Michael Springer
Bronnen
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Michael Springer
Bronnen
dtv
Ungekürzte Ausgabe Dezember 1983 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1981 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg ISBN 3-455-07331-X
Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-10202-0
Das Buch Weil er nach seinem abgebrochenen Chemiestudium nichts mit ich anzufangen wußte, ist Seebaum zum Außenseiter geworden. In die Stadt Bronnen ist er auch nur gekommen, um eine Urlaubsfreundin wiederzusehen, aber dann bleibt er länger. Er hängt in der Wohngemeinschaft der kühlen Anna herum, die ihn allenfalls duldet. Daß er behauptet hat, er wäre Reporter, war zunächst eine Ausrede. Aber dann kann er tatsächlich bei der Lokalzeitung einsteigen und hat auch überraschenderweise Erfolg. Jedenfalls so lange, bis er über einen Giftmüllskandal stolpert, der die Stadt Bronnen und ihre Bürger bedroht… »Springer beschreibt, wie ein Außenseiter über die Auseinandersetzung mit der Umwelt zu sich selbst findet: fast beiläufige Erkenntnisse, spannend bis zum Schluß.« (Westdeutsche Allgemeine Zeitung) Der Autor Michael Springer, geboren am 8. August 1944 in Salzburg, besuchte die Jesuitenschule und das humanistische Gymnasium in Wien, wo er auch studierte und im Fach Theoretische Physik promovierte. Während seiner Tätigkeit in einem Kernenergie-Institut begann er zu schreiben. Redakteur des ›Neuen Forums‹ in Wien. Zahlreiche Hörspiele. Lebt heute in Aachen. Weitere Werke: ›Dübel & Dergl.‹ (1972), Prosa; ›Was morgen geschah‹ (1979), Roman.
Man hatte sich wirklich Mühe gegeben, Seebaum zu empfangen. Der internationale Zugfahrplan war eigens abgeändert worden, um den Zug auf freier Strecke halten zu lassen. Das war das Schwierigste von allem gewesen. Der Rest war nur der Gipfel und das Ende abendländischer Technik: ein bißchen Holographie, Phantomatik und Illusionistik. Sekundenschnell hatte man auf freiem Feld einen modernen Bahnhof gezaubert, und damit er echt aussah, trug er sogar die Spuren der Zeit. Von den Metallteilen liefen Rostspuren über den Beton, durch »Bronnen Hauptbahnhof« zog sich ein plausibler Sprung, und über die ganze Halle war ein Meister mit zartem Pinsel gegangen und hatte ihr den unverwechselbaren Ton verpaßt, den eigentlich nur Autoabgase, gelöst in Regenwasser, nach Jahrzehnten jedem Bauwerk in Großstädten schenken. Die Komparserie machte ihre Sache ausgezeichnet. Das Personal kümmerte sich um die Postwagen, der Zugschaffner plauderte mit einem Kollegen, der so tat, als wäre er nicht vor zwei Sekunden zusammen mit Bronnen erfunden worden. Und der alte Mann, der gerade einsteigen wollte, als Seebaum seinen Koffer mit dem Knie auf den Bahnsteig hinausschob, der höflich lächelnd beiseite trat und sich zu einem ungeduldigen Hintermann erklärend umdrehte, hatte nicht nur eine Vorderseite aus Latex, Glas und Kunsthaar, hinten aber ein Faserwerk aus Relais und Drähten: Er war eine rundum geschlossene, wenn auch restlos künstliche Persönlichkeit; der aschgraue Trenchcoat war keine halbe Sache, der Gürtel lief um den Rücken, schütteres Haar lag auf einem spitzen Hinterkopf, an dem man nicht einmal die Greisenfalten im Grübchen zwischen den Stützmuskeln des synthetischen Kopfes vergessen hatte.
Kritisch prüfte Seebaum die Tragfähigkeit des eingebildeten Perrons: Ausgezeichnete Arbeit! Der Schritt hallte richtig in dem hohen Tunnel aus Glas; wenn er kräftig auftrat, zuckte sogar ein schwirrender, zwitschernder Klang durch den Bahnhof. Seebaum mußte lächeln. Dieser Super-Realismus war ein wenig zuviel des Guten und überzeugte ihn erst recht davon, daß Bronnen nur Schau war. Die Bahnhofshalle war Dutzendware. Die Erfinder von Bronnen hatten auf die sonst übliche Subkultur verzichtet und die Strichjungen und Tippelbrüder vergessen. Doch der dicke blaue Mann aus Plastik, der hinter Glas immerfort nickte und lächelnd auf eine Bekanntmachung hinwies, die vor Schwarzfahren warnte, war ein hübscher Einfall. Um Seebaum zu ärgern, hatten sie sich Scherze mit den Glastüren erlaubt. Eine war versperrt, eine andere ging nach innen auf und ließ sich erst bewegen, als er sich mit beiden Händen daran hängte. Eine Schülerin im Parka, Kaugummi im Mund, beobachtete Seebaums Kampf mit Koffer und Schwingtür. Aufatmend machte Seebaum eine große Drehung und blinzelte draußen in die tiefe Sonne. Wie bei Menschen ist bei Städten der erste Eindruck zwar falsch, aber entscheidend. Das also war Bronnen. Vom Bahnhof aus gesehen bot Bronnen noch kein typisches Bild. Seine Erfinder hatten ohne viel Phantasie Betonwände hingestellt und in Grautönen bemalt. Mit farbigen Buchstaben sorgten sie für Abwechslung. Sparkassen, Bahnhofshotels, ein städtisches Gebäude: Seebaums Augen glitten ab und beruhigten sich auf einem Fahrradständer, um den zwei Kinder im Kreis liefen. Ein Bus wartete mit laufendem Motor, der Fahrer änderte mit einem Stift die Zahlen des Entwerters. Ein Taxi hielt, der Fahrer stieg aus, öffnete den Kofferraum und
stellte einen Koffer an den Straßenrand. Der Berufsverkehr schob sich langsam vorbei. Erst jetzt sah Seebaum das Denkmal. Auf einem steinernen Hügel hob ein grünes Pferd einen Huf. Es trug keinen Reiter! Auf einmal ganz froh, packte Seebaum den Koffer und ging zu den Taxis. Aber niemand erwartete Seebaum in Bronnen, niemand sah ihn an, er war unsichtbar. Man stieg an ihm vorbei in die wartenden Wagen und ließ sich davonfahren. Rundum traten Männer auf ihre angekommenen Frauen zu und nahmen ihnen nach einem Kuß den Koffer ab. Ein Kind sprang an seinen Eltern hoch, gerührt sahen die Großeltern zu. Ein Türke legte den Arm um ein Mädchen mit Kopftuch. Von Seebaum aber nahm niemand Notiz, man hätte direkt durch ihn hindurcheilen können. Er war aus dem Zug als ein Schatten gestiegen. Körperlos bewegte er sich über den Platz, nichts als ein leises, schmerzendes Gefühl, nichts als ein Wind zwischen Telegrafendrähten. Zwei Augen und ein Gefühl der Schwere – mehr war Seebaum nicht, als er in Bronnen ankam. Er kehrte um, stellte den Koffer in ein Schließfach, steckte die Hände in die Manteltaschen und ging dorthin, wo er den Stadtkern vermutete. Er hatte kein Ziel, keinen Auftrag, keine Arbeit. In dieser Lage, die jeder minuten- oder jahrelang kennengelernt hat, erhöht sich die Empfindlichkeit für den Preis und das Gewicht aller Dinge bis an die Schmerzgrenze. Seebaum kam nach Bronnen wegen einer Frau. Sie wußte nicht, daß er sie suchte. Vor zwei Monaten hatten sie telefoniert und einander versichert, daß es gut gehe. Sie hatte sehr viel zu tun, freute sich über seinen Anruf und schlug vor, in einem halben Jahr gemeinsam ans Meer zu fahren. Darüber hatte Seebaum sich so sehr gefreut, daß er sie sofort sehen wollte. Ihr das mitzuteilen, hütete er sich aber, um sie nicht abzuschrecken. Hätte sie
gewußt, daß er im Leben nichts anderes vorhatte, als sie oft zu sehen, sie hätte sich ihm ganz entzogen. Daß Seebaum keine Laufbahn vor sich sah, fand er selbst abnorm. Jeder arbeitet doch! Man stellt sich mit Namen und Beruf vor. Alle Gespräche drehen sich um die Arbeit, und auch wer über die Freizeit spricht, meint damit nur einen von seiner Arbeit definierten Zwischenraum. Das spürte Seebaum erst so stark, seit er nur noch Freizeit hatte. Leider wußte Seebaum einstweilen nur, was er nicht wollte, nicht, was er sollte. Alles, was ihm das Leben bisher an Möglichkeiten angeboten hatte, fand er unmöglich, geradezu tödlich. Er hatte viele Semester Chemie studiert und als Laborant in einem großen Chemiewerk gearbeitet. Daneben hatte er auch einige Vorlesungen über Philosophie, Germanistik und Zeitungswissenschaften gehört. Nichts daran hatte ihn überzeugen können. Andererseits schien niemand, den Seebaum kannte, überzeugt von dem, was er machte. Und doch arbeitete alle Welt – schimpfend, achselzuckend. Seebaum hatte das auch versucht. Er wollte zufrieden sein in den Hörsälen und Labors, zwischen den Werkhallen. Aber es ging nicht. Wenn er das einem Kollegen gestand, spürte er sofort, wie die Wut, die der andere auf seine Arbeit hatte, sich gegen ihn zu richten begann. Was willst du eigentlich, wurde er gefragt. Das eben weiß ich noch nicht, antwortete Seebaum dann. Da warfen die anderen die Arme hoch und ließen ihn stehen. Was war nur los mit ihm? Seebaum hatte seine Kindheit betrachtet, um die Antwort zu finden. Da lag eine Ursache. Nie war daheim von Arbeit die Rede gewesen. Kinder arbeiten nicht, sie spielen mit Holzklötzen, im Sand, Fußball. Die Mutter beschäftigte sich still im Haushalt, und wenn sie beim Geschirrspülen sang, glaubte Seebaum einen Begriff von dem zu haben, was Menschen tun. Der Vater war den ganzen Tag weg und kam abends in unbegreiflicher Wut
heim. Jeden Tag mußten ihm fürchterliche Beleidigungen zugefügt worden sein, über die er aber nie ein Wort erzählte. Auch in Seebaums Kinderbüchern wurde nicht gearbeitet. Kara ben Nemsi und seinesgleichen reisten, kämpften, redeten, berichteten. Die großen Denker gingen spazieren und dachten über das Geheimnis hinter allem nach. Die Musiker lehnten sich am Klavier zurück, von oben fiel ein Licht auf ihre Stirn, dann beugten sie sich summend vor und sahen lächelnd zu, wie die Inspiration ihre Hand über das Notenpapier führte. Die Dichter, so hörte man in der Schule, studieren ein paar Semester Jura und führen mehrere Jahre ein Wanderleben, bis ihre Werke entstehen und sie unsterblich machen. Seebaum hatte während des Studiums diese Glücklichen gesucht. Tatsächlich stieß er in Kellertheatern und Cafes auf Menschen, die es ablehnten, einer üblichen Tätigkeit nachzugehen. Sie sprachen mit großem Ernst vom Theater, von der Malerei und von der Sprache. Doch wie schrecklich war das Mißverhältnis zwischen der Bedeutung, die sie dem selber beimaßen, und ihrer wirklichen Bedeutungslosigkeit! Es half nichts, sich zu sagen, daß alle Genies einmal unentdeckt gewesen sind. Diese Schwadroneure, diese eitlen Hohlköpfe konnten nie Genies werden. Vor allem waren in den letzten Jahrzehnten alle Maßstäbe verloren gegangen, die man früher an die Kunstwerke gelegt hatte. Jeder konnte jetzt ein Genie sein, wenn er sich dazu ernannte. Seebaum hatte Angst, sich auf dieses Glatteis zu begeben. Die Wahrscheinlichkeit, einem lebenslangen Irrtum aufzusitzen, war zu groß, die Chance, nach einem besonders elenden Leben nachträglich in den Geniestand erhoben zu werden, allzu klein. Alle, die arbeiten, sind unglücklich, alle, die nicht arbeiten, werden verrückt – das war das Fazit von Seebaums Studien. Er schlug sich leicht gegen die Brust, um wieder einmal zu prüfen, ob der Paß und die Brieftasche mit all seinem Geld
noch da waren. Dann nahm er eine entschlossene Körperhaltung ein und stellte sich zu anderen Fußgängern am Straßenrand. »Danke, junger Mann«, sagte die alte Frau, als Seebaum ihr auf der anderen Seite der Straße das Einkaufswägelchen zurückgab, aus dem etwas Grünzeug lugte. Obwohl sie nicht zur ziellosen Sorte gehören konnte, denn sie hatte Besorgungen erledigt, schien sie zum Plaudern aufgelegt. »So jung möchte man noch einmal sein«, sagte sie heiter zu Seebaum, »Sie wissen nicht, wie gut Sie es haben mit einem jungen Körper. Wenn die Jungen laufen und tanzen, das ist meine einzige Freude. Man kann nicht, wie man gern möchte. Lassen Sie sich nicht aufhalten, laufen Sie«, rief die Alte, »Sie müssen für den Abend doch etwas vorhaben, viel, viel Spaß.« Seebaum nickte, um sie nicht zu enttäuschen, und entfernte sich beschleunigt. Er fühlte sich hundertjährig. Auf einmal wurde Bronnen etwas abwechslungsreich. Unter dem Asphalt zeichnete sich ein Höhenunterschied ab, und mitten im Verkehr, aufs äußerste eingeschnürt von fünf Fahrspuren, stand ein altes Bauwerk. Es bestand aus kleinen alten Steinen, trug ein schweres Schindeldach und war der letzte Pfeiler einer längst untergegangenen Ringmauer um das alte, befestigte Bronnen. Gegenüber war auf einer schrägen Fläche ein dreieckiges Stück Wiese zugelassen worden. Dort gab es ein paar Bäume und symbolische Sitzgelegenheiten. Das Stadttor warf seinen Schatten in den Park, die Wiese war dämmerblau, die vier Baumwipfel noch rötlichgrün im Sonnenlicht. Kastanienblätter drehten sich wie Windräder an den Zweigen. Gern hätte Seebaum ihr Rauschen gehört, aber es ging im Lärm unter. Ein fast gleichförmiges Dröhnen herrschte, aus dem das Donnern eines Lasters, das Knattern eines Motorrads, das Röhren eines bei Grün beschleunigenden Autopulks
hervorbrach – oder wie gerade jetzt das lähmende Alarmgeschrei eines Notarztwagens. Der Verkehr kam zum Stehen, als lege er für ein neues Opfer eine Gedenkpause ein, nahm aber sofort wieder Fahrt auf. Befreit vom Gepäck und überwach nach der eintönigen Zugfahrt war Seebaum scheinbar erfrischt vom Bahnhof aufgebrochen. Doch nun traf die Erschütterung, wenn seine Sohlen gegen den Gehsteig stießen, direkt im Kopf ein und machte ihn müde. Schon jetzt, kaum fünf Minuten vom Ausgangspunkt entfernt, begann Seebaum unruhig nach einer Sitzgelegenheit zu suchen. Im Freien war daran natürlich nicht zu denken; für Tische und Stühle gab es zwischen den Mauern, den dicht geparkten Autos und der Fahrbahn keinen Platz. Aber hinter schwungvoll bemalten Scheiben saßen Leute bei Tisch, tranken Bier oder unterhielten sich, wenn sie nicht einsam warteten. Doch Seebaum hatte wirklich keine Lust, sich in einer Kneipe als einzelner den fremden Blicken auszusetzen; also mußte er weitergehen. Gegen das Abendlicht blinzelnd überquerte er eine Nebenstraße, die er nach kurzem Seitenblick liegenließ. Hier mußten die Flächenbombardements des letzten Krieges alles in Trümmer gelegt haben, und mit den Plänen flinker Architekten hatte man die Löcher gestopft. Die Häuser trugen die Farbe neutraler Pappkartons. An solchen Bauwunden und Bauverbänden sah Seebaum immer gleich Bleistiftstriche, die waagrecht und senkrecht an Linealen entlangfuhren und an den Ecken und Enden noch ein Stück weit in die Luft standen. In die Zeichnungen pflegt man zum Größenvergleich gern Menschenfiguren und Baumumrisse zu malen; Seebaum fand, daß die wirklichen Bäume und Menschen immer mehr solchen flotten, nierentischförmigen Umrißskizzen glichen.
Etwas kam von rechts, als er mitten auf der Nebenstraße war und ohne Hast die Fortsetzung des Gehsteigs ansteuerte. Das Auto näherte sich rasch, Seebaum spürte seine Ankunft, ehe er es aus den Augenwinkeln sah. Trotzig ging er geradeaus. In dem Land, aus dem er kam, hatten die Passanten Vorrang vor den Autos, und diese Sitte wollte er in Freiland einführen, auch wenn es ihn das Leben kostete. Das Auto quietschte, hupte und senkte das Vorderteil. Seebaum blieb vor Schreck stehen und bekam vom wieder anfahrenden Wagen einen Stoß unters Knie. Er schüttelte mißbilligend den Kopf, atmete tief durch, um sein aufgeregtes Herz zu beruhigen, und ging weiter. Aus dem Auto, das neben ihm in die Straße einbog, erhob sich eine empörte Stimme. Ein paar Fußgänger sahen sich um. Seebaum errötete, weil er Aufsehen in fremden Städten verabscheute, kehrte der Fahrbahn den Rücken und studierte die Auslage eines Blumenladens. Das Auto hatte angehalten, jetzt schimpften hinter Seebaum sogar zwei Stimmen. Er hielt den Kopf steif und versenkte sich in die grüne Landschaft, in der Preisschilder steckten. Gerade wurde im Laden Licht gemacht, es glänzte auf den fleischigen Blättern der Gummibäume grün, auf der Zunge einer Orchidee violett. Jede Pflanze gab es in einer natürlichen und in einer pflegeleichten, etwas preiswerteren Kunststoffausführung. Er wandte sich von dem zahmen Urwald ab; das Auto war im Verkehrsstrom untergegangen, hinter dunklen Schornsteinen stand die Sonne, Wolken glänzten wie Glaswolle, unten im Halbdunkel verbreitete sich das elektrische Licht. Seebaum kam an eine Kreuzung und wartete in einer Gruppe verschiedener Einwohner auf die automatisch erteilte Geherlaubnis. »In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr«, sagte er leise, den Schlußsatz
aus der Erzählung eines Pragers wiederholend, der vor fast hundert Jahren damit noch eine poetische Übertreibung begangen hatte. Bei Grün schritt er zur anderen Seite, wurde aber zweimal zu würdelosen Sprüngen gezwungen, weil einbiegende Wagen zügig die Zebrastreifen schnitten. Drüben versenkte er sich in die Prospekte des Freiländischen Reisebüros, das günstige Reisen nach Island anbot. Es hätte Seebaum nichts ausgemacht, geld- und arbeitslos zu sein, wäre ihm dadurch nicht das Reisen unmöglich geworden. Doch dann dachte er sich: Nur keinen zu engen Reisebegriff gefaßt! Reise ich denn nicht? Ich bin in Bronnen doch fremder als jeder Tourist, der als Ziel jederzeit die Sehenswürdigkeiten der Stadt angeben kann. Doch dieser Trick gelang Seebaum schlecht. Wenn hier nicht alles so verflucht bekannt aussähe! Man kennt doch die meisten Automarken schon, weiß, wie heutzutage Häuser und Geschäftslokale aussehen, und die Verkehrszeichen wie die Namen und Schriftzüge der großen Firmen sind international. Als wäre da nur noch eine einzige Weltstadt, zwischen deren Vierteln man sich im Flugzeug oder mit der Bahn bewegt, unterbrochen von Parklandschaften, Wüstenstrichen und landwirtschaftlichen Nutzflächen. Aber der Himmel. Der Himmel war noch frei. Seebaum kehrte Island den Rücken und legte den Kopf zurück. Die Passanten wichen ihm aus und sahen unauffällig nach, was es da oben zu sehen gab. Seebaum sah da oben einen unbewohnten Planeten, zu kalt für Menschen und Haustiere, er sah schneeweiße Kontinente und hellrote Inselketten in einem nachtblauen Meer. Jetzt zog ein Raumschiff darüber hin und blinkte ohne Antwort. Seebaum stellte sich vor, eines Abends aufzublicken und mit dem Blick gegen eine hellgraue UNTERSEITE zu prallen, eine
horizontweite Pfanne mit Öl- und Rostflecken, aus der Abwässer stürzten, Papierabfall segelte und Eisenfundamente, Drähte, Antennen und Rohrstutzen hingen. Die waagrechte Weltstadt war sicher nur der Anfang, der Himmel reine Platzverschwendung. So wie die Stadt sich ins Erdinnere entwickelte, wo U-Bahnen und Kanalsysteme zur Berufs- und Berufsverkehrswelt eines Teils der Weltbevölkerung wurden, so würde sie einmal den Himmel besetzen, bis die Erdoberfläche als die natürliche Grenze zwischen Himmel und Erde ganz vergessen wäre, und mit ihr der Sternenhimmel, die Wolken, die Sonne, die Luft- und die Weltraumfahrt. Dann würde es Zeit, daß nach dem Land und dem Meer auch der Himmel aufhörte, dem Menschen unendlich vorzukommen. Zwei Kinder wollten wissen, was es da zu sehen gebe. »Nur den Himmel, sonst nichts«, antwortete Seebaum. Sie fragten, wie spät es sei. Er zeigte ihnen seine Uhr. »Genau zehn Minuten nach sieben«, sagte ein Kind. »Schau«, rief das andere, »die Wolke schaut aus wie ein Handschuh.« – »Nein, genau wie dein Vater.« Sie fingen an zu boxen, und Seebaum ging weiter. Drüben lagen zwei China-Restaurants nebeneinander. Er konnte sich das natürlich nicht leisten, aber die Ankunft in Bronnen durfte man feiern. Er ging ins rechte, weil es bescheidener aussah. Es war nicht ganz leer, das hätte ihn bedrückt, aber auch nicht voll. Niemand versuchte, ihm einen Tisch aufzudrängen, später bediente man ihn kühl und höflich. Aus einem Kästchen an der Wand sang leise eine chinesische Frauenstimme. Draußen gingen die Einheimischen vorbei, dahinter rollten ihre bunten Autos. Die Hausfront gegenüber leuchtete violett, die Gesichter wurden dunkelgrau, mit blitzenden Augen. Nur ein leises Murren drang herein, Gäste und Kellner bewegten sich lautlos, die Kaffeemaschine prustete, die Kasse rasselte, die Chinesen schnatterten in ihrem abgehackten Befehlston.
Seebaum wäre gern geblieben. Wie schön, gleich an den höflichen Chinesen vorbei nach hinten zu einer kleinen Treppe zu gehen und sich oben in ein rotes Zimmer zu legen. Immer öfter wurde die Tür aufgedrückt, und Paare kamen von der Straße, noch ganz zerfahren und in Eile. Beim Ablegen der Mäntel beruhigten sie sich und spazierten schon lässiger auf einen Tisch zu. Seebaum erschrak jedesmal: Er hatte die zwingende Vorahnung, daß jeden Augenblick die Frau, deretwegen er nach Bronnen gekommen war, in Begleitung eines Fremden hereinkam. Das wäre ihm sehr peinlich gewesen. Er zahlte. Draußen knöpfte er den Mantel bis oben zu und ließ die langen Haare über die Ohren fallen, weil ihn fror. Die Stadt kam ihm viel feindseliger vor als vor dem Essen. Er war sehr müde, wollte nicht immer weiter mit den fremden Eindrücken kämpfen, sie im Kopf über Treppen und Leitern in verschiedene Fächer schleppen, während durch die Löcher in seinem Kopf immer neue hereinbrachen. Ekelhaft war jetzt der Kontrast zwischen den blauen Straßentälern und den honiggelben Wohnfenstern. In stummem Einverständnis mit sich ließ die Stadt Seebaum nicht an sich heran, schickte ihn auf die Straße und sperrte ihn aus. In einem geheizten Zimmer ein freundliches Geplauder! Gelächter als Dank für eine gelungene Bemerkung! Ein lakonischer Witz, über den man keine Miene verzog, ihn nur innen genoß! Ein Bett! Klatsch, klatsch, wie ein Idiot setzte Seebaum einen Fuß vor den anderen, weil irgendwer ihm heimtückisch den Boden nach hinten wegzog. Er blieb stehen und ließ sich zurücktreiben, bis zu einem Kino, an dem er früher vorbeigekommen war. Dort stand er viel zu lange zwischen den Plakaten herum und fühlte sich angestarrt wie ein bunter Hund. Sicher sah jeder an der Art, wie er den Fuß setzte, den Kopf drehte, die Haare
schüttelte, einen Finger am Nasenflügel rieb, daß er hier weder Arbeit noch eine Bleibe hatte. Endlich Einlaß, Seebaum rannte gleich in die erste Reihe und wartete in ungeheurer Ungeduld auf den Beginn des Hauptfilms. Solange es halb dunkel blieb und gleichgültige Kunden in den Saal schlurften, duckte er den Kopf, sah nie zur Seite, hoffte aufs Dunkel. Dann endlich der große Moment, die Teilung des Vorhangs, die sinnvollen Botschaften, die geordneten Bedeutungen, die besseren Farben, die größeren Leute mit den treffenden Worten. Nachher war Bronnen wie tot. Die Einwohner hatten sich aus den Straßen endgültig zurückgezogen, um jeden Fremden durch den Vorhang als keinen der ihren herauszufinden. Seebaum trabte mit gesenktem Kopf den Weg entlang, den er wenigstens schon kannte: Zum Reisebüro, aber die Islandfotos waren verfinstert, zum Chinamann, aber das war einmal, und immer weiter, weg vom Bahnhof, weg vom Koffer, immer tiefer in die Unordnung. Eigentlich war Seebaum mit dem Plan gekommen, sich für ein paar Nächte ein billiges Hotelzimmer zu leisten und sich dann ganz vorsichtig bei der Frau zu melden. Doch da er so müde war und ganz ohne Lust, für ein fremdes Zimmer zu bezahlen, und da ihm vom Gehen warm war – er fühlte sich sogar ganz in Schweiß gebadet –, sagte er sich, eine Nacht im Freien wäre in dieser Stimmung ein würdiges Abenteuer. Er lief und suchte, aber Bronnen hatte keine dunklen Winkel, keinen unbeaufsichtigten Park, keine stillen Bänke unter Bäumen. Selbst die Notdurft mußte Seebaum im Licht einer Bogenlampe an einem Bauzaun verrichten, ängstlich und erleichtert wie ein Bettnässer im Halbschlaf. Er blinzelte durch die Bretterfugen und fand, was er suchte: ein Abbruchgelände, Erdreich, Fundamente und rechteckige
Gruben. Nur noch eine Stunde mußte er warten, bis die Gehsteige sich ganz leerten. Zu diesem Zweck trank er Bier in einer griechischen Kneipe. Hier war es voll und laut, man lachte und überschrie die Musik. Seebaum fand gleich, daß er gut hierher paßte; hier versuchten doch alle, im Ausland zu sein, und er war wirklich im Ausland! Er stützte eine Hand auf die Theke, besorgte sich ein Bier, hielt den Blicken stand, bis der betrunkene Nachbar nach der Herkunft seines Mantels fragte. Ja, sagte Seebaum, ich bin nicht von hier, ich komme aus dem Nachbarland. Nein, ich studiere nicht. Ja, ich bin Reporter, log er, ich schreibe aber nicht über Menschen, sondern nur über Gegenstände. Das fand der andere eigentümlich: Was denn für Gegenstände? »Das Brot«, sagte Seebaum, »ich gehe dem Brot nach, von den Feldern bis in den Magen. Oder einer Milchpackung, bis sie neben dem Mülleimer liegt. Oder einem Baum. Ich reportiere einen bestimmten Baum.« – »Du tust was?« – »Ich reportiere«, schrie Seebaum, »so nennt man das in meinem Beruf, wenn man nur über Dinge schreibt.« Der andere schien durch diese Unterhaltung unendlich zu ermüden; er senkte den Kopf auf sein Glas, stemmte beides hoch, sagte Prost und schloß die Augen. Trotzdem sagte Seebaum: »Ich beschreibe den Baum wie einen Menschen: wo er steht, zum Beispiel an einem See, wie er aussieht, und vor allem, was er leistet.« – »Was er leistet?« Der Nachbar riß groß die Augen auf und lachte freudlos, gleich fielen die Lider über die Pupillen, der Kopf sank mit dem Kinn aufs Glas. »Darum muß man Bäume reportieren«, erklärte Seebaum, »weil keiner weiß, was sie arbeiten.« – »Du machst dich lustig«, sagte der Nachbar enttäuscht, »du bist nicht ernst. Macht dir das Spaß?« Seebaum nickte, der andere zwinkerte: »Interviewst du den Baum auch? Wäre logisch.« – »Ja«, antwortete Seebaum, »ich will den rauschenden Erfolg.« Der
andere sagte ernst: »Das hast du schön gesagt, du hast Humor, Helga, noch zwei Bier hier, das ist ein Reportierer von Bäumen. Ich kenne zwar nur Apportierer von Ästen, das sind Hunde – nichts für ungut!« Er schlug sich leicht auf den Mund und nickte traurig: »Schade, daß du nur Dinge ausfragst. Ich könnte dir Sachen erzählen. Ein Leben wie ein nasses Handtuch.« – »Tut mir leid«, sagte Seebaum rasch, »ich habe gleich gesagt, das ist nicht mein Fach.« – »Ist klar, ist klar«, der Nachbar legte ihm beruhigend den Arm auf die Hand, »nur Gegenstände. Kommst du bitte zu meiner Beerdigung, dann falle ich in dein Fach.« Seebaum bat um eine Traueranzeige. – »Nein, die kriegst du nicht, ich mag dich nicht.« Seebaum trank Bier und sah zu, wie hier die Zeit verging. Aus den Unterhaltungen rundum hörte er heraus, daß er sich in einer Hochschulstadt aufhielt. Sein Nachbar betrank sich, weil er Urlaub von der unabsehbaren Aufgabe nahm, seine Dissertation abzuschließen. Er war Mathematiker und beschrieb seine Arbeit als asymptotische Annäherung an den Abschluß des Studiums: Man kam dem Ziel zwar immer näher, wurde dabei aber immer langsamer. Die Betreuer der Arbeit wechselten ständig, die neuen Doktorväter wollten überraschende Änderungen. »Die haben leicht reden«, klagte der Nachbar, »sie geben dir kleine Hinweise, um sich wichtig zu machen. Aber du kannst den Abgabetermin in den Rauchfang schreiben und wieder von vorn anfangen. Du kommst zu ihm mit einer fertig ins reine geschriebenen Arbeit, und er sagt: Das da, diese Kleinigkeit gefällt mir noch nicht so recht, sonst ist es sehr hübsch. Und du hast Jahre deines Lebens geopfert und mußt alles neu schreiben, weil die Änderung alles umwirft.« Er knirschte mit den Zähnen und schneuzte sich. »Am Ende bist du so klein«, er deutete einen halben Zentimeter an, »und das ist denen recht. Untertanen! Untertanen! Du kannst es dir auch nicht ewig leisten, den
flotten Flippie zu spielen und Unsinn zu reden. Jeden erwischen sie, jeden! Alle kriegen sie klein! Keiner kommt davon! Du auch nicht, schau dich doch an, du siehst schon jetzt ganz brav drein.« An den Tischen diskutierte man die Zustände an Instituten für Schienenverkehr, Chemie oder Bergbau und war bemüht, daran etwas zum Lachen zu finden. Jeder schien zügig seine Laufbahn bergab zu rollen und mit dem Gedanken an eine Entgleisung zu spielen. Dazu erklangen griechische Bouzoukis und erinnerten an die Ungebundenheit der Sommerferien. Auch Seebaum war an der Ägäis gesessen, einen Rucksack neben sich im Sand, den Geruch von Basilikum in der Nase, und hatte sich ein ganzes Leben als Reisender vorgestellt: freizügig über den morgigen Tag beschließen, den Zufall als Bundesgenossen. Ein Reisender war er nun geworden, aber frei fühlte er sich nicht. Er war unfreier als der trübsinnigste Einheimische, der bald unter Freunden ins Bett fallen würde. Fast bat er seinen Betrunkenen, ihn eine Nacht lang aufzunehmen. Doch er hatte sich abgewandt und bat jemanden um eine Zigarette. Seebaum richtete sich auf, strich die Haare aus dem Gesicht, knöpfte den Mantel zu. »Wohin gehst du«, fragte der andere. »Schlafen«, antwortete Seebaum. »Wo wohnst du?« – »Im Freien.« Der Nachbar nickte: »Viel Spaß. Kein Zimmer?« Seebaum schüttelte den Kopf. »Du kannst bei uns übernachten«, sagte der andere, »eine Nacht.« Seebaum dankte, der Betrunkene machte es sich bequem; ungeduldig ging Seebaum hinaus. Es war kühl geworden und nieselte. Er umkreiste zweimal das Baugrundstück, um warm zu werden, und zwängte sich schließlich zwischen losen Brettern durch. Vorsichtig schritt er übers Gelände. Gelbe Mauerstümpfe standen aus dem lockeren, feuchten Boden. Er kletterte in ein aufgebrochenes Kellergewölbe und kroch hinter eine Reihe
Eisenfässer. In einem Winkel, in dem weicher und trockener Sand lag, breitete Seebaum den Mantel aus und legte sich nieder. Er setzte sich auf. Ein weißer Totenschädel starrte ihn an. Auf den Fässern vor ihm prangten Symbole für Gift. Er sprang auf und untersuchte seinen Mantel: er war an den feuchten Stellen verfärbt. Erschrocken rieb Seebaum die Hände und schüttelte den weichen Sand von den Schuhen. Er kletterte hinaus ins Halbdunkel und hob den Mantel gegen das Licht, das von jenseits des Zauns hereinfiel. Der Mantel war knallgelb. »Wahnsinn«, sagte Seebaum leise, »seid ihr alle wahnsinnig?« Jetzt glaubte er sogar einen feuchten, scharfen Geruch wahrzunehmen. Hatte er mit den Händen den Mund berührt? Er pflegte im Einschlafen den Handrücken an die Lippen zu drücken. Sofort spuckte er aus, rieb sich den Mund mit einem Taschentuch, das er gegen das Licht prüfte. Er hatte Angst, horchte in seinen Körper hinein und konzentrierte sich auf den Magen. Wurde ihm schon übel? Bekam er gleich Krämpfe, Durchfall, Erbrechen? Würde man ihn morgens, wenn die Bauarbeiter in die Maschinen kletterten, mit entblößten Zähnen finden? Mehrere Minuten stand er ganz still und versuchte sich zu entspannen. Er schüttelte den Mantel aus, ohne ihn außen anzufassen. Der gelbe Sand rieselte fein zu Boden, nur an ein paar feuchten Stellen behielt der Mantel helle Flecken. Mit abgespreizten Ellbogen stelzte Seebaum zu einem Bagger und kletterte in den Fahrersitz. Den Mantel eng um sich zu ziehen, wagte er nicht und fror lieber. Allmählich wurde er schläfrig. Die Stimmen hinterm Zaun verliefen sich, im Autolärm entstanden immer längere Pausen. Durch die Frontscheibe des Baufahrzeugs starrte Seebaum eine Baumkrone an, deren Blätter stumpfgrau über einer
Straßenlampe hingen. Plötzlich schaltete eine Ladenbeleuchtung sich automatisch ab. Ein einsamer Betrunkener brüllte in den leeren Straßen, an den stillen Häusern brach sich seine Wut wie in einem Gebirge. Der Himmel wölbte sich hoch, die Erde neigte sich, die Fahrerkabine schmiegte sich sanft an den Boden, gelb in gelb. Eisenbahnen rangierten hoch in der Luft, hallend und funkenschlagend stießen über Seebaums Kopf die Puffer der Güterwagen zusammen. Maismehl regnete herab. Dampfende Rehe standen in dem gelben Niederschlag um die Maschine. In tiefen Reihen sammelten die Tiere sich zu einem lebenden Trichter. Das Ganze drehte sich leise kopfüber, und Seebaum hielt kopfunten seine Rede. Die Tiere lauschten unbewegt, obwohl Seebaum mitreißend predigte. Die armen Tiere! Die Geweihe hingen schlaff herunter, in den Fellen klafften räudige Löcher, vielen fehlte ein Auge oder ein Bein. Was für ein trauriger, stummer Tümpel. Seebaum stieg aus und verteilte gelben Staub in die Tränken. Aber die Tiere rührten sich nicht, sie mußten doch großen Hunger leiden, sie starrten Seebaum immer nur traurig an. Auch als Seebaum zu singen anfing, spendete das Publikum keinen Beifall. Immer wieder erwachte Seebaum aus dem Halbschlaf, schüttelte erschrocken die Hände und spuckte aus. Es dauerte jedesmal lange, bis er wußte, wo er war. »Bronnen Hauptbahnhof«, in den Kanälen zwischen den Perrons dampften Passagierschiffe, Meerkatzen in Matrosenanzügen turnten in dichten Rudeln über die Aufbauten. Ein nackter Athlet stemmte einen Schrankkoffer durch ein Bullauge, hinter dem eine blonde Frau einen Strohhut schwenkte. Die Erde war heute stark gekrümmt, darum versanken die auslaufenden Schiffe sofort hinter dem Horizont. In einem Schwarm von Kampfflugzeugen näherte sich ein Schlachtschiff und feuerte
eine blutrote Breitseite. Seebaum wirbelte durch die Luft, stabilisierte seinen Jäger, stürzte sich ratternd auf den Hauptbahnhof, zog knapp vor der Bahnhofsuhr hoch und verließ die winzige Erde, auf der außer dem Bahnhof nichts Platz hatte. Er fixierte den Steuerknüppel, ging nach hinten und legte sich auf ein Feldbett, das sich stark durchbog und mit heißem Wasser füllte. Ah, Seebaum wurde ganz weich und schwer, während das Flugzeug in einer engen Kurve zwischen den Sternen das Weite suchte. Eine schwarze Uniformmütze schwebte neben ihm, man schrie und rüttelte an seinem Arm. Seebaum stürzte fast aus der Kabine. Der Bewacher des Bauplatzes war außer sich, weil er Seebaum erst jetzt bemerkt hatte. »Erzähl mir nicht, daß du das nötig hast! Auf, auf, hier wird nicht gepennt!« Dann fast bittend: »Sag keinem, daß du schon so lang hier liegst, sonst krieg ich was zu hören. Und jetzt raus hier!« Seebaum stolperte und knickte ein, weil alles an ihm kalt und steif war. Der Mann stützte ihn und drängte zugleich zum Tor. »So was«, murmelte er betroffen, »als ob Krieg wär. Heute hat doch jeder eine Wohnung. Es geht euch zu gut, das ist es.« Seebaum erwiderte nichts. Er war sehr fröhlich. Die Lichter der Stadt waren blaß und schwach, der Himmel schon ein wenig grau; über Bronnen lagen tiefe Wolken. Seebaum war stolz, daß er als einer der ersten den neuen Tag kommen sah. Als der Bewacher am Tor noch einen Versuch machte, unangenehm zu werden, reagierte Seebaum ganz selbstsicher. Seit wann Nachtportiers mit Revolvern herumliefen, fragte er und zeigte auf die Waffe am Gürtel des Wachmannes; was für eine Phantasieuniform er da trage; ob er wisse, daß hier große Giftmengen herumlägen. Der Mann stammelte: »Du bist ja besoffen!« Seebaum behauptete, keine Papiere bei sich zu haben, und schlug vor, gemeinsam zur Polizei zu gehen. Der Bewacher überlegte und sagte schließlich nur: »Hau doch ab,
du Penner.« Einem abschließenden Stoß in den Rücken wich Seebaum lächelnd aus und ging eilig in Richtung Bahnhof davon. Er schritt mitten durch ein Morgenland in elegantem Taubengrau; blinde Auslagen, verstummte Reklame. Zwischen China und Island überquerte er die Kreuzung, als einziger auf den Beinen. Bronnen summte im Halbschlaf, ein kalter, kantiger, nach Benzin und Öl riechender Organismus, der Menschen in seinen Hohlräumen als Parasiten hielt. Er fröstelte. Ein bißchen Wasser für die brennenden Augen, Zahnpasta gegen den schlechten Geschmack, heißer Tee für den verkrampften Magen. Ein Brotladen duftete nach Kaffee. Seebaum stand hinter den Scheiben und sah, wie draußen seinesgleichen vorbeizulaufen anfing. Eine dicke Frau mit rotem Gesicht stellte ihm Kaffee und Gebäck auf die Glastheke. Er spürte genau die Distanz der Einheimischen. Er war keine Kundschaft für sie, keiner der wiederkommen würde, bis außer Kaffee, Brot und Geld auch ein paar Worte, vielleicht ein Titel und ein Name gewechselt wären. Mit ihm, dem Fremden, reduzierte sich das Ganze auf ein kleinliches, schmutziges Münzenverhältnis. Der Kaffee stach leicht in den Magen, dann öffneten sich die Gefäße und schafften Wärme in Finger und Zehen. Aahh, machte Seebaum. Da lächelte die Frau. Gern hätte er jetzt Erde unter den Sohlen gehabt, ein paar Bäume auf den Straßen. Der Beton war lückenlos und sehr reinlich. Wäre doch hinter den Häusern gleich ein Meer gewesen, Möwenschreie, Wind und Salz. Oder Kanäle, in denen die gespiegelten Dächer schaukeln, oder gleich am Stadtrand eine Wüste aus Sand oder Schnee. Oder hinter der nächsten Ecke die Steilküste eines verdampften Sees, dann hätte man durch die Erdgeschichte in ein Nebelloch geschaut, oder von hoch oben auf ein zweites Bronnen auf dem Grund des Sees. Seebaum sah hinauf, ob er
über dem Nebel eine Steilwand mit der Silhouette einer winzigen Gestalt ausmachen konnte, einen zweiten Seebaum, der ihn hier unten betrachtete. In einer künstlich beleuchteten Halle neben dem Bahnhof herrschte großer Lärm. Menschen in blauen Overalls liefen geschäftig hin und her. Elektrische Wagen zogen lange Ketten kleinrädriger Karren. Pakete flogen in Waggons, große Briefsäcke wurden entleert. Es ging wortlos und kompetent zu, und gern wäre Seebaum dabeigewesen. Im Bahnhofsrestaurant leistete Seebaum sich ein richtiges Frühstück. Hier war am ehesten seine Heimat: Ein paar Meter weiter stand sein Koffer im Schließfach. Pendler lehnten in der Nähe der Tür, blicklos, fast noch daheim im Bett, fast schon am Arbeitsplatz. Ein älterer Reisender saß am Fenster, als warte er schon viele Nächte auf den richtigen Zug. Drüben hing die Uhr und zuckte jede Minute; Seebaum zwang sich wegzuschauen. Er versuchte sich auf eine Lokalzeitung zu konzentrieren. In einem anderen Land verhandelten Leute, deren Gesichter er schon gesehen hatte, über die Möglichkeit, den Frieden zu wahren. Es war eine sehr ernste Lage, stellten sie fest, die andere Seite hatte sich schon wieder etwas herausgenommen, man mußte sie endlich in die Schranken weisen. Tat man das nicht, würde sie weiter über die Stränge schlagen. Doch bestand die Gefahr, daß bei einer Überreaktion auf eine genau bemessene Bestrafung gleich der große Schlagabtausch die Folge wäre, und das wollte man vermeiden, weil dann ein Großteil der Menschen sterben würde; aber spielte die andere Seite nicht gerade mit dieser Zurückhaltung? Solche Überlegungen gab es seit etwa einem Jahr fast täglich; Seebaum fand seitdem alle Menschen besonders ruhig und ergeben, als hätte jeder gestern einen nahen Angehörigen verloren, oder als sei jeder starr vor Angst, weil man ihm das Liebste gekidnappt hatte und drohte, es zu
ermorden. In so einer Welt sollte Seebaum sich ein Leben einrichten, die Zukunft in die Hände nehmen, einen Beruf ergreifen, einen Entschluß fassen? Wo doch das, wonach man die Hände ausstreckte, jeden Augenblick heiß und grell ins Gesicht schlagen konnte? Irgendwo wurden gigantische Fehler begangen; aber Seebaum kannte die Schuldigen nicht, jeder schien sie vergeblich zu suchen. Ältere Leute sagten zwar, die Schuldigen seien »oben« zu finden, aber wo war das wieder? Dorthin kam keiner. Blieb die starre Gelassenheit, die einem von allen Seiten nahegelegt wurde. Man sagte: Mir kann keiner was erzählen, man wird ja doch nur betrogen. Zum Beispiel ist alles zu teuer und wird immer noch teurer. Aber man fristete das Leben trotz allem, immer betrogen und doch notgedrungen nicht unzufrieden. Seebaum lehnte es wie alle, die er kannte, ab, sich Gedanken über das große Durcheinander zu machen. Das war Sache eines eigenen Berufs, der Politiker. Jeder wußte, daß sie immerzu logen und nur hinter verschlossenen Türen manchmal die Wahrheit sagten. Dort verrichteten sie ihr schmutziges Geschäft. In der Halle herrschte großes Treiben, der Tag hatte seinen Lauf genommen. Es war, wie Seebaum erst jetzt erkannte, ein Samstag. Altere Leute mit Rucksäcken und Wanderstöcken drängten sich an einem Schalter. Die Sonne riß den Nebel auf und fiel hellgelb in die Halle. Seebaum rief den Kellner und zahlte. Nachdem er den Koffer geholt hatte, stand er wieder wie gestern ziellos auf dem Vorplatz: Schulkinder, Ausflügler, Autos und Busse. Er kämmte sich und faßte dabei den Entschluß, zu der einzigen Adresse zu gehen, die er in Bronnen wußte. Lieber hätte er zunächst allein Fuß gefaßt, aber im Augenblick kam es ihm mutiger vor, sich bei seiner Freundin blicken zu lassen. Er würde ja gleich wieder gehen.
Im Zug hatte er oft den Stadtplan studiert und wußte den Weg zur Adresse der Freundin auswendig. „Aufmerksam betrachtete er, wie das aussah, was er nur im Grundriß kannte. Er stand vor der Haustür, hatte den Klingelknopf, über dem vier Namen standen, gefunden und rieb die Hände. Er war aufgeregt, atmete tief und wartete, bis die Finger nicht mehr zitterten. Er zählte bis vier und drückte dann doch nicht auf die Klingel. Jemand trat aus dem Haus und musterte ihn im Vorbeigehen. Seebaum hob den Koffer, stellte ihn wieder ab, ging einmal im Kreis um ihn herum und berührte dann in einer einzigen flüssigen Bewegung die Klingel. Als Anna das Klingeln hörte, glaubte sie, ihr Wecker sei falsch gestellt, und sie habe verschlafen. Erst mitten im Zimmer weckte die Kälte sie ganz auf. Sie ging nackt zum Fenster, schloß es und sperrte den Widerhall des Lärms der Stadt aus. Im Hof bastelten Kinder an einem Fahrrad, ein Vogel sang vom dünnen Baum, hellgrau zitterte die Kathedrale von Bronnen wie eine startende Rakete. Dankbar legte Anna sich wieder unter die nachtwarme Decke: Samstag, morgen Sonntag, ein bißchen Spazierengehen im Stadtwald, vielleicht fuhr man sogar ein Stück weit ins Land und trank Wein im Garten. Montags freilich wieder Arbeit. Einschlafend runzelte Anna die Stirn. Sie sah Kacheln, Schreibtische und Medikamentenpackungen, blasse alte Leute, die sich in Schlafröcken auf Gängen mühten. Dann breitete Annas Körper sich zwischen Matratze und Decke flach aus, fuhr mit Wurzelspitzen in die Mauern des Vorkriegshauses und floß aus seiner Form hinaus. In die leere Form schien die Sonne. Obwohl Anna längst tief im Boden immer weiter sank, hörte sie noch Stimmen und Schritte vor der Tür, Wasser in der
Wand und Geschirr in der Küche. Sie lächelte im Schlaf: Die anderen machten das Frühstück. Seebaum hatte lange warten müssen. Endlich rief eine Kinderstimme hinter der Tür: »Wer bist du?« – »Ich bin der Seebaum und komme zu Besuch.« Das Kind riß die Tür auf, sah ihm lange ins Gesicht und sagte: »Aber alle schlafen.« »Schade«, antwortete Seebaum, »ist wirklich keiner wach?« Das Kind nickte und nannte drei Vornamen: »Die sind wach.« Plötzlich lief es an Seebaum vorbei aus der Tür, fiel über seinen Koffer und kroch bloßfüßig und auf allen vieren weiter. Etwas ratlos ging er hinterher. Da lief eine junge Frau heraus, riß das Kind an sich und setzte ihm auseinander, daß es wegen der Autos nicht allein auf die Straße könne, schon gar nicht ohne Schuhe und Strümpfe. Sie fragte Seebaum: »Willst du zu uns?« – »Eigentlich komme ich wegen Anna. Wir haben uns im Urlaub kennengelernt.« Aus Verlegenheit bückte Seebaum sich bei diesen Worten und griff mit beiden Händen nach dem Koffer. Die Frau trug ohne weitere Bemerkungen das Kind ins Haus, und Seebaum folgte ihr. Beim Treppensteigen bekam er Herzklopfen und wußte nicht, ob er so aufgeregt war oder ob die Zugfahrt und die unbequeme Nacht ihn entkräftet hatten; keuchend wechselte er den Koffergriff. Endlich bog die Frau in eine offene Wohnungstür und setzte das Kind ab. Es lief sofort davon und schrie vor Vergnügen. Seebaum stellte sein Gepäck unter einen übervollen Kleiderständer im Flur, rieb die roten Falten in den Handflächen und kam sich vor wie ein Vertreter, der ungebeten eine Wohnung gestürmt hat. »Sicher schläft sie noch«, sagte die Frau, »sie hat so viel zu tun, daß sie am Wochenende nur schläft. Setz dich einstweilen in die Küche. Ich mache gerade ein Frühstück.« Er schob sich weit hinter den Küchentisch, um möglichst wenig im Weg zu sein, oder auch, um nicht so leicht wieder hinausgedrängt zu werden. Ihm fiel auf, daß er seit einer
halben Minute die Luft anhielt. Er schnaubte durch die Lippen wie ein Pferd und rieb sich die Augen. Die Frau fragte über die Schulter, woher er komme, wie lang er bleibe, was er treibe. Seebaum sagte, er komme aus dem westlichen Nachbarland und wisse nicht, wie lange er bleibe. »Und was machst du?« fragte die Frau zum zweiten Mal und setzte sich gegenüber an den Tisch. »Nur so leben«, sagte er. »Aha«, machte die Frau etwas ungeduldig, »und wovon lebst du?« Seebaum wurde auf einmal so zornig, daß ihm fast Tränen kamen. Mit zitternder Stimme sagte er: »Meine Ersparnisse betragen genau einhundertzwanzig Freimark. Davon muß ich leben, bis ich eine Arbeit gefunden habe.« Die Frau entschuldigte sich für ihre Neugier und musterte Seebaum ein bißchen besorgt, ein bißchen enttäuscht. Dann kochte zum Glück das Wasser auf dem Herd, sie mußte sich mit Kaffee- und Teemachen abgeben, Seebaum konnte ungehindert aus dem Fenster schauen. Aber da er tief in einem durchgerittenen Sofa saß, sah er nichts als die Fenster gegenüber; Autos brummten unten auf der Straße. »Ich geh nachsehen, wer schon wach ist«, erklärte die Frau und verließ die Küche. Seebaum wurde trübsinnig. Schön hatte er sich hier eingeführt! Diese Frau hatte er schon in den ersten Minuten gegen sich aufgebracht: Erst ließ er ihr Kind um ein Haar ins nächstbeste Auto laufen, dann stieß er sie wegen ein paar freundlicher Fragen vor den Kopf. In der Fensterscheibe sah er sich unschlüssig hinter dem runden Tisch stehen. Die Frau kam mit dem Kind zurück und lächelte Seebaum an, als hätte auch sie sich Vorwürfe gemacht. »Anna kommt gleich.« Und in wenigen Minuten füllte die Küche sich mit verschlafenen jungen Männern und Frauen; es schienen mindestens zehn zu sein, mit einer Ausnahme lauter Abendmenschen, die mürrisch und wortlos mit einer Tasse in
der Hand Platz nahmen und mit den Ellbogen ein Segment des Tisches beanspruchten. Nur einer sang laut, umarmte ein Mädchen, warf rohe Eier in die Luft und verstummte erst recht nicht, als sich ein komisches Protestgeschrei erhob. Seebaum saß brav am Tisch, versuchte zugleich selbstsicher und freundlich dreinzuschauen und wartete auf Anna. Eigentlich fürchtete er ihr Erscheinen jetzt. Am liebsten hätte er ein Tuch über sein Gesicht gehängt, wäre unter den Tisch gerutscht und unbemerkt aus dem Haus gekrochen. Er kam sich entsetzlich auffällig vor, als ein Urlaubsbekannter, der nach Bronnen kam, um ein Abenteuerchen aufzuwärmen – aber es ist doch immer ein Fehler, etwas zu wiederholen, was einmal gutgegangen ist! Das schienen auch alle hier um den Tisch zu wissen. Sie taten so, als fiele er nicht auf, beobachteten nur kurz, wie er ihren Tee trank, lächelten, wenn er die letzte Kälte aus den Knochen schüttelte, und redeten über allerlei Kleinigkeiten, die ihn nichts angingen. Dabei kam Seebaum eine lächerliche und furchtbare Idee: Mußte Anna nicht längst einen Freund unter den vier Männern am Tisch haben? Allein diese Möglichkeit stempelte ihn endgültig zur Witzfigur. Verstohlen sah er sich um: Wer käme am ehesten in Frage? Jeder kam in Frage. Anna selbst hatte ihm einmal gesagt, daß er nicht ihr Typ sei; wenn sie sich dennoch mit ihm eingelassen hatte, warum dann nicht genau so gut mit jedem der Anwesenden? Und da kommt zu allem Überfluß der Tolpatsch Seebaum auch noch dazu! Anna wird ihm was husten, was soll sie mit Seebaum in Bronnen? Vielleicht später einmal, man wollte sich im Ausland wiedersehen, so war es abgemacht. Seebaums Auftauchen in Bronnen ist ein Bruch aller Abmachungen. Tatsächlich lag Anna gerade mißmutig im Bett und dachte genau das. Am liebsten hätte sie sich verleugnen und Seebaum
abziehen lassen. Sie hatte keine Lust, ihn zu sehen. Was wollte er hier? Sie hatte zu arbeiten, am Wochenende mußte sie sich ausschlafen. Man brauchte Energie, um sich auf Menschen einzustellen, und die hatte Anna nur im Urlaub. Für sie war das Jahr ein einziger schwerer Arbeitstag; die Ferien, das war der schöne Abend und die Nacht, die man zur Erholung braucht. Nur dann ist es möglich, sich auf Männer einzustellen. In den langen Monaten der Arbeitszeit sind höchstens kurze Gelegenheitsbegegnungen möglich, mit einfachen, lustigen, geraden Mannsbildern, aber nicht mit dem schwierigen, überempfindlichen, umständlichen Seebaum. Sie fletschte die Zähne, ließ die Zahnbürste sinken und starrte auf den Schaum im Mund. Mit dem erholsamen Wochenende war es Essig. Der mühselige Seebaum immer auf den Fersen, man konnte nicht in Ruhe Spazierengehen, mußte sich auf ein Gespräch konzentrieren, ihn bei einem Widerspruch zu ertappen, bevor man selbst sich eine Blöße gab. War es das, was ihr die Stimmung verdarb? Nein. Sie legte den Kopf zur Seite, zog die Lippen zusammen und schmachtete in den Spiegel, während der Zahnpastaschaum über ihr Kinn lief. Sie mußte über den Anblick lachen und deshalb Schaumspritzer vom Spiegel wischen. Nein, es war nicht Seebaums Mühsamkeit bei Gesprächen; sie redete gern mit ihm, er wollte eigentlich nicht imponieren, tat nicht gescheit und gab gleich zu, etwas nicht genau zu wissen; oft hatten beide gefunden, aus dem Gespräch gelernt zu haben. Eigentlich war Anna gerade seine Unterhaltung am liebsten, viel lieber als – und deshalb war sie mißmutig und fühlte sich durch den Besuch gestört. Auf eine stumme, vorwurfsvolle Weise, mit dem Druck seiner bloßen Anwesenheit würde Seebaum ihr zu verstehen geben, daß er mit ihr ins Bett wollte. Diese Zumutung! Er war ihr zu mager, zu knabenhaft, ein paar Muskeln hätte er
wenigstens haben können. Zwar hatte Anna das eine Mal, als sie im Urlaub miteinander geschlafen hatten, in angenehmer Erinnerung, aber das konnte nur heißen, daß die Wiederholung besonders enttäuschend sein würde. Sie kannte das. Er war einer von diesen Kopfmenschen, die immer gleich alles bereden wollen, jeden Vorfall auseinandernehmen, hinter jeder Bemerkung einen Hintersinn suchen. Aus den Diskussionen in der Wohngemeinschaft, in der sie jetzt schon zwei Jahre lebte, kannte sie die Tricks: Wenn einer mit dir schlafen will, dann sagt er, das willst eigentlich du (freilich, auch das kann man analysieren, es ist eine Projektion). Wenn du antwortest: Das ist nicht wahr! dann sagt er: Das ist eine Abwehr deiner unbewußten Wünsche. Falls er den anderen sympathisch ist, dann stimmen sie ihm zu und setzen dich ins Unrecht. Zwar mußt du deswegen nicht gleich mit dem Kerl ins Bett, aber dafür giltst du ab sofort als verklemmt. Bisher hatte Seebaum solche Mittel nicht angewandt, aber Anna war sicher, er würde es tun, wenn er wirklich sehr stark etwas von ihr wollte. Warum war er sonst hier? Ihr waren Typen lieber, die einem offen zu verstehen gaben, daß sie jetzt Lust hatten, und sich ohne langes Palaver zurückzogen, wenn es ebenso deutlich »Nein« hieß. Doch wenn sie jetzt nicht bald beim Frühstück erschien, würden alle denken, es sei wegen des Besuchers, und das würde ihm schon zuviel Bedeutung geben. Sie machte ein Gesicht und ging aus dem Bad zur Küche, wo die anderen längst klapperten, schnatterten und lachten. Sie war ganz ruhig und locker, wirklich, sie schlenkerte sogar etwas stärker als sonst mit den Armen und stellte die Zehen auf. Seebaum hatte sich inzwischen ein bißchen eingelebt. Er aß und trank selbstverständlich mit, und bei manchen Bemerkungen lachte er als einziger. Er sagte: »Bitte den Zucker«, antwortete »Ja«, wenn jemand fragte, ob man noch
Kaffee machen solle, und erzählte sogar ungefragt, wie er die Nacht verbracht hatte. Die anderen wurden daraufhin kurz still, sahen sich an und verdrehten lächelnd die Augen. Dann sagte die Frau, die ihn eingelassen hatte: »Wir sind so voll, daß es nicht drauf ankommt. Ein paar Tage kannst du sicher irgendwo bei uns schlafen.« – »Am besten bei Anna!« rief der Laute, immer Lustige und schlug sich gleich auf den Mund wie ein Pantomime, sagte aber hinter der Hand noch: »Wenn man vom Unglück spricht…« Anna hatte die scherzhafte Kuppelei an der Tür gehört, nahm sie ernst und wurde ernsthaft böse. Sie lächelte besonders freundlich, ohne Seebaum auszuzeichnen, und holte sich einen Klappstuhl an den Küchentisch. Dann beschäftigte sie sich damit, die Bestandteile für ihr Frühstück zusammenzusuchen, während die anderen sich schon zurücklehnten, rauchten oder allmählich noch einmal in die Schlafzimmer verschwanden. Leider leerte sich die Küche, bis außer Anna und Seebaum nur noch die Frau und der Lustige geblieben waren. Die Frau faßte den Lustigen an der Schulter und ging mit ihm hinaus; er konnte es nicht lassen, an der Tür halt zu machen und mit dem halben Gesicht wissend zu zwinkern. Einerseits ärgerte Seebaum sich, war aber andererseits über dieses Theater froh: Hieß das nicht, daß sie hier ohne Partner lebte? Anna war jetzt endgültig heiß vor Wut. Genau das haßte sie: mit Seebaum allein gelassen zu werden, indem alle um sie einen Bogen machten. Sie sah Seebaum im Gegenlicht vor dem Fenster sitzen. So hatte sie es erwartet. Er sitzt ruhig da und wartet, daß sie etwas tut. Da kann er lange warten. Seebaum streifte Anna nur ganz leicht mit dem Blick, aus Furcht, sonst nicht wieder wegsehen zu können. Während ihm bei ihrer früheren Begegnung außer einer allgemeinen
Hübschheit nichts Besonderes an ihr aufgefallen war, stach sie ihm heute schmerzhaft in die Augen. Da hockt er und blinzelt, dachte Anna, was hat er zu grinsen? Glaubt er, mit dieser Erpressung kommt er durch? Eine Nacht im Freien, und schon rück ich zur Seite und laß ihn unter die Decke? Vor Wut hatte sie keinen Speichel und kaute immer dasselbe Brotstück. Sie verschluckte sich, hustete und trank schnell Tee nach. Sie sagte: »Na?« Zugleich sagte Seebaum: »Ich bin ganz zufällig in Bronnen. Wahrscheinlich bleibe ich nicht lange.« Etwas besänftigt fragte Anna: »Was hast du überhaupt vor?« Seebaum blieb bei der Zufallslüge, die ihm gestern in der Griechenkneipe eingefallen war: »Man hat mir hier einen Job als Reporter angeboten. Am Montag gehe ich hin. Ich brauche nur noch eine Wohnung.« – »Hier ist es voll«, sagte Anna freundlich, »sonst könntest du einfach hier wohnen. Aber ein paar Tage geht es schon, bis du was gefunden hast.« Seebaum nickte: »Das ist sehr nett von euch.« Annas Zorn löste sich auf, sie wurde unternehmungslustig. »Es wird schön«, meinte sie, »wir könnten Spazierengehen. Was wollen die anderen machen?« Seebaum hatte aufgeschnappt, daß ein Paar mit seinem Kind die Eltern besuchen würde, die anderen wollten auch Spazierengehen. Anna gähnte. »Ich leg mich noch einmal hin. Ich bin kaputt.« – »Schlaf gut«, sagte Seebaum. »Du mußt ganz fertig sein, leg dich doch auch hin«, schlug Anna vor, »irgendwo ist sicher ein Bett frei.« Zusammen gingen sie auf die Suche. In allen Zimmern lagen Leute. Anna sah Seebaum an, er spürte, wie sie zwischen Freundlichkeit und dem Wunsch nach Alleinsein schwankte. »Ich will nur schlafen«, sagte er. Sie gingen in Annas Zimmer. Dort war es kühl und hell, Anna schloß das Fenster, holte aus einem Schrank ein zweites Bettzeug und half Seebaum, es neben ihrer Matratze auszubreiten. Er lag dann, armweit von
ihr entfernt, und betrachtete ihren Hinterkopf tief in den Kissen. Sie schlief fast augenblicklich ein und summte im Schlaf. Seebaum hatte gegen seine Gewohnheit Tee und Kaffee getrunken; er war hellwach, obwohl er übernächtigt zitterte. Er lag ganz reglos auf dem Rücken, zugleich aufgeregt und sehr beruhigt, weil er nach einer langen Reise so einfach neben Anna lag. Im Hof mußte ein Faß voll Regenwasser stehen, denn an der Zimmerdecke krümmte sich ein zitterndes Netz von Lichtstrahlen. Nach Sekunden der Stille brummte etwas im Hintergrund, kam näher, wurde immer zudringlicher, brüllte und dröhnte, verlor an Kraft, beruhigte sich und gab auf. Bald näherte sich der nächste Wagen und ließ das Wasser im Hof zittern. Seebaum stammte aus einer kleinen Ortschaft Freilands, aber bald nach seiner Geburt waren die Eltern mit ihm vor der rassistischen Verfolgung geflohen und hatten sich im Ausland außerhalb der großen Städte verborgen. Die Jugend verbrachte er am Rand der größten Stadt des Nachbarlandes im Haus der Eltern. Darum wußte er erst seit wenigen Jahren, was es bedeutet, mitten in Städten zu schlafen. Obwohl jeder zugab, daß es zu laut war, und obwohl ihm alle Stadtmenschen betäubt und apathisch vorkamen, gehörte der Verkehrslärm anscheinend zur großen Menge der Unabänderlichkeiten. Als Seebaum nach ein paar Studienjahren in Freiland die Eltern wiedergesehen hatte, war auch daheim alles anders geworden. Die Vorstadtstraße mit den Alleebäumen vor ebenerdigen Häusern, aus denen Menschen lehnten und spielende Kinder zum Essen riefen, hatte sich in ein hellgraues Band aus künstlichem Gestein verwandelt, mit einem weißen Trennstrich in der Mitte. Die Bäume waren verschwunden, die Gehsteige verschmälert. Jede Straßenecke in der Nachbarschaft war jetzt eine komplizierte Steuereinrichtung,
um die Bewohner nur in Intervallen und auf markierten Wegen aneinander vorbeizuschleusen. Die einstöckigen Häuser waren Ruinen mit blinden Fenstern und wichen Steinschachteln von der Farbe der neuen Straße. Selten lief ein Mensch an den Wänden entlang. Niemand blieb stehen, um ein Gespräch anzufangen, denn man verstand das eigene Wort nicht mehr. Als Kind war Seebaum bloßfüßig am Straßenrand gehockt, hatte mit einem Stock das Laub hochgewirbelt und die nackten Zehen in den Staub gebohrt. Im Hochsommer, mitten in der Langeweile der großen Ferien, spürte er die kühle Erde unter den Sohlen. Er schlief unruhig ein, schreckte immer wieder auf, fand sich jedes Mal erst nach ein paar Sekunden zurecht und freute sich, in einem anderen Land unter gastfreundlichen Fremden zu liegen. Er mußte unruhige Träume haben und wurde immer müder und immer ungeduldiger; so als bedeute der Lärm in den Straßen, daß er eine ungeheure Fülle an Leben verschlafe. Der Schlaf wurde eine unangenehme Lähmung, etwas Ungesundes und Sträfliches. Auch Anna schlief neben ihm unruhig, sie bewegte sich ständig, murmelte vor sich hin und sagte einmal ganz deutlich: »Nein, das tun wir wieder weg.« Als Seebaum schon lange nicht mehr schlafen konnte und unzufriedene Gesichter schnitt, fuhr sie plötzlich auf, starrte ihn fassungslos an und legte eine Hand vor den Mund. Dann lächelte sie allmählich und sagte erleichtert: »Ja? Herein. Das ist gut.« Beide lachten leise, Anna legte sich dicht neben ihn und schlief sofort wieder ein. Mit der freien Hand griff Seebaum nach einem Buch auf dem Boden und begann zu lesen. Kurz darauf kam ein Kind herein, dann eine Frau: Man wollte Spazierengehen. Später erinnerte Seebaum sich an dieses Wochenende als eine Zeit großer Mühe und Verwirrung. Es gab darin Höhepunkte
und Überraschungen, aber auch peinliche Mißverständnisse, zwischen denen er einen anstrengenden Seiltanz aufführte. Die Spazierfahrt, mit der alles anfing, war noch eine lockere, leichte Angelegenheit. Man stieg in zwei Autos, fuhr aus der Stadt, sah kurz bei Bekannten auf einem Bauernhof vorbei, wo es zu trinken gab, und setzte sich dann auf eine Wiese. Weder störten die anderen, noch machten sie um Anna und Seebaum einen bedeutungsvollen Bogen. Es gelang ihm, Anna wie die anderen zu behandeln; er hörte gleichmäßig zu, verließ Anna manchmal für kurze Zeit, um mit jemand anderem grasende Kühe anzusehen oder Wein zu besorgen. Wenn er wiederkam, unterhielt Anna sich mit jemandem und sah freundlich zu Seebaum herüber. Er hatte die Freiheit, sich anderswo hinzuhocken und zu plaudern oder sich selbstverständlich neben Anna zu setzen und ruhig zu warten, bis sich eine Gelegenheit fand, mit ihr weiterzusprechen. Er behielt ein stark leuchtendes Bild in Erinnerung: die Gruppe mit raschen Schritten unterwegs durch den weitständigen Laubwald, die Sonne durch die Zweige blitzend, Anna vor oder hinter Seebaum in einer Untergruppe von zwei, drei Leuten, und er selbst den Schritt beschleunigend oder bremsend, um die Gesprächspartner zu wechseln, je nach Neugier oder Überdruß. Alle waren zwischen fünfundzwanzig und dreißig, standen am Ende des Studiums oder übten schon ihren Beruf aus: Physiker, Chemiker, Mathematiker, Lehrer, Sozialarbeiter, Krankenpfleger. Weder arbeitete einer in der Fabrik, noch war einer durch Reichtum von der Arbeit befreit. Seebaum entdeckte, daß er der einzige war, der keinen Beruf anstrebte. Er fragte sich, woher er den Mut dazu nahm, oder die Verzweiflung. Letzten Endes durfte er das nur wagen, weil er schlimmstenfalls die Eltern um Geld bitten konnte; sie lebten im Nachbarland, nicht arm, gewiß nicht reich; der Vater war Direktor einer Sprachschule.
Die Sorge, Arbeit zu finden und sie zu behalten, spielte in den Gesprächen eine erstaunliche Rolle, fand Seebaum. Das ärgerte, ängstigte, beschämte ihn. Nur zwei junge Männer lächelten auf seine Frage, was sie seien oder werden wollten: Sie hatten es aufgegeben, je ihren Beruf zu ergreifen. Der eine wartete das vierte Jahr auf einen Studienplatz in Medizin; um sich über Wasser zu halten, fuhr er seit Jahren mit seinem Auto die pharmazeutischen Labors des Kreises ab, säuberte die Ställe der Versuchstiere und fütterte die Meerschweinchen, Mäuse oder Kaninchen. Der andere hatte einmal Lehrer werden wollen, ließ sich aber von einem Halbjahr zum anderen für verschiedene Forschungsprojekte anstellen und machte vom gesparten Geld weite Reisen. Das gefiel Seebaum. Er schloß sich an diesen Mann an, fragte ihn aus und lachte zustimmend, bis der andere ungeduldig damit herausrückte, daß er sich wenig beneidenswert fand, ohne Zukunft, ohne eigene Ergebnisse, ein Hilfskopfarbeiter, Einspringer in schlecht bezahlte Lücken, Schuhabstreifer einer erbärmlich organisierten Berufshierarchie. Dann hörte Seebaum zu, wie Anna sich mit einem Mädchen über ihren Beruf unterhielt. Beide arbeiteten in Altenheimen. Diese für Seebaum ganz undenkbar schreckliche Tätigkeit schien Anna gern zu haben; sie war stolz auf kleine Verbesserungen, kleine Siege im Dauerstreit um Personalmangel und schlechte Arbeitsbedingungen. Der endlosen Kette von Leiden, Mißmut, Auflösung und Niedergang setzte Anna ihren Einfallsreichtum entgegen. Zuhörend vergaß Seebaum, daß es hier um Annehmlichkeiten für abgenützte Todeskandidaten ging, denn Anna bemühte sich, ein zweites Leben zu organisieren, wenn eigentlich nur noch ein problemloses Absterben vorgesehen war. Sie redete von den Alten, als wären sie ganz am Anfang. Nur weil Seebaum Annas todähnlichen und zugleich unruhigen Schlaf
beobachtet hatte, wußte er, daß es ein aufreibender Kampf sein mußte, der Annas Kraft jede Woche aufzuzehren drohte, bis sie todmüde ins Wochenende fiel und sich gerade so weit erholte, um montags wieder zu beginnen. Hinter den heiteren Menschengruppen im sonnigen Wald sah Seebaum auf einmal den Preis, den dieses Bild kostete. Nichts ging von selbst, das Selbstverständliche wurde mühsam zustandegebracht, freilich nicht im Sonntagslicht. Seine Schuhe, die er vor Jahren geschenkt bekommen hatte, der vom Vater geerbte Mantel, sogar der kostenlose Wein, der zutraulich im Kopf summte – nichts war wirklich ein Geschenk, alles das Produkt unscheinbarer Anstrengungen. Und wenn schon! Seebaum schüttelte ungeduldig den Kopf und sprang in die Höhe. Und wenn schon! Selber schuld! Hatte ihn jemand gefragt, als man ihn in diese Welt setzte? War er verpflichtet, sich abzurackern, weil das so üblich ist? Nein! Außerdem rackerten sich keineswegs alle ab. Was ist mit den reichen Leuten? Eine runde, erfüllte Persönlichkeit ist mit einem normalen Gehalt unmöglich zu erwerben. Für Seebaum gab es keine moralische Verpflichtung zur Arbeit, angesichts der vielen, die ein Leben lang schuften und auf der Stelle treten, und angesichts der wenigen, die unter Applaus das tun, was Spaß macht. Wenn aber Anna zu den Verlierern gehörte, warum liebte Seebaum sie dann? »Was ist?« Anna ging neben ihm und stieß ihn an. »Gerade habe ich daran gedacht, daß ich gern reich und berühmt wäre«, antwortete Seebaum ernsthaft. Anna lachte nicht und sagte nach einer Weile: »Vielleicht wirst du ein berühmter Reporter, wer weiß? Willst du das?« – »Nein«, sagte Seebaum. »Und was willst du dann?« fragte Anna und blieb stehen. Seebaum sah, daß sie wieder mißtrauisch wurde. Er zuckte die Achseln und schoß einen Ast mit dem Fuß davon: »Ich möchte ein Mensch bleiben und meine Freiheit nicht verlieren. Ich kann
mir nicht vorstellen, jeden Tag zur selben Arbeit zu gehen, so lange, bis ich einer von deinen Pflegefällen bin.« Anna holte tief Luft und sagte sehr ernst: »Du mußt viele Reisen machen, vieles versuchen, aber dann darfst du nicht mit meinesgleichen im Wald von Bronnen deine Zeit vertun. Wer weiß, am Ende bist du ein ganz seltenes Genie und weißt nur noch nicht genau, was für eines.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Oh, hab ich mich gerade geärgert. Das war dumm. Es ist vorbei.« Seebaum antwortete nichts und ging still neben ihr, bis sie ihn verließ. Abends gab es bei Bekannten ein Fest; er ging mit, weil alle das selbstverständlich fanden. Anna schien sich ausgezeichnet zu unterhalten, sie tanzte und lachte viel, während Seebaum aus einer halbdunklen Ecke zusah. Er war jetzt ganz sicher, daß sie ihn nicht brauchte, selten an ihn gedacht hatte, daß er sie nur störte. Am besten, er reiste schon morgen weiter. Aber wohin? Wozu? Zu wem? Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Seebaum sich so hilflos gefühlt, so abhängig. Wenn ihm niemand heraushalf, mußte er ewig hier auf dem Boden eines Hauses in einer mittelgroßen freiländischen Stadt sitzenbleiben. Mit bösen Augen betrachtete er das Fest. Lauter Spießer. Die Neuankömmlinge sahen sich unsicher um, aber sobald sie merkten, daß keiner sie hinauswarf, wurden sie gleich frech. Sie schlichen zu einem Tisch, auf dem kalte Würstchen, schmatzender Nudelsalat und fader Käse angerichtet waren, rissen eine Stange Weißbrot an sich und verschlangen sie mit einem Stück Fleisch in einer dunklen Ecke. Dort hockten sie unbequem auf dem Boden, fraßen gierig und beäugten von unten kritisch die Tänzer. Tänzer! Ekstatische Buchhalter, verrenkte Dozenten, euphorische Lehrerinnen. Sie krallten die Finger in die Luft, wackelten mit dem Kopf, stießen mit den Ellbogen um sich
und traten mit großer Kraft auf der Stelle. Gern hätte jetzt jede dieser Jammergestalten einen lockeren Negerkörper gehabt, doch da man insgeheim wußte, wie lächerlich die blassen Leiber in dieser künstlichen Aufregung wirkten, blieb nur die Flucht nach vorn: Noch mehr Geschlenker und Getrampel, locker, locker, jetzt hing schon der Kiefer lose, der Nachbar kriegte den Handrücken in die entrückte Fresse geschnalzt, aua, das waren die Zehen, einer kippte über den Gummibaum und schleuderte eine Frau ins Buchregal, die Stereobox knallte aufs Parkett, einer krümmte sich vor Lachen und bekam Wein in den Kragen; aber die Mehrheit blieb bei der Tanzbemühung, stierte auf die Tapete und zappelte lässig vor sich hin. Seebaum betrank sich trotzig und genoß selbstgefällig seinen Menschenhaß, weil das den Selbsthaß betäubte. Wie konnte Anna da mitmachen? Bei diesem Versuch, verbissen locker zu sein, spontan auf Befehl, krampfhaft anmutig? Gerade als Seebaum aus seinem Kummer ein wenig Selbstgenuß zu ziehen anfing, machte er eine unangenehme Entdeckung. Er war nicht der einzige, der mit gerümpftem Gesicht die Tänzer studierte. Im Gegenteil waren die Tänzer eine mutige Minderheit, die es wagte, sich den höhnischen Blicken der Bodenhocker auszusetzen. Überall saßen junge Männer in den Winkeln wie Seebaum, trugen ein ironisches Wesen zur Schau und versuchten unauffällig, Eindruck zu machen. Sofort sah Seebaum sich gezwungen, aufzustehen und durch die Zimmer zu gehen. Aber auch diese Verlegenheitslösung gliederte ihn augenblicklich in eine Menge unschlüssiger Wanderer ein. Sie waren unzufrieden unterwegs zwischen den halbdunklen Räumen, flohen vorm Trubel in die Stille, wurden dort von der Langeweile abgestoßen, vom Krach angezogen, prallten vor dem Anblick der Tänzer zurück, schlichen ins Dunkel, und so fort.
Seebaum zwang sich zu dem Entschluß, wegzugehen. Anna lachte gerade laut auf; sie war angetrunken, unterhielt sich mit zwei Frauen, aber rundherum lungerten mehrere Männchen und warteten auf eine Gelegenheit. Wäre Seebaum groß und stark und etwas betrunkener gewesen, er hätte wortlos alle Männer niedergeboxt. So aber ging er lieber gleich. Im Vorraum lagen Jacken und Mäntel auf einem Haufen, daneben standen ein paar Leute und unterhielten sich. Während er seinen Mantel suchte, begriff er, daß hier gute Stimmung herrschte. Der Lärm war gedämpft, man konnte sich unterhalten. Seebaum blieb einfach stehen. Mit der Zeit merkte einer, der soeben etwas Lustiges erzählte, daß Seebaum zuhörte, und wandte sich auch an ihn. Am Ende lachte Seebaum mit, es war wirklich eine lustige Geschichte gewesen, ein Mißgeschick mit gutem Ausgang. Ein anderer wußte auch eine, man lachte, und nach ein paar Runden konnte sogar Seebaum mit einigem Erfolg eine Anekdote anbringen. Anna kam verschwitzt vorbei; ihr gefiel, daß Seebaum Anschluß fand, sie hörte kurz zu, ging aber bald wieder tanzen. Man sprach nun über Filme, dann über das Lesen. Alle bedauerten, wie wenig Zeit einem dafür blieb, obwohl sie gern Geschichten mit vielen Personen lasen, die in interessanten historischen Epochen lebten. »Nicht einmal zum Zeitungslesen komm ich«, sagte der eine. »Ich lese Krimis, wenn ich im Zug fahre«, berichtete ein zweiter. »Ich mag Zukunftsgeschichten«, bekannte Seebaum. Der erste stimmte zu und fragte, ob er in letzter Zeit eine gute Science-Fiction-Geschichte gelesen habe. »Eines Tages besuchen fremde Wesen die Erde«, erzählte Seebaum, »die Erde wird in naher Zukunft geschildert, sie ist ähnlich wie heute, nur schlimmer. Es gibt ganze Städte, die nur Slums sind, dort leben nur noch Jugendbanden. Und gerade dort landen die Fremden. Sie fallen in dem Chaos keinem auf. Außerdem sehen sie zufällig wie Zirkusclowns aus, man kann
sie nicht ernst nehmen. Weil auf ihrem Heimatplaneten die Schwerkraft anders ist, fallen sie immer hin, sie tragen riesige Latschen an den Füßen, haben rote Nasen, eine weiße Reptilhaut, winzige schwarze Augen und auf dem Glatzkopf eine schiefe Warze in Grün. Später werden sie zwar erkannt, kommen sogar ins Fernsehen; aber auf der Erde geht alles so schlecht, daß sich außer ein paar Fachleuten niemand mit ihnen abgeben kann. Die Menschheit ist gerade so mit sich beschäftigt, daß sie für das größte Ereignis ihrer Geschichte keine Zeit hat. Es ist, wie wenn man Leute besucht, die gerade streiten. Am Ende steigen die Besucher in ihr Fahrzeug und fliegen traurig wieder ab.« »Wenn es schlecht geht, leidet die Gastfreundschaft«, meinte einer, »überhaupt kommen alle Unhöflichkeiten, zum Beispiel Kriege, nur davon, daß es den Leuten nicht gut geht.« – »Zufriedenheit macht friedlich«, fügte ein anderer hinzu. »Der Frieden gilt aber als langweilig. Man sagt, die Rasse degeneriert ohne Kampf.« »Woher kommt eigentlich der Eindruck, daß Frieden eine faule Sache ist?« sagte jemand. »Weil selten über die Arbeit öffentlich erzählt wird. Dann bleibt der Krieg die einzige auffallende Tätigkeit. Als wär das Häuserbauen keine Arbeit, nur das Abreißen.« – »Ich bin weg«, sagte einer, die anderen stellten fest, es sei schon sehr spät, und suchten ihre Mäntel. Seebaum ging mit ihnen. Draußen waren nur noch Autos unterwegs, die Ampeln schaukelten im Wind, es roch nach altem Schnee. Man fragte Seebaum ohne Neugier ein wenig aus, nur aus Höflichkeit. Er behauptete schon gewohnheitsmäßig, ein Reporter zu sein. Ein sehr interessanter Beruf, fanden die anderen. Sie säßen leider den ganzen Tag auf einem Fleck, er hingegen käme herum, lerne alle Schichten der Gesellschaft kennen, wie ein Schriftsteller oder ein Detektiv. Seebaum fand allmählich,
Reporter wäre wirklich ein Beruf für ihn. Er begleitete die anderen bis zu ihren Autos, blieb dort stehen und winkte ihnen. Dann ging er in irgendeine Richtung. Wenn es nicht so geregnet hätte, er wäre so lange gegangen, bis er einen Schlafplatz im Freien gefunden hätte. Der Himmel war hinter den Lampen ohne Tiefe, nur ein nasser Filz, aus dem Funken sprühten. Darunter warf Seebaum seinen Schatten, ein Muster ohne Wert. Ja, die Welt ist kein Elternhaus, das liebevoll alle kleinen Fortschritte registriert, die man macht! Darum sah Seebaum sich gezwungen, ein Tagebuch zu führen. Darin sprach er zu sich wie ein Erzieher, appellierte an seinen eigenen Stolz, ermahnte sich zu mehr Fleiß, Konsequenz, Überblick, Offenheit und Leichtsinn. Mit einer zweiten Stimme dagegen formulierte er im Tagebuch Klagen und Vorwürfe gegen sich selbst; da sprach er fast unverstellt, beschrieb Fehler und Schwächen, vor allem seine Lähmungszustände angesichts eines unübersichtlichen Feldes abstrakter Möglichkeiten. »In der Meinung, alles werden zu können, eigentlich alles werden zu müssen, werde ich am Ende wirklich nichts«, notierte er immer wieder mit anderen Worten. Überhaupt wiederholten sich viele Eintragungen sinngemäß. Auf die versuchte Selbstdarstellung folgte die immer gleiche Kette der Ermahnungen. So ersetzte Seebaum den schmerzlich vermißten Dialog mit einem guten Erzieher durch das schriftliche Selbstgespräch, in dem er Lehrer und Schüler spielen mußte. In Augenblicken großer Verwirrung wie eben jetzt überwog die Klage, und zur aufrichtenden Ermahnung kam es nicht. Auf Umwegen war er zu Annas Haus gegangen, die Frau, die wegen ihrer Kinder das Fest früher verlassen hatte, öffnete ihm, und er legte sich neben Annas Bett auf den Boden, versuchte zu lesen, stöhnte aber auf und holte sein Notizbuch aus dem Koffer. Aufgeregt schrieb er Seite um Seite mit
Zustandsschilderungen, Klagen und Forderungen voll; er distanzierte sich von sich. Seit er sich zugab, daß er Anna liebte, wurde sein Stil bescheidener und ehrlicher. Er begnügte sich mit einfachen Beschreibungen, tat nicht gleich beleidigt, wenn er seinem Bild von sich nicht entsprach, wollte nicht sofort aus der Haut fahren und sich verwerfen. Oft gelang es ihm, von sich abzusehen und Gespräche oder Bekannte zu umreißen. Schriftlich teilte er sich mit, daß sein Idol der absoluten Autonomie ein Hirngespinst war, daß er sich mit anderen einlassen mußte, zugeben, daß er irgendwie – aber wie? – mit den anderen immer schon zusammenhing. Weil er vor Müdigkeit nicht mehr denken konnte, schrieb er diesen Gedanken immer wieder hin; er fand ihn gefährlich und aufregend. Jetzt und jetzt würde ihm der Knopf aufgehen, die lebenslange Verwirrung sich lösen durch einen erlösenden Satz. »Ich muß Anna sagen, daß ich nur wegen ihr hier bin«, schrieb er, »sie ahnt es oder weiß es längst. Mein Leugnen macht sie mißtrauischer als das Geständnis sie entsetzen wird. Der Spielraum ist nur aufgemalt, einen Zentimeter hinter den Fingerspitzen endet er. Aufhören, mir was vorzumachen. Zugeben, daß ich von wem abhängig bin.« Dann versuchte er einzuschlafen, horchte aber unwillkürlich, ob Anna heimkam. Die Vorstellung, daß sie mit einem Mann zu dessen Bett ging und gerade jetzt Spaß an ihm hatte, brachte ihn um den Schlaf. Er machte Licht und schrieb: »Herzklopfen, Ohrensausen, offene Nerven, Brustschmerzen, trockener Mund, Magenstechen, Grimassenschneiden, Zähneknirschen, Beinezappeln, Händeringen.« Erst als er vor lauter Mitleid mit seiner Hilflosigkeit heiße Augen und ein Würgen im Hals bekam, und schließlich wirklich weinte, fielen ihm die Augen vor lauter Schwäche endlich zu. Im Traum faßte er einen Entschluß, der gleich Wirklichkeit wurde: Anna
die Wahrheit sagen und sich durch das Suchen einer Arbeit selbständig machen. Sogar im Traum fiel beides ihm entsetzlich schwer, machte ihn alt und müde. Er lag vor Anna in einem Handkarren, und obwohl er sich kurz faßte, dauerte seine Ansprache das ganze Leben. Als er sich am Ende mühsam erhob und Anna ihm freundlich winkte, war schon alles vorbei mit ihm. Vor Annas Augen versuchte er ein Paket zu heben und in den Güterwagen zu werfen, da verließen ihn auch schon alle Kräfte; erleichtert starb er. Am anderen Morgen lag Anna in ihrem Bett und rührte sich nicht. Seebaum stand leise auf und ging in die Küche. Bis auf die Kinder und die Frau schliefen alle noch. Seebaum konnte nichts essen, trank aber eine ganze Kanne Tee aus. Er freute sich wie ein Rekonvaleszent, weil er nicht allein am Tisch sitzen mußte, plauderte mit den Kindern und las ihnen vor. Die Frau fragte er mit echter Neugier, wie für sie die Nacht gewesen war. Seebaum fand heute, daß eine Nacht eine Weltreise sein kann. Die Frau benahm sich wie ausgewechselt. Sie erzählte viel, wurde lebhaft dabei und lachte kopfschüttelnd über die Kette aus lauter Zufällen, an deren Ende sie in Bronnen gelandet war. Überall, dachte Seebaum, würde er Unterkunft und Freundlichkeit finden, wenn er so blieb wie jetzt. Anna war wie eine Erinnerung; das offene, wunde Gefühl, an dem sie schuld war, erstreckte sich an diesem Morgen auf alle und jeden. »Ich bin gern unter Menschen«, sagte er. »Das Alleinsein macht jeder durch«, sagte die Frau, und beide lächelten wie alte Bekannte. Er hängte den Mantel um die Schultern und ging ins Freie. Sonntag, die meisten Bürger ausgeflogen, feierliche Stille, hinter den Dächern Glocken und Flugzeuge. Hellgrauer Dunst schwebte in den Straßen, die Simse warfen blaue Schatten, die Bäume standen blaß im Park. Zwar stellten die Schaufenster Waren aus, aber heute ohne zweideutige Angebote, sondern
interesselos wie Stücke in einem Museum für angewandte Kunst. Es wurde ein langer, langsamer Genesungsspaziergang, und hinter jeder Biegung bestätigte die nächste Aussicht wieder, daß selbst in der Fremde, bei aller Kälte im großen, die Leute im kleinen doch mit sich reden lassen: In den riesigen Gebäuden versuchen sie, die nächste Umgebung wohnlich zu machen, und selbst auf der Straße blicken sie einen nicht immer an wie Mörder oder Mordopfer. Seebaum zwinkerte gegen das Sonnenlicht, und manchmal zwinkerte jemand zurück. Als er wiederkam, waren alle ins Grüne gefahren; nur Anna saß in der Küche und war schlecht gelaunt; sie ärgerte sich, weil man sie nicht geweckt hatte. Seebaums Anblick schien sie besonders böse zu machen. Er schwieg, trank neben ihr Tee und überlegte die richtige Formulierung für das, was er ihr sagen wollte. Sie hielt sich den Kopf, schimpfte auf solche Feste, die einem den ganzen Sonntag versauen, und wann soll man sich für den Montag wiederherstellen? Sie fragte Seebaum mit mühsamer Höflichkeit, wie lange er noch bleiben werde, aber er verstand, daß sie meinte: Hau ab! Jetzt sagte er den schwierigen Satz: »Ich such mir sofort eine Wohnung und Arbeit. Aber eigentlich bin ich wegen dir nach Bronnen gekommen.« Anna machte keine Bewegung, starrte in ihre Tasse und sagte nach einer langen Pause: »Das hab ich mir gedacht. Ich finde gut, daß du es sagst. Ich mag dich auch. Nur habe ich jetzt keine Energie, um mich auf einen anderen Menschen einzulassen.« Seebaum nickte; die Antwort bestätigte seine Erwartung; er hatte sich darauf vorbereitet. »Du weißt, ich habe schon früher mit einem Mann gelebt«, sagte Anna, als lese sie ihren Text aus der Tasse, »es war am Anfang gut, dann nicht mehr, und es war am Ende furchtbar
schwer. Ich habe jetzt nicht die Kraft dafür«, sie starrte immer in die Tasse und weinte dabei. Seebaum wurde ganz ruhig. Er wollte ihr helfen, sie gegen jede Zumutung schützen. Das bedeutete: Er mußte sie in Ruhe lassen. Er stand auf. »Entschuldige, es war keine gute Idee, hier aufzutauchen. Aber das habe ich eigentlich vorher gewußt. Ich habe es allein einfach nicht mehr ausgehalten. Aber es geht wieder. Ich geh weg.« »So ein Blödsinn«, Anna lächelte über die ganze Feierlichkeit am Küchentisch, schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben, und fühlte sich sehr erleichtert, »bleib nur da, bis du was gefunden hast. Solange werde ich dich schon aushalten.« Beide lachten leise. »Nur bitte nicht hier sitzen und warten, ja?« Seebaum nickte heftig. »Es gibt viele Frauen in Bronnen, die dir gefallen werden«, sagte sie, »ich wär sehr froh, wenn dir welche gefallen.« Seebaum nickte, obwohl er das ganz ausgeschlossen fand. Er hatte verstanden. »Hast du Lust auf einen Spaziergang«, fragte er. Sie blies die Backen auf und verneinte. »Ich muß schlafen. Ich weiß nicht mehr, wann ich heimgekommen bin. Es war von allem zuviel.« Seebaum ging vor ihr in ihr Zimmer und holte ein Buch aus seinem Koffer. Sie begegneten einander in der Tür. »Du störst mich nicht. Bleib nur.« Dann lag er wieder neben ihr, sie schlief sofort wie tot; er freute sich an dem Lichtnetz an der Zimmerdecke, das heute nur sanft tanzte, und schlief herrlich ein, mitten unter Musikern, die ihre Instrumente stimmten. Anna lag wach mit dem Rücken zu Seebaum. Sie war erleichtert. Er hatte die Regeln akzeptiert und wurde ihr dadurch sympathischer. Man konnte sich mit ihm arrangieren; wenn man einen Strich zog, blieb er dahinter. Sie mochte ihn ja als Freund; aber als Mann war er ihr zu unbestimmt. Er hielt sich nicht an die Rolle, die für sein Geschlecht vorgesehen
war. Männer kommen zu dir und lachen, bis du mitlachst, dann ist es klar. Wenn sie ernst schauen und Eindruck schinden wollen, lachst du sie aus, und sie ziehen ab. Seebaum aber kommt, setzt sich hin und fordert ohne ein Wort eine Antwort. Wenn er sie nicht bekommt, bleibt er trotzdem sitzen und leidet als lebender Vorwurf. Wenigstens hat er vorhin den Mund aufgemacht, das hätte Anna nicht von ihm gedacht. Blaß sieht er aus, es geht ihm nicht gut. Soll das ein Vorwurf sein? Wer weiß, wie es mir geht. Immerhin, er merkt, wenn ich es nicht mehr aushalte, dann zieht er sich zurück. Wieso liegt er dann schon wieder neben mir? Ich hab’s ihm angeboten, diesmal kann er nichts dafür. Sie drehte sich um und betrachtete ihn. Er atmete mit offenem Mund und bewegte unter den Lidern unruhig die Augäpfel. Auf seinem Bauch lag das Buch ›Heinrich von Ofterdingen‹. Wie stellt er sich sein Leben eigentlich vor? Er tut wie ein Adeliger, dem sein Schloß abgebrannt ist. Manchmal glaub ich, er hält alle, die arbeiten müssen, für dumm. Was will er machen? Seine Eltern werden Geld haben. Hoffentlich nicht, sonst wird ein Saukerl aus ihm. Er schluckte und schloß den Mund, sie griff in sein Gesicht und drückte ihm die Nasenflügel zusammen. Er zuckte mit dem Adamsapfel, zog endlich Luft durch den Mund und machte mit der Unterlippe an den Zähnen »Fa fa fa fa!« Sie lachte. Seebaum hob den Kopf und sah mit roten Augen entsetzt umher. Dann erkannte er Anna und lächelte. Das war ein so erleichtertes Lächeln, daß Anna von der Matratze zu ihm auf den Boden rutschte. Er hob glücklich die Decke und umarmte sie. Endlich! Seebaum schloß die Augen und freute sich. Anna steckte die Nase unter seinen Hals. Seebaum halbierte sich, oben war er umsichtig und einfühlsam, aber unten war er geschwind und fuhr hin und her wie ein Wiesel. Das war der
Lohn für den Entschluß, mit Anna offen zu reden, sie nicht zu drängen. Es juckte ihn überall vor Vergnügen. Er spürte, wie er gesund wurde. Die Haut überschüttete das Hirn mit Meldungen von glücklichen Zufällen und angenehmen Überraschungen. Anna sah zum Lichtnetz an der Decke und rieb sich die Nase. »Was ist«, fragte er besorgt, sie kam ihm unzufrieden vor. »Ich hab Hunger«, sagte sie freundlich, »mir geht’s gut.« – »Mir auch«, Seebaum verstand, daß er kein Gewohnheitsrecht erworben hatte, im Gegenteil: Er war ja für die Bereitschaft zum Rückzug belohnt worden. Jedenfalls sah die Welt sofort anders aus. Jetzt hatte er die Kraft, aufzustehen, an den nächsten Augenblick zu denken, sogar an morgen. Was für eine Erholung, dieses sprachlose Einverständnis. »So«, rief Anna, auch bestärkt und mutig, sprang auf und ging duschen. Er hörte sie singen und glaubte, alles wäre überstanden. Sie gingen zu den anderen in die Küche, setzten sich getrennt dazu und demonstrierten, daß sie kein besonderes Verhältnis zueinander hatten. Das war Seebaum lieb, trotz aller Unabhängigkeitserklärungen bestand für ihn zu Anna eine Sonderbeziehung, auch wenn das durch Worte und öffentliche Gesten ausdrücklich abgestritten wurde. Für ihn unterstrich das nur die Intimität: sie hatten ein Geheimnis. Anna sah neue Probleme voraus. Gleich würde ein Freund kommen, mit dem sie seit einer Woche für diesen Sonntagabend verabredet war. War ihr schon ein Mann am Wochenende zu anstrengend, so zwei erst recht. Am liebsten hätte sie Müdigkeit vorgeschützt und dem Freund, einem jungen Mediziner, abgesagt. Aber dann wäre Seebaum auf die Idee gekommen, Sonderrechte zu haben, und die übrigen in der Wohngemeinschaft hätten sich ihren Reim drauf gemacht. Ohnedies beobachteten sie unauffällig, wie es zwischen ihr und Seebaum lief. Eine Absage wäre als Bevorzugung des
Besuchers aus dem Ausland ausgelegt worden, auch der Mediziner hätte seine Schlüsse gezogen. Sie wollte aber weder ihre Unabhängigkeit noch den Freund verlieren, mit dem sie sich gut verstand. Er interessierte sich für ihre Tätigkeit, gab Ratschläge und wollte in der Geriatrie mit ihr zusammenarbeiten. Diese Freundschaft war nützlich und angenehm, man unterhielt sich über Berufsfragen, ging abends essen und fuhr gelegentlich übers Wochenende weg. Die sexuelle Seite dieses Verhältnisses ließ Anna sich gefallen, nahm sie jedenfalls weniger wichtig als der Mediziner, der wie alle Studenten aus dem Mittelstand ein großes Theater damit aufführte. Als der angehende Arzt sich an den Tisch neben Anna setzte und gleich ausschließlich mit ihr zu murmeln begann, dachte Seebaum sich zuerst nichts dabei. Er unterhielt sich mit dem vielreisenden Lehrer über die Chancen, in Bronnen Reporter zu werden und notierte Adressen möglicher Kontaktpersonen. Erst als Anna verschwand, sofort ausgehfertig wiederkam und sich mit unfrohem Gesicht verabschiedete, horchte Seebaum auf. Er sah den Mediziner mit Anna hinausgehen; rund um den Tisch herrschte eine unauffällige, spöttische Aufmerksamkeit. Nur der immer Lustige rief laut: »Behandelt man so Besucher aus dem Ausland? Ich muß schon sagen!« Seebaum versuchte sein Gesicht zu beherrschen. Ihm wurde heiß, er nahm einen tiefen Schluck aus einer fremden Tasse. Um nicht aufzufallen, blieb er sitzen und merkte bald, daß ihn niemand mehr beobachtete; man nahm zur Kenntnis, daß Anna ihm gleichgültig war. Den Rest dieses Sonntags brachte er halbwegs anständig hinter sich, führte ein paar Gespräche, ging allein spazieren und glaubte überall auf Anna und den Mediziner zu stoßen. Abends setzte er sich mit den Bekannten in eine Kneipe und wurde ausgelassen, wie immer, wenn es ihm schlecht ging. Er
redete überall dazwischen, gab seinen Senf zu allem, behauptete stets das Gegenteil und verkündete mit ernstem Gesicht Dummheiten. Einige am Tisch drehten sich weg und setzten ihre Gespräche ohne ihn fort, aber der arbeitslose Lehrer, der verhinderte Medizinstudent und zwei Mädchen schienen froh, daß Seebaum nicht ernst sein wollte, denn sonst hätten sie wieder über ihre Misere sprechen müssen. Sie blödelten, wechselten dauernd den Tisch, später das Lokal, tanzten auf der Straße und saßen am Ende in einem heißen, lärmenden Keller. Für Seebaum endete der Abend schlecht: Er hatte fast all sein Geld ausgegeben, konnte vor Kopfschmerzen kaum die Augen bewegen und trotz einer giftigen Müdigkeit lange nicht einschlafen. Anna war nicht daheim, und Seebaum mußte wachliegen und auf sie warten. Es war sinnlos, ihm war gleichgültig, wann sie kam, aber darüber war mit seinem Körper nicht zu reden. Er juckte und kribbelte, die Ohren meldeten das kleinste Geräusch. Bei jedem Auto, das sich näherte, dachte Seebaum: Jetzt kommt sie endlich, und ich kann schlafen. Dann zählte er und versuchte durch den Boden in den Erdkern zu fallen, er versuchte zu lesen, aber nichts half gegen die wütende Ungeduld. Anna kam im Morgengrauen. Als er die Wohnungstür hörte, machte er das Licht aus, warf das Buch weg und stellte sich schlafend. Unendlich erleichtert hörte er sie zum Badezimmer gehen und leise hereinkommen. Sie stieg vorsichtig über ihn ins Bett und seufzte zufrieden. Als sie bemerkte, daß aus Seebaums Winkel keine Atemzüge kamen – er atmete mit offenem Mund ins Kissen –, hob sie den Kopf und sagte seinen Vornamen. Er atmete lang aus und sagte in künstlicher Schlaftrunkenheit »Gute Nacht«. Fast augenblicklich hörte er sie einschlafen, und endlich konnte er alle unlösbaren Probleme für ein paar Stunden aufschieben.
Der Dienst begann um sieben. Annas Wecker ging eine Dreiviertelstunde vorher los, aber oft opferte sie das Frühstück für zwanzig Minuten Schlaf. Um diese Zeit saß sie ohnedies allein in der Küche, lieber wartete sie bis zur Frühstückspause im Altenheim, um neun. Nur in den ersten Wochen hatte sie das Ankleiden und Waschen der Pflegefälle auf leeren Magen nicht ausgehalten. Seebaum wurde sofort hellwach und wartete, daß Anna endlich aufstand. Er wollte nicht, daß sie verschlief und böse im Zimmer hin und her stürzte. Seine Stimmung hatte sich über Nacht verwandelt. Er war gepanzert, sah sein Elend und Anna mit kalten, spöttischen Feindesaugen. Er war ein planloser Dummkopf, aber Anna war ein fühlloses Arbeitstier. Nur aus Trotz reiste er nicht schon heute ab. Er ließ sich doch nicht vorschreiben, wo er blieb! Sie führte ihr Leben in Bronnen, er versuchte in derselben Stadt eines zu beginnen, jeder für sich. Schlaftrunken suchte die nackte Anna ihre Sachen zusammen, er sah zu. Sie war unerreichbar wie eine Kinofigur. Ihre unbewußte Schönheit im halbdunklen Zimmer war verschenkt, sie war jetzt keine Frau, nur eine gehetzte Arbeitskraft. Das machte Seebaum wütend, als wäre es Annas Schuld, als wäre sie ungeschickt. Lächerlich, daß dieser nackte Körper jetzt niederkniete, auf dem offenen Bett Papiere ordnete und in eine Tasche stopfte. Was für eine unanständige Szene! Anna sah, daß Seebaum sie anstarrte. Sie wollte lächeln, bemerkte seinen unverschämten, bösen Blick, runzelte die Stirn und beeilte sich noch mehr, hinauszukommen. Seebaum blieb in Annas Zimmer liegen und wurde traurig. Wer trieb sie so unbarmherzig an, rieb sie auf, betäubte sie, wollte ihr alles abgewöhnen jenseits des Kreises von Arbeit und Ausschlafen? Gäbs wenigstens einen Schuft mit Gesicht
und Adresse, man könnte zu ihm gehen und ihm die Meinung sagen. Aber die Antreiber waren keine römischen Soldaten mit Peitschen, die gekrümmte Sklaven in die Steinbrüche trieben. Als Antrieb genügte eine Drohung, die niemals offen ausgesprochen werden mußte: Arbeite, sonst gibts kein Geld; sonst bist du keiner von uns. In einer Zukunftsgeschichte, die Seebaum kürzlich gelesen hatte, war alles mit Münzautomaten geregelt. Statt Miete zu zahlen, öffnete man die Wohnungstür wie ein Bahnhofsklosett, der Lichtschalter war ein Münzschlitz, ebenso das Autoschloß und der Einschaltknopf des Fernsehers. Er griff nach dem Notizbuch. »Ebbe in der Brieftasche ist die perfekteste Drohung der Welt, das frechste Märchen das, in dem der Beutel sich von selber füllt, das fröhlichste das Tischlein-deck-dich: Da hat man ohne Geld genug zu essen und kann alle einladen. Der Esel, der Dukaten scheißt, der Regen aus Sterntalern, aber auch der Mann, der Geld aus der Nase schabt und davon einen hornigen Rüssel bekommt: Im Märchen kommt das Geld durch einen Zauber, ohne Arbeit, aber am Ende ist es nichts wert, und die Weltordnung ist wiederhergestellt.« Schon seit Wochen spürte Seebaum diese Drohung körperlich als Müdigkeit. Er nahm immer mehr ab: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wenn er aß, dann gierig, wie ein Straßenköter etwas Gestohlenes verschlingt. Die Zeit arbeitete gegen ihn, denn sie nützte seine Schuhe und Kleider ab, machte ihn immer von neuem hungrig und durstig, zehrte das Gesparte auf. Wenn ein Schuhband riß oder ein Knopf abging, empfand Seebaum das wie einen Fingerzeig der drohenden Instanz, die ihn unbarmherzig fertigmachte, weil er kein Geld verdiente. Und je länger er trotzte, desto schlechter standen seine Chancen. Wer stellt jemand ein, der in Lumpen und abgemagert Arbeit sucht? Für die Unverbesserlichen gibt es
Auffanglager: Obdachlosenasyl, Gefängnis, Psychiatrie. Da liegen die Waren, du kannst sie haben. Hast du Geld? Du greifst trotzdem zu? Schon ist die Polizei da. Warum gehst du keiner geregelten Arbeit nach? Was heißt, du kannst nicht? Wenn du nicht willst – Gefängnis; wenn du nicht kannst – Psychiatrie. Wir arbeiten alle! »Ich will arbeiten«, schrieb Seebaum ins Tagebuch, »aber nicht für Geld.« Er las den Satz und mußte lachen. Anna pflegte alte Menschen; das war gute Arbeit; es würde sie auch ohne Geld geben. Und jemand, der Menschen ausfragte, über sie schrieb, ihnen Neuigkeiten über ihresgleichen mitteilte? »Ich werde als Reporter arbeiten«, schrieb Seebaum. Das gefiel ihm, es war ein entschlossener Satz. »Aber ein Reporter ohne Zeitung, ohne Auftrag, ohne Lohn? Das ist ein Schriftsteller, das kommt nicht in Frage. Der Schriftsteller ist immer arbeitslos. Also werde ich zu einer Zeitung gehen und dort arbeiten«, schrieb Seebaum. »Aber danach bist du augenblicklich dort, wo du nicht hinwillst. Du lieferst dich aus. Das Geld besticht dich. – Aber ohne Geld bist du auch ausgeliefert. – Eine richtig gebaute Falle erkennt man daran, daß an ihr kein Weg vorbeiführt«, schrieb Seebaum. Er setzte das Datum über seinen schriftlichen Beschluß, die Arbeitslosigkeit zu beenden, und setzte darunter: »Erstens: Brief an die Eltern: Ich brauche Geld, ich suche Arbeit. Zweitens: Arbeitsamt.« Er wusch sich gründlich, heiß und kalt, rasierte sich, kämmte sich, zog das zweite Hemd im Koffer an. Er lieh sich von der Frau mit den Kindern einen Stadtplan, suchte im Telefonbuch die Anschrift des Arbeitsamtes und ging zu Fuß hin. In den Gängen des Amtes herrschte kein reges Treiben. Die zahlreichen Klienten lehnten an den Wänden und bewegten
sich selten, aber rasch, wie Eidechsen. Die Stimmung war die eines Krankenhauses, wo die Patienten ergeben auf den Gängen warten, bis ein Experte ihr Leiden erkennt. Krank kamen Seebaum die Arbeitssuchenden in der Tat vor, oder schuldig. Sie hatten etwas falsch gemacht – schließlich hatten viele andere Arbeit. Wer Pech hat, ist daran nicht unschuldig. Auch Seebaum fühlte sich bald krank und schuldig. Hier hing die Drohung dick in der Luft. Beamte traten aus den Türen, sie blickten durch die Bittsteller hindurch und trugen Formulare in der Armbeuge. Manchmal schlich jemand vorsichtig an eine Tür, die sich eine Ewigkeit nicht geöffnet hatte, und klopfte leicht daran. Da sich nichts rührte, stahl er sich zurück auf seinen Platz oder wagte es, gebückt die Tür einen Spalt zu öffnen, den Kopf in der Höhe der Schnalle hineinzustecken und etwas zu fragen. Die anderen Wartenden rückten näher, sie warteten noch länger, Vordrängen gibts nicht. Aber schon fuhr der Kopf wieder heraus, die Tür fiel zu, und der Bittsteller erklärte den Umstehenden, gerade werde ein Fall besprochen. Nach einer Stunde drang Seebaum in einen hellen Raum mit Schlingpflanzen an den Wänden vor. Eine kleine dicke Frau erklärte mit mühsam beherrschter Ungeduld, daß Journalisten in einer Außenstelle behandelt würden, in einem anderen Teil der Stadt. Seebaum ging wieder zu Fuß, er war vom aufgeregten Warten verschwitzt und spürte den versäumten Schlaf. Deutlich sah er den stolzen Gang der Angestellten, die friedliche Selbstsicherheit der Arbeiter, die schuldbewußte Unsicherheit aller Überflüssigen: alte Frauen, Trinker, ewige Studenten. Die Schüler beneidete er um die Lässigkeit, mit der sie vor einem Rohziegelbau lehnten.
In der Außenstelle war alles etwas enger und kleiner. Einige saßen in einem ungemütlichen Warteraum, die meisten drängten sich auf dem Gang vor einer Tür. Er stellte sich dazu. Gegen Mittag kam jemand aus einer Tür und stöhnte über die Menge, die immer noch Rat suchte. »Warum kommen Sie nicht vor neun Uhr morgens«, rief der Beamte traurig aus, »immer kommen alle zu Mittag und beschweren sich über das Warten und die Unfreundlichkeit.« Seebaum drehte sich sofort um und ging. Die Wartenden, die später gekommen waren, blickten ihn verständnislos an und rückten auf. Er streunte durch die Stadt, versuchte sich Straßennamen einzuprägen und herauszufinden, wo die Mietshäuser standen und wo die Villen. Er warf den Brief an die Eltern ein und fuhr mit einem Bus aus der Stadt. Nach vielen Schleifen löste sich der Bus von den Häuserblöcken und schaukelte über Felder. Das Flachland streckte sich unter einem großartigen Himmel hin, mit Wolkentürmen, Regenschleiern und überraschenden Sonnenblitzen. Die Fahrt endete in einer Bergbausiedlung namens Gruhm. Inmitten der bräunlichen Stadt erhoben sich Förderräder und Kühltürme. Seebaum stieg in einen Bus nach Kohlberg um. Am Horizont standen riesige Schaufelbagger, im regnerischen Dämmerlicht des Nachmittags funkelten Lichterketten an ihren Auslegern. Kegelförmige Hügel waren schütter mit jungem Grün bepelzt. Der Bus überquerte ein hellgraues Autobahnkreuz. In Kohlberg aß Seebaum in einer Imbißstube viel zu schnell Kartoffeln und kleingehacktes Fleisch, die man aus siedendem Öl fischen ließ. Er trank Bier, stieg in einen Bus nach Bronnen und hatte nur noch einige Münzen in der Tasche. Ruhig und zufrieden sah er ins Abendlicht. Er war am Ende, jetzt mußte alles neu beginnen. Unter den Fahrgästen fühlte er sich als einmaliger Fall. Solange der Bus ihn weitertrug, sah er
sein Mißgeschick als Abenteuer einer erfundenen Figur. Erst auf dem Weg zum Haus fühlte er sich wieder elend. Was für ein vergeblicher Tag! Was hatte Reporter Seebaum heute zu melden? Er hatte nichts erfahren, was nicht jeder Einheimische besser wußte: Wie das Land um Bronnen lag, daß man mit Bussen nach Gruhm und Kohlberg fahren kann und in Imbißstuben heißes Fett sieht. In der Küche saßen alle um den Tisch, man machte ihm Platz und gab ihm zu essen, ohne dafür Geld zu verlangen. Seebaum schöpfte Hoffnung. Anna fragte ihn, was er erreicht habe. Er antwortete, er sei auf dem Arbeitsamt gewesen und werde morgen wieder hingehen. Man aß und rauchte, ging fernsehen oder in die Stadt. Seebaum stand auf, legte sich in Annas Zimmer und wurde wütend, weil ihm Tränen kamen. Als Anna eintrat, schlief er schon. Das tat ihr leid, sie hätte sich vor dem Einschlafen gern ein wenig mit Seebaum unterhalten. Seit er Arbeit suchte und morgens früh aufstehen wollte, gab es gleich mehr Gemeinsamkeiten und Gesprächsstoff. Zwar hatte er ihr früher gern zugehört, wenn sie von sich erzählte; ihr war seine Neugier aber wie die eines Forschers vorgekommen, der fremde Völker studiert. Freilich störte sie das weniger als das Risiko, ein Gegenstand des Mitgefühls zu werden; sie haßte Herablassung in jeder Form. Früher war die Unterhaltung immer einseitig verlaufen: Sie erzählte, er hörte zu, nie umgekehrt. Wenn sie einen Übelstand beschrieb, empörte Seebaum sich mit ihr; er konnte sich sogar über ganz alltägliche Zustände aufregen. Sie lernte aus diesen Gesprächen, wie unbekannt die Probleme eines Berufs allen anderen sind. Offensichtlich bemühte Seebaum sich, auf ihre Schilderungen nicht nur mit Staunen, sondern auch mit Vorschlägen zu reagieren. Viele waren utopisch, aber ein paar hatte Anna sich
gemerkt und einen sogar in die Tat umgesetzt. Sie fragte die alten Frauen und Männer gleich am Morgen nach ihren Träumen aus. Sie bat sie, ihre Träume aufzuschreiben oder notierte sie selbst, wenn Zeit dafür frei war. Sie erzählte einem die Träume des anderen. Sie versammelte die alten Menschen im Aufenthaltsraum und bat sie, ihren schönsten Traum zu erzählen. Nachdem das erste Mal die vorgesehene Stunde fast um war, man hatte nur verlegen gelacht oder war eingenickt, fing eine Frau zu reden an, indem sie ihren Traum, weil sie ihn Anna am selben Morgen erzählt hatte, als allgemein bekannt voraussetzte. Nach diesem Erfolg hatte Anna ein Ringbuch angeschafft, in dem sie Träume sammelte. Das Traumbuch umfaßte schon 43 Geschichten. Ein paar davon hatten die Alten mit verteilten Rollen und in selbstgemachten Kostümen vorzuspielen versucht. Selbst solche kleinen Aktivitäten kosteten viel Energie, denn in dem überbelegten Altenheim mußte Anna schon für die tägliche Pflegearbeit mehr leisten als sie eigentlich konnte. Nichts lief von selbst weiter, wenn sie einmal nachließ, war alles vergessen, verschwunden und umsonst. Sie legte sich aufatmend nieder, drehte die Lampe so, daß Seebaum im Schatten lag und griff nach einem Buch über die Betreuung Sterbender. Schon nach den ersten Sätzen des Vorworts schnaubte sie durch die Nase. Da stand, daß der Sterbende als Mensch nicht hinter dem medizinischen Apparat vergessen sein dürfe, daß schmerzstillende Mittel ihn nicht in einen Dauerschlaf versetzen, sondern die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben ermöglichen sollten. Das Buch reihte eine Ermahnung an die andere, ohne auf die Wirklichkeit, wie Anna sie kannte, kritisch einzugehen. Sie erlebte doch, wie die alten Menschen in einen pflegeleichten Zustand dauernder Betäubung versetzt wurden; jeder war froh, mit dem guten
Grund des Schmerzstillens einen Pflegefall weniger zu haben; es waren immer zu viele. Das Buch ermahnte die Altenpfleger, die Würde der Sterbenden zu achten, ohne zu erwähnen, daß die Verhältnisse in Altenheimen und Krankenhäusern das zur übermenschlichen Anstrengung machten. Die Schuld verschob sich auf diese Weise vom Mangel an Geld und Personal auf den einzelnen Pfleger. Jeden Sterbenden sollte er als einen besonderen Fall begleiten, obwohl er für jeden, den er intensiver betreute, zwei andere sich selbst überlassen mußte. Anna fand, das Buch heuchele, erzeuge schlechtes Gewissen, statt Abhilfe am richtigen Ort zu fordern. Sie legte das Buch weg und holte den Roman herüber, in dem Seebaum immer las. Zu Beginn erwachte der Held Heinrich im Haus seiner Eltern: »Abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes«, und eine Pendeluhr schlug. Beides fand Anna schön wie eine Kindheitserinnerung, denn schon lange schienen nur noch Straßenlaternen ins Zimmer, und die Uhren summten, klickten oder machten Musik statt zu ticken. Dann erlebte der Held einen großen Traum. Ob Seebaum deswegen den Vorschlag mit den Träumen gemacht hatte? Doch dieser Traum war höchst künstlich und erhaben, ihm fehlte alles Verspielte, Verdrehte und Witzige. Während die wirklichen Träume zum Lachen verrückt sind, war dieser hochgestochen, fand sie. Anna legte Seebaums Buch auf das andere und drehte die Lampe ab. Ein schwerer Lastwagen donnerte draußen, dann ein Motorrad, es blitzte blau auf den Dachziegeln gegenüber, und eine Rettungssirene heulte. Anna stand in der Sonne vor einem Holzhaus mit offenen Türen. Das Dach war aus Glas oder fehlte, die Sonne fiel in alle Räume. Erleichtert sank Anna auf die hellen Bretter.
Gegen Morgen träumte sie, der Mediziner lecke ihr unter dem Tisch die Innenseite der Schenkel, während sie oben mit Seebaum an einem fein gedeckten Tisch Konversation machte. Beim Frühstück war sie mürrisch; Seebaum war mit ihr aufgestanden, saß zunächst da, als wollte er von ihr bedient werden, sprang aber dann auf und rannte wie ein Huhn durch die Küche, als längst alles auf dem Tisch stand. Schließlich aß und trank er schweigend, ohne Anna anzusehen; lieber sah er aus dem Fenster. Es war ein Tag ohne Wolken, aber kalt, die Sonne entfärbte die Mauern wie Neonlicht. Anna lächelte sein Profil an: »Heute bist du früh dran, du wirst nicht lange warten müssen. Nachher kannst du dich noch einmal hinlegen.« Er fuhr herum und behauptete: »Ich bin nicht müde. Ich stehe oft so früh auf.« – »Das glaub ich dir«, antwortete sie, »ich wollte damit sagen, daß ich gern noch einmal schlafen ginge.« Seebaum sagte nichts, sah sie nur scharf an. Er hatte nicht verstanden, daß sie sich gern mit ihm niedergelegt hätte. Sie blickte auf die Uhr und ging rasch hinaus. Seebaum trug das Geschirr zum Wasserhahn und wusch alles, was dort herumstand. Seine ratlose Traurigkeit schlug in Ausgelassenheit um, er sang vor sich hin und klapperte laut mit Tassen und Besteck. Anna steckte den Kopf herein, rief »Laß das doch stehen, du bist nicht dran. Bis heute abend« und warf die Tür zu. Er stapelte das Geschirr zum Trocknen, rieb die Hände ab und holte den Mantel. Er hatte vergessen, sich von Anna etwas Geld zu borgen. In der Straße staute sich der Berufsverkehr, auf den Gehsteigen trugen alle Leute Aktentaschen und hatten die Pupillen nach innen ins warme Hirn gedreht. Seebaum hatte Schluckschmerzen und in den Knochen ein kaltes Ziehen. Die Luft roch giftig nach Rauch und Auspuffgasen. Es war kalt
und sonnig, die Luft lag über Bronnen wie auf dem Boden einer Schale und lud sich mit Blei, Kohlenstoff und Schwefel auf. Seebaum spürte das Gift auf seinen entzündeten Schleimhäuten. Seine ewige Müdigkeit, die Gedankenflucht, sein Nicht-begreifen-Können – alles die Folge einer schleichenden Luftvergiftung? Alle Passanten sahen so grau und atemlos drein. Nach einer Stunde Warten in einer Gruppe, die beschämt zu Boden sah, durfte er vor einem Schreibtisch Platz nehmen; ein Mann in Seebaums Alter fragte sehr höflich nach dem beruflichen Werdegang und wurde dabei immer stiller. Er studierte verlegen die Karteikarte, die er nach Seebaums Angaben ausgefüllt hatte, seufzte und sagte lächelnd: »Herr Seebaum, ich kann Ihnen wenig Hoffnung machen. Das muß ich Ihnen gleich sagen. Sie wissen, daß gegenwärtig selbst Arbeitskräfte mit abgeschlossener Ausbildung kaum noch vermittelt werden können. Aber bei Ihnen kann von einer Ausbildung im üblichen Sinn eigentlich nicht gesprochen werden. Sie haben das Abitur in einem anderen Land gemacht, aber das erkennen wir aufgrund eines Abkommens sogar an, gut. Aber schon ihr Studium der Chemie ist ganz ohne Wert, weil es nicht zu Ende geführt worden ist. Am aussichtsreichsten ist noch die Tatsache, daß Sie fast ein Jahr als Laborant in einem freiländischen Chemiebetrieb tätig waren. Das ist wenigstens etwas, auch wenn es nicht viel ist. Was haben Sie sich denn vorgestellt?« Seebaum sagte: »Ich möchte als Reporter für eine Tageszeitung arbeiten.« Der Angestellte des Arbeitsamtes erstarrte, sammelte sich und antwortete vorsichtig: »Herr Seebaum, das ist ein Wunsch, den wir überhaupt nicht werden erfüllen können. Im Raum Bronnen gibt es zwei Tageszeitungen, die in den Randgemeinden zusätzlich je drei kleine Lokalredaktionen unterhalten. Nirgends ist uns eine freie Stelle für Journalisten
oder Redakteure gemeldet. Ich habe eine lange Liste von Bewerbern hier, die alle über journalistische Praxis und teils über ganz ausgezeichnete Zeugnisse verfügen. Also das müssen Sie sich ganz aus dem Kopf schlagen.« Er wartete, aber da Seebaum schwieg, fuhr er, ein wenig ungeduldig, fort: »Kaum besser steht es im Raum Bronnen mit der Chemie. Das einzige Werk im Stadtgebiet – ein mittelgroßer Betrieb der Farbenbranche – ist vor einem halben Jahr in Konkurs gegangen. In der Umgebung gibt es zwei, drei hochspezialisierte Kleinbetriebe, die einen Laboranten nicht brauchen können. Ich sehe auch da keine Chance.« Wieder sah er Seebaum wartend an. Seebaum starrte auf die Karteikarte mit den armseligen Eintragungen: Das war alles aus seinem Leben, was zählte, und es war nichts. Er regte sich nicht und schwieg still, denn er fürchtete den Klang der eigenen Stimme. Er wollte nicht stottern, jammern oder hier zu weinen anfangen. Er blieb sitzen, um sich zu fassen. Im Geist war er längst fort und lief immer weiter. »Ja«, seufzte der Angestellte und holte ein Formular aus einem Regal. »Das füllen Sie aus«, empfahl er, »und kleben hier ein Paßbild ein. Wenn Sie irgendwelche Zwischenzeugnisse haben, legen Sie sie dazu. Wir führen Sie dann routinemäßig in unserer Vermittlungskartei. Sind Sie an Bronnen gebunden?« Seebaum schüttelte den Kopf. »Na sehen Sie«, rief der Angestellte ermunternd, »das ist schon etwas. Vielleicht finden wir irgendwo in Freiland etwas für Sie. Glauben Sie mir, Sie können froh sein, daß Sie weder Frau noch Kinder haben und mobil sind. Unser Land ist so groß, da muß doch sogar für Sie etwas zu finden sein!« Er stand erleichtert auf, streckte Seebaum die Hand hin, zog sie aber wieder weg und kratzte sich zwischen zwei Hemdknöpfen die Brust. »Arbeitslosengeld kommt für Sie
nicht in Frage, weil Sie in Freiland nie wirklich gearbeitet haben«, sagte er nachdenklich, »aber wenigstens Arbeitslosenhilfe… Sind Sie freiländischer Staatsbürger?« Seebaum verneinte stumm. »Dann geht das auch nicht«, der Angestellte schien jetzt jeden Spaß an diesem Klienten zu verlieren, »woher kommen Sie?« Seebaum nannte sein Geburtsland. »So, so«, meinte der Angestellte, »warum sind Sie nicht dort geblieben?« Seebaum zuckte die Achseln, der andere lächelte ratlos und sagte: »Ja, ich weiß, es sieht überall schlecht aus. Die Zeiten sind vorbei, wo man in Freiland Ausländer gebrauchen konnte. Für seine Arbeitslosen muß jedes Land selber aufkommen.« Endgültig streckte er die Hand aus und lächelte: »Auf Wiedersehen, Herr Seebaum. Wir bieten Sie in ganz Freiland an, als Chemiearbeiter wie als journalistische Anlernkraft. Sollten wir ein Echo haben, lassen wir Sie das auf der Stelle wissen.« Er griff energisch nach Seebaums Hand, schüttelte und schob sie zugleich seitlich weg, um Seebaums Körper zur Tür zu drehen. »Vielen Dank«, murmelte Seebaum. Draußen ging er durch ein Spalier neugieriger Augen, die seinem Gesicht ansehen wollten, wie es um ihn stand. Er hob den Kopf und erwiderte die Blicke. »Beim Arbeitsamt müßte man sein«, sagte jemand, »die haben Arbeit, weil wir keine haben.« – »Ich sag immer: lieber reich und gesund als arm und krank«, fügte ein anderer hinzu. Seebaum lief die Treppe hinunter. Hätte sie sich doch endlos in den Boden gebohrt bis zum heißen Erdkern. Aber sie warf ihn ins Licht und auf die Straße, wo alles geschäftig in Bewegung war, nichts ihn erwartete, niemand ihn kannte. Er war einer zuviel auf der Welt. Er war von seinen Eltern freudig empfangen worden, ein Wunschkind; wie hatten sie jeden Fortschritt seiner Entwicklung beachtet und vergrößert! Seebaum war auf die Bühne des Lebens getreten, gleich hatten die Eltern begeistert applaudiert und sein bloßes Dasein
spannend gefunden. Dann waren sie aber stiller geworden und vor ein paar Jahren mit dem Zuschauerraum verschwunden. Seebaum hob seine Hand, niemand lachte, ein Bein, niemand sah her, er ließ sich fallen, keiner half ihm auf, er schrie, kein Echo. Mehrere Minuten stand er im Eingang des Arbeitsamtes und blinzelte in die Sonne. Diese Welt blieb sich gleich, mit und ohne Seebaum. Der einzige, für den das einen Unterschied machte, war er selbst. Doch wenn die Welt nichts von ihm wußte, dann war sie auch nicht auf ihn gefaßt; ließ sie sich überraschen? Seebaum schlug den Mantel zurück, steckte die Hände in die Hosentaschen und nahm den Kampf auf. Er fing an, sich die zwei Lokalblätter zu kaufen und in Annas Zimmer zu tragen. Er studierte die Unterschiede und versuchte zu erraten, welche Parteien hinter ihnen standen. Er las Wort für Wort die Lokalteile und ging jedem Ortsnamen, jeder Straße im Stadtplan nach. Er nahm eine Schere und schnitt bestimmte Meldungen aus. Da er am meisten über Chemie wußte, las er alles zu diesem Thema mit besonderer Aufmerksamkeit. Als er damit fertig war, suchte er aus dem Telefonbuch die Adresse der Lokalredaktion des ›Gruhm-Boten‹ und stieg in den Bus nach Gruhm. Da ließ Seebaum sich angenehm schaukeln, wackelte mit dem Kopf und summte. Er setzte sich aufrecht und glich die Unebenheiten der Straße aus den Hüften heraus aus. Am Ende des Busses sitzend verwandelte er ihn in die Brücke einer Fähre, die ein Algenmeer durchpflügt. Prächtig lag die Sonne auf den Kunststoffsitzen, und heiter pendelten die Halteschlaufen. Immer weiter, immer weiter! summte Seebaum und rieb sich vor Freude die Hände. Alle Bindungen schnalzten vom Heck des Fahrzeugs wie überspannte
Gummibänder, gleichmäßig stampfte es durch die grünen Wellen um Bronnen, immer weiter, immer weiter. Langsam geriet Seebaum außer sich. Er schnipste mit den Fingern, schlug mit Fersen und Schuhspitzen dunkle Wirbel auf dem Metallboden, zischte wie ein Becken und klopfte auf die Lehne des Vordersitzes. Zwei Reihen vor ihm hatte ein Schüler das Kinn auf die Lehne gelegt und trommelte mit. Jemand schüttelte den Kopf, die Band steigerte sich zu einem knatternden Doppelsolo und verlor den Spaß daran. Nicht umkehren, dachte er, nie wieder zurück. In Gruhm auf der Straße betteln, an den Ecken singen und Münzen aufheben; in einen anderen Bus steigen, bei Passagieren mitessen, bald etwas zu erzählen haben; hinter Gartenzäunen schlafen und mit den Hunden aufstehen; im Winter in Wachstuben um Quartier bitten, den Bart knisternd auf Zeitungspapier legen und so warten, bis die Zeit reif ist, um in Annas Altenheim zu ziehen. Die Wüste besuchen, zur See fahren, Bahnhöfe besichtigen, Städte zu Fuß durchqueren. Über die Alpen nach Aden wie Rimbaud, für jedes Gespräch zu haben, wehrlos und unangreifbar, kaum angekommen, schon wieder fort. Reisen als Lebensform: abends auf dem Rummelplatz einer vergessenen Gemeinde, am Morgen auf der Ladefläche eines Obstwagens. Still vor lauter Fremdheit, Bewohner von Zügen, Kenner der Straßen. Ausruhen im Museum und in Wartesälen. Schön wird, was man verläßt. Das Leuchten des Hinterhofs nach dem Regen, Expeditionen durch Wohnblocks und Bibliotheken. Die Augen ganz schwarz: nur Pupillen. Bisher war Seebaum auf einen Kompromiß ausgewesen: frei wie ein Vagabund, aber mit Reisebekanntschaften. So hatte es auch mit Anna begonnen: Man traf sich an dritten Orten, ging auseinander und war angenehm allein. Seebaum wollte sich noch nicht binden, vielleicht nie, Anna nicht mehr, vielleicht
nie mehr. Doch allmählich hatte Seebaum festgestellt, daß ihm etwas abging. Anna fehlte ihm. Seine Neugier auf Frauen nahm ab. Er begann an Anna zu denken, wenn sie fort war. Erschreckt entdeckte er, daß er sich auszumalen anfing, was sie trieb, während sie getrennt waren. Er schämte sich dafür, das war doch die alte, dumme Geschichte. War er für ein wirklich freies Leben zu schwach? Seine Schulkameraden hatten sich schon festgelegt, einer nach dem anderen. Sie verschwanden aus den gemeinsamen Abenden, dann besuchte man sie verlegen in ihren neuen Wohnungen mit ihren jungen Frauen. Es gab bald nichts mehr zu reden mit ihnen, und die Säuglinge, die man bewundern sollte, bewiesen nur, daß die Kameraden die Freiheit verschenkt hatten, bescheiden geworden waren und stolz darauf, wie jedermann auf der Welt ein Kind produzieren zu können. Was war aus diesen Originalen geworden, aus den aufgeregten Gesprächen voll Verachtung fürs normale Dutzendleben, aus den spöttischen Schwüren, nie zu werden wie die Eltern! Hinter den großartigen Lebensentwürfen war, unausgesprochen und darum nie in Frage gestellt, eine gewagte Voraussetzung versteckt gewesen: daß jeder, einmalig wie er auf die Welt kommt, auch etwas Besonderes werden kann. Zuerst an einigen Bekannten, dann auch an sich hatte Seebaum die Krise beobachten können, als die Voraussetzung zusammenbrach. Es erwies sich als unmöglich, besondere Fähigkeiten zu zeigen. Die »Dichter« lasen unfreiwillige Parodien vor, die »Denker« lieferten Inhaltsangaben ihres Leibphilosophen oder unklaren Schwulst, die »Wissenschaftler« erkannten spätestens bei der Arbeit an ihrer Dissertation, daß sie damit kein Aufsehen erregen konnten.
Seebaum verstand seine gebrochene Biografie als Rückzugsgefecht gegen eine Übermacht, die einem alle Eigenheiten beschlagnahmte. Eigentlich war die Idee, Reporter zu werden, ganz logisch, denn das einzige, was Seebaum konnte, war Lesen, Schreiben, Schauen und Zuhören. Die einzige Arbeit, die ein Reisender jederzeit leisten kann, ist die, seine Eindrücke aufzuschreiben. Und jetzt ging er auf die Suche nach Interessenten für mögliche Eindrücke. Doch um Interesse für seine Eindrücke zu finden, mußte Seebaum sich Erfahrungen verschaffen, die interessant sind. Er mußte in Gegenden von allgemeinem Interesse fahren und darüber berichten. Er war entschlossen, Bronnen und die Umgebung zu bereisen, die Gegend zu erforschen und den Einwohnern Dinge zu melden, die sie noch nicht wußten. Sein Thema würde sein, wie die Industrie die Umwelt von Bronnen verändert. In Gruhm zum Beispiel wurde Blei gefördert. Seebaum wollte berichten, was das für die Menschen von Gruhm bedeutete. Die Lokalredaktion des ›Gruhm-Boten‹ lag zu ebener Erde in einem gewöhnlichen Wohnhaus. Nachdem Seebaum ein paar Minuten hatte warten müssen, bat eine junge Frau ihn in ein kleines Zimmer. Ein kahlköpfiger Mann saß an einem Schreibtisch, kaute und gähnte dabei. Seebaum sagte, er habe den Wunsch, Lokalberichte für den ›Gruhm-Boten‹ zu schreiben; sein Spezialgebiet sei die Chemie. Der Mann stellte sich vor, Koll, und erklärte: »An Chemie gibt es hier schon einiges. Manchmal findet jemand auch einen Berg giftiger Fässer in der Wiese. Im Augenblick haben wir keinen solchen Fall. Und was wollen Sie über einen Betrieb schreiben, der jeden Tag seine Farben oder Reinigungsmittel herstellt?« Seebaum schlug vor, eine Artikelserie über den Bleibergbau in Gruhm zu schreiben.
»O mein Gott«, sagte Herr Koll, »unser Bleiproblem. Darüber ist nun wirklich alles gesagt worden. Sogar in einem Buch steht ein ganzes Kapitel darüber. Die Kühe sind krepiert, man hat die Wiesen untersucht, und jetzt sammeln die Ärzte bei den Schulkindern die Milchzähne ein und suchen Blei drin. Das ist eine chronische Krankheit in dieser Gegend.« Seebaum freute sich; so groß hatte er sich Gruhms Bleiproblem nicht vorgestellt. »Sehen Sie, wir machen eine Zeitung«, erklärte Koll, »täglich soll etwas Neues drinstehen. Nicht das Chronische interessiert den Leser, sondern nur das Akute. Er will lesen, was es seit gestern Neues gibt. Daß in Gruhm zuviel Blei im Boden steckt, ist längst allgemein bekannt. Wenn wieder ein paar Kühe umfallen, wenn in den Milchzähnen mehr Blei steckt als erlaubt ist – so etwas melden wir. Verstehen Sie, was ich meine?« Seebaum wandte ein, dann kämen aber die chronischen Mißstände niemals in die Nachrichten; ob das in Ordnung sei? »Es gibt ja im Journalismus auch den Hintergrundbericht«, sagte Koll, »da werden viele Meldungen zusammengefaßt, Zustände geschildert, Stimmungen erforscht. Aber auch das haben wir über das Blei in Gruhm immer wieder gemacht. Glauben Sie mir, auf diesem Gebiet gibt es nichts Neues.« Koll aß weiter und sah Seebaum verschmitzt an. Die Frau führte ein Telefongespräch und kritzelte auf einem Block. Seebaum überlegte hastig. Er durfte nicht schweigen wie auf dem Arbeitsamt. Er war entschlossen, sich durchzusetzen. »Ich würde Berichte jeder Art übernehmen«, sagte er kläglich. Koll fragte, ob er schon für Zeitungen gearbeitet hätte. »Ja«, log Seebaum, »im Ausland.« – »Immerhin«, meinte Koll. »Wir haben ein, zwei freie Mitarbeiter, aber die liefern ganz schreckliche Texte ab. Da hab ich mehr Arbeit, als wenn ich alles selber mache. Ich sehe mir einfach an, was Sie
können.« Er sah auf die Uhr. »In zwei Stunden tagt im Rathaus der Finanzausschuß. Sie gehen hin und schreiben einen Bericht, fünfzehn Zeilen auf der Maschine. Das bringen Sie auch ohne Kenntnis der hiesigen Verhältnisse fertig, denn mir geht es nur um eine bestimmte Information: Ob das Geld für den Ausbau der Parkstraße bewilligt wird, und ob sie den Spielplatz an der Redlichstraße streichen. Natürlich wird die Straße ausgebaut und der Spielplatz nicht. Daraus machen Sie mir eine kleine, scharfe Meldung, ja?« Seebaum nickte. Koll grinste ihn an, schien auf eine bestimmte Frage zu warten und beantwortete sie schließlich selbst: »Das Honorar ist miserabel. Für die fünfzehn Zeilen kriegen Sie knapp dreißig Freimark.« Er betrachtete Seebaum. »Aber sicher sind Sie Student und wollen was dazuverdienen.« Seebaum sagte zu allem Ja. Herr Koll erhob sich, gab ihm die Hand und wünschte alles Gute. »Den Bericht will ich sofort haben. Am besten, Sie kommen nach der Sitzung hierher, da ist eine Schreibmaschine. Wir sind bis halb sieben hier. Wenn die Sitzung zu lange dauert, müssen Sie früher gehen.« Was wäre, wenn dann die interessanten Punkte noch nicht behandelt seien, fragte Seebaum. Koll lachte, die Frau auch. »Dann haben Sie Pech gehabt!« Er lachte mühsam mit und ging. Das Rathaus von Gruhm war ein zweistöckiger Zweckbau aus grauem Beton und blauem Glas. Seebaum studierte den Wegweiser und die Anschläge auf den schwarzen Brettern in der Vorhalle. Drahtgewächse in schwarzen Eimern, Grafiken in Vitrinen, an der Stirnwand eine große historische Stadtansicht. Eine alte Frau kehrte den Steinboden. Es hatte zu regnen begonnen, durch Gruhm fuhr ein kalter Wind. Seebaum spürte ihn unangenehm in den Knochen; die Erkältung hatte sich verschlimmert. An den Hauswänden eilten ältere Leute entlang.
Die Kälte stach jetzt tief in Seebaums Kopf, er war schutzlos, in Gruhm noch mehr als in Bronnen. Ihm blieben nur Trugbilder hier draußen, die Intimität der Werbeplakate und Illustrierten. Jedes Farbbild einer Frau war eine gellende Einladung, aber eine mit Hintergedanken, weil sie nicht zur Berührung einlud, sondern zum Kauf. Am tiefsten erschütterten den wehrlosen Seebaum die nackten Körper, die an den Kiosken in all der Kälte ausgestellt waren. Er wurde ganz verstört von den höhnischen Glücksversprechen der rosigen, vollen Busen, die über flachen Mädchenbäuchen vorgereckt wurden. Die verzweifelte Lust, jetzt und auf der Stelle so einen warmen, lachenden Körper umarmen oder wenigstens ausgiebig anschauen zu können, überfiel ihn wie ein Leiden. Er ging schneller und musterte alle Frauen als Sittenstrolch. In einer Seitengasse lief er vor dem Sexshop auf und ab, bis er sich dadurch auffälliger vorkam, als wenn er hineinging. In einer dunklen Kammer saß er zwischen wenigen alten Männern in nassen Mänteln. Auf einer kleinen Leinwand wanden sich violette und rote Körperteile, aus einem Wandlautsprecher kam Stöhnen mit Partymusik. Nach zehn Minuten stolperte Seebaum ins Freie. Er fühlte sich noch schlimmer als vorher und versuchte durch Laufen die Erektion zu beseitigen. Er sah auf die Uhr: noch immer eine Stunde bis zur Sitzung des Finanzausschusses. In einer Kneipe trank er mehrere Gläser Bier zwischen zwei alten Männern, die sich in einer Fremdsprache anschrien. Seebaum versuchte, im Novalis-Roman zu lesen, aber wie lauter Tontauben surrte die erhabene Sprache über seinen Kopf hinweg. Als noch immer eine halbe Stunde umzubringen war, ging er, das Bier schwappte im leeren Magen. Immer schneller lief er durch Gruhm im Kreis und blickte immer öfter auf die Uhren.
Wieder ins Rathaus, im ersten Stockwerk stand eine Tür offen, er setzte sich in den leeren Saal, der sich nach einer weiteren Viertelstunde mit Bürgern füllte. Sie plauderten wohlgelaunt und rieben sich die Hände. Einer trat nahe an den sitzenden Seebaum heran und erklärte ihm flüsternd, Besucher hätten hinten, hinter der Barriere, Platz zu nehmen, zu der ein gesonderter Eingang führe. Jetzt saß er über den Bürgervertretern auf einem Balkon, an die Wand gedrängt von einer zappligen Schulklasse. Die Leute nahmen Platz, es wurde stiller, ein Herr trat unter ein Wappen und eröffnete die Sitzung des Ausschusses. Die Stadträte saßen in drei Gruppen, entsprechend den verschiedenen Parteien. Äußerlich unterschieden sie sich nicht; erst als im Lauf der Debatte der eine oder andere Redner sich zu einer bestimmten Partei bekannte, verstand Seebaum die Sitzordnung. Die Gruppe in der rechten Saalhälfte repräsentierte die »Partei für allmähliche Verbesserung« (PFAV), sie stellte in Gruhm knapp die Mehrheit; ihr saß die »Partei für Eigentum und Christenheit« (PECH) gegenüber; zwischen den Blöcken saß die kleine Gruppe der »Partei für Freiheit« (PFF). Die Vertreter der Bürger von Gruhm führten den größten Teil der Beratung in einer abgekürzten Geheimsprache durch. Der Vorsitzende des Finanzausschusses rief Ziffern auf, verwies auf Tischvorlagen und warf einen Blick auf die Hände, die sich gruppenweise hoben und senkten. Die Schüler neben Seebaum blätterten verwirrt in Kopien der Anträge oder Beschlüsse, wurden aber nicht schlau daraus und fingen an, sich leise zu unterhalten oder einzunicken. Seebaum lieh sich ein Papierbündel und suchte die Anträge, über die er für Koll berichten sollte. Der Vorsitzende sagte unten im Saal: »Wir kommen zu Ziffer 89/1234/I. Wird dazu das Wort gewünscht?« Ein junger Mann
aus der PECH-Gruppe meldete sich und sprach: »Meine Partei nimmt mit Befremden zur Kenntnis, daß im Finanzhaushalt neuerlich keine Mittel für den Spielplatz an der Redlichstraße festgeschrieben sind. Will die PFAV sich absichtlich zum Verein der Kinderfeinde ernennen lassen?« In der PFAVGruppe erhob sich empörter Protest, dem die PECH mit demonstrativem Beifall für ihren Redner begegnete. »Seit Jahren fordern die Anwohner diesen Spielplatz, wir stellen entsprechende Anträge, aber umsonst. In anderen Stadtteilen, zum Beispiel in den Neubausiedlungen, wo sie ihren Wählerstamm weiß, ist die PFAV wesentlich freigebiger. Hat der Eigenheimbesitzer nach Ihrer Auffassung mit weniger zufrieden zu sein? Wir beantragen noch einmal die Mittel für den Spielplatz an der Redlichstraße!« Die PECH applaudierte, der Redner nahm zufrieden Platz, drüben aber schüttelte man die Köpfe, und ein Sprecher der PFAV erhob sich und erklärte: »Ihr Jammern und Klagen über unsere angebliche Kinderfeindlichkeit wird durch ewige Wiederholung nicht glaubwürdiger.« Die PFAV-Gruppe applaudierte. »Die PFAV tut eine ganze Menge für die Kinder von Gruhm. Ich will unsere eindrucksvolle Leistungsbilanz nicht aufzählen, sie ist auch der Opposition bestens bekannt. Vergeblich beißt sie sich jetzt an diesem Spielplatz fest, um uns am Zeug zu flicken. Die von uns bei der Stadtverwaltung in Auftrag gegebenen Untersuchungen beweisen doch einwandfrei, daß nach einem Kinderspielplatz ausgerechnet im Villenviertel um die Redlichstraße kein Bedarf besteht. Zwei Straßen weiter befindet sich der Amselpark mit ausreichenden Spielmöglichkeiten.« In der PECH wurde spöttisch gelacht, man rief: »Ja, Hundedreck! Hundedreck!« Der Redner winkte ab und fuhr fort: »Und, meine Herren, Sie wissen genau so gut wie wir, daß die Privatgründe an der Redlichstraße dem Zugriff der
Stadt entzogen sind und sich schon von daher jede weitere Diskussion erübrigt. Und zum Schluß noch etwas: Das von Ihrer Fraktion eintönig unterstellte Bevölkerungsbedürfnis kann ja nicht gar so riesig groß sein, sonst hätte die Bevölkerung nicht bei den letzten Wahlen unserer Partei, der PFAV, wieder ihr Vertrauen ausgesprochen.« Er setzte sich, während rundum applaudiert wurde und das gegnerische Lager sich empörte: »Sie werden schon sehen! Sie werden schon sehen!« rief man bei der PECH. Dann erhielt ein Mitglied der PFF das Wort und sagte: »Wie Sie wissen, tritt meine Partei für Freiheit in jeder Form ein. Wir sind für die Spielfreiheit der Kinder, aber erst recht für die Freiheit jedes Privatmannes, Grund und Boden zu erwerben, auf dem übrigens seine Kinder ja dann auch spielen können! Im Fall des Spielplatzes an der Redlichstraße stehen diese Freiheiten zueinander in einem gewissen Widerspruch. Welche soll den Vorrang erhalten? Wir sehen doch, daß die Kinder in Gruhm ausreichend spielen können, während der Privatbesitz an Haus und Grund immer mehr erschwert wird – durch Steuern und durch eine Vielfalt staatlicher Beschränkungen. Darum treten wir im Namen der Freiheit dafür ein, von einem weiteren Spielplatz an der Redlichstraße Abstand zu nehmen.« Der Vorsitzende fragte nach weiteren Wortmeldungen, sah, daß das nicht der Fall war und verkündete: »Wir schreiten zur Abstimmung.« Der Spielplatz wurde mit den Stimmen von PFAV und PFF gegen die Stimmen der PECH abgelehnt. Seebaum schrieb fleißig mit, konnte aber kaum noch die Augen offenhalten. Unten wurden Tagesordnungspunkte aufgerufen, selten bat jemand ums Wort, das monotone Murmeln von Ziffern und Straßennamen schläferte ein. Auf einmal sprangen die Schüler auf und drängten hinaus, ihre Unterrichtsstunde war um. Der Vorsitzende bat sich Ruhe
unter den Zuhörern aus, obwohl nur noch Seebaum übrig war und mit dem Kinn auf der Balustrade schläfrig hinabblinzelte. Erst gegen sechs Uhr kam man zum Punkt »Ausbau der Parkstraße«, gerade als Seebaum aufschreckte und unruhig auf die Uhr sah; er wußte ja nicht, wie lange er zum Formulieren seines Artikels brauchen würde – seine Notizen reichten für fünfzig Zeilen –, bald würde die Redaktion unbesetzt sein, und sein Einstand als freier Mitarbeiter wäre verpatzt. Er erriet aber gleich aus den ersten Worten eines Sprechers der PFAV, daß sie für den Straßenbau war; es war die Rede von Anbindung des berufstätigen Verkehrs an die außerstädtischen Arbeitsstätten und von besseren Verkehrsverhältnissen im Wochenend- und Ausflugsverkehr. Die PECH argumentierte mit den Aufträgen für bodenständige Straßenbaufirmen und mit verbessertem Kundenverkehr. Als einzige Partei sprach jetzt die PFF gegen die geplante Straße, weil sie durch ein Villenviertel führte, privater Grund enteignet werden sollte und der Verkehrslärm in diesem besonderen Fall den Anrainern nicht zumutbar war. »Verschandeln wir nicht mutwillig die letzten Oasen, wo attraktiver Wohnraum in Gruhm zu finden ist«, rief der Vertreter der PFF beschwörend, »denken wir an die gefährdete Umwelt von Gruhm, der durch Maßnahmen dieser Art der Todesstoß versetzt wird!« Seebaum applaudierte. Der PFF-Sprecher sah sich erschrocken um und nahm Platz. Ohne die Abstimmung, deren Ergebnis jetzt feststand, abzuwarten, hastete Seebaum aus dem Rathaus zur Redaktion. Dort saß nur noch der Redakteur Koll müde an der Schreibmaschine. Seebaum wollte erzählen, was er erlebt hatte, aber Koll winkte ungeduldig ab und schob ihm die Schreibmaschine hin. »Sie haben genau fünfzehn Minuten, dann schließe ich ab und trage alles zur Setzerei. Fünfzehn Zeilen, rasch!«
Seebaum spannte ein Blatt ein und überlegte. Wie beginnen? Koll schnaubte, kam um den Tisch und sah ihm über die Schulter. »Los«, drängte er, »das erledigt sich doch im Schlaf. Also: Auf der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses – Sie wissen, wir erscheinen morgen, also ist heute gestern – auf seiner gestrigen Sitzung befaßte sich der Finanzausschuß mit zwei heißen Themen. Es ging um einen Spielplatz an der Redlichstraße – schreiben Sie, Mann, wir haben keine Zeit!« Seebaum begann mit zwei Fingern zu tippen, Koll drängte ihn weg und setzte sich an die Maschine. Er diktierte sich selbst und ratterte mit zwei Fingern windeseilig über die Tasten: »An der Redlichstraße«, er rieb sich mit einem Finger den Nasenflügel; das mußte er oft tun, der Nasenflügel war rot und glänzte, »einem Dauerthema der Gruhmer Kommunalpolitik. Die PECH hatte bei der letzten Wahl gerade im Viertel rund um den von ihr beantragten Spielplatz viele Wechselwähler angezogen und trat in der Sitzung mit dem Anspruch auf, den Willen der Wähler zu vertreten. Die regierende PFAV verwies dagegen auf ihren Gesamterfolg bei allen Wahlen der letzten Jahre. Außerdem«, er wandte sich um, sichtlich stolz auf die Routine, mit der er über ein Ereignis berichten konnte, an dem er nicht teilgenommen hatte: »Wer hat denn für die PFAV gesprochen?« Seebaum zuckte verlegen die Achseln. Koll seufzte, wandte sich der Maschine zu und formulierte: »Außerdem, so die PFAV, stehe den Kindern längs der Redlichstraße der ganze Amselpark zur Verfügung.« Koll zählte die Zeilen, murmelte: »Zu lang«, rieb die Nase und fuhr fort: »Dagegen hatte die PECH einzuwenden, daß dies die Kinder zum Überqueren gefährlicher Verkehrsadern wie der Haupt- und der Mühlenstraße zwingt…« – »Aber das haben die PECH-Leute nicht gesagt«, warf Seebaum ein. Koll schlug auf den Tisch: »Traurig genug, wenn sie zu faul waren! – … zwingt, und verwies auf mehrere hundert
Unterschriften besorgter Eltern für den Spielplatz. – Was hat die PFF gesagt?« Eifrig berichtete Seebaum. Koll lachte: »Das ist stark. Das schreiben wir: Die Freiheitspartei gab schließlich den Ausschlag bei der Abstimmung gegen den Spielplatz. Ihr Argument war: lieber ein längerer Weg für die Kinder als ihr Lärm in der Nähe ruhesuchender Bürger, die um die Entwertung ihres Hausbesitzes fürchten. Genauso argumentierte die PFF auch beim zweiten kontroversen Thema, dem Ausbau der Parkstraße. Doch hier waren die großen Parteien sich einig: Diese Straße muß gebaut werden! Gruhms Verkehrsproblem duldet keinen Aufschub, auch wenn die neue Straße brutal durch Gruhm führt – nein, das geht nicht; helfen Sie mir.« – »Gruhm brutal zerschneidet?« schlug Seebaum vor. – »Bravo«, rief Koll, »sehen Sie, Sie sind doch zu etwas gut: Gruhm brutal zerschneidet. Fragt sich nur, ob die betroffenen Villenbesitzer sich mit dieser Entscheidung zufrieden geben. Gerüchte sprechen von einer regelrechten Bürgerinitiative gegen die Parkstraße.« »So«, sagte Koll zufrieden und zählte die Zeilen. »Viel zuviel«, murmelte er und strich mehrere Zeilen aus. Seebaum sah auf die Uhr: Koll hatte sieben Minuten gebraucht. »Alle Achtung«, sagte er. »Das lernen Sie auch noch«, meinte Koll, »ich habe nicht damit gerechnet, daß Sie es schon beim ersten Mal schaffen. Aber Sie sehen: Fakten im Kopf haben, Gruhm kennen, ein bißchen Routine, dann schreiben Sie Berichte, ohne vom Schreibtisch wegzumüssen. Zack zack!« Er warf ein paar Dinge in eine Tasche, deckte die Schreibmaschine mit einem Plastiktuch zu, drehte das Licht aus und sah auf die Uhr. »Ich muß in die Zentralredaktion«, sagte er und schob Seebaum mit kollegialem Schulterschlag zur Tür, »Sie müssen doch auch nach Bronnen? Ich nehm Sie mit.«
Dankbar saß Seebaum neben Koll im Auto, das rasch durch die Dämmerung zwischen Gruhm und Bronnen schwebte. Koll fragte ihn nicht aus, dafür erkundigte Seebaum sich nach Kolls Werdegang. Er wollte ab sofort Interesse für Menschen und ihre Laufbahnen haben, weil es zum Geschäft des Reporters gehört. Es schien Koll Spaß zu machen, sich zu erinnern und hinter der gegenwärtigen Arbeitsroutine die früheren Lebenskrisen aufzuspüren. Von einem abgebrochenen Studium erzählte er, vom Wunsch, Wissenschaftler zu werden oder Architekt oder Schriftsteller, bis er zu einem gewissen Zeitpunkt – »ungefähr in Ihrem Alter«, sagte er mit einem Seitenblick zu Seebaum – über sein unbrauchbares Leben erschrocken war und bei einer großen freiländischen Zeitung als Volontär begonnen hatte. »Ich habe immer noch den Plan, ein Buch zu schreiben«, sagte Koll fast verlegen, »aber langsam wird es dafür zu spät. Ich bin ein verhinderter Schriftsteller. Wenn man Tag für Tag Sachen schreibt, die sofort in den Müll wandern, dann wünscht man sich, etwas Dauerhaftes zu verfassen. Eigentlich ein verrückter Traum, denn heutzutage verschwinden Bücher fast so schnell wieder wie Zeitungen.« Seebaum sagte, er stehe gerade an dem Punkt, wo es für ihn ernst werde und er nach einem Beruf fürs Leben suche. »Ja, Sie haben es freilich schwerer als ich damals«, meinte Koll fröhlich. Sie fuhren über ein kurzes Autobahnstück zwischen Gruhm und Bronnen, und durch die gemächliche Fahrweise deutete Koll an, daß das Gespräch ihn interessierte. »Damals war für jeden Arbeit da, Freiland wurde nach dem großen Krieg neu aufgebaut. Jetzt muß ein junger Mensch ja manchmal glauben, daß niemand ihn braucht.« Sie schwiegen, Koll mitfühlendzufrieden, Seebaum bedrückt. »Warum sind Sie damals von der großen Zeitung weggegangen«, fragte er schließlich, nur um die Stille zu
brechen. Koll überlegte. »Das war keine Arbeit mehr. Eigentlicher Journalismus findet heute nur noch in den Lokalredaktionen statt. Da können Sie noch hinausgehen, recherchieren, berichten, ein Blatt gestalten. Alles andere – Wirtschaft, Politik, sogar Kommentierung – wird immer weniger in den Redaktionen gemacht. Das liefert alles die zentrale Nachrichtenagentur, die FPA. Es kommt aus dem Fernschreiber, Sie schneiden es ab, kleben es auf die Manuskriptseite, und ab in die Setzerei damit. Jetzt ist es noch einfacher geworden: Der Redakteur ruft an seinem Terminal die Texte aus dem Zentralcomputer der FPA ab, der druckt sie automatisch aus, und sie wandern in die Druckerei. Redakteure, Reporter, Setzer werden immer überflüssiger. Nur der Lokalreporter drückt sich noch immer auf Sitzungen und an den Stammtischen herum und schreibt den Tratsch: was ein Präsident zur Eröffnung seines neuen Baus sagt, wer Vereinspräsident wird, wen der Bürgermeister heiratet.« Seebaum schwieg deprimiert, und Koll sagte: »Kein Grund zur Traurigkeit. Man kann sich auch als tapferer Kämpfer verstehen, das war der Grund, warum ich nach Gruhm gekommen bin. So eine kleine Stadt ist ein Organismus, in dem in Wirklichkeit ungeheuer viel geschieht. Alle Gegensätze der großen Welt stoßen auch in Gruhm zusammen – aber wortlos. Man muß ihnen ein Mundwerk leihen. Ich meine, es ist eine gute Aufgabe, Dinge und Leute zur Sprache zu bringen.« Was Koll sagte, erfüllte Seebaum mit Hoffnung; so stellte auch er sich die Arbeit des Reporters vor. Trotzdem war ihm klar, daß Koll sich dies alles anläßlich des Auftauchens eines Anfängers erst wieder ins Gedächtnis rief und es in der Alltagsroutine oft vergessen hatte.
»Den Verlautbarungen der großen Organisationen steht der einzelne ausdruckslos gegenüber«, sagte der Lokalredakteur, »und er schafft sich seine private Öffentlichkeit; man lädt Leute zum Essen ein, geht in die Kneipe, ist Mitglied in einem Verein, treibt Sport – lauter Neben-, Teil- und Gegenöffentlichkeiten. Zwar ist in den letzten Jahren das Fernsehen wie eine Bombe in die Freizeit-Öffentlichkeit eingeschlagen, trotzdem ist sie stückweise am Leben. Ich drucke zum Beispiel die Flugblattexte der zwei Bürgerinitiativen in meiner Zeitung ab. Sie haben ja heute im Rathaus von ihnen gehört. Ein andermal schicke ich Sie in die Kneipe, wo diese Leute zusammensitzen; darüber können Sie dann wirklich einen Bericht schreiben, der nicht aus irgendwelchen Zentralen kommt.« Seebaum fragte, ob es eine Bürgerinitiative gegen die Bleiverseuchung in Gruhm gebe. Koll verneinte: »Wirklich große, chronische Probleme werden nur schwer aufgegriffen. Eine wichtige Ausnahme ist die Atomenergie; auch da hat es lange gedauert, aber jetzt ist die Auseinandersetzung da. Unser Bleiproblem, überhaupt die Gefahr durch chemischen Abfall, kommt immer erst zu Bewußtsein, wenn etwas Haarsträubendes passiert: Wenn herauskäme, daß unsere Kinder bleiverseucht sind. Die öffentlichen Stellen lassen die Vergiftung gelegentlich untersuchen, geben aber die Ergebnisse selten freiwillig heraus.« »Kann nicht eine Zeitung durch das Aufdecken eines Skandals eine Bewegung erzeugen?« »Schwer«, sagte Koll, »und wegen eines solchen Versuches bin ich von meiner früheren Zeitung, sagen wir, gebeten worden, zu gehen. Ein Journalist soll zwar über alles berichten, was vorgeht, er darf aber niemals selber Politik machen.« Seebaum wandte ein, es gebe berühmte Gegenbeispiele: Reporter hätten Skandale aufgedeckt und so Regierungen
gestürzt. Koll meinte: »Aber nur dann, wenn ein starkes Interesse schon vorher da war. Diese Reporter sind auch nur Instrumente einer Politik, die sie nicht selbst machen.« Er dachte nach. »Unsere Wirkung ist sehr klein, aber nicht gleich Null. Wenn Sie etwas Neues über das Gruhmer Blei herausfinden, dann melden wir das, und vielleicht führt das zu dem Sturm der Entrüstung, den Sie sich wünschen. Abgemacht?« Koll lächelte spöttisch und gab Seebaum die Hand. Seebaum hielt es zuerst für eine Geste, um einen Pakt zu besiegeln, aber Koll wollte nur andeuten, daß er zu Hause angelangt war und Seebaum verabschiedete. Nach einem Augenblick stiegen beide aus, Koll schloß ein Garagentor auf und winkte Seebaum zu. Munter schlenderte er durch die Wohnviertel der Abendstadt. Er stand auf der Seite dieser Bürger, denen nach dem Arbeitstag vom Fernsehen die offizielle Version ihres Lebens in den Kopf gestoßen wurde. Selbst wenn sie sich in den Kneipen übereinander unterhielten, bedienten sie sich der aufgedrängten Worte und Bilder. Dem entgegenzuarbeiten, sah Seebaum nun als Aufgabe an. An diesem Nachmittag war aus seiner qualvollen Ungebundenheit der Vorzug einer Beweglichkeit geworden, die in alle Lebensbereiche eindringen und sie in Worte fassen konnte. Zwar hatte Koll mehr einen Anspruch formuliert, weniger den wirklichen Alltag der Zeitungsarbeit – aber es war ein Anspruch! Der erste, den Seebaum nicht gleich als Zumutung empfand! Anna war noch nicht daheim, aber die anderen hörten gern, was er erlebt hatte. Auch er lauschte ihren Alltagsgeschichten mit neuem, geradezu beruflichem Interesse: als Reporter war für ihn alles bedeutsam. Mit dem Recht eines fast schon Berufstätigen bat Seebaum, ihm für die nächste Woche Geld zu leihen. Die anderen
meinten, er solle dafür etwas in der Wohngemeinschaft leisten, dann brauche er das Geld nicht zurückzuzahlen. Die Frau schlug ihm vor, einige Nachmittagsstunden auf ihre Kinder aufzupassen. Er sagte zu; außerdem wurde er in den Wochenplan zum Einkaufen und Kochen eingeteilt. Am liebsten hätte Seebaum gleich morgen mit den Recherchen in Gruhm begonnen, dabei waren die häuslichen Pflichten hinderlich. Doch er freute sich über die selbstverständliche Einladung, länger in dieser Wohnung zu bleiben. Als Anna hereinkam, sehr müde und leicht betrunken, erzählten ihr die anderen, daß Seebaum bis auf weiteres in die Wohngemeinschaft aufgenommen sei. Er habe auch Arbeit gefunden. Anna äußerte vorsichtig ihre Zustimmung, ging aber gleich in ihr Zimmer. »Sie macht sich kaputt«, sagte einer zu Seebaum, »sag ihr das doch.« – »Ich habe keinen Draht zu ihr«, antwortete Seebaum, »sie will keine Bindung.« Die anderen meinten, das könne schon sein, aber sie brauche einen Menschen. »Sie hat diesen Mediziner«, sagte er. Das sei nichts Ernstes, behauptete die Frau, und jemand schlug vor, eine Runde Karten zu spielen. Seebaum ging schlafen. Mitten in der Nacht packte ihn eine Faust schmerzhaft am Schlüsselbein. Er sah Annas Kopf gegen das Fenster. Nach einer Weile fragte er unsicher: »Wer ist das?« Sie lockerte ihren Griff und ließ sich zurückfallen. Dann murmelte sie mehrmals Seebaums Vornamen: »Mathäus… Mathäus… es ist Mathäus.« Er streichelte ihre Wange, um sie zu beruhigen. Sie atmete ungleichmäßig, zuckte und schnalzte mit der Zunge. Wie gern wäre Seebaum als teilnehmender Beobachter in dieser anderen Traumwelt gewesen, doch eher erreichte er in einem Raumschiff andere Planeten als Annas Kopf. Er lief durch einen hohen Saal aus Glas zu einer Wand mit metallischen Aufzugtüren, die sich zugleich schlossen; zwei
Männer in blauen Wintermänteln warteten dort. Sie erzählten Witze von großer Brutalität, ohne zu lachen. Seebaum bekam Angst und stahl sich fort. Aber die Männer waren immer an seiner Seite und sprachen in unverständlichen Andeutungen miteinander. Er faßte sich ein Herz und blickte einen der beiden an: Unter dem Hut war nur eine schwarze Brille und eine winzige Kuckucksuhr. Zugleich wurde der Boden weich; Seebaum stand schon bis zu den Knien im Teppich und wurde immer kleiner. Er versuchte einen Fuß zu heben, aber der Sog war stärker. Schließlich lagen seine Arme flach auf dem Boden, er konnte nur den Kopf bewegen. Die Männer traten rasch in einen Aufzug, eine Katze kam gelaufen und leckte Seebaums Gesicht. Er fühlte, daß sein Unterkörper aus der Decke des unteren Stockwerks hing; kleine scharfe Zähne schnappten nach den Knöcheln. Unter ihm wurde Schreibmaschine geschrieben, Frauen lachten. Er hing nur noch an den Händen in der Decke, sah die beiden Männer unten hereinkommen und Waffen ziehen. Langsam schwebte ein spitzes Geschoß aus einem Pistolenlauf auf Seebaums Unterkörper zu; es hatte Papierflügel und folgte seinen ausweichenden Körperwindungen. Längst waren die Männer aus dem Büro gegangen, die Frauen lackierten ihre Fußnägel oder lasen von einem Fernsehschirm, während er noch immer mit der vor Ewigkeiten abgefeuerten Pistolenkugel kämpfte. Endlich schlug sie in seine Hand, in die empfindliche Haut zwischen zwei abwehrend gespreizten Fingern. Zugleich gab die Decke nach, und Seebaum flog mit erhobenen Händen auf einen Schreibtisch nieder. Eine Frau nahm ihn, spannte ihn in ihre Maschine und schlug mit allen zehn Fingern in die Tasten. Aus einem Halbkreis, der Seebaums ganzes Blickfeld erfüllte, erhoben sich eiserne Lettern und schnellten ihm ins Gesicht. Die Sekretärin blickte abwechselnd auf ihre Hände und auf sein Gesicht und murmelte: »Sehr geehrter Herr!«
Mathäus erwachte verschwitzt in großer Helligkeit. Anna war weg, die Vorhänge waren aufgezogen, die Sonne schien ins Zimmer. In der Küche saß die Frau mit ihren Kindern und lächelte ihn an. Sie habe auf ihn gewartet, müsse dringend aus dem Haus, lasse ihm die Kinder da, habe für ihn den Wohngemeinschaftseinkauf schon besorgt, er solle Gulasch machen. Er nickte nur. Sie erklärte ihm, was er für die Kinder zu tun habe: dem Kleinen die Windeln wechseln, beiden in einer Stunde Tee und Nudeln zu essen geben, dann mit ihnen im Park Spazierengehen. Sie brachte das Werkzeug zum Sandspielen und ging. Es wurde ein anstrengender Arbeitstag für Seebaum. Die Kinder weinten, weil ihre Mutter weg war. Das ältere wollte Bilderbücher sehen und dazu Geschichten hören; das kleine kroch herum, jammerte, wenn ein Ding umfiel, und lachte begeistert, wenn Seebaum etwas verschwinden ließ und wieder herbeizauberte. Er erkannte, wie das Kind mit dem Eigenleben der Gegenstände experimentierte; es legte etwas in eine Schachtel und staunte, wenn es beim Offnen wieder vorhanden war; wenn etwas rollte oder fiel, löste das Freude oder Entsetzen aus. Die Trennlinie zwischen lebender und toter Materie schien das Kind nicht zu kennen, es fand erst langsam aus einer Welt heraus, in der alles gleichermaßen lebt und sich bewegen kann. Das ältere Kind interessierte sich für jede Art von Zeichen: Bilder, Worte, Bücher, Farben und Linien; immerfort wollte es »malen«, das hieß mit einem Stift wild über Papier fahren, hielt dann den Stift Seebaum hin, er sollte ein Haus, ein Auto, eine Kuh, einen Mann zeichnen. Der totale Anspruch auf Zeichnen, Erklären, Erzählen, Dinge bewegen, Tragen, Füttern, Verstecken, Tanzen, Reiten und Singen erschöpfte Seebaum. Als er im Park ankam, setzte er die Kinder in den Sand, ließ sich neben einem Rentner auf eine
Bank fallen und genoß den Frieden inmitten der Hausfrauen, Greise und Kinder. Dann Aufräumen, Geschirr waschen, Zwiebelschneiden, dazwischen unter den Kindern das Schlimmste verhüten, Weinen stillen, lachen machen – als nach drei Stunden die Frau wiederkam, auch sie ganz erschöpft von den Besorgungen, lag Seebaum flach auf dem Boden, und die Kinder kletterten auf ihm herum. »Da siehst du einmal, wie das ist«, sagte sie etwas schadenfroh. Wohnungen sind eigentlich kleine Fabriken, fand Seebaum, in denen Kinder, Nahrung, Erholung produziert werden. Daß diese Produktion aber in solch kleinem Maßstab stattfindet, hielt er für unökonomisch. Er malte sich und der Frau große Kantinen aus, Krippen und Schlafhäuser, mit allen Möglichkeiten des intimen Rückzugs, aber ohne die verschwenderische Kleinkrämerei der herkömmlichen Haushalte. »Stell dir ein Modell aus Glas vor«, sagte er, »in dem überall gleichzeitig Frauen an ihrem Herd stehen, Kinder beim Spielen, Leute beim Abwaschen und Einkaufen zu sehen sind, aber alle getrennt von unsinnigen Mauern!« Die Frau fand die Alternative, in großen Blocks die Hausarbeit fabrikmäßig zu verrichten, eher beklemmend. Zur Verteidigung entwickelte er immer detaillierter eine Lebensweise, die durchaus das individuelle Kochen und Spielen mit Kindern ermöglicht, aber nicht als Zwang, sondern als Luxus: »Wer Lust hat, kocht etwas Besonderes, sonst kann er immer unter dem Speisenangebot der Kantine wählen.« Die Frau zuckte die Achseln und kümmerte sich um die Kinder, während Seebaum singend das Essen vorbereitete. »Wie ich das Einkaufen hasse«, seufzte die Frau, »die dummen Werbesprüche, die leise Verführungsmusik, die Schlangen an den Kassen, wo jeden Tag noch mehr Geld hängenbleibt.« Seebaum entwarf gleich noch eine Utopie: »Von mir aus
könnte es im Supermarkt zugehen wie in einem Lagerraum, ohne teure Verpackung und Werbung. Ich könnte in die Regale greifen und wüßte, daß alles soviel kostet wie seine Herstellung. Statt des Geldes gäbs einen Gutschein oder Ausweis, der zum Kaufen berechtigt.« Die Frau lachte. »Das geht nicht«, meinte sie, »da wären sofort alle Regale leer. Jeder würde viel zu viel heimschleppen.« – »Aber nein«, sagte Seebaum eifrig, »Hamstern ist immer ein Zeichen des Mangels. Wenn ich weiß, daß genug für mich und alle anderen da ist, dann nehme ich nur mit, was ich brauche. Du atmest doch auch nicht deswegen besonders tief und schnell, weil die Luft nichts kostet!« »Was macht das Essen«, fragte die Frau. »Ich bin gleich damit fertig«, versicherte Seebaum. Die Frau begann die Zeitung zu lesen. »Schon wieder eine Meldung über vergiftetes Trinkwasser«, sagte sie. »Ist dir aufgefallen, daß kaum jemand Leitungswasser trinkt? Man kauft Trinkwasser lieber in Flaschen. Ich hätte Angst, die Kinder zu vergiften, wenn ich ihnen unabgekochtes Wasser zu trinken gebe. Hier steht, daß einen Tag lang Gift aus den Wasserhähnen einer Ortschaft geflossen ist, weil vergrabene Fässer undicht geworden sind. Jeden Tag liest man so etwas.« Seebaum fiel seine erste Nacht in Bronnen ein, als er auf gelben Chemieabfällen aufgewacht war. Die Frau legte die Zeitung weg und sah in die Luft. »Ich rege mich über gar nichts mehr auf«, sagte sie, »man ist von allen Seiten bedroht. Über unsere Köpfe weg wird die große Politik gemacht. Ich erschrecke schon, wenn ich tieffliegende Düsenjäger höre. Die Erde wird immer giftiger, und in den Straßen kommen die Kinder unter den Autos um. Immer haben sie entzündete Nasen und Hälse, weil die Luft voller Abgase ist. Zu den Ärzten habe ich auch kein Vertrauen mehr, seit ich von den Studenten höre, wie sie ausgebildet werden. Ich fühle mich
bedroht, kann aber nichts dagegen tun. Nirgends sehe ich Schuldige, auf die man mit Fingern zeigen kann; es ist mehr wie ein Apparat, der immer größer wird und sich langsam selbst zerstört. Und zwischen den herumfliegenden Maschinenteilen rennen die Menschen hin und her.« »Glaubst du, daß es bald Krieg geben wird«, fragte Seebaum; auf dem Küchentisch lag die Zeitung mit der Schlagzeile: »Verhandlungen abgebrochen!« »Es ist ein Wunder, daß er nicht schon ausgebrochen ist«, sagte die Frau und nahm dem Kind eine Gabel aus der Hand. »Sie haben genug Bomben, um uns alle zehnmal auszurotten, und sie bauen immer neue. Zugleich reden sie vom Frieden.« Sie sah ernst ihre Kinder an, die unter dem Tisch leere Bierflaschen hin und her rollen ließen. »Ich weiß wirklich nicht, was man tun kann«, sagte sie, »alle sagen, sie sind für den Frieden, keiner will den Krieg. Trotzdem finden große Manöver statt, die Aufrüstung wird beschlossen, die Gespräche werden abgebrochen, die Alarmsirenen erprobt, die Bunker ausgebaut. Noch nie haben Worte und Taten so auseinandergeklafft. Noch nie waren wir so gut bewaffnet und so sehr in Gefahr.« »Vielleicht paßt es gut ins Konzept, daß wir solche Angst haben«, meinte Seebaum, »wenn wir nur in den Himmel schauen und auf die Bomben warten, werden wir von den Vorgängen auf der Erde abgelenkt. Man sollte wenigstens die erreichbaren Mißstände bekämpfen.« »Du mit deinen chemischen Abfällen«, sagte sie. »Das Schlimmste ist die allgemeine Apathie«, rief er, »darum kann soviel über die Köpfe weg angerichtet werden. Wenn es gelingt, diese Apathie bei einer Gefahr vor der eigenen Nase zu durchbrechen, wenigstens auf einem Nebenschauplatz Abhilfe zu schaffen – vielleicht käme dann auch der Mut, die großen Gefahren anzupacken.«
Das Essen war fertig. Die Frau fütterte ihre Kinder und zog sich mit ihnen zurück, als zwei Studenten heimkamen und die Topfdeckel lüpften. Sie kosteten und lobten Seebaums Kochkunst. Dann begannen sie eine Unterhaltung über die Eigenheiten eines bestimmten Dozenten, bei dem sie eine Prüfung machen wollten. Der Lustige kam dazu und unterbrach sie mit einer Schilderung seines Lehreralltags. Der Kampf zwischen Schülern und Lehrern, den Seebaum noch aus der Schülerperspektive erinnerte, schien verschärft zu toben. In krassen Worten schimpfte der Lustige über die Gleichgültigkeit und Frechheit seiner Klasse. Seebaum staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der dieser junge Lehrer die Ruhe als das Hauptziel seines Unterrichts darstellte. Erst als er nach der Demokratie in der Schule fragte, wurde der Lustige ernst und berichtete von seinen Versuchen, die Schüler zur Aktivität zu motivieren. Er schlug Seebaum vor, einmal in die Schule zu kommen und über die Arbeit in seiner Zeitung zu erzählen, das könnte die Schüler interessieren – »wenigstens zwei oder drei von ihnen«, schränkte der Lehrer ein. Geschmeichelt wehrte Seebaum ab: Noch sei er kein Reporter, nicht einmal Volontär sei er, erst einen einzigen Bericht habe er verfaßt. Dann holte er doch stolz die heutige Zeitung und las seine Meldung über den Finanzausschuß von Gruhm vor, ohne zu erwähnen, daß sie in Wahrheit Koll geschrieben hatte. »Skandal«, meinte ein Student zum Inhalt, der andere fand den Bericht »lahm«, viel schärfer hätte man herausarbeiten müssen, wie die Ratsherren ohne Rücksicht auf die Meinung der Betroffenen ihre Politik machen. Sie wollten wissen, ob Seebaum schon seine ersten Erfahrungen mit Zensur in der Zeitung gemacht hätte. Seebaum verneinte. Im Gegenteil, der Redakteur Koll mache ihm den Eindruck, ein echter Anwalt der Bürgerinteressen zu sein. Die Studenten verlachten
Seebaum und nannten das »Sonntagsreden für Anfänger«: Am Ende schreibe der Redakteur doch, »was oben gewünscht wird«. Seebaum ärgerte sich, zuckte aber nur die Achseln; noch wußte er zu wenig über seine zukünftige Arbeit, um sie in Schutz nehmen zu können. Er fragte über den Küchentisch hinweg: »Glaubt ihr auch, daß noch zu unseren Lebzeiten der allerletzte Weltkrieg ausbricht?« Alle schwiegen und aßen. Dann sagte der Lustige: »Mein Gott, ausgeschlossen ist es nicht. Alle Verhandlungen sind unterbrochen. Aber was hat es für einen Sinn, sich drüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn’s kracht, dann kracht’s. Wir alle müssen einmal sterben und leben trotzdem weiter.« Ein Student widersprach ihm; die Lage sei weder sicher noch hoffnungslos. »Es hängt auch von uns ab, was geschieht«, sagte er, »jeder trägt die Verantwortung!« Der Lehrer machte eine wegwerfende Bewegung mit dem Suppenlöffel: »Schöne Worte. Machen kannst du trotzdem nichts.« Der Student sagte, in einigen Tagen finde eine große Demonstration für den Frieden statt, es sei doch Pflicht für jeden, daran teilzunehmen! »Du hast leicht reden, du Student«, rief der lustige Lehrer, zum ersten Mal sah Seebaum ihn wütend, »ich brauch das Wochenende zur Erholung. Ich habe ohnedies kein Privatleben mehr. Außerdem sind wir jahrelang herumgelaufen und haben Parolen geschrien, und damals war das Kriegsrisiko nicht halb so groß. Verschont mich bitte mit diesen moralischen Appellen.« Wieder aß man schweigend. Von der Straße dröhnte der Verkehr; hin und wieder klirrte eine lose Fensterscheibe. Seebaum stand auf und bediente die Esser; dabei überlegte er, was für einen Sinn es haben sollte, Reporter zu werden in dieser Welt auf Abruf. Schließlich erkundigte er sich nach Zeit
und Ort der Demonstration, um Koll einen Bericht darüber vorzuschlagen. »Unglaublich«, rief der Lehrer und las eine Zeitungsmeldung über die Verseuchung eines ganzen Stadtteils durch chemische Abfälle vor. Als der Name der Stadt fiel, erschrak Seebaum: dort war er aufgewachsen. Er dachte an die Eltern und malte sich aus, wie sie Angst hatten, Leitungswasser zu verwenden. »Was wollt ihr denn«, sagte ein Student, »ihr redet vom Krieg, aber das ist doch wie im Krieg! Tausend Leute werden aus ihren Häusern evakuiert und in provisorische Lager gesteckt. Die Erde wird metertief ausgehoben und als Giftmüll gelagert. Oder habt ihr die Bilder aus Kanada gesehen, von der Explosion eines Chemiecontainers auf dem Bahnhof? Kriegsbilder!« »Na dann warte, bis du den echten Krieg erlebst«, rief der Lehrer, »so ein hysterisches Gerede!« Der Student nannte den Lehrer einen etablierten Schlappschwanz, und Seebaum verließ die Küche, um dem folgenden Streit zu entgehen. Unruhig ging er durch die Wohnung, blätterte in Annas Buch über die Betreuung Sterbender, versuchte im ›Heinrich von Ofterdingen‹ zu lesen und setzte sich vor den Fernseher im Zimmer des Lehrers. Als der Nachrichtensprecher zur zweiten Unglücksmeldung Atem holte, drehte Seebaum ab. Er hatte Hals- und Gliederschmerzen, schlüpfte unter die Decke in Annas Bett und schloß fest die Augen. Aber draußen lärmte die Stadt weiter, der Wecker surrte wie eine Höllenmaschine, ein Flugzeug zog übers Dach, die Zimmereinrichtung wartete wie eine geduckte Versammlung auf ein Erdbeben. »Was soll werden«, sagte Seebaum mit geschlossenen Augen laut, »was soll aus mir werden?« Er konnte nicht schlafen, ihn juckte die Innenseite der Haut. Er lief aus dem Haus. Entschlossen gingen die Passanten,
zielbewußt strömte der Verkehr, friedlich zogen die Wolken, und auf den Plakatwänden lachten alle. Auf der Straße wurde aus jeder Sorge nur Schwarzseherei und Geschäftsstörung. Seebaum klimperte mit den Münzen in der Tasche. Er kaufte eine Zigarre, setzte sich in den Park und versuchte zur Ruhe zu kommen. Der Wind strich sanft durch die leuchtenden Blätter mit einem stumpfen Beigeschmack nach Öl und blauem Abgas. Seebaum schloß die Augen, glitt auf der Bank nach vorn, bis er den Nacken auf die Lehne legen konnte. Die Zigarre fiel ihm aus der Hand, er ging über eine blaue Wiese auf den Waldrand zu. Ein Vogelschwarm wurde schreiend in den Mond gesogen. Menschen bewegten sich langsam durch den Park und warteten auf ihre Hunde, die an den Stämmen schnüffelten. Kinder schrien im Sandkasten. Um den Park hatte sich ein dichter Ring geparkter Automobile geschlossen. Mühsam hob Seebaum das steife Genick von der Lehne. Ein Mann lächelte ihn an und fragte, ob er gut geschlafen habe. Seebaum lächelte zurück und nickte. Es gab kein Alleinsein; er stand auf und ging nach Hause. Nachmittags besuchte er die städtische Bücherei, um Schriften zur Heimatgeschichte und zur geologischen Schichtung Bronnens zu entleihen. Er fühlte sich in den stillen Räumen wohl, das Kaufdiktat war hier gebrochen, gegen symbolische Gebühren wurde der Zugriff zu Werken gestattet, die sonst unzugänglich waren. Als er später auf die schräg besonnte Straße trat und sich in den unaufhörlichen Verkehrsfluß einordnete, kam er sich wie im Besitz eines subversiven Geheimnisses vor: Hinter den Mauern warteten die Bücher auf jeden, der sich bilden wollte, ohne sie gleich kaufen und besitzen zu müssen. Nach dem Aufenthalt in den schweigsamen Zimmern überfiel ihn das Leben draußen als Vorwurf: Was du nur immer versäumst!
Überall lebende Biografien und Schicksale, hinter den gleichförmigen Ausgehmasken fremde Gewohnheiten, er am Ufer eines glitzernden Flusses, betäubt hineinschauend, statt munter hineinzugreifen. Dasselbe Gefühl überkam Anna jeden Abend, wenn sie zerschlagen das Altenheim verließ und in die Stadt trat wie in ein wimmelndes Abenteuerangebot. Nach der ausschließlichen Beschäftigung mit alten Leuten war sie heißhungrig nach ihresgleichen, wollte ausgelassen sein und etwas erleben. Aber statt nun in irgendeine Richtung loszuziehen, trottete sie ja doch jeden Abend gleich heim in ihre Wohngemeinschaft – nur um schon beim Eintreten durch den Anblick der trägen Gestalten in der Küche enttäuscht zu sein. Ja, die Studenten und der Lehrer hatten ihren Tag schon länger hinter sich, sie waren nicht ununterbrochen ausgesperrt von Leben und ausgeschlossen von sich selbst gewesen; jeden Tag durften sie, wenn sie arbeiteten, auch ein wenig an sich selbst arbeiten, sich weiterbilden und so ihren Wert erhöhen, während Anna meinte, in einem kurzgeschlossenen Bogen nicht vom Fleck zu kommen. Im Altenheim gab es wenige jüngere und viele ältere Pfleger, alle taten dasselbe, Aufstiegschancen gab es kaum, keine Aussicht auf Veränderung. Aber wenigstens in der Freizeit wollte Anna dafür wirklich leben! Und dann kam sie heim und traf diese schlaffen Gestalten, die sich in aller Ruhe zu zukünftigen Vorgesetzten ausbilden ließen. Die lebten schon tagsüber, abends kamen sie lebensmüde heim, gerade wenn Anna lebenshungrig war. Und dann noch neuerdings dieser Seebaum! Er saß in seinem Winkel am Tisch, als lebte er schon seit Jahren da. Er sah nicht gut aus, betroffen, blaß, ungewiß. So einer hatte ihr gerade noch gefehlt! Natürlich schaute er sie gleich erwartungsvoll an; hatte er nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag zu warten, daß sie daherkam?
»Na?« rief sie herausfordernd, feuerte ihre Tasche unter den Tisch und setzte sich. Seebaum stand auf, stellte einen Teller vor sie hin und gab ihr vom Gulasch, das er gekocht hatte. Sie aß, ohne es zu loben, und er setzte sich enttäuscht. Als die Kinder zu streiten anfingen und entsetzlich brüllten, beschwerte Anna sich darüber: Sie brauche beim Essen Ruhe, schließlich habe sie gearbeitet bis jetzt. Der Lustige fuhr sie an, andere arbeiteten schließlich auch, wer sich restlos kaputtmachen lasse, sei selber schuld. Daß es hier Kinder gebe, wisse sie, sie könne ja ausziehen. Als auch die Frau einfiel und betonte, auch sie arbeite den ganzen Tag, freilich ohne Bezahlung, die Arbeit mit Kindern sei gewiß nicht wertloser als die mit Alten, da schmiß Anna das Besteck hin, schrie: »Ich zieh aus« und lief weinend aus der Küche. Ihr Zimmer stank nach Seebaums Zigarre, auf ihrem Bett, das zerknüllt war, lag sein romantisches Buch. Sie riß das Fenster auf und atmete tief, während ihr die Tränen schmerzhaft unter den Lidern hochgepreßt wurden. Dabei war es ein schöner Abend! Der Verkehr dröhnte gedämpfter, über die Dächer floß stumpf und rot ein mildes Licht. Die Türme der Kathedrale schwebten bläulich und schienen sich vor den ziehenden Wolken zu bewegen wie Schornsteine eines ablegenden Schiffs. Gegen dieses weite Abendland war ihr dunkelbraunes Zimmer, die Wohngemeinschaft, überhaupt alles an ihr und in ihrem Rücken ein Gefängnis. Zu allem Überfluß schlich noch dieser Seebaum herein und stellte sich wortlos neben sie ans Fenster. Mit welchem Recht wollte dieser Mensch sie trösten? Andere, neue Menschen will ich kennenlernen, dachte sie, solche, die fröhlich sind, kräftig und immer nur auf der Durchreise! Verschwinde, arbeitsloser Stubenhocker, fahr zu den Eltern und schreib mir Briefe! Als Endpunkt einer Urlaubsreise bist du gut, nicht als hartnäckiges Möbelstück.
Er stand neben ihr und wußte, daß er sie um nichts in der Welt ansprechen durfte. Ihr verstocktes Profil mit den nassen Augen machte ihm Schmerzen, die Sehnsucht zog durch seine Knochen und verstärkte das allgemeine Grippegefühl. So gern wäre er mit ihr allein spazierengegangen, hätte seinen ganzen Tag nacherzählt und ihrem gelauscht. »Ich will wenigstens ins Kino«, sagte Anna trotzig. Seebaum zählte aus dem Kopf die Filme auf, die in Bronnen liefen. »Vielleicht geht noch jemand mit«, meinte sie. Die anderen hatten aber keine Lust, hinauszugehen. Sie saßen in der Küche und wollten die Probleme des Zusammenlebens besprechen. Sie kritisierten Anna, weil sie sich dem entziehen wollte. Anna ging wortlos aus der Küche. Kurz darauf kam sie frisch und umgezogen wieder und sagte zu Seebaum: »Komm.« Der Ablauf dieses Abends überraschte sie angenehm. Seebaum wirkte ruhig und ausgelassen, wie sie schien er Auslauf zu brauchen; er war ja fast den ganzen Tag ins Haus gesperrt gewesen, wie sie ins Altenheim. Als er vom Arbeitsamt, von Koll in Gruhm und von der Haus- und Kinderarbeit erzählte, machte Anna sich ein neues Bild von ihm: Ohne Wehleidigkeit versuchte er, in Bronnen Fuß zu fassen, sich selbst schien er nicht ernst zu nehmen, sondern zeichnete sich als komische Figur. Zugleich trat Anna vom Platz des Hauptproblems zurück in die Reihe seiner anderen Sorgen. Wie sie das beruhigte! Sie spürte nicht mehr dauernd seinen Atem im Genick, er stand weiter weg, sie konnte ihn von Kopf bis Fuß ansehen, als einen Bekannten, der kam und ging. Gleich gefiel er ihr besser. Wie er sich freute, wenn er sie zum Lachen brachte! Ihren Erzählungen hörte er aufmerksam zu, immer wieder erstaunt über den kleinlichen Geiz, mit dem im Heim an den Alten gespart wurde. Wenn er vorschlug, sich gegen die Überarbeit zu wehren, mit der man sich zusätzliches Personal ersparte, sich nicht auffressen zu lassen und an sich
selbst zu denken, dann klang das nicht sofort wie eine egoistische Klage, die eigentlich besagte: Kümmere dich mehr um mich. Es war sogar wieder möglich, mit ihm offen über ihr Verhältnis zu Männern zu sprechen, als wäre er im Augenblick selbst keiner. Sie gab zu, daß die Beziehung zu dem Mediziner ihr nicht wesentlich war, eher eine Notlösung. Er sei übriggeblieben aus einer Kette von Augenblickskontakten, er lasse sich von Zeit zu Zeit blicken, ohne ein Gewohnheitsrecht zu beanspruchen. Immerhin habe diese Freundschaft das Gute, daß sie nicht mehr alle Ärzte hasse als Vorgesetzte, die besser bezahlt und höher angesehen seien, wo doch die Pfleger die meiste Arbeit täten und sich von frischgebackenen Ärzten praxisferne Anweisungen anzuhören hätten; immerhin sehe sie die Möglichkeit, mit Ärzten vom Schlag dieses Mediziners kollegial zusammenzuarbeiten. Jedenfalls sei es falsch, sich gegen die Mediziner ausspielen und in einen nutzlosen Kampf mit ihnen hetzen zu lassen. Unerhört fand Seebaum, daß Anna an ihrer Arbeitsstelle, einem christlichen Institut, nicht gewerkschaftlich tätig sein durfte. Sie ging zwar dennoch zu den Veranstaltungen der Gewerkschaft, aber ohne praktischen Nutzen für sich selbst zu haben. Seebaum hatte die verbreitete Meinung übernommen, daß die Gewerkschaften eine etablierte und bedrohliche Macht darstellen; ihm war neu, daß gewerkschaftliche Aktivitäten so stark behindert und an manchen Arbeitsplätzen regelrecht verboten waren. »Gebetet wird viel bei uns«, erzählte Anna, »und zu den Wahlen holt die PECH die alten Leute mit dem Auto ab und zeigt ihnen, wo sie ihr Kreuz machen sollen. Nur sonst geht es nicht sehr christlich zu.« Überall werde auf Kosten der Pflegefälle und der Beschäftigten gespart, Wegwerfspritzen würden mehrfach verwendet, von jedem
Angestellten würde kostenlose Mehrarbeit verlangt, »zur höheren Ehre Gottes«, spottete Anna. Sie drängte Seebaum, bald auf einer festen Anstellung bei der Zeitung zu bestehen. Es sei ganz im Sinne der Arbeitgeber, sich möglichst viele freie Mitarbeiter zu halten und sich dadurch Lohnkosten und Sozialausgaben zu sparen; außerdem sei ein freier Mitarbeiter ohne Rechte und gewerkschaftlichen Schutz. Er winkte ab: »Erst muß ich Fuß fassen. Ich weiß nicht, ob Gewerkschaften gut sind. Ich höre immer, daß sie eine konservative Großmacht sind, die gemeinsam mit den Unternehmern für ein grenzenloses Wachstum der Wirtschaft auf Kosten der Natur eintreten.« Anna empfahl, sich über den Standpunkt der Gewerkschaften bei ihnen selbst und nicht aus zweiter Hand zu informieren. Dem stimmte er zu. Seebaum behauptete, die Zerstörung der Umwelt durch die Industrie sei noch immer nicht in ihrer ganzen Gefährlichkeit erkannt. Aus der Stadtbücherei hatte er ein Buch entliehen, in dem nebenbei die Geschichte des Bleibergbaus in Gruhm erzählt wurde. Seit Jahrhunderten wurde dort Blei gefördert und reicherte als Abfall den Erdboden an. Doch in den letzten Jahren mußte die Bodenvergiftung besonders stark zugenommen haben, denn Kühe waren verendet, und im Blut der Kinder hatten die Schulärzte Blei in gefährlichen Mengen entdeckt. Die Lehrer in Gruhm klagten über die Häufung von Verhaltensstörungen und Konzentrationsschwäche bei den Schülern; dies seien Symptome von Bleivergiftung. Die Bleihütte konnte die Alarmzeichen nicht bestreiten, führte die Vergiftungen aber auf das alte Blei im Boden zurück, nicht auf neue Bleiablagerungen der letzten Jahre. Doch erst im letzten Winter hatten plötzliche Schneefälle offenbar aus der Luft
große Bleimengen niedergeschlagen und zum Bleitod von Kühen geführt. »In Gruhm wird heute nicht mehr Blei gefördert als vor hundert Jahren«, wandte Anna ein, »schon in alten Heimatchroniken wird von der Kuhkrankheit berichtet. Nur ist nie soviel über Umweltprobleme geredet worden wie jetzt.« »Du stellst das wie eine zufällige Mode hin«, sagte er, »in Wirklichkeit ist es der Anfang einer Revolution! In wenigen Jahren wird das Verhältnis der Menschen zur Natur umgewälzt sein, vor allem durch chemische und biologische Techniken. Nur die Atomkraft wird seit kurzer Zeit öffentlich als Problem erkannt. Die chemische Umweltvergiftung kommt immer noch erst dann zur Sprache, wenn es zu spät ist und das Gift schon im Wasser, im Boden und im Blut steckt. Während über die Vergiftung berichtet wird, geht sie immer weiter. Nimm Gruhm. Selbst wenn Kinder vergiftet sind und Tiere sterben, geschieht doch letzten Endes gar nichts. Denn wenn das Gift aus der Luft kommt, müßte die Bleihütte sofort den Betrieb einstellen und dürfte erst weiter produzieren, wenn ein giftfreier Betrieb garantiert ist. Kommt das Gift aber aus dem Boden, dann müßte Gruhm teilweise evakuiert und der Boden metertief abgegraben werden. Nichts von beidem ist geschehen. Was muß noch passieren, damit es geschieht?« »Die Hütte hat inzwischen bessere Filter, die Bleiemission ist zurückgegangen«, wandte Anna ein, »und sie ganz zuzumachen, würde in Gruhm die meisten Arbeitsplätze zerstören. Arbeitslosigkeit ist ebenso ein Elend wie chronische Vergiftung.« Sie begannen zu streiten, ob der Arbeitsplatz oder die Umwelt Vorrang haben solle, und einigten sich schnell darauf, daß das die falsche Alternative sei. Es sei erpresserisch, gegen die Forderung nach besseren Luftfiltern mit der Vernichtung der Arbeitsplätze zu drohen.
»Daran siehst du«, sagte Seebaum, »daß es keinen Mechanismus gibt, der automatisch den Interessenausgleich zwischen Industrie und Umwelt besorgt. Das muß Sorge machen. Alle reden von der sauberen Umwelt wie sie vom Frieden reden: wie von Sterbenden.« Anna schwieg. Ihr schien, daß Seebaum viel zu schwarz sah. »Die Sorge um die Umwelt hat sich nicht selbstverständlich artikulieren können«, sagte er, »sondern ist als Randgruppentick abgetan worden. Der Protest gilt immer noch als nur halb legal und äußert sich oft in Aktionen, die der Staat mit seiner Gewalt niederschlägt. Vielleicht haben die Gewerkschaften allzu unkritisch das Argument aufgegriffen, daß Umweltschutz die reibungslose Arbeit gefährdet, statt andere Formen und Ziele der Arbeit zu entwerfen, die für Mensch und Umwelt besser sind.« Anna sagte ungeduldig, das tue die Gewerkschaft seit jeher, Seebaum solle sich besser über sie informieren. In ihrer ganzen Geschichte hätten die Organisationen der Arbeiter immer wieder gegen die Herstellung von Kriegsgut gekämpft, denn das sei doch die unmittelbarste Bedrohung von Menschen und Natur. Sie gab aber zu, daß es selbst da nicht immer gelungen war, den Wahnsinn einer Arbeitsbeschaffung durch Kriegsproduktion klar zu machen. »Jedenfalls stehen die Umweltschützer jetzt scheinbar einer Front aus Industrie und Gewerkschaften gegenüber«, sagte sie, »und solche Fronten sind in der Regel falsch. Wer daran schuld ist, die Umweltschützer oder die Gewerkschaft, ist nicht so interessant. Wenn du unter Umwelt nicht nur die Freizeitwelt, sondern vor allem den Arbeitsplatz verstehst, dann waren die Gewerkschaften jedenfalls die ersten Umweltverbesserer.« Seebaum wiederholte seine Sorge, daß es außer den lose organisierten Umweltschützern keine starke Kraft gebe, die
sich zum Anwalt der Natur gegen die Industrie mache, und zwar alle Tage, nicht nur bei Demonstrationen abends nach der Arbeit. »Die einzige Kraft, die dazu taugt, ist die Gewerkschaft«, meinte Anna bestimmt, »sie muß diese Sorge mit übernehmen. Aber wie kann sie das, wenn die Umweltschützer Konsumverzicht predigen, manchmal sogar Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen wollen, wenn nur die Natur vor der Haustür sauberer wird? Nicht verzichten wollen wir – im Gegenteil.« Von den Arbeitern werde jede Bewegung abgelehnt werden, wenn sie wie die Unternehmer vom einzelnen Lohnempfänger mehr Bescheidenheit in seinen Bedürfnissen verlange. Aber es werde doch auch gefordert, daß die Unternehmer Teile ihres Gewinns für den Umweltschutz opfern sollten, meinte Seebaum. Darauf erwiderte Anna, dies sei auch eine Forderung der Gewerkschaft. Es war spät geworden; der Wirt stellte rund um sie die Stühle auf die Tische und zog die Brauen hoch, weil er die Aufregung der zwei jungen Leute über Dinge, die sie und ihn nichts angingen, nicht verstand. Er war vorn in seiner Kneipe privaten Streit und Tratsch gewohnt; fürs Politisieren vermietete er das Extrazimmer. Seebaum lief verstimmt neben Anna nach Hause; er hatte kein versöhnliches Ende gefunden, sein Begriffswerkzeug war am Problem kraftlos abgerutscht. Da Anna auch nichts sagte, glaubte er, sie verachte ihn ein bißchen als einen Spinner. Doch sie kam munter zu ihm mit stummen, fröhlichen Aufforderungen. Er mußte sich erst darauf einstellen, dann dämmerte es ihm. Erleichtert und beruhigt lag er nachher auf dem Rücken, die bald eingeschlafene Frau im Arm, und dachte: Ein Glück! Ausgerechnet dieses Vergnügen, das höchste von allen, ist umsonst. Mag auch alles mögliche mir
unerschwinglich sein: Beim Vögeln gehts mir besser als dem reichsten Mann Freilands. Am nächsten Tag kam ein Brief von Seebaums Eltern. Sie baten ihn dringend, doch weiter zu studieren, damit das bisher dafür verwendete Geld nicht verloren sei; stelle ein Akademiker nicht etwas ganz anderes dar als ein gehetzter Journalist? »Bist du der Typ dafür?« fragte der Vater, »du warst immer so zurückhaltend. Als Reporter muß man aufdringlich sein.« Aber sie lobten den Entschluß, regelmäßig zu arbeiten, und waren gern bereit, zur Überbrückung monatlich einen Geldbetrag zu überweisen, »bis du auf eigenen Füßen stehst«. Gleich lief Seebaum zur nächsten Bankfiliale, um ein Konto zu eröffnen. Was für eine Erleichterung, endlich mit vollem Recht in eine Kapelle der einzig wahren Kirche zu treten! Der schlichte Prunk, die ausgestellte Gediegenheit, die gelassene Vernunft: Symbole der absoluten Sicherheit, womit der eine wahre Gott im Safe ruhte. Seebaum empfing das Blättchen mit den Ziffern seiner Kontonummer und ein Büchlein zum Einheften der Auszüge. Die Nummer teilte er den Eltern sofort in einem Brief mit; er fragte auch, ob sie von dem Giftunfall in ihrer Stadt betroffen seien; in den Vereinigten Staaten seien soeben an den Kindern einer vergifteten Stadt Schäden der Erbmasse festgestellt worden. Dann fuhr er nach Gruhm zu Koll. Vor Kolls Arbeitstisch saß eine ältere Frau und hatte mehrere Fotografien ausgebreitet. Man sah Kastanienbäume vor geparkten Wagen und Hausmauern. Koll winkte Seebaum zu sich: »Es ist immer derselbe Baum. Frau Berg fotografiert ihn seit vier Jahren alle drei Monate aus ihrem Fenster.« Die Kastanie strotzte von Blättern und Blütenkerzen, dann lagen stachelige Kugeln unten verstreut. Verwischte Kinderumrisse bückten sich. Die Blätter häuften sich wie
Papierasche; das schwarze Astwerk stand nackt vor den Fenstern und spiegelte sich in Pfützen. An einem Haus entstand ein Gerüst und verschwand. Der Baum entwickelte Knospen, trug Blätter, Blüten, Früchte, warf sie ab. Eine Frau mit Einkaufstasche huschte darunter weg, ein alter Mann sammelte Kastanien in einem Papiersack. Ein Fahrrad lehnte einmal am Stamm, ein Autowrack büßte die Räder ein und war verschwunden. »Im Vorjahr hat er seinen größten Ast verloren«, sagte Frau Berg. Sie machte Seebaum auf den Unterschied aufmerksam: die Kastanie sah halbiert aus. »Der Baum wird kleiner«, bemerkte Koll und umkreiste den Wipfel mit seinem Stift. »Und in diesem Frühjahr hat er kaum geblüht«, ergänzte die Frau. Sie hatte auch eine Serie von Nahaufnahmen des Stammes gemacht. Auf den ersten lag ein grüner Film über der Rinde, aber auf den meisten nicht mehr. Diese Flechten waren früher auf den Bäumen in Gruhm gewachsen, jetzt verschwanden sie überall. Die Frau legte einen Zeitungsausschnitt des ›BronnenKurier‹ daneben: Ein junger Wissenschaftler hatte eine neue Methode zur Beobachtung der Luftverschmutzung entwickelt; verschwanden bestimmte Moos- und Flechtenarten von den Bäumen, dann bedeutete das eine Zunahme von Giften in der Atemluft. »Daraus machen Sie mir eine schöne Bildseite fürs Wochenende«, ordnete Koll an, verabschiedete Frau Berg mit herzlichem Dank und erklärte Seebaum, wie man Text, Bilder und Überschriften auf einem Seitenspiegel anordnet. Er legte ihm einige Fotos hin, schätzte den Platz ab, der für den Text blieb, und setzte Seebaum an die zweite Schreibmaschine. Dann begann er zu telefonieren. Seebaum schwitzte. Er schob die Fotos auf der Seitenvorlage hin und her, zeichnete ihren Ort mit Bleistift ein, reservierte
Rechtecke für Überschriften, rechnete mit dem Zeilenlineal aus, wieviel Raum er genau für seinen Bericht hatte. Dann spannte er ein Blatt ein und überlegte den Anfang. Nach einer Stunde zeigte er Koll das Ergebnis. Koll griff seufzend nach den Blättern und begann darin herumzustreichen. Er ließ sich den Seitenspiegel zeigen und zählte die Textzeilen nach. Er wollte noch ein Bild des Stamms auf die Seite bringen und dafür Text opfern; außerdem hatte Seebaum den Platz für Bildunterschriften vergessen. Dann sagte Koll: »Der Text ist gut. Sie schreiben locker und erklären anschaulich. Natürlich dauert alles bei Ihnen noch viel zu lange. Vergessen Sie nie, wir haben nur ein paar Stunden für acht Seiten. Aber das lernen Sie noch.« Er gab Seebaum eine Einladungskarte: Die Stadt Gruhm eröffnete am Nachmittag eine Keramikausstellung in der Halle des Rathauses. Seebaum zuckte die Achseln; von Keramik hatte er keine Ahnung. Koll erklärte ihm, das sei nicht erforderlich. Er solle nur notieren, welche Honoratioren bei der Eröffnung aufträten, und mit einem Ausstellungskatalog wiederkommen. Damit würde der Artikel sich von selbst schreiben. Seebaum hatte eine Stunde Zeit und spazierte durch Gruhm. Die Sonne schien, die Luft war kalt. Schüler drängten sich um die ersten Eisverkäufer. Er überquerte einen gemauerten Bach, stieg durch eine Grünanlage in Serpentinen hügelauf und fand die Adresse des Tierarztes, der mit den bleikranken Kühen zu tun gehabt hatte. Eine Frau öffnete, trat aus der Villa in die Sonne und sagte, ihr Mann sei auf dem Schlachthof unten im Ort. Seebaum nickte und ging, froh über seinen Beruf, der ihm erlaubte, überall anzuklingeln und mit Fremden Unterhaltungen zu beginnen. Er stieg mit federnden Knien bergab zum Spielplatz und besichtigte den Kastanienbaum, über den am Wochenende
der Bildbericht erscheinen würde. Aus unregelmäßigen Laubflocken starrten kahle Äste; der Baum sah in Wirklichkeit kränker aus als auf den Fotos. Zum Zeitvertreib malte er sich aus, einem Täter auf der Spur zu sein, der Gruhm absichtlich vergiftete. Das mußte ein Unmensch sein, heimtückischer und ungreifbarer als Fantomas. Wie Inspektor Juve kam Seebaum immer zu spät an den Ort der neuesten Untat. Der Täter ging vor wie mörderische Eheleute, die ihren Partner über Jahre hinweg durch kleine Arsendosen immer kränker machen. Er blies Blei in die Luft und verließ sich auf Wind, Regen und Schnee, die es niederschlagen und in die Nahrung schmuggeln würden. Die Menschen atmeten das Gift ein, aßen es mit Fleisch und Gemüse, tranken es im Wasser. Die Kinder leckten die Finger, mit denen sie bleihaltigen Sand formten. Sie fielen nicht gleich um wie Kühe, sondern entwickelten zweideutige Krankheitsbilder: Intelligenzschwäche, Müdigkeit, Streitlust. Zufrieden betrachtete der Täter sein Werk; wie in ganz Gruhm die Angst und die Wut wuchsen, die Eltern ihre Kinder, die Lehrer die Schüler besorgt beobachteten, die Kinder ihre Eltern und Lehrer mehr haßten als anderswo. Keine auffallende Seuche, nur verstreute Krankheiten, die erst mit den Jahren in den Statistiken beunruhigten. Seebaum wußte, daß den Kleingärtnern nicht mehr erlaubt war, in Gruhm Gemüse zu ziehen, es war zu viel Blei darin; der ›Gruhm-Bote‹ warnte vor im Wald gesammelten Pilzen, sie enthielten Kadmium. Der unfaßbare Täter rieb sich die Hände: Gruhm zappelte unter seinem Einfluß und wußte es nicht. »Wir müssen lernen, mit dem Gift zu leben!« ließ er verkünden. Die Menschen von Gruhm fügten sich, als wüßten sie, daß Fliehen sinnlos ist. So einen Täter gab es nicht, das wußte Seebaum. Doch einen Augenblick lang, während er das Rathaus betrat, malte er sich
aus, wie selbst diese Überzeugung nur ein gelungener Versuch des Täters wäre, seine Spuren endgültig zu verwischen; als müßte man zur Lösung des Rätsels trotzdem davon ausgehen, daß hinter dem Blei Menschen steckten, wenn auch kein dämonischer Bösewicht; als gäbe es Menschen, die den Schaden durch das Gift gegen den Nutzen der Bleiverarbeitung aufwogen und zu dem Schluß kamen, es lohne sich. Auch im Krieg werden Menschen geopfert, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen. In der Eingangshalle des Rathauses standen bemalte Gefäße in Vitrinen. Ein kahler Mann begrüßte die Anwesenden. Seebaum fragte ein Mädchen, das einen Notizblock in der Armbeuge trug, nach seinem Namen. Er war der Kulturstadtrat, Mitglied der PFAV, er hieß Pauch; das Mädchen schrieb für ein lokales Anzeigenblatt, das gratis in die Briefkästen gesteckt wurde. Herr Pauch lobte die Freiländische Zentralbank, weil sie ihre Keramiken zur Besichtigung freigegeben hatte, und kündigte an, daß in Zukunft regelmäßige Ausstellungen von Kunstschätzen der Freilandbank im Rathaus stattfinden würden. Unter Pauchs Worten trat Seebaum an ein Glasgehäuse und betrachtete einen barocken Topf; auf dem Deckel tanzte ein kleines Menschenpaar mit roten Wangen in grellgrünen Graswellen. Blumengirlanden umliefen den Bauch des Gefäßes. Schon damals war den Künstlern die Natur nicht mehr selbstverständlicher Hintergrund gewesen, als hätten sie geahnt, daß sie am Beginn einer Zeit lebten, in der haltbare Kopien von Gras und Blumen geschätzt werden würden. »Gratiswerbung für die Freilandbank«, flüsterte das Mädchen neben Seebaum, »sie zeigen nur den Ramsch her. Die wirklich schönen Sachen verschwinden im Tresor. Sogar unsere Bleihütte hat ihr Privatmuseum. Ein Betrieb mit Tradition sammelt von selbst die Kunst um sich.«
Er fragte, ob sie das Privatmuseum gesehen habe. Als Tochter eines technischen Direktors der Hütte kein Problem, antwortete sie. Dort gebe es eine eindrucksvolle Sammlung griechischer Vasen. Interessant sei, daß die alten Griechen an der »Natur« im heutigen Sinn wenig Interesse gehabt hätten: »Sowas« – sie wies auf Porzellankopien von Küchengewächsen als Krönung einer Terrine – »wäre denen nie eingefallen. Die Griechen haben gerade erst den Menschen entdeckt, als Körper. Grünzeug gabs überall, das haben sie kaum wahrgenommen.« Mit Bedauern sah Seebaum, wie sie sofort nach diesen Worten grußlos davonging und auf der sonnigen Hauptstraße verschwand. Gern hätte er sich erzählen lassen, wie eine Großbürgertochter dazu kam, für ein Anzeigenblatt zu arbeiten. Solche Mädchen kannte er aus den Tanzstunden in seinem Geburtsland: häßlich, aber gepflegt, mit einem ungeschickten, unmusikalischen Körper, aber ausdrucksvollem Gesicht, dessen Züge sorgfältig getrimmt worden waren wie Blumenzeilen in Parks. An einem Tisch gab es Kataloge der Ausstellung zu kaufen. Neben einigen Fotos von Vasen sah man darin Empfehlungen für prämienbegünstigtes Sparen. Von welcher Zeitung er denn sei? Seebaum wollte nämlich nichts dafür bezahlen. Kulturstadtrat Pauch wandte sich um, als Seebaum den Reporter hervorkehrte, fragte nach Koll, »meinem alten Freund« und nannte Seebaum »ein neues Gesicht in unserer Siedlung«. Pauch seufzte tief, als er hörte, Seebaum sei Ausländer: »Ö ja, mein Gott! Da haben Sie die Kultur gleichsam mit der Muttermilch eingesogen! Mein Gott, das ist ja dagegen die tiefste Provinz!« Seebaum widersprach auf der Stelle, eigentlich nur wegen der Art, wie Pauch bei »eingesogen« die feuchten Lippen spitzte; Kulturbedürfnisse gäbe es in Gruhm sicher genug, Kultur sei mehr als Konzert
und Theater – und mehr als die keramische Reklame für eine Bank. Sofort zog Pauch ihn an sich und murmelte: »Genau was ich immer sage. Verzweifelt suche ich Ansätze für ein volkstümliches Angebot. Der letzte, der über Volkstanzgruppen und Blaskapellen die Nase rümpft, bin ich, mein Gott! Haben Sie etwa unveröffentlichte Dichtungen daheim? Wir machen Dichterlesungen ›aus der lyrischen Schublade‹ in unserer Volkshochschule! Rufen Sie mich an!« Und Pauch gab Seebaum eine steife Karte. Erschrocken warf Seebaum einen Blick auf die Uhr des Stadtrats, befreite seinen Ärmel und lief zur Redaktion. Koll schimpfte, gab ihm zwanzig Minuten für dreißig Zeilen und verweigerte von vornherein jede Hilfe. Seebaum schlug wütend den Katalog auf, schrieb ein paar Beschreibungen der Kunstgegenstände ab (»preziöses Schäferpaar«, »Anklänge an Fayencen«), erwähnte die eröffnenden Worte durch den Stadtrat Pauch von der PFAV und legte das Blatt Koll vor. Koll prüfte den Text ungnädig, denn Seebaum hatte nur zehn Minuten gebraucht. »Geben Sie den Katalog her.« Er zeigte aufs Titelblatt: »Und die Freilandbank? Wo steht die?« Seebaum zuckte die Achseln: »Ich dachte, es heißt ›GruhmBote‹ und nicht Bankbote.« Da schlug Koll auf den Tisch und erklärte, daß Herr Seebaum sich gefälligst nach den Realitäten richten und seine Gesellschaftskritik anderswo abreagieren solle. Wenn eine Bank ihre Schätze herzeige, dann sei das zu melden, weil Meldungen das Geschäft des ›Gruhm-Boten‹ seien. Dann diktierte er ihm einen ekelhaft dienernden Satz, eine Verbeugung vor der Bank bis zu den Zehenspitzen, etwa in dem Sinn: Was wäre Gruhms Kultur ohne Mäzene wie die Freiländische Bank? Seebaum schrieb das auf und sah den Spott der Bekannten voraus, wenn er gestände, das sei von ihm geschrieben.
»Na bitte«, murrte Koll, tat das Blatt in seine Tasche und fragte, ob er Seebaum nach Bronnen mitnehmen solle. Seebaum bedankte sich, er hatte noch in Gruhm zu tun. Ein zweites Mal lief er die Serpentinen zum Haus des Tierarztes hinauf, wieder erschien dessen Frau in der Tür, ihr Mann sei eben erst heimgekommen und esse das Abendbrot. Er möge doch bitte morgen wieder vorbeischauen, wenn es nicht ein besonders dringender Fall sei. Seebaums Freude am Beruf erlosch; weder waren ihm alle Menschen wunderbar zugänglich, noch erwies sich die Lokalpresse als glattes Sprachrohr für die großen Sorgen. An einer Haltestelle am Ortsrand wartete er auf den Bus; hinter den Dächern schlug eine Glocke, und aus der Ruine eines Hauses bellte ein gelber Hund. Männer und Frauen mit Taschen stellten sich neben Seebaum auf. Ihre plaudernden Stimmen trugen weit in der Abendluft, sie besprachen Krankheiten und einen Streit in der Verwandtschaft. Direkt vor ihm umarmten sich zwei Kinder, ein Stück lila Eis fiel auf seinen Schuh, alle lächelten. Zugleich bremste ein Auto mit einem Gummischrei, und nach einem dumpfen Schlag lief ein Schäferhund winselnd die Straße entlang; die Vorderpfote baumelte am vorgestreckten Bein. Mit rotem Kopf stieg der Fahrer aus, öffnete die Arme und lief dem Hund nach. Sofort staute sich in beiden Richtungen der Verkehr. Jemand neben Seebaum erzählte, daß gestern an derselben Stelle ein Kind angefahren worden war. Eine weinende Frau lief auf die Straße und schrie den Vornamen Rolf. Der Hund humpelte auf sie zu und zeigte ihr die gebrochene Pfote. Der Fahrer kam, die Arme noch immer weit ausgebreitet, und bot an, Frau und Hund zum nächsten Tierarzt zu fahren. Mit großem Stolz konnte Seebaum als erster die Anschrift des Tierarztes geben. Noch im Bus erzählten ihm dafür die anderen mehrere Geschichten von überfahrenen Fußgängern; das
komme, weil die Hauptstraße vor drei Jahren zu einer Rennstrecke ausgebaut worden sei; die Fremden kämen direkt von der Autobahn mitten in die Stadt, und ehe sie gebremst hätten, sei das Unglück oft schon geschehen. »Wohin dieser Wahnsinn noch führt«, fragte einer, und jemand meinte: »Was wollen Sie denn machen.« Dann sahen sie gemeinsam aus den Fenstern hinaus auf die schaukelnde Ebene unter dem großartigen Sonnenuntergang. Beim Abendessen erzählte Seebaum von dem verletzten Hund. Die Studenten grinsten nur, der Lustige übertrumpfte Seebaum mit dem Augenzeugenbericht über Schafe auf einer Landstraße, in die ein Lastzug mit schadhaften Bremsen geplatzt war. Die Frau erzählte von ihrer dauernden Angst um die Kinder. Zwar schärfe man ihnen ein, die Straße als Todesstreifen zu meiden, sie nur bei Grün vorsichtig und rasch zu überqueren; aber oft würden Kinder bei Grün auf dem Zebrastreifen von Abbiegern erfaßt; auch begriffen sie die langen Ampelpausen nicht, wenn am späten Vormittag manche Straßen leer waren; und von den vollgeparkten Gehsteigen würden sie immer wieder auf die Fahrbahn gedrängt. Anna aß schweigsam. Die Anteilnahme für einen verletzten Hund kam ihr nach dem, was sie heute erlebt hatte, übertrieben vor. Am Morgen war einer ihrer liebsten Pflegefälle tot im Bett gelegen. Mit dieser Frau hatte Anna sich gern unterhalten, hatte sie möglichst von Betäubungsmitteln verschont und sich Jugenderinnerungen erzählen lassen. Diese Frau war mit einem Mitglied der »Partei für Umwälzung und Internationalismus« (PFUI) verheiratet gewesen, dem Todfeind jenes Regimes, das auch Seebaums Eltern mit der Ausmerzung bedroht hatte; ihr Mann war während des Krieges gezwungen worden, sich im Gefängnis zu Tode zu arbeiten. Sie selbst hatte durch eine Kette unglaublicher Zufälle und heimlicher Hilfe überlebt. Die Frau erzählte davon fröhlich, als hätte das Alter sie
unverwundbar gemacht. Bei den Schwestern im Heim war sie unbeliebt, weil sie als einzige jede religiöse Geste verweigerte. Für Anna war sie eine Quelle von Mut und Kraft geworden, und mit ohnmächtigem Zorn hatte sie mitansehen müssen, wie in den letzten Tagen eine Körperfunktion nach der anderen versagte, ein Sinn nach dem anderen sich vor der Welt verschloß wie vernagelte Fenster in einem alten Haus. Der gelbliche Schädel lag zurückgeworfen tief neben dem Kissen, der Mund stand weit auf, die Faust hatte unterm Leintuch die Matratze entblößt. Trotzdem hatten die Schwestern es einen leichten, friedlichen Todesschlaf genannt und nicht ohne Befriedigung festgestellt, daß nun auch diese Seele heimgefunden habe nach einem langen Irrweg. Es hatte Streit gegeben, ob dem Wunsch der Toten, eingeäschert zu werden, zu entsprechen sei. Anna hatte sich zwar durchgesetzt, aber nur unter Drohungen; sie fürchtete eine Reihe von Schikanen, um sie zur Kündigung zu bewegen. An diesem Nachmittag war ein Brief der Heimleitung ans schwarze Brett geheftet worden, der sich nur an Anna wenden konnte: Es wurde an das Verbot jeder gewerkschaftlichen Tätigkeit erinnert; gerade hatte Annas Gewerkschaft mit einer Kampagne gegen ihr Verbot in kirchlichen Einrichtungen begonnen. Über das Wort »Gewerkschaft« hatte jemand groß »PFUI« geschrieben. Anna trug ihr Geschirr zum Spültisch und ging ins Zimmer des lustigen Lehrers, wo das Fernsehgerät stand. In einem anderen Land verfolgte ein Polizist in Zivil einen Drogenhändler. Anna lachte über eine trockene Bemerkung und ärgerte sich über das dumme Mädchen, das der Polizist immer wieder aus gefährlichen Situationen retten und am Arm wegführen mußte. Der Lustige kam herein, setzte sich zu Anna und legte den Arm um sie; sie lehnte sich an ihn und war froh, nicht allein zu sein und keine Worte machen zu müssen. Als der Fall gelöst
war und der Polizist dem Mädchen zum Abschied auf die Schulter klopfte, schüttelte Anna sich, stand auf und wiederholte mit tiefer Stimme den letzten Satz: »Sie wissen ja, wo ich zu finden bin, Jane, wenn Sie wieder einmal in Schwierigkeiten stecken.« – »Danke, Sergeant«, hauchte der Lehrer. Er schaltete um; man sah drei Männer an einem Tisch, einer sagte: »Ich meine…« Anna ging in ihr Zimmer. Sie stand lange am Fenster und sah in den Hof. Die Türme des Doms klebten ohne Tiefe gleich hinter den stumpfen Dächern, zwei spitze Papierdreiecke im Dunst eines gleichgültigen Abends. Anna hatte alle Lust verloren; was die Zukunft ihr zu bieten hatte, war schlimmer als die schlimme Gegenwart. Sie war nicht mehr neugierig. Man sollte sie endlich in Frieden lassen! Die Schwestern waren nicht eigentlich schlecht; ihre Bösartigkeit war nur der Ausfluß irgendeines Grundfehlers der ganzen Welt. So als hätte Gott, den es vielleicht vor langem einmal gegeben hatte, still abgedankt und das Regiment einem verlorenen Engel überlassen. Der wälzte die Welt immer weiter, aber ohne Einfallsreichtum; er gab ihr nur gelegentlich einen Tritt und ließ sie rollen, so daß sich alle Tage glichen. Was konnte aus Anna noch werden? Noch in fünfzig Jahren, falls sie nicht gestorben wäre, würde der Wecker sie wecken und in die Kälte schicken, und abends würde sie zusehen, wie Raumschiffe fremde Sterne eroberten und dabei einschlafen. Ein Kind steckte den Kopf herein und lief zu ihr. Anna nahm es unter den kleinen Achseln und stellte es aufs Fensterbrett. »Der Vater, die Mutter, das Kind«, sagte das Kind. Auf einmal hatte Anna große Sehnsucht, selbst mit einem eigenen Kind zu leben. Wenigstens eine persönliche Leistung! Sie küßte die warmen Haare, die säuerlich rochen. Tränen stiegen ihr auf. Das Kind strampelte sich frei und lief davon. Nein, kein Kind. Sie rollte sich auf dem Bett ein und schloß fest die nassen
Lider. Immer wenn sie die Regel hatte, wurde sie rührselig. Schon begann das Bett seitlich wegzurutschen, die Glieder wurden warm und flach, der Körper lief aus den Fingerspitzen; sie flog tief durch eine schmale Gasse mit dunklen, alten Häusern, Glassplitter funkelten auf den Steinen. Sie genoß diesen Gleitflug und freute sich auf die Ankunft in einer fremden Umgebung. Das ist die schönste und billigste Art zu reisen. Seebaum trat leise ein und suchte sein Notizbuch. Er wollte Ordnung in sein Leben bringen, nicht allen Stimmungen unterliegen, sondern alles, was ihm zustieß, gleichmäßig wichtig nehmen. Die Verwundung eines Hundes durch einen gutmütigen Menschen war, wenn man es recht betrachtete, das heißt von weit weg, eine Sensation. Aus dem Aufenthalt in Bronnen sollte ein Reisetagebuch werden, so als besuchte Seebaum der Entdecker als erster einen anderen Planeten. Mit stets wacher Neugier, mit absichtlich erhobenen Brauen wollte Seebaum die Vorgänge registrieren. Dazu mußte immerfort der Staub der Gewohnheit von den Filtern gewischt werden, die sonst nur einen immer kleineren Teil der Ereignisse in den Kopf lassen. »Chronische Reizung der Schleimhäute«, notierte er im leeren Zimmer eines Studenten, »immer Hals rauh, Nase tropft, gerötete Lider. Die Kinder der Wohngemeinschaft leiden an Ekzemen. Alle klagen über Müdigkeit. An windstillen, kalten Tagen ätzt die Luft den Rachen wie Gas. Gestern die Meldung, daß in einer Nachbarstadt Smogalarm gegeben wurde, weil die Luft sich nicht schnell genug austauschte. Aber wie giftig ist sie knapp unterhalb der Alarmschwelle, wenn es Jahre dauert? Scheidet der Körper das Gift aus oder sammelt er es?« Er sah auf. Nebenan ging der zweite Student in seinem Zimmer auf und ab. Was ging in ihm vor? War er einsam? Hatte er Angst? Seebaum schrieb: »Das Mißtrauen ist so
allgemein, daß man damit rechnen muß, sich übertriebene Sorgen zu machen – oder zu sorglos zu sein. Praktisch macht beides wenig Unterschied. Jeder weiß, daß die Vergiftungsprobleme beschönigt werden; und fast jeder vermutet, daß die Umweltschützer übertreiben. Im Krieg weiß der Soldat, daß er in Todesgefahr schwebt, und man verschweigt es ihm nicht. Jetzt im Frieden wittert man buchstäblich die Gefahr, aber sie wird erst öffentlich zugegeben, wenn sie durch ein Unglück wieder einmal erwiesen ist.« Seebaum überlegte; gleich würde er den Studenten nebenan besuchen und ihn interessant finden. Er schrieb noch rasch: »Wie im Krieg ist die Größe der Gefahr eine statistische Größe. So und so viel Gift bedeutet so und so viele Tote mehr. Aber das heißt nicht, daß es jetzt und hier und für mich einen Unterschied macht. Es bedeutet nur etwas für die gemeinsame Zukunft, und die ist unsicher genug. – Siehe das Rauchen: Man raucht, obwohl man weiß, daß es die Wahrscheinlichkeit erhöht, früher zu sterben.« Seebaum stand auf und klopfte an die Tür nebenan. Aber alles blieb still, der Student war ausgegangen. Also steckte Seebaum das Notizbuch ein und ging mit berufsmäßiger Neugier aus dem Haus. Auf der Straße vor der Tür stand der zweite Student mit den Händen in den Taschen und sah auf die andere Seite. »Ich wollte dir gerade vorschlagen, zusammen was zu trinken«, sagte Seebaum. Der Student senkte den Kopf und ging, als hätte er die ganze Zeit nur auf ihn gewartet, neben Seebaum her. Sie eilten die Straße hinunter. »Wo gehn wir hin?« sagte der Student und blieb stehen, ohne Seebaum anzusehen. Dann machte er kehrt und bog in die Kneipe an der nächsten Ecke. Obwohl sie vollkommen menschenleer war, herrschte großer Krach, weil eine Musicbox und der Fernseher zugleich liefen.
Der Student setzte sich an den dunkelsten Tisch und blickte Seebaum zum ersten Mal an. »Was willst du von uns?« sagte er. »Du kommst einfach zur Tür herein, setzt dich an den Tisch und gehst nicht mehr weg. Schaust du zu, wie wir leben und uns herumschlagen? Hast du keine Probleme?« Seebaum überlegte, da kam ein Mann und fragte mit Tränen in der Stimme, ob sie einen Wunsch hätten. Sie bestellten. Seebaum begann zu versichern, er habe durchaus Probleme, aber der Student winkte gleich ab und meinte, schließlich gingen ihn Seebaums Probleme nichts an; es sei nur traurig anzusehen, wenn ein Mensch so offensichtlich mit sich nichts anzufangen wisse. »Du bist doch im Ausland geboren«, sagte er, »dort zur Schule gegangen, hast dort studiert. Es wäre normal, dort zu bleiben und einen Beruf zu ergreifen. Aber du kommst nach Freiland und tust nichts. Du paßt ein bißchen auf die Kinder auf, und wenn du Lust hast, fährst du nach Gruhm und schreibst einen Artikel über einen Kastanienbaum. Du bist ein Träumer. Ich will dich immer bei den Schultern packen und rütteln, bis du aufwachst.« Seebaum suchte nach einer Antwort, als zum Glück die Getränke auf den Tisch kamen. Sie tranken. »Mir war von Anfang an klar, was aus mir wird«, sagte der Student; um den Lärm zu übertönen, sprach er wie vor einem großen Publikum. »Ich war immer gut im Rechnen. Jetzt studiere ich und weiß schon, wann ich fertig werde und wo ich nachher zu arbeiten anfange. Ich habe auch eine Freundin, wir werden dann heiraten. Wir werden zwei Kinder haben, ein Auto und ein Haus. Ich weiß schon, wieviel ich für das alles mindestens verdienen muß. So macht man das.« Er lehnte sich entschlossen zurück, trank und sah Seebaum dabei an.
Der wußte noch immer nicht, was er sagen sollte. Aus Verlegenheit trank er sein Glas leer und überlegte, wie er sich befreien konnte. »Was glaubst du, wie lange du so leben kannst«, setzte der Student fort, »das ist nur lustig, so lange man jung ist. Mein Vater war so einer wie du. Immer lustig, immer unterwegs, nie was gelernt, nie viel gearbeitet. Wie wir ihn gehaßt haben! Ich hab mir geschworen, nicht so zu enden wie mein Vater.« »Ich kann nicht…«, begann Seebaum, aber der Student fuhr dazwischen: »Was heißt, du kannst nicht! Du mußt! Ich muß auch! Ich kann dir auf den Kopf zu sagen, daß du Eltern hast, die dich ein paar Jahre lang mit Geld versorgen können. Solche wie dich erkenne ich sofort. Sie gehen so« – er stand auf und ging mit schlenkernden Armen und wackelndem Kopf durch das leere Lokal auf und ab – »und sie reden so: Ach weißt du«, er zog grüblerische Falten und sprach mit leiser Stimme, »ich finde das schrecklich, wie die Leute auf Konsum fixiert sind.« Er setzte sich und trank, dann lachte er, stieß Seebaum an und rief: »Sag endlich auch was. Ich komm mir ganz blöd vor, wenn du nichts sagst. Du schaust immer nur. Das ist übrigens auch typisch.« Seebaum sagte, nicht mutwillig habe er das Studium aufgegeben, er habe einfach nicht so weitermachen können. Irgend etwas sei ihm grundfalsch vorgekommen, aber den Fehler habe er bis heute nicht finden können. Nur eines wisse er: Ein normales Leben zu planen, sei ihm nicht möglich. In der Welt, wie er sie erlebe, könne er sich seine Kinder oder sich selbst als alten Mann nicht vorstellen. Er lebe von einem Tag auf den anderen und staune, wenn morgens noch alles beim alten sei. »Auf was wartest du denn«, fragte der Student, auf einmal ganz gleichgültig, als hätte Seebaum etwas längst Bekanntes gesagt.
»Ich weiß nicht«, gab Seebaum zu, »auf etwas Schreckliches. Seit ein paar Jahren kommt mir die Zukunft wie ein Katastrophengebiet vor. Die Gegenwart ist so schlimm, daß man sie gerade noch erträgt, und vorn ist alles finster.« »Vielleicht bist du da nicht der einzige«, sagte der Student, »solche Anwandlungen hat man, wenn es nichts zu tun gibt. Auf die Dauer wird man davon verrückt. Ich bleibe bei meinem privaten Lebensplan«, und er zog mit den parallelen Handflächen eine schmale Straße vor seinen Augen durch die Luft. »Ich versuche auch einen Plan«, begann Seebaum und wollte vom Reporterdasein erzählen. Aber der Student hörte nicht zu und lächelte. »Vorhin auf der Straße«, sagte er, »da habe ich einen Entschluß gefaßt. Ich gehe auf eine Reise, morgen oder spätestens übermorgen. Ich will nicht wissen, wann ich wiederkomme. Ich fahre einfach los.« Sie lachten und tranken. Der Student bat Seebaum, ihm sein Geburtsland zu beschreiben, er werde die Südküste entlangfahren, dann nach Afrika übersetzen. Dafür fragte Seebaum ihn nach dem Landstrich Freiland aus, wo er herstammte: Flachland am Meer im Norden. Als sie spät und betrunken heimgingen, war beiden klar, daß weder der Student seinen Lebensplan umstoßen und auf immer verreisen würde, noch würde Seebaum für immer als Lokalreporter in Bronnen bleiben. Aber in diesem Augenblick war ihr spielerischer Tausch ein angenehmer Gedanke: Sie fühlten sich wie zwei Seiten der selben Münze. In den nächsten Tagen fuhr Seebaum morgens hinaus nach Gruhm und kam abends heim nach Bronnen; er war dann »rechtschaffen müde«, das heißt, er legte sich mit gutem Gewissen im Zimmer des Lehrers vor den Fernseher. Koll deckte ihn mit Arbeit ein: »Eröffnung einer Ampelanlage in
der Von-Bröch-Gasse«, »Klagen über Hundekot im Holzmeister-Park«, »Wann zieht die Volkshochschule um?«, »Sozialausschuß kritisiert Finanzrahmen«, »Behinderte fordern ihr Recht«, »Veteranenehrung im Gewerkschaftshaus«, »Handelskammer sieht Kleingewerbe bedroht«, »Frauenfilme im Palast-Kino«. Selten hatte Koll etwas auszusetzen; ihn erstaunte, wie rasch Seebaum Meldungen fabrizierte, wie wendig er über die verschiedensten Themen plausible Berichte schrieb. Seebaums halbfertige Allgemeinbildung kam ihm zustatten, über alles konnte er schreiben, und zwar so, daß es alle lesen konnten, denn halbfertig war auch die Bildung der Leser. Nur einmal gab es Streit mit Koll, da hatte er Seebaum zur Eröffnung einer Altentagesstätte geschickt. Seebaum hatte getreu den angenehmen Eindruck der frisch gestrichenen Räume in dem von der Stadt angekauften Villenbau wiedergegeben, auch den Streit zweier Wohlfahrtsverbände um die Trägerschaft. Am Ende hatte er angemerkt, daß die Erfahrung in anderen Einrichtungen leider befürchten ließ, daß zwischen dem freundlichen Außenbild und der inneren Alltagspraxis ein Unterschied klaffen würde. Koll fand diesen Satz »unmöglich« und »Schwarzmalerei«; die Leute wollten nicht immer groß das Haar in der Suppe präsentiert sehen, noch dazu wenn die Suppe nicht einmal fertig sei. Das sei Kritik um jeden Preis und ohne Beweise. Das merkte Seebaum sich: Sätze von solcher Allgemeinheit ließ Koll nur dann durchgehen, wenn sie positiv und optimistisch waren; Kritik mußte hieb- und stichfest sein, in jedem Punkt konkret belegt, sonst lehnte Koll sie ab. Seebaum nahm sich vor, aus Annas Erfahrungen einen Bericht zu machen; da wäre alles nachprüfbar. In den immer kürzeren Pausen zwischen den Terminen und Schreibzeiten versuchte er die Recherche des Bleiproblems
fortzusetzen. Beim vierten Versuch traf er endlich den Tierarzt an. Der Tierarzt erzählte, es gebe auch nach der Verbesserung der Filter immer neue Fälle von Vergiftung. Nach dem letzten Regenfall habe er bleikranke Kühe gesehen. Der Verdacht läge nahe, daß das Blei von der Hütte immer noch in großen Mengen in die Luft geblasen und vom Niederschlag in den Boden, ins Gras und in die Kühe gerate. Die Hütte weise den Verdacht weit von sich: Im Lauf der Jahrhunderte habe sich das Blei im Boden um Gruhm angesammelt, der Regen wasche es aus, so gelange es in die Kuh. »In den Gründerjahren, um 1850, in der ersten großen Welle der Industrialisierung wurde wahrscheinlich noch mehr Blei ausgestoßen als heute«, sagte der Tierarzt. »Jedenfalls starben damals die Tiere häufiger. Schon in der Römerzeit wurde hier Blei gefördert und bearbeitet. Es ist der Hütte schwer nachzuweisen, daß sie am Kuhsterben schuld ist.« Seit dem Einbau der neuen Filter gebe die Hütte sich schuldlos; eine offizielle Untersuchung habe die Verbesserung der Bleiwerte im letzten Jahr bestätigt. Aber der Kurzfristigkeit all dieser Maßnahmen stehe die historische Dauer der Vergiftung gegenüber und die Umständlichkeit einer wirklich verläßlichen Statistik. Der Tierarzt sah auf die Uhr und führte Seebaum zur Tür. »Sehen Sie«, sagte er draußen, »jetzt sammeln meine Kollegen von der Humanmedizin die Milchzähne der Kinder ein, lösen sie in Säure und messen den Bleigehalt. Ich habe mir sagen lassen – aber das dürfen Sie nicht schreiben, das ist noch geheim –, daß manche Werte viel zu hoch liegen. Dafür sprechen auch die Messungen des Bleis im Blut der Kinder. Eigentlich dürften in Gruhm keine Kinder mehr aufwachsen. Hier ist praktisch jedes Kind mehr oder weniger bleikrank,
unter uns gesagt. Die Kleingärtner dürfen nicht einmal mehr Grünzeug anbauen.« »Das ist ein Verbrechen«, sagte Seebaum. »Junger Mann«, lachte der Tierarzt, »Sie haben leicht reden. Was schlagen Sie vor? Gruhm evakuieren? Die Hütte dicht machen? Welche Partei wagt so eine Forderung? Es genügt schon, daß die Hütte droht, Arbeitsplätze abzubauen, wenn man ihr mit neuen Auflagen für ihre Emissionswerte kommt. Und so streitet man sich herum, ob das Blei von den Römern kommt, von den Großvätern oder vom lieben Gott.« Seebaum wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen. »Die Stadt braucht die Hütte«, sagte der Arzt, »die Hütte braucht Menschen. Eine Hand wäscht die andere.« Er schloß die Gartentür unter seinem lächelnden Gesicht, und Seebaum sah nach Gruhm hinunter wie ins kleine Modell einer funktionierenden Gemeinde, mit Schulen, Kindergärten, Parkbäumen und Gemüsebeeten, alles aus Blei. Er schrieb an seinem Bericht über Gruhm ohne Hoffnung, ihn je gedruckt zu sehen. Den historischen Vorspann hatte er rasch, dazu gab es Quellen genug. Die Rücksichtslosigkeit, mit der die große Industrie sich im vergangenen Jahrhundert über Freiland ausgebreitet hatte – rücksichtslos gegen die Natur und gegen die Arbeiter – wurde gern offen eingestanden und der gegenwärtigen Sorge um Mensch und Umwelt gegenübergestellt. Doch auf der Suche nach Quellen für den jetzigen Zustand Gruhms lief Seebaum bald gegen eine Mauer des Schweigens. Es gab die offizielle Untersuchung, die für die Vergangenheit eine beträchtliche Bleiverseuchung und für die letzten Jahre eine Verbesserung vorwies. Doch an die Blutund Zahnuntersuchungen kam Seebaum einfach nicht heran. Immer erfuhr er, daß das seine Zeit brauche, gelegentlich machte man Andeutungen, daß die Zwischenergebnisse beunruhigend seien. Ein Arzt warf ihn gleich hinaus: Von der
modischen Panikmache habe er endgültig genug. Im Rathaus wurde man ganz vorsichtig, wenn das Wort Blei fiel, ließ sich von Koll bestätigen, daß Seebaum für den ›Gruhm-Boten‹ arbeite, verwies auf die Regierung des Landes, dort werte man die Ergebnisse gerade aus. Koll warnte Seebaum davor, auf eigene Faust unter dem Mantel der Zeitung Nachforschungen zu treiben. Beim nächsten Mal müsse er damit rechnen, keine Deckung mehr zu bekommen; er sei nur ein freier Mitarbeiter. »Ich muß oben verantworten, was Sie hier treiben«, sagte Koll scharf. Seebaum verneigte sich und machte sich klein. Er biß die Zähne zusammen und faßte zur Strafe den Vorsatz, unentbehrlich zu werden. Jeden Auftrag übernahm er, kein Thema war ihm zu minder, immer lieferte er das Gewünschte. Wenn er etwas kritisierte, dann mit diesem »Muß das sein?«, das der Zustimmung immer schon sicher ist. Das Selbstverständliche lobte er, für Werbegeschenke der Unternehmen an die Bürger bedankte er sich im Namen der Öffentlichkeit, die kleinen Mißstände geißelte er, die großen sparte er aus und zog mit der dabei aufgesparten Wut über die »Radikalen« her. Seine Empfindsamkeit ließ ihn besonders geschickt das Erwartete ahnen; er schmiegte sich in die vorgezeichnete Laufbahn wie ein kleiner Bach in sein reguliertes Bett und wurde immer schneller dabei. Er lief zu einem Termin, beugte sich über die Maschine, schrieb immer mehr und lief immer weniger, und als er wieder aufblickte, war ein halbes Jahr vergangen. Erschrocken sah er über die Schreibtische zu Koll hinüber, der schweigend arbeitete. Koll hatte aufgehört, ihn zurechtzuweisen, aber auch, ihn zu loben. Ein paar Tage lang beobachtete er Seebaum, als säße ein Kranker im Zimmer; dann unterließ er auch das; er hatte das Interesse am neuen Mitarbeiter verloren. Erst jetzt spürte Seebaum die Enttäuschung, weil er so widerstandslos spurte.
Eines Tages kam der Chefredakteur des ›Bronnen-Kurier‹ ins Redaktionszimmer des ›Gruhm-Boten‹, ein kleiner, eitler Mann mit vollem Haar und scharfer Nase. Nachdem er hastig mit Koll geplaudert hatte, wandte er sich an Seebaum und teilte ihm mit, ohne in seine Augen zu blicken, daß er wohl brauchbare Texte liefere, mit offenem Auge durch Gruhm gehe und als Reaktion auf seine Bildseite mit dem sterbenden Kastanienbaum sogar spontan zwei Leserbriefe eingegangen seien. Durch einen Zufall – zwei Todesfälle und eine Kündigung – sei ein ganz untypischer personeller Engpaß entstanden: »Sie sind ab sofort Volontär, die Einzelheiten erzählt Ihnen Herr Koll.« Der Chefredakteur eilte mit der Eleganz eines Friseurs zur Tür und fügte noch hinzu: »Vorausgesetzt, Sie wollen, Herr Seebaum«, dann war er fort. »Er glaubt, er wird immer größer«, erklärte Koll, »er bleibt aber ein Zwerg.« Dann sah er Seebaum direkt an, es schien, als wäre dies das erste Mal seit dem Einstellungsgespräch, freundlich, offen, ein bißchen mitleidig: »Das hast du jetzt davon. Der Chef hat genau gemerkt, da ist ein Neuer mit unverbrauchter Sprache, der spurt, der liefert prompt, der liegt auf der Linie, den nehmen wir.« Seebaum schämte sich ein wenig. Koll hatte immer nur den Druck weitergeben müssen, unter dem er selber stand, aber all die Zeit hatte er gehofft, Seebaum würde stärker sein als der Druck. »Meinen Glückwunsch, Kollege«, sagte Koll und schüttelte Seebaum mit einem ehrlichen Lächeln die Hand. Seebaum schämte sich. Aber was hätte er anders machen können? Daheim sprach ihn seit der Bildseite mit dem Kastanienbaum niemand mehr auf seine Artikel an. Zur Feier des Einstands als Volontär des ›Gruhm-Boten‹ machte er ein aufwendiges Essen und stellte viel Wein auf den Tisch. Es kam aber keine besondere Heiterkeit auf; selbst der zweite Student beglückwünschte Seebaum, als hätte nun auch der Vernunft
angenommen und ihn dadurch um eine Hoffnung ärmer gemacht. Die alltäglichen Spötteleien der anderen über die Informationspolitik der Zeitung bezogen sich zwar nicht eigens auf Seebaum, sie nahmen ihn aber auch nicht aus. Seebaum hatte sich erstaunlich rasch eingefügt: Er hatte kaum sieben Monate gebraucht. Ganz als wollte Koll sich für die Enttäuschung rächen, ließ er Seebaum nun spüren, was er alles nicht konnte. Er hetzte ihn zu fünf verschiedenen Terminen an einem Tag, gab ihm Sonderseiten und längere Berichte auf, ließ ihn Leserbriefe redigieren oder, wenn keine kamen, selber erfinden. Jetzt lernte Seebaum den Beruf des Journalisten wirklich kennen, diesen ständigen Wechsel von Routine und Hetze. Immer lagen Aufgaben vor Seebaum, die unmöglich an einem Tag zu bewältigen waren, immer schaffte er alles irgendwie. Er spannte leere Seiten in die Maschine, ohne zu wissen, was in zwanzig Minuten darauf stehen würde. Er wußte nur, daß ihm die Erfahrung zu Hilfe kommen würde, der Wortbaukasten in seinem Kopf. Er schrieb nicht mehr in Gedankenbildern, für die er zeitraubend das rechte Wort suchen mußte, sondern in fertigen Satzteilen, wo ein Wort das andere gab. Sein Stil verlor die persönlichen Spuren, durch die seine Arbeit aufgefallen war. Er schrieb jetzt flüssiges Zeitungs-Freiländisch. Beim Schreiben kam er nicht mehr in Schweiß, hatte nie Angst, nicht mehr weiter zu wissen. Die Themen begannen sich zu wiederholen, manche mit den Jahreszeiten, andere mit Jahrestagen oder Wahlen; gewisse Artikel schrieb er von sich selbst ab. Mit der Routine kam Zynismus. Er gebrauchte die Sprache als seinen Lebensunterhalt, er verkaufte sie und bekam sein Geld dafür. Der Inhalt hatte sich nach dem Platz zu richten, der zur Verfügung stand. Wenn in der Ferienzeit Meldungen für
eine Lokalseite fehlten und zugleich die Inserate spärlicher flossen, zerteilte Seebaum eine einzige Ausschußsitzung geschickt in drei Berichte, deren gemeinsame Quelle er zu verbergen verstand, ohne sie ganz zu verschweigen. An anderen Tagen mußte er den Bericht hinauswerfen, der ihm am meisten am Herzen lag, aber es fehlte eben noch das obligate Bild auf der Seite. Er lernte die Kunst, mit alten Fotos auszukommen, wenn die Fotografen gerade nichts Passendes lieferten. Zum Beispiel suchte er ein Bild zum Sommeranfang und fand keines. Er setzte zwei Kinder in Wintermänteln auf die Seite, Überbleibsel eines alten Spielplatzberichts, und schrieb darunter: »Solche Bilder gehören ab heute der Vergangenheit an. Der Sommer ist endlich da, diese Mäntel wandern in den Schrank! – Foto: Archiv.« Dies alles erlebte er nicht als Beschränkung, er lernte ja dazu! Jeden Tag die neuerliche Anstrengung, eine Nummer zu machen, die morgen Abend wieder Abfall sein wird, wenn die Ausgabe für übermorgen fertig in Satz geht. Er lernte den unauffälligen Stolz auf die Kompetenz kennen: Wie man Fragen stellt, wen man kennen muß, welche Wege man sich sparen kann, wen man anschießen darf und von wem man besser die Finger läßt. Selten war bei der hastigen Fertigstellung der Seiten Zeit, sich zu fragen, ob dieses Abbild eines städtischen Stoffwechsels einen Sinn haben sollte außer dem, Inserate in die Haushalte von Gruhm zu schmuggeln. Immerhin, man freute sich, wenn im Rahmen des Möglichen Kritik fällig war – »insofern«, betonte Koll, »machen wir Kommunalpolitik«. Am Ende blieb jedenfalls die Befriedigung jeder Lohnarbeit: Man tat eine Arbeit, die man beherrschte, es gab gute und schlechte Tage, man half etwas herzustellen, das von öffentlichem Nutzen war. Es konnte Spaß machen, wie man das Arbeitsmaterial beherrschte – die Sprache; man formte sie
zu griffigen Papierbechern, in die füllte man etwas vom Stoff des Lebens. Der große Zusammenhang der Arbeit, ihr Sinn, war tabu, weil er einem enteignet war. Das äußerte sich in der Enge des Berufs stolzes, in feindseligen Witzen über die Chefredaktion und den Zeitungsbesitzer und gelegentlich in zynischen Ausbrüchen gegen den Beruf und das Publikum. Mit Koll gab es immer weniger zu reden; sie hatten zu arbeiten. Früher war die Heimfahrt in Kolls Wagen ein privater Kontakt gewesen. Jetzt konnte Seebaum sich ein gebrauchtes Auto leisten. Er veränderte sich äußerlich. Die langen Haare störten bei den Kontakten mit Würdenträgern und Experten; er schnitt sie kurz und ließ dafür einen dünnen Schnurrbart stehen. Die Kleidung paßte sich von selbst an: flott und locker, aber nicht nachlässig. Wer Seebaum zuletzt bei der Ankunft in Bronnen gesehen hatte, erkannte ihn jetzt nicht wieder. In der Wohngemeinschaft wurde durch den Auszug eines Studenten ein Zimmer frei, Seebaum kaufte eine Stereoanlage und einen Fernseher, eine Matratze und einen Tisch, ein Büchergestell und ein schwedisches Sofa mit rauhem Bezug. In eine Vase stellte er Schilf. Mit Anna schlief er selten und hatte selten Zeit für Gespräche. Oft kam er noch in voller Fahrt heim, rannte durch die Wohnung, aß zu schnell und ging den anderen mit seiner eiligen Leutseligkeit auf die Nerven, während ihn ihre Langsamkeit und Schlamperei ärgerten. Er gewöhnte sich an, abends vor seinem Fernseher zu trinken. Er wartete auf das Ende des Volontariats, um sich ein besseres Auto und eine eigene Wohnung leisten zu können. Über seinen Gürtel hing ein bißchen weiches Fett. Er fühlte sich von dem Gewissensdruck befreit, als einziger auf der Welt
nicht zu wissen, wozu er taugte. Er war wie alle und genoß das Inkognito. Von Seebaums Eltern kam noch immer monatlich ein Scheck, aber auf seine späteren Briefe hatten sie nie geantwortet; als wären sie umgezogen. Jetzt, als Redaktionsvolontär, hatte er wieder Lust, den Eltern unter die Augen zu treten. Erst als er die Urlaubszeit mit Koll abgestimmt hatte, kam er auf die Idee, Anna nach ihren Plänen zu fragen. Sie hatte sich bereit erklärt, den Sommer über in Bronnen zu bleiben und ihren Urlaub den verheirateten Kolleginnen zuliebe in den Herbst verlegt. Aber nun lagen ihre Urlaube in verschiedenen Herbstmonaten. Seebaum regte sich darüber auf und gab Anna die Schuld, den gemeinsamen Urlaub verpatzt zu haben: »Du hättest fragen können, wann ich frei nehme«; sie gab freundlich zurück: »Du auch.« Seebaum war ein wenig erschrocken, daß er Anna so leicht vergessen hatte. Was trieb sie eigentlich? Sie war abends oft weg und übernahm außerhalb der regulären Arbeitszeit private Pflegefälle. »Du arbeitest zuviel«, warf er ihr vor. Sie zuckte, als hätte er sie geohrfeigt. »Lieber arbeiten, als nicht wissen, was man mit der freien Zeit anfängt«, sagte sie. Sie ist einsam, dachte Seebaum, so wie ich, da arbeitet man eben auch die Abende durch. »Du arbeitest auch zuviel«, sagte Anna trotzig. Es war Monate her, seit sie so durch den Stadtwald spaziert waren. Der ungewohnte Sauerstoff machte sie benommen. Wie blaß sie beide waren! Sie setzten sich. »Ich könnte täglich vierundzwanzig Stunden arbeiten und hätte an der Lage der Alten in Bronnen doch nichts Auffallendes verbessert«, sagte Anna, »immer ist ein Anspruch da wie ein riesiger Sandhaufen, und ich bin nur eine Kinderschaufel.« – »Wie
kannst du dich so ausnutzen lassen«, entrüstete sich Seebaum, »für die Bezahlung!« Sie stand auf: »Aber die Arbeit ist notwendig. Wie ist das bei dir? Du kriegst als Volontär doch die Hälfte der anderen und machst das gleiche.« Seebaum verstand, daß sie eigentlich sagen wollte: Du rackerst dich genau so ab wie ich, nur hat deine Arbeit wenig Nutzen. Er sagte: »Wenn ich erst fest angestellt bin, kann ich mir die Arbeit einteilen, wie ich wirklich will.« Um einem Streit auszuweichen, behielt Anna ihren Zweifel für sich. »Mach einen schönen Urlaub«, sagte sie, »laß es dir gut gehen.« Sie gingen Schulter an Schulter durch den blendenden Herbstwald und setzten die Füße vorsichtig auf den unebenen Boden wie Genesende. »Ich nehm später noch einmal ein paar Tage«, versprach Seebaum, und Anna nickte, obwohl sie ihm nicht glaubte. Ein Bekannter – in Seebaums ersten Tagen hatten sie sich bei einem Fest im Vorraum neben einem Berg von Mänteln kennengelernt – nahm Seebaum im Auto ins Nachbarland mit. Er wollte weiter nach Nordafrika. Unterwegs schlug er Seebaum vor, mit nach Afrika zu kommen und die Eltern erst auf dem Rückweg zu besuchen. Es war Nacht, sie hatten soeben die Grenze überschritten und rollten bei mäßigem Verkehr über die Autobahn. Der andere, ein Mineraloge namens Leinenweber, lehnte schief zwischen Rückenpolster und Seitenfenster, hielt das Steuer mit einer Hand und pfiff zur Radiomusik. Der Motor des großen Wagens summte leise, der Fahrtwind sauste in der Lüftung; es roch nach Benzin und kaltem Rauch. Zwischen roten und gelben Sternen flogen sie durch die lauwarme Luft. Es begann leicht zu regnen. »Ja«, sagte Seebaum glücklich, »gut!« Leinenweber pfiff lauter und setzte sich zurecht. Er stieß Seebaum an und schnitt ein Gesicht. Sie lachten.
Das Wiedersehen mit dem Nachbarland ergriff Seebaum, als fände er nach langem Exil die frühe Jugend wieder. Im Süden empfing ihn die Landschaft wie eine heitere Tapete, vor der Bauklötze zusammengewürfelt sind. Die Menschen auf den Straßen erschienen nachlässiger, offener, freier. Von hier aus kamen ihm die Einwohner Freilands vor wie ein Geschlecht von Befehlsempfängern, in dem ein verordneter Gleichklang sich als individuelle Entschlossenheit der Untertanen ausdrückt. Dort benahm sich jeder, als fühle er sich beobachtet und mit einem Soll-Wert verglichen. Dagegen sah dieses Land unter dem oberflächlichen Blick des Durchreisenden aus, als eigne es sich besser zur Demokratie – so als gehörte zur Demokratie auch eine Lässigkeit, die sich ruhig auf die anderen verlassen kann; während dasselbe von Freiland aus wie simple Schlamperei wirkte, als Gegenteil der freiländischen Ordentlichkeit. Zum ersten Mal seit vielen Jahren freute Seebaum sich aufs Wiedersehn mit den Eltern. Seit der Rassenhaß sie aus Freiland vertrieben hatte, wollten sie ihr Vaterland nicht mehr betreten, würden aber neugierig die Schilderungen des Sohnes hören. Den dunkelhäutigen, weißhaarigen Vater sah Seebaum schon lächelnd vorm Haus stehen und ihm zuwinken, daneben die blasse blonde Mutter. Auf dem Schiff nach Afrika schlief Seebaum viel. Dazwischen Traumbilder: lange Blicke auf das großzügige Meer neben Schwarzen in weißen Roben. Unter Deck, in den langen Stuhlreihen der Billigplätze, hörte er schlaftrunken ein langes Lied aus wenigen Tönen, abwechselnd mit den Stimmen eines alten Mannes und einer fremdartigen Klarinette. Überm Schiff sehr groß der in Bronnen vergessene Himmel, drin hin und her gewischte Wolken, die sich schnell abwechselnd röten und wieder grau werden. Da fährt das Schiff auf einer geraden gedachten Linie durch, die hinten als
kochende Wasserstraße auftaucht. Auf Deck die heimfahrenden Afrikaner, ruhig, gestenreich sich unterhaltend, aus der Hilfsarbeit für den europäischen Reichtum zurück in die Armut der Heimat. Leinenwebers Reiseziel war eine ehemalige Kolonie des Nachbarlandes, die sich erst vor zwei Jahrzehnten durch einen blutigen Krieg befreit hatte. Aber noch immer war das Land wirtschaftlich auf Europa vielfältig angewiesen, und seine Arbeitslosen verrichteten im früheren »Mutterland« die billigsten Arbeiten. Im Morgengrauen näherte das Schiff sich langsam dem Hafen der Hauptstadt; zum ersten Mal sah Seebaum die Küste eines anderen Kontinents. Häuser aus der Kolonialzeit türmten sich auf den sandbraunen Hügeln und streiften die düsteren Wolken. Es nieselte, Seebaum fühlte sich klebrig von der Salzluft. Und von der Aufregung der Heimkehrer ausgeschlossen. Sogar Leinenweber schien gerührt vom Anblick der Stadt, in der er jahrelang gelebt hatte, um im Landesinneren nach Wasser zu forschen. Im grauen Licht sah die Stadt blaß aus, beherrscht von ausgewaschenem Blau und der Farbe feuchten Sandes. Als sie an Land gingen, brach die Sonne durch einen Spalt zwischen Horizont und Wolkendecke; sofort wurde es heiß, die Kontraste verschärften sich, zwischen den europäischen Mauern kochte ein fremder Menschenbrei. Die bekannten Züge einer Großstadt verschwanden hinter unbekannten Lauten, Schriften und Kleidern. Verwirrt vom eingebildeten Schwanken des Bodens, einer Nachwirkung der Schiffsreise, hielt Seebaum sich immer in Leinenwebers Nähe. Schon wieder stark abgewohnte Neubausatelliten ragten aus den Sandbergen über der Stadt, dort besuchten sie einen früheren Arbeitskollegen Leinenwebers. Anders als in Europa standen die Bauten direkt in der Erde, die nicht überall mit
Asphalt bedeckt war. Lange Girlanden bunter Wäsche hingen vor den Fenstern. Auch in der Wohnung, wo sie ungewohnt herzlich begrüßt auf niedrigen Kissen saßen, wirkte alles wie ein vorläufiges Arrangement afrikanischer Elemente mit europäischen. Bei einer Rundfahrt zeigte Leinenwebers Freund ihnen überall am Rand der Hauptstadt die rasch hochgezogenen Fabrikkomplexe. Seebaum war überrascht, in dem daheim als pfuistisch verschrienen Land die Firmentafeln der europäischen Konzerne zu finden und zu hören, daß das frühere »Mutterland«, gefolgt von Freiland, hier die meisten Fabriken baute. Kinder überall, junge Leute in Scharen, Handkarren und Fahrräder, staubige Busse – wie vergreist, wie steif und wohlhabend dagegen Europa in der Erinnerung! Nackte wasserlose Erde, Abfall und Staub: Der Schmutz war hier sichtbarer als in Freiland, wo er aus Betonrohren farbig und schaumig in den Flüssen verschwand oder aus sauberen Mülleimern hinter den staubfreien Siedlungen quoll. Noch war hier das Problem der Umweltzerstörung so fern wie Gewichtsprobleme für Hungernde. Am Abend fuhren sie ins Land und übernachteten auf dem Fußboden eines europäischen Kulturinstituts am Rand der Wüste. Sie standen vor Sonnenaufgang auf und suchten ein Kaffeehaus. In einem großen orangerot getünchten Hohlwürfel hing hoch oben eine alte Pendeluhr, in einer Ecke türmten sich zertrümmerte Stühle. An den Wänden saßen schlaftrunken die Einheimischen und tauchten Brotstücke in den Kaffee, an dem sie in der bitteren Morgenkälte die Finger wärmten. Ihre Gesichter verschwanden in den großen dreieckigen Kapuzen der bodenlangen Gewänder. Leinenweber sagte, es sei nicht selbstverständlich für ein Volk von Hirten und Nomaden, tagtäglich nach der Uhr aufzustehen und sich dem Rhythmus der Fabrikarbeit zu fügen.
Südwärts aus der Ortschaft in die Wüste fahrend trafen sie mehrmals auf Gruppen von Kindern mit Schultaschen, auch sie Anzeichen einer mühsamen, gewaltigen Umwälzung, in der mächtige Traditionen durch das Lernen von Lesen und Schreiben gebrochen wurden. Seebaum fiel ein, wie ihn bei der Ankunft mehrere Passagiere gebeten hatten, die Einreisepapiere für sie auszufüllen. Viele hatten sich vor Tischen gedrängt, wo Schreibkundige ihnen für Geld dabei halfen. Ein Beamter hatte kurz darauf mit Seebaums Berufsbezeichnung »Reporter« nichts anfangen können und sich erst zufrieden gegeben, als Seebaum sich »öffentlicher Schreiber« nannte, einer der für andere schreibt, die es noch nicht können. Später, schon in der Wüste, ging die Sonne auf. Die Straße lief als gerader Strich in den Horizont, daneben eine schrumpfende Folge von Telegrafenmasten, deren durchhängende Drähte in die Sanddünen tauchten. Oben der weiße Himmel, unten Gelb, Rosa, Ziegelrot. Weil Seebaums Augen an die Widerstandslosigkeit der Aussicht nicht gewohnt waren, klammerten sie sich immer an ein paar Steine und Gräser ganz in der Nähe und stürzten dann sofort in eine Ferne ohne Unterschiede, die wie der Rundhorizont eines Museumspanoramas gemalt aussah. Nachts lagen sie plaudernd in den Schlafsäcken unter Palmen, oben ein flutlichtgreller Vollmond, aus einem Gehöft Chöre aufgeschreckter Hunde. Erstaunt hatten Seebaum die einzelnen Fußgänger, die immer wieder mitten in der Wüste an der Straße auftauchten, in flatternden weiten Tüchern, rasch und entschlossen unterwegs. Oder ein Moped auf einem Steinhügel, ein andermal ein Kamel mit hoch erhobenem Kopf auf dem Gipfel einer Düne. Vor dem Einschlafen und zum Abschluß eines Gesprächs sagte Leinenweber: »Du siehst, wie hier die Naturwelt noch
anders daliegt als in Europa. Dort ist sie schon restlos eingegliedert in den Produktionsprozeß, nur noch ein schutzbedürftiges Reservat zur Erholung der Arbeitskraft, ein Teil der Nahrungsmittelkette und ein Reservoir für Rohstoffe. Hier ist sie wirklich noch weitgehend unbeherrscht, die Menschen in der Wüste überleben durch geschickte Anpassung an ihre Übermacht. Aber auch das ist schon Vergangenheit. Schon gibt es Pläne, den wandernden Sand zu fixieren, aus der Tiefe Wasser und Mineralien zu holen. Bald wird die Wüste eine gestaltete Zone sein, ein Sandkasten in einem Park.« Auf der Rückfahrt blieb von dem Land eine erregte Offenheit übrig, Zutrauen zur Gastfreundschaft aller Menschen. Wie in der frühen Jugend lag die Welt als gleichmäßig interessante Reiselandschaft zu Füßen, bereit, auf alle Wünsche einzugehen. Leinenweber und Seebaum führten lange Gespräche. Beide hatten sich ein bewegliches Leben vorgenommen, wollten der Seßhaftigkeit entgehen, vor allem nicht gleich eine Familie gründen. Dieser Wunsch war unter den Studenten allgemein verbreitet gewesen: Die Mediziner wollten als Schiffsärzte die Welt bereisen, die Naturwissenschaftler auf jeden Fall ins Ausland gehen. Leinenweber hatte sich um Jobs in Entwicklungsländern bemüht und war in Afrika und Kleinasien schon viel herumgekommen. Obwohl viele, die längst mit Frau und Kind in Freiland festsaßen, Leinenweber beneideten, war er mit seiner Existenz nicht glücklich. Die Exotik der fernen Länder verschliß, wenn man in ihnen einer prosaischen Beschäftigung nachging, zum Beispiel Wasser suchte, sie wurde sogar die Kulisse der schmerzlichsten Vereinsamung. Mühsam über Sprach- und Konventionsbarrieren hinweg geschlossene Kontakte mußten nach ein paar Monaten wieder aufgegeben werden, man zog in ein anderes Land und mußte von vorn beginnen. Nie blieb man
lang genug in einem Land, um aufzuhören, ein Fremdling zu sein. Darum spielte sich vor dauernd wechselndem Hintergrund die immer gleiche Geschichte ab: triste Hotelzimmer, ziellose Spaziergänge durch unbekannte Viertel, ergebnislose Suche nach Frauen, die viel schwerer zugänglich waren als in Europa. Leinenweber gestand, längst sehne er sich nach einem dauernden Verhältnis zu einer Frau in Freiland, würde jederzeit dort Arbeit annehmen, wenn dies nicht in seinem Fach wegen des Überangebots an Wissenschaftlern so schwer wäre. Eine richtige Familie, Heirat und Kinder, das konnte er sich noch nicht vorstellen, aber er wünschte sich, wenn er abends von der Arbeit kam, eine Freundin und ein paar Bekannte, die man anrufen konnte. Seebaum erzählte, wie er von zu Hause aufgebrochen war, um der vorgezeichneten Laufbahn zu entgehen, und war doch schnurstracks wegen einer bestimmten Frau nach Bronnen gezogen und mit Haut und Haaren von einem Beruf verschluckt worden. Heimtückische Konstruktion, die einen entweder ganz isolierte oder paarweise in die Kleinfamilie zwang; als hätte man nur die Wahl zwischen einer Isolation allein oder zu zweit! Er würde nur in einer Wohngemeinschaft leben wollen, erwiderte Leinenweber. Darauf erzählte Seebaum von Annas Schwierigkeiten, als Berufstätige am Leben in der Wohngemeinschaft teilzunehmen. Auch er selbst bemerke, seit er viel zu tun habe, wie er den Kontakt zu den Mitbewohnern, ja sogar zu Anna, verliere. »Schrecklich«, rief Leinenweber, »dann wärst du auch nicht besser dran als ich? Es muß doch einen Ausweg geben!« Die Wurzel des Übels war offenbar der grenzenlos fordernde Beruf, der einen auf ein Arbeitstier reduzierte, das sich abends vorm Fernseher verkroch. »Wenn das so ist, fahre ich lieber noch ein paar Jahre in der Welt
herum«, sagte Leinenweber, traurig wie der Fliegende Holländer. Am Rand von Seebaums Geburtsstadt trennten sie sich, Seebaum winkte dem Wagen nach, bis er auf der Autobahn zwischen Fernlastern verschwand. Ein Autofahrer hielt an und nahm ihn ins Stadtzentrum mit; dort stieg er in die U-Bahn zu dem Vorort, wo das Haus der Eltern stand. Gleich am Ausgang des U-Bahnschachts wurde Seebaum von einem Mann in weißem Overall festgehalten: Hier sei alles evakuiert, die Häuser würden geschleift, der Boden abgetragen. Über die Schulter des Mannes sah Seebaum Bauzäune, Erdwälle, Baufahrzeuge, Ziegeltürme und Hausruinen; das lag im harten Sonnenlicht wie ein Werk der zeitgenössischen Kunst. Aber hier sei er doch aufgewachsen, rief Seebaum, seine Eltern lebten hier! Der Mann antwortete, hier lebe niemand mehr. Er zeigte auf Gruppen weißer Figuren, die Maschinen bedienten oder auf Asphaltschollen ausruhten: »Du siehst doch, was los ist.« Dann nannte er Seebaum die Adresse des Verwaltungshauses, dort sei alles zu erfahren. Seebaum stieg zurück unter die Erde und fuhr eine Station weiter. Hier, gleich nebenan, sah alles normal aus. Vielleicht waren mehr Polizisten auf den Straßen unterwegs als sonst. Im städtischen Bürogebäude war zunächst auch nichts Auffälliges zu sehen, aber am Informationsschalter wurde er, nach einem Blick in sein Gesicht, sofort, noch bevor er fragen konnte, über einen Hof in einen Anbau geschickt. In den Gängen einer provisorischen Baracke herrschte unheimliches Gedränge. Gerade als Seebaum sich hineinzwängte, fiel eine Frau wegen der stickigen Luft in Ohnmacht. Andere packten sie unter den Armen und schrien in die offene Tür eines Bürozimmers. Die Tür wurde von innen
zugeknallt, die Menschen johlten. Seebaum half, die Frau vor die Baracke zu tragen und stand betäubt bei ihr, bis Sanitäter mit einer Bahre kamen. Sie ächzte »Mein Haus, mein Haus!« und tupfte mit dem Taschentuch die nassen Haare in der Stirn. Dann wollte Seebaum sich zu irgendeiner Tür vorarbeiten, um endlich etwas über seine Eltern zu erfahren. Die kleine Meldung über die Vergiftung eines Stadtteils war doch vor Monaten in Bronnen zu lesen gewesen! Seitdem herrschte hier dieses Chaos? Wo waren die Eltern? Man ließ ihn nicht vor, hielt ihn fest und lachte über seine Sorge. Sofort überboten ihn mehrere mit ihren Problemen. Manche hatten seit Wochen keine Wohnung, schliefen bei Bekannten auf dem Boden; andere hatten durch die Schließung aller Betriebe im Stadtteil die Arbeit verloren und verlangten Geld. In welche Schule sollten die Kinder gehen? Was sollten sie tagsüber machen, wenn es keine Kindergärten gab? Allmählich begriff Seebaum, daß dies bereits die zweite, schlimmere Vergiftungswelle war. Vor Monaten war erstmals Gift in Boden und Wasser entdeckt worden, man hatte eine Teilevakuierung verfügt, sie aber nur halbherzig durchgesetzt und angesichts der unlösbaren Probleme, ein ganzes Viertel neu anzusiedeln, bald ganz aufgegeben; zugleich war ein Rückgang der Vergiftung bekanntgegeben worden. Doch jetzt, vor zwei Tagen erst, hatte sich alles viel bösartiger wiederholt. Die Menschen waren außer sich, die Behörden und Politiker hatten ihr Prestige verloren, es gab Plünderungen und Schlägereien mit Polizisten, jeder wurde bedroht, der im Verdacht stand, Verantwortung zu tragen. Gerade traten wütende Bürger die Tür eines Büros ein, drangen in die Zimmer und verlangten brüllend die sofortige Lösung ihrer Probleme. Drinnen drohte jemand mit überkippter Stimme, er werde die Polizei rufen. Das löste einen Aufschrei der Wut aus; noch mehr Leute stürmten die
Büros und schienen auf jemand einzuschlagen. Seebaum wurde es übel, er mußte sofort an die Luft. Hier konnte er nichts erfahren. Aber wohin jetzt? Diese Ruhe auf den Straßen! Blauer Himmel, leichter Wind, kein Giftgeruch, kein Dunst. Die Passanten sahen nicht kränker und unglücklicher aus als an jedem anderen Tag. Noch war das Chaos unter Kontrolle, hinter einem Zaun und in einer Baracke. Wo waren die Eltern? Was war aus dem Haus geworden? Er ging rasch, aber eigentlich ziel- und zwecklos oberhalb der U-Bahnlinie zurück. Am Eingang des Sperrgebiets zeigte er seinen Presseausweis und wurde zugleich mit einer Truppe von Technikern oder Wissenschaftlern eingelassen. Er mußte einen weißen Kittel überziehen, jemand hängte ihm eine Atemschutzmaske um den Hals. Als wäre der Krieg ausgebrochen, dachte Seebaum. Und wirklich fuhr hinter einem flachgewalzten Feld aus Schutt und Blech ein Tank durch die Reste eines Kinderspielplatzes; eine Rutschbahn aus Kunststoff flatterte hinter den Raupen durch die Luft. Feldgraue Gruppen schaufelten langsam in künstlichen Hügeln; auf Tümpeln schillernde Ölhäute; Bulldozer reckten stumpfsinnig die Schaufeln hoch und entleerten sich in gutmütig bebende Laster. Ein Weißkittel lief und schrie. Jemand bückte sich und ließ etwas erdiges Regenwasser in ein Glasröhrchen laufen. Ein Brillenträger und Pfeifenraucher notierte breitbeinig etwas auf flatternden Blättern. Allmählich näherte Seebaum sich dem Kindheitsort. Da war der unversehrte Zeitungskiosk; da stand als letzter Rest der Straßenecke, auf die er aus dem Fenster des Elternhauses jahrelang Blicke geworfen hatte, in den leeren Stunden der Nachmittage, wenn er auf das Ende der Langeweile gewartet hatte als ein Wunder, das auf der Straße heranfährt und vorm
Haus hält, nichts mehr als ein verbogener Ampelmast! Alles weg! Seebaum fing an zu laufen. Jetzt stand er vorm Haus: eine plattgewalzte Fläche, Grasreste, Betonbrocken, Glassplitter; erst am Horizont zitterten die Ziegelhäuser des Nachbarviertels in der freundlichen Sonne. Fort waren die Winkel und Schatten der Kinderzeit, die Stiche an der geschwungenen Wand des Stiegenhauses, weg war der Dachboden, wo Mathäus an heißen Nachmittagen in den Bücherkisten gegraben hatte. Die Kindheit war weg, und er krümmte sich, als hätte man ihn in den Bauch geschossen. Seebaum lief zu dem Mann zurück, der giftiges Wasser in Eprouvetten sammelte, und fragte einfach: »Wer hat das getan?« Der Mann stand auf, reckte sich und massierte den Rücken. Während er ein Röhrchen beschriftete und in einen Korb stellte, sagte er: »Lesen Sie keine Zeitung?« Seebaum erklärte, er komme gerade aus Afrika und könne die Eltern nirgends finden. Der andere nickte: »Seit Ende des Krieges hat ein Chemieunternehmen hier Abfall verschwinden lassen, dann machte es bankrott, und man hat Wohnhäuser gebaut. Seit vielen Jahren müssen hier die Leute vergiftet worden sein. Die Werte sind enorm. Wir wissen nicht, ob sie in der letzten Zeit durch ein Leck in der alten Mülldeponie hochgeschossen sind; vielleicht waren sie immer so hoch. Früher hat man das Wasser nie auf diese seltenen Gifte untersucht.« Seebaum hatte bei diesen Worten den Einfall, all seine Unruhe, seine Schwäche und Müdigkeit, die Dumpfheit in seinem Kopf, der jahrelange Streit mit den Eltern sei die Folge einer allmählichen Vergiftung. »Wird der Schuldige bestraft?« fragte er. Der Mann bückte sich, hob den Korb mit den Wasserproben und ging langsam auf einen Wagen zu. »Das Unternehmen gibt es längst nicht mehr. Die Stadtverwaltung
tut, was sie kann, um die Säuberung zu organisieren. Niemand hat Erfahrung mit Aktionen dieser Größe. Der Verursacher ist gestorben oder im Ausland.« Der Mann zuckte die Achseln und stieg in den Wagen. Aus dem Fenster sagte er: »Was hilft die Bestrafung jetzt noch? Man muß daraus lernen, das ist wichtig.« Seebaum lief stundenlang kreuz und quer durch die Wüste. Niemand kümmerte sich um ihn, er sah aus wie alle, die hier aufräumten. Immer wieder stieß er auf Menschen, die mit hängenden Armen zu Boden blickten, als wären sie vom Ausmaß der Aufgabe überwältigt. Ein Drittel des Geländes war von den Baggern in eine metertiefe Schlammgrube verwandelt worden. Man erklärte ihm, das Abtragen des Bodens sei wahrscheinlich sinnlos, weil das Gift sich mit dem Grundwasser verbreite. »Hier werden nie mehr Menschen wohnen«, sagte einer müde. Da war es schon Abend; zwei zufällig verschonte Kamine warfen lange Schatten gegen die Reste einer tapezierten Hauswand. Alles glühte in stumpfem Ziegelrot unter dem übergroßen Himmel. Die weißen Gestalten strebten langsam zum Ausgang des Sperrgebietes. Dort fragte Seebaum noch einmal nach den Eltern. Sie seien entweder in der Wohnwagensiedlung, die man den Evakuierten im Nachbarviertel zur Verfügung stellte, oder in den Zelten im Park des städtischen Krankenhauses. Seebaum fuhr im Taxi zum Krankenhaus. Er fragte bei der Aufnahme. Eine Schwester tippte in den Anstaltscomputer und las vom Schirm ab: »Trakt B 12, Zimmer 3433, das ist im dritten Stock. Sie folgen der grünen Farbe. Es ist keine Besuchszeit, aber versuchen Sie es trotzdem.« Sie lächelten einander an, Katastrophen machen hilfsbereit.
Die Mutter lag auf einem Feldbett mitten in einem voll belegten Krankenzimmer. Sie war hier die Jüngste. Alle dösten. Er schlich vorsichtig an ihr Bett und berührte ihre Finger. Sie öffnete langsam die Augen, strich sich über die Stirn und lächelte, zugleich begannen ihr Tränen über die Wangen zu laufen. Seebaum bemühte sich um ein heiteres Gesicht, aber auch er begann jetzt zu weinen, vor Wut. »Hast du den Vater besucht«, flüsterte sie. Er verneinte; »was fehlt dir?« flüsterte er. Sie wischte sich die Augen und verzog verächtlich den Mund: »Nichts Schlimmes. Das Herz vielleicht. Die Aufregung.« Eine Gruppe aus Ärzten und Schwestern stieß die Tür auf. Man winkte Seebaum, er solle das Zimmer verlassen. »Wo ist der Vater?« fragte er noch. »In einem Wohnwagen!« rief die Mutter laut und empört, nannte einen Straßennamen und fing wieder an zu weinen. Man zog ihn aus dem Zimmer, er winkte ihr über die Schultern und zwischen den Hinterköpfen. Dann schloß sich die Tür. Er fing an, durch den Gang zu laufen, mittendurch und immer schneller. Durch die zitternden Tränen sah er weiße Umrisse, die zur Seite sprangen. Dann machte er einen Bogen, lief gegen die Wand, fing sich mit beiden Händen ab und stampfte mit den Füßen in einem großen Blumentopf herum. Jemand schrie: »Schluß! Schluß! So macht ihr alles kaputt!« Das war er selber. Unter einem Auge spürte er einen brennenden Schmerz. Vor ihm stand ein Krankenpfleger und kühlte die Hand, indem er draufblies. »Komm, komm«, sagte der Pfleger keuchend, »du bist nicht der einzige, dem die Nerven durchgehen. Besser?« Seebaum nickte. Der Pfleger legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn zum Aufzug. Unterwegs begann Seebaum heftig zu schluchzen und konnte nicht weiter. Der Pfleger packte ihn fest unterm Arm, sah schon über die
Schulter, dort rief ihn jemand, und sagte immer nur: »Komm, komm.« Seebaum legte das nasse Gesicht auf die weiße Schulter, die nach frischer Wäsche und ein bißchen Zigarettenrauch duftete. Seine Beine waren so schwach, daß die Knie wie Zähne zusammenklapperten. Der Pfleger schrie über die Schulter: »Ja, ja, ihr seht doch, was los ist« und setzte Seebaum auf einen kalten Kunststoffstuhl. »Geh nur«, sagte Seebaum, »ich komme allein zurecht.« – »Wirklich?« Der Mann stand schon ganz schief, bereit zum Start. Seebaum gab durch ein Nicken das Signal, und der Krankenpfleger rannte davon in den immer kleiner werdenden Gang. Seebaum fröstelte, zog Nasenschleim auf und massierte die schmerzenden Innenseiten der Knie. Der Straßenname, den die Mutter gerufen hatte, war ihm entfallen. Warum war das linke Hosenbein innen so kalt? Als er aufsprang, stand in der Mulde des Stuhls eine kleine Pfütze. Breitbeinig wie ein Matrose, um sich den Oberschenkel nicht wundzureiben, ging Seebaum aus dem Krankenhaus. Es war ein gewöhnlicher Großstadtabend; in den Kneipen trank und lachte man; in der Zeitung stand außer einer beruhigenden Erklärung des Bürgermeisters nichts über das Unglück. Wenigstens der Standort der Wohnwagensiedlung wurde darin erwähnt. Seebaum warf die Zeitung einfach auf die Straße, und als man ihn mißbilligend ansah, streckte er die Zunge heraus. Dann stellte er sich an die Fenster eines Restaurants und sah sich das gemütliche Treiben an. Er schnitt Grimassen, bis ein Gast auf ihn aufmerksam wurde und die anderen anstieß. Da spuckte Seebaum gegen die Scheibe, hob die Faust, lachte und ging weiter. Im Taxi sang er laut. Der Fahrer, dem das auf die Nerven ging, wollte ihn durch Fragen zum Schweigen bringen: »Gehören Sie auch zu den Vergifteten?« So nannten sie das
hier! Seebaum sang weiter. Der Fahrer hielt am Rand einer Erholungswiese. Zwischen den Baumkronen hingen Girlanden schwacher Glühbirnen, wie für ein armseliges Volksfest. »He!« rief der Fahrer, »hier ist es! Oder wollen Sie es nur ansehen? Sogar aus anderen Städten kommen sie.« Seebaum summte nur vor sich hin, zahlte und ging auf die Bäume zu. Hinter ihm knirschten die Reifen im Kies. Auch hier Zäune und eine Baracke für das Kontrollpersonal. Hinter dem Mützenträger, der in Seebaums Paß blätterte und ihn mit dem Namen des Vaters in einem Notizbuch verglich, lehnte ein Karabiner. »Block 14, Nummer 342«, sagte der Beamte langsam, damit Seebaum mitschreiben konnte, »Sie gehen geradeaus bis zu den Latrinen, dann rechts. Die Blocknummern stehen auf Holztafeln.« Warum er bewaffnet sei, fragte Seebaum. Der Wächter hob die Mütze und rieb die verschwitzten Stirnfransen: »Jetzt ist es wieder ruhig. Was glaubst du, was hier los war. Die einen wollen rein, die anderen raus, die dritten wollen demonstrieren oder die Wohnwagen zerstören. Es gibt zu wenig Personal, keine Einsatzpläne, alles wird improvisiert, die Leute werden im Kreis geschickt. Ich habe noch nie so viele Nervenzusammenbrüche in zwei Tagen gesehen – unter unseren Leuten und erst recht da drin.« Er seufzte müde. »Abends ist es am ruhigsten. Aber mitten in der Nacht kanns losgehen. Irgendwo schreit einer, und sofort sind sie alle auf den Beinen. Hier lauert die Panik. Glaub mir, ich bin fertig.« Doch das Lager wirkte friedlich wie ein Campingplatz. Auf einem Wiesenfleck fuhren Kinder auf Fahrrädern im Kreis, an der Wasserstelle stand eine Schlange mit Plastikeimern, hinter der Latrine putzte sich jemand die Zähne, und hinter einem Baum flüsterten zwei Silhouetten. Aber im Vorbeigehen hörte
Seebaum eine weinerliche Stimme: »Wer sagt mir, daß dieses Wasser sauber ist? Ich habe ein kleines Kind!« Andere Stimmen fielen beruhigend ein und traten den Funken rasch aus. In den Wohnwagen saßen Familien beim Abendbrot, die Fernseher flackerten. Zwischen den Bäumen tuckerte ein Stromaggregat. Der Wind rauschte in den Kronen, die nackten Birnen glühten bräunlichrot. Seebaum verlangsamte den Schritt und holte tief Luft. Menschen hatten dieses Unglück verursacht, aber hier waren die Schuldigen nicht. »Block 14«, ein Schild mit dem Stempel der Stadtverwaltung. Dahinter wieder der Zaun und ein Uniformierter, der sich die Beine vertrat und den Ellbogen auf den umgehängten Karabiner stützte. Nummer 342 war ein kleiner weißer Wagen, zu dem eine schlecht gezimmerte Holztreppe hinaufführte; hinter den kleinen Vorhängen alles dunkel. Seebaum klopfte. »Wer ist da?« rief der Vater; was für eine schwache, schüchterne Stimme er hatte! »Mathäus«, antwortete Seebaum halblaut. Nebenan zog jemand den Vorhang zur Seite und sah herüber; ein Kind fing an zu weinen. Hinter der dünnen Blechwand schimpfte der Vater und rüttelte an der Tür. Dann flog sie nach draußen und stieß Seebaum von der Treppe. Auf der feuchten Wiese hockend sah er über sich den Vater im schwachen Schein einer Glühbirne. »Wer hat geklopft? Mathäus?« Mager und weißhaarig blinzelte der Vater über seinen Kopf weg, in dem fast schwarzen Gesicht glänzten die Augen. »Mathäus!« Er stand eine Stufe unter dem Vater auf der wackligen Treppe, fast hätte er ihn umarmt, dann nahm er nur seine Hand und drückte sie. »Hast du sie schon gesehen?« fragte der Vater zornig. Seebaum nickte; gebückt gingen sie in
den Wagen. Der Vater zündete auf dem Klapptisch eine Kerze an; er setzte sich, lächelte und holte vom Boden eine Flasche und zwei Gläser. Seine Hand zitterte stark, als er einschenkte. »Na, was sagst du dazu?« Sie erhoben die Gläser und tranken sich lächelnd zu. »Sie ist fast gestorben«, sagte der Vater, in ihm schien eine kalte, langmütige Empörung zu arbeiten. Dann richtete er sich auf, sein Kopf berührte fast die niedrige Decke: »Wochenlang nur Gerüchte und Unruhe, dann am frühen Morgen der Überfall. Plötzlich stehen sie mit Baufahrzeugen vorm Haus, helfen uns, alles auf einen Lastwagen heben, was drauf Platz hat. Auf einmal muß es ganz schnell gehen, nach den Jahren mit dem Gift überall, wie man jetzt weiß. Da ist sie zusammengebrochen. Du hast sehr gefehlt in diesem Augenblick.« Sie schwiegen. »Die Möbel und alles andere liegt in den Lagerhallen am Hafen«, sagte der Vater. »Gibt es eine Entschädigung? Ist das geregelt?« fragte Seebaum, er wollte den Vater aufmuntern. Der Vater lachte: »Entschädigung? Ja sicher. Wir werden eine Entschädigung bekommen.« Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Eine Entschädigung.« »Du bist sicher müde«, sagte er sanft, »wie ist es in Bronnen?« – »Ich komme aus Nordafrika«, antwortete Seebaum. »Ja«, flüsterte der Vater, »Afrika…« Er stützte den Kopf in die Hand und murmelte: »Geh zurück nach Afrika!« Seebaum lachte verständnislos. Der Vater richtete sich wieder auf: »Ja! Lauf weg, ehe es zu spät ist.« »Man kann nicht davonlaufen«, sagte Seebaum. »Dann tu etwas«, sagte der Vater, sein Zorn schien ihn aufzufressen, »wenn ihr nichts tut, dann war das nur der Anfang. Was für ein Glück wir gehabt haben!« Er lachte und trank voll Genuß, seine Zähne glänzten, als er mit der Zunge schnalzte. »Stell dir vor, was hätte geschehen können! Ein Viertel evakuiert, was
ist das schon. Ein Wunder, daß nicht ganze Städte geräumt werden. Noch kann man an manchen Küsten baden. Die Experten streiten gerade, wieviel Gift die Säuglinge in dieser Stadt mitbekommen.« Seebaum war die Erregung seines Vaters etwas peinlich; er sah aus dem Wohnwagenfenster zu dem Soldaten, der hinter dem Zaun auf und ab ging. »Dein Körper ist doch ein Teil der Natur«, sagte der Vater, »und dein Hirn ist ein Körperteil. Was soll aus dir werden, wenn die Natur vergiftet ist? Willst du warten, bis dein Kopf so krank ist, daß du keinen klaren Gedanken mehr fassen kannst? Bis du nichts mehr tun kannst gegen die Schweinerei?« »Nein«, lächelte Seebaum verlegen. »Wer weiß, ob es nur die Aufregung war«, der Vater lehnte sich an die Wand und verschmolz mit dem unruhigen Schatten der Kerze, »seit Jahren hat sie über diffuse Symptome geklagt, die Ärzte konnten nichts finden. All diese Jahre haben wir Gift geatmet, gegessen und getrunken. Wie lange ich noch lebe, ist mir gleich. Aber du? Um wieviele Jahre hat das Gift dein Leben verkürzt?« Draußen gab es einen dumpfen Knall, nach einer Weile erhoben sich erregte Stimmen. »Eine Sprengung der Räumkommandos«, murmelte der Vater, »oder ein Anschlag. Wir dürfen nichts wissen. Es soll keine Panik entstehen – und kein Widerstand. Wäre die Panik nicht besser als dieses stupide Warten auf die nächste Katastrophe?« Unter dem Gewicht der unbeantwortbaren Fragen ermüdete Seebaum. Er gähnte, bis ihm Tränen kamen. »Wasser ist knapp im Lager«, sagte sein Vater, »ich wasche mich nicht, die Zähne putze ich mit Wein. Da kannst du dich hinlegen, hier ist eine Decke. Zu essen kann ich dir nichts anbieten, ich habe noch keinen Stromanschluß für den Kühlschrank.« Seebaum legte sich hin und zog die Decke über den Kopf. Er hörte, wie
der Vater die Kerze ausblies und hustete; er atmete tief, als hätte er Schmerzen. In Seebaums Kopf wurde es strahlend hell. Wieder stand er auf dem aufgewühlten Grund, genau unter der Sonne. Der Boden knirschte in einem Fell von Eiskristallen. Geschickt balancierte die vordere Hälfte eines Hundes auf zwei Pfoten vorbei. Vögel kreisten über einem Müllberg, der von Pavianen wimmelte. Über dem Horizont erhob sich ein Gebirge aus roten Haaren. Ein bärtiges Gesicht erfüllte den halben Himmel; die Lippen schlossen sich um die Sonne, die Backen blähten sich. Die Sonne fuhr hinter Seebaum in die Erde, zugleich schoß vorn sein Schatten in die Höhe. Es war stockfinster. Ein Stuhl schob sich gegen seine Kniekehlen, ein Hut wurde ihm in die Stirn gedrückt, ein Tuch um die Schultern gelegt; ein bitterer Löffel drückte gegen seine Lippen. Seebaum drehte den Kopf einmal im Kreis und fiel um. Eine Schnauze kitzelte an seiner Wange, suchte weiter oben und biß zu. Mit einem Blitz platzte der Augapfel. Zuletzt noch das rasch verblassende Bild einer üppigen Landschaft, die sich hinter dem Ende eines Eisenbahnzugs eilig zusammenzog. Jemand schnaufte. Eine Hand drückte gegen seinen Unterleib und ließ Wasser in einen Eimer laufen. Im Morgengrauen ging Seebaum aus dem Lager in die Stadt und kaufte Essen für den Vater. Bei der Rückkehr sah er durchs Wagenfenster den Vater am Klapptisch sitzen, mit verwirrten Haaren, in den Anblick der abgeschnallten Armbanduhr versunken. Seebaum zerstörte dieses Bild, indem er gegen die weiche Scheibe schlug. Nach dem Frühstück fuhr er ins Krankenhaus. Das Notbett der Mutter stand auf dem Gang, sie schlief. Seebaum stand einige Minuten daneben, aber trotz des Lärms – es wurde aufgeräumt, Besucher kamen, ein Kamerateam stritt mit den Ärzten – wachte sie nicht auf; sicher hatte man ihr ein starkes
Schlafmittel gegeben. Seebaum bekam Angst, wieder die Beherrschung zu verlieren. Er strich einmal über das Leintuch neben ihrem nackten Fuß und wandte sich ab. Die Gänge barsten vor hastigen Menschen, wie leicht konnte in dem Durcheinander ein überzähliger schlafender Körper in einem Abstellraum vergessen werden. Aber in der Vorhalle traf Seebaum den Vater mit seiner Reisetasche; er wirkte frisch und kräftig. »Du kannst hier nichts tun«, sagte der Vater und drängte Seebaum die Tasche auf, »ich kümmere mich um sie. Fahr nach Bronnen. Was für ein Glück, daß du dort ein Leben angefangen hast.« Seebaum widersprach nicht, er fühlte sich vorzeitig entlassen. Sie schüttelten einander die Hand. Draußen winkte er noch einmal zurück; der Vater war verschwunden. Rasch entfernte Seebaum sich, wie einer, hinter dem nach jedem Schritt sofort alles verschwindet. Kurz darauf stand er vor dem Fahrkartenautomaten der Staatsbahn, wie hergezaubert, die Erinnerungen nicht überzeugender als Träume. Er warf die Scheine und Münzen in den Geldschlucker, der die Münzen wog und mit Bürsten betastete, die Scheine mit Rollen glattstrich, las und durchleuchtete. Er schrieb »Bronnen Hauptbahnhof« in die Maschine, und auf dem Bildschirm erschienen die Daten des nächsten Zuges. Er ging durch die Lichtsperre zur Rolltreppe und ließ sich zu den Bahnsteigen befördern. Ferngesteuerte Züge rollten aus den Rohren und öffneten zugleich alle Wagentüren. Seebaum schlug die Wartezeit vor einem öffentlichen Fernseher tot; im Zug schlief er sofort ein und erwachte erst an der freiländischen Grenze. Er wurde genau kontrolliert, die Zöllner waren von Bewaffneten begleitet; er komme aus Afrika? Was habe ihn im Nachbarland aufgehalten? Was führe ihn nach Freiland? Sie tippten Codeworte in die Kleincomputer
an ihren Hüften. Warum dieser Aufwand? Bei der letzten Einreise nach Freiland hatte er die Grenze nicht einmal bemerkt. Der Beamte lächelte. Im Nachbarland herrsche Unruhe, die solle ruhig dort bleiben; man habe im eigenen Land Probleme genug. Gegenüber saß ein wohlhabendes Ehepaar, das Seebaum nach dieser Szene mißtrauisch zu beobachten schien. Wie zu Seebaums Belehrung las der Herr seiner Gattin Meldungen aus der Zeitung vor: Im Nachbarland gebe es täglich Demonstrationen gegen die Chemiekonzerne. Das Parlament berate verschärfte Gesetze zum Schutz der Gewässer, die Industrie drohe mit Gewinneinbußen, Betriebsschließungen und Entlassungen. Auch in den großen Städten Freilands waren große Kundgebungen zu erwarten. An mehreren Punkten des Landes waren Deponien für radioaktiven und chemischen Müll besetzt worden. »Das ist international gesteuert«, bemerkte der Herr und warf auf Seebaum einen eindringlichen Blick. Der sah aus dem Fenster, wo Felder und Kuhherden vorbeiflogen. Der Schlaf hatte ihm gut getan und die Erlebnisse der letzten Tage so in Ordnung gebracht, daß er sie vorsichtig wachrufen konnte. Zuerst sah er nur Bilder: das eingeebnete Geburtsviertel, den Vater hinter der Kunststoffscheibe des Wohnwagens, die Mutter in chemischem Schlaf auf dem Krankenbett. Was folgt daraus? fragte er sich, was folgt daraus? Er holte das Notizbuch aus der Reisetasche. »Die Katastrophe. Versuche zu ihrer Bewältigung. Was sind das für Versuche? Eingrenzen und aus der Welt schaffen: Zäune um das befallene Gebiet, Informationssperre, Abtransport des vergifteten Bodens, der vergifteten Menschen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Was geschieht, solche
Katastrophen in Zukunft unmöglich zu machen? Eine Seite will die Kontrollen verschärfen, die andere versucht sich der Kontrolle zu entziehen. Wie kommt es zu diesem Räuber-undGendarm-Spiel? Die Hersteller der Güter nehmen Beschädigungen der Umwelt in Kauf, die die Käufer der Güter gefährden. Also läuft die Trennlinie zwischen Hersteller und Käufer? Was kann ein Käufer tun, um sich gegen den Hersteller zu wehren? Er kann den Kauf verweigern, den Konsum einschränken. Das ist genau die Position der meisten Umweltschützer. – Darauf sagt Anna: Das ist nichts anderes als die Drohung der Hersteller: Wenn ihr die Umwelt besser schützen wollt, werden wir die Produktion beschränken und damit euren Konsum.« Der Zug hielt; diese Stadt sah aus wie eine einzige Fabrik: Metalltürme, Kugeltanks, Wohnsilos. Rasch stiegen Menschen zu, die von der Arbeit kamen. Sie waren in Betrieben beschäftigt, die mit ihrem Abfall die Umwelt schädigten; in der Freizeit angelten sie Fische, die mit den Nebenprodukten ihrer eigenen Arbeit vergiftet waren. Welches Interesse konnten sie haben, vor sich selbst solche Gefahren zu verheimlichen? Aber nicht sie bestimmten die Informationspolitik; sie lasen Zeitungen und hörten Nachrichten, die andere gestalteten. Sie erfuhren aus ihren Betrieben, was die Unternehmensleitung mitteilte. Seebaum schrieb: »Man sagt: Die Hersteller, die Wirtschaft, die Industrie. Aber diese Begriffe umfassen zweierlei: diejenigen, die über die Arbeit bestimmen, und diejenigen, die sie ausführen. Die ersteren sind es, die das Umweltrisiko gegen die Produktionsziele aufwiegen: Die Größe ihrer Ziele bestimmt die Größe des Risikos, das sie in Kauf nehmen. Was ist ihr Ziel? Daß die investierten Gelder Gewinn bringen. Das ist für sie ein großes Ziel. Wie groß? Kennen sie eine obere Grenze des Gewinns? Nein. Dann kennen sie auch keine
Obergrenze des Risikos. Nur so weit das Risiko den Gewinn gefährdet, ist es für sie interessant. Es ist in ihren Überlegungen äußerlich; man muß es ihnen erst aufdrängen. – Also: Nicht zwischen Herstellern und Konsumenten läuft die Trennlinie der gegensätzlichen Interessen, sondern zwischen den Eigentümern und den Nichteigentümern der Produktion; die letzteren sind insgesamt zugleich Hersteller und Kunden. Nur von diesen ist die Abwägung von Produktion und Risiko im eigenen Interesse zu erwarten. Anna hat recht.« Zufrieden steckte Seebaum sein Notizbuch weg. Die Lösung der Frage, warum sein Vater jetzt in einem Wohnwagen leben mußte, lag nicht auf der Hand, sie war versteckt. Nur so war zu verstehen, warum solche Katastrophen immer wieder so überraschend kamen, und warum das Problem so offensichtlich und zugleich so unbeherrschbar war. Draußen drehten sich die Felder im Abendnebel, als fahre der Zug im Kreis um eine Scheibe. Gern hätte Seebaum verstanden, wie alles zusammenhing, in einem klaren, übersichtlichen Modell. Zum Beispiel im Bild der ganzen Erde als einer Fabrik! Das hatte für ihn nichts Schreckliches: ein künstlicher Organismus, den die Menschen bauen, um darin zu leben. Dieser Organismus wäre, bei aller Künstlichkeit, nicht unnatürlich, denn er funktionierte ja nach den Gesetzen der Natur und nach den Zielen der Menschen, die Naturwesen sind. Viel mehr als bisher mußte die Natur als Teil dieser planetaren Fabrik verstanden werden, nicht nur als Müllhalde, Lieferant von Rohstoff und Freizeitpark. Die Idee, eine längst nicht mehr unberührte Natur zu retten und zu schützen, unterschied sich kaum von der Gewohnheit, sie als ein vor den Fabriktoren liegendes Stofflager zu behandeln. Beidemal stellte man sich die Natur außerhalb der Fabrik vor. Noch einmal holte Seebaum sein Notizbuch heraus: »Die fabrizierte Natur – die natürliche Fabrik. Erst am Ende der
Arbeit vertragen sich Mensch und Natur wieder, als Arbeitsergebnis. Diese Arbeit ist aber falsch organisiert, der Arbeitsorganismus droht sich zu vergiften.« Als der Zug sich Bronnen näherte, kam Seebaum die Gegend ganz fremd vor. Feiner Regen fiel, Dunst lag auf den Hügeln. Alles war getränkt mit Feuchtigkeit, die Vegetation wucherte üppig, als müßte jede Hausmauer und Asphaltstraße immer wieder von Moos und Flechten freigebürstet werden. Gegen die nordafrikanischen Landschaften brüstete sich jeder freie Fleck mit seinem strotzenden Wasserreichtum. Seebaum kehrte abgemagert und braungebrannt heim, mit lockeren Schritten. Bronnen erschien wohlhabend und für eine Ewigkeit gemauert, sein Reichtum in Sauberkeit und Stabilität gut angelegt. Trotz der Werbeplakate und der bunten Verkehrszeichen wirkten die Straßen grau und ausgestorben. Alles Leben schien sich hinter den Fenstervorhängen zu verstecken, Menschen und Fahrzeuge beeilten sich, von den Straßen wegzukommen. Als sich an einer Ecke eine Menschengruppe zusammenscharte, konnte das nur ein Unglück bedeuten; zwei Fahrzeuge waren zusammengestoßen, man wartete stumm auf die Polizei. Der Verkehrsstrom zog laut und mächtig vorbei, sprühte Regenwasser gegen die Beine der Fußgänger. Mitten am Tag leuchteten die Scheinwerfer im nassen Halbdunkel. In der Wohnung traf Seebaum zuerst nur die Frau an, sie fütterte in der Küche ihre Kinder. Dann kamen der Student und der Lehrer gähnend aus ihren Zimmern; sie beklagten ihre Müdigkeit. Seit zwei Wochen regne es ununterbrochen, die Sonne gehe überhaupt nicht mehr auf, man säße tagsüber bei elektrischem Licht. Seebaum versuchte das blendende Licht in der Wüste zu beschreiben, das tobende Leben in den afrikanischen Städten, die Trockenheit und Armut. Er fragte, was sich in Bronnen inzwischen ereignet hatte.
Der Student sagte, er beneide Seebaum um seine Afrikareise, und wies auf einen Stapel Zeitungen, den er eigens für ihn aufgehoben hatte. Es sei nichts Besonderes geschehen. Ob man hier etwas von der Chemiekatastrophe im Nachbarland gehört habe, fragte Seebaum. Alle verneinten; sie hörten kaum noch hin, das sei alltäglich wie Verkehrsunfälle geworden, ohnedies kämen sie selten dazu, die Zeitung genauer zu lesen. Das herausragende Ereignis sei eine Fußballmeisterschaft gewesen, die hätten sie gemeinsam im Fernsehen verfolgt. Wie es Anna gehe? Die anderen zuckten die Achseln; man sähe sie kaum. Die Frau meinte, Anna sei gewiß nicht glücklich, wolle aber über ihre Probleme nicht reden und verschlafe jede freie Minute. Seebaum zog sich um und fuhr nach Gruhm zu Koll. »Ah, wieder zurück«, sagte Koll. Er wirkte unlustig und abgespannt. Seebaum fragte, ob er zugenommen habe. Koll antwortete, zum Wiegen habe er keine Zeit gehabt. Alles habe er allein schaffen müssen. Auf einmal raffte er sich auf und lächelte: »Da habe ich bemerkt, daß du schon eine Menge Arbeit übernommen hast. Es haben sogar Leute angerufen und wollten ausdrücklich dich sprechen! Auch eine junge Dame.« Das war die Tochter des Bleihüttendirektors, die Seebaum bei einer Keramikausstellung kennengelernt hatte. Koll deckte Seebaum sofort mit Arbeit ein. Der Wahlkampf hatte begonnen, die Parteien bedrängten die Zeitung mit Verlautbarungen, Volksfesten, Podiumsdiskussionen und Pressekonferenzen. »Die Zentraldirektion will dich haben«, sagte Koll, »immer gehen sie sparsam mit Anstellungen um, dann fehlen ihnen die Leute im Wahlkampf. Ich geb dich aber nicht her.« Seebaum fuhr gleich zu einer Veranstaltung der PFF. Unterwegs hielt er an einem Fernsprechautomaten und rief die Direktorstochter an. »Es eilt«, sagte sie, »haben Sie gleich
Zeit?« Seebaum verzichtete auf den Termin bei der PFF und traf das Mädchen im Vorraum des Rathauses. »Morgen gibt es eine Pressekonferenz der Bleihütte«, sagte sie, »man wird Zwischenergebnisse der Untersuchungen an den Schulkindern vorstellen.« Seebaum nickte; irgendwo in dem Stapel, den Koll ihm auf den Tisch gelegt hatte, lag die Einladung. »Von meinem Vater weiß ich, daß es nicht alle Ergebnisse sein werden«, sagte sie. »Vor einer Woche hat jemand von der Landesregierung das ganze Paket meinem Vater zugeschickt und ihm überlassen, passende Teile anzustreichen. Die anderen sollen unter Verschluß bleiben. Mein Vater findet diese Zusammenarbeit vorbildlich.« Seebaum fühlte, wie ihm heiß wurde. »Können Sie die Gesamtuntersuchung in die Finger kriegen«, fragte er. Sie verneinte. »Aber Sie können berichten, daß die Veröffentlichung unvollständig ist. Die offizielle Antwort weiß ich auch schon: Man will der Hütte Gelegenheit zur Einsicht und zu einer Gegenstellungnahme geben. Immerhin, wenigstens würde bekannt, daß wichtige Teile fehlen und erst nach der Wahl nachgereicht werden.« Seebaum bedankte sich. »Warum arbeiten Sie für ein Anzeigenblatt«, fragte er, als sie schon gehen wollte. Sie wurde verlegen: »Ich habe zu studieren angefangen und finde keinen Spaß daran. Ich will von den Eltern loskommen und selbst Geld verdienen.« Sie überlegte und sagte dann: »Ich möchte schreiben.« Sie lachten beide wie über eine Verrücktheit und trennten sich. Koll schüttelte den Kopf, als Seebaum aufgeregt berichtete. »Und was wird aus der PFFVeranstaltung? Wie erklären wir denen, daß morgen nichts über sie in der Zeitung steht? Im Wahlkampf sind die sehr empfindlich.«
Seebaum zeigte ihm die bunten Faltblätter, die er sich soeben im Parteibüro der PFF besorgt hatte: »Den Bericht schreibe ich dir schon. Aber was sagst du zu der Geschichte vom Gutachten?« Koll seufzte und streichelte seinen Bauch. »Nichts. Das mit dem Blei ist eine fixe Idee bei dir. Damit verbrennen wir uns nur die Finger, sofort haben wir alle gegen uns, die ganze Stadt ist auf den Beinen, und was hast du in der Hand? Nichts.« Seebaum senkte den Kopf, spannte ein Blatt in die Maschine und fing ohne Zögern an, von der Broschüre der PFF abzuschreiben. Koll schrie über das Knattern der Schreibmaschine »He!«, Seebaum sah auf und erwartete eine von Kolls Belehrungen: daß die Zeitung über Vorkommnisse zu berichten habe, nicht selber welche zu schaffen; daß ein Journalist sich nie auf Gerüchte und anonyme Hinweise einlassen dürfe. »Was ist los mit dir?« rief Koll gereizt, »in deinem Alter habe ich mir nicht alles gefallen lassen. Du rennst herum wie nach einem Schlag auf den Kopf. Alles machst du mit, nie sagst du deine Meinung. Man kann mit mir reden. Also: Was ist los?« Seebaum fing endlich an, von dem Giftunglück, das er miterlebt hatte, zu erzählen. Koll rieb sich häufig den Nasenflügel, als Seebaum immer aufgeregter wurde und nicht verschwieg, daß er im Krankenhaus auf dem Gang zusammengebrochen war. Es wurde still. Draußen huschten die Schatten von Autos und Menschen durch das violette Licht. Das Telefon klingelte, Koll legte nur den Hörer auf den Tisch, kam herüber und setzte sich neben Seebaums Maschine. »Ich hab doch gewußt, daß was los ist«, sagte er und legte Seebaum ganz kurz seine Hand auf die Schulter. Dann klopfte er ihm beruhigend auf den Hinterkopf. Seebaum fühlte Tränen
kommen und senkte verärgert den Kopf. »Du gehst morgen zur Pressekonferenz, ja?« sagte Koll fröhlich, »du schreibst fleißig mit und stellst gegen Ende deine Frage: Ob es stimmt, daß das nur ein Teil der Ergebnisse ist? Die Antwort schreibst du wieder brav auf, und das wird übermorgen in der Zeitung stehen.« Seebaum schneuzte sich und drehte den Kopf weg. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, erklärte Koll: »Wenn sie klug sind, antworten sie einfach ›Nein‹. Irgendwann nach der Wahl kommt das Gegenteil heraus, dann schieben sie die Schuld zwischen sich und der Landesregierung hin und her, bis sie verschwunden ist. Oder sie sagen ›Ja‹ und versuchen Gründe zu nennen. Dann hast du, was du wolltest. Einverstanden?« Seebaum nickte mit abgewandtem Gesicht. Koll ging an seinen Tisch zurück und legte das Telefon auf. Seebaum fuhr fort, die Wahlkampfparolen der PFF abzuschreiben. Seebaums Frage auf der Pressekonferenz der Bleihütte sollte überraschende Wirkung zeigen, vor allem für ihn selbst. Nach einer Führung durchs Werk, wobei mehrfach auf die verbesserten Luftfilter hingewiesen worden war, nahm man in einem Konferenzraum Platz. In Vitrinen standen chinesische Vasen und moderne Keramikteller. Man reichte Kaffee und Gebäck. Seebaum erinnerte sich an die spöttischen und skeptischen Gesichter der Bleiarbeiter, die den Durchmarsch der kleinen Reportergruppe beobachtet hatten. An einen von ihnen war der Direktor freundlich herangetreten und hatte nach seinem Befinden gefragt. Mit verlegenen Seitenblicken zu den Kollegen, die grinsend zusahen, hatte dieser ältere Arbeiter versichert, alles sei in Ordnung. Der Direktor hatte nichts von der bemühten Leutseligkeit des Vorgesetzten, die den Abstand zu den Untergebenen gerade durch den Versuch der augenblicklichen Überwindung deutlich macht: Er fragte ruhig und sicher, es war das Natürlichste von der Welt, daß er über
den Arbeitern stand, ihre Arbeit beaufsichtigte und sie Besuchern vorführte. Gemäß seiner sozialen Herkunft, die ihn zum Angestellten und keinesfalls zum Produktionsarbeiter bestimmte, kannte Seebaum Fabrikhallen nur als Besucher. Während eines Jahres im zweitgrößten Chemiekonzern Freilands hatte er als Laborant häufig mit den Arbeitern zu tun gehabt, wenn er Proben der hergestellten Substanzen abholen kam. Die chemischen Prozesse des Mischens, Erhitzens oder Filterns geschahen hier in turmhohen Kesseln, in Bottichen und Bassins. Ihn hatte erstaunt, daß kein Arbeiter auch nur die Bezeichnung der wertvollen organischen Säuren wußte, die er herstellte, ganz zu schweigen vom Ablauf der chemischen Reaktionen. Die Arbeiter hatten nur ein praktisches Wissen, wie mit den heißen oder eiskalten, schwarzen oder hellbraunen, stinkenden oder giftigen, festen oder flüssigen Stoffen umzugehen war und welche Hähne man auf- und zudrehte, bis am Ende das Produkt in Holzfässern vor der Halle zum Abholen und Weiterverarbeiten gestapelt wurde. Seebaum, der Laborant, trat ihnen als einer der angestellten Aufpasser gegenüber, die ihre Arbeit, die man ihnen eigentlich nie erklärte, kontrollierten. Zuerst hatte Seebaum nur die Distanz der Arbeiter gespürt; sie kam in Witzen auf seine Kosten zutage, in denen sie ihr praktisches Wissen gegen seine theoretische Bildung ausspielten. Auch wußten sie, daß seine Tätigkeit im Vergleich zu ihrer sauberer, interessanter, ungefährlicher, weniger reglementiert und später einmal besser bezahlt war. Erst mit der Zeit hatte Seebaum an ihnen Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft gesehen, ihren Stolz auf ihr Können und ihren verschämten Neid auf sein Wissen um die Hintergründe ihrer Arbeit, die man ihnen vorenthielt. Seebaum hatte sich vor ihnen immer mehr geschämt. Bald nach diesem Jahr wechselte er das Studium.
Der Direktor ließ Pressemappen verteilen und begann daraus vorzulesen. Die Bleibelastung der Luft sei im Durchschnitt der letzten Jahre stetig gesunken, und im Boden sei keine Zunahme von Blei mehr festzustellen. Der Direktor nannte die Kosten der neuen Filteranlagen und stellte heraus, wie sie das Unternehmen belasteten. Doch die Verantwortung für die Umwelt habe da Vorrang, freilich nur bis an jene Grenze, wo die Rentabilität des Ganzen in Frage gestellt werde. Diese Grenze sei jetzt erreicht worden, doch fühle man sich durch die positiven Effekte der im Grunde unproduktiven Investitionen belohnt. Ob es noch Fragen gebe? Man sah auf die Uhren und schüttelte die Köpfe. Seebaum faßte sich ein Herz und hob die Hand. Atemlos aber deutlich formulierte er seine Frage: Das seien doch nur Zwischenergebnisse; seien der Unternehmensleitung schon darüber hinausgehende Ergebnisse bekannt? Die unschuldig klingende Frage, sie erschien Seebaum selbst ganz harmlos in der selbstsicheren, gediegenen Gesprächsatmosphäre, brachte den Direktor aus der Fassung. Während die anderen nicht einmal zuhörten, allmählich die Tassen leerten und die Papiere verstauten, erstarrte vor ihnen der Direktor und begann so leise zu antworten, daß er im Aufbruchsgemurmel fast nicht zu hören war. Doch er wurde schnell immer lauter. Die Zuhörer verstummten und sahen Seebaum erstaunt an. Freilich seien das Zwischenergebnisse, hatte der Direktor leise begonnen, denn das Bleiproblem werde Gruhm noch lange beschäftigen. Doch wenn jetzt gewisse Kreise glaubten, sagte er lauter, mit dem Hebel der modischen Umweltangst den Jahrhunderte alten Bergbau in Gruhm abzuwürgen, durch immer neu aufgezwungene Auflagen totfordern zu können, dann hätten die sich geschnitten! Heute maßten sich ja alle
möglichen selbsternannten Experten an, durch Gegengutachten die offiziellen Ergebnisse anzuzweifeln und öffentlich ins schiefe Licht zu setzen. Beschwichtigend zeigte Seebaum auf, als der Direktor seine Unterlagen ordnete, und sagte: Nicht Gegengutachten habe er gemeint, von denen habe er noch nichts gewußt, sondern offizielle Ergebnisse, die hier nicht vorgestellt worden seien. Der Direktor antwortete ungeduldig, er wisse zwar von der Existenz solcher Zusatzuntersuchungen, die in seinen Augen eben Gegengutachten darstellten, doch über ihren Inhalt nichts. Wie immer sie aussähen, sie könnten nichts daran ändern, daß die Kapazität der Hütte für Umweltschutzausgaben endgültig erschöpft sei. Nach ein paar abschließenden Worten des Direktors ging Seebaum unter den anderen zu Tür. Diese Reaktion konnte er sich nur so erklären: Die Tochter des Direktors mußte gedroht haben, die unterdrückten Daten bekannt zu machen. Der Direktor stand an der Tür und verabschiedete freundlich jeden einzelnen; er behandelte Seebaum wie alle anderen, warf ihm nur über dem Händeschütteln einen flüchtigen, abschätzenden Blick zu und erkundigte sich, für welche Zeitung er arbeite. In der Redaktion fing Seebaum aufgeregt zu erzählen an, aber Koll winkte ab: »Schreib, schreib! Es ist dein Artikel, ich geb ihn so weiter, wie du ihn schreibst.« Es wurde ein eleganter Bericht, der zunächst die positive Bilanz der Schutzmaßnahmen unterstrich, dann aber feststellte, zu weiteren Maßnahmen sei die Hütte nicht bereit, auch falls sie durch weitere, noch ausstehende Untersuchungsergebnisse dazu aufgefordert werden sollte. »Was für Gegengutachten hat er gemeint«, fragte Seebaum. Koll erzählte von einigen Studenten und jungen Wissenschaftlern, die auf eigene Faust Bodenproben untersucht hatten; vor allem nach Niederschlägen gaben sie
viel höhere Bleiwerte an als in den offiziellen Verlautbarungen. Ohne Widerrede rückte Koll die Anschrift eines dieser Gegengutachter heraus. Zwei Tage später teilte Koll mit, Seebaum sei zur Zentralredaktion in Bronnen überstellt worden. »Du kannst dir denken, wie mich das freut«, sagte Koll. Seebaum fragte, ob das etwas mit dem Artikel vom Vortag über das Blei zu tun haben könnte. »Worauf du einen lassen kannst«, antwortete Koll grob. »Sei froh, du bist im Augenblick unentbehrlich genug, daß der Chef dich aufwärts aus dem Verkehr zieht, statt dich zu feuern.« Koll lehnte sich zurück, strich sich den Bauch und grinste: »Und ich bin dich endlich los. Was ich mir deinetwegen anhören muß! Lieber arbeite ich für zwei und habe dabei meine Ruhe.« Seebaum dachte nach, dann sagte er: »Koll, du bist ein Gauner. Du hast mich ein einziges Mal genau das machen lassen, was ich will, und dabei gewußt, daß ich dann von hier weg bin.« Koll wurde ernst: »Sei nicht frech zu einem alten Redakteur.« Dann grinste er wieder. »Du siehst: Manchmal wird man für unangenehme Berichte befördert statt zu fliegen. Meinen Glückwunsch. Ein bißchen mehr zahlen werden sie dir auch. Du wirst fest angestellt in Bronnen.« Beim Abschied dachte Seebaum immer noch darüber nach, ob Koll ihn hereingelegt hatte. Er sagte »Auf Wiedersehen« in dem Glauben, der Kontakt zu Koll werde nicht abreißen. Aber schon nach wenigen Tagen hatten sie einander fast vergessen. Wenn sie sich später zufällig trafen, riefen sie nichtssagend »Hallo!« wie Leute, die nicht mehr wissen, woher sie einander kennen sollen. Die Gehaltsaufbesserung und die regelmäßigen Einzahlungen für Krankenkasse und Rente beruhigten Seebaums Angst vor
der Zukunft ein wenig. Er hatte sich verbessert, war gegen den Strom hinaufgeschwommen; der Strom wusch den Wert des Geldes aus und trieb den täglichen Mist an; hinter dem privaten Wehr eines monatlich nachgefüllten Kontos duckte sich Seebaum. Die alltäglichen Hiobsnachrichten wurden beiseite geschoben, nach hinten verdrängt. Wieder einmal hatten die großen Mächte die Rüstungsausgaben erhöht, den Frieden beschworen, während sterbenskranke Flüchtlingsströme durch die Kriegsgebiete in den Hungerkontinenten irrten. Die freiländischen Medien gaben der PFUIstischen Weltmacht die Schuld an den »Spannungen«, doch schien die Wahrheit den gewöhnlichen Menschen so unerreichbar, daß die meisten die Welt für unbegreiflich hielten. So vorsichtig geduckt schienen rundum alle zu leben, sie beschränkten sich auf Überlegungen zum Privatleben und schoben den Rest in den Himmel ab, wo die Gelder, die Nahrungsmittel und die Armeen wie Wetterfronten hin und her trieben. Alle halben Jahre plärrten probeweise die Sirenen des Zivilschutzes; dann verstummten die Gespräche, die Passanten gingen schneller, verlegen lächelnd oder nachsichtig die Köpfe schüttelnd. Ein älterer Kollege aus der Zentralredaktion lud Seebaum zu sich ein und zeigte ihm eine große Stahlkugel, die er gerade in den umgegrabenen Garten seines Eigenheims versenken ließ: ein bombensicherer Bunker für die Familie; zwei Wochen hielt man darin aus, »dann ist die harte Strahlung abgeklungen«. Seebaum arbeitete jetzt in einem modernen Hochhaus am Rande Bronnens. Rundum lagen Markthallen, Lagerräume und junge Firmen für elektrisches Gerät. Die flach bebaute Erde war bis zum Horizont betongrau, mit weißen Leitlinien für den Autoverkehr und grünen Grasstreifen als Einfassung der
Parkfelder. Im Büro standen fünf Schreibtische und fünf Telefone. Hinter einer Wand aus gerauhtem Glas liefen verwischte Gestalten vorbei. Man schonte den Neuen, gab ihm Aufträge für längere Stimmungsberichte und Episoden aus der Lokalgeschichte, über Nachwuchs im Zoo und eine Serie ›Brunnen in Bronnen‹. Er redigierte Leserbriefe, stellte die Seiten der Wochenendbeilage aus fertigem Material zusammen; spezielle Agenturen boten Witze, Kurzgeschichten, Aussprüche der Stars, Anekdoten und Lebensweisheiten an, aus denen Seebaum die Lektüre für den Samstagmorgen arrangierte. Daheim versuchte er, seine Reportage über das Blei in Gruhm fortzusetzen und begann einen Bericht über den Besuch eines Bergwerks. Seit dem Wiedersehen mit den Eltern sammelte er Berichte über Unfälle mit chemischem oder radioaktivem Müll. Fast immer dieselbe Geschichte: Nach Jahren wurde eine chronische Vergiftung von Wasser und Boden zufällig entdeckt; dann erhob sich ein Streit, wer die Schuld und die Kosten zu tragen habe; der Müll wurde besser vergraben oder ein Abwasserrohr stillgelegt. Die vorbeugenden Maßnahmen blieben stets hinter der Gefahr zurück; ein Gesetz zum Schutz des Wassers, ein anderes zur Erfassung und Kontrolle chemischer Gifte lag vor, wurde aber so abgeschwächt, daß es nicht greifen konnte. Das Chemieunternehmen, in dem Seebaum früher gearbeitet hatte, war mehrmals ertappt worden, wie es Gifte an den eigenen Kläranlagen vorbei in den größten und stark verschmutzten Fluß Freilands leitete; das Unternehmen drohte mit Entlassungen, wenn es gehindert werde, sein Gift in der gewohnten Weise loszuwerden. Dasselbe Unternehmen hatte hohe Beamte der staatlichen Kontrollbehörde bestochen und sich deren Untersuchungsergebnisse zuspielen lassen, um darauf Einfluß zu nehmen. Die Verwaltung einer
freiländischen Großstadt war überführt worden, seit einem Jahrzehnt Giftschlamm ungeklärt in den Fluß zu leiten; sie rechtfertigte sich mit ihrer Finanznot. Für das zentrale Abfallager aller Kernkraftwerke Freilands war ein Standort an der Grenze des Landes bestimmt worden, noch bevor seine Brauchbarkeit durch Probebohrungen bewiesen war; da keine anderen Standorte geprüft werden sollten, lag der Verdacht nah, die Bohrungen sollten den einzigen Standort in jedem Fall bestätigen; Zweifel an der geologischen Sicherheit dieses Standorts führten nicht zu anderen Vorschlägen, sondern nur zu Polizeieinsätzen gegen Umweltschützer, die den Standort besetzt hatten. Eines Tages landete ein Leserbrief auf Seebaums Tisch, der ihn zu seinem Mantel und aus der Redaktion jagte. »Ich bin weg«, sagte er noch und kam zwei Wochen nicht wieder. Es war ein handgeschriebener Brief in altmodischer Tintenschrift; die Sekretärin hatte den Umschlag mit der Anschrift des Absenders wie üblich mit einer Büroklammer an die entfalteten Blätter geheftet. Die Regenfälle der letzten Wochen hätten vor allem für die alten Leute jeden Spaziergang durch Bronnen zu einem Hindernislauf gemacht, begann der Brief. Überall stünden Pfützen und Teiche, über die ein junger Mensch elegant hinwegspringen könne, ein alter müsse durchwaten. Dieser Übelstand sei öffentlich anzuprangern. Dann nannte der Briefschreiber einige Beispiele dafür, wie die Stadt es den alten Menschen verleide, auf die Straße zu gehen. Die Grünphasen der Fußgängerampel seien so kurz, daß man mitten auf dem Zebrastreifen vom Verkehr überrascht werde und das Leben von der Geistesgegenwart der sich im Recht fühlenden Autofahrer abhinge. Schon beim ersten Lesen strich Seebaum in dem Brief herum, um ihn unter der Überschrift ›Bronnen‹ nicht altersgerecht auf
der Briefseite einzurücken. Bei den letzten Sätzen, wo der Schreiber eine andere Beobachtung mitteilte, stutzte er. »Der Weg zu meinem Bäckerladen führt mich jeden Morgen an dem Bauzaun um das Gelände der ehemaligen Firma Stift & Langmann vorbei. Durch sintflutartige Regengüsse hat sich die Baugrube mit Wasser gefüllt, wie man durch Ritzen im Zaun beobachten kann, ihre gelbe Farbe macht mich besorgt. Ich bin darauf aufmerksam geworden, weil dieses farbige Wasser auf dem Gehsteig einen unüberwindlichen See bildet, der mich zwingt, auf die Fahrbahn auszuweichen, mit allen daraus folgenden Gefahren für Leib und Leben. Als alter Bronnener weiß ich, daß Stift & Langmann im Weltkrieg kriegswichtige Stoffe herstellten und nach dem Krieg Farben und Lacke. Eine Probe des gelben Wassers habe ich an das Chemische Institut der Hochschule gesandt, warte aber noch auf die Antwort. Auch die Stadtverwaltung hat mir bisher nicht einmal den Eingang meines warnenden Schreibens bestätigt.« Seebaum fuhr sofort zur Adresse des Absenders. Der Rentner wurde vor Freude ganz aufgeregt, als Seebaum sich als Reporter des ›Bronnen-Kurier‹ vorstellte. Er räumte Blumentöpfe vom Fensterbrett, öffnete einen Flügel und zeigte Seebaum die Baugrube von oben. Das war die Baustelle, auf der Seebaum seine erste Nacht in Bronnen verbracht hatte! Den Mantel mit den gelben Flecken hatte er längst wegwerfen müssen, weil sie nicht auszuwaschen waren. Der Anblick war etwas enttäuschend; nach der Schilderung im Brief hatte er einen zusammenhängenden Teich erwartet, von grellgelber Giftfarbe. Doch auf dem Gelände standen nur einige, freilich ziemlich groß und tief wirkende Lachen; sie waren trüb und lehmgelb. Ein Pumpwagen tauchte seinen Rüssel in ein gemauertes Loch und dröhnte. Tankwagen standen daneben.
»Damit haben sie vor drei Tagen angefangen«, erklärte der Rentner und bat, das Fenster wieder schließen zu dürfen, er könne sich keine Erkältung leisten. »Über Nacht waren die Pumpen und Tanker da.« Er drohte mit dem Finger durch die Vorhänge: »Schlechtes Gewissen haben sie, Angst haben sie bekommen, weil ich Briefe geschrieben habe.« Wer von den Briefen überhaupt wisse, fragte Seebaum. »Ein paar Chemiker von der Hochschule, die Verwaltung und Sie«, antwortete stolz der Rentner, »und der Herr Stift auch. Den hab ich angerufen.« Er kenne Herrn Stift? Wohne der hier in Bronnen? »Nicht persönlich«, lächelte der alte Mann und klopfte mit einem hornigen Fingernagel an ein Aquarium voll winziger roter Fische, »wir haben uns immer in anderen Kreisen bewegt, ich und Herr Stift.« Er lachte, Seebaum wußte nicht, worüber. »Ich war im Krieg bei Stift & Langmann«, sagte der Rentner, »aber den Herrn Stift kenne ich nur von Bildern; er war viel unterwegs.« Wo wohne er jetzt? Der Rentner antwortete, Stift stehe nicht im Telefonbuch, und lächelte. Seebaum hatte den Verdacht, der Alte wolle die Adresse nur gegen Geld herausrücken. »Sie können sie haben«, sagte der Rentner, »aber nur, wenn Sie hoch und heilig versprechen, mich nicht hineinzuziehen. Ich habe ihm auch am Telefon meinen Namen nicht genannt. Ich hab in meinem Leben genug Schläge bekommen. Wer aufmuckt, zahlt immer nur drauf.« Es wurde still im Zimmer; man hörte nur das Summen der kleinen Wasserpumpe neben dem Aquarium. »Da«, der Alte hatte eine Anschrift auf den Umschlag einer Wasserrechnung geschrieben und streckte sie Seebaum hin wie ein wichtiges Geschenk, »heizen Sie dem Stift nur ein. Sie können ihm sowieso nichts anhaben. Aber wenn er nur eine Nacht schlecht schläft, solls mir recht sein.«
Immerhin, wenigstens lasse Stift nun sein dreckiges Wasser abpumpen, oder nicht? Der Rentner schüttelte den Kopf: »Da merkt man, Sie sind ein junger Mensch. Das hats bei uns noch nie gegeben, daß so einer aufräumt, wenn er fertig ist. Das läuft anders. Stift läßt seine Klitsche dreißig Jahre laufen, mit den Maschinen der Kriegsfirma als Startkapital, den Abfall pumpt er in den Boden oder stapelt ihn im Keller. Dann kommen die neuen Gesetze, die ihm das verbieten. Er droht mit Schließung. Die Stadt drückt ein Auge zu. Dann entsteht neuer Druck; es heißt, die Gesetze sollen verschärft werden. Stift verliert die Lust. Außerdem kann er sich ausrechnen, daß seine Bude gegen die Chemiegiganten langfristig keine Chance hat. Er sperrt den Laden zu, zieht sich in seine Villa zurück, das Geld steckt er in Mietshäuser. Die Stadt bekommt das Grundstück verkauft und die Arbeitslosen geschenkt. Sie bezahlt die Pumpe da draußen. Stift hat damit nichts mehr zu tun. Er hat sich rechtzeitig abgesetzt.« Der Rentner seufzte. Seebaum starrte ins Aquarium; das flinke Hin und Her der Fische, die an den aufsteigenden Luftblasen naschten, beruhigte den Kopf wie der Blick in ein fließendes Wasser oder von einer Brücke auf die Autobahn. »Es wird Stunk geben, das ist klar«, sagte der Rentner, »aber Stift ist draußen.« Er machte die Bewegung des Händewaschens: »Er läßt die Stadt machen. Die kann sich mit dem Abfall und mit den Protesten herumschlagen. Sie bezahlt den Abtransport des Gifts mit unserem Geld.« Beide sahen stumm den Fischen zu, als wären diese zufälligen Bewegungen ein Sinnbild des Erzählten: eintönig, wiederkehrend, unangreifbar. Der alte Mann tippte Krümel aufs Wasser; einige Fische schnellten an die Oberfläche und huschten mit der Beute davon.
Stifts Haus lag in einem grünen Tal vor der Stadt – keine Prunkvilla, ein eher schlichter Bungalow neben anderen Eigenheimen an einer einspurigen Zufahrt. Unterwegs nahm Seebaum das »Presse«-Schild von der Windschutzscheibe. Stift war durch den Anruf des Rentners gewarnt, vielleicht auch durch jemand aus der Stadtverwaltung; es hatte wenig Sinn, sich als Reporter vorzustellen. Seebaum hielt ohne fertigen Plan vor dem Haus. Das Gartentor war unversperrt, er fand keine Klingel und ging weiter. Hinter dem Haus trat ein Mann hervor und verstellte ihm den Weg. Seebaum lächelte verbindlich; er wußte nicht, was er sagen sollte, und wartete auf den Eröffnungszug des anderen. Der Mann war etwa sechzig, das verrieten die glatt zurückgelegten weißen Haare, die altmodisch bequeme Hose, die an Trägern locker um den Bauch hing, und die ausgetrockneten Tränensäcke. Er wirkte straff und gesund, als triebe er Sport, arbeite viel im Garten und habe dadurch in letzter Zeit abgenommen. Den Kopf trug er aufrecht; ein richtiges Haupt mit sauber abgegrenzten kleinen Ohren und einer Hakennase. Darunter lagen bläuliche Lippen voll aber fest aufeinander. Das Kinn sprang vor. Der Mann war scharf rasiert, am Jochbein trocknete ein winziger Blutstropfen. Die hellblauen Augen waren gerötet wie bei einem Seemann. Der andere, ohne Zweifel Stift selbst, sah Seebaum neugierig an, ohne zu blinzeln, von Kopf bis Fuß und zurück. Dann steckte er die Hände in die weiten Hosentaschen: Auch Stift hatte keine Lust, den ersten Zug zu machen. Seebaum merkte, daß die Backenmuskeln ihn schmerzten; er schnitt eine Grimasse, als schiene ihm die Sonne grell ins Gesicht. Jetzt war beiden klar, daß es eine Kraftprobe war, wer zuerst das Schweigen brach. In der Ferne rollte leiser Donner.
Dankbar löste Seebaum die Augen von Stifts Gesicht und suchte am Himmel die Gewitterfront. Stift war an ihm vorbei zur Straße gegangen und warf einen Blick auf Seebaums rostigen Käfer; er beugte sich vor und sah die Straße hinauf und hinunter. Dann kam er lächelnd zurück und faßte Seebaum am Oberarm. »Komm, Herr Student«, sagte er und führte ihn hinter sein Haus. Stift zog Seebaum zu einer Holzbank, von der die alte Farbe in Schuppen abstand. Sie setzten sich. Über dem Dunkelgrün einer wuchernden Hecke stand eine Regenfront. Es rumpelte, als führen schwere Laster über eine Holzbrücke. Stift löste den Griff und behauptete: »In genau sechs Minuten ist der Regen hier.« »Professor Kraft«, sagte Seebaum; den Namen hatte er von Leinenweber, der bei einem Kraft Chemie gehört hatte. Stift nickte: »Ich weiß, du lernst bei ihm die Alchimie. Ein alter Kamerad. Was will er?« Stolz fügte er hinzu: »Er schickt mir oft Studenten.« Seebaum atmete auf, Stift litt unter seiner Isolierung, seit er den Betrieb eingestellt hatte; er fühlte sich nicht überfallen; er brauchte jugendliche Gesprächspartner. »Was gibts diesmal?« Stift hielt die Handfläche auf und blinzelte in den Himmel. Große Tropfen fielen, während der hintere Teil des Gartens schon in Regenschleiern verschwamm. Doch Stift machte keine Anstalten aufzustehen. »Zwei Minuten«, sagte er enttäuscht. Der Regen schlug heftig ins Gras. Das vorspringende Dach schützte ihre Oberkörper, aber Knie und Schuhe waren auf der Stelle durchnäßt. Stift aber streckte die Beine aus und lachte. Der Regen wurde leiser, fiel dicht und sanft, kühler Nebel trieb gegen das Haus. Seebaum kam sich vor wie in einer Taucherglocke auf dem Meeresgrund. »Es geht um diesen Brief«, sagte er nach einer langen Pause, »und um die Wasserprobe aus Ihrem Gelände. Professor Kraft
hat Cadmium und Bleiverbindungen gefunden, glaube ich. Er läßt fragen, was sonst noch auf dem Gelände vergraben ist.« Stift zog die nasse Hand zurück und rieb sich damit das Gesicht. »Aahh«, machte er. »Die Frage überrascht mich aber«, sagte er langsam und stützte die Ellbogen auf die Lehne der Bank, »denn Kraft weiß alles – na: fast alles.« Er sah Seebaum an und fragte fast unsicher: »Was hat er denn noch gefunden?« Seebaum schüttelte den Kopf: »Das hat er mir nicht gesagt. Er hat die Analysen allein gemacht. Er will wissen, woher die«, Seebaum schluckte, »die organischen Säuren kommen.« »Organische Säuren? Wirklich?« Stift zog rasch die Beine an und schüttelte die Schuhe von den Füßen. Er massierte die Zehen in den Socken und saß zwischen den hochgezogenen Knien wie ein Affe. »Irgendein zufälliger Dreck, würde ich vermuten. Komm.« Er stand auf, sprang geschickt von der Bank, nahm Seebaum wieder beim Arm und führte ihn in den Socken ums Haus: »Ich zeig dir was.« Sie stiegen in den Keller. Stift machte Licht. Auf langen Holztischen waren chemische Geräte aufgebaut. Was für ein Durcheinander! Seebaum sah keinen Sinn darin. Stift führte ihn an den Tischen entlang und erklärte die Aufbauten. Dazwischen machte er Pausen und schien auf Bemerkungen des Gastes zu warten. Seebaum begriff: Stift war weiter mißtrauisch und prüfte, ob er überhaupt eine Ahnung von Chemie hatte. Seebaum spielte mit, so gut er konnte. Die chemische Abteilung in seinem Hirn sah ähnlich unaufgeräumt aus wie dieses Privatlabor, aber er fand ein paar Antworten. »Wer wie du die Wirkung der Chemie auf den Organismus untersuchen will, der muß systematisch die Gifte studieren«, erklärte Stift, er schien beruhigt, »setz das auf!« Plötzlich hatte er aus einer Schublade zwei altertümliche olivgrüne
Gasmasken gezogen und setzte eine auf. Mit großer Vorsicht holte er einen kleinen Metallbehälter hervor, stellte ihn vor sich auf einen Tisch und begann die Verschlüsse zu lösen. Seebaum beeilte sich, die zweite Maske überzuziehen. »Lost«, murmelte Stift hinter der Maske, Seebaum glaubte sich verhört zu haben, »das beste Kampfgas des Krieges.« Seebaum wich ein paar Schritte zurück. Stift hatte dicke Handschuhe an und zog vorsichtig eine Art Konserve aus dem Behälter. Er kam damit auf Seebaum zu, der ängstlich zurückging, bis er an eine Wand stieß. Hinter den staubigen Gläsern der Maske konnte er Stifts Augen nicht sehen. Er glaubte, einem Verrückten ausgeliefert zu sein, der längst wußte, daß er es mit einem lästigen Schnüffler zu tun hatte; so einen bringt man am besten im eigenen Keller um und verscharrt ihn. Stift hielt ihm die Büchse nah vor die Maskengläser, Seebaum sah den Totenkopf, die gekreuzten Schenkelknochen, den Kriegsadler, die Beschriftung auf dem vergilbten Zettel. Aus der zitternden Maske drangen dumpfe Geräusche hervor: Stift lachte. Seebaum hob beide Hände, sie waren auf einmal furchtbar schwer, legte sie über den Luftfilter der Maske und drückte dagegen. Stift senkte die Büchse, drehte sich langsam um und verstaute sie im Behälter. Er verschloß ihn und zog die Maske vom Kopf. Mit dem Rücken zu Seebaum strich er die Haare zurecht. Auch Seebaum riß die Maske vom Gesicht, die Bänder schnellten schmerzhaft über die Ohren. Stift drehte sich um und lachte: »Rote Ohren! Angst gehabt?« »Natürlich«, rief Seebaum empört. »Das ist mein Schatz«, sprach Stift, »hin und wieder verkaufe ich eine Portion ans freiländische Heer. Die üben damit, glaube ich. Ja, auch das ist Chemie, Herr Student, und nicht die uninteressanteste!«
Spöttisch und stolz blickte er Seebaum an. »Aber von diesem Zeug ist nichts auf Ihrem Grundstück in der Stadt«, sagte Seebaum wie zum Spaß. Stift zwinkerte, dann lachte er laut und tippte sich an die Stirn. »Sag deinem Professor einen schönen Gruß«, Stift führte Seebaum die Treppe hinauf, wieder mit festem Griff um den Oberarm, »der soll sich um mich keine Sorgen machen. Im Wasser ist ein bißchen Chemie, aber die wirklich gefährlichen Sachen habe ich längst verkauft oder hier unten aufgehoben. Mir geschieht nichts. Alle stecken mit drin: das Heer, die Stadt und Kraft. Solange ich noch davon im Keller habe, rührt mich keiner an. Gift kann auch eine Lebensversicherung sein, merk dir das, Student der Alchimie.« Erst am Gartentor ließ Stift Seebaum los und reichte ihm zum Abschied lächelnd die Hand. Eilig griff Seebaum zu. Er wollte endlich heraus aus diesen Regenströmen, die Stift noch immer ignorierte, und ins Auto und ein Stück in den Wald hinein, um in Ruhe zur Besinnung zu kommen. Stift ließ die Hand nicht los. Unter seinem nassen Hemd zeichneten sich kleine Greisenbrüste mit spitzen Warzen ab. »Sicher so ein besorgter Umweltschützer, was?« sagte er herausfordernd, »gegen Atomkraft und chemische Düngung, nicht? Am Ende gegen die Marktwirtschaft, die steckt hinter allem, ja? Nein? Du bist ein großer Schweiger, Freund der Alchimie.« Er beutelte Seebaums Hand waagerecht hin und her und schien dabei immer mehr außer sich zu geraten. Wie auf einer schlechten Tonbandaufnahme rauschte das stürzende Wasser um seine Stimme. »Für kleine Betriebe seid ihr, oder? Ich lese eure Schriften, ich studiere sie, widerlege sie. Ihr seid doch für Zerschlagung der Großindustrie, wollt das Kleingewerbe mit human touch? Weißt du nicht, daß ausgerechnet ihr seine Totengräber seid?«
Immer mehr Schleusen öffneten sich über ihren Köpfen, es klang wie donnernder Applaus. Stift verstärkte den Händedruck, als Seebaum sich ihm entziehen wollte, er schob sein Kinn schief vor und knackte mit dem Gebiß; ununterbrochen schüttelte er Seebaums Hand. »Weißt du, wer meinen Betrieb kaputtgemacht hat? Die Herren vom Umweltschutz! Uns Kleine bringen nämlich die Auflagen um, die ihr durchgesetzt habt, und nicht die Großen! Die jaulen zwar fürchterlich und drohen mit dem Bankrott, aber die wissen Mittel und Wege, das kann ich dir flüstern. Nur unsereins geht drauf dabei, die letzten wirklichen Unternehmer, die letzten freien Persönlichkeiten. Sieh mich an: Chemiker und Unternehmer in einem, Forscher und Schöpfer von Arbeit und Brot. Zwischen Mühlsteinen hat man mich zerrieben: die Gewerkschaft will, daß ich mehr Lohn zahle, der Staat, daß ich auf einmal den Abfall für teures Geld einem Gauner zum Eingraben verkaufe, und die ganze Zeit unterbieten mich unsere drei chemischen Riesen. In ein paar Jahren bleiben euch nur noch die drei zum Anklagen, aber an die kommt ihr nie ran! Während ihr mich ruiniert, mich sogar noch jetzt verfolgt, tun die im Großen, was ihr mir vorwerft – aber dort geht es nicht um einen Bach, eine Wiese und drei gelbe Pfützen, sondern um tote Flüsse und vergiftete Landstriche!« Stift zog die Hand zurück und keuchte. Das Wasser rann über sein lächelndes Gesicht in den offenen Mund. Ein feiner Blutfaden lief von der Schläfe zum Kinn. Ein alter Mann wie der Vater, wie der Rentner. »Erspar mir den Anruf bei Kraft«, sagte Stift ruhig, »du bist doch kein Chemiestudent.« Seebaum sagte: »Nein, ich arbeite für die Zeitung.« Stift nickte: »Das hab ich gleich gewußt. Seit diesem Anruf warte ich drauf. Immer der Wahrheit auf der Spur, ohne Erbarmen, was? Vor allem dort, wo sie leicht zu
haben ist. Sich an einem ruinierten Kleinunternehmer abreagieren, das tut gut.« Er hob die Hand und winkte oder tat, als vertreibe er ein Insekt: »Hau ab jetzt, du begossener Pudel. Du hast keine Ahnung. Von mir aus schreib alles, was ich dir gezeigt hab, auch über das Kampfgas. Wirst sehen, was es dir bringt.« Er stand am Gartentor, bis Seebaum ihn im Rückspiegel aus den Augen verlor. Der Regen trommelte von den überhängenden Blättern aufs Autodach, wütend, als würde er erst aufhören, wenn er alles ersäuft hätte. Seebaum fuhr direkt nach Hause und legte sich fröstelnd ins Bett. Er konnte nicht einschlafen, nichts lesen, keine Radiomusik ertragen. Er konnte nicht denken und lag mit offenen Augen da. Nachmittags bekam er hohes Fieber. Anna kam leise herein und stellte ein Glas Kamillentee neben sein Bett. Sie lächelte ihn an, er schaute erschöpft zurück, als erkenne er sie nicht. Sie ging. In der ersten Woche seiner Afrikafahrt hatte Seebaum ihr nicht gefehlt. Auch vorher hatte sie ihn immer wieder vergessen, er lebte Tür an Tür wie die Frau, die Studenten und der Lehrer. Zum Fernsehen zog sie das Zimmer des Lehrers vor, dort war es bequemer, und seine Bemerkungen machten ihr Spaß. Seebaum bedrängte sie nicht mehr; wenn sie Lust hatte, mit ihm zu schlafen, ging sie einfach zu ihm, und wenn er zu ihr ins Zimmer kam, zog sie sich nicht gleich zurück. Es machte ihr mit der Zeit immer mehr Freude, mit Seebaum zu schlafen. Ihr Verhältnis war zu einer angenehmen Gewohnheit geworden. Gelegentlich schlief Anna mit jemand anderem, ohne rechtes Bedürfnis, eigentlich vor allem, um sich ihre Unabhängigkeit nachzuweisen. Es fiel Anna aber immer schwerer, sich auf andere Männer einzustellen; ihre Körper und Vorlieben, selbst ihr Geruch waren wie die Möbel einer fremden Wohnung, an denen man sich im Finstern stößt.
Als Seebaum immer länger fortblieb, bemerkte Anna, daß sie mißmutig wurde, ungeduldig und traurig. Bronnen, die Arbeit und die Wohngemeinschaft kamen ihr unwirtlich und kalt vor. Die Gegenstände in ihrem Zimmer ärgerten sie, mehrmals stellte sie alles um. Sie saß öfter als sonst bei den anderen abends in der Küche, unterhielt sich mit ihnen oder spielte Karten. Sie versuchte, sich für ihre Sorgen zu interessieren und fand erschrocken, wie schwer ihr das fiel. Sie fühlte sich müde und gleichgültig, alles ließ sie kalt, bei jedem privaten Anspruch fühlte sie fast Ekel. Die Menschen standen blöd und schwer im Weg, lauter stumme Forderungen, sich einzulassen. Aber dazu hatte sie keine Kraft, ewig mußte sie sich beruflich anderen Menschen widmen. Manchmal weinte sie grundlos, machte dann lange Spaziergänge in den verregneten Wäldern um Bronnen oder besuchte Bekannte. Immer glaubte sie zu stören, niemand war so einsam und auf einen Besuch angewiesen wie sie. Den Mediziner stieß sie grob vor den Kopf, als er Seebaums Abwesenheit zu einem klärenden Vorstoß nutzen wollte. Schließlich traf sie sich nur noch mit einer Frau, die in Gruhm allein mit ihrem Kind lebte. Sie verbrachten am Wochenende halbe Tage gemeinsam, ohne etwas Besonderes zu unternehmen; das war besser als allein zu sein, aber es heiterte Anna nicht auf. In der zweiten Woche ertrug sie die schwarze Stimmung nicht länger, konnte sie nicht normal finden. Sie begann dem Lehrer und der Frau davon zu erzählen: von diesem Ekel, von dieser Trauer. Aber wem immer sie damit kam: statt einer Antwort gab man ihr die Frage nach ihrem Verhältnis zu Seebaum zurück. Das ärgerte sie; alle wollten ihr eine Schablone überstülpen: Dein Unglück kommt davon, daß dir der Mann fehlt. Sie
widersprach und führte an, auch als Seebaum neben ihr lebte, sei es ihr nicht viel besser gegangen. Als er dann wiederkam, braungebrannt, schweigsam und irgendwie erschüttert, hatte sie sich genau beobachtet: Tatsächlich, sie freute sich, daß er wieder da war! Sie konnte ihn in Ruhe betrachten, er schien sie nicht zu bemerken; das war ihr angenehm. Erst nach einer Woche hatte er ausgepackt, und auch das nur, weil sie fragte, warum er nicht zu ihr herüberkomme. Da erst hatte er von den Eltern und von der Evakuierung erzählt, von seiner Unfähigkeit, wirklich an das Gruhmer Bleiproblem heranzukommen und von dem hilflosen Widerwillen, an der Informationslawine immer nur kratzen und draus gefärbte, süßliche Bällchen von Gefrorenem servieren zu können. Es war lange her, seit er ihr von sich erzählt hatte, und es waren andere Geschichten als früher. Er hatte in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft gern über »die Menschen« im allgemeinen geschimpft, so als wären das Spukgestalten, die man eigentlich verscheuchen sollte. »Wir sind im falschen Film«, hatte er gesagt. Seine Kritik war ihr hilflos und hochnäsig vorgekommen, adelig. Er hatte Anna gern auf häßliche Menschen aufmerksam gemacht: wie fett sie seien oder wie tierisch ihre Gesichter. Er konnte geschickt zeichnen und stellte böse Karikaturen her, Dackel mit Menschenköpfen, denen die Hundezunge heraushing, ordinäre Greise, die feist auf Bäumen hockten und mit einem Stummelschwanz wedelten, großbusige Weiber, die im Neglige breitbeinige Froschsprünge machten. Anna lachte darüber ohne gutes Gewissen: So konnte sie auch die Alten im Pflegeheim sehen, vor allem an den schlechten Tagen, wenn alle auf einmal an ihr die schlechte Laune, die Langeweile und die Schmerzen durch Bosheiten oder Nörgeleien ausließen. Daß die Leute nicht nur dumm und boshaft waren, ihre
verdorrten oder aufgeschwemmten Körper nicht vertiert, sondern vom menschenunwürdigen Leben fertiggemacht: das kam bei Seebaum damals nicht vor. Seine neuen Geschichten handelten nicht immer nur von enttäuschten Erwartungen, sondern auch von einer neuen Umgebung, die er erschrocken entdeckte und nicht sofort als nicht wunschgemäß verwarf. Diese neue Welt zog an und stieß ab, sie war widersprüchlich – jedenfalls keine Leidensmaschine, die eigens zu Seebaums Kränkung konstruiert worden war. Der neuen Welt war er gleichgültig, sie lag da, wand sich, schlug um sich, beruhigte sich manchmal, dann war sie zugänglich, friedlich und sanft. Anna stellte fest, daß Seebaum nicht mehr wie einer erzählte, der das nur anschaut; die Vorgänge ließen ihn nicht kalt, die Widersprüche nahmen ihn nicht aus. Es war sein Geburtsviertel, das man zerstört hatte, vertrieben waren die eigenen Eltern, es war die eigene Arbeit, die er nicht weiterbrachte, und warum nicht? Neben diesem Seebaum lag Anna lieber; sie hörte zu, nickte und sagte auf einmal: »Ich mag dich.« Seebaum rümpfte die Nase, um seine Freude zu verbergen, und zeigte von oben auf sich wie auf eine seiner Karikaturen: »Diesen da?« Er kreiste mit dem Finger über seinem Kopf: »Was für ein Kuddelmuddel.« Dann legte er den Kopf auf ihre Schulter. Anna betrachtete mißtrauisch die Lichtschlieren an der Zimmerdecke; glücklich fühlte sie sich noch lange nicht, aber ein bißchen wohler war ihr mit Seebaum schon. Sie schlief ein und hatte einen Traum mit vielen Personen. Alles spielte unter Wasser, die Sonne schien hinein, Seebaum kam darin nicht vor. In großen, warmen Städten herrschte ein reiches, langsames Leben. Sehr zufrieden erwachte sie neben dem schweißgebadeten, unruhig schlafenden Kranken und bekam große Lust auf andere Menschen.
»Oh«, machte der Mediziner, als sie eintrat. Er hatte Besuch, ein blondes Mädchen saß in seiner Bude und sah Anna neugierig an. Sehr fein, fand Anna, und ein wenig vertrocknet. »Anna, von der ich dir ja erzählt habe« – das Mädchen gab vor, sich zu erinnern – »und das ist eine Kollegin. Wir wollen gemeinsam arbeiten. Magst du Tee?« Anna überlegte einen passenden Abgang, aber der Mediziner klapperte vor Verlegenheit schnell mit der dritten Tasse; sie nahm Platz. Die andere fragte nach ihrem Beruf und zeigte gleich ein vornübergebeugtes Interesse an der Altenpflege; aber zugleich verschleierte sich ihr Blick, als richte sie ihn angestrengt auf einen sehr entfernten Gegenstand. Anna ärgerte sich und fing auf die Arzte zu schimpfen an; sie führten im Pflegeheim das große Wort, seien im entscheidenden Moment nicht aufzutreiben und spielten sich durch überflüssige Anweisungen auf. Das Mädchen öffnete den Mund und überlegte mit entspanntem Gesicht eine versöhnliche, milde zurechtrückende Entgegnung; der Mediziner lächelte neutral. Anna hörte sich die Belehrungen des Mädchens brav an und fluchte dabei über sich. Als das Mädchen fertig war, sah sie mit gespieltem Entsetzen auf die Uhr und sprang auf. Der Mediziner blieb sitzen und beobachtete, noch immer neutral lächelnd, wie Anna allein hinausfand. Draußen horchte sie mit zusammengebissenen Zähnen an der Tür, ob die beiden sich über sie lustig machten. Sie lief durch Bronnen und ließ sich naßregnen. In der zweiten Kneipe saß der lustige Lehrer mit dem zweiten Studenten. Sie hatten vom Bier rote Kaninchenaugen, freuten sich, Anna zu sehen und schimpften auf das ewige Regenwetter. Sie fingen an, Tiernamen zu sammeln, die unbedingt auf die Arche gehörten. Anna trank und lachte übertrieben. Trotzdem spürte sie den Abstand, den die anderen zu ihr wahrten: Sie gehörte zu Seebaum, sie war nicht mehr
frei. Wieder begann sie zu schimpfen, diesmal auf das schöne Leben von Lehrern und Studenten. Die beiden machten sich nicht einmal die Mühe, Anna mit den auch ihr bekannten Gründen zu widerlegen, sondern lachten gutmütig und fragten, ob es Seebaum schon besser gehe. Diese Krise sei ja fällig gewesen, fand der Student, und der Lehrer stellte fest: »Wenn ein Flippie so plötzlich Angestellter wird – das gibt immer Magengeschwüre.« Anna wollte durch immer gröbere Beschimpfungen die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken, aber die beiden schienen entschlossen, sie als einen beweglichen Körperteil des kranken Seebaum zu behandeln. Als Anna vom Bier schon Ohrensausen hatte, grinste sie, sah vom einen zum anderen, schüttete ihnen Bier gegen die Bäuche und fing an zu weinen. Die zwei sprangen auf, hielten die nassen Hemden zum Trocknen von sich und murmelten besorgt. Weil sie nicht begriffen, daß Anna aus lauter Wut weinen mußte, wurde sie immer wütender und konnte mit dem Weinen überhaupt nicht mehr aufhören. »Es ist doch nichts Ernstes«, fragte der Lehrer sanft, »mit Seebaum, meine ich; ich meine, seine Krankheit?« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Anna und strahlte. Sie dachte: Warum kann ich nicht wütend werden wie ein Mann? Dann schimpften sie zu dritt kräftig auf das schlechte Wetter. Seebaum erwachte spät abends. Anna fehlte. Leintuch und Decke waren durchgeschwitzt, er fühlte sich atemlos und schwach wie nach einem langen Sturz, hatte aber kein Fieber mehr. In den Wänden rumorten die Schritte der Hausbewohner, in der Küche klapperte das Geschirr, die Kinder weinten, und im Hof knallte ein Gummiball eintönig gegen Beton. Seebaums Privatzeit war mit der öffentlichen außer Takt geraten, jetzt, da er Lust zum Aufstehn hatte, fing die Nacht an. Er machte Licht und schrieb ins Notizbuch.
Er versuchte, seine Krankheit zu verstehen. An der Oberfläche war sie eine simple Erkältung, aber darunter floh er vor einem unlösbaren Problem: Wie konnte er als Reporter weiter arbeiten mit allem, was er erlebt hatte, und ohne Chance, es mitzuteilen? »Ein gelähmter Stummer als Augenzeuge.« Er mußte, schon um wieder gesund zu werden, einen Weg zur Mitteilung finden. Doch in Gruhm hatte er von Koll gelernt, daß Reporter über Bewegung und Unruhe nur berichten, nicht sie erzeugen dürfen. Wenn er jetzt versuchte, über die Gifte in Stifts Baugrube zu schreiben, käme er nicht weit. Der Chef würde ihm auftragen, Stellungnahmen von Stift und von einem Fachmann der Hochschule einzuholen, und damit wäre der Bericht zu Ende, bevor er anfing. Bestenfalls käme eine Notiz in die Zeitung, wie sie täglich auftauchten und unter den Meldungen des nächsten Tages verschwanden. Da war zum Beispiel eines Tages ein Bach voll Öl gewesen, der ›Bronnen-Kurier‹ meldete es exklusiv, und das war alles – wenn sich nicht Leute fanden, die der Sache beharrlich nachgingen; solche Leute mußten also gefunden werden, dann konnte man über ihre Aktivitäten berichten. Ob der Rentner imstande war, eine Bürgerinitiative rund um die Baugrube ins Leben zu rufen? Falls das überhaupt gelang, dauerte es zu lange. Man mußte vorhandene Gruppen für das Gift interessieren; Fachleute brauchte man, Chemiker, Geologen. Vielleicht konnte Leinenweber weiterhelfen. Ein Kollege in der Lokalredaktion schrieb gelegentlich über eine Bürgerinitiative, die seit mehreren Jahren die Verbreiterung einer Straße zu verhindern suchte; ihn würde Seebaum ausfragen. »Leinenweber. Winter«, schrieb er in sein Buch, »und noch einmal der Rentner.«
Er stand auf und wartete mit verkniffenem Gesicht, bis der Schwindel und die Kopfschmerzen sich legten. Dann ging er mit kleinen Schritten zum Telefon. Leinenweber war unterwegs, Seebaum erreichte nur eine Freundin und bat sie, Leinenweber zu ihm zu schicken, er sei krank. Dann legte er sich sofort nieder und schloß die Augen, bis der Puls sich beruhigt hatte und das Stechen im Kopf aufhörte. Er hob das Notizbuch und schrieb: »Anna. Ihretwegen bin ich da. Vergeßlich! Was wird, wenn sie weggeht? Was macht sie gerade?« Er stellte sich vor, wie sie mit einem Unbekannten über eine bessere Stellung in einer anderen Stadt sprach und hereinkäme, um sich zu verabschieden. Wie schlampig er die einzige Freundschaft verkommen ließ; das wichtigste hätte er fast vergessen! Als Anna spät, durchnäßt und etwas betrunken heimkam, hinter ihr polterten der Student und der Lehrer durch die Wohnung, lag Seebaum immer noch wach und wollte gleich ein Gespräch über die gemeinsame Zukunft anfangen. Sie wies ihn ab, als sei sie des Themas überdrüssig, obwohl es nie zur Sprache gekommen war; tatsächlich hatte sie den Eindruck, daß ohnedies alles sie auf Seebaum zutreibe; was gab es da viel zu reden? Statt der Einsamkeit wählte man das kleinere Übel der Unfreiheit zu zweit, in Ordnung. Sie streckte sich neben ihm aus, ganz froh, am Ende der Regenwanderung ein warmes Bett zu finden, und schlief ein. Seebaum blieb wach. Draußen zischten Autokolonnen durch den unaufhörlichen Regen. Die Zeitungen brachten regelmäßig Interviews mit Meteorologen über das ungewöhnliche Wetter. In Europa waren die Felder überschwemmt, während in Afrika die größte Dürre seit zehn Jahren herrschte. Man gab die Schuld den Sonnenflecken oder einer Klimaänderung durch die Abgase der Industrie. Vielleicht würde es bald notwendig werden, das Wetter zu steuern. Seebaum stellte sich einen
industriellen Himmel vor, mit blitzenden Spiegeln und Luftflotten, die Wolken schufen und löschten; rechteckige Luftfelder, in die man Jodkristalle säte, um Wolkenbrüche auszulösen; nebenan Fenster in der Wolkendecke, durch die das Sonnenlicht aufs Getreide fiel; große Geschäfte mit dem Klima, Regentrusts und Wärmemonopole; Drohungen mit Unwettern und neuartige Luftkriege: Hagelfeldzüge, Brandanschläge mit Hohlspiegeln, Stellungskriege mit den Waffen der Dürre. Am nächsten Morgen kam Leinenweber zu Besuch. Er ging im Zimmer auf und ab, während Seebaum von der Matratze zu ihm aufsah und von seinen Erlebnissen seit der Trennung erzählte. Leinenweber – mein Freund, dachte Seebaum, ein bißchen rührselig vom Fieber der letzten Tage – war gleich dafür, Stifts Baugrube zu besichtigen und Wasserproben zu nehmen. Leinenweber konnte geologische Karten einsehen und herausfinden, ob Gefahr für das Grundwasser und für die Heilquellen von Bronnen bestand. »Bleib ruhig liegen«, sagte Leinenweber, »ich kümmere mich darum. Ich kann einen Chemiker, ein paar Geologen und einen Physiker auftreiben.« – »Was tun wir mit den Ergebnissen«, fragte Seebaum und schlug vor, nicht gleich damit zur Zeitung zu laufen, sondern zuerst eine Bürgerinitiative zu informieren. Leinenweber traf sich manchmal mit Leuten, die monatlich eine kleine Zeitung herausgaben; aus den Schilderungen erkannte Seebaum das Bild einer Lokalzeitung wieder, wie Koll es früher einmal entworfen hatte. Er begann vor Freude zu schwitzen und faltete zufrieden die Hände über der Decke. Zum ersten Mal seit der Heimkehr hatte er Lust aufzustehn. Kaum war Leinenweber draußen, stand Seebaum auf und duschte.
Ah, wie das heiße Wasser auf die Schultern trommelte und in flüssigen Schuppen den Körper herunterglitt! Er räkelte sich wie im zurückeroberten Paradies. Dann räumte er sein Zimmer auf; überall grauer Staub, auf dem Fensterbrett ölige Flocken. Er wusch die Wäsche, kehrte den Flur und die Küche, duschte ein zweites Mal und rasierte sich. Dann mußte er sich hinlegen. Er spreizte die Finger und beruhigte das leise Ziehen in allen Gelenken. Der ›Heinrich von Ofterdingen‹, mit dem Seebaum nach Bronnen gefahren war, ging zu Ende; einige Sätze las er sich zum Abschied halblaut vor: »Das Wasser, dieses erstgeborene Kind lustiger Verschmelzungen, kann seinen wollüstigen Ursprung nicht verleugnen und zeigt sich als Element der Liebe und der Mischung mit himmlischer Allgewalt auf Erden.« – »Die Berauschten fühlen nur zu gut diese überirdische Wonne des Flüssigen, und am Ende sind alle angenehmen Empfindungen in uns mannigfache Zerfließungen, Regungen jener Urgewässer in uns. Selbst der Schlaf ist nichts als die Flut jenes unsichtbaren Weltmeers, und das Erwachen das Eintreten der Ebbe.« – »Wie diese Wellen, lebten wir in der goldenen Zeit.« – »Ein feindliches Wesen schlug die Erde nieder, und einige Menschen blieben geschwemmt auf die Klippen der neuen Gebirge in der fremden Welt zurück.« – »Wie glücklich würden die Städte sich wieder dünken, die das Meer oder ein großer Strom umspült, und jede Quelle würde wieder die Freistätte der Liebe und der Aufenthalt der erfahrenen und geistreichen Menschen.« – »Es ist nicht bloß Widerschein, daß der Himmel im Wasser liegt, es ist eine zarte Befreundung, ein Zeichen der Nachbarschaft, und wenn der unerfüllte Trieb in die unermeßliche Höhe will, so versinkt die glückliche Liebe gern in die endlose Tiefe.«
Er warf das beendete Buch hinter sich, drehte den Kopf zur Seite und schloß erwartungsvoll die Augen. Gleich würde ein schillernder Punkt sich auftun wie eine Iris, und er flog in die Traumwelt. Dort wollte auch er gleich eine Rede halten, zu schön, um wahr zu sein. Schon wurde der Druck der Erde gegen sein Kreuz leicht, er wurde losgelassen und zuckte stark zusammen. In dem kleinen altmodischen Zimmer, das er betrat, saßen Bekannte, die er zum ersten Mal sah. Sie schwebten knapp über den Stühlen und warfen sich langsam weiche Bälle zu; und langsam wendeten alle den Kopf und sahen ihn neugierig an. »Eine dreifache Kugel umgibt uns«, begann er und erschrak über die donnernde Lautsprecherstimme, »auf der festen stehen wir; auf der flüssigen fahren wir; in der gasförmigen atmen wir. Jetzt durchstoßen wir die dreifache Fruchtblase und zehren sie auf; eine schwere Geburt, weil uns draußen keiner zieht.« Er atmete schwer, es polterte in den Verstärkern, und wartete auf eine Antwort. Aber die anderen legten nur langsam die Hände, Flossen und Krallen vor die Münder, Schnauzen und Mäuler; sie senkten die Lider langsam über die Augen, als würden sie vor Angst einschlafen. Daß ich nur vorn Augen habe, dachte er, und hinten Finsternis. Er hob einen Fuß und spürte, wie der Befehl durch die Nerven in den Schenkel lief; die Sohle löste sich von der Erde; er begann einen Schritt. Für den Abend verabredete Seebaum sich mit Leinenweber; dann fuhr er zu Stifts Grube. Der Zaun um das Gelände war verbessert worden, man erkannte die frischen Latten zwischen den grauen, mit Plakatfetzen bedeckten Brettern. Durch die Einfahrt rollten schwere Laster ein und aus. Seebaum steckte die Hände in die Taschen und spazierte hinein, als hätte er ein Recht dazu. Die Grube, die Keller, in denen er die erste Nacht verbracht hatte, die Mauerreste, eine Halle – alles war eingeebnet. Eine Pumpe saugte an den Pfützen, in die
unermüdlich der Regen fiel; nebenan wurde flüssiger Beton in ein Brunnenloch gedrückt. Der alte Mann, der Seebaum schon einmal vertrieben hatte, kam aufgeregt gelaufen: »Was haben Sie hier verloren? Das ist Privatgrund! Hier gibts nichts zu sehn!« Seebaum erklärte, er komme von der Presse, um einen Bericht über Chemikalien zu schreiben, die hier vergraben seien. Der Mann machte kehrt und lief hinter einen Lastwagen. Seebaum wartete im Regen. Zwei Männer näherten sich, mit freundlichem Lächeln der eine, der zweite mit angewidertem Ausdruck. Dieser schwieg, während der freundlichere Seebaum mitteilte, er befinde sich hier auf Eigentum, das weder ihm noch der Öffentlichkeit gehöre, er erfülle also den Tatbestand des Hausfriedensbruchs. Zum Zwecke der polizeilichen Anzeige möge er so freundlich sein, seine Personalien mitzuteilen. Der zweite Mann rief, während Seebaum schweigend kehrtmachte und über die tiefen Reifenspuren davonhüpfte: »Mich interessiert ja auch nicht, was Sie hinter Ihrem Küchenschrank versteckt haben!« Seebaum sah sich nicht mehr um, erwartete aber jeden Augenblick einen festen Griff um den Oberarm. Erst auf der anderen Straßenseite blickte er zurück; die Männer beobachteten ihn durch das Tor, das der Wächter gerade mühsam schloß. Seebaum stand vor dem Haus, in dem der Rentner wohnte. Über der Tür hing das Schild einer Baufirma, der Gehsteig war mit Kunststoffschnüren gesperrt, einige Fensterscheiben lagen zertrümmert auf den Steinen, die Tür war mit Brettern vernagelt. In der feuchten, schwülen Luft begann Seebaum unter dem Regenmantel zu schwitzen. Er fuhr mit dem Finger zwischen Kragen und Hals entlang und sah an der Hausfront empor. Vor dem Fenster des Rentners hingen noch die Blumen.
Durch eine Garageneinfahrt ging er in den Hof und drückte den untersten Knopf einer Klingelreihe. Ein kleines türkisches Mädchen öffnete, er nannte den Namen des Rentners, das Mädchen lächelte ihn an und trat von einem Fuß auf den anderen. Seebaum nieste. Eine ältere Frau lugte aus einer spaltweit geöffneten Tür. Er trat auf sie zu, verbeugte sich, die Tür schlug zu. Er klopfte an und wartete. Es rasselte, wieder öffnete die Tür sich einen Spalt weit, und ein ängstliches Gesicht mit einer abstehenden grauen Strähne erschien. Seebaum wiederholte den Namen des Rentners. Ohne die Tür weiter aufzumachen, streckte die Frau einen Zeigefinger aus dem Spalt und zeigte aufwärts. Seebaum glaubte zu verstehen, es gebe einen Verbindungsgang zu dem Abbruchhaus. Er öffnete eine knirschende Tür und stand im verwüsteten Stiegenhaus. Die Geländer waren abgerissen, auf den Stufen lag Schutt, eine Spitzhacke lehnte an der Wand. Vorsichtig kletterte er über Ziegel und Tapetenfetzen an der Wand entlang aufwärts. An den Biegungen der Stiege schwindelte ihn, wenn er aus Gewohnheit das Geländer anfassen wollte. Das Namensschild klebte noch an der Tür des Rentners. Seebaum drückte den Klingelknopf, hörte aber nichts. Er klopfte. Nach einer Weile näherten sich Schritte, der Rentner stand in der Tür. In der kurzen Zeit war er um Jahre gealtert, oder vielleicht kam das Seebaum nur so vor, weil er diesmal kein Gebiß trug. Die Haut war gelb, die Augen wäßrig und müde. »Ah, der Herr von der Zeitung«, sagte der Rentner und bat ihn herein, »ich hab oft in der Redaktion angerufen. Sie waren krank?« Seebaum nickte und unterließ die Frage, ob der andere auch krank sei. »Sie sehen, was vorgeht«, sagte der Rentner, »es mußte so kommen, aber daß es so rasch geht…« Seebaum nieste heftig und blickte aus dem Fenster. Auf der Baugrube war
Mittagspause, nur die Pumpe arbeitete, und der Wächter stapfte am Zaun entlang durch die Pfützen. »Man wirft uns hier heraus«, sagte der Rentner gleichmütig, »damit schöne neue Wohnungen entstehen. Freilich werde ich das nicht erleben.« »Wo wollen Sie hin«, fragte Seebaum ungeschickt. Der Rentner schüttelte den Kopf und wiederholte leise: »Wo ich hin will?« Dann trat er neben Seebaum ans Fenster. Sie schwiegen und lauschten dem Regen, dem Murren der Wasserpumpe, dem Zischen der Autoreifen, dem Summen der Lampe über dem kleinen Aquarium. Der Rentner atmete, als wäre er soeben die Stiegen heraufgeklettert. »Wo kommt so einer hin? Ins Altersheim, was glauben Sie? Einen Platz habe ich schon.« Er nannte den Namen des Heims, in dem Anna arbeitete. Seebaum sagte, er habe davon gehört, das sei kein schlechtes Seniorenheim; es klang wie eine dumme Beschönigung. Er nieste. »Freiwillig geh ich nicht«, sagte der Rentner, »mich müssen die hinaustragen.« Er fragte Seebaum, ob er Stift besucht und ihm am Ende seinen Leserbrief gezeigt habe. »Denn da steckt der Stift dahinter«, sagte er, »dem gehört dieses Haus nämlich.« Seebaum wußte nicht, was er noch sagen sollte. Das Zimmer schien von kaltem Dampf erfüllt; er fror und wollte diesem stummen Elend schnell entkommen. Der alte Mann schien das genau zu spüren; er warf Seebaum einen schnellen Blick zu und öffnete ihm die Tür: »Danke für Ihren Besuch. Viel Glück.« Schon im Stiegenhaus sagte Seebaum: »Vielleicht kann man etwas unternehmen…« Die Tür fiel ins Schloß. Vorsichtig tastete er sich hinab. Weit oben dröhnte der Regen wütend auf einem Stück Blech.
Er kam daheim von Regen und Schweiß doppelt durchnäßt an, mit dem wattigen Gefühl einer bösen Erkältung, doch ohne Lust, schon wieder krank zu werden. Trotzig fing er an, in der Wohngemeinschaft aufzuräumen. Mit dem Staubsauger fuhr er durch den Gang und die Küche, reinigte Bad und Toilette, füllte Waschmaschine und Geschirrspüler, bis die anderen aus ihren Zimmern kamen und sich über den Lärm beschwerten. Er machte Tee für alle und lud sie in die Küche ein. Dort saß er, schwitzend und niesend, und trank allein eine ganze Kanne Tee, weil niemand kam. Um sechs erschien Anna und begann stumm um Seebaum herumzugehen: Sie war zum Kochen eingeteilt. Erst als sie mit den Töpfen schepperte und Wasser zischen ließ, füllte sich die Küche. Der Lustige klatschte in die Hände, fragte: »Was gibt es denn Gutes?«, erhielt aber keine Antwort und ging kopfschüttelnd ins Zimmer zurück. Die Kinder kletterten auf Seebaums Knie, benannten seine Körperteile und streichelten ihm die Ohren. Er suchte Annas Augen; sie fing den Blick auf und sah rasch zum Herd. Seebaum war von ungeheurer Wut erfüllt. Sie spannte ihn wie einen Luftballon und nahm immer noch zu – erstaunlich, daß soviel Zorn in einem Menschen Platz hatte! Er kam sich zugleich wichtig und abscheulich vor, jedenfalls im Recht; wie in den Filmen, wo ein Mann eine Demütigung nach der anderen hinnehmen muß, bis er zum Entzücken der Zuschauer endlich zum gnadenlosen Rächer wird. Finster beobachtete er, wie Anna Teller und Besteck auf dem Tisch verteilte, und ignorierte den zweiten Anlauf des Lustigen zu einer Unterhaltung. Nur zu den Kindern war er sanft und aufmerksam, wobei er seine eigene Beherrschung bewunderte. Das Essen verschlang er mit niedergeschlagenen Augen und fühlte sich unsichtbar wie ein Vogel Strauß. Doch als er einmal aufblickte, waren fast alle Augen auf ihn gerichtet, neugierig,
teilnehmend, mitleidig. Er seufzte tief und verlor dabei ein wenig Zorn. »So schön war schon lange nicht saubergemacht«, meinte die Frau, und alle stimmten gleich zu. »Zehn Tage war der Seebaum krank«, deklamierte der Lustige, »jetzt putzt er wieder, Gott sei Dank.« Seebaum nieste, und man lachte. Die Wut zerfloß in eben so viel Rührung, er spürte Tränen aufsteigen und schämte sich. Anna fütterte ein Kind; er dachte an die blassen Augen des Rentners und an den Vater, wie er aufrecht und verabschiedend vorm Krankenhaus in der Sonne stand. Seebaum versuchte zu schlucken und erzeugte mit der verkrampften Kehle ein lautes Quieken. Er sprang auf, sagte leise »Gutes Essen, ich muß weg« und wartete, daß der zweite Student und der Lustige aufstanden, damit er an ihren Körpern vorbei sich vom Tisch wegzwängen konnte. In seinem Zimmer steckte er Geld, Schlüssel und das Notizbuch ein und wartete mit gesenktem Kopf, daß die Tränen endlich aus ihren viel zu engen und heißen Kanälen quollen. Aber die Wut war verraucht, die Rührung hatte sich in Erschöpfung verwandelt, nichts blieb als ein würgender Ekel vor der eigenen Schwächlichkeit. Er lief die Stufen hinab, sprang aus dem Haus und ins Auto, und erst nach fünf Minuten Fahrt und Radiomusik, endlich, liefen die Tränen. Er stellte die Scheibenwischer an und lächelte erleichtert. »Oh«, machte Leinenweber erschrocken, »du siehst wie ein echter Rekonvaleszent aus!« Er schien fröhlich und mitten in einem ergiebigen Gespräch. Zwei Männer und eine Frau saßen um einen Tisch, der mit mehreren Schichten von Blättern und Bodenkarten bedeckt war. Man trank Tee und rauchte stark. Leinenweber nannte den anderen Seebaums Beruf. Jemand fragte – offenbar kamen die Gäste aus anderen Städten – , ob der ›Bronnen-Kurier‹ der PECH oder der PFAV nahestehe.
Eher der PFAV, antwortete Seebaum, und Leinenweber ergänzte, im selben Haus würden zwei Zeitungen für Bronnen hergestellt, mit getrennten Redaktionen und demselben Anzeigenteil; beide zögen aus den Fernschreibern dieselben Meldungen und ordneten sie nur jeweils anders an. Es sei schon vorgekommen, sagte Seebaum, daß zwischen dem ›Kurier‹ und der PECH-nahen ›Bronnen-Zeitung‹ ganze Seiten vertauscht worden seien, ohne viel Aufsehen bei den Lesern. Der Gastgeber nannte Seebaum die Namen und Berufe seiner Freunde. Der eine hieß Pont, war Geologe, und Seebaum erkannte ihn wieder als einen, der mit Leinenweber kurz nach seiner Ankunft in Bronnen an einem Haufen Mäntel gelehnt hatte, während Anna nebenan tanzte. Auch die Frau war Geologin, vermutlich Ponts Freundin. Der dritte hieß Wetter und war Physiker; er wirkte müde, nickte sehr ernst zu allem, was gesagt wurde, lachte aber an unvorhersehbaren Stellen laut auf. Seebaum fand ihn unsympathisch, ohne bestimmten Grund, höchstens weil Wetter ihn neugierig zu beobachten schien und ihm wie ein älterer Bruder ähnlich sah. Pont wies auf eine Planskizze und erklärte, so sehe die Erde unter Stifts früherem Chemiebetrieb aus: Lehm und tonartige Schichten, die teilweise wasserdurchlässig seien; angrenzend Kalkschichten, durch die das Wasser der Heil- und Thermalquellen von Bronnen aufsteige. Die Baugrube durchschneide den Grundwasserspiegel; schon vor Jahren sei auf Stifts Gelände ein Brunnen gebohrt worden; das Brunnenwasser sei durch chemischen Abfall vergiftet. Strittig bleibe, ob dieser durchs Grundwasser bis zu den Heilquellen dringen könne. »Läßt sich das nicht berechnen?« fragte Seebaum. Wetter lachte; die anderen erklärten Seebaum, einander ins Wort fallend, wie unerforscht die Strömungen des Grundwassers noch immer seien. Wenn man löslichen Abfall in den Boden
versenke, dann sei keineswegs klar, daß er einfach in den Tiefen des Grundwassers verschwinde oder nur in einem Kreis um die Abfallstelle sich begrenzt ausbreite. Die Oberfläche des Grundwassers setze sich nicht wie ein unterirdischer Meeresspiegel waagerecht im Boden fort, sondern weise Berge und Täler, »Quellen« und »Senken« auf, je nach der Beschaffenheit des Bodens. In dieser flüssigen unterirdischen Bergwelt war das Wasser in dauernder Bewegung, transportierte Stoffe auf Umwegen über große Entfernungen und reinigte sich unterwegs von anderen. Pont skizzierte gekrümmte Bahnen, auf denen Stoffe durchs Grundwasser wandern, absinkend und wieder aufsteigend, bis sie weit entfernt überraschend auftauchen. Die Kompliziertheit dieser Bewegungen zwinge, in den Berechnungen stark zu vereinfachen. Dadurch entstünden in allen Gutachten zu Giftlagerstätten und Trinkwasserbrunnen große Ermessensspielräume, in denen sich die Wahl der Rechenmodelle und die Auslegung der Ergebnisse bewegen könne. Gutachten und Gegengutachten würden so zu Bauern in einem Schachspiel zwischen umweltpolitischen Interessen. Unterdessen sei der Gegenstand dieses Spiels, das saubere Wasser, immer schwerer zu gewinnen. Vorbei die Zeit, als man aus Flüssen trinken konnte. Mit der Ausbreitung der großen Industrie seien Flüsse und Seen verschmutzt worden, doch statt sie zu reinigen, zapfe man das Grundwasser an; und heute sei nach den Oberflächengewässern auch das Grundwasser von Vergiftung und Erschöpfung bedroht. Schon sei man gezwungen, das Grundwasser aufzufüllen und aufzufrischen, etwa indem man in der Nähe der gierigen Industriegebiete geklärtes Flußwasser in die Erde führe. Doch trotz großer Trinkwassertalsperren und Kläranlagen sei abzusehen, daß bis zur Jahrtausendwende nach
den Flüssen auch das Grundwasser untrinkbar und zur teuren Mangelware würde. »Und was wird dann?« fragte Seebaum. »Dann bleibt nur noch der Bau riesiger Heizkessel an den Küsten, um Meerwasser zu entsalzen. Du kannst dir denken, daß dadurch das Wasser, das mit großem Energieverbrauch hergestellt und transportiert werden muß, zum teuren Industrieprodukt wird.« Eigentlich sei es absurd, meinte der Physiker, daß ein wasserreiches Land zu dieser verzweifelten Maßnahme greifen müsse, als ob es ein Wüstenstaat wäre. Freiland habe Wasser genug für seine konzentrierte Industrie und die dichte Bevölkerung. Doch so räche sich der Raubbau, der an allen Gütern getrieben werde, die zunächst umsonst und später fast umsonst zu haben seien. »So wie der Mensch gelernt hat, Landwirtschaft zu treiben und Wälder aufzuforsten, so muß er lernen, den Wasserhaushalt zu bewirtschaften.« Zuhörend gewann Seebaum den Eindruck, an der Manöverbesprechung einer großen und zersplitterten Auseinandersetzung teilzunehmen, auf deren Einzelschauplätzen sich immer wieder der Ruf nach einer Entgiftung der Umwelt erhob. Dabei gab es Niederlagen und Teilerfolge, aber noch keine Aussicht auf eine umfassende Übereinkunft. Er erzählte seine Erlebnisse: Wie ein ganzes Wohnviertel wegen Vergiftung dem Erdboden gleichgemacht wurde, wie Gruhm sich immer weiter mit Blei krank machte: Ob man da nicht die Stillegung solch gefährlicher Industriezweige fordern müsse, ehe der Schaden nicht gutzumachen sei? Pont winkte ungeduldig ab: »Wer vergiftet wen? Stift vergiftet Bronnen, die Hütte vergiftet Gruhm, ein Chemiewerk hat mit seinem Müll dein Viertel vergiftet. Wenn jemand
Häuser anzündet, wird auch nicht das Feuer verboten; aber man nimmt dem Schuldigen die Zündhölzer weg.« Seebaum kam sich durch den simplen Vergleich überrumpelt vor. »Gut«, sagte er, »das bedeutet, dem Unternehmer wird der Betrieb weggenommen. Das ist doch das Rezept der PFUIsten.« Wetter lachte. Pont sagte: »Jedenfalls müssen die Kontrollen verbessert werden, meinst du nicht auch? Darüber sind sich eigentlich alle einig, mit Ausnahme der Unternehmen, die durch Kontrollen ihre Freiheit bedroht sehen.« »Aufhören«, rief Leinenweber dazwischen, »zurück zu Stifts Grube! Was können wir tun?« Pont zählte auf: »Wir haben hier einen Reporter, der darüber berichten will, ein paar Geologen, die etwas zur Gefahr fürs Grundwasser sagen können; uns fehlt noch ein Chemiker – der, den ich einladen wollte, möchte es sich nicht mit seinem Professor verderben.« – »Bist du nicht Chemiker«, fragte die Geologin; Seebaum sagte, er habe sein Studium abgebrochen; er ärgerte sich, weil er dabei errötete und zum ersten Mal bedauerte, kein Chemiker zu sein. Pont und die Geologin boten an, einen vereinfachten Geländequerschnitt zu zeichnen. Leinenweber meinte, in ein paar Tagen könne er eine chemische Analyse beschaffen; damit würden Seebaum und er zu einer Bürgerinitiative gehen. »Macht einen kurzen Text fertig«, riet Wetter, »wo das Problem einfach dargestellt wird. Damit druckt ihr Flugblätter und Plakate. Am besten macht ihr eine Pressekonferenz und ladet die Parteien und die Zeitungen ein.« – » Wir haben Wahlkampf; vielleicht steigt die PFAV darauf ein«, meinte die Geologin. »Warum«, fragte Wetter. Seebaum erklärte ihm, in Bronnen regiere die PECH, die PFAV sei in der Opposition. Wetter
machte ein unglückliches Gesicht: »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte er. Du hast ja recht, dachte Seebaum, aber ich mag dich nicht. Unzufrieden fuhr er heim. Leinenweber und seine Freunde schienen zu glauben, nichts wäre leichter als die Öffentlichkeit auf Stifts Abfälle aufmerksam zu machen und einen wirksamen Protest zu organisieren. Aber wie die tiefe Apathie der Leute durchbrechen? Von Hiobsbotschaften betäubt sperrten sie sich schon gegen bloße Information; die Auflagen des ›Kurier‹ und der ›Zeitung‹ stagnierten, und Stichproben bei Lesern hatten ergeben, daß kaum die Hälfte ihre Zeitung wirklich las; höchstens die Schlagzeilen und die Anzeigen wurden studiert; der Großteil der Bevölkerung Bronnens kam ohne Lokalberichte aus. Und Protestaktionen? Woher sollte selbst ein überdurchschnittlich interessierter und informierter Mensch die Zeit und die Kraft hernehmen, sich neben seiner Arbeit an Aktivitäten mit höchst geringen Erfolgsaussichten zu beteiligen? Seebaum wußte ja selbst nicht, woher er die Zeit dafür nehmen würde. Am nächsten Tag arbeitete Seebaum wieder. Der Lokalredakteur Winter stellte fest, die Schonfrist sei jetzt um, Leserbriefe und Wochenendausgabe müsse er nebenbei bearbeiten, der Wahlkampf erfordere jeden Mann. Seebaum lief gleich in zwei Ausschußsitzungen, in denen sich die Anträge von PECH, PFAV und PFF auffallend häuften. Die regierende PECH überraschte die Bürger mit der gleichzeitigen Vollendung mehrerer Bauvorhaben der Stadt: Es hagelte Eröffnungen von Straßenstücken, Parkgaragen, Spielplätzen und Ampelanlagen. Die PFAV erklärte, das sei billige Wahlkampftaktik, und das verbaute Geld würde man anderswo dringender brauchen. Die PFF fand das auch und empfahl der Stadt, Geld zu sparen, indem sie ihre kommunalen Betriebe in die Hand privater Unternehmer übergehen lasse. Dem
wiederum zeigte sich die PECH sehr aufgeschlossen und verwies darauf, sie habe den städtischen Schlachthof und mehrere Reinigungsbetriebe sowie einen Teil des Busverkehrs bereits der unternehmerischen Initiative übergeben, sie fördere private Schulen und Wohlfahrtsinstitute und sei stets die erste, der schleichenden Verstaatlichung Einhalt zu gebieten. Die PFAV versicherte, sie stehe fest auf dem Boden des Gewinnprinzips und bitte nur, unsoziale Härten zu mildern. Seebaum schrieb die Reden im Rathaus mit und richtete die schriftlichen Materialien zum Abdruck in der Zeitung her. Die Kommentierung besorgten Winter und der Chef. Winter unterhielt eine ständige Rubrik mit dem Titel ›Was man so hört‹; darin spielten Eheschließungen, Wohnungswechsel oder besonders witzige Bemerkungen der Lokalpolitiker die größte Rolle, aber gelegentlich erlaubte Winter sich auch einen Tadel für einen groben Ausdruck, der in der Hitze des Wahlkampfs gefallen war. Der Chef äußerte sich im Blatt nur zu Grundsatzfragen, und zwar prinzipiell im Sinn der freien Entfaltung jedes einzelnen Unternehmers; dabei war er durchaus imstande, zu gewissen Auswüchsen tadelnd den Finger zu erheben und zu einer allgemeinen Besinnung aufzurufen. Noch nie war Seebaum die Zeitungsarbeit so sinnlos erschienen. In seinem Bekanntenkreis gab es niemand, der etwas auf die Beschuldigungen und Versprechen der Politiker gab. Die Stimme für PECH, PFAV oder PFF stand bei jedem ohnedies längst fest. Da die zwei großen Parteien fast genau gleich stark waren, mußte aber nur ein winziger Prozentsatz des Wahlvolks umgestimmt werden, um einen »Erdrutsch« herbeizuführen, und an die wenigen Unentschlossenen richtete sich darum der ganze Wahlkampf. An allen Plakatwänden klebte das Lächeln der Politiker. Die PECH zog mit dem Slogan »Bewährtes bewahren – PECH!« in den Kampf, die PFAV konterte mit »PFAV – Bewährtes
verbessern!«. Die kleine, aber zur Mehrheitsfindung bedeutsame PFF warb mit dem Ausruf: »Mut zur Sicherheit – PFF!« Die kleinen Gruppen der »Blauen« und der PFUI hatten kein Geld, Werbeflächen zu mieten, ihre Plakate klebten an Schalterkästen, Bauzäunen oder Bäumen. Ein Leserbrief dieser Tage machte den Vorschlag, auf diese Art des Wahlkampfes ganz zu verzichten und das dafür verbrauchte Geld beim nächsten Mal den Hungernden Indiens zu überweisen. Gerade brütete Seebaum über einer Überschrift für einen Bericht vom neuen Schwimmbad – ›Bronnens Wasserratten nicht mehr auf dem Trockenen‹ war ihm zu dumm, und ›Ein Schwimmbad als Wahlkampfmunition‹ ließ Winter nicht durchgehen – , da rief Leinenweber an und lud ihn ein, am selben Abend die Bürgerinitiative zu besuchen. Seebaum mußte erst nachdenken, worum es ging, und dann einen Ersatzmann für den Abend finden: Er hatte sich überreden lassen, die Oper ›Zar und Zimmermann‹ im Stadttheater zu besprechen. Es regnete immer weiter, jedermann sprach vom Regen und unter dem beruhigenden Quaken der Wetterfrösche rauschte die Angst. Ein Fachmann hatte den allgemeinen Zusammenbruch von Verkehr und Landwirtschaft vorhergesagt, sollten die Niederschläge noch länger als zwei Wochen andauern. Zweimal war in den letzten Tagen in Bronnen eine Stunde lang der Strom ausgefallen, Seebaum hatte Berichte über stockende Fahrstühle, lahmgelegte Fabriken und fröstelnde Beamte verfaßt. Knapp unter den Kanalgittern gurgelte schwarzes Wasser; die Fußgänger liefen in Gummistiefeln durch die Teiche auf den Straßen. Seebaum schlang mit der gewohnten Reporterhast das Abendessen, Anna erzählte vom neu aufgenommenen Rentner, der wie unter Schock im Altenheim am Fenster saß, als Leinenweber kam, zum Mitessen eingeladen wurde und
sehnsüchtig das Leben in einer Wohngemeinschaft lobte. Anna und Seebaum saßen ihm wie ein festes Paar gegenüber, darum lud er Anna selbstverständlich zum Mitkommen ein. Sie überlegte; die Bürgerinitiative interessierte sie nicht besonders, trotzdem sagte sie zu, und Seebaum freute sich, weil sie das tat, um einen für beide überraschend frei gewordenen Abend mit ihm zu verbringen. Leinenweber führte sie ins Hinterzimmer einer Kneipe; um einen zugedeckten Billardtisch saßen etwa zehn junge Leute und ein paar ältere. Zeitungsausschnitte, Flugblätter und Münzen lagen auf dem Tisch. In müdem, etwas ungeduldigem Tonfall redete man durcheinander, es fielen Worte wie »Bebauungsplan«, »Bürgerbeteiligung«, »Normenkontrollklage«, »Bundesbaugesetz«, »Generalverkehrsplan«, »Verbandsklage«. Paragraphenziffern und Straßennamen flogen hin und her; sie setzten sich lächelnd dazu, ein lautes Stühlerücken erhob sich, und der Kellner nahm Bestellungen auf. Seebaum hielt die meisten für Lehrer, Architekten oder Ingenieure, die jüngeren für Studenten; von den älteren Männern war einer Rentner, der andere besaß ein paar Mietwohnungen. Als Leinenweber Seebaums Beruf vorstellte, entstand Schweigen, dann fielen mißtrauische Fragen, bis man schließlich die noch nie dagewesene Anwesenheit eines Journalisten sehr lobte. Jemand erklärte, man bereite gerade eine Bürgerversammlung gegen den Abriß von drei Häusern und gegen die Verbreiterung der Straße vor. Seebaum staunte über das Niveau, auf dem hier über Verkehrs- und Stadtplanung debattiert wurde, es lag über dem Durchschnitt von Ausschußsitzungen. Der Entwurf eines Flugblattextes wurde verlesen, kurz kritisiert und mit wenigen Änderungen gutgeheißen. Nun brauchte man Leute für einen Informationsstand, um am kommenden Samstag die
Flugblätter vor den Selbstbedienungsläden zu verteilen. Es entstand eine lange Pause, dann fing jemand zu schimpfen an, bis ein paar Umsitzende seufzten und sich meldeten; ihre Vornamen wurden notiert, und sie vereinbarten einen Treffpunkt zum Abholen der dann gedruckten Flugblätter. Dazwischen wurde geplaudert; das Treffen schien auch als Informationsbörse zu dienen, mehrere suchten eine Wohnung, andere zogen gerade um, brauchten Helfer und einen Lieferwagen. Über die lokalen Politiker machte man Witze; dabei wurden die Vertreter der PECH als Gegner betrachtet, während die oppositionelle PFAV wenigstens Informationen aus dem Rathaus weitergab und gelegentlich Forderungen der Bürgerinitiative als Anträge in den Stadtrat einbrachte. Doch über allem schien ein Nebel von Mißmut und Müdigkeit zu liegen, denn die jahrelange Mühe hatte bisher keinen Erfolg gezeitigt. Zwar hatte man Tausende Protestunterschriften gegen die Straßenverbreiterung vorgelegt, Briefe verfaßt, Versammlungen und Umzüge organisiert; doch alles prallte an der absoluten Mehrheit der seit dem Krieg allein regierenden PECH ab. Ein Mädchen klagte, man verliere jede Lust an dieser Arbeit, da sie doch nichts bringe; zuerst hätten die Politiker den aktiven Bürger mit gönnerhaftem Schulterklopfen gelobt, wenn er aber durch Hartnäckigkeit lästig werde, gehe man zur Taktik des Totschweigens über, und wenn das noch immer nicht Ruhe schaffe, zu dem Vorwurf, die Bürgerinitiative sei von der PFUI unterwandert. Ein anderes Mädchen widersprach, wies auf Anfangs- und Teilerfolge hin; immer wieder habe man den Verantwortlichen die Haltlosigkeit ihrer Argumente nachweisen können und wenigstens einen Aufschub ihrer Maßnahmen erreicht. Jemand rief dazwischen, ihm hänge diese Diskussion schon zum Hals heraus, weil sie jedesmal
wiederkehre und zu nichts führe; was sonst solle man denn tun? Es gehe nicht anders als durch geduldige Öffentlichkeitsarbeit, die Alternative wäre Resignation und reibungsloses Funktionieren der zerstörerischen Pläne der Stadtverwaltung. Da nun eine Pause eintrat, wenn auch eine unglückliche, begann Leinenweber von Stifts Grube und vom Giftproblem zu erzählen. Gleich riefen einige, das gehöre hier nicht her und übersteige alle Kräfte, doch die meisten wollten die Geschichte wenigstens hören. Leinenweber verlas sein geologisches Gutachten und dann das offizielle, in dem jede Wasserdurchlässigkeit der Erde unter Stifts Grube bestritten war. Seebaum erschrak, wie resigniert, fast gleichgültig die meisten reagierten; als meinten sie, daß sie gegen diesen Baustein in einer langen Mauer von Mißständen und Willkürakten ebenso vergeblich anrennen würden wie gegen den Rest der Mauer. Doch dann griff einer nach Leinenwebers Text mit der geologischen Zeichnung darauf: er würde in der nächsten Nummer der Zeitung der Bürgerinitiative abgedruckt. Er werde seine Freunde in der PFAV informieren, sagte jemand, mitten im Wahlkampf werde sie schon anbeißen. Ob Seebaum im ›Bronnen-Kurier‹ darüber schreiben würde? Er bejahte, empfahl aber irgendeine öffentliche Aktion gegen Stift, über die er lieber berichten würde als über einen rasch dementierten Fall Stift allein. Allmählich schwand die Lethargie, man überlegte den Druck von Plakaten für den Zaun um die Grube, und eine Pressekonferenz. Die Kräfte wurden abgeschätzt, die Hilfe der zwei anderen Bürgerinitiativen in Bronnen für nötig erachtet. Jemand fing an zu lachen und fragte, was sie denn noch alles tun sollten, mit dem bißchen Zeit und den paar Leuten und dem wenigen Geld,
das durch Spenden, Flohmärkte und Würstchenverkauf auf Bürgerfesten in die Kasse fließe. Anna blickte ungeduldig in die Runde; das zog sich alles hin und drehte sich im Kreis, als hätte man die ganze Nacht zur Verfügung. Gegenüber saß einer, der strickte an einem Pullover und rauchte Pfeife dazu. In Annas Knien begann es zu jucken, sie mußte mit den Füßen scharren und wünschte sich, neben Seebaum aus der Stadt zu laufen. Sie sah aber, wie sich, wenn auch auf zeitraubende Weise, Entschlüsse bildeten. Irgendwann hatten diese Leute gefunden, man dürfe sich nicht alles gefallen lassen, und daß sie hier so lange beisammen saßen, war die Konsequenz eines zähen, eigensinnigen Widerstands. Gern hätte Anna mit ihren Arbeitskollegen auch so um einen Tisch gesessen, um über Verbesserungen der Arbeit zu reden. Ihre Arbeit! Gewerkschaftlich organisieren durfte sie sich nicht, nichts half ihr gegen den erstickenden Druck, sich aufzuopfern. Und das Ergebnis? Ein Heim, das einen Menschen wie diesen Rentner förmlich umbrachte! Anna faßte einen Entschluß: Der Rentner sollte freikommen, dafür würde sie sorgen, dafür würde sie die Kündigung riskieren. Sie war es satt, sich für eine Einrichtung aufzureiben, die für diesen alten Mann der Tod war. Und für mich ist es auch ein Grab, dachte sie. Wann hab ich zuletzt lang und laut lachen müssen? Seebaum erschrak, als er neben sich auf einmal Annas Stimme hörte; sie klang atemlos und leise, jemand rief »Lauter!«, da wurde sie fester, und man hörte zu. Anna sagte, es gehe nicht nur um das Gift, sondern auch um den Abriß eines Hauses, das Stift gehöre, und um seine Mieter; Stift habe sein Kapital aus dem Chemiebetrieb gezogen und in Häuser gesteckt, die er jetzt abreißen und neu errichten lasse.
In dem Altenheim, wo sie arbeite, sei schon der erste Mieter gelandet, ein früher gesunder Mensch, der jetzt plötzlich aller Bindungen beraubt und buchstäblich vom Tod bedroht sei. Nach kurzem Schweigen kam der Vorschlag, eine Demonstration zu organisieren, die vor Stifts Grundstück und seinen Häusern enden werde; auf den Flugblättern und Plakaten müsse auf diesen Fall von Vergiftung und anschließender Wohnraumvernichtung besonders hingewiesen werden; der Abriß von Häusern sei schließlich das Hauptthema dieser Bürgerinitiative. Leinenweber stieß Seebaum an, und Anna lächelte. Als die Aufgaben verteilt wurden, blieb an den dreien viel hängen: Seebaum würde die Presseerklärung schreiben, Leinenweber den Artikel für die kleine Zeitung; alle würden beim Verteilen der Flugblätter mitmachen. In der nächsten Woche geriet für Anna und Seebaum der Zeitplan ganz durcheinander und ordnete sich neu. Immer hatten beide unter dem Übermaß an Arbeit gelitten, das die Freizeit aufzufressen drohte, bis kaum noch zum Schlafen Zeit blieb: Anna machte Überstunden, Seebaum hatte Abendtermine und liegengebliebene Arbeiten. Und jetzt kamen die neuen Aufgaben dazu; überraschend, wieviel Zeit in den Fugen des Zeitplans noch steckte, wieviel Energie für die neue Tätigkeit frei werden konnte; am überraschendsten, daß Anna und Seebaum jetzt mehr von einander sahen als vorher und mehr miteinander zu tun hatten. Kaum ein Abend war mehr frei fürs Privatleben der Wohngemeinschaft, aber das hieß auch, daß sie abends seltener vor dem Fernseher lagen oder Karten spielten. Anna lief von Amt zu Amt, um den Rentner aus dem Altenheim zu befreien. Sie überwand sich, den Mediziner wiederzusehen, und wegen der Unpersönlichkeit ihres Anliegens glückte ihr der Beginn eines neuen, kollegialen
Verhältnisses: Der Mediziner besuchte auf Annas Bitte den Rentner im Heim, untersuchte ihn, sprach mit ihm und veranlaßte ein Gutachten, das dem Rentner körperliche Gesundheit und soziale Kontaktfähigkeit bescheinigte, aber zugleich warnte, ein Verbleib im Heim sei für diesen Mann zerstörerisch. Doch am Ende der ersten Woche schienen die Anstrengungen umsonst zu sein, es gab keine freie Wohnung für den alten Mann; er dämmerte im Heim dahin und stellte sich tot. Seebaum legte in der Redaktion seinen Bericht über das Gift mitten in Bronnen vor; darin zitierte er das Gutachten von Professor Kraft, stellte Leinenwebers Meinung dem gegenüber, flocht die Presseerklärung der Bürgerinitiative ein; er schilderte, wie Stifts Geld nun statt im Chemiewerk in seinen alten Häusern zu arbeiten anfing, sie niederreißen und die Mieter vertreiben wollte. Er berichtete, was dies für einen alten Mann bedeutete, der sein Leben lang für Stift gearbeitet hatte und jetzt ins Heim abgeschoben wurde. Seebaum konnte auch eine Stellungnahme der PFAV vorweisen, die eine Untersuchung des Grundstücks, Analyse des Wassers, Aufklärung über die Lagerung der Gifte forderte. Dies gab den Ausschlag: Seebaums Artikel wurde gedruckt. Am Ende der zweiten Woche war das Problem veröffentlicht, durch den Zeitungsbericht und durch Flugblätter; aber Stift und die Stadt zeigten keine Reaktion. In der dritten Woche reagierte Stift. Er ließ die Presse zu einer Begehung des Grundes einladen; er selbst ließ sich nicht blicken. Der Brunnen war nun zubetoniert, die Metallfässer verschwunden, die gelblichen Flecken an den Mauerresten überpinselt, die Pfützen abgepumpt und mit frischem Regenwasser gefüllt. Wo der Abfall gelandet war, sagte Stifts Sprecher nicht; das sei Stifts Privatsache, jedenfalls liege der Müll sicher; oder
unterstelle jemand einen Bruch der überaus strengen Umweltgesetze durch einen so verdienten Mann? Einen Tag nachdem Seebaum in der Zeitung über die Besichtigung des Geländes berichtet hatte, erhielt er in der Redaktion einen anonymen Anruf: Man möge doch auf einer Müllhalde am Rande des Hochschulgeländes nachsehen, dort sehe es gelb aus. Leinenweber, Seebaum und ein junger Chemiker fuhren hin, fanden Stifts Müll; nicht einmal die Mühe, das giftige Chromat in neue Fässer umzufüllen, hatte man sich genommen. Das berichtete Seebaum; die PFAV stellte neue Fragen im Stadtrat. In der Zeitung der Bürgerinitiative erschien jetzt Leinenwebers Aufsatz über die Geologie der Baugrube: Es sei nicht auszuschließen, daß Chromat ins Grundwasser und bis zu den Heilquellen gelange. Augenblicklich hörte die PFAV auf, Erklärungen abzugeben. Das Ausmaß des Problems wurde ihr zu unhandlich, es ging an den Lebensnerv der Kurstadt Bronnen, der Vorwurf der Nestbeschmutzung hing in der Luft. Schon erblickte der Kommentator der PECHnahen ›Bronnen-Zeitung‹ eine heillose Allianz radikaler »Berufsbürger«, verkappter PFUIsten und eines linken Flügels in der PFAV: Vom Fortschaffen von Müll rede man und meine eigentlich damit die Beseitigung der Grundordnung! Mit dem Verstummen der PFAV ließ die Bereitschaft des ›Bronnen-Kurier‹, Seebaums Artikel zu veröffentlichen, merklich nach. Der Konflikt verlagerte sich auf die Leserbriefseite. Am meisten empörte die Leute das Schicksal des Rentners; hier war, anders als in den Gutachten und Gegengutachten der Fachleute, anders als bei der ungreifbaren und übermächtigen Giftgefahr, ein handlicher »Fall« zu sehen; hier spielten die »oben« einem von »unten« übel mit, der keinem etwas getan hatte. Der Mann war rüstig, sagten die Ärzte; na also, was tat
er dann im Altenheim? Das Problem schrumpfte auf ein Duell zwischen zwei Personen, Stift gegen den Rentner, aber nur Stift hatte eine Waffe, nämlich die Wohnung des Rentners; und was hatte der? Die PFAV und der ›Bronnen-Kurier‹ bedienten sich gern dieses Blitzableiters: Es müsse doch in unserer Gesellschaft möglich sein, einem altgedienten Arbeitnehmer in Bronnen eine billige Wohnung zu verschaffen! Stifts Grube verschwand unterdessen unter den Fundamenten einer Parkgarage. Seebaum versuchte, aus der Stauung und Umleitung des StiftSkandals in ein Rentnerschicksal das Beste zu machen und wenigstens die Misere der Altenpflege im ›Kurier‹ zur Sprache zu bringen. Zum ersten Mal besuchte er Anna an ihrem Arbeitsplatz und verfaßte einen Bericht über Bronnens Altenheime. Anna ließ sich von Seebaum interviewen und riskierte die Kündigung. Ein zweiter Skandal, zum Thema Altenpflege in Bronnen, zeichnete sich ab. Einen Tag nach diesem Bericht hatte Anna die Kündigung und der Rentner eine Wohnung. Zwischen Arbeitsschluß und Abendessen lief Seebaum mit den Flugblättern der Bürgerinitiative von Haus zu Haus oder stand am Samstag damit vor den Geschäften. Ihn erstaunte selbst, wieviel Verlegenheit, ja Furcht er dabei empfand. Er kam sich wie das Mitglied einer religiösen Sekte vor, wenn er den Leuten die Flugblätter hinhielt, wie ein Spinner. Er sah sich an der Ecke stehen, mit gefrorenem Lächeln, und den hastigen Passanten das Papier hinstrecken; sie machten einen Bogen, schüttelten den Kopf, lachten ihn aus, tippten an die Stirn, sagten leise: »PFUI!« Ein Kollege, der ihn so auf der Straße stehen sah, grüßte ihn entsetzt, als hätte Seebaum endgültig den Verstand verloren. Man war gewohnt, daß auf der Straße Werbematerial für Geschäfte angeboten wurde, und nahm an, auch das Überreichen eines Flugblatts bedeute die
Aufforderung, sich für ein Geschäft herzugeben. Wer einen auf der Straße ansprach, der wollte einen anbetteln, einem etwas abluchsen, Geld oder die Stimme; unvorstellbar, daß ein Mitmensch auf der Straße auf gemeinsame Interessen aufmerksam machen wollte! Dahinter mußte eine egoistische Absicht stecken, Werbung für geheime Absichten, am Ende für Unordnung und Umsturz im Dienste der Weltherrschaftspläne der anderen Seite. Seebaum stand mit seinen Flugblättern im Regen oder steckte sie wie ein schuldbewußter Dieb in die Briefkästen. Nie zuvor hatte Seebaum die Tabuisierung jeder politischen Initiative im Alltag so am eigenen Leib gespürt – als Gefühl, splitternackt mitten auf der Straße zu stehen und zu etwas nie Dagewesenem, Unerhörtem aufzufordern. Ein Streifenwagen rollte an seinem Stehplatz vorbei, die jungen Polizisten musterten ihn, und er empfand es wie Gnade, daß sie nicht hielten und ihn bestraften. Aber aus dieser Grundstimmung von Verrücktheit und stummen Verboten erhob sich auch Sympathie. Man trug sich in die Unterschriftenlisten ein, lobte »das Engagement der jungen Leute, die noch nicht wissen, daß es keinen Sinn hat«, manche standen lange bei Seebaum und erzählten ihm ihre Geschichten; es gab auch freundliche Blicke und Worte. Als einmal ein Angestellter aus dem Supermarkt kam und Seebaum aufforderte, wegzugehen, sonst klage er ihn wegen Geschäftsstörung an, ging Seebaum lächelnd ein paar Schritte weiter, schon ein wenig gewappnet durch die Zustimmung wenigstens jedes dritten, vierten oder zehnten auf der Straße. Auch Anna kam, blaß und verschlafen, sie hatte Stellengesuche zu schreiben; sie nahm ihm einen Stoß Flugblätter ab und stellte sich neben ihn. Als er sie besorgt ansah, weil sie so erschöpft dreinschaute, sagte sie höhnisch:
»Du sagst immer, die Natur wird zerstört – gut: Schau mich an!« Nach drei Wochen saßen sie mit den anderen im Hinterzimmer der Kneipe; der Lehrer, die Frau und ein Student waren aus der Wohngemeinschaft mitgekommen; man beriet Ergebnisse, Erfolge und zukünftige Aufgaben. Inmitten saß der Rentner, unterhielt sich mit zwei älteren Leuten am Tisch, lachte und spendierte eine Runde für alle. Stift blieb unangreifbar; sein Abfall war auf drei verschiedenen Deponien gelandet, für ihn arbeitete sein Geld und vergoldete den Abend eines bewegten Lebens. Aber ausnahmsweise hatte die ganze Aufregung etwas gefruchtet: Wenigstens ein alter Mann wurde nun in Ruhe gelassen und hatte eine Wohnung. Die Menschen sind besser als ihr Ruf, fand Seebaum. In vielen dunklen Stiegenhäusern war er in diesen Wochen gewesen, hatte ängstliche, verärgerte, schüchterne Menschen gesehen, die freundlicher wurden, wenn er ängstlich, verärgert und schüchtern erklärte, daß er ihnen nichts andrehen wolle. Es war vor allem gut, nicht allein durch Bronnen zu laufen. Vor Seebaum lag kein schwarzes Loch, eher ein schweres Gewicht, das sich wälzen ließ, wenn einem geholfen wurde, und das war nicht ganz ausgeschlossen. Der Rentner hatte einen Schwips. Er wischte mit dem Jackenärmel den Dunst von der Wirtshausscheibe und winkte hinaus. Da draußen hüpften die jungen Leute durch den Regen, sie wurden immer kleiner, gleich würden sie verschwunden sein.