahlen, nicht auf die der Gesellschaft. So schlecht ich auch bin, es gibt keinen Richter, der gut genug ist, mich zu verurteilen.« Ein anderer Büßer hätte sich einer schmuddeligen religiösen Sekte angeschlossen oder sich in eine finstere Gasse gestellt und darauf gewartet, daß einer vorbeikommt und ihm den Kopf einschlägt. Bernards Art zu bezahlen bestand darin, daß er sich in ein eigenes chemisches Forschungsprojekt stürzte. Er untersuchte, erforschte und testete verschiedene esoterische Methoden der Geburtenkontrolle. »Wer weiß«, sagte er zu Montana Judy, »vielleicht finde ich etwas Besseres als die Pille des armen Kerls.« In der herbalistischen Literatur steht geschrieben, Schwarzwurz sei gut für Verstauchungen, und Kampfer sei gut gegen Krämpfe; Cascarilla mache Schluß mit Verstopfung, Traubenkirsche mit Sprachhemmungen; gegen Nasenbluten empfehle sich Kreuzdorn, und bei Lungenentzündung nehme man Stinkenden Zehrwurz. Ist man von sexuellem Verlangen geplagt, wird Lilienwurzel verschrieben, und für den Fall, daß Lilienwurzel versagt, gerade nicht zur Hand ist oder im Delirium der Krankheit einzunehmen vergessen wurde, können Krebswurz, Narde und Himbeere die Geburt ein bißchen erleichtern. Die herbalistische Literatur des Westens ist auffällig arm an Ratschlägen zur Empfängnisverhütung, entdeckte Bernard. Auffällig arm. Er verdächtigte die Kirche, ihre Finger im Spiel zu haben, aber Bernard verdächtigte die Kirche mancherlei.
Anthropologische Texte, die er aus öffentlichen Bibliotheken beiderseits der Rocky Mountains stibitzte, handelten vom förderlichen Einfluß der Baumgeister und Wassernymphen auf die Fruchtbarkeit, und wenngleich Bernard dies nicht bezweifelte – die weiblichen Mitglieder der Buntspechtbande bewiesen draußen in der Wildnis, wo es Baumgeister zuhauf gab, eine erstaunliche Tendenz zur Fruchtbarkeit –, fragte er sich, wo zum Teufel die Götter wären, die gegen das Dickmachen halfen. Die Eskimos von der Beringsee, die Huixol aus Mexiko, die Nishinam-Indianer aus Kalifornien, die Kaffernstämme Südafrikas, die Basuto, die Maori, die Ainu, sie alle fertigten Puppen als Abbilder des erwünschten Säuglings, und dieser Akt homöopathischer Magie führte die erwünschte Schwangerschaft galoppierend herbei. Welches Bildnis aber konnte man anfertigen, um Möchtegern-Embryonen fernzuhalten? Den Bräuten der Lkungen verabreichte man einen Sud aus Wespennestern, um sie fruchtbar wie Insekten zu machen. Wie viele Rhinozerosse mußte eine Braut essen, um das seltene Fortpflanzungsverhalten dieser Tiere zu imitieren? In alten Zeiten, als der Erfolg – manchmal das Überleben – eines Volkes von stetiger Vermehrung abhing, wurde alle verfügbare Magie aufgeboten, um die Fruchtbarkeit zu fördern. Erst nach der industriellen Revolution erschienen Abschreckungsmittel gegen die Fruchtbarkeit allgemein wünschenswert (wünschenswert für die Gesellschaft insgesamt, nicht für die einzelnen unglücklichen Liebenden), und im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, als Überbevölkerung sich zu einer der größten Gefahren für den Planeten entwickelte, gab es keine Magie mehr, die man hätte aufbieten können. Oder doch?
Vielleicht in Asien … In einer Bar in Boulder, Colorado, sah Bernard in einer Fernsehserie mit dem Titel »Sie fragen …« einen bemerkenswerten Dokumentarstreifen. Irgendwo in Indien gab es ein Dorf, an dessen Rand, zwischen den Steinen, eine große Albino-Kobra hauste. Jahrelang hatte die Schlange eine Star-Rolle bei einem einzigartigen Fruchtbarkeitsritus gespielt. Die unfruchtbaren Frauen des Dorfes mußten eine Wallfahrt zur Höhle der weißen Kobra machen. Dort mußten sie diese küssen – auf den Kopf. Aber ein Kuß reichte nicht aus. Um eine Empfängnis zu garantieren, mußten sie die Kobra zweimal küssen. Auf diese Weise verlor das Dorf den größten Teil seiner unfruchtbaren Frauen. Bernard war von dieser starken Szene fasziniert. Das, so dachte er, würde einen guten Werbespot für frischen Atem abgeben. So im Stil von: »Wenn sie dich einmal küßt, wird sie dich noch mal küssen?« Bernard schickte diesen Vorschlag an den Kaugummikonzern Certs. Certs antwortete, er hätte anscheinend fragwürdige Ansichten, ganz zu schweigen von seinem guten Geschmack. Dasselbe sagte Montana Judy. Aus Indien erhielt er dann aber die Nachricht, daß ein aus Poleiminze und Myrrhe gebrauter Tee die Empfängnis bis zu sieben Tagen nach dem Akt verhüten könne. Er ging sofort in einen Kräuterladen in Missoula und klaute sich die Ingredienzien. Ostindische Quellen vermittelten darüber hinaus die Erkenntnis, die regelmäßige Einnahme von Karottensamen sei eine Methode der Geburtenkontrolle, deren Wirksamkeit durch ungezählte Generationen von Hindufrauen erwiesen sei. Der Hinweis auf »ungezählte Generationen« überzeugte ihn wenig, aber er beschaffte sich die Karottensamen in einem Geschäft für
Farmerbedarf in der Nähe von Billings und wurde dabei um ein Haar geschnappt. Die Beschaffung der gefäßverengenden Zutaten von Shi-link, dem traditionellen chinesischen Verhütungsmittel auf Pflanzenbasis, stellte noch einmal die Findigkeit des Buntspechts auf die Probe, denn die Zubereitung von Shilink verlangte Tshi-je-Datteln, Shi-link-Blüten, Ling-shukWurzeln und Gomsomtshu-Blätter: die vier Unsterblichen, gottbefohlen. Natürlich hatte die Drogenkommission erhebliche Bedenken gegen die Einführung der Shi-link-Essenz nach Amerika. Bernard sah sich gezwungen, die Türschlösser chinesischer Ärzte zu knacken, bis hinüber nach San Francisco, um ein wenig Shi-link in seine sommersprossigen Pfoten zu bekommen. Trotzdem verlor er das Interesse an Shi-link ebenso plötzlich wie das an Karottensamen und Poleiminze, als er von der Lunazeption erfuhr. Als drogenfreie Methode, die Ovolution zu bestimmen, indem man die Frauen darauf trainierte, ihren Zyklus wieder mit jenem des Mondes zu synchronisieren, landete die Lunazeption wie ein Astronaut auf dem Schimmelkäse Buntspechtscher Phantasie. Die Sache leuchtete ihm völlig ein, vor allem die lunare Fundierung. Wie Liebende, Dichter und tuberkulöse Komponisten, die ihr Blut auf die Pianotasten husten, leisten auch die Outlaws ihr Bestes unter den schlüpfrigen Strahlen des Mondes. Mythologisch steht der Specht zwar in Verbindung mit dem rotschöpfigen Mars, aber der Buntspecht hatte, mehr als jeder Delegierte der totgeborenen UFOKonferenz, einen direkten Draht zum Mond. Auf den zweiten Blick leuchtete Bernard die Sache mit der Lunazeption dann überhaupt nicht mehr ein. Ähnlich wie Shi-
link, Poleiminze und Karottensamen bürdete die Lunazeption der Frau die Last der Verantwortung für die Geburtenkontrolle auf. Darum konnte sie, trotz aller potentiellen Wirksamkeit, den Verlust der Männerpille nicht ganz wettmachen. Ja, Bernard machte sich deswegen Sorgen, doch noch mehr Sorgen machte sich Montana-Judy. Begreiflicherweise hatte Bernard bei seinen Verhütungsexperimenten spärlichen Zugang zu Versuchspersonen. Wer wollte schon einem Amateurgynäkologen vertrauen? Vor allem einem, zu dessen Diplomen ein Platz auf der Liste der zehn Meistgesuchten zählte? Montana-Judy hatte es satt, das Meerschweinchen für Bernards Experimente zu spielen. Und sie fühlte sich auch nicht besser, als er seine Forschungsarbeit auf ihre jüngeren Schwestern, die Zwillinge Montana Molly und Montana Polly, ausdehnte. Bernard, müßt ihr wissen, lieferte und applizierte die wuselige Soße, die als aktivierendes Agens bei den Tests diente, höchstpersönlich. Montana Judy fand, daß Bernard seine Schuld gegenüber der Gesellschaft auf konventionellere Weise abzahlen sollte. Montana Judy zeigte ihn an. Das Buch, das der Richter, wie man so sagt, nach dem Übeltäter wirft (wahrscheinlich das Gesetzbuch, möglicherweise ein russischer Roman, gewiß kein eleganter Gedichtband), traf Bernard Mickey Wrangles rote Birne wie ein Punching-Ball. Er wurde zu dreißig Jahren verurteilt. Dem letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts mochte es beschieden sein, an Krücken in die Geschichte einzuhumpeln, aber wenigstens würde es keinen Specht mehr geben, um Löcher in die Krücken zu bohren. Seines Ruhms für leise Abgänge eingedenk, sperrte die Bun-
desstrafanstalt McNeill-Island, Washington, ihn ziemlich fest ein. Er brauchte mehr als ein Jahr, um auszubrechen. In seiner Abwesenheit hatte die Welt sich verändert. Da gab es nichts zu deuteln. Bernard selbst hatte sich verändert. Zum Beispiel hatte ihn die Beobachtung seiner Kollegen im Gefängnis davon überzeugt, daß Dieberei, von niedrigsten menschlichen Instinkten inspiriert, eines Outlaws nicht würdig sei. Mochten Geschäftsleute und das gemeine Pack rauben und stehlen. Er gelobte, nie wieder zu stehlen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Ferner gelobte er, sich Frauen gegenüber sensibler zu verhalten, angefangen bei Montana Judy, falls er sie finden konnte. Er konnte nicht. Sie hatte sich einer Rotte gleichgesinnter Frauen angeschlossen, die ihre Abende damit verbrachten, Männer zu terrorisieren, ganz gleichberechtigt, ohne Rücksicht auf ihr Maß an Schuld oder Unschuld. Diese Frauen wollten Männer nur als unterwürfige Lakaien akzeptieren, und während Bernard nur zu gut wußte, daß viele Männer viele Frauen seit Jahrhunderten genau als solche behandelten, vermochte er doch nicht einzusehen, wie eine bloße Umkehrung verfaulter Rollen die Gleichberechtigung fördern oder irgend jemandem nützen sollte. Außerdem war er niemandes Lakai. Nicht einmal der des Mondes. Montana Polly hatte sich derselben Schar von Rächerinnen angeschlossen. Montana Molly hatte sich bei Spocane Success, einem SekretärinnenCollege, eingeschrieben. Die Buntspechtbande hatte sich aufgelöst. Vier ehemalige Mitglieder waren im Gefängnis. Einer war in Jackson Hole von Angehörigen eines Postens der American League mit Klappstühlen totgeschlagen worden. Drei hatten sich der konventionellen Politik ergeben und arbeiteten im
System, um das System zu verändern. Einer verkaufte Immobilien und hatte Jesus Christus als persönlichen Berater verpflichtet. Willie the Wetback studierte Jura in Stanford. Er war einer Verbindung beigetreten. Ließ seine Nase verhungern, obwohl er noch gelegentlich Gras rauchte. Eines Tages wollte er für Nader arbeiten. Die Welt hatte sich verändert. Bernard war perplex. Er vermißte Pambule, Panik und Pleite. Nur weil der Krieg aus war – hieß das, daß jedermann aufhören sollte, seinen Spaß zu haben? Dank Montana Judy war auch das Versteck hinter dem Wasserfall heiß. Bernard tauchte in Seattle unter. Er fand einen Job: Drinks mixen in einer Bar, die von Polizisten in ihrer Freizeit besucht wurde. Manchen Abend waren Dutzende von »Cops« im Lokal. Ihre Anwesenheit streute ein wenig Würze über sein Leben. Brachte einen kleinen Kitzel der Belustigung hinein. Er schenkte billigen Bourbon aus und diente seine Zeit ab. In einer führenden liberalen Zeitschrift veröffentlichte ein Schriftsteller einen offenen Brief an Bernard. Er bat um ein Interview. Äußerste Geheimhaltung wurde zugesichert. Es war ehrlich gemeint. Der Schriftsteller war ein Mann von erwiesener Courage und Integrität. Der Schriftsteller forderte eine Amnestie für Dissidenten wie Bernard. Er sagte, Bernard habe genug gelitten. Er sagte, das Leben im Untergrund sei keine geringere Strafe als das Gefängnis. »Ein Mensch im Untergrund lebt in einem Zustand kontrollierter Schizophrenie«, schrieb er. »Der Schrecken läßt niemals nach.« Der Journalist betrachtete Bernard als Opfer des Vietnam-Kriegs. Die Tatsache, daß er gegen die Interessen der Regierung statt für sie gehandelt hatte, sei unerheblich, sagte der Schriftsteller. Die soziopolitischen Reali-
täten, die Bernard antrieben, beim Bombardieren von Einberufungszentren sein Leben zu riskieren, wären im Grund dieselben wie jene, die andere junge Männer veranlaßten, beim Schußwechsel auf Reisfeldern das ihre zu riskieren. Als Flüchtling, immer auf dem Sprung, in Verstellung und Furcht lebend, sei Bernard genauso ein Kriegsopfer wie jene armen Veteranen, die in Da Nang und Hue die besten Stücke ihrer Physis der Fäulnis überlassen hatten. Haha. So begann Bernards niederträchtige Erwiderung »Haha. Opfer? Der Unterschied zwischen einem Verbrecher und einem Outlaw besteht darin, daß Verbrecher zwar häufig Opfer sind, Outlaws dagegen nie. In der Tat, der erste Schritt, um ein wahrer Outlaw zu werden, ist die Weigerung, sich zum Opfer machen zu lassen. Alle Menschen, die unter den Gesetzen anderer Menschen leben, sind Opfer. Menschen, die aus Habsucht, Frustration oder als Vergeltung Gesetze brechen, sind Opfer. Menschen, die Gesetze beseitigen, um sie durch ihre eigenen Gesetze zu ersetzen, sind Opfer (ich denke hier an die Revolutionäre). Wir Outlaws dagegen leben jenseits der Gesetze. Wir leben nicht nur jenseits der Buchstaben des Gesetzes – das tun viele Geschäftsleute, die meisten Politiker und alle Polizisten –, wir leben außerhalb des Geistes des Gesetzes. In gewissem Sinn leben wir also außerhalb der Gesellschaft. Wir haben ein gemeinsames Ziel, und dieses Ziel heißt, den Spieß gegen das Wesen der Gesellschaft umzudrehen. Wenn wir Erfolg haben, steigern wir den Heiterkeitspegel des Universums. Wir steigern ihn selbst dann noch ein wenig, wenn wir scheitern.
Opfer? Ich habe die Häßlichkeit des Vietnam-Kriegs beklagt. Aber was ich beklagte, haben andere vor mir beklagt. Wenn der Krieg ganze Völker zu Schlafwandlern macht, treten die Outlaws nicht in die Reihen der Wecker. Wie die Dichter arrangieren die Outlaws den Alptraum neu. Es ist ein erhebendes Werk. Die Jahre des Krieges waren die glorreichsten meines Lebens. Ich habe meine Haut nicht riskiert, um gegen einen Krieg zu protestieren. Ich riskierte meine Haut für den Spaß. Für die Schönheit. Ich liebe den Zauber des TNT. Wie beredt es spricht! Sein nachhallendes Grollen, sein Krachen, sein Beben ist kaum weniger tiefgreifend als das leidenschaftliche Stöhnen der Erde selbst. Eine gut abgestimmte Reihe von Detonationen ist wie ein Chor von Erdbeben. Trotz aller ihr geläufigen Beredsamkeit sagt die Bombe nur ein Wort – ›Überraschung!‹ – und applaudiert sich sogleich selbst. Ich liebe die heißen Hände der Explosion. Ich liebe den Windstoß, angereichert durch den Teufelsduft des Schießpulvers (in seiner Wirkung dem Engelsduft des Sex so verwandt). Ich liebe die Art, wie sich Architektur unter dem Einfluß von Dynamit beinah in Zeitlupe auflöst, wie sie fein zerbröselt, Ziegelsteine wie Federn verstreut, wie Ecken schmelzen, abweisende Fassaden in ein Grinsen ausbrechen, Stützpfeiler die Achseln zucken und blau machen, wie Tonnen totalitären Drecks im Kielwasser eines kreiselnd Tsunami aus Luft davonschwimmen. Ich liebe den köstlichen Bruchteil einer Sekunde, wenn Fensterglas elastisch wird und sich wie BubbleGum wölbt, bevor es zerspringt. Ich liebe es, wenn öffentliche Gebäude endlich öffentlich gemacht werden, wenn Türen auffliegen für die Bürger, die Kreaturen, das Universum. Komm
rein, Baby! Und ich liebe den letzten Snuff Pulverdampf. Ja, und ich liebe den platten Mythos des Outlaw. Ich liebe die schüchterne Romantik des Outlaw. Ich liebe die schwarze Kleidung des Outlaw. Ich liebe das todgeweihte Lächeln des Outlaw. Ich liebe den Tequila des Outlaw und die Bohnen des Outlaw. Ich liebe die Art, in der achtbare Männer hohnlächeln und »Outlaw« sagen. Ich liebe die Art, in der junge Frauen erbeben und »Outlaw« sagen. Das Outlaw-Schiffchen segelt gegen die Flut, und ich liebe das. Outlaws gehen aufs Klo, wo auch der Dachs aufs Klo geht, und ich liebe das. Alle Outlaws sind fotogen, und ich liebe das. »Wenn die Freiheit geächtet wird, werden nur die Geächteten frei sein.« So lautet ein Graffito in Anacortes, und auch das liebe ich. Es gibt OutlawLandkarten, die zu Outlaw-Schätzen führen, und diese Landkarten liebe ich besonders. Nicht bereit, zu warten, bis die Menschheit sich bessert, lebt der Outlaw, als wäre der Tag gekommen, und das liebe ich am meisten. Opfer? Ihr Brief hat den Buntspecht daran erinnert, daß er gottlob ein Buntspecht ist. Ihr Mitgefühl für meine Einsamkeit, Spannung und störenden Identitätsschwankungen ist in der Tat begründet und wird demütig entgegengenommen. Aber täuschen Sie sich nicht. Ich bin der glücklichste Mann in Amerika. In meinen Barmixertaschen trage ich noch immer, aus Gewohnheit, hölzerne Zünder. Und solange es Zündhölzer gibt, wird es Zündschnüre geben. Solange es Zündschnüre gibt, sind keine Mauern sicher. Solange jede Mauer bedroht ist, kann alle Welt passieren. Outlaws sind Büchsenöffner im Supermarkt des Lebens.«
28 Hat es wirklich eine solch alberne Epoche gegeben, in der Jungfrauen ein Taschentuch fallen ließen – ein rein ornamentales Taschentuch, wie wir annehmen dürfen: aus Seide, mit Spitzen besetzt und ohne das blasseste Schnodderfresko auf seiner parfümierten Oberfläche –, um die Bekanntschaft desjenigen Herrn zu machen, der es ihnen aufheben sollte? Legende oder nicht, jedenfalls war es eine gewollte Nachlässigkeit, jenen duftenden Tüchleinködern nicht unähnlich, die Bernard dazu bewegte, auf der verbalen Promenade seiner Erwiderung an den wohlmeinenden Journalisten die Wendung »in meinen Barmixertaschen« fallen zu lassen. Bernard gab seinen Verfolgern einen kleinen Tip. Nur um die Sache spannender zu machen. Vielleicht wurde der Tip aufgenommen, jedenfalls führte er die Meute nicht zu seinem Bau. Es gab zwar ein paar bedrohliche Augenblicke, etwa den Abend, als ein Besoffener ihn mit Bier übergoß, worauf seine Haarfarbe im Beisein von zwanzig Polizisten auf ihn herunterfloß, aber Bernards Tarnung hielt. Während die Jahre vergingen und die Zündhölzer in seinen Taschen vergilbten und splitterten, in dieser langen Zeit der Untätigkeit hielt ihn der Gedanke aufrecht, welch ein Spaß es sein würde, wenn die Verjährungsfrist abgelaufen wäre und er bombastisch an die Öffentlichkeit treten und es ihnen allen unter die Nase reiben könnte. Dann aber kam jene Gelegenheit, da er sich gezwungen sah, zu sprechen, oder vielmehr, Dynamit für sich sprechen zu lassen. Und jetzt, nach einem leicht danebengegangenen Schuß, fand er sich – elf Monate vor dem
Ablauf seines Flüchtlingskalenders – verhaftet. Verhaftet durch ihre königliche Hoheit, Prinzessin LeighCheri Furstenberg-Barcalona, abgedankte Cheerleaderin, Umweltschützerin ohne Portefeuille, blauäugige Altruistin, pampelmusenbrüstige Zölibantin, Möchtegern-Herrscherin von Mu; die einzige Frau, die der Buntspecht getroffen hatte und deren Haar so strahlend loderte wie einst das seine. Er dachte nicht daran, ruhig mitzugehen.
29 »Sie sind es also. Ich hätte mir denken können, daß Sie es sind.« »Ich bin geschmeichelt, daß Sie sich an mich erinnern.« »Der Mann, der ›yum‹ sagt« – »Nur in passenden Augenblicken.« »– und Hotels in die Luft jagt und das wichtigste Zusammentreffen der geistigen Elite seit weiß Gott wann zerschlägt!« »Dieses Zusammentreffen ist wichtiger. Dieses Zusammentreffen zwischen Ihnen und mir. Wollen wir uns irgendwo auf einen Drink niederlassen?« »Machen Sie sich nicht lächerlich. Sie stehen unter Arrest. Ich bringe Sie direkt zur Polizei.« »Ich muß Sie warnen. Ich werde nicht ruhig mitgehen. Verbrecher, von Schuldgefühlen geplagt, ergeben sich häufig und gehen ruhig mit. Outlaws sind rein und tun das niemals.« Wie in einer Symphonie manchmal die Blechbläser plötzlich
losschmettern und dabei Holzbläser und Streicher übertönen, so schmetterte in Leigh-Cheri plötzlich die Angst los und übertönte Ärger und Frustration, die ihr bei den Anfangstakten dieses Concerto di confrontatione so gut zustatten gekommen waren. Sie lugte, Hilfe suchend, über den Strand. Einige junge Männer, blond wie Schampoo-Reklamen, braun wie Hundskötel, bemerkten ihre Blicke und winkten ihr zu. »Erwarten Sie sich von diesen Strandboys keine Hilfe. Die sind nur an Sumpfen und Surfen interessiert. Außerdem wären sie keine Gefahr für mich. Ich habe einen schwarzen Gürtel in Haiku. Und eine schwarze Weste in der Reinigung. Heute morgen traf ich eine Besucherin vom Planeten Argon. Sie sagte mir, ich hätte eine Aura wie verbranntes Gummi. Ich dankte ihr und sagte, Schwarz sei meine Lieblingsfarbe. Abgesehen von Rot.« »Sie haben sie also auch getroffen.« Leigh-Cheri wußte nicht, was sie sonst sagen sollte. Zum erstenmal bemerkte sie, daß er eine schwarze Badehose trug und an den Füßen schwarze Schwimmschuhe. Wo kauft man schwarze Schwimmschuhe? Sie fühlte sich desorientiert. Unter ihrem Sonnenbrand sprangen Gänsehautpickel auf und verwandelten ihre Haut in ein blutiges Kopfsteinpflaster aus der Vogelperspektive. Sie fühlte sich wie eine Straße während der Französischen Revolution. Sie wandte sich an die Vettel im Bikini. »Gulietta, hol die Polizei«, befahl sie, und wußte genau, daß die Polizisten alle in der Stadt waren und versuchten, den Fall des zerbombten Hotels zu lösen. »Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Ich werde Ihnen nicht weh tun. Ich bin begeistert, daß wir nun Freunde werden. Ich hätte Maui gleich nach dem Bum-Bum, verlassen–« er
grinste Gulietta an – »wenn Sie nicht gewesen wären.« Das entsprach der Wahrheit. Ein alter Kumpel vom Festland, inzwischen Marijuanapflanzer an der Küste von Kona, hatte im voraus eingewilligt, Bernard an Bord seiner Schmuggelschaluppe nach Honolulu verschwinden zu lassen. Auch wenn der Bombenanschlag verfrüht war, hätte die Schaluppe am Montagmorgen die Segel setzen können, falls Bernard es gewollt hätte. »Das versteh ich nicht. Sie sind wegen mir geblieben?« »Wegen dir, Baby. Und weil ich noch etwas Schießpulver in petto habe.« »Was?« Sie lachte ungläubig. »Ich kann meinen Ohren nicht trauen. Sie – Wahnsinniger!« »Mister Wahnsinniger.« »Sie wollen noch mehr in die Luft jagen?« »Eigentlich will ich Ihnen einen Drink spendieren.« »Mir einen Drink spendieren?« »Einen Pina Tequila oder einen Tequila Tai. Das heißt, falls Sie alt genug sind. Wir wollen doch nicht das Gesetz brechen.« »Ich wette, ich bin so alt wie Sie.« »Ich bin älter als das Sanskrit.« »Hm, ich war Kellnerin beim Letzten Abendmahl.« »Ich bin so alt, daß ich mich daran erinnern kann, wie McDonald’s erst hundert Hamburger verkauft hatte.« »Gewonnen.« »Dann darf ich dir also einen Drink spendieren?« »Wie heißen Sie?« »Bernard.« »Bernard, wie weiter?«
»Bernard Wahnsinniger.« »Hören Sie, Mr. Wahnsinniger – « »Ich höre gar nichts, solange ich nicht mit dir an einem Tisch im Lahaina Broiler sitze. Deine Großmutter kann auch mitkommen. Obwohl ich, ehrlich gesagt, ein bißchen schockiert bin, in welchem Maß ihre Badegarderobe ihre Reize enthüllt.« »Na ja«, sagte sie. Sie zögerte. Sie hielt es für das beste, ihm seinen Willen zu lassen. In der Stadt würde es leichter sein, Hilfe zu finden, als hier draußen am Strand. Und sie mußte zugeben, daß er, trotz der schadhaften Zähne, die dabei zutage traten, ein wundervolles Lächeln hatte. »Na ja, ich muß tatsächlich raus aus der Sonne. Rotköpfe verbrennen leicht.« »Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß.«
30 Auf dem Festland fiel Regen. Der berühmte Seattier Regen. Der dünne graue Regen, den Fliegenpilze so sehr lieben. Der beharrliche Regen, der jeden geheimen Eingang in Kragen und Einkaufstüte kennt. Der leise Regen, der ein Blechdach durchrosten lassen kann, ohne daß das Blechdach einen Protest laut werden läßt. Der schamanische Regen, der die Einbildungskraft nährt. Der Regen, der in Wirklichkeit eine geheime Sprache zu sein scheint, die, ähnlich wie die Ekstase der Primitiven, vom Wesen der Dinge flüstert. Der Regen hüllte das Haus – das Haus, das König Max inzwi-
schen das Brombeerschloß nannte – ein wie ein Haarspray für Quallen. Drinnen rangen der König und seine Königin mit der elektrischen Geschirrspülmaschine. Sie konnten sie nicht in Gang bringen. Weder ein einziges Sherryglas noch ein einziger Teelöffel war in den drei Tagen seit Guliettas Abreise gesäubert worden. Chuck hätte zu Hilfe kommen können, aber wie das Unglück es wollte, war Chuck am Montagabend nach Seattle gerufen worden und nicht zurückgekehrt. Er hatte die Krankheit einer seiner Schwestern als Grund angegeben, aber gewiß ging es um ganz etwas anderes. Es herrschte Unruhe im Heimatland der Furstenberg-Barcalonas. Revolution lag in der Luft. Eine besonders scharfe Buchführung über König Max, das war’s, was die CIA im Sinn hatte. Die CIA spornte Chuck mit einer kleinen Prämie an. (Er würde jeden Cent verlieren, sobald Max seine zwei Pärchen mit einer Straße übertrumpfte.) Während sie an der Geschirrspülmaschine fummelten, schmiedeten Max und Tilli Ränke und Pläne. »Sie wird im April zwanzig«, sagte Max. »Ein Jahr später kann sie heiraten. Ich sage, je eher wir einen Freier ins Spiel bringen, desto besser sind unsere Chancen.« »Ja«, sagte Tilli. »Ja, da, si. Wirr diss wissen schon hundertmal. Aber dat bedeutet nicht, daß wirr sie miessen auf eine Waffel hetzen.« »Eine was?« »Eine Laffe. Ein laffige Kerl. Wie derr Präsidents Sohn. Er iss loco gringo.« »Falls du andeuten willst, daß der Junge von zwei Elfern keinen verwandelt, hast du wahrscheinlich recht. Ich meine nur, wir können hier nicht herumsitzen und darauf warten, daß
akzeptable Europäer zum Brombeerpflücken hierher kommen. Hm, Ida Fisels Sohn besitzt Aktien an einem Club der National Basketball Association. Er ist jedesmal in Seattle, wenn sein Team gegen die Sonics spielt. Ich denke, ich kann ein Treffen arrangieren.« »Oui, aber er iss nicht königlich.« »Nein, aber er ist reicher und mächtiger als das.« »Arabär«, stöhnte Tilli. »Uno Arabär. Oh-oh, Spaghetti-O.« Die Geschirrspülmaschine rührte sich nicht. Sie hätte genausogut mit nach Maui fahren können. So hätte der Frosch sie als Apartmenthaus benutzen können. Das Königspaar japste und keuchte über ihr. Einmal klang es, als würde sie nun doch funktionieren, aber es war nur Max’ Klappe, die ihr Klirren verstärkte. Als Tilli das Köpfchen ihres Chihuahua zum dritten oder viertenmal gegen den Deckel der Maschine geknallt hatte, kehrte sie ihr den majestätischen Rücken. König Max sammelte das schmutzige Geschirr zusammen und beförderte es auf den Hof. »Wir wollen sie vom Regen waschen lassen«, sagte er. »Zu irgend etwas muß er doch nütze sein.« In der Tat hat der Regen mancherlei Nutzen. Er bewahrt sowohl das Blut wie das Meer davor, zu salzig zu werden. Er verteilt K.O.-Tropfen an widerspenstige Veilchen. Er produziert die Leiter, auf der das Neon zum Mond klettert. Und wirklich, der Regen stemmte Eigelb und Fett von Helmbusch und Panier, von Küriß und Herzschild der furstenberg-barcalonischen Wappenteller. Als Max jedoch am nächsten Morgen wiederkehrte, um das Geschirr zu holen, fehlte die Hälfte. Die Königin gab Tramps oder Zigeunern die Schuld. Max wußte, daß es die
Brombeeren waren. Als sie Dosen-Stroganoff von Papptellern zu sich nahmen, sagte Tilli zu Max: »Ich wienschte, Leigh-Cheri wäre hier.« Der König aber meinte: »Vielleicht ist’s am besten, sie ist fort, solange wir einen Freier rekrutieren. Jedenfalls können wir sicher sein, daß sie in Hawaii in guten Händen ist.«
31 »Ich bin noch nie von einem Mann mit Donald-DuckSonnenbrille geküßt worden«, sagte Leigh-Cheri. »Ich entschuldige mich«, sagte Bernard. »Tut mir leid, wegen der Donald-Duck-Sonnenbrille. Es sollte eine WoodyWoodpecker-Sonnenbrille sein, aber niemand macht WoodyWoodpecker-Sonnenbrillen.« Die Prinzessin wußte nicht, wovon er sprach. Es war ihr ziemlich gleichgültig. Sie war bei ihrem dritten Tequila Mockingbird, er bei seinem vierten. Sie schwebten in jenem glückseligen Zustand, der für religiöse Transzendenz ebenso typisch ist wie für den Beginn einer Alkoholvergiftung. Gulietta hatte ihnen den Rücken zugewandt und beobachtete den Sonnenuntergang. Welch großartige Anstandsdame. »Auch küsse ich normalerweise keine Männer, die rauchen«, verkündete Leigh-Cheri. »Einen Raucher küssen, das ist, wie wenn man einen Aschenbecher ausleckt.« »Hab ich schon gehört. Ich habe auch gehört, einen Men-
schen zu küssen, der selbstgerecht und intolerant ist, ist genauso, wie wenn man einen Mungo am Arsch leckt.« »Ich bin kein Mungo-Arsch!« »Und ich kein Aschenbecher.« Er zog die ungeöffnete Camel-Packung aus der Brusttasche seines Hemdes und warf sie über die Schulter. »Ich rauche nur, wenn ich eingesperrt bin. Im Gefängnis kann eine Zigarette zum Freund werden. Ansonsten sind meine Camels nur Tarnung, ein Vorwand, um Streichhölzer bei mir zu haben.« »Sagst du, was ich glaube, daß du sagst?« »Ich sage mehr, als ich sagen sollte. Ich glaube, du tust mir etwas in den Drink, um mich redselig zu machen.« »Ich glaube, du tust mir etwas in den Drink, um mich küsselig zu machen.« Sie küßten sich. Und kicherten wie Mickymäuse. »Wie spät ist es?« fragte Leigh-Cheri. »Wieso? Das Polizeirevier hat die ganze Nacht geöffnet.« »Ich habe eine Verabredung mit dem People-Magazin. Zuerst hatte ich Angst, aber jetzt kommt es mir spaßig vor. Alles kommt mir spaßig vor. Sogar du kommst mir spaßig vor.« Sie zwickte ihn in die Nasenspitze, als er sich herüberbeugte, um sie noch einmal zu küssen. Sie sah sich im Saal nach einer Uhr um, aber die Eingangshalle des Lehaina Broiler ist bekannt für ihre fehlenden Wände. Die Uhren der Bäume hatten zu viele Zeiger, und der Ozean war auf Mondzeit gestellt. Falls Bernard seinen Willen bekäme, wäre auch sie bald auf Mondzeit gestellt. »Wann wirst du mich einbuchten?« »Wenn du aufhörst, mich zu küssen.« »Wenn das so ist, bin ich für immer ein freier Mann.«
»Verlaß dich nicht drauf.« Sie meinte es ernst. Aber als er sie diesmal küßte, gelang es seiner erstaunlich findigen Zunge, die heroische Barrikade zu durchbrechen, die ihre Zähne bis dahin gebildet hatten. Es gab ein sauberes Klirren, Schmelz gegen Schmelz, eine Eruption heißer Spucke, als seine Zunge eine Wirbelfahrt durch ihre Mundhöhle machte. Ein plötzlicher Schock jagte durch ihren Pfirsichfisch samt Flaum und Flossen, und in ihrem AtomkraftNein-Danke-T-Shirt wurden ihre Brustwarzen hart wie Plutoniumkerne. »Jesus«, dachte Leigh-Cheri. »Wie können Männer nur solche Dussel, solche Kaugummiknollen an den Sohlen unserer Ballettschuhe sein, und sich doch so gut anfühlen? Besonders dieser hier. Dieser verrückte Bombenwerfer.« Sie zog sich zurück. Mit sonnenverbrannten Fingerknöcheln wischte sie sich einen Speichelfaden – seinen? ihren? José Cuervos? – vom Kinn. Sie fragte eine vorbeigehende Kellnerin nach der Uhrzeit. Es war spät. »Ich muß gehen.« »Wie wär’s mit einem Dinner, nach deinem Interview? Es gibt einen köstlichen Fisch namens Mahi Mahi. Der Fisch ist so lecker, daß man ihn gleich zweimal getauft hat. Ist es nicht zauberhaft, wie die Polynesier ihre Sprache verdoppeln? Ich hätte gern ein tête-à-tête in Pago Pago, aber ich habe Angst, mir Beriberi zu holen.« »Huh-uh, huh-uh«, sagte die Prinzessin. »Kein Dinn-Dinn, kein Dinn-Dinn.« »Morgen?« »Ich werde den ganzen Tag beim Care-Fest verbringen.«
»Morgen abend?« »Ralph Nader spricht morgen abend. Das würde ich nicht für alle Mahi Mahi auf Maui Maui versäumen. Außerdem könntest du morgen abend im Gefängnis sein. Vielleicht holst du dir lieber deine Camels zurück.« »Du wirst mich also anzeigen?« »Ich weiß nicht. Kommt darauf an. Wirst du wirklich den Rest deines Dynamits benutzen?« »Wahrscheinlich.« »Warum?« »Weil das mein Job ist.« »Aber die UFO-Konferenz ist vorbei.« »Ich bin nicht gekommen, um die UFO-Konferenz zu bombardieren. Das war ein Mißverständnis. Ich bin gekommen, um das Care-Fest zu bombardieren.« »Du … was?« Sie spürte in sich eine Bombe losgehen. »Bumbum Care-Fest«, sagte er. Er schüttete Tequila durch den Spalt seines Grinsens. Unvermittelt stand sie auf. »Du mußt verrückt sein«, sagte sie. »Du mußt wirklich beschissen wahnsinnig sein.« Sie riß Gulietta vom Sonnenuntergang los und strebte zur Straße. »Du wirst mich also anzeigen?« »Du hast verdammt recht, das werde ich«, sagte sie.
32 Die Idee für die Monarchie von Mu war Leigh-Cheri auf Maui gekommen. Sie kam ganz unerwartet, während sie, im Schatten des Koa sitzend, Gulietta – die achtzigjährige Meermaid – beim Spielen beobachtete und sich Gedanken machte, was sie im Falle eines Falles den Leuten von People sagen könnte. Es sollte weder eine Wiedergabe des Care-Fest-Katalogs noch ein Verstoß gegen den Kodex der Furstenberg-Barcalonas sein. Irgendwann dämmerte es ihr, daß es doch eine ganze Menge arbeitsloser Fürstlichkeiten gab, Könige, deren Thron genau wie der ihrer eigenen Familie durch Krieg oder politischen Aufruhr verlorengegangen war, und daß diese Persönlichkeiten, obwohl zum Führen, zum Präsidieren oder wenigstens zum Symbolisieren geboren, meistenteils das Leben müßiger Reicher führten. Der Comte de Paris zum Beispiel, Anwärter auf den französischen Thron, hatte sieben Kinder, die sich mit eleganten Neigungen wie der Herausgabe einer Kunstzeitschrift (der Herzog von Orleans) und dem Betrieb einer Galerie (Prinz Thibault) verzettelten. Das Fürstenhaus Orleans Braganza in Brasilien zählte nicht weniger als achtzehn junge Cousins und Cousinen mit viel Zeit, Energie und Geld. Otto von Habsburg, Titular auf den Kaiserthron, wenn es noch ein österreichisches Reich gegeben hätte, hatte sieben Söhne und Töchter, die in der Meute der Dilettantenkultur jagten. Italiens Prinzen Enrico D’Assia und Amadeo Savoy managten ihre Familienportefeuilles und teilten Königin Tillis Hingabe für die Oper. Die Liste könnte, unter anderem, um Jugoslawiens Prinz Alexander,
König Leka I. von Albanien (ein Verwandter von ihr) und Japans Kaiserhaus verlängert werden. Nachdem die abgesetzten Fürstlichkeiten keine individuellen Königreiche mehr hatten, denen sie hätten dienen können – warum sollten sie sich nicht zusammentun, um der Welt zu dienen? Die Erde selbst könnte ihr Königreich sein. Und sie könnten ihre Talente und Fähigkeiten, ihre illustren Namen und beträchtlichen Reichtümer (der Furstenberg-BarcalonaKlan war der ärmste von allen), ihren Einfluß und Glanz in einem königlichen Kreuzzug im Namen von Ökologie, Natur und Denkmalschutz zusammentragen; im Namen des lieblichen Königreichs Erde. Sie würden sich Mühe geben, tüchtig und effektiv zu sein. Natürlich würden sie gefeiert werden. Und falls es Kronen waren, die sie begehrten, würde sie, Leigh-Cheri, ihnen Kronen geben. Kollektiv würde man sie »Monarchie von Mu« nennen, nach dem verlorenen Kontinent, der MutterInsel; nach der Heimat des Sing-Sang, deren wohlduftende Tempel einst im Meer versanken. Jedes Mitglied der Monarchie würde gleichberechtigt Herrscher von Mu sein, jeder ein Souverän in einem Land ohne Grenzen. »Da die hawaiischen Inseln die Gipfel der versunkenen Berge von Mu sind«, erklärte Leigh-Cheri, »sollte die Monarchie erwägen, ihr Hauptquartier, den Hof, wenn Sie so wollen, in Hawaii einzurichten, vielleicht gleich hier in Lahaina, denn Lahaina war die königliche Hauptstadt des alten Hawaii und mit den Privilegien von Königinnen und Königen nicht unvertraut.« »Das ist eine faszinierende Idee«, schwärmte Reed Jarvis, der Reporter von People. Wirklich, Jarvis war angetan. Die Idee der
Monarchie von Mu lieferte ihm einen harten Nachrichtenkern, einen Nukleus ernsthafter Absicht, um den herum er seine Konfektion schneidern konnte. Jetzt konnte er den Brei verstreichen. Und gleich weiter zum menschlich interessanten Thema – »Wie war es für Sie, eine blaublütige Prinzessin, in einem schäbigen alten Haus im Staate Washington aufzuwachsen, öffentliche Schulen zu besuchen, Cheerleaderin zu werden?« – und so weiter, und so fort, zu jenen Themen, für die sich Redakteure und Leser von Jet Set-Magazinen fast ausschließlich interessierten: Geld und Sex. »Sind Sie manchmal verbittert über den Verlust ihrer Familienreichtümer?« »Das war schon vor langer Zeit. Vor meiner Geburt. Es gibt wichtigere Dinge als Reichtümer.« »Wer ist Ihr gegenwärtiger Boyfriend? Gibt es einen Beau, der eine besondere Rolle spielt?« »Ich habe keine Boyfriends.« »Nicht einen?« »Nicht einen.« »Aber, meine Liebe, Sie sind so attraktiv und intelligent. Haben Sie kein Liebesleben?« »Wer hat denn überhaupt noch ein Liebesleben? Heute haben die Menschen ein Sexleben, kein Liebesleben. Viele geben sogar den Sex auf. Ich habe kein Liebesleben, weil ich nie einem Mann begegnet bin, der wußte, wie man ein Liebesleben haben kann. Vielleicht weiß ich es auch nicht.« Und damit stürzten Tränen aus Leigh-Cheris Augen wie eine Horde von Amöbenbronkos, wenn sie beim biologischen Laborrodeo die Boxen verlassen.
Hätte Reed Jarvis geahnt, daß Leigh-Cheris blaues Blut gerade mit Tequilasträhnen abgemischt war, hätte er ihre Tränen vielleicht auf den Schnaps zurückgeführt, anstatt die Prinzessin mit einer Schneeskulptur in einem Schmelzofen zu vergleichen. So aber geriet sein Porträt von ihr als einer Romantikerin mit verschleierten Augen, das er im People-Magazin unterbrachte, immer noch exakter als die Schilderungen – »tragische Schönheit«, »gepeinigte Prinzessin« – der Klatschkrämer, die LeighCheri zur Flucht auf ihren Dachboden bewogen hatten. Es gibt wesentliche und unwesentliche Verrücktheiten. Die letzteren sind solarer Natur, die ersteren mit dem Mond verknüpft. Unwesentliche Verrücktheiten bilden ein brüchiges Amalgam aus Ehrgeiz, Aggression und frühjugendlicher Angst – Müll, der längst abgekippt sein sollte. Wesentliche Verrücktheiten stellen jene Impulse dar, die man instinktiv als tugendhaft und richtig empfindet, auch wenn sie von seinesgleichen für KiKi gehalten werden. Unwesentliche Verrücktheiten bescheren einem Probleme mit sich selbst. Wesentliche Verrücktheiten bescheren einem Probleme mit anderen. Probleme mit anderen sind durchweg vorzuziehen. Sie können sogar wesentlich sein. Dichtung, zumindest die beste, ist lunar und handelt von wesentlichen Verrücktheiten. Journalismus ist solar (es gibt so viele Zeitungen, die The Sun heißen, und keine, die The Moon heißt) und befaßt sich mit Unwesentlichem. Über Leigh-Cheri hätte man besser ein Gedicht als einen Artikel schreiben sollen. Reed Jarvis, mit seiner Remington SL3, schrieb einen Artikel. Andere sollten folgen. Es blieb Bernard
Mickey Wrangle und seinem Dynamit überlassen, das Gedicht zu schreiben.
33 Nach dem Interview ging die Prinzessin sofort zu Bett. Gulietta erzählte ihr eine Gutenachtgeschichte. Sie hatte die erwünschte Wirkung. Die Prinzessin schlief rasch ein und träumte von Ralph Nader. Im Laufe der Nacht erwachte sie nur einmal: als Ralph Nader ein Traumrestaurant betrat und sich Froschschenkel bestellte. »Oh«, stöhnte sie und saß aufrecht im Bett. Leigh-Cheri hatte vorgehabt, am nächsten Morgen zwischen Frühstück und der verspäteten Eröffnung des Care-Fests zur Polizei zu gehen, aber die Bedienung in dem überfüllten Speisesaal des Pioneer Inn ließ so lange auf sich warten, daß sie kaum etwas essen konnte, bevor sie die Hotel Street überquerte und zum Bittgottesdienst im Banyanpark lief. Dort tauchte sie in Dr. John Lillys Vortrag über die Bedeutung der Meeressäugetiere für die Zukunft der menschlichen Rasse ein. Erwartungsgemäß war der Park rammelvoll. Leigh-Cheri war nicht zeitig genug gekommen, um unter dem Banyanbaum Deckung zu finden, und das, obwohl sein Schatten fast einen halben Hektar in kühles Dunkel tauchte. Sie konnte trotzdem ganz gut verstehen, und es kostete sie kaum Anstrengung, die Bilder auszumachen, die Dr. Lilly auf eine Leinwand projizierte, aber die heißen Sonnenstrahlen rösteten sie wie eine Marone. Die Sonne harkte
ihr exponiertes Fleisch, so daß sie sich leicht matt fühlte. Reed Jarvis hatte sie an ihren Anspruch auf VIP-Privilegien auf dem Care Fest erinnert. Stets abgeneigt, ihren Titel auszunützen, näherte sich ihr Stimmungsbarometer nach und nach einem Punkt, an dem sie sich wie ein Notarztwagen vordrängen wollte, wenn es ihr nur einen Platz im Schatten einbringen würde. Wie durch Feenhand fiel Schatten über sie. Anfangs hatte sie Angst, es wäre die Wolke des Verhängnisses, die angriff, um zu töten. Doch die war es nicht. Bernard stand neben ihr und hielt einen zerschlissenen Sonnenschirm über ihren Kopf. »Was tust du hier?« Ihr Flüstern klang nicht halb so feindselig, wie sie es gern gehabt hätte. Er schwang seine schwarzen Locken in Richtung Leinwand, auf die gerade ein Tümmler projiziert wurde. »Haie sind die Verbrecher des Meeres«, sagte er. »Delphine sind die Outlaws.« »Du hast ‘ne Meise«, sagte sie. »Dann zeig mir deinen Meisenring.« »Huh-uh. Meisen haben nicht die richtige Haarfarbe.« Die Erwähnung von Haarfarbe ließ ihn zurückschrecken. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit wieder Dr. Lilly zugewandt. »Okay. Falls du mich treffen willst, brauchst du nur auf meine Adresse zu schauen.« »Ich will dich nicht treffen, höchstens die Behörden. Überhaupt, wo sollte ich ›auf‹ deine Adresse schauen? Im Telefonbuch von Meisenhausen?« »Schau auf. Schau auf.« Sie guckte nach oben. Es blieb ihr nichts anderes übrig. In gräßlichen Krakeln waren die Worte: LAHAINA YACHTHAFEN, DIE SCHALUPPE ÜBERMUT auf die Unterseite des
Sonnenschirms gekreidet. Er drückte ihr den Griff des Sonnenschirms in die Hand und brachte seine verwüsteten Zähne in die Nähe ihres Ohrs: »Yum«, flüsterte er. Dann war er verschwunden.
34 Sie lunchte Papaya Pu Pu oder Mango Mu Mu oder irgendein anderes von überreifen tropischen Vokalen berstendes Fu Fu. In heißem Klima bietet das A eine schattige Arkade, O ist ein Saugrohr, durch das man Flüssigkeiten schlürfen kann, U eine kühle Höhle oder Bütte, in die man kriechen kann; das A steht da wie ein Surfer mit gespreizten Beinen, O hängt wie eine Zitrusfrucht an einem Zweig, U rollt seine Hula-Hüften – und I und E ahmen die Schreie von Affen und Urwaldvögeln nach, von denen sie abgeleitet sind. Wie hellhäutige Menschen, wollen auch die Konsonanten in glühend heißen Zonen nicht so recht gedeihen. Vokale sind für südliche Bequemlichkeit gebaut, Konsonanten für nördliches Tempo. Aber o, wie die Eingeborenen bOOgIE-wOOgIE tanzen, während die weißen Pflanzer WaLZeRN Leigh-Cheri dinnerte Avocado Aloha oder war es Guava Lava. Gulietta mümmelte Kalbsbraten nach Missionarsart. Strandboys belagerten ihren Tisch und gaben Unanständigkeiten von sich. Gulietta fuchtelte mit ihren Besenstiel-Armen und scheuchte die jungen Hunde fort. Gulietta schien das zu genießen. Surfer von der Prinzessin fernzuhalten,
machte eindeutig mehr Spaß, als Fliegen von der Königin fernzuhalten. Leigh-Cheri schenkte all dem kaum Beachtung. Sie versuchte zu entscheiden, ob sie Bernard während der Lunchpause einbuchten lassen sollte. Okay, er hatte sie vor der Sonne gerettet. Eine Prinzessin, die sich vom Drachen retten läßt, braucht kein Happy-End zu erwarten. Okay, seine überschwengliche Art verlieh ihm außerdem einen oberflächlichen Charme. Luzifer war der hübscheste Engel im Himmel, sagt man, und jeder Totenkopf trägt ein Grinsen zur Schau. Dieser Typ war gefährlich. Zwei ganze Tage vom Care-Fest waren dank seiner verloren, und wer konnte ahnen, welche Greuel er noch auf Lager hatte. Ihre Pflicht war klar. Die Frage war nur: jetzt oder später? »Jetzt«, zischte sie. »Wenn ich schnell mache.« Sie reichte Gulietta eine Banknote, damit sie die Rechnung begleichen konnte. Gulietta attackierte ihren Missionarsbraten mit missionarischem Eifer. »Ich sehe dich in zwanzig Minuten im Park«, sagte Leigh-Cheri und vergaß nicht, die entsprechenden Handzeichen zu machen. Als sie aus dem Speisesaal rannte, rief ihr einer der Strandboys nach: »He, Rote, wo brennt’s? Zwischen deinen Beinen? Haha.« Und als sie über die Lanai lief, begegnete sie den hellhäutigen Extraterrestrischen von Argon. »Mutantin«, zischte die beturbante Frau. »Sie sind auf jedem Planeten des Systems geächtet«, sagte der befezte Mann. »Begreifen Sie nicht, daß Sie durch die auf überschüssigen Zucker und Sexhormone in ihrem Körper einwirkenden Sonnenstrahlen mutiert sind? Die Sonne können Sie nicht belügen.«
»Jesus!« fluchte die Prinzessin. Sie hetzte über die Straße, zu den Docks. »Manchmal hab ich Lust, mir ein Fläschchen Lady Clairol zu kaufen und meine verdammte Haarfarbe zu ändern.« Als sie die auf den Namen Übermut getaufte Schaluppe erreichte, mußte sie wie betäubt feststellen, daß der vertraute Kopf, der in der Kajütentür auftauchte, jetzt mindestens so rotes Haar trug wie ihr eigener.
35 »Falls du schon wieder gekommen bist, um mich zu verhaften«, sagte Bernard und zwirbelte dabei mit seinem Abzugfinger an seinen leuchtenden Locken, »solltest du meine wahre Identität kennen. Eine kluge Polizistin weiß, wer ihr Gefangener ist. Andrerseits, falls du gekommen bist, weil du mich gern hast, könntest du mich noch lieber mögen, wenn du siehst, was wir miteinander gemein haben.« »Yeah«, sagte Leigh-Cheri. »Wir sind beide Mutanten.« »Wie bitte?« »Nichts. Du bist also auch einer von den Rotschöpfen, na schön. Ist die Farbe wirklich echt?« »Du meinst, ob ich meinen Stammbaum bis Henna zurückverfolgen kann? Das hier ist die Farbe, mit der ich aus dem Mutterschoß ausgebüxt bin. Der letzte Rest schwarzer Farbe ist gerade durch den Ausguß ins Meer geplätschert. Wahrscheinlich schwimmt jetzt Jacques Cousteau drin herum und denkt
sich, da schreibt schon wieder mal ein Tintenfisch mit undichtem Füllfederhalter.« »Okay, schätze, du bist genauso rot wie ich. Aber das ist auch alles, was wir miteinander gemein haben.« »Warum bist du da so sicher?« »Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: die einen sind Teil der Lösung und die anderen Teil des Problems.« »Ich verstehe. Ich baue Mist, und du räumst ihn auf? O.K. dann hör mal gut zu, es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: die einen schauen sich das Leben an und sehen den Zuckerguß auf dem Kürbis, und die anderen schauen hin und sehen den Sabber auf der Pastete.« (Es gibt tatsächlich zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: die einen glauben, daß es zwei Arten von Menschen auf dieser Welt gibt, und die anderen sind schlau genug, um es besser zu wissen. Leigh-Cheri und Bernard aber waren in die Feinheiten eines verzwickten Tanzes verwickelt, seien wir also großzügig und lassen ihnen etwas Leine.) Die beiden standen an Deck und die Sonne im Zenit, aber Leigh-Cheri hielt den Sonnenschirm empor, und Bernard kauerte im BleistiftstrichSchatten der Hauptsegelgaffel. Der Pazifik wurde an dieser Stelle durch eine Mole aus Bruchsteinquadern pazifiziert und schaukelte sie so liebevoll wie Wermutbrüder ihre Weinflasche. »Du kommst mir bekannt vor, jetzt, mit deinem roten Haar. Ich glaube, ich habe Bilder von dir gesehen.« »Ja doch, ich hab einen guten Agenten. Meine Star-Fotos tauchen überall auf.« »Wo? An den Wänden der Postämter? Du bist so eine Art berüchtigter Gauner, nicht wahr?«
»Ich würde es nicht so ausdrücken. Als ich jünger war, hatte ich einen kleinen Zusammenstoß mit dem Gesetz. Du weißt ja, wie Jungens sind.« »Nein. Erzähl mal.« »Da ist nicht viel zu erzählen. Ein Mißverständnis, an dem die Tochter eines Abgeordneten und ein geborgtes Auto beteiligt waren. Aber das Nachspiel … das hinterließ Spuren. Nach dreißig Tagen im Hühnerdiebe – und Tuntenbunker, aber das ist ‘ne andere Geschichte, machten sie mich zum Kalfaktor. Der Kalfaktorentrakt lag im zweiten Stock, genau wie die Gefängnisküche. Alle Kalfaktoren hatten Zutritt zur Küche. Tja, ich war noch keine Woche Kalfaktor, da ergab es sich, daß drei Küchenmesser und eine siebzehn Zoll breite Fleischerklinge fehlten. Natürlich stand jeder Kalfaktor im Verdacht, die Messer gestohlen zu haben. Sie nahmen unsere Schlafzellen völlig auseinander, den Fernsehraum auch. Aber die Messer fanden sie nicht. Also ließen sie uns in der Halle antreten, unter den Augen eines Sicherungstrupps mit Straßenkampfgewehren und chemischer Keule. Einer nach dem anderen wurden wir in ein kleines Zimmer geführt, wo wir uns vor ein paar weiteren Wachtmeistern und einem Captain mit Taschenlampe ausziehen mußten. Ich mußte mich umdrehen, meine Arschbacken greifen und mich bücken, damit sie in mein Rektum gucken und sich vergewissern konnten, daß ich dort keine drei Küchenmesser samt Siebzehn-Zoll-Fleischerbeil versteckt hatte. Natürlich fanden sie die Schneidwerkzeuge bei keinem von uns. Aber sie fanden vier Stück Seife, ein Playboy-Poster, drei Eiswürfel, fünf Vogelfedern, Atlantis, den griechischen Delegierten bei der Boys’ Nation, einen Kuchen mit Feile darin, eine weiße
Weihnacht, eine blaue Weihnacht, Pablo Picasso und seinen Bruder Eimer, ein Mettwurstsandwich mit Senf, zwei japanische Infanteristen, die noch nicht mitgekriegt hatten, daß der Zweite Weltkrieg vorbei ist, Prinz Buster von Cleveland, ein Boot mit gläsernem Boden, das Testament von Howard Hughes, ein falsches Gebiß, Amelia Earhart, die ersten vier Takte von »The Impossible Dream« (gesungen vom Black Mountain CollegeChor), das Testament von Howard Hughes (eine andere Version), die Witwe des Unbekannten Soldaten, sechs Brieftauben, die Moral der Mittelklasse, den Großen Amerikanischen Roman und eine Banane.« »Jesus!« fluchte Leigh-Cheri. Sie wußte nicht, ob sie lachen oder über Bord springen sollte. »Hör mal, wer bist du eigentlich, und was spielst du für ein Spiel?« »Buntspecht ist der Name, und Outlaw heißt das Drama. Man ist in fünfzig Staaten und Mexiko hinter mir her, und ich wäre froh, wenn du auch hinter mir her wärst. Tatsächlich hab ich meine Tarnung fallengelassen in der Hoffnung, dir die Augen zu öffnen und dein Herz zu erweichen. Da. Meine Karten liegen auf dem Tisch. Ein Wort, das dein alter Daddy sicher verstehen würde.« »Jesus! Der Buntspecht. Bernard Wrangle. Ich hätt’s mir denken können.« Sein keckes Lächeln war verschwunden. Hätte das Lächeln eine Adresse gehabt, die des seinen wäre gewesen: Hauptpostlagernd, Mond. Er blickte sie mit der angeschminkten Ernsthaftigkeit an, die Komödianten aufsetzen, wenn sie ihre Chance bekommen, den Hamlet zu spielen. Und doch war echte Zärtlichkeit dabei und Sehnsucht.
»Das ist zuviel für mich, um jetzt gleich damit fertig zu werden«, sagte Leigh-Cheri. Trotz der Hitzewellen, die um sie her rutschi-putschiten, mußte sie zittern. Warum hatte sie überhaupt auf das Boot kommen müssen? Sie hätte einfach die Polizei schicken sollen. »Ich sollte längst wieder beim Care-Fest sein.« In der Tat sollte die Podiumsdiskussion über Geburtenkontrolle planmäßig in sieben Minuten beginnen. Er versuchte ihr auf die Mole zu helfen, aber sie stieß seine Hand zurück. Im Davonhetzen, der zerschlissene Sonnenschirm flatterte wie der Hemdzipfel eines Werwolfs, rief sie zurück: »Sie werden dich wieder erwischen, hörst du.« Bernards Lächeln kehrte halbwegs zurück. »Sie haben mich nie erwischt, und sie werden mich nie erwischen. Der Outlaw ist jemand, der nicht erwischt werden kann. Er kann nur durch die Haltung anderer Leute gestraft werden. Wie deine Haltung mich jetzt straft.«
36 Als die Organisatoren des Geo Therapy Care-Fests ihre Absichten in den Umlauf brachten, wurden sie von Bewerbungsschreiben der Produzenten und Verkäufer »ökologisch gesunden« Krempels eingeschneit, die Konzessionen verlangten, um ihre Waren der Zukunft – Tees und Kräuter, Schlafsäcke und Schwitzbütten, Tipis und Windmühlen, Wasserdestillatoren und Luftreiniger, Holzöfen und gefrorenen Joghurt, Kunst und
Handwerksartikel, Bücher und Werkzeug, biomagnetische Unterwäsche und Johannisbrotraspelplätzchen – auf dem Gelände verkaufen zu können. Die Organisatoren lehnten ab. Sie hatten nichts gegen ökologische Verkaufsmessen oder die astronomischen Profite einzuwenden, die sich daraus schlagen ließen. Es war nur so, daß ihr Care-Fest als Austausch »von Ideen, nicht von Objekten« gedacht war. Nun kann die Linie, die Objekte von Ideen scheidet, recht dünn sein, aber ersparen wir uns, auch noch diesen Hosenlatz aufzuknöpfen. Galileo tat recht daran, Objekte und keine Ideen von seinem Turm herabzuwerfen, und das Care-Fest wäre gut beraten gewesen, sich ebenfalls an Objekte zu halten. Innerhalb des normalen Bereichs der Wahrnehmung kann man das Verhalten von Objekten messen und vorhersagen. Ungeachtet der Möglichkeit, daß jedes Objekt, einschließlich dieses Buches, das Sie in der Hand halten, in den falschen Händen zum Beweisstück Nummer Eins in einem Mordprozeß avancieren kann; und ungeachtet auch der weitaus interessanteren Möglichkeit, daß vielleicht jedes Objekt ein geheimes Leben führt, kann man doch mit Sicherheit sagen, daß Objekte, wie wir sie auffassen, relativ stabil sind, während Ideen entschieden unstabil sind; sie können nicht nur mißbraucht werden, sie fordern zum Mißbrauch geradezu heraus – und je besser die Idee, desto unbeständiger ist sie. Und dies, weil nur die besseren Ideen zum Dogma werden, und gerade dieser Prozeß, in dem eine frische, anregende, menschlich nützliche Idee in ein roboterhaftes Dogma verwandelt wird, ist so tödlich. Hinsichtlich der gefährlichen Kräfte, die freigesetzt werden, kann die Verwandlung von Ideen in Dogmen mit der Verwandlung von Wasserstoff in
Helium, von Uran in Blei oder von Unschuld in Verderbtheit konkurrieren. Und ebenso erbarmungslos ist sie allemal. Die Schwierigkeit beginnt auf der sekundären Ebene, nicht beim Urheber oder Entwickler der Idee, sondern bei den Leuten, die sich von ihr angezogen fühlen, die sie übernehmen, die an ihr festhalten, bis ihnen der letzte Fingernagel bricht, und denen es ausnahmslos an Überblick, Wendigkeit, Einbildungskraft und, das Wichtigste, an Humor gebricht, um sie in jenem Geist weiterzuführen, in dem sie ausgeheckt wurde. Ideen werden von Meistern gemacht, Dogmen von Jüngern, und der Buddha wird immer unterwegs erschlagen. Es gibt eine besonders abstoßende und entmutigend weit verbreitete Krankheit, die sogenannte Tunnelvision, die auf Grund all des Elends, das sie verursacht, die Kandidatenliste der Weltgesundheitsbehörde anführen sollte. Die Tunnelvision ist eine Krankheit, bei der die Wahrnehmung durch Unwissenheit eingeschränkt und durch Eigeninteressen verzerrt wird. Die Tunnelvision wird ausgelöst durch einen optischen Spaltpilz, der sich vermehrt, sobald das Gehirn weniger kräftig ist als das Ego. Komplikationen treten ein beim Kontakt mit der Politik. Wird eine gute Idee durch die Filter und Kompressoren der gewöhnlichen Tunnelvision geleitet, dann kommt sie nicht nur an Masse und Wert geschmälert hervor, sondern erzeugt in ihrer neuen dogmatischen Form auch Wirkungen, die das gerade Gegenteil dessen bedeuten, wofür sie ursprünglich beabsichtigt war. Auf diese Art wurden aus den Liebesideen Jesu Christi die unheilvollen Klischees des Christentums. So erklärt sich auch, warum praktisch jede Revolution in der Geschichte gescheitert
ist: die Unterdrückten, sobald sie die Macht ergreifen, verwandeln sich in Unterdrücker, die sich totalitärer Taktiken bedienen, um »die Revolution zu schützen«. So erklärt sich ferner, warum Minderheiten, die die Abschaffung von Vorurteilen verlangen, intolerant werden, warum Minoritäten, die Frieden wollen, militant werden, warum Minoritäten, die Gleichberechtigung wünschen, selbstgerecht werden und Minoritäten, die für die Emanzipation sind, rigide werden (ein zusammengekniffener Arsch ist das erste Symptom der Selbstunterdrückung). Diese kleine Predigt wurde euch dargebracht von der Abteilung für wesentliche Verrücktheiten am Outlaw-College. Sie wurde gehalten in der Hoffnung, daß sie vielleicht erklären möge, wieso das Care-Fest bei so vielen Meistern auf dem Rost, so vielen saftigen Ideen auf dem Grill dennoch aus den Fugen geriet. Im Rahmen der Dienstagmorgen-Sitzung hatte Dr. John Lilly kaum seinen Vortrag über die Intelligenz der Meeressäugetiere beendet und mit der Idee geschlossen, daß »ein anhaltender Dialog mit den Walen unsere Auffassung von allen lebenden Arten und dem Planeten, den wir gemeinsam bewohnen, verändern könnte«, als er auch schon von einem Teil des Publikums angegriffen wurde, dem es als Zeit- und Geldverschwendung erschien, mit Tieren kommunizieren zu wollen, während wir noch nicht einmal in der Lage seien, untereinander zu kommunizieren. »Was ist mit der menschlichen Kommunikation?« fragten sie. »Mein Ex-Gatte«, sagte eine, »konnte kein Wort von dem verstehen, was ich sagte. Meinen Sie, er könnte einen Delphin verstehen?« – »Wird so ‘n großer Fisch mein Volk aus dem Getto und auf die Lohnliste bringen? Wenn
nicht, werd ich meinen Atem nicht für den Scheißer verschwenden.« Tunnelvision. Leigh-Cheri fand die Fragen sinnvoll, auch wenn die Fragesteller unverschämt waren. Es war ihr peinlich Dr. Lilly gegenüber, und sie frohlockte, als er seinen Widersachern mit Anmut entgegentrat. In der Tat verlief die Vormittagssitzung noch ausgesprochen glatt – wie Delphinschweiß –, verglichen mit dem Tumult, der sich am Nachmittag abspielen sollte. Weil das Care-Fest dank dieses vogelhirnigen Hundesohns von Buntspecht zwei Tage hinter dem Fahrplan her hinkte, waren gewisse Doppelveranstaltungen unvermeidlich. (Wenn man schon verdoppeln mußte, dann war Hawaii, die Heimat von Mahi Mahi und Loma Loma der Ort, es zu tun.) Man hatte das Podiumsgespräch über Geburtenkontrolle mit dem über Kinderpflege zusammengelegt. Die Tribüne unter den Zweigen des Banyanbaumes war randvoll mit Experten, denen Fakten und Zahlen wie Schaum vor dem Mund standen. Die Diskussion war kaum im Gange, als sich schon eine vorherrschende Philosophie durchsetzte. Sie lautete: Wenn Babys schon nicht vom Storch gebracht werden, sollten sie das aber, und vielleicht könnte man darüber hinaus die Störche dazu bewegen, von ihnen abzulassen. Gewiß, dieser Standpunkt wurde nur von einigen wenigen Podiumsvertretern vorgebracht, aber eine große und schrille Fraktion im Publikum unterstützte ihn mit solcher Lautstärke und Bedrohlichkeit, daß er viele mitriß. »Wir wollen keine Geburtenkontrolle, wir wollen Schwanzkontrolle«, schrie eine Frau aus der dritten Reihe. Der darauf folgende Applaus über-
tönte jene Frau, die über Karottensamen als Verhütungsmittel dozierte. »Ach du liebe Güte«, dachte Leigh-Cheri. »Treibt man die Sache da nicht etwas weit?« Die Sache drohte auszuufern. Manche gingen weg, auf ein kühles Bad oder einen Drink. Gulietta sah aus, als wäre sie gern mitgegangen. Leigh-Cheri baumelte am Stiel ihres Sonnenschirms – ein leichtes Ziel für Kugeln aus Hirngelee. Auf der Bühne versuchte sich eine Zeitschriftenherausgeberin aus New York, eine schicke Karriere-Frau, von der man sagte, sie habe »einen Verstand wie eine stählerne Falle – und Mund, Herz und Vagina seien dementsprechend«, an einer Zusammenfassung. Erstens, sagte sie, beginne Kinderpflege bei der Schwangerschaftsverhütung, und außerdem sei es schrecklich unfair, von den Frauen zu erwarten, neun Monate lang Tag und Nacht, ohne Unterbrechung oder Unterstützung, auf ein Baby aufzupassen. Mit einer Stimme, die Leigh-Cheri an einen Dampfhammer bei der Bearbeitung einer Perlenkette erinnerte, schilderte die Herausgeberin der Versammlung die neuesten Geburtshilfetechniken und behauptete, bevor nicht künstliche Besamung und kontrollierte Schwangerschaft außerhalb des Körpers rund um den Globus routinemäßig eingeführt wären, könnten die Frauen nicht einmal vom Beginn der Verwirklichung ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Rechte sprechen. Die Herausgeberin machte jedoch bei der jungfräulichen Geburt nicht halt. Einmal geboren, müßten unsere Babys in den Genuß einer kollektiven Expertenbetreuung kommen, meinte sie und forderte das Care-Fest auf, eine Resolution zu verabschieden, in der die Bundesregierung aufgefordert wurde, unverzüglich Mittel zur Subventionierung von Kindertagesstät-
ten bereitzustellen, in denen Experten den lieben Kleinen eine standardisierte Vervollkommnung und ihren Eltern Unabhängigkeit garantieren sollten. Die Prinzessin fütterte dies in ihren Computer ein, um zu entscheiden, wie viele Aktien sie davon kaufen würde, als ein Dichter, ein alternder Humorist, der aufs Podium gesetzt worden war, um eine »andere Perspektive« einzubringen, genau dies tat. Er sagte der Herausgeberin, ihre Ideen seien ein Schwefelbad für die Rosen der menschlichen Rasse. Der Dichter wurde prompt ausgewiehert, aber dies haben die Angehörigen seiner Zunft noch nie als Nachteil empfunden. »Was für Babys werden das sein, die aus der Formel statt aus dem Fick entstehen?« fragte der Dichter. »Zweifellos werden sie je zwei Augen besitzen und die empfohlene Anzahl von Zehen, aber kann auch die Glut ihres Willens heiß genug sein, wird ihre Phantasie über alle ihre Finger verfügen? Können wir erwarten, daß ihre Seelen ganz und gar mit dem sich abhaspelnden Knäuel des natürlichen Universums und nicht mit dem Schlamm im Bodensatz des Reagenzglases verbunden sein werden? Wird nicht der Säugling – auf den Glockenschlag genau aus einer Plastikgebärmutter gezogen, wo ihm Rhythmus, Mutterbindung und die Püffe des täglichen Lebens vorenthalten blieben – eine kleine, mit synthetischer Flüssigkeit gefüllte Lücke zwischen den Augen haben, wird er nicht das Mal des Mutanten, wenn nirgendwo anders, im Kern seines Herzens tragen?« Die Herausgeberin gewährte dem Publikum ihren langen Blick geübter Empörung. »Fürchten Sie etwa«, fragte sie den Autor, »daß ein nicht auf die alte Weise empfangenes Kind Ihre
Witzchen nicht verstehen würde?« »Schluß mit dem mystischen Mist!« kreischte jemand aus dem Publikum dem Dichter entgegen, der aber, zu entschlossen oder zu besoffen, um sich darum zu scheren, fortfuhr und sagte: »Und diese Kinder, aufgezogen unter der Aufsicht des Staates, von Automaten zu einem Bäuerchen animiert, von Technikern gekitzelt, von protokollierten Botschaften aus dem Netzwerk der Psychologen getröstet – welch eine Art Gesellschaft, glauben Sie, werden diese Kinder errichten, wenn sie erst erwachsen sind? Bilden Sie sich auch nur eine Sekunde lang ein, daß Menschen, vom Augenblick der Geburt durch den Staat indoktriniert, etwas anderes als Werkzeuge dieses Staates sein würden, daß sie nicht einen totalitären Polizeistaat bewohnen und beherrschen werden, der an tyrannischer Kontrolle bei weitem die gräßlichsten Alpträume des …« Mittlerweile war das Buhen und Pfeifen so laut geworden, daß der Dichter über die ersten Reihen hinaus nicht mehr gehört werden konnte. Er zog eine Ginflasche hervor und sprach ihr zu, ganz leise. Die New Yorker Herausgeberin lächelte feinsinnig. Viele Anschuldigungen und mindestens eine reife Papayafrucht wurden gegen die Tribüne geschleudert. Dann folgte ein ausgedehnter allgemeiner Gedankenaustausch, der allen, die im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt haben, nur allzu vertraut sein wird. Frauen sagten, die Männer hätten die Rosinen aus dem Kuchen gepickt. Männer sagten, die Frauen hätten ins Schwimmbad gepinkelt. Ein Lehrer der Delphian-School von Sheridan, Oregon, schnappte sich für einen Moment das Mikrofon. »Mir scheint, daß wir bei all dem Gezänk die Kinder vergessen. Wenn wir die
Kinder vernachlässigen, vernachlässigen wir die Zukunft, genau die Zukunft, der diese Konferenz dienen wollte.« Er setzte die milde triumphierende Miene eines Mannes auf, der eine Rückkehr zur Vernunft eingeleitet hat. Irgend jemand schlug ihm eine blutige Monatsbinde ins Gesicht. »Existentialistin!« kreischte der Lehrer. »Wenn du die Babys so liebst«, schrie eine Frau, »krieg doch selber welche.« »Sehr richtig, Schwester!« ermunterte sie ein junger Mann in ihrer Nachbarschaft. Der Mann und die Frau schüttelten sich ernsthaft die Hand. Die Lösung des Überbevölkerungsproblems könnte in solchen Händedrücken liegen. Im Bemühen, die Ordnung wieder herzustellen, schlenderte ein bekannter Yogi, auch ein zum Care-Fest Delegierter, auf die Tribüne. Er nahm die Lotusstellung ein. Er strahlte. Gelassen und gewissenhaft nahm er ein Spinnennetz auseinander, dann setzte er es wieder zusammen. (Es blieben keine Teile übrig.) Er verschluckte drei Schmetterlinge, dann rülpste er sie unbeschädigt wieder heraus. Nur der eh schon disziplinierte Teil der Menge zeigte sich beeindruckt. Der Yogi hatte den Ruch der Ewigkeit an sich, und in vielen Kreisen war Ewigkeit einfach nicht mehr angesagt. Die Situation wurde immer unappetitlicher und langweiliger. Die Details seien euch erspart. Was genug ist, ist genug. Ein Banyanbaum schickt seine verzweigten Wurzeln in den Boden und läßt sie manchmal über eine weite Fläche ausgreifen. Unter den richtigen Bedingungen trägt er Feigen. Thomas Jefferson mochte Feigen. Es war Jeffersons Genie, das die Amerikanische Revolution davor bewahrte, schneller in den Tunnel gesaugt zu
werden, als sie es wurde. Jefferson hatte rotes Haar. Damit sei nichts angedeutet, außer der Möglichkeit, daß alles miteinander verbunden ist. Während die Diskussion im Begriffe stand, in Gewalt auszuarten – oder schlimmer, an die Ausschüsse verwiesen zu werden –, flüchtete Leigh-Cheri aus dem Park. Die Palmen, an denen sie vorbeistrebte, hielten sich mit ihren Wedeln die Ohren zu. Desgleichen die Gefühle der Prinzessin. »Jesus!« fluchte sie. Sie kam sich vor wie der Gourmet, der in Straßburg genudelt wurde. »Es ist meine pâte de foie, und ich werde weinen, wenn mir danach ist.« In der Pioneer’s Bar setzte sie sich unter eine der Walfängerharpunen, die dort die Wände zierten. Sie bat um einen Mai Tai, änderte ihre Bestellung dann aber in Tequila um. Draußen stieß der Ozean seinen Kopf gegen die Mole. Sie konnte es ihm gut nachfühlen. Drinnen toste eine andere Flut um sie herum – Männer mit summenden Drüsen. Aus diesem Strudel sprang die Nachricht empor wie ein fliegender Fisch: Die Polizei habe endlich das Bombenattentat von Lahaina gelöst. »Haben ihn vor ‘ner Stunde eingelocht«, hörte sie einen Kamaaina sagen.
37 Jenseits der Wogen, in Seattle, regnete es immer noch. Spät abends verfestigte sich der Regen zu Schneekörnern, aber als dann die Morgenschicht der Mechaniker, Thermosflasche in
der Hand, durch die Sicherheitspforte bei Boeing Aircraft watete, gab es wieder klaren Regen, und davon satt. Ein eisiger Wind, Abziehbilder von Alaska auf seinen Reisekoffern, trödelte ohne zu niesen im Regen herum, drängelte sich, ohne einen Kratzer abzukriegen, durch die Brombeerhecken und besuchte ohne Einladung den König und die Königin. »Kein Wunder, daß die CIA so viele undichte Stellen hat«, sagte Max. Er hatte sich gegen die Zugluft warm eingepackt. »Er hat keine Ahnung von Isolierung.« Dies trug Chuck in seine Spionenkladde ein. König Max beobachtete ihn, wie er sich mit der Orthographie plagte. »I-s-o-l-i-e-r-u-n-g«, sagte Max hilfsbereit. Falls der König etwas von dem bevorstehenden Aufstand in seinem Heimatland wußte, hielt er es gut verborgen. »Mich wird er nicht zum Narren halten«, sagte Chuck. Am Nebenanschluß in der Küche belauschte Chuck ein Ferngespräch, das Max mit einem gewissen Ibn Fisel führte. »Da ist irgendwas mit den Arabern im Busch«, berichtete Chuck der CIA. »War von Waffen die Rede?« fragte Chucks Verbindungsmann. »Redeten von Jetflugzeugen und Raketen, glaub ich.« Max hatte ein Treffen zwischen Ibn Fisel und Prinzessin Leigh-Cheri arrangiert, sobald sie von Hawaii zurück wäre. Mit Anstandsbegleitung, natürlich. Tilli und Max würden ihre Tochter und Fisel zu einem Basketballspiel begleiten. Seattle Supersonics gegen Houston Rockets. Im King’s-Dome. »Sagten irgendwas über ‘n Kampf im Königtum.« »Ei, verflucht«, sagte der Agent. Er pfiff durch die Zähne.
»Die Sache ist heißer, als wir dachten.« Ihrem Chihuahua, dessen zitterndes Gerippchen sie in einen purpurroten Wollpullover mit Pelzkrägelchen gekleidet hatte, klagte Königin Tilli: »Basgetbool. Basgetbool. Haben wirr doch gewußt, daß kein Araber nicht in die Oper geht.«
38 »Du weinst ja.« »Tu ich nicht.« »Dann hab ich mich geirrt. Du weinst nicht. Du bist auch nicht Hals über Kopf hergelaufen. Welch ein Glück, denn irgendwelche hergelaufenen Damen sind in diesem Etablissement nicht erwünscht. War das nun ein Kalauer aus der Hosentasche, oder freu ich mich einfach, dich zu sehen? Irgend etwas ist nicht in Ordnung.« Leigh-Cheri schniefte nur. »Hast du ein Kleenex?« fragte sie. »Ja, sicher. Ich werd was für dich finden. Komm herein.« Leigh-Cheri bückte sich und trat in die Kajüte. Sie riß einen Streifen Klopapier von der Rolle, die Bernard ihr vom Bugpissoir geholt hatte. Sie schneuzte sich die Nase – ein Signal für alle Tränen, zu Heim und Familie zurückzukehren. »Hm, ich sehe, du bist noch da.« »Gewiß bin ich da. Aber das ist doch kein Grund zu weinen.« »Ich hab nicht geweint. Ich hatte nur einen schlimmen Tag. Einen mehr. Aus einer Serie schlimmer Tage. Ich beklage mich
nicht. Schlimme Tage sind mein Handgepäck. Sie sind aber zeitraubend, und ich bin ein vielbeschäftigtes Mädchen. Ich habe nur vorbeigeschaut, weil ich hörte, daß du verhaftet seist.« »Oh, du hast mich angezeigt?« »Nein, du Esel. Habe ich nicht. Die Polizei hat jemand wegen des Bombenattentats auf das Pioneer geschnappt. Nur ein Schlag ins Blaue, eine wilde Vermutung, ich weiß, aber ich dachte mir, du könntest es sein.« »Ich bin beleidigt, daß du so etwas von mir gedacht hast, aber ich bin entzückt, daß du gekommen bist, um dich zu vergewissern. Ich habe die Ehre, berichten zu dürfen, daß ich, falls ›nicht eingelocht sein‹, ›frei sein‹ heißt, so frei bin wie die Vöglein am Himmel.« »Wen hat die Polizei dann verhaftet, frage ich mich?« »Ich fürchte, da hat es eine internationale, oder vielmehr interplanetarische Verwicklung gegeben. Die Polizei sah sich genötigt, unsere Gäste aus der fernen Welt von Argon in Gewahrsam zu nehmen.« »Ernsthaft? Ehrlich? Wie ist das passiert? Ich meine, warum ausgerechnet die beiden?« »Weil ein anonymer Anrufer der Polizei einen Tip gegeben hat und diese anschließend zwei Dynamitstangen in dem von ihnen gemieteten Toyota fand. Hmmm …« »Bernard!« »Schhhh. Ich versuche mir vorzustellen, wie ein argonischer Führerschein aussehen mag. Einer von ihnen mußte ja einen Führerschein haben, um ein Auto zu mieten.« »Bernard, das war dein Dynamit.« »Bist du sicher?«
»Aber wieso zwei Stangen? Du hattest doch drei.« »O.K. nenn mich selbstsüchtig, meinetwegen. Nenn mich einen schlechten Christen. Ich kann’s auch nicht ändern. Ich brachte es einfach nicht über mich, alles zu verschenken. Man weiß nie, wann man welches brauchen könnte.« Sie versuchte zu antworten, so als hätte er eine ganz alltägliche Bemerkung gemacht. Sie tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug. »Was möchtest du eigentlich sagen? Mit deinem Dynamit, meine ich?« »Sagen? Dynamit ist nicht da, um zu belehren. Dynamit ist da, um aufzuwecken.« »Glaubst du, Dynamit kann die Welt besser machen?« »Besser als was? Als Argon?« »Du weichst mir aus, du Mistkerl. Ich versuche dich zu verstehen, und du gibst mir keine klare Antwort.« Ihre kleine sonnengebrannte Faust zerknüllte vor lauter Frustration das beschmutzte Klopapier, mit dem sie sich die Augen betupft und die Nase geputzt hatte. »Vielleicht stellst du nicht die richtigen Fragen. Falls du dich für nichts anderes interessierst, als die Welt zu verbessern, dann lauf zurück auf dein Care-Fest und frage Ralph Nader.« »Allerdings hab ich vor, zu Ralph zu gehen. Ralph Nader, meine ich.« Sie errötete. Womöglich war sie der Meinung, eine kleine onanistische Initmität verraten zu haben. »Gut. Tu das. Aber falls du dich dafür interessierst, die Welt besser zu erleben, dann bleib hier bei mir.« »O ja? Das wäre schön – vielleicht – für dich und mich, aber was ist mit dem Rest der Menschheit?« »Eine bessere Welt muß irgendwo anfangen. Warum nicht
mit dir und mir?« Das beruhigte sie. Sie schien nachdenklich. Sie faltete das Klopapier auseinander, nur um etwas mit ihren Händen anzufangen. Während sie das tat, fiel ihr der Yogi ein, der das Spinnennetz auseinandergenommen hatte. »Bernard«, sagte sie, »glaubst du, ich kümmere mich um die falschen Dinge?« »Ich weiß nicht, Baby. Ich weiß nicht, worum du dich kümmerst, weil ich nicht weiß, wovon du träumst. Wir denken vielleicht, wir kümmern uns um dies oder das oder jenes, aber unsere Träume sagen uns, wofür wir uns wirklich interessieren. Träume lügen nie.« Leigh-Cheri dachte an ihre Träume. Mehrere Episoden kamen ihr lebhaft in den Sinn. Sie ließen sie aufs neue erröten, und ihr Pfirsichfisch verströmte Flüssigkeit aus seinen Kiemen. »Ich kann mich an keine Träume erinnern«, log sie. »Wir alle träumen ausgiebig, jede Nacht, aber am Morgen haben wir neunzig Prozent dessen, was passiert ist, vergessen. Deshalb sind Dichter auch so wichtige Mitglieder der Gesellschaft. Dichter erinnern unsere Träume für uns.« »Bist du ein Dichter?« »Ich bin ein Outlaw.« »Sind Outlaws wichtige Mitglieder der Gesellschaft?« »Outlaws sind keine Mitglieder der Gesellschaft. Aber sie können wichtig für die Gesellschaft sein. Dichter erinnern unsere Träume. Outlaws führen sie aus.« »Yeah? Was ist mit einer Prinzessin? Sind Prinzessinnen wichtig?« »Einst waren sie es. Eine Prinzessin trat damals für Schönheit, Zaubersprüche und Feenschlösser ein. Das war ganz
verflucht wichtig.« Leigh-Cheri schüttelte versonnen ihren Kopf. Ihre feurige Mähne wehte wie eine Plantagengardine – the night they drove old Dixie down. »Geh. Meinst du das ernst? Das ist doch romantischer Blödsinn, Bernard. Ich kann nicht glauben, daß der gefürchtete Buntspecht so ein Hohlkopf ist.« »Ha. Haha. Und du willst die Erde lieben. Wußtest du, daß sie hohl ist? Die Erde ist hohl, Leigh-Cheri. Im Innern der Kugel befindet sich ein Tretrad, und im Innern dieser Trommel rennt ein Eichhörnchen. Ein kleines Eichhörnchen, das sich für dich und mich die Hacken abläuft. Abends, kurz vorm Einschlafen, kann ich dieses Eichhörnchen hören. Ich höre sein irres Geschnatter, höre sein Herzchen pochen, höre das Quietschen des Eichhörnchenkäfigs – die Trommel ist schon alt und baufällig und von Rost zerfressen. Das Eichhörnchen tut die ganze Arbeit. Uns bleibt nichts andres zu tun, als gelegentlich die Trommel zu ölen. Womit, glaubst du, schmiert man diese Trommel, Leigh-Cheri?« »Glaubst du das wirklich, Bernard?« »Hand aufs Herz, ich will tot umfallen, wenn’s anders wäre.« »Ich – ich glaube es auch. Aber ich fühle mich schuldig deswegen. Ich komme mir so beschissen vor, als hätte ich eine Macke.« »Wer an den Dingen die Macken scheut, erlebt schon vor dem Tod die Leichenstarre.« Die ÜBERMUT maß zwölf Meter, den Bugspriet nicht mit eingerechnet. Sie hatte vier Kojen und hätte mehr haben können, aber ihre Kajüte war so umgebaut worden, daß sie maximalen Stauraum bot, ohne das allzu offenkundig werden zu
lassen. Sie war aus Teakholz, hatte Messingbeschläge und roch wie ein Gewürzschiff, was sie in gewissem Sinne auch war. Leigh-Cheri saß achtern in der Kombüse, an einem Tisch mit Glasplatte. Unter der Glasscheibe lag eine nautische Karte von den Hawaiianischen Inseln. Kaffeetassen und Tequilagläser hatten auf dem Glas kreisrunde Flecken hinterlassen, klebrige Atolle in einem krümelbesäten pazifischen Ozean. Mit den Fingern, die nicht gerade Klopapier ribbelten, zog Leigh-Cheri die Ränder der namenlosen Riffe nach. »Weißt du«, sagte sie schließlich, »du gibst mir ein gutes Gefühl, Prinzessin zu sein. Die meisten Männer, die ich kannte, haben mir deswegen nur Schuldgefühle gemacht. Sie kichern hinter vorgehaltener Hand, sobald von Schönheit und Zaubertricks die Rede ist, und von – für was, sagtest du, tritt eine Prinzessin ein?« »Für Zaubersprüche, dramatische Prophezeiungen, in Burggräben schwimmende Schwäne, Drachenköder – « »Drachenköder?« »Für all den romantischen Blödsinn, der das Leben interessant macht. Die Menschen brauchen das genau so nötig, wie sie faire Preise an der Texacopumpe und kein DDT im Essen brauchen. Die Männer, mit denen du zusammen warst, würden wahrscheinlich deine Brustwarzen nie richtig küssen, aus Angst, sie könnten Pestizide einsaugen.« Als sie ihren Namen hörten, sprangen Leigh-Cheris Brustwarzen in Habachtstellung. »Am Anfang meiner Karriere als Outlaw, wann ist ja egal, kurz nach meinem ersten Ausbruch aus dem Knast, half ich mit, ein Flugzeug nach Havanna zu entführen. Castro, dieser gute alte Fuchs, gewährte mir Asyl, aber ich war noch keinen
Monat in Kuba, da borgte ich mir ein kleines Boot mit Außenbordmotor und tuckerte wie der Teufel nach Florida Keys. Die Gleichförmigkeit des sozialistischen Systems war mir zu stickig und eintönig. Es gibt nichts Geheimnisvolles in Kuba, keine Vielfalt, nichts Neues und, schlimmer noch, keine Alternativen. Trotz aller dreckigen Laster, die der Kapitalismus begünstigt, ist er zumindest interessant, aufregend; er bietet Möglichkeiten. Der Kampf in Amerika ist zumindest ein individueller Kampf. Und wenn der einzelne genug Charakterstärke, genug Salz im Hirn hat, sind die Alternativen dicker als das Schaumgummi im Hinterzimmer eines Autohändlers. In einem sozialistischen System bist du nicht besser oder schlechter als jeder andere.« »Aber das ist Gleichheit.« »Blödsinn. Unromantischer, unattraktiver Blödsinn. Gleichheit besteht nicht darin, verschiedene Dinge auf die gleiche Art zu betrachten, Gleichheit besteht darin, verschiedene Dinge verschieden zu betrachten.« »Vielleicht hast du recht.« Sie befingerte das Klosettpapier, zog es über die Tischplatte und wischte gedankenlos ein ganzes Archipel aus. Ist’s das, was man »höhere Gewalt« nennt? »Ich fühle mich bestimmt nicht, als wäre ich genau wie jeder andere auch. Besonders wenn ich bei dir bin. Aber das beflügelt mich nur, denen helfen zu wollen, die nicht so glücklich sind wie ich.« »Es gibt immer die gleiche Menge Glück und Pech in der Welt. Wenn einer gerade kein Pech hat, wird ein anderer es an seiner Stelle haben. Es gibt auch immer die gleiche Menge von Gut und Böse. Wir können das Böse nicht ausrotten, wir können es nur ausquartieren, können es zwingen, von einem Stadt-
viertel ins andere umzuziehen. Und wenn das Böse umzieht, geht immer etwas Gutes mit. Aber wir können nie das Verhältnis von Gut zu Böse verändern. Wir können nichts anderes tun, als die Dinge dauernd umzurühren, damit sich weder Gut noch Böse verfestigen. Nur dann wird die Sache brenzlig. Das Leben ist wie ein Eintopf. Man muß oft umrühren, sonst steigt der ganze Schaum an die Oberfläche.« Er machte eine Pause. »Jedenfalls scheinst du ja in letzter Zeit nicht so recht glücklich zu sein.« »Das kann sich ändern. Du hast mir meinen Glauben an den romantischen Blödsinn bestätigt, und Ralph Nader spricht in vierzig Minuten. Aber beantworte mir noch eine Frage, bevor ich gehe. Wenn ich für Märchenkugeln und Drachenköder – Drachenköder – eintrete, wofür trittst dann du ein?« »Ich? Ich trete für Ungewißheit, Unsicherheit, Überraschung, Unordnung, Gesetzlosigkeit, schlechten Geschmack, Spaß und für Dinge ein, die in der Nacht Bumm machen.« »Du hast dich also tatsächlich in die Desperado-Schiene eingeklinkt, ja? Ich meine, du hast wirklich diese großen Dinger gedreht, Flugzeuge entführt, Banken geknackt–« »Nein. Banken nicht. Die Banken überlasse ich den kriminellen Typen. Draußen wie drinnen. Outlaws tun niemals – « »Du stellst das Outlawsein als etwas so Besonderes hin.« »Oh, es ist gar nicht so besonders, schätze ich. Wenn du ehrlich bist, mußt du dich früher oder später mit deinen Werten auseinandersetzen. Dann bist du gezwungen, das Richtige von dem zu trennen, was nur legal ist. Und schon gerätst du metaphysisch auf die schiefe Bahn. Amerika ist voll von metaphysischen Outlaws. Ich bin lediglich einen Schritt weiter gegangen.«
»Aus dem Regen in die Traufe, äh, Bernard? Ich bewundere deinen Mut zu sowas. Tu ich. Aber, ehrlich, mir scheint, du hast ein Stereotyp aus dir gemacht.« »Mag schon sein. Aber das macht mir nichts aus. Wie jeder Autofreak dir bestätigen wird, sind die alten Modelle die schönsten, wenn auch nicht die effizientesten. Menschen, die Schönheit für Effizienz hingeben, bekommen, was sie verdienen.« »Hm, vielleicht genügt es dir tatsächlich, ein schönes Stereotyp zu sein, ohne Rücksicht auf soziale Konsequenzen, aber mein Gewissen erlaubt mir das nicht. Und ich weigere mich, verdammt nochmal, ein Drachenköder zu sein. Ich bin genauso imstande, dich zu retten, wie du imstande bist, mich zu retten.« »Ich bin ein Outlaw, kein Held. Ich hab nie die Absicht gehabt, dich zu retten. Wir sind unsere eigenen Drachen, genau wie unsere eigenen Helden, und müssen uns vor uns selbst retten. Aber selbst Outlaws können nützlich sein, und ich habe mein Dynamit nach Maui mitgebracht, um das Care-Fest daran zu erinnern, daß das Gute genauso banal sein kann wie das Böse. Was dich betrifft, hm … hast du wirklich erwartet, ich würde meinen Verstand behalten, nachdem ich einen Blick auf dein Haar geworfen hatte?« Leigh-Cheri hielt sich eine Strähne ihres Haares vor die Augen. Wie zum Vergleich langte sie über den Tisch, wo Bernard ihr gegenübersaß, und untersuchte eine seiner widerspenstigen Locken. Das Haar der meisten sogenannten Rothaarigen ist orangefarben – doch das hier war rot. Rot: erste Farbe des Spektrums und die letzte, die vor den Augen Sterbender erscheint. Es war waschechtes Rot, was da wie Feuerglocken um die Häupter Bernard Mickey Wrangles und der Prinzessin
Leigh-Cherie hin und herschwang. Die beiden verharrten schweigend und verwirrt, gespannt und betreten, bis der Buntspecht die Stille mit einem Knacks unterbrach, indem er seine Hand unvermittelt in seine Jeans abtauchen ließ. Mit einer Jack Horner, dem erfolgreichen Zauberer, nachempfundenen Gebärde zog er ein einzelnes Haar hervor und hielt es in das Licht. Es glühte wie Kupferdraht. »Kannst du damit gleichziehen?« fragte er sie herausfordernd. Okay, Großmaul. Okay, okay, okay, okay, okay, okay. Unter dem Tisch, unter einer Seekarte von Hawaii mit dort nicht bekannten Atollen, tauchte ihre Hand wie ein Unterseeboot in die Tiefen ihres Rocks und glitt über den flachen Schelf ihres Schenkels. Sie zwängte sich in ihr Höschen. Sie zog. Autsch! Verdammt! Sie zog noch einmal. Und, presto, da war es, kraus und steif und rot wie Zwirn aus einem sozialistischen Banner. »Was hältst du davon?« fragte sie strahlend. Dann bemerkte sie, daß an der Spitze des Haares, einer Kaulquappenblase nicht unähnlich, eine winzige verräterische Perle fischiger Feuchtigkeit klebte. O süßer Jesus, nein! Sie lockerte ihren Griff um das zerknüllte Klopapier. Es flatterte wie eine getroffene Taube auf das Deck. Ihr Gesicht wurde purpurrot wie ihr Haar, und noch ein bißchen mehr. Sie hätte sterben mögen. »Was ich davon halte?« Die Stimme des Buntspechts war sehr sehr sanft. »Ich glaube, es könnte die Welt verbessern.«
39 »Die vertikale Integration seitens der Nahrungsmittelkonzerne, wie zum Beispiel der Geflügelindustrie, hat sich im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts mit ständig zunehmender Geschwindigkeit vollzogen. Und doch hat sich diese ›Brathühnchenleibeigenschaft‹ der Geflügelfarmer fast unbemerkt vom städtischen Amerika ausgebreitet.« Im Mondlicht, das durch das Laub des großen Banyanbaumes sickerte, sprach der Held zu den Heerscharen. Mit seinem billigen grauen Anzug und seinem unendlich eintönigen Schlips hätte er ebensogut in Philadelphia wie in Lahaina sprechen können, aber seine Integrität war so gewaltig, daß der Klang seiner Stimme die Mungos davon abhielt, die Pudel im Park vor der öffentlichen Stadt-Bibliothek anzupirschen, und sogar Montana Judys Meute, die bei der Nachmittagssitzung des Care-Fests noch sieben Sorten Teufel losgelassen hatte, hockte in respektvollem Schweigen auf dem Rasen. Abgesehen von einigen japanischen Plastikfächern und den trockenen Lippen des Helden, bewegte sich im Banyan-Park einzig und allein eine ältliche Anstandsdame, die ihre abhandengekommene Daseinsberechtigung suchte und Reihe um Reihe durch die Menge kreuzte. »Wie, zum Beispiel, soll die Hausfrau in dem Fleisch, das sie einkauft, Rückstände von Hormonen, Antibiotika, Pestiziden und Nitraten entdecken, oder wie soll sie dem überschüssigen Wasser auf die Spur kommen, das Hühnern, Wurstwaren oder weiterverarbeitetem Fleisch zugesetzt wird, und was kann sie
dagegen unternehmen?« Schlürf und Schlabber, Schmatz und überschüssiges Wasser. Leigh-Cheri und Bernard küßten sich wie im Delirium. Sie sprachen in Zungen. Wie ein Tier an der Salzlecke verputzte er den letzten Rest ihrer Tränen. Er küßte sogar ein Schnodderperlchen fort. Als würde seine Zunge nicht genügen, schob er auch einen Finger in ihren Mund und las die schlüpfrige Brailleschrift, die dort geschrieben stand. Sie lutschte an seinem Finger und drückte ihren Körper so fest an seinen, daß er fast das Gleichgewicht verlor und nach Steuerbord purzelte. Der Ozean im Yachthafen spielte leicht nervös mit seinen Fluten herum, und sie hatten sich noch keine Seebeine verdient. Vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter und mit innigem Druck, arbeitete sich Bernard mit seiner sommersprossigen Hand ihre Schenkel hinauf. Fast schmolz ihr Höschen unter seinem Griff dahin. O ja. Hätte König Max in diesem Moment seinen Buchmacher angerufen, er hätte erfahren, daß die Quote acht zu eins gegen die Keuschheit stand. »Die chemische Industrie und ihre Lobbyisten haben dafür gesorgt, daß die Regierung bei der Erforschung alternativer und sicherer Methoden der Ungezieferkontrolle nur zögernd verfährt.« Bernard gab ihr eine Kapsel und eine Tasse Tequila, um sie hinunterzuspülen. »Was ist das?« »Shi-link. Chinesische Geburtenkontrolle. Ist sehr alt und sehr sicher. Eine Kapsel reicht für Monate. Nimm sie, Baby.« »Ich weiß nicht … Was ist drin?« »Die Vier Unsterblichen.«
»Nur vier. Mit sechs würde ich mich sicherer fühlen.« »Nimm sie.« »Mit sechs hat man eine Frühlingsrolle.« »Nimm sie.« Sie nahm sie und versuchte, während sie schluckte, nicht an jene Kolonne marschierender Chinesen zu denken, die sich in Achterreihen, Brust an Brust, einmal um den Globus bewegte. »Später werde ich dich die Lunazeption lehren: zu beobachten, wie dein Hormonzyklus mit dem Licht koordiniert ist. Du kannst lernen, deinen Körper mit den Mondphasen zu synchronisieren und bist dabei gleichzeitig bombensicher und im Einklang mit dem Universum. Ein Sonderangebot in Walfischgröße.« Leigh-Cheri war so freudig überrascht von dem, was sie hörte, so entzückt von diesem verrückten Bombenwerfer und seiner Sorge um ihren Schoß, daß sie die Arme um ihn schlang und ihn küßte, als würde er bald aus dem Verkehr gezogen, was er nach Auffassung vieler ja auch werden sollte. Sie lachte und küßte und zog sich aus, alles gleichzeitig. All ihr verflossenen republikanischen Präsidenten, verzehrt euch vor Kummer. »Wettbewerb, freies Unternehmertum und ein offener Markt waren niemals als symbolische Feigenblätter für den heutigen korporativen Sozialismus oder den monopolistischen Kapitalismus gedacht gewesen.« War sich der Held eigentlich bewußt, daß, während er von symbolischen Feigenblättern sprach, höchst realistische Feigenblätter den Baldachin bildeten, der den Fadenschein seines grauen Anzugs vor den verspielten Strahlen des Mondes schützte?
An Bord der Übermut war das letzte symbolische Feigenblatt inzwischen gefallen. Bernards Unterhose – natürlich schwarz – landete auf dem Deck, Sekunden nachdem auch Leigh-Cheri der ihren adieu gesagt hatte. Beider Unterwäsche lag einfach da und verstaubte wie jene Geisterstädte, die verlassen wurden, als die Nylongruben erschöpft waren. Die beiden rollten auf einen niedrigeren Liegeplatz. So erregt war Leigh-Cheri schon gewesen, aber dabei noch nie so entspannt. Ihre Knie umrahmten ihr lächelndes Gesicht. Sie bot eine schwer zu verfehlende Zielscheibe. Der Mond, leuchtend wie eine Limone, enterte die Schaluppe durchs Bullauge und funkelte auf ihrem tropfenden Bärenauge. Bernard zielte und traf. »Süßer Jesus!« schrie sie. »Yum-mm«, stöhnte er. Das Meer schaukelte das Boot, wie um sie anzufeuern. »Selten öffentlich verlautbart, gleichwohl geläufig sind Rechtfertigungen der Unternehmerseite, wonach Luftverschmutzung der ›Preis des Fortschritts‹ und der ›Duft der Lohntüte‹ seien.« Die Luft in der Kajüte bestand mittlerweile aus zwei Teilen Sauerstoff, einem Teil Stickstoff und drei Teilen Mösendampf, Franzosendunst und Amorschweiß. Ihre Aromawolke blähte sich über ihnen wie ein volles Segel. Sie trug die beiden über die Wellenberge eines Orgasmus nach dem anderen. Die Blume ihrer Möse sprengte die Luken. Die Würze seines Samens flutete die Bilgen. »Ooh«, staunte sie. »Riechen wir nicht gut?« »Zum aufessen gut«, antwortete er. Er dachte darüber nach, was er da gesagt hatte. Es brachte ihn auf neue Gedanken. »Bei aller heutigen Umweltsorge und tastenden Suche nach
Orientierung seitens der Studenten und Bürgerinitiativen wird eine wichtige Institution beinah ignoriert oder als bedeutungslos ausgeklammert.« Sie hatten eine Weile stillgelegen. Atem schöpfend, ließen sie die Trommelwirbel ihres Bluts ausklingen und blickten einander mit allen Anzeichen einer universellen hypnotischen Liebestrance-Pupillenstarre in die Augen, als Leigh-Cheri sagte: »Weißt du, Bernard, das war nicht nett, was du getan hast.« »Tut mir leid. Ich dachte, es hätte dir gefallen. Manche Frauen haben Hemmungen, sich … diesen Teil von sich lieben zu lassen – vielleicht tut es ihnen weh –, aber ich habe versucht, zart zu sein, und du hast dich wirklich so angehört, als ob’s dir gefiele.« »Nicht das, Blödmann. Das meine ich nicht. Es hat mir gefallen. Es war mein erstes Mal. Nicht einmal mit dem Finger, kannst du dir das vorstellen? Wahrscheinlich ist es meinen Boyfriends nie in den Sinn gekommen, daß auch Prinzessinnen Arschlöcher haben.« Sie küßte Bernard anerkennend. »Davon habe ich nicht geredet, du blöder Bombenwerfer. Ich hab von deiner Denunziation geredet. Die armen Botschafter von Argon.« »Ach, die. Hm, erstens Baby, falls sie wirklich den weiten Weg von Argon hergekommen sind, sollte es für sie kein Problem sein, aus dem Gefängnis von Lahaina zu verschwinden. Zweitens stellen die Dinge, die sie über die Rothaarigen gesagt haben, ein Verbrechen gegen die Natur dar. Die Natur hat Vergeltung gefordert. Drittens ist der Buntspecht stolz auf seine Taten, auch auf die, die einen gewissen Beigeschmack von Schweinerei haben. Er wird aber nicht zulassen, daß irgendwel-
che Wunderwarzenschweine aus dem Weltraum das Verdienst für etwas einstreichen, was eigentlich ein recht ordentliches Gesellenstück der Sprengkunst war. Eines Tages wird er das Konto berichtigen. Aber nicht sofort. Es dauert noch elf Monate, bis die Verjährungsfrist verstrichen ist; dann beabsichtigt er ein paar besonders amüsante öffentliche Auftritte zu genießen.« »In elf Monaten bist du frei?« »Falls das Freiheit ist, yeah.« »Aus irgendeinem Grund macht es mich glücklich.« »Ich kann mir nicht denken wieso.« Sie kuschelten sich enger aneinander, und als sie so nah beieinander waren, wie sie nur sein konnten, ohne hintereinander zu sein, fingen sie wieder an, sich zu küssen. Sein Mittelfinger begann in ihrer Vagina zu verschwinden, aber sie zog ihn heraus und zwängte ihn – mit einigem Ungemach und einiger Ekstase – tief in das königliche Rektum. »Outlaw-Territorium«, flüsterte sie. »Was wir benötigen, ist eine anhaltende öffentliche Forderung nach einer Emanzipation von Rechtsprechung und Technik, welche den korporativen Machtapparat, der die Natur gegen den Menschen kehrt, entwaffnen wird. Ich danke Ihnen, Ladies and Gentlemen. Guten Abend.« Dachte der Banyanbaum, der Jubel gelte ihm? Dem Mond war gewiß klar, daß er im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts keinen Applaus zu erwarten hatte. Mehr nickend als sich verbeugend, trat der Held von der Tribüne ab und schritt in schiefgelaufenen Schuhen bescheiden aus dem Banyan-Park. Falls Erfolg beklatscht und Scheitern ausgebuht wird, hatte Gulietta nur Pfeifkonzerte für ihre Leistung des Abends ver-
dient. Eine Stunde emsigen Suchens hatte sie nicht zum Aufenthalt ihrer Herrin und Schutzbefohlenen geführt. Auch Gulietta verließ den Park. Bernard und Leigh-Cheri hätten sich mit gutem Recht selbst applaudieren können, aber frisch gevögelte Liebende verstehen »Erfolg« selten in dieser Weise, und außerdem waren sie zu ausgepumpt, um sich die stehende Ovation darbringen zu können, die sie verdienten. Auch sie bereiteten sich auf ihren Abgang vor. Sie saßen auf der Liege. Sie teilten sich eine Tasse Tequila und ein Päckchen Hostess Twinkies. Wie Touristen vor einer geologischen Sehenswürdigkeit, beobachteten sie, wie ein Bächlein durchsichtiger Lava Zentimeter um Zentimeter die Innenseite ihres Beins hinabrann. »Du mußt voll davon gewesen sein«, sagte sie. »Regelmäßig ein Hostess Twinkie«, erwiderte er. Sie tauchte einen Daumen in das Rinnsal und steckte ihn in ihren hübschen Mund. Sie mußte kichern. »Ich hab gehört, es schmeckt wie Plastik«, sagte Bernard. »Bombercrèmesuppe. Eines Tages will ich davon eine ganze Schüssel voll.« »Du weißt ja, wie man die Dose öffnet.« Verträumt stand die Prinzessin auf. »Bin mir nicht sicher, ob ich gehen kann«, sagte sie. »Dann will ich dich tragen.« »Ist’s das, was man Liebe nennt?« »Ich weiß nicht mehr, was Liebe ist. Vor einer Woche hatte ich eine Menge Ideen. Was Liebe ist, und wie man es anstellt, daß die Liebe bleibt. Jetzt, wo ich verliebt bin, hab ich keine
Ahnung. Jetzt, wo ich verliebt bin, bin ich, was diese Frage betrifft, völlig blöd.« Auch Leigh-Cheri kam sich blöd vor. So sehr sie auch suchte, sie konnte ihr Unterhöschen nicht finden. »Es muß sich aufgelöst haben«, witzelte sie, als sie Bernard zum Abschied umarmte, aber insgeheim fürchtete sie, daß die Götter es ihr zur Warnung in Luft aufgelöst hatten, als Zeichen göttlichen Mißfallens, daß sie ihr Herz und ihren Hintern an einen Outlaw und nicht ihren Geist und ihre Seele an eine gute Sache verschenkt hatte. Tatsächlich aber war ein Mungo – von dem urtümlichen Duft, den die Schaluppe verströmte, angezogen – an Bord gekommen und hatte das Höschen fortgeschleppt. Nachdem er alles Salz herausgelutscht hatte, ließ der Mungo das Höschen in der Gosse der Hotel Street liegen, wo es der Held am andern Morgen flachtrat, während er ein Taxi zum Flughafen heranwinkte. Obwohl die Spitzenborte seinen mutwilligen Schuhen einen süßen Tadel zurief, fuhr er davon, ohne etwas zu bemerken.
40 Zu guter Letzt war Leigh-Cheri doch noch Königin von Hawaii. Hawaii öffnete sich ihr, wie sie sich Bernard geöffnet hatte, wie eine Blume, deren Kelch tief und klebrig ist, wie ein Buch mit satinierten Seiten, wie eine Frucht, so prall vor Saft, daß sie nach dem Stich des Messers lechzt. Trotz Guliettas halbherziger Einwände verbrachte Leigh-Cheri den Donnerstag mit Bernard,
und überall, wohin die beiden Rotköpfe gingen, stand Hawaii bereit, sie zu empfangen. Sie picknickten in einem Wald unter dem Vulkan. Ameisen, womöglich winzige Läuse im Schlepptau, schwärmten aus, um die beiden zu begrüßen. Bernard biß in eine Tomate und spuckte ihre Samen aus. Die Samen bildeten einen Kreis auf der Erde. In den setzten sich die beiden Verliebten. Begierig, ihnen »Aloha« zu wünschen, bestürmten die Ameisen die Palisade, aber der Kreis gab nicht nach. Leigh-Cheri reichte Bernard die Pickles. Bernard reichte Leigh-Cheri den Käse. Irgendwo im Dschungel ließ der Wind Bambusstangen gegeneinanderklopfen. Das ergab ein musikalisches klack-klack-klack, wie die Zähne eines hölzernen Götzenbildes. Türen gelber Ingwerblüten öffneten und schlossen sich im Wind, auf Angeln, die nie geölt zu werden brauchten. Bernard ließ eine Büchse Primo knallen, das einheimische Bier von Hawaii. Obwohl Bier eines der wenigen neutralen Nahrungsmittel ist, weder yin noch yang, weder sauer noch alkalisch, weder solar noch lunar, weder maskulin noch feminin, weder gänzlich dynamisch noch gänzlich träge, obwohl Bier also dauernd in neutraler Untätigkeit verharrt und daher das perfekte Getränk für das leidenschaftslose und unentschlossene letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts abgeben könnte, trank die Prinzessin kein Bier. Sie begnügte sich, von den warmen Zephiren Mauis zu schlürfen. Und nach dem Essen trank sie, die Ameisen guckten in irrer Verzückung zu, den Saft ihres Geliebten. »Hmmm. Schmeckt nicht nach Plastik«, dachte sie. »Es schmeckt sehr nach Poi.« Ach, Hawaii. Es gibt eine Art, Liebe zu machen, die dem Menschen nicht
bekommt, grad so, wie es unbekömmliches Essen gibt. So sieht zum Beispiel die Brombeerkrempastete aus dem Spar-O-Markt vielleicht einladend aus, läßt vielleicht sogar alle neunhundert Geschmackspapillen auf der Zunge frohlockend in die Luft springen, aber der Zucker, die Zusätze, die leeren Kalorien werden am Ende die Arterien verstopfen, die Zellen zersetzen, Fett bilden und die Zähne verfaulen lassen. Und potentiell nahrhafte Speisen können immer noch falsch zubereitet werden. Auch beim Sex gibt es falsche Kombinationen und Vorbereitungen. Ja, man muß sich auf einen Fick vorbereiten, in der Art wie ein erleuchteter Priester sich vorbereitet, die Messe zu zelebrieren, in der Art, wie ein großer Matador sich für die Arena vorbereitet: mit Intensivierung, mit Läuterung, mit bewußter Anrufung der heiligen Macht. Und selbst das wird nicht gelingen, wenn die Zutaten schlecht zusammenpassen: Austern sind köstlich, auch Erdbeeren sind lecker, aber zusammengemischt …(?!) Jedes nahrhafte Sexrezept erfordert mindestens eine Prise Liebe, und die Ficks, die sich bei Gourmets wie bei Naturkostjüngern vier Sterne verdienen, brauchen sie becherweise. Nicht daß Sex als Therapie aufgefaßt oder zu medizinischen Zwecken gebraucht werden sollte – nur ein Schwachkopf könnte einen solchen Mühlstein um den gebrechlichen Hals eines Laien hängen –, aber nachlässig, oberflächlich, ohne Engagement und ohne Wärme an den Sex heranzugehen, hieße, Abend für Abend mit erotischen Fettlöffeln zu speisen. Mit der Zeit wird der Gaumen unempfindlich, man wird (ohne es zu wissen) an emotionaler Fehlernährung leiden, die Haut der Seele wird sich mit Skrofeln verhärten, die Zähne des Herzens werden verfaulen. Weder Dauer noch feierliche Bekannt-
gabe des Engagements ist hierbei notwendiger Maßstab – es gibt vergängliche Explosionen der Leidenschaft zwischen Fremden, die mehr erotischen Sinn machen als so manch eine lange Ehe; es gibt One-night Stands in Jersey City, die glanzvoller sind als eine halbjährige Affäre in Paris – aber letztlich gibt es ein Engagement, wenn auch noch so kurz, eine Reinheit, wenn auch noch so gefährdet, eine Verletzlichkeit, wenn auch noch so verborgen, eine Großzügigkeit der Gesinnung, wenn auch noch so sehr mit Verlangen durchsetzt, eine ehrliche Anteilnahme, wenn auch noch so sehr von Lust versengt, die vorhanden sein muß, wenn Verbindungen heilsam und nicht wie langsam wirkendes Gift sein sollen. Nachdem sie jahrelang nur Junk-Food-Sex (wer sagt denn, daß Pfirsichsaft aus der Dose nicht auch den Durst löscht) genossen hatte, empfing Prinzessin Leigh-Cheri nun Köstlichkeit und Nahrhaftigkeit im Übermaß. Muß man da noch erwähnen, wie gut ihr das bekam? Versuchen, mitten in der Brandung von Kaanapali im Stehen Liebe zu machen (die Touristen auf dem Strand konnten es nicht besser) … das Spiegelbild ihres Geliebten (purpurnes Schamhaar und alles andre) in einem Urwaldtümpel bei Hana bewundern … ihren sex-wunden Hintern einen Reitpfad in Makawao entlangschaukeln (sie hatte noch nie jemand im Sattel stehen oder eine Mangofrucht mit dem Wurfmesser herunterholten sehen: dieser Bernard!) … es war, als wären all ihre Reiseposter-Phantasien endlich wahr geworden.
41 Und doch beklagte sich die Erbse unter der Matratze. Durch das üppigste Pfühl morste sie – piep-piep-piep – ihre blaue Flecken verursachende Litanei: Armut, Verschwendung, Ungerechtigkeit, Umweltverschmutzung, Krankheit, Rüstung, Sexismus, Rassismus, Überbevölkerung – die ganze quälende Aufzählung sozialer Mißstände, auf denen Prinzessinnenfleisch sich einfach nie ganz behaglich niederlassen konnte. Von der Erbse mit Vorwürfen überhäuft, beschloß sie an diesem Abend zum Care-Fest und damit zum Zweck ihrer Mission auf Maui zurückzukehren. Dann aber vernahm sie einen Bericht aus der Kamaaina-Gerüchteküche über die letzte Sitzung im Banyan-Park, der die weniger attraktiven Aspekte ihres rothaarigen Naturells voll entflammen ließ. Es schien, als wären die Mikrophone des Care-Fests zuerst von Montana Judys Meute erobert worden, die sogleich alle achtunddreißig Verse der volkstümlichen Ballade »Alle Männer sind Vergewaltiger« anstimmte (merkwürdigerweise sollen viele Männer im Publikum mitgesungen haben); dann von Gay Bob und seinen Freunden, die ein langes poetisches Manifest mit dem Titel »Jeder ist homosexuell« vorlasen; dann von dem Reverend Booker T. Kilimanjaro, der sich, Bibel in der einen, Machete in der anderen Hand, in sein Spezialgebiet stürzte und eine Predigt hielt: »Pilatus war ein weißer Imperialist, Jesus war ein Nigger«. Dabei führte er die neuesten Disko-Tänze auf. Danach war das Seminar über Sonnenenergie offenbar in der Finsternis verschwunden, und die Vorlesung über Unsterblichkeitsdrogen
hatte man ermordet. Als der Yogi, der das Spinnennetz auseinandergenommen hatte, auf Ersuchen des Managements versucht hatte, die Eindringlinge kosmisch zu bezaubern, damit sie das Podium räumten, wurde er von der Bühne gestoßen und ward zuletzt gesehen, wie er, im Schlüsselbeinbruch – Asana versunken, zum Erste-Hilfe-Zelt humpelte. Leigh-Cheri war wütend. »Weißt du, was wir tun sollten? Und ich meine es ernst. Diese letzte Stange Du-weißt-schonWas nehmen und einfach all die ungehobelten Arschlöcher aus dem Park jagen. Das Care-Fest hat sich sowieso in einen Kübel voller Würmer verwandelt. Wir könnten ebensogut damit Schluß machen.« »Ach ja? Du willst sagen, ich soll etwas in die Luft sprengen, nur weil ich es nicht billige? Was glaubst du, bin ich? Ein Vandale, ein Faschist? Ein belämmerter Kritiker?« »Scheiße«, sagte Leigh-Cherie. »Nein, ich glaube, du bist nichts von alledem. Ich glaub, du bist ein Outlaw. Und ich fange an zu glauben, daß der Outlawismus, wie du ihn praktizierst, genauso viele Regeln hat wie alles andere.« Das tat weh. Sie saßen am Fenster, im zweiten Stock des Blue Max, und wie um den Stachel ihrer Anschuldigung herauszuziehen, hatte er nicht übel Lust, jene letzte Stange Du-weißtschon-Was aus seiner Wäsche zu reißen, sie anzuzünden und auf die Front Street hinunterzuwerfen. Er faßte sich aber wieder und antwortete: »Anscheinend hast du deine Kenntnis von Sprengstoffen beim Anschauen von Fernseh-Cartoons erworben. All diese Kuhstallbiester und psychopathischen Schoßtierchen, die sich gegenseitig TNT in die Betten stopfen. Wirkliche Bomben tun mehr, als dir den Pelz zu versengen, fürchte ich.
Und da gibt es keinen Trickfilmzeichner aus Hollywood, der dich im nächsten Bild wieder zusammensetzt. Dynamit ist nicht irgend ‘ne Vanillepaste in den Händen bescheuerter Pussykatzen oder gehässiger Enten. Und es ist kein Scherzartikel – « »Schon gut. Schon gut. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ein Outlaw hat anscheinend eine schwere Verantwortung. Genau wie ein General oder ein Richter.« Das reichte. Er riß die tödliche Rolle unter seinem Hemd hervor und stieß das Ende mit dem Zünder in die Kerzenflamme, die auf der Tischplatte pflichtgetreu den Anforderungen romantischer Lokalgepflogenheiten nachkam. Statt aber das Dynamit auf die Straße zu werfen, hielt er es sich wie die Fackel der Freiheitsstatue über den Kopf, während Leigh-Cheri, vor Schreck gelähmt, innehielt. Die anderen Stammgäste des Blue Max schauten voller Schrecken zu. Eine Bedienung fand gerade soviel Stimme, um zu kreischen. Ein Surfer hechtete hinter die Bar. Die Zündschnur prasselte und sprühte Funken, wie ein intensiv gelebtes Leben. »So muß man brennen«, schien die Zündschnur dem fügsamen, geistig trägen Kerzendocht sagen zu wollen: »Brillant, ekstatisch, unbezähmbar. Das ist die richtige Art zu brennen.« Die Zündschnur hatte eine Verabredung und konnte nicht warten, um zu sehen, ob der Kerzendocht den Mut hätte, ihren Rat zu befolgen.
42 In der letztmöglichen Sekunde stopfte sich Bernard die Zündschnur in den Mund. Sie zischte in der Spucke. Er riß sie mit den Zähnen ab. »Autsch«, rief er. Es war das einzige Wort, das gesprochen wurde. Er leerte seinen Tequila Mockingbird mit einem Zug, half der betäubten Prinzessin auf die Beine und geleitete sie zur Treppe. Niemand versuchte die beiden aufzuhalten. Das normalerweise lärmende Blue Max war still wie eine Gedenkminute. Bernard brachte Leigh-Cheri zum Pioneer Inn. »Geh rauf und pack«, sagte er. »Du und Gulietta, ihr trefft mich beim Boot, so bald ihr könnt.« Er beugte sich vor, um sie zu küssen, besann sich aber anders. Auf seiner Zunge war eine scheußlich Brandblase.
43 Der Sonnenuntergang trödelte an diesem Abend rum. Es sah aus, als sei ein Mai Tai über den Himmel ausgekippt worden. Schlieren von Grenadine, Triple See, Maraschino und Rum tröpfelten über den Horizont und bildeten Lachen auf dem Meer. Wie eine naschsüchtige Motte glitt die Übermut auf die verschüttete Pracht zu.
Der Marijuanaschmuggler und ein Geschäftspartner bedienten die Segel. Gulietta hockte im Heck, reglos wie eine Kröte. Leigh-Cheri und Bernard saßen im Bug und redeten miteinander. »Tut mir leid, daß ich die verärgert habe«, sagte sie. »Dies ist keine leichte Zeit für eine Prinzessin!« »Nein, und es ist auch keine leichte Zeit für einen Outlaw. Es gibt keinen moralischen Konsens mehr. In den Tagen, als man sich allgemein darüber einig war, was recht und was unrecht sei, tat ein Outlaw einfach all die unrechten Dinge, die getan werden mußten, ob für die Freiheit, die Schönheit oder den Spaß. Heute sind die Unterschiede verwischt, eine vorsätzlich unrechte Tat – die für den Outlaw richtig ist – kann von vielen anderen als recht interpretiert werden und daher zwangsläufig bedeuten, daß der Outlaw im Unrecht ist. Du kannst keine Windmühlen umschmeißen, wenn sie nicht stillstehen wollen.« Er starrte kurz in den Sonnenuntergang und brach dann in sein jedem Zahnarzt spottendes Grinsen aus. »Aber das stört mich eigentlich nicht. Ich war immer ein eckiger Spund in allen runden Löchern, bis auf eines.« »Wo wir schon darüber sprechen, es ist auch keine leichte Zeit für die Liebenden. Bei einer Scheidungsrate von bis zu sechzig Prozent – wie könnte man da noch mit ernstem Gesicht an einer Hochzeit teilnehmen? Ich sehe Liebende, wie sie Hand in Hand gehen, einander ansehen, als ob es sonst keine Menschen gäbe auf der Welt, und ich muß unwillkürlich daran denken, daß sie in einem Jahr, vielleicht mehr, vielleicht weniger, mit jemand anderem zusammen sein werden. Oder aber ihre gebrochenen Herzen pflegen. Klar, die meisten Liebenden
strengen sich nicht genügend an, oder es mangelt ihnen an Phantasie und Großzügigkeit, aber sogar die, die es versuchen, scheinen heutzutage letztlich keinen Erfolg zu haben. Wer kann es schaffen, daß die Liebe bleibt?« Er dachte einige Augenblicke nach, bevor er antwortete. »Ich schätze, die Liebe ist der eigentliche Outlaw«, sagte er. Sie hoffte, er möge noch mehr sagen, und vielleicht hätte er das auch getan, aber zunächst sagte er nur: »Yikes!« Und LeighCheri? Sie sagte: »Süßer Jesus!« Guliettas Worte überstiegen die Möglichkeiten der Remington SL3, und die Worte der Schmuggler gingen unter im Wuschhhh. »Wuschhhh«, machte es, als es vorbeizischte: ein schlanker Zylinder gefrorenen Lichts, auf dem bunte Tüpfelchen in allen Farben pulsten, flog mit unglaublicher Geschwindigkeit knappe tausend Fuß über dem Wasser dahin und wischte die letzten Reste des Sonnenuntergangs auf, als wär’s ein Scheuerlappen aus dem Weltraum. In Wirklichkeit hatte es, und darin waren sich in der anschließenden Diskussion alle an Bord einig, nicht mit Lichtern aller Farben geblinkt. Eine Farbe fehlte ganz unverkennbar. Es war kein Rot dabei Über Schiffsfunk erfuhren sie an diesem Abend, daß zahlreiche andere Beobachter berichtet hatten, daß ein UFO vom Haleakala aufgestiegen und über dem Pazifik verschwunden war. Gesichtete UFOs aber waren in Maui ein alter Hut, und so fand auch dieses eine in den Nachrichten nur wenig Beachtung. Wesentlich mehr Äthergeflüster gab es um eine Meldung von einem Gefängnisausbruch in Lahaina. Ein Mann und eine Frau, der Sprengung des Pioneer Inn angeklagt, waren aus ihrer Zelle
entwichen. Unter Hinweis darauf, daß Maui eine kleine Insel sei, rechnete die Polizei mit der Ergreifung des Pärchens binnen weniger Stunden.
44 Wenngleich das Vorbeihuschen des Raumschiffs, falls es tatsächlich eines war (die Marinewetterwarte von Pearl Harbour behauptete, es sei ein Meteor gewesen), die Kompaßnadel der Übermut zu ausgelassenen Bocksprüngen verführt hatte, kam sie doch eine Stunde später zur Vernunft und nahm wieder ihre kriecherisch subalterne Haltung gegenüber dem dominanten Norden ein. Inzwischen bestimmte Bernard die Position nach dem Mond und den Sternbildern Orion und Buddy Holly. Sie segelten in den Kalohi-Kanal, Richtung Honolulu. Der Wind hielt sie in den Armen. Das Meer schaukelte sie auf den Knien. »Glaubst du«, fragte Leigh-Cheri, »daß sie wirklich von Argon waren?« »Entweder von dort oder aus Los Angeles.« »Sie hatten einen seltsamen Geruch an sich.« »Mottenkugeln.« »War’s das?« »Sie hatten ihre Turbane und Kostüme entweder aus einem alten Freimaurerschrank – oder dort, woher sie kommen, verwendet man Naphtalin als Achselhöhlendeodorant.« »Bernard, mal angenommen, sie waren von einem anderen
Planeten. Könnten sie recht haben, was die Rothaarigen betrifft? Sind wir wirklich mondsüchtige Mutanten, deren Schwäche durch die Sonne offenbart wird?« »Ich kann dir nur soviel sagen: In Mittelamerika, Südamerika und Mexiko gibt es weitverbreitete Mythen über eine Rasse von rothaarigen Kaukasiern, die vor Jahrtausenden auftauchten und mit Hilfe gutartiger Magie Stamm um Stamm unterwarfen. Tatsächlich führen die Inkas, Azteken und Mayas die Entwicklung ihrer hochstehenden Kultur auf die ›Rotbärte‹ zurück, wie sie sie nannten. Die Pyramiden und andere massive Mauerwerke der Neuen Welt wurden von diesen Halbgöttern erbaut, darin stimmen die mündlichen Überlieferungen dutzender großer ethnischer Gruppen überein. Die Sage von den Rotbärten ist auch in Ozeanien verbreitet. Die großen Steinhäupter der Osterinsel stellen angeblich Büsten dieser Karottenköpfe dar.« »Ich hasse es, wenn die Leute mich Karottenkopf nennen.« »Ich auch. Die Karotte ist noch nicht geboren, die es mit meinem Kopf aufnehmen könnte.« »Na, erzähl weiter.« »Mythen sind kristallisierte Geschichte. All diese Erzählungen können unmöglich Zufall sein. Nehmen wir also an, daß es eine Rasse von halbgöttlichen Rotköpfen gab, und nehmen wir an, daß sie eines Tages auf und davon gingen und von der Erdoberfläche verschwanden – auch darin stimmen die Berichte überein –, so tut sich uns ein einladendes Körbchen auf, durch das wir die Basketbälle unseres romantischen Blödsinns schmettern können.« »Ja?« »Okay, ein Beispiel. Die Rotbärte hatten außerordentliche
Fähigkeiten. Sie waren unter anderem Meister der Pyramidenkraft, einer unglaublich leistungsfähigen Nutzung natürlicher Energien, so geheimnisvoll und kompliziert, daß die moderne Wissenschaft noch nicht einmal angefangen hat, sie zu verstehen. Wo aber haben die Rotbärte diese Fähigkeiten, die dem Hauptstrom des Wissens, wie er sich auf Erden entwickelte, so fern sind, erworben? Könnte es sein, daß es Außerirdische waren? Falls unser dürftiger Intellekt uns erlaubt, diese Möglichkeit einmal anzunehmen, könnten wir uns eine kleine Hypothese zurechtzimmern. Die Rotbärte kommen also von Argon, sie bringen den Schlüssel zur Pyramidenkraft mit und wer weiß welche anderen argonischen Technologien noch. Da findet auf Argon eine Revolution statt. Die rothaarige Herrscherklasse wird gestürzt. Am Ende schicken die Aufständischen ein Sonderkommando auf die Erde und vaporisieren die dortigen Rothaar-Kolonien. Vielleicht aber wurden die Rotbärte auch nach einer Revolte auf die Erde verbannt, oder es gab einen Krieg auf Argon. Später beschließt dann das neue argonische Regime – es könnte blond sein, wie das Pärchen in Lahaina –, daß die Emigranten auf unserem kleinen Planeten zu mächtig werden, und da es die Möglichkeit einer künftigen Konterrevolution ausschließen will, entsendet es Truppen, um sie mit Hilfe von Waffensystemen, die unsere Vorstellungskraft übersteigen, zu beseitigen. Puff! Sayonara Rotbärte. Wir könnten uns Varianten zu diesem Szenario ausdenken. Aber wie man’s auch dreht und wendet, dies könnte nicht nur das Auftauchen sowie das plötzliche Verschwinden der Rotbärte, sondern auch die Abneigung der heutigen Argonier gegen rotes Haar erklären. Die Rotbärte könnten mit Mars, dem roten Planeten, in Ver-
bindung gestanden haben. Wahrscheinlicher ist aber, daß auf Argon ein Konflikt zwischen lunaren und solaren Kräften stattgefunden hat. Die Rotbärte wären demnach ein lunares Volk gewesen – mystisch, okkult, flexibel, feministisch, spirituell, pazifistisch, agrarisch, künstlerisch und erotisch. Während die Gelbhaarigen ein solares Volk waren: abstrakt, rational, prosaisch, militaristisch, industriell, patriarchalisch, emotionslos und puritanisch. Ein durchaus klassischer Kampf, auch hier auf Erden. Da Sonne und Mond universell sind, könnte sich dieser Kampf über das ganze Universum erstrecken oder wenigstens über unser Sonnensystem. Es ist ein Konflikt, der auf die Rangeleien zwischen Luzifer und Jehova zurückgeht. Die Sonne ist Jehova Untertan, aber Luzifer beherrscht den bescheuerten ollen Mond.« »Jesus«, sagte Leigh-Cheri. »Das klingt gut. Du solltest für Acid Comix schreiben. Aber wohin gehören wir heutigen irdischen Rotköpfe? Sind wir Atavismen, Nachfahren der Rotbärte?« »Vielleicht. Sie könnten sich mit Erdenbürgern gepaart oder auf eine andere, esoterische Weise das Genpotential der Menschen beeinflußt haben. Ich persönlich vermute, daß die Natur – unter dem Einfluß des Mondes – wieder eine neue überlegene Rasse zu schaffen versucht, daß sie die vernichteten Rotbärte neuerschaffen will. Darum pflanzt sie weiterhin rote Samen. Manche schlagen Wurzeln, andere nicht. Manche gedeihen in wunderlichen Formen. Jede Menge Fehlstarts und Unvollkommenheiten. Die lunare Natur ist bemüht, die Macken des Prototyps auszubügeln, bevor sie das nächste Entwicklungsstadium der Rothaarigkeit in Angriff nimmt. Inzwischen fordert die
Sonne ihren Tribut.« »Die Rotköpfe sind also entweder Nachfahren von Halbgöttern oder selbst potentielle Halbgötter. Das ist herrlich. Das gefällt mir.« Sie küßte ihn aufs Ohr. Sie zwickte ihn in den Hintern. »Eines ist sicher. Du und ich, wir ticken besser als gewöhnliche Sterbliche.« »Das ist bewiesen.« »Aber wissen wir auch, wie man dafür sorgt, daß die Liebe bleibt?« »Ich kann mir das nicht denken. Ich kann es bestenfalls Tag für Tag versuchen.« »Ich bin mir nicht sicher, ob Liebende in Zeiten wie diesen überhaupt eine Chance haben.« »Laß dich nicht von der Epoche, in der du lebst, zum Opfer machen. Es sind nicht die Zeiten, die uns unterkriegen, genausowenig wie die Gesellschaft. Wenn du der Gesellschaft die Schuld gibst, wirst du schließlich von der Gesellschaft auch die Lösung erwarten. Wie diese armen Neurotiker beim Care-Fest. Heute gibt es die Tendenz, den einzelnen von moralischer Verantwortung freizusprechen und ihn als Opfer gesellschaftlicher Umstände zu behandeln. Wenn du das abkaufst, bezahlst du mit deiner Seele. Es sind nicht die Männer, die die Frauen einschränken. Es sind nicht die Heteros, die die Schwulen einschränken. Es sind nicht die Weißen, die die Schwarzen einschränken. Was die Menschen einschränkt, ist ihr Mangel an Charakter. Was die Menschen einschränkt, ist, daß sie nicht den verdammten Mut oder die Phantasie haben, als Star in ihrem eigenen Film aufzutreten, geschweige denn Regie zu führen. Yuk.«
»Yuk, Bernard?« »Yum.« »Yum?« »Yum. Wir stehen heute am Ende einer Epoche und sind weit entfernt vom Anfang einer neuen. Während dieser Übergangsperiode gibt es kein Moratorium für die Lebendigkeit des einzelnen. Tatsächlich reifen folgenschwere Ereignisse im Vakuum heran. Es ist eine herrliche Zeit, um zu leben. Solange man genügend Dynamit hat.« »Oder genügend Snuff«, sagte der Captain, der mit einer Platte Kokain nähergekommen war. Bernard nahm eine Nase. Leigh-Cheri zögerte. »Komm«, sagte Bernard. »Das Zeug ist so gut, daß Julius Cäsar es noch mit dem letzten Atemzug angeboten hat. ›Du auch, mein Sohn Brutus‹, hat er gesagt. Komm, versuch es mal.« Leigh-Cheri nahm eine Nase. Gulietta auch. Vielleicht erinnerte sich Gulietta noch an den Snuff, den ihre königlichen Arbeitgeber in den guten alten Tagen zu schnupfen pflegten. In den Tagen, als sie Schwäne im Schloßgarten schwimmen sah und sich nicht träumen ließ, daß sie eines Tages ohne Frosch, mit einem Frachter voller Torheit und Liebe über einen mondgleißenden Ozean segeln würde. Am Samstagnachmittag erreichte die Schaluppe Honolulu. Am nächsten Morgen flogen die Prinzessin und Gulietta – und Bernard Mickey Wrangle (wieder als T. Victrola Firecracker) – den Stichen oder Honigtröpfchen entgegen, die im summenden Bienenstock Amerika ihrer harrten.
45 Wer kann mir sagen, wie man die Liebe zum Bleiben bewegen kann? 1. Sag der Liebe, du gehst zum besten Bäcker der Stadt, um einen Käsekuchen zu holen, und wenn sie bliebe, könnte sie die Hälfte haben. Sie wird bleiben. 2. Sag der Liebe, du willst ein Andenken an sie, und verschaff dir eine Locke von ihrem Haar. Verbrenne das Haar in einem Weihrauchbrenner aus dem Supermarkt, mit Yin-YangSymbolen auf drei Seiten. Blicke nach Südwesten. Besprich das brennende Haar geschwind in einer exotischen Sprache. Hol die Asche des verbrannten Haars heraus und mal dir damit einen Schnurrbart ins Gesicht. Geh zurück zur Liebe. Sag ihr, du seist jemand anderes. Sie wird bleiben. 3. Weck die Liebe mitten in der Nacht. Sag ihr, die Welt stehe in Flammen. Lauf zum Schlafzimmerfenster und piß hinaus. Kehr lässig ins Bett zurück und beteure der Liebe, jetzt sei alles in Ordnung. Schlaf ein. Die Liebe wird am nächsten Morgen noch da sein. Bernard, der Buntspecht, der die Verhaltensnormen einer ganzen Zivilisation verspottet, wenn nicht gar gesprengt hatte, rebellierte natürlich gegen die Vorstellung, daß er den Regeln und Statuten eines zweitrangigen Königshauses gehorchen sollte. Schließlich aber schob er seinen Stolz beiseite und gehorchte – denn er wollte von ganzem Herzen, daß die Liebe bliebe. Der Milliardär und arabische Sportsmann Ibn Fisel machte
Leigh-Cheri mit Max’ und Tillis Unterstützung den Hof. Wenn Bernard sie zumindest sehen wollte, mußte auch er ihr förmlich den Hof machen. Sie liebte ihn glühend, aber Regeln sind Regeln. Sie war nicht bereit, auf ihr königliches Privileg zu verzichten. »Im Land meiner Familie kündigen sich Veränderungen an. Dort brodelt es. Vielleicht wird der Thron eines Tages wiederhergestellt. Ich könnte am Ende Königin werden. Denk nur, wieviel Gutes ich tun könnte.« Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu. »Denk nur, wieviel Spaß wir haben könnten. Ich würde dir die Verantwortung für die Munitionskammer übertragen.« Also machte er Hof. Er würde sie behandeln, als wäre ihr Dreieck ein Stück Wiener Hochzeitstorte mit Zuckerguß und Rokoko. Er würde sich benehmen, als würden Zinnsoldaten ihr vaginales Portal bewachen. Max und Tilli kannten ihn nur als einen Bürgerlichen, den die Prinzessin im heidnischen Hawaii kennengelernt hatte. Sie hätten ihn nicht als Freier akzeptiert, hätte nicht Gulietta ein gutes Wort für ihn eingelegt. Infolgedessen kam Gulietta zu einem Plastikfrosch voll Koks (eine Substanz, für die sie eine plötzliche Vorliebe entwickelt hatte). Bernard wohnte in der Stadt, am Pioneer Square. Er mietete die Charles Bukowski-Suite im Bin-schon-so-lang-kaputt-daßmich’s-nicht-juckt Hotel. Ein Junggesellenapartment in einem von Rentnern und Mäusen bevorzugten Haus. Das Wohnzimmersofa ließ sich in ein Bett verwandeln. Manchmal in der Nacht, und er drin, versuchte das Bett sich in ein Sofa zurückzuverwandeln. Im Bad, wo er sein Haar nachfärbte, bevor er Leigh-Cheri besuchen ging, gab es Zigarrenbrandspuren auf
dem Klodeckel. Es gab Rost in der Wanne und Ruß in den Gardinen. Es gab Spinnen, schmierige Grafiken und einen Kalender, so zeitfern, daß er noch immer glaubte, Feiertage könnten in die Wochenmitte fallen. Mit schwarzem Anzug, schwarzem Hemd, schwarzen Stiefeln, Socken und Schlips steuerte der Outlaw sein zerbeultes Mercedes-Cabriolet durch die Vororte. Der Regen hatte aufgehört, aber die Wolken hingen niedrig. Sie hatten die Farbe des Maulwurfs. Seattles Himmel erinnerte Bernard immer an Bettwäsche im Gefängnis. Im Rückblick werden wir erkennen, daß dies ein böses Omen war. König und Königin wollten Bernard in der Bibliothek empfangen. Es war ein modriger Raum, doch auf dem Fußboden lag ein sehr erlesener und sehr teurer weißer Teppich. Weißer als Tauben, weißer als Zahnschmerzen, weißer als Gottes eigener Atem. Bernard hatte Leigh-Cheri seit fast zwei Wochen nicht gesehen. Er beschloß, den Versuch zu wagen, und ihr durch Gulietta ein Briefchen zuzuschmuggeln. In dem Briefchen wollte er Findigkeit empfehlen. »Mögen wir von verhungerten Straußenbabys aufgefressen werden, wenn wir nicht eine geheime Möglichkeit aushecken können, uns zu treffen.« Während er seine zukünftigen Schwiegerleute erwartete, ging er zum Schreibtisch und fing an, das Briefchen zu kritzeln. In seiner Nervosität stieß er ein offenes Tintenfaß auf den besagten osterweißen Teppich. Die Pfütze war groß. Der Fleck dauerhaft. Natürlich sah Königin Tilli gnädig über das Mißgeschick hinweg. Falsch. In Wirklichkeit gab sie sich nicht die geringste Mühe, ihre äußerste Verärgerung zu verbergen. In elfenbeiner-
nem Schweigen liebkoste sie ihren Chihuahua. Peinlich und gespannt, hing der Abend ebenso durch wie der Himmel. Der Tee wurde aus einer silbernen Kanne eingeschenkt, deren Tülle sich einst vor Winston Churchill verneigt hatte. Es war vortrefflicher Tee, aber der Freier lechzte nach Tequila. Der König machte Small Talk über Basketball. Und über Brombeeren. Die Prinzessin hatte Schiß, Bernard in die Augen zu sehen. Vögel wären nicht imstande gewesen, die Sehnsucht zwischen ihnen zu durchfliegen. Nicht einmal die Brombeerranken hätten sie zu durchdringen vermocht. Um Punkt neun Uhr wurde der Freier entlassen. Chuck versuchte, Bernard bis nach Hause zu verfolgen, verlor ihn aber aus den Augen, als dieser sechs rote Ampeln überfuhr, die letzten beiden im Rückwärtsgang. Am nächsten Tag gelang es Bernard, Leigh-Cheri am Telefon zu erwischen. Sie sagte ihm, daß Königin Tilli untröstlich sei. Er würde nicht wieder eingeladen werden. »Du mußt dir etwas einfallen lassen.« »Hab ich schon. Laß uns in einer Zigeunerhöhle auf einer Insel vor der Panamaküste zusammenleben. Ich werde für dich Mundharmonika spielen und dein Haar mit Kokablättern zu Knoten flechten.« »Nichts zu machen«, sagte sie. »Du mußt Wiedergutmachung leisten.« Einige Tage danach kaufte Bernard zwei Dutzend Rosen und machte sich erneut auf den Weg zum Brombeerschloß. Er wußte, König Max war im Krankenhaus, um seine Herzklappe checken zu lassen. Auch gut. Würde er also die Königin besuchen. Er studierte die rührendsten Entschuldigungen ein. Er
war ein klein wenig verzweifelt. Weniger als Wiedergutmachung lag nicht drin. Nicht mal ein bißchen. Unbehagen lag in Guliettas alten Augen, als sie ihn eintreten ließ. Sie bedeutete ihm mit Gesten, er solle im Musikzimmer warten. »Okay, aber ich hab meine Mundharmonika vergessen«, sagte Bernard. Gulietta griff nach den Blumen. Bernard sagte »nein«, er wollte sich einfach an ihnen festhalten. Er ging in das Musikzimmer und nahm auf der Couch Platz. Als er sich setzte, spürte er etwas Warmes und hörte ein leises, trockenes Knacks/Knirsch/Klack, als würde ein einzelnes überdimensioniertes Rice Krispy von einem Krokodil zerbissen. Er stand langsam auf. Die gefärbten Haare in seinem Nacken auch. Unter ihm lag der geliebte Chihuahua. Er hatte sich draufgesetzt. Und ihm das Genick gebrochen. Ihm blieb nichts weiter übrig, als den Deckel des Flügels anzuheben und den toten Chihuahua auf die Saiten zu betten. Er stopfte die Rosen hinterdrein und schloß den Deckel. Er ging, ohne Goodbye zu sagen. O schlafi dein ewiges Hundischläfchen, du liebes Tierchen; kläff den Katzen der Pharaonen nach, in den Hinterhöfen der Ewigkeit. Denn Bernard Mickey Wrangle würde an diesem Abend weder schlafen noch spielen. Das Schicksal hatte seine Fahrkarte gelocht, die Liebe hatte ihm einen Platz in jenem Zug spendiert, der nur auf der dunklen Seite des Mondes hält. Diesmal gelang es Chuck, ihm auf der Spur zu bleiben. In seiner Gier nach Tequila nippte Bernard an einer Tränke am Pioneer Square, die er normalerweise nicht aufgesucht hätte, der Rha Bar & Grill – dem Projekt eines SonnenenergieKollektivs. Sogar die Jukebox wurde durch Diebstahl an der
Sonne mit dem nötigen Strom versorgt. Während Bernard diese Jukebox fütterte, in der Hoffnung, Waylon Jennings würde sein Realitätsgefühl wiederherstellen, stand Chuck in der Telefonzelle auf der anderen Straßenseite und rief seinen Verbindungsmann bei der CIA an. Der Agent war freudig erregt. Die Teetasse, die Chuck ihm zwei Tage zuvor gebracht hatte, trug Fingerabdrücke des Buntspechts. »Das FBI wird sich um ihn kümmern«, sagte der Agent, »er hat es jahrelang zum Narren gehalten. Danach wird meine Behörde feststellen, welche Rolle er bei der Verschwörung zur Wiedereinsetzung von König Max gespielt hat. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen.« Binnen einer Stunde war Bernard verhaftet – auf den Tag zehn Monate, bevor die Verjährungsfrist ihn auf freien Fuß gesetzt hätte. Obwohl er, schon in Handschellen, der Menge in der Bar zurief: »Sie haben mich nicht erwischt! Es ist unmöglich, mich zu erwischen!«, waren Beamte in der Bundesstrafanstalt McNeill Island bereits dabei, eine Zelle auszufegen, aus der, so behaupteten sie, nicht mal Houdini hätte entwischen können. Und bald würde auch Prinzessin Leigh-Cheri ihren Dachboden ausfegen, eine Zelle, dazu bestimmt, das Entweichen der Liebe zu vereiteln, ein kahles Museum, dem gewidmet, was jeder von uns wünscht und nicht haben darf, sowie der Traurigkeit und Freude dieses Strebens. Und hier ist vielleicht der Moment, eine vollkommene Träne zu vergießen, ganz bittersüß und schimmernd vor träumerischer Resignation. Nur daß, ähnlich wie die Schlange, die einst in Eden ihre Ringel sonnte und geduldig auf eine Gelegenheit wartete, die größte Katze aller Ewigkeiten aus dem stabilsten
Sack zu lassen, jetzt eine Packung Camel-Zigaretten in den Kulissen steht und darauf wartet, ihren Auftritt zu bekommen und ihre höchst überraschende Nummer abzuziehen.
ZWISCHENSPIEL Die Remington SL3 ist frisch gestrichen. Ich habe das Baby rot angepinselt. Fragt mich nicht warum. Es ist die einzige Möglichkeit, wie ich mit der verdammten Maschine weitermachen kann. Äußerlich wenigstens ist die Wirkung interessant. Beinah schockierend. Fast intim. Wie sie jetzt auf meinem Tisch rattert, ist sie rot und indiskret wie ein Plastiksack voller Pickel. Innerlich könnten ihr ebenfalls Neuerungen bevorstehen. Aufs geratewohl wird sie mit Buchstaben, Wörtern, Satzstrukturen fertigwerden müssen, mit denen noch keine existierende Schreibmaschine Erfahrung gemacht hat. Lassen Sie mich das erklären. Vor kurzem, auf einer Reise nach Kuba, fand ich mich auf der zertrampelten Plaza eines Dorfes im Landesinneren wieder, umgeben von Jugendlichen, die höflich um Chiclets baten. Hätte ich gewußt, daß Chiclets eine seltene Delikatesse für die Kubaner darstellen, hätte ich ein paar Kartons aus meinem Spar-O-Markt über die Grenze geschmuggelt. So aber fehlten mir sowohl die Chiclets als auch, wie sich zeigen sollte, die Sprachkenntnisse, dies mitzuteilen. Stets hatte ich geglaubt, das spanische Verb hablar bedeute
»haben«, und »Si, hablo espanol« hieße dementsprechend: »Ich habe Spanisch – ich besitze die Beherrschung der spanischen Sprache.« Auf Grund dieses Mißverständnisses sagte ich zu den hübschen jungen Kubanern: »No hablo Chiclets.« Sie lächelten höflich. Später erfuhr ich, daß das, was ich da gesagt hatte, natürlich »Ich spreche kein Chiclets«hieß. Zuerst kam ich mir ziemlich doof vor. Dann aber dachte ich: »Nun, es ist eine ehrliche Auskunft. Ich spreche kein Chiclets.« Dann dachte ich: »Warum nicht?« In den Monaten seither habe ich mir selber Chiclets zu sprechen beigebracht. Laßt euch sagen, es ist leichter, Chiclets zu sprechen, als es zu lesen oder zu schreiben. Nichtsdestoweniger besteht eindeutig die Möglichkeit, daß ich auf den restlichen Zeilen dieses Buches zeitweilig in ChicletProsa verfallen könnte. Das Thema schreit fast danach. Ich hoffe, die Remington SL3 ist der Aufgabe gewachsen. Hat der Mond einen Zweck? Sind Rotköpfe übernatürlich? Wer kann die Liebe zum Bleiben überreden? Ich werde diese und andere Fragen von Bedeutung der Remington SL3 vorlegen. Das kann viel Zeit in Anspruch nehmen, wie ein Krieg zwischen Magiern, und selbst dann mag das Ergebnis anders aussehen, als es den Anschein hat. Aber wenn die Remington SL3, frisch gestrichen, Chiclets tippen kann, könnte dieses Unternehmen wohl zusammenhalten. Irgend etwas wird es zusammenhalten müssen. Ich bete zu Elmer, dem griechischen Gott des Kleisters.
3. Phase
46 Nach einer schicklichen Frist erwarb Königin Tilli einen neuen Chihuahua. Max hatte darauf bestanden. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie bei den Werbeeinschaltungen für Hundefutter das Heulen kriegte, und die kleine Aschenurne lehrte ihn das Grausen. Eines Tages pustete er einfach die schwarzen Kerzen aus und fuhr Tilli zu einer Kleintierhandlung. Ein geliebter Outlaw ist nicht so leicht zu ersetzen. Leigh-Cheri weigerte sich, Ibn Fisel zu treffen. Sie weigerte sich, die Reporter zu empfangen, die täglich anriefen. Die Reporter wollten sie nicht über den Buntspecht ausfragen – noch war ihre Beziehung zu ihm der Öffentlichkeit verborgen geblieben –, die Reporter wollten mit ihr über die Monarchie von Mu sprechen. Zwei Tage nach Bernards Verhaftung flatterte das People-Magazin mitsamt dem Artikel über sie in die Kioske. Anscheinend hielt die Presse Mu für eine gute Idee. Mehrere abgesetzte Monarchen, die interviewt worden waren, hielten es für eine gute Idee. Selbst König Max, der, abgesehen von den Brombeeren, die mit ihren Millionen bedrohlicher Fingernägel außen an seine Wände trommelten, nie das geringste Interesse für die natürliche Umwelt gezeigt hatte, hielt es für eine gute Idee. Max ermunterte sie, weiterzumachen. Er ermunterte sie, die Reporter zu empfangen. Er ermunterte sie, sich mit Ibn Fisel zu treffen. Aber Leigh-Cheri wollte niemanden sehen. Sie wollte nur Bernard sehen, und bislang hatte das
King County Jail, wo er verwahrt wurde und seinen Prozeß erwartete, abgelehnt, ihm Besucher zu bewilligen. Man bewilligte ihm auch keine Kaution. Wäre es anders gewesen, Leigh-Cheri hätte verscheuert, was von Tillis Kronjuwelen noch übrig war, nur um sie aufzubringen, und der Kodex der Furstenberg-Barcalonas hätte sich auf einer rollenden Tiara ins Knie ficken können. »Das wichtigste ist die Liebe«, sagte Leigh-Cheri. »Das weiß ich jetzt. Es hat keinen Zweck, die Welt zu retten, wenn das bedeutet, den Mond zu verlieren.« Diese Botschaft ließ Leigh-Cheri Bernard durch seine Anwältin zukommen. Sie ging folgendermaßen weiter: »Ich bin noch nicht zwanzig, aber dank deiner habe ich etwas gelernt, was viele Frauen heutzutage nie lernen: Prince Charming ist wirklich eine Kröte. Und die schöne Prinzessin leidet an schlechtem Mundgeruch. Fazit: a) die Menschen sind nie vollkommen, aber die Liebe kann es sein, b) nur durch sie können wir das Mittelmäßige und das Böse verändern, und c) dies zu tun, bewirkt, daß es so ist. Lieben bewirkt Liebe. Lieben bewirkt sich selbst. Wir verschwenden unsere Zeit damit, nach dem vollkommenen Geliebten zu suchen, statt die vollkommene Liebe zu schaffen. Wäre das nicht der Weg, die Liebe zum Bleiben zu überreden?« Am nächsten Tag überbrachte Bernards Anwältin ihr seine Antwort: Die Liebe ist der Outlaw überhaupt. Sie will einfach keine Regeln befolgen. Das beste, was uns allen zu tun bleibt, ist, ihr Komplize zu werden. Statt auf Ehre und Gehorsam zu schwören, sollten wir vielleicht auf Mithilfe und Vorschub schwören. Das würde bedeuten, daß Sicherheit ausgeschlossen ist. Die Wörter »überreden« und »bleiben« werden unpassend.
Meine Liebe zu dir hat kein Wenn und Aber. Ich liebe dich aus freien Stücken. Leigh-Cheri ging hinaus in die Brombeeren und weinte. »Ich werde ihm folgen bis ans Ende der Welt«, schluchzte sie. Ja, Liebling. Aber die Welt hat kein Ende. Das hat Kolumbus festgestellt.
47 Brombeeren. Nichts, weder Pilze noch Farne, weder Moos noch die Melancholie, nichts wuchs im Regen von Puget Sound kräftiger, unaufhaltsamer als die Brombeeren. Farmer mußten sie aus ihren Feldern bulldozen. Hausbesitzer schaufelten und hackten, was das Zeug hielt, und doch kamen sie. Parkwärter stellten sich ihnen mit Flammenwerfern an den Pforten entgegen. Sogar in der Stadt war ein Grundstück, sobald es eine Saison unbewacht blieb, zugewachsen. In den feuchten Monaten breiteten sich die Brombeeren so rasend, so rasch aus, daß manchmal Hunde und Kleinkinder verschlungen und nie wieder gesehen wurden. Auf dem Höhepunkt der Saison wagten es selbst Erwachsene nicht, ohne militärische Eskorte zum Beerenpflücken aufzubrechen. Brombeerranken brachen durch massiven Beton, erzwangen sich Zutritt zur besseren Gesellschaft, umrankten die Beine von Jungfrauen und versuchten, sich um vorbeifliegende Wolken zu schlingen. Die Aggressivität, Geschwindigkeit, Grobheit und
dreiste Aufstiegsmentalität der Brombeeren symbolisierte für Max und Tilli alles, was ihnen an Amerika mißfiel, besonders seine Grenzen. Bernard Mickey Wrangle bezog einen Yum-Standpunkt. Dem König gegenüber, beim Tee, hatte Bernard die Anpflanzung von Brombeeren auf jedem Hausdach in Seattle befürwortet. Sie würden keiner Pflege bedürfen, außer der Ermunterung, sich laubenartig kreuz und quer über die Straßen zu ranken, von Dach zu Dach zu wölben, Baldachine, sozusagen natürliche Arkaden zu bilden. In kürzester Zeit könnten die Leute auch im platzregnerischsten Winter durch die Stadt wandern, ohne ein einziges Tröpfchen abzukriegen. Jede Shoppinggängerin, jeder Theatergänger, jeder Polizist auf Streife, jeder dösende Penner hätte es gemütlich und trocken gehabt. Der blaßgrüne Lichtschimmer, der durch die Rankenkuppel sickern würde, könnte eine ganz neue Malerschule inspirieren: Jahrhunderte später würden Kunstkritiker, wie heute von chiaroscuro, von »Brombeerlicht« sprechen. Die Ranken würden Vögel anziehen. Spechte würden wohl nicht kommen, jedoch viele andere Vögel. Die Vögel würden singen. Ein Vogel voll Beerenmus ist wie ein Italiener voll Pathos. Kleingetier würde in die Bogengänge einziehen. »Guck, Billy, da oben über dem Dental Building. Ein Dachs!« Und die Früchte, die Früchte nicht zu vergessen. Sie würden die Hungrigen nähren, die Armen unterstützen. Die tatkräftigeren Wermutbrüder könnten ihren eigenen Fusel destillieren. Seattle könnte die Brombeerschnapsmetropole der Welt werden. Touristen würden alljährlich Millionen für Seattier Brombeerpasteten ausgeben, jeder anspruchsvollere Toast der Nation würde verlangen, mit Blackberry Jam aus Seattle
beschmiert zu werden. Die Küchenchefs der französischen Restaurants würden Ente in Purpursoße servieren und die einstmals naßgeregneten Nasen mit den Backdüften von gâteau mûre de ronce verwöhnen. Die Huren könnten liebevoll mit »Brombeertorten« umschrieben werden. Die Teamsters könnten versuchen, die Beerenpflücker zu organisieren. Und im Spätsommer, wenn die Ranken wie wahnsinnig wucherten und schneller wuchsen als das menschliche Auge zu folgen vermag, könnte man die Energie ihres rasenden Wachstums an Turbinen anschließen, die, mit Brombeersaft getrieben, elektrischen Strom für die ganze Metropole liefern würden. Ein vegetabiles Utopia, das würde es sein! Seattle, Beerenstadt, isoliert, autark, unabhängig, unter einem lebendigen Dach prosperierend, Blüten im Haar, Saft am Kinn, und noch mehr Brombeeren – und mehr! – in der Zukunft. Man bedenke auch den Schutz, den es bieten würde. Welcher feindliche Fallschirmspringer könnte da noch landen? Des Königs Herz hatte gerattert wie eine Geisterbahn in einer Horror-Show. Bebend war er zum Thema Basketball übergewechselt. »Oh-oh, Spaghetti-O«, murmelte Tilli tonlos. Wäre die Tinte aufrecht in ihrem Faß stehengeblieben, wäre die Unschuld des Teppichs bewahrt geblieben – es scheint höchst zweifelhaft, ob Bernard noch einmal in den Palast eingeladen worden wäre. Nun, nach Chihuahuagemetzel und publizierter Verhaftung war es für Leigh-Cheri aussichtslos, Mitgefühl, geschweige denn Hilfe von ihren Eltern zu erwarten. Sie weinte an Guliettas ziegelsteinharter Brust. Und als die Tränentonne endlich geleert
und jeder erreichbare Frosch befragt worden war, schminkte sie sich, zog sich an und nahm einen Bus in die Stadt. Sie wollte sich mit Bernards Anwältin treffen. Sie ging im Zeichen der Brombeere, ihrem Symbol, ihrem Vorbild, ihrer Muse. Mit anderen Worten, sie würde beharren bis zum geht nicht mehr. Sie wollte sich den Weg zu ihrem Mann freibromberisieren.
48 Der Vorstadtbus setzte sie an der First Avenue ab, einer Straße, so alt wie die Stadt selbst, wenngleich wesentlich jünger als das flittrige Gewerbe, an das viele Seattler bei der bloßen Erwähnung ihres Namens denken mußten. Ein dünner, stetiger Regen fiel herab. Neonreflexe auf nassem Beton verliehen der First Avenue das Aussehen eines Unterwasserfriedhofs für Papageien. Je weiter Leigh-Cheri nach Süden kam, desto flegelhafter benahm sich die Avenue. Mundhöhlen von Saxophonen und Pistolen gähnten ihr aus Pfandleihfenstern entgegen. »Erwachsenen«-Buchläden und Pornokinos versprachen noch mehr Gähnen. Düfte von ranzigen Hotdogs und durchweichten Dufflecoats mengten sich in den Zephyr von Auspuffgasen. Hätte sie in jeder Kneipe, an der sie vorbeikam, ein Bier getrunken, sie hätte schon nach wenigen Straßenecken einen ganzen Kasten intus gehabt, doch obwohl Bier in seiner schaumigen Neutralität vielleicht das perfekte Getränk fürs letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts war, trank Leigh-Cheri kein Bier, und
hätte sie welches getrunken, dann bestimmt nicht in der Bornto-Lose-Taverne, in der Broken-Jaw-Kneipe oder der Sailorshave-no-Fun-Bar. Als sie an einem Tätowierungssalon vorbeikam, hielt sie inne, um die Wassernixen, krächzenden Adler und makabren Widmungen an Mama mit den Augen zu verschlingen. Durch die Regentropfen, die das Schaufenster aufrasterten, sah sie schon wieder den Satz: Born to lose, diesmal auf der Musterkarte des Tätowierungskünstlers: Geboren um zu verlieren, eine so überaus ausdrucksstarke, bedeutungsvolle Parole, daß Männer sie sich in die Haut ätzen ließen. Sie mußte an ihren eigenen schlaffen Bizeps denken und stellte sich die Parole dort eingraviert vor. Sie fragte sich, ob man seine königlichen Privilegien verliere, wenn man seine königliche Epidermis beschriften ließ. Sie wußte nicht, daß man, einmal tätowiert, nicht mehr erwarten durfte, für alle Ewigkeit auf einem orthodox-jüdischen Friedhof zu ruhen. Die beerdigten nicht einmal Frauen mit durchstochenen Ohrläppchen. Eine merkwürdige Verstümmelungstheorie bei einem Volk, das das Abschneiden der Haut vom Piephahn erfunden hat. Die Prinzessin ging weiter. Sie begegnete herumlümmelnden Matrosen. Sie begegnete fluchenden Holzfällern. Sie begegnete der Originalbesetzung der Wohlfahrtsmarkenoper, deren Stars sie auf ihre Drei-Dollar-Hotelzimmer zu locken suchten, wo die Glühbirnen im Sterben lagen und die Tapeten schon tot waren. Sie begegnete vielen Wermutbrüdern. Sie befanden sich in den unterschiedlichsten Stadien der Wermutsäuferentwicklung. Nur ihren Frieden mit dem Regen schienen sie alle gemeinsam geschlossen zu haben, als hätte der Botschafter von Wermutien
einen Vertrag mit dem Herrscher des Regens aufgesetzt, einen Kompromiß, der seither als Tokayer Frieden in die Geschichte eingegangen war. Vor allem die indianischen Wermutbrüder blieben vom Wetter unberührt, und die Prinzessin erinnerte sich, daß Bernard gesagt hatte: »Die Weißen schauen auf die Uhr, aber die Uhren schauen auf die Indianer.« Die Prinzessin trug ein gelbes Vinylcape mit entsprechendem Hut. Es paßte großartig zu ihrem roten Haar. Sie ging weiter. Die First Avenue lag an einem Hang, der nach Norden hin anstieg. Da sie nach Süden wanderte, bewegte sie sich bergab. Wie das Regenwasser. Wie das zwanzigste Jahrhundert. Am Fuß der First Avenue, wo sie den Yesler Way kreuzt, gab es einen kleinen, kopfsteingepflasterten Platz, der von den vielen Holzaugen eines Totempfahls überwacht wurde. Dort, am Pioneer Square, änderte sich die Stimmung schlagartig. Einst rauh und ruppig wie die obere First Avenue, war der Pioneer Square voll von der Sanierung erwischt worden. Jetzt waren Kunstgalerien, Boutiken und Diskos an die Stelle der Ladenfrontkirchen getreten, und die deklassierten Imbißstuben waren Restaurants gewichen, die mit importiertem Mineralwasser und einem warmen Kellner hinter jedem Farnwedel aufwarten konnten. Dort am Pioneer Square, wo Schäbigkeit und Schick zusammenstießen, hatte Nina Jablonski ihre Anwaltspraxis. Von eher radikaler Gemütsart, hatte sich Nina Jablonski freiwillig gemeldet, Bernard Mickey Wrangle gegen die Vereinigten Staaten von Amerika zu verteidigen, wenngleich Mrs. Jablonski nicht ganz die Ansicht ihres Mandanten teilte, das Match: Buntspecht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika sei durchaus fair. In
der Tat, Bernard meinte sogar, das Gleichgewicht sei zu seinen Gunsten verschoben, und er hätte es gerne auch noch mit Japan, der DDR und den arabischen Ländern aufgenommen. Nina Jablonski hatte rotes Haar. Nicht so rot wie Bernards oder Leigh-Cheris Haar, aber eindeutig rot, und die Prinzessin war überzeugt, daß sich Bernard nur aufgrund ihrer Haarfarbe, vielleicht auch aufgrund der Tatsache, daß sie im siebten Monat schwanger war (ein wenig bereute er immer noch die Vernichtung der künftigen Männerpille) – bereitgefunden hatte, sich von ihr verteidigen zu lassen. Leigh-Cheri mußte zugeben, daß auch sie sich durch Mrs. Jablonskis Mähne irrational beruhigt fühlte – noch ein Opfer von Zucker und Wollust; noch eine Verbündete gegen Argon und die Sonne? Doch der gewölbte Bauch der Anwältin erinnerte sie daran, daß sie selbst, seit sie nach Maui abgereist war, keine Periode mehr gehabt hatte, ein Versäumnis, das sie ebenso nervös machte wie das Schoßhündchen der Königin. Ach, aber es gab gute Nachrichten! Die Jablonski, deren Gesichtszüge so markant waren, daß auch noch so viele Sommersprossen sie nicht niederzwingen konnten, hatte Erfolg mit ihrem Gesuch gehabt, Bernards Besuchsrechte wiederherstellen zu lassen. Leigh-Cheri könnte ihn am nächsten Sonntag besuchen gehen, in drei Tagen. »Es gibt aber Bedingungen«, sagte die Jablonski und reichte der Prinzessin ein Kleenex, um ihre Freudentränen abzuwischen. »Bedingungen, die nicht das Gericht, sondern Mr. Wrangle und ich stellen.« »Welche denn?« fragte Leigh-Cheri. »Mein liebes Kind, Sie müssen sich vergegenwärtigen, daß Ihr Gespräch abgehört werden wird. Aus irgendwelchen Grün-
den steht Mr. Wrangle im Verdacht, an einer internationalen Verschwörung beteiligt zu sein, die Ihren Vater wieder auf den Thron setzen soll. Alles, was Sie hinsichtlich Ihrer Familie oder in diesem Fall Ihrer persönlichen Beziehung zu Mr. Wrangle sagen, könnte dahingehend mißverstanden werden, diesen Argwohn zu vertiefen, was unsere Aussichten auf eine Minimalstrafe beeinträchtigen würde. Ich wollte gewisse Sicherheitsgrenzen für Ihre Unterhaltung festlegen. Mr. Wrangle ging noch einen Schritt weiter. Er meint nicht, daß es – für keinen von euch – emotional vorteilhaft wäre, sich überhaupt zu unterhalten. Er meint, daß ein tieferes Gespräch Ihre Trennung nur um so schwieriger machen wird. Und er will sicherlich nicht, daß der CIA Zeuge der privaten Zärtlichkeit werden sollte, die Sie verbindet. Allerdings möchte er Sie sehr gerne sehen. Und er sehnt sich danach, Ihre Stimme zu hören. Aber er macht zur Bedingung, daß keine persönliche Unterhaltung zwischen ihnen stattfindet.« »Aber – was soll ich tun? Ich kann nicht einfach dasitzen und über den Regen und die beschissenen Brombeeren reden. Was soll ich sagen?« (Freudentränen, Abgang rechte Bühnenseite. Tränen der Bestürzung, Auftritt linke Seite; nach vorn an die Rampe.) »Mr. Wrangle schlägt vor, daß Sie ihm eine Geschichte erzählen.« »Was? Eine Geschichte?« »Ja, irgendeine Geschichte. Er möchte Sie ansehen. Er möchte Sie sprechen hören. Sie werden zehn Minuten haben. Erzählen Sie ihm eine Geschichte. Ich bin sicher, Sie werden sich etwas ausdenken.«
Leigh-Cheri starrte auf die Anti-Kernkraft-Poster an der Kanzleiwand. Kernkraft war eine der finstersten Machenschaften, die je am amerikanischen Volk verübt worden waren, und doch bedeuteten deren Konsequenzen ihr jetzt wenig. Mrs. Jablonski nahm ihre modisch große Brille ab und stand auf. »Ich fragte Mr. Wrangle, wie Sie wären. Er sagte, Sie seien Hornissensaft und Rosenknospen in einem Faß Gazellenfleisch. Er drückt sich farbig aus, nicht wahr?« Leigh-Cheri zog ihr tröpfelndes Cape an und ging. Als sie die First Avenue in einem Taxi – sie war jetzt nicht in der Stimmung für noch mehr Born to Lose – entlang raste, dachte sie: »Eine Geschichte? Ich kenne wohl eine Geschichte. Ich kenne eine Geschichte. Sie muß genügen.«
49 Und so begab es sich am nächsten Sonntagnachmittag, einem Sonntagnachmittag wie die meisten Sonntagnachmittage aus einer weichgekochten Runkelrübe geschnitzt, daß Prinzessin Leigh-Cheri, von Bernard Mickey Wrangle durch eine dicke klare Glasscheibe getrennt, im nüchternen Besuchszimmer des King County Gefängnisses saß und ihm durch ein kurzgeschlossenes Telefon eine Geschichte erzählte, die Geschichte, die Geschichte, die Gulietta ihr fast jeden Abend ihres Lebens beim Zubettgehen erzählt hatte. Sie starrten einander mit einem intensiven starren Lächeln
an. Ihr Puls flatterte, und die olle Hormonsuppe zischte in ihren Drüsen, aber Bernard blieb stumm, und Leigh-Cheri hielt sich in überraschend gleichmäßigem Tonfall an die Geschichte. Kaum hatte sie sich ihm gegenüber hingesetzt – ihre Lippen brannten danach, sich durch die Glasscheibe zu spitzen –, als sie auch schon den Hörer nahm und tapfer hineinsprach: »Es war einmal …« Er bemerkte, daß sie ein paar Pfunde angesetzt hatte, sie bemerkte, daß einige seiner Sommersprossen aussahen, als ob es ihnen schlecht ergangen sei, aber die beiden verrieten ihre Beobachtungen nicht. Er lauschte gespannt, und sie fuhr mit dem Märchen fort. »Es war einmal …« Genau wie Gulietta anzufangen pflegte, nur daß sich ihr »Es war einmal« anhörte, als wär’s ein Gummiapfel, an dem ein Maultier würgte. »Es war einmal, in den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, da lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so lieblich, daß die Sonne selber, die schon soviel gesehen und doch so wenig vergessen hat, sich darüber wunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien. Diese Tochter hatte ein allerliebstes Spielwerk, eine goldene Kugel, die sie innig liebte. Wenn nun der Tag sehr heiß war, ging sie in den dunklen Wald, nahe bei dem Schlosse, und verbrachte so manche Stunde im Schatten eines laubreichen Baumes damit, ihre goldene Kugel in die Höhe zu werfen und wieder aufzufangen. Es gab einen Brunnen im Walde, und meistens spielte die Prinzessin nahe am Rande des Brunnens, so daß sie, wenn ihr Spiel sie durstig machte, einen kühlen Trunk tun könne. Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, sondern vorbei auf die
Erde schlug und geradewegs in den Brunnen hineinrollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Augen, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, daß man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen, und sie weinte immer lauter, als wäre ihr das Herzchen gebrochen. Und wie sie so klagte, hörte sie eine krächzende Stimme, die ihr zurief: ›Aber, aber, Königstochter, was hast du vor? Ich habe noch nie jemand so erbärmlich weinen hören.‹ Sie sah sich um, woher die Stimme käme. Da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken häßlichen Kopf aus dem Wasser streckte. ›Ach, du bist’s, alter Wasserpatscher‹, sagte sie. ›Nun, wenn du es denn wissen willst, ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinabgefallen und so tief versunken ist, daß ich sie nie wiedersehen werde.‹ ›Sei still und weine nicht. Ich kann wohl Rat schaffen. Aber was gibst du mir, wenn ich dein Spielwerk wieder heraufhole?‹ ›Ach, alles, alles. Was du haben willst, lieber Frosch. Meine Kleider, meine Perlen und Edelsteine, meine Kutsche und die goldene Krone, die ich trage.‹ Der Frosch antwortete: ›Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine und deine goldene Krone, die mag ich nicht. Aber ich will dir was sagen. Wenn du mich liebhaben willst und ich soll dein Freund und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen; wenn du mir das versprichst, so will ich hinuntersteigen und dir die goldene Kugel wieder heraufholen.‹ Die Prinzessin hörte augenblicklich auf zu weinen. ›Ach ja‹, sagte sie. ›Ach ja. Ich verspreche dir alles, was du willst, wenn
du mir nur die Kugel wiederbringst.‹ Sie dachte aber: ›Was der einfältige Frosch schwätzt, der sitzt im Wasser bei seinesgleichen und quakt und kann gar keines Menschen Freund sein!‹ Der Frosch aber, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen grünen Kopf unter Wasser und sank hinab in den Brunnen, bis er nicht mehr zu sehen war. Und nach einem Weilchen kam er wieder heraufgerudert, hatte die goldene Kugel in seinem breiten Maul und warf sie ins Gras. Überflüssig zu sagen, daß die Königstochter außer sich war vor Freude, ihre Kugel wiederzuhaben. Sie hob sie auf und sprang damit zum Schlosse. ›Warte, warte!‹ rief der Frosch. ›Nimm mich mit. Ich kann nicht so schnell laufen wie du.‹ Aber sein Bitten war vergeblich. Was half es ihm, daß er ihr sein Quak Quak so laut nachschrie als er konnte! Sie hörte nicht darauf, eilte nach Hause und hatte den armen Frosch ganz vergessen, dem wohl nichts anderes übrig bleiben würde, als wieder in seinen Brunnen hinabzusteigen. Am anderen Tage, als sich die Prinzessin mit dem König und allen Hofleuten zur Tafel gesetzt hatte und von einem goldenen Tellerlein aß, da kam, plitsch-platsch, plitsch-platsch, etwas die Marmortreppe heraufgekrochen, und als es oben angelangt war, klopfte es an die Tür und rief: ›Königstochter, jüngste, mach mir auf!‹ Natürlich lief die Prinzessin zur Tür und wollte sehen, wer draußen wäre; als sie aber aufmachte, saß keuchend der Frosch davor. Da warf sie ihm die Tür heftig ins Gesicht, setzte sich wieder an den Tisch und es war ihr ganz bange. Der König sah wohl, daß sie sich ein wenig seltsam benahm
und daß ihr das Herz gewaltig klopfte, und sprach: ›Mein Kind, was fürchtest du dich? Steht etwa ein Riese vor der Tür und will dich holen?‹ ›Ach nein‹, antwortete sie. ›Es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch.‹ ›Wirklich? Was will der Frosch von dir?‹ fragte der König. Tränen begannen der jüngsten Tochter aus den Augen zu fließen. Sie brach zusammen und erzählte dem Vater alles, was sich am gestrigen Tag beim Brunnen zugetragen hatte. Als sie geendet hatte, fügte sie hinzu: ›Jetzt ist er draußen und will zu mir herein.‹ Nun hörten sie alle, wie der Frosch zum zweitenmal klopfte und rief: Königstochter, jüngste, Mach mir auf! Weißt du nicht, was gestern Du mir zugesagt Bei dem kühlen Wasserbrunnen? ›Was du versprochen hast, das mußt du auch halten‹, sagte der König streng. ›Geh und mach ihm auf.‹ Sie ging und öffnete die Tür. Da hüpfte der Frosch herein und folgte ihr auf dem Fuße bis zu ihrem Stuhl. Da saß er und rief: ›Heb mich herauf zu dir!‹ Sie zauderte, bis es der König ihr befahl. Kaum war der Frosch auf dem Stuhl, wollte er auf den Tisch, und als er da saß, sprach er, hungrig um sich blickend: ›Nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen
essen.‹ Das tat sie zwar, aber nicht gerne, und der Frosch ließ sich’s gut schmecken. Ihr aber blieb fast jedes Bißlein im Halse stecken. ›Ich habe mich sattgegessen‹, sprach der Frosch endlich, ›und ich bin müde, nun trag mich in mein Kämmerlein und mach dein seiden Bettlein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen.‹ Die Prinzessin fing an, sich zu ärgern; sie stöhnte, weinte und klagte. Sie wollte diesen kalten Frosch nicht in ihrem schönen reinen Bettlein haben. Der König aber ward zornig und sprach: ›Du hast es versprochen, als du in der Not warst‹, sagte er. ›Jetzt mußt du es, so unangenehm es sein mag, auch halten.‹ Sie zog eine gräßliche Grimasse, packte den Frosch, trug ihn hinauf und setzte ihn auf die schmutzige Wäsche in eine Ecke. Dann schlüpfte sie ins Bett. Bevor sie aber einschlafen konnte, kam der Frosch, pitsch-patsch, an ihr Bett. ›Laß mich zu dir herein, oder ich sag’s deinem Vater‹, sagte er. Jetzt reichte es ihr. Sie ward bitterböse und packte den Frosch. ›Verschwinde endlich aus meinem Leben, du schleimiger Frosch!‹ schrie sie und warf ihn aus allen Kräften wider die Wand. Als er aber herabfiel, war er kein Frosch mehr. Er war ein Königssohn mit schönen freundlichen Augen und einem wundervollen Lächeln. Der Froschkönig nahm ihre Hand und erzählte ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und niemand als die Prinzessin allein in ihrer unschuldigen Schönheit hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können. Dann bat er sie, ihn zu heiraten. Da war er nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Gefährte und Gemahl. Und am anderen Mor-
gen fuhren sie in das Land des Prinzen, wo sie König und Königin wurden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.« Als die Geschichte zum Ende gekommen war, und zwar auf die Art und Weise, in der Geschichten selbst laut Schand-Maul Sartre zu Ende gehen sollten, trat ein Wärter an Bernard heran und klopfte ihm auf die Schulter – ein Wink, in seine Zelle zurückzukehren. Bernard schien in Gedanken versunken. Er hörte nicht auf, Leigh-Cheri anzustarren, lächelte nur und ignorierte den Wärter. Dieser packte ihn am Kragen – der nicht schwarz war – und riß ihn auf die Füße. Das war zuviel für Leigh-Cheri. Kreischend sprang sie auf und warf sich platt gegen das Fenster, als könnte sie, wenn sie sich nur dünn genug verstrich, durch die locker verknüpften Silikonmoleküle tröpfeln, ähnlich wie Mayonnaise durch die Löcher im Schweizer Käse tröpfelt. Bernard rammte dem Wärter den Ellbogen ans Kinn und griff nach dem Telefon. Er wollte mit ihr sprechen! Rasch hob sie den Hörer auf ihrer Seite der Glasscheibe auf und preßte ihn sich ans Ohr. Eine Trillerpfeife schrillte, andere Wärter kamen angerannt, und sie wußte, daß er nur ein oder zwei Wörter würde hervorstoßen können. »Ja, Liebling, ja?« »Was ist bloß mit der goldenen Kugel passiert?« fragte Bernard. Das war’s. »Was ist bloß mit der goldenen Kugel passiert? Örgggg!« Und dann prügelten sie ihn aus dem Raum.
50 Mit den Jahren waren auch Leigh-Cheri Fragen bezüglich der Geschichte gekommen. Hauptsächlich fragte sie sich, warum der hübsche Prinz eine kleine verlogene Amphibiaphobin heiraten wollte, die nicht einmal ihr Versprechen gehalten hatte. Leigh-Cheri hatte angenommen, daß Frösche durch die bezaubernde Magie der Lippenberührung zu Prinzen wurden. Warum war dieser Prinz dem Froschzauber erst entkommen, nachdem er gegen eine Wand geschmettert worden war? War er vielleicht ein Masochist? Dann hätte sie zumindest verstanden, warum er sich zu einer solch übellaunigen Schnepfe hingezogen fühlte, und sie wahrscheinlich auch heute noch glücklich miteinander lebten, wahrscheinlich mit Leder-Accessoires. Ehrlich gesagt, hatte Leigh-Cheri die Geschichte niemals für besonders sinnvoll gehalten, und sie verargte es den Gebrüdern Grimm, daß sie eine Prinzessin in einem so unvorteilhaften Licht dargestellt hatten. Es war schlimm genug, Drachenköder zu sein. Bei all ihren Vorbehalten gegen das Märchen war es ihr aber nie in den Sinn gekommen, über das Schicksal der goldenen Kugel zu rätseln. Sicher, die Geschichte machte anfangs ein großes Getue um die Kugel, nur um sie dann nie wieder zu erwähnen, aber es waren ja die Figuren, auf die es ankam, die Kugel war nur ein Requisit, ein Spielzeug, ein Objekt. Vielleicht hatte die Prinzessin die goldene Kugel weggeräumt, bis ihre eigenen Kinder alt genug sein würden, mit ihr zu spielen, oder sie hatte, da sie nun einen Prinzen als Spielobjekt besaß, ihr geliebtes Spielzeug einfach im Stich gelassen (dazu
fähig war sie sicher), und es wurde auf dem Dachboden verstaut, auf den Müll geworfen, von einer Kammerzofe gestohlen oder der Werbegeschenk-Industrie gestiftet. Wie dem auch sei, Leigh-Cheri hatte sich nicht weiter darum geschert, und die Psychiater und Mythologen, die das Märchen analysiert hatten – sie behaupteten, der Brunnen (»so tief, daß man keinen Grund sah«) symbolisiere das Unterbewußtsein; der Frosch (da rede einer von Rollenklischees) symbolisiere natürlich den Penis, häßlich und ekelhaft in den Augen eines kleinen Mädchens, in denen einer heranwachsenden Frau jedoch ein Ding von einer gewissen Schönheit, das durchaus zu ihrem Glück und ihrer Erfüllung beitragen mochte –, diese Analytiker waren überzeugt, daß die goldene Kugel den Mond repräsentiere; aber auch sie hatten sich nie gefragt, was aus ihr geworden sei. Es war Bernard vorbehalten, die Frage aufzuwerfen, und in den leeren Tagen, die auf ihr Gefängnis-Rendezvous folgten, fragte sich Leigh-Cheri, warum sie ihm so wichtig erschien. Auch der CIA fragte sich das. Der CIA argwöhnte, die Geschichte sei eine chiffrierte Nachricht, randvoll mit Informationen über revolutionäre Aktivitäten in Max’ und Tillis einstigem Königreich. Der CIA legte sein Tonbandprotokoll von der Geschichte – und von Bernards offenbar dringlicher Antwort – ihren Experten im Home Office vor. Die Anwältin Nina Jablonski bedauerte die Tatsache, daß Leigh-Cheri unter allen Geschichten, die sie hätte erzählen können, ausgerechnet eine über ein Königshaus ausgesucht hatte, in der König und Königin so lange glücklich zusammenlebten, bis sie nicht gestorben waren. Wegen der Abhöranlage des CIA lehnte Jablonski es ab, Bernard zu fragen, warum er sich für das Schicksal der golde-
nen Kugel interessiere, obwohl Leigh-Cheri sie inständig darum bat. »Die Kugel lassen wir fallen«, sagte die Jablonski entschieden. Infolge der Rangelei mit den Wärtern wurden Bernards Besuchsrechte wieder aufgehoben. Zudem wurden Berichte über den Zwischenfall der Presse zugespielt. Wenn die Medien für eine hübsche junge Prinzessin, die den Wunsch hatte, abgesetzte Monarchen in den Dienst des Umweltschutzes zu stellen, bereits höfliches Interesse bekundet hatten, so zeigten sie sich rasend fasziniert von einer hübschen jungen Prinzessin, die auf politischer oder romantischer Ebene (oder gar auf beiden?) mit einem berüchtigten, bombenwerfenden Outlaw verquickt war. Hatte das monogrammbestickte Telefon der FurstenbergBarcalonas schon in der vergangenen Woche häufig geklingelt, so geriet es nun in einem monströsen Klingelmarathon völlig außer Atem, und das, obwohl es mitunter, wegen des ständigen Klopfens an der Tür, gar nicht gehört wurde. Wären die Brombeeren nicht gewesen, die Reporter hätten auf dem Hof gezeltet. Max war sauer wegen der dauernden Unterbrechungen, die ihn von den TV-Sportsendungen losrissen, und sowohl Tilli als auch ihr neuer Chihuahua bekamen nervösen Durchfall. Chuck wurde verrückt bei dem Versuch, all die Telefonate anzuzapfen und mit einer Minikamera all die Fremden, meist Presseleute, zu fotografieren, die an die Tür pochten. Gulietta hielt den Haushalt, in Anbetracht aller Umstände, einigermaßen gut in Schwung, aber sie hatte begonnen, Kokain in so erstaunlichen Mengen zu schnupfen, daß ihr Zentralnervensystem im Gleichklang mit dem Telefon schrillte. Merkwürdigerweise war LeighCheri noch das ruhigste Mitglied des geplagten Haushalts. Zum
Teil war dies sicher auf die Liebe zurückzuführen, die sie wie ein seidengefüttertes Fieber umhüllte, aber es lag auch daran, daß sich am Mittwoch, zwei Wochen zu spät, atemlos – verlegen, doch ohne Ausreden zu stammeln, verwirrt, aber ohne Erklärungen abzugeben – ihre Menses eingestellt hatte. Sie hatte weder vorher angerufen noch an die Tür geklopft, sondern trat einfach ein, klebrig, sterblich, rotschöpfig wie die Prinzessin selbst, und blieb fünf Tage, um dann wieder zu verschwinden. Zurück blieb eine Kollektion von fröhlich bunt bemalten Tampons und eine nicht enden wollende Serie von erleichterten Seufzern, die geeignet schien, die Flaggen über jedem Gebrauchtwarenmarkt in Los Angeles flattern zu lassen. Zur Feier der erwiesenen Wirksamkeit von Shi-link ließ sich Leigh-Cheri chinesisches Essen kommen. Chuck verknipste eine ganze Filmspule mit dem orientalischen Knaben, der es brachte. »Eines Tages, wenn die Umstände danach sind, werde ich von Bernard ein Baby haben«, dachte Leigh-Cheri, während sie einen Löffel gerösteten Reis kaute. »Und es darf eine goldene Kugel zum Spielen haben, oder alles andre, was Daddy ihm gibt, außer Dynamit. Aber im Augenblick …« Im Augenblick brauchte sie ihre ganze Energie, um Nina Jablonski mit Plänen zu plagen, wie sie Bernard vor seinem Prozeß noch einmal sehen könnte. Die Jablonski brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß es keinen Prozeß geben würde.
51 An Leigh-Cheris Geburtstag buk Gulietta einen Schokoladenkuchen und bohrte zwanzig Kerzen in den Zuckerguß. Auch wenn sie zu ärgerlich auf ihre Tochter waren, um feiern zu wollen, erschienen Max und Tilli rechtzeitig vor dem großen Eichentisch im Wohnzimmer, auf dem der wie eine Ölraffinerie beleuchtete Kuchen stand, um die traditionelle Hymne abzusingen. Sie blieben, bis die Prinzessin mit verzweifeltem Atemhauch die Kerzen ausgepustet hatte. »Därr ganse Wält weiß, was sie sich wienscht«, klagte Tilli ihrem Köter. Zwanzig Kerzen auf einem Kuchen. Zwanzig Camels in einer Packung. Zwanzig Jahrhunderte auf unserem Buckel, und wie geht’s weiter? Leigh-Cheri für ihr Teil ging wieder in die Stadt und besuchte Nina Jablonski. »Sie haben Schokolade im Gesicht«, sagte die Anwältin. »Ich habe Geburtstag«, sagte Leigh-Cheri. »Dann lassen Sie mich Ihnen ein Drink spendieren.« Sie gingen in eine Farnwedelbar und bestellten ChampagnerCocktails. »Auf die Gerechtigkeit«, sagte Jablonski. »Auf die Liebe«, sagte Leigh-Cheri. »Sie haben es schlecht getroffen, Schwester.« »Nein, ich hab es gut getroffen.« Die Prinzessin stürzte ihren Champagner-Cocktail hinunter und bestellte einen Tequila Mockingbird. »Sagen Sie mir, Nina, Sie waren mehrere Jahre verheiratet – «
»Zweimal. Zweimal mehrere Jahre.« »Hm, halten Sie es für möglich, die Liebe zum Bleiben zu überreden?« »Sicher. Es ist gar nicht ungewöhnlich, daß die Liebe ein Leben lang bleibt. Wer nicht bleiben will, ist die Leidenschaft. Ich liebe meinen ersten Mann noch immer. Aber ich begehre ihn nicht. Die Liebe bleibt. Die Lust ist’s, die uns abhaut, wenn wir nicht aufpassen. Die Lust ist’s, die immer aus der Stadt verschwindet – und Liebe ohne Lust ist einfach nicht genug.« »Jeder kann jeden vögeln, Nina. Aber wie viele Menschen können miteinander auf den Feldern der wahren Liebe spielen?« »Jess … Sie stellen die Liebe dar, als wär’s ein elitäres Picknick. Das ist ein arroganter Irrtum. Die Liebe, vor allen Gefühlen, ist demokratisch.« Leigh-Cheri spürte, daß die Jablonski sie für ihre monarchische Herkunft tadelte. Sie kümmerte sich nicht darum. »Oh«, sagte sie, »ich bin mir dessen nicht sicher. Ich habe die Vorstellung, daß die Liebe viel explosiver ist, als die Schlagertexte uns glauben machen. Die Lust aber, die Lust ist demokratisch, das ist wahr. Die Lust gibt sich jedem Klotz oder Klon anheim, der nur genügend Volt aufzubringen vermag, um ein paar Hormone abzusondern. Aber, wie Sie sagen, bleibt sie nicht lange. Vielleicht hat die Lust nach einer Weile von der Demokratie die Nase voll, vielleicht wird’s der Lust einfach langweilig bei der Art, wie sie von mittelmäßigen Menschen verausgabt wird. Vielleicht verlangen beide, Lust und Liebe, etwas mehr, als die meisten von uns den Nerv haben zu bringen. Heutzutage jedenfalls scheinen die Leute mehr daran interessiert, die Karriere zu
fördern als die Romantik.« »Sie sind heute zwanzig geworden, sagen Sie?« Die Prinzessin registrierte die Anspielungen der Anwältin auf ihre Unreife, aber obwohl ihr der Begriff Neotenie fremd war, kümmerte sie sich nicht weiter drum. »Ja, ich bin zwanzig, und ob Sie’s glauben oder nicht, ich hab keine Ahnung, wie alt Bernard ist. Er hat wenigstens ein Dutzend Führerscheine, jeder mit einem anderen Namen und einem anderen Geburtsdatum.« In einem Anfall von ökologischer Vernunft leitete sie ein Quantum Tequila in ihre Kehle um, das andernfalls brackig geworden oder in den Abguß geschüttet worden wäre, um die Fische zu vergiften. »Haben Sie sich jemals gefragt, welche Art von Führerschein man auf dem Planeten Argon hat?« »Ich glaube, Sie sollten mich lieber ein Taxi für Sie holen lassen.« Die Jablonski schenkte Leigh-Cheri jenen ungemütlichen halb amüsierten, halb mißbilligenden Blick, den die Menschen einem stets dann schenken, wenn sie nüchtern bleiben und man selbst gerade in Schwung kommt. In der Tat – auf eben diese Weise hatte die Jablonski auch Bernard anzusehen begonnen, obwohl der Hund eines Rabbi leichter ein Schweineschnitzel in den Straßen von Tel Aviv hätte aufstöbern können, als Bernard einen Tequila im King County-Gefängnis. Die Jablonski fand mittlerweile, daß Bernard einfach zuviel Spaß hatte. Bombenwerfer zu sein, war eine Sache, es zu genießen, eine ganz andere. »Das System zu bekämpfen ist ein ernstes Geschäft«, hatte die Anwältin ihren Mandanten ermahnt. »Das ernste Geschäft ist’s, was dieses System erzeugt«, hatte Bernard erwidert. Er schien seinen bevorstehenden Prozeß für eine Party zu halten, die die Regie-
rung zu seinem Vergnügen geben wollte, schien sich darauf zu freuen, wie ein frustrierter Amateurschauspieler sich auf die alljährliche Karnevals-Fete im Operettenhaus freuen mag. Schließlich kam die Jablonski zu dem Schluß, daß ihrem Mandanten wie auch dem Radikalismus in Amerika am besten gedient sei, wenn ein Prozeß (bedingt durch die Veränderungen im Sozialklima seit Bernards früherer Verurteilung hatte die Justiz ihm ein neues Verfahren angeboten) vermieden werden könnte. Sie fragte Bernard, ob er bereit wäre, sich schuldig zu bekennen. Er war entzückt: »Wenn die Gesellschaft als unschuldig gilt, dann führt jeder, der nicht schuldig ist, kein sinnvolles Leben«, sagte er. »Außerdem ist ein Outlaw per definitionem schuldig.« Sie nahm sein Schuldbekenntnis zum Plädoyerhandel mit, wo sie es gegen ein milderes Urteil eintauschte. All dies wurde bei einem Rendezvous mit dem Staatsanwalt im Hinterzimmer des Richters arrangiert. »Nina«, sagte Leigh-Cheri, und in ihrem Geburtstagsblut kamen die flüssigen Heuschrecken des Besäufnisses ins Schwärmen, »Sie müssen mich vor dem Prozeß zu ihm bringen. Und wir müssen ihn rausholen, selbst wenn ich ihn herausbomben müßte.« »Schhhh!« Die Jablonski spähte in der Bar umher. »Sie dürfen Bomben niemals auch nur erwähnen, nicht mal im Scherz, Schwester, hören Sie, ich hab gute Nachrichten. Bernard wird nicht vor Gericht stehen müssen. Er wird nach McNeill Island verlegt. Morgen früh. Um eine zehnjährige Strafe anzutreten. Das bedeutet, daß er schon in zwanzig Monaten Anspruch auf Bewährungsurlaub hat.« Zwanzig Kerzen auf einem Kuchen, zwanzig Camels in einer
Packung, zwanzig Monate im Bundesknast, zwanzig Schuß Tequila durch eines jungen Mädchens Schlund. Zwanzig Jahrhunderte seit dem letzten Arschfall unseres Herren – und nach all dieser Zeit wissen wir noch immer nicht, wohin die Leidenschaft läuft, wenn sie wegläuft.
52 Wenn ein Specht sich um einen Baumstamm herum bewegt, so beschreibt er eine vollendete Spirale. Wollte man nun die Hoppel-Helix des Spechts mit der makrokosmischen Spirale unseres Sternensystems oder mit der mikrokosmischen Spirale des DNS-Moleküls oder gar mit den Hunderten von natürlichen Spiralen dazwischen – mit Schneckenhäusern, Gänseblümchen – oder Sonnenblumenblüten, Fingerabdrücken, Zyklonen usw. – in Verbindung bringen, so hieße dies, der Geometrie mehr Bedeutung beizumessen, als der weltlich Gesinnte ertragen kann. Es reicht die Bemerkung, daß ein Specht zuerst auf der einen Seite des Baumes ist und dann auf der anderen; daß er verschwindet und dann, an einem Punkt etwas höher am Stamm, wieder auftaucht. Bernard Mickey Wrangle war wieder verschwunden. Diesmal in den Hochsicherheitstrakt der Bundesstrafanstalt McNeill Island, aber niemand, ausgenommen vielleicht Prinzessin Leigh-Cheri, erwartete von ihm, auch nur einigermaßen bald wieder aufzutauchen. Sicher, er konnte in zwanzig Monaten
Bewährung kriegen, falls er sich entsprechend aufführte, aber wer mochte das von Bernard verlangen? Die Beamten von McNeill gewiß nicht. Sie isolierten ihn in Einzelhaft. Der einzige Mensch, dem erlaubt war, ihn zu besuchen, war Nina Jablonski, und die besuchte ihn nur einmal, weil er sie feuerte, als er sich ohne den Spaß eines Prozesses ins Gefängnis gesteckt sah. Die Jablonski erklärte, daß er, vor ein Gericht gestellt, damit rechnen müsse, den Rest seiner früheren Strafe von dreißig Jahren abzusitzen, plus Zuschlag für seinen Ausbruch, und daß er sich eine neue, beinah genauso hohe Strafe einfangen könnte, vor allem wenn er, wie er’s angedeutet hatte, den Gerichtssaal in ein barbarisches Festival des Outlawtums verwandeln würde. »Sie haben Glück«, sagte die Jablonski. »Sie könnten, bis Sie McNeill verlassen, eher einem kahlköpfigen Seeadler als einem Buntspecht ähneln. So aber werde ich Sie wieder unter die Leute bringen, solange Ihr Haar noch rot ist.« Bernard dankte ihr für ihre Anteilnahme, aber er fühlte sich nichtsdestoweniger verraten und entließ sie. »Das ist das Problem bei politischen Leuten«, sagte er. »Es gibt nicht einen unter euch, egal ob links, rechts oder Mitte, der nicht glaubt, daß die Mittel durch die Zwecke geheiligt werden.« Und damit hopste er spiralförmig aus unseren Augen. Am Tage seiner Verlegung nach McNeill hatte die Seattle Post/Intelligencer ein einspaltiges Bild von ihm veröffentlich, wie üblich grinsend, als murmelte er ein papierenes Zeitungs»Yum«; seine Stummelzähne und Sommersprossen waren ausgerastert, doch seine Augen versprühten selbst noch in grauer Druckerschwärze den Hunger der sterblich Lebendigen. Leigh-Cheri riß das Bild aus der Zeitung und schob es unter ihr
Katerkissen. Es bewirkte keinerlei Linderung ihrer Kopfschmerzen – ihre Schläfen klingelten wie das Ventil ihres Daddys –, aber in der Nacht erwachte sie von den unverkennbaren Geräuschen des Eichhörnchens, das im Mittelpunkt der Erde haust, und es schien ihr ungewöhnlich nah an ihrem Ohr zu sein.
53 Der Frühling enterte das Land am Puget Sound in diesem Jahr wie eine Brautjungfer, die einen eingefetteten Maibaum hinaufzuklettern versucht – er tat das öfters. Nach einem allmählichen, gefährdeten Aufstieg schien der Frühling in einem Triumph von Girlanden, Blüten und Körperhitze endlich oben angekommen zu sein, nur um plötzlich wieder in den Matsch hinabzugleiten und des Winters nasse Flagge, steif und einsam, an der Spitze des Jahreszeitenbaumes klatschen zu lassen. Dann begann der Frühling gemeinhin, mit wogendem Mädchenbusen, den Mast langsam wieder zu erklimmen. Als Leigh-Cheri sich mit ihrem Kater ins Bett legte, schwebte der Frühling hoch in den Lüften. Zwei Tage später erhob sie sich bei einem der Jahreszeit ungemäßen Frost. Er hatte Insekten und Knospen die Lebensgeister ausgekühlt. Er hatte den Auto-Batterien die Furcht vor dem Februar eingebleut. Prince Charming war so leblos, daß Leigh-Cheri ihn schon hingeschieden glaubte. Als dann aber der erste durchs Fenster gedrungene Sonnenstrahl seine Flossen zucken ließ, stellte sie das Terrarium
vor einen offenen Herd und beobachtete, wie er stoisch wieder zum Leben erwachte. Es war Mitte April. Außer den Gläubigen, die stets wegen der eventuellen Rückkehr der Eiszeit Alarm schlagen, war niemand im pazifischen Nordwesten auf so einen Frost vorbereitet. Drunten am Pioneer Square, wohin die Prinzessin per Bus zu einem letzten Treffen mit Nina Jablonski aufgebrochen war, verlieh Rauhreif dem Kopfsteinpflaster das Aussehen einer Marsh Mallow-Plantage. Sträucher und Säufer wirkten im Morgenlicht ganz aufgeschreckt. Selbst das hohe D der Fährschiffssirene war von eisiger Schärfe, als sie vom Hafen heraufschmetterte. Was die Straßengullis betrifft, so sahen sie aus, als hätten sie Kokain geschnupft. Die Straßengullis, fand LeighCheri, hatten ohnehin eine weitgehende Ähnlichkeit mit Guliettas Nasenlöchern. Leigh-Cheri hatte darauf gewartet, Gulietta einmal zu erwischen, wenn sie nicht weggedröhnt war, um die Alte fragen zu können, ob sie wisse, was mit der goldenen Kugel passiert sei. Doch eine solche Gelegenheit hatte sich nicht ergeben. Leigh-Cheri hatte sich mit einem dicken grünen Pullover und Jeans warm angezogen, und doch erwies sich ihr Schutz als unzureichend gegen die Kälte in Mrs. Jablonskis Antwort, als sie der Anwältin ihre neuen Pläne enthüllte. Die Jablonski nannte die Prinzessin selbstsüchtig, frivol, narzißtisch, selbstgefällig und unreif. »Die Monarchie von Mu war bereits eine halbeselige Idee«, sagte die Jablonski. »Sie hätte niemals funktioniert, weil all diese entthronten Könige und enthobenen Herzoginnen große Anteile der Großunternehmen besitzen, deren exzessive Profite
durch eine saubere, gesunde Umwelt bedroht werden. Es hätte nie funktioniert, aber zumindest war es ein Schritt in die richtige Richtung, zumindest war es ein achtbarer Anfang, ein Versuch, sich für etwas Wichtigeres zu engagieren als Ihre eigenen Emotionen. Dies aber …« »Glauben Sie nicht, die Liebe ist ebenso wichtig wie die Ökologie?« »Ich glaube, die Liebe ist Ökologie.« Auf dem Campus des Outlaw-College hätten die Professoren für wesentliche Verrücktheiten die widerstreitenden Einstellungen Nina Jablonskis und Leigh-Cheris als Zeichen eines allgemeinen Konflikts zwischen sozialem Idealismus und Romantik bezeichnet. Und jeder dieser gelehrten Professoren – ausreichender Tequila-Genuß vorausgesetzt – hätte weiterhin erklärt, daß ein Romantiker oder eine Romantikerin, wie leidenschaftlich er oder sie einer Bewegung auch anhängen mag, sich schließlich von der aktiven Beteiligung an dieser Bewegung zurückziehen müßte, weil die Gruppenethik – der Vorrang der Organisation vor dem Individuum – einen Affront gegen die Intimität darstellt. Intimität ist die Hauptquelle des Zuckers, der das Leben versüßt. Sie ist absolut lebenswichtig für die wesentlichen Verrücktheiten. Ohne die wesentlichen (intimen) Verrücktheiten wird der Humor harmlos, folglich werden Abzählverse exoterisch und mithin Prosa, die Erotik wird mechanisch und mithin Pornographie, das Verhalten wird berechenbar und mithin leicht zu kontrollieren. Was die Magie betrifft, so wird es keine mehr geben, denn das Ziel jedes Sozialaktivisten ist die Macht über andere, während ein Magier nur Macht über sich selbst sucht: die Macht höherer Bewußtheit, die, obzwar univer-
sell, ja sogar kosmisch, im Intimen gründet. Es scheint, daß ein ganzer Mensch sowohl die Fähigkeit zur Intimität wie zur sozialen Aktion haben sollte, aber traurigerweise müssen wir sagen, daß jede gute Sache, egal wie wertvoll, schließlich der Tyrannei der Flachköpfe zum Opfer fällt. In der Bewegung, wie im Bienenstock oder im Lehmhügel der weißen Ameisen, gibt es keinen Raum für individuelle Besonderheiten, geschweige denn für mutwilliges Treiben. Ein Romantiker aber erkennt, daß die Bewegung, die Organisation, die Institution, und falls es soweit kommt, die Revolution, lediglich eine Kulisse für sein oder ihr eigenes persönliches Drama abgibt, und etwas anderes zu behaupten, hieße Freiheit und Willen den totalitären Regungen auszuliefern, es hieße, die psychologische Realität durch die soziologische Illusion zu ersetzen; aber solche Wahrheit dringt nie durch die Sturmjacke rechthaberischer Überzeugtheit, die den Sozialaktivisten einhüllt, solange er oder sie sich mit den Armen oder den Ausgebeuteten identifiziert. Da es auf sozioökonomischer Ebene Myriaden Mißstände gibt, die korrigiert werden müßten, scheint es ein Hauptproblem unserer Spezies zu sein, wie man den Unglücklichen helfen, die Korrupten beschneiden, die Biosphäre erhalten und den sozio-ökonomischen Wandel effektiv organisieren kann, ohne daß die Organisation von Dummköpfen übernommen wird, jenen Leuten, die ironischerweise am besten geeignet sind, einer organisierten Sache zu dienen, weil sie selten etwas Einfallsreicheres zu tun haben und dies, selbst wenn sie es hätten, wahrscheinlich nicht tun würden, weil die Tunnelvision es schon wieder verfälschen würde.
Dummköpfe können dem glanzvollsten moralischen Unterfangen einen Makel anheften, indem sie dieses Unterfangen als Ersatz für geistige und sexuelle Entfaltung benützen. Schließlich ist es die Dummheit und nicht das Böse, was den Totalitarismus erzeugt, wiewohl manch einer am Outlaw College so weit geht zu behaupten, die Dummheit ist das Böse. Gewiß, ob etwas dumm ist, kann eine Geschmacksfrage sein (die Langeweile des einen ist der Herzinfarkt eines anderen), und es gibt jede Menge scheinbar langweiliger Haushaltspflichten, die irgend jemand besorgen muß, aber wenn Sie diese Frage einem Gelehrten am Outlaw College vorlegen, werden Sie feststellen, daß der Lump gerade emeritiert ist, um in Tijuana ins Geschäft einzusteigen, daß er zu stoned ist, um reden zu können, daß er wegen irgendeines komplizierten Verfahrens in Haft sitzt oder bis zum Schnurrbart in einer Liebesaffäre steckt und nicht gestört zu werden wünscht. Nun, wir sind nicht auf die Hilfe dieser Halunken angewiesen, um erkennen zu können, daß Leigh-Cheri, einst vor sozialem Idealismus nur so strotzend, von einer Traumklippe gestürzt war, daß sie in den Abgrund der Visionen abgeglitten war oder verbotene Früchte geknabbert hatte, weil Nina Jablonskis Erklärung, daß ein Liebender jemand sei, der vor allem die Erde liebt, sie einfach nicht beeindruckte. Alles, was sie von der Anwältin wollte, war eine detaillierte Beschreibung von Bernards Zelle. »Sie ist klein, aber groß genug, um sich darin die Beine zu vertreten, damit man ihn nicht zum Freigang hinausbringen muß. In der Zelle befindet sich nichts, außer einem eisernen Feldbett mit einem Stück Schaumgummi darauf. Das ist alles. Die Wärter schieben zweimal am Tag einen Pißpott herein.
Zehn Minuten später, ich glaube es sind zehn Minuten, holen sie ihn wieder raus. Einmal in der Woche führen sie Bernard zu einem Verschlag nebenan, wo er sich duschen kann.« »Und Fenster?« »Ein winziges, mit Gitterstäben, oben an der Decke. Es läßt ein wenig Tageslicht herein, aber man kann nicht hinaussehen.« »Elektrisches Licht?« »Eine einzige Glühbirne an der Decke. Viel zu hoch, um hinaufzulangen.« »Wieviel Watt?« »Wie zum Teufel soll ich das wissen? Ich würde schätzen, vierzig.« Die Prinzessin lächelte geheimnisvoll. Sie erinnerte sich, daß Bernard ihr gesagt hatte, das Licht eines vollen Mondes komme einer Vierzig-Watt-Birne auf fünfzehn Fuß Entfernung gleich. »Sonst noch was?« »Nichts. Keine Bücher, keine Zeitschriften, nichts. Außer einer Packung Zigaretten.« Wieder lächelte Leigh-Cheri. »Ja, er raucht Camels, wenn er im Gefängnis ist. Er sagte, wenn man eingesperrt ist und eine Zigarette raucht, ist es, als hätte man einen Freund.« »Hm, eine einsame Freundschaft in diesem Fall, denn er raucht nicht. Er hat Zigaretten verlangt, das ist das Recht eines Gefangenen, aber man läßt sie ihn nicht rauchen. Die Packung ist nicht einmal aufgerissen.« »Warum läßt man ihn nicht rauchen?« »Weil man befürchtet, daß er, wenn er Feuer in die Hand kriegt, eine Bombe bauen wird.« »Aus was? Einem Feldbett? Schaumgummi? Seinen Kleidern?
Einer Packung Zigaretten?« »Hören Sie, Schwester, Ihr Geliebter hat einen guten Ruf. Man sagt, der Hundesohn kann aus allem eine Bombe machen.« Auf ihrem Rückweg durch die First Avenue, wo die Brautjungfer gerade dabei war, den Frost auf dem Maibaum zu überholen, schlüpfte Leigh-Cheri in die Born-to-Lose-Taverne und kaufte eine Schachtel Camel.
54 BERNARD MICKEY WRANGLE’S LIEBLINGS-BOMBENREZEPTE ZUM SELBERMACHEN Die Herz- und Karobombe: Nimm ein gewöhnliches Kartenspiel, so ein altmodisches aus Papier, schneide die roten Stellen aus und weiche sie über Nacht ein, wie Bohnen. Alkohol ist die beste Einweichlösung, aber Leitungswasser tut es auch. Verstopf das eine Ende eines kurzen Rohrstücks. Stopf die durchweichten Herzen und Karos in das Rohr. Auf den prä-plastizistischen Spielkarten waren die roten Stellen in einer Diazo-Farbe aufgedruckt, einer Chemikalie, die eine unstabile, hochdynamsiche Stickstoffbindung enthält. Du hast also eine Art Nitro, und jetzt brauchst du noch Glyzerin. Handsalbe tut hier gute Dienste. Streiche ein wenig Salbe ins
Rohr. Um das Quasi-Nitroglyzerin zu aktivieren, brauchst du noch Kaliumpermanganat. Das kannst du in der Abteilung Schlangenbisse jedes besseren Erste-Hilfe-Kastens finden. Füge einen Spritzer Kaliumpermanganat hinzu, und verstopf das andere Ende des Rohres. Erhitz das Rohr. Eine offene Flamme ist am besten, aber das Rohr einfach auf eine warme Zentralheizung zu legen, tut’s auch. Geh in Deckung! Der Buntspecht benutzte eine Herz- und Karobombe, um sich aus McNeill Island zu entlassen, als er zum erstenmal dort eingesperrt war. Die Abflußfrei-Joint-Bombe: Besorge dir eine Büchse Abflußfrei oder ein ähnliches Haushaltsprodukt, das eine hohe Laugenkonzentration enthält. Rolle das Abflußfreipulver in eine Aluminiumfolie, als ob du einen Joint drehtest. Falls du wirklich eine Explosion wünscht, mußt du den Joint in Wasser eintauchen. Im Gefängnis ist eine Kloschüssel der ideale Platz zum Eintauchen. Wenn die nasse Lauge mit Aluminium reagiert, wird Wasserstoff in Form von Gas frei. Ein Funke kann es entzünden. Deckungnehmen ist bei dieser Art Sprengstoff schwierig. Verliere nicht den Kopf. Die Apfelmusbombe: Für diese wirst du Benzin brauchen, aber nur ein paar Tropfen. Als Bernard beim Arbeitskommando den Wagen des Sheriffs wusch, saugte er in fünf Sekunden genügend durch einen Limonadenstrohhalm, um sich für immer eine Abreise aus Cody, Wyoming, zu erkaufen. Spritze die Benzintropfen in ein sauberes Glas, so ein Glas, in dem man Apfelmus verkauft. Schraube das Glas zu und rolle es hin und her, so daß die In-
nenseite mit Benzin benetzt wird. Laß das Benzin verdampfen. Nun brauchst du wieder die Arznei gegen Schlangenbisse, wegen ihrer Ergiebigkeit an Kaliumpermanganat (in dieser Welt treten die Schlangen in vielen Formen auf, und wenn du keine Übung hast, sie zu beschwören, mußt du stets darauf vorbereitet sein, ihr Gift zu neutralisieren). Tu eine Prise Kaliumpermanganat ins Glas und schraub es schnell wieder zu. Rolle das Glas durch den Raum, mit genügend Schwung, so daß es zerbricht, wenn es auf die gegenüberliegende Mauer trifft. Good bye, Mauer. Dies ist ein hochwirksamer Sprengstoff. Die Honigsmack/Fledermausschiß-Bombe: Ein Buntspecht-Originalrezept. Zucker ist eine instabile Chemikalie, die ebenso leidenschaftlich gern oxydiert wie Schwefel, und auf ziemlich die gleiche Weise. Bei der Zubereitung dieses Gerichts mußt du dir Zucker als Schwefel denken. Die Bestandteile von Schießpulver sind Schwefel, Kohlenstoff und Salpeter. Honigsmacks oder ein ähnliches Frühstückscereal enthält ein gut Teil Zucker und Kohlenstoff. (Für Bomben empfiehlt Bernard Honigsmacks. Für seine Frühstücksmahlzeit bevorzugt er Wheaties. Mit Bier.) Was den Salpeter (Kaliumnitrat) betrifft, so ist Fledermausscheiße die perfekte Quelle. Wenn Fledermausscheiße gerade nicht zur Hand ist, tut es auch Vogeldreck. Je älter das Guano, desto besser. Ästhetische wie pragmatische Erwägungen lassen den frischen weichen Klecks nicht ratsam erscheinen. Zerstampf die Honigsmacks. Misch die Fledermausscheiße sorgfältig darunter. Beim Mischen von Honigsmacks und Fledermausscheiße darfst du dich nicht wundern, wenn du die Farbe attraktiv findest. Tatsächlich
könntest du am Ende ein klareres Verständnis für die Kunst und ihre Ursprünge bekommen. Aus diesem Grund sei diese Bombe allen Rezensenten und Kritikern anempfohlen. Tu die Mischung in einen Behälter und entzünde sie. Schießpulver ist, anders als du vielleicht erwartest, kein besonders guter Kracher. Die Honigsmack/Fledermausschiß-Bombe wird keine Gebäude flachlegen, aber sie macht herrlich viel Qualm. Sicherlich mehr als eine Packung Camel, wenn nicht … ja wenn nicht die verlorengegangene Rasse der rotschöpfigen Argonier endlich ihre Message rüberbringt.
55 Mit einem Eimer schwarzer Farbe ging Leigh-Cheri in den Dachboden hinauf. Sie schwärzte die Fenster bis auf eine kleine, nach Osten gelegene Scheibe. In die Fassung an der Decke schraubte sie eine Vierzig-Watt-Birne. Sie räumte die königliche Ankleidepuppe, den Weihnachtsbaumschmuck und die Kästen voll monogrammverzierten Gerümpels hinaus. Sie räumte einen Nachttopf und ein Feldbett hinein. Das Feldbett hatte eine Schaumgummimatte, der Topf wurde von Gulietta zweimal am Tag geleert. Ebenfalls zweimal täglich brachte Gulietta einen Teller Essen herein. »Stärkereiches Essen«, befahl Leigh-Cheri. »Ich will essen, wie er ißt.« Vergeblich versuchten König und Königin, vernünftig mit ihr zu reden. »Es ist kein Wunder, daß die Menschen die Ro-
mantik in ihrem Leben vermissen«, sagte die Prinzessin. »Die Liebe gehört denen, die bereit sind, für sie bis zum äußersten zu gehen. Good bye.« Tilli und Max hörten die Dachbodentür zuknallen. Für Max hörte die Tür sich an wie das Krachen einer Baseballkeule, wenn der Gegner einen homerun getroffen hat, um die Mariners am Ende des neunten Feldes zu schlagen. Sein Herz, das nie wieder einen Wimpel gewinnen würde, krachte selbst wie eine kleine Keule. »Oh-oh Spaghetti-O«, sagte Tilli. Weiter ließ sie sich nicht aus. Sie überlegten kurz, ärztliche Hilfe für die Prinzessin in Anspruch zu nehmen, aber Max gehörte zu denen, die glaubten, die Psychologie sei an jenem Punkt ihrer Entwicklung angelangt, an dem die Chirurgie stand, als sie noch von Friseuren ausgeübt wurde; also wurde die Idee fallengelassen. Max legte seinen Arm halb um seine Frau – halb, weiter rum kam er nicht –, und sie traten auf die Veranda hinaus und starrten auf die Brombeeren. Die Brombeeren waren auf dem Vormarsch, was außer Killerbienen und Arabern kaum jemand im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts von sich behaupten konnte. An dieser Stelle könnte man erwähnen, daß Bernard Mickey Wrangle, obschon in Übereinstimmung mit der Meinung des Königs über die Zunft der Psychologen, einen eigenen psychologischen Test entwickelt hatte. Er war kurz, einfach und nach Meinung seines Schöpfers unfehlbar. Um den Test vorzunehmen, brauchen Sie die Versuchsperson nur zu bitten, ihren oder seinen Lieblingsbeatle anzugeben. Falls Sie mit den ausgesprochen unterschiedlichen öffentlichen Images der vier Beatles ein
bißchen vertraut sind, werden Sie erkennen, daß der Auserwählte – ob John, Paul, George oder Ringo – mehr über den Charakter der Versuchsperson verrät, als die meisten von uns je zu erfahren hoffen.
56 Leigh-Cheri trabte über den Fußboden. Sie setzte sich auf das Feldbett. Sie schenkte dem Schaumgummi zum erstenmal in der Geschichte den Abdruck eines königlichen Hinterteils. Sie ging zum Fenster und blickte ins Schwarze. Sie probierte den Nachttopf aus, obwohl sie eigentlich nichts beizusteuern hatte. Sie legte sich auf das Feldbett. Decke Decke Decke. Sie drehte sich um. Fußboden Fußboden Fußboden. Sie stand auf und streifte weiter wie ein schlafloser Staubsauber durch den Raum. Drei Tage lang machte sie solche Sachen. Vielleicht wurde sie mit dem Raum handelseinig, obwohl ihr sicherlich klar war, daß Raum lediglich ein Mittel ist, um zu verhindern, daß sich alles an der gleichen Stelle befindet. Am vierten Tag beschloß sie, in organisierter Form über das Problem der Romantik nachzudenken. »Wenn wir unvollständig sind, suchen wir immer jemand, der uns vervollständigt. Wenn wir nach einigen Jahren oder einigen Monaten einer Beziehung zum Schluß kommen, daß wir noch immer unerfüllt sind, geben wir unseren Partnern die Schuld und versuchen es mit jemand Vielversprechenderem. So kann es weiter und
weiter gehen – Reihenpolygamie –, bis wir uns eingestehen, daß ein Partner unser Leben zwar um süße Dimensionen bereichern kann, daß wir aber, jeder von uns, für unsere eigene Erfüllung verantwortlich sind. Niemand kann sie uns liefern, und etwas andres zu glauben, hieße, uns selbst zu täuschen und das schließliche Scheitern jeder Beziehung, die wir eingehen, zu programmieren. He, das ist ziemlich gut. Hätte ich Bleistift und Papier, ich würde es aufschreiben.« Aber ach, sie hatte keinen Bleistift, und die Papierrolle, die neben dem Nachttopf stand, war für einen anderen Zweck bestimmt. Als nächstes dachte sie: »Wenn zwei Menschen einander begegnen und sich verlieben, gibt es einen plötzlichen Ansturm der Magie. Die Magie ist dann einfach da. Wir neigen dazu, diese Gratis-Magie aufzuzehren, ohne uns zu bemühen, neue heranzuschaffen. Eines Tages erwachen wir und stellen fest, daß die Magie verschwunden ist. Wir eilen, sie zurückzuholen, aber dann ist es meistens zu spät. Wir haben sie aufgebraucht. Was wir tun müssen, ist dies: wir müssen wie der Teufel daran arbeiten, gleich von Anfang an für zusätzliche Magie zu sorgen. Das ist harte Arbeit, besonders da es uns überflüssig oder übertrieben vorkommt, aber wenn wir rechtzeitig daran denken, es zu tun, verbessern wir unsere Chancen, die Liebe zum Bleiben zu bewegen, ganz erheblich.« Sie war sich nicht sicher, ob diese Idee tiefschürfend oder platt war. Sie war sich nur sicher, daß sie von Bedeutung war. Dann dachte sie: »Die Mystiker sagen, erst wenn du auf etwas verzichten kannst, wird es dir zufallen. Das mag richtig sein, aber wer will schon etwas haben, auf das er auch verzichten kann?«
Leigh-Cheri versuchte noch mehr Gedanken über die Romantik auszuhecken. Ihr Geist hatte sich die Wanderschuhe angezogen. Gegen Abend des fünften Tages masturbierte sie. Es geschah unbeabsichtigt. Sie hatte nur vorgehabt, sich auf Anzeichen von Betäubung, Atrophie, Schrumpfung oder Trockenheit zu untersuchen. Als der feuchte Genitalfunke aus ihren Fingerspitzen zuckte, zog sich ihr Händchen überrascht zurück. Vorsichtig kehrte es wieder zurück. Es begegnete keinem Widerstand. Es glitt durch die Salzfleisch- und Pfirsichfalten. Es drückte den Meeresalgendrücker. Danach war Leigh-Cheri deprimiert. Sie fand, sie hätte die Reinheit ihrer Klausur befleckt. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht vorstellen, daß Bernard in seiner Zelle onanierte. Bernard brauchte keine Werbeagentur, um den Unterschied zwischen dem Markenprodukt und der Marke XY zu erkennen. Bernard würde sich nicht mit einem schmählichen Surrogat abfinden. Die Cherubim, die in einer Aureole blauen Lichts die schaukelnden Betten wahrer Liebender umkreisen, diese Engel fliegen nicht für Onanisten. In Zukunft würde sie versuchen, ihre sexuelle Energie in etwas Erhabeneres als den Do-it-yourself-Orgasmus umzuleiten. Aber in was? Sie versuchte die fünfzig Staaten der USA und ihre Hauptstädte aufzusagen, aber sie kam über South Dakota nicht hinaus. Sie versuchte die neun Planeten in unserem Sonnensystem aufzuzählen und stellte verlegen fest, daß sie zehn angeben konnte, inklusive Argon. Sie versuchte sich daran zu erinnern, warum George Harrison ihr Lieblingsbeatle war – sicher war es seine Aufrichtigkeit, seine tiefe Geistigkeit, sein Mitgefühl für
die Leiden der Menschheit –, nur um zu entdecken, daß sie jetzt aus verschiedenen Gründen den rebellischen Erforscher John Lennon vorzog. Sie spielte ein Spiel, bei dem es in ihrer Macht stehen sollte, ein Gesetz zu erlassen, dem jeder Mensch auf der Welt gehorchen mußte. Welches Gesetz würde sie verordnen? Welches eine Gesetz könnte die Welt verändern? Man kann die Menschen nicht zwingen, ihre Nächsten wie sich selbst zu lieben. Es hat immer Gesetze gegen das Töten gegeben, und doch wurden ununterbrochen Morde verübt. Sicherlich, es würde die Zustände gewaltig verbessern, den Verbrennungsmotor für illegal zu erklären, aber es würde nicht lange dauern, und die Industrie stellte ein atomgetriebenes Auto in jede radioaktive Garage. Angenommen, sie erklärte alles für illegal. Dann wären alle Outlaws. Ob Bernard wohl entzückt oder entsetzt wäre? In einem anderen Spiel konnte sie Bundesfilmpreise an Filme ihrer Wahl verleihen, solche Filme, die es wirklich verdienten. Rasch gingen ihr die Kandidaten aus, und sie begann, einen Film zu phantasieren. Es fiel ihr jedoch nur eine Handlung ein, und sie kam nie mit der Szene zurecht, in der der Frosch gegen die Wand geschmettert wurde. Außerdem, was war mit der goldenen Kugel passiert? Ihre Phantasien machten Träumen Platz. Oder war es umgekehrt? Jedenfalls lag sie tagelang auf dem Feldbett, ohne die Augen zu öffnen. Gulietta rüttelte sie. »Stirpst du?« fragte die Alte. »Darr Kenigin will wissen«, sagte Gulieta, Tilli nachäffend, »op du stirpst.« – »O nein«, antwortete Leigh-Cheri verträumt. »Sag Mama, ich lebe. Lebe für die Liebe.« Ohne Umschweife begab sie sich zurück in die innige Vereinigung mit ihrem privaten Totem,
einem Tier, das sowohl Frosch als Specht war und manchmal auch das Eichhörnchen, das sich im Mittelpunkt der Erde seine kleinen Hacken abläuft. Die Zeit verging. Eine Woche ging ins Land. Vielleicht mehr. Dann, eines Abends, erwachte sie, mit klarem Kopf und erfrischt. Sie stand auf und streckte sich. Sie joggte ein paarmal um den Dachboden. Sie bückte sich und berührte ihre Zehenspitzen. Mit scharfem Appetit verschlang sie den Soja-Burger mit Kartoffelbrei auf ihrem Dinnertablett. Sie führte den Nachttopf seinem eigentlichen Zweck zu. Sie setzte sich auf das Feldbett. »Ja, ich bin lebendig«, sagte sie. »Lebendig für die Liebe.« Sie fühlte sich wohl, obwohl sie zugeben mußte, daß sie noch immer den lauen Atem der Langeweile an ihrem Nacken spürte. In diesem Moment blieb ihr Blick an etwas hängen. Etwas stieß an den Saum ihres Gesichtsfeldes und zupfte daran wie ein Kind. Ein Mondstrahl war durch die eine klare Fensterscheibe eingedrungen und beleuchtete ein Objekt. Sie ging hin und hob das Objekt auf. Zum erstenmal zog sie die Packung Camel in Augenschein.
57 Die Tempel, die Minarette, die Oase, die Pyramiden, das Kamel selbst sickerten in ihren Gesichtskreis ein, ohne wirklich gesehen zu werden. Wie abgerichtet, ließen ihre Augäpfel sich auf der Botschaft nieder, die das Bundesgesetz den Hersteller auf
der linken Seitenfläche der Packung zu veröffentlichen nötigt: Der Bundesgesundheitsminister: Zigarettenrauchen gefährdet Ihre Gesundheit. … Drucklettern, blaue Farbe, Hintergrund weiß wie die Haut der Augen rund um die blaue Iris, weiß, wie der Bibliotheksteppich einst zu sein pflegte. In ihrer Vorstellung blühten Tumorklumpen auf; weiche rosa Lungen nahmen die Erscheinung verkohlten Feuerholzes an; groteske Tuberkel, Blut und Keimgallert verströmend, breiteten sich aus wie Pilze auf einem arglosen Rasen. Arterien welkten dahin wie die Stengel verdorrter Blumen; Knoten, verfaulten Apfelsinen oder den Hirnen skrofulöser Affen gleichend, erstickten den Organismus, und jeder Knoten sandte schwache Rauchzeichen einer Verbrennung aus, die erst absterben würde, wenn auch der Organismus starb. Leigh-Cheri grunzte angewidert. »Yuk«, sagte sie. »Bernard behauptet, wenn man eingesperrt ist, sei die Zigarette ein Freund. Bei solchen Freunden – wer brauchte da noch Feinde?« Der Prinzessin war es ein Rätsel, wieso überhaupt jemand rauchte, doch die Antwort scheint ganz einfach, wenn wir uns auf jene elementare Berührungsfläche von Natur und Kultur begeben, die entsteht, wenn Menschen etwas aus der natürlichen Welt entnehmen und es ihren Körpern einverleiben. Drei oder vier Elemente sind allen Geschöpfen gemeinsam, das Feuer aber war einzig dem Menschen vorbehalten. Das Zigarettenrauchen stellt den intimsten Kontakt mit dem Feuer dar, den wir herstellen können, ohne direkte Qualen zu leiden. Jeder Raucher ist eine Verkörperung des Prometheus, der den Göttern das Feuer stiehlt und es mit nach Hause nimmt. Wir
rauchen, um die Energie der Sonne einzufangen, um die Hölle zu befrieden, um uns mit dem Schöpfungsfunken zu identifizieren, um uns vom Mark des Vulkans zu nähren. Nicht um den Tabak geht es uns, sondern um das Feuer. Wenn wir rauchen, führen wir eine Spielart des Feuertanzes auf, ein Ritual, so alt wie der Blitz. Heißt das, Kettenraucher seien religiöse Fanatiker? Nun, Sie müssen zugeben, eine gewisse Ähnlichkeit läßt sich nicht leugnen. Die Lunge des Rauchers ist eine nackte Jungfrau, die man in das Opferfeuer schmeißt.
58 Da sie nichts anderes zu lesen da hatte, las Leigh-Cheri schließlich auch den Rest der Packung. ›Camel: Zigaretten aus verschnittenen türkischen & inländischen Tabaken: Ausgesuchte Sorten: Hergestellt von R. J. Reynolds Tobacco Co. WinstonSalem, N.C. 27.102. U.S.A.; 20 Qualitätszigaretten‹; sowie die berühmte Inschrift, die die hintere Fläche der Packung schon seit ihrer Erfindung im Jahr 1913 ziert (dem Jahr der angeblich letzten argonischen Botschaft an die rothaarigen Erdlinge): ›Suchen Sie nicht nach Prämien oder Coupons, da die Kosten der in Camel-Zigaretten verschnittenen Tabake deren Verwendung verbieten.‹ Sie versuchte die ›e‹s in diesem Satz zu zählen und traf auf
die gleiche Schwierigkeit, die schon manchen anderen Leser der Packung geplagt hat: fast niemand zählt sie beim erstenmal richtig. Als sie das Kamel anstarrte, entdeckte sie in seinem Körper eine Frau und einen Löwen. Auf Zehenspitzen hielt sie die Packung vor die eine klare Fensterscheibe und sah, daß sich das Wort CHOICE im Spiegelbild genauso liest wie auf der Packung. Es wird durch den Spiegel nicht umgekehrt. Dies hätte ihr einen Wink geben können, daß die Camel-Packung die interdimensionalen Grenzen, die Trennlinie zwischen Materie und Antimaterie überbrückt, aber sie kriegte diese Bedeutung nicht gleich mit. Es war eben nur ein beliebiges Gesellschaftsspiel. So als hätte sie nach weiteren Kamelen auf der Packung Ausschau gehalten. (Es stehen noch zwei hinter der Pyramide.) Leigh-Cheri fragte sich, ob auch Bernard seine CamelPackung lesen würde. Sie fand, er müsse, und fühlte sich ihm dadurch noch näher, ähnlich wie tägliche Bibellesungen ein Band zwischen Rittern und Damen aufrechterhielten, die während der Kreuzzüge getrennt waren. Morgens beim Aufstehen und abends vor dem Zubettgehen las die Prinzessin die Camel-Packung. Manchmal las sie sie auch im Laufe des Tages. Die Worte gaben ihr Trost. Sie waren einfach und aufrichtig und brachten ihre Gedanken nicht ins Rotieren, wie es die Literatur gewisser anderer Packungen vermochte. Die von Cheerios, zum Beispiel. Auf der rechten Seitenfläche der geschwätzigen und etwas tautologischen Cheerios-Schachtel steht geschrieben: Falls Sie nicht mit der Qualität und/oder Leistung der Cheerios in dieser Schachtel zufrieden sind, senden Sie Name, Adresse
und Begründung Ihrer Unzufriedenheit – zusammen mit dem unversehrten Deckel der Schachtel und dem entrichteten Preis – an: General Mills, Inc. Box 200-A, Minneapolis, Minn. 55.460. Ihr Kaufpreis wird erstattet werden. Nicht genug, daß diese Worte eine defensive Note enthalten, einen Seitenblick des Zweifels, die unappetitliche Erwähnung des Themas Geld, sie lassen den Leser auch noch darüber rätseln, was genau mit der »Leistung« der Cheerios gemeint sein könnte. Könnten die Cheerios schlecht bei Stimme sein? Würden sie vielleicht schlecht in der Kurve liegen? Ejakulieren sie zu rasch? Hat das Alter ihre Zeitkoordination beeinträchtigt, oder leiden sie lediglich unter einem saisonbedingten Tief? Lächeln die Cheerios, an nervöser Erschöpfung oder gebrochenem Herzen leidend, tapfer und behaupten: the show must go on? Nun, eins kann man jedenfalls zu dieser Inschrift sagen: sie läßt den Wunsch aufkommen, in die Speisekammer zu rennen, eine Schachtel Cheerios zu packen, ihren perforierten Streifen aufzureißen (mit der nötigen Sorgfalt, daß man ihn ja nicht abreißt, denn es könnte die Zeit kommen, da man den Deckel unversehrt einsenden muß), den inneren Wachspapierbeutel mit beiden Händen auseinanderzuziehen, eine signifikante Minderheit der Cheerio-Population Hals über Kopf in eine Schüssel zu befördern, sie sogleich mit einem Quantum Milch zu begießen (wahrscheinlich leisten sie trocken nichts), etwas weißen Zucker daraufzustreuen und dann, das Gesicht nah an der Schüssel, niederzuknien und zu beobachten, zu beurteilen, wie die winzigen, braunen, leichtgewichtigen Hafermehlkringel, unregelmäßig in Größe, Farbton und Struktur, die Milch und
die darin gelösten Zuckerkörnchen aufzusaugen beginnen, weich und breiig werden und sich, während die Flüssigkeit absorbiert wird, etwas ausdehnen; und vielleicht kriegt man auch Lust, über die toroidale Gestalt nachzudenken, die Gestalt des Zyklons, des Strudels, des Wirbels, die Gestalt eines Dinges, aus sich selbst bestehend und sich doch geheimnisvoll von sich selbst unterscheidend; und was ist mit der Möglichkeit, an Ringe zu denken, an Halos, Mann über Bord, den ununterbrochenen Kreislauf des Lebens, die Leere als Nukleus oder, am allerbesten, an Körperöffnungen; an alles mögliche zu denken, was dieser Fundus an toroidalen Schmuckstücken einem eingeben mag, während sie sich, die Mittellöcher mit zuckriger Milch überflutet, entspannen und in der Schüssel zusammenpappen; und dabei abzuschätzen, auch während die Gedanken wandern, abzuschätzen, zu testen, zu kritisieren und immer wieder zu fragen: Können die Cheerios es gegen Wheaties mit Bier aufnehmen, lassen sie sich in unruhigen Zeiten gut mit Fledermausscheiße vermischen, würde Ed Sullivan sie signieren und überhaupt – leisten diese kleinen Arschlöcher auch genügend? Bei solchen Gelegenheiten begreift man, was der Mann meinte, als er sagte, für eine Camel ginge er meilenweit.
59 Leigh-Cheri begann, die Zeit nach Gulietta zu berechnen. Wenn Gulietta den Lunch brachte, war es Mittag. Wenn Gulietta das
Dinner brachte, war es sechs Uhr abends. Wenn Gulietta den Nachttopf leerte, war es entweder acht Uhr morgens oder acht Uhr abends – wozu dieser Unterschied auch gut sein mochte. Wenn Gulietta sie zu einer Abreibung in das (nur selten von Max und Tilli benutzte) Bad im dritten Stock holte, wußte die Prinzessin, daß Samstag und wieder eine Woche vergangen war. Nach neunzig Bädern, neunzig Einseifungen des Pfirsichfisches hätte ihr Geliebter ein Recht auf Bewährung. Gulietta war ihre Uhr und ihr Kalender. Die Zeit war eine dürre alte Frau mit geweiteten Pupillen. Was den Raum betrifft, so war er nicht so sehr durch die Wände des Dachbodens definiert, eher durch die CamelPackung. Die Camel-Packung war ein rechteckiger Festkörper, achteinhalb Zentimeter hoch, fünfeinhalb Zentimeter breit und zweieinhalb Zentimeter tief. Man stelle sich vor, wie LeighCheris Augen über jede Knitterfalte im Zellophan kroch. Man stelle sich vor, wie Leigh-Cheri erwartungsvoll spähte und dabei Augen machte, die aussahen wie zwei Goldfische mit zu wenig Wasser in ihren Gläsern. Als Umweltschützerin hätte sie sich eigentlich mehr für den Nachttopf interessieren sollen. Der Topf hatte nicht nur eine wohltätige, ökologisch gesunde Funktion, seine runde Form – biomorph wie eine Brust, eine Melone oder der Mond – beschwor darüber hinaus die Welt des Natürlichen. Und doch war es die Camelpackung, lauter rechte Winkel und Parallelen (das formale Äquivalent zum rationalen Denken); es war die Camelpackung, weit entfernt von den Rohrkolben des Nil auf einem Reißbrett entstanden; es war die Camelpackung, von ihrer Form her dazu bestimmt, uns vor dem Launenhaften, das heißt
vor dem Unerklärlichen zu bewahren; es war die logischsynthetisch geometrische Camelpackung, die die Luft ihrer Zelle belebte. Des Morgens, etwa ein Viertel vor Gulietta-leert-denNachttopf, pflegte Leigh-Cheri aufzuwachen, um die Camelpackung neben ihrem Feldbett vorzufinden. Sie hatte die gelassene Ruhe einer Kreatur. Manchen Morgen lag sie auf dem Schaumgummi neben Leigh-Cheris kopfkissenlosem Kopf wie ein Juwel, das ein Traum ihr aus dem Ohr gedrückt hatte. Ein- oder zweimal steckte sie die Packung mutwillig in das Nest ihrer Scham, als sie morgens so dalag. Welch seltsamer Vogel hatte dieses Ei gelegt? Sie verbrachte viel Zeit damit, die Camelpackung in die Höhe zu werfen und dann wieder aufzufangen. Sie wurde darin so geschickt, daß sie sie hinter dem Rücken, über der Schulter, mit den Zähnen oder mit geschlossenen Augen fangen konnte. Sie tänzelte mit ihr herum und baute sie in ihre alten CheerleaderÜbungen ein. Meistens aber saß Leigh-Cheri einfach da, hielt sie in der Hand, betrachtete ihre exotischen Ansichten, bevölkerte ihre Landschaft, kolonisierte sie und lernte dort zu überleben. Wenn sie die Wüste durchquerte, lernte sie sich in einen Burnus zu hüllen, wie es die Eingeborenen taten. Rothaarige verbrennen leicht. Sie lernte, aus welchen Steinen man Wasser wringen konnte. Sie lernte die besondere Realität der Fata Morgana schätzen. Eines Tages vermeinte sie, das Rat-a-tat eines Spechts zu hören, aber wie sehr sie auch suchte, sie konnte keine Schnabelkerben in den Stämmen der Palmen finden.
Ob zu Fuß oder hoch zu Kamele, Leigh-Cheri bewegte sich mit niedergeschlagenen Augen. Leigh-Cheri suchte nach Streichhölzern. Sie suchte nach dem Abdruck schwarzer Stiefel im Sand.
60 Bäder vergingen. Mahlzeiten zogen vorbei. Einlagen wurden dem Nachttopf zur Aufbewahrung übergeben und anschließend wieder entfernt. Aus dem Frühling wurde allmählich Sommer. Ende Juni war es auf dem Dachboden so stickig, daß das Atemholen schwerfiel – doch in der Oase wehte immer ein kühles Lüftchen. Leigh-Cheri saß im Schatten neben dem Brunnen und spielte mit ihrer Packung Camels Werfen-und-Fangen. Stundenlang, ununterbrochen, warf sie und fing, warf und fing, während große alte grüne Amphibien sie aus den Wassern des Brunnens mit jener voyeuristischen Aufdringlichkeit anstarrten, die Schönheit einfangen und für immer festhalten kann. Das erinnerte sie an Ibn Fisel, an seinen Blick, wenn er ihr den Hof machte. Regelmäßig kamen Nomaden zum Brunnen. Männer wie Frauen trugen handgehämmerten Silberschmuck an sich, der so süß klingelte wie die Registrierkasse im Himmelstraum eines Ladenbesitzers. Ihre altertümlichen Flinten waren lang wie Angelruten, und die Tonkrüge, die sie mit Wasser füllten,
stammten aus einer Zeit, als Jesus erst ein Schimmer im Einen Großen Auge war. Es kamen Berber und Beduinen, die ihre Dromedare zur Tränke trieben. Scheichs kamen, Scheichs ohne Ölquellen oder Söhne in Oxford. Gleichwohl trugen sie Gewänder, die das Ego jeder Seidenraupe im fernen Osten stärken konnten, und verschwanden in Parfümwolken, so dicht, daß die Prinzessin husten mußte. Sie fragte diese Händler, Plünderer, Bauchtänzerinnen, Ali Babas und Karawanenmanager ausnahmslos, ob ihnen auf ihrem Weg irgendwelche rothaarigen Outlaws begegnet wären; umgekehrt wurde sie um Zigaretten angehauen. »Aber ich darf die Packung nicht öffnen«, versuchte sie zu erklären. »Täte ich es, dann würde all dies zusammenbrechen. Eine erfolgreiche ewige Wirklichkeit beruht auf einer intakt belassenen inneren Vision.« Die Leute strahlten sie an, wie jeder intelligente Mensch strahlen sollte, der nichts andres begehrt als eine Aktive, einen Happen, eine Tasse Kaffee, ein Stück Arsch, eine gute, flott geschriebene Story, und statt dessen Philosophie vorgesetzt bekommt.
61 Es war im Juli – etwa um die Zeit, als König Max vierzig Dollar beim All-Star Game verlor und Gulietta das Kokain ausging –, da erkannte Leigh-Cheri, daß ihr Körper einen privaten Pakt
mit dem Mond geschlossen hatte. Mit einem Minimum an Aufwand hatte sie angefangen, auf der Kreisbahn des Mondes zu rotieren. Nachts, wenn das Licht aus war, war der Dachboden normalerweise schwarz wie ein Frankfurter Würstchen bei Glühwürmchens Grillparty. In jenem Teil der Welt aber ging der Vollmond stets im Osten auf, und in solchen Nächten, wenn der Mond am größten und hellsten war, drang regelmäßig einer seiner Lichtpfeile durch die eine klare Fensterscheibe und durchbohrte ihren schlafenden Körper. Ab Mai menstruierte sie regelmäßig bei Neumond, wie es die Alten taten, und im Juli beobachtete sie, daß sie zu ovulieren begann, sobald der Mond voll war, so wie es jede gesunde Frau tut, deren Nächte nicht durch synthetisches Licht verfälscht werden. Sie konnte immer sagen, wann sie im Begriff stand zu ovulieren. Ihr Vaginalschleim war dann feuchter und reichlicher vorhanden als sonst und auch glatter und schlüpfriger. Ihre Drüsen schmierten sozusagen die Schienen für den Spermien-Expreß. So ein Test des Eisprungs hat natürlich seine Risiken; eine bereite Vagina könnte den untersuchenden Finger mit einem diensteifrigen Phallus verwechseln und ihn einzusaugen versuchen. LeighCheris Widerstand war bewundernswert, wenn auch nicht ganz und gar heroisch, und die Schleimtests bewiesen ihr, daß sie, ohne es darauf angelegt zu haben, begonnen hatte, erfolgreich die Lunazeption zu praktizieren. Als Befürworter der Lunazeption wäre Bernard stolz auf sie gewesen. Bernard wäre stolz gewesen, trotz der Ironie: jetzt, da ihre Periode vorhersagbar und ihre Ovulation haargenau festgelegt war, jetzt, da sie fähig war, nach eigenem Gutdünken zu
empfangen oder nicht zu empfangen, jetzt, da sie endlich das Problem der Geburtenkontrolle gelöst hatte, mußte alles Theorie bleiben. Der Spermien-Expreß fuhr nicht nach Puget Sound. Trotzdem war es ihr angenehm, Bernards Theorie zu bestätigen, und es gab ihr ein Gefühl der Macht und des Wohlbefindens, daß sie in Verbindung mit ihren biologischen Zyklen und diese im Einklang mit den Rhythmen des Universums standen. Sie fragte sich, wie nur der Mond, dreihundertzweiundfünfzigtausend Kilometer über dem Dach, es fertigbrachte, sie dermaßen zu beeinflussen. Viermal größer als der Mond, schien doch eigentlich die Erde das Sagen zu haben. Im Gravitationsnetz der Erde gefangen, bewegte der Mond sich um die Erde und konnte nie loskommen. Aber wie jeder halbwegs aufgeweckte Materialist weiß: was man festhält, das hält einen fest. Auch der Erde war es versagt, dem Mond zu entkommen. Der Mond dirigiert das Konzert unserer Gewässer, er ist Imker im Bienenstock unseres Bluts. In einem magnetischen Feld übt jedes Objekt auf jedes Objekt eine Kraft aus. Der Mond ist zumindest ein Objekt. Wie eine goldene Kugel. Wie eine Packung Zigaretten. Der Stoff auch der scheinbar dichtesten Objekte ist in Wirklichkeit ein lockeres Gewebe von Teilchen und Wellen. Die Differenzen und Interaktionen zwischen Objekten haben ihren Ursprung in den Interferenzmustern, die aus kombinierten Schwingungsfrequenzen entstehen. Daraus folgte, daß LeighCheri eine Kraft auf die Camel-Packung ausübte. Und diese auf sie. Natürlich hatte diese Kraft etwas mit der physischen Natur der Packung – mit Größe, Gewicht, Form, chemischer Zusammensetzung und vor allem Nähe – zu tun und nicht mit dem Bildinhalt, der sie schmückte. Ach, aber bildliche Symbole
haben, wie die Religionsgeschichte lebhaft demonstriert, ihre eigene Wucht und Schwerkraft, und während sich Leigh-Cheri in ihrer Beziehung zu der Camel-Packung als Objekt wiederfand, wie sie ja auch zum Mond in Beziehung als einem Objekt stand (wie auch Sie, lieber Leser, eine Beziehung zu diesem Buch als einem Objekt haben, ganz gleich, ob Sie noch eine Zeile mehr seines Inhalts ertragen können), entschlüsselte sie aus der Symbologie des Designs auf der Camel-Packung, was die seit langem verlorene Botschaft der Rotköpfe von Argon zu sein schien. Dies war vielleicht die wichtigste Entdeckung des letzten Viertels des zwanzigsten Jahrhunderts. Andererseits konnte es genau die Sorte Rattenhaar in der Thunfischbüchse sein, die schließlich demjenigen aufstößt, der allzu genau aufpaßt, der einfach zu scharf hinschaut. Plato hat behauptet, das unüberprüfte Leben sei nicht lebenswert. Ödipus Rex war sich darin nicht so sicher.
62 Es dauerte Wochen, durch stärkereiche Mahlzeiten und samstägliche Bäder definierte Wochen, bis Prinzessin Leigh-Cheri etwas Argonisches an dem Objekt entdeckte, mit dem sie die Blüte ihrer Jugend teilte. Inzwischen ging der Sommer seinen Geschäften nach. Brombeeren vermehrten sich. Chihuahuas hechelten. Ventilatorenblätter liefen im Kreis herum. Der
Dachboden erhitzte sich. So auch die Revolte in Max’ und Tillis Heimat. Von größerem Belang für König und Königin, so hatte es den Anschein – für jeden außer Chuck (Chuck glaubte, unter anderem, daß Leigh-Cheri einen klandestinen Funksender im Dachboden betrieb) –, war eine Rebellion, die sich genau hier im Schuhschachtelpalast am Puget Sound abspielte. Gulietta verlangte eine Lohnerhöhung. Genauer gesagt, Gulietta verlangte ein festes Gehalt, da sie in den mehr als siebzig Jahren, die sie dem Hause Furstenberg-Barcalona bislang gedient hatte, nur mit Kost und Logis entschädigt worden war, ohne jemals auch nur eine müde Mark gesehen zu haben. Gelegentlich erhielt die alte Frau kleine Summen aus Übersee, aber obschon diese Gelder ihr erlaubten, sich hier einen Bikini, da ein paar Joggingschuhe, an einem Sonntag einen Pornofilm, am nächsten eine Fahrt auf der Berg- und Talbahn zu leisten, reichten sie bei weitem nicht aus, um sich mit dem nötigen Kokain zu versorgen. Der peruanische Schnee, mit dem der Plastikfrosch gefüllt gewesen war – die Droge hatte Bernard von einem Outlawkollegen geschenkt bekommen, dem er einst das Leben gerettet hatte –, hätte auf dem Endverbrauchermarkt an die zehntausend Dollar gekostet, und Gulietta hatte ihn in nur vier Monaten durch die Nase gezogen. Jetzt, mit Entzugserscheinungen, zerrütteten Nerven und einem Riesenzorn, verlangte sie einen Lohn von fünfzig Dollar die Woche. Rückwirkend bis irgendwann zu Anfang des Jahrhunderts. »Foul!« schrie König Max. Sein langes Pferdegesicht zitterte von der Stirn bis zum Kinn. »Abseits«, schrie er. »Die Karten von unten gegeben!« Seine Herzklappe machte einen Krach, als trieben zwei mechanische Mäuse es in einer Besteckschublade.
Tillis Körpermassen erbleichten. »Oh-oh, Spaghetti-O«, stotterte sie. Sie beschloß, ihren Gedankengang nicht ausführlicher darzulegen. »Vergiß diese alberne Idee augenblicklich«, empfahl Max. »Einen Dreck werd ich vergessen«, erwiderte Gulietta. Tatsächlich hat ihre Antwort durch die Übersetzung etwas verloren. »Sie schulden mir.« »Schulden-schulden, Spaghetti-Schulden«, sagte Tilli. Das Geklapper von Maxens Herz übertönte den Rest ihrer Rede. »Keine Bezahlung, keine Arbeit«, sagte Gulietta. »Du bluffst«, sagte Max. »Ich bin im Streik«, sagte Gulietta. »Oh-oh, Spaghetti-O«, wollte Tilli zusammenfassend erklären. Aber sie sah, daß die anderen ihre Gedanken bereits erraten hatten.
63 Es dauerte ein Weilchen, bis die Nachricht von dem Streik auf den Dachboden gelangte. Unten war der Palast in Aufruhr. Es war schlimmer als damals, als Gulietta nach Maui gereist war: Schmutziges Geschirr häufte sich, Staubwolken kugelten ungehindert umher, und die Qualität der Mahlzeiten fiel auf 1.8 auf der Gourmet-Skala. Schlimmer noch, Gulietta stand Streikposten vor dem Haus, sie marschierte, bis auf ein Paar Herdhandschuhe völlig nackt, draußen auf und ab. Dank der Brombeer-
felder war sie von der Straße aus nicht zu sehen, und ihr Streikbanner, in einer Sprache verfaßt, neben der Serbo-Kroatisch so simpel wie Bozo-Kretinisch erschien, war nicht in Gefahr, von einem gewöhnlichen Passanten gelesen zu werden, doch ihre Protestdemonstration auf jenem winzigen Bruchteil des Rasens, der noch nicht von den Brombeeren usurpiert war, versetzte Max und Tilli in äußerste Aufregung. »Nach all diesen Jahren«, brummte Max, »hat Amerika sie schließlich verdorben.« Tillis ständiger Kommentar verträgt kaum eine Wiederholung. Oben auf dem Dachboden aber gab es nur wenige Auswirkungen. Gulietta bediente weiterhin ihre junge Herrin, mit der sie keinen Streit hatte. Gulietta begann sogar, da sie überflüssige Zeit in erheblichem Maß zur Verfügung hatte, überwiegend aus Langeweile dem Dachboden ungeplante Besuche abzustatten, wodurch sie die Uhr der Prinzessin völlig verstellte. Einmal brachte die streikende Dienstmagd der Liebesgefangenen einen Stapel Zeitschriften, unter anderem eine Nummer vom Arizona Detective, je zwei Nummern von Car and Driver, Fruit and Tarantula sowie Pork and Trichinosis, ein neueres Exemplar von Gentlemen’s Anus und eine eselsohrige Nummer von People, die ein ganzseitiges Foto der Prinzessin brachte, in trostversprechenderen Breiten, hingestreckt unter den Lippenblättern eines Koabaumes, während ihre ungewöhnlich runden Brüste der flachen Baumwollfassade ihres Rettet-die-WalfischeT-Shirts topographische Qualitäten verliehen und ihre großen blauen Augen von Visionen eines modernen Mu träumten. Ein Fünfzehnrundenkampf gegen die literarische Versuchung wurde ausgefochten, bevor Leigh-Cheri, fest entschlossen, nur die Camel-Packung zu lesen, diese Zeitschriften samt ihrer
Trägerin wieder hinunter beorderte. Bei anderer Gelegenheit brachte Gulietta Prince Charming nebst Terrarium und allem Drum und Dran auf den Dachboden und behauptete, daß es für den Menschen ungesund sei, gänzlich ohne lebendige Gesellschaft zu leben. Diesmal willigte Leigh-Cheri ein. Zum einen vermutete sie, daß die alte Dame, was Frösche betraf, über geheime Kenntnisse verfügte, die man am besten befolgte. Zum anderen, vernünftelte Leigh-Cheri, müsse es auch bei Bernard irgend etwas Lebendiges geben, eine Fliege, einen Floh, eine Maus, eine Kakerlake, eine Ameise, irgend etwas, das die Luft in seiner Zelle mit ihm teilte, und daher würde die Aufnahme Prince Charmings nicht gegen ihr Gelübde verstoßen, die Erfahrung ihres Geliebten nachzumachen. Sie verlangte nur, daß sich Gulietta um die täglichen Bedürfnisse der Kröte kümmern sollte, ebenso wie sie sich, in ihrer Rolle als Ersatz-Gefängniswärterin, um jene Leigh-Cheris kümmerte. Wenn Leigh-Cheri nicht zur Kenntnis nahm, daß Guliettas jüngste Auftritte auf dem Dachboden au naturel erfolgten, so lag das wahrscheinlich daran, daß sie selbst keinen Faden am Leib getragen hatte, seit das Wetter warm geworden war, damals im Juni. Als die Prinzessin dann endlich von dem Streik erfuhr, war sie belustigt. Sie kannte die Überzeugung ihres Daddy, daß jeder Bürgerliche in den USA, mit Ausnahme vielleicht des Verteidigers Dennis Johnson von den Seattle Supersonics, überbezahlt war, und sie fand, es sei gut und nicht schlecht für das königliche Herz, gelegentlich einen Tritt in den Hosenboden zu bekommen. Nichtsdestoweniger versetzte ihr die Erinnerung, daß Bernard für Gewerkschaften nicht viel
übrig hatte, einen leichten Stich. Nicht daß Bernard gegen Streiks gewesen wäre – er begrüßte beinah alles, was die Suppe umrührte –, aber er meinte, daß es lange her sei, seit die Gewerkschaften die Laster des Big Business wirksam kontrollierten, daß die Gewerkschaften selbst Big Business geworden waren, ja, das Big Business sogar hinsichtlich des Gestanks korrupter Praktiken und gewalttätiger Durchsetzung übertroffen hatten. Das hawaiianische Mungo-Syndrom schien allgegenwärtig. Wer soll diejenigen kontrollieren, die diejenigen kontrollieren, die kontrollieren? Während unten die Bocksfüße des Chaos auf dem Linoleum der Küche tanzten, hing Leigh-Cheri verschiedenen Gedanken über Arbeiterschaft und Management nach. Ungeachtet der streikenden Vettel und Prince Charmings galt ihr Hauptinteresse der Camel-Packung. Und die Camel-Packung führte sie in das geheimnisvolle Reich der Pyramiden.
64 Leigh-Cheri legte die Zigaretten für gewöhnlich auf das Fenstersims des Dachbodens, das mittlerweile so staubig war, wie die Bücher es uns von der Sahara berichten. Dann kniete sie nieder, so daß sich die Packung in Augenhöhe befand und die Pyramiden am Horizont in den Himmel ragten. Majestätisch, zeitlos, rätselhaft mächtig, zogen die Pyramiden sie an, bis sie in halber Trance, die Pyramidennamen singend, über die offenen Sand-
weiten schritt: Tiahuanaco und Gizeh, Seneferu und Cheops, Teti, Pepi und La Huaca de la Luna, Zoser, Khaba und Ammenemes, Neferirkare und Ibi und Neb-hepet-Re; auf Chepren, auf Unas, auf Donner und Blitz, mal Tänzer, mal Scharwänzer, mal Sesostris II. Aus der Ferne machten die Pyramiden den Eindruck, als wären sie glatt und wohlerhalten, aber aus der Nähe waren sie durch Zeiten und Plünderer verwittert wie Gulietta. Die Decksteine und ein Dutzend oder mehr Schichten waren von ihren Spitzen entfernt, und die ganze Verkleidung aus TuraKalkstein, mit Ausnahme einiger Teile nahe der Basis, war von den dreieckigen Fassaden abgeräumt. Tunnels waren von Schatzjägern in ihre Flanken gebohrt worden, während tüchtige Baumeister wahllos Steine fortgeschleppt hatten, um ihre Brücken und Häuser zu errichten. Aus der Nähe betrachtet sahen die Pyramiden aus wie von Nagetieren heimgesuchte Kuchen. Der Gedanke, daß es nicht eine Pyramide auf der Welt gab, die nicht angenagt worden war, machte Leigh-Cheri traurig. »Ich kann keine Pyramide betrachten, ohne mich wie Perry Mason zu fühlen«, sagte Leigh-Cheri und meinte damit, daß der bloße Anblick dieser gewaltigen Bauwerke sie, wie die meisten Menschen, dazu brachte, Fragen abzufeuern wie ein auf Schlankheitspillen und Bier abgefahrener Staatsanwalt. Wie wurden sie erbaut? Warum wurden sie erbaut? Wer erbaute sie? Worin besteht ihre seltsame Anziehung auf die menschliche Psyche? Die Pyramiden Ägyptens waren den Experten zufolge Gräber. Die Pyramiden von Peru, Mexiko und Mittelamerika waren angeblich Tempel. Was die Pyramiden von China, Kambodscha
und Collinsville, Illinois, betrifft, so hielten die Archäologen sich mit Vermutungen zurück. Und was die vier pyramidenförmigen Gebilde betrifft, die Mariner 9 auf seinem Vorbeiflug am Mars fotografiert hatte, so wollten die Wissenschaftler sie möglichst bald vergessen. Die Pyramidologen waren der Meinung, daß die Pyramiden außer ihrer Funktion als Tempel und/ oder Gräber auch als Sonnen- und Mondobservatorien dienten. Angesichts einer zunehmenden Evidenz der »Pyramidenkraft«, jener Energie, die sich offenbar innerhalb eines pyramidalen Hohlraums sammelt, einer Energie, die unter den richtigen Bedingungen erwiesenermaßen die Fähigkeit hat, organische wie anorganische Materie zu regenerieren, gab es eine moderne Tendenz, die Pyramiden als Stromakkumulatoren oder Verstärker anzusehen. »Mir scheint«, sagte Leigh-Cheri, »daß man sich – gleichgültig ob eine Pyramide nun über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten durch Hunderttausende von Arbeitern erbaut wurde, die primitivstes technisches Gerät wie hölzerne Hebel, Rampen und Schlitten und so’n Zeug benutzten, oder aber in wenigen Monaten durch Weltraummenschen mit Laserstrahlen – keinesfalls solche Mühe gemacht hätte, so ein SechsMillionen-Tonnen-Ding hinzustellen, wenn es zu nichts nütze wäre außer Rasierklingen zu schärfen und Obst zu konservieren.« Ferner schien es der pyramidenschauenden Prinzessin, daß das Motiv dieser Bautätigkeit jeweils dasselbe gewesen sein mußte, da die von den Pyramidenbauern eingesetzten Fähigkeiten und Wissenschaften wie auch ihre Fertigprodukte praktisch identisch waren. Und da diese Bautätigkeit weit fortgeschrittene
mathematische und astronomische Berechnungen verlangte, die mitunter eindeutig die Möglichkeiten dieser alten Kulturen überstiegen, und diese Kulturen darüber hinaus durch Tausende von Meilen und Hunderte von Jahren getrennt waren und keine Dokumente hinterlassen haben, die die Methoden oder den Zweck dieser Bautätigkeit erhellen könnten, kam LeighCheri die Idee, unbekannte Außenseiter müßten für diese Bauten verantwortlich sein. Und könnten diese Außenseiter nicht vielleicht jene legendären Rotbärte gewesen sein? Und könnten die Rotbärte nicht vom Planeten Argon stammen? Gab es überhaupt einen solchen Planeten, oder war Argon nur das Hinterzimmer eines okkulten Buchladens in Los Angeles? Angenommen, daß es rund um die antike Welt eine Reihe von argonischen Kolonien gegeben hatte und daß in jeder Kolonie Pyramiden errichtet worden waren. Was mochte Argon motiviert haben, Erdlinge mit Pyramiden sowie den wissenschaftlichen Kenntnissen und dieser nahezu unglaublichen Meisterschaft in der Baukunst auszustatten, die deren Bau verlangte? Hatte es einen Generalplan gegeben? War er noch immer in Kraft? Was, wenn überhaupt, hatte rotes Haar damit zu tun? Und wie kommt es, daß niemand weiß, was zum Teufel eine Pyramide auf der amerikanischen Dollarnote zu suchen hat? Und überhaupt, was haben Pyramiden auf einer Packung moderner Zigaretten, hergestellt aus einem Verschnitt amerikanischer und türkischer Tabake, zu suchen? Immer wenn sie diesen Punkt ihrer Fragestellung erreichte, gab Leigh-Cheri auf. »Bernard hätte wahrscheinlich mehrere Antworten darauf«, sagte sie einmal. »Ich glaube, ich bin ein-
fach eine Närrin.« Worauf ihr der Gedanke kam, daß eine Narrenkappe geformt war wie eine …! Und schon war sie wieder bei den Pyramiden.
65 Sie hatte Pyramiden im Gehirn, wie einen Tumor. Als sie wieder einmal mit dem Gedanken an Steinmonumente statt an Outlaw-Fleisch aufgewacht war, schickte sie Gulietta in die Filiale Richmond Beach der King County Public Library, um von dort Bücher über die Geschichte des Verpackungs-Designs zu holen. Ein Buch auf dem Dachboden, das war nicht ganz koscher, aber was war im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts schon koscher? Der Buntspecht selber hatte sie gelehrt, daß Vorschriften wie Knöpfe waren – dazu bestimmt, aufgeknöpft zu werden, wenn der Moment reif war –, und wie sollte man die Gesetze und Vorschriften anderer brechen, wenn man nicht einmal seine eigenen brechen konnte? Wenngleich Gulietta ein Kleid anlegte, um zur Bibliothek zu gehen, trug sie weiter ihr Streikbanner, ohne daß irgend jemand es hätte lesen können. Chuck, der während des Streiks zu kleineren Hausarbeiten herangezogen wurde, ließ seinen Schrubber fallen und folgte ihr. Sie mußte gewußt haben, daß er hinter ihr her war, denn alle zwei Straßenecken blickte sie über die Schulter und schrie in ihrer unfeinen Sprache: »Streikbrecher!«
Weshalb Gulietta der zurückgezogenen Prinzessin Bücher brachte, überstieg Chucks Begriffsvermögen, aber, pflichtfertig wie er war, würde er die Angelegenheit dem CIA melden. Während Chuck hinter Gulietta durch die Bibliotheksregale lief, jagte ein undefinierbarer Pritschenwagen die brombeergesäumte Auffahrt zum Palast hinauf, dem die Kabale aus beiden Fenstern flatterte. Zwei fremdländisch aussehende Männer kamen zum Vorschein. Sie trugen Hüte und lange schwarze Regenmäntel, obwohl es ein sonniger Septembertag war. Die Männer baten sich ohne anzuklopfen herein. Sie stiegen über Schrubber, Eimer, Besen und Zeitungsstapel hinweg, stießen mit dem Fuß Staubwolken, Chihuahuakötel und hie und da ein Pokerchip beiseite und bahnten sich ihren Weg direkt zu Max und Tilli.
66 Später an diesem Tag, als sich ein Pochen an der Dachbodentür vernehmen ließ, öffnete Leigh-Cheri ohne zu zögern. Sie erwartete Gulietta. Statt dessen stand da ihr Vater, und sein lärmendes Herz pochte an eine Tür, die von anderem Stoff war. Der König war ungemein verlegen. Anfangs schrieb LeighCheri seine Verwirrung der Tatsache zu, daß er ihr Allerheiligstes verletzte, nachdem er sie seit fünf Monaten keines Blickes gewürdigt hatte. Dann bemerkte sie, daß sie nackt war. Durch die Hitze auf dem unbelüfteten Dachboden waren ihre Brust-
warzen mit Schweiß-Opalen verziert, und ihr Schamhaar war feucht und von ihren Labien zurückgestrichen, die glitzerten, als wären sie erst kürzlich beglückt worden. »Entschuldige mich«, sagte sie. Sie zog T-Shirt und Höschen an. »Ach, ich gewöhne mich daran. Zuerst Gulietta, jetzt du. Ich bin sicher, die Königin ist die nächste.« »Oh-oh, Spaghetti-O!« rief die Prinzessin. Beide lachten. »Du weißt, daß Besucher nicht zugelassen sind.« »Tut mir leid, Liebling. Gulietta hatte vor, dir dieses Buch zu übergeben. Ich dachte, ich könnte es dir auch bringen.« Er reichte seiner Tochter ein Buch. »Einwickeln: Die Kunst der Verpackung. Ich muß schon sagen, ein merkwürdiges Thema.« »Ich kann mir merkwürdigere denken. Zum Beispiel, Ein Königshaus im Exil in Amerika. Soll ich deutlicher werden?« Max wollte seinen Kopf schütteln, aber sein Kopf war so beschäftigt, daß er nur schaukelte. Sein Chaplinschnurrbart schaukelte mit. »Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, Leigh-Cheri. Ich frage mich in letzter Zeit, ob dein Geisteszustand noch als gesund zu bezeichnen ist.« »Von wem?« »Interessierte Parteien.« »Kommt auf ihre Kriterien an.« »Verantwortung und – « »Verantwortung wofür?« »– Führerschaft und – « »Seit wann ist Führerschaft ein Kriterium für geistige Gesundheit? Oder vice versa? Hitler war ein begnadeter Führer. Sogar Nixon. Zeige als Jugendlicher Führungseigenschaften,
und sie stecken dich zur Anustransplantation in die JuraFakultät. Wenn er anwächst, gehst du in den Staatsdienst. Das meint zumindest Bernard. Er sagt, der Grund, warum so viele Arschlöcher in die Politik gehen, ist ‘ne Art Heimatinstinkt. Jedenfalls hab ich gehört, daß einige Romantiker anfangen, in meine Fußstapfen zu treten. Das macht mich zu einer Art Führerin.« »Nach der letzten Zählung haben sich siebzehn junge Frauen und ein junger Mann in Nachahmung deiner liebestollen Selbstgefälligkeit in ihr Zimmer eingesperrt. Affen und Esel versuchen die Gewohnheiten jedes Narren nachzuahmen. Ich wäre nicht allzu stolz darauf. Aber es geht mich nichts an. Ich versuche mich nur zu überzeugen, ob du mit vollständigen Karten spielst.« »Vollständig oder nicht, aber wenigstens sind es meine Karten.« Der König sah sich auf dem Dachboden um. Der Raum war staubig, düster und kahl. Er war muffig und roch wie eine Turnhalle für Penner. Eine Säuferringerriege mochte kürzlich hier trainiert haben. Der König dachte daran, wie seine schöne Tochter hier nackt in dieser dreckigen Kammer hauste. Er fragte sich, ob sie sich nicht Splitter einzöge. »Leigh-Cheri«, sagte er. Es war beinah ein Seufzer. »Leigh-Cheri. Du vergeudest dein Leben.« »Mein Leben war nie erfüllter, Daddy. Und es ist selten glücklicher gewesen. Du kannst deinen ›Parteien‹ sagen, daß ein für die Liebe gelebtes Leben das einzige geistig gesunde Leben ist. Außerdem habe ich hier andere Interessen.« Wieder musterte Max den Raum. Ein Nachttopf, ein Frosch-
kasten, ein Feldbett ohne Bettzeug, etwas, das eine auf dem Bord eines geschwärzten Fensters liegende Zigarettenschachtel zu sein schien. Andere Interessen? Er schauderte. Er küßte ihre feuchte Wange. Er ging, ohne ihr zu sagen, daß er von Agenten der Revolution aufgesucht und darüber aufgeklärt worden war, daß diese sie zur Königin haben wollten, wenn sie ihr Land zurückgewännen.
67 Als er von ihr ging, rief Max zurück: »Wann hast du die Absicht herunterzukommen?« »Wenn Bernard entlassen wird.« »Und was wirst du dann tun?« »Mit ihm Zusammensein.« »Und was tun? Ehemann und Ehefrau als Sprengkolonne?« Es entstand eine lange Pause. »Ich weiß nicht, was seine Pläne sind, Daddy. Bye-Bye.« Nein, Leigh-Cheri hatte keine Ahnung, was Bernard tun würde, wenn er aus dem Gefängnis käme. Er hatte unterlassen, sie in seine Pläne einzuweihen, falls er welche hatte, und ob sie in diese einbezogen war. Nachdem ihr Vater gegangen war, brauchte sie eine Weile, um sich vorzustellen, was der Buntspecht im Leben draußen tun könnte, aber sie fand nur wenige Dinge, deren sie sich sicher sein konnte. Da war kein Hamburger so durchgeweicht, daß er ihn nicht essen würde. Kein Te-
quila so gemein, daß er ihn nicht trinken würde. Da war kein Auto so dick mit Vogelscheiße und Rost bedeckt, daß er damit nicht durch die Stadt fahren würde (und falls es ein Kabrio war, mit heruntergeklapptem Verdeck, sogar im Regen, sogar im Schnee). Da war keine Flagge, die er nicht entweihen würde, kein Rechtgläubiger, den er nicht verspotten würde, kein Song, den er nicht in falscher Tonlage singen würde, kein Termin beim Zahnarzt, den er nicht versäumen würde, kein Kind, für das er nicht zaubern würde, kein Alter, dem er nicht aus der Kälte hereinhelfen würde, und – sie zögerte, es einzugestehen, kein Zündholz, das er nicht anreißen würde. Aber was würde er tun? Vielleicht würde er versuchen herauszufinden, was mit der goldenen Kugel passiert war, dachte sie ein wenig wehmütig. Weiß Gott, er würde halt den Eintopf umrühren.
68 Man nenne es Intuition, göttliche Einwirkung, schieres dummes Glück – wie man’s auch anpackt, es war Heureka. Heureka! Sicher, Leigh-Cheri hatte nicht erwartet, kosmische Rätsel zu lösen, indem sie ein Buch über Verpackungs-Design zu Rate zog. Sie hatte lediglich eine … Ahnung …, daß ein solches Buch sie über die Gründe aufklären könnte, warum sich Pyramiden auf der Camel-Packung befanden. Und wie es sich zeigte, gab es nur kärglichen Aufschluß, doch er war sachdienlich genug, um sie »Heureka!« rufen zu lassen.
Die Camels, so scheint’s, kamen 1913 auf den amerikanischen Markt (in dem Jahr als, Bibeldeutungen der Zeugen Jehovas und anderer zufolge, Jesus Christus endgültig zum Himmelkönig gekrönt wurde; dem Jahr, als Tarzan vom Affenland, ein anderer König und Nichtraucher wie Jesus, den Schauplatz betrat). Diese besonderen Zigaretten – ein origineller Verschnitt von Virginia Burley und Carolina Bright, unter Beigabe importierter türkischer Blätter für den Geschmack und das Aroma und mit einem großzügig bemessenen Zusatz von Süßstoff – waren im Jahr zuvor von R. J. (Richard Joshua) Reynolds persönlich in Winston-Salem, N.C. kreiert worden. Auch die Packung war 1913 entworfen worden. Es war Mr. Reynolds’ Idee, die neuen Zigaretten »Kamel« oder» Camel« zu nennen, um ihnen einen den türkischen Zutaten gemäßen exotischen Zauber zu verleihen, und es war Mr. Reynolds’ junger Sekretär Roy C. Haberkern, der Barnum & Bailey dazu überredete, das zänkische Zirkusdromedar Old Joe für die Titelrolle auf der Packung fotografieren zu lassen. Wer die Pyramiden im Hintergrund aufgestellt hat, ist ungewiß. Das Markenzeichen Camel wurde von einer Richmonder Lithographenanstalt für Reynolds ausgearbeitet, und man glaubt, daß ein wandernder Lithograph, der gerade erst in die Dienste der Firma getreten war, die abschließenden Details – darunter die Pyramiden – ausführte, kurz bevor er wieder von seinem Arbeitsplatz verschwand. Niemand konnte sich auf seinen Namen besinnen, aber man erinnerte sich, daß er ein talentierter Zeichner war und flammend rotes Haar hatte. Es muß Reynolds oder seinem Stab zu Ohren gekommen sein, daß Pyramiden in der Türkei unbekannt waren, doch
Einwände gegen die fehlplazierten Mauerwerke wurden weder im Innenministerium noch sonstwo erhoben. In der Tat sollte das Markenzeichen Camel das beliebteste in der Geschichte der Verpackung werden. Als der Hersteller 1958 das Markenzeichen zu ändern versuchte – »nur ein paar geringfügige Änderungen am altvertrauten Kamel und dem Pyramidensymbol, um das 45 Jahre alte Design zu modernisieren« –, entfesselten die Raucher einen Gestank, schlimmer als der Aschenbecher von gestern abend. R. J. Reynolds jr. Sohn des verstorbenen Gründers, war so wütend, daß er ein Paket der Unternehmensaktien verkaufte, und die Reaktion der Öffentlichkeit war dermaßen negativ, daß die Direktoren schnell zum ursprünglichen Design zurückkehrten. Nachdem Leigh-Cheri die Geschichte des Markenzeichens Camel drei- oder viermal gelesen hatte, schloß sie das Buch und legte es auf den Nachttopf, wo Gulietta es sicherlich finden und in die Bibliothek zurücktragen würde. Leigh-Cheri war mit dem Buch fertig. Leigh-Cheri hatte kein Verlangen, die makellose Pyramide ihrer Gedanken mit dem Wissen darüber zu verunreinigen, daß der Schokoriegel Baby Ruth nach der Tochter von Präsident Crover Cleveland und nicht nach dem BaseballSpieler benannt war, oder daß Double-Bubble-Gum ursprünglich Blibber Blubber hieß. Ihr Heureka schrillte und blitzte. Während sie die Camel-Packung hoch in die schale Dachbodenluft warf und mit dem Kinn wieder auffing, war sie drauf und dran, eine Theorie zu formulieren. Es wurde eine von der wunderlichen Sorte, wie es halt mit Theorien so geht, und es müßte einer schon einige Monate allein in einem leeren Dachboden verbringen und über eine
Zigarettenschachtel meditieren, um sie überhaupt wertschätzen zu können. Nichtsdestoweniger sollte die Theorie weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Und sie sollte das Leben dieser Prinzessin, die um des Mondes willen der Welt entsagt hatte, die sich verzweifelt danach sehnte, die Liebe zum Bleiben zu bewegen, völlig umkrempeln.
69 Die Theorie kam weder voll ausgewachsen daher wie ein Waisenkind auf der Türschwelle, noch scharf definiert wie ein Reißnagel durch die Schuhsohle; auch entwickelte sie sich nicht wie ein fotografischer Abzug mit allmählich aus einem schattigen Brei auftauchenden scharfen Bildern. Sie ent-wickelte sich eher wie ein Turban, wie eine Mumienbandage; beginnend mit dem plötzlichen Aufspringen einer Klammer, einer Skarabäenbrosche, haspelte sie sich in wirren Spiralen von dem einen ausgefransten Ende bis zum andern ab. Mehrere Wochen verstrichen mit dem Abspulen. Als sie schließlich ausgestreckt dalag, sah die Theorie folgendermaßen aus: Pyramiden sind, wenngleich überall stark reparaturbedürftig, keine Ruinen im üblichen Sinn. Das heißt, sie sind nicht einfach Relikte aus dem Verkehr gezogener Kulturen, interessant nur für Archäologen, Historiker und solche, die ihre Gegenwart damit zubringen, der Vergangenheit nachzujagen. Die Pyramiden wurden gebaut, um zu überdauern, dazu bestimmt, der Zeit
wie auch der Menschheit zu trotzen. Ihre Steine, ohne Zement an ihren Platz gekippt, wurden so glatt zusammengefügt, daß man weder einen Geldschein noch, in unserem Fall, eine Kreditkarte dazwischenschieben könnte. Mit außerordentlicher Präzision so ausgerichtet, daß jede ihrer Ecken auf einen der Kardinalpunkte weist, lassen die Pyramiden uns folgern, daß sich die Position der Erdachse seit Jahrtausenden nicht wesentlich verändert hat – die Pyramiden sind große globale trigonometrische Punkte, ohnegleichen in Technologie oder Natur. Aber sie sind mehr als das. Ob sie nun als Grabstätten, Tempel oder Astrolaboratorien dienten, ist vielleicht weniger bedeutsam als die Entdeckung, daß Pyramiden, offenbar infolge formspezifischer Eigenschaften, eine Energiefrequenz erzeugen oder verstärken können, die belebend auf das wirkt, was die Naturwissenschaftler das Bioplasma, die Philosophen die Lebenskraft und die Chinesen seit jeher Chi nennen. Die Pyramidenkraft kann sogar das anorganische Leben verstärken. Pyramiden sind riesige Objekte, die andere belebte und unbelebte Objekte auf eine Art und Weise beeinflussen, die den Rahmen dessen, was sich normalerweise durch Schwerkraft und Elektromagnetismus erklären läßt, übersteigt. Was auch immer die Funktion der Pyramiden gewesen sein mag, sie sind nicht veraltet. Irgendwie sind sie noch immer relevant. Im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, da die moderne Zivilisation blindlings eine mit Bananenschalen bestreute Bahn hinabstolpert, könnte die Lösung des Rätsels der Pyramidenkraft eine Antwort auf die allgegenwärtige Frage geben: »Wohin gehen wir?« Offenbar wollte jemand, daß wir die Pyramiden nicht verges-
sen, denn das Pyramidensymbol wurde in auffälliger Manier auf Gegenständen angebracht, die wir regelmäßig zur Hand oder in Augenschein nehmen. An jedem einzelnen Tag sind mehr als zwei Milliarden Ein-Dollar-Noten im Umlauf. Den größten Teil des Jahrhunderts waren die Hälfte aller in den Vereinigten Staaten gerauchten Zigaretten Camels, etwa dreißig Milliarden pro Jahr. Es ist unwahrscheinlich, daß die Pyramiden aus purem Zufall dazu ausersehen wurden, zwei der beliebtesten Objekte der Moderne zu schmücken. Irgend jemand wußte, daß Dollars und Zigaretten eine allgemeine Verbreitung finden würden, und hat dafür gesorgt, daß die Pyramiden mit ihnen auf die Reise gingen, damit eine durch Zeit und Entfernung von den ursprünglichen Bauwerken getrennte Kultur stets daran erinnert wurde, daß die Pyramiden etwas Wertvolles zu geben haben, wenn wir nur lernen wollten, es auch anzunehmen. Wer war dann aber verantwortlich für diese hervorragende und beharrliche Zurschaustellung der Pyramiden? Nun, das Komitee, das 1862 die Dollarnote schuf, ließ sich von Tradition und Sentimentalität leiten. Es beschloß, das Pyramidensymbol einzufügen, weil es auch auf der letzten in Amerika zirkulierenden Währung, auf zinstragenden Banknoten, die dringende Unternehmungen wie den Krieg von 1812 finanziert hatten, eines gegeben hatte. Jene frühen Banknoten waren von dem Hansdampf in allen genialen Gassen, dem einzigen aufgeklärten Mann, der jemals in den Vereinigten Staaten ein hohes politisches Amt bekleidet hat, von Thomas Jefferson, entworfen worden. Die Hand, die 1913 – beinah genau ein Jahrhundert danach – die Pyramide auf die Camel-Packung stellte, lugte aus dem tintenbeklecksten Ärmel eines durchreisenden Lithogra-
phen, der bald darauf verschwand, möglicherweise, um sich den für den Ersten Weltkrieg rekrutierten Streitkräften anzuschließen. Suchen wir nach Verbindungen, so finden wir, daß beide Designs im Staat Virginia, weniger als hundert Meilen entfernt von Washington, D. C, der mächtigsten und einflußreichsten Weltmetropole jener Zeit, entworfen worden waren. Die scheinbar einzige andere Ähnlichkeit zwischen Jefferson und dem namenlosen Lithographen war die Tatsache, daß beide rotes Haar hatten. Dies könnte man natürlich ins Reich des sinnlosen Zufalls verweisen, wäre da nicht ein Umstand, der Umstand, daß einer gewissen Rasse von rothaarigen Kaukasiern in den Mythen, Sagen, Hieroglyphen und oralen Überlieferungen von Chavin, Mochica, Tiahuanaco, der Inca, Maya, Olmecen, Zapoteken, Tokteken, Azteken und anderer pyramidenbauender Völker der Neuen Welt das Verdienst zugeschrieben wurde, den Bau der Pyramiden angeordnet und überwacht zu haben. Wenn im Zusammenhang mit den ägyptischen Pyramiden keine Rothaarigen erwähnt werden, so vielleicht nur deshalb, weil in Ägypten keine einzige Sage, kein historisches Dokument über Pyramiden erhalten geblieben ist. Zweihundert Jahre nachdem die letzte Pyramide in ihrem Land errichtet worden war, staunten auch schon die Ägypter über die großen Mauerwerke, wie wir alle. Okay. Bringen wir dieses Stachelschwein endlich auf die Straße. Eine Rasse von karottenköpfigen Halbgöttern, allenthalben Rotbärte genannt, tauchte an verschiedenen Orten der antiken Welt auf, krempelte die Eingeborenen um, spornte sie an, in kürzester Zeit hochstehende Kulturen zu entwickeln und
hinterließ, als sie plötzlich auf unerklärliche Art und Weise verschwand, riesige Pyramiden und andere solar/ lunare Architekturen mehr. Soviel steht fest. Ebenso ist es eine historische Tatsache, daß die Völker von Chavin und Mochica die Olmeken, Zapoteken und Tolteken ebenso unvermittelt und ohne Erklärung von der Bildfläche verschwanden. Anscheinend hatten die Rotbärte mächtige Feinde, die ganze Kulturen in andere Dimensionen verschwinden lassen konnten. Falls die Rotbärte Außerirdische waren, falls sie eine, aus welchen Gründen auch immer, vom Planeten Argon auf die Erde entsandte lunare Rasse waren, mußten ihre Feinde einer solaren Rasse angehört haben: der blonden argonischen Herrscherklasse. Nennen wir sie die Gelbbärte. Als die Gelbbärte erfuhren, daß die Rotbärte auf der Erde obenauf waren, putzten sie die mit ihnen konspirierenden Völker gleich mit weg. Puff! Weg waren die Leute von Chavin, als nächstes die von Mochica, dann die Olmeken, und so weiter, Volksstamm für Volksstamm wurde aus dem Universum ins Anti-Universum verpflanzt, ohne eine Nachsendeadresse zu hinterlassen. Die Freundschaft mit den Rotbärten zog gewisse Verbindlichkeiten nach sich. Schließlich waren die Rotbärte ja auch weggeputzt worden. All das geschah kurz vor der Ankunft der Konquistadoren in der Neuen Welt. Als die spanischen Priester die Legenden von den Rotbärten vernahmen, stempelten sie diese natürlich als Teufel ab. Es ist kein Zufall, daß der Satan meist rot abgebildet wird, wie gekochte Krebse. Im Anti-Universum festgefahren, gaben die Rotbärte jedoch nicht auf. Sie hatten Vertrauen in die Entwicklungsmöglichkeiten der Erdlinge. Vielleicht meinten sie, daß im Universum
einzig wir Erdbewohner (vielleicht wegen unserer engen Nachbarschaft und unserer besonderen Beziehung zum Mond) den Humor, die Verspieltheit, die romantische Sentimentalität, die allgemeine Herzlichkeit und ehrenhafte Verrücktheit besäßen, um der rigiden solaren Tüchtigkeit der Gelbbärte entgegenzuwirken. Sicherlich wollten sich die Rotbärte nicht mit der Tatsache abfinden, die Pyramiden wären vergeblich gebaut worden. Daher versuchten sie wieder Verbindung zur Erde aufzunehmen. Zwangsläufig mußte die Kommunikation telepathisch verlaufen. Sie war hauptsächlich auf einfache visuelle Symbole angewiesen. Nachdem das sogenannte Anti-Universum ein Spiegelbild des sogenannten Universums ist, wären Worte beim Übertritt von einer Dimension in die andere umgekehrt worden, und Sprache hätte, auch bei getreulicher Übersetzung, keinen Sinn gemacht. Also beamten die Rotbärte ihre telepathischen Kräfte in irdische Dimensionen. Nur wenige Menschen reagierten, und zwar ausschließlich Rothaarige – vielleicht war eine Spur von Rassengedächtnis, ein alter Rest von argonischem DNS in ihren Genen erhalten geblieben –, und die Reaktionen waren alles andere als wünschenswert. Der Empfang der außerirdischen Botschaften verwirrte sie und brachte ihnen häufig Kummer. Vincent van Gogh zum Beispiel, der berühmteste in der Liste der zwölf berühmtesten Rotköpfe unterschlagene Rotkopf, begann Vasen, Stühle, Sterne usw. zu malen, als verkörperten sie die Lebenskraft, was sie vermutlich auch tun; als wären sie von Schwingungsfeldern, von Aureolen, umgeben, was sie vermutlich auch sind. Aber jeder meinte damals, der arme Vincent habe das krumme Ende der Banane erwischt, und
schließlich wurde er dazu getrieben, sich selbst das Leben zu nehmen. Nach etlichen Jahrhunderten solcher Pannen verbesserten die Rotbärte ihre Technik. Sie begannen, sich jeweils auf ein bestimmtes rothaariges Individuum zu konzentrieren, wobei sie jedesmal ein bestimmtes Ziel verfolgten. So konnten sie Thomas Jefferson, einen auf Grund seiner umfassenden Sensibilität idealen Empfänger, beeinflussen, auf dem ersten amerikanischen Papiergeld, das seit den kolonialen Zeiten in Umlauf gesetzt wurde, eine Pyramide unterzubringen. Als dieser Trick auch nach einem Jahrhundert noch keinen großen Gewinn eingespielt hatte, beamten sie eine noch ehrgeizigere Botschaft in das Hirn eines rothaarigen Lithographen. Die Rotbärte hatten also einen telepathischen Sendekanal eingerichtet, eine Bahn, die direkt und wohlerwogen nach Washington, D. C. der wichtigsten unter den Weltmetropolen, führte. Die Entwicklung der Camelzigaretten geschah zufällig im Rahmen der Hauptströmung dieses Kanals. Im Jahre 1913 drehten die meisten Raucher selbst. Gewisse Markennamen fingen soeben an, sich durchzusetzen, und während Fatima in Boston und Philadelphia sowie Picayune in New Orleans einen gewissen Ruf errangen, sollten Camels die ersten Zigaretten sein, die auf nationale (und später internationale) Verbreitung zielten. Außerdem schrieb R. J. Reynolds’ Rezeptur für Camels eine beträchtliche Menge Süßstoff vor. Wie Wollust akzentuiert Zucker bei lunar veranlagten Menschen das rötliche Pigment im Haar und/oder Sommersprossen, besonders wenn sie direktem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Das hatte Leigh-Cheri von wohlmeinenden Argoniern erfahren. Nun gut. Jetzt wollen wir dieses Krokodil mal braten und mit
Goldlamée bestreichen. Es gab an dieser neuen Zigarette noch etwas, das ihre Packung zu einem idealen Medium für eine Rotbart-Botschaft machte. Sie war bereits mit einer mächtigen Symbolik verknüpft. Das Kamel hat einen großen blöden häßlichen Buckel. Aber in der Wüste, wo hübschere, stromlinienförmigere Tiere bald verdursten, überlebt das Kamel ganz gut. Das Kamel trägt sein eigenes Wasser mit sich herum, speichert es in seinem blöden Buckel. Wenn Menschen, wie das Kamel, ihre inneren Ressourcen vervollkommnen, wenn wir die Kraft in uns haben, können wir jedes Ödland in relativer Annehmlichkeit durchqueren und in unfruchtbarer Umgebung überleben, ohne auf Äußerliches angewiesen zu sein. Oft ist es unser »Buckel« – jener Aspekt unseres Seins, den die Gesellschaft als exzentrisch, lächerlich oder unangenehm empfindet –, der unser Süßwasser, unseren geheimen Quell des Glücks, den Schlüssel zu unserem Gleichmut in feindseligem Klima enthält. Das Kamel symbolisiert eine lunare Wahrheit, es verkörpert eine Rotbart-Lektion über das Überleben in der Wüste, wobei die Wüste solares Territorium, jede von der Sonne gepiesackte Landschaft ist. Als sie die Empfangsantenne auf dem roten Dach des namenlosen Lithographen anpeilten, sorgten die Rotbärte dafür, daß auch Palmen auf der Packung untergebracht würden, denn die Dattelpalme, so wichtig für die Bewohner der Wüste, unterstrich noch die Symbolik des Kamels selbst. Jede Wüste hat ihre Oase, es gibt Nahrung und Schatten noch in der ödesten Gegend, wenn man weiß, wo man suchen muß. In Kenntnis der Tatsache, daß schwere Zeiten auf das letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts zukamen, Zeiten der Knappheit, der
Umweltverschmutzung, des politischen Betrugs, der sexuellen Verirrung und des geistigen Hungers, projizierten die Rotbärte via Zigarettenschachtel einen Mondstrahl durch unsere verrußten Gardinen. Einen Strahl der Ermutigung und der Hoffnung. Zufrieden mit der Unterbringung des Kamels und der Palme, richteten die Rotbärte ihre Aufmerksamkeit jetzt auf ihr Hauptanliegen, die Pyramide. Sie erachteten die Pyramide als lebenswichtig für die weitere Evolution der Erdlinge, und sie wünschten die Erdlinge möglichst oft mit Pyramiden zu konfrontieren. Ihr telepathischer Ansporn an den Lithographen war so erfolgreich, daß nicht eine, sondern zwei Pyramiden auf der CamelPackung auftauchten. Da der Junge noch immer auf Empfang gestellt hatte und – vielen Dank – wunderbar reagierte, ließen die Rotbärte ihn auch noch eine nackte Frau in das Design einarbeiten, stellvertretend für die Mondgöttin, die Große Mutter, das weibliche Prinzip von Schöpfung, Wachstum und Erneuerung. Die Mondgöttin ist die ältestüberlieferte und universellste Gottheit, und es war nur angemessen, daß ihre Anwesenheit in der Wüste auf der Packung spürbar wurde. Vielleicht war’s ja überhaupt die Mondmutter, die hinter der verjüngenden Kraft der Pyramiden steckte. Jedenfalls symbolisierte sie diese Kraft. Um die Komposition nicht zu verderben, wurde sie höchst subtil auf der Packung untergebracht, versteckt in der gelben und braunen Färbung auf dem linken Vorderteil des Dromedars. Das war angemessen, denn diese Königin der Liebe, diese Gewährerin von Phantasien und Träumen, diese Hirtin der Sterne, diese Heilerin und Nährmutter allen Lebens hatte sich immer auf subtile und geheimnisvolle Art und Weise offenbart.
Als Erinnerung daran, daß die Mondkönigin stets durch den Sonnenkönig bedroht ist (wir sind allmonatlich Zeuge dieses kosmischen Dramas, wenn der abnehmende Mond vom Licht der Sonne verzehrt wird), wurde auch ein gelbmähniger Löwe, das uralte und weitverbreitete Sonnensymbol, im Körper des Kamels versteckt, und zwar rechts über der Frau. Das hätte genügt, das hätte die Camel-Packung zum Gefäß einer im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts beispiellosen Wahrheit machen können, praktisch zu einer lunaren Bibel, kompakt, leicht zugänglich und prägnant, wie es sich für eine transistorisierte Epoche schickt. Aber die jetzt entflammten Rotbärte hielten ein Meisterwerk am Schwanz und wollten es nicht loslassen. Sie beschlossen, noch einen weiteren kühnen Schritt zu tun. Sie wollten versuchen, ein Wort aus ihrer Dimension in die unsere zu senden. Wie sorgfältig sie dieses Wort auswählten! Das Wort, das ja erlaubt; das Wort, das nein ermöglicht. Das Wort, das den Freien in Freiheit setzt und der Liebe die Verpflichtung nimmt. Das Wort, das ein Fenster aufstößt, nachdem die letzte Tür zugeschlagen ist. Das Wort, auf dem alles Abenteuer, alle Heiterkeit, alle Bedeutung, alle Ehre beruht. Das Wort, das den Schlamm-Motor der Evolution antreibt. Das Wort, das der Kokon der Raupe zuflüstert. Das Wort, das die Moleküle deklamieren, bevor sie sich zusammenrotten. Das Wort, das das Tote von dem Lebendigen scheidet. Das Wort, das kein Spiegel verdrehen kann.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war CHOICE
70 Unten – draußen – überall – taumelte die Welt in einem Kanu immer weiter durch den Weltraum, grölend wie eine Jukebox und taub für Leigh-Cheris theoretische Überlegungen. Dort draußen redete man von Öl und Atomkraft, von Preisen und Löhnen, von Fußballresultaten und Prominenten, von Karrieren und Krankheiten und – auf tausenderlei unbeholfene und ausweichende Art – davon, wie man es fertigbrächte, die Liebe zum Bleiben zu bewegen. Ein Millionär war im Bett einer Sekretärin gestorben. Hortikulturisten verlautbarten die Entwicklung einer viereckigen Wassermelone. In Beverly Hills eröffnete jemand eine Disko für Hunde. An den Küsten des Puget Sound war der Oktober eingezogen wie ein Lammkotelett, in goldenen Semmelbröseln paniert und in einem Schuß Blauöl sautiert. Indianersommer, so nannten es manche fälschlicherweise, denn technisch gesehen muß der Indianersommer auf einen Frost folgen, und seit jenem Monsterfrost im April hatte es keine Spur von einem Frost gegeben. Vielleicht war es eine Verlängerung des Sommers, hatte der Sommer sich entringelt und ausgestreckt wie die Vipern, die sich, ohne den Ruf zum Winterschlaf zu vernehmen, noch
immer in den Brombeerfeldern sonnten. Schlangen, die – nichts als Gürtel und keine Hose – nur aus ihrem verlängerten Müßiggang aufgeschreckt wurden, wenn gelegentlich eine Beere herabfiel – dick wie ein Taubenei und schwarz geworden wie die Sünde in diesem längsten aller Sommer. Der Zuckerbäckerduft faulender Brombeeren schwebte auf den vom Sund aufsteigenden Brisen zum Dachbodenfenster hinauf, eine Mischung von Zuckerhauch und Salz, die der hochnäsigsten Nase das Rümpfen austreiben konnte. Aber der Dachboden blieb fest verschlossen, und kein Beerenduft gelangte hinein. Auch nicht das dinosaurische Kreischen der Stockenten, die sich diesen Herbst Zeit ließen, den Flug nach dem Süden anzutreten. Ein Geräusch, das es normalerweise schaffte, in den Dachboden einzudringen, das gedämpfte Rasen und Tosen der sporttreibenden Welt, das durch zwei Zimmerdecken und zwei Fußböden aus Max’ Fernseher heraufsickerte, fehlte ebenfalls. Es war seltsam, daß es diesen Oktober keinen Regen gab, noch seltsamer aber waren die fehlenden Fußballjubelchöre, so seltsam, daß Leigh-Cheri an mehreren aufeinanderfolgenden Wochenenden ihren Blick von der Camel-Packung losriß, um Gulietta danach zu fragen, aber die Alte verfütterte Fliegen an Prince Charming und konnte oder wollte nicht antworten. Ehrlich gesagt verbrachte Max seine wachen Stunden weiterhin vor der Röhre. Er machte sich nur nicht die Mühe, sie einzuschalten. In seiner Heimat marschierten die royalistischen Revolutionäre wie eine Dampfwalze voran. Ein Monat, höchstens sechs Wochen, und die Junta würde zusammenbrechen. Dreißig
Jahre hatte er insgeheim und fast ohne Hoffnung von der Wiederherstellung der Monarchie geträumt. Jetzt sollte dieser schmächtige scheue Traum wahr werden. Nur wollten sie ihn nicht als König haben. Es herrschte ein archaischer Groll gegen ihn, Unzufriedenheiten, die sich, wie dieser Quasi-Sommer, seit der Zeit seiner Regentschaft weiterschleppten. Außerdem fanden die jüngeren revolutionären Führer, daß er vom CIA kompromittiert worden sei. Die Verbindungen seiner Königin zum Vatikan wurden beargwöhnt und verlacht. Was seinem Lande vorschwebte, war eine sozialistische Monarchie, ungefähr nach der Art Schwedens oder Dänemarks, etwas links von England und sehr weit links von Max. Max würde in der Heimat willkommen sein. Man würde ihm den Sommerpalast samt Grundstück am See zugestehen. Dazu eine Apanage, wesentlich luxuriöser, als die Amerikaner sie ihm zahlten. Königin Tilli würde der Oper vorstehen, wie sie es schon früher getan hatte, und an den Wochenenden würden sich seine alten Kumpane zu Cognac und Karten zusammenfinden. Aber Staatsoberhaupt würde er nicht sein. Dafür wurde jemand anderes gebraucht, frischer als Max, erklärten sie. Sie beabsichtigten die Karten neu zu mischen. Keiner seiner unwürdigen Söhne wurde in Betracht gezogen. Zu viele Skandale hatten sie verursacht, zu viele Immobilienschwindel, Aktienbetrügereien, Kasinokräche und öffentliche Demonstrationen von Habgier. Leigh-Cheri war die Furstenberg-Barcalona, auf die sie sich geeinigt hatten. Jung und aufgeweckt und schön, mit einem starken sozialen Gewissen, wäre Leigh-Cheri eine perfekte Gallionsfigur für das neue Regime gewesen. Doch widerwärtige Geschichten zirkulierten jetzt auch
über sie. In Europa, inmitten der Kämpfe, hatte man vernommen, daß sie wegen eines bürgerlichen Sträflings den Kopf verloren hatte. Daß sie sich in einem leeren Dachboden eingesperrt hatte und nicht einmal herauskam, um zu pupen. Man las in Klatschkolumnen, daß sie »tragisch« sei. Man fragte sich, ob nicht »albern« das treffendere Wort gewesen wäre. Max verlange es, die Leute zu beruhigen. Aber wie konnte er das tun und dabei redlich bleiben? Er war in jenen Dachboden hinaufgestiegen. Er hatte sie selbst gesehen, nackt, schmutzig und allein, aber strahlend vor Zufriedenheit und von »Interessen« redend, wo keine zu sehen waren. Darum saß Max vor einer schweigenden Glotze, sein länglicher Pferdekopf nickte einem kalten Bildschirm zu. Vielleicht war der Bildschirm für den alten König nicht leer. Vielleicht sah er dort, in Farben, bunter als jede Bildröhre sie wiedergeben könnte, das reiche Gepränge seines einstigen Lebens. Vielleicht sah er sich zu Pferde, die Brust voll in der Mittagssonne blinkender Orden. Sah sich, Silbersäbel himmelwärts, seine Truppen mustern. Sah die rauchenden Schlote seiner kleinen, aber seetüchtigen Flotte. Sah die Fasane in Aspik, die ausladenden Schinken, die Forellen im Sud, die des Weins harrenden Kristallkelche. Herzöge sah er und Grafen; Barone und Premiers, Präsidenten, Prinzen und Potentaten; Botschafter, die Spitzen ihrer Schnurrbärte von exotischen Wachsen blinkend, die Spitzen ihrer Zungen von allfälligen Lügen schlüpfrig. Sah die weißen Zähne der Damen, ihre Zigarettenspitzen aus Elfenbein und Onyx, ihre perlenbestickten Pompadours, die winzige Flacons französischer Markenparfüms bargen, und welcher einfache König konnte sich wirklich
all die Arten von Spitzen und Seidenfroufrous vorstellen, die sie unter ihren Gewändern nächst gesalbten Lenden trugen? Große Paraden klapperten große Boulevards entlang (so sah er es im kalten Fernseher), private Eisenbahnwaggons rollten durch viele Hektar leuchtender Weizenfelder, Opernhäuser waren zur Weihnacht mit Lichtern aufgeputzt, edle Hunde hetzten den Fuchs. In gotischen Parlamentsgebäuden brandete das stilisierte Gejohle der Legislative gegen die Kronleuchter. Und spät in der Nacht, in fensterlosen, mit den erlesensten Produkten persischer Webstühle ausgekleideten Räumen, bei abgeklärtem Brandy und Havannazigarren, konvenierten die wahren Regenten, starke Männer mit weitläufiger Bildung und blankem Witz, versammelten sich zu Klatsch, Kabale und Komplott. Sie sprachen über kostbare Metalle, über Eisenbahnlinien und Währungen und Vieh und Getreide; sie warfen Truppen an diese Grenze oder an jene, hoben oder senkten Zölle, arrangierten machtvolle Ehen, trafen Entscheidungen, die das Leben von Ladenmädchen in Budapest oder Kameljockeys in Kabul veränderten. Ihre Stimmen klangen tief und feierlich, wenn sie Intrigen gegen sich selbst erörterten, noch tiefer, doch singend vor Heiterkeit, wenn sie Intrigen gegen andere ausheckten. Freilich, sie handelten ebensowohl zur Vermehrung ihrer Reichtümer wie zum Schutz der von ihnen abhängigen Bevölkerungen, aber gleich, ob es um Handel oder Krieg, Verträge, Tribute oder private Perversionen ihrer Standesgenossen ging, waren sie von einer großen, glühenden Liebe zu dem Drama aller Dinge verzehrt, einer unerbittlichen Leidenschaft für das geheime Theater des Planeten. Diese Tage waren vorbei. Jetzt wurden die Entscheidungen
dieser Welt von kleineren Leuten getroffen; von grauen, gesichtslosen Bürokraten ohne Vision oder Witz; von Ausschußsprechern, die Ausschuß sprachen und Ausschuß dachten, Männern, die mehr vom Dogma als von Destination wußten, Männern, die sich auf Produktion verstanden, aber das Vergnügen nicht kannten, Männern, die sich mit einem Ordner voller Papiere wohler fühlten als mit einer Faust voll Gemmen; Männern ohne Lächeln, Männern ohne Manieren, Männern ohne Träume, Männern, die glaubten, sie könnten die Menschheit führen, während sie weder eine Herzogin verführen noch ein Pferd reiten konnten. Ach, dieser Bandit in Schwarz, den seine Tochter nach Hause geschleppt hatte, taugte besser zum Herrschen als irgendeiner von ihnen, Kommunisten oder Faschisten oder Christdemokraten, einander gleich wie geschmacklose Erbsen in einer verdorbenen Schote. Es war nur recht, daß sie seine Krone nicht wieder herstellten. Dies war keine Zeit für Könige. Auch nicht für Königinnen. Sollte sich Leigh-Cheri mit Outlaws einlassen, sollte sie auf einem Dachboden nachtwandeln, wenn es ihr Freude machte. Der Gong in seinem Herzen hatte jetzt einen weichen Klang. Er würde nicht auf die Anfragen seiner Landsleute reagieren. Mochten sie ihre Ehrentitel und ihre Villa am See behalten. Gulietta war sein einziger ihm verbliebener Untertan, und er würde dafür sorgen, daß sie das Geld bekäme, das ihr zustand. Max, einmal und nie wieder König, würde die goldenen Oktobertage genau hier verbringen, wo er saß. Den Regen erwarten. Die Brombeeren erwarten, die früher oder später wie die anonymen Barbaren des letzten Viertels des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Wände gekrochen kommen würden.
Am Sonntag sollten die Seattle Seahawks gegen die Dallas Cowboys antreten. Falls es ihm einfallen sollte, den Knopf zu drücken.
71 Auf dem menschlichen Kopf gibt es neunzig Haare pro Quadratzentimeter. Das ist ein Durchschnittswert. In Leigh-Cheris Fall waren es dreiundneunzig oder vierundneunzig, eines röter als das andere, und über ihnen schwebte wie ein UFO über dem Haleakala, wie eine Speckpfanne über dem Herdfeuer, eine Krone. Hätten sie von dem baumelnden Diadem gewußt, sie hätten noch röter aus ihren Follikeln gestrahlt, aber nicht ein Haar hatte einen Schimmer von dem Diamantenklipper, der sich anschickte, auf ihnen zu landen, und daher sammelten sie von Samstagsbad zu Samstagsbad Staub und glühten ohne besondere Anstrengung. Unter ihnen, im Innern der Hirnschale, gab es Aktivitäten genug. Tatsächlich fürchteten sie, sie könnten schließlich vom Nachhall scheinbar widersinniger Theorien zu Berge stehen wie die Haare Einsteins. Scheinbar widersinnig? Haare, ihr seid nachsichtig. Was war ihre Theorie denn anderes als eine umständliche, phantasiereiche Aufbereitung von Bernard Mickey Wrangles Ansichten? Die Philosophie der CHOICE, der freien Wahl, war OutlawPhilosophie, sofern Outlaws eine Philosophie haben (sie neigen eher dazu, Katzenjammer, Herpes und eine lausige Kreditwür-
digkeit zu haben). Deterministen, die im Universum ein Durcheinander von Billardkugeln sehen, die nach prädeterminierten Gesetzen auseinander karambolieren, waren stets von den »Outlaws« bedroht, die darauf beharrten, das Spiel mit ihren eigenen Queues zu machen. Gesetze bedeuten Zwang. Kontrollieren, nicht kreieren ist ihr Zweck. Das Universum gehorcht Gesetzen nur, solange die Evolution innehält, sozusagen um Atem zu schöpfen. Wenn die Dinge wieder in Wandel geraten, wenn die Natur wieder an ihre Staffelei, ihr Klavier, ihre Schreibmaschine (keine Remington SL3, das dürft ihr glauben) zurückkehrt, wie sie es in regelmäßigen Abständen immer wieder tut, dann tritt die freie Wahl an die Stelle der Gesetze. Dummköpfe sind gesetzestreu, weil sie gewählt haben, nicht zu wählen. Outlaws, die weniger Angst vor der verwirrenden Vielfalt der Erfahrung haben, die sogar leicht verrückt auf neue und extreme Begegnungen sind, werden wählen wollen, selbst wo sich keine Wahl bereitwillig anbietet. Leigh-Cheri war zu diesem Zeitpunkt mit Outlaws genügend vertraut, um zu erkennen, daß sie lebende Wegweiser nach Anderswo sind, daß sie Apostel des Andersseins und Agenten der CHOICE sind. Was war ihre Theorie also anderes als ein Lied des Buntspechts, ein paarmal zu oft von den kahlen Wänden des Dachbodens zurückgeprallt? Immerhin war es der Specht, der sie mit den Rotbärten bekanntgemacht hatte, der, wenn auch scherzhaft, angedeutet hatte, daß sie Verbindungen nach Argon haben könnten. Eingesperrt in einen Dachboden, nahm sie Wahnsinnskurse bei einer Schachtel Zigaretten und beim Mond und verhaspelte offenbar die schlaubergerischen Ideen ihres Geliebten mit
gewissen archaischen Indianersagen und ihrer persönlichen Begegnung mit einem Pärchen von selbsternannten Extraterrestrischen, die nach Zederntruhen rochen, in denen abgetakelte Pompon-Girls ihre Tanzkleidchen verstauen, nachdem sie zu alt und zu fett geworden sind, sie jemals wieder tragen zu können. In ihrer Einsamkeit und Verwirrung war sie zu der Überzeugung gelangt, sie hätte eine chiffrierte Botschaft aus einer anderen Dimension geknackt. Aber falls sie tatsächlich Signale von jenseits des Spiegels aufgefangen hätte, ihre Haare hätten’s gewußt, nicht wahr? Obwohl Leigh-Cheri von ihrer Theorie viel zu besessen war, um sie auf einen Bodensatz von Outlaw-Blödsinn zurückzuführen, spürte sie gleichwohl stärker denn je das Verlangen nach Bernard. Sie verfiel auf die Idee, daß, wenn sie in ihrer kontemplativen Zelle den Code der Camel-Packung geknackt hatte, Bernard mindestens ebensoviel vollbracht haben müsse. Vielleicht hatte Bernard sogar Dinge bemerkt, die sie übersehen hatte. Selbst wenn dem nicht so war, brannte sie darauf, ihre Erkenntnisse mit ihm auszutauschen, seine Ansichten und seinen Rat einzuholen. Es war ihr, als hätte sie sich auf dem Schwarzmarkt eine Cassette des Golden Eternity Vibrating Ethereal Choir besorgt, jener Gruppe, die den Soundtrack schlechter Bibelfilme besingt, und sie konnte es nicht erwarten, sie auch auf Bernards Recorder abzuspielen, um zu sehen, ob sie dann immer noch den Klang der Wahrheit hätte, denn der Klang der Wahrheit ist das schönste Geräusch, das es gibt, wenngleich es Geräusche gibt, wie manche Frauen sie im Bett machen, die eindeutig damit wetteifern könnten. Die Spuren ihrer Tränen führten zur Abwechslung einmal weiter als bis zu
ihrer Nasenspitze, und sie wollte verdammt sein, wenn sie sich noch vierzehn Monate zurückhalten könnte, bis sie ihre Entdeckung dem Manne mitteilen konnte, dessen Rothaarigkeit ihre eigene noch übertraf. Also traf die Prinzessin eine Entscheidung. Sie würde zu ihm gehen. Nina Jablonski, die rothaarige Anwältin, hatte gerade ein Baby bekommen. Sie war von ihrem Büro beurlaubt. Leigh-Cheri würde sich ihre Personalien ausborgen. Sie würde nach McNeill Island fahren und die Anwältin verkörpern. Sie würde eine große Brille aufsetzen, Extra-Sommersprossen aufmalen, ihr Haar in einem Knoten aufstecken. Leicht wie ein Toast. Die Jablonski war zwar praktisch aus dem Fall heraus, aber das würden die Wärter nicht wissen. Bernard würde auf »Jablonskis« plötzliches Auftauchen nach sechs Monaten neugierig genug sein, um einzuwilligen, sie zu empfangen. Und LeighCheri würde in seiner Zelle landen. Warum hatte sie nicht schon vorher daran gedacht? Sie hätte ihn allwöchentlich in der Verkleidung seiner Anwältin besuchen können. Leigh-Cheri wurde schwach, als sie sich vorstellte, jeden Donnerstag in seiner Einzelzelle mit Bernard Liebe zu machen. Aufgeregt wie sie war, war es nach so langer Zeit doch nicht leicht, einfach aufzustehen und den Dachboden zu verlassen. Sie dachte, vielleicht sollte sie lieber langsam wieder auftauchen, wie ein Taucher, der, wenn er aus dem Reich der Plattfische aufsteigt, auf der Hut vor der Luftdruckkrankheit sein muß. Ein paar Vormittage später ging sie, als Vorbereitung für ihr Wiederauftauchen in der Außenwelt, zum Fenster, dessen
Nägel sie am Abend zuvor gelockert hatte, und machte es langsam auf. Aber nicht langsam genug, um zu vermeiden, daß sie Chuck von der zehn Meter hohen Leiter stieß, von dessen oberster Sprosse er durch die eine klare Scheibe hereingespäht hatte, auf der Suche nach ihrem Funksender – und heftig masturbierend. Chuck stürzte in die Brombeerhecken, wo er aus der Sicht geriet und sein immer noch steifes Glied roh und wiederholtermaßen darauf gestoßen wurde, daß das Wort »scharf« mehr als eine Bedeutung hat. Verblüfft lauschte Leigh-Cheri ein paar Minuten lang dem Stöhnen des Agenten, dann beugte sie sich aus dem Fenster und schrie um Hilfe. Ihre Schreie erregten die Aufmerksamkeit eines bläßlichen Mannes im Sear’s Anzug und mit Amateurhaarschnitt, der gerade die Auffahrt zum Palast heraufgeschlurft kam und schreckliche Kunde aus dem Gefängnis brachte.
72 Chuck war fast einen Monat im Krankenhaus. Während dieser Zeit ordnete der CIA einen Fulltime-Profi ab, um das Haus Furstenberg-Barcalona zu bespitzeln. Der Detektiv trat immer wieder in anderen Verkleidungen auf, zuerst als Feuerinspektor, dann als Lexikonwerber und danach als Gemeindekrankenpfleger, der sein Ohr an Maxens Herzklappe legen wollte, bis Tilli, die unaufhörlich ihren Chihuahua streichelte, vor den Kerl hintrat und sprach: »Warrum nähmen Sie nicht einfach därr
kleine Kamera und därr Notizblock und gehen ins Oberstock horchen, wie Chuck machte? Sie miessen ja Streßkopfschmerzen kriegen, wenn Sie dauernd so Ihre Äußeres wechseln.« Abgesehen von einer direkten bewaffneten Intervention gab es nichts, was die Vereinigten Staaten hätten tun können, um die rechtsgerichtete Tyrannei in Max’ und Tillis Heimatland zu stützen. Und Max, der befürchtete, daß die rechtsgerichtete Tyrannei nur wie üblich durch eine linksgerichtete Tyrannei ersetzt würde, wusch seine königlichen Hände bei der ganzen Angelegenheit in Unschuld. Was Prinzessin Leigh-Cheri betrifft, die, wie der CIA erfahren hatte, ohne es zu wissen als regierende Monarchin kandidieren sollte, sobald die Revolution vollendet wäre, nun, Leigh-Cheri war weit davon entfernt, sich für die Aufgabe vorzubereiten, eine Nation zu regieren; LeighCheri war in einem Zustand wie eine Camel-Packung, die auf den Hof geworfen, von einer Ziege durchgekaut und wieder ausgespuckt worden war. Als die Nachricht von ihrer Selbstinternierung über Blätter wie National Esquirer, Parade oder Cosmopolitan ihre Kreise zog, hatte die Prinzessin immer mehr Nachahmer gefunden. Frauen, deren Männer im Gefängnis oder beim Militär waren oder in Alaska an der Pipeline arbeiteten, begannen sich, als öffentliche Proklamation einsamer Hingabe, in ihren Zimmern zu verriegeln. Desgleichen taten mehrere Männer. Schließlich fingen irregeleitete Romantiker an, in heruntergekommenen Boudoirs, Bodenkammern, Kellern, Holzschuppen, Hundehütten und Atombunkern Zuflucht zu nehmen, selbst wenn ihre Geliebten ganz und gar nicht fern weilten, sondern sie diese allnächtlich in ihren Armen hätten halten können, hätten sie
nicht beschlossen gehabt, sich zum Beweis ihrer Unterwerfung unter die Macht der Liebe zu internieren. Eine Hausfrau in Unionville, Indiana, eine Frau, von der man wußte, daß sie jede Woche dreißig Dollar für Ansichtspostkarten ausgab, suchte Zuflucht in einem unbeleuchteten Keller, wo es von schwarzen Witwen wimmelte, um die Tiefe ihres Gefühls für ihren Gatten und drei hungrige Kinder zu demonstrieren. Manche, die sich einsperrten, hatten nicht einmal einen Schatz. Bis zum Herbst mochten etwa hundert »Prinzeßgefangene« im ganzen Land in improvisierten »Liebesdachböden« die Tapeten anstieren, und es war eine Art Wettbewerb in Gang, bei dem Rundfunkstationen Bargeldprämien für Ausdauerrekorde auslobten. LeighCheri hatte eine dunkle Ahnung von diesen Aktivitäten, doch hatte ihr der Sinn nach Pyramiden und kosmischen Geheimnissen gestanden, und sie hatte nicht viele Gedanken daran verschwendet. Nun, die Nachricht wanderte schließlich auch in die Einzelzelle auf McNeill Island, wo sie offenbar gar nicht gut aufgenommen wurde. In der Tat war Bernard, der sich bisher, in der Hoffnung, dadurch eine frühe Entlassung zu erreichen, relativ anständig benommen hatte, so beunruhigt durch die Berichte, daß er sich der illegalen, aber allgemein üblichen Untergrundpost des Gefängnissystems bediente und seine gute Führung riskierte, um einen Brief an Leigh-Cheri hinauszuschmuggeln. Das Sendschreiben, in der Handschrift des bestochenen Wärters, dem es diktiert worden war, wurde durch einen gewissen Perdy Birdfeeder zugestellt, einem mittelalterlichen Übeltäter aus Tacoma, gerade wieder auf freiem Fuß, nachdem er fünfzehn Jahre wegen Geldbeutelklau abgesessen hatte. Birdfeeder, der
über einen Zeitraum von vielen Jahren Hunderte von Geldbeuteln eingesackt hatte, bevor er sorglos wurde und einen Kolostomiebeutel klaute – auch da hätte er noch entwischen können, wäre er nicht stehengeblieben, um das Kleingeld zu zählen –, half, den blutenden Chuck aus den Brombeeren zu pflücken, wobei er seinen neuen, staatlich gestifteten Anzug ernstlich zerkratzte, und händigte Gulietta den Brief aus. Birdfeeder konnte seinem Schutzengel danken, daß der königliche Brauch, den Boten, der schlechte Nachricht brachte, hinzurichten, nicht mehr ausgeübt wurde. »Yuk!« So begann das Brieflein. »Yuk! Wenn du meinst, daß das Schwarze Loch schwer zu ertragen ist, solltest du’s mal mit jungen Frettchen versuchen, die sich mit ihren Zähnen an die Haut deiner Hoden hängen. So war mir zumute, als ich erfuhr, daß unsere persönliche Beziehung zur öffentlichen Seifenoper geworden ist, zum Sparbudget-Interview mit Barbra Streisand, zu einem Sport in der Art des Fahnenmastsitzens oder Telefonzellenkaputtmachens. Baby, es scheint, daß du und ich nicht mehr an derselben Orange lutschen. Die Romantik ist kein Festwagen für verlorene Seelen, die nichts Interessanteres zu tun haben. Ich glaubte, du hättest inzwischen gelernt, daß ›romantische Bewegung‹ ein Widerspruch in sich selbst ist und daß die Gesellschaft, falls man ihr dazu Anlaß gibt, nur allzu geil darauf ist, die tiefsten, authentischsten menschlichen Erfahrungen in eine seichte Marotte mehr umzumünzen. Du hast ihr Anlaß gegeben. Ich schätze, man kann das Mädchen aus der Bewegung holen, aber man kann die Bewegung nicht aus dem Mädchen holen, sogar in der Einsamkeit konntest du deinen Herdentrieb nicht zügeln.
Überlassen wir es einer Welterlöserin wie dir, unsere Liebe als heiliges Anliegen zu betrachten – in Wirklichkeit war sie nichts anderes als ein Gebell an den Mond.«
73 Die Tränen der Prinzessin hätten, aneinandergelegt, Seattle wie ein Burggraben umringt. Die Tränen der Prinzessin hätten, aufgestaut, den gejagten Walen Zuflucht und dem Narrenschiff einen Ankerplatz geboten. Bei den Berbern herrschte der Glaube, daß, da es im Grab kein Erinnern gibt, Erde von einem Grabhügel dem Menschen helfen kann, seine oder ihre Sorgen zu vergessen, insbesondere das Herzeleid unglücklicher Liebe. Bernard hatte seinem Brief keine Grabrede beigelegt, und hätte er, so hätten die Tränen der Prinzessin sie zu Schlamm verwandelt. Nachdem sie die Schaumgummimatte mit ihrem bitterlichen Weinen völlig aufgeweicht hatte, schleuderte sie die Matte aus dem Fenster in die Brombeeren. (Schade für Chuck, daß sie nicht schon dagewesen war, als er stürzte.) Dann schmetterte sie den Nachttopf gegen die Wand. Später, als sie wie rasend auf und ab stapfte, schlitzte sie sich an seinen Scherben die Füße auf. Sie packte die Schachtel Camels und zerquetschte sie in ihrem Fäustchen, kippte die Pyramide und ließ den Höcker des
Dromedars platzen. Mumien kamen in Panik aus den Pyramiden gerannt und schleiften ihre Bandagen hinter sich her. Wasser sprudelte aus dem geborstenen Kamelhöcker wie aus einem Tränenbrunnen. Stundenlang weinte sie leise, fast unhörbar, und rieb sich mit ihren Knöcheln die Augen wund. Dann sprang sie auf die Füße und kreischte. Hilflos hielten König Max und Königin Tilli (und der diesmal als Staubsauger-Service Mann maskierte CIAAgent) vor ihrer Tür Wacht, während Gulietta reglos auf dem Dachboden stand und Prince Charming zwischen ihren hohlen Händen hielt, vielleicht um ihn vor rothaariger Rage zu schützen, vielleicht um die Magie des Frosches zu beschwören. Nach drei Tagen solchen Theaters wurde Leigh-Cheri ruhig. Schließlich stand sie in deutlichem Einklang mit den Rhythmen des Mondes, und was schwindet, muß wieder wachsen. Drei Tage Dunkelheit, soviel erduldet der Mond, bevor er »genug, genug« blafft und den ollen Kühlschrank langsam wieder öffnet, aus dessen frostigem Innern das die Welt verändernde Licht auf die Erde scheint. Draußen war der Regen gekommen, der Regen, der bis zum Frühjahr wie ein Guppy-Hagel auf das alte Haus niederprasseln würde. Es gibt kein Weinen, das es mit dem Regen des Nordwestens aufnehmen könnte. Also putzte sich Prinzessin Leigh-Cheri die Nase. Sie setzte ihre nackten Hinterbacken auf die Drahtspiralen des Feldbetts, sorgsam bedacht, nichts zu zerkratzen. Sie dachte eine Weile nach. Sie strich die Camel-Packung glatt. Dann lächelte sie. Sie drehte sich zu Gulietta um. Ihre Stimme war entschlossen und fröhlich.
»Hol mir Ibn Fisel«, sagte sie.
ZWISCHENSPIEL Wenn diese Schreibmaschine es nicht schafft, dann … was? Kann die Muse einen Fallrückzieher machen? Die Remington SL3 will’s mit Worten besorgt kriegen. Sie kann absolut nicht zwischen den Zeilen schreiben. Sie ist unempfänglich für die Schönheit fungoider Alkaloide – je mehr ich inhaliere, desto sprachloser wird sie. Und trotz meines Beharrens auf traditionellen literarischen Werten bleibt sie verdrossen modern. Glaubt mir, ich habe wenig Skrupel, mitten im Fluß die Maschine zu wechseln, aber um diese Stunde hat niemand mehr offen außer Mom’s All Nite Diner, und der Aparillo, der Mom’s Speisekarte hämmert, buchstabiert Fett mit drei ›t‹. Außerdem hat man mich darüber informiert, daß die Remington-Garantie »Schreibarbeiten dieser Art«, was immer das heißen mag, nicht abdeckt. (Eigentlich sollte ich nicht überrascht sein: als ich mir eine Versicherungspolice der Mutual of Omaha besorgen ging, wollten sie meinen Tippfinger nur gegen Feuer und Diebstahl versichern.) Schätze, mir bleibt nichts anderes übrig, als die Kupplung dieses bourgeoisen Papierklopfers durchzutreten und zu versuchen, die Schlußzeile im Leerlauf zu erreichen. Für den Fall, daß ich’s nicht schaffen sollte, für den Fall, daß Sie, lieber Leser,
ohne mich fertig werden müssen, hm, Sie waren ein guter Zuhörer, wahrscheinlich besser als ein unterentwickelter Romanschriftsteller mit einer überentwickelten Schreibmaschine es verdient, und ich würde Ihnen gern einen vollkommenen Satz hinterlassen, ein denkwürdiges Bild, das Sie im Hintergrund ihres Hirnkastens in violette Seide einwickeln können. Etwas von der Art eines Tropfens tropischer Gallerte, die aus dem Liebesbiß auf der Lippe einer Konkubine sickert. Aber ach, es gibt nicht genug Saft, an dem wir uns laben könnten – eine bekannte Klage im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts –, also will ich, auf die Gefahr, schüchtern zu wirken, Ihnen rasch danken, und nichts wie raus hier mit einem Arrivederci. Wie man in unserem Lande sagt: have a nice day.
4. Phase
74 Die Dämmerung zog auf wie ein »Have-a-nice-day«-Aufkleber. Die Sonne schien wie Mr. Happy Face persönlich, und die Horizonte waren nichts als Lächeln. Von Grenze zu Grenze erhoben sich die Menschen, als wären ihnen Champagnerklistiere verabreicht worden, in der tiefen Überzeugung, daß sie im Begriff waren, einen guten Tag zu haben. Eine traditionell, historisch, seit alters her monarchistische Nation stand im Begriff, ihren ersten Souverän seit dreißig Jahren auf den Thron zu setzen. Es war Krönungstag. Hurra. Jedermann hatte frei. Die Hotels und Pensionen waren überfüllt. Entlang der Prozessionsroute begannen sich die Menschenmengen schon vor Anbruch der Dämmerung zu versammeln. Alle Sitzplätze auf den Tribünen waren reserviert, kaum daß die Schalter geöffnet worden waren, und auf dem Schwarzmarkt wurde die Karte für neunzig Dollar gehandelt. Balkons mit Blick auf die Marschroute kosteten noch mehr. An die Schulkinder waren Krüge, Teller, Broschüren und Abzeichen verteilt worden, und sie trugen sie, als hätten sie übernatürliche Eigenschaften, und drückten sie an ihre neuen Frühlingskleidchen. An den Antennen der Autos flatterten zwitschernd kleine Fähnchen. Soldaten, Helden der Revolution, trugen nagelneue Stiefel aus knarrendem Leder, und die Frauen, jung wie alt, lächelten ihnen hinter Blumensträußen zu. Gegen acht Uhr gab es in den Straßen mehr Blumen als Menschen.
Und ebenso zahlreich wie Rosen waren die schwarzen Blüten der Kameras vertreten. Um zehn begannen die Bienen in den Hirnen der Kameras wütend zu summen und verkündeten das Herannahen der Staatskalesche – vergoldet, verschnörkelt und mit barocken Pastoralszenen von Cipriani verziert. Sie wurde von Scharlachund goldbefrackten Postillonen begleitet, von sechs weißen Rossen gezogen. Silberne Trompeten schmetterten und Kathedralenglocken schallten, bis ihnen schwindlig wurde. Erschrocken flüchteten sich die Tauben der Hauptstadt in den Himmel, nur um den Himmel von Luftballons, Konfetti und den akrobatischen Secondhand-Düsenjägern einer gerade flügge werdenden Luftwaffe besetzt zu finden. In zeremoniellem Waffenrock stieg der neugewählte Premier aus einer weniger üppig verzierten Kutsche und erklomm die mit Liliengirlanden geschmückte Plattform des Throns. Der Premier, militärischer Führer der Revolution, wurde bejubelt, reichlich bejubelt, aber es war offenkundig, daß die Menge sich ihren Donner noch aufsparte. Ganz plötzlich fegte eine Welle des Frohlockens, religiöser Ekstase ähnlich, durch die Menge. Tränen katapultierten wie kristallene Springbohnen aus fünfzigtausend Augenpaaren, und in einer halben Million Brüsten sammelte sich ein gewaltiger Seufzer. »Gott schütze die Königin!« brüllten die Würdenträger, die Soldaten, die weinenden Frauen, die Arbeiter und die Kinder. Und da war sie, erhob sich, und ihre Hermelinschleppe bauschte sich hinter ihr auf; eine heilige Puppe, zur Erbauung der Massen und zur Aufwertung des Staates in magische Gewänder gehüllt, erhob sie sich in einer Aura akkumulierter Geschichte. Sie war der sichtbare,
menschliche Aspekt der Herrschaft, war smaragdene Kappe auf der Zahnpastatube der Nationalität, kurz, ein Schönheitspflaster auf dem verzerrten Gesicht der menschlichen Rasse. »Gott schütze Königin Gulietta! Lang lebe Gulietta! Lang lebe die Königin!«
75 Max’ Vater, König Ehrwig IV, hatte einst eine Küchenmagd geschwängert. Von dem mageren Kind, das aus seinem sorglosen Samen erwachsen war, bezaubert, ging er vor Maxens Geburt oft in die Spülküche, wo er die Kleine zwischen Kohlblättern und Lauch auf seinem eleganten Knie schaukelte. Ehrwig erbot sich, sie zu adoptieren, aber die Kindsmutter, draufgängerisch und halsstarrig wie Gulietta selbst einst werden sollte, ließ es nicht zu. »Seid es zufrieden, mich in der Küche zu lassen«, brauste sie auf. »Das Baby bleibt auch hier.« Nach Maxens Geburt, als König Ehrwig endlich einen passenden Erben hatte, suchte er die damals elfjährige Gulietta auf und drückte ihr ein Dokument in ihre marmeladenverklebte, knochige Hand, das die Vaterschaft bestätigte. »Es könnte eine Zeit kommen, da du dies brauchen wirst«, sagte er. Eine Kopie des Dokuments wurde zu seinen Geheimpapieren gelegt, wo sie viele Jahrzehnte später von einem Mitglied der revolutionären Monarchenwahlmannschaft, die den Stammbaum der Furstenberg-Barcalonas erforschte, entdeckt wurde.
Gulietta hatte die ganze Zeit gewußt, daß sie Max’ Halbschwester war, aber sie beschloß, ihre Mutter im Leben wie im Tode zu ehren, indem sie diese Tatsache nie verriet. Als sie aber von Agenten der Revolution angesprochen wurde – sie fanden sie beim Zedernspänespalten neben einem Herd am Puget Sound – , beschloß sie ihren Vater zu ehren, indem sie sich unumwunden zum Purpur in ihren Adern bekannte. »Wir haben den Glauben an Max und Tilli verloren«, sagten ihr die Agenten, »und außerdem hat Max die Krone abgelehnt. Die Söhne kommen nicht in Betracht, sie sind Schrott. Wir hätten gerne Prinzessin Leigh-Cheri gehabt, aber Ihr wißt ja, wie es um sie steht. Bleibt nur noch Ihr. Und Ihr seid ideal. Ihr repräsentiert sowohl unser stolzes königliches Erbe wie unser gutes einfaches Volk. Auf Eurem Haupt wird die Krone nicht nur ein Stück autokratischer Hardware, sondern ein Attribut demokratischer, sozialistischer Herrschaft sein. Ihr werdet eine Königin für das Volk sein, weil Ihr, genetisch zwar königlichen Geblüts, aus dem Volke hervorgegangen seid. Ja, Ihr sprecht sogar die Muttersprache, die alte Sprache. Und zu alledem habt Ihr, blickt man auf die Furstenberg-Barcalonas, mehr Verstand als jeder einzelne von ihnen.« Anfangs hatte ihr Alter die Abgesandten beunruhigt, aber als sie beobachteten, mit welchem Schwung sie ihre Machete schwang, nickten sie einander zu und lächelten. »Sie wird das zwanzigste Jahrhundert überdauern«, prophezeiten sie. So bestieg die alte Gulietta kurz nach Weihnachten den Thron, und im Frühjahr nahm sie öffentlich die kunstreichen Zeichen königlicher Verantwortung – das Szepter, den Ring und zuletzt die Krone – entgegen. Es war ein so glanzvolles,
gefühlsträchtiges Ereignis – pompös im besten Sinn des Wortes –, daß kein Mensch, nicht einmal der Premier bemerkte, daß die Alte während der Krönung keinen Augenblick ihre linke Faust öffnete. Und in dem unwahrscheinlichen Fall, daß man es bemerkt hätte, wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, daß sich in der Faust ein lebendiger Frosch befand. Als die Kreatur quakte, schrieb man es der Erregung altehrwürdiger Eingeweide zu und fuhr rasch mit der Zeremonie fort. Kaum gekrönt, war es Guliettas erste Amtshandlung, die diplomatische Verbindung mit Peru und Bolivien zu erneuern, deren Botschaftern sie eindringlich zu verstehen gab, daß etwas gutes frisches Kokain, nur zu medizinischen Zwecken, als durchaus passende Huldigung aufgefaßt werden würde. Als zweite Amtshandlung wollte sie beim Präsidenten der Vereinigten Staaten persönlich die Aussetzung der Strafe eines gewissen »politischen Häftlings« erwirken, der in der Bundesstrafanstalt im Staate Washington gefangengehalten wurde. Als Frage des Protokolls hatte der Präsident kaum eine andere Wahl als stattzugeben.
76 »Hallo, Darling. Gibt’s was Neues in Sachen Kalkstein?« LeighCheri umarmte Ibn Fisel. Sie küßte seinen Mund und hieß seine Hände willkommen, die augenblicklich in ihr Negligé glitten. »Wie kann man von Stein sprechen, wenn ist Fleisch zur
Hand?« fragte Ibn. Er zog sie fester an sich. »Take it easy, Schatz. Mach’s nicht so eilig. Das Fleisch wird nicht wegschmelzen. Ich will etwas über den Kalkstein wissen.« »Okay, gibt es gute Nachrichten endlich. Das Schiff, passiert es diese Stunde in Suez. Sollte anzukommen hier vor drei Tagen.« »Ohhh!« Leigh-Cheri quiekte vor Glück. »Ich bin so froh! Bist du nicht froh? Vielleicht werden wir planmäßig fertig. Glaubst du nicht?« »Du mir sagt: take it easy. Jetzt sag ich dir: take it easy. Stein, wird er nicht schmelzen. Pyramide niemals schmilzt. Pyramide wird sein auf Erden hier, lange nachdem dieses im Himmel ist.« Seine von Juwelen triefenden Finger schlossen sich um ihre Leiste. »Mmmm. Dieses ist schon im Himmel. Oder wird es gleich sein.« Mit einer Bewegung, mit der sich der Waschbär eine Frucht schnappt, mit der ein Outlaw ein Streichholz anreißt, machte sie seinen Reißverschluß auf.
77 Was Leigh-Cheri an Bernards Brief am meisten gestört hatte, war, daß er bewies, wie schlecht er sie kannte. Wie Frauen im allgemeinen, wie Widderfrauen im besonderen, wie rothaarige Widderfrauen im ganz besonderen, haßte sie es, mißverstanden zu werden. Ungerechtigkeit gegen andere empörte sie. Unge-
rechtigkeit gegen sie selbst brachte sie zum Kochen wie Schwefelsuppe. Nach all den Opfern, die sie gebracht hatte, nach dem Äußersten ihres Engagements nun wie ein verirrtes kleines Ding gescholten, herablassend belehrt zu werden, ihre Liebe, ihrer beider Liebe leichtfertig abgetan zu sehen, war einfach unerträglich. Der einzige Mann, der wissen mochte, wie man die Liebe zum Bleiben bewegen könnte – so dachte sie jedenfalls –, hatte sich benommen, als sei der Mond sein persönlicher Käsleib, und wieder einmal war die natürliche Neigung ihres Herzens, die Erhabenheit des Romantischen zu betrachten, durch das Irdische gestört, durch das Egoistische verraten worden. Nie wieder, bei Jesus! In ihrem Inneren hatte es einen Knacks gegeben. Sie konnte nicht sagen, daß sie keinerlei Anteil mehr an Bernard nähme, aber sie konnte laut und deutlich sagen, daß sie sich nicht mehr durch Anteilnahme zum Opfer machen lassen würde. Sie war eine Prinzessin, ein ganz besonderes Wesen mit ganz besonderen Liebreizen, und von nun an würde, wenn es um Männer ging, sie die Trümpfe ansagen. Es fiel ihr auf, daß in jeder Beziehung, an der sie beteiligt gewesen war, in jeder Verbindung, die länger als ein Jahr währte, ein Ungleichgewicht bestand. Bei einem Paar liebte ausnahmslos der eine stärker als der andere. Es schien ein Naturgesetz, ein grausames Gesetz zu sein, das zu Spannungen und Destruktivität führte. Sie war erschüttert, daß ein so unfaires, ein so erbärmliches Gesetz herrschte, aber wenn es schon so war, nachdem also Ungleichgewicht unvermeidlich schien, war es wohl leichter und gesünder, derjenige Liebende zu sein, der weniger liebte. Sie schwor sich, daß das Ungleichgewicht künftig zu ihren Gunsten arbeiten würde.
Sie schwor sich auch und liebkoste beim Schwören die Camel-Packung, ihre, wie sie’s nannte, »Theorie« zu erweitern und zu erforschen. Sie betrachtete sich als eine Art argonisches Bindeglied, und die Vision, die ihr auf jenem stickigen Dachboden gekommen war, sollte das Fundament ihrer neuen Lebensaufgabe sein. Zu diesem Zweck hatte sie nach Ibn Fisel geschickt. Als er ihr nach ihrer Rückkehr von Hawaii den Hof gemacht hatte, war Fisel ein galanter, aber unattraktiver Begleiter gewesen. Ein Übermaß an Schnaps und fetten Speisen hatte ihm rundliche Bäckchen und einen grünlichen Teint beschert. Er ähnelte ziemlich einer großen Kröte. Aber als sie nach ihm schickte und andeutete, daß sie einwilligen könnte, seine Frau zu werden, fand eine erstaunliche Verwandlung statt. Er steckte seine Playboy-Allüren weg und buchte eine Gesundheitsranch in North Dacota, wo man ihm eine Diät aus Pampelmusen und rohen Knoblauchzwiebeln verschrieb und ihn täglich zwanzig Meilen joggen ließ. Nach Ablauf von dreißig Tagen klopfte an die Pforte von Fort Blackberry eine schlanke und stattliche Gestalt, die nur moderat nach Knoblauch duftete. Leigh-Cheri war verblüfft. Fisel bemerkte die Zustimmung in ihren Augen und kam gleich zur Sache. Er beschenkte sie mit einem Diamanten, groß wie ein Knallfrosch. Die Prinzessin ließ sich aber nicht hetzen. »Was denkst du über die Zukunft der Pyramiden?« fragte sie ihn.
78 Schätzungen besagen, daß es etwa sechs Jahre und eine Milliarde Dollar brauchen würde, um die Große Pyramide von Gizeh mit moderner Technologie zu erbauen. Das große Chicken von Itza zu kopieren würde noch mehr Zeit und Geld erfordern – aber das war Colonel Sanders’ Problem. Leigh-Cheris Plan war nicht ganz so ambitiös. Eine Pyramide, ein Drittel so groß wie jene von Gizeh, wäre immer noch ein gewaltiges Bauwerk und entspräche ihren Zwecken ganz gut. »Dein Land grenzt praktisch an Ägypten und hat in etwa die gleiche Bodenfläche«, half die Prinzessin Ibn Fisel auf die Sprünge, »aber die Touristen kommen nie zu euch, weil es bei euch keine Attraktion gibt. Tatsächlich, wenn die Rede auf euer Land kommt, ist das für die meisten Menschen, als zögen sie eine Niete. Wenn einem überhaupt etwas dazu einfällt, sind es Ölquellen, exzessive Profite, religiöser Fanatismus und vulgärer Geschmack. Angenommen, du würdest die erste ausgewachsene echte Pyramide in der Levante seit mehr als dreitausend Jahren errichten. Sie würde nicht nur Touristen aus aller Welt anziehen, sondern diente gleichzeitig als populäres Symbol und könnte eurer Nation eine Identität verpassen. Sie könnte zur Bühne für eure Kultur werden. Sie brächte nicht nur Einnahmen, sondern wäre gleichzeitig eine großartige Reklame. Die Leute würden euch nicht mehr so rasch für neureiche Barbaren mit Petroleum unter den Fingernägeln und Sand zwischen den Ohren halten.« Fisel zuckte bei diesen Worten zusammen, war aber nichts-
destoweniger fasziniert. Ihr Vorschlag leuchtete ihm durchaus ein, als Geschäftsmann und als Patriot. Das Schönste an diesem Pyramidenkuchen allerdings war, daß Leigh-Cheri versprach, ihn zu heiraten, sobald das Bauwerk vollendet wäre. Seine Pyramide würde als gefeiertes Monument von seiner Liebe zu ihr künden, ähnlich wie das Taj Mahal von der Liebe Shah Jahans zu seiner Lieblingsfrau. Fisel gehörte zu jenen rar gesäten Männern auf Erden, die es sich leisten konnten, ihre Zuneigung in so grandiosem Maßstab auszudrücken. Nach vierzehn Tagen der Überlegung – und Beratung mit seinem Daddy – stimmte Ibn zu. Bevor er aber den Diamanten an den Finger der Prinzessin streifte, stellte er seinerseits eine Bedingung. Es war so gut wie überall bekannt, daß seine künftige Braut keine Jungfrau mehr war. Fisel verlangte daher, daß sie während des Pyramidenbaus in seinem Land wohnen sollte – in der Nähe des Fisel-Palasts – und daß sie ihn eine Nacht pro Woche in ihre Gemächer ließe. Da sie die Absicht hatte, den Bau der Pyramide zu überwachen, und da ihr daran gelegen war, Distanz zwischen sich und McNeill Island zu bringen, war Leigh-Cheri gern bereit, in Ibns Land zu ziehen. Was sein Verlangen betraf, allwöchentlich illegal ihr Boudoir aufzusuchen, so stellte sie es zur Wahl. Ihr Herz sagte nein, ihr Pfirsichfisch sagte, es sei verdammt nochmal höchste Zeit. Das Für und Wider im Auge, beschloß ihr Hirn schließlich, mit dem Pfirsichfisch zu stimmen. So wurde die Verlobung angezeigt.
79 Es gab Augenblicke vor ihrem Spiegel, da sah sie, während sie ihr Haar bürstete, das wie Lavabäche herabfloß, das wie die verwobenen Schweife rotglühender Kometen wehte, ein Hurengesicht ihr entgegenblicken. In solchen Augenblicken kam sie sich gefühllos und schmutzig vor, und dann besudelte sie das Spiegelgesicht mit Tränen und bedauerte Mädchenunschuld, romantische Träume und das Verblassen des Mondes. Doch auf dem Platz vor ihren maurischen Fenstern käuten reale Kamele ihr Futter wider, und wenn Leigh-Cheri die Brokatvorhänge beiseite schob, konnte sie Kuppeln, Minarette und Dattelpalmen sehen, ähnlich wie die auf der Zigarettenpackung, und am fernen Horizont wuchs eine Pyramide – ihre Pyramide – rasch empor. Sie würde weiterwachsen, bis zu einer Höhe von 50,1 Meter. Sie würde sich ausdehnen und schließlich knapp zwei Hektar bedecken. Ihre vier dreieckigen Seitenflächen waren so angelegt, daß sie sich in einem Winkel von 51 Grad, 52 Minuten gegen den Boden neigten, genau wie in Gizeh. Natürlich würde die Pyramide exakt nach den Kardinalpunkten ausgerichtet, und Leigh-Cheris Berater von der astronomischen Fakultät Cambridge beteuerten, daß auch für solare, lunare und stellare Ausrichtung gesorgt wäre. Ihre äußeren Kammern sollten an Cafés, Bazars und Night Clubs abgetreten werden (allesamt von erstklassiger Qualität), an eine Handelsmesse und an ein kleines, aber bedeutsames Museum levantinischer Archäologie. Die inneren Kammern würden allein Leigh-Cheri gehören. In ihnen
würde sie umfassende Experimente der Pyramidologie durchführen und beaufsichtigen. Die Pyramidenkraft, jene Energiefrequenz, die Leichen konserviert, Rasierklingen schärft, Gedankengebilde verstärkt und die sexuelle Vitalität vermehrt, würde von den besten wissenschaftlichen Geistern untersucht werden bis zur totalen Aufklärung, und dann sollte jegliche Anstrengung unternommen werden, um sie den Zwecken dienstbar zu machen, die die argonischen Meister im Hinterkopf gehabt hatten. Vielleicht würde sich der Bau ihrer Pyramide auch als Anstoß erweisen, die Rotbärte irgendwie aus dem Exil zurückzurufen, oder es würde eine neue Rasse moderner Rotbärte herangezüchtet werden und schließlich wieder Macht über die solaren Kräfte gewinnen. Wenn sie an derart pyramidale Dinge dachte, und das tat sie eigentlich immer, bedrückte es sie nicht mehr, daß sie Ibn Fisel benutzte oder ihm erlaubte, sie zu benutzen. Dann blickte sie ohne Scham in den Spiegel. Sie bürstete ihr Haar, als wäre es die Morgenröte eines ewigen Mondaufgangs. Und manchmal hob sie die zerknitterte und verkrumpelte Camel-Packung von ihrem Frisiertisch auf und hielt sie gegen den Spiegel – darüber lächelnd, wie das große Wort CHOICE wieder einmal den Umkehrungen der normalen Spiegelung trotzte. Sie hatte das Leben, das sie jetzt führte, frei gewählt, und wenn es auch widerwärtige Aspekte hatte, nun, sie mußte tapfer sein und den Makel ertragen. Das soll nun nicht heißen, daß die Rencontres mit ihrem Verlobten schwere Prüfungen dargestellt hätten. Au contraire, oh, sehr au contraire.
80 Als sie das erste Mal ihre Beine für ihn breitmachte, war das, als öffne sie ihre Kiefer für den Zahnarzt. Wolken der Furcht, des Zweifels, der Verstimmung, Schuld und Sentimentalität verbanden sich, um auch den schwächsten Strahl der Lust zu überschatten. Die Augen fest zusammengekniffen, versuchte sie sich vorzustellen, Bernard sei in ihr, aber dieser neue Mann fühlte sich so anders, so seltsam an, daß ihre Phantasie nie so recht Fuß fassen konnte. In den Wochen, die folgten, entspannte sie sich etwas, vor allem infolge seiner unerwarteten Zärtlichkeit. Die Augen immer noch fest geschlossen, bewegte sie sich um ihn herum, als wäre er ein Apparat aus dem Sex Shop; sie rührte sich mechanisch dem sahnigen Rand eines lang entbehrten Orgasmus entgegen. Als sie schließlich über den Rand hinausschoß – eines Tages, im Morgengrau –, als Weihrauchbrenner das Apartment vollräucherten und Kamelglocken unten im Hof bimmelten, entspannte sie sich weit mehr. Das nächste Mal, als er sich neben ihrem Bett entkleidete, hielt sie die Augen weit offen – und sah, was sie entbehrt hatte. Obwohl Ibn wieder ein aktives Nachtleben aufgenommen hatte – ein letztes Mal vor der Ehe die Diskos aufmischen, so sagte er –, hielt ihn tägliches Konditionstraining im familieneigenen Turnsaal fit. Sein semitischer Zinken hatte eine starke maskuline Kontur; die Zähne, die sein schüchternes Lächeln bewaffneten, waren strahlend und regelmäßig (besonders im Vergleich zu Bernards gelben Wracks), und seine schokoladenfarbenen Augen verströmten edlen Glanz. Sein Phallus war lang, schlank
und schlüpfrig, und geschwungen wie eine phönizische Augenbraue. Einmal erregt, stand er höflich aufrecht, jedoch zurückgebeugt, so daß sein Kopf, glatt und purpurn wie Auberginen, beinah seinen Bauch berührte. Noch bevor Ibn ins Bett klettern konnte, streichelte sie das exotische Gemächt, staunte über seine natürliche Feuchtigkeit, rieb es gegen ihre Brustwarzen, drückte es gegen ihre geröteten Wangen. Der arme Mann bekam kaum die Füße vom Boden, bevor sie das gute Stück auch schon im Mund hatte. Als es in ihrer Kehle zuckte und dabei Strahl um Strahl jenes dampfenden durchsichtigen Kleisters auspumpte, mit dem Cupido die Welt zusammenzuleimen versucht, da war ihr, als schlucke sie kondensierte Ekstase, und es brachte ihr Blut zum Schwirren. Später an diesem Abend konzentrierte sich Ibn mit ungewöhnlicher Sensibilität auf ihre Klitoris, und als er aufstand, um in den Palast zurückzukehren, gab sie ihm zu verstehen, daß ein Stelldichein die Woche eigentlich hieße, Aphrodite übers Ohr zu hauen. »Immerhin bist du ein Scheich, und ich bin eine Rothaarige«, flüsterte sie. Von da an besuchte er sie sowohl mittwochs als sonnabends, und sie vögelten manche Nacht hindurch. Mehr als einmal versuchte Leigh-Cheri sich zu überzeugen, daß sie ihm verfallen war, aber sie wußte, daß sie nur von der Taille abwärts verliebt war. Ganz gleich wie glühend die Pfirsichmuschel sich über ihm ergießen mochte, ihr Herz blieb unberührt. Bei solchen Anlässen, wenn der Pfirsichfisch am überschwenglichsten war, pflegte ihr Herz verdrießlich zu werden, es schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch, zog die Hutkrempe ins Gesicht, ließ eine Zigarette aus mürrischem Mundwinkel baumeln und spazierte stundenlang auf schlecht-
beleuchteten Straßen im Hafen umher. Wenn ein Herz nicht auf eine Vagina hört, worauf sollte es hören? Die Frage blieb unbeantwortet – aber Mittwoch- und Samstagabend verstrichen in physischem Taumel, und mit der Pyramide ging es schneller als geplant voran, bis ein Engpaß bei der Beschaffung von TuraKalkstein für ihre Verkleidung eintrat.
81 Die Moral hängt von der Kultur ab. Die Kultur hängt vom Klima ab. Das Klima hängt von der Geographie ab. Seattle, wo die Austern frohlockten, Seattle, wo die Trolle hausten, Seattle, wo die Brombeeren gleißten, Seattle, wo die Reformschlüpfer des Himmels herabgelassen wurden, Seattle, die Stadt, die ihre Hände mit der Zwanghaftigkeit eines Proktologen wusch – Seattle lag weit hinter ihr, als Rastplatz der Erinnerung auf einem feuchten, tiefen Moospolster. Jetzt lebte die Prinzessin am Rande einer weiten Wüste unter den Segeln der Sonne. Mit der Binnengeographie verhielt es sich genau umgekehrt, da hatte sie den öden Dachboden gegen ein verschwenderisches Apartment vertauscht. Ihre Außenwelt und ihre Innenwelt hatten die Plätze getauscht. Hatte auch ein entsprechender psychologischer Wechsel stattgefunden? Und hatten seine Auswirkungen ihren Moralkodex redigiert? Vielleicht. Leicht. Aber irgend etwas war in der intimen Grenzenlosigkeit des Dachbodens passiert; und wenn es diesen
Umschwung auch nicht negierte, so ließ es ihn doch banal erscheinen. Leigh-Cheri war für die Objekthaftigkeit sensibilisiert worden. Dank der Camel-Packung konnte sie ein Objekt nicht länger verächtlich behandeln. Dank der Camel-Packung war sie vom Chauvinismus des Lebendigen geheilt. Unter ihren Bekannten an der Universität, unter den aufgeklärten Delegierten des Care-Fests hatten diejenigen, die am liberalsten gegen Rassismus, Sexismus und Seniorität angegangen waren, ständig die unbelebten Dinge um sie herum diskriminiert, hatten ihnen Liebe, Achtung, ja selbst Aufmerksamkeit verweigert. Aber obwohl sie sich noch keinen endgültigen Reim auf diese Sache machen konnte, war Leigh-Cheri dahin gekommen, auch das kleinste, toteste Ding anzusehen, als hätte es ein bißchen Eigenleben. Tagsüber, draußen auf der Pyramidenbaustelle, betrachtete sie die Werkzeuge der Arbeiter mindestens mit der gleichen Bewunderung, mit der sie die Arbeiter selbst betrachtete. Ihr Griff verweilte viel länger auf Türklinken, als notwendig gewesen wäre. Sie tätschelte die großen Granitblöcke mit der nachlässigen Zuneigung, die andere für vorbeilaufende Köter aufbringen mochten, und behandelte die Steine, als wären sie individuelle Persönlichkeiten; und die hölzerne Feldflasche, aus der sie ihren Durst stillte, wurde gar ihre ganz spezielle Freundin; sie schätzte ihre Mund-zu-Mund-Berührung und war bereit, sie gegen alle Widersacher zu verteidigen. Am Abend, nachdem sie den Wüstenstaub abgeduscht und eine frische Schicht Zinkoxyd auf den Brand ihrer Nase aufgebracht hatte (Rothaarige verbrennen leicht), pflegte sie durch das Apartment
zu schlendern (vorausgesetzt, es war nicht gerade Mittwoch oder Samstag), um aufs Geratewohl Aschenbecher, Spieldosen, Kaffeetassen, Brieföffner, Kunstgegenstände oder Bonbons aufzuheben und sich in sie einzubohren, bis sich jedes von ihnen zu einer unermeßlichen Welt ausdehnte; jedes Stück ebenso vielfältig und interessant wie jene andere, physisch mobilere Welt, auf die sie wohl neugierig blieb, von der sie aber wieder einmal isoliert war. In einer Gesellschaft, die im wesentlichen darauf angelegt ist, Massenbedürfnisse zu organisieren, zu steuern und zu befriedigen – was sollte es da schon geben, um die stillen Gefilde des Menschen (als einem Individuum) zu versorgen? Religion? Kunst? Natur? Nein, die Kirche hat die Religion zu einem standardisierten öffentlichen Spektakel gemacht, und das Museum hat das gleiche für die Kunst besorgt. Der Grand Canon, die Niagarafälle sind so oft angegafft worden, daß sie steril geworden sind, leergesaugt von zu vielen blöden Augen. Was gibt es, um die stillen Gefilde des Menschen (als einem Individuum) zu versorgen? Wie wär’s mit einem kalten Hühnerschenkel auf einem Papierteller, wie wär’s mit einem grellen Lippenstift, der sich auf dein Kommando verlängert oder verkürzt, wie wär’s mit einem Styropornest, von einem Vogel verlassen, den du nie gekannt hast, wie wär’s mit einem Scheibenwischerpaar, die einander vergeblich verfolgen, während du allein durch einen Wolkenbruch nach Hause fährst, wie wär’s mit irgend etwas unter deinem Kinosessel, das von deinem Schuh berührt wird, wie wär’s mit Bleistiftstummeln, niedlichen Gäbelchen, kleinen dicken Radios, Baumrindenbröckchen und Blasen an der Wand einer Badewanne? Ja, all diese Dinge, diese
Drachenschnüre, Olivenölbüchsen und nougatgestopften Valentinherzen sind es, die das Band zwischen der autistischen Vision und der empirischen Welt knüpfen; all diese Dinge in ihrem wahren geheimnisvollen Licht zu erkennen, das ist der Zweck des Mondes. Eines Mittwochabends, als sie neben Ibn Fisel lag und nach einer vier-viertelstündigen-doppelt-überlangen Kopulation eine Verschnaufpause eingelegt hatte, erschreckte Leigh-Cheri sich selbst und ihren Zukünftigen, indem sie sich plötzlich im Bett aufsetzte, den Vaselinetopf packte, den sie im Mondlicht betrachtet hatte, und laut fragte: »Was ist nur mit der goldenen Kugel passiert?«
82 Mit der Zeit wurde Leigh-Cheri vertraut mit den meisten unbelebten Objekten ihrer Umgebung, einschließlich jenes unbelebten Objekts, das die Fortpflanzungszyklen aller lebenden Geschöpfe regelt, jenes unbelebten Objekts, das die Gezeiten choreographiert, jenes unbelebten Objekts, das die geistige Gesundheit beeinflußt, jenes unbelebten Objekts, das J. Isaacs im Sinn hatte, als er schrieb: »… die Geschichte der Dichtung aller Epochen ist der Versuch, neue Bilder für den Mond zu finden.« (Der Mond ist die Königin der Objekte, und als Ausübende der Lunazeption war Leigh-Cheri mit ihm im Bunde.) Es gab jedoch ein Objekt in ihrer Sphäre, das sie gewissenhaft
übersah, auch wenn dieses Objekt durch den Mondschein besonders belebt wurde. Das war ihr Verlobungsring. Höchstwahrscheinlich hatte sie Angst vor dem, was der Ring symbolisierte. Als Liebhaber hatte sie Ibn Fisel voll akzeptiert, aber wenn sie an ihre Hochzeit dachte, begann sie zu zittern und zu schwitzen. Immer wenn sie versuchte, sich als seine Braut vorzustellen, wurde sie verdrießlich und beschloß, statt dessen an die Pyramide zu denken, ungeachtet der Tatsache, daß der Tag der Vollendung der Pyramide und ihr Hochzeitstag ja zusammenfielen. In Fisels Land war es für ein verlobtes Paar tabu, zusammen in der Öffentlichkeit aufzutreten. Daher sah sie ihn, außer an den schlüpfrigen Mittwochabenden und in den glitschigen Samstagnächten, selten. Ibn beschaffte Materialien für den Pyramidenbau und organisierte die Arbeitskräfte. Darin war er so tüchtig, daß das Projekt, für das ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren vorgesehen war, so aussah, als könnte es schon nach zwanzig Monaten fertig sein, ungeachtet des Lieferverzugs bei der Kalksteinverblendung. Doch Ibn war selten auf der Baustelle anzutreffen. Als eingefleischter Nachtclubber flog er häufig um der Orgie eines einzigen Abends willen nach Rom oder Mikonos; dann verschlief er die Vormittage und verbrachte die Nachmittage mit anstrengenden Gymnastikstunden, Pampelmusen und rohem Knoblauch. Er hatte einen Satelliten geleast, um Telereportagen von jedem Spiel der amerikanischen Basketball-Profimannschaft empfangen zu können, deren Konzession er besaß, und vermutlich beanspruchte das Sportbusineß einen ziemlich großen Teil seiner Aufmerksamkeit. In der Woche, als Leigh-Cheri in seinem Land eintraf, wurde
sie mit einem Empfang im Familienpalast geehrt, wo sie auch den Patriarchen Haj Fisel kennenlernte, einen der finanzstärksten Männer jener Zeit. Sie wurde auch Ibns beiden Brüdern vorgestellt. Die Mutter gab nur einen kurzen Auftritt, die Schwestern zeigten sich überhaupt nicht. Als Leigh-Cheri nach den Frauen fragte, zuckte Ibn die Schultern. »Ist unwichtig«, sagte er. Leigh-Cheri bekam den Eindruck, daß Frauen im Land der Fisels wenig zählten, und dies war zweifellos ein Grund dafür, daß sie den Diamantring mit ebenso verhaltener Begeisterung ansah, wie die meisten Menschen Zigarettenschachteln ansehen – sie schaute, beschloß aber gleichzeitig, nicht zu sehen. »Was ist diese goldene Kugel, für was du Neugierigkeit hast?« fragte Ibn in jener Nacht, als das Thema unvermittelt aufgetaucht war. Leigh-Cheri antwortete nicht. Sie konnte nicht antworten. Sie war in die stille Zone eingetaucht, wo reglos zu werden anderswo zu sein heißt. »Wenn du diese goldene Kugel willst, ich kaufe sie. Du mußt nicht kümmern um Kosten.« Sie antwortete noch immer nicht. Als er bemerkte, daß sie den Vaselinetopf, durch dessen verschämten und doch sinnlichen Glanz sie wie versteinert innehielt, noch immer festhielt, und sich daran erinnerte, daß in Amerika ›ball‹ ein SlangEuphemismus für Koitus sei, begann Ibn sich zu fragen, ob ›golden ball‹ nicht irgendeine besondere Art des Geschlechtsverkehrs bezeichnen könnte, die er nicht beherrschte. Vielleicht bedeutete es sexuelle Perfektion, den äußersten ›ball‹, und vielleicht hatte er versäumt, diesen zu bringen, und vielleicht
sollte die Vaseline ihm dabei helfen. Zum erstenmal im Leben von Stichen des Selbstzweifels befallen, fragte er schmollend: »Dieser goldene Ball, er ist etwas, was du mit dem BuntspechtMann gehabt hast?« Ibn hatte den Buntspecht noch nie zuvor erwähnt, und das war aufrüttelnd genug, um Leigh-Cheri aus ihren Träumen zurückkehren zu lassen, obwohl der Ausdruck »zurückkehren« in diesem Fall in die Irre führt, weil im Reich des meditativen Tagtraums die einzige Art, »hinzugehen« paradoxerweise total »hier zu sein« heißt. »Äh, uh, eigentlich nicht«, stotterte sie. Sie stellte die Vaseline auf den Nachttisch zurück und wendete ihren Blick vom Meeresleuchten seines schimmernden Schleims ab. »Eh, äh, er hat einmal etwas zu mir gesagt. Ich versteh erst jetzt, was er damit meinte.« Fisel akzeptierte ihre Erklärung, so ungenau sie auch war, und protestierte auch nicht, als das Gesprächsthema auf Kalkstein überwechselte. Am nächsten Morgen aber schickte er Botschaften an die Zollbeamten aller Einreisestationen zur Arabischen Welt und verlangte, daß jeder Reisende, der einen Paß auf den Namen Bernard Mickey Wrangle bei sich führe, abgewiesen werden sollte. Nötigenfalls mit Gewalt.
83 Kaum einen Monat später, glaubt es oder glaubt es nicht, stieg ein Mann, der genau solch einen Paß bei sich führte, in Algier aus dem Flugzeug. Als ihm mitgeteilt wurde, daß er nicht nach Algerien einreisen könnte, fing er eine Schlägerei an und wurde in Gewahrsam genommen. Ibn Fisel wurde benachrichtigt. Fisel sandte dem algerischen Polizeikommissar eine Kiste Cognac, ein Fäßchen Kaviar und eine Reitgerte mit Perlengriff, die einst König Faruk besessen hatte. »Wrangle ist ein gefährlicher internationaler Gewaltverbrecher mit zionistischen Verbindungen«, kabelte Fisel. »Er sollte unter äußersten Sicherheitsvorkehrungen in Haft genommen werden. Unbefristet. Welches Auto entspricht mehr Ihrem Geschmack, Kommissar, der amerikanische Lincoln Continental oder der deutsche Mercedes-Benz?« Dann machte sich Fisel daran, den Bautrupp an der Pyramide um hundert Mann zu verstärken. Die Arbeit sollte rund um die Uhr fortgesetzt werden, bis die Kalksteinverblendung angebracht wäre und die inneren Kammern Leigh-Cheris Anforderungen entsprächen. Fisel befahl seiner Palastgarde, die Vorbereitungen für die Hochzeit zu beschleunigen.
84 Man sollte meinen, daß eine elektrische Schreibmaschine etwas Besseres zu tun hätte, als die Hand zu beißen, die die Stromrechnung bezahlt. Doch die Remington SL3 in ihrer wollüstigen Hingabe an langweiliges technologisches Nützlichkeitsdenken vereitelt hartnäckig alle Bemühungen um altmodischliterarisches Genie. Man sollte meinen, daß eine Frau, die von der Idee besessen war, im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts eine Pyramide zu bauen, etwas Besseres zu tun hätte, als den einzigen Mann, der das möglich machen könnte, zu verärgern. Aber Leigh-Cheri hatte Ibns Umarmung zurückgewiesen und sagte schneidend: »Warum zum Teufel werde ich bewacht? Wieso stolpere ich jedesmal, wenn ich mich umdrehe, über diese zwei Hammelköpfe?« Leigh-Cheris Begeisterung für Sex entzückte und beängstigte Ibn Fisel gleichermaßen. Vor Monaten hatte er insgeheim einen Eunuchen beauftragt, ein wachsames Auge auf sie zu werfen, um sicherzugehen, daß ihre Leidenschaften nicht so steuerlos wären, daß sie sie in die Arme eines anderen trieben. Immerhin war sie oft sich selbst überlassen, und er war sich nicht sicher, ob zweimal Service die Woche ausreichten, um ihren rassigen Motor zu kühlen. Als er erfuhr, daß ein Bernard Mickey Wrangle in Algier verhaftet worden war, hatte Ibn die Wache verdoppelt. Und es war Leigh-Cheri nicht verborgen geblieben, daß das Pärchen draußen vor ihrer Tür kampierte. »Diese Männer, von denen du lahme Hammel sprichst, sind
von mir vertraut. Sie sollen – « »Mir nachspionieren.« »Nein. Nein!« Mit Nachdruck schüttelte er den Kopf. »Sie sollen dich beschützen.« »Wovor?« »Vor böse Männer. Du könntest kidnap. Männer, die euer Television ›Terroriste‹ nennt, tun solche Sachen. Sitten im Nahen Osten sind dir nicht vertraut.« Das hätte sie beruhigen sollen. Sie war sich bewußt, daß Entführungen und Flugzeug-Hijackings recht verbreitete politische Taktiken in jenem Teil des Globus waren. Doch rotes Haar legt sich nur langsam wieder flach, wenn es einmal seine Bälge aufgestellt hat, und ihre aufsässige Stimme verlangte danach, sich auszudrücken. »Ich bin mit den Bräuchen im Mittleren Osten gut genug vertraut, um zu wissen, daß Moslems am Sonnabend nicht essen oder Liebe machen. Warum besuchst du mich immer am heiligen Tag? Ein Tag, an dem du nicht wagst, dich in einer Disko blicken zu lassen, ja? Deine Landsleute weigern sich, sonnabends an dieser Pyramide zu arbeiten, und du mußt Griechen anheuern. Ich wette, sie wissen nicht, wie du deinen heiligen Tag verbringst. Kein Fleisch am Sonnabend, Ibn. Richtig? Kein Fleisch am Sonnabend.« Die Lider fielen wie Einwickelpapier über seine Schokodrops-Augen. Ein schuldbewußtes Zucken suchte Zuflucht in seinem linken Mundwinkel. »Vielleicht ich bin zu lange in Amerika«, sagte er weich. »Vielleicht ich zu viel verwechsle Mekka zwischen deinen Schenken.« Leigh-Cheri mußte lachen. »Schenkel, Ibn.« Sie öffnete ihr
Negligé und tätschelte sich. »Dies nennt man Schenkel.« Seine Augen wässerten. Seine Unterlippe zitterte wie eine Schnecke, die gerade die Bedeutung von Spargel erfahren hat. Jetzt tat er ihr leid, und sie fing an, Zittern, Zucken und Tränen fortzuküssen. Bald stießen die vergessenen Wächter einander in die Rippen und grinsten über die frevelhaften, aber nicht unheiligen Geräusche, die aus dem Apartment entwichen.
85 »Jetzt dauert’s nicht mehr lange«, sagte Leigh-Cheri zu einem Löffel. Die maurischen Architekten hatten die Angewohnheit, ihre Fenster wie Schlüssellöcher aussehen zu lassen, und die rothaarige Prinzessin stand an einem solchen Fenster, als wär sie ein blutunterlaufenes Auge, das durchs Schlüsselloch der Pyramide beim Anziehen zusah. Es war Sonntag, seltsamerweise in der muslimischen Welt ebenso milchig und gedämpft, wie er es in der Christenheit war. Die Tagschicht, hauptsächlich griechische und jugoslawische Maurer – die sonnengewieften Araber zogen es vor, nachts zu arbeiten–, war dabei, die Kalksteinverblendung anzubringen, aber Leigh-Cheri hatte sich einen freien Tag genehmigt. »Jetzt dauert’s nicht mehr lange«, sagte Leigh-Cheri. Ob eine Spur von Angst in ihrer Stimme lag, konnte der Löffel nicht sagen. Ibn hatte sie am Vorabend gut genommen, und sie hatte
ziemlich lange geschlafen. Sie trödelte mit ihrem Frühstückstee und widmete ihre Zeit dann dem Spiel mit dem Teelöffel. Es war Mittag, wie’s nur Mittag sein konnte, als sie ans Fenster trat und über die schattenlose Stadt blickte, flach, gebleicht und durcheinandergewürfelt wie ein Beinhaus, wie ein Rentnerpicknick für ausgediente Schulkreiden. Auch die Pyramide strahlte weiß in der Mittagssonne. Trotz der großen Hitze schien die City kalt. Sie würde ihrem amerikanischen Temperament wohl ewig fremd bleiben. Aber die Pyramide … Die Pyramide war für Leigh-Cheri real, realer als die Bauten ihrer eigenen Gesellschaft. Wie kann ein Ding realer sein als ein anderes? Vor allem, wenn es unergründlich und geheimnisvoll ist? Vielleicht wird ein Ding, wenn es als absolut unmittelbar und doch als absolut unnötig empfunden wird, absolut unverfälscht. Es ist real für sich selbst, und, um Realität zu haben, nicht auf äußere Bindungen oder Verbindungen angewiesen. Je mehr emotionale Werte, die einem Ding zugeschrieben werden, je mehr Zwecke, denen es zugeführt werden kann, je mehr Effekte, die es bewirkt, desto mehr Illusionen erzeugt es. Illusionen sind, wie manche Werte auch, abstoßend und falsch. Gerade Linien und glatte Oberflächen jedoch strahlen immerwährende Realität aus. Besonders, wenn keine utilitäre Funktion zu erkennen ist. Die geometrische Figur einer Pyramide erlaubt es dem Auge, um ihre Ecken zu sehen. Wir brauchen nicht um sie herumzugehen, um sie vollständig zu kennen. Ihre Vorderseite sehen, heißt, ihre Rückseite sehen. Tatsächlich ist ihre Vorderseite ihre Rückseite. Eine Pyramide ist ursprünglich. Sie ist Form, nicht Funktion. Sie ist Gegenwart, nicht Wirkung. Auch wenn wir sie
nur einen Augenblick lang sehen, lesen wir sie weiter. Sie nährt uns immer und immer wieder. Eine Pyramide ist unergründlich und geheimnisvoll, nicht obwohl sie elementar ist, sondern weil sie elementar ist. Frei von der hypnotischen Hysterie des Mechanismus, der betäubenden Apathie des Elektronischen und der tödlichen Verderbnis des Biologischen, ruht sie in leerer Pracht zwischen Raum und Zeit, beiden entrückt, keines von beiden repräsentierend, und hilft mit, den Fortschrittsmythos zu neutralisieren. Natürlich dachte Leigh-Cheri nicht in Begriffen geometrischer Wahrheit über die Pyramide nach. Selbst der geistige Prozeß, der ihre Theorie speiste, hatte sie nicht sehr weit in das Ozon der Erklärungen hinaufgetragen (die wissenschaftliche Analyse ist der wahre »leere Weltraum«, frostige Lichtjahre von den soliden Freuden der Erde entfernt), und sie war zu jung, um sich daran erinnern zu können, wie Conny Francis einst sang: »Is it really real?« Wenn Leigh-Cheri die Pyramide, ihre Pyramide anschaute, erlebte sie lediglich ein Schwindelgefühl, als hätte sie ihre Hand in die Gesäßtasche des Schicksals geschoben. Sie hielt den Teelöffel vor ihre Augen und bewegte ihn über die Linien des Horizonts, bis das ferne Monument in seiner Höhlung zu liegen schien. Dann tat sie so, als steckte sie sich die Pyramide in den Mund. »Mmmm«, sagte sie. »Fehlt noch Salz.« Falls Angst in ihrem Scherz lag, der Löffel konnte es nicht sagen.
86 Es war einmal (um ein Wort aus der Geschichte zu entlehnen, mit der Gulietta Leigh-Cheri bleibend geprägt hatte) ein klappriger, mißhandelter, alter Packesel von einem Lastwagen, rostig, staubig und vom Scheinwerfer bis zur Heckklappe mit den wenigen Habseligkeiten und vielen Kindern einer OkieObstpflückerfamilie bepackt, der kam ratternd auf dem Highway gegenüber einer Straßenkreuzungstankstelle im Walla Walla Valley zum Stehen. Ein Kind, etwa zwei Jahre alt und noch in den Windeln – tatsächlich trug es sonst nichts am Leib – kletterte vom Lastwagen herunter, der aus seinem Auspuffrohr Öltropfen von der Größe der Früchte des Zorns spritzen ließ wie Springbohnen. Das Kind trippelte über die Bitumendecke. Obwohl anscheinend männlichen Geschlechts, drängte es in die Damentoilette der Tankstelle, wo es eine, wie es schien, übertrieben lange Zeit verweilte. Vielleicht hatte es Schwierigkeiten mit den Windelclips. Mittlerweile stampfte der Okie am Steuerrad ungeduldig aufs Gaspedal, und die schmutzigen Kids auf der Pritsche trommelten mit den Fäusten auf das Kabinendach. Schließlich – der nackte Fuß des kleinen Taps tauchte gerade wieder aus der Toilette auf– ließ der Fahrer die Kupplung knallen, und der Lastwagen schlingerte davon. Das Kind starrte dem entschwindenden Vehikel ungläubig nach, dann trippelte es hinterher. »Wartet auf Baby«, schrie es. »Wartet auf Baby, ihr Hurensöhne!« Diese Szene wurde von einem gewissen Dude Wrangle beobachtet, einem einstigen Rodeoreiter und gescheiterten Holly-
wood-Cowboy (daher der schnaftige Name, Dudes ursprünglicher Name lautete Bernie Snootch, oder so ähnlich), der in seiner Lebensmitte ein wohlhabender Zwiebelrancher geworden war. Als der Lastwagen weder anhielt noch umkehrte, kaufte Dude dem Taps eine Pepsi und lud ihn ein, sich in sein Cadillac-Cabrio zu setzen. Der Kleine war mißtrauisch, aber die Verlockung des Caddie war zu stark, als daß er widerstehen konnte. Dude hatte Mitleid mit dem Kind und bewunderte zugleich seinen Charakter. Auch seine roten Locken gefielen ihm und die Sommersprossen, die rosig schimmerten wie subkutane Wunden. So setzte er sich zu ihm, ließ für ihn das Radio spielen und fütterte ihn mit Hostess Twinkies, bis es dämmerte. Dann, in der festen Überzeugung, daß die Wanderarbeiterfamilie nicht zurückkehren würde, fuhr Dude ihn, Sommersprossen und alles Drum und Dran, zur Cry-Me-aRiver-Zwiebelfarm. »Hi, Kathleen. Hi, Kathleen. Tut mir leid, daß ich so spät komme, aber es ist ‘ne harte Arbeit, ganz allein ‘nen Kleinen zu machen. Besonders wenn der kleine Schurke, verdammt noch mal, schon zwei Jahre ist. Hier, komm und sag mir, wie hab ich das gemacht. Sag mir, wie hab ich das gemacht.« Einige Jahre zuvor hatte Dude Wrangle einer jungen Philosophieprofessorin die Füße unterm Leib weggefegt, und sie hatte Spinoza gegen einen seidenbehemdeten Satyr, ein ungestrichenes Ranchhaus und soviel von den berühmten Walla Walla-Süßzwiebeln eingetauscht, wie sie nur essen konnte. (Bevor sie am Whitman College lehrte, hatte sie geglaubt, die Walla Walla-Süßen spielten Billard gegen die MinnesotaDicken.) Kathleen hatte ein hübsches Gesicht und einen glän-
zenden Intellekt, aber verlötete Leitungen. So sehr sie’s auch versuchten, sie kriegten sie nicht schwanger. Sie war überwältigt von diesem fix und fertigen Kind, das Dude ihr zuschob. Sie badete es postwendend und steckte es dann in ihr eigenes Bett. Sie blieb die ganze Nacht wach, um es anzusehen. Baby wimmerte ein bißchen, bevor er einschlief, aber der Morgen fand ihn fröhlich und nicht allzu erpicht darauf, mit den Hurensöhnen wiedervereinigt zu werden. Dies geschah im Walla Walla Valley, im östlichen Teil des Washington State, zweihundert Meilen und zweihundert Gähner von Seattle entfernt, dort, wo die Äpfel ihr Kinn aneinanderstießen und der Himmel einfach zu blau war, um geschmackvoll zu sein. Im Dialekt der einheimischen Indianer bedeutete walla Wasser. Als die Indianer zum ersten Mal auf ein fruchtbares Tal stießen, in dem die Bäche und Flüsse nur so jodelten, schlugen sie sich auf die Schenkel und nannten den Ort Walla Walla. »Wasser hier, und jede Menge«, »Ein weitaus größeres Ausmaß an Feuchtigkeit, als man es in diesen sandigen Gebieten zu finden gehofft hätte«, oder, im Ethno-Lingo, das den Weißen so gefällt, »Land der vielen Wasser«. Wäre das Tal wirklich feucht gewesen, hätte es Kanäle, Sümpfe und Lagunen gehabt, dann hätten sie es wahrscheinlich Walla Walla Walla genannt. Vielleicht sogar Walla Walla Walla Walla. Wären diese Indianer jemals auf den Puget Sound in der Regenzeit gestoßen, dann hätte ihr Wallern praktisch kein Ende gefunden. Dude Wrangle war in Walla Walla geboren und aufgewachsen, was die Tatsache erklären könnte, daß er sich als Kind die lästige Angewohnheit zulegte, alles zweimal zu sagen. »Bitte,
darf ich? Bitte, darf ich?« »Ich hasse stinkende geschmorte Tomaten. Ich hasse stinkende geschmorte Tomaten.« »Pi. Pi.« Diese Idiosynkrasie legte er niemals ab, und es war vor allem dieser Gewohnheit, seinen Text zu wiederholen, zu verdanken, daß er beim Film gescheitert war. Kein Regisseur wollte die Polizeipatrouille zweimal sagen lassen: »Fangt sie am Paß ab«, und irgendwie verdarb es die Stimmung eines spannungsgeladenen Abends auf Comanchen-Territorium, wenn der Held sagte: »Ist wirklich ruhig hier heut abend. Ist wirklich ruhig hier heut abend.« Yeah, Wrangle, es war wirklich ruhig, bevor du zu labern anfingst. Von den Wrangles adoptiert, gewöhnte sich das Baby an Dudes Wiederholungen, und aus diesem Grund fühlte er sich wahrscheinlich Jahre später in Hawaii so zu Hause. Loma Loma, Mahi Mahi. Während er auf der Cry-Me-a-River-Zwiebelfarm heranwuchs, lernte der ausgesetzte Rotschopf von Kathleen Philosophie und von Dude die Manieren und Macken eines DrugstoreCowboys. Jedermann in Walla Walla nannte ihn Baby, denn bis er fünfzehn war, hatte er keinen anderen Namen. Mit fünfzehn verfrachtete man ihn auf ein Luxusinstitut in der Schweiz, weil Kathleen nicht wollte, daß er sich zu einem der Walla WallaRüpel entwickelte und Dude sowohl über die Quantität als auch die Qualität der Scherereien entsetzt war, in die er auf der Grundschule geriet. Am Abend vor seiner Abreise nach Genf teilten sich Dude und Kathleen eine Quart sourmash hootch und tauften ihn Bernard Mickey. Ein bißchen verkatert trafen die drei am nächsten Tag viel zu spät auf dem Spokane Airport ein, und Bernard Mickey mußte
rennen, um sein Flugzeug noch zu erwischen. Als er zur Gateway raste, schrie er: »Wartet auf Baby! Wartet auf Baby, ihr Hurensöhne!« Er sah sich über die Schulter nach seinen Pflegeeltern um, lachte wild und warf ihnen einen Kuß zu. Auch sie lachten und warfen Küsse. »Putz immer schön deine Nase, Schatz«, sang Kathleen. Und Dude brüllte: »Mach uns keine Schande, hörst du. Mach uns keine Schande, hörst du.« Nun, auch wenn er inmitten von Weitschweifigkeit aufgewachsen war, sollte man doch annehmen, daß einem hippen Typ, als der Bernard Mickey Wrangle sich entpuppen sollte, nicht mehr als einmal hätte von einem algerischen Gefängniswächter mit Maschinenpistole befohlen werden müssen, stehenzubleiben. Sollte man das nicht annehmen?
87 Leigh-Cheri erfuhr von der Schießerei erst einen Monat nachdem sie vorgefallen war. Königin Tilli war es, die sie benachrichtigte. Auf Guliettas Verlangen bezahlte Max’ Heimatland diesem eine nennenswerte Summe, damit er sich in Würde, unabhängig von der amerikanischen Regierung, zur Ruhe setzen könne. Max teilte das Kapital sogleich, gab Tilli die Hälfte und nahm seine Hälfte mit nach Reno, wo er spielen wollte, bis sein Ventil durchbrannte. Er stieg in einem bescheidenen Hotel ab und
ging jeden Morgen in die Casinos, Selbstmord begehen, mit Hilfe des Glücksrads. Er telefonierte zweimal die Woche mit Tilli und versicherte ihr stets, daß er Geld gewinne und sich guter Gesundheit erfreue. »Ich fühle mich besser, weg von den Brombeeren«, sagte er. Die Königin argwöhnte, er könnte flunkern, um ihre Sorge zu beschwichtigen; daher arrangierte sie auf ihrem Weg in den Mittleren Osten, zu Leigh-Cheris Hochzeit, einen Abstecher nach Reno. Zu ihrer Überraschung fand sie ihren Mann in aller Munde. Er war der große Gewinner der Saison, und jeder, von den CasinoManagern über die Star-Entertainer bis hin zu den Taxifahrern, grüßte König Max. Er verlangte wenig, gab aber um so mehr Trinkgeld. Er machte Stiftungen an die örtlichen Wohlfahrtswerke. Er spendierte Türstehern Drinks und sandte Cafékellnerinnen Blumen von der Sorte, wie andere große Gewinner sie an Show Girls sandten. Was sein Herz betrifft, so tuckerte es weiter, obwohl die Ärzte warnten, es könne jeden Moment entgleisen. »Ich bete nur, daß es am Roulettetisch sein wird«, sagte Max und ließ ein drittes Zuckerstück wie eine Wasserbombe in seinen Tee fallen. »Ich werde alles bis auf den letzten Cent auf dreizehn Rot setzen und, Gewinn oder Verlust, wie ein König sterben.« Während Tilli in der Hotel-Lobby saß und darauf wartete, daß Max zum Frühstück herunterkäme – er hatte bis 3 Uhr nachts gespielt –, stieß sie auf den Artikel. Sie hatte ein Exemplar eines Undergroundblättchens, des Philadelphia Drummer, aufgehoben, das ein Pärchen bärtiger junger Männer mit Rucksäcken auf einem Sofa in der Lobby zurückgelassen hatten. Tilli hatte vor, die Zeitung auf dem Fußboden ihres Zimmers auszu-
breiten, damit der Chihuahua sein Geschäftchen darauf verrichten könnte und nicht den Teppich beschmutzte. Als sie den Drummer in ihre Handtasche stopfte, blieben ihre Augen an einem Artikel hängen, der einen Zwischenfall in Algier betraf. Einer Exklusivmeldung zufolge hatten algerische Sicherheitsbeamte einen amerikanischen Staatsbürger, Bernard Mickey Wrangle (36), der in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern unter dem Namen Buntspecht eine berüchtigte Bande von bombenwerfenden Kriegsdienstverweigerern angeführt hatte, mit Maschinenpistolen erschossen. Algerien wolle den Zwischenfall vertuschen, so behauptete der Artikel, doch, fuhr er fort, sei es in der Kasbah kein Geheimnis, daß Wrangle, nachdem er kurz vorher wegen eines Paßvergehens verhaftet worden war, getötet worden sei, weil er zu fliehen versucht hatte. »Oh-oh, Spaghetti-O«, äußerte Tilli. Ihr Hündchen glitt von ihrem Schoß. Sein Kläffen machte kurzen Prozeß mit ihrer nächsten Bemerkung.
88 »Weißt du, Tilli, ich kann nichts dafür, aber es tut mir ein bißchen leid um Wrangle.« Der König goß Ahorn-Sirup auf seine Waffel. Der Sirup bildete Pfützen in den Grübchen der Waffel, ähnlich wie die Wünsche in den Falten des Gehirns. »Ich verabscheue, wofür er eintrat, aber ich muß die Tatsache bewundern, daß er für etwas eintrat, daß er bereit war, den
Braten zu tranchieren, statt zu warten, bis irgendein Höhergestellter ihm einen Knochen hinwirft. Er war ein besserer Umgang als diese Umweltschützer, die Leigh-Cheri dauernd nach Hause schleppte. Außer, daß er Brombeeren auf den Hausdächern von Seattle pflanzen wollte. Mein Gott! Barbarisch!« Max’ Herzklappe imitierte einen Roboter, den Bauchgrimmen plagte. »Es heißt in diesem Artikel – reich doch mal die Butter rüber –, daß Wrangle im Verdacht stand, damals einundsiebzig mitgeholfen zu haben, ein Linienflugzeug nach Kuba zu entführen. Aber er war kein Marxist. Er tat es aus allgemeiner Verachtung für den Staat. Was bringt einen intelligenten, mutigen Mann dazu, das Gesetz in solchem Maß zu mißachten? Bei Glücksspielen spielt man nach den Regeln. Die Regeln geben dem Poker seine Form, seine Substanz, seine Spannung, sein Leben. Poker ohne Regeln wäre sinnlos und langweilig. Und diejenigen, die die Regeln nicht einhalten, können nicht zum Spiel zugelassen werden. Früher hat man sie erschossen. Ich schätze, das ist unserem Mr. Wrangle nun auch passiert. Mehr Sirup.« »Bei Gesundheit es giebt auch Regeln«, sagte Tilli, »and du biest der Schlimmste, wenn es ist, sie zu brechen. Nein! Kein mehr Sirup, du Gesetzbrecher.« »Wenn ich den Anordnungen des Arztes nicht gehorche, Tilli, betrifft das nur mich. Sollte ich die Regeln beim Poker brechen, würden alle am Tisch die Folgen spüren. Das hat Wrangle getan, und das ist der Grund, warum er tot ist. Natürlich bin auch ich bald tot, aber ich bin vierzig Jahre älter als er, und der Tod ist für mich keine Strafe, für mich ist er eine Belohnung.« Ein Lächeln zerknitterte die Aluminiumhaut von Max’ DC
10-Gesicht, eine Art Materialermüdung. »Na, sollte ich ihm in der nächsten Welt über den Weg laufen, werden wir einen amüsanten Plausch haben. Er war – « »Alles diss ist nicht därr Punkt«, sagte Tilli und wischte sich den Sirup von dreien ihrer vier Kinne. »Därr Punkt iest, daß er getötet ist, und ich sprach vorvorgestern abend mit Leigh-Cheri an därr Telefon, uns sie weiß nix von diss. Sollte ich ihr sagen oder nicht?« »Natürlich solltest du ihr sagen. Sie hat ein Recht zu wissen. Es gibt keinen Grund, seinen Tod zu verheimlichen. Sie ist nicht mehr in ihn verliebt.« Es folgte eine Pause, in der Max über seine Worte nachdachte. »Aber, äh, Tilli«, sagte er schließlich. »Ich würde warten und es ihr erst sagen, wenn sie verheiratet ist. Okay?« »Wenn du so denkst.« Tilli wickelte Speckscheiben in eine Serviette, um sie ihrem Köter mitzubringen. »Hast du dies gelesen? Angeblich ist Wrangle im Monat Dezember in Havanna gelandet. Er war überrascht festzustellen, daß die Kubaner, seit sie Kommunisten waren, nicht mehr Weihnachten feiern. Als er dann Fidel Castro traf, nannte Wrangle ihn einen ›rebel without a Claus‹. Haha. Das war ‘n Joker, äh?« Tilli kapierte nicht.
89 Es mußte da einen Augenblick geben, einen einzigen für sich stehenden Augenblick, birnenförmig, bebend und radiumkonturiert, als Beethoven die letzte Note seiner Fünften Sinfonie tuschte, als Shakespeare das Wort wählte (»feuern«), das den Hamlet vollendete, als Leonardo den Pinselstrich anbrachte, der die Mona Lisa in den Louvre Express gesetzt hat. Ein solcher Augenblick ereignete sich, zumindest im Geiste der Prinzessin Leigh-Cheri, als die letzte Verblendeplatte am Gipfelpunkt der modernen Pyramide an Ort und Stelle einzementiert wurde. Deprimiert und freudig erregt zugleich (wie es auch Beethoven, Shakespeare und Leonardo gewesen sein mochten) konnte sie nur sagen: »Fertig.« Ihre wahre Aufgabe hatte natürlich erst begonnen. Wie Manly P. Hall sagt: »Alle Weisheit, die die Alten besaßen, scheint im Bau der Großen Pyramide zusammengefaßt, und der (sic), der ihr Rätsel löst, muß zwangsläufig so weise sein wie der (sic), der sie ersann.« Leigh-Cheri versuchte nicht gerade, das Rätsel der Großen Pyramide zu lösen, aber sie war wohl bestrebt, die besonderen Eigenschaften von Pyramiden im allgemeinen und deren Anwendung zur Besserung der menschlichen Rasse zu verstehen, und sie war sich bewußt, daß sie und ihr Wissenschaftlerteam Fähigkeiten benötigen würden, die über den Rahmen des Üblichen hinausgingen. Sie war sich auch ihres Mangels an Erfahrung bewußt, der schrecklichen Unwissenheit, die sie in dieses Unternehmen einbrachte. Im geheimen zählte sie auf die Rot-
bärte, daß sie irgendwie eingreifen würden … Wie dem auch sei, sie war fertig. Die ihre. Hm, beinah die ihre. Ibn hatte versprochen, sie ihr als Hochzeitsgeschenk zu verehren, unter der Bedingung, daß sie ihre äußeren Kammern kostenlos an seine Regierung vermietete. In zwei Tagen also würde sie ihr ureigenstes Spielzeug sein, das größte, schwerste, teuerste, perfekteste Spielzeug auf Erden. Und doch, so sehr sie’s auch versuchte, schaffte sie es nicht, die Pyramide ausschließlich als die ihre zu betrachten. So sehr sie das gewaltige Ei ihrer Träume war – sie konnte sich ihr nicht nahe fühlen. Der Dekan für unbelebte Objekte am Outlaw College würde die Fremdheit der Pyramide, verglichen mit der Intimität der Camel-Packung, auf ihre relative Größe zurückführen. Objekte, die kleiner sind als der menschliche Körper, sagt der Dekan, besitzen die Eigenschaft des Privaten. Objekte, die größer sind als der menschliche Körper, besitzen die Eigenschaft des Öffentlichen. Je größer das Objekt, desto weniger privat und desto öffentlicher seine Seinsweise. Wir könnten den Dekan, vorausgesetzt, er würde seine Nase aus der Tequilaflasche oder aus dem Höschen seiner Freundin rausziehen, über den Mond befragen. Der Mond ist höllisch viel größer als die größte Pyramide und kann von viel mehr Menschen zur gleichen Zeit gesehen werden. Der Mond ist so öffentlich wie ein Ding nur sein kann. Und doch versäumt es der Mond selten, ein Gefühl der Intimität heraufzubeschwören. Nachdem zwei der Haupteigenschaften des Mondes – Licht und Gravitationsanziehung – uns direkt und persönlich beeinflussen, könnten wir logischerweise annehmen, daß dies die Quelle seiner Intimität sei. Unglücklicherweise ist Logik am Outlaw College nicht gerade das
Gelbe vom Ei. Der Dekan würde verächtlich schnauben, seine billige Zigarre paffen und behaupten, daß der Mond so intim wie öffentlich wegen seiner Zeichnung sei. Wie bei vielen Ornamenten winziger Größenordnung wird sein Gefühl der Intimität durch Oberflächendetails erzielt. Vorgänge an der Oberfläche stiften innere Beziehungen, und innere Beziehungen brechen die äußere Gestalt, den Charakter des Öffentlichen. Die Fisel-Pyramide (wie sie für immer heißen sollte) mit ihrer intakten, reinweißen Verblendung war völlig glatt. Ihre starke Anziehung bestand in ihrer konstanten, bekannten Physikalität, denn es fehlte ihr jegliches Äquivalent zu jenen rätselhaften, sinnlichen Flecken, die den Mond in die Nähe der Intimität rücken. Gewiß, Dekan, aber haben Sie nicht Lust, mal ‘ne Partie Billard zu schieben? Sie brauchen nicht anzurufen, wir rufen Sie an. Die Remington SL3 läuft im Leerlauf drauflos, und die Abertausende von Menschen – geladene Würdenträger, Pressevertreter und neugieriges Volk –, die zur Enthüllung der Pyramide und zur größten Hochzeit des Jahrzehnts zusammenströmen – mein Gott, wir haben jetzt schon ohne Sie mehr um die Ohren, als wir bewältigen können. Leigh-Cheri hat den Pyramidenbauplatz verlassen und läßt sich in der Limousine zu ihrem Apartment fahren, wo sie auf die beiden einzigen Hochzeitsgäste warten wird, denen sie erregt entgegensieht: Königin Tilli und Königin Gulietta.
90 Wie durch ein Wunder war die Pyramide in etwas weniger als zwei Jahren erbaut worden. Teufel, so lang hat Union Labour gebraucht, um die Golden Gate Bridge mit einem frischen Anstrich zu versehen. So lange schien Leigh-Cheris Limousine zu brauchen, um zu ihrem Apartment zurückzufahren. Die üblichen Schwärme von Basarhökern, Kameltreibern, Schlangenbeschwörern, Affenpfeifern, Knaben- und Mädchenprostituierten, Bettlern, Tänzern, Shoppern, religiösen Zeloten und Soldaten hatten sich verdreifacht. Sie ballten sich halbdutzendweise um jeden ausländischen Ungläubigen, und es gab mehr ausländische Ungläubige, als die Stadt seit den Kreuzzügen gesehen hatte. Ibn Fisel hatte ihnen ausländische Ungläubige versprochen, und da waren sie, mit Kameras, knappem Kleingeld und allem Drum und Dran. Die Straßen waren festlich, der Verkehr bewegte sich wie Fliegen durch ein Sieb. Es war Sonntag, und einmal wenigstens war der Tag nicht ausgebleicht. Das heißt, nicht gänzlich gebleicht. Der geschäftigste, lauteste Sonntag wird neben dem ruhigsten Samstag immer gedämpft wirken. Falls ihr an einem Sonntag die Stadt rot anmalen wollt, stellt euch lieber gleich auf Rosa ein. Egal. Es war Sonntag, und die Dinge waren ziemlich am Tanzen. Der große Tag war für Dienstag angesetzt: Im Garten des FiselPalasts würden Ibn und Leigh-Cheri bei Anbruch der Morgendämmerung heiraten. Es sollte eine private und kleine Zeremonie sein, der sich ein ähnlich kleiner und privater Empfang in der innersten Kammer der Pyramide anschließen würde. Fern
von den verdammenden Augen abstinenzlerischer Muslime, wollte das frisch verheiratete Paar dort seine frisch verheirateten Kehlen anfeuchten. Um neun, nach pflichtschuldigstem Genuß etlicher Trinksprüche nebst dem dazugehörigen Champagner, würde die Hochzeitsgesellschaft erscheinen, um den Vorsitz über die offizielle Einweihungsfeier der Pyramide zu übernehmen. Es sollte sich ein ganztägiger Empfang vor dem Hauptportal anschließen, bei dem Scheichs, Sultane, Schahs, Emire, Wesire, Wasus und erhabene omnipotente Potentaten in genügender Menge anwesend sein würden, um jeden jemals befolgten Maurer-Schwur in die Knie zu zwingen. Auch jede Menge europäischer Nobilität würde zu Händen sein und sich bis zur Abenddämmerung anti-alkoholisch verlustieren; danach würde Haj Fisels eigene Boeing 747 die Braut und den Bräutigam in die Flitterwochen nach Paris befördern. So viel zum Dienstag. Den Montag durfte Leigh-Cheri mit Tilli und Gulietta verbringen. Vorausgesetzt, sie würde endlich ihr Apartment erreichen.
91 Tilli war so naiv, daß sie immer noch glaubte, Jiminy »die Grille« Cricket singe Lieder, indem er seine Hinterbeine aneinander rieb. Sie glaubte, das Kokain sei eine Art Erkältungsmittel, obwohl es ihr ein wenig merkwürdig vorkam, daß es in einen Plastikfrosch verpackt auf den Markt kam. Außerdem schienen weder Gulietta noch Leigh-Cheri so krank, daß sie den
ganzen Tag über alle halbe Stunde ihre Nasen behandeln mußten. »Wieso mach ich euch nicht einfach eine Kanne Kamillentee?« fragte Tilli. Ihre Tochter und ihre einstige Dienerin sahen sich an und kicherten. Cocaine, cocaine, the musical fruit The more you have the more you toot The more you toot the better you feel So sniff some whiff instead of a meal Kokain, Kokain, musikalische Speis, Je mehr du hast, desto mehr schnupfst du mit Fleiß Je mehr du schnupfst, desto mehr Sorgen vergessen, Drum nimm schnell ‘ne Nase und spar dir dein Essen sangen sie zweistimmig. Die englische Version sang nur LeighCheri. Auf diese Weise verging der Montag. Die drei Frauen blieben den ganzen Tag im Apartment und wurden nur einmal von den Schneiderinnen gestört, die zu einer letzten Anprobe für LeighCheris Brautgewand kamen. Die Ältere weinte, sie im Hochzeitskleid zu sehen, doch kurze Zeit später strahlte Gulietta wieder. Ihr Plastikfrosch war bis an die Kiemen mit dem feinsten Schnee gefüllt, der seit manch einem Winter aus dem bolivianischen Urwald geschneit war, und sie und die Prinzessin machten sich ein Fest. Auch Königin Tilli vergnügte sich auf ihre Weise. Sie prahlte mit einem Juwelenhalsband für ihren Chihuahua, das er bei der Zeremonie tragen sollte, und streifte
es dem Köterchen mehrmals am Tage über den Hals. »Die Smaragden, sie passen hübsch mit seinen Augen, meint ihrr nicht?« Die Königinnen, und auch die Prinzessin, waren zu zahlreichen schicken Soireen eingeladen, aber sie zogen es vor, diese Zeit miteinander zu verbringen. Wer wußte, wann sie sich wiedersehen würden? Tilli hatte beschlossen, nach Reno zu ziehen, um Max auch bei seinem letzten Einsatz zur Seite stehen zu können. Es gab in ganz Reno nicht eine einzige Note ernster Musik. Tilli würde sich für immer mit der von Limonen, Kirschen und Silberdollarträumen singenden Schlitzmaschine und FünfundzwanzigCents-Enttäuschungen begnügen müssen. Ein Jackpot und eine Herzklappe, Partner in einer Arie, einer in des anderen Armen sterbend, Ende IV. Akt, Grand Opera von Reno. Guliettas Rolle in den Angelegenheiten ihrer Nation war von den Rebellen auf die der meisten modernen Monarchen eingeschränkt worden – etwas mehr vielleicht als eine repräsentative Funktion, aber gewiß keine Initiative bei politischen Handlungen. Doch die alte Frau hatte sich zur einflußreichsten Figur der Regierung gemausert. Als Gulietta dekretierte, daß es innerhalb ihrer Grenzen keine Kernkraftwerke geben werde, waren die Minister gezwungen, ihre Order für Reaktoren zu stornieren. »Unsere Ressourcen sollen die Sonne, der Wind, die Flüsse und der Mond sein«, verkündete sie. »Der Mond?« fragten die Minister. »Man kann vom Mond keine Energie beziehen.« »Sie irren sich«, sagte Gulietta. Nun mußte sie darangehen und ihnen zeigen, warum sie sich irrten. Dank ihres (teilweise auf Leigh-Cheris Dachboden-Experiment basierenden) lunaren
Bewußtseinsprogramms menstruierten bereits alle Frauen im Land simultan, und alle Babies wurden bei Vollmond geboren. »Etwas schwieriger wird es sein«, sagte sie, »die Männer zu lehren, im Dunkeln zu sehen.« Was Leigh-Cheri betraf, so mußte sie sich um gewisse Geschäfte im Zusammenhang mit einer Pyramide kümmern. Und um den Bräutigam, der sie bezahlt hatte. So verbrachten die drei Frauen diesen letzten Tag zusammen. Sie waren herzlich und vertraut. Manchmal vergaß Tilli und befahl Gulietta irgendeinen niedrigen Dienst zu verrichten, worauf Leigh-Cheri ihre Mom daran erinnerte, wer mittlerweile die regierende Monarchin unter ihnen war, und sie lachten fröhlich. Das Lachen kam ihnen leicht über die Lippen. Gulietta und Leigh-Cheri waren besummst wie die Türklinke an einem Diskont-Hurenhaus, und Tilli war glücklich, daß die Prinzessin einen Mann heiratete, der sich ein Dreihundert-MillionenHochzeitsgeschenk leisten konnte, obwohl dessen Vaters Angewohnheit, Schafsaugen von der Spitze eines Krummsäbels zu naschen, bei ihr böse Ahnungen hinsichtlich der Genealogie weckte. Nach einem frühen Dinner brachen sie die Party nur widerstrebend ab. Die Hochzeit war im Morgengrau, und das Morgengrau hatte die garstige Angewohnheit, sich vor dem Frühstück einzustellen. Leigh-Cheri brachte Tilli und Gulietta hinunter zur Limousine, die sie zu ihrem Hotel fahren sollte. Bevor sie ihre Körpermasse in den Wagen manövrierte, reichte Tilli Leigh-Cheri einen Umschlag. Vermeintlich enthielt er eine persönliche Botschaft von König Max, die erklärte, wieso er nicht zur Hochzeit gekommen war, und die seine Liebe zu
seiner Tochter aussprach. Aber ach, Tilli zog die falsche Epistel hervor. Irrtümlich gab sie Leigh-Cheri einen Umschlag, der Presseberichte über den Tod des Buntspechts enthielt (andere Zeitungen hatten die Originalstory des Drummer aufgegriffen und ergänzt). Wieder oben, drehte die Prinzessin den Brieföffner zwischen ihren Fingern hin und her. Der Brieföffner war aus Elfenbein. Sein Griff war so geschnitzt, daß er einem Tier ähnelte. Welcher Art von Tier, konnte Leigh-Cheri nicht genau sagen. Es war kein Frosch. Es war kein Eichhörnchen, das im Mittelpunkt der Erde rannte, rannte, rannte. Vielleicht war es eine Art von arabischem Tier. Leigh-Cheri führte den Öffner seinem vorgesehenen Zweck zu. Schnicker-schnie, schnicker-schnie. Eine winzige Papierlocke vor sich herschiebend, machte der Brieföffner seinen ausgefransten Einschnitt. Leigh-Cheri griff hinein und zog den Tumor aus Zeitungspapier heraus.
92 »Ich weiß nicht, warum ich mich so aufführe«, sagte die Prinzessin. »Ich schätze, Nina Jablonski hatte recht, als sie mich ein Heulbaby nannte.« Sie putzte sich die Nase. Manchmal kann sich eine Frau, die sich die Nase putzt, so weich und durchdringend anhören wie ein Gummipferd, das von einer Seemuschel punktiert wird und Luft abläßt. »Der alberne rothaarige Hurensohn verstand von der Liebe
nicht soviel, wie ich geglaubt habe. Er verstand nicht einmal vom Outlaw-Sein soviel, wie ich gedacht habe. Von einem blöden arabischen Gefängniswärter niedergemacht. Jess! Aber er war ein echtes menschliches Wesen. Bei Gott, Bernard Mickey Wrangle war real.« Wie kann ein Mensch realer sein als ein anderer? Nun, manche Menschen verstecken sich, und andere suchen. Vielleicht sind die, die sich verstecken – Begegnungen fliehen, Überraschungen vermeiden, ihr Eigentum schützen, ihre Phantasien ignorieren, ihre Gefühle einschränken, den Panflötenzirkustanz der Erfahrung auslassen – vielleicht sind solche Menschen, Menschen, die nicht mit Rotnacken reden wollen oder, falls sie Rotnacken sind, nicht mit Intellektuellen reden wollen, Menschen, die Angst haben, sich ihre Schuhe schmutzig oder ihre Nase naß zu machen, Angst haben zu essen, wonach sie sich sehnen, Angst haben, mexikanisches Wasser zu trinken, Angst haben, einen hohen Einsatz zu riskieren, um zu gewinnen, Angst haben, per Anhalter zu fahren, bei Rot über die Straße zu laufen, eine Kneipensause zu machen, nachzudenken, sich zu küssen, im Raum zu schweben, zu rocken, zu boppen, einen Volltreffer zu landen oder den Mond anzubellen; vielleicht sind solche Menschen einfach inauthentisch, und vielleicht hat der Esel von einem Humanisten, der etwas anderes behauptet, verdient, daß seine Zunge auf den glühenden Herdplatten der Lügnerhölle fritiert wird. Manche Leute verstecken sich, und manche Leute suchen, und auch Suchen, wenn es gedankenlos, neurotisch, verzweifelt oder verzagt ist, kann eine Art sein, sich zu verstecken. Aber es gibt Leute, die wissen wollen und keine Angst haben nachzusehen, und die nicht den Schwanz ein-
klemmen, wenn sie es finden – und wenn nicht, haben sie jedenfalls eine gute Zeit gehabt, weil nichts, weder die schreckliche Wahrheit noch deren Abwesenheit, sie um einen ehrlichen Atemzug vom süßen Gas der Erde beschummeln wird. »Vielleicht war er ein verrückter Hund, aber er war ein echter verrückter Hund«, sagte Leigh-Cheri, »und ich liebte ihn mehr, als ich jemals jemanden geliebt habe – oder jemals lieben werde.« Und schon begann sie wieder zu flennen. Die Uhr machte sich an Mitternacht zu schaffen, und Mitternacht machte sich an ihrem Kopf zu schaffen, als sie sich bei der Pyramide wiederfand. Es gab keinen vernünftigen Grund, bei der Pyramide zu sein, außer daß sie nicht schlafen konnte, weder Gulietta noch ihre Mom stören wollte und aus ihrem Fenster den Limo-Chauffeur gesehen hatte. Sie wollte sagen: »Fahren Sie mich nach Algier zu Bernards Grab«, oder »Fahren Sie mich zum Husky Stadion, es ist Zeit für eine CheerleaderProbe.« Doch sie sagte: »Zur Pyramide«, und hoffte gegen alle Hoffnung, daß dort Trost zu finden wäre. In der klaren Wüstennacht waren die Sterne wildromantisch wie Popcorn. Der Mond schien bereits untergegangen zu sein, aber der Pyramidenbauplatz war beleuchtet wie eine Hauptstraße. Dreißig oder vierzig Arbeiter waren noch am Werk, legten letzte Hand an, stellten die provisorische Plattform für die Zeremonien des nächsten Morgens fertig. Das Portal stand weit offen, zum Glück, denn sie hatte ihren Schlüssel vergessen. Sie ging den langen Korridor zur Mittelkammer hinunter. Angrenzend an die Mittelkammer gab es ein voll ausgestattetes Physiklabor und mehrere hübsch eingerichtete Büros, darunter auch ein Büro für sie selbst. Die Mittelkammer war der
Ort, in dem die Magie passierte, und im Bemühen, sie der Großen Pyramide so ähnlich wie möglich zu gestalten, hatte Leigh-Cheri nicht einmal elektrischen Strom erlaubt. Mehrere Öllampen waren an den Granitwänden befestigt, und das war’s. Die Lampen waren Antiquitäten – sie hätten schon Kleopatras Pyjamaparties beleuchten können –, und Leigh-Cheri mußte fünf Minuten hantieren, um eine anzuzünden. Als sie schließlich aufflammte, schrie die Prinzessin auf, denn ihr flackerndes Licht enthüllte eine in der Kammer kauernde Gestalt. LeighCheri war nicht allein.
93 Anfangs dachte sie, es sei ein Arbeiter. Dann fiel das Lampenlicht auf seinen leuchtend roten Bart. Sie schrie noch einmal auf. Ihr Rückgrat klingelte wie die Krümel in einem Toaster, nicht daß sie irgendwie Lust auf Roggenbrot gehabt hätte. Heilige Mutter Gottes des Verwunderers! Es war einer von ihnen! Was sagt man zu einem argonischen Weltraumreisenden in einer Pyramide um Mitternacht? Willste ‘ne Camel, Seemann? Leigh-Cheri sagte nichts. Sie hatte die Fähigkeit zu sprechen verloren. Sie stand nur mit laufendem Toaster da und versuchte, sich zu entscheiden, ob sie in Ohnmacht fallen sollte oder nicht, bis der Rotbart kapierte, daß es keinerlei Konversation geben würde, wenn nicht er die Kugel ins Rollen brachte, also
zeigte er ihr einen Mund voller Zahnruinen und sagte: »Hallo, Drachenköder.« Sie fiel in Ohnmacht. Sie erwachte mit dem Kopf auf einer Bombe. Er hatte ihr ein Kopfkissen aus seiner Jacke gemacht und sich nicht die Mühe gemacht, das Dynamit herauszunehmen. »Du bist tot.« »Nicht ganz.« »Nicht ganz?« »Darauf kannst du bauen.« Sie blinzelte rasch und schluckte heftig. »Na, dann … eine Verwechslung?« »Ja, natürlich.« »War das einer von deinen feinen Tricks?« »Nein. Es war eine Frage des Glücks. Glück für mich. Pech für Birdfeeder.« »Wer? Bernard, ich habe dich seit zweieinhalb Jahren nicht gesehen. Erst bist du tot, dann bist du’s nicht. Von wem redest du? Von was redest du?« »Ein Gauner namens Perdy Birdfeeder tat mir, so dachte ich zumindest, einen Gefallen. Anscheinend hab ich mich geirrt – aber das ist eine andere Geschichte. Perdy, der Geldbeutel, hatte Lust, sich an der französischen Riviera zur Ruhe zu setzen. Er hatte gehört, daß die Geschäftsaussichten dort beachtlich wären. Ich arrangierte für ihn eine Begegnung mit einem Barmixer am Pioneer Square, einem Kumpel, der meine persönlichen Papiere verwahrte. Unter vierzehn möglichen Pässen wählte Perdy ausgerechnet den mit meinem legalen Alias – « »Dein legales Alias?«
»Yeah. Alias Bernard Mickey Wrangle. Mein wirklicher Name ist Baby. Lach nicht. Ich bin sensibel. Jedenfalls ging es Birdfeeder nicht gut an der Riviera. Er machte sich auf nach Nordafrika, immer noch mit meinem Paß. Dort ging es ihm auch nicht so toll. Algier muß ein lausiger Platz zum Sterben sein. Obwohl ich glaube, daß es immer noch besser ist als Tacoma.« »Bernard, was tust du hier?« »Jetzt gerade frage ich mich, ob du froh bist oder nicht, daß ich untot bin.« Leigh-Cheri erhob sich wacklig auf ihre Füße. Sie war praktisch genau so groß wie Bernard, und sie sah ihm lange in die Augen. »Einst in Hawaii, als ich dich noch kaum kannte, glaubte ich, du wärst verhaftet worden, und aus irgendeinem Grund kam ich in Panik zu deinem Boot gelaufen. Heute hab ich geglaubt, du wärst tot. Es gab kein Boot, um hinzulaufen.« Sie beabsichtigte weiterzureden, aber die Heulsuse in ihr erhob ihr salziges Haupt. Bernard legte seine Arme um sie. Sie legte ihre um ihn, und so standen sie für … nun, wer weiß wie lange. Lange genug, daß die zwei Wächter, die Leigh-Cheri zur Pyramide gefolgt waren, herausfinden konnten, daß es sich um eine Entwicklung handelte, für die es sich lohnte, Ibn Fisels Junggesellenparty zu stören.
94 »Was tust du hier, Bernard?« »Etwas Kitschiges und Dramatisches. Ich habe gewisse Absichten.« »Du bist gekommen, mich zu retten? Den Drachenköder vom Haken zu pulen?« »Ich bin gekommen, um bum-bum zu machen.« »Jesus! Ich hätt’s mir denken können. Hier? Genau hier?« Sie wich aus seiner Umarmung zurück. »Es bräuchte eine Atombombe, um diesen Steinhaufen anzuknacksen. Ich hab nur hereingeschaut, um von den Backwaren zu naschen« – er deutete auf die vielstöckige Hochzeitstorte, die auf einem Tisch am andern Ende der Kammer stand – »solange bis die Luft rein wäre und ich zur Spitze hinaufklettern könnte. Ich wollte die Spitze absprengen.« »Warum, um Gottes willen?« »Ein Hochzeitsgeschenk. Es gab nichts anderes, was ich dir hätte schenken können und was Fisel nicht schon sechsmal besitzt. Bum-bum. Du hättest gewußt, daß ich es war.« »Natürlich. Du hast wirklich Talent, das falsche Ziel zu bombardieren.« »Autsch. Das sticht. Aber, hör mal, die Pyramide auf der Dollarnote hat sich auch die Spitze liften lassen. Das ist Tradition. Oder die sich selbst erfüllende Prophezeiung. Was meinst du also mit falschem Ziel?« »Abgesehen davon, daß er unglaublich schön ist, ist dieser
Steinhaufen, wie du ihn nennst, das bedeutendste Bauwerk, das seit Jahrtausenden auf dem Planeten erbaut wurde. Du vor allen anderen solltest das verstehen.« »Wie kommst du darauf?« »Du warst allein mit einer Schachtel Camel. Hast du nicht die Botschaft erhalten?« »Welche Botschaft? Ich hab den Ratschlag erhalten, nicht nach Prämien oder Coupons zu suchen, und daß Rauchen gefährlich für meine Gesundheit ist.« »Ich meinte eine andere Botschaft.« »Die wäre?« »Wenn du’s nicht weißt – und ich bin nicht überzeugt, daß du es nicht weißt –, dann ist jetzt nicht die Zeit, es dir zu sagen.« »Das stimmt. Die Stunde null rückt schnell heran. LeighCheri, ich kann nicht glauben, daß du einen Kerl mit schwarzem Haar heiratest.« »Das Haar hat nichts damit zu tun. Aber wo wir schon beim Thema sind, ich mag deinen Bart nicht. Du siehst aus wie Jack the Ripper.« »Jack trug nie einen Bart. Bist du sauer, weil ich deiner Pyramide die Spitze abbrechen wollte?« »Das. Und dein Briefchen.« »Ach, das Briefchen. Dieses Briefchen war nur ein Schlag und nichts dahinter, das geb ich zu. Es klang viel härter, als es gemeint war. Ich hab mich über die Publicity geärgert. Es roch nach dem alten Rettet-die-Welt-Komplex. Aber ich wollte nicht unfreundlich sein – « »Ein Gebell an den Mond?«
»Was ist damit?« »Das war unsere Liebe für dich.« »Das ist jede Liebe, immer. Die Liebe ist kein Harfenkonzert in einem adeligen Salon. Und todsicher ist sie nicht soziale Sicherheit, Leatril, Irisches Pferdetoto oder Rollerdisko. Die Liebe ist privat und primitiv und ein bißchen auf der bangen, angstmachenden Seite. Ich denke an die Karte Luna im Tarot: ein seltsames riesiges Krustentier, mit glitzerndem Panzer und wackelnden Scheren, steigt rasselnd aus einem Tümpel, während wilde Hunde einen überquellenden Mond anheulen. Darunter Herzen und Blumen: so plemplem ist die Liebe. Alle Versuche, sie stubenrein zu machen, sie zu läutern, die Krebse wie Täubchen aufzuputzen und sie Sopran singen zu lassen, führen immer zu dünnem Blut. Am Ende hat man eine Parodie. Es gibt eine Menge niedlicher Laute, die ›gernhaben‹ umschreiben, aber ›lieben‹ hängt mehr mit Gebell zusammen. Tut mir aber leid, das Briefchen. Ich hab dir ein anderes, sanfteres geschrieben, aber bis ich einen Postboten aufgetrieben hatte, warst du schon auf dem Leitdromedar des Sultans aus Seattle davongaloppiert. Vielleicht konnte ich dir keinen Vorwurf machen – aber es konnte mir wehtun.« Leigh-Cheri kam zurück in seine Arme. Er hatte mit offenen Armen dagestanden, wie ein Bär im Schaufenster eines Tierpräparators. Wieder drückten sie sich lange, hielten sich aneinander fest und waren sich nicht ganz sicher warum. Und in dieser Haltung blickte sie Bernard über die Schulter und sah Ibn Fisel, der am Eingang zur Kammer stand. Sie spürte das Zucken gewisser Hauptnerven, aber bevor sie eine Reaktion in einen ihrer Muskeln dirigieren konnte, knallte Fisel schon die Tür. Sie
hielt die Luft an und lauschte gespannt, ob sich der Schlüssel im Schloß drehen würde. Er drehte sich.
95 »Wenigstens wird es eine Weile dauern, bevor wir verhungern oder verdursten«, sagte Bernard. Er ließ eine Flasche Champagner knallen und tat einen Schritt auf den Hochzeitskuchen zu. »Nicht«, schnappte die Prinzessin. Sie riß seine Hand vom Tortenaufsatz weg. »Entschuldige. Ich nahm an, der Empfang wäre abgesagt.« Er stellte den Champagner zurück. »Natürlich ist er abgesagt. Natürlich ist er. Das war dumm von mir. Mach und iß soviel du willst von dem gottverdammten Kuchen. Hier.« Sie brach ein Stück ab und reichte es Bernard mitsamt tropfendem Zuckerguß. Die zwischen ihren Fingern hindurchsickernde Glasierung erinnerte ihn an Tage in den Bergen, als die Buntspechtbande Schneeballschlachten machte, nur um ihren Blutkreislauf in Gang zu halten. »Hm, ich hab wohl ein Süßmaul. Aber keine Sorge, ich werde es mir morgen früh zunähen lassen.« »Champagner?« Bevor sie ihm die Flasche reichte, nahm Leigh-Cheri selbst einen tüchtigen Schluck. So viele Blasen schossen ihren Nasenkanal hinauf, daß sie kaum atmen konnte. Sie fühlte sich, als wäre sie das Samstagabend-Spätfernsehen und ein Orchester spielte ganz oben in ihrer Nase.
»Champagner wurde von einem katholischen Mönch entdeckt«, sagte Bernard. »Nahm einen Schluck und kam aus seinem Keller gelaufen und schrie: ›Ich trinke Sterne, ich trinke Sterne!‹ Tequila wurde von einer Bande schwermütiger Indianer erfunden. Mit Menschenopfern und Pyramiden im Hinterkopf. Irgendwo zwischen Champagner und Tequila liegt die geheime Geschichte Mexikos, ähnlich wie irgendwo zwischen Dörrfleisch und Hostess Twinkies die geheime Geschichte Amerikas liegt. Oder bist du nicht in der Stimmung für Epigramme?« »Bernard, sitzen wir in der Patsche?« »Das mußt du mir sagen. Ich bin nicht vertraut mit den Sitten dieses Gentleman. Wie lange schleppt er einen Groll herum?« »Er wird uns bald herauslassen müssen. Er wird es müssen. Meine Mutter ist in der Stadt. Gulietta auch. Überall Presse. Er wird uns vor dem Morgengrau herauslassen müssen.« »In diesem Fall, Geliebte, mehr Champagner. Der Kuchen ist übrigens köstlich. Ich bin in festlicher Stimmung. Sicherlich unangebracht bei mir.« Leigh-Cheri gelang ein kleines Lachen. »Ich bin selbst sonderbar freudig erregt. Es ist unheimlich. Alles, wovon ich geträumt und wofür ich gearbeitet und worauf ich mich verlassen habe, fällt auseinander, und ich bin glücklich. Kalt ist mir auch.« Sie trug Blue jeans und eine grüne ärmellose Baumwollbluse. Bernard legte ihr seine schwarze Cordjacke um. Dynamitstangen schlugen gegen ihre Brüste. Sie zitterte immer noch, also riß er das Spitzentischtuch unter dem Kuchen fort, und sie kuschel-
ten sich beide hinein, wie ein Pärchen beim Harvard/PrincetonMatch in eine Decke. »In der Mittelkammer der Großen Pyramide herrscht eine konstante Temperatur von vierzehn Grad Celsius«, sagte sie. »Ich habe mich bemüht, hier die gleichen Bedingungen herzustellen. Vierzehn ist natürlich weit entfernt von Maui.« »Da wir sowieso etwas Zeit totzuschlagen haben, warum erzählst du mir nicht von dieser Pyramide? Warum sie so wichtig ist und was ich von meinen Zigaretten darüber hätte erfahren sollen.« »Es ist ein bißchen spät, du großer dummer Junge«, sagte sie. Aber weil der Champagner so pricklig und der Kuchen so schneeig und glitschig war, und da es unmöglich war, beim Licht von Kleopatras Laterne Harvard von Princeton zu unterscheiden, begann sie ihm zu erzählen. Die ganze Geschichte. Inzwischen durchschnüffelte die Polizei ihr verwüstetes Apartment, und Ibn Fisel streute emsig die Nachricht aus, seine künftige Braut sei von zionistischen Terroristen gekidnapt worden.
96 Dann schon eher von französischem Champagner. Der Champagner hielt sie beide gefangen, und bislang war keine Lösegeldforderung in Sicht. »Ich pinkel Sterne«, quiekte die Prinzessin.
Bernard zog eine Schachtel Camel aus seiner Brusttasche. Er führte damit Spielzeug-UFO-Flugmanöver durch und machte dazu piepsende Geräusche der dritten Art. Leigh-Cheri kehrte zurück. »Ich hab Sterne auf meine Schuhe gekriegt«, jammerte sie. Bernard sauste mit der Schachtel über sie hinweg. »Ist das deine Antwort auf meine Theorie?« »Erinnerst du dich an das Pärchen von Argon? Ich bin ihnen vor einem Monat im Ranch Market am Hollywood Boulevard über den Weg gelaufen. Nina Jablonski hatte ein Filmskript über mein Leben geschrieben und wollte es an Jane Fonda und Elaine Latourelle verhökern. Teenage-Bomber ohne Grenzen. Ich flog nach Los Angeles, um das Projekt zu stoppen, und da waren sie im Ranch Market. Kauften Pina Colada Mix. Wirft das deine Theorie über den Haufen?« »Ein kleiner Rückschlag. Was ist mit dem, was wir auf der Übermut gesehen haben? Das war keine Pina Colada, mon amore.« »Wir haben gesehen, was wir gesehen haben. Am hawaiianischen Himmel und im Ranch Market. Ich werde nervös, wenn du über UFOs redest, weil ich befürchte, du suchst Erlösung bei ihnen. Was mir an fliegenden Untertassen gefällt, ist, daß wir nicht wirklich wissen, ob sie uns retten oder untergehen lassen werden. Oder keins von beiden. Oder beides. Sie scheinen mit einem gewissen Humor vorzugehen. Ich stelle sie mir immer als Outlaws des Weltraums vor. Ich denke immer, sie könnten genauso leicht vom Ranch Market losdüsen wie vom Haleakala oder von Argon. Verdammt, ist das Zeug lecker.« »Du hast noch eine Flasche geöffnet? Bernard!«
»Yum!« »Hm, na … was ist mit der Camel-Packung?« »Was ist mit Maggi’s Fleischbrühe? Auch das ist eine transparente Tür zur Erfahrung, wenn du durchzublicken verstehst.« »Yeah … da muß ich beipflichten. Yeah! Das isses!« Sie klatschte in die Hände. »Du hast einen Schlüssel zur Weisheit in der Camel-Packung gefunden. Sie ist gewiß eines der unheimlichsten unserer sakralen Objekte. Aber es gibt viele andere. Ich persönlich finde den hölzernen Zahnstocher besonders reich an Symbolik, und Dippidy Doo Frisiergelee ist eine offene Einladung, den tantrischen Aspekten des Göttlichen beizuwohnen. Die Sache mit der Camel aber ist ihre Direktheit. Ich meine, sie buchstabiert es einem direkt vor. CHOICE. Ein Mensch sucht nach einer simplen Wahrheit, um danach zu leben, schwupps, hier ist sie. CHOICE – wählen! Sich weigern, nur passiv zu akzeptieren, was die Natur oder die Gesellschaft uns gibt, sondern selbst wählen. CHOICE. Das ist der Unterschied zwischen Leere und Substanz, zwischen einem wirklich gelebten Leben und einem albernen, an die Bürowand geworfenen Schatten.« Sie küßte ihn impulsiv. »Ich wußte, du würdest es verstehen. Wo bist du nur all mein Leben gewesen, mein großer Junge?« Bernard reichte ihr die Flasche. Er begann zu singen: Twenty froggies went to school Come on ye Texas Rangers Down beside a shady pool Come on ye Texas Rangers There they learned to work and play
Come on ye Texas Rangers And drink Lone Star beer all day Hee hee ye Texas Rangers (Zwanzig Fröschlein gingen zur Schul’ Come on ye Texas Rangers Drunt bei einem schattigen Pfuhl Come on ye Texas Rangers Da lernten Arbeit sie und Spiel Come on ye Texas Rangers Und tranken Lone Star Bier ganz viel Hi hi ye Texas Rangers.) »Bernard, mir ist nicht nach Gesang zumute.« »Klar ist dir. The river lies cold and green The river lies cold and green Leaves are dropping one by one And the river lies cold and green. (Der Strom liegt kalt und grün Der Strom liegt kalt und grün Blätter fallen eins ums andre Der Strom liegt kalt und grün.) Komisch, Ströme hauchen uns immer Balladen ein. Nichts von diesem E. E. Cummings-Zeug.« »Bernard, ich will noch mit dir sprechen.«
»Schieß los.« »Du scheinst sagen zu wollen, daß die Ideen, die ich auf dem Dachboden entwickelt habe, wesentlich mit der Camel-Packung zusammenhingen, daß ihr Ursprung nicht notwendig argonisch war.« »Die Camel-Packung ist vielleicht Argon. In meines Vaters Haus gibt’s viele Burgen. Siehst du, worauf ich hinaus will? Ich bin ein Outlaw, kein Philosoph, aber soviel weiß ich: es steckt in allem eine Bedeutung, alle Dinge sind miteinander verbunden, und ein guter Champagner ist ein Drink.« Bernard begann wieder zu singen. Zaghaft fiel Leigh-Cheri ein. Zwischen den Strophen öffneten sie noch eine Flasche. Der Knall des Korkens schickte sein Echo durch die große Steinkammer. Von den drei Milliarden Menschen auf Erden hörten nur Bernard und Leigh-Cheri den Knall des Korkens und seine Echos. Nur Bernard und Leigh-Cheri verloren unter dem Tischtuch die Besinnung.
97 Während sie schliefen, brannte die Lampe herunter. Sie erwachten in einer Schwärze, so dicht, daß sie dem Kohlenteer Todesangst eingejagt hätte. Bernard riß ein Streichholz an, und LeighCheri packte ihn am Arm. »Denkst du, was ich denke?« fragte sie. »Das bezweifle ich. Ich dachte gerade über den Ursprung des
Weltkürbis nach. Pumpkin. Welch ein niedliches Wort. Irgendwie rundlich und freundlich – und sexy, auf Farmerstöchterart. Vollkommen. Ich frage mich, wer das Wort aufgebracht hat. Irgendein alter Kürbisfeld-Dichter im antiken Griechenland, vermute ich. Ein reisender Handelsvertreter aus Babylon?« »Bernard! Hör schon auf. Es sind Stunden vergangen. Ich bin sicher, das Morgengrau ist längst vorbei.« »Das weiß man nie in dieser Bar. Hier. Laß mich eine Lampe anzünden.« Es gelang ihm, eine andere der antiken Ampeln zu entfachen. »Wenn er uns bis jetzt nicht rausgelassen hat … Bernard! Dies ist kein vorübergehender Groll. Er gedenkt uns hier drin zu lassen.« »Ich fürchte, du hast recht. Unmöglich könnte er uns jetzt noch ohne erhebliche Peinlichkeit freilassen. Falls er so ist wie viele Männer, wäre er lieber ein Mörder als ein Narr.« Leigh-Cheri war eine Weile still. Dann lachte sie plötzlich. »Aber es ist okay, nicht wahr?« Sie blitzte ihn mit einem Grinsen an, breit genug, um die Sunday New York Times hindurchzuschieben. »Du hast doch dein Dynamit!« »Hier wird’s uns reichlich wenig nützen.« Ihr Lächeln klappte zusammen. Ihr Herz rief die New York Times an und stornierte das Abonnement. »Was … willst … du sagen?« »Vor drei Jahren, in Hawaii, hab ich versucht, dir etwas über Dynamit zu erklären. Eine Bombe ist keine von deinen Patentlösungen. Dynamit ist eine Frage, keine Antwort. Es kann verhindern, daß die Dinge sich verfestigen, es kann dir das
Ticket offenhalten. Nur die Frage zu stellen, das genügt manchmal, um das Leben zu erneuern, es genügt, um den Verfallsprozeß umzukehren, der aus der Gleichgültigkeit resultiert. Aber Dynamit ist für uns hier zwecklos. Sicher, wir könnten die Tür wegsprengen, aber es gibt für uns keinen Platz, um Deckung zu nehmen. Die Explosion würde uns töten.« Leigh-Cheri fing an zu weinen. (Für eine schöne, königliche Prinzessin hatte sie gewiß viele Tränen in ihrem Leben vergossen.) Bernard umarmte sie fest. Seine Finger liefen wie Füchse durch den Waldbrand ihres Haares. »Weißt du«, sagte er, »ich wette, pumpkin ist ein amerikanisches Wort. Für mich klingt es amerikanisch. Süße dumme wohlgenährte optimistische heimelige Spaßkugel. Ich denke an eine Cheerleaderin aus dem Mittelwesten, die sich nach dem Football-Spiel an einem kühlen Freitagabend auf dem Rücksitz eines Chevy dickmachen läßt. Weißt du, was ich meine? American Pumpkin.«
98 Draußen wurde ein Drachennetz gesponnen. Dank des politischen Klimas des Mittleren Ostens im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts hatte jedermann, einschließlich Gulietta, Ibn Fisels Geschichte von der zionistischen Entführung geschluckt. Polizei jeder Nationalität und Truppen von einem Dutzend Armeen suchten nach Prinzessin Leigh-Cheri. Juden und Araber suchten gleichermaßen nach ihr und erreichten bei
ihren kombinierten Bemühungen eine Art friedlicher Kooperation, die sie allzu selten kennenlernten. Drinnen war es McNeill Island oder dem Dachboden nicht unähnlich. Bernard und Leigh-Cheri waren weit besser als die meisten Menschen für den Arrest konditioniert. Es gab sogar eine Schachtel Camel, die ihnen Gesellschaft leistete. Gewiß, es schob niemand Lunchtabletts oder Nachttöpfe herein, aber die Pyramidenkraft hielt den Hochzeitskuchen ofenfrisch, und sie hatte ihren Winkel zur Entleerung und er seinen. Als die Tage vergingen, rationierten sie zunehmend kleinere Portionen Kuchen und Champagner, und doch schien es, als hätten sie einen unbegrenzten Vorrat. »Was ich am meisten vermisse, ist der Mond«, sagte Leigh-Cheri. Der Outlaw sagte, er vermisse ihn auch. Was sie tun würden, wenn sie befreit wären, und ob sie es zusammen tun würden oder nicht, war ein Thema, das sie planvoll vermieden. Offensichtlich war Leigh-Cheri in diesem Winkel des Waldes gestrandet. Sie würde die Pyramide so weit hinter sich lassen müssen wie den Verlobten, der sie gebaut hatte. Und trotz gewisser prickelnder Erinnerungen an seinen langen glitschigen Schaft, an dessen faszinierenden Schwung und seine violette Krone, konnte es nicht weit genug sein, um ihr zu genügen. Sie könnte bei Gulietta vorsprechen und mal einen Blick auf ihre eigentlichen Wurzeln werfen. (Auch Bernard hatte eine stehende Einladung, Guliettas Palast zu besuchen.) Danach würde sie wahrscheinlich nach Amerika zurückkehren. Bernard auch, zweifellos. Aber was ein Leben zu zweit betraf, nun, Bernard konnte ihren arabischen Bettgenossen übersehen, aber
es gelang ihm nicht, ihre Neigungen zu guten Taten und Gruppendenken zu vergessen, und Leigh-Cheri fing an, zu befürchten, daß Cupido im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts zu verwirrt, verrückt und ganz allgemein bekloppt war, um an Ort und Stelle zu bleiben und einen Job zu Ende zu bringen. »Es gibt drei verlorene Kontinente«, klagte sie. »Einer sind wir: die Liebenden.«
99 Vom unsichtbaren Biogenerator der Pyramide bezogen sie ungeheure Energie, die sie in Nonstop-Gesprächen und im Widerstand gegen das sexuelle Verlangen abbauten. Es gab eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen, daß sie, da die Zukunft ihrer Beziehung einer Neubewertung bedurfte, nicht von etwas abbeißen wollten, was sich als Junk-Food-Sex erweisen könnte. Sie tauschten dann und wann einen Kuß und bespitzelten einander, wenn sie zum Pinkeln in ihre jeweilige Ecke gingen, benahmen sich aber sonst, als wäre sie in Virgin Mary, Georgia, aufgewachsen und sein Aftershave wäre No Mi Molestar. Meistens plauschten sie. »Leigh-Cheri, du warst im Begriff, diesen Mann zu heiraten. Kanntest du ihn nicht einmal gut genug, um seine jetzige Bekundung schlechter Manieren vorhersehen zu können?« Sie dachte darüber nach. »Hm – er hat einmal etwas Gespenstisches gesagt. Er hatte getrunken und prahlte irgendwie
damit, wie mächtig er und seine Familie wären. Er sagte, daß sie die Vereinigten Staaten vor der Kimme hätten. Er sagte, wenn Amerika mit irgend jemand – Rußland zum Beispiel – Krieg anfinge, könnten er und seine Leute den Ausgang bestimmen. Er sagte, sie könnten jederzeit, wann es ihnen gefiele, Amerikas Ölversorgung abschneiden, und daß es dann mit unserem Land aus und vorbei wäre. Falls die Araber auf die Idee kämen, ihr Öl zurückzuhalten, könnten wir einer ausländischen Invasion nicht widerstehen. Glaubst du, das liegt drin?« »Yeah, tut es wahrscheinlich.« »Beunruhigt dich das nicht?« »Teufel, nein. Ich werde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Wie ich mir überhaupt über keinen Aspekt von Politik und Ökonomie den Kopf zerbreche.« »Du steckst deinen Kopf in den Sand. Wenn Rußland Amerika erobern würde, das wäre schrecklich.« »In mancher Hinsicht – ja. Niemand auf der Welt ist nur halb so langweilig wie die Kommunisten, egal welcher Nationalität, und die Slawen waren von Anfang an auf der dunklen und trostlosen Seite. Der Kommunismus ist das beste Beispiel dafür, wie politischer Idealismus Menschen in Androiden verwandeln kann. Du kannst darauf wetten, die hellen Lichter würden verblassen, wenn diese Roboter jemals ihre Eisenpfoten auf unseren Schalter legten. Aber ich brauche nicht aus dem Haus zu gehen, um Spaß zu haben. Ich würde immer noch Wege finden, um zu rocken und zu rollen.« »Selbstsüchtig. Frivol. Unrei – « »Wart einen Moment. Halt mal. Was ich sage, ist einfach, daß jede totalitäre Gesellschaft, ganz gleich wie streng, ihren
Underground hat. Eigentlich zwei Untergründe. Es gibt den Untergrund, dem es um die Erhaltung von Schönheit und Spaß geht – und das heißt, um die Erhaltung des menschlichen Geistes. Laß mich dir eine Geschichte erzählen. In den vierziger Jahren, im nazibesetzten Paris, machte ein Künstler namens Marcel Carné einen Film. Er drehte ihn vor Ort auf der Straße der Diebe, der alten Pariser Theaterstraße, wo es einst alles gab, von Shakespeare Companies bis zu Flohzirkussen, von der Grand Opera bis zu Girlie Shows. Carnés Film war ein Zeitstück und verlangte Hunderte von Komparsen in Kostümen des neunzehnten Jahrhunderts. Er verlangte Pferde und Kutschen und Jongleure und Akrobaten. Der Film war am Ende über drei Stunden lang. Und Carné drehte ihn direkt vor der Nase der Nazis. Der Film ist eine dreistündige Bejahung des Lebens und eine Untersuchung des seltsamen und manchmal verheerenden Magnetismus der Liebe. Romantisch? Oh, Baby, er ist romantisch genug, um ein Reiseposter seufzen und ein Sonett erröten zu lassen. Aber völlig kompromißlos. Es ist eine Feier des menschlichen Geistes in all seinen dämlichen, liebenswürdigen und grotesken Erscheinungen. Und er drehte ihn mitten in der Nazi-Okkupation, filmte dieses Prachtstück direkt im Bauch der Bestie. Er nannte es Les enfants du paradis – Kinder des Olymp –, und vierzig Jahre später bewegt er noch immer die Zuschauer rund um die Welt. Nun, ich will der französischen Resistance nichts absprechen. Ihre tapferen Überfälle und Sabotageakte haben die Deutschen zermürbt und halfen, ihren Untergang herbeizuführen. Aber in mancher Hinsicht war Marcel Carnés Film, seine Kinder des Olymp, wichtiger als der bewaffnete Widerstand. Die Widerständler retteten vielleicht die Haut von Paris, Carné hielt seine Seele lebendig.«
Leigh-Cheri drückte Bernards Hand, bis die Sommersprossen die Farbe wechselten. Die Sommersprossen rafften ihre Habe zusammen und eilten an die Fingerspitzen. Die Sommersprossen machten sich bereit, das Schiff zu verlassen. »Du mußt mich eines Tages mitnehmen, um diesen Film anzusehen. Versprichst du das?« »Ich verspreche es, Leigh-Cheri. Und wir werden einen Weg finden, ihn zu sehen, ganz egal was die Politiker und die Generale tun. Der kommunistische Totalitarismus wird uns nicht aufhalten, und auch nicht die kapitalistische Inflation. Wenn die Karten tausend Dollar das Stück kosten, werden wir ohne mit der Wimper zu zucken bezahlen. Und wenn wir uns nicht leisten können zu zahlen, werden wir uns einschleichen. Danach werden wir uns Hostess Twinkies und eine Flasche Wein leisten. Und wenn Twinkies und Wein zu teuer sind, werden wir Korn und Trauben anbauen und selbst welche machen. Und wenn sie unseren kleinen Weinberg und unser TwinkieFeld beschlagnahmen, nun, dann werden wir das, was wir brauchen, von denen stehlen, die im Überfluß haben. Ach, Leigh-Cheri, das Leben ist zu kurz, um uns eine seiner Freuden von den traurigen, kranken Androiden rauben zu lassen, die Gesetz und Wirtschaft kontrollieren. Und wir werden sie uns nicht rauben lassen. Nicht mal im Totalitarismus. Nicht mal in einer Pyramide.« Damit ließ er die letzte übriggebliebene Champagnerflasche knallen und nahm einen tüchtigen Schluck, viermal die Menge seiner täglichen Ration. Er reichte sie Leigh-Cheri, und sie tat dasselbe. »Yum«, sagte er. Sie schien ihm beizupflichten.
100 Die nächsten zwei Tage trank Bernard keinen Champagner, und Leigh-Cheri nippte nur genug, um ihre Lippen anzufeuchten. Auch so blieb wenig übrig … Vom Kuchen, dem Kuchen, dessen schneeige Schichten einst unerschöpflich erschienen wie eine natürlich Rohstoffquelle, waren nur noch Krümel übrig. Krümel und der gebrochene Zuckerflügel eines Konfiserie-Cherubs. Schlimmer noch, in allen Lampen bis auf eine war das Öl verbraucht. Sie beschränkten sich auf ein oder zwei Stunden Lampenlicht täglich und verbrachten die meiste Zeit im Dunkel. Ein Monat war verstrichen – obwohl sie keine Möglichkeit hatten, dies zu berechnen – und es begann sich auszuwirken. Selten erwähnten sie die Möglichkeit des Todes, doch sie war in ihren Augen, wenn die Lampe flackerte, sie war in der Art, wie sie auf den schwindenden Rest von Speis und Trank starrten. Sie konnten sich nicht vorstellen, warum niemand gekommen war, um nach ihnen zu sehen. Die dicken Granitmauern sorgten dafür, daß sie die Arbeiter nicht hören konnten, die mit Spritzpistolen über die Pyramide schwärmten. Ibn Fisel ließ sie schwarz färben. Niemand würde je wieder die Pyramide betreten dürfen, verfügte Fisel. Sie war für immer geschlossen, ein Denkmal für seine Geliebte. Einmal ging Leigh-Cheri so weit, zu sagen: »Falls man uns nach vielen, vielen Jahren hier drin finden sollte, werden wir genauso aussehen wie jetzt. Dank der Pyramidenkraft werden
unsere Leichen vollkommen konserviert sein.« »Gut«, sagte Bernard. »Schönheit wie die meine hat es verdient, zu überdauern. Ich will, daß die Kinder von morgen meine Zähne anstaunen können.« »Es ist schon eine ziemliche Ironie, wie das alles mit Pyramiden angefangen hat und endet. Ich meine, wir wären nicht in diesem Ding hier eingesperrt, wenn nicht die Camel-Packung gewesen wäre. Und, natürlich, deine verrückte Geschichte über die Rotbärte von Argon. Ich schätze, es geht noch weiter zurück als auf die Camels. Es geht bis auf unser rotes Haar zurück.« »Das vollkommen konserviert sein wird, Gott sei Dank.« »Yeah, sicher. Aber es ist eine Ironie. Ich wollte das Rätsel der Pyramiden lösen, und hier bin ich nun in eine eingesperrt, werde vielleicht in einer sterben und bin von der Antwort so weit entfernt wie eh und je.« »Meinst du, das ist alles, was du wolltest? Die Bedeutung der Pyramiden erfahren?« »Was willst du damit andeuten: alles, was ich wollte? Das ist eine ganze Menge. Ich vermute, du kennst die Bedeutung der Pyramiden.« »Tu ich.« Sie glaubte ihm halbwegs. »Willst du mich dann bitte aufklären? Wie kommt es, daß du die Bedeutung gefunden hast, wo so viele andere gescheitert sind?« »Einfach. Es liegt daran, daß andere – wie du selbst – die Pyramiden falsch aufgefaßt haben.« »Falsch aufgefaßt?« »Yep. Ihr habt eine Pyramide aufgefaßt, als wäre sie ein Fertigprodukt, der ganze Posten, die Sache selbst. Aber eine Pyra-
mide ist lediglich ein Teil der Sache, und zwar das Unterteil. Pyramiden sind Podeste, Baby. Eine Pyramide ist lediglich ein Sockel, um etwas anderes draufzustellen.« »Meinst du das ernst?« »Tu ich.« »Hm, Jesus, Bernard. Was stand denn auf den Pyramiden?« »Seelen. Seelen wie du und ich. Und jetzt müssen wir auf ihnen stehen. Die Pyramide ist das Unterteil, und das Oberteil sind wir. Die Spitze, das sind wir alle. Alle, die wir verrückt genug und tapfer genug und verliebt genug sind. Die Pyramiden wurden als Podeste gebaut, auf denen die Seelen der wahrhaft Lebendigen und wahrhaft Verliebten stehen und den Mond anbellen konnten. Und ich glaube, daß unsere Seelen, deine und meine, für immer oben auf den Pyramiden stehen werden.« In der Dunkelheit fand sie ihn und drückte ihn, bis abermals der Kapitän der Sommersprossen alle Mann in die Rettungsboote befahl. (Bekamen die Rettungsboote Sommersprossen?) Er erwiderte den Druck. Ihre Lippen berührten sich und überraschten sie beide mit der Menge an Saft, die sie produzierten. Bald waren ihre Gesichter nicht lang genug, um ihre Küsse aufzunehmen, und ihre Münder streiften frei herum, jeweils über den beschmutzten Körper des anderen. Er drang mit einem hörbaren Glitsch in sie ein, und geschwächt wie sie waren, machten sie langsam und süß mehr als eine Stunde lang Liebe. Danach schlief er auf den Steinen unter dem Tischtuch ein. Erst als er leise zu schnarchen anfing, schlüpfte sie fort und präparierte das Dynamit.
101 »Vögel von gleichem Gefieder, laßt euch beisammen nieder«, dachte die Prinzessin. »Jetzt bin ich die Bombenwerferin.« Sie hatte die Zündschnüre zusammengeflochten – kein leichtes Kunststück in der Dunkelheit – und die Dynamitstangen gegen die Tür gelehnt. »Ich bin der Specht.« Sie strich eines seiner letzten Zündhölzer an und hielt es an die Spitze des Zöpfchens. Als es zu zischen anfing, warf sie die Zündholzschachtel weg und tastete sich geschwind zu Bernard zurück. Sie hatte den Empfangstisch, den Tisch, der den Kuchen und den Champagner getragen hatte, auf die Seite gekippt. Er bildete eine dürftige Barrikade neben Bernards schlafender Gestalt. Sie stieg über den Tisch und sank auf ihn nieder. Er schlief auf dem Rücken. Mit all ihrer Kraft preßte sie ihren nackten gänsehäutigen Körper gegen den seinen, ihn beschirmend, ihn schützend. Ihr Gesicht bedeckte sein Gesicht, ihre Arme bargen seinen Kopf. Anfangs dachte er, sie hätte noch mehr Sex im Sinn, und er murmelte einen glücklichen Protest. Als der Druck, den sie ausübte, ihn zu beunruhigen anfing, kämpfte er seinen Kopf frei. »Leigh-Cheri, ich kann nicht atmen«, sagte er. Seine Stimme war gedämpft. Leigh-Cheri verstärkte den Druck. »Du bist für diese Welt besser ausgestattet als ich«, sagte sie. »Ich versuche immer die Welt zu verändern. Du verstehst es, in ihr zu leben.« Jetzt war er voll da. Erst roch, dann hörte er die zischende Zündschnur. Er begriff, was sie getan hatte. Er hatte dasselbe geplant gehabt. Nur hatte er beschlossen, sich noch einen
weiteren Tag zu schenken, noch eine Chance, Liebe mit ihr zu machen. Sie war ihm zuvorgekommen! Sie opferte sich, um ihn zu retten. Die Prinzessin als Held. »Ich habe einen Weg gefunden, die Liebe zum Bleiben zu bewegen«, sagte sie. Er kämpfte, um sich herumzuwälzen, die Stellung zu wechseln, aber sie klammerte mit ihren Beinen, und er konnte sie nicht umdrehen. Indem er sein Adrenalin schneller pumpte, als eine der Fiselschen Quellen Öl, raffte er den letzten Rest der ihm noch verbliebenen Kräfte zusammen und begann sich, Muskeln spannend, Sehnen reckend, Zähne funkenschlagend, auf die Füße zu zwingen. Er war halbwegs oben – Leigh-Cheri hing noch immer fest wie eine Klette –, als sie zwischen seine Beine griff und seine Klöten packte. Sie quetschte sie so grimmig, daß er fast das Bewußtsein verlor. Schmerz stürzte durch die Vordertür herein, Kraft schlüpfte durch die Hintertür hinaus. Sie kippten gemeinsam um. Galaxien und Teddybären wischten vorbei, während sie stürzten; Frösche hüpften von Stern zu Stern, der Mond tanzte Fandango, sie sahen Max und Dude, Tilli und Kathleen, Ibn und Ralph Nader, funkelnde Brombeeren, rein goldene Zwiebeln und die musikalischen Berggipfel von Mu. Sie landeten mit einem einzigen schmerzhaften Bums auf der Camel-Schachtel. »Yum«, raunte sie eindringlich in seinen Bart. Dann ging die Bombe los.
102 Der Mond kann nichts dafür. Er ist nur ein Objekt. Der Mond hat nicht die Absicht, die Dinge schwappen zu lassen – in jedem Meeresbecken, im Schoße jeder Frau, in jedes Dichters Tintenfaß, im Sabber jedes Irren. »It’s only a paper moon / Sailing over a cardboard sea.« Der Mond kann nichts dafür, wenn die besten Spielsachen aus Papier sind und die besten Metaphern aus Käse. Man sagt, daß verlorene Objekte auf dem Mond landen. Ist eine Sirene verantwortlich für den Schlagergeschmack eines Seemanns? Der Mond kann nichts dafür. Er ist nur ein dickes dummes Objekt, der Kürbis des Himmels. Der Mond ist eine Schweinerei, um die Wahrheit zu sagen. Eine ausgebrannte Schlacke von der Farbe des Spülwassers. Ein schal-graues Plätzchen, mit Narben besät. Jeder lockere Stein in unserem Sonnensystem hat ihm einen Schlag versetzt. Er wurde gesteinigt, versengt, golfgeschlägert und von Furunkeln befallen. Wenn die Liebenden dieses brutal mißhandelte Wrack, diese gefolterte Staubkugel, dieses löcherige und pickelige Stück Ödland als Behältnis ihrer Träume erwählt haben, so kann der Mond nichts dafür. Sonnenenthusiasten verweisen gern darauf, daß der Mond lediglich das Licht der Sonne widerspiegelt. Ja, der Mond ist ein Spiegel. Er kann nichts dafür. Der Mond ist der Ur-Spiegel, der sich als erster geweigert hat, das Wort CHOICE umzudrehen. Objekte können nicht denken. Sie verwenden andere Methoden. Aber wir Menschen benützen Objekte, um damit zu den-
ken. Und was den Mond betrifft, haben Sie die freie Wahl, zu denken, was Sie wollen. Wenn der Mond jetzt wie ein Omen, wie ein billiger literarischer Trick über Fort Blackberry hing, konnte er nichts dafür. Der Mond hing einfach dort. Bernard Mickey Wrangle und Prinzessin Leigh-Cheri fuhren in einem Taxi vor.
103 Bernard erlangte als erster das Bewußtsein wieder. Er erwachte in einer arabischen Klinik, die sich durch Bettpfannen aus Ziegenhaut und rotzgrüne Wände auszeichnete. Er brauchte eine Stunde, um zu begreifen, warum die schwärmenden Fliegen nicht summten. Einen Wink bekam er, als die Polizei ihn mittels Schreibblock zu verhören begann. Er war taub. Natürlich glaubten sie, daß er der Kidnapper sei. Sie fragten ihn, ob seine Motive politischer oder sexueller Natur waren. Er schrieb auf den Block: »Fickt euch ins Knie auf einem rollenden Ölfaß. Fickt euch ins Knie auf dem Koran.« Die Polizisten schauten sich an und nickten. »Politisch und sexuell«, sagten sie. Er dachte nur an Ausbruch. Zuerst mußte er herausfinden, was sie mit Leigh-Cheris Leiche gemacht hatten. Er beabsichtigte, ihre Asche nach Hawaii zu bringen. Er würde am Strand bei Lahaina eine Sandburg in Pyramidenform bauen. Er würde ihre Asche auf die Pyramide streuen und zuschauen, wie die Wellen
sie holten und nach Mu entführten. Sein Denken war an diesen morbiden Plan gekettet, wie seine Beine ans Bett. Am dritten Tag schlossen sie seine Fußeisen auf. Sein Denken blieb angekettet. »Sie sagen, du unschuldig«, schrieb der Polizist. Bernard schoß hoch. »Du meinst, sie lebt!« sagte er. Er konnte es sich nicht sagen hören. Sie nickten. Sie führten ihn den Flur hinab zu ihrem Zimmer. Zwei Drittel ihres Haars waren abgesengt. Ihre rechte Wange war zernarbt wie die des Mondes. Aber sie war wach und lächelte. Er deutete auf seine Ohren. Sie deutete auf ihre. Auch sie war taub. Sie griff nach dem Schreibblock. »Hallo, Drachenköder«, schrieb sie.
104 Die Klinik wollte sie nicht entlassen. Ibn Fisel hatte angeordnet, sie festzuhalten. Ibn Fisel kam von einem amerikanischen Businesstrip nach Hause geeilt. Beide wußten, was seine Rückkehr bedeuten würde. Gulietta traf vor Ibn ein. Ihr Premierminister, ein bärtiger Riese mit Patronengurt, begleitete sie. Und fünfundzwanzig Rebellenkommandos. Königin Gulietta empfahl Haj Fisel, ihr das junge Paar auszuliefern. Sie drohte einen internationalen
Zwischenfall an. Der alte Sultan folgte ihrer Logik. Oftmals hatte er seinen Sohn gewarnt, daß Rothaarige nichts als Schwierigkeiten brächten. »Schafft sie gleich von hier fort«, sagte er zu Gulietta. »Ich werde mich um meinen Sohn kümmern. Shalom.« Sie erholten sich in Guliettas Palast. Abgesehen von ihren Trommelfellen, verlief die Heilung rasch. An einem Schreibtisch in ihrem Zimmer (Königin G. war keine prüde Maid) schrieb Bernard einen Brief an Leigh-Cheri. Ungeduldig las sie über seine Schulter mit. Er schilderte einen Traum. Oder eine Halluzination. Er schrieb, daß er, als er und Leigh-Cheri kurz vor der Explosion auf den Boden fielen, das Gefühl gehabt hatte, als wären sie in die Camel-Schachtel hineingefallen. »Die ganze Zeit, während ich bewußtlos war«, schrieb er, »träumte ich – schätze, ich träumte –, daß wir durch die CamelSchachtel entkommen waren. Daß wir in sie hineinliefen und das Kamel einfingen und auf ihm ohne Sattel zur Oase ritten –« Sie nahm ihm den Schreibblock ab. »Wir mußten schnell reiten«, schrieb sie, »weil wir nackt waren und die Sonne heiß. Rothaarige verbrennen leicht.« Bernard eroberte Papier und Stift zurück. »Ja«, schrieb er, »das stimmt. Wir schafften es bis zur Oase, wo wir uns beim Wasserloch im Schatten der Palmen ausruhten.« Leigh-Cheri riß den Schreibblock an sich. »Es gab einen Frosch im Tümpel, und wir fragten uns, wie ein Frosch dort mitten in die Wüste käme.« Bernard grabschte den Block. »Wieso weißt du das?« Sie war an der Reihe. »Wir aßen frische Datteln. Du machtest
eine spaßige Bemerkung über Datteln als Abführmittel. Ein paar Beduinen kamen vorbei, und sie schenkten uns eine alte Kameldecke. Eine Decke für uns beide. Wir wickelten uns in sie ein – « »Sie war braun«, schrieb Bernard. Er war so aufgeregt, daß der Stift zitterte. »Mit ein paar Streifen Blau.« »Wieso weißt du das?« »Ich hatte den gleichen Traum. Es schien wirklicher als ein Traum zu sein. Eine Halluzination? Ein – « »In der Abenddämmerung machten wir Liebe.« »Du fingst an, meine Zehen zu lutschen.« »Deine Zehen sind niedlich. Und dann zeitigten die Datteln ihre Wirkung.« Die Prinzessin lachte. »Du fragtest dich, ob es eine Herrentoilette bei der Pyramide drüben gäbe.« »Wir beschlossen, Pyramiden zu meiden. Außer als Podeste. Wir schliefen beim Tümpel. Wieso weißt du das? Wieso wissen wir es? Könnten wir beide genau den gleichen Traum gehabt haben?« »War es denn ein Traum?« Sie starrten einander in ungläubigem Schweigen an, und zitternd sogar ein wenig, als Gulietta eintrat. Es hätte nicht viel Sinn gehabt, vorher anzuklopfen. Gulietta brachte ein Telegramm von Tilli. Es gab Neuigkeiten von Max. Das Verschwinden und die Wiederauferstehung seiner Tochter waren für den König zuviel gewesen. Seine Klappe hatte Bingo gemacht. »Ich wette dir, daß du bald okay biest«, hatte Tilli zu ihm gesagt, als er zusammenbrach. »Du
kriegst fünf gegen zwei heraus, daß ich’s nicht bin«, antwortete Max. Er hatte gewonnen. Fürs erste vergaßen Bernard und Leigh-Cheri die CamelPackung – und ob sie sie im Augenblick der Explosion beschützt hatte. Sie hatten das letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts vor sich und vielleicht noch mehr, um ihre Kürbisse damit zu plagen. König Max wurde in Reno beigesetzt. Weit weg von den Brombeeren. Bernard und Leigh-Cheri nahmen am Begräbnis teil. Später setzten sie Tilli in ein Flugzeug nach Europa. Gulietta hatte sie zur Managerin der Nationaloper ernannt. »Ich wärrd ein Arrbeitermädel sein«, sagte Tilli. »Oh-oh, SpaghettiO.« Bernard und Leigh-Cheri flogen nach Seattle. Als sie das Haus der Furstenberg-Barcalonas erreichten, entdeckten sie, daß es von Brombeerranken verschlungen worden war. Chuck, der noch immer über der Garage hauste, hatte einen Tunnel zur Haustür gehackt. Chuck tauchte durch die Brombeeren, um auf Max’ alter Magnavox Sportsendungen zu verfolgen. Der Taxifahrer erbot sich, Bernard und Leigh-Cheri zu einem Hotel zu fahren. Sie lehnten ab. Sie betraten den Tunnel im Mondlicht. Sie richteten ihr Leben im Haus ein. In den Dornen und Beeren. Sie gingen selten aus, es sei denn Shopping. Sie genossen die Supermärkte. Apotheken. Gemüsestände. Tabakläden. SparO-Märkte. Fleisch-O-Ramas. Familien-Schuh-SBs. Buddy Squirrle’s Nuts & Candies. Werkzeugläden. Wohin sie auch blickten, geschah etwas Bedeutsames. Sie machten zu allen Stunden und in jedem Winkel des Hauses Liebe. Manchmal mußte Chuck über sie hinwegsteigen, um
zum Fernseher zu gelangen. Aber nachdem sie an der Einsamkeit Geschmack gefunden hatten, verbrachte jeder von ihnen Tage separat und allein, Leigh-Cheri auf dem Dachboden, Bernard in der Vorratskammer. Komisch, daß wir meinen, zur Romantik gehörten immer zwei, während die Romantik der Einsamkeit ebenso köstlich und intensiv sein kann. Allein gibt die Welt sich uns ungehemmt hin. Unmaskiert. Sie hat keine andere Wahl. Natürlich regnete es eine Menge. Den berühmten Seattier Regen. Falls die Liebe zu bleiben gedachte, tat sie besser daran, sich auf nasse Füße gefaßt zu machen. Leigh-Cheri fing an, an der Staffelei zu malen. Stilleben. Sie war nicht schlecht. Bernard trug hölzerne Streichhölzer mit sich herum. »Jeder braucht ein Hobby«, erklärte er. Einmal science-fictionte über den Bergen im Osten ein seltsamer Lichtschein durch den Himmel. Da blitzten Lichter in allen Farben bis auf eine. Als Bernard und Leigh-Cheri sicher waren, daß das Ding weitergeflogen war, versicherten sie einander, daß sie stolz darauf wären, Rotköpfe zu sein. Daß sie bereit sein würden, wenn der Showdown käme. Mit ihrem Anteil an Max’ Gewinnen kaufte Leigh-Cheri starke Hörgeräte. Ihrs war rosa, Bernards war schwarz. Jedes Hörgerät war etwa von der Größe einer Camel-Schachtel. Sie waren aus Plastik und hatten die Angewohnheit zu piepen. Sie waren bewundernswert. Selbst mit den Geräten war ihr Gehör nur teilweise wiederhergestellt. Dennoch waren sie überzeugt, daß sie das Eichhörnchen im Mittelpunkt der Erde hören konnten. Sie konnten feststellen, daß das Eichhörnchen jetzt ruhig lief. Seine Trommel kreiste leicht und frei.
EPILOG Ah, wir haben die Nacht überstanden. Ich muß es der Remington SL3 lassen, sie hat durchgehalten, trotz, wie’s einer Schreibmaschine ihrer Klasse erscheinen mochte, außerordentlich primitiver Bedingungen. Ich werde nie wieder einen Roman auf einer elektrischen Schreibmaschine schreiben. Lieber würde ich einen spitzen Stock und ein Häufchen Hundedreck verwenden. Aber die Remington, obgleich für meinen Geschmack zu pseudokultiviert, ist immerhin ein Objekt – und war nicht die Möglichkeit eines Umschwungs in den Beziehungen zwischen belebten und unbelebten Objekten eines der Themen dieses Buches? Ja, dies ist das Buch, das den Zweck des Mondes verriet. Und wenn es vielleicht auch nicht genau offenbart hat, was mit der goldenen Kugel passierte, hat es klargestellt, warum die Frage aufgeworfen werden mußte. Objekthaftigkeit war keineswegs unser einziges Hauptthema. Da war zum Beispiel die Frage der Evolution des Individuums, daß die Entwicklung für den Menschen nicht von der Natur oder der Gesellschaft gesteuert wird, sondern die zentrale Dimension eines persönlichen Dramas ist, bei dem Natur und Gesellschaft nur Zuschauer sind. Wurde nicht klar gesagt, daß die Zivilisation kein Ziel an sich ist, sondern nur ein Theater oder einen Turnsaal abgibt, in dem das sich entwickelnde Individuum Übungsmöglichkeiten findet? Und wo wir von Themen reden, wie steht’s mit – Aber warten Sie einen Moment. Halten Sie mal. Ich bin in die Falle gelaufen. Dies ist
genau die Sorte analytischer post-factum-Gänsemist, in den die Remington SL3 ihre Zähne schlägt. Kein Wunder, daß sie noch immer drauflos klappert, trotz Brennstoffmangels, trotz der roten Email-Verputzfarbe, die in ihre Eingeweide geflossen ist. Genug, es reicht. Ich zieh jetzt den Stö öp ppppsel