Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Steffen Mohr Blumen von der Himmelswiese
Kriminalroman...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Steffen Mohr Blumen von der Himmelswiese
Kriminalroman
„Raum ist in der kleinsten Hütte …“ Wird sich dieses alte Dichterwort im Leben bewahrheiten – im Leben der Krankenschwester Roswitha mit ihrem Freund Norbert zum Beispiel? Als er nach dem tödlichen Unfall seiner Frau Brigitte zu ihr ins Schwesterninternat zog, empfand Roswitha ihr Dasein wie ein Inselparadies. Aber man kann nichts voreinander verbergen auf so engem Raum. Und wenn, wie hier, unerwartete Eigenschaften hervortreten, erscheint Vergangenes in einem anderen Licht. – Die Frage, ob Brigitte wirklich bei einem Unfall verstarb, mehr noch, welche Rolle Norbert ihr selbst zugedacht hat, stellt sich Roswitha immer quälender. Sie findet die Antwort. Aber um welchen Preis!
Steffen Mohr
Blumen von der Himmelswiese
Verlag Das Neue Berlin
1. Auflage Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1983 Lizenz-Nr.: 409-160/162/83 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 575 8 00200
1 Mitten in der Stadt, in einer Idylle immergrüner Parkanlagen, die den Straßenlärm mildern, ragt sieben Stockwerke hoch ein häßliches gelbes Gebäude. Das Haus erweckt von weitem den Eindruck einer gewaltigen Tafel Ersatzschokolade mit gleichmäßig eingestanzten Riefen. Doch wird diese Gleichförmigkeit von mehreren Reihen hoher Fenster mit breiten Simsen unterbrochen. Jeder der Simse bietet einer Legion Tauben bequem Platz für ihre tägliche Frühgymnastik. Der Koloß wirkt aus der Ferne etwa so anheimelnd romantisch wie eine Maschinenfabrik aus den Gründerjahren. Beim Näherkommen deutet ein typischer Geruch, der die Erinnerung an Schmerzen und untätiges Herumliegen, an die Farbe Weiß und die verschiedenen Klänge von Glas weckt, auf seinen Zweck. Ein Schild am Eingang bestätigt schließlich die Vermutung. Man steht vor dem Städtischen Krankenhaus. Durch die Hauptpforte trat ein schlaksiger junger Mann, der einen für die frühe Vormittagsstunde grotesk wirkenden Gesellschaftsanzug trug. Ruhig, vielleicht etwas zu lässig, hob er die Hand. Dabei schaute er dem Invaliden, der hinter dem Schalter auf Posten saß, nicht ins Gesicht. Der hatte, als die Tür ging, seinen Schmöker un6
ter dem Kniestumpf versteckt. Als er in dem Besucher jedoch einen Bekannten erblickte, knurrte er bloß und holte die zerlesene Broschüre wieder hervor. Aber er las nicht sofort weiter. Mit dem geübten Blick seines Berufs musterte er den an ihm vorbeigeisternden Typ. Freilich handelte es sich um niemand anderen als Norbert Schadendorf. Also um den Freund der kleinen Schwester Rosi seit etwa einem Jahr. Das war ganz richtig. Nur: Wie sah der Knabe heute aus? Noch als Schadendorf längst im Hause verschwunden war, beugte sich der Pförtner aus seinem in Steißhöhe der Vorübergehenden angebrachten Schalter und dachte nach. Weder der liederlich gebundene Schlips noch die von Schmutz verkrusteten Schuhe waren seiner Aufmerksamkeit entgangen. Der junge Mann mußte die halbe Nacht durch Pfützen gewatet sein. Denn schon vor Stunden hatte eine ungewöhnlich durstige Julisonne jeden Tropfen von den Trottoirs aufgesogen. Nach einer total verregneten Nacht war der letzte Guß zu Beginn der Frühschicht gefallen, gegen sechs. Hellmeier, so hieß der einbeinige Zerberus, fischte unter einem Stapel von Rätselzeitungen den Schichtplan der Schwestern heraus. Daraus ersah er, daß Schwester Roswitha in dieser Woche Nachtdienst hatte. Die Information befriedigte ihn. So wußte er genau, daß Norbert Schadendorfs Ziel nur das siebente Stockwerk sein konnte, exakt Appartement Nummer vierundzwanzig. Dort würde Schadendorf das Mädchen gerade im ersten süßen Schlaf stören. Wahrscheinlich hatte der Bursche bis in die Morgenstunden in einer Bar herumgehockt. Wahrscheinlich war er zu Hause nicht hereingekommen, weil seine Frau den Schlüssel von innen steckengelassen hatte. Wahrscheinlich war er dann eine Zeitlang wütend durch den Stadtpark gestapft. Ebenso wahrscheinlich war, daß er einen zweiten Versuch unternommen hatte, in die eheliche 7
Wohnung zu gelangen. Sonst wäre er früher erschienen als erst jetzt. Der altertümliche Wecker auf dem Rollschrank zeigte neun. Ebenso die elektrische Wanduhr. Da brauchte Hellmeier nicht erst hochzublicken. Nun hatte der schöne Norbert sicherlich nichts Schlimmeres vor, als an der zarten Schulter seiner Geliebten einzuschlafen, nichts weiter als einzuschlafen. O unsere jungen Schwestern, seufzte Hellmeier in Gedanken. O diese kaputten Ehen. Daraufhin rückte er seine Brille zurecht. Er schlug den Schmöker an der Stelle auf, die er vorsorglich durch ein Eselsohr markiert hatte. Die wenigsten der im Haus untergebrachten Patienten wußten, daß das oberste Stockwerk in keiner Weise ihrer eigenen Station ähnelte. Da fanden sich nicht die Säle mit ihren in Reih und Glied gestellten Betten. Auch Untersuchungs-, Verband- oder Arztzimmer fehlten unter dem Dach völlig. Hier, Tür an Tür, in märchenhaft winzigen Behausungen von zehn Quadratmetern Größe, verbrachten die jungen Krankenschwestern die freie Zeit zwischen den Diensten. Freilich sahen die meisten zu, so oft wie möglich ihren Taubenschlägen zu entfliehen: in den Trubel der Warenhäuser und Cafés oder in eine der zahlreichen Nachtbars der Stadt. Blieb eine der Schwestern öfters daheim, so hatte sie einen festen Freund. Der gesamte Flur wußte dann, um welchen Mann es sich handelte, was der Auserwählte verdiente, ob er ein Auto fuhr, wenn ja, welchen Typ, und wie er in der Liebe war. Roswitha Fuhrmann, mit ihren siebenundzwanzig Lenzen eine der ältesten Bewohnerinnen des Schwesternflurs, gehörte zu den Mädchen, die selten in die Stadt ausschwärmten. Zu einem von den Nachbarinnen geplanten und verheißungsvoll ausgemalten Bartrip sagte sie vielleicht zunächst ja, dann aber immer entschieden nein. Sie war ein kleines, etwas fülliges Mädchen mit einem wie aus weißrosa Porzellan modellierten Engelsgesicht. 8
Für ihr unumstößliches Nein zu Vergnügungstouren, die bei den anderen zum normalen Lebensstil gehörten, hatte Roswitha verschiedene Gründe. Einer mochte ihr Vorleben sein. Da gab es zwei Verlobungen und zwei Aufenthalte auf einer Station, die nicht zu ihrem Arbeitsbereich gehörte. Jedesmal hatte sie das Kind gewollt. Doch jedesmal war kurz danach die Verlobung in die Brüche gegangen. So wollte sie dann auch das Kind nicht mehr. Schwester Rosi, wie sie gerufen wurde, arbeitete in einem besonderen Sektor der Krankenpflege. Ihr Dienst an den Betten der Frauen, die manchmal kaum älter, manchmal sogar jünger waren als sie selbst, war leider nicht selten der Geburtshilfe genau entgegengesetzt. Im Jargon der Schwestern nannte man ihre Abteilung Krebsstation. Das mochte ein weiterer Grund für eine nach dem Dienst nicht gerade spontan aufbrechende Lust zum Ausschwärmen sein. Dennoch spielten die Härte des Dienstes und das ausgelassene Vorleben Schwester Rosis nur eine untergeordnete Rolle für ihre Zurückgezogenheit. Die entscheidende Tatsache war, daß ihr Freund zu jener Sorte von Männern gehörte, die sowohl verheiratet als auch verliebt sind, und das in zwei verschiedene Frauen. Weder wußte sie, wann er sich scheiden lassen, noch, wie es dann mit ihnen weitergehen würde. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Sie blieb daheim, weil Norbert kam, wann er konnte oder wollte. Eben diesen Unterschied zwischen verhindertem Können oder mangelndem Wollen wußte sie bei Norbert nicht genau abzuschätzen. Anfangs empfand sie das reizvoll. Später quälte sie sich nur. Manchmal wohnte Norbert mehrere Nächte bei ihr. Andere Male ließ er sich zwei Wochen lang nicht sehen. Roswitha wartete geduldig. Die Stunden des Wartens verkürzten das Radio, der Plattenspieler oder ein Besuch 9
ihrer Türnachbarin Gesine. Von allen Mädchen hatte sie seit jeher Gesine am wenigsten gemocht. Die bildete sich einfach zuviel auf zu vieles ein – auf ihr Aussehen, ihren Fachschwesternabschluß und auf ihre eingebildete Art selbst. Rosi verachtete dieses Ich-bin-zu-schade-fürirgendeinen-Mann-Gebaren. Vor einigen Tagen erst hatte Gesine ihr in den Ohren gelegen, sich doch zur Fachschwester zu qualifizieren. Gesine bohrte damit in einer offenen Wunde. Denn zu den notwendigen Abend- und Nachmittagskursen hatte sich Roswitha mit Rücksicht auf Norberts unberechenbare Besuche nie recht entschließen können. In der Hitze des Disputs verpaßte Rosi der vor Eigenlob fast dahinschmelzenden Nachbarin einfach eine Ohrfeige. Der direkte Anlaß war unerheblich. Gesine hatte (mit ausgesuchter Freundlichkeit!) lediglich angefragt, ob Roswithas Bemühen um Norbert Schadendorf nicht ein paar deutliche Zeichen von Torschlußpanik trage? Dem bösen Wort, kaum daß es ausgesprochen war, folgte die schallende Tat auf dem Fuße. Die Mädchen versöhnten sich zwar noch am selben Abend. Aber ein unbestimmtes Mißtrauen gegenüber den Schwestern, die mit ihr den Flur teilten, setzte sich seitdem stärker in Rosi fest. Hellmeier hatte sich mit der Annahme, daß Rosi nach der Nachtschicht schlafen würde, gründlich geirrt. Irgendein Teufel ritt sie. Immerzu spürte sie an diesem Morgen, als sie in ihrem Zimmer dies und jenes umräumte, eine unerklärliche Unruhe. Müdigkeit stellte sich gar nicht erst ein. Ob er kommt? dachte sie und öffnete bei jedem Geräusch die Tür. „Er kommt. Bestimmt: Er kommt!“ sprach sie laut vor sich hin. Sie jonglierte das Radio in eine, den Plattenspieler in die andere Ecke, schob die Liege dahin zurück, wo sie sie eben hergezogen hatte. 10
Schließlich fiel ihr ein, daß sie mit dem Putzen der Flurfenster an der Reihe war, und sie rannte, immer noch in ihrem Schwesternkittel, kurzärmelig, bloßbeinig, mit klappernden Holzsandalen, zur Besenkammer nach dem Lappen, anschließend zum Bad, um Wasser in den Putzeimer einzulassen. Dann begann sie unverzüglich damit, ihre Unruhe in hektische Tätigkeit umzusetzen. Gewandt kletterte sie auf den breiten inneren Fenstersims, der auf ihrer Station einen makabren Spitznamen trug: „die Himmelswiese“. Hierhin stellten die Schwestern nämlich die Blumen, die die Patientinnen von ihren Familienmitgliedern – den sogenannten Erbschleichern – erhielten. In den Krankensälen durften Blumen aus hygienischen Gründen nicht lange stehen. Die meisten Patientenabgänge gab es in den Nächten nach den Besuchstagen, wenn die Zierde der Gärten das erste Mal ihren Platz fand auf dem Sims. Genau darum hieß die besonders an Sonntagabenden mit Blumen vollgepfropfte Fensterbank in deutlichem Bezug auf die krebskranken Frauen schlicht und radikal: Himmelswiese. Eben daran dachte Schwester Rosi, als sie sich auf das Fensterbrett des siebenten Stockwerks hinaufzog, obwohl ein Blumenstrauß hier, im Schwesternflur, eine Seltenheit war. Sie blickte kurz auf die Straße hinab, eine ruhige Nebenstraße im Zentrum der Stadt, auf der mit der Häufigkeit, in der sich ein verlorener Wolkenfetzen auf der blanken Sonnenscheibe verirrte, ein Auto vorüberfuhr. Unten, in schwindelnder Tiefe, befand sich das Tor zum Wirtschaftshof. Zwei Männer luden leere Metallkästen in einen grünen Kleinkraftwagen. Der Krach drang bis obenhin, die beiden Arbeiter aber erschienen unwirklich winzig. Einen Augenblick lang, sie hatte schon die erste große Scheibe von innen blank gerieben und öffnete nun das durch den Luftzug gleich kräftig auf sie zurückende 11
Fenster – diesen Augenblick, als ihre Linke den oberen Fensterrahmen faßte und sie hinaustrat auf den schmalen Außenbord, dachte Rosi: Wenn einer hier hinunterstürzte! Ob der Knall lauter war als der von den Kästen? Ob es weh tat? Oder ob man vorher, in der Sekunde des Fallens, bereits das Bewußtsein verlor? Da hörte sie, daß vorn, am entgegengesetzten Ende des Flurs, die Tür schlug. Wer konnte zu dieser Zeit zu ihnen hinauf wollen? Die Schwestern hatten entweder Dienst oder schliefen sich aus. Zwei Mädchen, die heute zur Spätschicht mußten, waren vor einer Stunde in die Stadt abgeschwirrt. Vielleicht kam da eine, die nur auf den Sprung in ihr Zimmer wollte, weil sie ihr Schminkkästchen vergessen hatte oder das Frühstücksbrot? Alles Unsinn, sagte sich Rosi. Ihr aschblonder Pagenkopf ragte unter der Fensterleiste hervor in den Flur. Nur der Kopf. Mit einiger Phantasie konnte man wirklich annehmen, ein Engelsgesicht schwebe herein: vom Himmel hoch durch das spaltbreit geöffnete Fenster. Manchmal haben Engel braune Augen. Braun wie Bernstein mit gelben und grünen Spuren. Sie mußte warten, denn die Eingangstür lag hinter dem Knick, den der Korridor beschrieb. Die unvermutete Person, deren Schritte sie bereits hallen hörte, hatte noch ein Stück zu laufen, bis man sie sehen konnte. Aber ihr Gang war langsam, schleppend fast. Nun blieb der merkwürdige Besuch gar stehen. Es hörte sich an, als ob jemand ein Streichholz anriß. Roswitha glaubte den Zigarettenrauch zu riechen. Er, wußte sie auf einmal sicher – er! Drei Tage hatte sie Norbert nicht gesehen. Er war gegangen, um, wie er sagte, „die Sache mit dieser Frau endlich in Ordnung zu bringen“. Wann er zurückkommen wollte, hatte er wie üblich nicht gesagt. Doch warum kam er heute so früh? Mußte er nicht zur Arbeit? 12
Egal, sagte sie sich, ich werde ihm einen Schreck einjagen. Der Schalk trat ihr in die Augen. Sie wand sich rasch auf den Innensims. Entdeckte drei Schritt entfernt – Zufall! – eine billige Glasvase, natürlich von Station gestohlen. Chrysanthemen, die, nach dem Standort der Vase gegenüber Appartement 25 zu urteilen, nur dieser Hexe Gesine gehören konnten. Um die war es nicht schade, genausowenig wie um die Vase! Sie drückte Vase und Blumen an sich. Schaffte es gerade noch, den Strauß umzustellen und auf ihren vorherigen Beobachtungsposten zu gelangen. Denn schon setzte sich dieser zigarettenrauchende Jemand, der natürlich niemand anderes als Norbert sein konnte, wieder in Bewegung. Er würde sie nicht gleich entdecken, wenn sie hier draußen stand. Roswitha faßte mit beiden Händen die Leiste, die sich in Höhe ihres Gesichts hinzog. Stieß sich mit den Füßen vom Fensterbrett ab. Baumelte wie an einer Reckstange und versetzte der Vase einen kräftigen Tritt, daß diese mit unheimlichem Scheppern auf dem Boden des Flurs zerschellte. Ihr darauf folgender langgezogener Hilfeschrei hätte jeder Filmindianerin Ehre gemacht. Fast im gleichen Moment erblickte sie sein blasses Gesicht. Sie spürte, wie Norberts Arme ein Zittern durchlief, als er sie um den Leib faßte und herabhob, wirklich im Glauben, er habe sie vor dem Sturz in die Tiefe gerettet. Er verstand nicht, warum sie loslachte. Seine Zigarette, eben erst angeraucht, flog aus dem Fenster. Hell, geschmeidig, auch etwas ordinär klang Rosis Lachen. Norbert begriff nicht, weshalb sie seinen Kopf herabzog und ihn küßte, als hätten sie sich ein paar Jahre nicht gesehen. Schon gar keinen Reim wußte er auf ihr höchst seltsames Gebaren: Sie kniete hin, fast mit dem nackten Knie in die Scherben, und raffte die bei dem Sturz unversehrt gebliebenen gelben Blüten zusammen. Die überreichte sie ihm feierlich und zelebrier13
te einen Knicks. Mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der nach einem Gruselfilm wieder ins Freie tritt, faßte er nach den drei Stielen. Sie lachte und sagte: „Zum Willkommen, mein Herr: Blumen von der Himmelswiese!“ „Du hast wohl eine aufregende Nacht hinter dir?“ fragte er. Seiner Stimme war anzumerken, daß er sich Sorgen um sie machte. Sie antwortete nicht, sondern nahm ihn bei der Hand. Zog ihn in ihr Zimmer. Hier, als sie ihn umarmen wollte, fühlte Roswitha, daß irgend etwas mit ihm geschehen sein mußte. Etwas Unerhörtes. Sein Blick wich ihr aus, oder er sah ihr starr nach, wie sie sich eilig im Zimmer umtat, die Gardine vorzog, das Radio anstellte. Aber als sie sich umwandte und ihm zulächelte, schaute er wieder zur Seite. Jetzt erst bemerkte sie, daß er den dunkelblauen Anzug trug und den weinroten Schlips. „Setz dich doch – setz dich …“ Sie ließ sich seinem Lieblingsplatz, dem Fußende der Liege, gegenüber nieder. Hockte sich auf das für den schmalen Raum offenbar extra zurechtgetischlerte blaue Sesselchen. „Magst du?“ Sie zog aus ihrem Kittel eine Schachtel und ihr goldpatiniertes Feuerzeug. Brannte ihm die Zigarette an. „Rauch nur, rauch“, sagte sie und wurde mit einem Schlag ernst, beinahe traurig. Irgendwo, tief auf dem Boden dieser Traurigkeit, spürte sie freilich eine Hoffnung, irre und seltsam genug, eine Hoffnung auf ein plötzlich, jetzt gleich beginnendes Glück. Es kam ihr vor, als könnte sich ihr bisheriges Leben mit ein paar Worten, einem einzigen Satz aus seinem Mund eben jetzt ändern.
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2 Norberts Atem ging unruhig. Er hielt das Gesicht zur Wand gedreht. Die Decke hatte er über den Kopf gezogen, so daß sie von ihm nur eine strubblige schwarze Haarsträhne sah. Vor etwa einer Viertelstunde hatte sie sich ausgezogen und nackt neben ihn gelegt. Aber dann war sie wieder aufgestanden. Von einer zu nahen Berührung hatte er nichts wissen wollen. Er war auch gleich eingeschlafen, als sie neben ihn kam. Einen Satz hatte er vor dem Einschlafen gesagt, mit geschlossenen Augen: „Jetzt sind wir beide, du und ich, voll aufeinander angewiesen – abhängig einer vom andern …“ Der verrückte Satz ließ sie nicht los. Immer wieder klang er ihr im Ohr, während sein leises Schnarchen das einzige Geräusch im Zimmer war. Zweimal hatte er das gesagt, mit ganz denselben Worten, das erste Mal am Ende seines langen Berichts über den vergangenen Tag und das, was in der Nacht und der Frühe des heutigen Morgens geschehen war. Und das zweite Mal kurz vor dem Einschlafen. „… voll aufeinander angewiesen – abhängig einer vom andern.“ Sie saß mit gegeneinandergepreßten Knien auf dem blauen Sessel. Bald sah sie auf die Haarsträhne, bald auf die Übergardine, diese umgenähte Tischdecke mit Sonnenblumenmuster, die zum Vorhängen des kleinen Fensters vollauf reichte. Draußen bemühte sich eine an Größenwahn erkrankte Vormittagssonne, auf ihre dreitausend Lux zu kommen. Doch den Raum erfüllte ein Licht wie unter Tage. Das breitete über jeden Gegenstand den unwirklichen orangenen Schimmer, den die Sonnenblumendrucke hereinfilterten. Sie rauchte nicht, und überhaupt lagen ihre Hände steif im Schoß. Auch ihre Kleidung, ein wei15
ßer, kurzärmeliger Pulli und der braune Rock, trug den apfelsinenfarbigen Schein. So hockte sie starr und suchte das Durcheinander von Gefühlen, freudigen und erschauernden, die eins das andere jagten, zur Ordnung zu bringen. Sie beschloß, sich seinen Bericht noch einmal zu erzählen, von Anfang an. Nicht in laut gesprochenen Worten, aber doch in der gleichen Abfolge der Sätze, wie er sie gebraucht hatte. Wort für Wort möglichst, ohne ihre eigenen Meinungen und Zweifel. Ganz so wollte sie es wiederholen, wie es Norbert stockend und dann immer fließender, am Ende kaum noch des sich überschlagenden Redetempos mächtig, von sich gegeben hatte. Brigitte ist tödlich verunglückt. So hatte Norbert angefangen, nachdem er aus der Zigarette einen langen Zug getan hatte. Sie ist überfahren worden. Vier Uhr neunzehn, vom Triebwagen der ersten Schnellbahn. Ja, auf dem Bahnhof, fünf Minuten entfernt von unserer Wohnung. Wir kamen von zu Hause, und wir hatten den ganzen Abend und die Nacht über Streit gehabt. Seit ich von Arbeit gekommen bin, so gegen sechs, haben wir uns gestritten. Erst nur ein bißchen, hin und her. Schlagabtausch von spitzen Worten, mit längeren Schweigepausen dazwischen. In der Küche. Brigitte hat die Steaks gebrutzelt. Im Wohnzimmer haben wir dann gegessen. Ganz manierlich, mit Besteck und Servietten neben den Tellern und einer Zierkerze auf dem Tisch, echt Bienenwachs. Haucht alle Augenblicke ihr dürftiges Licht aus, ist aber stilgemäß. Du kennst doch Brigitte … Tödlich verunglückt, heute früh, meine Frau, meine Brigitte. Aber das ist ja nicht wahr. Sie hat sich das Leben genommen. Jaja Selbstmord. So, wie ich’s sage. Hat sich vor den einfahrenden Triebwagen … Ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. 16
Du, wir haben Abendbrot gegessen und dazu Tokayer Furmint getrunken. Brigitte brachte den Wein extra aus der Speisekammer. Von ganz hinten holte sie die Flasche, wo wir sie versteckt hatten hinter Einweckgläsern. Wir wollten sie erst zu unserem dritten Hochzeitstag … Sie drehte den Korken selbst ’raus, er saß ziemlich fest. Ich rührte keinen Finger, war noch vergnatzt. Schließlich schaffte sie es. Roch an dem Korken, setzte zum Eingießen an. Ich wartete nur darauf, daß sie mir ein Schlückchen einträufelte, damit ich kosten solle, wie in einem piekfeinen Restaurant. Da wollte ich eigentlich rausgehen. Ich aß schnell, damit ich möglichst viel von dem Steak im Magen hätte, wenn ich rausginge. Denn ich hatte einen Bärenhunger nach der Arbeit. Außenmontage, weißt du. Fernsprechanlage mit vier Anschlüssen, eine Einsvierer. Für die LPG Prätschen. Nun, sie hat mir den Kostetropfen eingegossen und wartete. In der Hand die Flasche, den nackten Arm erhoben wie eine professionelle Barmixerin. Mondänes Lächeln und die Lippen gespitzt, als schmecke nicht ich, sondern sie den Furmint vor. Sie trug das Ärmellose mit dem Schlitz an der Seite. Ich blickte auf ihren linken Schenkel, der sich mir bis zum Gesäßansatz präsentierte. Dabei horchte ich in mich hinein, ob mir nicht bald das von ihr so offenkundig geforderte Gefühl für häuslichen Sex kam. Ihre Beine wurden schließlich von vielen Männern gelobt. Wie ihre Haare. Wahrscheinlich hatte sie eine Stunde vor Feierabend keinen Kunden mehr angenommen. Hatte sich selbst frisieren lassen von einer Kollegin. Die Tönung war diesmal mehr rötlich als blond. Was hat sie bloß vor? Ich stellte mir diese naive Frage, obwohl ich sie mir mindestens schon hundertmal in dieser Ehe gestellt hatte. Wieder überkam mich dieses Wahnsinnsgefühl, ge17
gen das ich mich nicht wehren kann. Für sie ein kleiner Matz sein. Gebraucht, mißbraucht zu werden von dieser Dame. Ich erzählte dir schon manchmal davon. Wie das hochstieg in mir, dieses Gefühl, da war ich bereits schwach geworden. Ich nippte an dem Furmint und nickte und schaffte sogar ein verkrampftes Lächeln, wie man einer Serviererin zulächelt. Brigitte lächelte zufrieden zurück. Während sie die Gläser füllte, hatte ich die Freude, ihr blitzendweißes Mardergebiß zu bewundern, das in diesem zufriedenen Lächeln erstarrt war. Sie hat – hatte! – ein Gebiß wie ein kleines Raubtier, wie ein kleines nur, aber eben wie ein … Nach dem Abendbrot bin ich mit ihr für eine Weile ins Bett gegangen. Kannst du das verstehen? Ich glaube: du, ja. Dann, gegen acht, fingen unsere Spannungen von neuem an. Das Fernsehprogramm war der Grund, wie üblich. Du kennst meine Meinung … Nein, sagte sich Roswitha, so komme ich nicht weiter. Es ging einfach nicht. Heiß wurde ihr. Sie rollte den unteren Rand des Pullovers ein, daß sie den Bauch frei hatte. Fächelte sich mit einer dieser gelben Röntgenkarten, die auf dem Tischchen vor ihr lag, und aus der sie Notizzettel schneiden wollte, Luft zu. Führte mit kräftigem Druck die Hand über die Augen, dann über die Nasenwurzel und massierte derb ihre Wangen. Danach ließ sie ihre rechte Hand wieder zu der anderen in den Schoß sinken. Einem unbestimmten Drang aufzustehen und wegen der Schwüle im Zimmer die Decke von seinem Gesicht zu ziehen, gab sie nicht nach. Sie wußte: Wenn sie zu ihm ging, würde sie nicht mehr ruhig nachdenken können. Ich will nicht einfach seinen Bericht wiederholen. Daraus wird weder was Halbes noch was Ganzes. Seine Frau ist tot. Schlimm. Seine Frau hat sich umgebracht. Auch schlimm. Oder nicht? Aber wie konnte es so weit kommen? Von dem einen 18
Abend, dem einen Streit doch nicht! Ich muß meine Überlegungen anders beginnen. Nun brannte sie doch eine Zigarette an. Während sie die wachsende Asche auf der Spitze betrachtete, bildeten sich auf ihrer glatten Stirn kleine Falten. Jetzt erst sah sie aus wie siebenundzwanzig. Ein Engelsgesicht ist keine Naturbegabung, es muß täglich neu erworben werden. Doch stand ihr kein Spiegel gegenüber. Von niemandem fühlte sie sich beobachtet. Auch nicht von sich selbst. Also anders anfangen! Etwa so: Wer war deine Frau? Und vor allem: Was fesselte dich an sie? – Diese Zweideutigkeit der Worte: Du fesselst mich … Ich bin von dir gefesselt … Einmal war sie Brigitte über den Weg gelaufen. Ein einziges Mal hatte sie Norberts Frau gesehen. Mehr noch: ihn als Ehegatten. Der Nachmittag war ein typischer Sonntagnachmittag gewesen. Sonntagnachmittage bedeuten für Kinder, die beim Spaziergang die Eltern auf einmal für sich allein haben, das herrlichste Erlebnis der Woche. Für werktätige Liebespaare sind sie das eine Woche lang ersehnte ungestörte Erlebnis des Betts. Alleinstehenden Personen kann schon der Gedanke an die sogenannte Sonntagsruhe zum Alptraum geraten. Grau in grau erscheint ihnen an jedem siebenten Nachmittag die Welt, selbst wenn die Blüten sprießen und die Sonne aufs Pflaster knallt. An jenem Sonntagnachmittag überwand Gesine ihre Abneigung gegen Rosi. Sie schlich die zweimal drei Schritte von ihrem Appartement über den Korridor zur Nachbarin hinüber und klopfte an. Weltuntergangsstimmung bei Gesine. Sie selber hatte Schlaftabletten genommen. Das tat sie an freien Wochenenden nur. Ein verheirateter Norbert konnte zwar jederzeit auftauchen. Jederzeit, doch kaum 19
am Wochenende. Da war die Flucht in die Barbiturate schon das beste. Nun aber, als Gesine sie aus dem Dusel riß und sich bei ihr ausheulen wollte, hatte sie ins Fach gegriffen und zwei Muntermacher mit dem Löffelstiel zerdrückt und geschluckt und im Vorraum mit einem halben Glas Wasser nachgespült. Sie war augenblicklich wach geworden, wie jemand, der in einem Lift eingenickt ist, und das Ding hält mit einem Ruck. Dann hatte sie gesagt: „Das Gescheiteste, was wir heute tun können, Gesine, ist, einen saufen.“ Das Krankenhaus und damit das Wohnheim lag eben verführerisch zentral, in leicht erlaufbarer Nähe der zahlreichen Cafés und Bars. Das machte den Vorsatz, einen saufen zu gehen, zur alltäglichen Möglichkeit. Aus dem Taubenschlag auszufliegen, in der Stadt zu flanieren zu jeder vom Schichtdienst freien Tageszeit, sich ein paar Gläschen in den Kopf zu drehen und danach viel lockeren Schritts wieder heimzukehren, hatte hier nicht mal den Hauch eines besonderen Vorkommnisses. Allerdings, Rosi erinnerte sich, gab es damals noch einen anderen Grund, als den, einer in Weltschmerz schwimmenden Mitschwester Gesellschaft zu leisten. An diesem Sonntag wußte sie, was sie selten von Norbert wußte. Von ihm selbst hatte sie es gehört, daß er auf keinen Fall zu Besuch kommen würde. Daß ihn, wie er das ausdrückte, „unausweichliche, familiäre Verpflichtungen“ abhielten. Irgendein langweiliges Paar – sprach er nicht von einer Kollegin seiner Frau und deren Mann? – hatte sich bei ihnen angemeldet. Da, in der von eislöffelnden Familien überfüllten Milchbar, spielte ihr der Zufall das erste und einzige Mal die Gelegenheit zu, Norberts Familienleben zu betrachten. Life sozusagen. In Farbe und Stereo und allem, was dazu gehört. Und diese Frau aus der Nähe zu sehen, mit der er in einer Ehe lebte, die weder vorwärts 20
noch rückwärts ging. In der es keine Kinder gab, weil Norbert kein Kind mit Brigitte wollte. Jeden Abend paßte er auf, daß seine Frau die Pille nahm. Er fürchtete sich einfach davor, daß es in diesem geputzten und geschniegelten Haushalt noch ordentlicher zugehen würde, wenn ein Kind da war. Gesine erzählte eine schiefgelaufene Männergeschichte. Sie hatten sich irischen Kaffee kommen lassen und nahmen sich unter den kinderreichen Familien ebenso seltsam aus wie die beiden steifen Ehepaare, die eine Viertelstunde später an der Tür des Lokals stehenblieben und von denen mindestens eins kein gutes Eheleben mehr führte. Das mußte Rosi schließlich am besten wissen. Sie half der Mitschwester seufzen und die Männer verfluchen und freute sich doch manchmal im stillen. Denn Gesine war es gewesen, die Norbert als erste gefallen hatte. Die hatte mit aller Gewalt versucht, sich den gutgebauten, freundlichen Monteur zu angeln, der ihnen die Haustelefone reparierte. Direkt auf dem Flur angesprochen hatte ihn Gesine und zu einer Party auf ihr Zimmer geladen, bei der die lieben Nachbarinnen natürlich Gast sein durften, zumindest zu Beginn der Festivität und unter der stillschweigenden Verpflichtung, sich später diskret zurückzuziehen. Was konnte sie denn dafür, daß Norbert nicht auf Gesine ansprang? War sie nicht etwa, als letzte freilich und erst nach einigen unmißverständlichen Blicken Gesines, auf Nummer vierundzwanzig gegangen? Und sollte sie vielleicht, als es in der Nacht an ihrer Tür klopfte und Norbert davorstand und seine Größe den ganzen Rahmen füllte, erst lange mit ihm diskutieren? Es war alles klar, als sie sich das erste Mal sahen. Ein Wort in der Nacht, auf dem Flur, wäre Ziererei gewesen. Er hatte sich, nachdem sie zur Seite getreten war, um ihn einzulassen, gleich ausgezogen. Dann erst hatte er 21
ihr das Hemd über den Kopf gestreift. Er zitterte vor Neugierde auf sie, sein Zittern übertrug sich auf ihren Körper. Er hatte sie hochgehoben – das war in dem engen Vorraum neben dem Waschbecken geschehen. So hatte er sie in ihr Zimmer auf die noch warme Liege getragen. Alles, was Norbert und Gesine und sie selbst betraf, war also von Anfang an für sie richtig gelaufen. Trotzdem verzieh sie es der Nachbarin nie, daß sie sich damals als erste an Norbert herangemacht hatte. Dieses kleine Rachegefühl gab dem Vierzigprozentigen, genannt Irish Coffee, und dem langatmigen SonntagnachmittagWehwehchen, das ihr Gesine in jener Milchbar beichtete, die Würze und ihr selbst die Beherrschung, der Nachbarin mit geradezu christlicher Langmut zuzuhören. Also zwei Frauen und ein Mann, bieder kostümierte Sonntagsausgehbürger, waren an der Tür stehengeblieben und hielten Ausschau nach freien Plätzen. Norbert sah sie noch nicht dabei, sicher lieferte er die Garderobe ab. Trotzdem waren Rosi diese drei sofort weniger gleichgültig als alle anderen im Lokal. Besonders die große, auf den ersten Blick etwas fade wirkende Blondine fiel ihr auf. Norberts Frau machte auf sie zunächst den Eindruck eines ins Kraut geschossenen Kindes, das etwas unsicher die erste Kaltwelle seines Lebens spazierenführt. Auf den zweiten Blick fand Roswitha die große blonde Dame schön. Hatte sie nicht gleich gedacht: So könnte seine Frau aussehen? Ein Foto, wie es viele Ehemänner in der Brieftasche herumtragen, besaß Norbert nicht. Sie hatte ihn auch nie nach einem Bild von Brigitte gefragt. Doch Norbert konnte gut, ausgesprochen plastisch erzählen. Nun standen die Bürger zu viert dort vorn, und so wußte sie endgültig Bescheid. Am Nebentisch, dem nächsten zur Tür, schaufelte eine Großmutter mit Schlag22
sahnefigur Torte ein. Man brauchte sich nur ein wenig über sein Glas zu bücken, schon war man hinter den ansehnlichen Schulterblättern der Tortendame verschwunden. Er durfte sie nicht sehen. Jedenfalls nicht gleich. Der Tisch, an dem die vier Platz fanden, stand hinter ihrem Rücken. Ungünstig fürs Auge, aber man konnte beinah alles mithören. Es traf sich auch gut, daß ihre mitteilungsbedürftige Nachbarin mit dem Irish-CoffeeGlas geistesabwesende Balanceakte vollführte und außerdem ein langes Erlebnis loswerden mußte. Weder hatte Gesine Norberts Hereinkommen bemerkt, noch hatte Norbert sie beide gesehen. So kam es, daß Gesines Worte an ihr vorbeitropften wie das Geräusch eines defekten Wasserhahns und daß sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Tisch schräg hinter ihrem Rücken konzentrieren konnte. Der Mann dieser Kollegin redete laut und fast ohne Pausen. Er hatte ein Begrünungsproblem. Sie hörte immer dieses eigenartige Wort „Begrünung“. Es klang nach grünem Tisch, und da saß der vierschrötige Typ sicherlich die meisten Stunden seines armseligen Tages. Ein zweites Wort, das der Laute ständig im Munde führte, hieß „objektive Probleme“. Eigentlich waren das ja zwei Worte, aber er sprach sie wie eins aus und schob darauf allen Ärger, den ihm seine Sträucher, Baumschößlinge und Rasensamen beim Begrünen machten. Er schien viel Ärger zu haben und diesen Ärger zu lieben. Seine Frau, von der zunächst nicht mehr zu erblicken war als der mit einer schwarzen Seidenbluse bedeckte schmale Rücken und der dazu passende zierliche Hals, gab ihm recht. Sie tat das auf eine Art, aus der man ihre Verstimmung heraushörte. Ihr Köpfchen hielt sie ständig geduckt, als erwarte sie jederzeit einen plötzlich einsetzenden Hagel von Ziegelsteinen. Sicher verwand diese Frau es nie, daß ihr Begrüner an 23
irgendeiner der unteren Ecken des grünen Tisches saß, anstatt obenan zu residieren. Wie es ihrer Seidenbluse und der täglich auf Hochglanz zu bringenden Frisur zukam. Norberts Frau schien von dieser Kollegin abzuhängen. Sie äußerte ihr Interesse für die objektiven Probleme der Begrünung durch eine erstaunliche Häufung von „Achs“ mit doppelt unterstrichenem Fragezeichen und „Ohs“ mit dreifachen Ausrufbalken dahinter. Man konnte wirklich glauben, es gäbe für Brigitte nichts Bedeutenderes auf dieser Welt als Bäume auf Millimeterpapier. Sie wartete darauf, wie lange Norbert das Gewäsch aushalten würde, wann ihm der Kragen platzen und er dazwischenfahren mußte. Auch hätte sie sonstwas dafür gegeben, sein Gesicht zu sehen. Was er dann sagte, nach minutenlangem Stummsein, klang nicht viel anders als die Achs seiner Frau. Nur sein Stimmfall hörte sich ehrlicher an. Das rührte aber vielleicht daher, daß ihr der Ton seiner Stimme vertraut war. Norbert sagte: „Sie tragen eine entzückende Bluse, Frau Glöckner. Entschuldigen Sie – und vor allem muß ich mich natürlich bei Ihrem Gatten entschuldigen –, daß ich nichts Passendes zum Thema beisteuere. Aber Ihre Bluse, Frau Glöckner …“ Gesine hatte Norbert entdeckt. Duckte sich und prustete leise: „Du, sieh mal hinter dich.“ Sie merkte, wie es Gesine erleichterte, daß nicht nur sie von Liebeskummer geplagt war, sondern auch eine andere gleich in derselben Patsche saß, wenn sie sich nur umdrehen würde und ihren Freund mit Ehefrau friedlich beim Kaffee erblicken. Gesine zupfte sie wie wild am Ärmel. Jetzt fand sie nicht mehr die Kraft, das Spiel fortzusetzen. Nickte und zischte Gesine zu: „Ich habe doch keinen Sand in den Augen, verdammt noch mal.“ Sie hatten rasch gezahlt. Später, als sie Norbert vor24
sichtig von ihren Beobachtungen erzählte, wollte er es einfach nicht glauben, daß sie ihn an jenem Sonntag in der Milchbar gesehen hatte. … und bleibt doch immer, dachte Roswitha, das gleiche Lied. Als ich das Jahr in der Ambulanz steckte, mußte einer schon in Einzelteilen zur Tür hereingeschleppt werden oder die Instrumente mußten seine Krankheit anzeigen, wenn er mich überzeugen sollte. Das, was die Leute von ihrer Krankheit berichteten, konnte auch gut simuliert sein. Möglicherweise verbarg sich bloß Arbeitsunlust dahinter, ein Garten, der umgegraben sein wollte, oder Geltungsdrang. Selten glaubt man einem, der leidet, den Schmerz. Auch du wußtest das, bester Freund. Deshalb hast du mir zwar die Querelen in dieser Ehe erzählt. Mir deine Fesseln beschrieben, doch ganz neutral. So, als könntest du sie jederzeit abstreifen. Zu komisch fand ich deine Erzählungen über diese Brigitte, ihren Ordnungswahn, ihr Pochen auf Äußerlichkeiten. Ganz genau entsinne ich mich der Geschichte, als du mit ölverschmierten Händen an den Kaffeetisch kamst – ich hab’ geschrien vor Lachen! Nach jenem Sonntagnachmittag aber ahnte ich, daß du zwar ein Gefesselter, aber kein gefesselter Prometheus bist. Daß es dir schwerfallen würde, dich von deiner Frau zu trennen. Denn nicht sie kettete dich an einen unverrückbaren Felsen. In dir selbst lag der Stein, den du nicht fortbewegen konntest. Viel zu gut spieltest du dieses Milchbartheater mit. In nichts unterschiedest du dich von den anderen Spießbürgern am Tisch. Blieb also nur der logische Schluß: Es mußte etwas geben, mein Freund, was in dir selbst steckte und dich mit dieser Brigitte verband. Lange vermutete ich, dieses andere könnte eine mir 25
unbekannte gute Seite an deiner Frau sein. Blendete dich vielleicht ihre Schönheit? bedachte ich. Oder hattest du einfach Angst, ein Heim aufzugeben, in dem es zwar keine Liebe mehr gab, aber das dir doch so etwas wie Geborgenheit bot? Dann, mein leiser Schnarcher, fiel es mir endlich ein. Der Stein, an den du geschmiedet warst, heißt Dankbarkeit. Du warst am Boden, als du Brigitte kennenlerntest. Sie zog dich aus dem Sumpf. Dafür, schworst du dir, werde ich dieser Frau immer dankbar sein. Am Ende existierte zwischen euch soviel Beziehung wie zwischen zwei Leuten, die zufällig an der gleichen Haltestelle in die Straßenbahn einsteigen. Doch deinen Schwur hieltest du aufrecht. So muß es, sagte sich Rosi, gewesen sein. Sie nahm sich noch eine Zigarette. Drehte sie unschlüssig. Rauch’ ich? Da wird es zu stickig hier. Öffne ich das Fenster, wird er mir wach. Sein Schnarchen ähnelte manchmal einem Stöhnen. Er war zur Dankbarkeit erzogen worden. Zu einem maßlosen Dankbarkeitsverhalten, das ihm die Mutter aufdrängte. Der er ihr Einundalles bedeutete. Seinerzeit, als sein Vater davonging, vor so viel Liebesgängelei mit absolutem Anspruch auf Dankbarkeit. Roswitha kam mit einemmal auf den vertrackten Zusammenhang zwischen den Storys, die Norbert zu unterschiedlichen Zeiten erzählt hatte. Den Geschichten aus seiner Kurzhosenzeit und den anderen aus seinem Eheleben. Es war ein kalter Morgen, hatte er einmal erzählt … Ein Schuljunge tritt aus der Haustür. Er halftert den Ranzen kurz. Sieht die Straße nach beiden Seiten ab. Noch ein Stück entfernt sind die Klassenkameraden, drei an der Zahl. Er reißt den Arm hoch: „Heeeh!“ Und wartet. Frischgefallen der Schnee über Nacht. Die Näherkommenden schlittern. Lachen, schlittern. Norbert freut 26
sich auf ihre Begegnung. Da geht die Haustür hinter ihm auf. Das lächelnde, zersorgte Gesicht der Mutter. Die Mutter in Hausschürze. Rote Hände. Sie redet irgendwas. Betulich, freundlich. Irgendwas von Aufpassen und Schneeglätte und Hinfallen. Ihm wird siedend warm trotz der Kälte. Blut schießt in sein Gesicht. Als ob die Mutter Luft wäre, blickt Norbert zu den Kameraden. Sie sind jetzt ganz nahe. Die Miene des einen verzieht sich. Er zischelt etwas zu den anderen. Norbert ahnt, was der gesagt hat: „Muttersöhnchen …“ Er schaut drei Gesichter, die zerreißen fast vor Lachen. Und die Mutter bückt sich. Sie redet und bückt sich und nestelt an seinen hohen Schuhen herum. An einem hat sich der Senkel gelockert. Es ist der rechte. Bis heute, erzählt Norbert, weiß ich nicht, wie ich das tun konnte. Ich habe nur rot gesehen. Ich habe mir nichts überlegt. Doch! Eines ja: an die Stirn treten oder auf den Finger. Stirn oder Finger – Stirn oder Finger – Stirn oder … so ging das durch meinen Kopf wie ein rasendes Uhrwerk. Ich trat meiner Mutter auf den Finger. Sie schrie leise auf. Ich nahm den Schuh nicht sofort weg. Ich blickte in ihr erschrockenes Gesicht. Eine Ewigkeit sah ich sie so an, ruhig, wie mir schien. Natürlich ist das Quatsch. Das Ganze dauerte keine Sekunde. Danach zog ich den Schuh weg. Sie hatte einen blitzeblauen Finger. Ich bin wochenlang um sie herumgeschlichen und habe versucht, ihr alles mögliche Gute zu tun. Ich weiß nicht, was das ist mit mir, sagt Norbert, aber wenn jemand mir ständig um die Hosen streicht, und alles muß immer ordentlich sein, und die Zahnbürste hat ihren Platz im dritten Becher ganz links, und um sechs, wenn die Glocken mit Läuten beginnen, ist Abendbrot, und ein Schmutzfleck am Hemd geht auf keinen Fall, da werde ich dir gleich ein neues aus dem Schrank reichen, also dann platzt mir der Kragen. Dann seh ich rot. Ich glaube, ich hab das von meinem Vater. 27
Vater konnte sich nur besser beherrschen als ich. Natürlich verlangte er das: sein warmes Essen, wenn er von Arbeit kam. Vier Doppelschnitten und einen Apfel in der Aktentasche am Morgen, er brauchte da gar nicht nachzusehen. Das klappte bei Mutter alles. Obwohl sie selbst halbtags arbeiten ging, in die Wäscherei. Sie mäkelte auch nie an Vater herum. Auch später nicht, als er manchmal erst nachts heimkam und nach Fusel roch. Sie redete für Vaters Begriffe nur einfach zu viel darüber, wie schön sie uns alles machen würde und wie gut wir es hätten. Als das mit dem Schuh passierte, war ich zehn. Zwei Jahre später zog Vater zu der anderen Frau. Und als ich achtzehn war, lief meine Mutter mindestens hundertmal täglich zum Wasserhahn und wusch sich die Hände. Sie redete nur noch vor sich hin. Rosi, es war nicht zum Aushalten! Ich habe sie in die Anstalt gebracht. Wenn ich sie jetzt besuche, erkennt sie mich nicht mehr. Tabakkrümel lagen im Aschenbecher. Roswitha pulte den Filter auf. Wenn meine Mutter wüßte, daß ich rauche! Eine Frau raucht nicht. Eine Frau lebt gesund. Wenn Mutter wüßte. Mit sechzehn bin ich fort von daheim. Froh, frei und erwachsen zu sein. Doch meine Eltern waren erreichbar. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich jedes Wochenende zu ihnen fahren können. Für Norbert gab es keine erreichbaren Eltern mehr. Als er mit achtzehn auf eigenen Füßen stand, stand er wirklich nur auf seinen eigenen Füßen. Nichts zum Anlehnen manchmal oder zum Abstoßen hattest du, Freund. Dann fandest du rasch Geschmack an Bier und Korn, später an den Mixgetränken der Bars. Denn menschliche Wärme, Geselligkeit, herzliche Worte und ehrlichen Zorn, das alles brachten erst etliche Biere, einige Korn oder der Ginfizz nach außen. So öffnete König Alkohol dir die Tür zu den Menschen. 28
Und Brigitte zog dich da heraus. Und Brigitte brachte dir das verlorene Zuhause zurück. Und du bist ihr dankbar geblieben. Deine Ahnung, daß in ihr eine von tausend Putzteufeln besessene Bürokratenseele steckte, hast du nicht wahrhaben wollen. Manchmal knallte es aber auch bei euch. Danach wurdest du jedesmal von Schuldgefühlen gepeinigt. Irgendwie, glaubtest du, stammte doch alles Schlechte von dir. Denn schon deine Mutter konntest du ja nicht ertragen, wehrtest dich gegen ihre Art Liebe mit Händen und Füßen – im wahrsten Sinn des Wortes! Und hast in Brigitte wieder eine Mutter gefunden und dieselbe Art, Liebe zu zeigen. Aufdringliche, absolut ernst genommen sein wollende Pedanterie, die dir zuwider sein mußte. Das führte zu neuen Tritten, neuen Schuldkomplexen, erneutem Gefesseltsein … Niemand weiß besser als ich, wie einem ein pedantischer Partner das Leben zur Hölle machen kann. Da war der Arzt, der mir mein erstes Kind anzudrehen versuchte. Ein Planungskünstler: So wird die Wohnung aussehen, die wir gemeinsam mal beziehen, das ist der Vorgarten, hier die Garage, das Kinderbett wird ein privater Tischler bauen. Natürlich brauchst du nicht mehr Schicht zu arbeiten … Als er an jenem Abend mit der Skizze kam, von einem bekannten Innenarchitekten vorgefertigt, und seinen Stift auf der im Bauhaus-Stil entworfenen Datsche kreisen ließ, war mir die Trennung von ihm klar. Dort auf die Liege hatte er seine Papierchen gebreitet! Ich weiß nun zwar bis heute nicht, was Bauhaus-Stil sein soll. Ich weiß nur, es hat ihn enorm gewurmt, daß ich mir sein Kind wegmachen ließ. Das Leben, sagte sich Roswitha, ist bunt und vielfältig. Du schätzt eine Tatsache ein, einen Menschen, einen Fehler, der dir unterlaufen ist und sagst: Nie wieder! 29
Aber dann sündigst du noch einmal und genau in derselben, dir längst verhaßten Weise. Darum wohl mußte Norbert diese Brigitte heiraten. Und darum brachte er es auch nicht fertig, sich von ihr loszureißen. Nun hat sie sich selbst von ihm gelöst. Roswitha glaubte, der Schweiß liefe in Strömen über ihren Körper. Sie fuhr sich unter die Achseln. Die waren trocken. Sie wunderte sich, wie anstrengend Nachdenken werden konnte. Er aber schlief. Seine Haarsträhne bewegte sich im Atemrhythmus. Haß und Zank die Nacht lang also. Gegenseitiges Wecken beim Umdrehen, Wenden des Betts, auf die Toilette gehen, in der Küche noch einen Drink nehmen. „Himmelherrgott! Ich hab’ doch ein Recht, das Licht im Korridor anzuknipsen!“ „Aber ich wollte schlafen!“ „Darf man in der eigenen Wohnung nicht mal pinkeln gehen?“ „Du brauchst keinen Schnaps jetzt. Ja, ich habe gehört, wie du den Kühlschrank geöffnet hast!“ „Wenn du unbedingt rauchen mußt, dann geh ins Wohnzimmer. Mir wird ganz schlecht …“ Im Grunde blieb egal, wer was gesagt hatte. Wem die Türklinke aus der Hand glitt oder wer im Dunkeln mit den Fingernägeln auf dem Kopfkissen kratzte. Fahre, hast du schließlich zu ihr gesagt, für ein paar Tage zu deinen Eltern. Fahre, um dich zu beruhigen. Ihre Eltern wohnen am anderen Ende der Stadt. Acht S-Bahn-Stationen entfernt. Fahre, hast du geschrien. Und zwar ein bißchen plötzlich! Und doch bist du ihr nachgelaufen, als sie das Haus verließ. Ranntest mit auf den Bahnsteig. Hast sie auch dann noch zu halten versucht, als sie den Schritt vortrat, während der Pfiff des einfahrenden Zuges die Stille zer30
riß. Eine Stille sicherlich, in der ihr euch beide den Tod gewünscht habt. Roswitha versuchte, sich diese Sekunden auszumalen, die des schweigenden Hasses heute früh auf dem Bahnsteig. Der Triebwagen zischt heran. Er sieht, daß sie vorhat zu springen. Und er denkt vielleicht: Koste es aus, das Gefühl. Dann greift er doch nach Brigitte. Zu spät. Ja, Norbert mußte es für den Bruchteil einer Sekunde geahnt haben, daß sie sich das Leben nehmen wollte. Woher wußte er sonst, daß sie nicht versehentlich stürzte? Und hielt sie zunächst nicht. Dann, als er nach ihr griff, faßte er ins Leere. Wieviel hängt manchmal vom Bruchteil einer Sekunde ab. Sinnlose Quarzerei! Roswitha hatte die Zigarette angezündet. Gezogen. Ausgedrückt. Kalt geraucht. Wieder angebrannt. Ausgedrückt. Mit bloßen Füßen lief sie geräuschlos zum Fenster. Hob einen Zipfel des Vorhangs an und betrachtete die gegenüberliegende Hausfront. Flur über Flur, auf denen sich betriebsame Gestalten in Weiß und bedächtiger wandelnde in bunten Morgenmänteln und Schlafanzügen bewegten. Das seit Jahren vertraute Bild wirkte auf einmal völlig neu auf sie. Bald würde sie sich von diesem alles andere als erhebenden Anblick trennen können. Bald seine Frau werden dürfen. An einen anderen Ort ziehen mit ihm – ganz gleich, wohin! Hier hatte sie nur so lange ausharren können, weil auch er noch nicht frei war. Den Vorhang hob sie nur so weit an, daß der Streifen Sonne Norberts Gesicht nicht traf. Sie sah auf ihn herab. Hin und her gerissen bist du immer gewesen, sagte sie sich. Wie ich selbst. Jetzt aber ist Schluß damit. Schluß mit den schalen Stunden an der Seite von Liebhabern, deren Namen ich nicht einmal alle mehr weiß. An die Ehrfurcht einflößenden grauen Haare des einen 31
entsinne ich mich noch. An eine Spinne, die auf der Hand entlangkroch, als ich – mit wem doch gleich? – schlief, kann ich mich gut erinnern. Auch die violette Narbe, die der Algerier auf dem Arm trug, fällt mir ein. Wie dieser Nordafrikano hieß, wie der Graukopf, wie der Mann jener Nacht, als die Spinne kam – keine Ahnung mehr. Entschlossen trat sie vom Fenster zurück. Stieß versehentlich an das Tischchen. Norbert erwachte und saß mit einem Ruck auf. „Wie spät?“ fragte er. Eine Wange war vom Liegen gerötet. „Zwölf“, antwortete sie. Er nickte, als ob er diese Antwort erwartet hätte. Senkte den Kopf, als sie neben ihm Platz nahm. Leise sagte er: „Acht Stunden ist das her.“ Sie streichelte seinen Arm und das dunkle, gelockte Haar auf seiner Brust. „Denk einfach nicht daran.“ Auf seine Stirn, die so glatt und jung und makellos war wie sein ganzer Körper, traten Falten. Er hielt mit einem plötzlichen, kräftigen Griff die Finger, die auf seiner Brust lagen, fest. Seine weichen, braunen Augen, in die sich, wie sie immer fürchtete, jede Frau verlieben mußte, verengten sich zu Schlitzen. Die Brauen bildeten fast einen einzigen buschigen Strich. Mit diesem Blick musterte er ihr Zimmer. „Ich will dahin nicht zurück“, flüsterte er. Es gab keinen Zweifel darüber, welchen Ort er meinte. „Du bist bei mir zu Hause“, sagte sie und streichelte seine Schultern. Er sah sie an. Seine Umarmung war von so unerwarteter Heftigkeit, daß sie leise aufschrie, als sie neben ihn sank. Alles im Zimmer leuchtete orange, auch sein Gesicht. Sie empfand Furcht vor ihm. Jagende, nicht etwa lähmende Furcht. Angst ist es, dachte sie, die mich an ihn fesselt. Aber eine glückliche Variante von Angst. Das ist 32
die wahre Lust. Ich kannte keinen, der mir ein solches Maß an Lust verschaffte. Norberts Zärtlichkeiten waren gewalttätig, fast brutal. Sie benahmen ihr wie jedesmal den Atem. Manchmal verspürte sie ein Gefühl wie auf einer langen, aussichtslosen Flucht vor dem sicheren Tod. Ein Gefühl, wie man es in schweren Träumen hat, in denen einem die Beine gelähmt sind, während man vor etwas Entsetzlichem fortlaufen will. Sie schlug und kämpfte gegen ihn an mit Zärtlichkeiten und ebenso heftigen Ausbrüchen beherrschter Zügellosigkeit. Gegen seinen Leib kämpfte sie, gegen das Orange. Dagegen, daß alles verschwamm zu Lust. Und zum Erlöschen des Bewußtseins. Wie vor Stunden hörte sie seine Worte noch einmal. Dir erzähle ich jede Kleinigkeit, Rosi. Dir, nicht der Polizei. Nicht diesen Uniformierten, denen ich heute früh gegenübersaß. Blanke Regale, blanke Gesichter. Und eine grelle Schreibtischlampe. Es fehlte bloß, daß sie den Lampenschirm auf mein Gesicht zu drehten. Dann wär der miese Film vollkommen gewesen. Für die Grünen war Brigittes Sturz ein Fehltritt, ein Stolpern, ein Unfall. Mir kamen die stotternden Beteuerungen des Schnellbahnwagenfahrers zugute, der aus verständlichen Gründen auch immer das Wort im Munde führte: Unfall. Rosi, sie dürfen’s nicht erfahren! Ich hielt’s nicht durch, Rosi, ihre Fragen dann. Stundenlang, Tage vielleicht, Fragen nach meiner verpfuschten, elenden Ehe. Und sie fragen mich garantiert. Wenn sie Selbstmord vermuten, löchern die mich bis zum Wahnsinn. „Doch für mich konnte ich’s nicht behalten. Einem Menschen mußte ich die Wahrheit erzählen. Dir. Jetzt sind wir beide, du und ich, voll aufeinander angewiesen – abhängig einer vom andern.“ 33
… denk nur, stand sie doch völlig ruhig neben mir. Ganze fünf Minuten, bis der Triebwagen … streichelte ihren Arm … ließ es geschehen, schluchzte bloß leise. – Rosi, ich fand das richtig gut, daß sie fahren wollte! Soll sie sich ausheulen, dachte ich, soll sie fahren. Raffiniert, wie Brigitte mich täuschte: diese scheinbare Ruhe … hätte nie diesen Schritt erwartet von ihr. Sah gerade zur anderen Seite, woher das Pfeifen des Zuges kam … stand rechts von ihr, und von rechts kam die Bahn. Streckte beide Hände aus … griff … griff … Beinah hätte der Luftzug mich hinterhergeschleudert. „Wenigstens Bescheid sagen muß ich auf Arbeit“, sagte Norbert. Er stand halbangezogen vor dem weit geöffneten kleinen Fenster. „Eine Stunde, dann bin ich wieder zurück. Wirst du schlafen?“ Er sah sich um, als ob er etwas Bestimmtes suche. Sein Blick wanderte über das Regal mit den Gläsern und Tassen und den kleinen Tisch, an dem sie wieder saß. Mit übergeschlagenen Beinen rauchte sie. Sie wußte haargenau, was er wollte. Frühstück sollte sie ihm bereiten. Den Kaffee möglichst nicht türkisch, sondern gefiltert. Ein weich gekochtes Ei dazu, Toast, Konfitüre. Vielleicht noch eine Serviette neben dem Teller. Alles war vorhanden. Sie hätte nur aufzustehen brauchen. Doch sie rauchte, als stecke ihre Zigarette in einer mindestens einen Meter langen Spitze. Nein, bester Freund, ich bin nicht deine Brigitte. Ich gebe dir keinen Anlaß, mich als Hausmütterchen zu behandeln. Fordere doch, wenn du was willst. Er brummte etwas, das sie nicht verstand, als er in die Hosen stieg. „Warum trägst du eigentlich den guten Anzug?“ „Kann ich dir nicht mal sagen. Habe aus dem Schrank gezogen, was ich gerade erwischen konnte. In der Eile. Verstehst du?“ 34
In der Eile? wunderte sich Roswitha. Sie reichte ihm den weinroten Binder. Hielt, während er ihn vor der Fensterscheibe band, sein Jackett überm Arm. „Und dazu gleich der passende Schlips!“ Er lächelte verlegen. Manchmal glich sein Lächeln dem eines ertappten Jungen. „Reflexhandlung“, sagte er. Im selben Moment fühlte sie, daß das Innenfutter der Jacke einen langen Riß hatte. Schnell, während er mit dem Knoten des Binders beschäftigt war, sah Rosi nach. Am rechten unteren Zipfel des teuren Jacketts war das Futter wie mit einem heftig geführten Streich aufgerissen. Auch der umgenähte Rand faserte etwas. Woher kam der Riß? Der verlief nicht gerade, wie er wahrscheinlich ausgesehen hätte, wäre er von einer Klinge verursacht worden. Sehr gut konnte er vom Fingernagel einer Frau stammen. Rosi erinnerte sich, als sie Brigitte am Eingang der Milchbar gesehen hatte, wie sie da ihr herrliches Haar, ihre Beine bewundert hatte. Später, an diesem Tisch, auch die langen gepflegten Fingernägel. Wie muß man stehen, wenn man jemandem das Jackenfutter zerreißt? Gegenüber, das war das normalste. Hatte er sie etwa umarmt auf dem Bahnsteig? Stieß er sie rückwärts – klammerte sie sich an sein Jackett? Griff gerade noch in das Jackenfutter? Vom Hof herauf klang nun vielfach das Scheppern der kleinen Essenkarren, die über die Steinfußböden der Stationen rollten. Es roch nach Bayrisch Kraut und Bratwürsten. Sie half ihm ins Jackett. Was für Gedanken! tadelte sie sich. Was für ein absurder Einfall: der Riß vom Fingernagel einer Frau … Norbert zog ihren Kopf an seine Brust. Küßte sie auf Stirn und Augen. „Beeil dich“, sagte sie. Er seufzte und 35
ging. Gegen die Tür gelehnt, wartete sie, bis seine Schritte auf dem Gang verhallten.
3 Sie hörte: Im Flur war es völlig still. Trotzdem schien ihr, als bewege sich draußen jemand fast lautlos. Nur gut, den Schlüssel hatte sie nach Norberts Weggehen instinktiv herumgedreht. Wer wartete da, lediglich durch das dünne Holz getrennt, eine Handbreit vor der Tür? Hatte sich, vorsichtig auftretend, den Flur entlang bis vor Appartement Nummer 24 begeben und zögerte jetzt, ob er erst klopfen oder in der Gewißheit, das Zimmer sei unverschlossen, sofort eintreten solle? Roswitha löste die Stirn von der in der Hitze angenehm kühlen Tür. Sie trat einen Schritt zurück. Blickte auf die Klinke, die sich jeden Augenblick langsam senken mußte. Jetzt fühlte sie genau, daß draußen jemand stand. Aus irgendwelchen Gründen war es ihr jedoch nicht möglich, darüber nachzudenken, wer die unbekannte Person sein und was sie von ihr verlangen könne. Furcht ist das quälende Gefühl der Ungewißheit, die Ahnung von etwas Gräßlichem, von dem man sich trotz heftiger Anspannung aller Gedanken keine Vorstellung machen kann. Ebendieses Gefühl erlebte Roswitha, und sie wußte nur, daß die Gefahr vom Schwesternflur herkam. Von da spürte sie deutlich einen Kälteschauer, der sie trotz der Mittagshitze in ihrer dünnen Hausschürze frieren ließ. In einer Anwandlung von Mut, den sie rasch nutzen wollte, ehe er wieder verging, drehte sie den Schlüssel zurück. Faßte die Klinke. Und ihr nackter Fuß stieß die 36
Tür mit einem Ruck auf. Gleichzeitig sprang sie einen Satz ins Innere des Zimmers zurück. Wer die kleine, gebückte Gestalt war, die den freigegebenen Ausschnitt des Korridors verdunkelte, aus dem sogleich der Geruch aller Krankenhausessenzen in das offene Zimmer drang, erfaßte Roswitha nicht gleich. In ihrer Verwirrung sah sie nur ein unnatürlich gekrümmtes, braun oder schwarz vermummtes Wesen. Es kroch vor dem grellen Mittagslicht, das durch die hohen Fenster floß. Halb auf dem Boden liegend, murmelte es unverständliche Worte, die sich wie geflüsterte Beschwörungen anhörten. Ein Phantom, das einer Hexe mehr glich als einem menschlichen Wesen. Das drehte, als es die Tür auffliegen sah, unendlich langsam sein Gesicht nach oben und blinzelte Rosi aus faltenumzogenen Augen an. Dabei bewegte sich der Kopf der, wie sie nun feststellte, unglaublich häßlichen Greisin auf dem verschrumpelten Hals wie der Perpendikel einer Standuhr. Die oberschlesische Tracht, der fransenbesetzte Umhang, den das Weib um die Schultern gelegt hatte, drohte ständig herabzurutschen. Rechtzeitig preßte Roswitha die Hand vor den Mund. So wurde aus dem Schrei, der ihr beim Anblick des mit den Knien auf dem Boden rutschenden Weibes entfahren wollte, bloß ein Glucksen. „Aber – Schwester Barbara!“ rief sie dann. „Was treiben Sie da unten?“ Die Alte antwortete nicht. Das vergilbte Gesicht starr auf die junge Schwester gerichtet, öffnete sie ihren zahnlosen Mund nur zu einem, wie es Roswitha vorkam, schadenfrohen Grinsen. Ungelenk, die knotigen Hände gegen die Fensterwand gestützt, stand sie auf. Auch danach war die gekrümmte Greisin nicht viel größer als vorhin. Ohne den Blick von Roswitha zu lassen, deutete sie mit einem Finger auf die Scherben der herabgefallenen Vase, die wegzuräumen Schwester Roswitha bisher 37
nicht Gelegenheit gefunden hatte. In ihrem eigenartig hohen, an Kirchenlitaneien erinnernden Ton sprach sie: „Wasserfleck und Splitter-Glas – beißt eins von eich wohl bald ins Gras.“ Roswitha, die bei den abergläubischen Worten der Alten ihre Fassung wiedergewann, lief nach dem Besen. Stand im nächsten Moment neben der immer noch mit dem Kopf wackelnden Altschwester, die sich gerade eifrig daranmachte, mit bloßen Augen ein Loch in den Boden zu brennen, und fegte wütend die Scherben zusammen. Auf einmal waren ihre Gedanken wieder ganz bei Norberts Ankunft heute vormittag, wie er auf sie zusprang, als sie auf dem Fenstersims scheinbar ins Wanken kam, wie besorgt sein Gesicht aussah, wie er sie kräftig umarmte … Sie lächelte in Gedanken und schrak sogleich zusammen: Hatte sie doch Schwester Barbara für einen Moment vergessen! Die wiederholte nun dicht an ihrem Ohr den Spruch: „… beißt eins von eich wohl bald ins Gras! Jaja!“ Es hörte sich an wie eine versteckte Drohung. „Scheren Sie sich in Ihr Zimmer!“ schrie Rosi der Frau ins Gesicht. „Ich bin ni schwerheerig“, antwortete die alte Barbara. „Ni schwerheerig.“ Sie griente wieder und tappte mit eiligen Schrittchen davon. Sprachlos vor Zorn, sah Roswitha ihr nach, bis die eiserne Tür, die das Weiblein nur mit sichtlicher Anstrengung aufbekam, hinter ihr zuklappte. Hinter dieser Tür lag der kurze Flur der Altschwestern, wo Barbara in einem mit Möbeln vollgepfropften Appartement ihr Rentnerdasein fristete. Sie war die letzte der pensionierten Schwestern. Rings um sie wohnten bereits junge Krankenhausangestellte. Auf ihren baldigen Tod hofften einige Mädchen, denn die Zimmer auf dem alten Flur waren geräumiger als die auf dem neuen. Als sie nun einmal Scheuerlappen und Eimer geholt 38
hatte, den Fleck aufzuwischen, entschloß sich Roswitha, auch die restlichen Fensterflügel zu putzen, solange es hier oben noch ruhig war. Nach zwei erst würden die weißen Vögel vom Frühdienst in ihre Schläge zurückflattern. Um diese Zeit aber wollte Roswitha längst im Bett liegen, um für die Nacht wieder munter zu sein. Sie zog sich Jeans und Pullover an – man konnte nie wissen, wer von der Straße heraufsah. Männerblicke hätten sie nicht gestört, was sollte einer schon in der Höhe erkennen, aber das Weibergewäsch. Sie ließ kaltes und heißes Wasser in den Eimer, bis es handwarm war, und gab einen Schuß Fit dazu. Bald stand sie, ein Bein außen, eins innen, auf dem Sims. Ihre Lippen hielt sie fest zusammengepreßt, die Augen mit dem Bernsteinschimmer waren auf die Scheibe gerichtet, konzentriert, wie es schien. Und doch waren Schwester Roswithas Gedanken nicht beim Fensterputzen. Es war eine alte, ihr liebgewordene Gewohnheit, bei allen mechanischen Handlungen, die auch einen großen Teil ihrer Stationsarbeit ausfüllten, über Vergangenes und Zukünftiges nachzudenken. Hier fand sich der Grund, der sie auch an solche Routinetätigkeiten wie Scheuern und Abwaschen, Bettenbeziehen oder, wie eben jetzt, an das Polieren der großen Fenster mit Lust herangehen ließ. Sie freute sich sogar darauf, wenn sie die Krankensäle ausfegen mußte. Denn das bedeutete für sie, stundenlang ganz bei sich selbst zu sein. Draußen hatte sich ein Lüftchen aufgemacht, Windstärke zwei höchstens. Sie sah, wie die Kronen der Straßenbäume unter dem Wind leicht erzitterten. Solche Linden, freilich breiter und kräftiger als diese Großstadtliliputaner, hatte es auch auf dem Weg gegeben, der am Haus ihrer Eltern vorbeiführte. Eine hatte sie als Kind vom Fenster aus beobachtet, als sie Ziegenpeter bekam und wochenlang das Bett hüten mußte. Sie erlebte das Blühen des Baumes und wie die gelben Blütenstände 39
immer intensiver leuchteten. Sehnsüchtig hatte sie darauf gehofft, ein Amselpärchen, das in den Ästen Verstecken und Haschmich spielte, würde dort sein Nest bauen. Und war enttäuscht, als die Vögel ihr nicht den Gefallen taten. In dieser Zeit kam mehrere Male die Gemeindeschwester zu Besuch. Die schwatzte lange mit Vater, der auf seine Stellung als Finanzbuchhalter im Volksgut stolz war und darum über jegliches Wissensgebiet, einschließlich der Medizin, mitzureden versuchte. Mutter verschwand bei diesen scheingelehrten Gesprächen in die Küche, insgeheim lachte sie über Vaters Aufplusterei. Doch wer von den Erwachsenen ahnte schon, daß ein kleines Mädchen ihre Zimmertür einen Spalt breit aufschob und jedes Wort zu erlauschen suchte, das man im Wohnzimmer sprach? Damals verspürte Rosi bereits den Wunsch, Krankenschwester zu werden. Später reizte der weiße Kittel – sie fand es abstoßend, wie schmutzig sich die Leute bei der Arbeit in den Ställen machten. Mutter, die als Buchhalterin der LPG immer als etwas Feineres gelten wollte als die Bauern und auch bei regnerischem Wetter in Hochhackigen zur Arbeit ging, unterstützte Roswithas Zukunftsträume. Als es schließlich soweit war und die Tochter den Lehrvertrag erhielt, störte die Eltern lediglich, daß Rosi in der Bezirksstadt wohnen sollte. In diesem Sündenbabel, wo tausendfache Verführung und zweifelhafte Abenteuer hinter jedem Straßenschild lauerten, ein junges Mädchen vom Land zu verderben! Doch gerade diese Lockungen und unbekannten Gefahren hatten Rosi darin bestärkt, Schwester zu lernen und somit ihrem kleinkarierten Zuhause zu entfliehen. An den Wochenenden holte Vater sie anfangs höchstselbst mit dem Kleinstwagen ab. Die Sonntage über fand sie Spaß daran, die, wie sie glaubte, tief erschütterte Ver40
wandtschaft mit Geschichten aus der Stadt zu schockieren. Spätestens als sie ihren ersten Freund hatte, verzichtete sie auf die wohligen, vom Duft selbstgebackenen Apfelstrudels erfüllten Sonntagnachmittage. Nach einer kurzen Zeit des Widerwillens, vielleicht sogar des Hasses auf ihre Eltern, die mit aufgeregten Beschwörungen ins Internat gelaufen kamen, als sie das erste Mal schwanger war und sich das Kind nehmen lassen wollte, wurde ihr die Familie gleichgültig. Dachte sie jetzt an ihren alles so exakt vorausplanenden Vater und die immer noch schick herausgeputzte Dame, die ihre Mutter war, dann verspürte Roswitha ein freundliches, aber nicht sonderlich herzliches Gefühl für die guten alten Leute, deren Tür ihr auch heute noch offenstand. Sie konnte sich nur ungefähr entsinnen, wann sie das letzte Mal über die Schwelle ihres Elternhauses getreten war. Wie verschieden war doch ihr gepflegtes Zuhause, ihre in sorglich berechneten Bahnen verlaufene Erziehung von den Umständen, in denen Norbert aufgewachsen war! Es fiel ihr schwer, sich seine Kindheit vorzustellen: Wie Norbert das langsame Auseinanderleben und endlich die Scheidung der Eltern miterleben mußte. Wie er, selbst kaum volljährig, die Mutter in die Nervenklinik brachte und nun ganz auf sich allein gestellt war. Es war eben ein kleiner Unterschied, ob man sich freiwillig von seinen alten Leutchen lossagte oder ob die Tür endgültig zuschlug und nicht die geringste Hoffnung blieb, daß sie sich einmal im Leben wieder öffnen würde. Nicht an anderen Menschen ließ Norbert seine Verzweiflung aus, nur an sich selbst. „Ich verspürte damals ein ungeheures Bedürfnis, mich total kaputtzumachen.“ So hatte er es ihr erzählt. Wenn andere, seine Kumpels aus der Lehre, froh waren, daß sie zum ersten Mal richtig verdienten, ihr Geld zur Seite legten und auf dies und jenes sparten, so tat Norbert das genaue Gegenteil … 41
Mädchen in dieser Zeit? Sie hatte ihn danach gefragt. Ja und nein, antwortete er – und die Antwort hatte Roswitha gleichzeitig abgestoßen und gefallen. Diese und jene, meinte er, eigentlich viele, aber keine auf Dauer. Wie der Durchschnittsmensch vor dem Zahnarzt, hatte Norbert eine Höllenangst, sich irgendwie zu binden. Wenn ihm eine, was bei seinem Aussehen schon vorkam, nachlief, schüttelte er sie schleunigst ab. Brigitte mußte es am Anfang schwergehabt haben mit ihm. Sind sich unsere Mütter nicht eigentlich gleich? fiel Roswitha ein. Sie hielt im Putzen inne. Nein, sagte sie sich, während sie wieder heftig draufloswischte, als ob sie die Scheibe durchdrücken wollte. Nein, meine feine Dame und seine dümmlich brave, liebe Mama haben kaum Ähnlichkeit miteinander. Denn trotz ihrer relativen Beschränktheit verfügten ihre Eltern, vor allem aber die Mutter, über einen guten Schuß Diplomatie oder Bauernschläue oder auch einfach über das richtige Gefühl für ein verträgliches Verhältnis von Stolz und Anpassungsfähigkeit – Eigenschaften, die Norberts Mutter allesamt fehlten. Wenn Vater vor der Gemeindeschwester mit seinem Allgemeinwissen prahlte, zog Mutter sich diskret zurück und ließ ihn gewähren. Und während Vater ihr am ausdauerndsten auf die Nerven ging, als sie schon die Einweisung für ihre Schwangerschaftsunterbrechung hatte, und er mit seinem mausgrauen Trabant noch an der Klinik vorfuhr, in der sie sich dem Eingriff unterziehen wollte, fielen Mutters Besuche schon aus. So kam Roswitha zu dem einfachen Schluß, daß die Menschen einen völlig anderen Weg einschlagen, je nachdem, ob ihre Eltern sie mit ihrer unbeholfenen Liebe bedrängen oder mit kluger, wenn auch manchmal zu pingeliger Fürsorge behandeln. Norbert mußte auf die Gängelei seiner Mutter einfach mit der asozialen Tour reagieren. Es wäre auch dann so gekommen, 42
wenn seine Mutter nicht geisteskrank geworden wäre. Und, ebenso logisch, dachte Rosi, mußte er fremd gehen, mußte mich kennenlernen, als er in Brigitte bloß noch das getreue Spiegelbild seiner ordentlichen Mama erblickte. „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Sie hatte Gesine nicht kommen hören. Jetzt stand die Nachbarin vor, genauer gesagt, unter ihr. Sie schickte ihr ein ganzes Bündel nicht gerade liebevoller Blicke herauf. Roswitha sah erstaunt in das schmale, für den Charakter, den sie ihrer Appartementnachbarin jedoch zuschrieb, viel zu hübsche Gesicht. Ihr an eine Orientalin erinnernder dunkler Teint, der sich recht vorteilhaft vom Weiß der Schwesterntracht abhob, die kleine, etwas an ein Kapuzineräffchen gemahnende Nase, die geschlitzten Augen, im Zorn jetzt fast zur Unsichtbarkeit verengt, das alles staunte Roswitha an, als entdeckte sie Gesines Gesicht zum ersten Mal. Und sie genoß die Wut der anderen. Weil Rosi nichts sagte, nur mit Putzen aufhörte und sich am oberen Fensterrahmen festhielt, zog Gesine die Haarklammern aus ihrer Haube. Riß das weiße Käppchen vom Kopf, daß ihre kastanienbraune Haarpracht über die Schultern fiel. Es waren sinnlose Bewegungen, wie sie jetzt mit der Haube in Höhe von Rosis Beinen fuchtelte und herumpiepste: „Meine Blumen! Wo sind meine Blumen? Meine Chrysanthemen!“ Ihr Instinkt funktioniert, dachte Rosi. Tippt gleich auf mich, sieh mal an. Langsam begann sie wieder die Scheibe zu putzen, es war die letzte. Dann stieg sie vom Sims herab, schloß seelenruhig den Flügel. Gesine packte ihren Arm, als sie ohne ein Wort mit dem Eimer vorbei wollte. Roswitha blieb stehen. „Ach ja, jetzt erinnere ich mich“, sagte sie. Ihr Engelsgesicht nahm wirklich den Ausdruck mühsamer Überle43
gung an. „Ich glaube, ich habe die Strünke zum Fenster ’rausgeschmissen.“ Wie erwartet, ließ Gesine sofort die Flügel hängen. Gab Rosis Arm frei. Tränen schossen ihr in die Augen, hach Gott, nein. Sie brachte bloß Wortfetzen heraus. Du Aas, du elendes, du, du. Oder so ähnlich. Roswitha widmete Gesines Wortkaskaden so viel Aufmerksamkeit wie die Lampe den Fliegen. Sie leerte den Eimer in das Toilettenbecken. Sie spülte ihn gründlich aus. Sie summte ein Liedchen. Sie hörte, wie die Tür von Zimmer Nummer 25 hinter Gesines Schluchzen ins Schloß knallte. Es machte Spaß, zu so einer böse zu sein. Jetzt, da sie ihren Norbert ganz für sich haben konnte, da seine Frau nicht mehr zwischen ihnen stand, um so mehr. Nein, sie konnte es Gesine nicht verzeihen, daß sie einmal auf Norbert Eindruck gemacht hatte. Wenn er jetzt länger hier wohnen würde, konnte eine häufige Begegnung mit Gesine nicht ausbleiben. Davon versprach sich Roswitha nichts Gutes. Darum war es besser, diese orientalische Schönheit von vornherein auf Distanz zu halten. Sie warf, während sie über den Flur in ihr Appartement zurückging, noch einmal einen Blick auf die blitzenden Scheiben. Sie war zufrieden. Die Müdigkeit traf sie, als sich die Zimmertür hinter ihr schloß, wie ein Schlag in den Nacken. Sie machte sich nicht erst die Mühe, ihre Kleider abzulegen. In Jeans und Pullover ließ Roswitha sich auf ihr Bett fallen. Kaum daß sie halbwegs die Decke über sich gelegt hatte, sank sie schon in einen tiefen, allerdings nicht traumlosen Schlaf. Plötzlich erwacht sie und wundert sich, daß es im Zimmer nicht viel dunkler ist als zur Mittagszeit. Wie sie sich fühlt, die Glieder angenehm schwer, muß sie schon einige Stunden geruht haben. Zeit, zum Nachtdienst zu 44
gehen. Sie setzt sich auf und sucht den Wecker. Erst da sieht sie, daß sie mit einem knisternden weißen Hemd bekleidet ist, das ihr, würde sie aufstehen, sicherlich bis an die Knöchel fiele. Roswitha kommt aus dem Staunen nicht heraus: Ging sie nicht in Hosen und Pulli schlafen? Dann steigt ihr der Geruch in die Nase. Dumpf, süßlich. Wie der Dunst verwelkender Blumen. Die Chrysanthemen! denkt sie. Ich habe sie nicht mal in eine andere Vase gestellt. Dort liegen sie auf dem blauen Sessel, sterben in der Hitze ab. Nun aber entdeckt sie, daß der Geruch von dem Hemd kommt, das sie am Leib trägt und das nicht ihr Hemd ist. Was ist, um Himmels willen, passiert? Sie stürzt hinaus in den schmalen Vorraum, wo über dem Waschbecken der kleine Spiegel hängt. Aus einem schwer bestimmbaren Drang heraus will sie jetzt ihr Gesicht sehen. Noch während sie läuft, diese gewohnten siebeneinhalb Schritte von der Liege zum Spiegel, betrachtet sie sich in Gedanken im Spiegelglas. Schaut den aschblonden Pagenkopf an, blickt in die dunklen Augen, die dem Gesicht die Milde nehmen, ohne die es zu brav, vielleicht sogar puppig wirken könnte. Aus dem Spiegel blickt ihr ein anderes Gesicht entgegen. Ehe sie überlegt, wie das geschehen kann, zwinkert das Spiegelgesicht ihr zu. Ganz deutlich schließt es ein Lid und hebt es wieder – ein grellweiß geschminktes Lid, ein langes, stolzes Gesicht, eine superblonde Frisur. Brigitte! Norberts Frau sieht sie aus dem Spiegel an. Roswitha dreht sich mit der Schnelligkeit eines aufgezogenen Kreisels. Die Hände stützen sich hinten auf das Waschbecken. Nun versteht sie, woher die Helligkeit im Raum rührt. Es ist nicht das Licht der Sonne, gefiltert durch den orangefarbenen Vorhang. Das Licht ist eher grün. Von einer grünlich fluoreszierenden Frauengestalt geht es 45
aus, die sich jetzt auf ihrem Bett ausstreckt. Von einer toten Frau. Sie denkt, daß sie schon viele tote Frauen gesehen hat. Holt tief Luft und ärgert sich, während sie auf die Liege zugeht, daß man ausgerechnet ihr Zimmer zum Sterbezimmer umfunktioniert hat. Ewig dieser Platzmangel! Aber als sie der Toten die Augen zudrücken möchte, wie sie es gewohnt ist, öffnet die den Mund. Es ist Gesine, und mit der Stimme der alten Barbara gellt die: „Wasserfleck und Splitterglas! Beißt eins von eich wohl bald ins Gras!“ Das „wohl“ spricht sie richtig wohlig aus. „Gesine, entschuldige“, hört Roswitha sich reden, während sie innerlich versteinert in ihrem Hemd, diesem muffigen Leichenhemd. „Ich möchte doch nur, daß du ihn in Ruhe läßt.“ Aus Gesine wird Brigitte. Die aber kennt keine Gnade. Wozu auch? Ist es nicht ihr Recht, den Mann, der für sie alles bedeutet hat, für sich allein zu beanspruchen? Das Pfeifen einer nahenden Lokomotive wird hörbar. „Vier Uhr neunzehn“, seufzt Norbert, der auf einmal hinter ihr auftaucht. Die Tote streckt die Arme aus. Weiße, glatte Arme mit manikürten Fingernägeln. Die legen sich sanft um Roswithas Hals. Schreien möchte sie: „Norbert, tu was!“ Norbert schreitet langsam zum Fenster. Zieht den Vorhang beiseite. Er ist ganz ruhig. Sein schwarzes Haar hebt sich nicht sonderlich ab von der Nacht, die draußen aufgekommen ist. Der Nacht, durchsetzt von den hell leuchtenden Rechtecken der Stationsfenster. Er bittet, irgendwie verzweifelt bittet er: „Beruhige dich, Rosi!“ Das ruft er, während sich die Fingernägel der Leiche tiefer in ihren Hals krallen. Wie sie aufsaß im Bett, kniete Norbert vor ihr. „Beruhige dich, Rosi!“ redete er ihr zu und streichelte ihr Gesicht und Hals. Ganz so wie im Traum redete er, den Vorhang 46
hatte er zurückgezogen und das Fenster geöffnet. Luft brauchte das Zimmer, eigentlich bloß Luft. Er hatte die kleine Lampe mit dem grünen Schirm eingeschaltet. Als sie ihn zaghaft lächeln sah und merkte, daß seine Fingerspitzen feucht waren, wurde ihr klar, daß sie im Schlaf geheult hatte wie nie zuvor bei einem Traum. Sie sah zum Wecker. Zeit, sich für den Dienst fertigzumachen. Er fragte, was sie geträumt hätte. Sie schüttelte den Kopf, drückte bloß seine Hand und stand auf und lief hinaus zum Waschbecken. Erst da fiel ihr ein, daß er nicht in diesem Gesellschaftsanzug zurückgekommen war, daß er in Kords und Khakihemd vor ihr gekniet und auch daß er ein Köfferchen neben dem Sessel abgestellt hatte. Sie mißbilligte, als sie in den Spiegel blickte, ihr vom Heulen gerötetes Gesicht. Sie wagte nicht, sich umzudrehen und Norbert zu fragen, wie es war für ihn und wie er sich in der leeren Wohnung gefühlt hatte.
4 Frau Gelberg hatte sich wundgelegen: Rosi blies den Gummiring wieder auf und erneuerte die Unterlage. Frau Gelberg schräg gegenüber, am Fenster, flüsterte Frau Spielbaum ins Dunkel, das nur von einem dünnen Streifen Licht unterbrochen wurde, der vom Flur hereinfiel. Es mochten Gebete sein oder einfach Selbstgespräche. Alles schien ruhig im Nachbarzimmer, auch keine Schnarcherin dabei. Als Schwester Roswitha die Tür eben schließen wollte, befahl eine heisere Stimme, die eher einem Mann gehören konnte, sie in halblautem Ton ans Bett. Rosi wußte gleich, wer da rief. Alle Frauen in diesem 47
Raum hatten Brusterkrankungen, außer einer. Am Klang der Stimme erkannte Rosi die feine Frau Schneider, ehemalige Opernsängerin – jetzt hatte sie Kehlkopfkarzinom. Tagsüber hörte Rosi, wenn Zeit war, gern den nach Bühnenstaub und Schminke riechenden Geschichten der Schneider zu. In der Nacht aber war ihr Gerede eine Plage für die anderen. Sie konnte, genausowenig wie sie laut zu sprechen vermochte, einfach nicht flüstern. Immer war es dieser heisere, manchmal versagende halblaute Ton, der ihre Mitpatientinnen unweigerlich wecken mußte. Heute bat Frau Schneider nur um ihr Parfümflakon. Als Rosi wieder auf dem Flur war, öffnete sich die Tür des nächsten, eines Zweibettzimmers. Heraus trat, magersüchtig und mit aschfahlem Gesicht, Fräulein Doktor Wernicke. Sie mochte über eins achtzig sein, erreichte in ihrer gekrümmten Haltung jedoch höchstens Schwester Rosis Größe. Als Patientin lag Fräulein Doktor hier schon die neunte Woche. Auf den hageren Wangen zeichneten sich lilafarbene Kreuze ab, dort, wo die Kobaltkanone sie am Vortag beschossen hatte. Jeder auf Station gab ihr höchstens noch ein halbes Jahr. Ihre Augen blickten freudig – ein seltsamer Widerspruch zu der geknickten Gestalt. Leise erklärte sie, sie hätte mit Rücksicht auf ihre bereits schlafende Zimmergenossin die Schwester im Flur abgepaßt. In ihren langen, feingliedrigen Fingern zitterte ein Papier, das sie gerade beschrieben hatte. Das zeigte sie der Schwester jetzt, und sie begann mit einer umständlichen Übersetzung der darauf notierten Stichworte und lateinischen Kürzel. Die Frauen standen am Fensterbrett. Rosi schaltete sofort, wie sie das nannte, auf Durchgang. Sie nickte zu den Erklärungen der Kranken immerzu, freundlich, zustimmend. Man mußte der Frau zuhören, das war klar. Aber sich ja nicht vom Mitleid 48
überwältigen, ja nicht die Wahrheit über die Lippen lassen! Bei Fräulein Doktor Wernicke war den Ärzten ein Fehler unterlaufen. Kein Lapsus bei der Behandlung ihres physischen Leidens etwa, sondern ein psychologischer Fehler. Die Patientin war Radiologin von Beruf, hatte lange genug selbst Krebskranke betreut. Darum kam man bei den ersten Untersuchungen ihrer Forderung nach, ihr die exakte Diagnose mitzuteilen. Es war ein ausgeprägter Hautkrebs, Stadium III, wie er positiver nicht nachgewiesen werden konnte. Man zeigte der Ärztin die Röntgenaufnahmen und auch alle anderen Untersuchungsergebnisse, die sie gelassen betrachtete. Sogar so weit ging man, ihr die Spanne zu nennen, die sie wahrscheinlich noch zu leben hatte. Mußte das nicht besser sein für sie? War sie denn nicht eine Kollegin, und man konnte ihr auf Dauer einfach nichts vormachen? Doch der Mensch ist, so banal das auch immer klingen mag, in erster Linie Lebewesen. Vor allen anderen Bedürfnissen will er schlichtweg leben. Darum dauerte es nicht einmal eine Woche, bis Fräulein Doktor Wernicke ihre erste Gegendiagnose erbracht hatte. Sie war zu dem verblüffenden Ergebnis gelangt, sie hätte überhaupt keinen Krebs. Nicht, daß sie ihre Kollegen der Unfähigkeit bezichtigte oder den Apparaturen technische Mängel nachsagte. Auch tobte sie nicht und drängte nicht darauf, entlassen zu werden. Fräulein Doktor Wernicke blieb, wußte im Grunde um ihren Zustand – aber nahm für sich die theoretisch nachgewiesene Möglichkeit in Anspruch, daß ein Stein, den man mit der Hand nach oben wirft, nicht zur Erde, sondern zum Himmel hinauffällt. Ihre Überlebenschancen bewies sie nun in immer hektischer, immer häufiger gekritzelten Analysen. Rosi gab ihr recht, freute sich mit ihr, versprach, alles dem Oberarzt weiterzusagen. Nur dadurch vermochte sie 49
die Glücklich-Unglückliche bereits nach einer Viertelstunde zufriedenzustellen. Danach wußte sie, daß Fräulein Doktor die Nacht über Ruhe haben würde. Der Zeiger der elektrischen Uhr klickte überlaut und rückte langsam auf zwölf. Der Blick auf die Uhr, die Stille im Haus und die Gewißheit, alles getan zu haben, was getan werden mußte, versetzte Rosi in eine gelöste, beinahe heitere Stimmung. Alles Geschäftige und übertrieben Eilige verlor sich aus ihrer Haltung. Sie schlenderte zu einem der hohen Fenster und öffnete es, daß die frische Nachtluft hereinzog. Der Duft der Bäume hatte nachgelassen, sie hatten den heißen Tag aus ihren Poren geschwitzt und ruhten aus. Hinter den Bäumen blinkte die Straße, und am Ende der Straße erschienen, wie ein unregelmäßiges Lochstreifenmuster, die Lichter der Stadt. Eine Leuchtreklame beanspruchte Rosis Aufmerksamkeit eine Weile mit dem abwechselnd blau und gelb aufleuchtenden Wortbruchstück: „LANZIER“ – „LANZIER“ – „LANZIER“. Sie dachte an den Beginn ihres Nachtdienstes, die beiden ersten, recht unterschiedlichen Patientinnen, die sie versorgt hatte. Die eine hatte sie auf das Leben draußen vorbereitet, die andere jedoch … Gleich bei der Dienstübergabe hatte ihr Stationsschwester Hilda eingeschärft, besonders auf diese beiden zu achten. Anna war ein dreizehnjähriges Mädchen, die mit einer bei Kindern selten auftretenden myeloischen Leukämie schon lange auf Station lag. Ihr geduldiges Wesen, sicherlich aber auch das Äußere der schmalen, kränklich blassen Gesichtszüge, die im dunklen Rahmen der langen dichten Haare eine künftige Schönheit versprachen, machten Anna zum Liebling der Station. Ihr dreizehnter Geburtstag hier wurde ein seltenes kleines Fest, zu dem sogar jene Schwestern erschienen, die gerade dienstfrei hatten. Medikamente, Blutaustausch und Bestrahlungen hatten zum Erfolg geführt: Anna war gesund. Nicht zu50
letzt, davon war Rosi fest überzeugt, war es der starke Wille, den man in dem wochenlang eher matt und abwesend wirkenden Kind kaum vermutete, der es aber zuwege brachte, daß sie die letzte Zeit der reine Ausbund und Spaßvogel, eine richtige kleine Tankstelle der Freude für Patienten und Schwestern wurde. Morgen früh also sollte Anna entlassen werden. Der Gedanke daran stimmte Rosi leicht wehmütig. Sie hatte dem Mädchen eine längere Gutenachtgeschichte als sonst erzählt und, weil das Kind ziemlich aufgeregt war, ihm die doppelte Menge des Beruhigungsmittels verabreicht. Es war schon besser, Anna schlief gut in dieser Nacht, damit sich ihre Spannung auf morgen früh nicht dummerweise in einem Temperaturanstieg ausdrückte. Der konnte die lang ersehnte Entlassung unnötig verschieben. Und Schwester Rosi dachte mit Freude daran, was sie ihren Kolleginnen am Morgen erzählen konnte: Anna hatte die dünnen Arme um ihren Hals geschlungen und ihr ins Ohr geflüstert, genaugenommen würde sie noch eine Weile hierbleiben wollen – bloß den Garten wolle sie wieder einmal sehen, jetzt im Sommer den Garten! Ihre Eltern besaßen ein Grundstück in der Vorstadt. Auch ich werde zwei Kinder haben, dachte Rosi. Sie erinnerte sich wieder an Norbert, der sich in ihrem Zimmer unter dem Dach ausschlief. Weniger schön war Schwester Roswithas nächste Aufgabe gewesen. Die Kolleginnen hatten Frau Tautenhan bereits am Nachmittag von den anderen Frauen abgesondert. Ihr Bett wurde mit dem größten Gitterbett, das sich in der Kinderstation auftreiben ließ, vertauscht. Das hatte man in das Verbandzimmer geschoben. Eingeweihte nannten diesen Raum auch das tote Gleis. Bei der Patientin handelte es sich um ein zweimal operiertes Darmkarzinom. Ihr Gesicht war gelb anämisch gefärbt und die dürren 51
Handgelenke der etwa Vierzigjährigen hatte man mit starken Binden lose an die Gitterstäbe ihres Bettes gefesselt. Sonst hätte sie sich blutig gekratzt. Frau Tautenhans unartikulierte Schreie empfingen Rosi gleich bei Antritt ihres Dienstes. Hilda und die anderen kümmerten sich zunächst nicht darum. Sie schwatzten, tranken Tee und lachten über einen Streich von Anna. Schließlich seufzte Hilda und sagte: „Es ist ein Jammer, wie schwer es manche haben.“ Und lief mit eckigen Bewegungen und einem Gesicht, in dem sich gar nichts widerspiegelte, hinaus, um Frau Tautenhan eine Injektion zu geben. Danach war Ruhe gewesen. Fast eine Stunde lang. Gerade kam Rosi aus Annas Zimmer, da schrie Frau Tautenhan von neuem. Als Rosi in das Verbandzimmer eintrat, richtete sich die Patientin halb auf und stammelte: „Vater … Vater, kauf mir ein Eis! Meine Zunge! Meine Zunge brennt, Vater!“ Roswitha wußte über die Familienverhältnisse der Frau nichts. Sie wußte aber, daß sich die Menschen vor ihrem Tod häufig an die Kindheit erinnern und nach der Mutter, seltener nach dem Vater verlangen. Etwas ratlos hörte sie dem Gestammel der im halbverdunkelten Raum liegenden Patientin zu. Dann sah sie die Krankenkarte der Frau an. Erleichtert atmete Rosi auf: zuviel hatte man ihr noch nicht gespritzt. Als sie die Nadel in den Oberschenkel der Patientin stieß und bemerkte, wie sich die tief eingefallenen Augen bald nach dem Einströmen des Betäubungsmittels schlossen, war Schwester Rosi zufrieden. Was konnte man mehr tun? Für die Lebenden sind wir eigentlich da. Mit den Sterbenden wissen wir nichts anzufangen. Norbert – lebt. Aber wie fühlt er sich! Für ihn mußte und würde sie etwas tun können. Nur sie konnte ihm Mut zusprechen, Trost spenden, ihn ihre Liebe spüren lassen. 52
Während sie auf den Zwölfuhrschlag der Stadtkirche lauschte – eines Tages war sie aus Neugier in den neugotischen Steinkoloß hineingegangen –, wurde ihr mit einemmal bewußt, auf welch einfachem Prinzip die Religion beruhte. Da strömten sie jahrhundertelang in die Kirchen: Kranke und Schwache, Gedemütigte und Beladene, alle, die nicht mit sich selbst fertig wurden, und die, deren Versuche, von ihren Mitmenschen verstanden zu werden, gescheitert waren. Ihre Blicke aber richteten sie auf das Bild eines sterbenden Mannes. Eines Mannes, der zu Unrecht litt, der gut und gerecht war – genauso, wie sie sich selber fühlten. Das nämlich, dachte Schwester Rosi ungefähr, ist die einzig mögliche Hilfe für die Kranken und Leidenden: Einen zu haben, der mit ihnen leidet. Letztlich brauchen sie keinen Tröster, nicht den Arzt, der von oben herab auf ihre Köpfe ein Schmunzeln der Ermunterung fallen läßt: „Nur Mut! Es wird schon werden!“ Im Grunde genommen müßte man sich für die alle hier ans Kreuz schlagen. Man müßte an ihren Betten sitzen und mit ihnen weinen. Besser noch: Selbst krank sein und Schmerzen empfinden. Aber weil das nun wirklich nicht ging, kehrte man die korrekte Schwester heraus. Nein, ewig würde sie diesen Beruf nicht ausüben können. Sie klappte den Fensterflügel zu, betrachtete aber noch einen Augenblick das verschwommene Spiegelbild ihres kleinen, hübschen Gesichts. Sie ordnete ihr Haar, den Pagenkopfschnitt, an dem es eigentlich nichts zu ordnen gab. Und dachte daran, wie Norbert sie heute – nein, nunmehr gestern, denn es war bereits nach zwölf – an den Haaren schmerzhaft gerissen und ihr fast die Lippen zerbissen hatte. Sie ging zurück ins Schwesternzimmer, in dem noch der weiße Zylinder der Stehlampe erleuchtet und die dicken Sessel vom Tisch abgerückt waren, so, wie ihre Kol53
leginnen den Raum vor zwei Stunden verlassen hatten. Sie goß sich den Rest aus der Teekanne ein. Trank die Tasse in einem Zug aus. Im Radio gab es auf drei Sendern Symphoniekonzerte. Auf jeden Fall war zweimal Beethoven dabei. Es hatte ganz den Anschein, als ob Beethoven das Rundfunkkomitee aufgekauft hatte. Rosi stellte ab. Dann überlegte sie, daß eigentlich nichts passieren konnte, wenn sie auf einen Sprung zu Norbert heraufsah. Nur einmal über sein Haar wollte sie streichen, während er schlief, und danach leise wieder hinausgehen. In diesem Augenblick schrillte das Telefon. Doktor Teller, unter den Schwestern teils liebevoll, teils geringschätzig „Tellerchen“ genannt, erkundigte sich in seiner glatt-förmlichen Art nach besonderen Vorkommnissen. Rosi erwähnte die sterbende Frau Tautenhan. Sie unterließ es, Tellerchen mit der neuen Selbstdiagnose des Fräulein Doktor zu behelligen. „Sonst – wirklich nichts?“ Auf einmal hörte sie aus dem distinguierten Ton seiner Stimme etwas wie Erregtheit, eigentlich nur eine winzige Spur Aufregung heraus. Sie stellte sich Tellerchen vor in seinem, was die Bücher und den Papierkram betraf, peinlich geordneten, ansonsten jedoch mit den vor Alter gelben Gardinen und dem verschmierten Teppich ziemlich heruntergekommenen Bereitschaftszimmer. Rosi sah ihn förmlich am anderen Ende der Leitung über den Apparat gebeugt, der auf einem winzigen, mit Tintenflecken und Abdrücken von feuchten Glasböden über und über bedeckten Schreibtisch stand. Diesen Schülerschreibtisch hatte Tellerchen selbst auf einem klapprigen Handwagen von seiner fast zwei Stunden Fußweg entfernten Wohnung ins Krankenhaus transportiert. Wer Teller hinter seinem Puppenmöbel hocken sah, war stets erstaunt, wie hier 54
der Tisch zum Besitzer paßte, ähnlich wie manche Hunde verblüffend ihrem Herrn ähneln. Zwar war Doktor Teller ein hochgewachsener, ziemlich fülliger Mann, die Brust kräftig und von rotem Haar bedeckt. Rötlicher Flaum sprießte auch auf seinen Handrücken. Ein Riese aus dem Märchen, schien es zunächst, saß da hinter einem Spielzeugtischchen und schrieb mit zerbrechlichem Stift seine Tabellen und Kurven. Kaum war man jedoch eingetreten, und Teller hatte seine Berechnung – oder was auch immer – rasch zu Ende gepinselt („Eine Sekunde nur!“, säuselte er vornehm, ohne aufzusehen), dann gewahrte man, wenn er den Kopf hob, ein babyhaft pausbäckiges Gesicht, das einen aus veilchenblauen Augen so treuherzig anblinzelte, als hätte es eben das ABC vorgelegt bekommen und wisse damit absolut nichts anzufangen. Der Doktor war verheiratet, und es hieß, er stehe unter dem Pantoffel seiner ungebildeten und mit dem Titel ihres Mannes überall herumprahlenden Frau. Rosi kannte Teller gut. Bevor sie Norbert begegnete, hatte es ein heimliches Verhältnis zwischen der munteren Krankenschwester und dem gutherzig ängstlichen, nichtsdestoweniger aber fachlich sehr beschlagenen und deshalb geachteten Arzt gegeben. Wie das oft im Leben ist: Tellerchen, obwohl kaum in der Lage, seine Ehebande zu sprengen, hatte alles viel ernster genommen als Rosi. Er war der eigentlich Liebende und Gebende gewesen. Roswitha zählte damals dreiundzwanzig Jahre und betrieb in der Zeit ein Verhältnis mit zwei Kavalieren zugleich. Einer von ihnen war Tellerchen. Sie wußte, daß seine Zuneigung zu ihr auch jetzt nicht ganz verflogen war. Jetzt, nach drei Jahren noch, geschah es, daß der Doktor ihr manchmal Blumen schenkte, seltener freilich als früher. Viel wichtiger war, daß Doktor Teller bei der Aufteilung der Dienste ihren Wünschen entgegenkam und ihr deshalb immer noch nützlich sein 55
konnte. Rosi achtete ihn, wenngleich sie ihn nicht verehrte und in Wirklichkeit auch niemals geliebt hatte. Als sie den vibrierenden Unterton in Tellers Stimme hörte, wußte sie sofort, was er meinte mit seinem „Sonst – wirklich nichts?“ O wie sie Teller kannte. Sie lächelte still in sich hinein. Setzte sich zunächst einmal auf die breite Armlehne eines der alten Sessel. Wippte mit übergeschlagenem Knie mit den Zehen und sagte nichts. Erwartungsvoll rief Teller ziemlich bald in den Hörer: „Hallo? – Hallo! – Sind Sie noch dran, Schwester?“ Sie legte auf. Sollte er herunterkommen. Daß er es tun würde, dessen war sie sich sicher. Immer funktionierte der gleiche Mechanismus bei diesem Mann. Sie hatte nur mit dem kleinen Finger zu winken brauchen, dann war er voll für sie da. Das mußte jeder Frau auf die Dauer langweilig werden. Absolut ödete es sie an, als er nach einer, zugegeben, nicht schlechten Liebesnacht sich scheiden lassen und zu ihr ziehen wollte. Am Nachmittag darauf stand er bereits mit zwei Koffern vor ihrer Tür. „Ich krieg’ nicht alle meine Bücher“, hatte er gejapst, „im Bereitschaftszimmer unter …“ Ein paar Tage danach trat Norbert in ihr Leben – ein ganz anderer, ein wahrer Mann! Auf dem Wege, die Treppen herunter, hatte Teller sich natürlich einiges überlegt. Sie merkte es an seinem Schritt, wie er betont selbstbewußt und kräftig auftrat und den Flur nicht gerade eilig entlangkam. Die Tür des Schwesternzimmers stand offen. Hoffte Tellerchen vielleicht, sie würde ihm entgegenlaufen? Lächerlich, wie er die letzten Meter in einer Art gravitätischem Schneckentempo absolvierte. „Wo liegt die Patientin Tautenhan?“ Nun ja, genehmigt. Eine andere Frage war wohl nicht zu erwarten. Tellerchen mußte zunächst sein Dienstgesicht zeigen. 56
Sie standen am Bett der unter dem starken Cocktail, den Rosi ihr vor kurzem verabreicht hatte, röchelnd schnarchenden Frau. Rosi zog dem Doktor die über dem Bett steckende Tabelle aus der Metallstange. Dann lief sie fort und kam zurück mit dem Nachtdienstbuch, in dem sie die letzte Injektion vermerkt hatte, korrekt unter Angabe von Uhrzeit und Menge. Tellerchen verglich alles mit dem üblichen besorgten Gesicht und gesenktem Schädel. Jetzt erschien er ihr wieder als ein großer, massig wirkender Arzt, ein Volksdoktor, zu dem man Vertrauen haben konnte und für den man sogar Respekt empfand. Doch sie ließ sich nicht von einem momentanen Gefühl irritieren. Wußte sie doch, wie dümmlich-vertrauensselig Teller eigentlich war und wie sie gleich wieder daran erinnert werden mußte, wenn er ihr mit unschuldigem Babylächeln irgendwelche plumpen Vorhaltungen über ihren Charakter oder ihre Beziehungen zu Männern machen würde. Und das würde er bald. Da war sie sich sicher. „Schönen Dank, Schwester Roswitha. Aber gehen Sie vorsichtig mit M um.“ Hätte er sich sparen können, wußte sie so und so. Sie verließen, er mit ausholenden Schritten voran, den Verbandraum und gingen hinüber in das Schwesternzimmer. Übereck, er auf dem Fußende der Liege, sie auf einem Sessel, ließen sie sich an dem niedrigen Tisch nieder. „Soll ich uns Tee aufbrühen?“ Sie verkniff es sich, wie andere Schwestern an ihre Frage das „Herr Doktor“ anzuhängen. „Danke, Rosi.“ Aufgepaßt! Jetzt wurde es spannend. Er griff den von ihr angeschlagenen privaten Ton auf. Roswitha beschloß gleich, alle dienstliche Verstellung fallenzulassen. Sie brannte sich eine Zigarette an, streckte die Beine weit ab und spreizte sie leicht. Sie 57
wußte, daß es zwar keine schönen und ebenmäßigen und schon gar nicht die sagenhaften Beine der Marlene Dietrich waren. Dafür wirkten sie in ihrer gebräunten, straffen Nacktheit auf einen Mann wie Teller garantiert sinnlich. „Du rauchst sicher immer noch nicht“, stellte sie nebenhin fest. Er hockte, die Knie krampfig hochgezogen, unter einer malerischen Kalenderlandschaft – Lerche im Korn und dahinter verschwommen blaue Berge. Sein rotes Haar glomm im Schein der Stehleuchte wie ausgetretenes Stoppelfeuer. Tellers Äuglein verfolgten angestrengt das Ineinanderpressen und Wiederlösen der großen, flaumig beharrten Finger, mit denen er im Augenblick nichts Rechtes anzufangen wußte. Aber diese Veilchenaugen irrten natürlich, wie Rosi zufrieden feststellte, immer wieder ab von dem Fingerspiel. Dann blickten sie jedesmal trostlos und verlangend auf ihre Beine. „Eigentlich habe ich Schweigepflicht“, begann er. „Ich durchbreche sie nur, weil ich dich … Ich möchte dich warnen.“ „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“ „Keine Ahnung?“ Er brauste sofort auf. Dieses Aufbegehren war dem zarten Geflatter der Lerche ähnlich, die sich hinter seinem dicken Schädel auf dem Kalenderbild bewegte. „Nicht so, Karl-Heinz“, sprach sie ihm in mütterlichem Ton zu. „Beruhige dich.“ „Wie soll ich ruhig bleiben, wenn mich die Kripo ausfragt nach dir?“ Das war natürlich wirklich etwas Neues. Wenn Tellerchen, aus was für Gründen auch immer, ihr nicht etwas vorschwindelte, um sich auf seine Weise wieder an sie heranzupirschen, dann konnte das sogar ein Fakt sein, den sie unbedingt wissen mußte. Sie zog in der ersten Verwirrung die Beine an. Instinktiv schob sie die Enden 58
des Kittels über ihre Knie. Teller registrierte Schwester Rosis spontane Reaktion mit Bedauern. Er schluckte ein paarmal. Dann packte er endlich aus.
5 Schwester Roswitha saß dem Doktor wie ein erschrockenes Schulmädel gegenüber, das den Unterricht immer auf die leichte Schulter genommen hatte, nun aber, während der letzten Stunde vor der Prüfung, in plötzlich aufkommender Angst jedes Wort von den Lippen seines Lehrers abzulesen sucht. Das Bild hatte sich total verkehrt: War er es vorhin gewesen, der Mühe gehabt hatte, einigermaßen normal dazusitzen, so krampfte nun sie die Hände um die Knie, und an ihrem niedlichen Hals trat aufgrund der Überspannung ein Äderchen hervor, das heftig pulsierte. Tellerchen hingegen verfiel in eine immer legerere Haltung. Schon stützte er die Ellenbogen hinter sich auf die Liege, und die Beine in den weißen Hosen standen mit einer in Gegenwart einer Dame geradezu unhöflich zu nennenden Art und Weise breit auseinander. Der Offizier, der Doktor Teller am dienstfreien Nachmittag aufgesucht hatte, war in seinen Fragen nach ihr und Norbert ziemlich weit gegangen. Tellerchen versicherte, seine detaillierte Schilderung manchmal unterbrechend, er wäre natürlich „clever“ geblieben, hätte auf manche der Fragen auch einfach ausweichend geantwortet. Befragt hätte ihn der Mann von der Kripo zwar als Vorgesetzten von Schwester Roswitha. Doch nach genauer Überlegung schien es ihm nun, als wisse die Polizei auch über ihr früheres Verhältnis Bescheid. Einige Anspielungen des Leutnants ließen diesen Schluß durchaus zu. 59
Die Kriminalpolizei untersuchte also Brigittes unnatürlichen Tod. Norbert hatte man gestern früh, gleich nach dem unglücklichen Vorfall, verhört. Nun auch Teller. Aber warum nicht sie? Weshalb gingen sie über Teller – und stellten Fragen nach ihrer Person? Sie war bereit, Norbert zu verteidigen, bis zum letzten dafür geradezustehen, daß es kein Selbstmord oder – wie die das fein umschrieben – Freitod war. Andererseits konnte man diesen Leutnant auch wieder verstehen: Jeder unnatürliche Tod mußte untersucht werden. Dazu gehörten sicherlich solche Fragen, die ihr Tellerchen wortgetreu wiederholte: „Wie lange hat Herr Schadendorf schon Beziehungen mit Ihrer Kollegin?“ „Wissen Sie, ob Schadendorf häufig über Nacht der ehelichen Wohnung fernblieb?“ „Denken Sie, daß sich seine auf tragische Weise verstorbene Frau mit den Seitensprüngen ihres Mannes abfand?“ „Drängte Ihre Kollegin Norbert Schadendorf zur Scheidung?“ Tellers Bericht war zu Ende. Nein, das klang wirklich alles nach Routinefragen. Es gab keinen Grund, sich deswegen einen heißen Kopf zu machen. Rosi entspannte sich, lächelte Tellerchen dankbar an. Ihre Hand streichelte sogar flüchtig über sein linkes Knie, das ihr gerade am nächsten war. Sie wußte, wie gut ihm solche spärlich vergebenen Zärtlichkeiten taten. Ja, daß sie ihm fast einen Ersatz für die von ihr längst unter Ulk verbuchten Liebesnächte bedeuteten. Im Augenblick empfand sie wirklich eine tiefe Sympathie für den rothaarigen Doktor mit dem Gesicht eines Riesenbabys. Aber nun hätte er gehen können. Es zog sie zu Norbert hinauf. In aller Eile wollte sie dem Freund das Wichtigste mitteilen. Der Ärger war ihrem Puppenantlitz deutlich anzuse60
hen. Warum machte Tellerchen keine Anstalten, sich zu erheben? Der Gedanke, daß sie mit dem Dicken da einmal geschlafen hatte, erfüllte sie auf einmal mit Ekel. Ein Satz noch, eine Frage oder Bitte, ganz gleich, was ihm einfiel – sie wollte es zum Anlaß nehmen, empört zu sein, sich belästigt zu fühlen! Kurzerhand hinauswerfen würde sie ihn. Die Frage freilich, die Teller nun leise stellte, ängstlich wie jemand, der erfahren hat, daß seine Tochter ein Kind von einem Tunichtgut erwartet, diese Frage bewirkte, daß Schwester Roswithas entschlossene Wut mit einem Schlag verrauchte. Teller fragte, locker zurückgelehnt, mit zusammengekniffenen Lidern: „Was hast denn du dazu getan?“ Zum zweiten Mal während ihrer Unterhaltung in dieser Nacht und in diesem Zimmer gab Rosi, freilich weitaus weniger selbstbewußt, zu: „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest …“ „Ich werde es dir erklären, Rosi“, sagte Teller, und bei seiner nun folgenden, anfangs im sorgeerfüllten Flüsterton vorgetragenen Rede tastete sein Blick kein einziges Mal nach ihren bloßen Beinen. Eher schien es, als suche er in den Pausen, in denen er angestrengt möglichst überzeugende Worte bedachte, etwas in Roswithas Innerem zu ergründen, was ihm bis dahin zu seinem eigenen Erstaunen verborgen geblieben war. Seine Veilchenaugen starrten auf einen Punkt über Schwester Roswithas Stirn, etwa am Haaransatz. Als hätte Tellerchen hypnotische Eigenschaften, begann es Roswitha an dieser Stelle zu jucken. Es brannte fast. Sie duckte sich. Bald darauf spürte sie seinen Blick im Nacken. Ein Vater sprach mit seinem Kind. Ein Mann entdeckte seiner Geliebten, die ihn betrogen hatte, wie weit sie ohne ihn auf die schiefe Ebene gekommen war. Es steckte viel Selbstgefälligkeit in Tellerchens Rede. Er hätte natürlich, sagte er, genau bemerkt, welche 61
Dosis M sie der Patientin injiziert habe. Ein wenig über das Maß ging das schon. Doch warum wohl? frage er sich. Die Antwort sei einfach: Nicht, weil sie der Patientin etwas Gutes tun, sondern weil sie selbst ihre Ruhe haben wollte. Geschenkt! Darüber wollte er eigentlich gar nicht reden. Aber auch dies füge sich wie ein Mosaiksteinchen in das Bild, das er mit der Zeit von ihr gewonnen habe. Keinesfalls wolle er alte Geschichten aufwärmen. Nicht, daß sie ihn, als er sich von ihr geliebt glaubte, gleichzeitig mit einem anderen hintergangen habe. Nicht, daß sie – ja, sie! – ihm empfohlen habe, mit seiner Frau endlich Schluß zu machen. Auch nicht, daß sie ihn dann, als er mit seinen Bücherkoffern vor ihrer Tür stand, auslachte. Aber keinesfalls bloß auslachte, sondern in einem Taumel hysterischer Schadenfreude an den Nachbartüren klopfte, so daß nach und nach ihre Kolleginnen heraustraten und er zum Gespött der Schwestern wurde. All das sei wohl hier nicht das Entscheidende. Was er wirklich für sie empfinde, jetzt und zu dieser Stunde, sei Mitleid und Sorge. Denn aus den Fragen des Leutnants habe er instinktiv herausgehört, wem man die Schuld an Brigitte Schadendorfs Tod gebe. Der Offizier der K tappe da noch ziemlich im dunkeln. Er aber, Tellerchen, könne sich haargenau vorstellen, was Norberts Frau in den Tod getrieben habe. Denn – und nun müsse er doch einmal von seiner eigenen Frau reden! – hatte sie die nicht beinah genausoweit gebracht? Seine Frau, die, zugegeben, übertrieben viel auf das Ansehen ihres Mannes hielt. Die es mit einer Engelsgeduld ertragen hatte, daß er fremd ging. Nur das nicht: daß er zur Zielscheibe der Witze seiner Angestellten geworden war. Die darum mehrmals das Gas aufdrehen wollte. Ähnlich, wenn vielleicht auch nicht mit denselben raffinierten und doch im Grunde genommen primitiven 62
Methoden, habe sie Norbert eingeheizt. Der habe dann den „tödlichen Blitz“ – sie möge diesen etwas kitschig klingenden Vergleich ruhig ernst nehmen! – auf seine Frau, seine junge Ehe bloß weitergeleitet. Bis es zündete. Bis ein Mensch tot war. Rosi schwieg. Sie hätte ihn manchmal unterbrechen können. Beispielsweise sein schwaches Gedächtnis kritisieren. Von wegen: seine geduldige Frau! Alle die Szenen, die diese Furie seinerzeit aufgeführt hatte, waren Tellerchen anscheinend restlos durch den Hirnspeicher gerutscht. Und das Gas erst! Mein Gott, diese hartgesottene Person hatte ihn doch bloß erpressen wollen. Sie schwieg, die Hände um die Knie gekrampft. Sah auf das fettglänzende grüne Linoleum herab. Denn etwas wühlte in ihr, das stärker war als alle anderen Gefühle. Kräftiger wirkte es, als der Abscheu, den sie wieder einmal vor Doktor Teller verspürte. Den konnte sie abschütteln wie ein Insekt und danach gleich an etwas anderes denken. Ein anderer Gedanke hatte sich tiefer in ihr verhakt … In den siebenundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte Schwester Roswitha noch niemals so etwas wie wirkliche Schuld empfunden. Jetzt aber, plötzlich, stieg eine solche Qual in ihr auf, daß ihr beinah die Luft wegblieb. Ereignisse ihres früheren, leicht und praktisch gelebten Daseins zeigten sich auf einmal in völlig anderem Licht. Ihre Schwangerschaftsunterbrechungen – hatte sie denn darüber jemals anders nachgedacht, als daß sie sich von einer lästigen Bindung befreit hatte? Jetzt trat ihr das Bild, wie sie dadurch Leben vernichtet hatte, derart stark vor Augen, daß ihr übel wurde. Aber war das schon alles? Hatte sie sich als Schwester immer wie ein Mensch verhalten, dem hilflose, ohne ihre Pflege verlorene Frauen anvertraut waren auf Gedeih und Verderb? Gut, sie verrichtete ihre Arbeit bestimmt nicht schlechter als an63
dere. Doch wieviel winzige Unterlassungssünden! Wieviel nicht getane Handgriffe! Wieviel vergessene oder lasch getane Pflegearbeit! Ergab die Summe dieser zahlreichen kleinen Reaktionen von Egoismus und Gleichgültigkeit im Verlauf der Jahre nicht eine Schuld, die so groß war, daß sie eigentlich keiner ihrer Patientinnen mehr in die Augen blicken konnte? Sie ruckte den Kopf in den Nacken. Sah Teller verstört ins Gesicht. Er mußte ihr helfen. Er, der sie genau durchschaute, würde sie freisprechen. Mit einem Satz! Einem Wort nur … Doch er schwieg. Sie senkte die Augen vor seinem prüfenden Blick, unter dem sie sich nackter fühlte als unter dem Blick vorhin auf ihre Knie. Langsam gewann Roswitha wieder Haltung. Sie fand es taktlos, daß Teller gerade jetzt schwieg. Wahrscheinlich weidete er sich sogar an dem Eindruck, den seine Rede auf sie gemacht hatte! Er war dumm. Mit seinen veilchenblauen Augen einfach dumm. Außerdem primitiv. Teller nutzte das Wissen um den heimlichen Wunsch aus, der bestimmt in jeder Frau, die unglücklicherweise in einen verheirateten Mann verliebt war, einmal aufkam. Nämlich die allgemeine Hoffnung, daß etwas geschehen möge, damit die andere aus der Welt des Geliebten verschwand. In Gedanken begehen die Menschen jedes Verbrechen. Von dieser immer zutreffenden abstrakten Annahme ging Tellerchen aus – und stempelte sie zur Schuldigen. Ein lebensfremder Theoretiker war er schon immer gewesen. Vom wahren Wesen einer Frau hatte er nie etwas begriffen. Sie überlegte genau, welche Worte sie gebrauchen mußte, um ihn loszuwerden. Gerade wollte sie sagen: „Es ist gut. Ich danke dir für die Information, einschließlich Warnung und Psychoanalyse. Ich werde mir alles noch einmal durch den Kopf gehen –“ 64
Da schrie die Tautenhan in ihrem Sterbezimmer. Sie fuhren beide hoch. Ohne ein Wort liefen sie nebeneinander über den Flur. Ihre Arme berührten sich bei dem hastigen Gang. „Vater! Die Ameisen! Vater – jag doch die Ameisen weg!“ Sie zerrte an den Binden, mit denen ihre Handgelenke angebunden waren und flehte die Eintretenden aus gelb umrandeten Augen an. Rosi warf einen raschen Blick auf die über dem Kopf der Patientin hängende Tafel, auf der jede Injektion mit einem winzigen blauen Punkt verzeichnet war. Teller folgte der Richtung, in die sie sah. Er schüttelte energisch den Kopf. Dann beugte er sich über das klapprige Metallgitter. Strich der Frau über den Kopf, lange. Ohne sich um den verschwitzten Zustand des Haares zu kümmern. Er sprach mit ruhiger Stimme auf sie ein: „Hauptbahnhof. Wiese. Sterntalerstrauß. Weißt du noch, wie wir spazierengingen? Pellkartoffeln. Die duften köstlich – was? Ruh dich jetzt aber aus, meine Kleine. Heia, heia. Pythagoras war sowohl Philosoph als auch Mathematikus. Brumm, brumm, mein Teddybärchen …“ Die Züge der Frau verklärten sich. „Vater. Brummbrumm“, flüsterte sie. Soweit das Grinsen in diesem ausgemergelten Gesicht als Freude bezeichnet werden konnte – es war tatsächlich Freude. War Glück und tiefe Zufriedenheit. Gehorsam legte sich die Tautenhan nieder. Sie ließ sich von Tellerchen zudecken, über die eingefallenen Augen streichen. Wie durch ein Wunder schlief sie bald fest und verhältnismäßig ruhig. „Man kann ihnen erzählen, was man will“, sagte Teller, als sie wieder im Flur standen. „Das ist völlig egal. Den Sinn der Worte begreifen sie nicht. Aber ob’s jemand gut mit ihnen meint, spüren sie genau. – Am Ende des Lebens ist der Mensch eben so dumm wie am Anfang. Oder so schlau? – Was meinst du, Rosi?“ Sie rückte einen Schritt ab von ihm. Blickte mit abwe65
sendem Gesichtsausdruck auf seine Hände, die eben die Sterbende beruhigt hatten und jetzt halb in den Seitentaschen seines Mantels steckten. Sie stellte sich so, daß er begriff, wie stark ihre Abneigung dagegen war, daß er ins Schwesternzimmer zurückkehrte. „Ich weiß nicht, Karl-Heinz“, sagte sie. „Ich weiß wirklich nicht.“ „Ruf an, wenn du meine Hilfe brauchst“, sagte er. Er ging, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, mit schnellem und dennoch etwas zögerndem Schritt auf den Ausgang zu. Roswitha wartete nicht, bis er draußen war. Sie lief ins Zimmer. Ließ sich auf die Liege fallen und langte nach der Zigarettenschachtel. Sie spielte mit der Schachtel. Drehte sie zwischen drei Fingern dicht vor ihren Augen. Immer rundum. Sie nahm keine Zigarette heraus, um sie anzurauchen. Eigentlich spielte sie mit dem Appetit auf die Zigarette und dem Willen, sich zu beherrschen. Roswitha wollte sich beherrschen. Unbedingt.
6 Bei strahlend blauem Himmel, an einem wie aus dem Ferienprospekt geschnittenen Julitag, schritt eine junge, dunkel gekleidete Dame zwischen hundertjährigen Eichen und Birkenstämmen jüngeren Datums einen Friedhofsweg entlang. Die zu beiden Seiten im Sonnenlicht funkelnden Grabinschriften interessierten sie nicht. Sie schien etwas anderes zu suchen. Bei allem Bemühen, die Stöckelschuhe wie eine in Trauer versunkene Person zu setzen, verriet ihr Gang lauernde Nervosität, vielleicht sogar Furcht. 66
Einmal stolperte sie auf dem graugescheckten Kies und knickte um. Ihre schwarz behandschuhten Finger streckten sich instinktiv nach einem Halt. Dabei flog die altmodische Stola wie ein Rabenflügel auf. Der braune, in die Stirn gezogene Krempenhut verrutschte, und sie nahm die Spiegelglasbrille kurz vom Gesicht, um das Innere ihres Schuhs zu besichtigen. Während sie den Kiesel ausschüttelte, der ihr da eben hereingerutscht war, kicherte sie leise. Entweder schien ihr dieses aus verschiedenen Gerümpelecken zusammengesuchte Kostüm jetzt selbst lächerlich, oder sie lachte sich nach dem überstandenen Schreck ein Stück innere Angst fort. Der Zentralfriedhof glich einem ausgedehnten und, wegen der alten, mächtigen Bäume, schwer überschaubaren Park. Die verkleidete junge Frau wurde zunehmend unsicherer, je weiter sie sich in das Gelände hineinwagte. Erneut blieb sie stehen und reckte den Hals. Offenbar probierte sie, ob das Ziel, nach dem sie suchte, nicht durch Hören auszumachen sei, weil intensives Ausschauen bisher keinen Erfolg gebracht hatte. Vielleicht hoffte sie auf das monotone Geläut einer Totenglocke oder daß irgendwo aus dem idyllisch rauschenden Dschungel Orgeltöne erklangen. Darum war sie wirklich froh, als sie auf einmal ganz in der Nähe die Stimmen alter Frauen vernahm. Sie raffte ihr dunkelblaues Kleid und stürzte sich geradezu in einen der Seitenwege, von dem her sie die Gesprächslaute gehört hatte. Über die Ecke eines Grabhügels sprang sie hinweg. Rannte fast, scherte sich nicht um peinlich geharkte Erde. Sie beherrschte sich sofort, als sie die schmale Bank entdeckte, eigentlich nur ein Brett auf vier grünen Lattenstöcken, auf dem drei Weiblein in körperlosen schwarzen Kleidern hockten wie die Hühner auf der Stange. Die Handtasche an sich gedrückt, gab sie sich wieder unnahbar und viel älter, als sie in Wirklichkeit sein konnte. Die 67
letzten Meter zu den augenblicklich verstummten und nun scheinbar gleichgültig ins Gezweig blinzelnden Frauen schritt Roswitha in einem Gang, den sie sich von Oberschwester Hilda abgesehen hatte. Als sie die drei Gestalten näher betrachtete, war sie sich sicher, daß sie ihr weiterhelfen würden. Solche Frauen, ausgegerbt, dabei flink und seelisch eigentlich kerngesund, trotz ihrer schwer verständlichen Leidenschaft für das Friedhofsmilieu, wußten auf jeden Fall den Ort und würden sie auch bereitwillig dahin führen. Deshalb fragte Rosi geradezu: „Wo findet die Trauerfeier für Frau Schadendorf statt?“ Norbert wußte nichts davon, daß sie ihm auf den Friedhof gefolgt war. Weder er noch jemand anderes sollte sie hier erkennen. Rosi hoffte, die Verkleidung würde ihr dabei helfen – beispielsweise bei einem unvorhergesehenen Zusammentreffen mit gewissen Trauergästen. Eigentlich wollte sie ja draußen, vor der hohen steinernen Pforte, warten. Doch nun … „Ech-ech-ech“, stöhnte das am weitesten links sitzende Weiblein und sah sie mit einem weniger neugierigen als mitleidigen Blick an. Es handelte sich um Selbstmitleid, wie man am Ton und den Worten der Alten gleich merkte, denn sie fuhr folgendermaßen fort: „Die Feier für die junge Frau Schadendorf? Ech-ech, dies mach’n die doch ohne Öffentlichkeit. Wollen keine Leute beihaben, die nicht direkt zugehören zum engsten Kreis. Nich mal wir dürfen. Nich mal wir!“ Das neben ihr sitzende Weiblein erhob einen Finger und verkündete mit spitzbübischem Lächeln: „Darum passen wir die Herrschaften im Freien ab – jawoll!“ Mit erwachender Neugier musterten sie drei Augenpaare. „Sind Sie eine Verwandte?“ ließ sich das rechts sitzende Weiblein vernehmen. „Eine Kollegin“, log Roswitha aufs Geratewohl. 68
„Ech-ech. Also Friseuse. Wie die arme Entschlafene.“ Die alten Damen schienen ausgezeichnet informiert. Rundum rauschten die Goldruten. Ein Specht klopfte. Das Weiblein, das zuletzt mit Rosi geredet hatte, verstrickte sich, während es den Specht beobachtete, in irgendwelche frohen Gedanken. Roswitha mußte ihre erste Frage wiederholen. Sie gebrauchte einen bestimmten, eine Art Hilda-Kontrollierton: „Also, wo findet die Feier statt?“ Die in der Mitte hockende Frau fragte: „Sie besitzen wohl keene eigenen Trauersachen?“ „Alles geborgt – wie beim Fasching, ech-ech-ech“, meinte vorwurfsvoll die erste. „Früher hatte jedes Frauenzimmer im Schranke ihr Schwarzes.“ „Hatte sie – früher. Jawoll!“ bestätigte die mittlere. Die rechte erhob sich. Das geschah ohne sonderliche Vorbereitung. Rasch, leicht, ohne das Roswitha von ihren älteren Patientinnen bekannte Ächzen. Wie ein Mädchen stand sie auf und sprach eifrig auf ihre Freundinnen ein: „Elsa, Margarethe. Das junge Frollein will zur Trauerfeier von der unglücklich vom Zug überfahrenen Frau Schadendorf. Wir sollten ihr den Weg nach Kapelle zwo zeigen.“ „Schafft sie trotz ihrer jungen Beine nicht mehr.“ Die mittlere zog eine einfache Taschenuhr mit Blechgehäuse aus der Rockfalte. „Is gleich vorbei. – Aber Sie können“, wandte sie sich an Roswitha, „jetzt mit uns kommen zum Urnenplatz. Das is nämlich so Sitte, daß die Gesellschaft noch mal für einen Oochenblick dahin wandelt, an die spätere Ruhestätte. Weil da der Herr Krüscheck noch ein paar tröstende Worte reden wird. So inmitten von Natur und Freiheit. Es is jedesmal der Höhepunkt vom Ganzen.“ Alle drei seufzten gleichzeitig, jede jedoch auf ihre Weise. Der Herr Krüscheck mußte ein phantastischer Redner sein. 69
„Dann darf ich mich Ihnen anschließen?“ Roswitha erkannte in der Möglichkeit, sich hinter den Röcken der Klageweiber zu verbergen, eine zusätzliche Garantie, daß Norbert sie nicht entdeckte. Ganz wohl war ihr nicht dabei. Wäre ich doch vorn am Tor geblieben, dachte sie wieder. „Wenn Sie möchten“, sagte die erste. Auch sie stand leicht auf, und beide halfen der mittleren, sich zu erheben. Die blickte Roswitha entschuldigend an. „Es is nur das Offstehen“, bemerkte sie mit dem Lächeln einer ertappten Schülerin. Bald darauf lief Rosi hinter den wie drei Bachstelzen loswackelnden Frauen wieder auf dem Kiesweg. Die Weiblein beeilten sich. Also mußte der für Norberts Frau ausgewählte Ort der letzten Ruhe noch eine Strecke entfernt sein. In den Zeiten, da sie Norbert noch nicht kannte, hatte sich Rosi einen Jux daraus gemacht, bei den nächtlichen Barausflügen der Schwestern verkleidet aufzutreten. Während sich ihre Kolleginnen vorm Spiegel drehten, um ihre persönliche Note herauszuputzen, setzte Rosi manchmal Stunden, daran, um am Ende eine ganz andere zu sein. Als „Spanierin“ hatte sie einen Auftritt gegeben, von dem die Mädchen noch heute schwärmten. Heute noch wußte man Details, wie Rosi an jenem Abend die Männerwelt an der Nase herumgeführt hatte. Dunkel bebrillt, als „blinde Augenärztin“, ging sie und ein anderes Mal als „taubstummer Musikstudent“. Ihr Bubikopf eignete sich vortrefflich für die Charge. Der Spaß für die Kolleginnen, die ihr beim Ausstaffieren halfen, fing bereits beim Wegschnüren der Brüste und dem Zurechtstecken des romantischen Hosenanzugs an. Immer hatte sie sich in ihre Rollen hineingelebt und 70
vermocht, den einmal gewählten Typ so konsequent durchzuhalten, daß sie oft selbst daran glaubte, der andere Mensch zu sein. Es verschaffte ihr eine seltsam prickelnde Befriedigung, die mehr wert war als die plauzigfröhliche Anerkennung der mit ihr ausgeschwärmten Schwestern. Als Norbert auf den Plan getreten war, hatte Roswitha keinen Grund mehr gesehen, ihre Szenen zu spielen. Zum Gaudi des Publikums eine halbe Nacht verrückt zu mimen, das war doch nur der Nebengewinn solcher Verkleidungen. Der wirkliche Antrieb, erkannte sie bald, hatte in ihrem Unbehagen darüber gelegen, nicht die Rolle in ihrem Leben gefunden zu haben, die sie sich einmal erträumt hatte – in ihrem Dorf, als sie hinter dem Fenster hockte und auf die Linde sah und ein weißer Kittel als erfüllte Zukunft erschien. Seitdem sie Norbert kannte, wollte sie weder sich selbst noch andere über ihren wahren inneren Zustand täuschen. Darum fühlte sie sich der Richtigkeit des einmal gefaßten Entschlusses jetzt nicht mehr so sicher. Heute morgen noch, als Norbert ging, hatte sie für Augenblicke geglaubt, diesen Friedhofsbesuch wie einen der früheren Auftritte genießen zu können. Hatte Utensilien hervorgekramt, aus schon vergessenen Schachteln und Fächern, die Sonnenbrille der „Augenärztin“, die Hochhackigen und den Hut des andalusischen Vamps. Sie hatte bei der alten Barbara angeklopft und die nostalgische Stola erhalten. Alles in freudiger Hast. Doch als sie fertig angekleidet vorm Spiegel stand, fand sie ihre Erscheinung bereits geschmacklos und lächerlich. Gleichviel! Nun lief sie hinter den viel friedhofsechter wirkenden Bachstelzen her und bangte, entdeckt zu werden, vor allem von ihm. Denn das Motiv dieses Schauspiels am hellichten Vormittag war zum ersten Mal keine Spielerei mit sich selbst, bei der es eigentlich immer egal war, ob man dabei ertappt wurde. Diesmal ging das 71
von innen her nicht: eine andere Person spielen. Man hatte sich lediglich mit fremden Requisiten behängt. Und blieb Roswitha Fuhrmann, durch und durch das eigene Ich. Genau das war zwischen den Grabfeldern hier, unter den alten Bäumen, das Gewagte an Rosis Spiel. Vierzehn Tage waren seit dem Morgen vergangen, an dem er zu ihr gekommen war, im zerknitterten Anzug und ihr mitgeteilt hatte, was in der Nacht zuvor geschehen war. Vierzehn Tage waren das, wie im Rausch erlebt. Alle Schlager von fernen Liebesinseln, aufsteigenden Monden und untergehenden Sonnen am Meer schienen Rosi ein Klacks gegen ihre Liebe. Trotzdem oder gerade deshalb trällerte sie auf der Arbeit diese Schnulzen. Sie sang lautstark und inbrünstig und kopierte mit verblüffender Sicherheit die gängigen Schlagerstars, Schöbel und Maffay und Drupi und wie sie alle hießen, so daß ihre Mitschwestern schon glaubten, die alte, nicht mehr zurückgezogene, die Tausendsassa-Rosi sei endlich wieder in ihr ausgebrochen. Den tödlichen Unfall seiner Frau, auch ihren Namen, erwähnten sie beide nie. Einige notwendige praktische Gänge, die sich aus Brigittes Ableben ergaben, erledigte Norbert mit links – der Besuch bei den Eltern, die unvermeidliche Identifizierung der Leiche in der Gerichtsmedizin. Alle Formalitäten der Bestattung besorgten ihre Eltern. Heute früh sprach Norbert zum ersten Mal wieder Brigittes Namen aus und das in einer merkwürdig verdrehten Art. Nur mit der grünen Badehose bekleidet, lulatschig, eckig, viel zu groß für das Dachzimmer, hatte er hinter dem niedrigen Tischchen gesessen. Als sie aus der Gemeinschaftsküche herüberkam mit dem Frühstückstablett, fühlte sie sich von seinem starren Blick wie auf die Schwelle genagelt. 72
„Hej – Norbert! Schläfst du mit offenen Augen?“ Beinah wäre ihr die Glaskanne mit dem heißen Kaffee vom Tablett gekippt. „Verzeih, verzeih“, sagte er, ohne was anzurühren, aufgebackene knusprige Brötchen oder Kaffee, während, sie es sich schon schmecken ließ. „Ich sah vorhin ein Gespenst an der Tür. Wie du so einschwebtest – kein schlechtes Wort für die Bewegung eines Geistes, findest du nicht? – und im Türrahmen standest, schob sich auf einmal, ohne daß ich’s wollte, ein Scharnier vor meine Sehschlitze. Ich sah dein Haar nicht mehr, wie es ist, sondern wasserstoffblond. Länger waren deine Beine geworden, ganz wie die einer anderen. Die Haltung deiner Arme – o-och! Sah die gekünstelt aus! Dein angesetzter Schritt: eine Schau im Modepuppenstil. Die Freundlichkeit deines Gesichtsausdrucks nichts als Betulichkeit. Überhaupt war dein Kopf in die Länge gezogen: ebenmäßige Nase, wie ein schönes Schaf! Du sahst, verdammt noch mal, einer anderen verflucht ähnlich!“ Roswitha legte das Brötchen, das sie eben angebissen hatte, auf den Teller zurück. Nahm einen Schluck Kaffee. „Also ihr.“ Da, als sie das gesagt hatte, wurde ihr erst klar, daß sie den Namen nie ausgesprochen hatten in den zwei Wochen. Tatsächlich hatten sie gelebt wie auf einer Palmeninsel. Er sagte: „Ja. Du warst auf einmal Brigitte.“ Danach hatte sie ihn dazu gebracht, Kaffee zu trinken und etwas zu essen. Solche Halluzinationen, sprach sie ihm zu, wären völlig normal, wenn ein Mann zum Begräbnis seiner ehemaligen Frau gehen muß. Und erst recht in diesem Fall: zum Begräbnis seiner ehemaligen ungeliebten Frau. Die Fensterflügel zum Krankenhaushof hinter seinem Rücken standen offen. Er kaute mechanisch wie ein Roboter. Aller Rausch der vergangenen Tage schmolz auf 73
einmal zusammen für sie zu der Feststellung: nur vierzehn Tage. Nur zwei Wochen. Dieses Schweigen dauerte unerträglich lange. Es war nicht möglich, nach seiner Hand zu greifen. Schon gar nicht, aufzustehen und den Hauskittel abzustreifen und ihren Norbert, als wäre nichts geschehen, auf die Liege zu ziehen und wieder Insel zu spielen. Wichtig wurde auf einmal das Quietschen der schlecht geölten Karren – Essenkarren, Verbandwägelchen, Karren mit klirrenden Instrumenten –, das aus den unteren Stockwerken zu ihnen heraufdrang. Wahrscheinlich war das der Moment gewesen, in dem sie beschloß, sich zu verkleiden; Arm in Arm mit Norbert zum Zentralfriedhof zu gehen war undenkbar. Aber vor dem Tor auf ihn warten wollte sie doch, im Schatten der Bäume. Wenn die Trauergemeinde herauskam und in zwei ungleiche Teile zerfallen würde – den vielköpfigen, der Brigittes Eltern begleitete, und die eine Person, der niemand nachblickte, wenn sie ihres Weges ging. Da wollte sie ihm wie zufällig begegnen und seine Hand drücken. Schon auf dem Flur, das war heute drei Viertel sechs gewesen, sagte er: „Du gehst zum Dienst. Ich geh’ zur Arbeit. Ich will so tun, als wäre der Tag ein völlig normaler. Zur Zeit legen wir in den Neubauten Anschlüsse. Drei Mann im Bauwagen. Ich werde mir vorspiegeln, heute würde kein Mensch begraben werden, der mich sonderlich interessiert – bis um neun. Dann“, er zeigte auf seine Aktentasche, „will ich mir den dunklen Anzug genehmigen. Werde ein paar Haltestellen in Schwarz fahren. Und diese Feier absolvieren. O-och, werden die mich hassen, ihre Eltern, ihre Kolleginnen vom Salon. Aber heucheln werden sie und ihr tief empfundenes Beileid aussprechen. Nur ihr Händedruck wird ziemlich lasch sein. Danach gehe ich wieder zu meinen Kumpels, als wäre der Tag ein Tag wie jeder.“ 74
Sie hatte sich, während gerade Gesine mit einem piepsigen Gutenmorgengruß vorbeirauschte, an Norberts Schultern hochgezogen und ihn auf die Stirn geküßt. Wie sie ihn liebte, weil er das Heucheln haßte! Wie er gerade deshalb in seiner Ehe gelitten hatte: daß diese Frau ihm Liebe vortäuschte und doch vor ihren Eltern und Kolleginnen stöhnte über den Mann, der sie angeblich quälte. Norbert hatte ihr alle diese Verlogenheiten oft genug erzählt, als er noch zu ihr kam als Mitspieler in diesem schlechten Schauspiel, das seine Ehe war. Schrecklich stellte sie sich seine Verlassenheit auf dem Zentralfriedhof vor. Der Urlaubstag wurde ihr von Oberschwester Hilda ohne viel Gerede genehmigt. Die Organisation der Kostümstücke ging fast ebenso schnell. Nun aber schlugen die drei Alten einen langsameren Gang an. Offenbar war man am Ziel, dem für die Asche Brigitte Schadendorfs vorgesehenen Platz, angekommen. Der Herr Krüscheck war ein hochgewachsener junger Mann mit steinernen Gesichtszügen und weichen Handbewegungen. Er überragte die Trauergesellschaft um einen halben Kopf; lediglich Norbert zog gleich mit ihm. Aber der Herr Krüscheck stand auch auf einem abgebrochenen Grabstein, eigentlich dem verwitterten und bemoosten Marmorsockel desselben. Aller Augen richteten sich auf den frisch gemähten Rasenfleck, an dessen Rand eine Art Kuchenholz steckte mit einer von Tintenstift geschriebenen Nummer. Lediglich der Herr Krüscheck schaute auf entfernte Baumwipfel. Er breitete seine großen, feinen Hände wie ein Priester beim „Der Herr sei mit euch“ und sprach mit angenehm hallender Stimme. Seine Worte tönten vom allzu raschen Zutritt des Schicksals auf ein zartes Menschenleben, klagten über zerstörtes Glück eines jungen, harmonischen Paares und 75
verkündeten jubelnd die Hoffnung auf gemeinsames Tragen solchen unerträglichen Leids durch ein noch innigeres Verstehen der schwer Betroffenen, die hier den letzten Hügel umständen: also der bedauernswürdige Witwer, die tiefgebeugten Eltern und die so zahlreich erschienene Abordnung der Friseusen. Vielleicht wäre der Tod der armen Verblichenen, wähnte Herr Krüscheck, für diese neue Gemeinschaft der Liebe und gegenseitigen Achtung ein notwendiges und somit von tieferem Sinn erfülltes Opfer gewesen? Schade, Rosi konnte Norberts Gesicht nicht sehen. Die Trauernden kehrten der Bank den Rücken. Einerseits war das gut so. Aber andererseits hätte sie doch gern gewußt, ob Norbert, der weit vorn stand und den Kopf gesenkt hielt, nicht das gleiche wie sie empfand. Reinschlagen müßte man, dachte er bestimmt, einfach mit der Faust reinschlagen in diese tönende Maske! Als der Herr Krüscheck noch einmal reihum die Hände geschüttelt hatte und mit sanft wiegenden Schritten zwischen den Buchenstämmen entschwand, war Rosi froh, daß die Weiblein an ihrer Seite ruhig sitzen blieben und sich ihren stummen Betrachtungen hingaben. So konnte sie – mit Vorsicht freilich, mit äußerster Vorsicht! – den Abgang der Gesellschaft beobachten. Da stand, ganz in sich zusammengekrochen und klein, die Mutter. Was mußte die von Norbert denken … Daneben, kerzengerade mit durchgedrücktem Kreuz, Brigittes Vater. Goldrandbrille und Maßanzug und voller Akkuratesse auch hier, wo niemand Wert darauf legte. Typischer Pedant, Bürohengst mit tyrannischen Hausprinzipien, dachte Roswitha. Von ihm wird die Tote wahrscheinlich einen kräftigen Schuß ihres Charakters geerbt haben. Doch gleich untersagte Rosi sich solche Gedanken. Schließlich hatte die alten Leutchen ein großer Verlust getroffen. Brigitte war ihr einziges Kind gewesen. 76
Am Rande schließlich die Kolleginnen, vor denen sich, wie ihr Norbert berichtet hatte, seine Brigitte ebenfalls ausgeweint hatte, um interessant zu erscheinen. Frisuren, chic, gewagt, eine geschniegelt wie die andere. Sozusagen eine Neuererschau der PGH „Flotte Linie“. Die brauchten nicht erst die Köpfe zu drehen, solche Gesichter konnte sich Roswitha vorstellen. Ein Hauch Haarwasser schwebte wie ein giftiges Wölkchen herüber. Augenblicke nach Herrn Krüschecks Abgang standen die Leute noch stumm. Dann rührten sich als erste die Friseusen. Sie reichten den Eltern und Norbert und irgendwelchen anderen Verwandten die Fingerspitzen. Das wiederholte anschließend das Häuflein der entfernten Verwandten. Bald darauf standen die Eltern mit einem Paar, das wie der Großonkel aus Amerika und seine aufgetakelte Frau aussah, und, etwas abseits, mit Norbert, allein. Weit weg hupte ein Auto. Wahrscheinlich fuhren die Friseusen wieder in ihren Salon. Auch Norberts Taxi konnte das sein, falls er ein solches bestellt hatte. Er wollte die Sache ja ausdrücklich schnell hinter sich bringen und dann gleich auf die Baustelle zurück. Jetzt erst drehte er sich. Steif, im dunklen Anzug noch schlaksiger wirkend als sonst. Endlich sah sie sein Gesicht. Es sah aus, als würde er etwas Bitteres schlucken. Die Augen hatte er niedergeschlagen. Auch die kleine Frau, Brigittes Mutter, wandte sich, blickte zu Norbert auf. Sie hob den Schleier, legte ihn mit einer nervösen, fast zornigen Handbewegung auf die schmale Krempe ihres Huts. Norbert lächelte halb, halb war er ernst. Seine Hände – dabei sah Rosi deutlich die ungewohnten Stulpärmel, Manschettenknöpfe blitzten – richteten sich der Schwiegermutter entgegen. Wie zur Abwehr, deutete Rosi seine Geste. 77
Die Mutter wuchs irgendwie auf, so, als ob sie vorher gekniet oder gesessen hätte. Auf einmal war sie eine stattliche Frau. Schwarz behangen – eine von heiliger Rache erfüllte Furie, die ihm nun endlich ins Gesicht schreien würde: Mörder! Du Mörder meines Kindes! Sollte sie, dachte Roswitha, sollte sie nur. Das klang immerhin ehrlicher als das Gewuse vorher. Ach, armer Norbert … Es war wie im Theater. Roswitha schwitzte in ihrer Verkleidung. Wenigstens den Hut hätte sie gern abgesetzt und weit von sich ins Gras geworfen. „Wollen Se nich Ihren Kolleginnen nach? Die sind schon über alle Berge“, wisperte eine der Frauen neben ihr. „Ich muß den Eltern noch mein Beileid aussprechen“, flüsterte Roswitha. „Was hat das Fräulein gesagt?“ fragte eine andere, deren Ohren offenbar nicht mehr für alle Lautstärken taugten. „Halt deinen Mund, Margarethe. Die junge Frau muß sich sammeln.“ Das raunte die, welche ihr die Frage gestellt hatte, der anderen halblaut ins Ohr. Allen steinernen Friedhofsengeln sei Dank, dachte Rosi, daß mich diese ehrenwerten Vögel in Ruhe hier sitzen lassen. Da riß Brigittes Mutter die Hände hoch, klammerte sich an Norberts Jackettaufschläge. Legte den Kopf an seine Brust – und ihr Körper bebte. Der Vater stand weiterhin wie ein Zinnsoldat, während das nach Amerika riechende Pärchen taktvoll zur Seite blickte. Norberts Hände, an deren Liebkosungen sie sich immer entsann, wann und wo sie ihn sah, streichelten Brigittes Mutter über die Schultern. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Norbert – weinte? Roswitha begriff nicht. War er ein so verdammt guter Schauspieler? Oder hatte er seine Frau doch geliebt? 78
Aber solche Gedanken waren ja doppelter Unsinn! Niemals hatte er Brigitte geliebt, und er konnte auch nicht heucheln! Doch sie sah: Da standen die beiden aneinandergelehnt wie Karten des gleichen Spiels, Herzbube und Herzdame vielleicht, und tätschelten sich die Schultern! Warum hatte Norbert ihr heute früh erzählt, er würde das Theater nicht durchstehen? Und nun täuschte er derart glaubhaft den gebrochenen Witwer vor, geradezu fernsehreif! Aber es war auch gar nicht wichtig, ob er sich verstellen konnte und daß er ihr heute morgen vorgejammert hatte, die Lüge werde ihm schwerfallen. Wichtiger war: Warum akzeptierten ihn seine Schwiegereltern als Brigittes Mann? Woher rührte das Vertrauen der Frau, sich an seine Brust zu lehnen, wenn sie doch wußte, daß ihre Tochter an dieser Ehe, also auch an diesem Mann gescheitert war? Das Spiel ist echt. Mein Gott, es ist keine Verstellung. Roswitha fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie glauben ihm, sie mögen ihn, sie sehen ihn als guten Ehemann an und halten seine Krokodilstränen für wahr. Wenn die Dinge so lagen, war sie die Betrogene! Dann stimmte kein Wort von all dem, was ihr Norbert berichtet hatte über sein klägliches Eheleben. All diese Geschichten, die sie gerührt und erregt hatten, in vielen Nächten auf ihrer Liege ins Dunkel hinein erzählt, waren erfunden wie die Scheherezade aus Tausendundeiner Nacht. Damit hatte er sich in ihr Vertrauen geschlichen, ihr Mitgefühl und ihre Liebe gewonnen – war wieder wochenlang von ihr weggeblieben, hatte eigentlich diese Brigitte geliebt –, um von neuem zurückzukehren in ihre Arme. Warum bloß? Was war Norbert eigentlich für ein Mensch? Rosi biß sich auf die Hand. Der Schmerz lenkte ab von 79
dem dringenden Verlangen, zwischen dieses sich streichelnde Pärchen zu springen. Denn die Erkenntnis, die ihr mit einmal kam, beschämte sie. Ja, sie wußte nicht, was für ein Mensch der Mann war, den sie liebte und, wenn er wollte, sofort heiraten würde. Es gibt nichts Demütigenderes für eine Frau, als sich eingestehen zu müssen, daß ihre Gefühle getäuscht wurden. Es hätte sie nicht gewundert, wenn sich auf einmal die Büsche geteilt hätten und auch noch seine Eltern aufgetreten wären in diesem bescheuerten Familienstück. Wenn auch das nicht stimmte: sein Vater fort, seine Mutter in einer geschlossenen Station. Diese Bande verstand sich aufeinander, und die Angeschmierte war sie, Roswitha. Ein Spielzeug. Eine Abwechslung in seinem ansonsten frohen Ehealltag … Warte nur, sagte sich Roswitha, bis du nach Hause kommst. Erzähle mir, was du willst. Aber durch die geschlossene Tür. Deinen Koffer stelle ich dir vorher auf den Flur! Aber das kann doch alles nicht wahr sein. Norbert! – Während Mutter und Schwiegersohn jetzt ihre trauliche Umarmung lösten und die Frau etwas sagte, was sie nicht verstand, und auch Norbert ihr etwas Unhörbares entgegnete, dachte Rosi: Schrei, Norbert, schrei! Daß du mich liebst. Daß diese Ehe unmöglich war. Schrei irgendwas … Die Gruppe setzte sich langsam in Bewegung. Sie sah, wie Brigittes Vater Norbert am Ellenbogen faßte und vertraulich auf ihn einsprach. Norbert nickte zu den Worten des Mannes. Sie erhob sich schnell. „Besten Dank noch mal“, sagte sie zu den Weiblein. Die reagierten wieder mit dem Temperament von drei Grabsteinen. Sie wußte nicht genau, warum sie das folgende tat. Sie schlug einen Bogen um das auf den Kiesweg zuschreitende Trauerquintett. Gedeckt von niedrigen Lebens80
bäumen und allerlei fettblättrigem oder mit Nadeln besetztem Gebüsch lief sie dann, manchmal gebeugt, manchmal gerade, auf einem Seitenpfad zwischen den Gräbern parallel zu den fünf nebenher. Hatte sie nicht genug gesehen? Hoffte sie immer noch, Norbert würde plötzlich seine Maske fallenlassen und auf einmal der alte sein? Das Säulenportal war in Sicht. Sie blieb stehen, wo die Büsche aufhörten und ein großer freier Platz sich ausbreitete, über den jetzt die Schritte der Leute knirschten. Auf dem Tor erhob sich monströs ein plumpes graues Kreuz. Hinter einer der Säulen sah sie zwei Taxis parken. Die Chauffeure warfen ihre Zigaretten fort. Norbert stieg mit Brigittes Eltern in den ersten Wagen. Er half der Mutter beim Einsteigen. Im zweiten nahm das amerikanische Pärchen Platz. Die Autos fuhren davon. Brachten ihn Brigittes Verwandte zur Arbeit? Oder fuhr er gar mit ihnen ins Trauerhaus zum Mittagessen? Nicht auszudenken: Norbert beim Leichenschmaus! Wie sie nun über den Sand ging, hatte sie endlich den ulkigen Hut abgenommen. Die Stola trug sie über einem Arm. Sie hing herunter und schleifte beinah auf dem Boden. Roswitha sah nun wirklich aus wie eine trauernde junge Frau. Am Friedhofsportal mußte sie sich an eine der Säulen lehnen. Übel war ihr, von der Hitze und von allem. Als ein Taxi vorfuhr und der Fahrer eine halbe Handvoll dunkelgekleideter Leute ausgeladen hatte, kam ihr eine Idee, die augenblicklich ihre Übelkeit schwinden ließ. Zu den Telefonmonteuren mußte sie, auf seine Baustelle. Sie trat auf den Taxifahrer zu. „Zum Neubaugebiet“, sagte sie. Der Mann musterte sie wie jemand, dem am hellichten Tage ein Clown in vollem Arbeitskostüm begegnet. Sie ließ ihn mit seiner Betrachtung nicht zu Ende kommen, 81
öffnete die hintere Tür und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ: „Aber vorher ins Städtische Krankenhaus. Ich möchte mich nur schnell umziehen.“ Sie saß bereits im Wagen, und der Mann nahm zögernd hinter dem Lenkrad Platz. „Wie soll ich das machen, Frolleinchen? Mein Auftrag lautet, hier auf die Herrschaften zu warten, bis die Feier vorbei ist.“ Doch er schlug den zusätzlichen Verdienst nicht aus.
7 Sie hieß den Chauffeur drei Minuten warten. Passierte das niedrige Fenster der Pforte. Hellmeiers Augen leuchteten auf, als er sie hereinkommen sah. Sie spürte jedoch, wie er sie in dem Spiegel, durch den er die Treppe zum Erdgeschoß in ihrer ganzen Breite überblickte, kritisch musterte. Wurde im Fahrstuhl von zwei Lehrschwestern beflissen gegrüßt. Sie quittierte die gewohnte Höflichkeit mit dem distanzierten Blick der fertigen Schwester. Die Hübschere von beiden trug ihren rosa Kittel auffallend kurz. Die andere, in Weiß, war ein Pummelchen. Roswitha verglich ihr eigenes Aussehen mit dem der fast zehn Jahre jüngeren Mädchen. Sie kam zu dem Schluß, daß sie bereits ein paar Jahre zu lange im Schwesternflur lebte. Das Pummelchen stach sie zwar allemal noch aus. Doch Fakt war auch, daß sie einen gewaltigen Schritt zulegen mußte, um nicht als Krankenhausinventar zu versauern. Hier herauskommen, so bald wie möglich, wäre gut. Besser, mit ihm diesen Schritt zu gehen. Wenn ich nur wüßte, was für ein Mensch … Im zweiten Stock hielt der Aufzug. Pfleger schoben ein abgezogenes Bett herein, sie mußten alle drei zur Seite treten. Diese Pfleger kannte sie flüchtig und moch82
te keinen. Es waren die Langhaartypen, die es nie länger als ein paar Monate im Krankenhausdienst aushielten, geexte Studenten meist oder angehende Mediziner. Der eine hatte für sein Oberschülergesicht schon recht gierige Augen. Sein hungriger Blick kostete kurz die Aussicht des Minikittels aus, biß sich aber dann zwei Stockwerke lang an Rosis Figur fest. Obwohl ihr das gerade heute guttat, demonstrierte sie für den Hippie betont verächtliches Mienenspiel. Sein Gesicht war knallrot, als er das Bett wieder herausschob. Im Appartement riß sie sich ihren Mummenschanz vom Leib. Nackt fühlte sie sich auch nicht wohler, sie schämte sich vor irgendwas und wußte im Augenblick nicht, wovor. Als sie das Fenster öffnete, strömte vom Hof heiße Luft herein. Sie schloß es sofort. Norberts Khakihemd war von der Liege auf den Läufer gerutscht. Sie beförderte es mit einem gezielten Tritt durchs Zimmer. Lief nach. Verspürte Lust, darauf herumzutrampeln. Hob das aparte Stück jedoch wieder auf und legte es auf den Tisch, glättete es mechanisch und faltete es auf Knick. Dann legte sie es auf seinen Koffer. Sie machte Licht im Vorraum und blickte in den Spiegel. Müde und verschwitzt fand sie sich, die Bewegungen ihres Kopfes tantenhaft. Das schlimmste aber war ein kleiner ziegelroter Pickel am rechten Nasenflügel. Den zu überpudern blieb leider keine Zeit. Vor der Pforte wartete das Taxi. Unter ihren Sachen wählte sie eine weiße Folklorebluse mit hochgeschlossenem Bündchen, dazu den blaßgrünen Rock, der sie schlank machte und die Cafétripschuhe mit den niedrigen Absätzen. Stola, Hut und das dunkle Vogelscheuchenkostüm, die sie beim Eintritt auf den Boden hatte fallen lassen, stopfte sie in die hintere Ecke des Schranks. Geld und Schlüssel packte sie in eine kleine Umhänge83
tasche aus gelbem Kord. An der Tür sah sie noch einmal zurück. Schritt in einer plötzlichen Anwandlung auf Norberts Koffer zu und schmiß sein Hemd wieder auf den Läufer. Es lag da, mit ausgebreiteten Armen, wie er selbst oft hier unten mit ihr gelegen hatte, und sie hatten sich durch diese Wohnzelle gerollt, und ihr Lachen war mindestens von der Hälfte der Mieterinnen des Wohnheims gehört worden. „Du tote Hose.“ Sagte sie zu dem Hemd und knallte die Tür. Wie sie zuschloß, drehte sich ein Schlüssel im Nachbarappartement. Gesine steckte ihr Kätzchengesicht durch den Spalt. Nur das Gesicht, offenbar lief sie wegen der Hitze ohne alles herum. Gesine fragte mit singender Stimme und wohlwollendem Lächeln: „Na, hat dein großer Junge seine letzte Liebe begraben?“ Sie zuckte zusammen, weil sie den Doppelsinn der Frage merkte. Doch den konnte Gesine natürlich nicht ahnen. Es schien wirklich die pure Anteilnahme, die sie zu dieser dämlichen Frage bewogen hatte. Es herrschte ein flurweites Einverständnis mit dem turtelnden Liebespaar Rosi und Norbert. Jeder hier hatte sie in den vergangenen zwei Wochen gern gehabt. Ihren Schnulzengesang gelobt. Sich an Norberts gewinnendem Lächeln satt gesehen. Die Menschen betrachten lieber Urlaubsfilme, bei Tragödien schalten sie ab, dachte Roswitha. Sie sagte, ohne daß Gesine zu wissen brauchte, was sie wirklich fühlte: „Ach, es war schrecklich.“ „Kann ich verstehen“, pflichtete ihr die Nachbarin bei. „Ich wünsch’ euch beiden was!“ piepste sie im gleichen Atemzug. Zwinkerte mit dem am Türspalt sichtbaren ihrer Katzenaugen und zog die Tür wieder vor sich zu. Rosi ertappte sich dabei, wie das von Gesine erwartete glücklich-naive Lächeln, diese Liebesseligkeit der letzten Tage, mit einemmal auch in ihrem Gesicht stand. Und – ver84
dammt noch mal! – sie zwinkerte sogar zurück! Ganz automatisch. Während Roswitha die Treppe hinabhastete, weil der Lift gerade unten hielt, kam sie über ihr eigenes Verhalten eben nicht hinweg. Wie schnell und leicht paßt man sich doch an! Sie ärgerte sich. Oft machen wir es uns einfach, spielen dem anderen lieber etwas vor, als ihm auch nur den kleinsten Blick in unser Inneres zu gestatten. Und wenn es Norbert ganz ähnlich ergangen war –? Der Einfall bewirkte, daß sie zwischen der ersten Etage und dem Erdgeschoß stehenblieb und eine Weile mit der Faust das kühle Eisengeländer betrommelte. Wenn Norbert … Wenn er sie nun gar nicht beschwindelt hatte? Wenn er einfach zu schwach war, viel schwächer als sie, eine eigene Meinung zu vertreten? Sich über Monate und Jahre hinweg dieser Ehe angepaßt hatte! Lächelnd litt, geduldig Liebe spielte und Treue, ja, auch Treue – aber nur ihr, seiner Rosi, die Szenen geschildert hatte, wie sie sich wirklich bei ihm zu Hause abgespielt hatten? – Auch seine Frau mußte dann nach dem gleichen Rezept gehandelt haben: Zu Hause machte sie Norbert die Hölle heiß, aber nach außen hin war ihr daran gelegen, daß sie als harmonisches Paar angesehen wurden. Ja, so etwas konnte man bis dahin treiben, daß man dem Partner vorspiegelte, die übrige Umwelt würde ihn verurteilen und verachten, weil sie längst über sein wahres Wesen informiert sei. In Wirklichkeit hielt man jedoch draußen den Mund. Mein Gott, das entlastete Norbert! Wenn das wahr sein könnte! Wenn er kein Heuchler wäre, sondern bloß etwas feige. Doch was sollten alle abstrakten Vermutungen. Solche Gedankenspilastik quälte bloß und führte zu nichts. So bald wie möglich brauchte sie ein wahres Bild von ihm! Und dazu wollte sie auf Norberts Baustelle. Entweder 85
hatte ihn das Taxi dort schon abgeliefert, oder er würde bald nach ihr eintreffen, gestärkt von einem deftigherzhaften Mittagessen … Nein, Rosi konnte nicht warten, bis er am Nachmittag bei ihr eintrudeln und drauflosfabulieren würde: „Den ganzen Tag war ich auf Arbeit, und die zwei Stunden Zwangspause werde ich hoffentlich bald vergessen … Mit deiner Hilfe, Liebste …“ „Ich müßte längst wieder auf den Friedhof“, knurrte der Taxifahrer. „Wenn Sie noch einen Zahn zulegen“, konterte Rosi, „sind wir beide rascher dort, als wir denken.“ Sie strengte sich an, so munter wie möglich zu sein. Ein Gespräch, irgendein Geplapper mit dem Knurrhahn da vorn, genau das brauchte sie, um sich in Schwung zu halten. Sie ließ sich auf dem Hintersitz durchrütteln, und es sah aus, als würde ein Kind zum ersten Mal Auto fahren. Der Mann lachte. „Tja, ich bin eben ein schneller Hirsch, mein Frollein.“ Er betrachtete sie im Rückspiegel, und man sah ihm an, daß das Mädel ihm besser gefiel als vorhin. „Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum sich wildgewordene Kraftfahrer gern mit Hirschen vergleichen? Warum eigentlich nicht mit anderen gehörnten Tieren?“ Er gab noch zehn oder fünfzehn Striche zu. Der Hirsch sagte: „Ich weiß es nicht, und ich kümmere mich auch nicht darum. Für mich hat die Geschichte eine ganz persönliche Bedeutung.“ „Welche Geschichte?“ „Na, die mit den Hirschen. Ich heiße so.“ Er setzte sich gerade wie ein holländischer Radfahrer. „Hartmut Hirsch, wenn ich mich vorstellen darf.“ „Nun erzählen Sie bloß noch, wo Sie geboren, ob Sie verheiratet und wie erwachsen Ihre Kinder schon sind.“ 86
„Das ist schnell gesagt …“ So fuhren sie durch die Stadt nach Westen, und bald sahen sie linker Hand der Straße die Betonklötze stehen. „Hier muß es sein, Herr Hirsch. Halten Sie an den ältesten der Neubauten. Ich will dahin, wo die Leute schon Telefone kriegen.“ An einem brütendheißen Julimittag ist es für ein Mädchen im enganliegenden Rock, angetan mit einer hochgeschlossenen Folklorebluse und dünn besohlten Schuhen, in denen es eine geschlagene Dreiviertelstunde über Betonpflaster, Sand und Baugerümpel gestolpert ist, das Normalste von der Welt, die Schuhe auszuziehen und sich ins Gras zu setzen. Daß es sich bei diesem Gras um eine städtisch gepflegte, für das Darüberhinweglaufen, Darinherumliegen oder Daraufsetzen verbotene Wiese handelt, ist dem Mädchen verständlicherweise genauso gleichgültig wie andere zufällige Nebenerscheinungen am Platze. Rein zufällig steht ihr gegenüber, wo der Rasen vor den Gehwegplatten endet, halb mit den Rädern oben, halb auf der Straße, ein zementgrauer Bauwagen. Zufällig liegt das Neubaugebiet wie ausgestorben. Nur ab und an schieben Frauen ihre mit Kindern und Einkaufsgut gefüllten Wagen über die Straße. Einmal tobt eine Meute sächsisch brüllender Indianer im Vorschulalter, Holzbeilchen schwingend, an ihr vorbei. Einer brüllt Rosi an: „Ergib dich, Weißhaut!“ Und sie macht: „Buh!“ Dann liegt die Geisterstadt wieder still und leer. Nicht ganz. Denn auch rein zufällig machen sich zwei Kerle in blauen Arbeitsanzügen an den Wänden einer Betonfassade zu schaffen. Der eine hängt auf dreifach ausziehbarer, ständig schwankender Leiter. Klebt an der Wand wie der Specht am Holz. Er knabbert an langen Nägeln herum, die er Stück für Stück aus seinem Spechtschnabel zieht, 87
und man sieht nicht genau, ob er sie mit dem Hammer in die vorgebohrten Löcher einbringt oder mit seiner imponierenden Hakennase. Norbert hat ihr von diesem Vogelgesicht erzählt. Das müßte also Leberecht sein. Dann ist der andere Norberts Meister. Den sie mit Vor- oder Nachnamen Ernst anreden. Also der Dicke, Jüngere, noch nicht ganz Vierziger mit der Halbplatte. Oben ein Kugelgesicht und in der Mitte das stattliche Bäuchlein, das ihm jetzt mithilft, das Kabel nachzuschieben für den Specht, der über seinem Kopf balanciert. So also sieht Norberts Truppe aus. Den Vogel oben mag er nicht. Aber von dem Kugeligen sprach er mit Achtung. Rosi sieht: Wo der rundliche Meister auch geht und steht, trägt er ein Lächeln zur Schau. Undefinierbar, buddhahaft. Wenn der Specht hektisch losfuchtelt da oben, daß die schwarzen Loden ihm ins Gesicht fliegen, und wenn er mit schriller Altmännerstimme gleich loszetert, sobald ein Nagel, eine Schelle herabfällt, wird Meister Ernst noch gelassener. Der scheint die Welt als ein einziges großes Witzblatt anzusehen. In der halben Stunde, die sie hier schon ihr Sonnen- und Wiesenbad nimmt, hat Roswitha noch kein Wort aus Ernsts Mund gehört. Mein Gott, die Männer äugen bereits zu ihr herüber. Mein Gott, die Zeit. Also ist er doch zu denen, zum Leichenschmaus gefahren. Was sag ich, wenn sie mich ansprechen? Fragen, was ich hier suche? Vielleicht, daß ich seine Geliebte bin und am Tag der Bestattung seiner Frau nichts Geschmackloseres zu tun habe, als ihn auf Arbeit zu besuchen? Das würde dem auf zehn Kilometer nach verknöchertem Junggesellen riechenden Leberecht Grund zu gemeinen Späßen geben. Und Ernst würde garantiert den reservierten Spießer herauskehren. Eine Hitze ist das. Warum kommt Norbert nicht? 88
Quatsch, ich werde doch ein Recht darauf haben, hier die Beine zu strecken. Schließlich sind die Wiesen für alle da. Wenn Norbert auftaucht, werden sie sich ihr Teil schon denken. Noch eine Viertelstunde vergeht mit Warten. Und noch eine. Ich darf mich ja nicht verkrampfen! „Sense und Pumpe!“ schreit plötzlich Leberecht und klettert die Sprossen herunter. „Richtig, machen wir Mittag“, sagt Ernst – das erste, was sie von ihm hört. Die Stimme des Buddha klingt wie die tiefen Orgeltöne der Kirche. Und da laufen sie schon auf sie zu. Ernst, den aufmerksamen Blick, kaum sichtbare Knopfaugen, auf sie gerichtet, das unbegreifliche Lächeln im verschwitzten Gesicht. Leberecht hinterher, die knochigen Arme wie Flügel schwenkend und mit der Nase seitlich zielend. Auf sie. Obwohl der Weg geradeaus geht, an ihr vorbei, zu dem zementgrauen Bauwagen. Beide werfen kein Wort herüber und reden auch nicht miteinander. In der flirrenden Luft tausend heiße Fragezeichen. Während sie scheinbar pikiert ihr Gesicht abdreht, hört sie nach einer Weile Leberechts krächzende Stimme: „Hej, junge Frau! Woll’n Sie nicht bißchen zu uns in’n Schatten?“ Dieser Bauwagen wirft einen rechteckigen Schatten auf die Wiese, zu der Stunde zwar nur ein schmales Rechteck. Immerhin reicht es aus, um zwei Männern Schutz vor der prallen Sonne zu bieten. Die sitzen nun auf der ausgeklappten Stahltreppe. Leberecht langt nach hinten in das Dunkel des Wagens und zieht drei Limonadenflaschen heraus. Alle drei Flaschenhälse packt der Vogelgesichtige mit seiner Schaufel von Hand. Stellt zwei Pullen hin, hebt die dritte hoch und schüttelt sie, daß die Kohlensäure weiß schäumt über der roten, bei der Hitze verlockenden Lorke. Ruft zu dem in der Sonne bratenden, gleichgültig in 89
den Himmel blickenden Mädchen: „Ist noch übrig für Sie. Weil unser dritter Mann Urlaub hat heute! Woll’n Sie nicht?“ „Warum nicht“, sagt Roswitha. Sie greift nach den Schuhen, nimmt je einen in jede Hand und trippelt barfüßig, langsam, so langsam, wie das nur geht, auf die beiden Telefonfritzen zu. Die grinsen ihr entgegen, als wäre ihnen sonst was für eine Leistung gelungen. Die Gedanken jagen wie rasch nacheinander abgeschossene Feuerwerkskörper. Zunächst empfindet sie dieses plötzlich einsetzende Durcheinander von Ideen und Erkenntnissen auch beinah wie ein lustiges, buntes Feuerwerk … Hej, hej – Rosi! Bist du nun siebenundzwanzig oder noch ein Kind? Wie konntest du bloß die einfache Tatsache vergessen, daß ein Mann seinen gewerkschaftlich bestätigten Urlaub bekommt für den Tag, an dem seine Frau bestattet wird? Dummerchen Rosi. Blödes, naives Stück. Also war er nicht mal heute früh hier. Fuhr gleich zu Brigittes Eltern. Zum Familienfrühstück. – Schauspieler? Feigling? Welche der beiden Rollen spielt Norbert? Oder beide zugleich? Ein Blümchen an der Mauer stund, ermangels Fleisch fraß es der Hund. Irgendein Vers, den Mutter einmal … Diese elende Hitze. Ich muß mich konzentrieren. So oder so. Jetzt trink’ ich erst mal. „Danke, Herr Leberecht“, sagte Rosi. Das rote Zeug tat gut. Und die Kälte der Metallstufe, auf der sie saß. Die beiden Männer blickten sich an. „Woher wissen Sie, wie ich heiße?“ fragte Leberecht. Es hatte keinen Sinn mehr. Irgendwann würde Norbert doch von ihrem Besuch erfahren. Dann schon lieber die Wahrheit sagen. Wenigstens den Teil der Wahrheit, den sie vor sich und Norbert vertreten konnte, auch in Zukunft. In Zukunft!! 90
So erzählte sie, wie lange sie schon die war, für die ein Norbert Schadendorf alles bedeutete, und daß sie immer glaubte, dasselbe auch für ihn zu sein. Bis heute vormittag … Die Männer betrachteten bei ihren Worten eine sich rasch verbreiternde Wolkenbank. Rosi spürte, daß beide von nichts überrascht wurden, was Norberts Charakter betraf, wahrscheinlich aber von allem, was ihre Person anging. Hier hatte noch kein Mensch ihren Namen gehört. Plötzlich und unerwartet stürzte der Regenguß herab, mit Tropfen so groß wie Pfirsichkerne. Er wusch im Handumdrehen die graue Schicht von dem Bauwagen und brachte dessen angenehmes Postblau zur Geltung. Ernst sprang als erster, erstaunlich behende für seine Figur, in das Wageninnere. Mit Leberecht stand sie noch Augenblicke an der Treppe. Eine Hand brauchte jeder, um die Limonadeflasche zuzuhalten, daß nicht Brause mit Regengeschmack entstand. Sein schwarzes Haar troff. Alt und strähnig war das, ganz anders als Norberts Haare. Sein Gesicht glänzte wie ihres vom Regen. Die Sachen klatschten ihnen am Leib. Leberecht warf begehrliche Blicke auf ihre Bluse. Sie merkte das, ohne den alten Hahn ansehen zu müssen. Hielt die Stirn den Tropfen entgegen und fragte: „Was meinen Sie zu der ganzen Geschichte, Herr Leberecht?“ Der Hakennasige knurrte: „Nun, eh’ ich mich da äußere, gehen wir erst mal ’rein.“ „Hä!“ rief Leberecht plötzlich so laut, daß man erschrecken konnte. Es war ihr völlig unklar, warum Leberecht plötzlich „Hä!“ rief. Dann saßen sie zu dritt auf wackligen Steckstühlen um einen von der Wand abgeklappten Gartentisch. Es roch nach gelötetem Metall und frischem Gummi. Aus dem Dunkel des Wagens heraus betrachteten sie durch die Türöffnung den sinnlosen Fleiß der Wasserbäche auf 91
dem Asphalt, die noch immer wuschen, wo nichts mehr abzuwaschen war. Dunkel und scharf hob sich die Fassade, an der noch Leberechts Leiter lehnte, vor der graublauen Luftkulisse ab. Alles wirkte wie Filmdekoration. „Also, wie schätzen die hochweisen Professoren der Telefonie das Problem ein?“ Rosi gab sich betont fröhlich. Belanglos schien ihr die Antwort. Nur wenig drängte ihr Ton Leberecht, endlich zu reden. „Sie könnten zu mir doch offen sein. Sehen Sie – Norbert und ich, wir kennen uns schließlich ein gutes Jahr. Ich habe Ihnen nichts verheimlicht.“ Sie gab acht, daß sie bei dieser nicht völlig ehrlichen Erklärung dem Meister nicht ins Gesicht blickte. Der drehte ihr jetzt sein Buddhaface zu. Aber Roswitha wußte auch ohne Hinsehen, daß sich weder Ernsts Augen um Pfenniggröße erweiterten noch daß sich sonstwas an seiner liebenswerten Maske verändert hatte. „Ist Norbert also eine Schauspielernatur? Oder was darf ich Ihrer Meinung nach von meinem Freund halten?“ „Sind Sie vielleicht naiv!“ krächzte Leberecht. Er schlug eine seiner Schaufeln flach auf den Tisch, mit dem Handteller nach oben. Danach begann er, mit der anderen den Schmutz von den Fingernägeln der ersten gründlich zu sortieren. So, immer dieses wie Krächzen klingende Räuspern in der Stimme, gab er Roswitha eine Geschichte zum besten, die ihr Norbert nie erzählt hatte. Vielleicht hätte er sie auch später nie erzählt. Norbert, knarrte Leberecht, hatte damals gerade seinen Facharbeiterabschluß. Sie kriegten Lehrlinge auf den Bau, zwei Nasen stark. Waren nicht eben große Stützen fürs Kollektiv, die Stifte. Na ja, die Norm, das wisse sie ja. Aber auch Heranbildung von Nachwuchs muß sein. Ernst spielte Ausbilder. Norbert und er versuchten recht und schlecht die Arbeit, die anstand, trotzdem zu 92
schaffen. An dem Tag, als sich das, was er erzählen wolle, abspielte, war Ernst krank. „Stimmt’s, du hattest die Hongkong-Grippe?“ Ernst verriet mit keinem Gesichtsmuskel, ob er zuhörte oder seine Gedanken gerade durch Hongkong spazierenführte. „Klar hatte er ’ne Grippe.“ Leberecht schien mit der Umsortierung der unter den Fingernägeln seiner linken Schaufel verborgenen Schmutzanteile zufrieden. Er zählte kurz die soeben behandelten Finger durch, ob sie noch alle vorhanden waren. Dann begann er die fünf Enden seiner rechten Schaufel umzugraben und redete weiter. Also Ernst war krank geschrieben gewesen, und Norbert wurden die beiden jungen Hüpfer zugeteilt. An dem Tag hatten sie ein Freiluftkabel zu legen. Dreißig Meter Luftlinie von einem Wohnhaus zum anderen. Über drei Mauern und vier Hinterhöfe weg, mit Knick und Schwenk und dergleichen Raffinessen. Ein Lehrling trug den Spitznamen Pinkel-Oliver. Norbert hatte den Namen für den Spund selbst erfunden und sprach den Kleinen auch nur so an. Dabei wollte sich Norbert jedesmal ausschütten vor Lachen. Warum so’n Spitzname? Na ja, Pinkel-Oliver trug immer den saubersten Drillich. Jeden Montag kam er mit gebügelten Hosen, wie ein Pinkel eben. Im November war das gewesen. „Nebel und Regen, wohin das Auge blicket – wie es im Liede heißt.“ Alles, was nur ein paar Minuten im Freien blieb, wurde von dem schlierigen Regen mit einer tückischen Glitscherschicht überzogen. Pinkel-Oliver hatte seinen von Mutti frisch geplätteten Montagsanzug an. Und wollte’s der Teufel! Oliver rutschte auf der Leiter, auf der er in sechs Meter Höhe gestanden und einen Haken in die Hauswand geschlagen hatte, plötzlich ab. Der Junge fiel jedoch nicht herunter. Mit einem Ho93
senbein blieb er am Anstellhaken der Leiter hängen. Hing in der Luft und schrie Mordio. Norbert? Der schlenderte ganz langsam, sozusagen mit wachsendem Genuß, auf den Ort des sich anbahnenden Unfalls zu. Stieg die Leiter behutsam hinauf, bis zur Mitte. Danach hätte er diesen Oliver einfach von dem Haken abheben können. Doch Pustekuchen! Leberecht glaubte, er würde Gespenster sehen. Leider stand er zu weit ab, um die nun folgende Sauerei gleich im Ansatz verhindern zu können. Denn Norbert zog in aller Ruhe sein Kabelkappmesser heraus. Packte den vor Angst sprachlosen Spund um den Leib. Und schnitt Oliver – ritsch-ratsch – die feine Hose kaputt. Danach faßte er ihn wie eine Katze in Genickhöhe an der Jacke und setzte ihn auf den Boden. Lachte sich scheckig über Olivers angstweißes Gesicht und die unvermeidlichen Tränen. Lachte, bis ich ihm eins in die Fresse gegeben habe. Nein, Norbert schlug nicht zurück. Grinste bloß. In die Fresse muß man ihm eins geben, wenn sein Charakter mit ihm durchgeht. Dann wird Norbert zahm. „Denn“, schloß Leberecht, „um auf Ihre Frage zurückzukommen: Für mich ist Norbert weder ’n Feigling noch ’n Rollenschauspieler. Für mich ist der einfach ’n Schwein. Und das nicht nur wegen seiner Weibergeschichten. Wie ich’s Ihnen hoffentlich eben bewiesen habe. Der findet, sage ich Ihnen, seinen größten Spaß darin, jemanden an den Rand des Wahnsinns zu treiben. – Nehmen Sie doch bloß mal seine verstorbene Frau …“ „Die Toten laß ruhen.“ Dieser Satz von Ernst kam wie ein Fallbeil, das plötzlich von der Wagendecke herabsauste auf den wackligen Tisch. Ein Beil mit dem Klang einer tiefen Orgeltonröhre. Roswitha blickte dem Meister rasch ins Gesicht. Erstmals stellte sie fest, daß seine Züge voller Leben sein konnten. Ernst ärgerte sich so offenbar, daß man glau94
ben konnte, der Bauwagen brannte mit allem, was darin stand und lag, Litzen und Klemmen und Schrauben und Werkzeugkästen. Selbst in diesem Halbdunkel war zu erkennen, daß sein Kopf vor Zorn rot angelaufen war. Er rückte ein Stück an Rosi heran. Unter dem Druck seiner massigen Unterarme zitterte der Tisch. Er roch nach trockenem Schweiß und einem zarten Maschinenöl. Sie sah, daß Ernsts Augen blau waren. Gedämpftes Blau wie bei einer Postuniform. Ernst sagte: „Wer gern redet, dem schießen die Worte wie Nesseln ins Kraut, und da kann ein ganzes Schock tauber Blüten darunter sein. Zunächst müssen Sie wissen, daß unser junger Kollege Norbert Schadendorf den geschicktesten Facharbeiter darstellt, den die Post weit und breit bieten kann. Ja, zieh nur eine Flappe, Leberecht. Ohne Norbert wäre unsere Lohntüte vielleicht halb so fett. Zweitens hat der Kumpel wahrscheinlich ein bißchen Pech mit den Frauen. Erwischt die Falschen vielleicht. – Was weiß ich, ob Sie die Richtige sind? – Drittens wurde dem Jungen keine allzu schöne Kindheit geboten. Sie haben vielleicht von so was gehört. Leider kommt das heutzutage viel öfter vor, als man sich wünscht. Also: Eltern geschieden, bei der Mutter aufgewachsen, die Mutter hat die Sache nie ganz verkraftet, dem Sohn zuliebe auch keinen anderen Mann gewollt Na, und diese Mutter …“ Er machte mit dem Zeigefinger eine quirlende Bewegung vor seiner Stirn. „Das weiß ich längst“, fiel Roswitha dem Meister ins Wort. Sie hätte ihre schnippische Bemerkung besser bleiben lassen sollen. Denn daraufhin zog Ernst bloß die Schultern hoch und setzte sein seltsames Lächeln auf, das ihn gleich weit von ihr abrückte. Etwa in die Gegend der schneebedeckten Gipfel des Himalaja. Leberecht feixte. „Hä!“ rief er. „Wenn Sie woll’n, junge 95
Frau, werde ich Ihnen noch eine schiefe Weibergeschichte von Norbert …“ „Schnauze.“ Befahl Ernst. Der Regen hatte aufgehört, wie er begonnen hatte. Es war, als ob jemand mit einem Ruck den Schieber der Schleuse wieder zugeschoben hätte. Der Asphalt glänzte. Der Rasen glänzte. Überhaupt glänzte und schillerte alles. Rosi lief, den Bauwagen im Rücken und die Männer hinter sich, von denen wieder einer, Ernst diesmal, an der Wand hing und darauf klopfte wie ein Specht. Sie spürte einen dicken Kloß im Halse. – Wer war Norbert nun wirklich? Der aalglatte Heuchler? Der schwache, anpaßlerische Feigling? Das von Leberecht verachtete Schwein? Oder niemand von diesen dreien? Einfach der zärtliche, liebende Norbert. Ihr hatte er doch noch nie ein Leid getan. – Oder? „Hören Sie“, hatte der Meister sich doch noch zu einer kleinen Rede aufgeschwungen, als sie schon ihren Rock gerafft hatte und fast über die Stahltreppe hinweg war. „Das, was der Leberecht so herumquatscht in seinem Dusel …“ „Hä!“ krächzte Leberecht dazwischen. Der Geißelhieb seines Meisters bereitete ihm offenbar Vergnügen. „… das nehmen Sie mal nicht alles gleich wörtlich. Aber was er gesagt hat mit dem Eins-in-die-FresseGeben, merken Sie sich. Norbert braucht eine starke Hand. Hoffentlich haben Sie die.“ „Hi!“ rief Leberecht zur Abwechslung, als sie wortlos davongelaufen war. Laut, so daß sie die Bemerkung des alten Knaben noch hören konnte, rief er: „Sieh dir doch bloß ihre zarten Pfötchen an, Ernst! Die taugen nur zum Tätscheln.“
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8 Die Luft im Zimmer stand vor blauem Dunst. Norbert mußte sich Mühe geben, im Kippenberg auf dem kleinen gelben Emailleaschenbecher eine Lücke zu finden, um seine Zigarette auszudrücken. Roswithas Gesicht lag im Dunkel, manchmal schwebte der glühende Punkt davor. Bei bestimmten Gesprächen vergißt man, mit Einbruch der Nacht das Licht einzuschalten. Vielleicht unterläßt man es auch bewußt, um einander nicht in die Augen sehen zu müssen. Er hatte lange geredet, als er am späten Nachmittag wieder hierher gekommen war. Roswitha hatte ihm ausreichend Zeit gelassen, die Friedhofserlebnisse auszumalen, die er nicht erlebt hatte. Dann war sie eine Weile in die Küche hinausgegangen, und danach waren die ausgezeichnet panierten und gebratenen Schnitzel auf den Tisch gekommen. Jedes halb so groß wie seine Aktentasche. Die lehnte im Vorraum am Schrank, mit dem dunklen Anzug darin. „Schmeckt wohl nicht?“ hatte sie gefragt. „Nein, ein erstklassiges Schnitzel ist das. Bloß, du verstehst: mir bliebe heute auch ein Interhotelmenü im Halse stecken. Es liegt nicht an dir, Liebste.“ „Wie wahr“, hatte sie ihm beigepflichtet. „Es liegt tatsächlich nicht an mir.“ Dann schob sie ihr zur Hälfte verzehrtes Stück weg und brannte sich eine Zigarette an. In dem Augenblick ahnte er, was sie weiterhin sagen würde. Sie fuhr mit beinahe freundlicher Stimme fort: „An dir liegt es nämlich, daß du nichts mehr herunterkriegst. Was gab es denn bei Brigittes Eltern zum Mittagessen?“ Danach hatte Norbert ihr genügend Zeit gelassen, sich auszusprechen. Unmerklich war es darüber spät geworden. Ein leichter Abendwind fächelte die Ätherdünste aus den unteren Etagen zu ihnen herauf, wo diese sich mit dem Qualm ihrer Zigaretten friedlich vermischten. 97
„Die brutale Wahrheit …“, hatte sie öfter gesagt. Das war ein stehendes Wort, was sie immer wieder einflocht. Sie warf die Lippen auf dabei, wenn sie sagte: „Nichts hilft dir und uns jetzt mehr, als die brutale Wahrheit.“ Roswitha war also noch zu keinem klaren Entschluß gekommen, etwa einem der Art, ihn zu verstehen und seinen Charakter auszuhalten oder ihn einfach mit seinem Koffer und seiner Tasche hinauszuwerfen. Ihre Rede strotzte von Zweifeln und Fragen, obwohl sie ihre Erkenntnisse in einem Ton vortrug, den er nicht an ihr kannte. Der fiel ihr nicht allzu schwer, so sprach sie schon oft mit einer störrischen Kranken. Einige Male schien es, als sei sie am Ende ihrer langen Rede angekommen. Aber dann war ihr immer noch etwas eingefallen. Jetzt stand sie auf, lief ans Fenster. Man sah ihre hübsche kleine Figur im Profil, wie sie sich auf die Fensterbank setzte, die Beine übereinanderschlug und rauchte und etwas in der Bewegung hatte von einer wirklichen Dame. Das sah überhaupt nicht nach der Karikatur jener Lady aus, die sie auf dem Friedhof gespielt hatte. Norbert beugte sich unbewußt vor auf seinem Sessel und legte beide Hände flach auf den Tisch. Es hatte den Anschein, als würde er gleich zum Sprung ansetzen. Endlich machte Rosi Schluß, als sie, den Rauch in kleinen Stößen ausblasend, auf den Krankenhaushof herabsah und sagte: „Ich möchte also wissen, mit wem ich zusammen lebe. Bei meinen Nachbarinnen oder Kolleginnen ist es mir völlig egal, ob sie ihre Männer verprügeln oder ihre Kinder am Spieß braten. Von einem Mann jedoch, der beteuert, daß er mich liebt, und den ich, das gebe ich zu, auch liebe oder zumindest lieben will, ich weiß das seit heute vormittag selbst nicht so genau, bei diesem Mann muß ich mir sicher sein, was für ein Mensch er ist.“ Norbert erhob sich leise. Vorsichtig trat er auf, während sie noch mit abgewandtem Gesicht in den Hof 98
hinunterblickte. Stand dann in Reichweite hinter ihr. Streckte plötzlich beide Hände nach vorn. Im gleichen Moment sagte sie ruhig: „Nein, Norbert. Rühr mich bitte nicht an. Noch nicht. Erst mußt du mir verschiedenes erklären.“ Seine Arme sanken herab, als hätte man ihm auf einmal an jeden Finger eine Bleikugel gebunden. Wie Krallen fuhren die Hände ihm in die Hosentaschen. Roswitha drehte sich halb zu dem schlaksigen Schatten um, der da mitten in ihrem Zimmer stand und mit dem Kopf fast an die Decke stieß. Ihr fiel ein, daß irgendeiner ihrer früheren Freunde ihr einmal gestanden hatte, daß Männern in solchen Augenblicken die Lenden brennen wie Feuer. „Ja …“, sinnierte Norbert. Und noch einmal: „Ja …“ Das zweite Mal klang es, als ob er einen völlig neuen Einfall hätte. Er setzte sich wieder. Rosi kam langsam zurück an den Tisch, und Norbert sagte: „Du stellst eine schwere Frage, Schatz. Vielleicht ist es überhaupt die schwerste Frage, die man jemandem stellen kann. Wenn du einverstanden bist, möchte ich sie dir nicht hier beantworten.“ Er zündete sich und ihr eine an. Sie nahm die Zigarette von ihm und wartete. „Ich schlage vor, wir setzen uns jetzt in den Bus, fahren bis zur Endstelle und gehen baden. Am alten Tagebau treffen wir um diese Stunde kaum einen Menschen. Außerdem würde uns nach der Hitze ein Bad wirklich gut tun und …“ „Weich nicht aus – bitte!“ fuhr Roswitha dazwischen. „Ich weiche nicht aus“, rechtfertigte er sich sanft. „Ich will versuchen, dir dort auf deine Fragen zu antworten.“ Er sog die Luft hörbar in die Nase. „Hier ist es mir einfach zu stickig. Und zu eng. Und überhaupt … Ich brauche ein neutrales Gelände dazu! Begreif das bitte.“ „Das akzeptiere ich“, sagte sie, nachdem sie eine Weile 99
nachgedacht hatte. „Doch warum gehen wir dann nicht einfach in den Park? Weshalb willst du erst da hinaus?“ Er schwieg. „Na gut, okay. Meinetwegen. Gehen wir baden.“ Die Leute nannten den See „das Loch“. Auf den an manchen Stellen recht abschüssigen braunen Wänden, die einen kreisförmigen Kessel bildeten um das Loch, wuchsen junge Birken. Von der Straße sah und hörte man hier nichts. Nur die Sterne blinkten durchs zarte Birkengrün, das jetzt schwarzsilbern schimmerte wie alles Sichtbare in der Gegend. Schritt für Schritt tasteten sie sich auf der trockenen, steinharten Erde den Hang hinab. Norbert stieg mit einer Taschenlampe voran. Es gab Stufen, die schmal waren wie die Stiegen einer Hühnerleiter, aber auch große Absätze, über die man sich vorsichtig hinabrutschen lassen mußte. Unten fanden sie einen größeren Fleck, der mit kurzem, weichem Gras bewachsen war. Sie setzten sich und betrachteten die stumpf glänzende Wasserfläche. „Wie gut das tut, einfach frische Luft atmen. Du hattest recht, bei mir war es zu eng und zu stickig.“ „Baden wir? Oder willst du erst meine Antwort?“ „Ist mir gleich.“ „Also ist dir nach Baden.“ „Manchmal verstehst du ohne viel Worte.“ Sie zogen die Kleider aus, als hätten sie eine Wette abgeschlossen, wer zuerst damit fertig sei. Sie setzte eben zum Sprung an. Er sagte: „Warte. Du wirst dich vielleicht wundern, vielleicht auch lachen darüber. – Da ist was, das ich dir vorher sagen muß.“ „Ja, aber beeil dich. Ich fange an zu frieren.“ „Ich werde hier vorn bleiben, wo das Wasser nicht so hoch steht.“ „Erzähl bloß, daß du nicht schwimmen kannst!“ 100
„Nicht, ist zuviel gesagt. Ich gebe zu, ich traue mich nicht ins tiefere Wasser. Das Loch soll in der Mitte sechzig Meter …“ „Du spinnst. Wo gibt’s das denn heute: jemand nicht schwimmen!“ Seine Stimme klang ärgerlich. „Falls dich diese Erklärung überzeugt: Meine liebe Mama ist schuld daran. Als der Schwimmunterricht anfing damals, kriegte ich Keuchhusten und Lungenentzündung und so was. In ihrer grenzenlosen Angst, ich könnte mir wieder was holen, hat sie für mich eine Befreiung vom Schwimmen durchgesetzt. Auf anderthalb Jahre! Danach konnten alle in der Klasse schwimmen, nur ich nicht. Später versuchte ich es immer wieder, aber weit habe ich es nicht gebracht!“ „Mein Gott, das gibt’s noch!“ rief Rosi. Sie sprang ins Wasser, und ohne sich abzuspritzen, tauchte sie gleich und kraulte mit kräftigen Stößen ein paar Meter ab. Ihr Kopf erschien als mattweißer, gesichtsloser Kreis im See. Sie sprudelte und lachte. „Na, dann bleib meinetwegen vorn, Muttersöhnchen! Aber komm endlich ’rein! Und nimm mir’s nicht übel, ich brauche das tiefe Wasser!“ Schon tauchte sie wieder. Es machte ihr wenig Spaß, wenn er dort, nahe am Ufer, im Wasser herumpanschte, und sie schwamm draußen. So kam sie zurück. Norbert wollte ihr den Rücken warm reiben. Sie wehrte ab. Eine Weile sprang sie hin und her und setzte sich dann. Dabei hüllte sie sich in ihre Strickjacke. Auch er hatte sein Hemd nur lose um die Schultern gelegt. Ein Lüftchen wehte den Geruch von Kohlestaub herbei. „Dann werde ich mal versuchen, dir zu erklären, was für ein Charakter ich bin. Eigentlich könntest du dir selbst einen Reim machen auf mein Innerstes. Schließlich habe ich meine Ehe aufs Spiel gesetzt deinetwegen.“ Roswitha merkte, wie sie eine Gänsehaut bekam. „Ist das alles?“ 101
„Ich denke schon, daß es allerhand ist, was ich da geopfert habe.“ Sie fror mit einemmal erbärmlich und zog die Jacke fester. „Ahaaa! – Also die vierte Variante!“ Sie strengte sich an, ironisch zu wirken. „Nicht Variante eins – der Heuchler. Nicht Variante zwei – der Feigling. Auch nicht Variante drei – der sadistisch angehauchte Lehrlingsschreck. Nein, bei Norbert Schadendorf handelt es sich um den heldenmütigen Liebhaber, der nicht nur sich selbst für seine Angebetete opfert, sondern sogar seine Ehe. Wirfst du mir das jetzt vor?“ Er machte ein Geräusch mit den Füßen. Es war, als ob er von ihr abrücken wollte. Blieb aber, wo er saß, und meinte knapp: „Nicht dir. Mir.“ Roswitha griff nach ihren Jeans und bedeckte damit die Knie. „Ich begreife keinen Ton.“ Wie sie die Hosen gerade anziehen wollte, wurde ihr heiß. Sie warf die Jeans wieder neben sich. „Sag das noch mal, du.“ „Reg dich nicht auf, Liebste.“ „Ich rege mich auf, wann ich will! Und die Liebste laß weg.“ „In Ordnung. Ich sagte soeben, daß ich mir Vorwürfe mache, weil ich meine Ehe zerstört habe. Du darfst bitte nicht vergessen: Heute ist der Tag ihrer Trauerfeier gewesen. Falls du also meine Selbstanklage als Anklage verstanden hast, vergiß es. – Vielleicht warst du in der ganzen Affäre bloß eine Art Katalysator.“ „Eine Art – was?“ Sie fächelte sich mit den Ärmeln der Strickjacke nervös Luft an den Hals. „Ein Katalysator ist eine Substanz, die einen Prozeß lediglich beschleunigt, jedoch für den Verlauf des Prozesses selbst so wichtig ist wie das fünfte Rad am Wagen.“ „So.“ 102
Sie sah mit einem Male Regenbogenfarben zwischen den Birken da oben tanzen. Dann auch auf dem Wasser. Nachher, bei einem wütenden Seitenblick, auf seinem Gesicht. Wie Roswitha die Augen verkrampfte, krampfte sich alles in ihr zusammen. Und es wurde plötzlich warm. Höllisch warm. Unerwartet schrie er. „Verdammt noch mal, mach dir doch nichts vor! Du gibst dich leger und tolerant und modern und was weiß ich noch wie unabhängig von jeder Konvention! Aber du hast nicht die blasse Ahnung, was ein Katalysator ist, verdammt, und müßtest es als Krankenschwester besser wissen als ich. Na ja, Schwester Rosi ist eben keine Fachschwester. Und genau dort, verdammt, liegt die Ursache, daß du auf einer Station gelandet bist, nach der sich keine ordentliche Schwester reißt. Kann’s ja verstehen, daß du dafür einen Ausgleich brauchst – genau wie ich manchmal zu meinen braunen und grüngelben Litzen und dem Spießergetue von Ernst und Leberecht den ganzen Tag. Bitte, sei aber so ehrlich und sag, daß dein Ausgleich das Herumgeflatter in Bars und das Schwirren von Blüte zu Blüte, besser gesagt von Pollen zu Pollen, war. Und daß du jetzt einen Kerl hast – jünger als du, gut aussehend, gescheit –, der dich retten kann vor deinen trostlosen Männerbekanntschaften für eine Nacht! Nun verlang doch nicht noch zusätzlich von diesem Mann, daß er ein kleineres Schwein ist als du. Nimm ihn, so wie er ist. Denn als Menschen haben wir nun mal alle Dreck am Stecken.“ „Ich muß wieder ins Wasser“, sagte sie mit belegter Stimme. „Kommst du mit?“ „Sehr gern. Doch eins muß ich noch loswerden. Heute früh sah ich in dir, wie du so in der Tür standest mit dem Frühstückstablett, meine Frau Brigitte. Ich dachte, ich erblicke ein Gespenst. Jetzt weiß ich, daß diese Vor103
spiegelung gar nicht so irreal war. Daß ihr alle von dem Schlag seid, ihr. Betulich, klebrig, spießerisch. Es ist euch eine Lust, dem Mann nachzuspionieren, ihn zu beschleichen auf Schritt und Tritt. Ihn einzufangen wie die Spinne im Netz! Immer von dem Moment an, da euch der Mann sicher zu sein scheint.“ Sie warf die Jacke ab. Ihr war’s, als zerspringe etwas in ihrer Brust. Der Kopf tat weh. Sie riß sich zusammen, lachte. „Vertagen wir die Sitzung! Hui-i! Ab ins Wasser!“ Die Irisfarben flackerten. Norbert sprang ihr nach. Sicherlich war es unvorsichtig, daß er ziemlich weit hinaus sprang. Auch schwamm er tatsächlich ungeschickt, das war selbst im Finstern zu sehen. Roswitha stieß unter Wasser und faßte ihn an den Beinen. Mit einem plötzlichen Ruck hatte sie ihn im Tiefen. Vielleicht hatte der Schreck ihn gelähmt, und danach vermochte er sich nicht mehr zu wehren. Der Regenbogen hörte zu tanzen auf. Für einen Augenblick, als sie den Kopf hochriß, sah sie die Birken. Schwarz, ausgeschnitten wie auf hellem Papier und klar wie die Sterne dazwischen. Die Sterne konnten aber auch Täuschung sein. Wassertropfen vielleicht. Norbert hing reglos in ihrer linken Armbeuge. Warum lasse ich ihn nicht fallen? dachte sie. Im gleichen Moment, als sie diesen Gedanken formuliert hatte, nach Hitze- und Frostschauern und total verrückten Farbenspielen, wendete sie abrupt zum Ufer. Sie hatte es eilig, mit ihm zurückzukommen. Mechanisch arbeitete das vor Jahren Gelernte: auf den Bauch lagern, Wasser ausfließen lassen, dann erst auf den Rücken legen, die Arme auf und nieder pumpen, den Mund beatmen, vielleicht das Herz massieren. Ihr war zum Heulen zumute. Als sie Norbert auf das Wiesenstück gezogen und neben ihn hingekniet war, schrie sie vor Schreck. Denn plötzlich faßte er sie um den Leib und zog sie auf sich. 104
Seine Augen waren aus der Nähe genau zu sehen. Mitleid, Liebe vielleicht, auf jeden Fall eine ungeheure Aktivität las sie darin. Sein Ausdruck verriet, daß er die Bewußtlosigkeit nur vorgetäuscht hatte. „Norbert!“ „Hast du nun deine Antwort?“ „Mein Gott – was für eine …“ „Was für ein Mensch jemand wirklich ist. Zum Beispiel ich. Zum Beispiel du. – Du hattest doch eben einen Moment lang Lust, mich umzubringen, nicht wahr?“ „Nein“, protestierte sie schwach. „Nein, das könnte ich nicht …“ Er hielt sie fest, als ob davon sonstwas abhinge für ihn. Sein Arm, mit dem er sie auf sich drückte, war wie ein eiserner Ring. Die freie Hand strich ihr das nasse Haar aus dem Gesicht. Als sie nebeneinander saßen – er ließ sie plötzlich los, und sie zogen sich ihre Kleider noch schneller über, als sie sich ihrer vorhin entledigt hatten –, als sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte, wozu sie sehr schief sitzen mußte, sagte Rosi: „Ich habe bloß zwei kurze Fragen.“ „Frag, was du willst, Liebste.“ „Du hast mich in Wut bringen wollen, nicht? Ich meine, ist das mit dem Katalysator und was du sonst so von mir denkst – ist das deine echte Meinung?“ Er lachte herzhaft. „Schätzchen, verstehst du keinen Spaß?“ Sie wartete einen Augenblick, ehe sie die zweite Frage stellte. „War es – mit deiner Frau genauso?“ „Natürlich nicht“, antwortete er. Er zog bedächtig zwei Zigaretten aus der Schachtel. Brannte beide an. „Danke“, sagte sie, als er ihr die Zigarette reichte. Und dann: „Ich weiß nicht, wer …“ Der Satz blieb in der Luft hängen. „Wer ich bin?“ half er freundlich. 105
„… wer ich bin“, vollendete Rosi leise. Am oberen Kesselrand hörte man ein Geräusch von kräftigen Schritten. Sie sahen den Schein einer starken Taschenlampe über den See huschen. Als die unerwarteten Besucher näher kamen, schwenkte der Schein über ihre Gesichter. Sie mußten kurz die Augen schließen. Der kleinere der Männer stellte sich als Angehöriger der Polizei vor, was völlig unnötig war. Man sah es an den Uniformen. „Wir haben einen Schrei gehört“, erklärte er. Sie rochen, als ob sie lange auf einem Motorrad mit leicht ramponiertem Tank gesessen hatten. Der jüngere trug ein Funkgerät. Sie wirkten wie die blanken Golems auf dem Plateau über ihnen. Die übliche Aufforderung folgte. Norbert und Roswitha fischten ihre Ausweise heraus. „Herr Schadendorf“, sagte der erste, „Sie wissen, daß baden in diesem See verboten ist.“ Bei der Polizei hielt man sich nach wie vor noch an das Patriarchat. Immer wurde der Herr zuerst angesprochen. Um so größere Laune machte es Rosi, für Norbert zu antworten. „Sehen Sie uns etwa baden?“ fragte Roswitha. Den Heimweg im Bus verkürzten ihnen die Witzeleien, die jeder wußte. Keine Häschen-, Elefanten- oder Ostfriesenwitze. Sondern alle aus jener bestimmten Kategorie, die gerade stark in Mode war.
9 Am zweiten September kam die Karte der Eltern. Vorn Fachwerkhäuser, ein braunes, gelbes, rotes und ein knochenweiß angepinseltes, rund um den Namen des Feriendorfes im Harz gruppiert. Hinten Vaters steile 106
Schreibschrift, die wie gedruckt aussah, schwarzer Kugelschreiber und viel Licht zwischen den Buchstaben. Rosi erhielt die Post auf Station. Oberschwester Hilda reichte sie ihr mit der Bemerkung. „Aber verfallen Sie mir ja nicht selbst in Urlaubsträume. Wir brauchen zur Zeit jede Kraft.“ Sie ließ die Karte ungelesen in die Kitteltasche rutschen und beruhigte die Oberin: „Norbert kann sowieso nicht vor Mitte September Urlaub feiern. Sie müssen erst mit einem größeren Telefonnetz zu Ende kommen. In den Neubauten, Oberschwester.“ „Ja, Arbeit“, meinte Hilda mit wichtigtuerischer Fröhlichkeit, „ist das halbe Leben. – Sehen Sie doch öfter mal in Saal vier. Frau Gelberg fühlt sich heute ein bißchen seltsam. Und vergessen Sie nicht die Werte für die Große Visite.“ Erst in ihrem Zimmer kam sie dazu, die Grüße der Eltern zu lesen. „… und teilen wir Dir mit“, schrieb der Vater, „daß unser schöner Urlaub wieder am 3. (d. M.) zu Ende geht und wir vorhaben, Dich auf der Durchreise zu besuchen. Wie ich errechnet habe, müßtest Du am besagten Tag Frühschicht arbeiten. Also laden wir uns bei dir zum Kaffeeklatsch ein! Herzlich grüßen und küssen Dich die Obigen.“ … am 3. d. M … . wie ich errechnet habe … die Obigen. Das war Vater. Als Roswitha die Karte aufs Radio legte und den Schlager mitsummte, den der Kasten gerade dudelte, war ihr klar, daß sie zum ersten Mal auf den Besuch ihrer alten Herrschaften gespannt war. Norbert kam gegen fünf von der Arbeit. Sie teilte ihm die Neuigkeit schonend mit, als müsse sie sich für ihre Eltern entschuldigen. Er küßte sie. „Das sieht doch ein Blinder bei Nacht“, meinte er, „was du wirklich empfindest. Deine braven 107
Leutchen vom Lande sollen staunen, daß du endlich ein festes Verhältnis hast.“ „Haben wir denn ein – festes Verhältnis?“ Sie lachte leise. Am anderen Tag kam er früher zurück und spielte das Spiel: ein frisches Hemd anziehen und, wenn schon nicht den ganzen guten Anzug, so doch die Hose desselben tragen. Als Roswitha das teure Stück aus dem Schrank zog, tastete sie unwillkürlich nach dem Riß im Innenfutter. Was soll das Fischen im trüben, sagte sie sich. Was soll mir seine Ehe und die ganze dunkle Vergangenheit! Einzig wichtig ist, wie man sich jetzt fühlt und daß jeder Augenblick, den man gerade durchlebt, der schönste ist. Sie hängte Norberts Jackett rasch wieder in die hinterste Ecke, drückte die Tür energisch zu und stellte das Radio laut. Dann begann sie die Hose zu bügeln. Währenddessen lief er im weißen Hemd mit Unterhosen herum und wischte Staub. Er wedelte auch sie mit dem Staublappen ab. Sie lachten und umarmten sich und wären gern auf die Liege gegangen. Doch sie wand sich aus seiner Umarmung. „Meine Eltern sind pünktlich, paß bloß auf! Die erscheinen genau zur mitteldeutschen Kaffeestunde!“ Punkt sechzehn Uhr klopfte es. Die Mutter, frisch frisiert, steckte gleich darauf ihren Kopf durch den Türspalt und tappte einen vorsichtigen Schritt herein, benahm sich überhaupt wie Weihnachten. Vater, etwas grauer geworden, folgte mit Würde. Über ein Jahr waren die beiden nicht dagewesen. Dann rollte das Programm wie erwartet ab, so freundlich und gestelzt und reizlos, daß man auch nebeneinander hätte einschlafen können. Es wurde ein ungeheuer beruhigender Nachmittag für alle Beteiligten, und das Erfreulichste für Rosi und Norbert rückte immer näher: Der Anschlußzug ging kurz nach sechs. 108
Roswitha begleitete ihre Besucher allein hinunter. Im Fahrstuhl betätschelte Mutter ihr das Gesicht und drückte sie an ihre frisch gestärkte Bluse. Dann flüsterte sie erregt: „Du, Röschen, ich denk’ schon – da hast du dir genau den Richtigen geangelt!“ Der Vater studierte die Metalltafel mit der Fahrstuhlordnung und fragte plötzlich: „Warum wohnt ihr eigentlich nicht schon bei ihm?“ Die Mutter machte zwar, wie üblich, wenn er seinen nüchternen Ton anschlug, erschrockene Augen. Doch pflichtete sie Vater eilig bei: „Ja, zieht nur schleunigst um, Röschen! Bei dir ist es doch zu beengt für zwei.“ Als verrate sie der Tochter ihren sehnlichsten Geburtstagswunsch, wisperte sie in Roswithas Ohr: „Oder gar, wenn ihr mal drei werdet …“ Roswitha war froh, als der Lift hielt und sie sich eine Zeitlang mit dem Öffnen und Schließen der Gitter und Türen beschäftigen konnte. Wie sollte sie ihren Leuten erklären, was für sie und Norbert die selbstverständlichste Sache der Welt schien? Sie hatten den hinteren Fahrstuhl benutzt und liefen jetzt über den Hof zum gegenüberliegenden Trakt, in dem der Ausgang lag. Vaters Worte knallten, obwohl er sie nicht sonderlich laut sprach, wie die Spitze eines imaginären Spazierstöckchens aufs Pflaster, als er feststellte: „Ihr vertretet also den Standpunkt dieser modernen Lebensgemeinschaften: Du hast deins, ich hab’ meins. Sobald wir uns streiten, zieht jeder auf kurz oder lang in die eigene Bude. Diesen Standpunkt werde ich, wie du dir sicher lebhaft vorstellen kannst, niemals billigen. Aber dann liegt mir noch etwas auf der Seele, mein Kind.“ Sie hatten den Hof überschritten und liefen nun unter Neonröhren, die mit vereinten Kräften nach einem Elektriker schrien, an einer Flucht von Ambulanztüren vorbei. Ab und an begegnete ihnen der blaue Ölfarbe109
pfeil an der Wand, und darunter las man jedesmal das Wort AUSGANG. „Werner! Dein Ton vermiest einem aber ganz schön die Stimmung“, tadelte Mutter. Vater fuhr fort: „Ich bin nicht derselben Meinung wie deine Mutter. Mir gefällt dieser junge Mann nicht. – Ich hatte mal einen Kriegskameraden, weißt du …“ Die Mutter hielt ihm andeutungsweise mit beiden Händen den Mund zu. „Jetzt ist’s aber wirklich genug, Werni! Laß doch die jungen Leute ihr Glück selbst gestalten.“ Sie stiegen die Treppe zum Ausgang hinab. Hellmeier äugte herauf aus dem Pfortenfenster. In der Urlaubssaison fuhr der Invalide offenbar alle drei Schichten. Der Vater visierte den aufmerksam blickenden Pförtner an. Danach schickte er Mutter ein entschuldigendes Lächeln herüber und sagte mit gedämpfter Stimme: „Rochner meine ich, Horst Rochner. Der war immer smart, immer aalglatt, immer höflich, ob im Krieg oder später, im Freien. Der kam überall durch mit seiner brillierenden Art und war doch das größte Schwein, wie du weißt. An den erinnerte ich mich angesichts deines, ehem, neuen Freundes, Röschen.“ „Nicht doch“, zischte die Mutter. „Nicht vor den Leuten!“ Und sie warf Hellmeier fast gleichzeitig ein herzliches „Auf Wiedersehen“ in sein Fenster hinunter. Draußen, als die Glastür hinter ihnen einschnappte, drückte sie Roswitha noch einmal an ihre Seidenspitzen: „Du weißt ja, Vater sieht allerwege bloß die Löcher im Käse. Laß dich nicht bange machen, Kleine. – Dein Norbert liebt dich doch ehrlich?“ „Das ist aber auch eine Frage“, antwortete Roswitha trocken. Gleich darauf setzten die Abschiedsküsse ein und das Noch-eine-Weile-von-der-Tür-aus-Winken. Endlich das Aufatmenkönnen. Sie rannte, immer drei Stufen auf ein110
mal nehmend, an Hellmeier vorbei. Dem Fahrstuhl hätte sie am liebsten einen Tritt gegeben, daß er schneller hinauffuhr. Sie begnügte sich damit, zwischen jedem Stockwerk kräftig gegen die Tür zu treten. Das war ein beliebter Spaß, weil die Erschütterungen des alten verbeulten Metalls wie ein Artilleriefeuerwerk durchs Treppenhaus hallten und somit garantiert der Ermunterung des gesamten diensthabenden Personals und zahlreicher sich gerade langweilender Patienten dienten. Oben, als sie die Tür aufstieß, stand Norbert. Er sah phantastisch aus, und in seinen braunen Augen war ein weicher Glanz. „Ich dachte, du wärest steckengeblieben.“ „Wäre ich auch fast, im Mief meiner Eltern“, sagte sie und sank in seine Arme. Es stimmte schon: Man mußte seine Vergangenheit weit von sich schieben wie ein zu kurz gewordenes Hemd und den Augenblick, wie er so einzigartig und schön nie wieder kam, in vollen Zügen genießen. Die Faradaystraße erreichte man nach einer guten Viertelstunde Fahrt in Richtung Nordvorstadt. Wie viele der alten Straßen, die nach beiden Seiten von der Hauptstrecke abgingen, auf der die Straßenbahn lange landauswärts fuhr, bildete die Faradaystraße eine großstädtisch breite, nichtsdestoweniger schmutzige Mietskasernenflucht, deren Häuser da und dort Verzierungen im Jugendstil trugen. Bis vor kurzem, berichtete Norbert, hatten hier noch die Gaslaternen mit den Gendarmenhelmen als Kopfdeckel gebrannt, natürlich nicht mit Gas, sondern elektrisch betrieben. Jetzt säumten alle fünfzehn Meter weiße Kästen, auf Betonstäbe gepfropft, die Bordsteinkanten. Vor der Nummer 14 blieben sie stehen. Während Norbert umständlich seinen Hausschlüssel suchte, fand Rosi Zeit, die beiden steinernen Mädchengesichter zwischen 111
Hochparterre und erstem Stock zu bewundern. Das Wetter hatte den Schönen arg mitgespielt. Besonders der Ausdruck des links über der Tür hervortretenden Porträts wirkte wie das Abbild einer Wahnsinnigen. Ihr Gesicht war zu einem unergründlichen Feixen erstarrt, das im Seitenlicht der Straßenlaterne etwas Heimtückisches oder auch besserwisserisch Drohendes erhielt. Die vom Regen zerfressenen Sandsteinlippen schienen eindringlich zu flüstern: Tritt ja nicht ein. Im übrigen roch die Straße jetzt, kurz vor Beginn der Nacht, nach den chemischen Dünsten, die an schwülen Abenden aus der nächstgelegenen kleinen Industriestadt im Norden hierherzogen, also nach Fischlauge. Endlich hatte Norbert aufgeschlossen. Die dunkelgrüne Holztür mit den Fenstergittern kreischte nicht erwartungsgemäß in den Angeln. Ein Griff nach links – schlagartig wurde beiderseits vor den marmorierten Stufen eine bonbonbunte Gipsmalerei lebendig. Schwäne und Elfen und Amorgestalten. Auch ornamentale Palmen, schon im Abblättern begriffen, alles von einem mit fingerdickem Staub belegten Stuckrahmen umflochten. Sie stiegen hoch. Das Geländer war echt, ebenso die Treppen, sie knarrten bei jedem Schritt. Manche ächzten noch einmal, wenn man den Fuß schon wieder von ihnen gehoben hatte. Die Hausbeleuchtung bestand aus weißen Kugellampen, wie sie im Krankenhaus auf allen Klos hingen. Norbert, wußte sie schon, wohnte im zweiten Stock. Sie war gespannt, als schliche sie mit einem fremden Mann das Haus hinauf, und es dauerte ihr zu lange, bis er den Wohnungsschlüssel fand. Auf einem Keramikschildchen, chinesisch weißes Oval mit zartgelben Röschen umkränzt, stand nicht etwa bloß sein Nachname. Da schwang sich höchstromantisch in grünen Buchstaben die Aufschrift: „B & N Schadendorf“. „Jaja“, flüsterte er, als er merkte, wie sie das Schild bestaunte. 112
Es war nicht gerade viel Kommentar seinerseits, aber es reichte. Als das Sicherheitsschloß klickte, hielt sie seine Hand, die sich eben zur Klinke bewegte. „Bereust du unseren Ausflug?“ „Schatz“, sagte Norbert. „Es war sowieso an der Zeit, dir diese Bude mal vorzustellen. Deinen Trick“ – er strich ihr flüchtig übers Haar –, „wegen meiner Wäsche hierherzutraben, habe ich doch schon im Ansatz durchschaut.“ Sie küßte ihn erregt. „Mein Gott, sind wir Weiber ein neugieriges Volk“, flüsterte sie. Er stieß die Tür, die klemmte nun wirklich, mit dem Knie auf. Eine altrussisch nachempfundene Ampel beleuchtete den kurzen Flur. Die Farbe der zwiebelförmigen Lichtbecherchen erinnerte an grüne Gemüsesülze mit kleingeschnittenen Möhren darin. Rosi sah gleich den schreiend roten Sommermantel an der Spiegelgarderobe. Viel Farbe und viel Stoff und ein legerer Gürtel, der den Läufer fast streifte, der Mantel eines Mannequins. Oder einer Friseuse eben. Norbert ging ihr voran in ein, der Wohnungstür gerade gegenüberliegendes Zimmer, dessen gelbe Glastür angelehnt stand. Wie man gleich sehen konnte, handelte es sich um die Wohnstube der Schadendorfs. Schrankwand und Rauhfaser und über der behaglichen Sitzecke Effekttapete aus schwarzweißem Velours. „Nimm Platz – oder willst du erst die Räumlichkeiten kennenlernen?“ Angefangen beim Tapetenmuster über das Bild im bronzierten Plastrahmen, das auf dem Fernseher stand – Brigitte blickte mondän über eine halb entblößte Schulter –, bis zu einem überdimensionalen Nähkästchen und den mundgeblasenen Glasfigürchen in der Schrankwand trug das Wohnzimmer total femininen Charakter. Nichts deutete darauf hin, daß auch er einmal hier gewohnt hatte. 113
Sie sah sich um und fragte: „Besitzt du ein eigenes Zimmer?“ Er hatte sich, offenbar gewohnheitsgemäß, in die Ecke der Couch gepflanzt. Blickte sie von unten her verwundert an. Schüttelte dann den Kopf und lachte. „Wo denkst du hin? Hier gibt es nur noch das Schlafzimmer. Außerdem Küche, Bad und eine Abstellkammer! Komm, ich zeige dir alles.“ Er lief voran und öffnete die Türen weit und schaltete in den genannten Räumen, außer in der Abstellkammer, das Licht ein. Sie folgte und bemerkte nun auch diesen Spiegelrahmen aus Goldgips und daß die eine Wand im Korridor mit einem zarten grünen Rüschenstoff bespannt war. Ein winziger Bildblock neben der Garderobe, an der als einziges Kleidungsstück der rote Mantel baumelte, zeigte das unerläßliche Schokoladenmädchen. Überallhin folgte Rosi zögernd, obwohl er die Vorstellung leicht spielte, wie ein Berater für Wohnungseinrichtungen etwa oder ein professioneller Denkmalserklärer. Im Bad hielt sich noch der Duft von Apfelseife und Apfelschaumbad und Apfelspray. Eigentlich hatte sie seiner Frau Creme de Mouson zugetraut. Solche Frauen nahmen gern Creme de Mouson. Brigittes Sinn für natürlichen Geruch verblüffte sie. Rosi nahm sich vor, selbst niemals mehr Apfelseife zu benutzen. Das beschäftigte sie nebenher, und daß er ihr wie ein Fremdenführer die eigene Wohnung zeigte, beruhigte sie. Doch es gab auch ein paar kleine Beobachtungen am Rande, die sie aufregten. Wenn es in jener Nacht, überlegte sie, stark geregnet hatte – und es hatte Bindfäden geregnet die ganze Nacht lang! –, warum nahm seine Frau dann nicht den Knirps mit? Das superzierliche, mit schwarzroten Arabesken verzierte Exemplar schlummerte friedlich in seiner Hülle auf dem Kästchen der Flurgarderobe. Wahrscheinlich 114
träumte es einen Wunschtraum, in dem immerzu Regen fiel. „Ist das euer einziger Schirm gewesen?“ fragte sie. Lachte dabei, um der Frage den Anschein von Harmlosigkeit zu geben. „Ich hab’ im Leben nie einen Schirm gebraucht“, antwortete er. „Und das hier, verehrter Gast, ist eine Küche! Zwanzigstes Jahrhundert, Sprelacartstil, äußerst gepflegt, daher neuwertig …“ In der braunen Emailleglasur des Herdes konnte man sich beinahe so gut spiegeln wie in der Plastbeschichtung des Küchenbüfetts. Sie öffnete eine Tür. Da standen alle Tassen in Reih und Glied, mit scharf nach der Fensterseite ausgerichteten Henkeln. Ohne eine bestimmte Absicht zog Roswitha das Besteckfach auf. Hier lagen, wie Soldaten geordnet, Messer und Gabeln und große und kleine Löffel am richtigen Platz. Von jeder Sorte sechs. Am Schuhregal in der Nische zwischen Flur und Schlafzimmer schob er im Vorbeigehen den rosa Vorhang zurück. „Ich zeige dir“, erklärte er, „nicht nur das Große, Ganze. Denn ich nehme an, du interessiert dich auch für die kleinen Dinge des Lebens.“ „Frauen immer“, gab sie seine Belehrung zurück. Alle seine Schuhe bis auf die zwei Paar, das eine, das er trug, und das andere Paar, das bei ihr im Appartement stand, fanden sich in tadellosem Nebeneinander und auf Hochglanz geputzt vor. Auch die beiden oberen Bretter waren besetzt, randvoll sogar, mit Brigittes Schuhen. Roswitha mußte lächeln: Frauenschuhe, geordnet nach Sommer, Frühling, Herbst und Winter. Und auch er mußte in die gleichen, sorgsam geplanten Fußtapfen treten … Im Flur wippte der rote Mantel gegen ihre Wange. Sie zuckte instinktiv zurück. Halt! Warum ließ sie den Mantel hängen? War sie im Kleid oder etwa in Rock und Bluse in die Nacht hinausgelaufen? – Ohne Schirm! 115
Vor dem geöffneten Kleiderschrank im Schlafzimmer, den ihr Norbert unbedingt zeigen wollte, ging Rosi noch einmal der Regen in jener Nacht durch den Kopf. „Hat deine Frau“, fragte sie im verächtlichsten Ton der Welt, „nur diese beiden Sommermäntel besessen?“ Sie tippte die modischen Stücke an, die neben dem Kaninchenpelz hingen. „Na, noch die rote Kutte im Korridor“, antwortete er. Er wurde stutzig. „Heh – wofür interessiert du dich eigentlich? Wie viele Mäntel besitzt du denn?“ Roswitha legte ihm die Hände auf die Schultern und schmiegte sich an ihn. „Ich interessiere mich eigentlich nur für dich.“ „Das bemerke ich freilich die ganze Zeit.“ Er küßte sie lange auf den Mund. Sie standen vor den Ehebetten. Eine himmelblaue gesteppte Decke war lässig über beide Betten gezogen. Ganz offensichtlich nachträglich von ihm, als er kurz hierherkam, frische Wäsche zu holen. Nie hätte dieser Ordnungsteufel von Frau das Bett so hinterlassen. Der Mantel … der Schirm … das Bett … War es vielleicht ein hastiger Aufbruch gewesen? Eine Jagd aus der Ehegruft heraus und durch die Wohnung? Dann auf die Straße? Hatte Norbert nicht alles erzählt? Schlug er sie? Mein Gott, es war doch im Grunde egal. Tätlichkeiten kamen in den besten Ehen vor. Sicher schämte er sich. Dabei war es Brigitte, die seine Nerven nicht nur schlug, sondern jahrelang als eine Art Trampolin betrachtete … „Komm!“ Sie zog ihn am Arm. „Gehn wir ins Wohnzimmer. Trinken wir was. Hast du überhaupt was da zum Trinken?“ Als sie auf dem bequemen Couchteil der Sitzgruppe saß, ihr patiniertes Feuerzeug herausnahm, eine Zigarette anbrannte und Norbert in der Küche mit Gläsern und Korkenzieher rumoren hörte, beschloß Roswitha, nun116
mehr endgültig und felsenfest, etwas für ihr weiteres Leben sehr Wichtiges. Schluß, sagte sie sich, mit der Grübelei. Wirklich ein dicker Strich unter alles, was in seiner Ehe geschehen sein mag. Ich habe diesen Ausflug in die Vergangenheit gewollt. Vaters Worte haben mich angeheizt. Wie ein Stachel war das in mir die letzten Tage. Nur Bescheid wollte ich wissen, wie Norberts Ehekatakombe ausgesehen hat. Nun weiß ich es. Und gut. Vielleicht, mein lieber Freund, hast du deine Brigitte geschlagen. Aber sie ist dir mit ihrem Fummeltick auf die Nerven gegangen, leise und eiskalt oder auch laut, hysterisch, brutal. Der springende Punkt aber ist der, daß ich eine andere bin. Nicht so ein Fummelchen wie diese Friseuse. Sie betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Bild auf dem Fernsehapparat. Wie gestellt das Lächeln wirkte. Bei bestimmten Personen erreicht selbst ein Fotograf mit hypnotischen Fähigkeiten nicht, daß sie natürlich in die Kamera blicken. Bei so einer bleiben einem normalen Mann nur zwei Chancen. Entweder er wird zum Hausinventar, so etwas ähnliches wie ein Stoffhund vielleicht. Oder er bricht aus. Niemals würde ich Norbert derart einstoffen. Ihm nichts Eigenes lassen in unserem Zuhause. Ein Mann muß sich irgendwohin zurückziehen können daheim, in eine Ecke zumindest, die nicht nach seiner Ehefrau riecht. „Unausdenkbar!“ sagte sie halblaut. Er stand in diesem Augenblick mit zwei gefüllten Weingläsern in der Tür. „Führst du neuerdings Selbstgespräche, Schatz?“ Sie nahm ihm die Gläser ab. Stellte sie auf den Tisch. „Eben ist mir völlig bewußt geworden, daß ich meines Lebens sicher bin!“ „Deines – Lebens? Wie meinst du das, Schatz?“ „Na, vor dir, Liebster! Du wirst mir niemals eine runterhauen. Einfach, weil ich viel zu schlampig bin!“ 117
Er setzte sich sehr langsam. „Ich verstehe deine Bemerkung absolut nicht.“ „Brauchst du auch nicht. – Prost!“ Als er das Glas absetzte, staunte sie kurz, wie er den Fuß unten abwischte und dann ihr Glas nahm und das gleiche tat und dieser Klubtisch in einer Wohnung, in der er sich wie ein Fremdenführer bewegt hatte, ihm doch offenbar etwas Wert war. Was sie tranken, schmeckte wie Tokayer Furmint. „Hast du Musik?“ fragte sie. „Zieh’n wir die Couch aus“, sagte er. „Genießen wir die einzig vernünftige Popgruppe dieses Landes.“ „Karat?“ fragte sie. „Wer sonst“, sagte er in tadelndem Ton und lief zum Fernsehschrank, in dessen Unterteil der Plattenspieler eingelassen war. Er blätterte in Hüllen. Flüchtig erkannte sie Pop und Klassik, auch Jazz. Keine böhmische Blasmusik oder Thüringer Edelroller, wie sie vermutet hatte. Es war dasselbe wie mit der Apfelseife. Danach lagen sie nebeneinander, nur ihre Hände berührten sich. Das Licht hatte er bis auf die blaue Fernsehlampe abgeschaltet. Fünfzehn Watt und darüber ein Stoffschirm. In die Plüschtroddeln war ein Metallstreifen eingezogen, der glänzte. Das Foto stand daneben: Brigitte starrte über die nackte Schulter hinweg ins Zimmer. Sie lauschten der Orgel von Swillms, die wirkliche Kunst war und gekonnter Kitsch, perfekte Effekthascherei und schlichte Schönheit zugleich. Und vergaßen Zimmer und Stunde und den anderen neben sich und vielleicht auch sich selbst. Denn Karat spielte das Lied vom Vogel der Freiheit, dem König der Meere. Also der Vogel, der um die Erde fliegt, vom Südpol zum Nordpol, der Albatros, der keine Grenzen kennt … „Ich nehme dich mit“, sagte Norbert. „Wenn ich mal zur See fahre. Ich hab’ diesen Traum schon als Junge ge118
habt: weit fahren, weit fliegen, überhaupt weit herumkommen.“ „Sie brauchen auf großen Schiffen immer eine Krankenschwester.“ „Natürlich. Und ich versteh’ eine Unmenge von Elektronik.“ Er setzte sich unvermittelt auf. „Entschuldige – etwas habe ich dir in dieser Wohnung ja vorenthalten!“ „Die Abstellkammer? Ach, laß. Träumen wir lieber von unserer Zukunft auf See …“ „Klar, die Abstellkammer! Oder zumindest der Schatz, den ich darin vergraben habe!“ Er drehte das Deckenlicht an. Dann lief er hinaus wie ein aufgeregter Schuljunge. Man hörte etwas rascheln und leise klirren. Er kehrte zurück mit einem faustgroßen Ding, das militärgrün bemalt war und aussah wie eine Spielzeugschildkröte. Dazu noch eine sichtlich selbst gebaute schwarze Kiste aus Plast, die einem Taschenrechner ähnlich sah. Behutsam setzte Norbert die Schildkröte vor ihre Füße. Er selbst ließ sich wieder neben ihr nieder, das taschenrechnerförmige Ding in der Hand. „Sag vorwärts, rückwärts, rechts oder links. Diese vier Worte versteht sie“, forderte er Rosi auf. Sie blickte ihn ungläubig an. Aber er hielt ihr die schwarze Kiste schon vor die Lippen, und sie sprach in die kleine Membran aufs Geratewohl: „Rückwärts.“ Die Schildkröte kroch unter die Couch. Das sah verblüffend lebendig aus, so daß sie leise aufschrie und instinktiv die Knie anzog. Er lachte sich halb kaputt. „Jetzt befiehl ihr was anderes!“ „Links“, sagte Rosi. Es rasselte unter der Couch, und nach einer Weile steckte das Ding seinen Kopf wieder hervor und lief schnurstracks im Wackelschritt auf die Wand zu. Davor stand es still, schien zu zögern und schabte danach klirrend an der Wand entlang. 119
„Hindernisse erkennt sie“, rief er. „Und umgeht sie geschickt!“ Das also war sein Eigenes gewesen, hier, die kybernetische Schildkröte in der Abstellkammer. Während er nun, verliebt in den Spaß, selbst Befehle erteilte und dazwischen immer, ohne den Blick von seinem Spielzeug zu lösen, rief: „Sieh nur! Wie sie reagiert!“, nahm sie plötzlich seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn auf die Stirn. „Du sollst“, sagte Roswitha, während sie seine Wangen streichelte, „ein ganzes Zimmer haben für deine Technik. Später – auf unserem Schiff.“ Schön mußte das Leben mit ihm sein, und der Wunsch ihrer Mutter nach einem Enkelkind erschien ihr jetzt völlig normal. Sie – und er – und ein Kind – und das spielte mit Norberts kybernetischer Schildkröte … Später zogen sie sich aus zum Schlafen. Keiner sprach den Gedanken aus, die bequemen Ehebetten zu nutzen.
10 Irgendwas lag in der Luft. Wenn man nur genau gewußt hätte, was! Vor einer Woche war das Faktotum des Wohnheims, die alte Barbara, gestorben. Seitdem standen zwei Zimmer leer, und auf dem Schwesterngang schlug der Tratsch Wellen, kleinere und größere, gewispert wurde und manchmal geschrien, Türen knallten. Beinahe jede erhob Anspruch auf das durch Barbaras Tod frei gewordene geräumigere Quartier und brachte ihre Gründe an. Das ging den ganzen Tag und kam auch nachts nicht zur Ruhe. Der Kalender zeigte Mitte Oktober. Noch blieb es erstaunlich warm. Das beste wäre gewesen, für eine Woche in die Herbstwälder zu verduften, von denen das 120
Schwarzrot und Nankinggelb der Blätter im Park nur eine dünne Vorahnung gaben. Doch obwohl Norbert sein letztes Telefon im Neubau angeschlossen hatte und jetzt Urlaub nehmen konnte, mußte Roswitha die Oberschwester vertreten. Denn Hilda, sonst eisern und unbeugsam wie eine verzinkte Wetterfahne, hatte sich samt einigen Nierensteinen auf die innere Station gelegt. Der Streß, spürten sie beide, konnte alle Augenblicke zu einer Gefahr für ihre Liebe werden. Noch nie hatten sie das Zimmer unter dem Dach und das Campieren auf einer Liege so drückend empfunden. Beide atmeten auf, als es eines Tages hieß, Hilda werde im Lauf der Woche wieder das Regiment auf der Radiologie übernehmen. Mit ein paar chemisch zerstörten und einer Handvoll gegen alle Pulver gefeiten Fremdkörper in der Niere. Operieren ließ sie sich nicht. Endlich konnten Rosi und Norbert auf baldigen Urlaub hoffen, ihren ersten gemeinsamen. Am frühen Nachmittag stand Roswitha an einem der mittleren Herde in der Gemeinschaftsküche. Sie summte vor sich hin und wendete den Braten in der Pfanne. Links neben ihr wartete Katrin, daß ihr Tortenboden fertig werde. Auf der Fensterseite briet sich Gesine ein Steak. Die Mädchen unterhielten sich quer über Rosis Kopf. In einem Taubenschlag von derselben Größe, die alle Appartements auf dem neuen Flur maßen, lebte Katrin mit ihrem Baby. Tom, ihr Verlobter, teilte das schmale Zuhause. Und zu allem Überfluß erwartete Katrin ein zweites Kind. „Der Hausdrachen“, rief Katrin munter, „hat heute endlich seinen Rachen aufgetan!“ Gemeint war Hausoberschwester Lotte, die Rundliche, deren plötzliches Erscheinen jedes Mädchen fürchtete, besonders bei unangemeldeten Herrenbesuchen. Lotte besaß für alle Zimmer einen zweiten Schlüssel. Für resolute Schwestern, die nicht gleich vor ihr zitterten, 121
wie Rosi oder Katrin, hatte sie allerdings eine Schwäche. Weil Katrin außerdem, im Gegensatz zu Roswitha, wenig aus ihrem blassen, sommersprossigen Äußeren machte und auch selten in ruhestörende Feste verstrickt gewesen war, mochte die Oberin sie um so mehr. „Was du nicht sagst!“ rief Gesine zurück. „Du bist also der Glückspilz? Gerecht! sage ich da. Endlich mal haben die da oben gerecht entschieden!“ Es klang nicht ganz ehrlich, denn auch Gesine hatte mit Barbaras Appartement gerechnet. Sie hatte ihre zahlreichen Überstunden auf die Waagschale geworfen. Katrin lächelte zufrieden. „Aber lange genug hat’s gedauert! Es war schon eine Schande, daß die Alte jahrelang so viel Wohnraum blockiert hat. Mein Gott, wenn ich daran denke, wie ich den Gestank von Kräutertee aus den Zimmern herauskriegen soll …“ Gesine schwieg dazu. Sie drehte ihr Steak im Tiegel. Plötzlich bemerkte sie in einem völlig anderen Ton: „Aber die können mir ’n Buckel raufsteigen! ’rauf und ’runter – jawohl! Keine Stunde mehr als nötig für diese Ausbeuter!“ „Was hast du bloß, Gesine?“ In Katrins Frage schwang leise, aber unüberhörbar Schadenfreude mit. Da hielt Rosi ihre Rolle als unbeteiligte Zuhörerin nicht mehr durch. „Schluß!“ rief sie dazwischen. Sie knallte mit der Gabel auf den Herd. „Jetzt ist endlich Schluß. Wie ihr über eine Tote redet! Katrin! Hast du total vergessen, wie du die alte Barbara gebraucht hast, als dein erstes Baby kam? Dazu war sie dir doch gut genug! Oder etwa nicht?“ Katrin versteifte sichtlich. Sie kniff die Lippen zusammen. Sie bückte sich und sah in die Backröhre und zog mit eckigen Bewegungen den Tortenboden heraus. Unerwartet antwortete vom Fenster her Gesine: „Ach, Rosilein, du Liebe. Du Genügsame und Getreue. Du hast ja nie nach einem größeren Wohnraum Verlangen ge122
zeigt. Dir und deinem Herzallerliebsten reicht ja eine Liege für zwei. Raum ist in der kleinsten Hütte … hach Gott, wie romantisch! Freilich nur so lange, wie das gut geht.“ Gesine nahm die Melodie, die Roswitha gesummt hatte, auf und trällerte sie laut – das Lied vom Albatros. Dabei wiegte sie sich in ihrem rosa Kittelchen vor dem Herd. Ganz die Hexe, dachte Rosi, wie sie auf dem Titelblatt eines der Bücher ihres Vaters dargestellt war. Das Buch hieß „Spiegel, das Kätzchen“, Als Kind hatte sie es in einem Zug gelesen. Heute erinnerte sie sich nur noch an das Titelbild: eine schöne junge Hexe, die auf dem Besen aus einem Schornstein heraustanzt. Eine Hexe mit den gleichen Katzenaugen wie ihre liebreizende Kollegin. Ängstlich dachte sie wieder einmal daran, daß diese hübsche Hexe ihre, also auch Norberts Nachbarin war auf dem Flur. Und daß sie womöglich leichtes Spiel hatte, ihn zu bezirzen, jetzt, da sie beide in diesem verfluchten Streß steckten. Lauter, als sie eigentlich wollte, schrie Rosi Gesine an: „Wie meinst du das: So lange, wie es gut geht?“ Katrin packte ihren Tortenboden. Sie hielt ihn gestreckt mit zwei Topflappen weit vor ihren gesegneten Bauch. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stolzierte sie aus der Küche. „Ich habe dich was gefragt – Nachbarin!“ schrie Roswitha. „Ach, Rosi …“ Gesine hatte zwar zu trällern aufgehört. Doch sie wiegte sich weiterhin selbstgefällig in den Hüften. „Du machst dir was vor.“ „Womit, verdammt noch mal?“ „Mit deiner sogenannten großen Liebe. Ich kapiere dich nicht. Früher hast du die Männer tanzen lassen. Nach jeder Schnulze, die dir gerade einfiel. Ich denke nur an deine Story mit Tellerchen und auch an den anderen pingeligen Doc, den du mit Bravour abrutschen ließest.“ 123
Gesine machte eine Pause. Aber Roswitha erwiderte nichts mehr. Sie ahnte, worauf Gesines Rede hinauslief. „Was für Bombenpartien du ausgeschlagen hast – Mensch! Immer haben wir dich heimlich bewundert. Und jetzt? Mit Händen und Füßen klammerst du dich an einen Mann, der zwei Jahre jünger ist als du und dich nicht die Bohne liebt. Du fesselst ihn, du schnürst ihn ein. Sperrst am liebsten drei Schlösser vor deine Bude, wenn du ihn wieder mal gefangen hast. – Der schöne Norbert besitzt eine Wohnung. Warum nimmt er dich nicht zu sich? Ich kann dir’s genau sagen: Weil du ihm dann noch mehr auf den Senkel gehen würdest.“ „Norbert fühlt sich wohl bei mir“, verteidigte sie sich leise. Natürlich mußte das für eine wie Gesine genau der Ton sein, der zum Auftrumpfen reizte. „Mach dich nicht zum Clown, Rosi. Warum springt dein Norbert, wenn ihn eine in ihr Zimmer ruft? Weil der Schrank zu rücken ist! Die Steckdose durchschmort! Oder das Radio nicht mehr spielt. Weshalb himmelt er fast jede von uns – entschuldige nur – mit seinen braunen Augen wie ein im Stall eingesperrtes Feldkaninchen an, das sich gern wieder einmal im Freien tummeln will? Dein Norbert muß sich noch austoben! Leuchtet dir das nicht ein? Nach der bescheuerten Ehe, die er geführt hat! Aber nein, du hast nichts anderes im Kopf, als …“ „Ruhe!“ hatte sie gerufen. Und noch zweimal: „Ruhe!“ Dann war sie mit der Pfanne, in der der halbgare Braten zischte, hinausgerannt. Später, als sie sicher war, daß Gesine nicht mehr in der Küche sein konnte, ging sie zurück und briet das Fleisch gar. Kurz darauf kam Norbert zurück und wunderte sich, daß es in ihrer Bude ziemlich nach Braten roch. Das Essen stellte sie nämlich immer in den Herd und holte es erst herein, wenn Norbert heimkam. Norbert stakte von der Tür zum Fenster und zurück, die Hände in den Taschen, gereizt wie gewöhnlich in letz124
ter Zeit. Er schnupperte demonstrativ. Doch fragte er nichts. Auch erzählte sie ihm nichts. Wahrscheinlich fragte er nicht, weil sie ihm nichts erzählte. Und umgekehrt. Am Abend, in der Gemeinschaftsküche, rollte wie jedes Jahr an diesem Tag die traditionelle Geburtstagsfeier für die Hausoberin ab. Die gelb gefliesten Wände waren mit Blättergirlanden geschmückt, großen geröteten Ahornblättern und braungrünen Kastanienfingern aus dem Park. Auf einem mit dem gleichen Naturschmuck verzierten Großmutterstuhl saß, rosig lächelnd, die heute Sechsundsechzig gewordene Lotte. Auf die Lehne des Stuhls, hinter ihrem frisch blondierten Kopf, hatte man eine dicke gelbe Paraffinkerze geklebt. Zwölf nach zehn zeigte die elektrische Küchenuhr. Biancas Plattenspieler brachte Lieder von Drupi. Der ganze Raum lag im Schimmer bunter Kerzen, die auf die gescheuerten Küchentische gepappt worden waren. Auf einem der Tische kämpften die Reste eines kalten Büfetts mit Minderwertigkeitskomplexen, die sie gegenüber den bereits verspeisten Pasteten, Sardellen und Ananasstückchen empfanden. Lotte ließ sich ihren Geburtstag etwas kosten, und das Angenehme war auch, daß die Oberin von „ihren Mädels“ keine Geschenke erwartete. „Gute Laune habt ihr mitzubringen, ist das klar?“ So lautete alljährlich ihre stehende Redewendung. Nur Katrin und Tom tanzten. Sonst hatten sich alle in die fast im Dunkel liegenden Ecken verzogen. Der Tratsch war weiter im Gange. Doch hatte er sein letztes Stadium erreicht, gewissermaßen ein kurzes Aufflackern der tagelang aktiven Temperamente. Schließlich war das Streitobjekt verschwunden: Katrin hatte ihr Doppelzimmer! Roswitha und Norbert saßen bei Lotte, und die gene125
sene Hilda hatte sich einen Sessel dazugerückt. Durch die scharfen Konturen, die der Kerzenschein um die Menschen zeichnete, sah Roswitha deutlich: Ein größerer Widerspruch zwischen zwei Oberinnen war kaum denkbar. Neben dem Pfannkuchen Lotte saß diese spitzgesichtige Wetterfahne. Man redete über dies und jenes. Lotte kippte ihren vielleicht elften Getreidekorn. Plötzlich bemerkte sie: „Ihr zwei Hübschen lebt nicht normal.“ Dabei blickte sie Norbert und Rosi bekümmert an. Der Satz kam wie aus heiterem Himmel. Lotte, indem sie ihr Glas ungeniert ableckte, fuhr ohne Umstände fort: „Ihr kennt das ungeschriebene Gesetz. Wenn eine einen gefunden hat, der zu ihr paßt, gehört sie nicht mehr zu uns. Wir –“, Lotte rülpste herzhaft, „sind eine Gemeinschaft von Unabhängigen. Hier wohnen unverheiratete, geschiedene, jedenfalls immer alleinstehende Mädchen. Dieses Stockwerk hier, meine Lieben, ist eine Art Ledigenwohnheim. Besonders jetzt, wenn Katrin und Tom hinüberwechseln in den alten Flur. Hör mal, Rosi. Wenn du wirklich meinst, du kannst ohne deinen Norbert nicht mehr leben – warum ziehst du dann nicht zu ihm?“ Lotte genehmigte sich einen neuen Korn. „Nicht, daß mir als Hausoberin so was Umstände macht. Aber euch, euch doch bestimmt. Und wenn nicht jetzt, dann sehr bald. Man wird euch …“ Lotte stockte. Hilda warf einen kurzen Blick auf Rosi und faßte ihr Glas fester. Die Stationsoberin hakte nach: „Man wird – was?“ Lotte lächelte bitter in den Schimmer der Kerzen. Sie zeigte, daß sie versuchte, die auf die Ecken verstreuten Grüppchen mit einem Blick zu erfassen. Dann hörte sie etwa zehn Takte lang versonnen auf Drupi. Drupi sang Buananotte. Und dann erst vollendete Lotte ihren Satz: „… das Leben schwer machen. Einfach das Leben schwer machen.“ 126
„Hör mal“, fuhr Hilda das Geburtstagskind scharf an, „was redest du da für einen Stuß! Niemals hast du Kinder gehabt, nie einen festen Mann. Hast doch bloß für deinen Beruf gelebt, Lotte. Nur: Bist du vielleicht immer zufrieden gewesen dabei? Die beiden sind ein glückliches Paar! Was gibst du ihnen für krumme Ratschläge?“ „Ach was“, sagte Lotte. Und noch einmal: „Ach was!“ Ihre starken, fleischigen Hände machten eine Bewegung, als wollten sie Hildas Worte vom Tisch wischen. Dann rückte sie ihren mütterlichen Busen, der seiner eigentlichen Aufgabe nie gerecht werden konnte, dicht an die knochige Hilda heran. „Oberin bist du wie ich, stimmt“, sagte sie mit schon etwas lalliger Stimme. „Aber Hausoberin müßtest du erst mal sein. Ich weiß immer, was ich sage. Im übrigen –“ Wieder schluckte sie den Rest dessen, was sie sagen wollte, herunter. In ihre Augen, das sahen jetzt alle, die dicht bei ihr saßen, trat auf einmal ein Funkeln. Lotte kämpfte mit den Tränen. „Beruhigen Sie sich, Oberschwester“, sagte Rosi schnell. „Niemand wollte Sie beleidigen. Jede Frau“, fügte Rosi etwas unbeholfen hinzu, „hat nun mal Sehnsucht nach Geborgenheit Nach einer Familie. Aber die wenigsten von uns schaffen es – wenn sie so lange hier wohnen bleiben wie Sie.“ Rosi merkte plötzlich, wie ungeschickt sie sich ausdrückte und daß sie eigentlich jetzt den Mund halten mußte, wollte sie Lotte nicht noch mehr beleidigen. Aber ihre Zunge war zu sehr in Schwung. Auch sie hatte schon ein paar Gläschen getrunken. „Nehmen Sie’s leicht, Oberin – Hilda hat es in ihrem Leben nun mal gepackt: Mann, Kinder, Enkelkinder. Und Sie eben, nicht, Oberschwester. Was ist dabei?“ „Was – dabei – ist?“ Die Hausoberin ging förmlich auseinander vor Erregung. Ihr Busen waberte. 127
„Ich werde dir sagen, Rosi, was dabei ist. Manchmal hat eine wie ich die Nase gestrichen voll. – Nimm die Hand von seinem Knie und paß auf, wenn ich rede!“ Nun hörte man aus den Ecken her zu. Hilda erhob sich energisch, wollte etwas erwidern. Aber Norbert war rascher am Zug. „Was wünschen Sie von mir, Schwester Oberin? Sind Sie vielleicht eifersüchtig auf mich?“ Er brachte das in so liebenswertem Ton vor, daß im Umkreis von ein paar Metern alles zu Eis erstarrte. Drupi hatte ausgesungen. Lotte gesellte einen weiteren Korn, mit dem sie das neue Dutzend eröffnete, zu den übrigen. Dann goß sie Hilda, Rosi und Norbert die Gläser voll. „Trinkt, Kinder“, sagte sie in unerwartet freundlichem Ton, „das Leben ist kurz. Und ich habe es so gewollt. Manchmal glaubte ich, der Grund für dieses verfluchte Alleinsein steckt in unserem Beruf. Das war Selbstbetrug. Es gibt schwerere Berufe. Aber eins darf man nicht tun: im Flur anwachsen wie ich. Drum mein gutgemeinter Rat, Rosi. – Prost.“ Norberts prompte Reaktion empfand Roswitha gleichzeitig als peinlich vor den anderen und als schmeichelhaft für sie selbst. Mit einem Ruck nämlich schob er ihre beiden Gläser zu Lotte zurück. Der Korn schwappte. Leicht stand er auf und sah mit spöttischen Blicken in die Runde. „Damit ihr’s wißt, Nachbarinnen“, sagte er laut und deutlich, „und wenn ich hier wohnen bleibe, bis ich alt und grau bin – ich gehe mit keiner anderen als mit einer zu Bett.“ Er drückte Rosis Hand zärtlich an sich. „Das ist es doch, was euch gegen uns beide aufbringt, nicht wahr?“ „Gehen wir in unser Zimmer, Schatz“, sagte er dann. Am Tag darauf klopfte das Geburtstagskind, eine massive Schachtel Konfekt unter dem Arm, an Rosis Appartement. Roswitha hatte erhebliche Mühe, Lottes schlech128
tes Gewissen zu beruhigen. Zum Glück war Norbert noch nicht von der Arbeit zurück. Wieder später, nachdem etwa eine Woche vergangen war, mußte Roswitha feststellen, daß ihre Mitschwestern beileibe nicht aufhörten, Norbert auf dem Flur abzupassen und um die verschiedensten Gefälligkeiten zu bitten. So viele Radios, Fernseher, Bügeleisen und Plattenspieler schienen in den sieben Jahren, die sie hier schon wohnte, nicht kaputtgegangen zu sein. Sie schöpfte Verdacht. Eines Abends kam Gesine und holte Norbert in ihr Zimmer. Da faßte sich Rosi ein Herz und trat ohne anzuklopfen in das Nachbarappartement. Was sie erblickte, reichte nicht aus, um ihr Mißtrauen zu rechtfertigen. Aber es langte auch nicht, jeden Zweifel aus ihrem vor Eifersucht geplagten Herzen zu verbannen. Norbert hockte hinten im Zimmer am Boden. Den Lötkolben in der Hand, bastelte er an der Belüftungsanlage des Aquariums. Nur die Nachttischlampe brannte. In ihrem rosa Schein rekelte sich das Spiegelkätzchen auf dem Bett. Über Norberts Schulter hinweg sah es zu. Fast hing es über ihm. Das Licht reichte beileibe nicht, um einen Kontakt ordentlich löten zu können. Außerdem trug die Hexe nichts weiter als einen französischen Slip und ihr Flatterhemd. „Aha! Im Dunkeln löten!“ giftete Roswitha unbeherrscht. „Machst du deine Meisterprüfung nach?“ Norbert kam langsam aus der Hocke, ungefähr mit der Geschwindigkeit einer rasenden Schnecke. Ein wenig rascher, etwa im Tempo alter Stummfilme, drehte er Rosi sein Gesicht zu. Die Kiefer zermalmten irgendwas. Das schien weder Gummi noch Lötzinn zu sein. Norberts hübsche braune Augen blickten sehr samten und dunkel, und sein Lächeln war von der Art eines Samu129
rais mit durchtrainierter Gesichtsmuskulatur. Der Vergleich, wie er eben Rosi so und nicht anders einfiel, traf wirklich augenfällig zu: Ein Büschel schwarzen Haares stand auf Norberts Wirbel steil nach oben. „Wenn du schmutzige Wäsche waschen willst“, sagte er, „dann bitte in unserem Zimmer.“ Seine Ruhe brachte sie sofort durcheinander. Deshalb machte sie den Schritt, den sie in Gesines Appartement hereingesetzt hatte, augenblicklich wieder rückwärts. Sie starrte Norbert mit offenem Mund an. Dann knallte sie die Tür von außen. Rosi heulte noch immer wie ein Schloßhund, als er nach einer geraumen Weile hinterherkam. Pausenlos hätte sie sich selbst ohrfeigen können, daß sie ihm ihre Hilflosigkeit derart zeigen mußte. Sie wünschte sehnlich, daß er schrie oder sie ohrfeigte oder streichelte oder sonstwas anstellte, das ihr die Ruhe wiederbrachte. Bevor sie begriff, was er im Vorraum im Schrank suchte und warum er dort mit Kleidungsstücken hantierte und weshalb zwei Kofferschlösser mit trockenem Ton zuschnappten, hatte Norbert schon den Raum verlassen. Erst das leise Zufallen der Tür brachte Roswitha zur Besinnung. Sie stürzte ihm nach auf den Flur, wo er sich mit großen hallenden Schritten entfernte. Es wirkte wie die Bahnhofsszenen im Film. Sie preßte beide Hände vor den Mund und sah ihm nach, bis er um den Knick herumging und die gläsernen Flügel der Tür beim Schließen melodisch erzitterten und das Geräusch seiner Schritte im Treppenhaus leise verklang. Danach lief sie, wie von einem Skorpion gestochen, zu Gesine hinüber. Sie zog dem sofort um Hilfe schreienden Kätzchen die zierlichen Höschen herunter. Während sie die Nachbarin mit dem linken Arm abwechselnd festhielt und ihr den Mund zupreßte, drosch sie mit der freien Rechten auf deren nackten Po. Diese rechte Hand 130
hatte schon Zweizentnerpatientinnen im Bett gedreht. Rosi konnte sich also auf die Qualität ihrer Schläge verlassen. Später griff sie sich einen Brieföffner aus goldgelacktem Duroplast, der da auf Gesines Tisch herumlag. Mit diesem Gegenstand schlug sie weiter auf die sich nur noch in stummem Entsetzen Windende ein. Als Lotte und Bianca hereinstürzten und Rosi mit vereinten Kräften zurückrissen, hatte sie es sich eben auf dem Rücken ihrer Nachbarin bequem gemacht. Rittlings prügelte es sich offenbar angenehmer. Gesines Hintern hatte inzwischen das Aussehen eines ordentlich geklopften Koteletts. Ein saftigeres Rot konnte kein staatlich geprüfter Bratenkoch garantieren.
11 Der Hof war fast quadratisch. An zwei Seiten umgrenzten ihn Hausfassaden und links und rechts übermannshohe Mauern. Eine der unverputzten Mauern hatte Rosi erklommen und war mit ängstlichem Sprung auf dem Müllcontainer und schließlich auf einem dünnen Rasenstreifen neben dem Weg gelandet. Der aus halbierten Ziegelsteinen bestehende Pfad verband das Vorderhaus, in dem Norbert wohnte, mit dem Hintergebäude. Wind pfiff und fegte von der Hofkastanie einen Schwall Blätter herunter. Die geisterten in der diffusen Finsternis wie Hände, eins streifte Roswithas Schulter. Sie atmete auf: Jetzt sah sie das Licht hinter vorgezogenen Übergardinen in seinem Schlafzimmer. War er allein? Zur Straße zu war kein Fenster erleuchtet gewesen. Darum hatte der Umweg durch das Nachbarhaus und über die Mauer sich notwendig gemacht. Er lag in den Ehebetten. Oder er saß auf ihnen. Ganz 131
klar schien das. Rosi konnte sich an nichts erinnern, was in diesem Schlafzimmer einem Stuhl geglichen hätte. Daß er etwa stehend an der Wand oder am Schrank lehnte, schloß sie als unsinnige Vorstellung aus. – Was tat er? Lesen? Schlafen? Oder was sonst? Wie ein Dieb in der Nacht, genauer gesagt: in zwei Nächten, hatte sich frostig der Herbst eingeschlichen. Trotz Jeans und Rollkragenpulli fror Roswitha da unten im Hofviereck, als sie den Hals aufstreckte zu dem schwach erleuchteten Fenster. Zwei Nächte war er nun fort. Kein Telefonzeichen, nichts. Auf Station war sie nie zu weit vom Fernsprecher gewichen und hatte alle Anrufe abgenommen. Sie drückte die Hoftürklinke herunter. Doch wie der Hauseingang, über dem die verwitterte Sphinx herabglotzte, war auch das hintere Tor verschlossen. In Rosi kochte es, all ihre Lebensgeister konzentrierten sich auf ein Ziel: Der peinliche und verrückte Umweg durfte am Ende nicht umsonst gewesen sein! Da bemerkte sie die Feuerleiter. Dieses Monstrum und sicherlich schon verrostete Museumsstück erschien ihr jetzt wie pures Gold. Ob die alten Stufen sie tragen würden? Ehe das reiflich überlegt war, hatte sie schon zehn solcher rostiger Metallplatten unter die Sohlen gebracht. Bald stand sie dicht an die Sprossen gedrückt zwischen erstem und zweitem Geschoß, einen Handgriff entfernt von seinem Schlafzimmer. Der Wind pfiff merklich stärker, wenn man nur wenige Meter vom Boden Abstand gewann. Sie klammerte sich fest an die Leiter und lauschte in das Zimmer hinein. Es hörte sich an, als würde ein Gespräch geführt. Eine Frauenstimme vernahm sie und – war die andere Stimme er? Die Worte klangen dumpf und leise und merkwürdig verzerrt. Rosi zog sich in Höhe des Fensterbretts und probierte, 132
ob sie herübersteigen könnte. Es war einfach und, wenn sie sich mit einer Hand gut am Fensterkreuz hielt, ziemlich ungefährlich. Daß nur eben jetzt kein Mieter ins Haus zurückkehrte und im Durchgang das Licht einschaltete! Der Hof und mit ihm die Feuerleiter müßten dann hell beleuchtet sein. Wie sie nach dem Fenster tastete, merkte Rosi, daß es nur angelehnt stand. Die Stimme der Frau und seine sprachen leise, aber, wie ihr schien, im Streit miteinander. Roswitha entschloß sich, an die Scheibe zu klopfen. Irgend etwas im Zimmer polterte herunter und wurde dann über dem Fußboden fortgeschoben. Schlagartig brach auch das Gespräch ab. Eine Tür quietschte. Es dauerte eine Weile, während der sie, mit beiden Füßen noch auf der Feuerleiter stehend, erneut klopfen mußte, bis der dicke Vorhang beiseite geschoben und sein Kopf am Fenster sichtbar wurde. Ihr fiel auf, daß er unrasiert war und sein Haar verwildert aussah. Ohne sie zu bemerken, blickte Norbert in den Hof hinab. Sie sagte sofort, damit er nicht unnötig erschrak: „Ich stehe hier auf der Liebesleiter und dachte, im Zuge der Gleichberechtigung könnte ein weibliches Wesen auch einmal bei einem männlichen fensterln.“ Und lachte, vorsichtig leise, über ihren eigenen Witz. Er lachte nicht. „Komm ’rein“, brummte er, als wäre das Fenster der übliche Zugang zur Wohnung. Sie glitt herüber und sprang leicht hinein. Mehr vor Freude, ihn wiederzusehen, als vor Neugier aufgeregt, wagte sie keinen Blick auf die Betten und fragte ihn, nach Luft schnappend: „Bist du denn allein?“ Jetzt lächelte er. „Ich hatte ein Hörspiel angestellt.“ Sie sah nun doch auf das Ehebett. Das zweite Bett war mit der himmelblauen Decke belegt. In seinem hatte er, angezogen und rauchend offenbar, gelegen. Im Aschenbecher auf dem Nachttisch 133
qualmte, schlecht ausgedrückt, noch die Zigarette. Das Radio, in dem er das Hörspiel gehört haben wollte, entdeckte Roswitha nicht. „Du willst mich also wiederhaben?“ Er stand mit verschränkten Armen, Beine über Kreuz gestellt und an den Schrank gelehnt und fragte mit solcher Selbstverständlichkeit, daß sie am liebsten kehrtgemacht hätte. Unbewußt tat sie einen Schritt auf die Mitte des Zimmers zu. Doch wie wollte sie, vorausgesetzt, der Schlüssel steckte nicht an der Wohnungstür, unten herauskommen? „Ach richtig!“ rief er und deutete ihre Bewegung falsch, indem er einen Arm übertrieben einladend in Richtung Schlafzimmerausgang bewegte. „Wie unhöflich von mir, dir keinen Platz anzubieten.“ Er lief voran ins Wohnzimmer. Rosi sah, daß der rote Mantel noch an der Flurgarderobe hing, wie er schon immer da gehangen hatte. Sie nahm ihren Mut zusammen. Faßte seine Hände und sagte: „Laß uns nicht hierbleiben.“ Und packte seine Gelenke derb und schüttelte den Kopf, als sie wußte, was er fragen wollte. „Nein, auch nicht zu mir sollten wir gehen. Ich lade dich ein – auf neutralen Boden. Da schließt man doch im allgemeinen einen Waffenstillstand, nicht? Oder vielleicht sogar – Frieden?“ Er zog interessiert die Brauen hoch, oder wenigstens tat er so, als ob ihn der Vorschlag reizte. „Ich lade dich ein in meine frühere Stammkneipe“, sagte Rosi. Norbert musterte sie von oben nach unten. „In Sandalen?“ wunderte er sich. „Mit Jeans und Pullover?“ Denn die „Stammkneipe“, das war leicht auszudenken, konnte nur einer der noblen Tanztempel im Zentrum sein. „Ich käme dort sogar nackt hinein“, sagte sie. Die Bar war nur halbvoll gewesen, die Kapelle lustlos und Mittelklasse. Das Rehfilet mit Preiselbeeren hatte wirk134
lich geschmeckt und eine Art versöhnliche Stimmung bei ihm aufkommen lassen. Die wurde von den Vertraulichkeiten der Barfrau und dem mit Augenzwinkern und versteckten Anspielungen bedienenden Kellner, der unbedingt mit Rolf angeredet sein wollte, sofort zerstört. Stimmung fand sich beim Tanzen kurz einmal wieder, als Rosi spürte, wie er Begierde nach ihr empfand. Zum eigentlichen Miteinanderreden, zu jener Aussprache, die sie geplant und für die sie schon Worte zurechtgelegt hatte, kam man nicht. Als beide nur mäßig beschwipst und noch früh in der Nacht auf den Flur zurückkehrten und Rosi, Norberts Atem hinter sich spürend, doch noch froh erregt ihr Appartement aufschloß, schritt er gleich an ihr vorbei, ließ seinen Koffer im Vorraum aus der Hand fallen und setzte sich auf die Liege. Ungehörig, breitbeinig, grob wie ein eingefleischter Ehemann hockte er da. Schließlich war er es, der zur Sache kam, zu eben jener Sache, die sie den ganzen Abend mit ihm bereden wollte. „Damit du klarsiehst: Ich habe was gegen Augenwischerei. Ich meine, daß dir möglicherweise Illusionen vorschweben, was unser künftiges Zusammenleben betrifft. Die schmink dir gründlich ab, sonst packe ich meine Zelte für immer. – Verdammt, bring mir ’n Wodka.“ Rosi lief auf den Flur, die Tür schwang offen. Eilte zur Küche, griff in ihr Kühlfach. Ehe der Luftzug die Türe zurückgeschoben hatte, hielt sie ihm schon die Flasche entgegen. „Scheiß“, sagte er, „Scheißberliner Wodka. Kein Lunikoff im Haus?“ Sie war dabei, die Jeans auszuziehen. Die klebten an den Beinen, in der Bar war es schwül geworden. Sie sah, daß ihm ihre Beine gefielen. Die Flasche, am Hals gefaßt, ließ er zwischen den Knien pendeln, holte sich kein Glas. „Soll ich aus der Flasche saufen?“ fragte er. 135
Sie versuchte seine Schnauzereien zu überhören. Ging in den Vorraum und wollte sich waschen. Drehte die Hähne auf, da war er hinter ihr und sagte mit einem Unterton, den sie von ihm nicht kannte und der komisch klang, wie wenn ein Schauspieler im Kindertheater den zornigen König spielt: „Ein Glas, wenn ich bitten darf!“ Sein unnatürliches Gehabe reizte Rosi zum Lachen, sie prustete los. Dabei streifte sie den Pullover über den Kopf, so daß es ein ersticktes Lachen wurde. Das Wasser schoß aus den Hähnen. Sie steckte den Stöpsel ins Becken. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, daß ihr Körper ihn reizte. Da stand Norbert, dem sie als Frau etwas bedeutete. Aber da stand noch ein anderer, der Schmierentheaterkönig. Der grollte wie ein künstlich auf Wellblech erzeugtes Gewitter: „Ich habe wohl deutlich gesagt: ein Glas.“ Es wurde lächerlich. Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand. Lief ins Zimmer zurück, holte eins der geschliffenen Gläser vom Regal. Füllte es bis an den Rand. Das mochten hundert Gramm sein. Setzte Glas und Flasche auf den Tisch. „Bitte sehr, der Herr.“ „Warum nicht gleich so“, sagte er. Fläzte sich wieder auf die Liege. Trank das Glas in einem Zug leer. Sie stand im Türrahmen, sah ihm aus den Augenwinkeln zu. Er lächelte. Stand auf. Als er sein Gesicht näherte, merkte sie wieder, wie unrasiert er war. Sie schliefen miteinander. Er benahm sich phantastisch brutal, sie mochte das. Er war auch zärtlich. Er war eben er – Norbert. Nur eine Phase lang, für wenige Augenblicke, entdeckte Rosi etwas Neues in der Art, wie er mit ihr umging. Es war etwas Unangenehmes. Etwa, als ob er sie als Werkzeug gebrauchte. Doch ging diese Phase vorüber. Danach, wie sie zur Decke heraufsahen, nebeneinander liegend und rauchend, und der Aschenbecher fühlte sich kalt an auf ihrem Leib, liebte sie wie jedesmal ihre 136
Dachkammer. Den Sonnenblumendruck auf dem Vorhang am Fensterchen, die Lampe, den blauen Sessel. Das alles hatte Leben. Und die Bücher auf dem Hängeregal, die beiden Lederkettchen, die ewig dort hingen statt an ihrem Hals, die kleine altmodische Taschenuhr. Darunter die Reihe Gläser, grün und gold glitzerte der Schliff. Eins stand auf dem Tisch, daneben die Flasche mit dem Berliner Etikett. Wie wir den anderen erkennen beim Schlafen, dachte sie, davon haben sie uns auf der Schule in Psychologie nichts gesagt. Oder über die Wahrheit unserer Träume, wenn wir mit offenen Augen daliegen und gegen die Decke sehen. Oft, wenn sie miteinander geschlafen hatten, fing er an zu erzählen. Irgendwas von sich oder von Leuten, die er kannte, seltener davon, was er sich für die Zukunft vornahm. Sie wartete ein wenig darauf. Aber sie wußte, daß sie auch so, wenn er nichts erzählen würde, glücklich war. „Du wirst dich fragen“, begann er. Sie fragte sich eigentlich gar nichts. „Du mußt dich fragen, ganz bestimmt mußt du das, ob ich Brigitte ähnlich behandelt habe. Ob es mit ihr solche Szenen gab wie zwischen uns vorhin.“ Nein, sie hatte die Szene im Augenblick gar nicht mehr im Kopf. Sie drehte das Gesicht zu ihm, um seines besser betrachten zu können. Versuchte, ihm übers Haar zu streicheln. Wich Millimeter davor zurück, er strahlte Kälte aus. Von Brigitte, fiel ihr jetzt ein, hatte er nie erzählt, wenn sie es miteinander gehabt hatten. Jedenfalls nicht sofort danach. „Ich habe dir viel verschwiegen, Rosi. Nicht bewußt, nein. Eigentlich fiel es mir auch erst heute wieder ein. Das nämlich, daß ich zu Brigitte nur noch eine Beziehung besaß. Diese ständige Lust, sie zu unterdrücken. 137
Klein, niedrig, winselig wie ein Straßenköter mußte sie sein. Nur dann konnte ich mit ihr noch.“ „Norbert?“ „Ja, was ist?“ „Neben dir liegt deine Rosi.“ „Ich weiß, du heißt nicht Brigitte.“ Sie lachte leise und legte den Kopf auf seine Brust. So lag sie eine Weile und wartete. „Hör mal“, sagte er dann, „du kannst mir eigentlich mein Wodkaglas wieder füllen.“ Als sie es getan und als er getrunken hatte: „Das Scheißzeug, das verdammte. Die Preußen können eben keinen Schnaps brennen.“ Am Morgen wachten sie verspätet auf. Rosi sah, daß sie in fünf Minuten unten auf Station sein mußte. Sie schlüpfte in den weißen Kittel, warf, was sie brauchte, in das Körbchen. Er konnte noch liegenbleiben. Sie hatten jetzt auf der Baustelle nicht viel zu tun, so durfte er in aller Ruhe auch eine Stunde später eintrudeln. Roswitha war fast schon draußen. Da kam aus dem dunklen Zimmer – seine Stimme? Nein, wieder das Genöle des Schmierentheaterkönigs: „Ich brauche ein gebügeltes Hemd.“ „Zieh bitte noch einmal das von gestern an. Du weißt doch …“ Der Theaterkönig gab eine Spur Groll zu: „Bügele mir ein Hemd, rate ich dir.“ „Norbert“, bat sie, „es ist höchste Zeit für mich. Wozu brauchst du unbedingt heute …“ „Gut, geh nur.“ „Norbert, bitte!“ „Geh. Und ich gehe ebenfalls.“ „Wie meinst du das?“ Sie setzte ihren Korb ab. „Wie ich es gesagt habe.“ Rosi ahnte mit einemmal, warum diese Brigitte ein solcher Ordnungsteufel gewesen war. Sie öffnete die 138
Schranktür und nahm das Bügeleisen, klappte seinen Koffer auf und zog eins seiner Hemden heraus. Eigentlich wollte sie Kofferdeckel und Tür zuschlagen. Sie schloß beide jedoch leise. Sie holte das Bügelbrett hinter dem Schrank hervor. Sie trug alles in die Küche und legte das Brett zwischen Tisch und Herd. Sie bügelte und vermied es, auf die Uhr zu sehen. Als das Hemd fertig war, hatte sie vor, es ihm auf die Liege zu werfen. Aber er kam ihr im Flur auf halbem Wege entgegen. Sie faßte das Hemd mit den Fingerspitzen an den Schulterklappen und reichte es ihm wortlos. Er nahm es, freute sich. Legte es lässig über die linke Armbeuge. Dann drückte er Rosi an sich, küßte sie. Während er ihr scherzhaft durchs Haar blies, sagte er: „Na, siehst du. Du wirst schon noch ein ordentliches Mädchen.“ Mit fast einer halben Stunde Verspätung erschien sie auf Station. Erst gab ihr Bianca, die Nachtdienst gehabt hatte, Pfeffer. Danach nahm Hilda sie ins Gebet. Rosi schämte sich und ließ das Unwetter stumm über sich ergehen. In sieben Jahren Krankenhausdienst war ihr so etwas noch nie passiert. Brigitte, dachte sie den ganzen Tag über, Brigitte hat er zu seiner Sklavin gemacht. Wie konnte ich das nur übersehen: Eine Frau wie sie, gekleidet wie ein Mannequin, notwendig charmant und leger im Umgang mit ihren Kunden, niemals konnte die doch das geborene Pummelchen sein. Er hat sie hingebogen. Mein Gott, welche Chance habe ich denn, daß er mich nicht verbiegt? Welche Chance, ohne meinen Norbert zu verlieren … Und einmal, während sie durch den großen Saal eilte und Medizin von ihrem Tablett auf die Nachttische abstellte, fiel ihr unvermittelt das Hörspiel ein. Die Stim139
men, die sie aus seinem Schlafzimmer vernommen hatte, die eines Mannes und die einer Frau. Genauso künstlich böse hatte die männliche Stimme getönt, so theatralisch verlogen.
12 Der erste Schnee fiel in der Nacht zum zehnten November. Im Kalender, der neben dem Spiegel im Schwesternzimmer hing, stand in kleiner blauer Schrift neben dem Datum: Weltjugendtag. Wie lange blieb man eigentlich jung? Die Flocken schmolzen, als sie den Asphalt berührten, sah Roswitha. Gegen zwei etwa hatte sie das Fenster geöffnet. Der Flur hinter ihr lag still. In der Nachtschicht trug sie ihren ältesten Kittel, den rosafarbenen. Er zwickte unter den Armen. Ich muß Wäsche waschen, sagte sie sich. Sie sagte es laut vor sich hin, als sie in das dünnflockige Geriesel hinaussah: „Ich muß Wäsche waschen.“ Zwar konnte man die Kittel in die allgemeine Krankenhauswäscherei schaffen. Aber Schwestern, die etwas auf sich hielten, reinigten ihre Dienstkleidung lieber selbst. Dafür gab es im Wohnheim den Waschautomaten. Roswitha hatte keine Lust, dort herumzustehen. Der Raum war wie die Gemeinschaftsküche ein Durchgangsgelände. Sie wußte, was ihr da zur Zeit blühte. So war sie glücklich, daß Norbert, als sie vom Dienst zurückkehrte, ansprechbar war. Beim Frühstück – Toast, weiche Eier, Konfitüre und Abendbrotwurst, die sie von Station mitgebracht hatte – machte er sogar Witze. Küßte sie, aufgeräumt und gut ausgeschlafen, dafür auf die Stirn, daß sie in der Schnelle ein so vorzügliches Frühstück bereitet hatte. 140
Darum fiel es ihr leicht, die Bitte vorzubringen: „Hör mal, ich müßte für dich und mich etwas waschen. Ich dachte …“ Herrlich! Norbert war herrlich gewesen. Hatte sie den Satz gar nicht erst aussprechen lassen, ihr die Hand auf den Mund gelegt und ihr gleich die Schlüssel für die Faradaystraße gereicht! Nun, im Dämmerlicht eines schon wieder auf den Abend zugehenden Nachmittags, hob sie den prall gefüllten Wäschekorb auf das Straßenpflaster vor Norberts Haus. Der Taxifahrer wollte ihr helfen. „Was denken Sie, was ich tragen kann!“ rief Rosi. Und huckte den Korb vor sich und sah, daß aus zwei Fenstern ältere Leute glotzten. Seine Geliebte, werden sie denken. Sieh mal an, wäscht schon bei ihm ein paar Monate nach dem Ableben seiner jungen Frau. Dann schleppte sie ihren Korb an den bunten Gipsputten vorbei, die echt knarrenden Treppen hinauf. Steckte den Schlüssel ins Schloß und hatte nur seine Waschmaschine und die Uhrzeit im Kopf, zu der sie fertig sein wollte, um ihn wieder zu Hause, in ihrem Zimmer, zu empfangen, mit frischer Wäsche. Als sie die Tür zurückschob, leistete etwas leichten Widerstand und raschelte auf dem Korridor. Ein Zettel. Kästchenpapier aus einem Rechenblock. Darauf hatte jemand mit grünem Kugelschreiber etwas gekliert, das las sich so: „Muß Sie unbedingt sprechen. Bin der S-BahnFührer, der Ihre Frau überfahren hat. Meine Adresse: E. Meißner, Brockhausstraße 4, 2 Tr. Mitte.“ Roswitha hatte die Wohnungstür mit dem Fuß schon hinter sich zugedrückt. Das erste, was sie tat, als sie den Korb abgesetzt und den Zettel Meißners gelesen hatte, war, daß sie wieder nach der Klinke griff. Sie verfehlte sie. Langte ein zweites Mal danach und stieß die Tür weit auf. Stand im Treppenhaus und holte tief Luft. 141
Hier roch es stark nach Weißkraut mit Kümmel. Eine Treppe tiefer – oder höher? klickte leise ein Fensterriegel. Sie entsann sich der Gesichter der Nachbarn. Knallte die Tür zu und drehte in Norberts Korridor das Licht an. Der rote Mantel schwankte am Bügel. Die russische Ampel punktete grüne Irrlichter auf das Schokoladenmädchen. Roswitha wählte das schnellste Waschprogramm, wenn es auch nicht zu allen Stücken paßte. Gegen den Apfelduft im Bad öffnete sie die Fenster im Wohnzimmer. Überhaupt war ihr ständig danach, Türen und Fenster aufzureißen. Als sie alles, kurz geschleudert und halb naß, wieder in den braunen Plastkorb gelegt hatte, dachte sie dreierlei: Ein Glück, daß es gerade nicht schneit. Ein Glück, daß die Faradaystraße direkt von der Hauptstraße abzweigt. Ein Glück, daß hier häufig Taxen vorbeikommen. Als sie, den Korb vorm Bauch, an der Ecke war, sah sie einen Wagen mit erleuchtetem Schild. Sie hatte keine Hand frei zum Winken. Setzte also den Korb auf die Straße und rannte auf die Fahrbahn. Winkte mit beiden Händen. Der Mann legte den Rückwärtsgang ein und öffnete die Hintertür. „Wohin?“ „Brockhausstraße.“ „Nur herein, junge Mutti. – Ist das Ihr Korb da hinten?“ „Du liebe Güte, den hätte ich beinah auf freier Flur stehengelassen.“ Sie holten gemeinsam das vergessene Stück und hievten es unter die Kofferklappe. „Entweder lieben Sie Ihr Kind oder Ihren Mann oder das Wäschewaschen nicht“, kommentierte der Fahrer. Auf den roten Polstern des Wagens fragte sie sich: Was will ich eigentlich dort? Zögernd blickte sie auf die Schaufenster der kleinen Läden der Westvorstadt, durch die sie jetzt fuhren. Man nannte das Viertel im Volks142
mund den Wilden Westen. Die Häuser waren hoch und verbaut und vor mehr als einem Jahrhundert mit der klaren Absicht auf Mietwucher errichtet worden. Kinder spielten immer wieder direkt auf der Fahrstraße. Der Fahrer hupte und fluchte, und schließlich war da das Straßenschild. „Welche Nummer?“ „Vier“, antwortete Roswitha – und hätte beinah eben noch gesagt: Entschuldigen Sie, Kollege, war ein Irrtum meinerseits, eigentlich wollte ich zum Städtischen Krankenhaus. Der Fahrer trug ihr den Korb herein. „Welche Etage?“ Sie standen unter der Haustafel. Roswitha entdeckte gleich das Schild mit dem Namen „Meißner“. Sie sagte: „Lassen Sie ihn hier unten stehen. Ich muß doch erst aufhängen.“ „Wie Sie wünschen“, meinte der Taxichauffeur. Während sie nach Kleingeld suchte, blickte er mißtrauisch die Treppe hoch, als könnte von dort plötzlich ein Rudel Ratten, ein Pärchen bissiger Hunde oder zumindest ein halb verhungerter Wolf herunterstürzen. Der Mensch hatte einfach Vorurteile gegen das Viertel. Das Haus selbst roch nach frischem Bohnerwachs. Die blank geputzten Geländer glänzten. Und auf jedem Treppenabsatz stellte ein Kakteenfreund jeweils ein halbes Dutzend seiner schönsten Sukkulenten aus. Allein die Keramikschalen waren sehenswert. Ein Haus, das Vertrauen erweckte. Roswitha mußte dreimal klingeln, bis Meißner an die Tür schlurfte. Ein ziemlich verschlafener oder ziemlich verkaterter oder auch kränklicher Mann blickte sie verwundert an. Sie war sich immer noch nicht im klaren darüber, warum sie diesen Meißner eigentlich aufsuchte. So brachte sie kein Wort heraus, nicht einmal das übliche „Guten Tag“ und „Entschuldigen Sie die Störung …“ 143
Roswitha streckte ihm den Zettel mit dem grünen Gekritzel hin. „Kommen Sie von der Polizei?“ fragte er. Es sah aus, als wollte er die Tür gleich wieder schließen. Weil ihr gerade nichts Besseres einfiel, lächelte sie ihn an. Dabei schüttelte sie leicht den Kopf. Ihr Lächeln irritierte ihn so, daß er die stumme Rolle, die Rosi spielte, sofort übernahm. Jetzt betrachtete sie ihn genau. Meißner trug einen kakaobraun gestreiften Pyjama, über den er flüchtig seine Eisenbahnerjacke gehängt hatte. Das blonde, gelockte Haar sah ein bißchen weibisch aus und war verstrubbelt. Die rötlich pigmentierte Haut verriet den Trinker. Der mit dem erzengelhaften Lockenhaupt und der hiefrigen Figur wie ein abgebrochener Riese wirkende Mensch mochte um die Vierzig sein, erschien jedoch, wie viele Trinker im Anfangsstadium, jünger. Daran, wie er sich linkisch am Türrahmen festhielt und mit der anderen Hand nach dem Zettel langte, erkannte Rosi den eingefleischten Junggesellen. „Woher haben Sie das?“ Auf einmal schien er sich seines Aussehens bewußt zu werden. „Entschuldigen Sie“, sagte er. „Aber ich habe eben etwas gelegen. Habe nämlich Nachtschicht diese Woche.“ „Ich auch“, sagte Roswitha lächelnd. Ihr war kaum nach Lächeln, doch es mochte im Augenblick das Gescheiteste sein, was man tun konnte. „Kommen Sie herein, Frau … Fräulein …?“ Sie folgte ihm in die offensichtlich nur aus Zimmer, Küche und dem Klo (eine halbe Treppe höher) bestehende Wohnung. Die sogenannte Wohnstube Meißners erwies ihn als den, die Hausgemeinschaft beglückenden, Kakteenzüchter. Roswitha sah zu, daß sie sich auf keines der überall aufgestellten wertvollen Exemplare setzte. Kakteen, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Und ein altmodisches Stubenbüfett, das ebenfalls als Kakteenbank diente. 144
Durch das zum Hof gelegene Fenster fielen die mageren Strahlen einer gedämpften Nachmittagssonne. Sie beschienen, wie ein auf das Wesentliche der Szene gerichteter Bühnenscheinwerfer, den abgeschabten Klubtisch. Dort freute sich eine halbvolle Wodkaflasche still vor sich hin. Sie schien der eigentliche Mittelpunkt des Lebens in diesem Zimmer zu sein. Meißners Griff zur Flasche blieb im Ansatz stecken. Er holte zwei Gläser aus dem Büfett und goß sich ein. Erst als er den Flaschenhals über dem anderen Glas in der Schwebe hielt, fragte er Rosi: „Sie trinken doch einen mit?“ Offenbar verkehrte er nur mit durstigen Seelen. Roswitha nahm den Schnaps. Sie hatte ihn, wenn auch aus einem anderen Grunde als Meißner, nötig. Dann klärte sie den gastfreundlichen Junggesellen über ihre Person auf. Das war in wenigen Sätzen getan, während denen sich Meißners gerötetes Erzengelgesicht allerdings zunehmend verfinsterte. „Sie sind also seine Geliebte“, stellte er mehr für sich fest. Dabei starrte er dumpf und mit ausdrücklichem Verlangen nach einem neuen Schluck auf die Flasche. Er erzählte ein wenig umständlich, daß er seit „diesem Unfall“, also nun einige Monate schon, auf keinen Zug mehr gestiegen sei. Werkstattarbeit sei sein Brotverdienst, und dem Alkohol habe er sich erst in letzter Zeit ergeben. Das glaube sie ihm gern, sagte Roswitha, nur um Meißner zum Weiterreden zu ermuntern. Denn die Pausen, die er beim Sprechen einlegte, reichten jedesmal, um in Ruhe einen Doppelten auszutrinken. Aber es wäre kein Unfall gewesen, brummte Meißner verbittert. Damals, bei dem Polizeiverhör, habe er noch unter Schock gestanden. Norbert habe ihm auch irgendwie leid getan. 145
„Und meine Art, Fräulein Fuhrmann, ist es nicht, jemand in eine Sache reinzureiten, wenn ich mir nicht ganz sicher bin, daß er schuldig ist. – Dann aber kamen die Träume. Jede Nacht nur der eine Traum, ich hätt’ die Uhr danach stellen können. Ich fahre also in den Bahnhof ein. Vorn am Wartehäuschen, dicht an den Geleisen, dieses Paar. Ich wundere mich über die frühen Fahrgäste. Dann seh’ ich, wie er die junge Frau um den Leib packt – so!“ Meißner erhob sich. Er breitete und krümmte dann andeutungsweise beide Arme, „So – über die Geleise! Ihre Füße rudern in der Luft. Sie greift mit einer Hand nach ihm. Er schlägt ihr die Hand brutal weg. Und dann fällt sie – er springt zurück. Ich glaube, mir haut’s die Lok von der Schiene, als ich die junge Frau überfahre.“ Roswitha hatte mit aufgerissenen Augen zugehört. Keine Regung in Meißners Gesicht entging ihr. Jede seiner Bewegungen beobachtete sie. – War dieser Eisenbahner verrückt geworden? Doch es gab auch etwas in ihrem Innern, das die grauenvolle Schilderung bis aufs I-Tüpfelchen glaubte. So, wie Norbert sie behandelte in letzter Zeit, konnte man ihm selbst eine solche Tat zutrauen … Nein! Roswitha sagte: „Nein, danke. Gießen Sie sich nur ein. Ich nehme keinen mehr. – Wollten Sie darüber mit Norbert reden? Über Ihre – Träume? Was für einen Erfolg rechnen Sie sich dabei aus, Herr Meißner?“ Das Erzengelgesicht geriet noch eine Spur finsterer. „Ich weiß“, knurrte er. „Die Menschheit rechnet nach Erfolg und Mißerfolg. Gewissen, Reue, der allmächtige Gott – all das bedeutet ihr nichts. Ich bin ein religiöser Mann, müssen Sie wissen. Ich habe gehofft, ich werde diesem Menschen, also Herrn Schadendorf, gründlich in die Seele reden können.“ Er winkte mutlos ab. „Doch vielleicht ist das zwecklos. Wenn sogar Ihre Seele der146
maßen verhärtet ist – die Seele einer jungen, unschuldigen Frau!“ Sie traute Meißner nicht zu, über Seele und Unschuld einer Frau urteilen zu können, und fragte rasch und sachlich: „Warum gehen Sie nicht noch einmal zur Polizei und korrigieren Ihre Aussage?“ Gleich hätte sie sich auf die Zunge beißen können. Die Frage war ihr herausgerutscht. „Sie begreifen mich nicht.“ Meißner lächelte schwach, und dieses Lächeln verlieh ihm ein noch fraulicheres Aussehen. „Der weltliche Arm der Gerechtigkeit“, erklärte er, auf einmal in eine Art gehauchten Singsang verfallend, „nützt der Seele des Sünders gar nichts. Man würde Ihren Norbert vielleicht einsperren. Man würde ihn nach zehn oder zwanzig Jahren wieder herauslassen. Seine Seele würde dadurch aber nur abgestumpft, sein Herz verstockt werden. Ich aber möchte – daß er die schreckliche Tat bereut. Nur die Reue gilt etwas vor Seinem Thron!“ Meißner hatte sich in Ekstase geredet. Er ließ den Finger, den er bei dem Wörtchen „Seinem“ zur Decke heraufgestreckt hatte, eine Weile in der Luft stehen. Er ist also doch übergeschnappt, sagte sich Roswitha. Und sie wußte auf einmal genau, warum sie hierhergegangen war. Schon als sie den Zettel entdeckte, hatte sie das empfunden, was sie erst jetzt klar formulieren konnte: Norbert drohte Gefahr. Davor wollte sie ihn bewahren. Sie stand auf. „Ich verspreche Ihnen, daß wir beide mit Ihnen über – diese Dinge reden werden. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mitkomme?“ Roswitha wußte im Augenblick nicht, ob sie Meißner mit ihrem Versprechen belog. Das hing nun von Norbert ab. Mit ihm mußte sie alles bereden. Meißner zuckte die Schultern. Er war mit einmal in eine dumpfe Lethargie verfallen. Sein Gläschen füllte er 147
so langsam, als zähle er die Tropfen eines Beruhigungsmittels. An der Tür, zu der er sie nicht begleitete, sagte Rosi: „Hübsche Kakteen besitzen Sie.“ Meißner antwortete nicht. Unter der Haustafel stand der Wäschekorb. Sie sprach einen Kraftfahrer an, der gegenüber an einem kleinen Gemüseladen Ware ausgeladen hatte. Der brachte sie heim, aber lehnte das angebotene Fünfmarkstück ab. Den Zehner nahm er schließlich. Norbert wartete bereits auf sie. Er würdigte den Korb mit frischer Wäsche keines Blicks. „Einen Bärenhunger hat man“, sagte er. „Eine Freundin hat man, die sich sonstwo rumtreibt. Nur zu essen steht nichts auf dem Tisch.“ Roswitha hatte vorgehabt, ihm gleich heute alles zu berichten. Nun zog sie es aber vor, zunächst zu schweigen und einen günstigen Augenblick abzuwarten. „Ach, Liebster …“, seufzte sie. Als sie zur Küche lief und aus irgendeinem Grund ihre Hand in die Hosentasche steckte, fühlte sie den Zettel. Sie beschloß, Kurzkochreis und Büchsengulasch zu machen. Das ging rasch.
13 Zwei Wochen waren ins Land gegangen. Zwei Wochen sind dreihundertsechsunddreißig Stunden. In einer von ihnen kam Norbert der Einfall umzuziehen. – „Und zwar sofort! Wir haben uns lange genug in diesem Mief aufgehalten.“ Als er seine Idee auch am folgenden und übernächsten Tag mit Nachdruck wiederholte, begann Roswitha den Umzug zu organisieren. Große, stabile Umzugskisten waren nicht aufzutrei148
ben gewesen. Aber die grünen Plastbehälter, in denen früh die Milch für das Krankenhaus angefahren wurde und die bis zum nächsten Morgen leer auf dem Hof herumstanden, erfüllten auch den gewünschten Zweck. Ein Dutzend von der Sorte hatte Rosi mit ihren Sachen vollgestopft. Man staunt bei einem Umzug doch immer, wie viel sich in seinen vier Wänden angesammelt hat. Zwölf Kästen gegenüber der Zimmertür unter dem großen Fenster nebeneinander aufgereiht! Und daneben, klein und verloren wirkend, der graue Reisekoffer mit Norberts Sachen. Roswitha stand vor dieser Reihe gleichförmiger grüner Kisten, aus denen dort ein Schuhabsatz, da ein Besteckteil hervorragte. Sie war stolz, die Geschichte in weniger als einem Vormittag erledigt zu haben, und nun trat sie an die Scheibe, um vielleicht einen blauen Multicar, die Eidechse und ihren Fahrer, zu entdecken, der alles in ein paar Fuhren in die Faradaystraße bringen sollte. Einen Fahrer aus der Küche anzuheuern war unkompliziert gewesen, der Junge machte ihr schon seit langem schöne Augen. Wenn er sich beeilte, kam sie noch pünktlich zum Spätdienst. Das Fenster ließ Roswitha lieber geschlossen. Draußen fauchte ein erbärmlicher Novembersturm. Die Scheiben klirrten leise, und der seit dem Morgen anhaltende Nieselregen war unerträglicher als der dünne Schnee der vergangenen Wochen. Gesine kam aus ihrem Zimmer und trat neben sie; Unbewußt zog Rosi die Schultern hoch. Federleicht hob sich eins der letzten, in sich zusammengerollten Blätter aus dem Geäst der Straßenlinden. Es wurde vom Niesel herabgedrückt und vom Sturm wieder hochgerissen. Rosi verfolgte den Tanz, als stünde Gesine nicht eine Armlänge neben ihr. „Du ziehst also aus“, sagte Gesine. „Aber dein Appartement behältst du.“ „Du merkst wirklich alles.“ 149
„Wenn man’s genau bedenkt, handelst du goldrichtig.“ „Dein Scharfsinn ist bewundernswert.“ „Ich meinte: Wenn man euch beide so beobachtet …“ Roswitha wandte ihr Gesicht ruhig der Nachbarin zu. „Hau ab, sonst versohle ich dir den Hintern.“ Gesine lachte ein bißchen hysterisch und ein bißchen lange. Dann drehte sie ab und trippelte in Richtung Treppenhaus. „Der vergifte ich noch ihre Zierfische“, murmelte Rosi. „Ja, das tu’ ich noch, bevor ich gehe.“ Sie müsse das Zimmer aufgeben, hatte Norbert bestimmt. Aber wenn ich mal zwei Schichten hintereinander habe? entgegnete sie. Das wäre in der Zeit, in der sie sich kannten, noch nie vorgekommen. Es käme aber vor, hatte sie erwidert, und dann sei das Zimmer im Haus ein Segen. Da hatte er nichts mehr zu sagen gewußt. Rosi lächelte, mit sich selbst zufrieden. Man mußte Norbert diplomatisch kommen. Ein glatter Fehler wäre gewesen, ihm den wahren Grund zu nennen. Obwohl er den ebensogut kannte wie sie: Er konnte sie wieder fortjagen aus seiner Faradaystraße. Und wohin, dann – mit ihren zwölf grünen Milchkisten? Dennoch war Roswitha froh, daß etwas anderes, völlig Neues geschah in ihren Beziehungen. Dort, in seiner Wohnung wollte sie aufräumen, es hübsch machen für beide. Im Korridor, wo noch der rote Mantel hing, konnte man ihren Schrank aufstellen. Und die Ehebetten würde sie auseinanderschieben und übereck rücken. Dazwischen paßte ein kleiner Tisch mit dem Plattenspieler. Hier, in ihrer Bude, gab es nicht viel zu verrücken, und so sehr sie sich auch angestrengt hatte, daß es immer gemütlich aussah, daß beispielsweise nie Blumen in der Vase auf dem Regal fehlten oder daß sein Bier kalt stand und sein Wodka, wenn er von der Arbeit kam, 150
auch in der Woche, in der sie Spätdienst hatte – dem allzu engen Heim waren Grenzen gesetzt. Seit ein paar Wochen schlief er auf einer Matratze neben der Liege auf dem Boden. Damit war das Zimmer nachts voll wie ein Möbellager. Sie selbst ertappte sich dabei, wie wohl ihr wurde, als sie von der Nachtschicht kam und er auf Arbeit war und sie, ohne Bettzeug räumen und richten zu müssen, sich einfach ausstrecken konnte. Auf Station hatte Rosi es gut. Oberschwester Hilda faßte eine unausgesprochene Zuneigung zu ihr seit jener Küchenfete, und Rosi ging gern zur Arbeit wie seit langer Zeit nicht mehr. Das ganze Gegenteil erlebte sie auf dem Flur. Man wollte sie beide hier heraus haben, das lag auf der Hand. Die Methode der lieben Nachbarinnen war dieselbe geblieben: Norbert ein freundliches Gesicht zeigen, sie dagegen schneiden. Offene Auseinandersetzungen wie jene, die sie eben mit Gesine ausgetragen hatte, bildeten dabei die Ausnahme. Im großen und ganzen mied man Roswithas Nähe. Wenn sie vom Dienst heraufkam, konnte sie jedesmal sicher sein, in eine gleichsam unbelebte Welt einzutreten. Niemand besuchte sie, keiner klopfte bei ihr an. Wenn sie selbst etwas brauchte, waren Auskunft oder Hilfeleistung spärlich, sachbezogen und knapp. Manchmal saß sie allein und hörte nebenan Lachen, Palaver oder Tonbandmusik, oder von der Küche her drang ein angeregtes Gespräch – Tratsch sicherlich, aber doch ein Gespräch! Trat sie dann unter einem praktischen Vorwand hinzu, verstummten die Reden. Dann hatte Roswitha sich rasch wieder zurückgezogen. Lief in ihrer Stube auf und ab wie der Tiger im Käfig. Biß sich in den Handrücken und wartete auf Norberts Ankunft. Bücher! Ja, es gab Bücher. Doch sie war noch nie eine allzu eifrige Leserin gewesen. Wie sollte sie diese Tugend jetzt mit einmal lernen? 151
Eines Mittags erschien unerwartet Besuch: Meißner. Roswitha erkannte ihn, wie er vor ihrer Tür stand, nicht gleich. Das Tageslicht, das durch die Flurfenster über seinen Erzengelschopf flutete, machte sein blondes Haar dunkel. Er trug einen ziemlich abgelappten Flanellanzug. Besuch war Besuch, auf jeden Fall Abwechslung. Also hatte sie ihn ohne ein Wort eingelassen. Meißner schaute sich nicht groß um. Er ließ sich, da das Sesselchen ihm wohl zu zierlich erschien, auf der Liege nieder und zielte gleich ins Schwarze. „Wie fühlen Sie sich, Fräulein Fuhrmann? Ich meine, es muß doch ein seltsames Gefühl sein, mit einem Mörder zusammen zu leben.“ Er temperierte stark. Ohne Zweifel hatte der fromme Mensch wieder einmal einen Mächtigen gehoben. „Kaffee?“ hatte sie gefragt. Er lehnte ab. „Wein? Schnaps?“ Er schüttelte noch heftiger den Kopf. Vielleicht hatte er genug für heute. Möglicherweise erinnerte er sich auch seiner schwachen Kür beim letzten Mal. Es war gut, daß Meißner ihr eine Frage stellte, die keine war. Schlimmer wäre gewesen, er hätte nachgestoßen, ob sie mit Norbert gesprochen hätte. Sie fühlte sich vor dem Glaubensapostel klein und feige. Doch wäre es Humbug gewesen, ihm das zu zeigen. Also redete Rosi munter drauflos. „Zu Ihrer Frage, Herr Meißner. Sie ist rasch und einfach beantwortet. Ich fühle mich nicht so, als ob ich mit einem, wie Sie es ausdrücken, Mörder zusammen leben würde. Ihnen zuliebe nehme ich einmal an, Sie hätten den Kampf Norberts mit seiner ehemaligen Frau genau beobachtet. Demzufolge registrierten Sie, während Ihr Zug mit etwa sechzig Stundenkilometern in den Bahnhof einfuhr, daß er seine Frau vom Boden hochriß, daß sie sich an ihn klammerte, daß er die Hand wegschlug und 152
sie danach direkt vor Ihre Lok stieß. War es genau so? Haben Sie das gesehen?“ „Das und nichts anderes habe ich gesehen, so wahr mir Gott helfe.“ „Gut geantwortet, Herr Meißner. Denn mehr oder weniger konnten Sie ganz einfach nicht beobachten.“ „Worauf wollen Sie hinaus, Fräulein Fuhrmann?“ „Vor allem nicht mehr. Woher können Sie wissen, was kurz vorher geschehen ist? Sie wurden lediglich Zeuge einer Phase des Streits der beiden. – Kommen Sie! Kommen Sie ans Fenster! Sehen Sie, es ist für mich ein Kinderspiel, Sie an den Sims zu heben – und ein Stoß, und Sie finden sich mit geradezu tödlicher Gewißheit auf dem Pflaster des Krankenhaushofes wieder.“ Der Griff, den sie für widerstrebende Patientinnen kannte, von denen manche durchaus Meißners Gewicht besessen hatten, war Rosi zupaß gekommen. Meißners Füße baumelten in der Luft. Rosis Rechte hielt ihn ohne großen Aufwand knapp unterm Gürtel fest. Nur die Linke brauchte etwas mehr Kraft, sein Genick herunterzudrücken. Meißners Arme ruderten erst einmal sinnlos nach oben. Dann faßte er derb nach Rosis Schultern. „Sehen Sie“, triumphierte Rosi, indem sie ihn losließ, „schon greifen Sie mich an! – Sie dürfen wieder Platz nehmen, Herr Meißner. Jetzt ein Schnäpschen gefällig?“ „Sie machen sich etwas vor“, hatte Meißner noch einmal gewarnt, im Flur schon, als er ging. Doch Roswitha wußte genau, daß sie nichts beschönigte und nichts ausließ, daß Norbert ebenso schuldig wie unschuldig sein konnte am Tod seiner Frau, aber daß es Dinge gab, die viel wichtiger waren. Denn was die Menschen denken und vorhaben, ist nicht entscheidend. Solche Wortgespenste wie „Mörder“ und „umbringen“ und „mit einem Mörder zusammen leben ist unmöglich“ waren doch bloß Denkspielereien. Vielleicht hatte Norbert eine Sekunde lang vor, Brigit153
te umzubringen? Und Brigitte, im Stadium höchster Aufregung, plante möglicherweise dasselbe mit ihm? Es war nicht schwer, die Gedanken eines in Rage gekommenen Ehepaares zu erraten. Was dann einer von beiden tat, gab den Ausschlag. Doch war er deshalb ein Mörder? Hätte nicht gerade der andere im entscheidenden Augenblick den kurzen Schritt vom Gedanken zur Tat gehen können? Natürlich war er kein Mörder. Da brauchte sie kein Gespräch mit ihm. Und erst recht keins zu dritt mit Meißner. Und da auch das alles Meißner nicht recht zu überzeugen schien, hatte ihm Rosi noch vorgehalten: „Hat mein Freund vielleicht vier Uhr neunzehn Ihren verfluchten Triebwagen bestellt, der ja gewissermaßen zum Werkzeug der Tat wurde?“ Da hatte Meißner etwas Erstaunliches zugegeben. Sein Zug, erklärte er, sei an diesem Morgen mit zwei Minuten Verspätung in den bewußten Bahnhof eingefahren. „Na, sehen Sie“, hatte Roswitha dazu gesagt. „Gott möge Sie schützen“, entgegnete Meißner bloß. Und da hatte sie gleich gedacht: Ein Quatsch, mein „Tatwerkzeug“-Argument. Jetzt laufe ich bereits, obwohl ich diesem verdrehten Engel widerspreche, ganz auf seinen Geleisen. Nun stand sie vor ihren gepackten Siebensachen und achtete auf die Straße, ob der Eidechsenfahrer zu sehen war. Mit halbem Ohr hörte sie auf die Geräusche des Fahrstuhls vorn, denn der Bursche konnte auch vom Hof her kommen. In der Schule mußten sie die Zeilen eines langen Gedichtes auswendig lernen, sie fielen ihr jetzt ein: „Im traurigen Monat November war’s, Die Tage wurden trüber, Der Wind riß von den Bäumen das Laub …“
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Zu dumm, dachte sie einen Moment lang, daß einem für die Schauspiele der Natur immer wieder die gleichen Verse und Bilder einfallen. Sie empfand bei der Betrachtung der grauen Dächer und der schwarz in diese dicke Luftsuppe spießenden Äste der Linden etwas ganz anderes – ein Gefühl von Selbstbewußtsein und Freiheit. Oder daß sich eine Menge ändern würde in ihrem Leben. Einfach etwas Erhabenes geschah, das noch undurchsichtig war. Aber dann drängten sich einem diese melancholischen Verse ins Hirn. Wie hing das eigentlich zusammen? Vielleicht besserten sich auch Norberts Launen, wenn sie hier auszogen. Da war dieser erbärmliche Streit um das Fernsehprogramm gewesen. Von einer Patientin hatte sie den steinalten, unter Norberts geschickten Fingern jedoch bald wieder funktionierenden Apparat erworben. Bereits am ersten Abend hatte er die Serie sehen wollen, und sie wünschte sich, daß man um neun umstellte, weil da die internationale Wintermode vorgestellt wurde. Sie hatte nachgegeben. Doch als der Ansager nach Ende des Serienfilms Sport ankündigte und sie hätte dann noch einen Zipfel der Wintermode erhaschen können, mußte er auch dem Boxen zusehen, einer Sportart, die ihren Widerwillen erregte. Daraufhin hatte sie Norbert vorsichtig an ähnliche Szenen in seiner Ehe erinnert. „Du hast mir selbst davon erzählt“, beteuerte sie, und es hatte wie eine Entschuldigung geklungen. Er schwieg dazu; er verstand die Kunst zu schweigen und redete bis zum nächsten Morgen kein Wort mit ihr. Vielleicht würden sie auch wieder einmal fortgehen. Nicht unbedingt in die Bar. Es stand ja so viel in der Zeitung: Konzerte, Kino, Theater. Eines Tages hatte sie einfach Kinokarten besorgt, für einen Film, bei dem sich die Leute um die Karten rissen. Er war an diesem Tag auf der Arbeit telefonisch erreichbar gewesen, sie holte ihn 155
aus einer Besprechung beim Schließmeister. Als das Fräulein am anderen Ende schnippisch zurückfragte, ob es jetzt unbedingt nötig und dringend sei, hatte Rosi schon auflegen wollen. Dann aber kam er an den Apparat und war freundlich und schien eine Menge Zeit für sie zu haben. Sie war freudig erregt gewesen und verbrachte den Nachmittag, bis er kam, mit Zurechtmachen und Kleideranprobieren. Schließlich ging es nicht in ein gewöhnliches Kino, sondern ins führende Filmtheater der City. Auf den Karten prangte fettgedruckt das Wort LOGE. Man kriegte dort, wie sie gehört hatte, einen Mokka serviert zum Film und durfte rauchen. Partout an jenem Abend erschien er später als sonst. Erzählte was von einem Defekt im Schalterraum. Sie drängte ihn zur Eile. Da erklärte er, heute wäre er doch zu geschafft. Im Kintopp würde er sowieso einschlafen. Sie war wütend geworden: Er sei offenbar keine Fünfundzwanzig, sondern wahrscheinlich schon Vierzig und darüber! Das war die ungeschickteste Art, mit der sie ihm kommen konnte. Norbert mußte man mit weiblicher Diplomatie begegnen, anders nicht. Seine Reaktion auf ihren Wutanfall war, zu Gesine hinüberzugehen und mit ihr, was wußte sie, wahrscheinlich über den Unterschied zwischen Salmlern und Schleierschwänzen zu plaudern. Sie holte ihn nach einer halben Stunde von dort ab, mit dem gleichgültig vorgebrachten Hinweis, das Abendbrot sei fertig. Gesine durchschaute den Vorwand natürlich und servierte ihr ein Lächeln, bei dem man sich aussuchen konnte, wie es gemeint war. Nein, aus dieser Atmosphäre mußten sie beide heraus. Es waren ja auch die Weiber, diese Hyänen, die ihn verrückt machten. Im Grunde liebte Norbert sie. Hätte er sonst so offen seine Freude gezeigt, als sie ihm mitteilen konnte, daß ihr Urlaub endlich wahr wurde? Ein Ur156
laubsplatz im Dezember in den Bergen! Die ersten gemeinsamen Ferien! Und bis dahin blieben lediglich drei Wochen. Roswitha stellte sich vor, wie die Bäume auf einmal mit Schnee überzogen sein würden. Nicht mit dem angerußten, dünnen Schnee der Großstadt, sondern mit jenem dicken weißen Polster, das die mächtigen Nadelbäume im Gebirge herabdrückte. Die Linden vorm Flurfenster verwandelten sich einen Augenblick lang in gewaltige Tannen, und die eintönigen Fassaden der Stadt wurden himmelaufstrebende Gebirgshänge, auf deren verschlungenen Wegen Millionen Kristalle in der Sonne glitzerten … Der grobe Ton der Stimme, die plötzlich neben ihr ertönte, ließ Roswitha zusammenfahren. Freilich war das nicht der richtige Ausdruck: zusammenfahren. Wer schon einmal erlebt hat, wie ihn im Freien ein Gewitter überrascht und der Blitz dicht neben ihm in einen Baum der Chaussee fährt und der Donner sich daraufhin ohne Zeitverzug über seinem Kopf entlädt, weiß, was ein solcher Schreck bewirkt. Man geht, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu werden, in die Knie. Instinktiv hatte Rosi sich am Fensterbrett festgehalten. Die Beine zitterten ihr, sie konnte das Schlottern nicht unterdrücken. Ein Bild, wie bei einer sportlichen Übung, Kniebeugen etwa, nur daß Roswitha ziemlich lange in der Hocke verharrte. Erst nachdem dieser äußere Reiz nachließ, der tatsächlich viel mit einem Blitz oder Stromstoß gemein hatte, drehte sie ihr Gesicht Norbert zu. Der blickte, offenbar selbst erschrocken, auf sie herab. Sie hörte, wie man auch den Donner später erst faßt, noch einmal innerlich nach, was Norbert gesagt hatte: „Schaff den Plunder nur gleich wieder ’rein. Wir ziehen nicht.“ Sie mußte sich auf eine der Kisten setzen. „Warum?“ Ihre Stimme hörte sich in der Angst schrill an. 157
Norbert hatte den Schreck über die unverhoffte Wirkung seiner Worte überwunden. Er beugte sich herab. In seine braunen Augen trat der warme Schimmer, und erbot ihr den Arm. Sie ließ sich aufhelfen. „Ich liebe dich, aber …“ „Du machst Witze, nicht wahr?“ „Nein“, sagte er bestimmt. „Komm ins Zimmer, ich klabüstere es dir auseinander.“ In dem ausgeräumten Zimmer hallte es fast wie im Flur. Er setzte sich halb auf den Tisch. Sie blieb an der Tür. „Ich liebe dich“, wiederholte er. „Aber ich habe mir überlegt, daß es der Untergang unserer Beziehung wäre, uns in meiner Wohnung einzurichten. Das ist kein Scherz, Rosi. Meinst du, ich wäre wegen eines plumpen Scherzes von der Arbeit weggelaufen, um unser drohendes Unglück aufzuhalten?“ Sie glaubte ihm nicht ganz. Er konnte in dieser Jahreszeit ganz gut früher seine Arbeitsstelle verlassen oder später dort auftauchen. Wie zur Bekräftigung ihrer Gedanken heulte der Sturm draußen besonders jämmerlich. Und die geschwollene Warnung von einem drohenden Unglück begriff sie erst recht nicht. Trotzdem lag etwas in der Art, wie er hastig seine Erklärung abspulte, was sie an seinen gehetzten Bericht nach der Unglücksnacht erinnerte. Ehrlich erschien seine Furcht. Wovor ängstigte er sich bloß? Norbert redete in sprunghaften, teilweise abgerissenen Sätzen. Sie verstand erst nach und nach. Ein Zusammenziehen, erklärte er, habe auf jeden Fall gemeinsamen Besitz zur Folge. Man klebe dann vielleicht, wenn man sich für eine gewisse Zeit eigentlich lieber trennen wollte, um einer Schrankwand willen zusammen oder wegen der Umständlichkeit eines Möbeltransportes. Die Ehen hasse er, die zusammenblieben aus Bequemlichkeit oder Angst vor äußeren Umständen oder der Problematik, die gemeinsamer Besitz aufbür158
det. – So wären sie doch viel freier: Rosi habe ihre, er seine Wohnung, und basta! Das alles, spürte sie mit untrüglicher Sicherheit, konnte nicht sein wirklicher Hinderungsgrund sein. All das hatten sie längst ausdiskutiert, und Roswitha hatte eben die Art des Zusammenlebens noch vor wenigen Wochen ihren Eltern gegenüber verteidigt. Nun hätte sie sagen sollen: Das sind keine Argumente, ich glaube dir nicht, etwas anderes steckt dahinter. Aber sie hütete sich. Lief hinaus, stieg in den Fahrstuhl, fuhr zur Küche hinunter, traf den Eidechsenfahrer, der ihr schöne Augen machte, sagte ihm ab, fuhr wieder hinauf – Norbert räumte bereits die erste Kiste aus. Gemeinsam schafften sie es bis halb zwei, ihre Bude, so wie sie am Morgen aussah, wiederherzurichten. Dann griff sie sich ihr Körbchen und ging zur Spätschicht. Den Kuß auf seine Stirn vergaß sie nicht.
14 Am Freitag dieser Woche fand sich Roswitha zum zweiten Mal allein in seiner Wohnung. Norberts Entschluß, sie eine Zeitlang, für eine Stunde vielleicht, wie er meinte, allein hier zu lassen, kam unerwartet. Denn gemeinsam hatten sie sich auf den Weg gemacht. Sie hatte ihn von der Arbeit abgeholt, und in der City waren sie Abendbrot essen gewesen. Auf dem Weg hatten sie ein paar Lebensmittel für das Wochenende gekauft. In der Kaufhalle wunderte sie sich bereits, daß er kein Bier mitnehmen wollte. „Hast du denn noch genügend Vorrat?“ Er antwortete, wie oft, mit keiner Silbe und lief an den Bierkästen vorbei zum Kühlfach, die Butter in den Fahrkorb zu legen. 159
Unmöglich, daß er den Hinweis auf das fehlende Bier nicht gehört haben sollte. An Marmelade hatte er gedacht, Senf, Kaffeesahne. Nicht die geringsten Zutaten für Frühstück, Abend- und Mittagbrot vergaß er. Jetzt sah Roswitha auf die Straße hinunter, auf der er davongegangen war. Das Wohnzimmer sollte eine Weile durchlüften, sie hatte zu stark angeheizt. Aus den Häusern gegenüber drang hinter bläulich fluoreszierenden Scheiben ein einmütiges Piepen. Die beliebte Serie war zu Ende, auf den Bildschirmen bewegte sich in hüpfenden Ziffern die Uhrzeit, und viermal in der Sekunde fiepte der Ton dazu. Also halb zehn. Roswitha beugte sich zu dem Gerät, das neben ihr stand, und schaltete aus, als der Nachrichtensprecher seinen Abendgruß eben über die Lippen bringen wollte. Im dick gestrickten braunen Pullover sah Rosi zwar, wie sie glaubte, einem Spielzeugteddy ähnlich, doch sie spürte darin nicht die Kälte und den Nieselregen, der mit Ruß und Schnee vermischt seit Tagen über der Stadt niederging. So konnte sie es lange am offenen Fenster aushalten. Da vorn an der Ecklaterne hatte Norbert sich umgedreht und gewinkt. Weil die einzige Gaststätte, die in der Gegend existierte, wegen Krankheit geschlossen war, mußte er mit der Straßenbahn in die Stadt, um Bier zu bekommen. Sie hörte einen Tatrazug auf der Hauptstraße vorbeirasen. Darin wird er sitzen, dachte sie, das Netz zwischen den Knien. Vorsorglich, falls es kein Flaschenbier geben würde, hatte sie ihm einen Krug eingepackt Wie schön, dachte Rosi, daß wir wieder einmal bei ihm sind. Den Abend im Wohnheim hätte ich sowieso nicht durchgestanden. Nicht Lottes Geburtstag war es diesmal, den sie mit dem üblichen Girlandenaufhängen in der Küche vorbereiteten, sondern Gesines zweiundzwanzigster. Rosi war nicht eingeladen worden. Doch ihn hatte Gesine angesprochen, ob er sich nicht für ein 160
paar Stunden frei machen könne! Frei machen! Als Norbert ihr davon erzählte, hatte sie spontan vorgeschlagen: „Dann verschwinden wir übers Wochenende in deiner Wohnung.“ Wie gut, dachte Roswitha, daß er ihr sofort zugestimmt hatte. Wie herrlich, daß sie nun hier sein durfte. Obwohl leider nicht alles so abgelaufen war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Hätte sie in der Kaufhalle einfach ein paar Bierflaschen in den Korb gestellt, ohne Norbert zu fragen! Aber er würde ja bald wieder zurück sein. Angenehm war die Luft hier. Keine Gerüche von Ata, Schweiß und Karbol. Auch nicht das ewige Türenschlagen bis spät in die Nacht. Hier konnte man wohnen. Mensch sein. Tief sog Roswitha den feuchten, klaren Geruch der Straße ein. Aber Musik! Wäre es nicht ganz hübsch, sich die Zeit bis zu seiner Rückkehr mit Musik zu verkürzen? Sie schloß das Fenster halb und lehnte den anderen Flügel an. Wie sie vorm Plattenspieler stand und mit einem Finger seine Platten durchblätterte und sich nichts anbot, was ihrer augenblicklichen Stimmung entsprach, fiel ihr das Radio ein. In jener Nacht, als sie über die Feuerleiter zu ihm gekommen war, hatte er doch im Schlafzimmer ein Hörspiel … Das Radio war damals nicht zu sehen … Vergessen, ihn noch mal danach zu fragen … Roswitha knipste Licht in dem Raum an, der von dem breiten Ehebett beherrscht wurde. Kaum blieb zwischen Wand und Fenstervorhang ein schmaler Gang frei. Die elfenbeinweißen Nachttischchen standen unschön eingezwängt, und wer sich im Spiegel der Schrankgarderobe betrachten wollte, mußte wahrscheinlich aufs Bett klettern. Nie richte ich mir ein Schlafzimmer ein. Wenn ich mit ihm mal was anschaffe, dann … Roswitha biß sich auf die Lippe, als hätte sie den Gedanken schon ausgesprochen. 161
Wenn schon ein Urlaub mit ihm nicht möglich war – sie hatte ihren Ferienplatz wieder zurückgegeben –, wie konnte man dann für eine fernere Zukunft planen? Das war schon ein Zustand jetzt mit ihm. Doch auch der würde sicherlich vorübergehen. Man mußte Geduld haben und später weitersehen. Später war überhaupt ein Wort, das ihr seit einiger Zeit so oft wie kein anderes gefiel. In ihm lag etwas von Nacht, vielleicht von Weihnacht. Dunkelheit. Frieden. Einschlafen mit dem glücklichen Gefühl von Neugier auf morgen, da alles anders sein konnte. Morgen, Kinder, wird’s was geben. Morgen werden wir uns freu’n. Das Radio, richtig. Wegen des Radios bin ich herübergegangen. Roswitha blickte sich, die Arme auf dem Rücken, wie in einem Museum um. Als stünden auf Schrank und Schränkchen und Ehebett Schilder: Berühren verboten! Sie kniete sich, blickte unters Bett. Schließlich entschloß sie sich doch, im Kleiderschrank nachzusehen. Doch weder darin noch in den Schüben der Spiegelgarderobe fand sich etwas, was einem Radio auch nur annähernd ähnlich war. In einem der Nachtschränkchen, dem, das neben Brigittes Betthälfte stand, entdeckte sie schließlich ein kleines japanisches Tonbandgerät. Ein Mikro dazu war vorhanden, zwei längere Schnüre, Überspielkabel und Kleber. Alles sah aus wie eben gekauft. Doch als sie das Gerät aufklappte, lag kein Band darauf. Sie ging in seine Bastelkammer. Vorsichtig hob sie die Schildkröte heraus. Unter weiteren Schnüren, Litzen und Drähten, hinter einer elektrischen Handsäge verborgen und tief in die hinterste Ecke geschoben, fand sie ein einziges Band. Offenbar war es bereits bespielt. Zwei andere lagen in Papphülsen darunter, aber die Banderolen der Herstellerfirma waren unangerührt. Demnach mußte das Tonbandgerät eine der letzten 162
gemeinsamen Anschaffungen Brigittes und Norberts gewesen sein. Ihre Neugier, womit das Band bespielt sein könnte, war groß. Sein Musikgeschmack? Ihrer? Oder das Hörspiel? Sie gab es auf, nach dem Radio zu suchen. Eilte mit dem Band ins Schlafzimmer zurück. Dort hatte sie gewohnheitsgemäß beim Herausgehen das Licht ausgeschaltet. Aber die kleine grüne Kontrollampe an dem Gerät auf Brigittes Nachttisch zeigte ihr den Platz, an dem der Apparat stand. Außerdem schickte die Hoflaterne einen schwachen Schein durch die Übergardinen. So legte sie traumwandlerisch sicher das Band auf. Drückte die Wiedergabetaste. Über das Nachttischchen gebeugt, wartete sie auf die Musik, die gleich erklingen mußte. Lange rauschte das Band, als ob der Anfang gelöscht worden war. Roswitha drehte auf Lautstärke. Der Einschaltknack ließ sie zusammenschrecken. Er schallte wie ein Schuß. Als sie eben zwei Striche zurückdrehen wollte … „Eins – zwei – drei“, hauchte eine Frauenstimme. Hauchte, die Lippen dicht am Mikrofon. Darum tönte es laut, überlaut. Wie gehauchte Schreie in Norberts dunklem Schlafzimmer. Roswitha spürte, daß etwas Unheimliches auf sie zukam. Die Stimme! Das konnte nur seine Frau gewesen sein. Aber während sie ahnte, daß ihr beim weiteren Abhören der Spule vielleicht das furchterregendste Hörspiel geboten wurde, das sie je vernommen hatte, und während sie auch überlegte, ob sie lieber abwarten solle, bis Norbert heimkam – im Grunde war es gemein, in seinen privaten Dingen herumzuschnüffeln –, während ihr also die unterschiedlichsten Ängste und Bedenken durch den Kopf gingen, spürte sie auf einmal auch eine tiefe innere Ruhe. Sie wußte nicht, woher ihr diese Gelassenheit kam, mit der sie sich nun vor Brigittes Nachtschränkchen auf 163
den Boden setzte, allein mit der dunklen Silhouette der Ehebetten, dem grauen Flirren hinter dem Fensterkreuz und dem kaum wahrnehmbaren, stumpfen Blinken des Spiegels. Irgend etwas stimmte sie gleichmütig, nicht kalt etwa, auch nicht gefaßt, die Neugier blieb. Irgendeine Empfindung sagte ihr: Jetzt hörst du wahrscheinlich, was du immer erwartet hast. Die Beine untergeschlagen, saß Rosi fast bequem. Reckte den Hals leicht, denn das Gerät stand nun hoch. Wartete ab mit Geduld. „Eins – zwei – drei“, schrie oder hauchte es noch einmal. Es folgten unregelmäßige Geräusche wie von rasselnden Schlagzeugen, einem Jazzbesen etwa, aber alles nicht im Rhythmus oder gar musikalisch. Dann zwei dumpfe Schläge, diese auch sehr laut, wie heftiges Klopfen auf Holz. Gleich darauf wieder das Metallrutengeraspel. Roswitha begriff, daß die Frau ein Mikrofon hinter, neben oder unter Holz anbrachte. Warum versteckte sie es? Wo sie es verbarg, wurde Rosi bei etwas konzentriertem Hinhören klar. Die scharf knisternden Laute rührten von der aufgewälzten und wieder über das Mikrofon gedeckten Bettwäsche. Brigitte hatte also ein Band besprochen, ein neues Band. Demnach hatte sie es nicht lange vor ihrem Tod aufgenommen. Wochen vorher? Tage? Stunden vielleicht bloß? Rosi erinnerte sich nicht, daß ihr Norbert etwas von dieser Neuanschaffung erzählt hatte. Laute wie von tastenden Schritten waren zu hören. Wer trat ins Zimmer? Bettknistern wieder. Das Räuspern eines Mannes. Roswithas Ahnung, die ihr bereits bei den unsicheren Schrittgeräuschen gekommen war, bestätigte sich. Also im Bad war er gewesen. Diese Zeit hatte Brigitte ausgenutzt. Nun lief alles ab wie ein gründlich einstudiertes Drama. 164
Roswitha hockte vor dem Bandgerät, als wäre es ein grün erleuchteter Hausaltar, so eine Ikonenecke oder ein kleiner chinesischer Totentisch. Ergeben hockte sie, wie eine Sklavin im alten Indien vielleicht. Sie schränkte ihre Arme um den gesenkten Kopf, kroch ganz in sich hinein, die Beine drehten sich in den Lotossitz. Gerade, daß noch die Ohren frei blieben zu hören, was gehört werden muß. Sie atmete ruhig und langsam. Brigitte (mit dieser dunklen, mondänen Stimme, in der durch ihren an südliche Randbezirke erinnernden Dialekt etwas von Fliedermütterchenart mitschwingt): „Ich möchte dich etwas fragen …“ Er: Räuspert sich. Es soll vielleicht abfällig klingen wie: Was kannst du mich schon fragen wollen? Brigitte: „Darf ich dich etwas fragen?“ Norbert: „Hast du das Licht im Bad ausgemacht? Hast du das Toilettenpapier rechtwinklig abgerissen? – Etwas anderes würdest du mich doch nicht fragen.“ Brigitte: „Etwas anderes.“ Norbert: „Das wäre also …“ Brigitte: „Eigentlich“ (das klang in ihrem südlichen Dialekt wie a-gentlich) „möchte ich eine Bitte an dich richten. Einer zum Tode verurteilten Person gewährt man doch immer die letzte Bitte?“ Norbert (offenbar geschmeichelt von dieser Redewendung, darum sehr sicher): „Sprich.“ Sie muß eine Weile überlegen. Nur das leise Schnurren des Bandes ist hörbar. Dann spricht sie, übrigens sehr munter, fast so selbstbewußt und leichthin wie er eben: „Im Grunde genommen ist es nichts, worum ich dich bitte. Jedenfalls kostet es dich nicht die geringste Anstrengung oder Mühe. Ja, ja! Ich soll nie so weit ausholen, wenn ich etwas sagen will. Ich weiß, ich kann mich nicht immer exakt ausdrücken. Also gut, zur Sache“ – (Auf dem Band ist ein längeres, betontes Räuspern von ihm zu hören. Man merkt, er quält sich.) 165
„Ich wünsche mir, daß du genau das wiederholst, was du mir eben offenbart hast.“ Geknatter. Wahrscheinlich fährt er hoch. Sitzt nun auf im Bett. Er ist mißtrauisch geworden. Da war etwas in ihrem Ton, das ihm fremd vorkam. Aber hier wird der starke Unterschied zwischen Mann und Frau offenbar. Männer spüren das Fremde und Neue, Gefahr oder Zuneigung, Drohung oder Liebe, ebenso rasch wie Frauen. Nur halten Frauen alle diese Gefühle viel länger fest, wie überhaupt jede Empfindung in sie tiefer eindringt, während Männer solchen, wie sie meinen, unbegründeten Vorurteilen mißtrauen und sich sehr bald wieder auf ihren vielgerühmten Verstand verlassen. „Was hast du für einen Grund, das Ganze noch mal zu hören? Was in aller Welt reizt dich, noch einmal an den Rand des Wahnsinns getrieben zu werden? Vorhin wolltest du dich ja nach meinen, zugegeben, wenig überlegten Worten beinahe aus dem Fenster stürzen.“ Man hört seinem Ton an, wie sehr er es bedauert, daß sie nicht aus dem Fenster gesprungen ist. „Ich glaube, du warst erregt.“ Brigitte redet hastig, wie auswendig gelernt. „Wütend oder so. Ich glaube dir deinen ganzen – Plan einfach nicht. Ich glaube nicht, daß du mich, wie du behauptet hast, seit einem Jahr systematisch in den Tod treiben willst. Systematisch, nicht wahr? Das hast du wörtlich gesagt. Ich weiß, dazu bist du zu labil. Unerwartet und plötzlich könntest du mich vielleicht totschlagen. Wie bei dem Streit in der Küche, als du mit dem Panierbeil auf mich zuliefst. Vielleicht kannst du eine haßerfüllte Tat sogar einen Tag lang planen. Zu mehr reicht es bei dir wahrscheinlich nicht. Ach, du bist einfach ein böser Junge. Ein kleiner, allerdings sehr böser Junge. Einen systematischen Plan über ein Jahr hält ein kleiner, böser Junge nicht durch.“ (Unvermittelt, auf einmal in anderem Ton, fast fröhlich:) „Vertragen wir uns also wieder? Ich verzeih dir ganz einfach.“ 166
Norbert steigt sofort auf ihren Ton ein. Besser konnte es sich Brigitte nicht wünschen – für ihr Band. Denn das spürte Roswitha genau heraus: Seine Frau provozierte ihn, ohne daß Norbert es merkte. Prompt kam seine Reaktion. Rosi lächelte bitter. „Ich hasse dich. Und du hast recht: Ich bin labil und feige. Okay.“ (Das quäkte er sehr amerikanisch hervor, wie ein falscher Gaucho im Westernfilm.) Dann nach einer halben Schweigeminute, die Brigitte bewußt verstreichen läßt – mein Gott, war diese Frau ihr doch in manchem überlegen! –, fährt er fort. „Also gut, ich tu’ dir den Gefallen. Alles, was ich dir heute berichtet habe, ist die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit, mein Schatz. Ich habe dich satt gehabt, bis oben hin satt. Schon als du mir die erste Vorhaltung machtest, wegen der späten Rückkehr von der Brigadefete. Dann deine blödsinnige Fragerei, ob ich in meinem Beruf unter Leuten und in Wohnungen nicht manchmal auch diese oder jene adrette Person kennenlerne. Schon deine angemuffte Ausdrucksweise! So was nennt man heutzutage flotte Biene oder steiler Zahn! – Oder ob wir als Fernmeldemechaniker wirklich immer bloß an die Telefonleitung denken oder nicht auch manchmal von schönen Augen bezirzt werden können, die dies oder jenes Extra verlangten? Eifersüchtig und penetrant mißtrauisch warst du in deiner abgöttischen Liebe zu mir. – Okay! Ich werde alles wiederholen, was ich dir vorhin sagte. Und, du hörst es doch hoffentlich jetzt in voller Ruhe. – Es waren anfangs nur Scherze von dir, wie du sie verstehst in deiner blöden Art. Aber damit hast du mir das Kind schon in den Bauch geredet, als ich noch nicht mal in Gedanken fremd ging. Schuldgefühle mir suggeriert, die mir Wut und Leere in den Kopf trieben. Schließlich, als ich nicht ein noch aus wußte mit meiner öden, kalten Wut, kam mir der rettende Einfall: Und wenn meine liebe Frau es so haben will? Du hast dir gewünscht, betrogen zu wer167
den. Dann trat diese Krankenschwester in mein Leben. Sie hatte gleich das gewisse Etwas an sich. Du weißt, wovon ich rede.“ Roswitha fühlte, wie ihr heiß war und daß sie wahrscheinlich rot wurde. Schämte sie sich für ihn? Für sich? Sie kam zu keinem klaren Schluß. Norberts Stimme tat ihr körperlich weh. Sie hoffte, er würde gleich auflachen und alles als betrunkenes Gerede abtun. Sie hoffte zwar ein wenig, aber sie brannte nicht darauf. Genau so, sagte ihr eine innere Stimme, das ahne ich seit einiger Zeit, mußte seine Ehe gewesen sein. Nur, daß ich nie so richtig daran glauben wollte. Die Spule schlurrte weiter: „Für die Rettung meines Selbstbewußtseins gab es bald nur einen Ausweg: deine Selbstsicherheit zerstören. Ich habe mir Gedanken gemacht, wo du angreifbar bist. Da kam ich darauf, daß du dort am empfindlichsten reagierst, wo du dir deine Stärken einbildest. In deiner Penibilität, deiner gottverdammten Liebe zu Ordnung und Sauberkeit. Einen Haushalt mit links führen, neben der Arbeit, darauf hast du dir doch immer was eingebildet. Darauf auch: mich nicht merken zu lassen, wie spielend du alles auf Hochglanz hieltest. Jedenfalls früher. Eine Art Heinzelmännchen sein, das bereitete dir heimlich Spaß. Wenn ich dann nach Feierabend noch mal fortging, zwei Stunden lang auf einen Pfusch, jemand die Antenne setzen, und ich kehrte zurück und du hattest in der kurzen Zeit nicht nur die Wohnung geblitzt, sondern auch noch Blumen auf den Tisch gestellt, und der Broiler brutzelte zum Auftragen bereit in der Küche, und ich staunte ungläubig, da strahltest du förmlich vor Selbstgefälligkeit.“ „Deine Bewunderung für meine hausfraulichen Fähigkeiten war demnach Heuchelei?“ „Nie war es das. Immer bist du flink, geschickt und sauber gewesen. Aber du hast mein Lob nicht gebraucht.“ 168
„Du weißt, wie du lügst. Als Mädchen, zu Hause, konnte mich meine Mutter zehnmal rufen am Sonntag: Wasch endlich auf, Gitte! Ich war zu faul, habe lieber ein Buch gelesen. Die Schellen von Vater haben mich oft erst dazu gebracht, etwa das Bad zu scheuern. Alles tat ich nur, weil ich dich …“ „Ja, du stockst selbst, das Wort auszusprechen. Es wäre schließlich eine faustdicke Lüge. – Aber sicher wolltest auch du nicht, daß ich mir jetzt Liebeserklärungen anhöre von dir?“ „Nein, das wollte ich wirklich nicht.“ Die Decke raschelte laut und lange. Roswitha konnte nach der Stärke des Geräusches urteilen, daß es diesmal Brigitte war, die sich im Bett drehte. Fast schien es, als ob das Ehepaar im Dunkeln neben ihr lag! Das Ehepaar … Angst kam ihr auch bei diesem plötzlichen Einfall nicht. Sie wunderte sich selbst über ihre stoische Ruhe. Im Dienst war diese Gelassenheit für sie eine Selbstverständlichkeit. Aber hörte sie denn, daß sich zwei fremde Menschen quälen? Sich mit Worten die Hölle bereiteten, wie es nicht schlimmer angehen konnte? War ihr Norbert vielleicht ein Fremder? Und kannte nicht auch sie diese zynische Tour von ihm? Seltsamerweise verspürte Roswitha größeres Interesse für ganz andere Fragen: Ob die Decke geraschelt hatte, weil Brigitte unbemerkt nach dem Mikrofon sah? Oder weil sie gerade eines ihrer wunderschönen glatten Beine aufdeckte – jener Beine, die ein Schnellbahnzug bald zerschneiden würde? Norbert: „Kehren wir zurück zur Sache. Zum letzten Wunsch einer zum Tode Verurteilten, nicht wahr? Ich wußte, daß du nicht leicht in eine Scheidung einwilligst. Außerdem wollte ich mich vorher an dir rächen. Dich klein und mickrig machen. Und ich habe mir gedacht: Sei nur darauf aus, ihr dieses Heinzelmännchenideal zu 169
zerstören. Laß sie glauben, sie sei eine schlechte Ehefrau.“ Brigitte: „Du meinst: Hausfrau.“ Norbert: „Ich meine, und das weißt du genau, ich meine Ehefrau. Also probierte ich, das Haar in der Suppe zu finden. Den Rest Staub auf der Schrankwand. Das Schnipselchen Papier unterm Sofa. Es klappte auf Anhieb hervorragend. Schneller, als ich dachte, entwickeltest du dich zu einem Ordnungsdämon. Zum Fummelchen. Okay. Aber dann …“ Brigitte: „Kürzen wir ab. Du verwarfst den Scheidungsgedanken.“ Norbert: „Ich kriegte heraus, wie du ein bißchen durchdrehtest dabei. Daß dir die helle Angst in den Augen geschrieben stand, wenn ich mich beim Heimkommen auch nur umsah im Wohnzimmer. Ich sagte mir: Warum nicht? Das werde ich fördern. Ein Witwer sieht vor der weiblichen Nachwelt immer besser aus als ein geschiedener Mann. Ich beschloß, dich in den Wahnsinn zu treiben. Dazu, daß du dir selbst den Strick nimmst. Weil du einfach so phantastisch mitgespielt hast! Bis heute.“ Brigitte: „Bis heute?“ Norbert: „Begreif doch. Daß ich dir meine Waffen nun offen zeige, ist doch nur eine Variante von Taktik. Auch morgen und in alle Ewigkeit wird es für mich nur ein Ziel geben: daß du dich umbringst.“ Brigitte (nach einer Pause – und es klingt drohend ehrlich): „Und wenn ich morgen früh die Scheidung einreiche?“ Norbert (sofort): „Dazu fehlt dir der Mumm.“ Brigitte: „Und dir macht es Freude, neben einer ungeliebten Frau im Bett zu liegen? Du reichst die Scheidung nicht ein – wie?“ Norbert (prompt): „Es macht mir Freude, das gebe ich offen zu, mehr Stärke zu zeigen als du.“ 170
Brigitte: „Manchmal glaube ich, daß du mich in den Augenblicken, als du mich schlugst oder mit dem Panierbeil auf mich zieltest, wirklich geliebt hast.“ Norbert: „Was für eine kluge Psychologin du bist. Aber wir sind ja beide erwachsen und haben einiges durchgemacht.“ Brigitte: Sie gibt ein langes, gekünsteltes Lachen von sich. Norbert: „Warum lachst du?“ (Wenig, kaum spürbar, schwingt Unsicherheit in seiner Stimme.) Brigitte antwortet überlegen: „Weil du wieder einmal einen Satz abgelassen hast, den du vor dir selbst nicht vertrittst. Hätte ich dich nicht eben eingeschätzt als das, was du bist, ein kindischer, schmollender Egoist – du wärest von selbst nicht daraufgekommen.“ „Du schaffst es nicht, mich dazu zu bringen, daß ich dir den Arsch verdresche.“ „Stimmt. Du schlägst mich schon wochenlang nicht.“ „Vielleicht habe ich einen Hintergedanken dabei? Meinen Plan? – Lach nicht, du ordinäres Stück! Ich werd’ dich …“ Mit einemmal gab es wieder den scharfen Knack. Das Band schwieg. Roswitha hörte eine Zeitlang dem Schlurrgeräusch zu. Sie stand auf, drückte den Vorlauf, schaltete erneut auf Wiedergabe. Schlurren. Wiederholte den Vorgang noch zweimal. Immer ertönte nur das Summen des leeren Bandes. Eigentlich, sagte sie sich, habe ich genug gehört. Das Ende der Szene war leicht auszudenken. Er hatte sie geschlagen. Rosi ließ alles, wie es war, stehen und ging ins Wohnzimmer, um sich eine Zigarette anzuzünden. Zwei Gründe, sagte sie sich, mochten seine Brigitte dazu gebracht haben, den Streit im Ehebett so hochzutreiben. Der eine war, ihn in Wut und danach in Schuldgefühle zu versetzen, damit er um sie warb. Sie vielleicht liebte. Der an171
dere Grund konnte nur sein, daß sich Brigitte zu einer Scheidung entschlossen hatte und für die Zerrüttung dieser nach außen hin untadeligen Ehe ein Beweisstück brauchte. Offenbar hoffte sie, dem Scheidungsrichter das Band vorspielen zu können … Falsch, mußte sich Rosi dann eingestehen. Für den ersten Grund hätte Brigitte kein Band aufnehmen müssen. Also konnte es nur den zweiten geben. Brigitte war fest entschlossen, sich von ihm scheiden zu lassen. Wußte Norbert von Brigittes Entschluß? Wenn ja – warum stritt er sich dann noch wochenlang mit ihr herum? Nein, er konnte nichts von dem Band, nichts von ihrem Vorhaben wissen, die Scheidung einzureichen. Die Aufnahme mußte kurz vor Brigittes Tod entstanden sein. Sie hätte das Band sonst irgendwo anders verborgen als in dieser Wohnung. Am nächsten Tag schon würde sie es auf ihre Arbeitsstelle oder zu ihren Eltern gebracht haben. Noch anders: Sie hätte es, wenn es wahr war, daß sie in der Unglücksnacht zu ihren Eltern fahren wollte, gewiß in ihrem Handgepäck mitgenommen. Auf einmal fiel es Roswitha wie Schuppen von den Augen: Dieses Band hatte Brigitte Minuten vor ihrem Tod besprochen. Nachher folgte die Schlägerei, nachher gleich, floh sie Hals über Kopf aus dem Haus. Kurz darauf ereignete sich die grauenhafte Szene auf dem Bahnhof … Nun fror Rosi doch ein wenig. Sie blickte auf die Fotografie der Schönen mit der nackten Schulter, die auf dem Fernseher stand und von da aus in jede Ecke des Zimmers blickte. Mitleid empfand Roswitha, sie wußte aber nicht genau, mit wem. Langsam erhob sie sich. Schritt auf das Bild zu. Mit der flachen Hand wischte sie sorglich den Staub ab, der sich auf die Glasscheibe gelegt hatte. 172
Nach elf war es bereits, Norbert noch nicht zurück. Roswitha streckte sich auf die Couch und versuchte zu schlummern. Stand gleich wieder auf, ging hinüber und dann zur Abstellkammer und legte die Dinge an den Platz, an dem sie sie gefunden hatte. Aber er wußte inzwischen von der Existenz des Bandes. In jener Nacht, als sie in sein Schlafzimmer stieg, hatte er es abgehört. Was mochte Norbert dabei empfunden haben? – Doch auch das war nicht wesentlich. Rosi schloß die Abstellkammer zu. Dann schaltete sie den Fernseher ein. Sie setzte sich bequem. Wenn er wiederkehrte, sollte er denken, sie habe die ganze Zeit ferngesehen. Die „brutale Wahrheit“, für die sie einmal alles hergegeben hätte, erschien ihr jetzt sinnlos. Das Fernsehen bot wahlweise Ballett, Oper und eine Politikerrunde. Sie stellte den Ton ab und starrte auf die sich wie aufgezogen bewegenden Kostümhelden, die großen, schiefen Münder beim Singen. Nie wieder würde sie einen Mann so lieben können, wie sie Norbert geliebt hatte. Nun war alles zu spät. Noch vor zwei Monaten hätte das Tonband auf sie eine niederschmetternde Wirkung gehabt. Da vielleicht hätte sie sich noch von ihm trennen können. Als er heimkam, ging es auf zwölf. Sein Lamentieren über die Kumpels, die einem gerade dann in der Kneipe begegneten, wenn man sie nicht brauchen könne, überhörte Roswitha lächelnd. Flaschenbier klingelte in seinem Netz. Aber er hatte sich keine fünf Bier, wie er behauptete, mit dem Kumpel genehmigt. Noch vor dem Wiedersehenskuß roch Roswitha, daß er Martini getrunken hatte. Da wußte sie auch, daß er keinen Kumpel getroffen und daß er nur bei Gesine gewesen sein konnte. Auf ihrer Geburtstagsfete – in der Gemeinschaftsküche? Nein, das hätte er kaum gewagt. Es mußte eine 173
schon länger getroffene Verabredung gewesen sein, etwa der Art: Komm gegen zehn in mein Zimmer. Nur Gesine soff dieses süße Zeug. Da kannte Rosi sich aus. Gleich nachdem er sie, natürlich in allerbester Stimmung, geküßt hatte, lief Rosi auf die Toilette. Dort, im Apfelseifenduft, überlegte sie noch einmal genau, ob ihr Entschluß richtig war. Ja, es ist ganz in Ordnung, was ich will, sagte sie sich. Ich bin siebenundzwanzig. Ich möchte nicht auf dem Flur versauern wie Lotte. Hausoberin Roswitha, um Gottes willen, nein! Aber vielleicht gibt es einen dritten Weg …? Auf einmal hatte sie eine Idee, die sie sonderbarerweise beinahe ausgelassen fröhlich stimmte. Ich werde die Pille weglassen, beschloß sie. Ich will und muß ein Kind von ihm haben. Ein Kind von Norbert! Dann werde ich ihn verlassen. Sie kam ins Wohnzimmer zurück. Sie tänzelte geradezu herein vor Freude. Norbert sah ihr erst verwundert und dann begeistert zu. Roswitha schlüpfte aus ihren Schuhen, zog die Strümpfe aus und tanzte. Auf bloßen Füßen tanzte sie und warf im Tanz auch die anderen Kleidungsstücke von sich. Sie wollte sich fast kaputt lachen, und sie rief immerzu: „Wußtest du eigentlich, daß ich strippen kann, wie ein Profi? Wie ein Prooofi!“ „Um in dein Lokal zu gelangen, würde ich schon einen Hunderter springen lassen“, bestätigte Norbert.
15 Der zweite Advent war ein so klarer, blauer Wintersonntag, daß eine Filmgesellschaft in den nach einem kurzen Mittagsregen wie blank geleckten Straßen ei174
nen Sommerfilm hätte drehen können. Mit Tannengestecken, kleinen Sträußen verspäteter Astern und allerhand verfrüht in Weihnachtspapier gewickeltem Krimskrams stürmte ein Heer von dick vermummten Menschen das Krankenhaus. Auf der großen Treppe knöpften die Leute die Mäntel auf und probierten ein Lächeln mit ihren von der Kälte eingefrorenen Gesichtern. Roswitha hatte die Tür des Schwesternzimmers halb offen gelassen und beantwortete die üblichen Fragen nach den Liegeplätzen neuer Patientinnen vom Sessel aus. Sie strickte an einem weißrotgelben Skipullover für Norbert. Was auch immer geschehen würde, Weihnachten würde in jedem Fall stattfinden. Und der Pullover sollte seine Weihnachtsüberraschung werden. Deshalb achtete sie darauf, daß es nicht zufällig Norbert war, der zur Tür hereinsah. Unwillkürlich senkte sie jedesmal die Hände unter den Tisch, wenn Schritte auf das Zimmer zielten und jemand seinen Kopf hereinsteckte. Ich putze ihn noch heraus, dachte sie, während er selbst schon keine Chance ausläßt, meinen lieben Mitschwestern zu gefallen. Ein Lippenbärtchen ließ er sich stehen! Weiß der Teufel, welche Schikse ihm diese Gesichtsverzierung eingeredet hat, ich jedenfalls nicht … Seine Kollegen hatten ihm den Spitznamen „Französchen“ gegeben. Französ-chen! Und Norbert fand das ganz in Ordnung. Als der Lärm auf dem Korridor verebbte, wandte Rosi sich dem korpulenten Mann zu, der ihr auf einem Sessel gegenübersaß. Übrigens war das ein weiterer Grund, warum sie fürchtete, Norbert, der zwar vor einer Stunde noch oben in ihrer Dachkammer fest geschlafen hatte, könnte sie plötzlich besuchen. Norbert wußte, daß Doktor Teller Stationsdienst hatte und daß Teller mit ihr kurz liiert gewesen war. Für den fülligen Arzt hegte Nor175
bert Empfindungen, wie sie etwa ein bissiger Hund für einen fremden Kater verspürt. „Was gibt’s?“ fragte Rosi knapp. „Kommst du wieder als Mahner in der Wüste?“ „T-t-t“, machte Teller, und wiegte den Kopf. „Alle Welt merkt, was mit dir los ist. Nur du selbst spielst – nein, du bist offenbar die Naive.“ Rosi blickte auf ihr Strickzeug und sagte gleichmütig: „Seltsamerweise tragen die Propheten der Neuzeit helles Haar.“ Auf seinen fragenden Blick hin: „Ach, nichts Besonderes. Es existiert nämlich noch ein anderer, dir im Inneren ganz ähnlicher Herr, dessen Haar zwar nicht dieses herrliche Radieschenrot aufweist wie deins. Dafür leuchtet es aber goldgelb wie ein Stück frische Tafelmargarine.“ „In unserem Haus?“ „Du kennst ihn nicht. Wirst ihm hoffentlich auch nie begegnen. Um Gottes willen, wenn ihr beide zusammen auf mich einreden würdet – das reine Jüngste Gericht!“ Sie lachte in sich hinein. „Drück dich klarer aus, Roswitha, oder laß deine Andeutungen ganz.“ „Apropos Andeutungen, verehrter Volksdoktor. Was sollte denn deine Anspielung vorhin bedeuten?“ Teller drehte nervös an der Batterie Kugelschreiber, die aus seiner linken Kitteltasche herausragte. „Deine unverbindliche Heiterkeit erinnert mich an die Anekdote von den beiden Psychologen, die sich auf der Straße begegnen, und der eine begrüßt den anderen mit den Worten: ‚Na, wie geht’s mir?‘ “ „Hübsch, aber schon hundertmal gehört.“ Teller streckte eine seiner rotbeflaumten Hände nach ihr aus, als wollte er die Stricknadeln anhalten, deren Blitzen ihn offenbar irritierte. „Roswitha, ich wollte immer dein …“ Sie kicherte fast unhörbar. 176
Die Nadeln blitzten wie Kobolde. „Nein, ich muß anders formulieren. Die Oberin macht sich ernsthaft Sorgen um dich. Und nicht nur Hilda. Auch die Hausoberin. Alle unsere Mädchen haben inzwischen ein klares Bild von deinem Norbert. Ich werde dir ja nichts Neues sagen: also, daß er es mit Gesine getrieben hat, danach sein Glück mit Bianca versuchte und während der ganzen Zeit mit deinen Gefühlen spielte. An deiner Stelle, Roswitha, würde ich reagieren wie Gesine: Tritt in den Hintern und ’raus! Die hat bloß einmal die Geschichte mit Bianca gehört und prompt und richtig geschaltet.“ Ein Schatten flog über Rosis Stirn. Doch nur kurz, gleich lächelte sie wieder. „Ihr seid alle bestens informiert. Ihr glaubt, mich schützen zu müssen. Das arme Huhn, denkt ihr, die liebe, dumme Rosi. Natürlich merke ich, daß sich aller Freundschaft mir wieder zugewandt hat. Eine typische Krankenschwesternkrankheit: Mitleid für Sympathie halten! – Ich sag’ dir, Karl-Heinz, ich brauche eure Gefühlsduselei nicht. Ich lebe auch ohne die ganz gut. Sehr gut sogar!“ Teller drehte seine Kugelschreiber in einem Tempo zum Anschlag und wieder zurück und wieder bis an den Anschlag, als wollte er mit dem Rhythmus der Stricknadeln unbedingt Schritt halten. Sicherlich machte er auf die Art mindestens drei seiner Kugelschreiber unbrauchbar. Er erhob sich und wollte eigentlich hinaus. Aber dann fragte er doch noch etwas. „Roswitha, kannst du mir in einem Satz sagen, warum du diesen Dandy liebst?“ „Nein“, antwortete Rosi wahrheitsgemäß. Sie blickte mit einem hellen, fast übertrieben offenen Gesicht zu Teller auf. Er bemerkte aber, daß sie im Gegensatz zu ihren gelösten Zügen den Kopf unbewußt zwischen die Schultern zog, als erwarte sie, sich jeden Moment gegen irgend etwas verteidigen zu müssen. 177
Das fiel ihm auf, und er dachte sicherlich an die frühere, draufgängerische Rosi, die ohne Skrupel seine Zuneigung bloßgestellt hatte. Sie tat ihm tatsächlich leid, das hörte man Tellers Stimme an, als er sagte: „Du bist nicht mehr die Alte.“ „Nein“, antwortete sie beinahe stolz. Er setzte sich, halb zum Gehen bereit, auf die Sessellehne. So war er ihr auf einmal näher, was er eigentlich gar nicht beabsichtigt hatte. Diese Nähe kostete ihn zusätzlich Nerven, er redete deshalb schneller: „Du siehst blaß aus. Du brauchtest mal Urlaub. Du hast überhaupt – irgendwie einen Knick hast du weg!“ Roswitha kostete es aus, daß ihre Gegenwart bei Teller immer noch ein Prickeln verursachte. „Ich werde mal versuchen, meine große Liebe zu begründen – ja? Also erstens: Norbert ist ein ausgezeichneter Facharbeiter. Such das mal heutzutage, wo fast alles, was Handwerker heißt, pfuscht und bloß kassieren will! Zweitens: Er liebt seine Mutter. Ich habe vorigen Sonntag mit ihm zusammen die alte Dame in der Psychiatrie besucht. Sie erkannte ihn natürlich nicht, aber er hörte ihrem Geschwafel mit der größten Liebenswürdigkeit und Geduld zu, bis die Besuchszeit zu Ende war. Das hätte ich nicht fertiggebracht – klar? Drittens könnte er demnächst eine kybernetische Entdeckung machen, bei der die Welt aufhorchen wird. Er besitzt schon jetzt eine elektronische Schildkröte, die auf sieben – sieben! – akustische Signale gehorcht. Willst du noch mehr Beweise, weshalb ich Norbert liebe?“ Teller war bei Rosis im Tone feiner Überlegenheit vorgebrachten Erläuterung hochgegangen. Im doppelten Sinne des Wortes, denn jetzt bebte er förmlich vor verhaltener Wut. Bloß zu schreien hütete er sich, schließlich war die Station voller Besucher. „Ich wollte es nicht glauben“, sagte Teller erregt. „Wollte es einfach nicht wahrhaben. Aber es stimmt 178
schon, daß du die bist, für die ich dich in der Zeit, als du mich erniedrigt hat, wie es nicht tiefer gehen konnte, für die ich dich da gehalten hatte. Damals hämmerte ich mir diese Einschätzung immerzu ein, gegen mein Gefühl. Jetzt freilich sehe ich, es ist die Wahrheit.“ „Daß ich eine kleine, gedankenlose Sexbombe bin?“ Roswitha beobachtete Tellers Ausbruch mit Genuß. „Du sagst es. Ich hätte es wahrscheinlich nicht über die Lippen gebracht.“ „Warum auf einmal so schüchtern, Herr Doktor?“ „Im Sex, weiß ich jetzt, steckt das A und O für dich. Die ganze Liebe und das ganze Leben. Nur bist du mit diesem Schönling da in die eigene Falle gerannt. Blind bist du, und keiner wird dir mehr helfen können!“ Er wandte sich abrupt zur Tür. Rosi fragte: „Wobei – helfen?“ „O du heilige Unschuld!“ Teller winkelte beide Arme wie ein Priester, und diesmal glich er auf frappierende Weise dem Triebwagenführer. „Mensch, das ganze Haus flüstert es, daß dein Typ wahrscheinlich seine Frau aus der Welt geschafft hat! Der macht jede kaputt, dein kybernetischer Entdecker!“ „Keine Beleidigungen bitte“, sagte Roswitha in verändertem Ton. „Sonst schicke ich dir meinen Entdecker mal vorbei, damit du seine Stärken kennenlernst.“ Teller ließ die Arme sinken. Vornübergebeugt stand er und sah Rosi aus seinen Kinderaugen enttäuscht an. Er sagte: „Ich habe Angst um dich.“ Rosi holte sich, kaum daß Teller heraus war, einen Zettel und schrieb in großen Buchstaben darauf: BESUCHER BITTE STATION 5 MELDEN. Diesen Zettel heftete sie mit zwei Streifen Leukoplast an die Tür. Versteckte ihr Strickzeug und lief über den Flur hinüber auf Station fünf, um Bianca zu sagen, sie verschwinde für eine Stunde nach oben. „Meine Güte – du!“ empfing sie das freundlich-dick179
liche Mädchen. Sie hatte während der Besuchszeit genausoviel zu tun wie Roswitha und versuchte erfolglos, der Langeweile mit klassischer Radiomusik zu entgehen. Fast euphorisch begrüßte Bianca ihre Kollegin. Sie rückte ihr einen Sessel zurecht und stellte den Sender leiser und blieb auch bei dieser aufgedrehten Herzlichkeit, als sie fragte: „Tee – ja? Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten?“ Als Roswitha abwinkte, sagte Bianca schnell: „Es wäre sicherlich gut, wenn du dich wenigstens hinsetzt für das, was ich dir leider mitteilen muß. Ich weiß nicht, ob wir bald wieder Gelegenheit haben, so unter vier Augen … Und erfahren mußt du’s.“ „Hach du liebes bißchen! Wir rührend ihr um mich besorgt seid!“ Sie nahm den angebotenen Platz nicht an, und Bianca legte den Tauchsieder wieder aus der Hand. Schaute kurz auf den Korridor, der vom Gesumm der Gespräche in den Zimmern erfüllt war. „Rosi“, flüsterte sie dann. „Er hat sich wieder mit Gesine versöhnt.“ „Ach, hört auf …“ Sie faßte Roswitha an beiden Handgelenken. „Willst du allen Ernstes sein nächstes Opfer werden? Der bringt es fertig und stößt auch dich vor irgendeinen Zug.“ „Wir wollen eins klarstellen, Bianca, und das kannst du gern allen weitersagen. Die Tuschelei darüber, was mit Norberts Frau geschehen sein soll, finde ich widerlich. Und bei aller Liebe – euer Mitleid geht mir langsam auf die Ketten! Ich will Norbert, ich liebe Norbert, ich werde mit ihm …“ „Was wirst du?“ fiel ihr Bianca ins Wort. „Zu Neujahr fährt er mit Gesine in den Urlaub.“ Roswitha lachte. „An Phantasiemangel leidet ihr nicht. Dazu kann man euch bloß gratulieren.“ Bianca senkte die Stimme erneut zu einem Flüstern. „Ich habe es heute früh erfahren. Willst du wissen, von wem?“ 180
Roswitha wölbte die Unterlippe, und irgendwie versteinerte sie auf ihrem Platz an der Tür. Andererseits sah es jedoch auch so aus, als ob sie am liebsten rasch hinausgegangen wäre. „Ich will es nicht wissen“, antwortete sie. „Na gut.“ Bianca seufzte. „Dann erkundige dich morgen beim Feriendienst, ob Gesine zwei Urlaubsplätze im Vogtland gebucht hat. Exakt vom 3. bis 14. Januar. Exakt für zwei Personen. Bei der zweiten handelt es sich garantiert nicht um einen von Gesines Schleierschwänzen.“ Roswitha sah auf das Fenster gegenüber. Ihr Gesichtsausdruck war gespannt, als lausche sie auf etwas, das draußen jenseits der Fensterscheiben auf dem Krankenhaushof vor sich ging. Sie sagte: „Ein phantastischer Wintertag. Findest du nicht, Bianca? So klar und trocken. So blau.“ „Geh für eine Stunde nach oben“, riet Bianca. „Leg dich etwas hin.“ „Ach, richtig!“ Roswitha schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Deshalb bin ich doch gekommen. Sag’ mir Bescheid, wenn ich gebraucht werde, ja? An meinem Schwesternzimmer klebt ein Zettel. Das wär’s eigentlich … Danke im voraus, Bianca.“ „Meine Güte, wofür du dich bedankst …“ Sie fand Norbert auf der Liege lesend vor. Er blickte nicht auf, als sie eintrat. Eher verdeckte er mit dem Buch das Gesicht noch mehr. Es war keins von ihren Büchern. „Die unerhörten Abenteuer des …“ las sie auf dem Einbanddeckel. Den Rest verbarg seine Hand. Sie wußte, daß sie ihn beim Lesen stören würde, wenn sie jetzt etwas sagte. Leise holte sie sich eine Decke aus dem Schrank im Vorraum. Danach legte sie sich ohne ein Wort neben ihn auf die Matratze. Norberts Bärtchen bewegte sich, während er las. Er schnappte danach mit der Lippe, es sah leicht komisch 181
aus. Sie betrachtete das eine Weile und drehte ihm dann den Rücken zu und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Von Schlaf konnte keine Rede sein. „Hast du keinen Dienst?“ fragte er plötzlich. „Es ist Besuchszeit.“ Es schien, als ob er, während er mit ihr sprach, gleichzeitig weiterlas. „So.“ Ihre Gegenwart kam ihm nicht gelegen. Was sollte sie tun? Wohin gehen? Da hatte sie den Einfall, die Flurfenster zu putzen. Diese Woche war sie ohnehin an der Reihe. Roswitha erhob sich. Legte die Decke zusammen, brachte sie zurück in den Schrank. „Ein bißchen rücksichtsvoller könntest du freilich sein“, brummte er, ohne aufzusehen. „Entschuldige, war ich wirklich zu laut?“ Er antwortete nicht. Plötzlich legte er das Buch beiseite, stützte sich rückwärts auf die Ellenbogen und sagte: „Daß ich’s nicht vergesse. Anfang Januar sehen wir uns vierzehn Tage nicht. Ich fahre zu einem Lehrgang.“ „Ach – ja?“ Eine winzige Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie war unerheblich. Trotzdem staunte Roswitha: Wie lange war es ihr eigentlich nicht mehr schlecht geworden bei seinen Worten? „Tjaaa“, sagte er und streichelte sein Bärtchen. „Das ist nämlich so.“ Sie hätte jetzt auch ohne Biancas Information gewußt, daß er log. Zunehmendes Unwohlsein, eine Art nervöses Kribbeln signalisierte ihr das deutlich. Doch wie er weitersprach, war sie ihrer Sache nicht mehr ganz so sicher. Eigentlich klang es nicht unglaubhaft, was er ihr erzählte. Der Meister habe ihm damit schon lange in den Ohren gelegen. Er hätte sich früher zwar immer gesträubt, einen Gewerkschaftsposten anzunehmen. 182
Jetzt aber, durch die Winterbeschäftigung in der Werkstatt, da er mit mehr Leuten zusammenkam als mit Ernst und Leberecht, sähe er die Sache mit anderen Augen. Eigentlich wäre ein solcher Posten gar nicht schlecht. Vor allem biete der ihm eine klare Perspektive. Nämlich nicht bei Wind und Wetter auf die Baustellen ’raus zu müssen. Bei gleichem Geld selbstverständlich. Sein Bärtchen hob und senkte sich, mehr als zum Sprechen nötig war. Norbert „benutzte“ es. Französ-chen, fiel Roswitha ein. In letzter Zeit waren da zwei Versammlungen von der Gewerkschaft gewesen. Er war aufgestanden zur Diskussion und hatte auf den Putz gehauen. Wegen des Materials. Wegen der Wartezeiten. Wegen des Plans überhaupt. Und der Schwankungen in der Dicke der Lohntüte, die nicht abhängig waren von der Anstrengung oder Geschicklichkeit des einzelnen Facharbeiters. „… sondern von unserer Schietorganisation“, sagte Norbert, hätte er laut in den Saal gedonnert. Und wäre selbst überrascht gewesen vom Gegendonner: fast minutenlanger Applaus. Auch am roten Tisch vorn wurde geklatscht. Dann hatte Norbert den Auftrag erhalten: Reiche deine Verbesserungsidee schriftlich ein. Lies sie uns vor, in acht Tagen, als geplanter Diskussionsbeitrag diesmal. Roswitha entsann sich einer halben Nacht, während der Norbert in der Gemeinschaftsküche saß und fünf gelbe Röntgenkarten mit kleinen Buchstaben und Zahlen vollschrieb. Doch, es war glaubwürdig, was er ihr berichtete. Man hatte ihren Norbert auf den Gewerkschaftslehrgang delegiert. Er käme an bei den Massen, wie er jetzt auch selbst formulierte. Er aktiviere die Menschen, decke Reserven auf. „Ich wirke“, erklärte Norbert, „ganz einfach durch die Kraft meiner Persönlichkeit.“ 183
Sie stellte fest, daß seine Lippen unter dem Bart eine Bewegung machten, die sie bisher nie gesehen hatte. Diese Lippen kräuselten sich, als ob sie Stangeneis lutschten. Er konnte nicht ahnen, daß er sie mit diesem Kräuseln der Lippen an einen bestimmten Freund erinnerte. Jenen auf seinen Doktorgrad eingebildeten Herrn, mit dem Wohnungsmodell auf Papier, den sie zu hassen begann, als er ihr unter eben der Lampe hier mit Lineal und gespitztem Stift das Kinderbett aufzeichnete, in ihrer künftigen Wohnung. Nein, Blödsinn, das zu vergleichen. Norbert war ein anderer Typ als dieser Doc mit dem Planungsfimmel. Jung war ihr Norbert und stark und eben darum in keiner Weise darauf angewiesen, ihr mit geschwollenen Zukunftsplänen etwas vorzugaukeln. Auch brannte die Lampe nicht wie damals. Klar leuchtete der Tag immer noch. Hell genug, um die Fenster im Flur zu putzen. „Ich gönn’ dir deinen Weg. Immer verbessere dich“, sagte Roswitha. Sie berührte, während er an die Decke blickte und gedankenvoll das unter seiner Nase sprießende Haar kaute, behutsam seinen Arm. „Ich bin mit den Fenstern dran“, sagte sie und zog sich im Vorraum den dicken Pullover über. Er sah, zufrieden mit sich selbst, noch zur Decke auf, als sie schon, Eimer und Lappen in der Hand, die Tür leise von außen zudrückte. Der dicke Pullover war genau das Richtige gewesen. Denn als sie eine der großen Scheiben aufklappte, zog sofort schneidende Kälte herein. Mit der Kälte kroch auch das Gemurmel aus den Korridoren herauf. Einige Patienten, die aufstehen durften, nutzten mit ihren Besuchern die Flure als Wandelhallen. Roswitha beugte sich, ein Bein auf dem Außensims, herab und versuchte das Fensterbrett ihrer Station zu erkennen. Gesichter entdeckte Rosi nicht. Aber eine Hand, eine zweite, einen Ansatz von Arm, der im gelbroten Brokat184
morgenmantel steckte. Sieh mal an, dachte sie, wie schlau meine Patientinnen werden. Da stellt die Opernsoubrette doch von selbst ihren Asternstrauß auf die Himmelswiese. Wird jetzt sicher ihrem Besucher gewichtig flüstern: „Blumen dulden die Schwestern im Zimmer nämlich nicht.“ Schon zwei Sträuße und ein Tannengesteck bedeckten die Himmelswiese. Na, die Gestecke konnten sie ruhig auf ihren Nachttischen behalten. Roswitha wischte emsig und kam rasch voran. Irgendwo hinter dem Knick, vielleicht aus Katrins ehemaligem Appartement, tönten Weihnachtslieder. „Ein Unsinn“, hatte sich Mutter immer empört, „daß sie vor dem Fest im Radio schon alles durchjagen, was es an Liedern gibt. Sogar die Stille Nacht! Solche Klänge gehören sich nun wirklich erst am Heiligen Abend.“ Aber der Vater hatte dagegengehalten: „Es hebt aber die Kauffreudigkeit. Wenn die Leute die alten Weisen hören, stellen sie sich die ganze Peinlichkeit der Situation am Gabentisch vor. Da kaufen sie mehr.“ Die Tür schlug vorn. Stöckelabsätze hallten im Flur. Der Lärm der Schritte verlief sich im anderen Teil des Hufeisens. Roswitha dachte daran, wie er vor einem halben Jahr hier ankam. Morgens war das, der Tag so blau wie heute, kein Wölkchen am Horizont. Da hatte sie auch Fenster geputzt. Und keine Ahnung gehabt, was in der Nacht zuvor geschehen war. Hatte ihn unbewußt noch einmal geschockt, nach dem Nervenstreß auf dem Bahnsteig, nach dem Polizeiverhör. Hatte ihm vorgespielt, sie stürze aus dem Fenster. Was war ich damals doch für ein Gänschen! Soll ich morgen den Feriendienst anrufen? – Hat Bianca recht? Oder sagt Norbert die Wahrheit? Ein Mist, daß Gesine jetzt Dienst hat. Irgendwann wurde es wieder mal Zeit, ihr den Hintern zu bläuen. 185
Roswitha hatte die Tür überhaupt nicht gehört. Sie erschrak, als Norbert auf einmal unter ihr stand. Hielt sich am Fensterkreuz fest und riß die Augen auf, als erblicke sie einen Fremden. Norbert stand mit verschränkten Armen. Sein Lächeln verriet, daß ihn wieder der Teufel ritt, sie zu quälen. Roswitha wußte inzwischen, wie das anfing bei ihm. Am besten man tat dann so, als bemerke man seine Absicht gar nicht. Er blickte hoch zu ihr, und sein schwarzer Lippenbart wirkte von diesem Blickwinkel aus wie ein Schmutzfleck. Ich muß, dachte sie, dafür sorgen, daß er ihn abrasiert. Wirklich, er sieht damit aus wie ein Gernegroß. Einfach nicht normal. „Hör zu, mein Schatz …“, begann er. Das Wort war, wie alle Liebkosungen überhaupt, in der letzten Zeit von ihm nur benutzt worden, wenn er ihr etwas Verletzendes sagen wollte. Roswitha spannte sich innerlich. Warum quält er mich bloß so gern? dachte sie. Bin ich denn seine Mutter? Irgendeine Rechnung in Norberts Leben war offen. Nur mit Güte war die zu begleichen. Aber eben Güte und Liebe brachten ihn jedesmal dazu, sich in einen sinnlosen Haß zu verrennen. Tatsächlich sangen jetzt die Knabenstimmen die Weise vom einsam wachenden, hochheiligen Paar. Das am zweiten Advent! Norbert sagte: „Ich hab’s dir genau angemerkt, daß du mein Lügenmärchen nicht für voll nehmen konntest. Du denkst genau wie ich, daß ich nicht zum Gewerkschaftsboß tauge. So ’nem gewissen Zucken deiner Gesichtsmuskeln habe ich angesehen, daß du dir völlig sicher bist, wohin die Reise geht im Januar.“ Daß ich derart vergeßlich bin, dachte Roswitha. Sie hielt sich am Fensterrahmen und blickte in den Himmel, in dessen Blau jetzt doch eine Mattigkeit fiel, eine Unschärfe oder auch Dunkelheit, es mußte gleich halb vier sein. So 186
eine vergeßliche Nudel wie mich gibt’s nur einmal. Der langsame Mord ist seine Spezialität, das vergaß ich. „Ich höre weiter“, sagte Roswitha schnell. Er gab ein Knurren von sich. Stand da mit ineinandergesteckten Armen und ausgestelltem Spielbein wie ein Denkmal. Freilich ein schönes, bloß mit dem dummen Bärtchen verziert, und knurrte in sich hinein. „Also weißt du Bescheid, daß ich mit Sini zum Winterurlaub fahre.“ S-i-n-i! Er trat näher. Sie stand steif. Er setzte sich auf den Sims. Und er streichelte zärtlich ihre Beine. „Immer“, sagte er, „habe ich mir eine Frau gewünscht, die mich sozusagen blind verehrt. Die ich hart prüfen kann, geradezu unmenschlich prüfen – ich red’ ganz offen, Rosi – und für die ich dennoch der Größte bin. Den Urlaub mit Sini, weißt du, sehe ich als eine Nagelprobe auf unsere Liebe an. Wenn du die Toleranz aufbringst, daß ich mit dieser kleinen Fratze fortfahre – du wirst staunen, wie stark meine Liebe wächst zu dir! Vielleicht heirate ich dich sogar, mein Mädchen.“ Roswitha sah auf einmal diese Irrlichter wieder. Tanzende Kreise wie damals am Tagebausee. Der Himmel sprühte vor Irrlichtern. „Ich weiß“, fuhr Norbert fort, „daß du seit einem Monat nicht mehr die Pille nimmst. Ich weiß – so was erfährt man rasch in diesem Wohnheim –, daß du dich angemeldet hast für den Gravimuntest. Du willst ein Kind von mir. Schätzchen, ich akzeptiere dein und mein Kind vielleicht sogar, wenn …“ „Du gemeines Luder“, sagte sie. Es klang etwas unverständlich. Denn Rosi öffnete kaum den Mund dabei. Irgendwas drückte ihr die Lippen aufeinander. Sie kam sich wie skelettiert vor im Gesicht. Alles an ihr war Auge. Sie sah ihn lächeln und entdeckte nicht die geringste Unsicherheit bei ihm. Er rückte sich bequemer zurecht auf dem Sims. 187
„Schatz“, sagte er. „Ich könnte dir deine drallen Füßchen jetzt wegziehen. An sechs Stockwerken fliegst du vorbei. Oben bleiben dein Fensterleder und der Eimer zurück. Das würde ganz wie ein Unfall aussehen.“ „Ich bin nicht …“ „Warum stockst du?“ Sein Lächeln war wie gefroren. Als hätte sich die eisige Luft von draußen in seinem Gesicht festgesetzt. „Spuck’s doch aus. Nein. Gut, dann verbessere und beende ich deinen Satz: Du bist wie Brigitte. Eben darum komme ich nicht los von dir. Eben deshalb liebe ich …“ Sie wußte nicht, warum sie ihn derart unglücklich treffen konnte. Wollte sie nicht bloß ihren Knöchel aus seinem fester werdenden Griff lösen? Mit einem Ruck! Die Angst war ihr bis zum Hals gestiegen, als er so kräftig zupackte. Da glitt ihr Fuß ab. Sie traf ihn mitten ins Gesicht. Er blickte sie erstaunt an. Und kippte schon rückwärts. Ruderte mit den Händen. Fiel bereits. Roswitha sah ihn fallen. Im Fall drehte er sich noch einmal. Das verdammte Bärtchen erschien unverhältnismäßig groß in dem geliebten Gesicht. Hatte sie ihn wirklich aus Versehen getroffen? Nur aus Angst? Der Knall auf dem Straßenpflaster war gewaltig. Sie schaffte es irgendwie, vom Fenstersims herabzusteigen. Neben dem Spüleimer sackte sie zusammen. Wie aus ziemlicher Entfernung, gleichsam im Traum, erlebte Rosi, daß Hände sie aufhoben und über den Flur trugen. Als sie kurz einmal die Augen aufschlug, sah sie, daß es nicht ihr Zimmer sein konnte, in dem sie lag. Hilflos stand Katrin im Raum, und die Beine der Schwangeren zitterten wie Getreidehalme im Wind. Außerdem schwebte da noch Lottes rundes, rosiges Oberinnengesicht. Die hielt den Telefonhörer am Ohr und betrachtete sie, wie man eine Todkranke ansieht. Lotte sagte dann in den Hörer hinein: „Ja, ein Unfall. 188
Sturz aus dem siebenten Stock. Ja, er ist tot. – Kommen Sie und nehmen Sie Ihr Protokoll auf. – Wie? – Ja, wir haben die Unfallstelle notdürftig abgesperrt. – In Ordnung, ich erwarte Sie am Wirtschaftseingang.“ Roswitha schloß die Augen. Der Traum, den sie wünschte, kam gleich. Es wurde nicht gestört vom Besuch zweier Männer von der Kriminalpolizei. Sie fuhren auf Skiern einen verschneiten Hang hinab. Die Sonne schien wie im Hochsommer. Norbert trug den Pullover, der einen unwahrscheinlich hübschen Kontrast bot zu seinem glänzenden schwarzen Haar.
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