Nr. 1861
Bomben für den Brutkosmos Konfrontation mit Goedda - die Unsterblichen werden gejagt von Peter Terrid
Im Som...
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Nr. 1861
Bomben für den Brutkosmos Konfrontation mit Goedda - die Unsterblichen werden gejagt von Peter Terrid
Im Sommer 1289 Neuer Galaktischer Zeitrechnung sind Menschen von der Erde an verschiedenen Punkten des Universums in Ereignisse verwickelt, die in einem engen Zusammenhang stehen. Perry Rhodan und sein langjähriger Freund Reginald Bull beispielsweise sind in der Galaxis Plantagoo auf die Galornen gestoßen, die im Auftrag unbekannter Mächte an etwas arbeiten, das für die heimatliche Milchstraße bestimmt ist. Weder Rhodan noch Bull wissen allerdings, wie Plantagoo und die Menschheitsgalaxis verbunden sind. Alaska Saedelaere landete nach einer Irrfahrt durch die Galaxien Bröhnder und Tolkandir zuerst in der »Mittagswelt«, die sich mittlerweile als die Heimstatt der mysteriösen Goedda entpuppte. Von Terra aus haben drei andere Zellaktivatorträger - der Arkonide Atlan, die Kartanin Dao-Lin-Hay und der Terraner Myles Kantor - einen wagemutigen Vorstoß begonnen. Mit Hilfe der Herreach vom Planeten Trokan stießen sie in die sogenannte Traumblase vor. Die drei Aktivatorträger wissen, daß sie nur in diesem Raum den Kampf gegen die Gefahr aufnehmen können, die derzeit die ganze Milchstraße bedroht: Nachdem bereits 52 Planeten komplett entvölkert wurden, ist damit zu rechnen, daß dieses Schicksal auf Zehntausende weiterer Welten zukommt. Bei ihrem Vorstoß erfahren die Unsterblichen, daß hinter Goedda eine mysteriöse Macht namens Shabazza steht; die die Invasion der Milchstraße gesteuert hat. Den drei Aktivatorträgern bleibt anscheinend nur ein Ausweg: BOMBEN FÜR DEN BRUTKOSMOS …
Bomben für den Brutkosmos
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide muß sein Extrahirn strapazieren. Myles Kantor - Der terranische Wissenschaftler bastelt an einer Hyperbombe. Nerghana Bilox - Eine Terranerin soll ihren Glauben aufgeben.
1. Atlan Allein im Silbernebel … Um mich herum gab es nichts anderes als dieses silbrige Schimmern, das in unaufhörlicher Bewegung zu sein schien und sich bis an die Grenzen des Sehvermögens erstreckte. Ich atmete langsam und ruhig. Immerhin funktionierte der SERUN noch, wenn auch wie ich inzwischen hatte feststellen müssen, stark eingeschränkt. Was genau mit mir passiert war, konnte ich noch nicht abschätzen. Ich wußte nur, daß sich jenes eigentümliche Bauwerk, in dem allem Anschein nach Goedda nistete, plötzlich gewaltig vergrößert hatte - so rasch, daß weder mir noch Dao-Lin-H'ay oder Myles Kantor eine Möglichkeit zur Flucht verblieben war. Zum Glück hatte mein SERUN funktioniert und mich so wirksam eingehüllt, daß die organische Masse, die mich jäh eingeschlossen hatte, mich notgedrungen wieder ausgespien hatte. Ich lebte noch, und ich hatte die Hoffnung, daß es meinen beiden Freunden ähnlich ergangen war. Sicher konnte ich mir dabei aber nicht sein … Denn es waren mehrere Dinge zur gleichen Zeit geschehen, Dinge, die in einem gewissen Zusammenhang standen. Goedda - oder ihr Bauwerk? hatte sich geradezu explosionsartig ausgedehnt. Gleichzeitig war es offenbar zu jenem fatalen Flimmervorgang gekommen; dessen Auftreten wir schon seit geraumer Zeit mit großer Angst erwartet hatten - insgesamt waren sechs solcher Flimmerphasen prognostiziert worden, die jeweils wohl einen Wachstumsschub der Goedda ankündigten oder begleiteten. Und wir wußten, daß das sechste und letzte Flimmern für die Bewohner Terras das
Ende bedeuten würde und den totalen Sieg der Goedda. All dies und noch vieles mehr war wie eine Sturzflut von Informationen während der Flimmerphase über mich hereingebrochen; ich hatte mich nicht dagegen abschotten können, es auch gar nicht gewollt. Je mehr wir über Goedda in Erfahrung brachten, um so besser. Aber dafür hatte ich einen hohen Preis zu zahlen gehabt. Immer stärker machten sich in meinem Schädel rasende Schmerzen breit, die meine Wahrnehmung trübten und immer wieder Krämpfe durch meinen Körper laufen ließen. An eine geistige Übernahme durch Goedda glaubte ich nicht; weit eher hatte ich den Eindruck, als sei mein Extrahirn von der Aufgabe restlos überfordert, diese Informationsflut zu verarbeiten und die in ungeheurer Menge auf mich eingeströmten Daten in sinnvoller Weise zusammenzufügen und zu ordnen. Im Gegensatz zu Myles Kantor und Dao-Lin-H'ay verfügte ich über ein Extrahirn. Es war aktiviert worden, vor vielen tausend Jahren, als ich alle Prüfungen für die ARK SUMMIA bestanden hatte. Aber niemals, so schien es, waren Extrahirn und fotografisches Gedächtnis einer derartigen Belastung ausgesetzt gewesen. Während ich die Zähne zusammenbiß und versuchte, die Schmerzen so gut wie möglich zu ignorieren, stellte sich mir die bange Frage, ob Myles Kantor und Dao-Lin-H'ay ebenfalls von dieser Informationsflut überspült worden waren. Wenn ich mit meinem Extrahirn schon solche Probleme hatte, wie mochte es dann meinen Gefährten ergangen sein? Vielleicht lebten sie nicht mehr, vielleicht hatte sie der Datenstrom auch geistig schwer geschädigt. Von tagelangen Schmerzattacken oder Bewußtlosigkeit bis hin zum lallenden Wahnsinn war nahezu alles vor-
4 stellbar … Es gab nur eine Möglichkeit, mir diese Sorge zu nehmen: Ich mußte Kontakt zu meinen Gefährten bekommen. Aber das war weitaus schwerer zu tun, als zu planen. Die leistungsstarken Pikosyns meines SERUNS waren nämlich ausgefallen; ob das auf die Datenflut zurückzuführen war oder auf unbekannte hyperphysikalische Vorgänge während des Flimmerphänomens, ließ sich nicht sagen - darüber hätten nur die Pikosyns selbst Auskunft geben können. Ihre Fähigkeiten waren nach wie vor vorhanden, aber nahezu sämtliche Daten, die sie gespeichert hatten, waren verloren, die Programme zum Teil; die Daten aber, die von den Programmen verarbeitet wurden, fehlten restlos. Alles, was wir an Informationen hatten zusammentragen können, war unwiederbringlich verloren. Ob mein fotografisches Gedächtnis die Daten behalten hatte, ließ sich nicht gänzlich einschätzen: Während ich durch den Silbernebel driftete, war mein Gehirn offenbar immer noch und immer stärker damit beschäftigt, die Daten zu sortieren und zu verarbeiten, und ich konnte nicht abschätzen, wie lange diese Prozedur dauern würde. Es war ein sehr eigentümliches Gefühl, nicht mehr auf das Extrahirn zurückgreifen zu können; mir war zumute, als hätte ich mehr als neunzig Prozent meines Gedächtnisses verloren und ein erhebliches Maß an Konzentration und Intelligenz dazu. Mein Gehirn funktionierte wahrscheinlich normal, aber alle Funktionen, die ich - bewußt oder, weitaus öfter, unbewußt - dem Extrahirn überlassen hatte, standen mir jetzt nicht mehr zur Verfügung. Ich kam mir dabei vor wie geistig amputiert, ein scheußliches Gefühl. Abwarten - ich bin noch da. Der mitunter trocken sarkastische Tonfall des Extrahirns fehlte in dieser Bemerkung, aber das schadete nichts. Nach Spott, gleichgültig ob geistreich oder platt, war mir ohnehin nicht zumute. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung
Peter Terrid aus, dann machte ich mich an die Arbeit, meinen SERUN von Hand zu steuern. Die sogenannten Handschuhsensoren waren schon vor langer Zeit entwickelt worden, kamen aber nur selten zum Einsatz, weil die Pikosyns entweder auf mündliche Befehle reagierten oder von sich aus wußten, was sie zu tun hatten. Am linken wie am rechten Handschuh gab es eine Reihe von runden Sensoren, angebracht jeweils an den Seiten der Finger. Wurden sie gleichzeitig mit den Fingerspitzen zweier Finger berührt, reagierten sie wie Schalter und Steuerelemente. Wenn ich beispielsweise mit dem Daumen und dem kleinen Finger der rechten Hand an den linken Handschuh griff und sie an den längsten Knochen des Ringfingers zusammendrückte, wurde der eingebaute Antigrav des SERUNS aktiviert. Mit der Zahl solcher Druckimpulse in kurzer Zeit konnte der benötigte Wert eingestellt werden. Je nach Modell gab es zwischen zwölf und fünfzehn solcher Sensoren pro Handschuh; alle zusammen Waren durchaus in der Lage, die meisten Funktionen eines SERUNS sehr gut zu steuern man mußte nur wissen, wo und wie oft man zu drücken hatte. In den meisten Fällen wurden die Träger von SERUNS vor dem ersten Einsatz per Hypnoschulung mit den vielfältigen Möglichkeiten vertraut gemacht, die dieses Steuerungssystem anbot. Aber ein Arkonide mit aktiviertem Extrahirn und damit mit einem fotografischen Gedächtnis hatte derlei naturgemäß nicht nötig - vorausgesetzt, dieses Extrahirn war voll einsatzbereit. In meinem Fall traf das nicht mehr zu, und so stand ich vor dem Problem, mich nach der Methode »Versuch und Irrtum« an die vielfältigen Operationen zu erinnern, die sich mit einem binären Computerkode abrufen ließen. Nach einigen Fehlversuchen, bei denen ich unter anderem die Innentemperatur des SERUNS auf über fünfzig Grad Celsius steigerte - ein Wert, der einen Terraner in einige Schwierigkeiten gebracht hätte, für einen
Bomben für den Brutkosmos Arkongeborenen aber noch recht gut zu verkraften war -, hatte ich es endlich geschafft, das Funkgerät zum einen einzuschalten, zum anderen auf geringe Impulsstärke zu bringen. »Myles, Dao-Lin - könnt ihr mich hören? Meldet euch!« Meine Stimme klang anders als sonst, seltsam gepreßt und kurzatmig; wahrscheinlich war dies eine Nebenwirkung der rasenden Kopfschmerzen, mit denen ich zu kämpfen hatte. Es fühlte sich an, als tobe irgendwo mitten in meinem Gehirn eine kleine Raumschlacht; immer wieder gingen dort Transformgeschosse hoch und jagten Schmerzkrämpfe durch meine Muskulatur. »Myles, Dao-Lin - hört ihr mich? Bitte meldet euch!« Im Brutkosmos der Goedda - die Bezeichnung Traumblase hatte sich inzwischen dank besserer Kenntnis erübrigt - gab es außer uns dreien und Goedda noch einige Einheiten der Tolkanderflotte. Dort wurde ebenfalls gefunkt, und wir mußten Sorge tragen, daß unser Funkverkehr dort nicht abgehört werden konnte. Zum einen standen wir vor dem Problem, daß wir nach dem Ausfall der Pikosyns offen kommunizieren mußten, die Funkgespräche also nicht kodiert werden konnten; zum anderen aber mußten wir verhindern, daß dort die simple Tatsache nicht entdeckt wurde, daß wir überhaupt funkten. Sollte es den Tolkandern gelingen, unsere Sender zu orten, würde eine allgemeine Hetzjagd auf uns beginnen, deren tödliches Ende mühelos vorauszusehen war. Entsprechend schwach mußten unsere Funkimpulse daher ausfallen, hart an der unteren Grenze dessen, was technisch überhaupt möglich war. Ich wartete und bekam keine Antwort. Meine Sorge um die Freunde stieg. Schließlich aktivierte ich auf die umständliche Weise über die Handschuhsensoren den Antrieb des SERUNS. Langsam bewegte ich mich, hoffentlich auf das Zentrum des Brutkosmos zu, denn nur dort konnten wir hoffen, Informationen
5 zu finden und vielleicht etwas zu bewirken. Hoch war die Wahrscheinlichkeit nicht. Unsere Ausrüstung war stark zusammengeschrumpft; ich beispielsweise besaß noch meinen SERUN, dazu einen Kombistrahler. Angesichts der technischen Mittel der Tolkander im Brutkosmos war das eine eher kümmerliche Ausstattung. »Myles, Dao-Lin …!« Immer wieder gab ich diese Rufe ab, weit gefächtert, aber von geringer Intensität. Eine Stunde, zwei Stunden … das Warten zerrte an den Nerven. Dann, von einem Augenblick auf den anderen, hörten die Schmerzen in meinem Kopf auf; das Extrahirn hatte seine Arbeit offenbar beendet. Und während ich durch den silbernen Nebel flog und nach meinen Freunden rief, sickerten die Informationen aus dem fotografischen Gedächtnis behutsam in mein Bewußtsein. Schmerzen hatte ich jetzt nicht mehr, aber mich schauderte bei dem, was mir der Extrasinn -mitteilte. Endlich bekamen die Dinge, die uns ebenso erschreckt wie verwirrt hatten, Strukturen und Zusammenhänge. Aber was für Zusammenhänge … »Heiliges Arkon!« murmelte ich erschüttert. »Atlan?« Unverkennbar das Organ einer Kartanin. Dao-Lin-H'ay lebte also noch. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sprich weiter, Dao-Lin! Ich werde dich anpeilen und zu dir stoßen.« Dao-Lin-H'ay war clever. Anstatt was im übrigen gar nicht so einfach war - einfach nur irgendein belangloses Zeug zu schwatzen, ließ sie jene Laute hören, die nur bei den Kartanin gebräuchlich waren, als Erkennungszeichen aber völlig ausreichten. Ich schränkte den Empfangsbereich meiner Funkanlage behutsam ein, bis ich ziemlich genau die Richtung ermittelt hatte, aus der Dao-Lin-H'ay sendete, dann verstärkte ich den Antriebsschub meines SERUNS. Nach einer Viertelstunde konnte ich die Kartanin sehen, gehüllt in einen SERUN,
6 wie sie langsam um drei Achsen kreiselte. Sie selbst konnte das wahrscheinlich gar nicht wahrnehmen, weil jeder Anhaltspunkt dafür fehlte, wo oben und unten, rechts und links zu finden waren. Erst bei meinem Auftauchen konnten wir unsere Bewegungen ausgleichen und so synchronisieren, daß wir wenig später nebeneinander durch den Silbernebel schwebten. »Wie geht es dir?« fragte ich besorgt. »Den Umständen entsprechend«, antwortete Dao-Lin-H'ay mit leisem Fauchen. »Also ziemlich scheußlich. Ich bin ziemlich lange bewußtlos gewesen. Was ist eigentlich passiert? Hast du es mitbekommen?« »Goedda hat sich vergrößert«, erklärte ich ihr. »Jetzt füllt dieses Geschöpf wahrscheinlich das komplette Bauwerk aus, das die Tolkander für Goedda geschaffen haben. Uns hat die Biomasse eingehüllt und dann ausgespuckt. Auch ich habe …« »Hier Myles Kantor! Ich rufe Atlan und Dao-Lin-H'ay. Hört ihr mich?« Dao-Lin-H'ay gab ein zufriedenes Maunzen von sich, und ich ließ einen langen Seufzer hören. Nach einer weiteren halben Stunde war unsere kleine Gruppe endlich wieder beisammen. Myles Kantor machte einen erschöpften Eindruck; er hatte, wie er berichtete, einen harten Kampf mit seinem SERUN hinter sich, der anfangs überhaupt nicht so reagiert hatte, wie Myles sich das vorgestellt hatte. Offenbar gehörte Myles Kantor zu jenen Genies, die selbst die verzwicktesten wissenschaftlichen Probleme durchdenken und lösen konnten, aber mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, wenn die alltägliche Technik versagte. »Während wir alle drei ohne Bewußtsein gewesen sind«, klärte ich meine Gefährten auf, »war mein Extrasinn offenbar empfangsbereit. Goedda hat mich mit Informationen förmlich überschüttet, so sehr, daß ich um meinen Verstand gefürchtet habe. Habt ihr diese Informationen ebenfalls bekommen?« »Ich weiß von nichts«, antwortete Myles
Peter Terrid Kantor. »Ich auch nicht«, sagte Dao-Lin-H'ay. »Und? Was hast du erfahren?« Dank der Aufarbeitung durch das Extrahirn konnte ich den beiden einen kurzen Abriß der Geschichte der Goedda geben …
2. Atlan »Also ist Goedda eigentlich nicht mehr als eine künstlich erschaffene Gebäreinrichtung für Krieger und Soldaten«, konstatierte Dao-Lin-H'ay erschüttert. »Wahnsinn, auf was für Ideen manche Individuen kommen! Und wie zu erwarten war, ist das Experiment langfristig fehlgeschlagen …« »Goedda hat ursprünglich aus 47 kleineren Organismen bestanden«, setzte ich meine Erklärungen fort. »Erst als diese Organismen zusammengefügt wurden, ergab sich die eigentliche Goedda. Aber damit hat es noch nicht ›unsere‹ Goedda gegeben; die ist erst entstanden, als die erste Goedda unter dem Einfluß einer fünfdimensionalen Strahlung mutierte, anfing, ein Eigenleben zu entwickeln und sich der Kontrolle ihrer Erschaffer zu entziehen. Mit fürchterlichen Konsequenzen für die Galaxis Suuvar, die Goedda offenbar restlos entvölkert hat …« Dao-Lin-H'ay ließ ein gereiztes Fauchen hören. »Mein Mitleid hält sich in diesem Fall in sehr engen Grenzen«, sagte sie bitter. »Auch wenn mir klar ist, daß die meisten Bewohner dieser Galaxis Suuvar wahrscheinlich mit Goedda herzlich wenig zu tun gehabt haben.« »Jedenfalls ist Goedda eine Gefahr von wirklich galaktischem Ausmaß«, sagte Myles Kantor nachdenklich. »Es wird sehr schwer fallen, sie auszuschalten, wenn es uns denn überhaupt gelingen kann …« »Es scheint möglich zu sein.« Ich rief weitere Informationen aus meinem Extrahirn ab. »Es hat ein Volk gegeben, die sogenannten Nonggo, die Goedda zu bremsen versucht haben, und zum Teil ist den Nonggo
Bomben für den Brutkosmos das offenbar auch gelungen. Sie haben Goedda zwar nicht vernichten können, wohl aber ist es ihnen gelungen, Goedda in deren Brutkosmos einzusperren und damit zu neutralisieren …« »Allem Anschein nach nicht auf Dauer«, kommentierte Myles Kantor. »Immerhin, deine Informationen besagen, daß man Goedda wirkungsvoll bekämpfen und in ihre Schranken weisen kann. Wir sollten versuchen, uns mit den Nonggo irgendwie in Verbindung zu setzen und ihre Informationen über Goedda auszuwerten. Vielleicht mit vereinten Kräften …« »Da du von vereinten Kräften sprichst«, unterbrach ich Myles Kantor. »Die Nonggo haben nicht aus eigenem Antrieb heraus gehandelt. Vielmehr sind sie im Auftrag einer anderen Macht aktiv geworden, der Koalition von Thoregon!« »Was ist das nun wieder?« wollte DaoLin-H'ay wissen. »Koalition von Thoregon?« »Ich weiß es nicht«, mußte ich zugeben. »Ich kenne diese Geschichte ja nur aus dem Blickwinkel von Goedda, und der ist aus naheliegenden Gründen sehr eingeschränkt und einseitig. Goedda war jedenfalls über viele Jahrtausende in ihrem Brutkosmos gefangengesetzt und damit unschädlich. Dieser Brutkosmos ist übrigens identisch mit unserer derzeitigen Umgebung, die wir bisher Traumblase genannt haben. Ich meine, wir sollten von jetzt an den richtigen Namen verwenden.« Myles Kantor lachte halblaut. »Mich interessiert nicht das Etikett auf, sondern der Wein in der Flasche«, bemerkte er. »Und offenkundig haben die Nonggo diese Flasche nicht dicht genug verschlossen, sonst wäre Goedda jetzt nicht schon wieder aktiv. Sehe ich das richtig, daß Goedda ursprünglich Krieger für eine andere Macht, eben die Herren von Suuvar, erzeugen sollte, jetzt aber nur noch im Eigeninteresse produziert?« »Nicht ganz«, antwortete ich. »Und dein anschaulicher Vergleich, um ihn wieder auf-
7 zugreifen, stimmt nur halb. Die Flasche war durchaus dicht - bis jemand den Korken gezogen und Goedda freigesetzt hat.« Sekundenlang herrschte betroffenes Schweigen. Daß lebende Wesen imstande waren, etwas zu erfinden, zu planen und zu bauen, was sich letztlich gegen sie selbst richtete und fürchterliche Schäden hervorrief, das war vorstellbar. Dergleichen war in der bekannten galaktischen Geschichte einige Male geschehen, ich brauchte da nur an jenen robotischen Tyrannen zu denken, den Robotregenten, der das Imperium der Arkoniden viele Jahrzehnte lang beherrscht hatte, bis er endlich seine Macht an mich hatte abtreten müssen. Aber daß jemand eine so grauenvolle Gefahr für alles Leben, wie sie von Goedda dargestellt wurde, wieder in Freiheit setzte, das war nur äußerst schwer vorstellbar. »Und wer ist dieser Jemand?« fragte er. »Ich kenne nur den Namen, und den Begriff haben wir schon einmal gehört«, antwortete ich. Es fiel mir schwer, das alles auszusprechen, zu ungeheuerlich waren die Tatsachen. »Ein Individuum, das sich Shabazza nennt. Goedda denkt davon als von einem er, aber das muß nichts besagen, jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Nicht alles, was mit dem Artikel die bezeichnet wird, muß deswegen weiblich im Sinne unserer sprachlichen Konvention sein. Es sind da schon die absurdesten Mißverständnisse aufgetreten. Shabazza muß also kein Mann im üblichen Sinne sein. Mir ist nicht bekannt, wie Shabazza aussieht, welchem Volk er angehört, in wessen Auftrag er aktiv geworden ist und vieles mehr.« »Shabazza könnte demnach ebenso eine singuläre Entität sein wie Goedda«, bemerkte Myles Kantor. »Die Physander und Chaeroder kennen den Begriff ja auch. Wenn ich mir das vorstelle - ein ganzes Volk von Goeddas …« »Und warum hat dieser Shabazza das getan?« fragte Dao-Lin-H'ay unvermittelt. »Ex, sie oder es muß doch eine Absicht damit verbunden haben? Niemand läßt solch
8 eine Kreatur auf Mitgeschöpfe im Kosmos los, ohne sich davon einen Vorteil zu versprechen.« Durch die Sichtscheibe meines Helmes konnte ich sehen, wie die Gefährten mich anblickten. »Warum schweigst du?« fragte DaoLin-H'ay leise. »Ist es so entsetzlich?« Ich nickte. »Shabazza hat Goedda auf eine Galaxis namens Tolkandir gehetzt«, sagte ich. »Offenbar hat Goedda diese Galaxis vollständig entvölkert, restlos. Daher der angenommene Eigenname der Tolkander. In der Galaxis gibt es kein höheres Leben mehr … Und das ist nur der Probelauf gewesen. Aus Goeddas Informationen geht eindeutig hervor, daß Shabazzas eigentliches Ziel …« »Allmächtiger!« stieß Myles Kantor hervor; ich konnte sehen, wie er erblaßte. »Du willst doch nicht sagen …« »Goeddas eigentliches Ziel im Auftrag von Shabazza ist die Milchstraße, unsere Galaxis. Die Tolkander und Goedda sind nicht durch Zufall hier, sie sind gezielt auf die Galaktiker angesetzt worden. Aber das wußten wir ja bereits durch die Untersuchungen in Ychandors Raumschiff.« »Seltsam«, sagte, Dao-Lin-H'ay plötzlich. »Und irgendwie paradox.« »Was meinst du damit?« wollte ich wissen. »Auf der einen Seite scheint Shabazza voller Hoffnung zu sein, daß Goedda uns den Garaus machen wird, daß wir ihr nicht gewachsen sein werden. Auf der anderen Seite aber macht dieser Überfall nur dann einen Sinn, wenn Shabazza sich von den Völkern der Milchstraße in irgendeiner Weise bedroht sieht …« »Du denkst wieder einmal logisch, meine Liebe«, ließ sich Myles Kantor vernehmen. »Aber Lebewesen sind in ihren Handlungen nicht immer logisch. Shabazza könnte auch ganz andere Gründe für diesen Überfall haben, Gründe, die wir uns nicht vorstellen können.« »Und was für Gründe könnten das sein?« »Ich weiß nicht«, gab Myles Kantor zu.
Peter Terrid »Die Gedanken von Goedda und Shabazza sind für mich nicht nachvollziehbar; ich bin Naturwissenschaftler, kein Xenopsychologe.« »Immerhin wissen wir jetzt genauer, was auf uns zukommt«, sagte Dao-Lin-H'ay grimmig. »Mehr an Gefahren, als wir bewältigen können. Denn selbst wenn es uns gelänge, mit Goedda fertig zu werden, müßten wir es als nächstes unweigerlich mit Shabazza selbst zu tun bekommen.« »Nicht notwendigerweise«, warf ich ein. »Was denn?« fragte Myles Kantor. »Das ist noch nicht alles?« »Leider nicht«, mußte ich sagen. »Goedda ist nämlich nicht die einzige kosmische Gefahr, die von den Nonggo gebannt worden ist. Insgesamt waren es acht solcher Bedrohungen, welche die Nonggo im Auftrag der Koalition von Thoregon eliminieren sollten. Bei vieren dieser Gefahren ist dies den Nonggo offenbar auch gelungen, die anderen vier aber haben sie nur lahmlegen können, wie Goedda. Goedda ist in diesem Katalog des Grauens nur die Nummer drei. Nummer eins ist Goujirrez, der Chaosmacher von Norrowwon, Nummer zwei sind die Guan a Var, die Monster von Luipaz, dann kommt Goedda, und die vierte dieser Bedrohungen ist Jii'Nevever, die Träumerin von Puydor. Gerade sind Agenten von Shabazza unterwegs, um auch diese vierte Geißel aufzuwecken und in den Einsatz zu schicken.« Schweigen breitete sich aus. Auch ich hielt erst einmal den Mund. Diese Informationen irgendwo im Schädel gespeichert zu haben war eine Sache; sie auszusprechen und sich dabei etwas vorstellen zu wollen eine ganz andere. »Shabazza muß wirklich große Angst vor uns Galaktikern haben, wenn er einen solchen Aufwand betreibt, um uns loszuwerden«, sagte Myles Kantor schließlich. »Als ob die Goedda nicht bereits genügen würde. Weißt du Einzelheiten? Je mehr wir wissen, um so früher können wir damit beginnen, etwas wirksam dagegen zu tun …«
Bomben für den Brutkosmos »Vorausgesetzt, Goedda läßt uns überhaupt eine Chance dazu«, meinte DaoLin-H'ay düster. »Ich habe keine Ahnung, worum es sich bei den drei anderen Bedrohungen handelt, wie sie vorgehen, was sie bewirken, wie sie aussehen - gar nichts«, sagte ich bedrückt. Wer sagt, daß alle diese Kräfte auf die Galaktiker losgelassen werden sollen? fragte der Extrasinn lakonisch. »Augenblick …«, sagte Myles Kantor plötzlich. »Bis zu dieser Stunde haben wir von diesen Gefahren nichts geahnt oder gewußt. Eine Koalition von Thoregon ist uns völlig unbekannt, ebenso die Nonggo. Was wir jetzt wissen, ist dies: Die Koalition von Thoregon hat sich acht Bedrohungen gegenübergesehen. Frage: Hat die Koalition von Thoregon die Nonggo in Marsch gesetzt, um ausgerechnet uns Galaktiker vor diesen Bedrohungen zu schützen? Doch wohl kaum, sie wird vermutlich vor allem im eigenen Interesse gehandelt haben. Wieso fallen diese vier von Shabazza aufgeweckten Schreckensmächte dann nicht über Thoregon her …?« »Vielleicht tun sie das ja gerade«, antwortete ich. »Tut mir leid, mehr weiß ich leider nicht. Man sollte auch annehmen, daß Goeddas Interesse vor allem darauf gerichtet sein sollte, die Gefahr zu beseitigen, die durch die Nonggo verkörpert wird …« Dao-Lin-H'ay fauchte leise. »Vielleicht sind die Galaktiker identisch mit den Nonggo oder ihre Nachkommen. Es wäre nicht das erste Mal, daß wir Informationen über die Milchstraße bekommen, die uns bisher unbekannt gewesen sind und die dazu führen, daß wir die Galaktische Geschichte in Teilen neu schreiben müssen. Ich erinnere nur an die Lemurer oder an die Porleyter … Die Sonnen der Milchstraße sind Milliarden von Jahren alt. Wer weiß schon genau, seit wann es in der Galaxis intelligentes Leben gibt?« »In diesem Fall«, sagte Myles Kantor nachdenklich, »angenommen, deine These wäre richtig, hätten die Vorfahren der Ga-
9 laktiker im Auftrag der Koalition von Thoregon die Goedda bekämpft und gebannt. Dann wären von diesem Vorgang eine ganze Reihe von Galaxien betroffen. Zuerst Suuvar, wo Goedda entstanden ist. Dann die Milchstraße als vermutete Heimat der Nonggo. Dazu käme Thoregon als Heimat der Auftraggeber der Nonggo. Des weiteren brauchten wir eine Galaxis, in der Goedda eingesperrt worden ist. Die Milchstraße kann das nicht sein …« »Warum nicht?« fragte Dao-Lin-H'ay »Dann wären die Nonggo in dieser Galaxis ausgestorben oder verschwunden, ohne den Nachkommen auch nur den geringsten Hinweis auf Goedda zu hinterlassen, und auch Thoregon hätte sich um Goedda nicht mehr gekümmert. Das erscheint mir extrem unwahrscheinlich. Nein, wir Galaktiker haben mit diesem früheren Geschehen nichts zu tun gehabt, das hat sich an ganz anderen Schauplätzen abgespielt.« »Das klingt logisch«, meinte DaoLin-H'ay. »Ich hoffe es«, antwortete Myles Kantor trocken. »Ich bemühe mich immer, logisch zu denken. Aber in einem Punkt hast du sicher recht, Dao-Lin - die Wege der Galaktiker und der von Shabazza oder seinen Auftraggebern müssen sich in der Vergangenheit gekreuzt haben. Anders ist es nicht zu erklären, daß Shabazza diese kosmische Ungeheuerlichkeit ausgerechnet auf uns angesetzt hat.« Er stieß einen langen Seufzer aus. »Sollten wir es schaffen, mit Goedda fertig zu werden«, fuhr der Wissenschaftler dann fort, »müßten wir anschließend gezielt in der Vergangenheit forschen, sowohl nach Shabazza als auch nach seinen Hintermännern. Und gleichzeitig müßten wir uns wappnen gegen die drei anderen kosmischen Plagen.« »Und wir müßten Kontakt aufnehmen mit der Koalition von Thoregon«, ergänzte ich. »Wo immer das auch ist und wer auch immer sich hinter diesem Begriff verbirgt.« Wieder ließ Myles Kantor einen langen
10 Seufzer hören. »Wißt ihr, wen wir jetzt gut gebrauchen könnten? ES! Die Superintelligenz müßte eigentlich bei ihren Fähigkeiten alle Informationen haben, die wir brauchen. Und noch ein Gedanke ist mir gekommen: Welche galaktische Macht ist stark genug, um Shabazza wirklich ernsthaft zu bedrohen oder bedroht zu haben? Ist ES genaugenommen nicht eigentlich auch ein Galaktiker?« Diese Spekulation war so kühn, daß sie mir für einen Moment die Sprache verschlug. »ES bewegt sich durch Vergangenheiten, durch Gegenwarten und Zukünfte«, fuhr Myles Kantor fort. »Was wissen wir, mit wem sich ES in der Vergangenheit oder Zukunft alles angelegt hat? Nach Jahrtausenden des Kontaktes mit ES wissen wir über diese Superintelligenz immer noch viel zuwenig, zuwenig über die Fähigkeiten und Möglichkeiten, zuwenig über Geschichte und Probleme …« »Ich habe mich schon des öfteren gefragt«, sinnierte Dao-Lin-H'ay, »warum ES immer wieder die Galaktiker, speziell die Terraner, zur Lösung von großen kosmischen Problemen heranzieht. Kann ES dergleichen nicht selbst lösen?« »Vermutlich nicht«, antwortete Myles Kantor. »Wir haben zwar inzwischen die unglaublichsten Fortschritte in den Wissenschaften gemacht, aber gewisse Probleme, die schon vor vielen Jahrtausenden angedacht worden sind, gelten bis heute als unlösbar. Es ist das weite Gebiet der logischen Paradoxien. Ein ganz einfaches Beispiel: Ich gebe dir eine Anordnung, die du befolgen sollst: Hör mir nicht zu!« »Bitte?« »Hör mir nicht zu! Um diesen Befehl befolgen zu können, mußt du ihn aber erst einmal hören, und dann ist es bereits zu spät, um gehorsam zu sein. Oder ein anderes: Es ist nicht möglich, daß jemand gleichzeitig bei einem sportlichen Wettkampf die Rolle des Schiedsrichters übernimmt und gleichzeitig als Mitspieler agiert … Vielleicht ist
Peter Terrid das genau das Problem, vor dem ES immer wieder steht und das ihn dazu bringt, sich der Galaktiker zu bedienen, seine Ziele zu erreichen …« »Das ist alles sehr tiefsinnig«, gab ich zu. »Aber ich glaube, wir haben zur Zeit aktuellere Probleme. Das Ereignis, dessen Zeugen und Opfer wir geworden sind - im Sprachgebrauch der Goedda wird es Azzamus genannt -, hat unsere Pikosyns restlos außer Gefecht gesetzt, und ich habe den schrecklichen Verdacht, daß es auf ganz Terra ebenfalls sämtliche Syntroniken erwischt hat. Vielleicht ist die Wirkung des Azzamus im Inneren des Brutkosmos besonders heftig, dann müßten die Erdsyntroniken sehr bald wieder funktionieren. Aber falls nicht, stehen unsere Mitmenschen vor außerordentlichen Problemen. Ihr könnt euch ja wohl noch erinnern, wie es damals zugegangen ist, als Terra in der Toten Zone lag und alle Fünf-D-Technik ausgefallen ist. Und zur Zeit sind die Terraner geistig kaum noch in der Lage, ihr Leben ohne Syntroniken zu meistern. Wir müssen also handeln, und das schnell.« »Einverstanden«, sagte daraufhin Myles Kantor sofort. »Und was schlägst du vor? Erstens wissen wir nicht, wie wir aus diesem Brutkosmos überhaupt herauskommen können. Aber angenommen, wir schaffen es was dann? Die Gefahr Goedda besteht dann immer noch, und sie wird immer größer. Das erste Flimmern haben wir erlebt, bis zum zweiten wird es nicht mehr lange dauern, und beim sechsten - ich wage gar nicht daran zu denken …« »Dann haben wir zwei Aufgaben zur gleichen Zeit zu lösen«, sagte Dao-Lin-H'ay energisch. »Goedda bekämpfen und vernichten und außerdem nach einer Fluchtmöglichkeit suchen.« »Nichts einfacher als das«, sagte ich bitter. »Unsere Pikosyns funktionieren nicht mehr, wir haben nur drei Kombistrahler zur Verfügung. Freunde, es sieht sehr düster aus. Wie sollen wir drei allein schaffen, was den Nonggo offenkundig nicht gelungen ist, und die dürften gewaltige technische Mittel
Bomben für den Brutkosmos eingesetzt haben?« Ich sah, wie Myles Kantor den Kopf wiegte. »Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil haben wir, verglichen mit den Nonggo«, behauptete er kühn. »Wenn ich deine Schilderung richtig verstanden habe, haben sie Goedda von außerhalb des Brutkosmos zugesetzt. Nun, wir treiben in diesem Brutkosmos, das erhöht unsere Möglichkeiten gewaltig. Aber ich gebe zu, daß auch ich keine Ahnung habe, wie wir drei das bewerkstelligen sollen.« »Jedenfalls nicht, indem wir hier die Zeit mit Plaudereien verplempern«, ließ sich Dao-Lin-H'ay vernehmen. »Sehen wir uns um. Vielleicht finden sich Mittel, Möglichkeiten und Wege …« Wir brauchten trotz dieser Aufmunterung noch eine runde Stunde, die wir damit verbrachten, uns in der Bedienung der Handschuhsensoren zu üben. Danach flogen wir los, einstweilen ohne klares Ziel. Außer einem … Goedda in ihrem Brutkosmos zu vernichten …
3. Atlan »Gliederschiffe!« stieß Dao-Lin-H'ay hervor. Ihre. SERUN-Optik hatte ihr die tolkandischen Einheiten gemeldet, und die Kartanin reagierte als erste. »Zwei, drei, dahinter kommen noch mehr. Nachschub für Goedda …« Die Arbeiten an dem Bauwerk inmitten des Brutkosmos gingen also weiter; wir hatten mit nichts anderem gerechnet. Ob es eine bestimmte Frist gab, die eingehalten werden mußte, war uns nicht bekannt; in jedem Fall agierten die Tolkander, als brenne ihnen das Problem auf den Nägeln. »Sieben …«, zählte Dao-Lin-H'ay weiter. »Neun, zehn …« Aus großer Distanz konnten wir mit Hilfe der SERUNS die riesigen Gliederschiffe der Tolkander erkennen; die Arbeiten dort wa-
11 ren bereits in vollem Gange. Nachschub für Goeddas Wachstum wurde in das Bauwerk geschafft, das weiter und weiter ausgebaut wurde. Schon jetzt, zu Beginn der zweiten Baustufe, war es gewaltig; wir hatten den Durchmesser auf knapp siebzehnKilometer geschätzt. Unklar war noch, wie groß Goeddas Brutkosmos Inder letzten Ausbaustufe sein würde; wahrscheinlich ging es dann in Hunderte, wenn nicht Tausende von Kilometern. Ich hörte Myles Kantor leise brummen. »Hast du eine Idee?« fragte ich. Unsere Funkgeräte waren nach wie vor so eingestellt, daß wir zwar miteinander kommunizieren konnten, aber hoffentlich - kein Außenstehender in der Lage war, unsere Gespräche anzupeilen oder abzuhören. »Ich überlege«, sagte Myles Kantor versonnen. »Diese Gliederschiffe brauchen, um diese gigantischen Materialmengen transportieren zu können, kräftige Antriebssysteme. Wenn man eines dieser Triebwerke manipulieren würde, beispielsweise die Hyperenergiespeicher, könnte man so ein Schiff in eine fliegende Bombe verwandeln. Wenn die ganze Energie eine solchen Speichers in unmittelbarer Nähe von Goedda hochgeht … durchaus möglich, daß Goedda diese Explosion nicht überlebt. Es wäre ungefähr so, als würde in einem fossilen Kriegsschiff die Munitionskammer gesprengt - da hilft dann auch die beste Panzerung gegen Angriffe von außen nicht viel.« »Eine gute Idee«, stimmte ich zu. »Hast du schon exaktere Vorstellungen?« »Woher sollte ich die haben?« fragte Myles Kantor zurück. »Bevor ich Genaueres sagen kann, müßte ich erst einmal die entsprechenden Anlagen im Inneren eines Gliederschiffes untersuchen und analysieren.« »Dann haben wir unser erstes Ziel abgesteckt«, meinte ich. »Wir versuchen, an eines der Schiffe heranzukommen, an Bord zu gehen und uns dort umzusehen.« »Das wird nicht so einfach sein«, gab Myles zurück. »Darf ich dich daran erinnern, daß mit unseren Pikosyns auch die Transla-
12 toren ausgefallen sind? Und ich habe leider kein so perfektes Gedächtnis wie du. Es wird sehr schwierig werden …« Dao-Lin-H'ay hatte eine Idee. »Dann müssen wir die Translatoren eben wieder neu programmieren beziehungsweise mit Daten füttern«, sagte sie. »Und zwar bevor wir an Bord gehen.« »Und wie sollte das geschehen?« erkundigte sich Myles Kantor zweifeln. »Ganz einfach«, antwortete die Kartanin. »Atlan müßte in seinem Extrahirn eine ganze Menge an Informationen über das Idiom der Tolkander erfaßt haben, natürlich nicht soviel wie ein Translator, aber ein gewisser Grundstock an Daten sollte in seinem Kopf vorhanden sein.« Ich reagierte mit grimmigem Humor. »Und wie gedenkst du an diese Daten heranzukommen? Aufschneiden und herauslöffeln?« »Nein«, antwortete Dao-Lin-H'ay gelassen. »Du wirst sie schon freiwillig ausspucken müssen …« Ihr Vorschlag war nicht schlecht und erwies sich sogar als durchführbar, aber für mich lief es auf eine extreme Strapaze hinaus. Das Extrahirn - für diese Aufgabe durchaus geeignet - suchte die benötigten und brauchbaren Informationen im fotografischen Gedächtnis zusammen; ich brauchte sie dann nur noch auszusprechen unaufhörlich und mit größtem Tempo. Das Extrahirn stellte gewissermaßen eine Kurzschlußleitung zwischen Gehirn und Kehlkopf her; mein normaler Verstand blieb außen vor und vollkommen untätig. Vor Tausenden von Jahren hatte es einmal einen Beruf gegeben, den vor allem Frauen ausgeübt hatten: Texte in eine Maschine einzutippen. Nach einem gewissen Training waren diese Menschen imstande gewesen, schneller zu tippen, als sie eigentlich lesen konnten. Sie hatten gleichsam einen Kurzschluß zwischen Augen und Fingerspitzen hergestellt; am Ende eines Arbeitstages hatten sie zwar Hunderttausende von Zeichen eingetippt, aber von dem Text nicht das ge-
Peter Terrid ringste mitbekommen. Ich brauchte dafür im Schnelldurchgang zwei Stunden, dann klang meine Stimme nach Reibeisen, und ich war restlos erschöpft. Schließlich mußte ich aufhören, weil ich bei einem noch längeren Einsatz keinen verständlichen Laut mehr hätte hervorbringen können. »Ich hoffe, es genügt«, sagte ich krächzend. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich meine Stimmbänder fühlen; sie schienen wund gescheuert zu sein. Dao-Lin-H'ay gab ein amüsiertes Schnurren von sich. »Du klingst gut, Atlan«, sagte sie. »Fast wie einer von uns Kartanin. So gefällt mir deine Stimme.« Ich verzichtete auf eine Antwort, um meinen Sprechapparat zu schonen. Aber einmal mehr hatte ich feststellen können, zu welchen Leistungen das Extrahirn in der Lage war, wenn man seine Fähigkeiten optimal ausreizte. »Okay, dann kann es jetzt losgehen«, meinte Myles Kantor. »Hoffentlich haben wir Glück - wir werden es nämlich brauchen …« Wir setzten uns vorsichtig in Bewegung. Langsam trieben wir auf eines der Gliederschiffe zu. Es schwebte antriebslos in Goeddas privatem Kosmos, in der Nähe des eigentlichen Bauwerks, das ich scherzhaft Lebkuchenhaus getauft hatte. Nach Späßen dieser Art war mir jetzt nicht mehr zumute; dieses Gebilde stellte für die Menschheit eine ungeheure Bedrohung dar. Umschwirrt wurde das Bauwerk von Dutzenden von Kegelstümpfen, jeder ungefähr fünfzig Meter lang. In das stumpfe Heck dieser Gefährte wurde unablässig jene eigentümliche breiige Masse gepumpt, die wir schon kannten; am dünneren Bug wurde diese Masse in Gestalt von vielfach gewundenen und ineinander verschlungenen Röhren wieder herausgepreßt, die in das Bauwerk Goeddas integriert wurden. Mangels besserer Bezeichnung hatten wir das Material Manna getauft, ein Gedanke,
Bomben für den Brutkosmos der mir in dieser Lage seltsam absurd, ja fast schon zynisch erschien. Von Gott gesandte Himmelsnahrung war das nicht, vielmehr jener Rohstoff, den das Scheusal Goedda brauchte, um immer weiter zu wachsen und noch mächtiger zu werden. Es war ein kaum überschaubares, chaotisches Gewimmel. Gleichzeitig waren zahllose Truppen von tolkandischen Robotern damit beschäftigt, ellipsoide Schaltstationen aus den Gliederschiffen zu befördern und in das Gewirr von Röhren und Schläuchen zu integrieren. Bei unserem ersten Vorstoß in Goeddas Brutkosmos hatten wir feststellen können, daß im Zuge der Erweiterung des Bauwerks nicht nur das Manna und die ellipsoiden Schaltstationen zum Aufbau verwendet wurden. Nach dem Abschluß dieser Arbeiten zerlegten sich die meisten Roboter in ihre Einzelteile und wurden ebenfalls in das Bauwerk eingefügt. Die dann noch übriggebliebenen Roboter schlossen sich dann in Gruppen von bis zu zehn jeweils einem Physander an und verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Inneren des Bauwerks. Ich war sicher, daß für die Physander bei der nächsten Erweiterung Goeddas das Leben beendet war, aber nach allem, was wir über die Tolkander wußten, fieberten sie förmlich danach, sich für die große Sache Goedda zu opfern. Mit gefiel diese Seppuku-Mentalität überhaupt nicht, aber das war eine Angelegenheit der Tolkander. Wenn sie es so wollten, bitte sehr. Aber Milliarden von Menschen und anderen Intelligenzwesen durch seelische Manipulationen dazu zu bringen, sich diesem kollektiven Selbstmord nicht einfach nur anzuschließen, sondern anschließen zu wollen das war etwas, das ich nicht hinnehmen konnte. Dem galt es mit allen Kräften entgegenzuarbeiten - vor allem nach den jüngsten Informationen über Goeddas Entstehung und Lebenszweck. Im stillen sandte ich einige wüste Flüche nach Suuvar, wo Goedda entstanden war. Den Bewohnern dieser Galaxis hatten wir
13 diese kosmische Geißel Goedda zu verdanken - natürlich nicht allen, sondern der regierenden Führungsschicht, die längst nicht mehr lebte. Ich sah, wie Dao-Lin-H'ay heftige Armbewegungen machte. »Überreste von älteren Gliederschiffen meldet meine Optik«, sagte sie. »Dort drüben! Es sind nur die Antriebsblöcke, und gerade werden zwei davon zu einer Einheit zusammengekoppelt. Kannst du sie erkennen?« Ich spähte in die Richtung, die DaoLin-H'ay mir wies. Dort erkannte ich zwei der Antriebseinheiten, die sich jetzt in einem Zweierverband langsam bewegten, auf einen dritten Antriebsblock zu. Offenbar sollten alle zurückgebliebenen Einheiten dieser Art zu einem Pulk vereinigt werden. »Wahrscheinlich sollen sie sehr bald zurückfliegen zu den Basiswelten von 47 Tucani«, vermutete ich. »Dort übernehmen sie dann weitere Transporte von Manna und anderem Material und kehren wieder hierher zurück.« »Und dazu müssen sie imstande sein, den Brutkosmos auch wieder zu verlassen«, konstatierte Myles Kantor. »Das könnte die Fluchtmöglichkeit sein, nach der wir gesucht haben. Wenn wir uns beeilen …« Er brach den Satz von sich aus ab und seufzte. »Aber vorher müssen wir noch eine andere Arbeit erledigen«, sagte er entschlossen. »Ich werde diesen Brutkosmos erst verlassen, wenn wir eine Möglichkeit gefunden und installiert haben, Goedda den Garaus zu machen. Dann erst sollten wir uns absetzen.« »Wenn uns dazu noch die Zeit bleibt«, sagte Dao-Lin-H'ay leise. »Wie viele dieser Antriebsblöcke schwirren in diesem Brutkosmos herum?« fragte Myles Kantor. »Ich schätzte rund vierzig«, antwortete ich. »Bis die alle zu einem Verband zusammengekoppelt worden sind, wird noch viel
14 Zeit vergehen«, kalkulierte Myles. »Und im Notfall müssen wir uns jener Antriebsblöcke bedienen, die von den neuen Gliederschiffen abfallen werden …« Er machte sich selbst etwas vor, und ich war sicher, daß er das auch sehr genau wußte. Offenbar war die zeitliche Reihenfolge so: Anlieferung des Materials, dann dessen Verbauen in Goeddas Behausung. Dann kam die nächste Phase des Azzamus - und dann erst wurden die verbliebenen Antriebsblöcke zusammengekoppelt und auf die Rückreise geschickt. Im Klartext: Wenn wir nicht schnell genug für Goedda eine Zerstörungsmöglichkeit fanden und scharf machten, waren die Antriebsblöcke bereits verschwunden, und wir hingen im Brutkosmos fest. Dann mußten wir entweder die nächste Azzamus-Prozedur über uns und Terra ergehen lassen, oder wir mußten unsere Bombe vor dem nächsten Flimmern zünden. Im ersten Fall war es möglich, daß wir dabei getötet wurden - im zweiten Fall war es unvermeidlich … Ich war sicher, daß Myles mit seinem scharfen Verstand längst zu den gleichen Schlußfolgerungen gekommen war, und auch bei Dao-Lin konnte ich mir nicht vorstellen, daß die Kartanin sich irgendwelchen Illusionen hingab. »Machen wir endlich weiter!« sagte DaoLin mit rauher Stimme. »Die Zeit drängt …!« Nach einer weiteren Stunde hatten wir eines der Gliederschiffe erreicht. Es entsprach äußerlich dem Typus, den wir bereits seit längerer Zeit kannten. Abgesehen vom Antriebsblock bestanden diese Schiffe aus zahlreichen einzelnen Segmenten, mitunter mehr als hundert, die durch eine Art von Kettengliedern zusammengekoppelt waren. Die äußeren Formen wichen stark voneinander ab. Mal sahen die Schiffe aus wie zusammengeklumpt, als habe der legendäre Gordische Knoten als Vorlage gedient; in anderen Fällen waren sie langgestreckt und erinnerten an Bandwürmer. Ihre Größe reichte bis zu einem geschätzten Durchmesser von über
Peter Terrid zwanzig Kilometern. An Bord befand sich hauptsächlich Material, in diesem Fall das Manna für den Bau; die Besatzung bestand in der Regel aus einem Chaeroder und bis zu fünfzig Physandern. Für die Steuerung und Wartung der Riesenschiffe schien das völlig ausreichend zu sein, zumal es an Bord zahllose Roboter gab, von unterschiedlicher Formgebung und mit unterschiedlichen Aufgaben. Fünfzig gegen drei, das sah auf den ersten Blick sehr ungünstig für uns aus. Aber ein Gliederschiff hatte einen Rauminhalt, der den von Terrania unrein Vielfaches übertraf -und im Stadtkern lebten über zwanzig Millionen Menschen zusammen, und das durchaus nicht in beengten Verhältnissen. Die Chance, in einem Gliederschiff durch Zufall auf einen Chaeroder oder Physander zu stoßen, war daher äußerst gering - vorausgesetzt, wir lösten nicht einen bordinternen Alarm aus … Langsam und immer wieder Ausschau haltend, trieben wir an den Rumpf des Gliederschiffes heran. Wir schalteten die Antigraus unserer SERUNS ein, so daß wir die Außenhaut des Schiffes als festen Boden benutzen konnten und so entschieden leichter vorwärts kamen. Unser nächstes Problem war jetzt, in das Innere des Schiffes zu gelangen. An einem Zugang zu den Materialeinheiten, die das Manna und technische Anlagen enthielten, war uns nicht gelegen; dort hätten wir nur wenig ausrichten können, zudem wimmelte es da von Tolkandern und Robotern. Unser Ziel mußte die Kerneinheit des Gliederschiffes sein, der Antriebsblock. So rasch wie möglich bewegten wir uns auf der Hülle des Materialtransporters vorwärts, unentwegt nach Robotern Ausschau haltend, die uns entdecken konnten. Unser Vorteil war möglicherweise, daß die Besatzung dieses neu angekommenen Schiffes noch nichts davon wußte, daß sich Fremde im Inneren des Brutkosmos herumtrieben. Nach Lage der Dinge mußten der Kommandant und die Besatzung voll und ganz auf ih-
Bomben für den Brutkosmos re eigentliche Aufgabe konzentriert sein, und die bestand darin, Goeddas Bauwerk so rasch und perfekt wie möglich zu erweitern. Wie oft es einen solchen Brutkosmos bereits gegeben hatte, wußten wir nicht; aber die vollständige Vernichtung der Galaxien Suuvar und Tolkandir ließ uns vermuten, daß die Zahl mindestens zweistellig war. In keinem dieser Fälle, davon konnten wir ausgehen, war es jemals irgend jemandem gelungen, in Goeddas Lebensblase einzudringen. Die Tolkander waren darauf nach ihrer Erfahrung gar nicht vorbereitet und völlig ahnungslos. Fraglich war auch, wie lange die explosionsartig gewachsene Goedda brauchen würde, sich in dem vergrößerten Bauwerk einzurichten und nach der Wachstumsphase wieder zu sich zu finden. Auch das vergrößerte unsere Chancen. Myles Kantor erreichte die Zentraleinheit als erster und gab mir ein Zeichen; er deutete auf den stählernen Boden unter seinen Füßen. Dao-Lin-H'ay und ich eilten zu ihm. Myles hatte eine Luke entdeckt, die allerdings verschlossen war. »Sollen wir?« Ich schüttelte den Kopf. Wenn wir diese Luke öffneten, lief das der internen Schiffsroutine zuwider; garantiert gab es dann zum wenigsten ein kleines Warnsignal in der Zentrale des Gliederschiffes, das den Kommandanten davon unterrichtete, daß eine Luke von außen geöffnet worden war. Bei einem Raumschiff der LFT, Arkons und Camelots wäre das jedenfalls so gewesen. »Was wir brauchen«, sagte ich leise, »ist eine Öffnung, die bereits besteht.« »Das wird nicht leicht sein«, meinte DaoLin. »Genau dort wird die größte Aktivität sein!« »Wir müssen es einfach versuchen«, entschied ich. Wir marschierten weiter, während um uns herum die Arbeiten an Goeddas Bauwerk weitergingen. Es war ein unglaubliches Durcheinander von Bewegungen und Aktionen, Robotern und Schiffen; dennoch klapp-
15 te die Zusammenarbeit reibungslos. Die Chaeroder und Physander hatten die Lage unter Kontrolle und ließen sich allem Anschein nach auch von der Hektik der Aktionen nicht verwirren. Wir brauchten zwei Stunden, bis wir endlich entdeckten, wonach wir suchten. Unmittelbar vor uns öffnete sich unversehens eine große Schleuse, wenig später schoß ein Beiboot aus der Öffnung hervor und flog mit hoher Geschwindigkeit davon. Ich machte heftige Handzeichen und sputete mich, die Luke zu erreichen. Als erster drang ich in das Gliederschiff ein. Normalerweise hätten die Pikosyns meines SERUNS dafür gesorgt, daß der Wechsel von der selbst erzeugten Schwerkraft des SERUNS in die künstliche Gravitation des Schiff es ohne Probleme ablief; in diesem Fall aber mußte ich über die Handschuhsensoren selbst den Ausgleich herstellen. Es gelang mir recht gut, aber einen unangenehm harten Aufprall im Inneren der Schleuse konnte ich dennoch nicht vermeiden. Dao-Lin-H'ay mit ihrer katzenhaften Gewandtheit erging es entschieden besser. Ich sah, wie sie sanft zu mir herabschwebte; über ihr, noch auf der Außenhaut des Schiffes, war Myles Kantor zu erkennen. Mit einer Armbewegung forderte ich ihn auf, zu uns zu stoßen. Er zögerte. Myles war noch nie in seinem Leben ein besonders trainierter Mensch gewesen. Wahrscheinlich hing er in diesem Augenblick den Zeiten nach, in denen er nach einem Anschlag verkrüppelt gewesen und auf ein Spezialgefährt angewiesen war. Nach ein paar Sekunden setzte er sich aber dennoch in Bewegung; Dao-Lin-H'ay und ich fingen ihn auf, sonst wäre er schwer auf den Boden geprallt und hätte sich womöglich verletzt. Wir stellten unser wissenschaftliches Genie wieder auf die Füße, und er atmete tief durch. »Das erste Ziel hätten wir erreicht«, konstatierte Myles ein paar Augenblicke später. »Am besten verschwinden wir von hier, bevor uns jemand entdeckt.« Wir hatten schon einmal, vor einigen Ta-
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Peter Terrid
gen - mit den Pikosyns war auch unsere Zeitmessung ausgefallen, so daß wir auf Schätzungen angewiesen waren -, ein Gliederschiff dieser Baureihe erkundet und kannten uns daher leidlich gut aus. Die Zentraleinheit dieses Typus von Gliederschiff bestand aus einem eintausend Meter langen und siebenhundert Meter dicken Steuerblock; darin waren die Triebwerke, die Leitzentrale und technische Geräte untergebracht. Kommandiert wurde ein solcher Steuerblock von nur einem Chaeroder. Wir konnten die Beibootschleuse ohne Probleme verlassen, ohne einem Roboter oder einem Physander zu begegnen. Dann machten wir uns auf die Suche nach einem Anschluß für das interne Kommunikationssystem. Nur dort konnten wir die Informationen bekommen, die wir für unser weiteres Vorgehen brauchten …
4. Nerghana Bilox Wenn ich noch bei Kräften gewesen wäre, hätte ich mich mit allen Mitteln gewehrt; so aber reichte es nur zu einem matten Krächzen. Gegen die stählernen Arme der Posbis hatte ich nichts aufzubieten. Sie taten mir Gewalt an, schon seit vielen Stunden. Mit brutalen Mitteln, ohne sich um unsere Proteste zu kümmern, hatten sie uns festgenommen und gegen unseren erklärten Willen verschleppt. Unsere Befehle hatten sie ebenso ignoriert wie unser Bitten und Flehen; den Blechkerlen war das alles gleichgültig gewesen. In gewisser Weise war das verständlich, schließlich lebten sie ja nicht wirklich. Angeblich waren die Posbis dank der Bioplasmazusätze in ihren Leibern imstande, Gefühle zu empfinden und auch zu verstehen, aber in diesem Fall war davon nichts zu spüren. Ich war bereit zu sterben, ich sehnte mich danach, doch nicht auf diese elende Weise, aber wie sollte ich das diesen syntronischen
Idioten klarmachen? Ich hörte das leise Zischen an meinem linken Arm und wußte, daß sie mir wieder Medikamente in die Blutbahn pumpten. Stärkungsmittel, hatte man mir zu erklären versucht, Aufbaustoffe, um meinen Organismus zu erhalten. Was für ein Unsinn; ich wollte gar nicht erhalten werden. Wozu auch? Um in ein Leben wie dieses zurückzukehren, ein Leben, das entweder aus Sorgen und Nöten oder aus albernen Nichtigkeiten bestand? Ein Leben, in dem sich alles um Geld drehte, um Macht, um Sex und anderes, was mich längst nicht mehr interessierte? Ich spürte, wie sich eine träge Mattigkeit in mir breitmachte. Offenbar hatten sie jetzt auch noch ein Sedativum hinzugefügt - wohl um mich ruhigzustellen, wie es in diesem Jargon hieß. Meine Gedanken wurden langsamer. Müdigkeit breitete sich in mir aus, aber es war keine wohlige Müdigkeit, wie man sie am Ende eines langen Tages voll harter Arbeit in schwacher Form verspüren kann, wie man sie stärker empfindet, wenn man beim Ermatten weiß, daß es danach kein Erwachen mehr geben wird und wie ich es in der reinsten und schönsten Form würde verspüren können, wenn ich wußte, daß ich am Ende meines Lebens noch das Glück haben würde, eine große und geheiligte Aufgabe zu erfüllen. Warum hinderten sie mich daran? Was hatte ich ihnen getan, daß sie so mit mir umgingen? Begriffen sie es nicht? Oder wollten sie es einfach nicht begreifen, weil Posbis solch elementare Überlegungen fremd waren? Rettet das Innere, schützt aas Innere! Das war einmal der Ruf der Posbis gewesen, als ihre biopositronischen Horden in ihren fürchterlichen Fragmentraumern über die Milchstraße hereingebrochen waren. Zu Zehntausenden hatten sie sich damals geopfert, um dieses Innere zu schützen und zu bewahren, das Heiligste, was sie kannten das Zentralplasma auf der Hundertsonnen-
Bomben für den Brutkosmos welt. Ich weiß genau Bescheid darüber, schließlich betreue ich seit fünf Jahrzehnten eines der größten historischen Archive der Liga Freier Terraner. Eine absolut blödsinnige Arbeit, die mir früher sogar großen Spaß gemacht hat. Wozu ist es gut, sich der Vergangenheit zu erinnern, Daten zu sammeln, Bibliotheken und Archive anzulegen? Die einzige Lehre, die man aus der Vergangenheit ziehen kann, ist die, daß niemand jemals Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat. Was haben uns die Monumente der Historie zu sagen, außer, daß das Leben für die meisten Menschen von unaufhörlicher Sorge geprägt gewesen ist: Hunger, Krieg, Krankheiten, Armut, Einsamkeit, Gewalt - und dazu das grausame Wissen, daß alles Regen und Streben letzten Endes zu nichts führt. Außer zum Tode … Was hat es einem ägyptischen Pharao eingebracht, daß er wußte, man würde nach seinem Tod zweieinhalb Millionen tonnenschwere Steinblöcke über seine Leiche türmen und damit die Große Pyramide von Gizeh in die Welt setzen? Ein Monument maßloser menschlicher Vermessenheit, menschlichen Größenwahns und dazu völlig nutzlos. Ungeheures haben Menschen geleistet in der Vergangenheit, zum Teil, um ihre Zeitgenossen zu beeindrucken, zum Teil, um sich unsterblichen Ruhm zu erwerben. Was ist davon geblieben? Nichts. Was nicht in Vergessenheit geraten ist, nicht einfach im Laufe von Jahrhunderten und Jahrtausenden zu Staub zerfallen ist, das ist weitgehend zerstört worden in den Auseinandersetzungen und Kriegen, die Terra heimgesucht haben - zuletzt in der Monos-Ära. Jahrzehnte habe ich damit verbracht, »Schätze der Vergangenheit« zu sammeln und zu archivieren und der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen - wozu? Auf der Erde leben zig Millionen sogenannter ›TerraNostalgiker‹; sie üben sich in alten, längst vergessenen Sprachen, die man vor Tausenden von Jahren an ihren derzeitigen
17 Wohnorten gesprochen hat. Sie erwecken närrische Rituale wieder zum Leben, schmücken ihre Heime mit den Nachbildungen von Kunstwerken, die sich überlebt haben; sie sammeln Spendengelder und bearbeiten die LFT-Regierung, um große Bauwerke der Vergangenheit neu zu errichten. Ein müßiges Unterfangen. Gäbe es ihn nicht, unseren großen Lehrer, der uns die wahren Dinge hat begreifen lassen, würde irgendwann der nächste Krieg dafür sorgen, daß auch diese Monumente wieder zu dem werden, was sie einmal gewesen sind Staub und Asche … Ich konnte spüren, wie ich angehoben und auf ein Gefährt geladen wurde, wahrscheinlich eine kleine Antigravplattform. Wozu all das Bemühen? Ich wollte es nicht, und wenn ich noch bei Kräften gewesen wäre, hätte ich mich dagegen gewehrt. Aber ich war nicht bei Kräften. Ich hatte die erste Phase der Erleuchtung erleben dürfen, und es war eingetreten, was der Philosoph uns verheißen hatte: das schnelle und schmerzlose Versickern unserer Energien, das allmähliche Aufgehen des Selbst in etwas, dessen wahre Größe wir niemals wirklich werden begreifen können. Ich konnte die Decke über mir sehen, wie sie vorüberzog, als man mich transportierte. BOX-7443 - ein Fragmentraumer der Posbis, ungemein häßlich, aber angeblich sehr sinn- und zweckvoll. Was für ein extrem widerwärtiger Ort, um am Leben gehalten zu werden. »Wohin …?« Meine Stimme klang lallend. Zum einen wegen meiner tiefen Erschöpfung, zum anderen wegen der Medikamente. »Wir bringen dich zusammen mit den anderen an Bord der GILGAMESCH«, sagte der Posbi in einwandfreiem, aber schnarrendem Interkosmo. »Dort wird man sich um dich kümmern. Bleib ganz ruhig, das ist das beste …« »Wer …?« Wer hatte das Recht, mir so etwas anzutun? Mich von Posbis verschleppen zu las-
18 sen, mich mit Drogen vollzupumpen? »Homer G. Adams hat das angeordnet«, berichtete der Posbi. »Ganz ruhig bleiben, man wird sich an Bord hervorragend um dich kümmern!« Adams war nicht für mich zuständig. Er war zwar gebürtiger Terraner, hatte sich aber längst von Terra losgesagt. Anders konnte man sein Eintreten für Camelot nicht interpretieren. Und dieser Kerl ließ mich entführen! Niemand kümmerte sich um mich alles, was die Blechkerle interessierte, war die Funktionsfähigkeit meines Körpers, meiner Organe. Wie es um meine Persönlichkeit bestellt war, das scherte keinen. Aber dieser Adams war schon immer einer gewesen, der es immer besser wußte und dann Entscheidungen getroffen hatte, die sich im nachhinein als große Fehler erwiesen hatten. War er es nicht gewesen, der den Kosmischen Basar der Hamamesch in der Mondumlaufbahn gestattet hatte? Waren nicht Zehntausende von Terranern daraufhin imprintsüchtig geworden? Und waren nicht bei dem Wahnsinnsflug der Süchtigen nach Hirdobaan Tausende von Terranern und anderen Galaktikern elend ums Leben gekommen? Und eben dieser Homer G. Adams maßte sich an … Meine Lider wurden schwerer und schlossen sich; ich dämmerte halb weg, bekam aber noch mit, was mit mir geschah. Ich war nur unfähig, in irgendeiner Form darauf zu reagieren. Zusammen mit den anderen wurde ich in ein Beiboot von BOX-7443 geschafft und dann hinübergeflogen zur GILGAMESCH, dem legendären Flaggschiff von Camelot. Die GILGAMESCH war angeblich das beste, stärkste und modernste Schiff, das die Milchstraße derzeit aufweisen konnte; es sollte gespickt sein mit technischen Neuerungen aller Art. Aber erstens interessierte ich mich schon allgemein nicht für Technik, und zweitens war ich viel zu benommen, um mehr mitzukriegen als den Transport.
Peter Terrid Man war so rücksichtsvoll, uns zur GILGAMESCH zu fliegen und nicht etwa per Transmitter an Bord zu bringen; aus Sorge um den Gesundheitszustand, konnte ich aus den Gesprächen aufschnappen. An Bord der GILGAMESCH wurde ich in die Medo-Sektion geschafft; man packte mich in ein Bett, und kurz danach muß ich eingeschlafen sein. Durch meine Träume geisterten Nachtmahre aller Art; entsetzliche Schreckgestalten, aber im Hintergrund war die Anwesenheit des Philosophen zu spüren, und so bekam ich die Alpträume vom Weiterleben allmählich in den Griff. Ich erwachte, als eine warme Hand nach meinem linken Unterarm faßte. Ich öffnete die Augen und erkannte einen Mann, der sich über mich gebeugt hatte. Er lächelte freundlich und wirkte sehr zufrieden. Er mußte ziemlich groß sein, über einhundertachtzig Zentimeter, gut proportioniert, aber dabei nicht sonderlich athletisch wirkend. Er hatte ein kantiges, markant wirkendes Gesicht mit dunklen Augen. Der ebenfalls recht dunkle Teint stach kraß gegen die weißen Haare ab, die wahrscheinlich gebleicht waren; auf mich wirkte das ziemlich eitel und selbstverliebt. »Guten Morgen«, sagte der Mann. »Ich bin Doktor Julio Mangana, der Leiter des Medocenters der GILGAMESCH. Du weißt, wer du bist und wo du bist?« Ich hätte diesem Fatzke am liebsten ein paar gescheuert, aber meine Kräfte reichten dazu leider nicht aus. Es reichte nur, um ihn wütend anzufunkeln und scharf zu antworten. »Natürlich weiß ich, wer ich bin«, zischte ich ihn an. »Und ich weiß auch, wo ich bin in den Händen von gewissenlosen Schurken, von Verbrechern, Kidnappern …« »Mag sein, daß du das im Augenblick so siehst«, entgegnete Mangana. Der Kerl lächelte wieder. Wenigstens einen Menschen gab es, der außerordentliche Stücke auf ihn hielt ihn selbst nämlich. »Und ich sehe keine Veranlassung, meine
Bomben für den Brutkosmos Meinung zu ändern«, sagte ich scharf. »Es sei denn, du läßt mich sofort zur Erde zurückschaffen. Wenn du das tust, will ich alles andere vergessen.« Ich lächelte in phantasierter Vorfreude. »Es ist dann nicht mehr wichtig.« »Wie fühlst du dich?« wollte Julio Mangana wissen. »Zuerst körperlich, dann seelisch. Ich möchte es möglichst genau wissen.« »Wozu?« fauchte ich ihn an. »Sag nicht, daß du mir helfen willst. Ich will keine Hilfe. Ich will nur zurück nach Terra.« »Um dort zu sterben, nicht wahr?« Er setzte sich auf einen Stuhl neben meinem Bett; nach wie vor lag seine rechte Hand auf meinem linken Unterarm. Sie fühlte sich warm und trocken an. »Richtig«, bestätigte ich. »Und das ist meine Sache, nicht deine. Ich weiß, wo ich sterben will, auf Terra und nicht in dem Raumschiff einer Verräterclique, in den Händen von Menschenräubern.« Mangana lächelte wieder. Er lächelte offenbar gern, weil er nett sein wollte - und damit man seine bemerkenswert schönen und weißen Zähne ausgiebig bewundern konnte. »Nun, wo man stirbt, ist die eine Sache«, sagte er; eigentlich hatte er eine ganz angenehme Stimme. »Viel entscheidender scheint mir die Frage zu sein, wann?« »Das mag für dich wichtig sein …« Ich drehte mich im Bett halb herum, damit ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Es fiel mir ziemlich schwer. Meine Muskeln funktionierten einwandfrei, denn ich war körperlich vollkommen gesund - so gesund, wie eine Frau von 77 Jahren nur sein kann. Aber irgendwie fehlte mir zu fast allem, was ich hätte tun können, die Energie, sowohl die seelische als auch die körperliche Kraft. »Das ist es für fast alle Menschen, die ich kenne«, meinte der Arzt. »Die meisten wollen so alt werden, wie es nur geht!« »Ich bin nicht die meisten«, antwortete ich. »Ich bin Nerghana Bilox. Ich leite ein Archiv für die Geschichte der Liga Freier
19 Terraner, und man hat mich gegen meinen Willen auf Terra eingefangen und hierher verschleppt. Wenn es möglich wäre, würde ich dich verklagen, aber so etwas wie ein Rechtssystem gibt es auf Camelot wohl nicht.« »Oh, sag das nicht«, widersprach Mangana. »Es gibt durchaus Juristen auf Camelot, allerdings zugegebenermaßen nur sehr wenige. Aber unser Problem scheint mir weniger juristischer als vielmehr psychologischer Natur zu sein. Laß mich darüber spekulieren, was du möchtest; du wirst mir sagen, ob ich richtigliege oder nicht. Du möchtest sofort freigelassen und zur Erde zurückgebracht werden. Dort willst du deine Ruhe und darauf warten, daß der große Tag kommt, den der Philosoph euch verheißen hat - der Tag, an dem du und alle anderen intelligenten Lebewesen ihr Leben opfern können für Goedda.« Er überraschte mich. Wie konnte er so gut informiert sein - und als Arzt sollte er eigentlich auch vernünftig denken können und daraus nicht die richtigen Schlußfolgerungen ableiten? Seine Vermutung traf sehr genau zu, aber die Art und Weise, wie er die Sätze aussprach, verriet mir, daß er meine Absichten mißbilligte. »Richtig!« stellte ich fest. »Hast du etwas dagegen einzuwenden?« Mangana wiegte den Kopf. »Ich lasse Menschen nicht gern sterben«, sagte er liebenswürdig. »Das geht mir gegen die berufliche Ehre, vor allem verstößt es gegen meine Vorstellung von Ethik. Eine meiner Aufgaben sehe ich darin, Selbstmorde zu verhindern. Und es ist doch wohl Selbstmord, worauf du hinauswillst, nicht wahr?« Er begriff nichts, rein gar nichts, obwohl er die Fakten halbwegs zu kennen schien. »Ist es nicht«, sagte ich. »Mord liegt vor, wenn ein Mensch einen anderen Menschen gegen dessen Willen tötet, und das aus niedrigen Beweggründen. Ich will gerne sterben, und meine Beweggründe dafür sind edel und erhaben … Aber was rede ich mit dir dar-
20 über? Du verstehst mich ja doch nicht.« »Aus ebendiesem Grund rede ich mit dir«, hielt er mir entgegen. »Ich will verstehen, was in deinem Verstand und in deinen Gefühlen vor sich geht.« »Wozu?« »Um dir zu helfen!« »Du brauchst mir nicht zu helfen«, antwortete ich. »Ich brauche keine Hilfe. Es geschieht nur das, von dem ich will, daß es geschieht. Ich bin nicht verzweifelt, nicht vom Leben enttäuscht …« »… eher angeekelt?« Ich nickte schwach. »Es lohnt sich nicht«, sagte ich. »Selbst die sogenannten Glücksmomente sind es nicht wert, daß man dafür lebt und seine Existenz dahinschleppt.« Ich zog die Brauen zusammen. Dr. Julio Mangana machte in diesem Augenblick auf mich wirklich den Eindruck, als sei er um mich besorgt. Und als gebe er sich sehr große Mühe, wirklich alles zu begreifen, was mir durch den Kopf ging. »Ich verstehe es nicht«, sagte er dann und runzelte die Stirn. »Ich habe deine Körperfunktionen überprüft. Die bist sehr geschwächt, aber insgesamt in Ordnung. Krankheiten hast du nicht zu befürchten. Auch dein Verstand funktioniert, wie ich unter anderem dieser Unterhaltung entnehmen kann. Du bist weder verwirrt noch depressiv. Nach allen Vorstellungen des menschlichen Lebens müßtest du eigentlich recht zufrieden sein und Spaß am Leben haben. Und doch spüre ich deutlich, daß du, kein anderes Ziel kennst als das, so bald wie möglich zu sterben …« »Falsch!« schnitt ich ihm das Wort ab. »Nicht so bald wie möglich. Zum einzig richtigen Zeitpunkt, das ist der richtige Ausdruck. Wenn ich mit meinem Tod etwas bewirken kann …« »Und was wäre das?« »Goedda in ihrer ganzen Größe und Herrlichkeit entstehen zu lassen«, antwortete ich, und wonnige Schauder durchliefen mich, als ich daran dachte …
Peter Terrid
5. »Allein werde ich das niemals schaffen«, sagte Dr. Julio Mangana in der Funkkonferenz. Teilnehmer waren unter anderem Homer G. Adams und Flame Gorbend, derzeit eine der führenden Persönlichkeiten der LFT. Der MERLIN-Kommandant Kalle Esprot nahm ebenfalls an der Besprechung teil, auch seine Stellvertreterin Arina Enquist. »Ich werde in jedem Fall Hilfe brauchen.« »Solche Hilfe ist bereits unterwegs«, informierte ihn Flame Gorbend. »Es wird allerdings noch ein paar Tage dauern, bis das Medoschiff mit Bre Tsinga an Bord bei der GILGAMESCH ankommen wird.« Von dieser Frau hatte Julio Mangang schon einmal gehört; eine junge, aber angeblich sehr gute Psychologin der LFT. »So lange können wir nicht warten«, warf Homer G. Adams ein; er sah hohläugig aus, als habe er lange nicht mehr richtig schlafen können. Bei einem Zellaktivatorträger war das ein besorgniserregendes Zeichen. »Gerade haben wir das erste Flimmern erlebt, und die Folgen sind verheerend. Auf Terra sind sämtliche Syntroniken ausgefallen, zwar nur für einige Stunden, aber das Chaos war dennoch gewaltig. Niemand weiß, was geschehen wird, wenn das zweite Flimmern stattfindet.« »Wahrscheinlich nicht sehr viel mehr«, bemerkte Kalle Esprot. »Würden die Syntroniken auf Dauer ausfallen, wäre das für alle Menschen auf Terra das Ende. Zunächst einmal allein aus dem Grund, weil die öffentliche Versorgung zusammenbricht. Zum anderen sind die Terraner so mit ihrer Todessehnsucht beschäftigt, daß sie sich dann nicht einmal mehr um die elementarsten Lebensbedürfnisse kümmern würden. Sie würden wegsterben wie die Fliegen. Das aber ist nicht im Sinne des Philosophen, er braucht diese Menschen noch. Schlußfolgerung: Ein zweites Flimmern wird keinen sonderlichen Schaden anrichten. Du willst widersprechen,
Bomben für den Brutkosmos Julio?« »Ganz energisch sogar«, sagte Dr. Julio Mangana. »Deine Logik stimmt nur halb. Der Philosoph will zwar beim sechsten, dem letzten Flimmern die Lebensenergie aller Terraner und Terrabesucher in sich aufnehmen, aber das muß nicht bedeuten, daß er auf dem Weg dorthin nicht ungerührt Millionen vorzeitig sterben läßt. Außerdem wissen wir nicht, wann das nächste Flimmern kommen wird - es kann sein, daß wir darauf nur ein paar Stunden warten müssen, daß sich die ganze Katastrophe in zwei oder drei Tagen abspielt. Beeilen müssen wir uns daher in jedem Fall.« »Er hat recht«, stimmte Homer G. Adams zu; mit einem Nicken bestätigte Kalle Esprot, daß er sich von Manganas Argumenten hatte überzeugen lassen. »Wir müssen uns beeilen. Wie sieht es um den Gesundheitszustand der Geretteten aus?« Julio Mangana wiegte leicht den Kopf. »Sie sind körperlich sehr geschwächt«, sagte er mit einem Tonfall der Besorgnis. »Aber rein physisch müßten die meisten in ein paar Tagen wieder fit sein. Zur Zeit jedenfalls sind sie restlos ausgelaugt und kraftlos, sowohl physisch als auch psychisch. Als hätte man ihnen einen beträchtlichen Teil der Lebensenergie weggenommen.« »Und wie ist die Prognose?« »Ich schätze, daß ich höchstens zehn bis vierzehn Tage brauchen werde, damit die Patienten wieder voll einsatzfähig seid werden«, sagte der Leiter des Medocenters der GILGAMESCH. »Wie lange es aber dauern wird, bis sie die geistigen Schäden überwunden haben werden, vermag ich nicht abzuschätzen. Das kann in Einzelfällen wahrscheinlich Jahre dauern. Die seelische Wirkung des Philosophen ist tiefgehend. Sie denken unentwegt ans Sterben. Ich habe schon psychiatrische Patienten gehabt, aber Selbstmordsüchtige wie diese sind mir noch nicht untergekommen.« »Darum wird sich ebenfalls Bre Tsinga kümmern!«
21 »So lange können wir nicht warten«, wiederholte Homer G. Adams. »Wir müssen aktiv werden. Julio Mangana hat recht: Gleichgültig, wie lange es bis zum nächsten Flimmern noch dauern wird und wie stark die Nebenwirkungen sein werden - bis dahin werden zahllose Menschen auf der Erde sterben, aus Entkräftung, an Krankheiten, um die sich niemand kümmert, durch Unterernährung … Es ist ja fast so wie damals, als der Schwarm die Verdummung über die Galaxis brachte. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen zusehen, daß wir NATHAN wieder unter unsere Kontrolle bringen. Dazu ist, wie wir wissen, eine einträchtige Entscheidung von drei Personen nötig: Paola Daschmagan, die Erste Terranerin, Cistolo Khan als LFT-Kommissar und Gia de Moleon als Chefin des Terranischen Ligadienstes. Ihretwegen vor allem haben unsere Posbifreunde sich nach Terra gewagt. Jetzt haben wir sie an Bord der GILGAMESCH, und so bald wie möglich müssen sie die Sperre NATHANS wieder aufheben, damit NATHAN gegen den Philosophen tätig werden kann. Wie sieht es auf diesem Gebiet aus, Julio?« Der Arzt zog pfeifend die Luft durch die Zähne. »Die Patienten sind noch vollkommen in ihre Wahngedanken verstrickt«, sagte er. »Sie haben nur noch ein Ziel im Leben: sich für die Geburt von Goedda zu opfern; alles andere ist ihnen nebensächlich.« »Bekannt«, sagte Kalle Esprot trocken. »Und wie sieht es mit Therapie aus? Kannst du etwas erreichen?« »Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet«, sagte Mangana. »Aber wie ich schon ausgeführt habe, die Patienten sind nicht nur körperlich, sie sind auch seelisch geschwächt. Es fragt sich, ob eine weniger gute Krisenintervention in diesem Fall nicht zu besseren und vor allem schnelleren Ergebnissen kommt als eine intensive und sehr behutsame Langzeittherapie. Nur …« »Nur was?« fragte Homer G. Adams. »Ich müßte mich sehr täuschen, wenn die Wirkung der Philosophenthesen nicht tief in
22 die Grundstrukturen der Persönlichkeit hinabreicht. Ich fürchte, daß die Psychologen sehr viel Arbeit damit haben werden, diese Wirkungen wieder abzubauen. Ich habe diese Möglichkeiten nicht. Wenn ich mich darauf konzentriere, aus den Patienten jenes Ergebnis herauszuholen, auf das wir alle scharf sind - nämlich die Aktivierung von NATHAN -; dann kann es sein, daß es für eine wirklich gründliche und dauerhaft heilende Therapie zu spät ist.« Homer G. Adams runzelte die Stirn. »Und? Inwiefern wäre das von Nachteil?« Julio Mangana blickte ihn an. »Die Patienten blieben seelisch krank. Wir bekämen zwar NATHAN auf unsere Seite, aber dafür wären vor allem diese drei dauerhaft suizidgefährdet. Vielleicht muß man sie bis an den Rest ihres natürlichen Lebens ununterbrochen beaufsichtigen …« Schweigen breitete sich aus. »Das ist nicht dein Ernst!« stieß Kalle Esprot hervor. »Ist das wirklich die Wahl, vor der wir stehen? Entweder eine menschenleere Erde und die Geburt von Goedda, dafür aber drei glückliche und zufriedene LFTChefs, oder wir vernichten Goedda um den Preis von drei dauerhaft seelisch gestörten Menschen?« »Ich danke dir dafür, daß du die beiden Möglichkeiten so präzise umschrieben hast«, sagte Julio Mangana knapp. »Genau darauf läuft es hinaus …« »Einmal abgesehen davon«, warf Flame Gorbend ein, »daß mit der Aktivierung von NATHAN noch gar nichts gewonnen ist. Kann sein, daß sich diese Hoffnung letztlich als Sackgasse erweist.« Betroffenheit machte sich breit. Homer G. Adams fixierte Julio Mangana mit Blicken. »Was sagst du dazu? Wie würdest du dich entscheiden?« »Das ist sehr schwer zu sagen, denn ich bewege mich auf einem Gebiet, auf dem ich nicht Fachmann bin. Möglich ist, daß meine schnelle Krisenintervention rein gar nichts bewirkt, dann habe ich zwar nichts erreicht,
Peter Terrid aber auch niemandem geschadet. Kann sein, daß NATHAN bald wieder aktiv werden und man die Patienten wieder restlos herstellen kann. Das wäre natürlich die bessere Lösung. Am gemeinsten ist dieser Ausgang: Wir bekommen NATHAN aktiviert, aber das bringt uns nichts ein, während meine Patienten dauerhaft geschädigt werden. In diesem Fall, ich sage es offen: Könnte man diesen Ausgang vorhersehen, würde ich die Behandlung der Patienten selbstverständlich ablehnen. Im Grunde stehen sich zwei Risiken gegenüber: die Möglichkeit, die durchaus nicht eintreten muß, daß die Patienten geschädigt werden, und die Möglichkeit, durch die ausbleibende Aktivierung von NATHAN unsere letzte Chance zu verspielen.« Er zögerte lange. »Augenblick«, warf Arina Enquist ein. »Sehen wir die Sache doch einmal von einer anderen Warte. Es geht uns um die Aktivierung von NATHAN. Nur deswegen ist die 80X7443 auf Terra gelandet. Ohne diesen Einsatz wären alle Patienten noch auf der Erde und dem sicheren Tode geweiht - so betrachtete, wäre selbst im schlimmsten aller Fälle für die Patienten ein Vorteil erreicht. Sie wären zwar stark selbstmordgefährdet, aber sie wären wenigstens nicht tot …« Julio Mangana schüttelte den Kopf. »Ich bin vor allem Arzt, ich habe mich um das Wohl meiner Patienten zu kümmern. Politik ist nicht meine Sache. Und jetzt soll ich um einer bloßen Möglichkeit willen das Risiko in Kauf nehmen, meine Patienten durch unsachgemäße Behandlung zu schädigen? Das, Freunde, ist mein Problem, und diese Entscheidung fällt mir außerordentlich schwer.« »Wie ist es mit dieser Überlegung: Was glaubst du, wie Cistolo Khan in diesem Fall entschieden hätte, selbst wenn es um Risiken für seine eigene Person geht?« Julio Mangana lächelte mager. »Erstens ist das rein hypothetisch«, sagte er. »Niemand kann wirklich sagen, wie ein Patient in dieser oder jener Situation ent-
Bomben für den Brutkosmos schieden hätte, wenn es um seine Gesundheit und sein Leben geht. Gerade auf diesem Gebiet kann man sich fürchterlich irren. Und speziell in diesem Fall macht es überhaupt keine Probleme, zu einer Entscheidung zu kommen. Wir könnten Cistolo Khan und die anderen ja wirklich fragen … Und ihr wißt, wie deren Antwort aussehen wird …!« Homer G. Adams senkte den Kopf. »Sie werden sterben wollen, zusammen mit allen anderen, die in den unseligen Bann des Philosophen geraten sind …« »Unfug!« warf Flame Gorbend ein. »Cistolo und die anderen sind doch gar nicht bei klarem Verstand … Sie wissen gar nicht, was sie sagen.« »O doch«, antwortete Julio Mangana leise. »Leider wissen sie das sehr genau …«
6. »Ist es deine Sache als Arzt, darüber zu entscheiden, was gut ist für mich oder nicht?« fragte ich Julio Mangana. Er sah mitgenommen aus, wie ein Mann, der nicht viel geschlafen hat. Um so besser … Mangana war intelligent, aufgeschlossen und geistig beweglich. Es müßte möglich sein, ihn auf den richtigen Weg zu bringen; er hatte es verdient, und wenn ich mich ein wenig anstrengte, dann konnte ich es durchaus schaffen, ihn in unsere Gemeinschaft aufzunehmen. Ganz gewiß würde er sich meinen Argumenten, von denen ich wußte, daß sie eindeutig die besseren waren, letztlich beugen und unterwerfen. Ich mußte nur aufpassen, nicht zu schnell und zu drängend vorzugehen. Ich war Nerghana Bilox, nicht der Philosoph selbst, dessen Existenz allein schon mehr wog als alle Vernunftgründe. Wenn ich zuviel Druck auf Mangana ausübte, würde er wahrscheinlich störrisch werden und sich sogar gegen Einsichten wehren, die aus seinem Innersten emporstiegen. Unaufgeklärte Menschen waren mitunter sehr eigentümlich. »Wenn du meine Patientin bist, dann
23 schon«, antwortete Julio Mangana. »Genau das ist der Beruf eines Arztes: Er weiß Dinge, die für den Patienten und dessen Wohl wichtig sind und die der Patient mangels Sachkenntnis einfach nicht wissen kann. Wärest du ernsthaft krank und müßtest operiert werden - wer, wenn nicht ich oder ein anderer Arzt, sollte die Diagnose stellen und alles Notwendige veranlassen?« »Und wer definiert, ob ich deine Patientin bin oder nicht? Ich bin wach, ein bißchen schlapp zwar, das gebe ich zu, und auf diesem Gebiet habe ich gegen deine Hilfe nichts einzuwenden. Aber es gibt Bereiche, beispielsweise mein Seelenleben, da bin ich mit der Definition als Patientin nicht einverstanden, ganz und gar nicht. Wußtest du übrigens, daß das Wort Patient aus der längst ausgestorbenen Sprache der Römer stammt und soviel wie der Leidende, Erduldende bedeutet? Ich halte die zweite Übersetzung für die bessere, sie beschreibt das Verhältnis besser …« Julio Mangana legte den Kopf zurück und lachte laut los. »In einer solchen Lage hältst du mir einen kulturgeschichtlichen Vortrag?« amüsierte er sich. Ich fixierte ihn. »Daß ich es kann«, sagte ich scharf, »beweist doch wohl, daß ich in der Lage bin, meine Entschlüsse klar zu durchdenken und auch selbst zu fassen. Ich brauche dazu deine Hilfe nicht.« Er betrachtete mich nachdenklich, während ich meine Schwäche verwünschte, die mich daran hinderte, aktiv zu werden. Mangana machte einen freundlichen und kompetenten Eindruck und schien, abgesehen von der verständlichen Schwäche der Eitelkeit, ein recht sympathischer Mensch zu sein. Aber in diesem Augenblick war er mir im Wege; er hinderte mich daran, die Erfüllung meines Lebens zu finden. Und deswegen begann ich ihn zu hassen, zuerst langsam, nur angedeutet in meinem Empfinden, aber dann immer stärker … »Was ist, wenn ein Symptom deiner
24 Krankheit das ist, daß du deine Lage und deinen Zustand eben nicht mehr richtig einschätzen kannst? Wenn du zwar glaubst, vollkommen in Ordnung zu sein, in Wirklichkeit aber schwer krank bist …?« »Pah«, sagte ich. »Eine fadenscheinige Theorie, mit der man alles und jedes rechtfertigen kann. Die klassische Grundlage, auf der die Herrschaft von Tyrannen beruht, von Ärzten, Anwälten, Lehrern und Eltern. Sie alle behaupten, es besser zu wissen. Objektiv besser zu wissen, und man selbst hat einfach nicht den Durchblick. Wie armselig, wie kümmerlich - und wie hochmütig und größenwahnsinnig.« »Treffer«, gab Julio Mangana zu. »Und du hast die Wahrheit gefunden, nicht wahr? Die letzte, alles erledigende Wahrheit, die unumstößliche, nicht zu erschütternde Wahrheit. Wie gut für dich.« »Spar dir den höhnischen Tonfall!« fauchte ich ihn an. Ich wünschte, ich hätte ihn packen und prügeln können. »Und wo hast du sie gefunden?« wollte Julio Mangana wissen. »Lag sie irgendwo auf dem Boden, als du gerade deines Weges gegangen bist? Hat sie dich überkommen in Gestalt einer göttlichen Erleuchtung …?« »Der Philosoph hat sie uns geschenkt«, antwortete ich gelassen. Dieser Mann konnte mich nicht erschüttern. Seine Position war unhaltbar. »Und vorher hast du ganz anders gedacht und empfunden?« Ich fragte mich, warum er dieses Gespräch mit mir suchte. Er war Arzt, kein Seelsorger. Mochte er für meinen Körper tun, was er für richtig hielt - schaden würde er mir weder wollen noch können. Aber er versuchte auch, an meiner Psyche herumzufingern. Das ärgerte mich ebenso, wie es mich verwunderte. Was ging es ihn an? »Das stimmt«, gab ich zu und lächelte unwillkürlich. Was war ich vorher doch dumm gewesen. Wofür hatte ich meine Kräfte nicht alles verplempert - für meinen Beruf, für Geld, für
Peter Terrid schöne Kleider, für Männer … Und am Ende war ich doch immer dieselbe geblieben und hatte gewußt, daß sich dieser Reigen fortsetzen würde bis ans Ende meiner Tage. »Hast du mit dem Philosophen argumentiert?« wollte Mangans wissen. Diesmal lachte ich ihn einfach aus. Was für eine idiotische Frage! Wie hätte ich mich der geballten Kompetenz des Philosophen auch widersetzen sollen? Und können? Und wozu auch? Er hatte recht, recht in allem, was er sagte und tat. Sein System beruhte auf wissenschaftlicher Grundlage, es war durchdacht bis ins kleinste, bis zur unausweichlich letzten Konsequenz. »Selbstverständlich nicht«, sagte ich. »Wie soll man gegen die Wahrheit argumentieren? Das ist doch Unsinn!« »Und wer behauptet, daß es sich um die Wahrheit handelt? Er, der Philosoph?« Ich nickte. »Kann es sein, daß er euch belogen hat?« fragte Julio Mangans. Mich schauderte. Der Gedanke war allzu vermessen, eine unerhörte Frechheit. Wie kam dieser bornierte Dummkopf dazu, solche Fragen zu stellen? Der Philosoph hatte recht gehabt - es gab Menschen, die seine Feinde waren und damit auch unsere Feinde. Feinde, die man wenigstens aufhalten mußte, wenn es nicht sogar besser war, sie zu töten. Die Wahrheit, die einzige, unerschütterliche und niemals endende Wahrheit, lag jenseits der Schwelle des Todes, aber das konnten Menschen wie Julio Mangans - Doktor hin oder her - einfach nicht begreifen. Erst im Augenblick ihres Todes würde sich ihnen die Wahrheit offenbaren. So betrachtet, war es eigentlich unsere ethische Pflicht, Menschen wie Julio Mangans, wenn sie sich schon nicht überzeugen lassen wollten, mit dem besten und unwiderlegbaren Beweis von der Richtigkeit unserer Wahrheit zu konfrontieren - indem wir sie töteten. »So ein Schwachsinn!« sagte ich gereizt.
Bomben für den Brutkosmos »Hältst du mich denn für so dumm, auf einen Lügner hereinzufallen?« Er sah mich an, mit dunklen, diesmal sehr kühl blickenden Augen. »Ja, für so dumm halte ich dich«, sagte er ohne Aufregung. »Und ich kann dir beweisen, daß ich recht habe.« »Das möchte ich erleben«, trotzte ich. »Nun gut«, meinte Mangans. »Vor dem Auftauchen des Philosophen hast du anders gedacht und empfunden als heute, richtig? Wesentlich anders, vor allem, was deine Einstellung zu Leben und Tod angeht.« »Zugegeben«, räumte ich ein. »Aber der Philosoph hat mir die Augen für die Wahrheit geöffnet …« »Nicht so schnell!« sagte Julio Mangans. »Bleiben wir bei deinem Zustand vor der Erleuchtung durch den Philosophen. Bist du damals auf Lügner hereingefallen?« Ich senkte den Kopf. »Du hast recht«, gab ich zu. »Ja, ich bin damals Lügen aufgesessen. Märchen, Fabeln, Mythen, irgendwelchen Geschichten, die ich geglaubt habe wie ein kleines Kind …« Mangana spitzte die Lippen. »Und hast du damals, als du das alles noch geglaubt hast, schon gewußt, daß es Lügen gewesen sind?« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Der Philosoph hat es mir aber klar- und bewußtgemacht«, antwortete ich. »Und seine Beweise …« »Lassen wir einmal die sogenannten Beweise«, sagte Julio Mangana scharf. »Fassen wir nur die Tatsachen zusammen. Vor dem Philosophen hast du ein gewisses Weltbild gehabt und fest daran geglaubt. Dann ist der Philosoph gekommen, hat dieses Weltbild als Lüge bezeichnet und dir ein neues Bild vermittelt, an das du nun glaubst, ohne jeden Zweifel daran zu entwickeln …« »Und du versuchst«, hielt ich ihm entgegen, »mir jetzt zu erklären, daß der Philosoph ein Lügner ist und du die Wahrheit sagst …« »So ungefähr«, bestätigte Julio Mangana.
25 »In diesem Punkt wenigstens sind der Philosoph und ich gleich …« Ich starrte ihn entgeistert an. Es war eine Vermessenheit ohnegleichen von diesem Menschen, sich mit dem Philosophen gleichzusetzen! »Dafür hättest du den Tod verdient«, stieß ich wütend hervor. »Eine derartige Lästerung …« Ich sah, wie er die Brauen wölbte. »Für mich der Tod als Strafe?« fragte er verwundert. »Und für dich als Höhepunkt und krönender Abschluß deines Lebens? Gibt es verschiedene Tode? Nicht Arten des Sterbens, daß es das gibt, ist mir klar. Ich meine, gibt es mehrere Arten, tot zu sein? Eine, die einem Spaß macht, und eine, unter der man leidet?« Ich preßte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Er tat mir weh mit diesem ständigen Gerede. »Du willst mich einfach nicht verstehen«, klagte ich. »Geh weg, du machst mich ganz krank. Ist das deine Aufgabe als Arzt?« »Wohl kaum«, antwortete Julio Mangana und stand auf. Für einen Augenblick entgleisten seine Gesichtszüge. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, die Maske fiel ab, die er während des Gespräches mit mir aufgesetzt hatte. Ich sah einen Mann, der selbst krank zu sein schien, ausgezehrt, müde, erschöpft und mit einem Zug von Resignation und Verbitterung um die Mundwinkel. Es war das Gesicht eines Mannes, ging es mir durch den Kopf, der eine schwere und verantwortungsvolle Aufgabe übernommen hatte und sich davor fürchtete, der Belastung nicht gewachsen zu sein. Ein leises Triumphgefühl stieg in mir auf. Er hatte es versucht, mich argumentativ zu bezwingen - ein Versuch, der a priori zum Scheitern verurteilt war, wie ich wußte, denn kein Mensch konnte es mit dem Philosophen aufnehmen. In diesem Augenblick hatte er die Grenzen seiner Fähigkeiten erfahren. Er war gescheitert, kam nicht weiter, wußte auch nicht mehr weiter …
26 »Du solltest auf der Erde landen«, sagte ich mitfühlend. »Bitte?« Er wandte sich mir erneut zu. Er hatte vergessen, die seelische Maske wieder aufzusetzen, die er mir vorher zugekehrt hatte. Er zwinkerte heftig, unterdrückte dann mühsam das Verlangen zu gähnen. »Es würde dir gut tun«, sagte ich, »die Lehre des Philosophen zu übernehmen …« »Inwiefern …?« »Es würde das Leiden von dir nehmen«, sagte ich. »Und ich kann sehen, daß du leidest. Was du versuchst, geht über deine Kräfte …« Der Arzt nickte langsam und setzte sich. »Ich kann dir sagen, welche Aufgabe ich habe«, sagte er mit hängenden Schultern. »Du weißt sicher, daß wir nicht nur dich von Terra abgeholt und an Bord der GILGAMESCH gebracht haben. Unter anderem haben wir auch Paola Daschmagan, Cistolo Khan und Gia de Moleon an Bord, und meine Aufgabe besteht darin, sie dazu zu bewegen, wieder die Kontrolle über NATHAN zu übernehmen und dafür zu sorgen, daß den Menschen auf Terra geholfen werden kann.« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Die Menschen auf Terra brauchen keine Hilfe«, sagte ich. Begriff er das wirklich nicht? »Entweder leben sie, oder sie sterben. Sterben werden sie ohnehin, und leben wollen sie eigentlich gar nicht mehr. Wenn sie ein paar Tage früher sterben, als es gut und nützlich wäre, wen kümmert das?« »Mich unter anderem«, sagte Julio Mangana. »Weißt du, zwischen unseren Weltbildern gibt es einen fundamentalen Unterschied …« »Und der wäre?« Julia Mangana seufzte tief. »Ich kann mich irren - du nicht … Mein Weltbild schließt die Möglichkeit des Irrtums ein, das deine jedoch nicht … Wenn du mit deiner Auffassung recht hast, kann ich mich dir immer noch anschließen. Solltest du dich aber irren …«
Peter Terrid
7. Atlan »Der Kommandant dieses Gliederschiffes heißt Kynhan«, erklärte Myles Kantor. »Ein Chaeroder, und er scheint ziemlich unter Druck zu stehen …« Myles Kantor hatte sich wieder in die bordinterne Kommunikationsstruktur eingeklinkt; es war ihm leichter gefallen als beim ersten Mal, aber dennoch hatte es ziemlich lange gedauert. Der Ausfall unserer Pikosyns machte sich allenthalben bemerkbar. Immerhin funktionierten jetzt unsere Translatoren wieder halbwegs normal. »Seht euch das an!« Myles ließ auf einer Fläche eine große Projektion auftauchen. »So sieht das Bauwerk von Goedda jetzt aus …« Es war eine verwirrende Darstellung von ineinander verflochtenen Röhren, Kammern und Gängen; der Plan versuchte das Bauwerk in allen drei Dimensionen darzustellen und war für einen Menschen völlig undurchschaubar. Vielleicht hätte ein Posbi damit etwas anfangen können oder ein insektoides Lebewesen, für das solche Bauten wohl eher normal waren. Myles Kantor wechselte die Projektion aus. Die Details waren jetzt noch kleiner und verwirrender. »Die nächste Ausbaustufe«, klärte Myles uns auf. »Nach meiner Einschätzung ist dieses Bauswerk dreimal so groß wie das erste. Es wird die Tolkander eine Menge Zeit kosten, diese Stufe zu vollenden.« »Und wie groß soll das Bauwerk in der letzten Phase werden?« wollte Dao-Lin-H'ay wissen. »Kannst du auch das den Plänen entnehmen?« Myles nickte knapp. »Wenn ich die Daten richtig interpretiere«, sagte er vorsichtig, »dann wird Goeddas Bauwerk in der letzten Phase praktisch,den gesamten Brutkosmos ausfüllen - und das sind rund neuntausend Kilometer im Durchmesser …«
Bomben für den Brutkosmos Ich stieß einen halblauten Pfiff aus. »Neuntausend Kilometer Durchmesser«, sagte ich beeindruckt. »Das ergibt …« »… eine Kugel, die einen sehr großen Teil des gesamten Erdvolumens ausmachen würde«, berechnete Myles Kantor schnell. »Terra hat einen Durchmesser von rund dreizehntausend Kilometern …« Mein Extrahirn hatte zu rechnen begonnen, wie üblich mit einer Exaktheit, die hier fehl am Platze war. Ich verzichtete daher auf die genauen Zahlen, als ich den anderen vorrechnete: »Das Volumen einer Kugel wird nach der Formel berechnet: vier Drittel mal Pi mal Radius hoch drei. Bei einer Kugel von neuntausend Kilometern macht das 38.170 mal zehn hoch elf Kubikkilometer aus …« Dao-Lin-H'ay blickte mich skeptisch an. »Worauf willst du hinaus?« fragte sie. »Darauf, daß der Rauminhalt von Goeddas Bauwerk in der letzten Ausbaustufe den gleichen Volumeninhalt hat wie rund siebenundzwanzig Millionen Gliederschiffe des uns bekannten Typs. Im Augenblick sind hier bestenfalls fünfzig bis einhundert Schiffe anzutreffen, es würde also noch mittlere Ewigkeiten dauern, bis Goedda die dritte oder vierte Baustufe erreicht. Außerdem geht mir noch eines durch den Kopf: Je größer das Bauwerk wird, um so größer muß auch der Materialaufwand für den nächsten Abschnitt werden. Entsprechend viele Schiffe müßten ankommen und ihre Ladung für den Bau zur Verfügung stellen - während gleichzeitig der Platz im Inneren des Brutkosmos, in dem die Schiffe operieren können, immer kleiner wird, bis …« Ich konnte sehen, daß Myles Kantor nicht verblüfft dreinblickte. »Du willst damit andeuten, daß es ein Etwas wie diesen Brutkosmos, das Bauwerk und Goedda aus mathematischen und physikalischen Gründen gar nicht geben dürfte. Aber deine Rechnung ist leider falsch …« »Widerlege mich« forderte ich ihn auf. »Zunächst einmal ist es so: Für den Kern des Bauwerks reicht ein Schiff aus. Je grö-
27 ßer das Bauwerk wird, um so mehr Schiffe können gleichzeitig daran eingesetzt werden. Aber diese Berechnung führt ohnehin in die Irre. In einem Punkt nämlich hast du ohne Zweifel recht: Was die Gliederschiffe heranschaffen, das reicht vielleicht aus, um dieses System von Gängen und Röhren anzulegen, aber niemals dazu, das gesamte Bauwerk mit Goedda-Masse zu füllen. Ich bin schon ziemlich lange sicher, daß Goedda sich nicht nur aus jenem Material zusammensetzt, das von den Schiffen herbeigebracht wird. Es muß noch eine andere Quelle für Energie und Materie geben, aus der Goedda schöpfen kann. Vielleicht hilft der Philosoph auf Terra mit. Das Kritzeln kann ja einen weitergehenden Sinn haben. Vielleicht ist Goedda auch imstande, unmittelbar aus dem übergeordneten Kontinuum Energien aufzunehmen und in Körpermasse umzuwandeln. Und wenn wir diese Quelle finden …« »Du meinst, dann haben wir eine Waffe gegen Goedda?« fragte Dao-Lin-H'ay hoffnungsvoll. »Es muß eine solche Waffe geben«, sagte ich. »Anderenfalls haben wir nämlich verloren …« Myles Kantor studierte inzwischen andere technische Unterlagen. Bisher war es an Bord des Gliederschiffes niemandem aufgefallen, daß nicht nur in der Zentrale Daten aus dem zentralen Kommunikationsnetz abgerufen wurden, sondern auch in einem von der Zentrale weit entfernten Raum. Es gibt nichts, was so gefährlich ist wie Sicherheit - kraß ausgedrückt. Zu Beginn ihrer Entwicklung hatten die Tolkander ihre Schiffe wahrscheinlich mit Wachpersonal und Alarmanlagen aller Art bestückt. Aber es war offenbar nie irgend etwas passiert, und so hatte sich nach und nach, so unausweichlich wie die Evolution, der Schlendrian breitgemacht. Das Material für Alarmanlagen, die niemals aktiv geworden waren, wurde bei der nächsten Generation von Schiffen weggelassen oder anderweitig verwendet; Mannschaften, die sensible Zonen
28 hätten bewachen sollen, wurden auf andere Posten gesetzt, und so ging es fort, bis vom früheren Aufwand kaum mehr etwas im Einsatz war. Das Gefühl der Sicherheit schlug in diesen Fällen nach einiger Zeit in Überheblichkeit um und wurde damit zur Gefahr. »Die Zentrale …«, murmelte Myles Kantor, während er die Pläne studierte. »Dort könnte man natürlich allerhand erreichen. Schließlich wird von dort aus alles an Bord gesteuert.« »Vor allem würden wir Aufmerksamkeit erringen«, bemerkte ich. »Und das sollten wir besser vermeiden.« Myles grinste flüchtig. »Ich weiß«, gab er zurück. »Keine Sorge, ich werde darauf achten.« Dao-Lin-H'ay warf mir einen Blick zu. »Nehmen wir an, es gelingt uns, dieses Schiff in eine Art Bombe zu verwandeln«, fragte sie. »Wann soll diese Bombe dann hochgehen?« Darüber hatte ich mir auch schon Gedanken gemacht. Eines unserer Probleme war, daß unsere Zeitrechnung nicht mehr stimmte. Mit den Pikosyns waren auch die Chronometer ausgefallen und hatten ihre Daten verloren. Inzwischen liefen sie wieder, aber uns fehlte die Zeitspanne, in der wir ohne Bewußtsein gewesen waren - möglich, daß es nur eine knappe Stunde gewesen war, aber es hätten auch mehrere Stunden, vielleicht sogar ein ganzer Tag sein können. »Das wird Myles herausbekommen müssen«, sagte ich und deutete dabei auf den Wissenschaftler. »Wir haben drei relevante Daten zu beachten: erstens den Zeitpunkt des nächsten Flimmerphänomens. Die Bombe sollte nach Möglichkeit hochgehen, bevor es soweit ist und wieder Menschen zu Schaden oder sogar zu Tode kommen. Zweitens macht es keinen Sinn, die Bombe zu einem Zeitpunkt zu zünden, wenn das Schiff den Brutkosmos schon wieder verlassen hat. Und drittens ist vor allem für uns wichtig, daß wir Goeddas Brutkosmos zum Zeitpunkt der Zündung nach Möglichkeit schon verlas-
Peter Terrid sen haben.« »Wann das nächste Flimmern geschehen wird, weiß ich nicht«, murmelte Myles Kantor, der angestrengt auf die Daten starrte, die er sich zeigen ließ. Wie so oft in solchen Fällen hatte er ein Niveau und eine Konzentration des Denkens erreicht, bei dem ihm kaum noch jemand folgen konnte. Eine von Myles Kantors ganz besonderen Gaben war, Verknüpfungen und logische Fäden zwischen Informationen erkennen zu können und weiterzuspinnen, die außer ihm niemand zu finden, geschweige denn zu verfolgen imstande war. Es war nicht ratsam, Myles zu stören, wenn er in dieser Phase der Hochkonzentration war. »Aber es sieht so aus, als würde noch ein zweiter Pulk von Gliederschiffen mit Material gebraucht, bis die Ausbaustufe für Goeddas nächsten Wachstumsschub vorbereitet ist«, sagte er. »Wir haben also noch Zeit, aber fragt mich nur nicht, wieviel.« Ich hörte, wie er die Luft durch die Zähne zog. »Etwas gefunden?« Myles nickte, ohne den Kopf von der Projektion zu wenden. Ich sah, wie er einen technischen Plan mit Blicken absuchte; es war ein verwirrendes Durcheinander von bunten Linien, die zum Teil beschriftet waren. Dutzende von verschiedenartigen Symbolen waren in dieses System von Linien eingebettet; irgendwelche Maschinen, Anlagen, Schalter. Ein Normalmensch war kaum in der Lage, in einem solchen Linienwirrwarr auch nur einen Anschein von Vernunft und Logik zu erkennen. Myles Kantor hingegen konnte solche Pläne, selbst wenn sie mikroskopisch fein gezeichnet und zugleich so groß waren wie eine ganze Wand, mit der gleichen Geläufigkeit lesen, wie andere in einem Gedichtband schmökerten - wahrscheinlich tat Myles Kantor es sogar mit mehr Genuß. »Aha …!« Ich grinste. Mitunter zeigte Myles ausgesprochene Expertenallüren. Er schüttelte den Kopf, mal
Bomben für den Brutkosmos verzweifelt, mal rätselnd, er brummte und holte hörbar Luft; er grummelte in sich hinein, runzelte tiefschürfend die Stirn, schnitt sorgenvolle Gesichter wie ein Arzt bei der Visite. Dazu gab er die passenden Laute von sich, die Betroffenheit ausdrückten oder Sorge oder vieles andere. Diese besondere Form der Kommunikation schien vor allem nur dazu zu taugen, dem Publikum eine einzige Botschaft mitzuteilen: Es ist ein gewaltiges Problem, mit dem ich mich hier herumplage, und ihr alle könnt und sollt sehr froh sein, daß ihr jemanden wie mich überhaupt in euren Reihen habt … Myles Kantor war normalerweise ein stiller und sehr bescheidener Mann, aber in Augenblicken wie diesen schlich sich ein wenig Eitelkeit gleichsam durch die Hintertür in sein Verhalten ein. »Was gibt es?« fragte Dao-Lin-H'ay »Spann uns nicht auf die Folter!« »Ich habe gerade eine Anweisung an alle Kommandanten entdeckt«, berichtete Myles Kantor. Er drehte sich halb um und blickte uns an; auf seinen Zügen deutete sich ein Lächeln an. »Es ist allen Gliederschiffen grundsätzlich verboten, die Energiespeicher ihrer Schiffe innerhalb des Brutkosmos aufzuladen …« »Und warum das?« Myles hob die Schultern. »Daran arbeite ich noch«, sagte er. »Es ist sehr schwierig, mit tolkandischen Unterlagen zu arbeiten; sie denken in vielen Punkten ganz anders als wir Menschen. Diese Anweisung beispielsweise: In einem Flottenhandbuch der LFT wäre diese Information fett gedruckt, in großen Buchstaben und mit allen Mitteln so gestaltet, daß selbst der Dümmste auf den ersten Blick sehen kann: Achtung, ganz außerordentlich wichtig! Bei den Tolkandern ist das anders. Bei ihnen scheint es keinen Schlendrian zu geben, keine Faulheit, kein Drückebergertum - und schon gar keine Befehlsverweigerung. Die Anweisung steht irgendwo, weil ohnehin jeder Tolkander alle Anweisungen und Befehle liest oder zur Kenntnis nimmt. Da er sie in
29 jedem Fall auch befolgen wird, braucht eine besondere Betonung der Wichtigkeit dieser Anweisung gar nicht erst ausgesprochen zu werden. Und wer immer diesen Befehl gegeben hat, er hat es nicht für nötig befunden, ihn unmittelbar anschließend auch zu begründen …« »Was für eine prächtige Welt für Militaristen!« spottete Dao-Lin-H'ay. Ich schüttelte den Kopf. »Wenn alle wie die Automaten gehorchen, macht das Befehlen keinen Spaß mehr«, schätzte ich die Sache ein. »Das Vergnügen für den Kommandierenden besteht vor allem darin, daß er sehr genau weiß, daß sein Untergebener nicht die geringste Lust hat, den Befehl zu befolgen es aber tun muß, wenn er nicht großen Ärger bekommen will …!« »Spricht da der ehemalige Admiral einer arkonidischen Kampfflotte?« wollte DaoLin-H'ay wissen. »Jedenfalls spreche ich aus Erfahrung«, gab ich zurück. »Was wird passieren, wenn gegen die Anordnung verstoßen wird?« »Ich bin gerade dabei, genau das herauszubekommen«, antwortete Myles Kantor, der sich wieder voll und ganz auf den Datenfluß konzentrierte, den er selbst ausgelöst hatte. »Wahrscheinlich liegt es daran, daß Goeddas Brutkosmos in den Hyperraum eingebettet ist …« »Ist das unser Normalraum nicht auch?« »Stimmt, aber auf ganz andere Art und Weise. Es macht einen Unterschied, ob man eine Hyperraumblase in den Normalkosmos hineinwölbt oder umgekehrt. Und in diesem Fall sieht es eher nach der zweiten Variante aus. Würde man von hier aus … Wartet einen Augenblick!« Er hielt inne und studierte den Plan, den er sich zeigen ließ. Mit dem Zeigefinger fuhr er gewisse Linien nach, nickte dann und wann, gab ein zustimmendes Brummen ab Dao-Lin-H'ay und ich grinsten uns dabei vergnügt an - und zauberte dann ein breites Lächeln auf sein Gesicht. »Also«, sagte er feierlich und wandte sich
30 uns zu. »Würde man versuchen, den Hyperraum von hier aus anzuzapfen, kann das zu einer furchtbaren Katastrophe führen, zu Energieausbrüchen von verheerender Stärke. Der Brutkosmos könnte regelrecht in den Hyperraum hinein aufplatzen, in jedem Fall würden die Energiespeicher dieses Antriebsblocks sich spontan entladen. Wahrscheinlich würde es sogar zu einer Kettenreaktion kommen, bei der die Speicher der anderen Schiffe ebenfalls hochgehen …« »Reicht das, um Goedda zu zerstören?« »Allemal«, versicherte Myles. »Diese Urgewalten würden Goedda in Stücke reißen und in den Hyperraum verwehen lassen …« Ich blickte ihn zweifelnd an. »Und was wird dabei aus dem Sonnensystem?« wollte ich wissen. »Ich sagte es schon«, antwortete Myles, jetzt ein bißchen zögerlich. »Der Brutkosmos wird wahrscheinlich in den Hyperraum hinein aufplatzen … Die Trennung zwischen dem Brutkosmos und unserem Normalraum ist entschieden stärker und weniger leicht zu durchdringen als die zwischen Brutkosmos und Hyperraum. Für die Erde besteht eigentlich keine Gefahr …« »Eigentlich?« Myles zuckte mit den Achseln und wiegte den Kopf. »Ein gewisses Restrisiko bleibt immer«, sagte er zögernd. »Ich werde die Sache im Auge behalten.« Er vollführte eine Geste, die ich seit langem bei ihm kannte - eine Strähne seines glatten Haares war ihm wieder einmal über die Augen gerutscht, und jetzt versuchte er, wie er es schon Tausende von Malen getan hatte, die Haare mit einer Handbewegung zurechtzustreichen. Aber in einem SERUN ließ sich derlei nicht machen eigentlich eine Kleinigkeit, aber es waren gerade solche Kleinigkeiten, die viele Menschen in Raumanzügen nach kurzer Zeit um den Verstand zu bringen schienen. Myles Kantor reagierte schnell, stoppte seine Hand und machte eine schlenkernde Bewegung mit dem ganzen Kopf, die zum
Peter Terrid gewünschten Ergebnis führte. Oft nahm er in solchen Fällen das Gebläse des SERUNHelms zu Hilfe Dao-Lin-H'ay gab sich mit dem, was Myles gesagt hatte, nicht zufrieden. »Ich möchte es genauer wissen: Was wird passieren, wenn die ausbrechenden Energien die Barriere zwischen Brutkosmos und Einsteinraum durchbrechen? Wird es zu Schäden kommen?« Myles schüttelte den Kopf. »Wohl kaum«, sagte er, ohne aufzublicken. »Eher zur vollständigen Vernichtung aller Objekte in der näheren Umgebung …« »Und was nennst du in diesem Zusammenhang nähere Umgebung?« Myles Kantor wandte den Kopf und blickte uns an. »Mindestens den Planeten«, antwortete er. »Wenn nicht das gesamte Sonnensystem. Aber ihr vergeßt dabei eines: Der physikalische Ort dieses Brutkosmos im Hyperraum ist nicht eindeutig zu bestimmen. Es gibt zwar höchstwahrscheinlich gewisse Verbindungen zwischen diesem Raum und unserer heimatlichen Erde, aber das muß nicht heißen, daß Goeddas Brutkosmos irgendwie über der Erde schwebt oder daneben. Solche beschreibenden Begriffe haben auf diesem Gebiet der Fünf-D-Physik nur eine minimale Aussagekraft. Und außerdem habe ich ja bereits gesagt, daß Goeddas Lebensraum mit größter Wahrscheinlichkeit in den Hyperraum hinein aufreißen und Goedda in ein Kontinuum speien wird, aus dem diese Bestie niemals wieder zurückfinden wird …« »Hoffentlich«, murmelte ich.
8. Nerghana Bilox »Eine lächerliche und alberne Vorstellung, geradezu absurd«, sagte ich laut. »Ich weiß, daß viele Menschen daran geglaubt haben, aber dadurch wird es nicht weniger absurd. Ein Zusammentreffen mit allen, die man gekannt und geliebt hat, im Jenseits …
Bomben für den Brutkosmos Wie soll denn das funktionieren? Ich habe bis jetzt zwei Eheverträge abgeschlossen, und wäre ich so dumm, weiterleben zu wollen, wird noch der eine oder andere Vertrag dazu kommen- rund hundertzwanzig Jahre, die ich nach der Statistik noch vor mir habe, sind eine lange Zeit. In welchem Lebensalter werde ich dort drüben auftauchen? Als junges Mädchen, berauscht von der Liebe zu irgendeinem Jugendstar? Oder als die steinalte Greisin, die ich beim Eintritt des Todes sein könnte, von der Gicht geplagt, schwerhörig und mit triefenden Augen? Werden dann meine fünf ehemaligen Ehemänner um mich sein die im Laufe ihres Lebens ja dann auch geheiratet haben, vielleicht ausgerechnet jene Frau aus meinem Bekanntenkreis, die ich ohnehin nicht ausstehen konnte und die ich jetzt für den Rest der Ewigkeit ertragen darf? Und das ist dann das Paradies, angeblich …« Julio Mangana lachte laut. »Es freut mich, daß deine Lebensgeister wieder zurückkehren«, sagte er. »Auch wenn sie sich hauptsächlich als Dickschädeligkeit und Widerborstigkeit bemerkbar machen. Wie fühlst du dich?« »Schlecht …« Eine andere Antwort konnte es nicht geben. Meine körperlichen und geistigen Kräfte waren teilweise zurückgekehrt, man hatte mich aufstehen lassen; aber ich durfte meine Kabine nicht verlassen, ständig wurde ich von einem Medo-Robot beaufsichtigt. Was für ein Blödsinn - ich hatte nicht vor, Selbstmord zu begehen! »Die christliche Vorstellung von einem Leben nach dem Tode lehnst du also ab«, faßte Julio Mangana die letzte halbe Stunde unseres Gespräches zusammen. Er suchte mich jeden Tag auf, manchmal drei bis viermal, und jedesmal sprachen wir mindestens eine halbe Stunde lang miteinander. Natürlich immer über das gleiche Thema; er war wie besessen davon, es war eine regelrechte Manie - eigentlich hätte er in psychologische Behandlung gehört, so sehr klammerte er sich an dem Thema fest.
31 »Sie ist in meinen Augen zum einen nicht beweisbar, zum anderen albern und absurd. Und in einigen Aspekten finde ich sie sogar eher abschreckend. Mein erster Mann war liebenswert und ganz gewiß kein Bösewicht; ich würde ihn also im Jenseits wieder treffen. Aber er war zugleich ein entnervender Schwätzer und Besserwisser, und bei der Vorstellung, wirklich eine Ewigkeit mit ihm verbringen zu müssen - brrrr!« »Es gibt aber auch andere Jenseitsvorstellungen …«, versuchte er mich zu ködern. Ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Auch nicht viel besser«, sagte ich. »Alle diese Religionen, Mythen, Ideologien oder was auch immer nähren sich doch aus der gleichen Quelle: Die Menschen haben Angst vor dem Tod, sie weigern sich zu akzeptieren, daß es nach dem letzten Atemzug aus ist und vorbei. Von dieser Angst hat mich der Philosoph befreit, für immer. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, durchaus nicht. Im Gegenteil, ich begreife ihn als willkommenes Ende einer eher lästigen Existenz …« Julio Mangana blickte mich an. »Du bist eine attraktive Frau …« »Hör auf«, sagte ich spontan. »Und was habe ich davon - außer Männer?« Der Leiter des Medocenters der GILGAMESCH starrte mich verdutzt an. »Donnerwetter«, meinte er dann. »Du schlägst eine harte Klinge …« »Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte ich. »Alle diese Lebensköstlichkeiten, die du mir aufzählen willst, sind doch letzten Endes schal und inhaltsleer. Sie haben keinen Bestand, und daher haben sie auch keinen Wert, jedenfalls nicht für mich.« Julio Mangana blickte mich zweifelnd an. »Wie kommt es dann, daß du in diesem Leben tatsächlich noch ein Ziel hast?« fragte er. »Denn ich irre mich doch nicht. Dein Lebensziel, das einzige, das du hast, besteht darin, durch deinen Tod der Goedda zum Leben zu verhelfen …« Ich nickte. Wie sehr sehnte ich mich danach!
32 Ich schaffte es aber einfach nicht, dieses Gefühl in Worte zu kleiden, die der Doktor verstanden hätte. Dabei war er alles andere als dumm; er schien mich in der Regel sogar recht genau zu verstehen. Aber nicht auf diesem Gebiet … Eine unaussprechliche Müdigkeit des Geistes, die jedes andere Gefühl überlagerte und durchtränkte - das war es, was mich beschäftigte, und alles, was ich wollte, war, daß diese Müdigkeit endlich aufhörte. Ich war es satt, mich anstrengen zu müssen: für meinen Lebensunterhalt; dafür, Freunde zu haben; um die Zufriedenheit von Vorgesetzten zu erreichen; um Menschen zu gefallen, die hinter meinem Rücken garantiert spotteten und lästerten; um die Liebe eines Mannes zu gewinnen, bei der ich voraussehen konnte, daß sie im Anfang von alberner Schwärmerei gezeichnet sein würde, und das Ende bestand aus Kälte, Gleichgültigkeit und stiller Verachtung - und das war dann die gütliche Trennung … »Deine These ist doch«, sagte Julio Mangana, »daß das Leben, vor allem dein Leben, keinen wirklichen Sinn hat, ist …« Ich nickte. »Jeder Versuch, diesem Leben einen Sinn zu verleihen, ist letztlich zum Scheitern verurteilt, schon aus rein philosophischen Gründen.« »Ist dem so?« »Allein der Begriff Sinn existiert doch nur im Zusammenhang mit Menschen. Sinn und Zweck, das sind Worte, die wir Menschen erfunden haben, Etiketten, die wir den Dingen um uns herum aufdrücken. In der Regel meinen wir damit eine gewisse Nützlichkeit in bezug auf uns selbst ohne uns, die interpretierenden Geschöpfe, gäbe es in der Natur keinen Sinn und keinen Zweck, die Dinge würden einfach nur passieren, mehr nicht. Aber wenn wir Sinn als eine gewisse Nützlichkeit für uns selbst definieren, wie können wir selbst dann ein sinnvolles Leben haben? An dieser Stelle beißt sich die Schlange in den eigenen Schwanz; die Definition wird rückbezüglich auf sich selbst und damit paradox …«
Peter Terrid Julio Mangana lächelte sehr selbstzufrieden. »Wie gut, daß es wenigstens ein Leben im Kosmos gibt, das wirklich einen Sinn hat«, sagte er mit deutlich hörbarem Spott. Hätte der Philosoph mein Leben nicht so grundsätzlich zum Besseren verwandelt, hätte ich Mangana recht attraktiv gefunden, und seine ironische Art gefiel mir sehr gut; vor allem gefiel mir, daß er mir in jeder Minute dieser Gespräche das Gefühl gab, daß er mich ernst nahm - seine Ironie änderte daran gar nichts. »Und das wäre?« fragte ich neugierig. Wahrscheinlich sprach er von sich selbst. Männer reden meistens von sich selbst, habe ich festgestellt, auch wenn sie ein ganz anderes Thema angeschnitten haben. Mangana lächelte zufrieden. »Goedda«, sagte er dann. »Goedda scheint nicht nur nicht die geringsten Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihrer eigenen Existenz zu haben, nein, Goedda hält es auch für sinnvoll und angemessen, sich die Lebensenergien von Milliarden anderer Lebewesen einzuverleiben …« Ich starrte ihn betroffen an. »Goedda kann nicht mit den Maßstäben gemessen werden, die für uns Menschen gelten«, widersprach ich ihm. »Ach was!« sagte er rauh. »Du sagst, daß dein Leben für dich keinen Sinn macht nicht mehr macht, ich bitte dich, immer wieder daran zu denken. Dein Weltbild des Todes ist neueren Datums, früher hast du ganz anders gedacht und gehandelt. Wie dem auch sei, dieses sinnlose Leben, das du so bereitwillig wegzuwerfen bereit bist dieses Leben soll einen Sinn dadurch bekommen, daß es erlischt? Einen Sinn für dich, wohlgemerkt …« Mir wurde schlecht, es rumorte in meinem Magen. Ich wußte, daß er unrecht hatte. Er war befangen, nicht objektiv. Er klebte an seinem Leben. Wahrscheinlich war sein Beruf für ihn wichtig, sein Ansehen, Geld, Einfluß; Frauen waren für ihn wichtig in seinem Leben, das konnte ich seinen Blicken ent-
Bomben für den Brutkosmos nehmen. Er wollte nicht sterben, und das trübte seinen Sinn für die Wirklichkeit, für das Wesentliche. Wenn man Angst vor dem Tode hat, macht das Leben automatisch einen Sinn, und sei es nur den, etwas anderes zu sein als der Tod. Dabei ist das bißchen Leben so ungeheuer kurz, wenn man es mit der endlosen Länge des Todes vergleicht; müßte der Maßstab dann nicht eigentlich von dieser Mehrheit gestellt werden? Dann aber ist die Existenz des Menschen nichts weiter als eine sehr absonderliche und völlig sinnlose Episode in einer Unendlichkeit des Nicht-Seins. »Ich bin nicht wichtig«, sagte ich heftig. »Milliarden von Jahren hat es mich nicht gegeben, und nach mir wird das Universum Jahrmilliarden weiterbestehen. Was hat da meine Existenz für eine Bedeutung?« »Oh, für den Philosophen ist es sehr wichtig, daß es dich gibt, hier und jetzt - nun, jetzt ist richtig, aber hier stimmt nicht. Er will dich auf der Erde haben, damit du dort sterben kannst. Und warum sollst du dort sterben? Damit der Philosoph seine Funktion als Goeddas Geburtshelfer ausüben kann?« Ich winkte ab. Davon wollte ich nichts hören. Immer wenn er von Goedda oder dem Philosophen sprach, hatte seine Stimme einen aggressiven, ja lästernden Unterton. »Warum läßt du mich nicht einfach in Ruhe?« fragte ich. »Du brauchst ja dem Philosophen nicht zu glauben, du kannst in deiner verblendeten Egozentrik weiterleben. Niemand hindert dich daran.« Von einem Augenblick auf den anderen wurde das Gesicht von Julio Mangana hart, extrem hart. Ich zuckte zurück, so aggressiv blickte er. »Ich habe Freunde auf Terra«, sagte er. »Gute Freunde, seit vielen Jahrzehnten, die ich bewahrt habe, obwohl ich auf Camelot gelebt und gearbeitet habe. Kontakte konnte man halten. Und diese Freunde sind jetzt wie du: Sie sehnen sich danach, der Sinnlosigkeit ihres eigenen Lebens dadurch zu entgehen, daß sie sich - sinnvollerweise für ein
33 Geschöpf opfern, das am Sinn seiner eigenen Existenz nicht eine Sekunde lang zweifelt.« Ich rückte von ihm ab. »Wann begreifst du es endlich?« fuhr er mich an. »Er hat dich betrogen, dein Philosoph. Sehr gründlich betrogen. Was meinst du, Nerghana Bilox - wieso gibt es diesen Philosophen überhaupt noch? Was hält ihn am Leben? Wieso hat er sich nicht längst an seine eigenen Prämissen gehalten und ist gestorben?« Ich wußte eine Antwort darauf. »Weil er in der Geburt Goeddas aufgehen will«, sagte ich. »Und weil er andere Lebewesen davon überzeugen will, es ihm gleichzutun.« »Dann hat er also einen Sinn und eine Aufgabe in seinem Leben … Für ihn gilt die Definition vom sinnlosen Leben also nicht, schon gar nicht für Goedda. Goedda ist noch gar nicht geboren, und schon stellt die Kreatur Ansprüche und Forderungen. Sie schickt Philosophen aus, die Milliarden von anderen Lebewesen beeinflussen, damit sie ihr Leben in Goeddas Geburtsvorgang aufopfern. Planeten sind verwüstet und entvölkert worden von den Tolkandern, damit diese Philosophen entstehen konnten -und all dieser Aufwand wurde nur getrieben, um Goedda in ein Leben zu rufen, das eigentlich überhaupt keinen Sinn hat. Frau!« Er begann fast zu brüllen. »Setz endlich deinen Verstand ein, bevor es dazu zu spät ist!« Ich entfernte mich von ihm; er war mir jetzt unheimlich. Dann sah ich, wie er wutentbrannt und enttäuscht zugleich aus meiner Kabine stürmte. Ich schüttelte den Kopf. Der Arzt irrte sich. Ich wußte es. Er mußte sich einfach irren. Denn wenn ich mich irrte, wenn meine Lebensauffassung falsch war, dann … Ich wagte nicht, daran auch nur einen Gedanken zu verschwenden …
*
34 »Langsam«, sagte Dr. Julio Mangana erschöpft. »Es geht sehr langsam. Und es ist eine ausgemachte Tortur. Viermal die gleiche Leier, die gleichen Gespräche …« »Warum hast du eigentlich diese Frau mit in den engeren Kreis aufgenommen?« wollte Homer G. Adams wissen. »Nerghana Bilox ist Kulturhistorikerin«, antwortete Julio Mangans. »Sie hatte Zeit und Möglichkeiten, sehr lange und intensiv über den Philosophen und sein Weltbild nachzudenken. Sie ist sehr intelligent, geistig beweglich, argumentativ geschickt. An ihr kann ich die Taktiken und Strategien ausprobieren, die ich dann bei Cistolo Khan und den anderen anwende. Natürlich ist jedes dieser Gespräche anders, weil es sich auch um verschiedene Charaktere handelt. Aber bei jeder dieser Unterhaltungen kann ich meine Argumentation ein Stück verbessern. Ich merke es an den Reaktionen, ob ich etwas erreicht habe oder nicht. Ist mir ein kleiner Durchbruch gelungen, dann setze ich diese Argumente beim nächsten Patienten an und so fort.« »Und? Welche Erfolge hast du erzielt?« fragte Flame Gorbend. Julio Mangans wiegte den Kopf. »Wenig«, gab er zu. »Diese Menschen sind geschickt, und sie haben sehr gute Argumente auf ihrer Seite. Nerghana Bilox hat es in der letzten Unterhaltung gesagt, sinngemäß: Der einzige Sinn des Lebens besteht darin, nicht zu sterben. Das ist alles. Nimm dem Menschen die Todesfurcht, und er wird bei näherer Betrachtung alles andere für unwichtig und sinnlos halten.« Er lächelte schwach. »In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, daß fast alle großen Menschheitsreligionen das gleiche aussagen - irdische Güter und Dinge zählen nicht viel, das wahre Glück erreicht man erst im Jenseits, bei Allah, Jesus Christus, bei Zeus, Wotan oder Jahwe. Aber wenn ich richtig informiert bin: In allen diesen Religionen ist es dem Gläubigen strikt verboten, den Weg dorthin durch Selbsttötung abzukürzen. Paradox, nicht wahr?«
Peter Terrid Homer G. Adams betrachtete den Arzt kritisch. »Du siehst ziemlich mitgenommen aus«, stellte er mit sanfter Stimme fest. Mangana nickte. »Bin ich auch«, sagte er. »Ich könnte einen Zellaktivator brauchen, so sehr werde ich von diesem Problem beansprucht. Es ist nicht nur, daß ich mich ununterbrochen aufs höchste konzentrieren muß, denn diese Leute sind hoch intelligent, und wenn ich in meinen Argumenten eine Lücke habe, dann stoßen sie augenblicklich hinein und versuchen mich auszuhebeln. Aber was mich am meisten strapaziert …« Adams lächelte milde. »Es klingt manchmal außerordentlich überzeugend, was sie sagen, nicht wahr? Du beginnst in dieser Situation an deinen Fähigkeiten zu zweifeln, du fragst dich, ob du wirklich den richtigen Beruf gewählt hast. Ob du etwas taugst, da du doch nicht imstande bist, diese Menschen aus ihrem Selbstmordwahn zu reißen. Und dazu diese endlose Müdigkeit …« Julio Mangana starrte Homer G. Adams an, einen Mann, der in der aktuellen Zeit eine exotische Erscheinung war mit seinen körperlichen Defekten. Obwohl die Medizin seit Ewigkeiten in der Lage gewesen wäre, die verformten Knochen des Homer G. Adams wieder normal zu machen, hatte Adams sich dazu entschlossen, jenen Körper beizubehalten, den er zur Zeit von Perry Rhodans erstem Mondflug sein eigen genannt hatte. »Du kennst diese Müdigkeit?« Adams blickte an Mangana vorbei ins Leere. »Sie ist meine ständige Begleiterin«, antwortete er leise. »Und gegen diese besondere Form der Müdigkeit hilft auch der Zellaktivator nichts … Das einzige, was nach meiner Erfahrung hilft, ist harte Arbeit, die bringt einen auf andere Gedanken. Manchmal …« Er schloß kurz die Augen. »Der Mensch ist ein eigentümliches Geschöpf«, sagte er versonnen. »Er denkt hauptsächlich an sich selbst, dann vielleicht
Bomben für den Brutkosmos noch an seine Familie. Und er denkt und plant in kurzen Abständen, Wochen, vielleicht ein paar Monaten, aber selten länger. In der Vergangenheit sind viele Fehler gemacht worden, vor allem in der Politik, weil die Menschen zu eng und zu kurzfristig gedacht haben. Aber auf der anderen Seite ist es so, daß offenbar nur diese Art von Denken sinnstiftend für den Menschen ist. Diese Arbeit muß bis heute abend erledigt werden, ob es mir gefällt oder nicht - es wird wahrscheinlich gelingen. Würde die gleiche Person weiter voraus denken, könnte sie fast schon die nächsten Tage der Schinderei spüren, und der Lebensmut und die Energie wären beim Teufel.« Er seufzte lange. »Zurück zum Thema«, sagte er dann. »Siehst du eine Chance, die drei wichtigen Leute so weit fit machen zu können, daß sie endlich NATHAN aufwecken?« »Ich weiß es nicht«, gestand Mangana. »Ich arbeite mit den Mitteln der Gesprächstherapie, sehr unzulänglich, wie ich zugeben muß. Ich zeige Verständnis, höre mir an, was sie zu sagen haben, und versuche dabei herauszufinden, an welcher Stelle ihrer Argumentation sie selbst schon zu zweifeln begonnen haben. Aber ob ich es in allen drei Fällen schaffen kann, diesen argumentativen Panzer aufzubrechen … Ehrlich gesagt, ich habe da meine Zweifel.« Homer G. Adams legte die Arme auf den Rücken, verschränkte die Hände und begann in seiner Kabine auf und ab zu gehen. »Kann man etwas mit Medikamenten machen?« wollte er wissen. »Schwierig«, antwortete Dr. Julio Mangana. »Natürlich kann ich ihnen gewisse Drogen verabreichen, die beispielsweise antidepressiv wirken, oder …« »Sind sie depressiv?« »Eigentlich nicht«, entgegnete Mangana. »Im Grunde fehlen fast alle Merkmale des klassischen präsuizidalen Syndroms. Ich will sie jetzt nicht aufzählen und einzeln durchgehen; du mußt mir einfach glauben im klassisch medizinischen Sinne sind diese
35 Menschen nicht depressiv. Sie haben sich in ihrer neuen, ihnen aufgezwungenen Gedankenwelt häuslich eingerichtet und fühlen sich in gewisser Weise darin wohl. Wenn wir jetzt mit Medikamenten arbeiten, dann riskieren wir, daß diese sehr intelligenten und gut informierten Leute in sich selbst einen deutlichen Unterschied spüren, was ihr Denken und Fühlen angeht. Und da sie, allein schon von Berufs wegen, sehr mißtrauisch sind, wird ihnen dieser Unterschied auffallen, sie werden Manipulation wittern - zu Recht, natürlich -, und damit haben wir unsere letzte Chance verspielt.« »Das heißt im Klartext, daß du kaum eine Chance siehst …« »Das will ich so nicht sagen«, behauptete Julio Mangana. »Vor allem bei Nerghana Bilox bin ich sicher, daß ihr Weltbild Risse und Sprünge bekommen hat. Ihre Argumentation ist ab und an nicht gar so präzise wie am Anfang, sie lächelt beispielsweise, wenn sie mir mit einem Argument eingeheizt hat, und heute morgen, beim Frühstück, hat sie einen Teil der Nahrungsmittel gegessen, einen anderen Teil liegenlassen. Ich hatte den Service angewiesen, mehr zu servieren, als sie essen konnte. Ob sie wollte oder nicht, sie mußte aus ihrer Gleichgültigkeit heraustreten und Entscheidungen, treffen das schmeckt mir besser, das schmeckt weniger gut …« »Du arbeitest mit allen Mitteln«, stellte Homer Gershwin Adams fest; ein Ton von Anerkennung schwang in seiner Stimme mit. Mangana lächelte schwach. »Was bleibt mir anderes übrig«, sagte er. »Die Zeit läuft uns davon … unaufhaltsam!«
9. Atlan »Zwei Tage«, sagte ich entschieden. »Das muß ausreichen. In zwei Tagen können wir den Brutkosmos mit einer Antriebseinheit verlassen haben, dann sind wir in Sicherheit.«
36 Dao-Lin-H'ay ließ ein ironisches Fauchen vernehmen. »Ihr Lemurerabkömmlinge seid die größten Optimisten im Kosmos«, stellte sie fest. »Lieber Atlan, selbst wenn du recht hast - in zwei Tagen wären wir zwar aus dem Brutkosmos heraus, aber in Sicherheit? An Bord eines Antriebsblocks aus tolkandischer Fertigung, ohne Ausrüstung auf dem Weg in den Sektor 47 Tucani, wo rund zweihunderttausend Tolkandereinheiten darauf warten, uns in Empfang zu nehmen. Das nennst du in Sicherheit?« »Verglichen mit unserer jetzigen Lage wäre es eine Verbesserung«, behauptete ich ruhig. »Zwei Tage, das muß reichen.« »Warum diese Eile?« wollte Myles Kantor wissen. »Ich habe den Daten entnehmen können, daß dieses Schiff erst in zehn Tagen den Rückflug nach 47 Tucani antreten wird. Ich bin dafür, daß wir uns noch ein bißchen Zeit lassen. Je länger im Brutkosmos nichts passiert, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß man uns vergißt, und das wiederum erhöht unsere Chancen, mit einer Antriebseinheit den Brutkosmos zu verlassen.« Ich stieß schnaubend den Atem aus. Hier, in diesem Silberkosmos, konnten wir nicht mehr viel tun. Es war nicht daran zu denken, noch einmal in Goeddas Bauwerk, einzudringen; das würde diese Entität keinesfalls mehr zulassen. Alles, was zu tun war, bestand darin, die Bombe scharf zu machen und schnellstmöglich zu verschwinden. »Mich drängt es danach, diesen Ort zu verlassen«, sagte ich. »Ich möchte wissen, was draußen passiert, auf der Erde und auf Olymp. Hier können wir kaum noch etwas tun, und ihr wißt, daß mir das Herumlungern nicht liegt.« »Deine Berechnungen gehen davon aus«, argumentierte Myles Kantor mit der bei ihm üblichen präzisen Kaltblütigkeit, »daß wir es innerhalb von zwei Tagen schaffen werden, einen der anderen Antriebsblöcke zu erreichen und dort an Bord zu gehen. Ich gebe zu, die Chance ist recht gut, aber wir müssen auch mit einkalkulieren, daß wir dabei Pech
Peter Terrid haben.« »Pessimist«, sagte ich lächelnd. »Nenn mich, wie du willst«, konterte Myles trocken. »Nehmen wir an, wir schaffen es nicht. Dann müssen wir uns nach einer anderen Transportmöglichkeit umsehen und während der ganzen Suche wird hinter unserem Rücken diese Zeitbombe ticken. Dann geraten wir entsetzlich unter Druck, und ob uns das guttut, möchte ich doch sehr bezweifeln.« »Ich denke an die Menschen auf der Erde …«, sagte ich. »Denen können wir von hier aus nicht helfen«, mischte sich Dao-Lin-H'ay ein. »Weder jetzt noch später. Nur wenn die Bombe hochgeht und Goedda tatsächlich vernichtet, nur dann haben wir etwas für Terra tun können. Ich stimme Myles zu, wir sollten uns Zeit lassen.« Ich zuckte mit den Achseln. »Wie ihr wollt«, sagte ich. »Glaubst du, daß du das hinbekommen wirst, Myles?« »Ganz bestimmt«, antwortete Myles. »Interessieren euch Einzelheiten?« Ich hob abwehrend die Hände. »Mir genügen die groben Daten«, sagte ich rasch. »Ich habe den Bordrechner und die Maschinenanlage umprogrammiert. Wenn es soweit ist, wird der Hyperraumzapfer - ein sehr interessantes Gerät übrigens, das sollten wir irgendwann einmal genauer untersuchen - dann wird der Zapfer eingeschaltet und beginnt Energien aus dem Hyperraum in die Speicher zu laden. Ich habe dafür gesorgt, daß dieser Vorgang, wenn er erst einmal angelaufen ist, nicht wieder gestoppt werden kann, egal, was die Besatzung probiert.« »Und was passiert dann?« wollte DaoLin-H'ay wissen. »Da gibt es zwei Möglichkeiten«, antwortete Myles Kantor. »Möglichkeit eins: Der Zapfer lädt den Speicher auf, bis dessen Kapazität überschritten ist. Dann geht das Schiff hoch, und allein das sollte ausreichen, zumindest Goeddas Bauwerk zu vernichten und damit Goedda. Immerhin sind wir zur
Bomben für den Brutkosmos Zeit ja nur wenige Dutzend Kilometer vom Zentrum des Brutkosmos entfernt.« »Und die Alternative?« fragte die Kartanin. »Allein schon durch den Start des Zapfprozesses reißt der Brutkosmos gegenüber dem Hyperraum auf, und alles, was sich in diesem Brutkosmos befindet, wird in den Hyperraum verweht, auf Nimmerwiedersehen. Denkbar ist auch, daß beim Zapfen die Selbstversorgung von Goedda gestört wird, auch das könnte ausreichen, Goedda unschädlich zu machen.« »Wie würdest du die Chancen von Goedda einschätzen?« fragte ich. »Wenn unser Plan technisch so abläuft, wie wir es vorhaben -nahe Null. Goeddas einzige Chance besteht darin, unsere Bombe nicht aktiv werden zu lassen. Schafft Goedda das, haben wir verloren und die Menschheit auch. Gelingt Goedda das nicht, ist Goedda verloren, und die Menschheit ist gerettet, jedenfalls vor Goedda …« Ich blickte die Freunde an. Dao-Lin-H'ay zeigte die KartaninVersion eine spöttischen Lächelns. Myles Kantor blickte trübe in die Welt, er wirkte sehr strapaziert und abgearbeitet. »Ich weiß«, sagte ich leise, »daß ihr nicht zögernd würdet, sowenig wie ich, diese Bombe notfalls von Hand zu zünden, um Terra zu retten. Aber Myles hat recht und du auch, Dao-Lin - es ist darüber hinaus wichtig, daß wir durchkommen, wenigstens einer von uns. Wir müssen den anderen sagen, daß wir mit Goedda nur die erste von insgesamt vier kosmischen Geißeln kennengelernt haben … Deswegen …« Ich blickte auf mein Chronometer. »… achtzehnter Juli zwölfhundertneunundachtzig NGZ, die Uhrzeit überlasse ich dir. Zu diesem Zeitpunkt soll die Bombe hochgehen. Dann haben wir noch ein paar Tage Zeit, uns in Sicherheit zu bringen.« »Einverstanden«, sagte Myles Kantor. »Wie wäre es mit zwölf Uhr mittags?« »Meinetwegen«, sagte ich amüsiert. Da die Zeit auf unseren Chronometern nur ge-
37 schätzt war, spielte die genaue Uhrzeit keine Rolle; unterschiedliche Tageszeiten gab es in dem Silberkosmos ohnehin nicht. Ich sah, wie Myles Kantor mit den tolkandischen Geräten arbeitete. Allein das war eine intellektuelle Meisterleistung, mußte ich zugeben; ich wäre ganz bestimmt dazu nicht in der Lage gewesen, dafür war die Technologie der Tolkander zu fremd. Aber ein Myles Kantor hatte es geschafft er wußte wahrscheinlich ebenfalls nicht genau, wie die Tolkandertechnologie eigentlich funktionierte, aber er war immerhin in der Lage, sie zu bedienen und sogar gegen ihre Herren und Meister zu wenden. »Geschafft«, verkündete Myles nach einer Viertelstunde. »Ich hoffe zuversichtlich, daß meine Manipulationen an der Anlage unentdeckt bleiben. Wenn ja, ist die Bombe scharf und wird rechtzeitig hochgehen. Nur damit ihr Bescheid wißt: Dieser Energiespeicher allein müßte ausreichen, alles Materielle innerhalb dieser kosmischen Blase zu zermalmen.« »Eine beruhigende Aussicht«, murmelte Dao-Lin-H'ay. »Nicht wahr? Sollte ich mich verschaltet oder verrechnet haben und die Bombe vorzeitig hochgehen, werden wir es nicht einmal merken, so schnell wird alles gehen. Eigentlich ein sehr schöner Tod …« Ich lächelte. »Als man Julius Caesar einmal fragte, welcher Tod nach seiner Ansicht der beste sei, soll er geantwortet haben: der unerwartete.« »Soll gesagt haben …?« »Nein, ich bin nicht dabeigewesen«, beantwortete ich die leicht mokante Frage von Dao-Lin-H'ay. »Ich bin nicht überall und jederzeit an den Brennpunkten irdischer Geschichte gewesen …« »Und wo bist du gewesen?« »Ich habe einem gewissen Quosta S'merald meine Lebensgeschichte diktiert«, sagte ich. »Gleichviel, wir sollten von hier verschwinden und zusehen, daß wir an Bord von einem der Antriebsblöcke kommen. In
38 diesem Brutkosmos hält mich nichts mehr.« Wir verließen den Kommunikationsraum, in dem wir uns die ganze Zeit über aufgehalten hatten, eine Art Nebenzentrale des Gliederschiffes, die wahrscheinlich nur in Notfällen benutzt wurde. Auf dem Weg zurück zur Schleuse begegneten wir einer Gruppe von Robotern. Die Maschinen entwickelten beim Marsch einen derartigen Geräuschpegel, daß wir sie schon von weitem hören und uns vor ihnen verstecken konnten. Warum sie nicht einfach ihre Antigravs einschalteten, war mir nicht klar. Sobald der metallene Stampfschritt verklungen war, bewegten wir uns weiter durch das Innere des Gliederschiffes. Es war ein eigentümliches Empfinden, sich in einem solchen Raumschiff zu bewegen. Die Gänge darin waren röhrenförmig, fast fünf Meter hoch und beinahe ebenso breit; an vielen Stellen war die Wandung uneben und ungleichmäßig und erinnerte an Höhlenbehausungen von irdischen Tieren. Auch der Boden war an vielen Stellen holprig, zudem war die Beleuchtung - jedenfalls aus unserem Blickwinkel - ziemlich schlecht. Das Schiff war sehr konsequent auf die speziellen Körpermerkmale der Chaeroder abgestimmt worden, deren Anblick bei mir immer wieder die Assoziation »Weberknechte« aufkommen ließ … Ähnliches galt für fast alle Innenräume eines Gliederschiffes: Es gab wenige Ecken und Kanten, fast nur Rundungen, aber nur selten waren die Rundungen glatt. Die Maschinenanlagen, die wir bisher gefunden hatten, paßten ebenfalls perfekt in diese Umgebung; auch hier überwogen unregelmäßige Oberflächen, dunkel, gerundet und auf den ersten Blick unheimlich anmutend. In der Schleuse wartete eine Überraschung auf uns. Das äußere Tor war geschlossen, und in der Schleuse selbst stand jenes Beiboot, dessen Start wir zum Eindringen in das Gliederschiff benutzt hatten. »Was nun?« fragte Dao-Lin grimmig. Ich starrte das Beiboot an, dann schoß mir eine Idee durch den Kopf.
Peter Terrid »Bekommst du das Beiboot auf?« fragte ich Myles. Der Terraner kniff die Augen zusammen und starrte mich an. »Du willst mit dem Beiboot abhauen?« fragte er. »Mitten durch die Reihen der tolkandischen Einheiten hindurch?« »So ungefähr«, antwortete ich zuversichtlich. »Ich werde allerdings deine Hilfe brauchen …« »Und alle zusammen werden wir Gottes Beistand brauchen«, murmelte Myles Kantor. »Worauf habe ich mich nur eingelassen mit dir und deinen kosmischen Freunden …« »Nun, ich würde sagen, auf das größte Weltraumabenteuer aller Zeiten …« sagte ich. »Und jetzt kommt, das Abenteuer wartet auf uns!«
10. Nerghana Bilox Mir war schummerig zumute, nicht körperlich, sondern geistig oder seelisch, wie man es nehmen wollte. Er hatte es geschafft, auch wenn ich mich noch so sehr dagegen gewehrt hatte, und jetzt war ich entzweigerissen, mittendurch. Es war ein scheußliches Gefühl. Da war mein Verstand, auf den ich mich immer hatte verlassen können. Dieser Verstand sagte mir, daß es in der Tat ein Paradoxon war, wenn Goeddas Philosoph die Sinnlosigkeit allen Lebens verkündete, sich selbst und vor allem Goedda aber dabei ausnahm. Da war das Argument, das mich daran erinnerte, daß ich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Auffassungen vom Leben gehabt hatte - und daß ich in der jeweiligen Phase, ob verliebt, kritisch, euphorisch oder depressiv, niemals Zweifel daran gehabt hatte, daß meine jeweilige Lebensansicht die einzig wahre und richtige gewesen war. Daß ich damals immer fest davon überzeugt gewesen war, mir diese Lebensauffassung selbst erarbeitet zu haben.
Bomben für den Brutkosmos Mein neues Weltbild aber war, daran erinnerte ich mich, mir vom Philosophen geschenkt worden; es kam also von außen, nicht aus mir selbst heraus. Und es hatte, verglichen mit den anderen, den entscheidenden Nachteil - den es als Vorteil ausgab , keinen Nachfolger zuzulassen … Er arbeitet rechtshemisphärisch, ging es mir durch den Kopf, als Julio Mangana das Wort ergriff und zu sprechen begann. Das menschliche Hirn hat zwei Hälften, eine linke und eine rechte, die recht unterschiedliche Aufgaben bewältigen. Die linke Hirnhälfte, nervlich übrigens mit dem rechten Auge verbunden, ist zuständig für das Logische, Digitale, Sprachliche. Die rechte Hirnhemisphäre verarbeitet Bilder, Gefühle, Gestalten und dergleichen. Diese Einteilung ist selbstverständlich entsetzlich grob, aber sie macht Zusammenhänge verständlich. Julio Mangana, dieser gerissener Bursche, gab sich nämlich nicht damit zufrieden, meiner Logik und meinem Verstand zuzusetzen, also der linken Hemisphäre. Er flocht in seine Geschichten auch immer wieder Humoriges ein, Anekdoten, Rätsel, Überraschungen, mitunter sogar Lyrik. Und fast alle diese Geschichten enthielten gut versteckte Botschaften, die dazu bestimmt waren, über die rechte Hirnhemisphäre auf den Zuhörer einzuwirken, ohne daß er sich dessen bewußt wurde. »In einer Anekdote wird einmal erzählt«, begann Mangana, »daß ein großer und mächtiger Kaiser es leid war, sich immer wieder mit Problemen herumschlagen zu müssen. Für alles und jedes hatte er Ratgeber und Weise, die auch alles und jedes klug zu kommentieren verstanden, aber dem Kaiser sehr auf die Nerven gingen. Schließlich stellte er an sie eine einfache, aber brutale Forderung: Sie sollten ihm die Weisheit aller Weisheiten finden und auf einen Zettel schreiben. Diese Weisheit sollte ihn trösten wenn er traurig war, ihn mahnen, wenn er übermütig wurde, ihn aufrichten, wenn er resigniert war - kurz, sie sollte in allen nur vorstellbaren Lebenslagen imstande sein,
39 dem Kaiser etwas zu geben. Je-, der der Weisen des Landes hatte einen Versuch frei - und falls der danebenging, kostete das den Weisen den Kopf.« Ich konnte Paola Daschmagan erkennen, mager geworden - was ihr nicht schlecht stand -, desgleichen Cistolo Khan und Gia de Moleon. Ich wußte, auf diese drei kam es an; ihretwegen vor allem wurde all dies gemacht und getan, strengte Julio Mangana seine Kräfte bis zum äußersten an. »Ich will es kurz machen«, fuhr der Arzt fort. »Nach mehr als einem Jahr kam ein zerlumpter Eremit an den kaiserlichen Hof, trat an den Thron und drückte dem Kaiser einen mit Fettflecken verzierten Zettel in die Hand. Der Kaiser nahm und las. Er las wieder und wieder und dachte lange nach. Dann erhob er sich von seinem Thron, verneigte sich tief vor dem Eremiten und bedankte sich vielmals. Der Eremit aber verzichtete auf Dank und Geschenke und verließ die Kaiserstadt am nämlichen Tage …« Ich hörte Cistolo Khans grollende Stimme. »Und, was hat auf dem Zettel gestanden? Nun mach schon!« Mangana mußte auch ihn erwischt haben; diese grollende Ungeduld in Cistolos Stimme paßte nicht zur Philosophie des Weisen von Terra. »Nur dieser eine Satz: Auch das wird vorübergehen …!« Schweigen. Der Verstand war die eine Sache. In die Mauer meiner Logik hatte Julio Mangana Breschen gerissen; ich hatte zu zweifeln begonnen. Aber mein Gefühl, das mir sicher und fest verraten hatte, daß der Philosoph sich niemals täuschte, daß seine Weisheit der Abschluß und das Ende allen müßigen Philosophierens war, der mir die letzte, unerschütterliche Gewißheit verschafft hatte dieses Gefühl setzte mir zu. Dort hatte sich offenbar nichts geändert. Die große Sehnsucht war geblieben, nach der Wohltat jenes Schlafes, der kein Erwachen mehr kennt … »Ich verstehe«, sagte Paola Daschmagan mit klarer Stimme. »Du willst damit andeu-
40 ten, daß sich unsere Auffassungen ändern könnten, nicht wahr?« Julio Mangana nickte. »Nichts anderes«, sagte er. »Eure Ansichten können sich ändern, ebenfalls die anderer Menschen. Ihr habt euch bereits verändert, vielleicht erinnert ihr euch an die letzten Wochen. Zuerst wart ihr vornehmlich mit dem Zeichnen von Kreisen beschäftigt, und es schien für euch nichts Wichtigeres zugeben als dies. Aber es ist vorübergegangen …« »Mag sein, Doktor«, sagte Cistolo Khan. »Aber nunmehr hat unser Denken und Empfinden seinen Gipfelpunkt erreicht. Es wird nicht weitergehen, und es wird sich auch nichts ändern.« »Das wird sich zeigen«, versetzte Homer G. Adams. »Das Problem, vor dem wir stehen, ist euch bekannt. NATHAN ist nur noch beschränkt einsatzfähig; im Grunde tut er nicht mehr als einen Notstand notdürftig verwalten. Zu weitgreifenderen Aktivitäten ist er nicht fähig, da ihm seine Programmierung dies verbietet. Die einzige Möglichkeit, diese Sperre aufzuheben, haltet ihr in Händen. Nur ihr drei gemeinsam seid in der Lage, NATHANS Grundsatzprogrammierung zu ändern. Und genau das sollte jetzt geschehen, zum Wohle aller Menschen auf der Erde.« Paola Daschmagan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Für das Wohl der Terraner ist gesorgt«, sagte sie überlegen. »Sie sind wie wir durch die Schule des Sterbens gegangen und haben dort gelernt, was wirklich wichtig ist - beizutragen zum großen Werk, das entstehen wird, zu Goedda …« »Ein Teil der Terraner wird diesen Tag nicht mehr erleben«, sagte Homer G. Adams. »Täglich sterben Tausende an Entkräftung …« Cistolo Khan zuckte mit den Achseln. »Nicht von Bedeutung«, stellte er fest. Warum ließen diese Narren uns nicht gehen? Warum nur setzten sie uns derart zu, verwirrten unsere Gedanken und Gefühle,
Peter Terrid bis uns die Köpfe dröhnten? Sie glaubten doch nicht wirklich, unsere Einstellung ändern zu können? Was sie uns in ihrer Dummheit und Arroganz antaten, war das nicht ein Grund mehr, sich nach einem Zustand zu sehnen, in dem es solchen Druck, solches Leiden nicht mehr gab? Konnten diese Leute denn nicht rechnen, einfach nur rechnen? Wenn man das Glück der Menschen verglich mit dem Leiden, das sie auszuhalten hatten, überwog da nicht das Leiden, überwog es nicht bei weitem? Bei einzelnen mochte die Rechnung auf den ersten Blick zu ihren Gunsten ausgehen, aber das stimmte bei näherem Betrachten nicht? War nicht der Reiche gepeinigt von der Gier, noch mehr zu haben? Wurde der Liebende nicht umschwirrt von der Angst, die Liebe könnte enden? Hatte der Gesunde nicht Angst vor Krankheit und Tod? Der einzige Weg, das Leiden in der Welt zu beenden, war der, sich aus der Welt zurückzuziehen und nicht mehr an ihr teilzunehmen, keine Bedürfnisse zu haben, keine Sehnsüchte, keine Ängste, keine Begierden und war es nicht der Tod, der den Menschen von all diesem Leiden befreite …? »Nicht für euch, wohl aber für uns«, sagte Julio Mangana. »Und vielleicht für die Betroffenen. Im übrigen: Ist NATHAN in irgendeiner Form für euch wichtig?« »Nichts ist mehr für uns wichtig«, bemerkte Gia de Moleon. »Dann übergebt NATHAN uns«, forderte der Arzt die drei Befehlshaber der Mondsyntronik auf. »Ich darf euch daran erinnern, daß NATHAN nicht nur für Terra und das Sonnensystem von Bedeutung ist. Wenn ihr ihn blockiert, wird dadurch künftiger Bund in seiner Entwicklung gehindert …« Er war brillant, mußte ich zugeben. Er suchte nicht nach Argumenten, die für ihn wichtig waren; er stellte sein Denken und seine Logik auf das jeweilige Gegenüber ein und suchte nach Beweggründen, die das Gegenüber akzeptieren konnte. Der Köder muß dem Fisch schmecken, nicht dein Angler!
Bomben für den Brutkosmos »Was genau verlangst du?« Julio Mangana und Homer G. Adams wechselten einen raschen Blick. »Befreit NATHAN von allen Zwängen der Hierarchie!« sagte Mangana. »Laßt ihn seine Entscheidungen selbst treffen. Gebt ihm den Kodebefehl, der ihn dazu befähigt, die Lage nach eigenem Ermessen zu beurteilen und danach zu handeln. NATHAN ist in keinem Fall imstande, gegen die Interessen der Menschheit zu handeln …« Ich sah, wie Paola Daschmagan, Cistolo Khan und Gia de Moleon die Köpfe wandten und sich anblickten; in ihren Augenwinkeln glomm ein Ausdruck von Freude auf, und ich sah, wie Paola Daschmagan, die Erste Terranerin, sanft nickte … »Einverstanden«, ließ sich Cistolo Khan vernehmen. Ich wollte es nicht mit ansehen, wie sie unsere Sache verrieten. Ich stand auf und verließ den Raum; der MedoRobot, der für mich zuständig war, folgte mir geräuschlos. Die GILGAMESCH mußte ein faszinierendes Schiff sein, das Modernste vom Modernen, ein Raumschiff, das zur Legendenbildung taugte, aber von alledem bekam ich nichts mit. Unsicher und zweifelnd, körperlich wie geistig schwankend, kehrte ich in meine Kabine zurück. Wer hatte recht? Der Philosoph? Zuvor hatte ich niemals an ihm gezweifelt. Der bloße Gedanke an einen Zweifel wäre mir als Frevel erschienen. Aber jetzt? Die Sehnsucht nach Ruhe war nach wie vor da, und die Art und Weise, in der ich jetzt lebte - gefangen in einer Abteilung für Geisteskranke, da machte ich mir gar nichts vor -, verstärkte diesen Wunsch noch mehr … Ich legte mich ins Bett, schlief einen kurzen, traumlosen Schlaf, der mich nicht erfrischte, dann stand ich wieder auf. Der Robot folgte, und ich wußte, daß ich diesen Begleiter für lange Zeit nicht würde loswerden können. Ich stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus …
41 Angenommen, Julio Mangana hatte recht, ich war tatsächlich geistig krank, schwer krank … War diese Tatsache allein nicht schon Grund genug, an Selbstmord zu denken, an einen selbstgewählten Tod, aber diesmal nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Zwang der Verzweiflung? Hatte man mir damit wirklich geholfen? Ich fand einen Ruheraum, gemütlich und vor allem menschenleer. Ich setzte mich in einen der großen Sessel und kauerte mich zusammen. Der Robot stellte sich einsatzbereit neben den Sessel. Ich weinte ein bißchen, nur eine halbe Stunde lang und sehr leise, dann schlief ich ein. »Ein guter Trick, Mangana …« Es war die Stimme von Homer G. Adams, die mich aus dem Schlaf holte. »Die drei haben wahrscheinlich so kalkuliert«, fuhr Adams fort. »NATHAN arbeitet im Dienst der Menschheit, und die Menschheit will sich für den Philosophen opfern. Folglich wird NATHAN diese Bestrebungen fortan aktiv unterstützen … In Wirklichkeit aber durchschaut NATHAN die Lage völlig korrekt, und er hat zugesagt, in den nächsten Tagen sage und schreibe zehntausend Kampfroboter zusammenzuziehen, die den Philosophen angreifen sollen. Unsere drei Freunde wissen glücklicherweise nicht das geringste davon …« »Die drei waren und sind eingesponnen in ihr ganz eigenes Gedankensystem, das nur sehr schwer zu knacken ist.« Ich erkannte das Organ von Julio Mangana. »Die Psychologen werden eine bemerkenswert schwere Arbeit vor sich haben, diese drei und alle anderen wieder aus der Abgrundtiefe dieser satanischen Philosophie herauszuholen …« »Ist es so schlimm?« »Noch schlimmer«, behauptete Mangana. »Ich hatte gehofft, bei Nerghana Bilox Erfolge zu erzielen, aber sie schlüpft mir immer wieder durch die Finger, zurück in den To- deswunsch. Bis jetzt habe ich nur ein einziges Argument gefunden, dem sie nicht gewachsen gewesen ist und nichts entgegenzusetzen hat - wie kann ihr Lehrer, der Phi-
42 losoph, die Behauptung aufstellen, alles Leben sei ohne Sinn, wenn er sich selbst nicht daran hält? Goedda will existieren, und sie scheint nicht nach dem Sinn ihrer Existenz zu fragen …« »Wird das ausreichen?« »Ich hoffe. Unsere Patienten sind dem Einfluß des Philosophen entzogen, ihre normalen Lebensinstinkte werden sich wieder melden - Hunger, Durst, Sexualität und etliches mehr. Ich glaube, sie werden wieder normale Bürger werden mit der Zeit. Aber bis dahin …« Homer G. Adams atmete schwer. »Und auf der Erde haben wir Milliarden solcher Patienten«, seufzte er. »Wir brauchten Millionen von Ärzten und Therapeuten, um deren Leben wieder in Ordnung zu bringen … Ein Ding der Unmöglichkeit, völlig ausgeschlossen. Wie sieht es bei dir aus?« Ich hörte, wie auch Mangana schwer atmete. »Erstens brauche ich Ruhe, ich habe bis an den Rand der Erschöpfung gearbeitet. Ich bin kein Spezialist für diese Probleme, andere sollen sich darum kümmern. Ich habe getan, was ich konnte, aber jetzt ist Schluß damit …« Ich saß in meinem Sessel wie erstarrt. Einfach abgeschoben, einfach so … Nicht mein Fachgebiet, ab zum nächsten, der Lust hat, an Nerghanas Seele herumzudoktern. So einfach ist das … Seltsamerweise tat es irgendwie weh, tief in mir drin. Eigentlich hätte dort gar kein Schmerz mehr sein dürfen; ich hatte dank der Schule des Sterbens alles Irdische hinter mir gelassen … Mein Kopf sank nach vorn. Guter Doktor, sehr guter Doktor. Er hatte es wirklich geschafft. Verschwunden war die ruhige Gewißheit, die mir der Philosoph geschenkt hatte. Nur eine kleine Weile noch, dann ist alles vorbei … Ich brauchte es nicht einmal selbst zu tun, Goedda hätte das für mich erledigt. Vorbei. Keine Gewißheit mehr, die nagenden Zweifel waren wieder da.
Peter Terrid Ich litt, also lebte ich …. Ich wünschte, ich wäre tot …
11. Atlan Es kommt immer anders, als man denkt … Im Anfang hatte der Plan wunderbar geklappt. Wir waren an Bord des Beibootes gegangen, und Myles Kantor hatte seine Programmierkünste spielen lassen. Dann hatten wir das Beiboot wieder verlassen. Als sich das Gefährt wenige Minuten später selbständig machte, sich den Weg in den Weltraum freischoß und dann mit höchster Fahrt verschwand, hatte Kommandant Kynhan Alarm ausgelöst, und beinahe augenblicklich hatte man eine allgemeine Hetzjagd auf das Beiboot in Gang gesetzt. Das Ergebnis war vorauszusehen gewesen: Natürlich hatten die Tolkander das kleine Raumfahrzeug nach kurzer Zeit gestellt und abgeschossen, gerade noch rechtzeitig, bevor es das Feuer auf Goeddas Bauwerk eröffnen konnte. In der letzten Phase dieses Angriffs - Myles hatte den Bordrechner so eingestellt war das Boot kaum noch Ausweichmanöver geflogen, sondern mit höchstmöglicher Fahrt auf Goeddas Bauwerk zugerast - wie ein Selbstmordkommando. Den Tolkandern war angesichts dieses Angriffs keine andere Möglichkeit geblieben, als Wirkungsfeuer zu eröffnen und das Beiboot abzuschießen. Es war ein sehr beeindruckender Auftritt gewesen, den wir aus sicherer Entfernung verfolgt hatten. Während die Hetzjagd noch in vollem Gange gewesen war, hatten wir das Gliederschiff rasch verlassen und uns auf die Suche nach den zusammengekoppelten Antriebsblöcken gemacht, die vermutlich die weite und lange Reise nach 47 Tucani antreten sollten. Wie wir aus dem Brutkosmos herauskommen sollten, davon hatten wir eine gewisse Vorstellung - eben mit Hilfe dieser Antriebs-
Bomben für den Brutkosmos blöcke. Aber wie es dann weitergehen sollte, das war mehr als schleierhaft … »Wir müssen die Besatzung ausschalten und die Kontrolle übernehmen«, meinte Dao-Lin-H'ay mit der üblichen Zuversicht. »Dann funken wir Hilfe herbei …« Ich blickte zweifelnd Myles Kantor an. »Kann das klappen?« Myles zuckte mit den Achseln. »Man wird sehen«, sagte er. Ich sah, wie er grinste. »Bald ist es soweit …« Der Pulk von acht Antriebsblöcken hatte sich vor einigen Stunden in Bewegung gesetzt und trieb jetzt langsam auf den Rand des Brutkosmos zu; Myles Kantor hatte sich auch hier in die bordinterne Kommunikation eingeklinkt und war auf die Informationen gespannt, mit welchen technischen Mitteln die Tolkander das Kunststück fertigbrachten, die Grenze zwischen Normalraum, Hyperraum und Brutkosmos so mühelos zu überwinden. Sollte es Myles Kantor gelingen und wenn nicht ihm, wem sonst? -, dieses Geheimnis zu enträtseln, hatten wir damit ein hervorragendes Mittel in der Hand, Goedda zuzusetzen, wo immer sie sich auch verstecken mochte … Ich blickte auf die Uhr. Die Zeit hatte gereicht. Es würde noch ein paar Tage dauern, bis die Bombe hochging und hoffentlich Goedda den Garaus machte. Und wir waren auf dem Weg nach Hause - nun ja, nach Hause mit einem kleinen Umweg über 47 Tucani. Ich sah, wie Myles Kantor jäh den Kopf hob. »Verdammt!« stieß er hervor. »Verdammt!« »Was ist?« fragte Dao-Lin-H'ay. »Goedda selbst hat sich mit den Kommandanten in Verbindung gesetzt«, berichtete Myles Kantor. »Die Tolkander haben wir vielleicht hereinlegen können, aber nicht Goedda. Sie weiß, daß das Beiboot nur eine Finte gewesen ist und wir irgendwo im Brutkosmos noch zu finden sein müssen.« »Das bedeutet, daß Goedda den Zugang
43 zwischen Brutkosmos und Außenuniversum sehr genau kontrollieren kann …«, stieß Dao-Lin-H'ay hervor. »Richtig«, knurrte Kantor; ich sah, wie sein Gesicht sich leicht verfärbte. »Goedda hat daher Anweisung gegeben, daß keine Einheit den Brutkosmos verlassen darf, bevor nicht der Verbleib der Eindringlinge zweifelsfrei geklärt ist! Ende der Durchsage. Und unser Kommandant hat inzwischen kehrtgemacht und fliegt zurück zum Zentrum des Brutkosmos.« Ich murmelte eine Verwünschung. Das war am 11.7.1289 NGZ gewesen …
* Ich blickte auf das Chronometer. Seit mehr als dreißig Stunden wurden wir bereits gejagt, zuerst aus größerer Entfernung und gewissermaßen theoretisch. Goedda oder ihre Kommandanten waren clever; einmal mehr zeigte sich, wie gut man auf tolkandischer Seite auf die Eroberung der Milchstraße und den Angriff auf die LFT vorbereitet worden war. Man kannte die Stärken und Schwächen des jeweiligen Gegners. Folgerichtig hatte sich Goedda von dem Selbstmordkommando nicht lange täuschen lassen. Wahrscheinlich hatte eine Fernanalyse der verwehenden Gaswolke ergeben, daß sich keinerlei organisches Material an Bord befunden hatte. Schlußfolgerung zwei, ebenfalls naheliegend und logisch: Der einzige Weg, auf dem die Eindringlinge den Brutkosmos verlassen konnten, waren die Antriebsblöcke, wenn diese die Sperre passierten. Und genau dort hatte die Jagd auf uns begonnen. Goedda hatte aufgeboten, was sie hatte zusammenkratzen können für uns drei war das aber mehr als genug. Tausende von Robotern, die uns zwar nicht direkt angreifen konnten, wohl aber ausspähen und über ihre Entdeckungen be-
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Peter Terrid
richten. Einige Dutzend bewaffnete Roboter, von denen jeder einzelne schwerer bewaffnet war als wir drei zusammen. Dazu ein paar Hundertschaften Physander, die so leicht mit ihren Robots zu verwechseln waren - bis sie sich bewegten. Da waren sie ihren wieselflinken robotischen Kollegen weit unterlegen. Ein weitgespanntes Netz hatte Goedda über die Antriebsblöcke geworfen, durch das wir niemals hätten schlüpfen können, hätte uns Myles Kantor nicht rechtzeitig genug gewarnt. Wir waren entwischt, kurz bevor sich der Ring um uns hatte schließen können. Dann hatten wir versucht, wieder eines der vielen Gliederschiffe zu erreichen, die gerade entladen wurden. In dem Durcheinander … Nein, ein Durcheinander war es nur in unseren Augen, nicht in denen der Tolkander. Wir waren beinahe augenblicklich aufgefallen, und hätte der silbrige Nebeldunst, der die Traumblase erfüllte, nicht wie ein Ortungsschutz gewirkt, hätten sie uns nach kurzer Zeit gehabt. Ich hörte, wie Myles Kantor schnaufte. Die Sache wurde immer strapaziöser. »Wie geht es jetzt weiter?« fragte er langsam. »Ich weiß es nicht«, mußte ich zugeben. Eines war uns klar - aus dem Brutkosmos kamen wir nicht mehr heraus. Die Antriebsblöcke wurden überwacht, und Goedda würde sich erst dann zufriedengeben, wenn sie unsere Leichen zu sehen bekam. »Wie lange noch?« Die Frage kam von Dao-Lin-H'ay, und es war klar, worauf sie sich bezog. Die ersten Tage der Frist waren verstrichen. Am 18. Juli 1289 NGZ würde die Bombe hochgehen …
»Glaubst du, daß die Tolkander den Sprengsatz gefunden haben?« fragte ich Myles. »Kaum anzunehmen«, sagte er und atmete schwer. »Die Hardware ist ganz normal, das gefährliche ist das kleine Programm, das ich in den Rechner eingespeist habe. Wenn man nicht ganz gezielt danach sucht, kann man es unmöglich finden.« »Dann haben wir noch fünf Tage«, sagte ich, »um unser Gliederschiff wieder anzufliegen und die Bombe zu entschärfen.« »Ohne mich«, sagte Myles spontan. »Und auch ohne mich«, warf DaoLin-H'ay ein. »Ihr wißt, was das für uns bedeutet?« Dao-Lin-H'ay ließ ein wildzärtliches Fauchen hören. »Wir werden draufgehen, alter Freund«, sagte sie. »Und wir werden es nicht einmal merken. Gibt es einen besseren Tod?« »Myles?« »Frag nicht«, sagte er. »Es bringt nichts, darüber zu quatschen. Es wird nicht leichter dadurch, und ändern werde ich meinen Entschluß nicht.« Sie kamen von allen Seiten: Roboter, Physander. Sehen konnten sie uns wahrscheinlich noch nicht, aber sie hatten uns eingekreist. Bis sie uns eingefangen hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit. Vielleicht waren sie so dumm, uns gleich niederzustrecken, wenn sie uns erblickten. Wenn wir Pech hatten - und die Menschen der Erde noch größeres Pech -, dann erwischten sie uns lebend …. Ich wünschte in diesem Augenblick, ich hätte den Zünder zu der Hyperbombe in meiner Hand. Und könnte ihn auch sofort betätigen …
ENDE
Atlan, Myles Kantor und Dao-Lin-H'ay scheinen in der Falle zu sitzen; aus dem Brutkos-
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mos finden sie so schnell keinen Ausweg. Gleichzeitig aber versuchen die Freunde »auf der anderen Seite«, erneut in die Traumblase vorzustoßen. Alle wissen: Nur mit vereinten Kräften können Milliarden von Menschen gerettet werden. Wie es auf Trokan und Terra sowie in der Traumblase weitergeht, das schildert Susan Schwartz im PERRY RHODAN-Roman der, nächsten Woche. Sein Titel: AUFBRUCH DER HERREACH