Dick Francis
Blindflug
scanned 2004 corrected by Macy
Billy Watkins und Henry Grey sind sich spinnefeind. Nur weil He...
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Dick Francis
Blindflug
scanned 2004 corrected by Macy
Billy Watkins und Henry Grey sind sich spinnefeind. Nur weil Henry ein Lord ist? Dabei steht er seinen Mann, auch als er sich in den Netzen von Verbrechern wiederfindet: Auf einer seiner Flugreisen macht er eine unvermutete Entdeckung, die ihn in tödliche Gefahr bringt. Er fällt in die Hände seiner skrupellosen Gegner. Und das Leben seiner Freundin Gabriella ist in Gefahr … ISBN: 3257225415 Original: Flying Finish Aus dem Englischen von Tony Westermayr Verlag: Diogenes Erscheinungsjahr: 1993
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1 »Du bist ein verzogener, launischer Bastard«, sagte meine Schwester und trieb mich dadurch zu einem Entschluß, der mich beinahe das Leben gekostet hätte. Der Gedanke an ihr wütendes, verzerrtes Gesicht verfolgte mich auf dem Weg zum Bahnhof, in das muffige Abteil voll montäglicher, düsterer Stimmung und halbgelöster Kreuzworträtsel, mit durch ganz London in mein ungeliebtes Büro. Bastard war ich keiner; nicht bei Eltern, die ein Bischof zusammengetan hatte, während der halbe Adel Englands in den Betbänken saß. Und wenn verzogen zutraf, dann durch ihre Schuld, durch ihr Vermächtnis an einen Erben, der reichlich spät gekommen war, nachdem fünf Schwestern vor ihm das Licht der Welt erblickt hatten. Mein gebrechlicher sechsundachtzigjähriger Vater sah mich vorwiegend als Mittel, einen verhaßten Vetter um den Grafentitel zu bringen, den dieser heiß begehrte. Mein Vater freute sich über mein Vorhandensein. Für ihn blieb ich ein Symbol. Meine Mutter war bei meiner Geburt siebenundvierzig gewesen und war jetzt dreiundsiebzig. Mit einem Verstand, der buchstäblich um die Zeit des ersten Weltkriegs stehengeblieben war, war sie, seit ich überhaupt denken konnte, völlig altmodisch. Exzentrisch nannte man das in ihrem Bekanntenkreis höflich. Jedenfalls lernte ich schon sehr früh, daß Alter mit Weisheit nichts zu tun hat. Da meine Eltern zu alt waren, um ein kleines Kind in der Nähe haben zu wollen, wurde ich in einiger Distanz aufgezogen und geschult – Kindermädchen, Internat, Eton. Die Länge der Schulferien war sogar in meinem Beisein bedauert worden. Unsere Beziehung war beherrscht von Höflichkeit und Pflichtbewußtsein, nicht von Zuneigung. Sie schienen gar nicht 2
zu erwarten, daß ich sie liebte, und das tat ich auch nicht. Ich liebte niemanden. Mir fehlte die Übung. Wie üblich, war ich als erster im Büro. Ich ließ mir vom Hausmeister den Schlüssel geben, schlenderte gemächlich durch das hallende Vestibül, stieg die Steintreppe hinauf, marschierte durch einen engen, dunklen Korridor und schloß an seinem Ende die schwere, braune Eingangstür zur AngliaAgentur, Export und Import von Vollblutpferden, auf. Drinnen wurde es dann, wie in den meisten dieser alten Londoner Kaninchenbauten von Bürohäusern, weniger kasernenmäßig, sondern sogar sehr komfortabel. Die Zimmer links und rechts vom Durchgang waren mit Teppichen ausgelegt und weiß gestrichen, und auf ihren Türen stand in säuberlichem Schwarz der Name des jeweiligen Inhabers zu lesen. Die wuchtigen Schreibtische waren aus dunklem Holz gearbeitet; an den Wänden hingen Jagdstiche. Zu diesem Erfolgsgipfel war ich allerdings noch nicht aufgestiegen. Der Raum, in dem ich, mit Unterbrechungen, seit fast sechs Jahren arbeitete, lag am anderen Ende, hinter dem Archiv und der Teeküche. Auf der halboffenen Tür stand›Transport‹. Ich schob sie auf. Seit Freitag hatte sich nichts verändert. Die drei Schreibtische sahen aus wie immer: an Christophers Platz hohe, unordentliche Stapel von Unterlagen, beschwert durch Kricketbälle; bei Maggie hing der Schreibmaschinendeckel schief, daneben lag zerknülltes Papier, aus einer Vase mit verwelkten Chrysanthemen fielen Blütenblätter in eine unausgespülte Teetasse. Mein Schreibtisch war aufgeräumt. Ich hängte meinen Mantel über einen Kleiderbügel, zog der Reihe nach die Schubladen heraus und ordnete ohne Sinn und Zweck den schon säuberlich verstauten Inhalt. Ich stellte fest, daß es nach meiner genaugehenden Uhr acht Minuten vor neun war. Die Bürouhr ging also zwei Minuten nach. Anschließend starrte ich die blaßgrüne Wand an. 3
Ein verzogener, launischer Bastard, hatte meine Schwester gesagt. Das paßte mir gar nicht. Ich war nicht launisch, versicherte ich mir. Ganz bestimmt nicht. Aber meinen Gedanken fehlte die Überzeugungskraft. Ich beschloß, entgegen der Tradition, Maggie nicht daran zu erinnern, daß mich ihre Schlamperei ärgerte. Christopher und Maggie erschienen gemeinsam und lachend zehn Minuten nach neun. »Hallo«, sagte Christopher fröhlich und zog seinen Mantel aus. »Sie haben am Samstag verloren.« »Ja«, gab ich zu. »Beim nächstenmal klappt’s«, erklärte Maggie automatisch und blies die nassen Blütenblätter auf den Boden. Ich biß mir auf die Zunge. Maggie griff nach der Vase und ging damit in die Teeküche. Unterwegs verstreute sie noch mehr Blätter. Sie kam mit der Vase zurück, stolperte und hinterließ eine feuchte Spur quer über meinen Schreibtisch. Stumm zog ich Löschpapier aus einer Schublade, wischte die Feuchtigkeit auf und warf das Zeug in den Papierkorb. Christopher beobachtete uns amüsiert. Seine hellen Augen funkelten hinter den dicken Brillengläsern. »Um eine knappe Nasenlänge, wie?«, sagte er, nahm einen der Kricketbälle und zielte nach dem Fenster. »Um eine Nasenlänge«, bestätigte ich und dachte mürrisch: Bei zehn Längen war’s genau dasselbe. Der Verlierer bekommt nichts, ganz gleich, wie groß der Abstand ist. »Mein Onkel hat fünf Pfund auf Sie verwettet.« »Tut mir leid«, sagte ich steif. Christopher drehte sich auf den Zehenspitzen vom Fenster weg und knallte den Kricketball an die Wand. Man sah die Einbuchtung deutlich. Er lachte, als er meine zusammengezo4
genen Brauen sah. Vor zwei Monaten war er direkt von Cambridge zu uns gekommen, nachdem ihn seine rapide abnehmende Sehfähigkeit um einen Platz in der Kricketmannschaft gebracht hatte. Zudem war er im Examen durchgefallen. Er zeigte sich trotzdem stets in besserer Stimmung als ich, dem solche Rückschläge erspart geblieben waren. Wir tolerierten uns gegenseitig. Mir fiel es, wie üblich, schwer, Freundschaft zu schließen, und er hatte seine Bemühungen aufgegeben. Maggie kam aus der Teeküche zurück, setzte sich an ihren Tisch, nahm den Nagellack aus der Schublade und begann das Perlmuttrosa aufzupinseln. Sie war eine große, selbstsichere junge Frau aus Surbiton, mit scharfer Zunge und einem verdächtigen Talent, nach besonders hinterhältigen Bemerkungen Reue zu bekunden. Der Kricketball glitt Christopher aus der Hand und rollte über Maggies Schreibtisch. Er griff hastig danach, warf einen Stapel Briefe auf den Boden, während der Ball Maggies Nagellackfläschchen umwarf; die ganze Korrespondenz war prächtig mit zierlichen Flecken übersät. »Verdammt noch mal«, sagte Christopher wütend. Der alte Cooper, zuständig für Versicherungen, wankte ins Zimmer und beäugte das Chaos mit verärgerter Miene und geblähten Nasenflügeln. Er hielt mir einen Packen Schriftstükke hin. »Für Sie, Henry. So schnell wie möglich.« »Gut.« An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte mit klagender Stimme zu Christopher und Maggie: »Warum sind Sie nicht so tüchtig wie Henry? Er kommt nie zu spät, ist nie unordentlich, liefert korrekte Arbeit und hat nie Rückstände. Warum eifern Sie ihm nicht nach?« Ich zuckte innerlich zusammen und wartete auf Maggies unvermeidliche Antwort. Sie war bestimmt in Form. Wir 5
schrieben Montag vormittag. »Nicht für eine Million möchte ich wie Henry sein«, sagte sie scharf. »Ein trübes, geschlechtsloses Nichts. Er lebt überhaupt nicht.« Heute war ganz entschieden nicht mein Glückstag. »Er reitet aber Rennen«, meinte Christopher beschwichtigend. »Und wenn er runterfällt und sich die Beine bricht, zerbricht er sich nur den Kopf darüber, ob auch die Verbände ganz gerade sind.« »Die Knochen«, sagte ich. »Was?« »Die Knochen gerade.« Christopher blinzelte und lachte. »Na, na, was sagt man dazu? Stille Wasser gründen tief.« »Was heißt da tief?«, sagte Maggie. »Brackwasser.« »Schleimig und stinkend?«, meinte ich hilfreich. »Nein … ach du meine Güte … ich meine, Verzeihung …« »Schon gut«, sagte ich. »Schon gut.« Ich griff nach dem ersten Schriftstück und nahm den Hörer von der Gabel. »Henry …«, sagte Maggie verzweifelt. »Ich hab’ es doch nicht so gemeint.« Der alte Cooper schnalzte mit der Zunge und wankte wieder hinaus. Christopher begann seine lackierten Briefe zu sortieren. Ich wählte die Nummer von Yardman-Transport und verlangte Simon Searle. »Vier Einjährige von der Versteigerung in Newmarket nach Buenos Aires, so bald wie möglich«, sagte ich. »Kann dauern.« »Wieso?« 6
»Wir haben Peters verloren.« »Warum passen Sie nicht besser auf?« »Haha.« »Ist er ausgestiegen?« Simon zögerte merklich. »Sieht so aus.« »Was heißt das?« »Er ist von einem Flug nicht zurückgekommen. Am vergangenen Montag. Einfach nicht zum Rückflug erschienen. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.« »Krankenhäuser?«, meinte ich. »Wir haben uns natürlich erkundigt. Auch im Leichenschauhaus und im Gefängnis. Nichts. Einfach verschwunden. Weil er nichts angestellt hat, zeigt die Polizei auch kein Interesse. Kein Wunder, jeder kann seine Stellung aufgeben, wann er Lust hat. Die Polizei meint, er sei eben an irgendeinem Mädchen hängengeblieben.« »Ist er verheiratet?« »Nein.« Er seufzte. »Na ja, ich kümmere mich um Ihre Einjährigen, aber auf ein Datum kann ich mich nicht festlegen.« »Simon«, sagte ich gedehnt. »Ist nicht schon mal etwas Ähnliches passiert?« »Ähm … meinen Sie Ballard?« »Einer von Ihren Kontaktleuten«, sagte ich. »Ja. Hm … möglich.« »In Italien?«, fragte ich sanft. Es blieb kurze Zeit still. »Daran hatte ich nicht gedacht«, erwiderte er. »Merkwürdiger Zufall. Na schön – ich sage Ihnen wegen der Pferde Bescheid.« 7
»Wenn es bei Ihnen nicht klappt, muß ich zu Clarkson gehen.« Er seufzte. »Ich tue mein Bestes. Morgen rufe ich zurück.« Ich legte auf und befaßte mich mit einem ganzen Stoß Zolldeklarationen. Der lange Vormittag strebte der Mittagsstunde entgegen. Maggie und ich wechselten kein Wort miteinander, Christopher saß fluchend über seinen Briefen. Punkt ein Uhr war ich sogar noch vor Maggie an der Tür. Draußen schien die Dezembersonne. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, stieg ich in den Omnibus, sprang an der Marble Arch ab und ging langsam durch den Hyde Park zum See. Um zwei Uhr saß ich noch immer auf einer Bank und starrte aufs Wasser. Um halb drei auch noch. Eine Viertelstunde später warf ich mit Wucht ein paar Steine in den See, was mir ein Wächter sofort untersagte. Ein verzogener, launischer Bastard. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn sie solche Dinge häufiger gesagt hätte, aber sie war eine sanfte Person, die man in der Kindheit gezwungen hatte, sich wegen schlimmer Worte den Mund mit Seife auszuwaschen, und die sich dieser Gefahr nie wieder ausgesetzt hatte. Sie war meine jüngste Schwester, fünfzehn Jahre älter als ich, unverheiratet, unhübsch und von ruhiger Intelligenz. Mit unseren Eltern hatte sie die Rollen getauscht: Sie führte das Haus und behandelte sie wie ihre Kinder. Mit mir machte sie es ähnlich. Ich war ein unterdrückter, stiller, braver kleiner Junge gewesen und ein stiller, zurückgezogener, verschlossener Mann geworden. Ich war beinahe krankhaft pedantisch und methodisch, kam zu allen Verabredungen zu früh, zeigte Beherrschung im Benehmen, in der Handschrift und in der Liebe. Ein trübes Nichts, wie Maggie meinte. Die Tatsache, daß ich seit ein paar Monaten innerlich genau das Gegenteil 8
empfand, verwirrte mich immer mehr. Ich sah zum blauen, goldbehauchten Himmel auf. Nur da oben war ich mein eigener Herr, dachte ich. Und vielleicht noch beim Hindernisrennen, manchmal. Sie hatte wie üblich beim Frühstück auf mich gewartet, mit frischgerötetem Gesicht vom Morgenspaziergang mit den Hunden. Am Wochenende hatten wir uns kaum gesehen. Ich war am Samstag in einem Rennen gestartet, hatte das Haus am Sonntag vor dem Frühstück verlassen und war spät nachts zurückgekommen. »Wo bist du gestern gewesen?«, fragte sie. Ich goß Kaffee in meine Tasse und schwieg. Daran war sie gewöhnt. »Mutter wollte mit dir sprechen.« »Worüber?« »Sie hat die Filyhoughs nächsten Sonntag zum Essen eingeladen.« Ich verzehrte ruhig meine Portion Schinken mit Ei, dann sagte ich: »Diese Nervensäge von Angela. Reine Zeitverschwendung. Ich bin sowieso nicht da.« »Angela erbt eine halbe Million«, sagte sie ernsthaft. »Und wir haben den Holzwurm im Dach«, bestätigte ich trocken. »Mutter will dich verheiratet sehen.« »Aber nur mit einem sehr reichen Mädchen.« Meine Schwester gab es zu, konnte daran aber nichts Schlechtes finden. Das Familienvermögen schrumpfte. Nach Meinung meiner Eltern war der Tausch eines zukünftigen Titels gegen ein zukünftiges Vermögen ein akzeptables Geschäft. Sie schienen nicht zu begreifen, daß reiche junge Mädchen heutzutage klug genug waren, ihr Geld nicht auf den Ehemann zu übertragen. Dann konnte dieser später nicht damit 9
das Weite suchen, wenn ihm der Sinn danach stand. »Mutter hat Angela versprochen, daß du hier bist.« »Dumm von ihr.« »Henry!« »Ich mag Angela nicht«, sagte ich kalt. »Ich bin am nächsten Sonntag nicht zu Hause. Ist das klar?« »Aber du mußt ganz einfach … du kannst doch nicht alles mir überlassen.« »Sorg eben bei Mutter dafür, daß sie diese lächerlichen Einladungen unterläßt. Angela ist die soundsovielte unattraktive Erbin, die sie in diesem Jahr eingeladen hat. Ich habe es satt.« »Wir brauchen …« »Ich bin nicht verkäuflich«, sagte ich steif. Sie stand auf, tief beleidigt. »Das ist gemein.« »Und weil wir schon dabei sind, den Holzwürmern wünsche ich guten Erfolg. Dieses feuchte, faulige Ungetüm von Haus kostet uns den letzten Penny, und wenn es morgen einstürzen würde, wären wir alle besser dran.« »Es ist unser Zuhause«, erklärte sie, als sei damit alles gesagt. Sobald es mir gehörte, würde ich es abstoßen, aber das sagte ich nicht. Ermutigt durch mein Schweigen, versuchte sie es mit Überredungskunst. »Henry, bitte bleib nächsten Sonntag hier, wenn die Filyhoughs kommen.« »Nein«, sagte ich hart. »Kommt nicht in Frage. Ich habe etwas anderes vor. Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen.« Augenblicklich verlor sie die Beherrschung. Am ganzen Körper zitternd sagte sie: »Ich kann deinen Egoismus einfach 10
nicht mehr ausstehen. Du bist ein verzogener, launischer Bastard …« War ich das wirklich? dachte ich jetzt hier am See. Und wenn ja, warum? Um drei Uhr, als es schon kühler wurde, stand ich auf und verließ den Park, aber das Büro, zu dem ich fuhr, war nicht die elegante Suite der ›Anglia‹ am Hanover Square. Dort sollte man sich ruhig wundern, warum der überpünktliche Henry nicht vom Mittagessen zurückkam. Ich fuhr statt dessen mit dem Taxi zu einem kleinen, verkommenen, mit Unrat übersäten Kai am Hafen, wo mir der Geruch des Themseschlamms bei Ebbe erdig in die Nase stieg, als ich den Fahrpreis entrichtete. Am Ende des Kais, auf einem Ruinengrundstück, war kurz nach dem Krieg ein kleines, quadratisches Betongebäude errichtet und seither, wenn auch mangelhaft, instand gehalten worden. Die grauen Wände mit Roststreifen von undichten Leitungsrohren brauchten dringend einen Anstrich, die Metallfenster waren von einer Schmutzschicht bedeckt, und seit meinem letzten Besuch vor sechs Monaten hatte man die Messingbeschläge an den Türen nicht poliert. Man mußte den Kunden hier keine vornehme Fassade bieten; sie wurden nicht hergebeten. Ich stieg die Treppe hinauf, durchquerte den Vorplatz mit seinem Linoleumbelag und betrat durch die offene Tür Simon Searles Zimmer. Er sah von den Männchen auf, die er auf einen Block gemalt hatte, erhob sich schwerfällig und begrüßte mich mit kräftigem Händedruck und breitem Grinsen. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der mich auf diese Weise empfing, und deshalb taute ich bei ihm so weit auf, wie mir das überhaupt möglich war. Aber wir hatten uns immer nur aus geschäftlichem Anlaß getroffen, und auch das nicht oft. Gelegentlich waren wir hinterher in eine Kneipe gegangen, wo er zu viel Bier und Jovialität und ich zu einem einzigen Whisky 11
neigte, und das war alles. »Sie haben den weiten Weg doch nicht wegen der Einjährigen zurückgelegt?«, protestierte er. »Sie wissen ja …« »Nein«, sagte ich und kam sofort zur Sache. »Ich wollte mich erkundigen, ob mir Yardman eine Stellung gibt.« »Sie wollen hier arbeiten?«, fragte Simon. »Richtig.« »Mich trifft der Schlag.« Simon setzte sich auf den Schreibtisch, und seine Leibesmassen kamen gemächlich zur Ruhe. Er war ein gewaltiger Mann zwischen Fünfunddreißig und Fünfundvierzig, mit Glatze, legerer Kleidung und großzügigen Anschauungen. »Warum denn das?«, fragte er und sah mich von oben bis unten an. Ein stärkerer Gegensatz als er mit seiner ausgebeulten grünen Cordhose und ich mit meinem anthrazitgrauen Anzug war schwer vorstellbar. »Ich brauche eine Veränderung.« »Zum Schlechten?«, meinte er ironisch. »Natürlich nicht. Und ich möchte ein bißchen in der Welt herumkommen.« »Das können Sie sich doch mit allem Komfort leisten. Sie brauchen keine Pferdetransporte zu begleiten.« Wie so viele Leute hielt er es für ausgemacht, daß ich Geld hatte. Das stimmte nicht. Ich bekam nur mein Gehalt bei der ›Anglia‹ und was ich in aller Offenheit als Amateurreiter verdiente. Jeder Penny war verplant. Von meinem Vater bekam ich nur mein Essen und das wurmstichige Dach über meinem Kopf. Ich erwartete und verlangte nicht mehr. »Das würde ich gerne machen«, sagte ich gelassen. »Wie stehen die Chancen?« »Ach du meine Güte«, sagte Simon lachend. »Sie brauchen 12
nur den Mund aufzutun. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Sie abweist.« Aber Yardman hätte es beinahe doch getan, weil er nicht daran glauben konnte, daß ich es ernst meinte. »Mein lieber Junge, denken Sie doch einmal nach, ich bitte Sie. Bei der ›Anglia‹ haben Sie es doch viel besser. So gut Sie hier auch verdienen, Macht oder Ansehen stehen nicht zur Debatte … Man muß doch die Tatsachen erkennen.« »Macht und Ansehen interessieren mich nicht besonders.« Er seufzte tief. »So spricht jemand, dem sie mit der Geburt zufallen. Andere sind nicht in der glücklichen Lage, sie verachten zu können.« »Ich verachte sie nicht. Ich interessiere mich aber auch nicht dafür. Oder jedenfalls bisher nicht.« Er zündete sich bedächtig eine schwarze Zigarre an. Ich beobachtete ihn prüfend. Vorher war ich mit ihm noch nie zusammengetroffen, und da er aus ganz anderen Kreisen kam als die maßgebenden Leute bei der ›Anglia‹, entdeckte ich, daß ich nicht instinktiv wußte, wie sein Verstand funktionierte. Nach Jahren der Anstellung bei Leuten meiner eigenen Herkunft, wo vieles nicht ausgesprochen zu werden brauchte, was als selbstverständlich galt, war Yardman unerforschtes Gebiet. Er gab sich betont väterlich, was bei einem so hageren Mann ein wenig eigenartig wirkte. Auf einer kräftigen, gekrümmten Nase saß eine schwarze Hornbrille. Seine Wangen waren eingefallen, so daß sich die Lippen dehnen zu müssen schienen, um Zähne und Zahnfleisch zu bedecken. Die Mundwinkel waren stark herabgezogen, was ihm manchmal ein griesgrämiges, manchmal ein trauriges Aussehen verlieh. Er hatte eine Rundglatze, die man auf den ersten Blick nicht bemerkte, und seine Haut hatte eine ungesunde Farbe. Aber Stimme und Hände waren stark, ebenso, wie ich merken sollte, 13
Wille und Charakter. Er paffte langsam seine Zigarre, eine dünne, grimmig aussehende Angelegenheit mit entsprechendem Duft. Die Augen hinter den Brillengläsern betrachteten mich ohne Hast. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was hinter dieser Stirn vorging. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich stelle Sie als Assistent von Searle ein. Wir werden ja sehen, wie es klappt.« »Äh … danke«, erwiderte ich. »Ich hatte eigentlich an den Posten von Peters gedacht.« »An Peters …« In diesem Augenblick blieb ihm buchstäblich der Mund offenstehen. Ich sah, daß er unten falsche Zähne trug. Er klappte ihn abrupt zu. »Das ist doch ein Witz, mein Junge. Peters’ Job können Sie nicht haben.« »Searle sagt, daß er nicht mehr bei Ihnen ist.« »Das stimmt, aber darauf kommt es doch wohl nicht an.« »Ich bin seit über fünf Jahren in der Transportabteilung der ›Anglia‹«, sagte ich ruhig, »also kenne ich mich im Technischen aus. Ich reite seit meiner frühesten Jugend, also kann ich mit Pferden umgehen. Ich gebe zu, daß mir die praktische Erfahrung fehlt, aber das könnte ich schnell nachholen.« »Lord Grey«, sagte er kopfschüttelnd. »Ihnen ist wohl nicht ganz klar, worin Peters’ Aufgabe bestand.« »Durchaus«, erwiderte ich. »Er begleitete die Pferde in den Flugzeugen und sorgte dafür, daß sie gesund und sicher ankamen. Er hatte sich darum zu kümmern, daß sie ordnungsgemäß den Zoll passierten und von den richtigen Leuten in Empfang genommen wurden, gelegentlich hatte er auch andere Pferde mit zurückzubringen. Man trägt ziemlich viel Verantwortung, muß viel reisen, und ich möchte mich ernsthaft um die Stellung bewerben.« 14
»Sie verstehen das nicht«, meinte er ungeduldig. »Peters war Pferdepfleger.« »Ich weiß.« Er rauchte mit undurchdringlicher Miene. Drei Züge. Ich wartete, schweigend und unbeweglich. »Sie sind bei der ›Anglia‹ nicht … in Schwierigkeiten?« »Nein. Ich habe die Schreibtischarbeit satt, das ist alles.« Ich hatte sie von Anfang an satt, um genau zu sein. »Wie steht es mit dem Rennsport?« »Samstags arbeite ich bei der ›Anglia‹ nicht. Meine drei Wochen Jahresurlaub nehme ich an einzelnen Tagen im Winter und Frühling. Und mit zusätzlichen halben Tagen ist man immer großzügig gewesen.« »Das wird sich geschäftlich ja auch für sie gelohnt haben, nehme ich an.« Er klopfte geistesabwesend die Asche ab. »Wollen Sie den Rennsport aufgeben?« »Nein.« »Hm … könnte ich durch Ihre Rennsportbeziehungen besser ins Geschäft kommen?« »Dafür würde ich sorgen«, sagte ich. Er drehte den Kopf zur Seite und sah zum Fenster hinaus. In der Themse herrschte immer noch Ebbe, und drüben auf dem anderen Ufer ragten die Kräne wie Spielzeug in den dämmernden Himmel. In diesem Augenblick ahnte ich nichts von den Kalkulationen in Yardmans Gehirn, obwohl ich seitdem oft über diese wenigen Minuten nachgedacht habe. »Ich halte das für unklug, mein lieber Junge. Die Jugend … die Jugend …« Er seufzte, reckte die Schultern und sah mich wieder an. Seine verschatteten grünlichen Augen betrachteten mich prüfend aus tiefen Höhlen. Er sagte mir, was Peters verdient 15
hatte: fünfzehn Pfund pro Reise, dazu drei Pfund für Spesen pro Übernachtung. Er hoffte, daß mich das von meiner Absicht abbringen würde. Es fehlte auch nicht viel, und ich hätte die Sache rundweg abgelehnt. »Wie viele Flüge pro Woche?«, fragte ich stirnrunzelnd. »Hängt von der Jahreszeit ab. Das wissen Sie. Nach den Versteigerungen, und wenn die Zuchtstuten herübergebracht werden, können es drei Flüge werden. Nach Frankreich vielleicht sogar vier. Normalerweise zwei, manchmal gar keiner.« Es blieb einige Zeit still. Wir starrten einander an. Ich konnte in seinem Gesicht nicht lesen. »Also gut«, sagte ich abrupt. »Kann ich den Job haben?« Seine Lippen verzerrten sich auf seltsame Weise. Später kam ich dahinter, daß das ein ironisches Lächeln sein sollte. »Sie können es versuchen«, meinte er. »Wenn Sie unbedingt wollen.«
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2 Ein Job ist, was man daraus macht. Drei Wochen später, nach Weihnachten, flog ich mit zwölf Einjährigen nach Buenos Aires – vier von der ›Anglia‹ und acht von anderen Vollblutpferd-Agenturen, alle an einem kalten Dienstagmorgen um fünf Uhr am Flugplatz Gatwick versammelt. Simon Searle hatte für ihr pünktliches Eintreffen gesorgt und bei einer Charterfirma die Frachtpassagen gebucht. Nachdem man sie ausgeladen hatte, übernahm ich sie, brachte sie in der Maschine unter und sorgte für die Zollabfertigung. Dann flogen wir ab. Außer mir waren noch zwei von Yardmans Pferdepflegern dabei, die beide mit Empörung quittierten, daß ich über ihre Köpfe hinweg Peters’ Posten bekommen hatte, weil jeder die Beförderung für sich erhofft hatte. Vom Menschlichen her gesehen war der Flug ein eisiger Mißerfolg. Sonst lief alles ziemlich glatt. Wir landeten zwar mit vier Stunden Verspätung in Argentinien, aber die neuen Besitzer hatten alle ihre Transportboxen geschickt. Wieder schleuste ich Pferde und Papiere durch den Zoll und sorgte dafür, daß jeder der fünf neuen Besitzer die richtigen Pferde und Dokumente erhielt. Tags darauf wurden in Kisten verpackte Pelze als Rückfracht geladen, und wir flogen nach Gatwick zurück, wo wir am Freitag ankamen. Am Samstag konnte ich bei den Rennen in Sandown einen Sturz und einen Sieg verzeichnen, den Sonntag verbrachte ich auf die übliche Weise, und am Montag flog ich mit einigen Zirkuspferden nach Deutschland. Nach vierzehn Tagen war ich völlig erschöpft, nach vier Wochen hatte ich mich akklimatisiert. Mein Körper gewöhnte sich an langes Aufbleiben, unregelmäßiges Essen, pausenloses Kaffeetrinken und an Schlaf im Sitzen auf Heuballen in dreitausend Meter 17
Höhe. Die beiden Pfleger, Timmie und Conker, überwanden ihren ärgsten Zorn, und wir entwickelten uns zu einem schnellen, tüchtigen, wortkargen Team. Meine Familie entsetzte sich, wie erwartet, über meinen Berufswechsel und versuchte alles, mich davon abzubringen. Meine Schwester nahm erschrocken die Worte zurück, die ich sehr wohl verdient hatte, mein Vater sah den Grafentitel nun doch an den Vetter fallen, da Flugzeuge der Natur widersprachen und in aller Regel abstürzten, und meine Mutter geriet bei dem Gedanken an die Kommentare ihrer Bekannten in Hysterie. »Das ist etwas für einen Arbeiter«, jammerte sie. »Es kommt immer darauf an, was man aus einer Sache macht.« »Was werden die Filyhoughs denken?« »Ist doch völlig unwichtig.« »Das ist keine passende Stellung für dich.« Sie rang die Hände. »Mir gefällt sie, also paßt sie auch zu mir.« »Du weißt ganz genau, wie ich es meine.« »Natürlich, Mutter, aber meine Ansicht ist eben von der deinen grundverschieden. Jeder sollte das tun, was ihm Spaß macht. Das allein sollte den Ausschlag geben. Ob das gesellschaftlich paßt oder nicht, darf überhaupt keine Rolle spielen.« »Aber es spielt eine«, rief sie verzweifelt. »Bei mir auch, fast sechs Jahre lang«, gab ich zu. »Jetzt ist Schluß. Außerdem ändern sich die Ansichten. Was ich jetzt mache, kann nächstes Jahr Mode werden. Wenn ich nicht aufpasse, wird noch die Hälfte meiner männlichen Bekanntschaft mitmischen wollen. Jedenfalls ist das für mich genau richtig, und ich mache damit weiter.« Trotzdem war sie nicht 18
zu überzeugen. Ihrem ältlichen, in Konventionen befangenen Bekanntenkreis konnte sie jedenfalls nur mit der Behauptung gegenübertreten, ich sei nur bestrebt, ›Erfahrungen zu sammeln‹, und man müsse das Ganze als Spaß betrachten. Auch für Simon Searle war es anfangs nur ein Spaß. »Sie halten das nicht durch, Henry«, sagte er entschieden. »Sie mit Ihren makellosen dunklen Anzügen und Ihren schneeweißen Hemden und Ihrem tadellos gekämmten Haar bei dem Schmutz. Ein Flug genügt.« Nach vier Wochen erschien ich, immer noch der alte, am späten Freitag nachmittag, um meine Lohntüte abzuholen. Wir schlenderten zu seinem Stammlokal, einer schmuddeligen Kneipe mit bunten Glastüren und chronisch miefiger Luft, wo er sich auf einem Barhocker niederließ, wobei er seine herabhängenden Fettmassen um sich herum drapierte, und Bier bestellte. Ich holte uns zwei Glas. »Was machen die Weltreisen?«, fragte er nach dem ersten tiefen Schluck und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, um den Schaum abzulecken. »Ich bin zufrieden.« »Bis jetzt haben Sie jedenfalls noch keinen Murks gemacht«, sagte er lächelnd. »Danke.« »Dürfte auch gar nicht vorkommen, weil ich ja immer schon alles vorbereitet habe.« »Eben.« Er war tatsächlich ein hervorragender Organisator, ein Hauptgrund, warum die ›Anglia‹ oft mit Yardman-Transport zusammenarbeitete, statt mit Clarkson-Carriers, einer viel größeren und bekannteren Firma. Simons Abschlüsse waren immer klar, einfach und grundsätzlich doppelt bestätigt. Agenturen, Eigentümer und Fluggesellschaften wußten stets, 19
woran sie waren und zu welcher Zeit sie da und dort erscheinen mußten. In der ganzen Branche gab es keinen zuverlässigeren Mann als Simon. Da ich selber so genau war, bewunderte ich seine Arbeit fast wie ein Kunstwerk. Er sah mich amüsiert von der Seite an. »Sie sind doch wohl nicht in diesem Aufzug unterwegs?« »Doch, mehr oder weniger.« »Was heißt mehr oder weniger?« »Statt des Jacketts trage ich im Flugzeug und beim Verladen einen Pullover.« »Und das Jackett hängen Sie auf einen Bügel?« »Gewiß.« Er lachte, aber ohne Spott. »Sie sind ein Kauz, Henry.« Er bestellte ein zweites Bier, zuckte die Achseln, als ich ablehnte, und trank mit großen Schlucken. »Warum sind Sie so gründlich?« »Das ist sicherer.« »Sicherer.« Er verschluckte sich, hustete und lachte. »Auf die Idee, daß für viele Menschen Hindernisrennen und Frachtflüge nicht gerade das Sicherste sind, kommen Sie wohl nicht.« »Das habe ich nicht gemeint.« »Was dann?« Ich schüttelte nur den Kopf. »Erzählen Sie mir was von Yardman«, sagte ich. »Zum Beispiel?« »Na ja, wo er herkommt und so.« Simon zog die Schultern hoch und schob die Unterlippe vor. »Er trat nach dem Krieg, als er aus der Armee entlassen wurde, in die Firma ein. Er war Sergeant bei der Infanterie, glaube ich. Einzelheiten weiß ich nicht, hab’ auch nie gefragt. 20
Jedenfalls arbeitete er sich hoch. Damals hieß die Firma natürlich noch nicht Yardman-Transport. Sie gehörte den Mayhews, aber da gab es keinen Stammhalter … die anderen Verwandten waren nicht interessiert, wie das eben so geht. Jim Yardman hatte die Firma schon übernommen, als ich kam. Wie das genau vor sich ging, weiß ich nicht, aber er hat Grips im Kopf, da gibt es keinen Zweifel. Denken Sie nur an das Umsteigen auf den Luftverkehr. Seine Idee. Er sah die Vorteile des Pferdetransports mit Flugzeugen schon, als die anderen Transportunternehmen alle noch den Schiffsverkehr bevorzugten.« »Obwohl das Büro an einem Kai steht«, meinte ich. »Ja. Früher war das sehr praktisch. Jetzt wird er nicht mehr oft benützt, seit Pferde nicht mehr zur Schlachtung exportiert werden dürfen.« »Das hat Yardman gemacht?« »Seetransportmakler«, bestätigte er. »Am anderen Ende des Kais steht ein großes Lagerhaus, wo wir die Pferde immer untergebracht hatten. Drei Tage bevor das Schiff einlief, wurden sie hier so nach und nach abgeliefert. Durchschnittlich alle vierzehn Tage einmal. Bin ganz froh, daß das vorbei ist. Viel Arbeit, Schmutz und Lärm und wenig Gewinn, meinte Yardman.« »Es hat Sie aber nicht gestört, daß sie geschlachtet werden sollten?« »Nicht mehr als bei Rindern oder Schweinen.« Er leerte sein Glas. »Warum auch? Alles muß mal sterben.« Er lächelte fröhlich und deutete auf die Gläser. »Noch eins?« Er bestellte nach, ich nicht. »Hat man von Peters noch etwas gehört?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Keinen Ton.« 21
»Und seine Papiere?« »Noch im Büro, soviel ich weiß.« »Merkwürdig, finden Sie nicht?« Simon zuckte die Achseln. »Wer weiß das schon? Vielleicht wollte er sich vor jemandem drücken und hat das eben sehr gründlich gemacht.« »Hat sich denn jemand nach ihm erkundigt?« »Nein. Nicht die Polizei, kein Buchmacher, bei dem er Schulden hätte, keine aufgebrachten Frauen, niemand.« »Er ist nach Italien geflogen und einfach nicht zurückgekommen?« »Stimmt«, sagte Simon. »Er flog mit ein paar Stuten nach Mailand und hätte am selben Tag zurückkommen sollen. Es gab Schwierigkeiten mit einem Motor oder was weiß ich, der Pilot hatte seine Dienstzeit schon überzogen und erklärte, er käme in die größten Schwierigkeiten, wenn er zu lange am Steuerknüppel sitze. Sie blieben also über Nacht, und am anderen Morgen tauchte Peters nicht mehr auf. Sie warteten fast den ganzen Tag und kamen schließlich ohne ihn zurück.« »Das ist alles?« »Ja, das ist alles«, sagte er. »Das Leben ist eben voller Rätsel. Was ist los? Haben Sie Angst, daß Peters plötzlich auftaucht und Ihnen den Posten wieder wegnimmt?« »So ungefähr.« »Er war ziemlich unangenehm«, sagte er nachdenklich. »Hat sich immer auf seine Rechte berufen. Dauernd gemeckert, Sie kennen den Typ. Angriffslustig. Hat sich auch von ausländischen Zollbeamten nie etwas bieten lassen.« Er grinste. »Die sind wahrscheinlich froh, daß sie es jetzt mit Ihnen zu tun haben.« »In ein, zwei Jahren bin ich sicher genauso grimmig.« 22
»In ein, zwei Jahren?« Er sah mich erstaunt an. »Henry, es ist ja ganz schön, wenn Sie Peters’ Job zum Spaß eine Weile übernehmen, aber Sie werden doch das nicht beibehalten wollen?« »Sie halten es für geziemender, wenn ich bei der ›Anglia‹ am Schreibtisch sitze?«, fragte ich ironisch. »Ja«, gab er ernsthaft zurück. »Selbstverständlich.« Ich seufzte. »Jetzt fangen Sie auch noch an. Ich dachte, wenigstens Sie würden verstehen …« Ich verstummte. »Was soll ich verstehen?« »Na ja … daß, für welche Arbeit man am besten geeignet ist, nichts damit zu tun hat, von welchen Eltern man abstammt. Ich bin eben für einen Schreibtisch nicht geschaffen. Das habe ich schon in der ersten Woche bei der ›Anglia‹ gemerkt, aber ich blieb, weil ich Krach geschlagen und darauf bestanden hatte, mir einen Broterwerb zu suchen. Ich wollte nicht zugeben, daß ich nicht am richtigen Platz saß. Ich gab mir Mühe, mich anzupassen. Jedenfalls gewöhnte ich mich daran, aber jetzt … jetzt … ich glaube nicht, daß ich es noch einmal ertragen könnte, jeden Tag von neun bis fünf im Büro zu hocken.« »Ihr Vater ist über Achtzig, nicht wahr?«, meinte Simon nachdenklich. Ich nickte. »Glauben Sie denn, daß Sie immer noch Pferde in der Welt herumkarren dürfen, wenn er stirbt? Und wie lange können Sie das überhaupt betreiben, ohne ein Sonderling zu werden? Ob Ihnen das paßt oder nicht, Henry, es ist zwar sehr leicht, in der Gesellschaft hochzukommen, aber ungeheuer schwierig, abzusteigen. Und trotzdem geachtet zu werden, versteht sich.« »Ich wäre also achtbar, wenn ich bei der ›Anglia‹ am 23
Schreibtisch sitze und auf dem Papier Pferde von Besitzer zu Besitzer vermittle, aber nicht, wenn ich unterwegs bin und das direkt erledige?« Er lachte. »Genau das.« »Die Welt ist ein Irrenhaus«, sagte ich. »Und Sie sind ein Romantiker. Aber das gibt sich.« Er sah mich freundschaftlich an, leerte sein Glas und stand auf. Oder vielmehr, er floß von seinem Hocker herab wie eine grüne Cordsamtamöbe. »Kommen Sie«, sagte er. »Unterwegs trinken wir noch ein Glas im ›Saracen’s Head‹.« Am nächsten Nachmittag verfolgte ich in Newbury fünf Rennen von der Tribüne aus. In einem ritt ich selbst mit. Diese Untätigkeit hatte ich nicht angestrebt, sie war mir von der Rennkommission auferlegt worden. Als ich das zwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, bekam ich das übliche Ultimatum für Amateurreiter gestellt: entweder Berufsjockey zu werden oder pro Saison nur an fünfzig offenen Rennen teilzunehmen. Mit anderen Worten: du darfst anderen nicht das Brot vom Mund wegstehlen – obwohl ein Jockey natürlich kaum Brot ißt. Ich war nicht Profi geworden, weil ich gleichzeitig zu konventionell dachte und auch in Wirklichkeit nicht gut genug war. Auch jetzt hätte ich mich nicht zu den Spitzenkönnern unter den Profis zählen können, aber ich war schon seit langer Zeit ein voll ausgebuchter Amateur. Großer Fisch im kleinen Teich. Die neugewonnene Freiheit durch meine Beschäftigung bei Yardman ließ mich bedauern, daß ich mit Zwanzig nicht mehr Mut gehabt hatte. Ich hing sehr am Hindernisrennsport, und als Profi hätte ich vielleicht doch anständige Erfolge erzielen können. Auf der Zuschauertribüne in Newbury festsitzend, sah ich jedenfalls ein, daß mich meine Schwester viel zu spät zur Vernunft gebracht hatte. 24
Das einzige Rennen, in dem ich antrat, war ausschließlich für Amateure ausgeschrieben. Da es hier keine Beschränkungen gab, liefen nur wenige dieser Rennen ohne mich ab. Ich ritt regelmäßig für viele Eigentümer, die nicht gerne einen Berufsjockey bezahlen wollten, für manche, die ihrem Pferd in Amateurrennen größere Chancen zutrauten, und für ein paar, die wirklich etwas von meinen Leistungen hielten. Alle miteinander wußten sehr genau, daß ich zehn Prozent der Preissumme erwartete, wenn ich ein Amateur- oder ein offenes Rennen gewann. Das hatte sich herumgesprochen. Henry Grey ritt für Geld, nicht um die Ehre. Henry Grey war der größte Scheinamateur aller Zeiten. Weil ich verschwiegen und diskret war und man mir vertrauen konnte, hatte ich sogar von Rennleitungen Bargeschenke bekommen. Meine Amateurlizenz bestand allein deswegen noch, weil mein Vater der Earl of Creggan war. Im Umkleideraum stellte ich an diesem Nachmittag fest, daß ich meine Gewohnheiten nicht ändern konnte, sosehr sich meine innere Einstellung auch geändert haben mochte. Die anderen scherzten miteinander, und wie üblich blieb ich Außenseiter. Niemand erwartete, daß ich mittat. Man hatte sich an mich gewöhnt. Die eine Hälfte nahm meine Distanz als arrogantes Getue, die anderen akzeptierten sie achselzuckend als›Henrys Art‹. Niemand zeigte direkte Feindseligkeit. Es lag allein an mir, daß ich nicht dazugehörte. Ich zog mich langsam um, lauschte den Witzen und der kräftigen, direkten Sprache, aber mir fiel nichts ein, was ich hätte zur Unterhaltung beitragen können. Das Rennen gewann ich. Der erfreute Besitzer klopfte mir öffentlich auf die Schulter und lud mich zu einem Whisky in die Bar ein. Meine vierzig Pfund überreichte er mir heimlich. Am Sonntag darauf gab ich das ganze Geld wieder aus. 25
Ich startete den Motor meines kleinen Sportwagens in der Garage, öffnete leise die Türen und rollte die Auffahrt hinunter. Es war noch dunkel. Mutter hatte wieder einmal eine junge, wohlhabende Dame übers Wochenende eingeladen, zusammen mit ihren kritischen Eltern, und nachdem ich sie tags zuvor pflichtgemäß zum Rennplatz Newbury begleitet und einen Siegtip gegeben hatte – mein eigenes Pferd –, glaubte ich, weiterer Bemühungen enthoben zu sein. Bevor ich spät nachts zurückkam, würden sie schon abgefahren sein, dachte ich kühl, und mit ein bißchen Glück mußten meine schlechten Manieren sie von einem weiteren Besuch abhalten können. Nach zweieinhalbstündiger Fahrt Richtung Norden bog ich kurz vor zehn Uhr in Lincolnshire von der Hauptstraße ab und fuhr durch ein Tor. Ich stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab, stieg aus, reckte mich und schaute zum Himmel hinauf. Ein kalter, klarer Vormittag, Sichtweite unbegrenzt. Keine Wolke weit und breit. Mit zufriedenem Lächeln schlenderte ich zu den weißen Gebäuden und öffnete die Glastür zur Eingangshalle des Fenland-Flugclubs. Die Halle war ein großer Raum mit mehreren Ausgängen. Eine Doppeltür an der Rückseite führte zum Flugplatz selbst. An den Wänden hingen gerahmte Karten, Vorschriften des Luftfahrtministeriums, eine große Karte der näheren Umgebung, Verhaltensmaßregeln für Piloten von auswärts, ein mit Reißzwecken befestigter Wetterbericht und eine Liste von Personen, die sich an einem Tischtennisturnier zu beteiligen wünschten. An einer Wand standen ein paar kleine Holztische und Stühle, die etwa zur Hälfte besetzt waren, quer durch den Raum erstreckte sich eine lange Theke, die Empfang, Flugleitung und alles mögliche sonst war. Dahinter stand ein dicker, schläfriger Mann in meinem Alter. Er gähnte und kratzte sich zwischen den Schulterblättern. Offenbar litt er an einem Kater. In der einen Hand hatte er eine Tasse Kaffee, in der anderen eine Zigarette. Er sprach lethargisch mit einem flotten, jungen 26
Mann, der seine Freundin mitgebracht hatte, um sie zu beeindrucken. »Ich sage doch, daß Sie vorher anrufen müssen. Die Maschinen sind alle ausgebucht. Tut mir leid, nichts zu machen. Sie können ja warten, vielleicht bleibt jemand aus …« Er sah mich kommen. »Morgen, Henry«, sagte er. »Wie geht’s?« »Prima. Und Ihnen?« »Ich darf mich nicht verletzen, sonst läuft der Gin aus«, meinte er grinsend. Er drehte sich um und betrachtete die riesengroßen Zeitpläne an der Wand. »Sie bekommen ›Kilo November‹. Steht draußen bei den Tanksäulen. Über Land, wie?« Ich nickte. »Schöner Tag.« Er kritzelte einen Vermerk auf die Tabelle: Grey, Solo. »Mehr kann man nicht verlangen.« Das Mädchen sagte beleidigt: »Und heute nachmittag?« »Ausgeschlossen. Alles vergeben. Es wird sehr früh dunkel … morgen gibt es Maschinen genug.« Ich öffnete die Tür, trat aufs Flugfeld hinaus und wanderte zu den Tanksäulen. Dort standen in zwei Reihen sechs einmotorige Sportflugzeuge. Ein großer Mann im weißen Overall tankte eine der Maschinen auf. Er winkte mir zu, als er mich kommen sah, und grinste. »Sie kommen gleich dran, Henry. Prima in Schuß. Generalüberholter Motor. Sie hätten es nicht besser treffen können.« »Freut mich«, sagte ich lächelnd. Er schraubte den Verschluß zu und sprang von der 27
Tragfläche. »Herrlicher Tag«, meinte er. Zwei kleine Maschinen waren schon in der Luft, vier weitere standen vor dem Kontrollturm startbereit. »Weiter weg?«, fragte er. »Schottland«, sagte ich. »Ah, so was gilt nicht.« Er zerrte den Schlauch zur nächsten Maschine. »Die Navigation ist zu einfach. Sie brauchen nur nach Westen zu fliegen, bis Sie die A1 finden, dann können Sie an ihr entlang hinaufbrummen.« »Ich fliege nach Islay«, sagte ich. »Keine Straßen, ehrlich.« »Islay. Das ist was anderes.« »Ich mache Mittagspause und bringe Ihnen Heidekraut mit.« »Wie weit?« »Zweihundertsiebzig Seemeilen ungefähr.« »Da müssen Sie im Dunkeln zurückfliegen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Er schraubte den Tankverschluß von ›Kilo November‹ ab und hielt das Schlauchende über die Öffnung. »Ein großes Stück, ja.« Ich überprüfte das Flugzeug, holte meine wattierte Jacke und die Karten aus dem Wagen, reichte meinen Flugplan ein, sprach mit dem Kontrollturm und war nach kurzer Zeit in der Luft. Luft ist schon was Merkwürdiges. Weil sie unsichtbar ist, denkt man gern, daß sie gar nicht da ist. Nach dem Motto: Was ich nicht sehe, das gibt’s auch nicht. Aber Luft ist zäh, elastisch, leistet Widerstand, und je fester man sich hineinbohrt, desto solider wird sie. Sie hat Strömungen, die stärker sind als die Gezeiten, und Turbulenzen, neben denen sich die Charybdis wie ablaufendes Badewasser ausnehmen würde. 28
Als ich anfing zu fliegen, versuchte ich mit diesem Unsichtbaren klarzukommen, indem ich mir ein Flugzeug wie ein Unterseeboot vorstellte. In beiden bewegte man sich in einem Medium auf-, ab- und seitwärts, das man nicht sehen konnte, das einen aber fühlbar umgab. Wäre das menschliche Auge anders konstruiert, überlegte ich mir als nächstes, dann wäre es vielleicht auch imstande, die Mischung aus Stickstoff und Sauerstoff, die wir einatmen, genauso deutlich zu sehen wie die Mischung aus Wasserstoff und Sauerstoff, in der wir uns waschen. Von da an nahm ich die eindeutig plastische Existenz der Luft als gegeben hin und dachte nicht mehr weiter darüber nach. Der Flug nach Islay war ein reines Vergnügen. Ich hatte so viele Flugstunden hinter mir, daß ich die Maschine im Schlaf steuern konnte, und bei dem idealen Wetter und der festgelegten Route brauchte ich nichts zu tun, als zu genießen. Das tat ich, weil ich gern allein war. Vor allem in einer winzigen, lauten, leistungsfähigen kleinen Kapsel bei 25000 Umdrehungen in der Minute, in fünfzehnhundert Meter Höhe, bei hundertzehn Meilen Geschwindigkeit, Kurs immer 313°, unterwegs nach Nordwesten, zum Meer und einer schottischen Insel. Ich fand Islay ohne Schwierigkeiten und stellte mein Funkgerät auf die Frequenz des Flughafens Port Ellen ein. »Port Ellen Kontrollturm, hier ist ›Golf Alpha Romeo Kilo November‹, hören Sie mich?« Eine Stimme mit schottischem Akzent erwiderte: »›Golf Alpha Romeo Kilo November‹, guten Tag, verstanden.« »›Kilo November‹ von Südosten Entfernung fünfzehn Meilen, erbitte Landeanweisung, Ende.« »›Kilo November‹ Landeerlaubnis, Rollbahn Nullvier. Wind Nullsechsnull, zehn Knoten, bei Sicht melden.« Ich folgte den Anweisungen, flog um den Platz, drosselte den 29
Motor, drehte die Maschine in den Wind, drückte die Maschine nach unten, landete und rollte zum Kontrollturm. Nachdem ich in einem Imbißraum gegessen hatte, machte ich einen Spaziergang am Meer, atmete die linde Luft vom Atlantik und vergaß, Heidekraut zu suchen. Die Insel döste in der Sonne. Nichts rührte sich hier am Sonntag. Es war friedlich, fern von allem Trubel und beruhigte die Nerven. Seelenbalsam, wenn man drei Stunden blieb, entnervend, wenn man sein ganzes Leben dort zubringen mußte. Der goldene Schimmer am Himmel war schon verflogen, als ich den Rückweg antrat. Ich flog zufrieden durch Dämmerung und Dunkelheit, navigierte mit Kompaß und orientierte mich nach den Funkfeuern, die ich überflog. In Carlisle machte ich eine Zwischenlandung, um zu tanken, dann kehrte ich ohne Zwischenfall nach Lincolnshire zurück, landete weich und ein wenig traurig auf dem vertrauten Flugfeld. Wie gewöhnlich war das Klubzimmer neben der Halle auch an diesem Sonntag brechend voll. Alles Amateurpiloten wie ich, die alle gleichzeitig von Sackflügen, Trudeln, Nennleistung, von Suppen und Kursversetzung redeten. Ich drängte mich durch die Menge bis zur Bar und besorgte mir einen Whisky mit Wasser, der auf meiner Zunge einen trockenen, guten Geschmack hinterließ und mich daran erinnerte, wo ich gewesen war. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich direkt neben mir den Mann vom Empfang, der sich mit einem rothaarigen jungen Mann unterhielt. Als er meinen Blick bemerkte, sagte er zu dem Jungen: »Hier ist jemand, mit dem Sie sich mal unterhalten sollten. Unser Henry hier ist zwar stumm wie ein Fisch, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen … Von dem können die meisten hier noch ne Menge lernen.« Seine Geste umfaßte die im Raum Anwesenden. »Fragen Sie Henry mal. Als er anfing, ging’s ihm 30
genau wie Ihnen, da hat er überhaupt nichts gewußt. Das ist keine drei oder vier Jahre her.« »Vier«, sagte ich. »Na bitte, vier Jahre. Und jetzt hat er den Privatpilotenschein und einen Haufen Flugstunden und kann einen Motor auseinandernehmen wie ein Mechaniker.« »Das reicht«, unterbrach ich ihn milde. Der junge Mann zeigte sich ohnehin nicht im geringsten beeindruckt, da er gar nicht verstand, was der andere ihm sagte. »Wahrscheinlich ist es einfach so, daß man, wenn man erstmal angefangen hat, immer weitermacht. Eins führt dann immer zum anderen.« »Ich habe heute meine erste Unterrichtsstunde gehabt«, sagte der junge Mann begeistert, und die nächste Viertelstunde mußte ich mir seinen detaillierten Bericht anhören. Ich aß zwei dicke Schinkensandwiches, während er sich alles von der Seele redete, und trank meinen Whisky aus. Man konnte es ihm wirklich nicht übelnehmen, dachte ich, während ich ihm mit halbem Ohr zuhörte. Wenn es einem beim ersten Mal gefiel, dann packte einen dieser erste Flug bei der Kehle, und man war der Fliegerei mit Haut und Haaren verfallen. So war es ihm gegangen. So war es mir gegangen – eines müßigen Tages, als ich am Tor des Flugplatzes vorbeifuhr, nur so, um vielleicht eine Spritztour in einem der kleinen Flugzeuge zu machen, bloß um mal zu sehen, wie es war. Ich hatte gerade eine Großtante besucht, die im Sterben lag, und war niedergeschlagen. Natürlich könne Mr ….? »Grey«, sagte ich. Natürlich könne Mr. Grey mit einem Fluglehrer einen Rundflug machen, hieß es, und der Fluglehrer, dem man nicht gesagt hatte, was ich wollte, fing ganz selbstverständlich an, mir das Fliegen beizubringen. Ich blieb den ganzen Tag dort und gab ein ganzes Wochengehalt für Unterrichtsgebühren aus. Und am folgenden Sonntag fuhr ich wieder hin. Seitdem sind die meisten meiner Sonntage und der größte Teil meines 31
Geldes auf diese Weise hingegangen. Der Rothaarige wurde unterbrochen, als sich ein stämmiger Mann im Tweedanzug zwischen uns schob. »Sie entschuldigen«, sagte er freundlich, aber unmißverständlich zu dem Jüngling. Er wandte sich an mich. »Henry, ich habe schon auf Sie gewartet.« »Wollen Sie etwas trinken?« »Ja … später.« Er hieß Tom Wells und betrieb eine kleine Charterfirma, die ihren Stützpunkt auf dem Flugplatz hatte. Sonntags, wenn nichts Besonderes vorlag, vermietete er seine Flugzeuge an den Club. Ich war mit einer seiner Maschinen nach Islay geflogen. »Hab’ ich was angestellt?«, fragte ich. »Angestellt? Wie kommen Sie denn darauf? Nein, ich sitze in der Patsche. Hoffentlich können Sie mir aushelfen.« »Wenn es geht, gern.« »Ich habe am nächsten Wochenende überbucht und einen Piloten zuwenig. Übernehmen Sie am Sonntag einen Flug für mich?« »Ja«, sagte ich. Ich hatte das schon mehrmals gemacht. Er lachte. »Sie sagen wirklich kein Wort zuviel, Henry. Vielen Dank. Wann kann ich Sie anrufen, um Ihnen Ihre Instruktionen zu geben?« Ich zögerte. »Ich rufe lieber selbst an, wie üblich.« »Also bis Samstag früh.« »Abgemacht.« Wir tranken einen Whisky miteinander, er beklagte sich über den zunehmenden Mangel an brauchbaren Piloten und erklärte mir, daß es für einen jungen Mann jetzt einfach zu teuer sei, 32
auf eigene Kosten den Flugschein zu machen. Für einen Piloten von mehrmotorigen Flugzeugen kostete das mindestens dreitausend Pfund. Das konnten sich nur die Fluggesellschaften leisten. Die bildeten ihre eigenen Leute aus und behielten sie natürlich auch. Wenn die Generation, die das Fliegen während des Krieges in der RAF gelernt hatte, erst mal zu alt war, dann würden die kleineren Charterfirmen in eine ganz böse Klemme geraten. »Sie sind da eine Ausnahme«, meinte er, und offensichtlich war es das gewesen, worauf er die ganze Zeit hingearbeitet hatte. »Sie haben eine reguläre Lizenz mit allem Drum und Dran und nützen sie kaum aus. Warum denn nicht? Warum machen Sie nicht Schluß mit Ihrem langweiligen Bürojob und kommen zu mir?« Ich sah ihn starr an. Die Verlockung war fast zu groß, aber abgesehen von allem anderen, hätte das den Verzicht auf den Hindernisrennsport bedeutet, und damit wollte ich mich nicht abfinden. Ich schüttelte langsam den Kopf und sagte, die nächsten paar Jahre sei nicht daran zu denken. Auf der Heimfahrt genoß ich die Ironie dieser Situation. Tom Wells wußte nicht, was für einen Beruf ich hatte, nur, daß ich in einem Büro saß. Ich war noch nicht dazu gekommen, ihm zu erzählen, daß das nicht mehr zutraf, und ich hatte auch nicht die Absicht. Er wußte nicht, wo ich herkam oder was ich sonst trieb. Ich war eben Henry, der am Sonntag auftauchte und flog, wenn er Geld hatte, oder im Hangar an den Motoren herumbastelte, wenn das nicht der Fall war. Tom Wells hatte mir das Angebot wegen meiner eigenen Leistungen gemacht, nicht wie die anderen meines Vaters wegen, und das freute mich. Ich erlebte selten, daß ich die Motive hinter den mir angebotenen Möglichkeiten klar zu durchschauen vermochte. Aber wenn ich die Stellung annahm, war es mit meiner Anonymität bald zu Ende, die alten Probleme würden wieder auftauchen, Tom Wells würde sein 33
Angebot vielleicht sogar zurückziehen, und dann hatte ich für meine Sonntage keine Zuflucht mehr. Meine Familie wußte nicht, daß ich den Pilotenschein hatte. Ich hatte nichts erzählt, weil damals, als ich nach dem ersten Flugtag heimkam, meine Großtante gestorben war und ich mich schämte, nur mein Vergnügen gesucht zu haben, obwohl ich wußte, daß sie im Sterben lag. Später verschwieg ich es, weil ich befürchtete, daß es zu Auseinandersetzungen kommen und man versuchen würde, mir das auszureden. Bald danach begriff ich, was für eine Erleichterung es war, ein Doppelleben zu führen, und von diesem Augenblick an sorgte ich für eine scharfe Trennung der beiden Existenzen. Es war ziemlich einfach, weil ich von Natur aus nicht gesprächig bin. Ich schwieg eben, wenn man mich fragte, was ich sonntags trieb. Bücher, Karten, Rechenschieber und Flugscheine hatte ich in meinem Zimmer vor neugierigen Augen versteckt. Zum Glück.
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3 Am nächsten Tag lernte ich Billy kennen. Mit Conker und Timmie war ich, nachdem sie ihre erste Enttäuschung über die nach ihrer Meinung unverdiente Benachteiligung verwunden hatten, zu einem Waffenstillstand gelangt. Bei den Flügen unterhielten sie sich ausschließlich miteinander, nicht mit mir, aber das war wie üblich mein Fehler. Immerhin waren wir soweit gekommen, daß wir belegte Brote und Schokolade sowie die Arbeit sachlich teilten. Billy dagegen ließ sofort erkennen, daß bei ihm ein anderer Wind wehte. Für Billy existierte der Klassenkampf als blutiges Schlachtfeld, auf dem er sich als aktivster und unermüdlichster Krieger hervortat. Schon fünf Sekunden nach unserer Begegnung schärfte er seine Krallen. Es war am Flughafen Cambridge um fünf Uhr morgens. Wir sollten zwei Lieferungen verkaufter Rennpferde von Newmarket nach Chantilly bei Paris bringen und hatten wegen der komplizierten Verladearbeiten hier und dort einen langen Tag vor uns. Als ich meinen Wagen auf dem Parkplatz abschloß, dachte ich gerade darüber nach, wie schnell Conker, Timmie und ich mit unserer Arbeit zurechtkamen, als neben mir Yardman persönlich in einem schwarzen Jaguar hielt. Er brachte zwei Männer mit: eine große, schwer erkennbare Gestalt saß ziemlich eingeengt auf dem Rücksitz, und vorn neben Yardman machte es sich Billy bequem. Yardman stieg aus, gähnte, reckte sich, sah zum Himmel hinauf und wandte sich mir schließlich zu. »Guten Morgen, mein Lieber«, sagte er liebenswürdig. »Schönes Flugwetter.« »Allerdings«, antwortete ich. Ich war erstaunt über sein 35
Kommen. Er hatte weder die Gewohnheit, früh aufzustehen, noch uns zu verabschieden. Simon Searle erschien gelegentlich, wenn es Schwierigkeiten mit den Dokumenten gab, nie aber Yardman. Und da stand er, im schwarzen Anzug, der um seine zu magere Gestalt schlotterte. Das kalte Licht der Neonbeleuchtung warf wenig schmeichelhafte Schatten auf seine gespannte, großporige Haut. Die schwarze Hornbrille verbarg wie immer den Ausdruck in seinen tiefliegenden Augen. Nach vierwöchiger Anstellung bei ihm, nachdem ich ihn zwei- oder dreimal in der Woche im Kaigebäude aufsuchte, um Instruktionen entgegenzunehmen, Berichte abzuliefern und meinen Lohn abzuholen, hatte ich ihn nicht näher kennengelernt als an jenem ersten Nachmittag. Auf ihre Weise waren die Bastionen um sein Privatleben genauso undurchdringlich wie die meinen. Unterdrückt gähnend erklärte er mir, daß Timmie und Conker nicht erscheinen würden. Sie hätten Anspruch auf ein paar Tage Urlaub. Er habe zwei Männer mitgebracht, die bei solchen Gelegenheiten freundlicherweise einzuspringen pflegten, und er sei überzeugt, daß ich auch mit ihnen gut zurechtkäme. Er habe sie selbst hergebracht, erklärte er, weil man um diese frühe Morgenstunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln den Flughafen Cambridge nicht erreichen könne. Während er mir das auseinandersetzte, stieg der vorne sitzende Mann aus. »Billy Watkins«, sagte Yardman beiläufig und nickte uns zu. »Guten Morgen, Lord Grey«, sagte Billy. Er war ungefähr neunzehn, sehr schlank und hatte runde, kalte, graue Augen. »Henry«, erwiderte ich automatisch. Anders ließ sich eine Zusammenarbeit gar nicht erreichen, außerdem zog ich diese Anrede vor. Billy sah mich mit großen, ausdruckslosen Augen unverschämt an. Er setzte seine Worte laut, abgehackt und 36
präzise. »Guten-Morgen-Lord-Grey.« »Na, dann guten Morgen, Mr. Watkins.« Seine Augen zuckten auffällig, dann starrten sie mich wieder groß an. Wenn er glaubte, daß ich mich anbiedern würde, hatte er sich getäuscht. Yardman bemerkte die Spannung und ärgerte sich darüber. »Ich hab Sie gewarnt, Billy«, entfuhr es ihm, aber er unterbrach sich sofort. »Ich bin überzeugt, mein Lieber«, sagte er leise zu mir, »daß Sie sich bei Ihrer Sorge um die wertvolle Fracht nicht von – äh – persönlichen Antipathien beeinflussen lassen.« »Nein«, sagte ich. Er lächelte und zeigte seine weißlichgrauen Zähne. Ich fragte mich, warum er sich kein natürlicher wirkendes Gebiß machen ließ, wenn er sich einen solchen Wagen leisten konnte. Seinem wenig einnehmenden Äußeren hätte das sehr gut getan. »Na schön«, sagte er befriedigt. »Dann an die Arbeit.« Der dritte Mann schob sich schwerfällig aus dem Wagen. Er wurde durch einen enormen Leibesumfang behindert, der einer Schwangeren, die Zwillinge erwartete, zur Ehre gereicht hätte. Er trug einen offenen braunen Overall, dem zum Zumachen fünfzehn Zentimeter fehlten, darunter ein kariertes Hemd. Grellrote Hosenträger hielten eine Hose mit gewaltiger Bundweite an ihrem Platz. Er war etwa fünfzig, neigte zu einer Glatze und wirkte müde, unrasiert und mürrisch. Weder in diesem Augenblick noch später sah er mir in die Augen. Was für eine Mannschaft, dachte ich resigniert, während ich abwechselnd Billy und ihn anstarrte. Von zügigem, überlegtem Arbeiten konnte da keine Rede sein. Der dicke Mann war tatsächlich noch unbrauchbarer, als man nach seinem Aussehen erwarten konnte, und er behandelte die Pferde mit jener 37
Grobheit, die von Angst herrührt. Yardman beauftragte ihn, sie aus dem Transportwagen durch den mit Matten ausgelegten Laufgang ins Flugzeug zu führen, während Billy und ich sie in ihren Boxen festbanden. John, wie ihn Yardman nannte, war entweder zu dick, oder er befürchtete, auf die Füße getreten zu werden, wenn er neben den Pferden die Rampe hinaufgegangen wäre. Statt dessen schob er sich rückwärts hinauf, zerrte das Pferd hinter sich her und verrenkte ihm fast den Hals. Kein Wunder, daß sie sich ausnahmslos mit allen vieren dagegenstemmten. Yardman kam von hinten heran, eine Mistgabel schwenkend, und trieb sie mit lauten Rufen und Stichen seiner Gabel wieder vorwärts. Das Ergebnis waren erregte und verschreckte Tiere, denen man einen Flug nicht zumuten konnte. Nachdem drei von ihnen schwitzend, mit rollenden Augen und mit den Hinterhufen ausschlagend, in der Maschine eingetroffen waren, marschierte ich die Rampe hinunter und protestierte. »John soll Billy helfen. Die Pferde führe ich hinauf«, sagte ich zu Yardman. »Sie sollen doch wohl nicht in solchem Zustand ankommen, daß ihr Eigentümer die Firma nie mehr beauftragt? Immer vorausgesetzt, daß sie unterwegs nicht die ganze Maschine zertrampeln.« Er wußte sehr gut, daß das beim Transport von Rennpferden im Flugzeug tatsächlich ein- oder zweimal passiert war. Selbst im besten Fall bestand immer ein Risiko, daß ein Pferd in der Luft die Nerven verlieren würde. Mit einer ganzen Ladung von zu Tode erschrockenen Vollblütern zu starten, hätte glatten Selbstmord bedeutet. Er zögerte nur einen Augenblick, dann nickte er. »Also gut, meinetwegen.« Das Verladen wurde mit weniger Temperament, aber ebenso langsam fortgesetzt. John konnte die Tiere genausowenig 38
unterbringen wie führen. In Flugzeugen muß die Fracht noch vorsichtiger untergebracht werden als auf Schiffen. Wenn der Schwerpunkt nicht innerhalb eines verhältnismäßig engen Bereichs liegt, fliegt die Maschine überhaupt nicht, sie rollt nur mit hoher Geschwindigkeit ans Ende der Startbahn und verwandelt sich in Schrott. Verrutscht die Ladung mitten in der Luft stark, dann kippt das Flugzeug genauso, wie es ein Schiff tun würde, aber es bleibt nicht genug Zeit, das wieder gutzumachen. Rettungsboote stehen da oben nicht zur Verfügung. Die Pferde mußten deshalb in der Mitte des Flugzeugs untergebracht werden, und zwar zu ihrer eigenen Sicherheit und Bequemlichkeit mit nach vorn gerichteten Köpfen. Das hieß bei einer mittelgroßen Maschine, wie sie von Yardman gewöhnlich gechartert wurde, daß vier Pferdepaare jeweils hintereinander standen. Wegen des Gleichgewichts durften sich die Pferde kaum bewegen können, außerdem mußten sie leicht zugänglich sein, damit man ihre Köpfe halten und sie bei Start und Landung beruhigen konnte. Jedes Paar bekam daher eigene Boxen, was vier kleine Inseln in der Mitte der Maschine ergab. Zwischen den Boxen und seitlich davon gab es entlang des ganzen Flugzeugs schmale Durchgänge, so daß man leicht herumgehen und jedes einzelne Pferd erreichen konnte. Die Pferde standen in großen, mit Torf ausgelegten Kästen, die am Boden verschraubt waren. Die aus Brettern bestehenden Boxen mußten rund um die Pferde errichtet werden, sobald wieder ein Paar verladen war. Man baute die vordere Schlußwand und die beiden Seitenwände auf, führte die Pferde hinein, band sie fest, fügte die Rückwand an und festigte das Ganze mit Eisenstangen, die dazu dienten, die Boxen zusammenzuhalten. An jeder Ecke wurde ein Pflock eingesteckt. Es gab drei Stangen, oben, in der Mitte und unten. Damit die Boxen nicht nach innen zusammenbrachen, mußte jede Wand mit Ketten am Boden befestigt werden, die als 39
Spannseile dienten. Wenn die Verladearbeiten abgeschlossen waren, sah das Ganze aus wie vier riesige, angekettete Packkisten, aus denen oben die Pferdeköpfe herausragten. Da man es sich nicht leisten konnte, daß eine Box mitten in der Luft auseinanderfiel, verlangte die Anfertigung Aufmerksamkeit und Gründlichkeit, wenn sie auch nicht schwierig war. John fehlte es auffällig an beidem. Er stellte sich auch beim Einhaken und Spannen der Ketten äußerst ungeschickt an und ließ zwei Bolzen fallen, die wir nicht mehr finden konnten. Wir mußten statt dessen Draht verwenden, der nicht halten würde, wenn ein nervöses Pferd richtig auszuschlagen begann. Schließlich bauten Billy und ich die Boxen alleine, während John mürrisch dabeistand und uns zusah. Billy ließ es sich angelegen sein, mir die Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Das Ganze dauerte so lange, daß sich wenigstens die drei verängstigten Pferde wieder beruhigt hatten, bevor der Pilot an Bord kletterte und die Motoren anließ. Ich schloß die erste der großen Doppeltüren, durch die wir die Pferde hineingeführt hatten, und warf einen letzten Blick auf Yardman, der auf dem Rollfeld stand. Der Wind von den Propellern ließ sein schütteres Haar rund um die Glatze nach oben flattern. Der Anblick erinnerte an eine schwarze Seeanemone. Das Licht machte silberne Scheiben aus seinen Brillengläsern. Er hob die Hand, ohne den Ellenbogen zu bewegen, eine seltsame und ungeschickte Abschiedsgeste. Ich grüßte zurück und verschloß die zweite Tür, als sich die Maschine bereits in Bewegung setzte. Wie üblich umfaßte die Besatzung drei Mann, Pilot, Copilot und Bordingenieur. Der Bordingenieur mußte bei diesen Flügen immer den Kaffee kochen, und man konnte ihn auch bitten, während des Starts die Köpfe von zwei Pferden zu halten. Und der heutige tat das mit größerer Geschicklichkeit als John. 40
Der Flug war relativ kurz, dazu hatten wir noch Rückenwind, aber die Landung erfolgte doch mit einer Stunde Verspätung. Das Bodenpersonal rollte eine Rampe an die Türen, und wir öffneten sie von innen. Als erstes erschienen drei Zollbeamte mit ernsten Gesichtern. Pedantisch verglichen sie die mitgebrachten Pferde mit unseren und ihren Listen. Auf den Dokumenten für jedes Pferd standen Einzelheiten über physische Merkmale und Farbe; die Zollbeamten überprüften sorgfältig jeden Stirnfleck, jede Blesse, jede Fessel, um zu verhindern, daß ein schlechteres Pferd gegen das gute ausgetauscht worden war. Frankreich war schwerer zu befriedigen und zeigte mehr Argwohn als die meisten anderen Länder. Als sich der ranghöchste Zollbeamte davon überzeugt hatte, daß dieses Mal kein Schwindel vorlag, gab er mir höflich die Unterlagen zurück und erklärte, daß wir mit dem Ausladen beginnen könnten. Vier Transportwagen französischer Rennställe waren erschienen, um die Neuerwerbungen abzuholen. Die Fahrer, an Verzögerungen aller Art gewöhnt, standen beieinander und bohrten mit Zahnstochern zwischen ihren Zähnen herum. Ich ging die Rampe hinunter, trat auf sie zu und erklärte ihnen, in welcher Reihenfolge die Pferde ausgeladen werden sollten. Mein französischer Wortschatz, in vieler Beziehung mangelhaft, war immerhin vollständig, soweit es sich um Pferde handelte, und ziemlich idiomatisch, was Rennen oder Vollblutpferde anbetraf. Bei der ›Anglia‹ hatte ich viel mit französischen Rennpferden zu tun gehabt und kannte mich nach sechs Jahren im französischen Gestütbuch genausogut aus wie im britischen. Die Fahrer nickten, pfiffen durch die Zähne, gingen zu ihren Wagen und rollten in der richtigen Reihenfolge zum Flugzeug. Das hier erste, in Cambridge zuletzt eingeladene Pferd war eine unauffällige braune Stute, die der Fahrer selbst in den 41
Wagen führte. Er übernahm sie aus meiner Hand, schlug ihr freundlich aufs Hinterteil, und bis ich das zweite Pferd herausgeführt hatte, war er mit dem Pferd schon unterwegs. Die anderen Fahrer hatten, was eher der Gewohnheit entsprach, ein oder zwei Pferdepfleger mitgebracht, da sie mehr als ein Pferd abzuholen hatten. Billy übernahm das Ausladen, während ich zusammen mit John die Boxen abmontierte. Es lief praktisch darauf hinaus, daß ich es allein machen mußte. Er ließ die Stangen fallen, stolperte über die Verankerungen im Boden, klemmte sich die Finger zwischen den Ketten ein und konnte wegen seines Bauchs keine Arbeit übernehmen, bei der man sich bücken mußte. Warum Yardman ihn überhaupt beschäftigte, war für mich ein unergründbares Rätsel. Daß wir auf dem Rückflug vier Pferde mitnehmen sollten, war vorgesehen, aber zu dem Zeitpunkt, als unser letzter Schutzbefohlener abtransportiert wurde, war nicht ein einziges zur Stelle. Nachdem ich eine halbe Stunde gewartet hatte, ging ich zum Flughafengebäude und rief einen der Trainer an. Selbstverständlich schicke er heute zwei Pferde, erklärte er, zwei vierjährige Sprungpferde, die er an einen englischen Stall verkauft habe, aber sie mußten erst um drei Uhr am Flughafen sein. Fünfzehn Uhr, so stehe es deutlich auf der schriftlichen Mitteilung der Firma Yardman-Transport. Ein zweiter Trainer behauptete das gleiche, und obwohl ich die Telefonnummer des dritten nicht wußte, hielt ich es für ausgemacht, daß auf seiner Mitteilung dieselbe Zeitangabe stand. Entweder Simon oder, was wahrscheinlicher war, seine Stenotypistin hatte auf der Mitteilung statt der Null eine Fünf geschrieben. Ärgerlich, weil das hieß, daß wir am Ende des letzten Fluges abladen mußten, wenn wir alle schon müde waren. Das war aber noch lange nicht alles. Auf dem Weg zurück zur Maschine sah ich Billy und John heftig miteinander streiten, aber sie hörten auf, bevor ich ihre Worte verstehen 42
konnte. John drehte sich um und gab der Rampe einen Fußtritt, während mich Billy beleidigend anstarrte. »Was ist los?«, fragte ich. Billy verzog den Mund, um mir deutlich zu zeigen, daß mich das nichts anging, aber nachdem er eine Weile mit sich gekämpft hatte, antwortete er doch. »Er hat Kopfschmerzen«, sagte er und wies mit dem Kopf auf John. »Wegen des Lärms.« Kopfschmerzen. Das erklärte wohl kaum die hoffnungslose Ungeschicklichkeit des dicken Mannes, seine mürrische, verschlagene Art, seinen Streit mit Billy. Es erklärte auch nicht, wie ich überrascht feststellte, daß er während des Flugs nicht ein einziges Wort mit mir gewechselt hatte. Ich zuckte die Achseln und ging nicht weiter darauf ein. »Geht rein«, sagte ich statt dessen. »Wir fliegen leer zurück. Es hat eine Verwechslung gegeben. Wir nehmen die französischen Pferde beim nächstenmal mit.« »-«, sagte Billy. Er gebrauchte ein so ordinäres Wort, daß ich mich fragte, was er wohl für Ausdrücke verwenden würde, wenn er in Wut war. »Allerdings«, sagte ich trocken. »Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.« John stapfte unwillig die Rampe hinauf. Billy folgte ihm nach einer Weile, und ich ließ ihm meinerseits auch einen großen Vorsprung, bevor ich ebenfalls die Maschine betrat. Der Abstand zwischen uns ist symbolisch, dachte ich ironisch. Das Bodenpersonal entfernte die Rampe, die Flugzeugbesatzung kehrte von der Kaffeepause zurück, und wir traten den Rückflug nach Cambridge an. Unterwegs saßen wir auf drei verschiedenen Heuballen und sahen einander nicht einmal an. John stützte die Ellbogen aufs Knie und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, Billy starrte mit leerem Blick auf den bewölk43
ten Himmel hinaus. Der Flugzeugrumpf wirkte riesig und leer, da die Boxenwände flach auf dem Boden lagen. Der Nachhall war groß, der Lärm weitaus stärker als vorher, und ich brachte sogar Mitgefühl für John auf. Das Flugzeug war von der Charterfirma zur Mehrzweckmaschine umgebaut worden. In den Verankerungen am Boden konnte man ebensogut Passagiersitze anbringen wie Pferdeboxen. Die Fluggesellschaft transportierte an einem Tag sechzig Passagiere einer Busreise nach Europa, am nächsten eine Ladung Schweine oder Rinder. Dazwischen wurden die Sitzreihen einfach abgeschraubt und der Abfall hinausgekehrt, entweder Pferdemist und Stroh oder Zigarettenpäckchen und Tüten mit Erbrochenem. Man durfte den Pferdemist nicht auf ausländischem Boden abladen. Das ganze Zeug war feierlich nach England zurückzutransportieren, in Übereinstimmung mit den Quarantänevorschriften. Es ist eigenartig, dachte ich wieder einmal, daß die Torfkästen nie stinken. Nicht einmal jetzt, obwohl der Geruch warmer Pferdeleiber nicht mehr bemerkbar war, der einen Gestank überlagert hätte. Natürlich gab es in solchen Maschinen keine Druckkabine, so daß immer frische Luft hereindrang, und es stank weniger als in einem normalen Stall, selbst nach einem ganzen Tag in warmem Klima. Die erste Person, die in Cambridge das Flugzeug betrat, war ein gut gelaunter, unterbeschäftigter, barhäuptiger Zollbeamter, eigens beauftragt, die Pferde abzufertigen. Er bestieg die Maschine, als die Cockpitleiter angelegt war, rief dem Piloten eine unanständige Bemerkung zu und marschierte herein. »Was habt ihr denn mit ihnen gemacht?«, fragte er, nachdem er sich umgesehen hatte. »In den Kanal geworfen?« Ich erklärte die Situation. »Verflixt«, sagte er. »Ich wollte früher Schluß machen. Hat einer von euch in Frankreich etwas gekauft?« 44
John schwieg. Ich schüttelte den Kopf. Billy sagte in beleidigendem Ton: »Der Kerl hat uns ja nicht mal hinausgelassen.« Der Zollbeamte in seinem blauen Anzug sah mich von der Seite amüsiert an. Offenbar kannte er Billy. »Okay«, sagte er. »Dann bis heute nachmittag.« Er öffnete die großen Doppeltüren, winkte den Männern, die die Rampe herbeirollten, marschierte hinunter und kehrte zum Flughafengebäude zurück. John, Billy und ich gingen zum Mittagessen, denn wir waren ja nun in etwa wieder im Zeitplan. Ich saß allein an einem Tisch, während die beiden sich ostentativ einen anderen aussuchten, so weit weg, wie es nur ging. Wenn Billy glaubte, daß er mich dadurch ärgern konnte, irrte er gewaltig. Ich war froh, wenn ich allein sein konnte. Um ein Uhr waren die nächsten Transportwagen eingetroffen, und wir begannen von neuem mit dem Verladen. Diesmal holte ich den Pfleger, der die Pferde gebracht hatte. Er mußte sie die Rampe hinaufführen. Billy und ich errichteten die Boxen, John rülpste und stand uns im Weg. Als ich fertig war, betrat ich das Flughafengebäude, ließ die Exportdokumente von den Zollbeamten begutachten und lockte den Piloten von seiner vierten Tasse Kaffee weg. Wieder stiegen wir in den klaren Winterhimmel hinauf, flogen über das graue Meer und landeten in Frankreich. Dieselben französischen Beamten kamen an Bord, untersuchten jedes Pferd so gründlich wie beim erstenmal und fertigten uns ebenso höflich ab. Wir demontierten die Boxen, führten die Pferde hinaus, wo sie in die Wagen verladen und abtransportiert wurden. Diesmal standen die französischen Sprungpferde für den Rückflug schon bereit, und wir brachten sie ohne Pause an Bord. Da es nur vier waren, brauchten wir nur zwei Boxen aufzubauen, was mir schon reichte. Johns einziger Beitrag zum 45
zweiten Flug bestand darin, daß er die Heunetze füllte und anbrachte, damit die Pferde während des Fluges etwas zu fressen hatten. Selbst dabei stellte er sich ungeschickt an. Als die Pferde schließlich unbekümmert in ihren Boxen kauten, gingen wir zum Flughafengebäude, Billy und John voraus, ich hinterher. Das einzige Wort, das zwischen den beiden fiel, war ›Bier‹. In einem der Büros gab es wegen der Unterlagen eine Verzögerung. Das war etwas, womit ich in diesem Geschäft zu rechnen gelernt hatte, nämlich mit Verzögerungen aus formalen Gründen. Eine Reise, die einmal glatt verlief, war ein Geschenk. Es genügte schon eine einzige kleine Unklarheit hinsichtlich eines einzigen Tieres, um eine ganze Flugzeugladung von bis zu zwanzig Pferden stundenlang aufzuhalten. Gelegentlich hatte es noch nicht mal etwas mit den Pferden selbst zu tun, sondern damit, ob die Fluggesellschaft dem Flughafen die Gebühren für ein anderes Flugzeug oder einen anderen Flug schuldete. In einem solchen Fall fertigte der Flughafen das Flugzeug mit den Pferden nicht ab, bevor nicht die Gebühren bezahlt waren. Die Pedanterie, die dabei herrschte, konnte einen manchmal schier um den Verstand bringen. Ich hatte schon ganz gut gelernt, mich zu beherrschen, wenn alle anderen um mich her ausrasteten und mich dafür verantwortlich machten. Kipling wäre stolz auf mich gewesen. Diesmal war mit der Versicherung etwas nicht in Ordnung, aber ich konnte nichts unternehmen, weil einer der Pferdebesitzer mit der Versicherungsgesellschaft wegen eines leichten Verkehrsunfalls stritt, bei dem das Pferd verletzt worden war. Die Versicherungsgesellschaft wollte verhindern, daß das Pferd Frankreich verließ. Ich erklärte, es sei ein bißchen spät, das Pferd sei verkauft, und die Gesellschaft habe doch wohl nicht das Recht, ein Pferd zurückzuhalten. Niemand wußte genau Bescheid. Man begann eifrig zu telefonieren. 46
Ich ärgerte mich, vor allem deshalb, weil das fragliche Pferd in der vorderen Box stand. Wenn nichts anderes übrigblieb, als es wieder auszuladen, mußten wir zuerst die zweite Box auseinandernehmen und die zwei Pferde herausführen, um zu dem ersten gelangen zu können, und hinterher wieder mit dem Verladen beginnen. Da Billy und John sich inzwischen die Bäuche mit Bier gefüllt haben würden, konnte das sehr unangenehm werden. Die Stallknechte und Transportwagen hatten sich natürlich längst entfernt. Jedes Pferd war Tausende wert. Ich wußte nicht, wem ich vertrauensvoll die Pferde übergeben sollte, die dann auf der Startbahn herumstanden. Der Pilot tauchte auf und erklärte, daß wir übernachten müßten, wenn wir nicht bald starten könnten, weil er nach sechs Uhr nicht mehr am Steuerknüppel sitzen dürfe. Wir müßten spätestens um sechs Uhr in Cambridge sein, sonst dürfe er überhaupt nicht mehr starten. Ich gab diese Information an die Beamten weiter, aber man zuckte nur die Achseln. Der Pilot begann zu fluchen und sagte, bis zwanzig vor fünf könnte ich ihn noch beim Kaffeetrinken erreichen, dann sei er nach Paris unterwegs. Ich müsse mir dann einen anderen Piloten besorgen, weil er achtundvierzig Stunden Pause machen müsse. Ich starrte mürrisch durchs Fenster auf die Startbahn hinaus, wo das Flugzeug mit seiner teuren Fracht stand. Es war eine Situation, auf die ich gut und gerne verzichten konnte. Wenn wir über Nacht bleiben mußten, blieb mir nichts übrig, als bei den Pferden zu schlafen. Jeden Tag was Neues, dachte ich ironisch. Geh zu Yardman-Transport und schau dir die Welt an, alle Unbequemlichkeiten und was sonst noch inbegriffen. Wenige Minuten bevor die Frist ablief, gab die Versicherungsgesellschaft nach. Das Pferd durfte ausreisen. Ich raffte die Dokumente zusammen, bedankte mich überschwenglich, raste hinaus, um den Piloten zu holen, und fand Billy vor einem großen Bierglas. Es war durchaus nicht sein erstes. 47
»Holen Sie John«, sagte ich kurz. »In zehn Minuten starten wir.« »Holen Sie ihn doch selber«, erwiderte er verächtlich. »Wenn Sie können.« »Wo ist er?« »Auf dem Weg nach Paris.« Er trank geruhsam. »Dort hat er irgendein Weibsbild. Er will morgen mit einer Linienmaschine zurückfliegen. Da kann man gar nichts machen, ob’s Ihnen nun paßt oder nicht.« Johns Abwesenheit machte, was die Arbeit anging, nicht den geringsten Unterschied. Es war mir völlig egal, ob er seinen Rückflug selbst bezahlen mußte oder nicht. Er war ein freier Mann und hatte seinen Paß in der Tasche, wie wir alle. Der meine war vom häufigen Gebrauch schon ganz abgegriffen. Wir mußten ihn oft vorzeigen, obwohl selten ein Stempel hineingedrückt wurde, da wir fast nie zur Passagierabfertigung zu gehen brauchten. Wir zeigten ihn eher als Arbeitsausweis statt als gewichtiges, offizielles Dokument, und in den meisten Ländern war man den Besatzungen gegenüber so großzügig, daß ein Pilot mir erzählt hatte, er habe seinen Paß in einem Hotelzimmer in Madrid liegenlassen und sei drei Wochen lang ohne ihn um die Welt geflogen, während er versucht habe, ihn zurückzubekommen. »Zehn Minuten«, sagte ich ruhig zu Billy. »Nach fünfzehn Minuten können Sie Ihren Rückflug auch selbst bezahlen.« Billy starrte mich wieder einmal mit großen Augen an. Er griff nach seinem Glas und goß mir das Bier über den Fuß. Die gelbe Flüssigkeit lief über den Steinboden. An ihren Rändern zerplatzten Schaumblasen. »Reine Verschwendung«, sagte ich ungerührt. »Kommen Sie mit?« Er antwortete nicht. Ich brauchte gar nicht damit zu rechnen, daß er freiwillig aufstehen würde, während ich wartete. Da ich 48
einen entscheidenden Zusammenstoß vermeiden wollte, solange es ging, drehte ich mich um und kehrte allein und mit einem leicht quatschenden Schuh zum Flugzeug zurück. Er kam hinterher, wie ich vermutet hatte, aber erst nach ein paar Minuten, um seine Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen. Die Motoren liefen schon, als er an Bord stieg, und das Flugzeug setzte sich in Bewegung, als die Türen geschlossen waren. Wie üblich hielt Billy die Köpfe von zwei Pferden beim Start, ich kümmerte mich um die anderen zwei. Da wir in der nur halb beladenen Maschine sehr viel Platz hatten, nahm ich an, daß er möglichst große Distanz halten würde, wie den ganzen Tag schon. Aber Billy war inzwischen lange genug von Yardmans mäßigendem Einfluß entfernt und hatte ziemlich viel Bier getrunken. Die Besatzung saß im Cockpit, der dicke, nutzlose John war unterwegs nach Paris. Billy hatte mich ganz für sich. Billy nützte die Gelegenheit.
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4 »So was wie euch dürfte es überhaupt nicht geben«, erklärte er mit charmanter Offenheit. Er mußte es auch sehr laut sagen, damit ich es trotz des Motorenlärms hören konnte. Ich saß auf einem Heuballen, lehnte an der Wand und sah ihn an, wie er drei Meter vor mir stand, mit gespreizten Beinen, um das Gleichgewicht zu halten. »Dafür seid ihr wohl das Salz der Erde«, brüllte ich zurück. Er trat einen Schritt vor. Die Maschine plumpste in ein Luftloch. Er stolperte und fiel zu Boden. Zitternd vor Wut, obwohl ich gar nichts dafür konnte, zog er sich auf ein Knie hoch, schob sein Gesicht vor das meine und fauchte eine Obszönität. Bei dieser geringen Entfernung entdeckte ich erst, wie blutjung er noch war. Völlig glatte Haut, wie bei einem Kind, lange, dichte Wimpern vor den großen, hellen, blaugrauen Scheinwerferaugen. Sein hellbraunes Haar ringelte sich um seinen Kopf, hinunter bis zum Nacken, in der Form eines Helms. Er hatte einen weichen Mund mit vollen Lippen und eine kräftige, gerade Nase. Ein seltsam geschlechtsloses Gesicht. Zu glatt, um ganz männlich, zu grobknochig, um feminin zu wirken. Er war nicht so sehr ein Mann, nicht einmal so sehr eine Person als eine Kraft. Eine wilde, elementare Kraft, in einem federnden Körper kaum zu kontrollieren. Man brauchte nur in Billys kalte Augen zu sehen, um das zu merken. Ich spürte ein unheimliches, unerwartetes, primitives Prickeln irgendwo unten im Bauch und begriff gleichzeitig, daß Freundlichkeit und Vernunft nichts ausrichten würden und daß er nie zu bekehren wäre. 50
Er fing noch recht harmlos an. »Eure Sorte kenn ich«, schrie er. »Ihr meint, daß euch die ganze Welt gehört. Verweichlicht seid ihr, altmodisch und vertrottelt, ihr mit eurem doofen Eton.« Ich schwieg. Sein höhnisches Gesicht schob sich noch näher heran. »Ihr haltet euch wohl für was Besonderes, wie? Ihr mit euren blöden ›Ahnen‹.« »Hat ja wohl jeder«, brüllte ich. »Was?« »Ahnen.« Humor hatte er keinen. Er sah mich verständnislos an. »Sie sind auch nicht auf einem Baum gewachsen«, meinte ich resigniert. »Sie haben genauso viele Vorfahren wie ich.« Er stand auf und trat einen Schritt zurück. »Typisch«, plärrte er. »Sich über Leute lustig machen, auf die man herunterschaut.« Ich schüttelte den Kopf, stand auf und kümmerte mich um die Pferde. Ich machte mir nichts aus sinnlosen Streitereien und schon gar nicht, wenn sie die Kehle anstrengten. Alle vier standen brav in ihren Boxen und zupften Heu aus den Netzen, unbekümmert vom Motorenlärm. Ich tätschelte ihnen die Köpfe, vergewisserte mich, daß alles an seinem Platz war, und überlegte kurz, ob ich ins Cockpit gehen sollte, wo die Gesellschaft angenehmer war, als Billy mir plötzlich winkte. »He«, schrie er. »Sehn Sie sich das an.« Er deutete mit der einen Hand nach unten und stellte eine betroffene Miene zur Schau. Ich kehrte zu ihm zurück. Die Betroffenheit auf seinem Gesicht verwandelte sich in Heimtücke. »Schau her«, brüllte er und schoß die rechte Faust auf meine 51
Magengegend ab. Das einzige Fünkchen Talent, das in Eton bei mir aufgefallen war, hatte mit dem Boxen zu tun. Ich war nicht dabei geblieben, aber selbst nach acht Jahren funktionierten die Reflexe noch. Bills unerwarteter Schlag landete auf einem beweglichen Ziel, mein Kopf kippte nicht nach vorn, um einen Kinnhaken entgegenzunehmen. Vielleicht wäre es auch ein Handkantenschlag ins Genick gewesen. Statt dessen teilte ich ebenso aus, wie ich einstecken mußte. Einen kurzen, harten Schlag gegen die unteren Rippen. Das überraschte ihn zwar, aber er hörte nicht auf. Im Gegenteil. Er schien sich zu freuen. Nun ist der rückwärtige Teil eines Flugzeugs nicht die beste Kampfarena. Hier in diesem war der Boden mit Reihen von Verankerungsvorrichtungen für die Sitze überzogen, so daß es nur eine Frage der Zeit war, wann sich einer von uns mit dem Fuß darin verfing und stolperte. Es passierte mir, als ich einem Griff nach meiner Kehle auswich, und ich landete flach auf dem Rücken. Ich konnte einfach nichts dagegen machen. Bill ließ sich mit voller Absicht schwer auf mich fallen. Ein böses Lächeln verzerrte sein Gesicht. Die Sache machte ihm offensichtlich Vergnügen. Er grub mir seine Ellbogen in die Brust und preßte mich mit aller Kraft auf die Sitzverankerungen. Es tat weh, und das sollte es auch. Ich trat nach ihm und rollte mich zur Seite, versuchte ihn unter mich zu bringen, damit er auch mal spürte, wie das war. Aber im entscheidenden Augenblick war er katzengleich aufgesprungen, und als ich aufstand, gab er mir einen gezielten Tritt. Ich fing ihn mit dem Oberschenkel auf und bedankte mich mit einem Schwinger, der seinen Kopf traf. Er schüttelte ihn bloß kurz und boxte weiter, hart, schnell und ohne Respekt vor irgendwelchen Regeln. Aber er sah nicht mehr so vergnügt aus, als er alles mit Zinsen zurückgezahlt bekam. Ich war immerhin dankbar dafür, daß er nicht mit Klappmesser, Fahrradkette oder ähnlichem kämpfte, und 52
wehrte mich eisern, obwohl ich klar erkannte, daß ich nichts gewinnen würde, selbst wenn ich Sieger blieb. Billys Haß würde nur noch zunehmen, statt nachzulassen, wenn er von einem, den er verachtete, verprügelt wurde. Ich gewann schließlich den Kampf, wenn ihn überhaupt einer gewann, aber nur, weil er den Bauch voll Bier hatte und ich nicht. Wir konnten beide fast nicht mehr weiter. Zu guter Letzt versetzte ich ihm einen brutalen Schlag direkt unter den Nabel. Meine Faust sank tief ein, und er fiel gegen die hintere Box, würgte, hielt sich den Bauch und rutschte zu Boden, wo er auf den Knien liegenblieb. Ich packte ihn beim Handgelenk und drehte ihm den Arm auf den Rücken. »Jetzt hör mir mal zu, Billy«, schrie ich ihm keuchend ins Ohr. »Ich halte es für sinnlos, mich mit dir zu raufen, aber das kannst du haben, wenn du willst. Vergiß ruhig, daß mein Vater Graf ist, Billy, und nimm mich, wie ich bin, nämlich so …« Ich riß seinen Arm nach oben. »Hart, Billy, nicht verweichlicht. So zäh wie nötig. Denk dran.« Er schwieg, wahrscheinlich, weil ihm übel war. Ich zerrte ihn hoch, trieb ihn zur Toilette im Heck, öffnete die Tür und stieß ihn hinein. Da man nur von innen verriegeln konnte, hatte ich keine Möglichkeit, ihn dort festzuhalten, aber den Geräuschen nach, die durch die offene Tür drangen, war er nicht mehr kampffähig. Mein Körper schmerzte von Kopf bis Fuß von seinen Schlägen und der Berührung mit scharfen Kanten. Ich sank auf einen Heuballen, rieb mir ein paar Stellen, was wenig nützte, und entdeckte plötzlich etwas ganz Eigenartiges. Mein Gesicht zeigte keine Kampfspuren. Ich hatte mir den Kopf an einer der Eisenstangen angeschlagen, und über dem rechten Ohr wölbte sich eine kleine Schwellung. Aber ich erinnerte mich deutlich, daß Billy nicht ein einziges Mal nach meinem Gesicht auch nur gezielt hätte. 53
Nie höher als bis zur Kehle. Für jemanden, der in solche Weißglut geraten war, höchst sonderbar, dachte ich. Normalerweise bestand da doch die Neigung, dem anderen das Gesicht zu ›massieren‹. Billy hatte sich aber sogar Mühe gegeben, das zu vermeiden. Ich konnte nicht verstehen, was ihn dazu bewogen hatte. Während des ganzen Fluges dachte ich darüber nach. Es war dunkel, als wir aufsetzten. In der Maschine war das Licht eingeschaltet. Der gutgelaunte Zollbeamte schlenderte durch das Flugzeug, zog die Brauen hoch und erkundigte sich nach meinen Begleitern. »Billy ist dort hinten«, sagte ich und wies auf die Toilette. »John wollte in Frankreich bleiben. Angeblich kommt er morgen zurück.« »Okay.« Er sah flüchtig die Zolldokumente durch. »Alles klar.« Dann fügte er hinzu: »Haben Sie was eingekauft?« Ich schüttelte den Kopf. Er grinste, half mit beim Öffnen der Türen und schritt pfeifend die Rampe hinunter, sobald man sie am Flugzeug befestigt hatte. Billy hatte sich in der Toilette eingeschlossen und weigerte sich, herauszukommen, also mußte ich einen der Fahrer holen, die gekommen waren, um die Fracht abzuholen, um die Pferde ausladen zu können. Das ging stets schneller und einfacher als das Einladen, aber von den Hieben Billys war ich doch tüchtig durchgewalkt worden, so daß ich mich kaum noch bewegen konnte. Ich war froh, als ich die Arbeit hinter mir hatte. Der hilfswillige Fahrer führte das letzte Pferd hinaus, eine unauffällige braune Stute, und bevor ich in die Maschine zurückkehrte, um aufzuräumen, sah ich ihnen nach. Die Stute sah dem Tier, das wir am Vormittag nach Frankreich geschafft hatten, sehr ähnlich, obwohl einen die Decke, die sie trug, täuschen mochte. Aber das konnte natürlich nicht ein und dasselbe Pferd sein. Niemand verfrachtet am Vormittag ein 54
Pferd und holt es am gleichen Nachmittag wieder zurück. Ich machte mich daran, die Boxenwände und die Stangen zu stapeln, verfluchte Billy bei jeder Bewegung und vergaß das Ganze. Am nächsten Tag fuhr ich zu dem Haus am Kai und holte Simon zu einem flüssigen Mittagessen ab. Wir spazierten die Straße hinunter zu dem üblichen, scheußlichen Bierlokal, und er steckte die Nase in den Bierkrug, wie ein Kamel, das die rettende Oase erreicht. »Schon besser«, meinte er seufzend, als er wieder auftauchte. »Wie war der Flug gestern?« »In Ordnung.« Er sah mich nachdenklich an. »Sind Sie am Samstag gestürzt?« »Nein, ich habe gewonnen. Warum?« »Sie bewegen sich so vorsichtig.« Ich grinste plötzlich. »Da müßten Sie erst den anderen sehen.« Er lächelte verstehend. »Nicht mehr nötig«, sagte er. »Billy hat ein blaues Auge.« »Sie haben ihn gesehen?«, fragte ich erstaunt. Simon nickte. »Er war heute vormittag im Büro bei Yardman.« »Um seine Version zuerst an den Mann zu bringen.« »Was ist denn passiert?«, erkundigte er sich. »Billy hat einen Streit vom Zaun gebrochen«, erwiderte ich achselzuckend. »Er kommt nicht darüber hinweg, daß ich existiere. Es ist wirklich albern. Kein Mensch ist für seinen Vater verantwortlich. Man kann sich das schließlich nicht aussuchen.« 55
»Sie haben da sehr entschiedene Meinungen«, bemerkte Simon und bestellte ein zweites Bier. Ich schüttelte den Kopf, als er mich fragend ansah. »Die hätten Sie auch, wenn Sie in meiner Haut stecken würden. Meistens werde ich als Halunke, als Trottel oder als gute Partie betrachtet, als nichts sonst.« Ich übertrieb, aber nicht stark. »Das letzte klingt doch gar nicht übel«, meinte er grinsend. »Sie wissen ja nicht, wie das ist, wenn jede zweite Debütantinnenmammi ein Auge auf Sie wirft und die eigene Mutter sie dabei noch unterstützt.« »Hört sich großartig an.« Für ein solches Schicksal konnte er kein Mitleid aufbringen. »Die wollen ja nicht mich, sondern nur meinen Namen«, erklärte ich. »Das macht wenig Spaß. Und auf der entgegengesetzten Seite vom Trauring werde ich verdroschen – aus genau dem gleichen Grund.« »Es gibt nur wenige, die sich so darüber aufregen können wie Billy.« Ich sah ihn an. »Da waren die Franzosen, 1789, und die Russen, 1917. Die haben sich genausosehr darüber aufgeregt wie Billy.« »Die Engländer mögen ihre Aristokraten.« »Ach nein, wirklich? Gesellschaftlich haben sie nichts gegen sie, denn Titel machen sich in den Skandalblättern besonders pikant. Aber ansonsten sorgen sie schon dafür, daß die Aristokraten keine eigentliche Macht besitzen. Sie sagen, wir seien ein Witz, ein Anachronismus, altmodisch, schwach und töricht. Das alles behaupten sie von uns, damit uns niemand ernst nimmt und wir keine Gefahr darstellen können. Denken Sie doch nur mal an die moderne Haltung dem Oberhaus gegenüber. Und Sie – Sie finden es immer noch komisch, daß 56
ich so einen Job hier haben will, aber wenn mein Vater … Landwirt wäre oder Gastwirt oder Lehrer, dann dächten Sie nicht so. Aber ich bin ich, lebe hier und jetzt, in der Gegenwart und nicht in irgendeiner grauen ruhmreichen Vergangenheit. Ich bin kein Anachronismus, ich bin Henry Grey und empfangen und geboren worden wie alle anderen auch, und zwar in dieser Welt von heute. Und ich bestehe darauf, in ihr zu leben. Ich habe nicht vor, mich in irgendeine unwirkliche Playboyexistenz abschieben zu lassen, wo meine einzige Funktion darin besteht, Nachkommen zu zeugen. Was meine Eltern gern hätten.« »Sie könnten auf Ihren Titel verzichten, wenn es soweit ist«, meinte Simon ruhig. Er bemerkte eine Stecknadel auf dem Bartresen und steckte sie geistesabwesend in den Jackenaufschlag. Es war ihm so zur Angewohnheit geworden, daß er dort schon eine ganze Reihe stecken hatte, wie ein Schneider. »Könnte ich«, sagte ich, »werde ich aber nicht. Das wäre nur dann wirklich begründet, wenn man im Unterhaus bleiben wollte. Aber ich werde nie Politiker werden, dazu bin ich nicht der Typ. Alles andere wäre nur Flucht. Ich will vielmehr, daß die Leute endlich einsehen, daß ein Graf so gut ist wie jeder andere auch und ihm die gleichen Chancen einräumen.« »Aber wenn Sie Erfolg haben, wird man das nur Ihrem Titel zuschreiben und nicht Ihren Fähigkeiten.« »Sie haben völlig recht. Aber es gibt da ein oder zwei Prinzen, ein paar Söhne von Herzögen und noch ein paar andere … Leute wie mich … , die alle im gleichen Boot sitzen. Ich denke mal, daß unsere Generation es schaffen könnte. Wenn wir nicht klein beigeben, wird man uns schließlich als das akzeptieren, was wir wirklich sind. Noch ein Bier?« Er lachte und willigte ein. »Ich habe Sie noch nie soviel reden hören«, sagte er lächelnd. »Daran ist Billy schuld. Vergessen Sie’s.« 57
»Wohl kaum.« Eine Weile schwiegen wir, dann begann ich von neuem: »Wissen Sie, was merkwürdig ist? Ich bin am ganzen Körper grün und blau, aber im Gesicht finden Sie keine Spuren.« Er trank und überlegte. »Er wäre in Teufels Küche gekommen, wenn er Sie so zugerichtet hätte, daß es alle Leute sehen.« »Vermutlich.« »Yardman haben Sie also nichts erzählt?« »Nein.« »Warum nicht?« Ich sagte achselzuckend: »Ich glaube, daß er damit gerechnet hat, jedenfalls mit ähnlichen Dingen. Er gab sich sehr ironisch, als ich die Stellung bekam. Wahrscheinlich war ihm klar, daß ich früher oder später mit Billy zusammenstoßen würde. Gestern sah er ganz deutlich, daß Billy es auf mich abgesehen hatte. Er warnte mich, auf seine Art.« »Was wollen Sie unternehmen?« »Gar nichts.« »Wenn Sie nun aber wieder einmal mit Billy fliegen müssen? Ich meine, früher oder später ist es doch soweit.« »Ja, ich weiß, das hängt allein von ihm ab. Ich fange nicht an. Gestern lag es auch nicht an mir. Aber ich habe ihm klargemacht, daß ich grundsätzlich zurückschlage. Und seinetwegen gehe ich hier nicht weg, verstehen Sie.« »Dabei machen Sie einen so ruhigen, sanften Eindruck.« Er lächelte schief und starrte in den schon wieder geleerten Krug. »Ich glaube, daß sich bei der Firma Yardman-Transporte ein oder zwei Leute in Ihnen verschätzt haben, Henry«, meinte er langsam, beinahe traurig, wie es mir vorkam. Aber als ich in ihn drang, mir das zu erklären, schüttelte er 58
nur den Kopf. Da bis Donnerstag keine Flüge auf dem Programm standen, fuhr ich am nächsten Tag, am Mittwoch, zum Rennplatz. Jemand bot mir ein freies Pferd für das Neulingsrennen an, und aus irgendeinem Grund ärgerte es mich mehr als üblich, daß ich ablehnen mußte. »Ich kann nicht«, sagte ich und setzte zu einer ausführlichen Erklärung an, um nicht für unhöflich gehalten zu werden. »Ich darf pro Saison nur an fünfzig offenen Rennen teilnehmen, habe aber schon über vierzig absolviert und bin fürs Cheltenham- und Whitbreadrennen und so weiter gemeldet. Wenn ich zu oft starte, kann ich da nicht mehr mitmachen. Trotzdem vielen Dank.« Er nickte verständnisvoll und hastete davon, um einen anderen Reiter zu finden. Gereizt sah ich zwei Stunden später sein Pferd als Sieger mit zehn Längen Vorsprung durchs Ziel galoppieren. Immerhin war es ein Trost, als ich kurz danach von einem großen, breitschultrigen Mann angehalten wurde, den ich ganz oberflächlich kannte. Sein Sohn war ebenfalls ein vielbeschäftigter Amateurjockey. Gemeinsam besaßen und trainierten die beiden ein halbes Dutzend guter Pferde, die sie mit ständigem Erfolg ausschließlich in Amateurrennen einsetzten. An diesem Nachmittag jedoch zeigte Mr. Thackery, der in der Grafschaft Shropshire eine große Landwirtschaft betrieb, Besorgnis und Unentschlossenheit. »Passen Sie auf«, sagte er, »ich will nicht um den Brei herumreden, ich sage, was ich mir denke, behaupten die Leute. Wollen Sie meine sämtlichen Pferde reiten, bis die Saison zu Ende ist?« Ich starrte ihn verblüfft an. »Aber Julian kann doch gewiß … Ich meine, er hat doch wohl keinen schweren Sturz hinter sich, oder?« 59
Er schüttelte den Kopf. Die Besorgnis wich nicht aus seinem Gesicht. »Das nicht. Er hat Gelbsucht. Langwierige Geschichte. Natürlich fällt er ziemlich lange aus. Aber wir haben heuer erstklassige Pferde, und er will nicht, daß sie nicht starten können, nur weil er nicht im Sattel sitzt. Er sagte, ich soll Sie fragen.« »Wirklich nett von ihm«, sagte ich aufrichtig erfreut. »Vielen Dank, ich reite gern für Sie, sooft es geht.« »Na fein.« Er zögerte einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »Ähm … Julian meinte, ich soll Sie fragen, ob zehn Prozent Gewinn in Ordnung gehen?« »Danke, einverstanden«, sagte ich. Er lächelte plötzlich, und sein Gesicht löste sich in Falten auf, die ihn seltsamerweise zehn Jahre jünger erscheinen ließen. »Ich hab nicht recht gewußt, ob ich das fragen soll, aber Julian bestand darauf. Henry macht kein Getue, sagte er, und das stimmt. Henry trinkt nicht viel, meinte er, er quatscht nicht, sondern kümmert sich um seine Arbeit und will dafür bezahlt werden. Eigentlich ein richtiger Profi, sagt er von Ihnen. Wollen Sie Spesen?« Ich schüttelte den Kopf. »Zehn Prozent bei einem Sieg. Sonst nichts.« »Abgemacht.« Er gab mir die Hand, und ich drückte sie. »Tut mir leid, daß Julian die Gelbsucht hat«, sagte ich. Mr. Thackerys Lippen zuckten. »Dazu soll ich Ihnen ausrichten, daß Sie das unserer Pferde wegen hoffentlich nicht ernst meinen.« »Ah, ganz raffiniert«, sagte ich. »Er soll nur ruhig früh aufstehen, damit er einen Rückfall bekommt.« 60
Am nächsten Nachmittag flog ich nach New York. Mit Billy. Die Stimmung war so kalt wie die dünne Luft außerhalb der Düsenmaschine. Yardman zeigt wenig Verständnis, dachte ich, wenn er uns so früh schon wieder zusammenführt, noch dazu bei einer zweitägigen Reise. Sein starrer, großäugiger Blick wurde etwas durch die bläulich-gelbe Färbung behindert, die meine Faust hervorgerufen hatte, und Billy zeigte sich wesentlich vorsichtiger als bei den Flügen nach Frankreich und zurück. Diesmal blieben die höhnischen Bemerkungen aus, aber jedem Satz fügte er die Worte ›Lord Grey‹ hinzu, was viel beleidigender klang als die ärgste Beschimpfung. Er versuchte nichts so Plumpes wie einen Boxkampf, um mir die Reise unvergeßlich zu machen, dafür ließ er eine Eisenstange fallen, als ich bei der Landung eine Spannkette überprüfte. Ich hob zornig den Kopf, rieb mir die gequetschten Finger und begegnete seinem wachsamen Blick. Er sah interessiert auf mich herab, mit zynischer Berechnung, um festzustellen, was ich unternehmen würde. Bei jedem anderen hätte ich ein Versehen unterstellt. Bei Billy wußte ich, daß es Absicht war. Aber wir hatten einen anstrengenden Tag vor uns, und die Fracht war viel zu wertvoll, als daß man aus persönlichen Gründen Risiken eingehen durfte, womit er wohl auch gerechnet hatte. Als er bemerkte, daß ich ihm das nicht heimzahlen würde, jedenfalls nicht sofort, nickte er befriedigt, griff mit einem winzigen, kalten, versteckten Lächeln nach der Stange und schob sie an ihren Platz. Wir waren mit dem Verladen fertig, und die Maschine startete. Zwei Zentimeter unter den Fingernägeln waren meine Finger rötlich angeschwollen, und sie schmerzten auf dem ganzen Weg nach Amerika. 61
Da wir zwölf Pferde transportierten, hatten wir noch zwei Pfleger dabei, einen älteren schwerhörigen Mann, den Yardman angestellt hatte, und einen zweiten, der zu einem bestimmten Pferd gehörte. Es kam vor, daß Besitzer ihre eigenen Leute mitschickten, statt ihre wertvollen oder schwer zu behandelnden Tiere ausschließlich Yardman anzuvertrauen. Ich hatte von Timmie und Conker gelernt, das dankbar zu begrüßen, statt mich darüber zu ärgern. Das betreffende Pferd war aus Norwegen gekommen, in England über Nacht geblieben und unterwegs zu einem Rennstall in Virginia. Der neue Eigentümer hatte verlangt, daß der norwegische Pferdepfleger auf seine Rechnung mitflog, damit das Pferd während der ganzen Flugreise betreut werden konnte. Mir erschien das nicht lohnend, als ich es mir genauer ansah. Ein träger Brauner mit hängendem Kopf, starkes Kötenhaar, also Zugpferde in der Ahnentafel, dazu viel zu dicke Fesselgelenke. Nun war Norwegen wohl kaum noch für seinen Rennsport berühmt, obwohl es möglicherweise die Wikinger waren, die den Sport überhaupt erfunden hatten. So hatten sie Preise in Form von begehrten Gegenständen in unterschiedlichen Entfernungen vom Start aufgehäuft. Dann stellten sich alle Reiter in einer Reihe auf, und unter wildem Geschrei begann das Rennen. Die dem Start am nächsten liegenden Preise waren die kleinsten, die am weitesten entfernten die wertvollsten. Jeder Reiter mußte also entscheiden, was seinem Tier am meisten entsprach – ein schneller Sprint oder eine lange Strecke, die Ausdauer erforderte. Wenn er die falsche Entscheidung traf, ging er leer aus. Vor zwölfhundert Jahren war ein schnelles, robustes Rennpferd in Norwegen buchstäblich ein Vermögen wert gewesen, aber die glatthäutigen, langbeinigen Nachfahren jener zähen, struppigen Ponys galten nicht viel in der modernen Vollblutindustrie. Wahrscheinlich waren es emotionale Gründe, die einen Amerikaner dazu veranlaßten, 62
für ein so minderwertiges Pferd eine so weite Reise zu bezahlen. Ich fragte den Norweger, ob er noch irgend etwas brauche, und er erwiderte in stockendem, hilflosem Englisch, er sei zufrieden. Ich ließ ihn auf seinem Heuballen sitzen, wo er leer vor sich hinstarrte, und machte meine Runde. Die Pferde waren alle ruhig und kauten geduldig ihr Heu, ohne wahrzunehmen, daß sie mit einer Stundengeschwindigkeit von sechshundert Meilen um den Erdball düsten. Geschwindigkeit wird nur wahrnehmbar, wenn man die Außenwelt an sich vorbeirasen sieht. Wir erreichten den Kennedy-Flughafen ohne Zwischenfall. Ein kaugummikauender Zollbeamter kam mit drei Gehilfen an Bord. Er sprach langsam, aber er kannte sich mit Pferden aus und ging äußerst gründlich vor. Alle Dokumente waren jedoch in Ordnung, und wir konnten mit dem Ausladen beginnen. Bevor die Pferde amerikanischen Boden betreten durften, mußten sie desinfiziert werden. Während ich das beaufsichtigte, hörte ich, wie der Zollbeamte den Norweger nach einer Arbeitserlaubnis fragte. Der Mann erwiderte in gebrochenem Englisch, daß er nur zwei Wochen bleiben wolle, als Tourist. Die Kosten seines Aufenthalts übernehme der neue Besitzer seines Pferdes. Ich war zum erstenmal in den Staaten und beneidete ihn um diese vierzehn Tage. Wegen des Zeitunterschieds von fünf Stunden war es erst sechs Uhr abends, als wir landeten, und wir sollten am nächsten Tag um sechs Uhr morgens starten, so daß mir also neun freie Stunden für die Besichtigung New Yorks blieben. Obwohl mein Körper dringend Schlaf brauchte, nützte ich die Gelegenheit gründlich. Am nächsten Morgen war ich todmüde. Auch Billy gähnte ununterbrochen, als wir die Boxen aufbauten. Nur Alf, der schwerhörige alte Mann, der unser Team komplett machte, hatte ein paar Stunden geschlafen. Wir arbeiteten stumm wie 63
Roboter, mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt. Die Kluft zwischen uns war so unüberbrückbar wie zwischen gleichnamigen Polen. Entgegengesetzte Pole ziehen sich an, gleichnamige stoßen sich ab. Billy und ich waren zwei kalte Nordpole. Auch beim Rückflug waren wir voll beladen, da Yardman bei Flügen von Kontinent zu Kontinent darauf achtete, daß der verfügbare Platz ausgenützt wurde. Die Kunden begrüßten das, weil man dadurch die Kosten senken konnte. Timmie und Conker beurteilten diese Praxis nicht ganz so positiv, und jetzt begriff ich warum. Man verstößt nicht ungestraft gegen die Uhr. Als wir über dem Atlantik waren und nicht mehr umkehren konnten, verschwand meine Schläfrigkeit mit einem einzigen Herzschlag. Entsetzt erlebte ich zum erstenmal, wie das ist, wenn ein Pferd mitten in der Luft den Verstand verliert. Alf rüttelte mich wach, und die Angst in seinem Gesicht trieb mich sofort in die Höhe. Ich folgte der Richtung, die seine Hand wies, zum Bug des Flugzeugs. In der zweiten Box von vorn hatte ein dreijähriger, starker Hengst sein Halfter zerfetzt und stand frei und ungefesselt in dem kleinen Holzgeviert. Er hielt den Kopf gesenkt, die Vorderbeine gespreizt und schlug mit der Hinterhand rhythmisch aus. Am ganzen Leib zeigte sich weißlicher Schweiß, und er wieherte unablässig. Das Pferd daneben versuchte vor Angst zu fliehen, mit rollenden Augen, den Rumpf an die Holzwand gepreßt. Die Hufe des Hengstes polterten wie Rammböcke gegen die Bretter. Diese vibrierten, schwankten und begannen zu splittern. Die Metallstangen bogen sich an den Ecken, wo die Bolzen staken; nur eine einzige brauchte nachzugeben, damit die ganze Box auseinanderfiel. Neben mir tauchte der Copilot auf und schrie mich an. 64
»Der Kapitän möchte wissen, wie er das Ding fliegen soll, wenn hier alles durcheinandergeht. Das Pferd muß zur Ruhe gebracht werden, es beeinträchtigt die Flugstabilität.« »Wie denn?«, fragte ich. »Das ist Ihre Sache«, gab er zurück. »Beeilen Sie sich gefälligst.« Die Rückwand der Box krachte auseinander. Die Stücke wurden von den Spannketten immer noch festgehalten, aber dieser Belastung waren sie nicht lange gewachsen. Sobald die Box auseinanderbrach, würde ein Tier, das nicht mehr bei Sinnen war, den sicheren Tod für uns alle bringen, wenn es auch nur mit einem Huf ein Fenster zerschmetterte. »Habt ihr eine Schlachtmaske an Bord?«, fragte ich. »Nein. Wir befördern normalerweise Passagiere. Warum bringt ihr so was nicht selber mit?« In den Vorschriften stand nichts von einer Schlachtmaske, die man bei solchen Transporten mitzubringen hatte. Eigentlich wäre es notwendig gewesen. Aber diese Überlegungen kamen zu spät. »Wir haben Betäubungsmittel in unserem Verbandskasten«, sagte der Copilot. Ich schüttelte den Kopf. »Unzuverlässig. Kann durchaus sein, daß es dadurch nur noch schlimmer wird.« Vielleicht war die Ursache für den Ausbruch sogar ein Beruhigungsmittel. Bei Pferden hatten sie oft die gegenteilige Wirkung. Außerdem konnte man einem toll gewordenen Pferd nicht mit einer Spritze beikommen, die für Menschen gedacht war. »Holen Sie ein Tranchiermesser oder so was aus der Bordküche«, sagte ich. »Irgend etwas Langes, Scharfes. Schnell.« 65
Er drehte sich um und stolperte in seiner Hast. Die Hinterhand des Hengstes zertrümmerte eine ganze Hälfte der Boxenrückwand. Er drehte sich um und steckte den Kopf zwischen die zwei oberen Stangen und versuchte, sich hinauszuzwängen. Die panische Angst in seinen Augen war mitleiderregend. Billy zog gelassen eine große Pistole aus seinem Overall und zielte auf den Pferdeschädel. »Menschenskind!«, brüllte ich. »Wir sind zehntausend Meter hoch!« Der Copilot kam mit einem langen Sägemesser zurück, sah die Schußwaffe und wäre beinahe ohnmächtig geworden. »N-nicht«, stotterte er. »N-n-nicht …« Billys Augen waren riesengroß geworden. Er blickte den sich aufbäumenden Hengst starr an und schien nichts zu hören, er konzentrierte sich ganz darauf, mit der Pistole zu zielen, die uns alle ins Jenseits befördern konnte. Der Hengst sprengte den ersten Bolzen aus seiner Lagerung und sprang vorwärts, aus der Box hervorbrechend, wie die Flut durch einen Deich. Ich riß dem Copiloten das Messer aus der Hand und stieß es, als das Pferd auf mich zusprang, in die einzige Stelle, die sich mir darbot, zwischen Schädel und Hals. Wie durch ein Wunder hatte ich die Halsschlagader getroffen. Aber dann kam ich nicht mehr rechtzeitig weg, und der Hengst stürzte voll auf mich. Er blutete heftig, schlug mit den Beinen aus und rollte in dem Versuch aufzustehen verzweifelt hin und her. Seine Mähne füllte meinen Mund, verdeckte mir die Augen, sein zuckender Leib quetschte mir die Luft aus der Lunge. Er konnte sich über meinem Körper nicht mehr aufrichten und wehrte sich mit nachlassender Kraft, eingezwängt zwischen seiner Box und dem provisorischen Stall dahinter. Der Copilot bückte sich, packte mich unter den Achseln und zerrte mich 66
ruckweise unter dem Hengst hervor. Das Blut pulste in einem dicken Strom hervor, literweise, ergoß sich in grellroten Bächen über den Boden. Alf schlitzte einen der Ballen auf und streute Heu darüber, das sich sofort in eine klebrige, feuchte, braunrote Masse verwandelte. Ich weiß nicht, wie viele Liter Blut ein Pferd hat, jedenfalls verblutete der Hengst, und sein Herz pumpte fast noch den letzten Tropfen aus ihm heraus. Meine Kleidung war durchtränkt davon, und der Geruch drehte mir den Magen um. Ich taumelte durch die Maschine zur Toilette, zog mich aus und wusch mich von Kopf bis Fuß mit Händen, die hilflos zitterten. Die Tür wurde ohne weitere Umstände aufgerissen, und der Copilot brachte mir Hose und Pullover. Seine Zivilsachen. »Hier«, sagte er. »Und vielen Dank.« Ich nickte, zog die Sachen an und ging zu den Boxen zurück, wo ich die verängstigten Pferde beruhigte. Der Copilot stritt mit Billy darüber, ob Billy tatsächlich abgedrückt hätte, und Billy behauptete, mit einer Patrone dieses Kalibers könne man in die Metallwand eines Flugzeugs kein Loch schießen. Der Copilot erklärte unter Flüchen, das könne man nicht wissen, und erwähnte Querschläger und Glasfenster. Ich fragte zwar nicht danach, hätte aber doch gerne gewußt, was Billy mit einer geladenen Pistole wollte, die er in einem Schulterhalfter so beiläufig mit sich herumtrug wie seine Brieftasche.
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5 Als ich endlich nach Hause kam, schlief ich wie ein Toter. Am nächsten Morgen wurde ich gerade noch frühzeitig genug wach, um in Kempton zum Amateurrennen zurechtzukommen. Nach einer derart strapaziösen Woche hielt ich es für sehr wahrscheinlich, daß ich auch noch von dem Klepper fallen würde, den zu reiten ich in einem schwachen Moment versprochen hatte. Aber obwohl ich den Absprung an der letzten Hürde falsch berechnete und praktisch vor meinem Gaul darübersetzte, hielt ich mich doch mühsam im Sattel, einfach, weil ich aus Eigensinn nicht zu Boden gehen wollte. Obwohl es mir gelang, mich wieder hochzuziehen, hatte mein Pferd, das sowieso nicht als Sieger in Frage kam, jedes Interesse verloren. Ich trabte durchs Ziel und entschuldigte mich bei dem verärgerten Besitzer, der mir ins Gesicht sagte, ich hätte ihm den ganzen Tag verdorben. Da er noch einige Stufen über meinem Vater rangierte, glaubte er das Recht zu ätzenden Bemerkungen zu besitzen. Ich hörte seine Klagen an und fragte mich, wie er wohl mit den Berufsjockeys umging. Julian Thackerys Vater hörte im Vorbeigehen die letzten Sätze und amüsierte sich. Als ich aus dem Umkleideraum kam, lehnte er am Geländer und wartete auf mich. Er hatte die Liste seiner als Starter eingetragenen Pferde mitgebracht. Wir zogen uns in die Bar zurück, um sie durchzugehen. Er spendierte mir ohne weiteres einen Zitronensaft, dann setzten wir uns an einen kleinen Tisch, wo er ein paar Blätter ausbreitete. Während er über seine Pläne und Aussichten sprach, wurde mir klar, daß seine Erfolge nicht auf Zufall beruhten. Er war wirklich sehr tüchtig. »Warum beantragen Sie keine Lizenz?«, fragte ich schließlich. 68
»Zu viel Ärger«, erwiderte er lächelnd. »So bleibt es ein Hobby. Wenn ich Fehler mache, ziehe ich niemanden mit hinein. Ich brauche mich bei keinem Menschen zu entschuldigen, brauche niemanden zu besänftigen. Muß mich nicht über Besitzer aufregen, die mir von jetzt auf gleich ihre Pferde entführen und mich außerdem monatelang nicht bezahlen.« »Sie kennen sich aus«, sagte ich trocken. »Das Trainieren von Pferden wirft nichts ab«, sagte er. »In den meisten Jahren kriege ich mein Geld gerade wieder raus, erwirtschafte vielleicht einen kleinen Überschuß. Aber schließlich läuft der Stall als Teil des Betriebes mit, d. h. viele der Unkosten erscheinen in den Büchern der Farm. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sich alle diese Trainer halten können. Entweder müssen die von vornherein schon reich oder aber Landwirte sein wie ich, oder sie müssen auf Pferde wetten, wenn sie einen Profit machen wollen.« »Aber sie geben nicht auf«, entgegnete ich milde. »Und alle fahren große Schlitten. So furchtbar schlecht kann es ihnen also nicht gehen.« Er schüttelte den Kopf und trank seinen Whisky aus. »Alles nur Mache, jedenfalls häufig. Bei den Rennen tragen sie ihr sorglosestes Lächeln zur Schau, während bei ihnen zu Hause der Bankmanager auf der Schwelle kampiert. Na gut.«Er raffte seine Papiere ein, faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche. »Glauben Sie, daß Sie nächste Woche für Stratford Urlaub kriegen?« »Doch, da bin ich ziemlich sicher.« »Okay. Wir sehen uns dann dort.« Ich nickte, und wir standen auf. Jemand hatte auf dem Nachbartisch einen ›Evening Express‹ liegenlassen. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick darauf. Dann blieb ich stehen und kehrte um. Auf der ersten Seite stand in der unteren Hälfte: ›Derbyhoffnung tot.‹ 69
Die Meldung erklärte in kurzen Worten, daß ›Okinawa‹, gemeldet für das Derby, auf dem Flug nach England eingegangen war und daher ausschied. Ich mußte lachen. Der Bericht stammte vom Trainer oder einer ähnlichen Person, nicht von einem sensationslüsternen Reporter. Kein Journalist, der dieses Schlachtfeld gesehen oder auch nur davon gehört hätte, hätte so nüchtern darüber schreiben können. Immerhin, das Pferd war abgeholt worden, ich hatte geholfen, die Maschine zu säubern, und es gab nichts mehr zu sehen.›Okinawa‹ war hoch versichert gewesen, ein Tierarzt hatte bestätigt, daß seine Tötung nicht vermieden werden konnte. Und ich hatte bemerkt, daß mein Name auf der Liste der Besatzungsmitglieder falsch geschrieben war: H. Gray. Mit ein bißchen Glück, und wenn Yardmans Bemühungen von Erfolg gekrönt waren, hatte die Sache damit ihren Abschluß gefunden. »Mein Lieber«, hatte er aufgeregt erklärt, als er am Flughafen erschienen war, »es schadet dem Geschäft, wenn Pferde bei unseren Flügen die Nerven verlieren. Wir wollen nichts publik machen, nicht wahr?« »Natürlich nicht«, sagte ich entschieden, mehr um meinet- als um seinetwillen. »Ein unglücklicher Zufall …«, seufzte er achselzuckend, ganz offensichtlich erleichtert. »Wir brauchen eine Schlachtmaske«, behauptete ich, um das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. »Ja. Gewiß. Gut. Ich besorge sie.« Darauf würde ich bestehen, dachte ich. Während ich friedlich an der Bar stand, konnte ich beinahe ›Okinawas‹ Gewicht noch auf mir spüren, die Nässe seines Blutes. Vierundzwanzig Stunden war es her, daß ich unter einem sterbenden Pferd gelegen hatte, und die Erinnerung daran war noch viel zu lebendig. Ich holte mich gewaltsam in die Gegenwart zurück 70
und ging mit Julians Vater hinaus, um zu beobachten, wie ein unsympathischer Konkurrent sein Pferd mit mehreren Längen Vorsprung als Sieger durchs Ziel brachte. Am Samstagabend gab ich mir große Mühe, zu Mutters neuestem Wochenendgast weiblichen Geschlechts höflich zu sein, während ich gleichzeitig alle Manöver vereitelte, die darauf abzielten, mich mit ihr allein zu lassen. Am Sonntagmorgen war ich wieder nach Lincolnshire unterwegs, bevor es hell wurde. Tom Wells stand auf dem Hangarvorfeld und überprüfte seine Maschinen persönlich, als ich ankam. Wie ich am Samstagvormittag telefonisch erfahren hatte, sollte ich drei Männer zu einer Runde Golf nach Glasgow fliegen. Ich würde eine ›Aztec‹ bekommen und mich ganz den Wünschen der Passagiere zu fügen haben. Sie waren gute Kunden. Tom wollte sie nicht verlieren. »Guten Morgen, Henry«, sagte er, als ich zu ihm trat. »Sie bekommen ›Quebec Bravo‹. Haben Sie die Route ausgearbeitet?« Ich nickte. »In der Kabine stehen ein paar Flaschen Whisky und Champagner, für den Fall, daß sie vergessen haben, trinkbare Sachen mitzubringen«, fuhr er fort. »Sie holen sie in Coventry ab – das wissen Sie ja – und bringen sie wieder hin. Möglich, daß es nach dem Abendessen in Gleneagles spät wird. Leider nicht zu ändern.« »Teures Golfspiel«, meinte ich. »Hm«, machte er nur. »Das ist ein Alibi. Drei Industrielle, die sich ohne Zeugen beraten wollen. Sie verlangen einen Piloten, der nicht weiterquatscht, was er hört. Und da sind Sie genau der richtige Mann, Henry, weil Sie jetzt vier Jahre hierherkommen; und wenn Ihnen während dieser ganzen Zeit 71
auch nur ein unnötiges Wort entschlüpft ist, bin ich ein Hanswurst.« »Was Sie nicht sind.« »Was ich nicht bin.« Er lächelte, ein freundlicher, robuster Mann knapp über Vierzig, selber Pilot, der das Chartergeschäft in- und auswendig kannte und sein kleines Unternehmen geschickt und unauffällig leitete. Er kam, wie die meisten Piloten seines Alters, aus der Royal Air Force: ausgebildet auf Bombern, unheilbar von der Begeisterung fürs Fliegen angesteckt und plötzlich aus den kühnsten Träumen gerissen, als die Luftwaffe sie nicht mehr brauchte. In den Jahren nach dem Krieg waren zu viele Piloten hinter den wenigen freien Stellen her, aber Tom Wells hatte es mit Tüchtigkeit, Eigensinn und Glück dazu gebracht, den Platz eines Copiloten bei einer kleinen privaten Fluggesellschaft mit einem Sitz im Vorstand zu vertauschen. Schließlich baute er mit Unterstützung einer kleinen Flugzeugfabrik seine eigene Gesellschaft auf. »Rufen Sie mich an, bevor Sie in Gleneagles starten«, sagte er. »Ich bin im Turm, wenn Sie zurückkommen.« »Hoffentlich muß ich Sie nicht zu lange wachhalten.« »Sie sind bestimmt nicht der letzte.« Er schüttelte den Kopf. »Joe Wilkins holt drei Ehepaare ab, die das Wochenende in Le Touquet verbracht haben. Er wird vermutlich erst in den frühen Morgenstunden zurück sein.« Ich nahm, wie vereinbart, die drei Industriekapitäne auf und flog sie nach Schottland. Unterwegs tranken sie Tom Wells’ Whisky und unterhielten sich über Dividendenausgleichsreserven, nicht ausgeschüttete Gewinne und Anteilshaftung, was mich nicht im mindesten interessierte. Danach ging es um den Export und die Chancen auf dem europäischen Markt. Es gab eine Diskussion über die Frage, ob die Eindreiviertel wirklich als echter Anreiz gelten konnten, der einzige Teil ihres Ge72
sprächs, von dem ich etwas verstand. Die Eindreiviertel waren, wie ich bei der ›Anglia‹ gelernt hatte, ein Prozentbetrag, den man bei Exportgeschäften vom Staat kassieren durfte. Die drei Männer sprachen, soweit ich das ausmachen konnte, von Werkzeugmaschinen und alkoholfreien Getränken, aber das gleiche galt für Vollblutpferde. Verkaufte beispielsweise ein Gestüt ein Pferd für, sagen wir, zwanzigtausend Pfund ins Ausland, dann erhielt es nicht nur diesen Betrag vom Käufer, sondern zusätzlich eindreiviertel Prozent davon – also dreihundertfünfzig Pfund – vom Staat. Zucker für den Exportbären. Eine Anerkennungsgeste für die Unterstützung der Wirtschaft des Landes. Also zogen manche Gestüte ausländische Käufer vor. Aber Rennpferde waren einfach zu exportieren: Sie bedurften keines Kundendienstes, keiner Werbekampagne oder vielsprachiger Anzeigen, über deren Wert und Unwert die Industriebosse heftig diskutierten. Sie kamen auf die Besteuerung zu sprechen und hängten mich wieder ab, um so mehr als niedrige Wolken über den CheviotBergen hingen und ich auf Wunsch unter tausend Meter Höhe blieb, damit sie die Landschaft genießen konnten. Ich stieg über die Wolken in das über tausend Meter Höhe gelegene Quadrantensystem, wo man, um Kollisionen zu vermeiden, ständig in der gleichen, vorgeschriebenen Höhe fliegen mußte, je nachdem, in welcher Richtung man flog, in unserem Fall, auf nordwestlichem Kurs, 4500 Fuß, 6500 Fuß oder 8500 Fuß. Einer der Passagiere bemerkte den Steigflug, erkundigte sich nach der Ursache und wollte meinen Namen wissen. »Grey.« »Na, Grey, wohin geht denn die Fahrt? Zum Mars?« Ich lächelte. »Hohe Berge, niedrige Wolken.« »Mein Gott«, sagte der gewichtigste und älteste der Indu73
striekapitäne und klopfte mir auf die Schulter. »Was würde ich für eine solche Prägnanz bei meinen Vorstandsmitgliedern geben!« Sie waren guter Laune, genossen den Ausflug ebenso wie die Gelegenheit, ihn ernsthaft zu nutzen. Der Whiskygeruch in der warmen, luxuriösen kleinen Kabine verdrängte sogar den Öldunst, und der Rauch teurer Zigarren kratzte in meiner Kehle. Ich hatte Spaß am Flug und setzte die Maschine auf der Landebahn von Gleneagles butterweich auf, ebensosehr um Toms als um meines eigenen Stolzes willen, denn ich wußte, daß meine Passagiere in puncto Privatflügen Kenner waren. Sie spielten Golf, tranken und aßen; am Nachmittag wurde das Ganze wiederholt. Ich wanderte am Vormittag durch die Berge, aß genußvoll zu Mittag, mietete am späten Nachmittag ein Hotelzimmer und legte mich schlafen. Der Tag war wohl in jeder Beziehung ein Erfolg. Um halb elf weckte man mich vom Empfang aus telefonisch. Ich erfuhr, daß meine Fluggäste startbereit seien. Bis wir abfliegen konnten, war es elf. Ich flog Richtung Funkfeuer St. Abbs an der Küste von Northumberland, schlug von dort aus geraden Kurs nach Ottringham ein und brauste südwestlich weiter nach Coventry. Die gesättigten Herren unterhielten sich mit ruhigen, sonoren Stimmen nicht mehr übers Geschäft, sondern über ihr Privatleben. Der dickste hatte Schwierigkeiten mit der Devisenbeschränkung wegen seiner Villa an der Costa del Sol; der Staat begrenzte Ausgaben dieser Art auf zweitausend Pfund, und damit konnte man kaum das Bad einrichten … Der Mann unmittelbar hinter mir erkundigte sich nach brauchbaren Charterjachten im Ägäischen Meer und bekam entsprechende Informationen. Der dritte meinte, es sei wirklich an der Zeit, daß seine Frau aus Gstaad zurückkehre, sie halte sich schon zwei Monate dort auf. Schließlich wolle man zu 74
Ostern auf die Bahamas. Ich kam mir vor wie ein Bettler. Wir landeten sicher in Coventry, wo sie mir die Hand schüttelten, sich gähnend für den glatten Flug bedankten und fröstelnd zu einem wartenden Rolls-Royce stapften. Ich flog das kurze Wegstück zurück nach Fenland. Tom hockte, wie versprochen, im Kontrollturm und lotste mich herunter. Er brüllte durchs Fenster, ich möge gefälligst hereinkommen. Wir tranken aus einer Thermosflasche Kaffee, während er auf die Maschine aus Le Touquet wartete. Sie sollte in einer Stunde zurück sein, früher als erwartet. Offenbar hatte der Kunde beim Roulette Pech gehabt, wodurch die Party ein frühes Ende nahm. »Hat alles geklappt?«fragte Tom. »Sie schienen zufrieden zu sein«, erwiderte ich, trug die Einzelheiten des Flugs in seine Unterlagen ein und vermerkte sie in meinem Logbuch. »Sie wollen das Honorar in Flugstunden, wie sonst auch?« Ich grinste. »Erraten.« »Wollen Sie es sich nicht noch mal überlegen und ganz für mich arbeiten?« Ich legte den Füllhalter weg, streckte mich und lehnte mich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf dem Stuhl zurück. »Jetzt noch nicht. Sagen wir, in drei oder vier Jahren.« »Ich brauche Sie jetzt.« Brauchen. Das schmeckte mir. »Ich weiß nicht … jedenfalls werde ich mir das nochmals durch den Kopf gehen lassen.« »Immerhin etwas.« Er fuhr mit den Fingern durch sein dünner werdendes Haar und rieb sich das Gesicht, vor Müdigkeit 75
juckte ihm die Haut. »Wie wär’s mit einem Sandwich?« »Danke.« Ich nahm mir eins. Schinken, mit französischem Senf, von Toms tüchtiger Ehefrau, nicht aus der Kantine. Der Schinken war dick und saftig, in Bier gekocht. Wir aßen stumm und tranken starken, heißen Kaffee dazu. Draußen, vor dem umglasten Kontrollturm, dunkelte der Himmel und versteckte seine Sterne hinter flauschigen Wolken. Der Wind ließ nach, der Luftdruck fiel. Es wurde kälter. Schlechtes Wetter im Anzug. Tom warf einen Blick auf seine Instrumente, zog die Brauen zusammen, lehnte sich zurück und spielte mit seinem Bleistift. »Die Vorhersage stimmt«, meinte er düster. »Morgen schneit es.« Ich brummte mitfühlend. Bei Schnee konnten seine Maschinen nicht starten, was für ihn eine finanzielle Einbuße bedeutete. »Im Februar darf man sich nicht beschweren«, sagte er seufzend. Ich nickte. Ob die Rennen in Stratford wegen Schneefalls abgesagt wurden? Ich überlegte, ob Yardmans Charterflüge durch das Wetter stark beeinträchtigt wurden. Janie Wells kochte prima Kaffee, und Tom war ein sympathischer, vernünftiger Mann. Sorgenlose, geordnete, oberflächliche Gedanken. Das war die letzte Nacht, die ich in meinem unberührten seelischen Kühlschrank verbrachte. Der Himmel zeigte düsteres Orangerot, als wir am nächsten Morgen um acht Uhr in Gatwick starteten. Immer noch hing der Schnee schwer in den Wolken wie Laich in einem Froschbauch. Wir transportierten acht Zuchtstuten in einer alten DC4 ohne Druckausgleich und flogen vor dem Sturm davon, Richtung Mailand. Timmie und Conker waren zu meiner Erleichterung wieder da, aber bei beiden schien der 76
Urlaub nicht gerade von Erfolg gewesen zu sein. Ich hörte Conker, einen vielgeplagten, kleinen Vater von sieben großen Halbstarken, darüber klagen, daß er nichts getan als gekocht und abgewaschen habe, während seine Frau mit einer, wie er meinte, maßlos übertriebenen Grippe es sich im Bett habe wohl sein lassen. Timmie zeigte sein Mitgefühl auf die übliche Weise, indem er lautstark und aufgeregt schniefte. Er war ein untersetzter, schwarzhaariger, ehrlicher kleiner Waliser und litt an einem chronischen Katarrh, und mit ihm hatte seine ganze Umgebung darunter zu leiden. An seiner Stirnhöhle habe es gelegen, sagte er nach einer ganz besonders widerlichen Spuckorgie reuelos, daß er nicht unter Tage gearbeitet habe wie sein Pa. Der Februarurlaub, stimmte er jetzt zu, sei nicht so toll gewesen. »Wieviel Urlaub habt ihr eigentlich?«, fragte ich, während ich Ketten spannte. »Alle zwei Monate eine Woche«, erwiderte Conker. »Menschenskind, erzählen Sie mir bloß nicht, daß Sie sich vorher nicht einmal erkundigt haben.« »Leider nicht.« »Da werden Sie ausgebeutet«, erklärte Conker ernsthaft. »Wenn man eine Stellung annimmt, muß man alles ganz genau festlegen: Lohn, Überstunden, bezahlten Urlaub, Prämien, Altersversorgung und so weiter. Kein Mensch hilft einem, wenn man sich nicht selber kümmert. Wir haben keine Gewerkschaft, verstehen Sie, wenn Sie nicht zu den Landarbeitern gehen wollen, wozu ich persönlich keine Lust habe. Und der alte Yardman schenkt nichts her. Um seinen Urlaub muß man sich schon kümmern, sonst bekommt man überhaupt keinen.« »Na ja … vielen Dank. Ich werde mich erkundigen.« »Wir haben zusätzlich noch öfter frei«, meinte Timmie. »Man muß sich ja nicht gleich zu Tode arbeiten. Mr. Yardman verlangt normalerweise nicht mehr als zwei Flüge in der 77
Woche, das muß man ihm lassen, wenn man nicht zu mehr Lust hat.« »Aha«, sagte ich. »Wenn ihr nicht wollt, fliegen Billy und Alf?« »Stimmt«, gab Conker zu. Er steckte den letzten Bolzen an seinen Platz und wischte sich die Hände an der Hose ab. Mir fiel ein, daß Simon gesagt hatte, mein Vorgänger Peters habe immer sehr energisch auf sein Recht gepocht, und ich nahm an, daß Conker ihm seine Antiausbeutungshaltung abgeguckt hatte. Denn nach ihren Worten zu urteilen, schienen mir Conker und Timmie mit Freizeit geradezu überreichlich versehen zu sein. Ein Hin- und Rückflug innerhalb eines Tages bedeuteten zwar zwölf Stunden Arbeit am Stück, aber zwei solcher Arbeitstage innerhalb einer Woche konnte man kaum als Zwangsarbeit bezeichnen. Interessehalber hatte ich meine Arbeitsstunden einige Wochen lang zusammengezählt, und selbst im Höchstfall war nie eine Vierzigstundenwoche dabei herausgekommen. Die wissen einfach nicht, wann es ihnen gutgeht, dachte ich milde und gab dem Bodenpersonal ein Zeichen, die Rampe wegzurollen. Die DC4 war laut und recht beengt. Die Durchgänge zwischen den Boxen waren so schmal, daß zwei Leute nicht aneinander vorbei konnten. Außerdem mußte man sich beim Hin- und Hergehen tief bücken. Es handelte sich wie üblich um ein normales Passagierflugzeug, und auf beiden Seiten ragten tiefhängende Gepäckablagen hervor. Zwar konnte man sie hochklappen und festhaken, aber während des Fluges lösten sich die Haken leicht. Ehe einem die Dinger auf den Kopf fielen, ließ man sie besser gleich unten. Dazu kam noch, daß die schräg gespannten Ketten genau in Schienbeinhöhe verliefen, was das Umhergehen zu einer mühseligen Angelegenheit machte. Es waren die schlimmsten Arbeitsbedingungen, die mir je begegnet waren. Aber die beiden beschwerten sich nicht, wie mir auffiel. 78
Nach dem Start gingen wir, da die Pferde sich ruhig verhielten, in die Kombüse, um die erste Tasse Kaffee zu trinken. Der Bordingenieur, ein großer, hagerer Mann, der die Angewohnheit hatte, fünf- oder sechsmal schnell die rechte Braue hochzuziehen, wenn er eine Frage stellte, füllte bereits die großen Pappbecher. Auf zwei vollen Bechern standen mit Bleistift gekritzelte Namen: Patrick und Bob. Der Bordingenieur trug sie ins Cockpit, wo Pilot und Copilot waren. Als er zurückkam, erkundigte er sich nach unseren Namen und schrieb sie auf drei weitere Becher. »Wir haben nicht genug an Bord, daß wir sie jedesmal wegwerfen können«, erklärte er, während er mir den Becher mit dem Namen ›Henry‹ übergab. »Zucker?« Er hatte eine Zweipfundtüte Zucker vor sich stehen und hielt einen großen Plastiklöffel. »Ich weiß doch, wie ihr euren Kaffee mögt. Der Skipper auch.« Wir tranken die heiße, braune Flüssigkeit. Sie schmeckte nicht nach Kaffee, aber wenn man sie als Durstlöscher betrachtete, erfüllte sie ihren Zweck. In der Kombüse mußte man laut schreien, um den Motorenlärm zu übertönen, und auf dem vibrierenden Kaffee bildeten sich konzentrische Wellen. Der Bordingenieur schlürfte aus dem Becher mit dem Namen ›Mike‹. »Da habt ihr aber eine feine Ladung«, meinte er. »Die ganze Maschine voll werdender Mammis, was?« Conker, Timmie und ich nickten gleichzeitig. »Italienischer Besitz?« Gemeinsam schüttelten wir die Köpfe. Wie im Variete. »Warum schleppt ihr sie denn dann hin?« »Das sind englische Stuten, die zu italienischen Hengsten gebracht werden«, erklärte Conker, der einmal in einem Gestüt gearbeitet hatte und begeistert gewesen wäre, wenn eine der 79
Stuten vorzeitig im Flugzeug ein Fohlen zur Welt gebracht hätte. »Na, na, ist das zu diesem Zeitpunkt nicht übertrieben?«, wehrte der Bordingenieur ab. »Nein, ganz bestimmt«, sagte Conker. »Die Fohlen, die sie jetzt tragen, müssen sie in dem Gestüt werfen, wo sie das nächstemal besprungen werden.« »Wieso?« Die lebhafte Braue tanzte auf und ab. »Ah«, sagte Conker ernsthaft. »Ein Pferd ist elf Monate lang trächtig, nicht wahr? Und eine Zuchtstute bekommt alle zwölf Monate ein Fohlen, nicht wahr? Also bleiben nur vier Wochen übrig, verstehen Sie? In dem Monat kann das neue Fohlen ja nicht weiß Gott wie weit in der Kälte herumgefahren werden, also müssen die Stuten in dem Gestüt fohlen, wo sie das nächstemal an der Reihe sind. Kapiert?« »Kapiert«, sagte der Bordingenieur. »Die da«, meinte Conker bewundernd und deutete auf einen eleganten, seidigen Schädel, der wegen der allgemeinen Enge beinahe in die Kombüse ragte, »die da kommt zu Molvedo.« »Woher weißt du das?,«fragte Timmie interessiert. »Das hat mir der Fahrer gesagt.« Der Copilot kam aus dem Cockpit und erklärte, der Captain wünsche einen zweiten Becher Kaffee. »Jetzt schon? Er säuft wie ein Loch.« Der Bordingenieur füllte Patricks Becher. »Hier«, sagte der Copilot und gab ihn an mich weiter. »Bringen Sie ihm das Gesöff, ich muß schnell mal wohin.« Er schob sich unter der neugierigen Nase von Molvedos Zukünftiger hindurch und startete gebückt zu seinem Hindernislauf zum Lokus. 80
Ich trug den dampfenden Kaffee ins Cockpit. Der Pilot, trotz der eisigen Temperatur draußen in weißer-als-weißen Hemdsärmeln, griff nach dem Becher und nickte dankend. Ich schaute mir die Instrumente an, er hob den Kopf und bedeutete mir mit einer Geste, das Ohr näher zu bringen. Bei dem Lärm konnte man sich nur durch Gebrüll verständigen. »Sind Sie der Mann, der für die Pferde verantwortlich ist?« »Ja.« »Wollen Sie sich ein bißchen hinsetzen?« Er deutete auf den Sitz des Copiloten. »Ja, gerne.« Er deutete mit dem Zeigefinger, und ich zwängte mich in den bequemen Schalensitz neben ihm. Das Cockpit war winzig, wenn man sich überlegte, was alles hineingehörte. Außerdem sah es reichlich mitgenommen aus. Ich fühlte mich wie zu Hause. Interessiert betrachtete ich die Instrumente. Ich hatte noch nie eine viermotorige Maschine geflogen, nur Flugzeuge mit einem oder zwei Motoren, und zwar ganz einfach deshalb, weil es in Fenland keine viermotorigen Maschinen gab. Da selbst kleine zweimotorige pro Flugstunde bei Tom Wells fast fünfunddreißig Pfund kosteten, hielt ich es für unwahrscheinlich, daß ich jemals genügend Geld für einen Kurs auf den wirklich großen Maschinen zusammenscharren würde, selbst wenn es mir möglich gewesen wäre, das später auszunützen. Man konnte nicht einfach zu einem nachmittäglichen Spazierflug mit einer großen Passagiermaschine aufsteigen. Das hinderte mich natürlich nicht daran, so schnell und so viel zu lernen, wie mir in diesem Augenblick möglich war. Patrick, der Pilot, bedeutete mir, ich solle Kopfhörer mit Sprechmikrophon aufsetzen, die über dem Steuerknüppel hingen. Ich setzte sie auf, und er erklärte mir die Funktion aller Schalter und Meßskalen. Er war der erste Pilot bei Yardmans 81
Charterflügen, der sich die Mühe machte. Ich lauschte, nickte und war ihm dankbar. Natürlich sagte ich ihm nicht, daß ich das meiste schon wußte. Patrick war ein großer, gutaussehender Mann um die Dreißig, mit glattem, kastanienbraunem Haar, das er ein wenig zu lang trug, und bernsteinfarbenen Augen, die besser zu einer Katze zu passen schienen. Seine Mundwinkel waren aufwärts gebogen, so daß er ständig zu lächeln schien, als sei die ganze Welt herrlich und nirgends etwas Böses zu bemerken. Das entsprach tatsächlich auch seiner Auffassung, wie sich später herausstellte. Er bestand darauf, allen Menschen nur das Beste zuzutrauen, selbst wenn ihm die Bosheit ins Gesicht starrte. Er hatte das unlogische Zutrauen eines Bewährungshelfers in die menschliche Tugend an sich, obwohl ich in der ersten halben Stunde nicht mehr über ihn in Erfahrung bringen konnte, als daß er ein ruhiger, vorsichtiger, selbstsicherer und überaus gewitzter Pilot war. Er nahm Kontakt mit dem Funkfeuer Dieppe auf und ließ sich den Wetterbericht durchgeben, bevor er Kurs auf Paris nahm. »Wir fliegen zum Mittelmeer und bleiben dort an der Küste. Über den Alpen ist die Bewölkung zu stark. Wir haben keinen Druckausgleich und sollten eigentlich nicht über dreitausend Meter gehen, viertausend schaden zwar noch nicht, wenn man nicht gerade herzkrank ist. Das reicht aber für die Alpen unter den gegebenen Umständen immer noch nicht, also machen wir eben den Umweg.« Ich nickte anerkennend. Zum zweitenmal innerhalb von zehn Minuten überprüfte er die Enteisungsanlage und sagte: »Der Vogel bleibt nur in der Luft, wenn er nicht mehr als eine Vierteltonne Eis an den Tragflächen hat, doch vorige Woche ist die Anlage erst überholt worden.« Er grinste. »Alles okay. Ich habe sie 82
sechsmal überprüft, seit sie repariert worden ist. Sie funktioniert.« Er schälte und aß eine Banane, dann öffnete er gelassen das Schiebefenster neben sich und warf die Schale hinaus. Ich lachte anerkennend und fand Patrick sehr sympathisch. Der Copilot kam zurück, um seinen Platz wieder einzunehmen, und ich kümmerte mich wieder um meine Pferde. Ohne Zwischenfall erreichten wir Dijon, flogen südlich über das Rhonetal hinweg, bei Saint-Tropez bogen wir nach Osten ab, bei Albenga wieder nach Norden und landeten genau vier Stunden nach dem Start, und zwar auf dem Flughafen Malpensa in Mailand. In Italien war es kalt. Als die großen Türen geöffnet wurden, standen wir fröstelnd da und sahen etwa zehn Leute vom Bodenpersonal in blauen Anzügen die breite Rampe zur Maschine schieben. Wir warteten, während drei Zollbeamte vom Flughafengebäude herüberkamen. Sie stiegen die Rampe herauf, und der älteste von ihnen sagte etwas auf italienisch. »Non parlo italiano«, sagte ich bedauernd, der einzige Satz in dieser Sprache, den ich kannte. »Non importa«, erwiderte er. Er nahm mir die vorläufigen Einfuhrlizenzen für die Stuten ab, die in Englisch und Italienisch abgefaßt waren, während seine beiden Gehilfen von Pferd zu Pferd gingen und sie mit lauter Stimme zu beschreiben begannen. Alles war in Ordnung. Er gab mir mit einem höflichen Nikken die Dokumente zurück und marschierte mit seinen Assistenten hinaus. Wieder einmal luden wir die Fracht vom Flugzeug in die wartenden Transportwagen um. Conker kümmerte sich ganz besonders um die Stute, die Molvedo zugedacht war. Da noch eine Stunde Zeit blieb, bis wir die neue Fracht Stuten für den Rückweg aufzunehmen hatten, gingen Conker, 83
Timmie und ich zum Flughafengebäude, um etwas zu essen. An der Tür empfing uns Patrick, der mit seinen goldenen Ärmelstreifen höchst amtlich wirkte, aber eine resignierte Miene zur Schau trug. »Wir können heute nicht mehr zurückfliegen«, sagte er. »Ihr braucht euch mit eurem Bier gar nicht zu beeilen.« »Was gibt’s denn?«, fragte Timmie und schniefte laut. »Einen Schneesturm. Nachdem wir abgeflogen sind, ging es richtig los wie ein geplatztes Federbett in einem Windkanal. Der ganze Süden Englands ist betroffen und der halbe Kanal. Es schneit bis John o’Groats. Das Barometer fällt ständig … jedenfalls habe ich Anweisung, nicht zurückzufliegen.« »Diese verflixten Spaghetti«, meinte Conker philosophisch. »Ich vertrag das Zeug einfach nicht.« Er marschierte mit Timmie zum Imbißraum, während Patrick mir das Postamt zeigte, wo ich Yardman und den erwartungsvollen Hengsten ein Telegramm schicken konnte. Anschließend gingen wir zum Flugzeug zurück, wo er seine Reisetasche holte, während ich die anrückenden italienischen Stuten in ihre Ställe zurückbeorderte. Er wartete, bis ich fertig war, dann half er mir, die Doppeltüren zu schließen. Wir gingen an den abmontierten Boxen vorbei, durch die Kombüse und die Gangway hinunter, die man kurz hinter dem Cockpit an die Tür gerollt hatte. »Wo übernachten Sie?«, fragte er. »Na ja, im Hotel«, sagte ich. »Wenn Sie wollen, können Sie mitkommen. Ich wohne bei Bekannten in Mailand, wenn ich nicht wegkann, und da wäre Platz für zwei.« Wie gewöhnlich neigte ich dazu, allein zu bleiben, aber ich nahm sein Angebot dankbar an, nicht zuletzt deshalb, weil ich nicht einmal so viel Italienisch konnte, um ein Hotelzimmer zu 84
erbitten. »Die Leute sind sehr nett«, meinte er. Wir legten die nächsten zweihundert Meter schweigend zurück. »Stimmt es, daß Sie ein Viscount sind?« »Nein«, erwiderte ich. »Eine Boeing 707.« Er lachte über mein Wortspiel. »Ein verdammter Viscount, hat der kleine Waliser vorhin gesagt, um präzise zu sein.« »Würde das einen Unterschied für Sie machen?« »Nicht den geringsten.« »Na also.« »Sie sind also wirklich einer?« »Von Zeit zu Zeit.« Wir öffneten die Glastüren und traten in die Halle. Sie war geräumig, luftig, eingeglast und besaß einen Steinboden. An der einen Seite erstreckte sich eine lange Theke, wo man Souvenirs kaufen konnte. Es gab Seidenkrawatten, Puppen, Taschenbücher und Postkarten. Hinter der Theke stand ein großes, schwarzhaariges Mädchen in einem glatten, schwarzen Kleid. Sie sah uns kommen, und auf ihrem kühlen, ernsten Gesicht zeigte sich plötzlich ein strahlendes Lächeln. »Patrick!«, sagte sie. »Hallo, Patrick, come sta?« Er gab ihr auf italienisch Antwort, deutete auf mich und sagte: »Gabriella … Henry.« Er stellte eine Frage, sie sah mich einen Augenblick prüfend an und nickte. »Si«, sagte sie. »Henry anche.« »Das ist also erledigt«, meinte Patrick. »Soll das heißen, daß wir bei – äh – Gabriella wohnen?«, fragte ich ungläubig. 85
Er erstarrte. »Haben Sie Einwände?« Ich sah Gabriella an, Gabriella sah mich an. »Das ist zu schön, um wahr zu sein«, sagte ich langsam. Es dauerte noch zehn Minuten, während sie sich mit Patrick unterhielt, aber nur Augen für mich hatte, bis mir klar wurde, daß ich kein Italienisch verstand und sie nur ein einziges Wort meiner Sprache kannte, nämlich ›hallo‹.
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6 Man konnte nicht von Vernunft reden, es war einfach eine Sache der Elektrizität. Zwischen einem Herzschlag und dem nächsten erfuhr ich, was die Dichter aller Zeiten gemeint hatten. Endlich begriff ich, warum Antonius für Kleopatra alles geopfert hatte, warum Paris Helena entführt hatte, warum Leander beim Durchschwimmen der Dardanellen ertrunken war, unterwegs zu seiner Hero. Die Entfernung von zu Hause, das Geheimnisvolle, das Unbekannte, all das spielte eine Rolle. Für das Mädchen im Nachbarhaus empfand man nicht dasselbe. Aber das erklärte noch lange nicht, warum es nicht schon längst passiert war, warum es gerade dieses Mädchen sein mußte, das mir die Vernunft raubte. Ich stand auf dem kalten Steinboden und kam mir vor, als sei ich vom Blitz gestreift worden. Die Welt drehte sich, in der Luft knisterte es, der düstere Februartag flammte hell, und das alles wegen eines ganz gewöhnlichen weiblichen Wesens, das Souvenirs an Touristen verkaufte. Das Phantastischste dabei war, daß es ihr genauso ging wie mir. Vielleicht mußte das so sein, um überhaupt wirken zu können … ich weiß es nicht. Aber ich sah, wie ihre Augen hell wurden, ich entdeckte ihre Erregung, ihre Fröhlichkeit, und ich wußte, daß das alles mir galt, so unwahrscheinlich das war. Die meisten Mädchen konnte ich wegen meiner Unauffälligkeit nicht beeindrucken, und da ich mir auch keine Mühe gab, sprang der Funke selten über. Selbst die Mädchen, die meinen Titel heiraten wollten, neigten dazu, mir ins Gesicht zu gähnen. Um so verheerender war Gabriellas Reaktion für mich. »Herrgott noch mal«, sagte Patrick amüsiert, als sie auf eine zweimal wiederholte Frage nichts zu antworten wußte, »wollt ihr zwei vielleicht endlich aufhören, euch anzustarren?« 87
»Gabriella«, stotterte ich. »Si?« »Gabriella …« Patrick lachte. »Damit kommt ihr nicht weit.« »Parla francese?«, fragte sie ängstlich. Patrick übersetzte. »Sprechen Sie Französisch?« »Ja.« Ich lachte vor Erleichterung. »Ja, mehr oder weniger.« »E bene«, seufzte sie lächelnd. »E molto molto bene.« Vielleicht lag es daran, daß wir uns nicht an die Gewohnheiten der Franzosen halten mußten, vielleicht auch daran, daß wir beide wußten, daß wir es später brauchen würden. Jedenfalls verwendeten wir von Anfang an das intimere ›tu‹ statt ›vous‹. Patrick zog die Brauen hoch, lachte wieder und erklärte dreisprachig, wir seien verrückt. Ich war verrückt, das ließ sich nicht bestreiten, Patrick überstand geduldig einen ganzen Nachmittag im Imbißraum. Er trank Kaffee und berichtete mir von Gabriella und ihrer Familie. Von unseren Plätzen aus konnten wir sie sehen, wie sie hinter der Theke Souvenirs an Flugreisende verkaufte. Sie bestand aus Kurven, was nach all den kantigen Weiblichkeiten zu Hause höchst erfreulich war. Ihr ovales, blasses Gesicht mit dem olivfarbenen Teint erinnerte mich an mittelalterliche italienische Gemälde, diese Schädelform hatte sich offensichtlich durch die Jahrhunderte hindurch erhalten. Ihr Gesichtsausdruck war, wenn sie nicht gerade lächelte, so ruhig, daß er beinahe unfreundlich wirkte. Nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, wie sie ein oder zwei befangene Kunden durch ihr kühles Verhalten noch verlegener machte, fiel mir auf, daß diese Tätigkeit nicht ganz zu ihrem Wesen paßte. Ich erwähnte das Patrick gegenüber. 88
»Zugegeben«, meinte er trocken. »Aber für einen Schmuggler gibt es keinen besseren Arbeitsplatz als in einem Flughafen.« »Schmuggler?«, sagte ich entsetzt. »Das glaub’ ich nicht!« Patrick genoß die Wirkung. »Schmuggler«, bestätigte er. »Ohne jeden Zweifel.« »Nein«, sagte ich. »Ich bin auch einer«, fügte er lächelnd hinzu. Ich schaute verstört in meine Tasse. »Dafür sind Sie einfach nicht die richtigen Typen.« »Da irren Sie sich, Henry. Ich bin nur einer von vielen, der … äh … Waren … an Gabriella weitergibt.« »Und was sind das für Waren?«, fragte ich langsam und hatte Angst vor der Antwort. Er steckte die Hand in die Jackettasche, zog ein flaches Fläschchen heraus und gab es mir. Ein Apothekeretikett verkündete: ›Zweihundert Aspirintabletten‹, und die braune Glasflasche war bis zum Hals gefüllt. Ich schraubte die Kappe ab, zog den Wattepfropfen heraus und schüttelte ein paar Tabletten auf meine Hand. »Nehmen Sie lieber keine«, meinte Patrick grinsend. »Das würde bei Ihnen gar nichts nützen.« »Das ist doch kein Aspirin.« Ich ließ sie wieder in die Flasche fallen und schraubte die Kappe auf. »Nein.« »Was dann?« »Anti-Baby-Pillen«, sagte er. »Was?« »Diese Pillen gibt es in Italien nicht zu kaufen. Es ist schließlich, ein katholisches Land. Aber viele Frauen wollen es 89
trotzdem vermeiden, daß sie jedes Jahr ein Kind auf die Welt bringen. Sie können die Pillen nehmen, ohne ihren frommen Männern etwas davon zu sagen.« »Du lieber Gott!«, entfuhr es mir. »Meine Schwägerin sammelt sie zu Hause bei ihren Freundinnen und Bekannten ein, und wenn die Flasche voll ist, bringe ich sie zu Gabriella. Sie gibt sie hier weiter. Ich weiß, daß mindestens vier Piloten das gleiche tun, ganz zu schweigen von einer ganzen Reihe von Stewardessen. Gabriella hat mir einmal erzählt, daß fast jeden Tag Nachschub eintrifft.« »Äh … verkaufen Sie die Pillen an Gabriella?« Er war entsetzt. Ich freute mich über seine Reaktion. »Natürlich nicht. Sie verkauft sie auch nicht. Sie sind ein Geschenk, eine Hilfe, wenn Sie so wollen, von den Frauen eines Landes an die Frauen eines anderen. Meiner Schwägerin und ihren Freundinnen liegt die Sache wirklich am Herzen. Sie sehen nicht ein, warum irgendeine Frau gegen ihren Willen ein Kind empfangen soll.« »Darüber hab ich nicht nachgedacht«, meinte ich. »Sie haben auch keine Schwester, die in sechs Jahren sechs Kinder zur Welt gebracht und einen fürchterlichen Nervenzusammenbruch erlitten hat, als das siebte unterwegs war.« »Gabriellas Schwester?« Er nickte. »Das war der eigentliche Grund, warum sie solche Pillen besorgt hat. Die Nachfrage wurde immer stärker.« Ich gab ihm die Flasche zurück, und er steckte sie in die Tasche. »Na?«, sagte er eine Spur herausfordernd. »Sie muß eine beachtliche Frau sein, wenn sie so etwas fertigbringt«, sagte ich. 90
Er lächelte. »Sie würden ihr sogar verzeihen, wenn sie die Kronjuwelen ins Land schmuggeln würde. Geben Sie es nur zu.« »Was auch immer sie täte«, sagte ich langsam. Die Belustigung schwand aus seinem Gesicht, und er sah mich ernst an. »Ich habe zwar gehört, daß es so was gibt, aber ich habe es noch nie mit eigenen Augen gesehen. Und ihr beide brauchtet noch nicht einmal miteinander zu sprechen. Ja, ihr habt Dusel, daß ihr überhaupt mit einander reden könnt …« Im Laufe des Nachmittags versuchte ich dreimal, mich mit ihr zu unterhalten. Sie würde in Schwierigkeiten kommen, sagte sie, wenn sie mit mir sprach, während sie Dienst tun mußte, also kaufte ich Geschenke, für meinen Vater, für meine Schwester, für meine Mutter, und ließ mir jedesmal sehr viel Zeit. Sie sah mich an und sprach mit mir in einer Mischung aus Erregung, Vorsicht und Überraschung, als sei auch für sie die Tatsache, daß sie sich Hals über Kopf in einen fremden Menschen verliebt hatte, eine überwältigende und beinahe erschreckende Angelegenheit. »Das gefällt mir.« »Kostet sechstausend Lire.« »Das ist zu teuer.« »Die Puppe wäre billiger.« »Zeigen Sie mir noch ein paar andere.« So fingen wir an, wie Lehrbücher für Fremdsprachen, in gestelztem Französisch, aber als der Nachmittag zu Ende ging, sie ihren Verkaufsstand verließ und mit Patrick und mir hinausging, konnten wir uns einigermaßen fließend unterhalten. Ich verstand von uns dreien vielleicht am besten Französisch, dafür sprach Patrick ausgezeichnet italienisch, so daß wir uns in der einen oder anderen Sprache miteinander 91
verständigen konnten. Wir nahmen ein Taxi. Im Wagen gab Patrick ihr die Aspirinflasche. Sie bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln und fragte ihn, ob alle von derselben Sorte seien. Er nickte. Sie kämen von einigen RAF-Frauen, deren Männer auf einem dreimonatigen Lehrgang in Übersee seien, erklärte er ihr. Sie zog grellfarbiges Einwickelpapier und eine große Schachtel voll Süßigkeiten aus ihrer Handtasche und machte aus dem ganzen Zeug ein Päckchen. Das Taxi hielt vor einem heruntergekommenen Reihenhaus in einer armseligen Straße. Gabriella stieg aus, aber Patrick hielt mich zurück. »Sie wohnt nicht hier«, sagte er. »Sie gibt nur die Süßigkeiten ab.« Sie sprach mit einer erschöpft aussehenden jungen Frau, deren Blässe durch die schwarze Kleidung noch hervorgehoben wurde. Ihre Beine waren von einem Netz von Krampfadern überzogen, die sich wie große, dunkelblaue, knubbelige Würmer direkt unter ihrer Haut ihren Weg zu bahnen schienen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. An ihren Rock klammerten sich zwei kleine Kinder, hinter ihr konnte man noch zwei Sprößlinge sehen, aber sie war schlank in ihrem schäbigen Kleid und trug kein Baby auf dem Arm. Die Art, wie sie Gabriella und ihr Geschenk ansah, war Lohn genug. Die Kinder wußten, daß das Päckchen Süßigkeiten enthielt. Sie sprangen an ihr hoch, als die Mutter es über ihre Köpfe hielt. Sie verschwand lachend im Haus. »So«, sagte Patrick und drehte sich um. »Jetzt zeigen wir Henry Mailand.« Es wurde dunkel und war immer noch kalt, aber nicht für uns. Mir wäre nicht einmal Eisregen aufgefallen. Sie wanderten mit mir um die Piazza del Duomo, um mir den riesigen Dom und 92
anschließend den Palazzo Reale zu zeigen, dann ging es durch die hohen, glasgedeckten Arkaden zur Piazza della Scala, zum Opernhaus, dem zweitgrößten Theater Europas, wie mir Gabriella ernsthaft erklärte, mit einem Fassungsvermögen von dreitausendsechshundert Besuchern. »Wo ist das größte?«, fragte Patrick. »In Neapel«, entgegnete sie lächelnd, »auch bei uns.« »Aber dann ist wohl der Dom hier der größte?«, neckte ich sie. »Nein«, erwiderte sie lachend und zeigte unerwartet ein Grübchen, »der ist in Rom.« »Neigen schon zu Übertreibungen, diese Italiener.« »Wir haben die Welt beherrscht, als ihr euch noch blau angemalt habt.« »Na, na!«, sagte Patrick. »Leonardo da Vinci lebte in Mailand«, sagte sie. »Italien ist zweifellos das schönste Land der Welt, und Mailand ist eine Perle.« »Und du, Patrick, bist ein alter Dummkopf«, sagte sie liebevoll. Aber Gabriella war auf ihre Stadt sehr stolz, und noch vor dem Abendessen erfuhr ich, daß dort eineinhalb Millionen Menschen lebten, daß es Dutzende von Museen, Musik- und Kunstschulen gab, daß Mailand die reichste Stadt Italiens sei und ihre Fabriken Textilien, Papier, Lokomotiven und Autos herstellten. Übrigens auch Flugzeuge. Wir aßen in einem kleinen, gemütlichen Restaurant, das auf beunruhigende Weise aussah wie die italienischen Lokale in London, in dem es aber ganz anders roch, würzig und angenehm. Ich achtete kaum auf das Essen. Gabriella hatte für uns alle irgendein Kalbfleischgericht bestellt, und es schmeckte großartig, wie alles an diesem Abend. Wir tranken zwei Flaschen Rotwein, der leicht auf der Zunge prickelte, und 93
zahllose Tassen Espresso. Sogar in diesem Augenblick wußte ich, daß ich nur deshalb aus meiner Haut geschlüpft zu sein schien, weil wir alle eine Sprache gebrauchten, die nicht die unsere war. Es erschien viel einfacher, ungehemmt zu sein, wenn man alles hinter sich gelassen hatte, was die Hemmungen hervorbrachte. Ein anderer Himmel, eine andere Kultur, eine andere Zeit, vor allem eine andere Sprache. Das alles machte es leichter, aber es bedeutete nicht, daß ich die Dinge deshalb weniger ernst genommen hätte. Es verschlug mir zwar nicht die Sprache, aber was ich sagte, war nicht einfach nur dahingeredet, sondern noch immer tief verankert in einem unveränderlichen Wesenskern. An diesem Abend in Mailand lernte ich kennen, was es heißt, tiefinnerlich fröhlich zu sein, und allein dafür wäre ich Gabriella mein ganzes Leben lang dankbar gewesen. Wir unterhielten uns stundenlang, vermutlich nicht sehr tiefsinnig, aber freundschaftlich. Zuerst redeten wir von dem, was wir an dem Tag getan und gesehen hatten, dann über uns selbst, über unsere Kindheit. Dann über Fellinis Filme und ein wenig übers Reisen und dann, immer weiter ausgreifend, über Religion und unsere Hoffnungen und den Zustand der Welt. Keiner von uns dreien fühlte sich besonders zum Weltverbesserer berufen, was vielleicht ein Manko war, wo doch so vieles im argen lag. Aber Patrick meinte, der Glaube versetze keine Berge mehr, sondern verzettele sich in Ausschüssen, und die Heiligen der Vergangenheit würde man heutzutage wahrscheinlich als psychologisch nicht angepaßt verunglimpfen. »Oder könntet ihr euch vorstellen, daß sich die moderne französische Armee von einer jungen Visionärin inspirieren und führen lassen würde?« Er hatte recht, man konnte es sich nicht vorstellen. »Die Psychologie«, sagte Patrick, und in seinen bernsteinfarbenen Augen funkelten Wein und Kerzenlicht, »die Psycho94
logie ist der Tod des Wagemuts.« »Das verstehe ich nicht«, warf Gabriella ein. »Nicht für Frauen«, sagte er, »für Männer. Heutzutage gilt es als unvernünftig, Leben oder Gesundheit aufs Spiel zu setzen, wenn man nicht unbedingt muß. Mein Himmel, schneller kann man doch eine Nation nicht zugrunde richten, als ihren jungen Männern beizubringen, daß es töricht sei, Risiken einzugehen. Oder noch schlimmer als töricht, wollen sie einem ja einreden.« »Was meinst du damit?«, fragte sie. »Frag Henry. Er ist jederzeit bereit, auf einem Rennpferd Kopf und Kragen zu riskieren, und das mit Freuden. Frag ihn, warum.« »Warum?«, fragte sie halb ernsthaft, halb lachend, und das Glänzen ihrer Augen überstrahlte die Sterne. »Es macht mir Spaß«, sagte ich. Patrick schüttelte den Kopf. »Na, na, vorsichtig, Freundchen! Sie können doch nicht einfach rumlaufen und so was zugeben. Sie müssen sagen, daß Sie es nur wegen des Geldes tun, oder Sie kriegen einen masochistischen Schuldkomplex angehängt, bevor Sie … masochistischer Schuldkomplex sagen können!« »Ach ja?«, lachte ich. »Ja, zum Teufel, und es ist nicht komisch. Es ist todernst. Dieser Schmarren ist so erfolgreich verkauft worden, daß es jetzt geradezu Mode ist zu sagen, man sei ein Feigling. Auch wenn man vielleicht gar keiner ist, muß man sich doch für einen ausgeben, nur um zu beweisen, daß man normal ist. Historisch gesehen ist das unglaublich. In welchem anderen Land rennen die Leute rum und erklären im Fernsehen und in der Presse und auf Parties und was weiß ich, wo sonst noch, daß Feigheit etwas Normales und Mut widerwärtig sei? Fast überall gab es früher ausgeklügelte Mutproben, denen sich die 95
jungen Männer unterziehen mußten. Aber in England bringt man ihnen jetzt bei, sich häuslich niederzulassen und nach Sicherheit zu streben. Der Wagemut ist jedoch Teil der menschlichen Natur, und man kann ihn genausowenig ausmerzen wie den Geschlechtstrieb. Wenn man also den ganz normalen Mut ächtet, bahnt er sich auf andere Weise seinen Weg, und das ist auch der Grund, nehme ich an, für die steigende Kriminalität. Wenn man der Freude am Wagnis den Stempel des Schlechten aufdrückt, darf man sich auch nicht beklagen, wenn sie tatsächlich dazu wird.« All dem war sein Französisch nicht gewachsen. Er sagte es zu mir in erregtem Englisch und wiederholte es auf Gabriellas Protest hin in ruhigerem Italienisch. »Aber«, sagte sie verwundert, »mir gefällt es nicht, wenn ein Mann sagt, er sei ein Feigling. Wer will das denn? Ein Mann ist zum Jagen da und zum Verteidigen und um seine Frau zu beschützen.« »Zurück in die Höhlen?«, fragte ich. »Unsere Instinkte sind immer noch die gleichen«, meinte Patrick zustimmend, »im Grunde gut.« »Und ein Mann ist zum Lieben da«, sagte Gabriella. »Ja, das stimmt«, pflichtete ich ihr enthusiastisch bei. »Es gefällt mir, wenn du dein Leben aufs Spiel setzt. Wenn du es für mich aufs Spiel setzt, gefällt es mir noch mehr.« »Das darfst du nur nicht sagen«, meinte Patrick lächelnd. »Denn dafür gibt es wahrscheinlich auch eine abscheuliche Erklärung.« Wir lachten alle, und dann kam frischer Kaffee, und das Gespräch wandte sich der Frage zu, was sich die Mädchen in Italien vom Leben wünschten – im Gegensatz zu dem, was sie haben konnten. Gabriella meinte, daß dies immer mehr aufhöre, ein Gegensatz zu sein, und daß sie persönlich keinen 96
Grund zur Klage habe, da sie eine Waise und daher keinem elterlichen Druck ausgesetzt sei. Wir sprachen eine Weile über die Vor- und Nachteile von Eltern für erwachsene Menschen und behaupteten, daß jeder zufrieden sein dürfe: Gabriella hatte ihre Freiheit, Patrick eine verwitwete Mutter, die ihn maßlos verwöhnte, und ich freie Unterkunft und Verpflegung. Patrick sah mich scharf an, als ich das sagte, und öffnete den Mund, um alles zu verraten. »Sagen Sie es ihr nicht«, bat ich auf englisch. »Bitte nicht.« »Das würde sie noch mehr für Sie einnehmen.« »Nein.« Er zögerte, aber zu meiner Erleichterung blieb er stumm, und als sich Gabriella erkundigte, erzählte er ihr, wir hätten darüber diskutiert, wer die Rechnung bezahlen dürfe. Wir teilten uns den Betrag schließlich, blieben aber immer noch sitzen. Wir unterhielten uns über Loyalität, das weiß ich noch. Zuerst über persönliche Loyalität und dann über politische. Gabriella sagte, in Mailand gäbe es viele Kommunisten, aber ein Katholik könne doch praktisch nur gegen sein wahres Wesen Kommunist sein. »Ich möchte wissen, wem sie die Treue halten würden, wenn die Russen in Italien einmarschieren würden?«, meinte Patrick. »Das ist ein großes Wenn«, sagte ich lächelnd.»Immerhin liegen ja Deutschland, Österreich und die Schweiz dazwischen, von den Alpen ganz zu schweigen.« Gabriella schüttelte den Kopf. »Die Kommunisten fangen in Triest an.« Bestürzt und zugleich amüsiert glaubte ich meinen reaktionären Vater zu hören: »Die Kanaken fangen in Calais an.« »Aber sicher«, meinte Patrick nachdenklich. »Vor eurer Haustür.« 97
»Kopf hoch«, sagte sie lachend. »Auch in Jugoslawien gibt es Berge, und die Russen werden auch nicht auf diesem Weg kommen.« »Sie werden überhaupt nicht mehr mit ihren Armeen kommen«, stimmte ich zu. »Nur mit Geld und Technikern. Die italienischen und französischen und britischen Kommunisten können sich darauf verlassen, daß sie niemals vor der Entscheidung stehen werden, auf wen sie schießen sollen.« »Und können weiterhin mit reinem Gewissen ihr Vaterland unterminieren«, setzte Patrick lächelnd hinzu. »Wir sollten uns nicht den Kopf darüber zerbrechen«, sagte ich und beobachtete das Spiel der Schatten, wo Gabriellas weiches Haar über ihre Wange fiel. »Nicht heute abend.« »Es wird uns sowieso niemals direkt betreffen«, stimmte Patrick zu. »Und wenn wir noch lange hier sitzen, läßt uns Gabriellas Schwester nicht mehr in die Wohnung.« Widerstrebend traten wir auf die kalte Straße hinaus. Als wir ein paar Schritte gegangen waren, entdeckte Patrick plötzlich, daß er seine Reisetasche vergessen hatte, und hastete davon. Gabriella und ich blieben voreinander stehen. In ihren einladenden Augen spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen, ihre Lippen zitterten ein wenig. Wir brauchten nichts zu sagen, wir wußten beide Bescheid. Obwohl ich sie mit meinem Körper kaum berührte und meine Hände nur sanft auf ihre Arme legte, schwankte sie, als hätte ich sie angestoßen. Mir ging es genauso. Ich fühlte mich physisch von einer Kraft geschüttelt, die so primitiv und wild war, daß es mich erschreckte. Wie konnte einen das bloße Berühren eines Mädchens, eines Mädchens, das zu berühren man sich den ganzen Nachmittag und Abend hindurch gesehnt hatte, in einen so unzivilisierten Aufruhr 98
versetzen, fragte ich mich verwirrt. Und noch dazu auf einer Hauptstraße in Mailand, wo man nichts dagegen tun konnte. Sie ließ den Kopf auf meine Schulter sinken, und wir standen immer noch so da, ich mit meiner Wange auf ihrem Haar, als Patrick mit seiner Tasche zurückkam. Er lächelte nachsichtig, zog ihren Arm unter den seinen und sagte kurz: »Los. Sie sperren euch ein, wenn ihr so stehenbleibt.« Sie sah ihn einen Augenblick lang wie eine Blinde an, dann lachte sie unsicher. »Ich versteh nicht, warum das passiert ist«, sagte sie. »Von Jupiters Blitz getroffen«, meinte Patrick. »Oder chemische Reaktionen. Sucht’s euch aus.« »Das ist doch einfach nicht vernünftig.« »Das kann man allerdings behaupten.« Er marschierte los und zog sie mit. Meine Füße setzten sich in Bewegung, trotz allem funktionierten die weichen Knie, und ich holte sie ein. Gabriella schob den anderen Arm unter den meinen, und wir schlenderten die eineinhalb Kilometer zur Wohnung ihrer Schwester. Langsam verlor sich die allzu heiße Leidenschaft, wir unterhielten uns normal und lachten und landeten schließlich hilflos kichernd vor ihrer Haustür. Lisabetta, Gabriellas Schwester, war zehn Jahre älter und wesentlich dicker, obwohl sie die gleiche olivfarbene Haut und die gleichen schöngeformten, dunklen Augen hatte. Ihr Mann, Giulio, war ein weichlich wirkender, schwabbeliger Mann Anfang Vierzig mit schwarzem Schnurrbart, Tränensäcken und schütterem Haar. Er erhob sich schwerfällig aus seinem Sessel, als wir das Wohnzimmer betraten, und begrüßte uns gemessen. Weder er noch Lisabetta sprachen englisch oder französisch. Während die beiden Frauen Kaffee kochten und Patrick sich mit Giulio unterhielt, sah ich mich neugierig um. Gabriellas Schwester hatte eine bequeme Wohnung mit vier Schlafzim99
mern in einem neu erbauten Hochhaus. Alle Einrichtungsgegenstände und Materialien waren kompromißlos modern. Die Fußböden aus Kunststein wurden von unten beheizt, und es gab weder Teppiche noch Vorleger. Die Fenster hatten keine Vorhänge, sondern Jalousien. Ich fand, das Ganze machte einen ziemlich nackten Eindruck, aber im Sommer verwandelte sich Mailand wahrscheinlich in einen Glutofen, und die Wohnung war für ein heißes Klima entworfen worden. Ein paar Kinder kamen ins Zimmer und rannten wieder hinaus. Ich vermochte sie nicht zu unterscheiden. Sieben mußten es sein, vier Jungen und drei Mädchen, hatte Patrick gesagt. Obwohl schon fast Mitternacht war, schien noch keines der Kinder im Bett zu liegen. Sie hatten alle auf Patrick gewartet und tollten um ihn herum wie junge Hunde. Als Lisabetta den Kaffee eingeschenkt hatte und eines der Kinder die Tassen verteilte, stellte Giulio Patrick eine Frage, wobei er auf mich blickte. »Er möchte wissen, was Sie für einen Beruf haben«, dolmetschte Patrick. »Sagen Sie ihm, daß ich mich um die Pferde kümmere.« »Nichts sonst?« »Nichts sonst.« Giulio war wenig beeindruckt. Er stellte eine zweite Frage. Patrick lächelte schwach und meinte: »Er will wissen, wieviel Sie verdienen.« »Ich bekomme für einen Flug nach Mailand ungefähr ein Fünftel Ihrer Einnahmen.« »Das wird ihm nicht passen.« »Mir auch nicht.« Er lachte. 100
Als er übersetzte, machte Giulio ein finsteres Gesicht. Patrick und ich schliefen in einem Zimmer, das normalerweise für zwei von den Jungen gedacht war, die diesmal bei ihren Brüdern schlafen mußten. Gabriella teilte sich ein Schlafzimmer mit den zwei älteren Mädchen, während die Kleinste bei ihren Eltern schlief. Überall in unserem Zimmer lagen Spielsachen verstreut, abgestreifte kleine Schuhe und Häufchen von Kleidungsstücken, die die Jungs einfach hatten fallen lassen. Die unausgewechselten Laken auf ihren Betten waren von ihren unruhigen kleinen Körpern zerknittert wie die Haut von Elefanten. Patrick hatte als erfahrener Globetrotter alles dabei, Schlafanzug, Hausschuhe, Waschsachen und ein weißes Hemd für den nächsten Tag. Ich betrachtete seinen Reichtum mit Neid und schlief in der Unterwäsche. »Warum wollen Sie ihnen nicht erzählen, daß Sie adlig sind?«, fragte Patrick im Dunkeln. »Es ist nicht wichtig.« »Für Giulio schon.« »Eben deshalb.« »Ich verstehe nicht, warum Sie das um jeden Preis geheimhalten wollen.« »Versuchen Sie einmal, allen Leuten zu erzählen, daß Sie der Sohn eines Grafen sind, dann werden Sie Ihr blaues Wunder erleben.« »Mir wäre das recht. Dann würden wenigstens alle tiefe Bücklinge und Kratzfüße machen. Überall wäre ich bevorzugt, in jedem Haus willkommen.« »Und ich weiß nie, ob man mich um meiner selbst willen mag.« »Selbstverständlich wüßten Sie das.« 101
»Wie viele Pferdepfleger haben Sie schon hierher mitgebracht?«, fragte ich ruhig. Er sog scharf den Atem ein und schwieg. »Hätten Sie mir dieses Bett angeboten, wenn Timmie nicht gequatscht hätte?« Er blieb stumm. »Morgen früh können Sie was erleben«, sagte ich. Aber der Morgen ließ lange auf sich warten. Ich konnte einfach nicht schlafen. Gabriellas Bett stand auf der anderen Seite der Zwischenwand, und ich lag da und sehnte mich so heftig nach ihr, daß an Schlaf gar nicht zu denken war. Mir tat buchstäblich der ganze Körper weh. Der kühle, beherrschte Henry Grey, dachte ich hilflos. Liegt in einem Kinderbett, in einer fremden Stadt, und beißt sich auf die Lippen, um nicht laut hinauszuschreien. Man konnte über mich lachen und spotten. Ich versuchte es, aber es hatte keinen Zweck. Ich lag Stunde um Stunde wach, bis es hell wurde, und ich wäre glücklich gewesen, wenn ich hätte einschlafen und von ihr träumen können. Sie hatte mir vor ihrer Zimmertür einen Gutenachtkuß gegeben, fröhlich, unbekümmert, während Patrick und Lisabetta mit ungefähr sechs Kindern anerkennend zusahen. Sie hatte sich abrupt umgedreht und war im Zimmer verschwunden. Es war genauso wie vorhin auf der Straße vor dem Restaurant. Die leichteste Berührung konnte ein Erdbeben auslösen. In der engen Wohnung war dafür eben kein Platz. Als wir aufstanden, lieh mir Patrick wortlos seinen Rasierapparat. »Tut mir leid«, sagte ich. »Sie hatten völlig recht. Ich hätte Ihnen das Angebot nicht gemacht, wenn Timmie nicht …« »Ich weiß.« 102
Ich zog mein Hemd an und knöpfte die Ärmel zu. »Trotzdem hätte ich auf keinen Fall etwas zu Ihnen gesagt, wenn Sie nicht auch so in Ordnung wären.« Ich starrte ihn überrascht an. »Was Sie brauchen, Henry, ist ein bißchen mehr Selbstvertrauen. Warum sollte man Sie nicht um Ihrer selbst willen mögen? Bei Gabriella ist das doch bestimmt der Fall. Bei mir auch.« »Aber bei den meisten Leuten nicht.« Ich zog meine Socken an. »Wahrscheinlich geben Sie ihnen überhaupt keine Chance.« Nachdem er diesen Volltreffer gelandet hatte, schüttelte er sich in seiner hochoffiziellen Uniformjacke zurecht und verließ das Zimmer. Von dem rauhen, kalten Wetter ernüchtert, fuhren wir drei zum Flughafen zurück. Gabriella hatte dunkle Schatten unter den Augen und sah mich nicht an, obwohl ich nicht wußte, was ich angestellt hatte. Sie sprach nur mit Patrick, nur auf italienisch, und er gab ihr mit schwachem Lächeln in derselben Sprache Auskunft. Als wir am Flughafen ankamen, bat sie mich hastig, sie nicht am Souvenirstand aufzusuchen, dann lief sie davon, fast ohne sich zu verabschieden. Ich hielt sie nicht zurück. Es würde Stunden dauern, bis die Pferde verladen waren, und ich gedachte sie auf jeden Fall wiederzusehen, gleichgültig, was kommen würde. Mit Conker und Timmie trieb ich mich den ganzen Vormittag am Flughafen herum. Gegen zwölf Uhr tauchte Patrick auf und meinte mit breitem Grinsen, ich hätte Glück, wegen starker Schneefälle seien die Landemöglichkeiten auf dem Flugplatz Gatwick begrenzt. Unwichtige Frachtflüge müßten noch um 103
einen Tag verschoben werden. »Rufen Sie bei den Gestüten an und sagen Sie den Leuten, daß wir die Stuten erst morgen früh um acht nach England fliegen können«, sagte er, »wenn es das Wetter erlaubt.« Gabriella reagierte auf die Nachricht mit derart unverhohlener Freude, daß meine Stimmung abrupt in die Höhe schnellte. Ich zögerte, bevor ich die nächste Frage stellte, aber sie machte es mir leicht. »Hast du gut geschlafen?«, fragte sie ernsthaft und sah mir ins Gesicht. »Überhaupt nicht.« Sie seufzte und wurde fast ein wenig rot. »Ich auch nicht.« »Vielleicht können wir heute nacht schlafen, wenn wir den Abend allein miteinander verbringen«, meinte ich. »Henry!« Sie lachte. »Wo?« Das war schwieriger, als ich mir vorgestellt hatte, weil sie von einem Hotel nichts wissen wollte. Wir müßten vor Mitternacht bei ihrer Schwester sein. Sie könne nicht die ganze Nacht fortbleiben, das wäre schamlos. Wir landeten schließlich, so unwahrscheinlich das klingen mag, in der DC 4 auf einem Stapel Decken im Gepäckraum neben der Kombüse. Dort, wo uns kein Mensch finden konnte, und mit sehr viel Gelächter, das aus der perfekten Glückseligkeit entspringt, verbrachten wir den ganzen Abend auf die ewige, uralte Weise. Und entzückt, vielleicht auch erleichtert, stellten wir fest, daß wir in vollkommener Weise zueinander paßten. Später, als sie still in meinen Armen lag, erzählte sie mir zögernd, daß ich nicht ihr erster Mann sei, was ich inzwischen ohnehin wußte, aber daß es für sie ganz ungewohnt sei, sich woanders als im Bett zu lieben. Sie spürte das Vibrieren in meiner Brust und hob den Kopf, um mir in dem schwachen 104
Widerschein des Mondlichts ins Gesicht zu sehen. »Warum lachst du?«, fragte sie. »Wie der Zufall es will, habe ich noch nie eine Frau im Bett geliebt.« »Wo denn?« »Im Gras.« »Henry! Ist das in England so üblich?« »Nur nach Parties, im Sommer.« Sie lächelte und bettete ihren Kopf zufrieden an seinen alten Platz. Und ich streichelte ihr Haar und dachte, wie natürlich sie doch war und wie schrecklich dagegen die halb betrunkenen Debütantinnen gewesen waren, mit denen ich nach den Bällen so beiläufig im Park verschwunden war. Nie wieder würde ich das tun, dachte ich. Nie wieder. »Ich habe mich heute morgen geschämt«, sagte sie, »weil ich mir das so sehr gewünscht habe. Habe mich für das geschämt, was ich die ganze Nacht gedacht habe.« »Da gibt es nichts zu schämen.« »Die Lust ist eine der Todsünden.« »Die Liebe ist eine Tugend.« »Beides geht aber sehr durcheinander. Sind wir nun heute abend tugendhaft oder sündig?« Sie klang nicht allzu besorgt. »Wir folgen unserer Natur.« »Dann sündigen wir wahrscheinlich.« Sie drehte sich in meinen Armen herum, so daß ihr Gesicht dicht bei meinem war. In dem tiefen, weichen Dämmerlicht glänzten ihre Augen. Ihre Zähne schabten sanft über die nackte Haut meiner Schulter. »Du schmeckst nach Salz«, sagte sie. Ich ließ meine Hand über ihren Bauch gleiten und fühlte, wie sich ihre Muskeln dort spannten. Als Antwort darauf liefen mir 105
kleine Wellen der Erregung über den Rücken. Nichts, dachte ich, ist so unglaublich wirksam, wie wenn man ebenfalls begehrt wird. Ich küßte sie, und sie stieß einen langen, sanften, murmelnden Seufzer aus, der seltsamerweise in einem Lachen endete. »Die Sünde«, sagte sie mit einem Lächeln in der Stimme, »die ist schon okay.« Schließlich fuhren wir zur Wohnung ihrer Schwester und schliefen wieder Wand an Wand. Am frühen Morgen kochte sie im Morgenrock mit zerzausten Haaren und verträumtem Blick für Patrick und mich Kaffee, bevor wir zum Flughafen fuhren. »Kommst du wieder?«, fragte sie fast beiläufig, als sie meine Tasse füllte. »Sobald ich kann.« Sie wußte, daß ich es ernst meinte. Sie küßte mich zum Abschied. Auch Patrick bekam ein Küßchen ab. »Weil du ihn mitgebracht hast«, sagte sie. Im Taxi meinte Patrick: »Warum bleiben Sie nicht einfach bei ihr? Das wäre doch ohne weiteres möglich.« Ich schwieg, bis das Flughafengebäude vor uns auftauchte. »Würden Sie es tun? Bleiben, meine ich?« »Nein. Aber ich muß ja an meine Stellung denken.« »Ich auch. Vielleicht auch aus anderen Gründen. Aber ich brauche sie trotzdem.« »Es geht mich zwar nichts an«, sagte er, »aber ich freue mich.« Wir verluden die italienischen Stuten und flogen sie ins verschneite England, ohne Zwischenfall diesmal. Ich beruhigte sie während des Fluges und dachte an Gabriella. Mir wurde warm ums Herz. Ich dachte an sie voller Liebe und gänzlich unbesorgt, sogar ohne die übliche Art von Besorgnis. Denn wie 106
sie unter Kichern gesagt hatte, es mußte sich schon um eine miserable Schmugglerin handeln, die nicht imstande war, ihre eigene Schmuggelware zu verschlucken.
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7 Wegen des Schnees fielen die Rennen in Stratford aus. Ich war ganz froh darüber, weil Yardman an diesem Tag einen zusätzlichen Flug einschaltete und mir erst im letzten Augenblick Bescheid gab. »Sieben Dreijährige nach Frankreich«, sagte er, aber als es ans Verladen ging, waren es acht. Auf dem Weg nach Cambridge wurde ich von einem Lastwagen aufgehalten, der ins Schleudern geraten war. Er blockierte die Straße. Als ich zum Flughafen kam, waren schon sämtliche Pferde eingetroffen. Die Fahrer stapften herum, um keine kalten Füße zu kriegen, und beschimpften mich mit vereinten Kräften. Billy – es war diesmal wieder Billy – stand herum, die Hände in der Tasche und ein verächtliches Grinsen im Gesicht, das wie festgeklebt schien. Er freute sich über die Mißstimmung, die mein verspätetes Eintreffen verursacht hatte. Natürlich war er gar nicht auf die Idee gekommen, mit der Arbeit anzufangen, bevor ich zur Stelle war. Wir verluden die Pferde, er, ich und der schwerhörige alte Alf, den Billy mitgebracht hatte. Wir wechselten kein Wort miteinander. Ein vierter Pfleger war dabei, ein älterer, unauffälliger Mann mit großem Schnurrbart und starker Erkältung. Er gehörte jedoch zu einem bestimmten Pferd, das aus einem wichtigen Gestüt stammte, und weigerte sich, uns beim Verladen der anderen Pferde zu helfen. Auch während des Fluges rührte er keinen Finger, sondern saß neben seinem Schützling und bewachte ihn vor unsichtbaren Gefahren. Billy schüttelte mir eine Handvoll Torf in den Kaffee und goß mir schließlich den Inhalt seines 108
Bechers, der zur Hälfte aus Zucker bestand, über den Anzug. Ich verbrachte den Rest des Fluges in der Toilette, säuberte mich mühsam von dem klebrigen Zeug und schwor mir, eines Tages die Rechnung mit Billy zu begleichen, wenn ich nicht für so viele teure Vollblutpferde verantwortlich war. Während des Entladens sah ich mir eine unauffällige braune Stute genau an und versuchte sie an Einzelheiten zu erkennen. Sie war keinesfalls eine Dreijährige, wie alle anderen Pferde, und entsprach fast in allen Punkten dem Pferd, das ich bei meinem ersten Flug mit Billy nach Frankreich gebracht hatte; ebenso dem Pferd, das am selben Nachmittag zurückgeflogen worden war. Drei Stuten, kaum voneinander zu unterscheiden. Nun ja, es war nicht unmöglich, vor allem, da keine von ihnen auch nur ein einziges auffälliges Kennzeichen besaß. Der vierte Pferdepfleger hatte uns in Paris verlassen und seinen Schützling zum neuen Besitzer gebracht. Er sei beauftragt, einen französischen Hengst, den sein Gestüt gekauft hatte, zurückzubringen, und wir könnten ihn in der nächsten Woche wieder abholen. So geschah es auch, am nächsten Dienstag. Wir nahmen ihn an Bord, zusammen mit seinem Hengst, einem kleinen muskulösen Pferd mit zornigen Augen und ruhelosem Schweif. Der Hengst wieherte wie ein Füllen, als wir ihn in die Maschine brachten, und diesmal konnte ich verstehen, warum der Pfleger mit dem auffälligen Schnurrbart sich nur um ihn kümmerte. Zu unserer Fracht gehörte wieder eine unauffällige braune Stute. Ich lehnte an ihrer Box und beäugte sie, als Billy hinter mir heranschlich und mir eine Ersatzkette auf die Schulter knallte. Ich drehte mich schneller um, als er erwartet hatte, und traf ihn mit zwei harten Tritten am Schienbein. Er verzerrte das Gesicht vor Schmerz, holte wütend aus und ließ die kurze Kette niedersausen. Ich sprang in einen der Zwischengänge, während sich die Kette bösartig klirrend um die Ecke wickelte, wo ich gestanden hatte. Ohne zu zögern, spurtete ich zur 109
Kombüse. Sich hinter dem Rücken des Bordingenieurs zu verstecken mag vielleicht nicht der mutigste Ausweg gewesen sein, den Umständen nach aber zweifellos der klügste. Ich blieb bei ihm sitzen und trank Kaffee, bis wir in Cambridge landeten. In dieser Nacht zerbrach ich mir lange den Kopf, und meine Schlußfolgerungen brachten mir wenig Freude. Am nächsten Vormittag wartete ich vor Yardmans Büro und schloß mich Simon an, als er zum Essen ging. »Hallo«, sagte er strahlend. »Wo kommen Sie denn her? Wie wär’s mit einem Schluck zum Aufwärmen?« Ich nickte und marschierte neben ihm her. Unter meinen Füßen knirschten die tauenden Überreste des Schnees der vorigen Woche. Unser Atem stieg in kleinen weißen Wölkchen auf. Der Tag war neblig und bewölkt; die Kälte, rauh, feucht und bis ins Mark dringend, entsprach genau meiner Stimmung. Simon schob die Glastür auf und betrat das miefige Lokal. Er stapfte zu seinem Hocker, schwabbelte hinauf, öffnete seine alte Cordsamtjacke und bestellte zwei große Grogs. Das pulsierende, rötliche Licht des nachgemachten, elektrischen Kaminfeuers warf einen warmen Schimmer auf das große, lächelnde Gesicht mir gegenüber und beschien die Freundlichkeit in seinen Augen. Ich hatte so wenige Freunde. So wenige. »Was gibt’s denn?«, fragte Simon, während er das heiße Getränk schlürfte. »Sie sind heute ganz besonders still.« Ich starrte eine Weile vor mich hin, aber die Sache konnte nicht ewig aufgeschoben werden. »Ich weiß über die braune Stute Bescheid«, sagte ich langsam. Er setzte sein Glas mit ruhiger Hand ab, aber das Lächeln verschwand. 110
»Was für eine braune Stute?« Ich erwiderte nichts. Die Stille dehnte sich. »Was meinen Sie damit?«, sagte er schließlich. »Ich habe innerhalb von vierzehn Tagen eine braune Stute zweimal nach Frankreich und zurück begleitet. Es war jedesmal dieselbe.« »Das muß ein Irrtum sein.« »Nein.« Nach einer Pause sagte er, allerdings ohne innere Überzeugung: »Sie irren sich wirklich.« »Sie fiel mir an dem Tag auf, als sie vormittags hinüber- und am selben Nachmittag zurückgeflogen wurde. Ich wurde stutzig, als sie am vergangenen Donnerstag schon wieder hinübertransportiert wurde … und gestern, als sie zurückkam, wußte ich, daß es sich immer um dasselbe Pferd gehandelt hatte.« »Sie haben doch noch eine ganze Reihe anderer Flüge begleitet, wie kann man sich da an ein bestimmtes Pferd erinnern …« »Ich kenne mich aus«, sagte ich. »Sie sind voreilig«, sagte er leise, wie zu sich selbst, »viel zu voreilig.« »Nein«, erwiderte ich kopfschüttelnd. »Sie sind es gewesen. Sie hätten das nicht so kurz hintereinander wiederholen sollen, dann wäre ich vielleicht nicht dahintergekommen …« Er schüttelte sich plötzlich, so daß seine Fettmassen Falten schlugen. »Was hätte ich nicht tun sollen?«, fragte er in festerem Ton. »Was ist denn schon dabei, wenn ein Pferd zweimal hin- und hergeflogen worden ist? Und was habe ich damit zu schaffen?« »Es hat doch keinen Sinn, Ihnen Dinge zu erzählen, die Sie 111
viel besser kennen.« »Henry«, sagte er und beugte sich vor. »Ich weiß, was ich weiß, aber ich weiß nicht, was Sie mir unterstellen. Sie sind da auf irgendeine verrückte Idee gekommen. Sie müssen sich schon genauer ausdrücken.« Ich starrte in mein unberührtes Glas und bedauerte, daß ich mitgekommen war. »Prima Masche«, sagte ich seufzend. »Eine ganz hübsche, ausgeklügelte kleine Gaunerei. Ohne jedes Risiko. Bei jedem Transport der Stute nach Frankreich ein paar hundert Pfund.« Er sah mich an, ohne etwas zu sagen, und zwang mich dazu, die Dinge beim Namen zu nennen. »Also gut. Sie verkaufen ein Pferd – die braune Stute – an einen Komplizen in Frankreich. Er beauftragt seine Bank, den Kaufpreis nach England zu transferieren, während die hiesige Bank den Eingang des Geldes bestätigt. Sie machen Ihren Anspruch beim Staat geltend und erklären, daß für soundso viele tausend Francs ein Vollblutpferd exportiert worden sei, im Rahmen der lebenswichtigen Ausfuhrwirtschaft. Der dankbare Staat bezahlt Ihnen die Prämie, die Eindreiviertelprozent-Prämie für Exporte, und Sie stecken diesen Betrag ein. Inzwischen bringen Sie das Pferd zurück, schmuggeln das Geld in bar nach Frankreich und können wieder von vorn anfangen.« Simon saß da wie eine Statue und starrte mich an. »Man braucht eigentlich nur das Arbeitskapital«, fuhr ich fort, »eine Summe, die groß genug ist, daß sie sich bei den eindreiviertel Prozent lohnt, sagen wir, zwanzigtausend Pfund. Also jedesmal, wenn die Stute auf den Kontinent geschafft wird, dreihundertfünfundfünfzig Pfund Profit. Bei einem Flug im Monat wäre das eine nicht besteuerte Dividende von über zwanzig Prozent im Jahr. Viertausend oder mehr, ohne einen Penny Steuer. Natürlich muß man die Spesen berücksichtigen, aber trotzdem …« 112
»Henry«, sagte er leise und fassungslos. »Es ist kein großer Schwindel«, meinte ich, »durchaus nicht, aber völlig ungefährlich. Und nur Sie kommen in Frage, Simon, weil es allein darum geht, die richtigen Formulare auszufüllen. Dafür sind bei Yardman Sie verantwortlich. Wenn ein Außenstehender das versuchen würde, müßte er jedesmal eine Frachtpassage für das Pferd bezahlen, und damit wäre das Geschäft nicht mehr gewinnbringend. Kein Mensch würde so etwas machen, wenn er das Pferd nicht umsonst transportieren kann. Ihnen ist das möglich, Simon. Sie setzen eben eines mehr auf die Flugliste, vermerken es aber nicht in den Unterlagen im Büro. Yardman hat mir gesagt, daß wir am Donnerstag sieben Dreijährige nach Frankreich bringen müssen, es waren aber acht, und das achte war kein dreijähriges Pferd, sondern die braune Stute. An dem Tag, als wir zwei Flüge machten, als wir sie am Vormittag hinüber- und am Nachmittag zurückbrachten, war es kein Zufall, daß die Pferde für den Rücktransport nicht am Flugplatz erschienen. Nicht einmal Sie konnten riskieren, die Stute aus- und sofort wieder einzuladen. Sie haben also einen ›Fehler‹ gemacht und auf die Mitteilung für die Trainer ›15 Uhr‹ statt ›10 Uhr‹ geschrieben. Sie, der nie solche Fehler macht, dessen Genauigkeit so phänomenal ist, daß kein Mensch auf die Idee käme, sich noch einmal zu erkundigen oder irgendwelche Zweifel zu hegen.« »Wie?«, fragte er dumpf. »Wie sind Sie dahintergekommen?« »Ich war früher bei der ›Anglia‹«, sagte ich leise. »Wissen Sie das nicht mehr? Ich habe die gleichen Exportformulare ausgefüllt wie Sie. Ich habe sie Ihnen von der Transportabteilung aus zugeschickt. Aber an die Prämie vom Staat hätte ich vielleicht nicht gedacht, wenn ich nicht bei einem Gespräch von drei Industriellen dabeigewesen wäre, die sich vor zehn Tagen darüber unterhalten haben. Gestern abend, als ich mir 113
überlegte, welchen Sinn dieser Hin- und Hertransport der Stute haben könnte, begriff ich plötzlich.« »Sehr tüchtig«, sagte er düster. »Die Stute war ohne besondere Kennzeichen«, fuhr ich fort. »Sie konnten sie nicht unter ihrem eigenen Namen verfrachten, das wäre aufgefallen. Zum Beispiel mir. Aber Sie brauchten nur das Gestütbuch durchzublättern und andere, unauffällige Stuten gleichen Alters herauszusuchen und die Exportdokumente entsprechend auszufüllen. Der Zoll bestätigte, daß tatsächlich von hier aus eine braune Stute exportiert wurde, und der französische Zoll bestätigte, daß sie dort importiert wurde. Von Schwierigkeiten keine Rede. Niemand erkundigt sich bei einem Besitzer, ob er sein Pferd tatsächlich verkauft hat. Warum denn auch? Umgekehrt erfolgt dieselbe Prozedur in dem französischen Gestütbuch, nur muß diesmal aufgepaßt werden, daß die Stute mit dem falschen Namen nicht allzu wertvoll ist, weil Sie nicht mehr als zweitausend Pfund im Ausland ausgeben dürfen, ohne Nachforschungen herauszufordern, die Sie nicht riskieren können.« »Sie wissen genau Bescheid, wie?«, sagte er bitter. »Ich habe heute die ganze Nacht darüber nachgedacht.« »Wen wollen Sie verständigen?« Ich sah ihn an und senkte den Blick. »Yardman?«, fragte er. Ich schwieg. »Die Polizei?« Ich starrte in den Kamin. Ich hätte es keinem Menschen erzählt, wenn nicht … »War das nötig«, sagte ich gepreßt, »daß Sie Billy auf mich ansetzten?« »Henry!« Er starrte mich entsetzt an. »Das war ich nicht. Wie können Sie das von mir glauben?« 114
Ich schluckte krampfhaft. »Er war bei allen Flügen mit der Stute dabei und hat mich nicht einen Augenblick in Frieden gelassen, abgesehen vielleicht von dem ersten Flug. Er hat auf mich eingeschlagen, mir sirupartigen Kaffee über den Anzug geschüttet und gestern, als ich mir die Stute ansah, schlug er mit einer Kette zu. Das macht er nicht, weil er mich nicht leiden kann …oder nicht nur deshalb. Damit wollte er doch nur verhindern, daß ich mir die Pferde genauer ansehe. Deshalb hat er auch mein Gesicht geschont …er legt sich nicht aus Wut mit mir an, sondern aus einer bestimmten Absicht heraus.« »Henry, ich versichere Ihnen, das stimmt nicht!« Er schien tief betroffen zu sein. »Ich würde Ihnen doch niemals etwas antun.« Er griff nach seinem Glas und trank. Der Grog dampfte nicht mehr. Das Getränk und die Freundschaft waren erkaltet. »Machen Sie nicht so ein Gesicht«, sagte er fröstelnd. »Sie sehen aus wie ein Eisberg.« Er trank wieder. »Na schön. Das mit der Stute stimmt. Ich gebe es zu, aber so wahr ich hier sitze, Billy habe ich Ihnen nicht auf den Hals gehetzt. Ich kann ihn nicht ausstehen. Das ist doch ein Gangster. Was er mit Ihnen gemacht hat, entspricht seiner Art. Ich schwöre Ihnen, Henry, ich schwöre …« Ich sah ihn forschend an. Ich hätte ihm so gerne geglaubt, aber ich wollte mich nicht selbst betrügen. »Hören Sie«, sagte er drängend und beugte sich vor, »hätten Sie ihn auf mich gehetzt?« »Nein.« »Na also.« Er richtete sich auf. »Ich hab es auch nicht getan.« Es blieb lange Zeit still. »Was fangen Sie mit dem Geld an?«, fragte ich schließlich, das Problem aufschiebend. 115
Er zögerte. »Damit bezahle ich meine Spielschulden.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind kein Spieler.« »Doch.« »Nein.« »Sie wissen nicht alles.« »Das weiß ich, das weiß ich sehr gut«, sagte ich müde. »Sie interessieren sich nicht für die Rennen. Sie haben mich nie um einen Tip gebeten. Sie fragen nicht einmal, ob ich an einen Sieg glaube, wenn ich selbst starte. Und behaupten Sie jetzt bloß nicht, daß Sie Ihr Geld beim Kartenspielen verlieren … Wenn Sie so viel spielen würden, daß Sie stehlen müßten, um Ihre Schulden zu bezahlen, würden Sie alles versuchen, auch das Pferderennen.« Er zuckte zusammen. »Stehlen ist ein hartes Wort.« Er streckte die Hand nach meinem vollen Glas aus und leerte es auf einen Zug. »Bei Yardman gibt es keine Pension«, sagte er. Ich stellte mir seine Zukunft vor, sein armseliges Leben im Ruhestand. Mir blieben schließlich die Überreste des Familienvermögens, damit ich mir ein Auto und Grogs leisten konnte. Er hatte nicht mehr als sein Erspartes. »Sie haben das Geld zur Bank gebracht?« »Nur ein Drittel«, erwiderte er. »Ein Drittel gehört meinem Vetter. Er versorgt die Stute in seiner kleinen Landwirtschaft und fährt sie hierher zum Flughafen. Das letzte Drittel geht an einen Mann in Frankreich, der mit Pferden handelt. Er übernimmt die Stute, wenn sie drüben ist, und transportiert sie hin und zurück. Die beiden haben das Kapital aufgebracht, als mir die Idee kam. Mein Geld hätte nicht gereicht.« »Sie verdienen also gar nicht viel, wenn man sich das Risiko 116
überlegt.« »Immerhin kann ich mein Gehalt verdoppeln«, meinte er trocken. »Steuerfrei. Sie unterschätzen uns. Wir haben zwei Pferde, die jedes Jahr fünfzehnmal transferiert werden.« »Hab ich das andere schon gesehen?« »Ja«, sagte er nickend. »Auf dem Hin- und Rückflug.« »Einmal?« »Einmal.« »Und wie schaffen Sie das Geld nach Frankreich?« »In Zeitschriften.›Pferd und Hund‹ und ähnliches.« »Englische Währung?« »Ja. Der Mann in Frankreich hat Beziehungen und kann es umwechseln.« »Das ist aber ein Risiko, wenn man das Geld mit der Post schicken muß.« »Wir haben noch nichts verloren.« »Wie lange betreiben Sie das schon?« »Seit die Prämie eingeführt worden ist. Wir haben bald danach angefangen.« Wieder blieb es lange Zeit still. Simon spielte mit seinem leeren Glas. Er sah nicht aus wie ein Betrüger. Ich fragte mich bedrückt, ob man ein Pedant war, wenn man sich anständige Freunde wünschte. Dabei entdeckte ich, daß ich ihn immer noch als Freund betrachtete und einfach nicht mehr daran glauben konnte, er habe Billy dafür bezahlt, mir das Leben schwerzumachen. Billy haßte mich eben, aber das konnte ich ertragen. »So«, sagte er schließlich, »was wollen Sie tun?« Er wußte genausogut wie ich, daß er keine Chance hatte, wenn die Geschichte untersucht wurde. In verschiedenen Registraturen der Behörden und Banken gab es zu viele 117
Unterlagen über seine Transaktionen. Wenn ich die Lawine ins Rollen brachte, würde er wahrscheinlich im Gefängnis landen. Ich erhob mich steif und schüttelte den Kopf. »Nichts …«Ich zögerte. »Nichts …wenn wir aufhören?« »Ich weiß nicht.« Er lächelte schief. »Na schön, Henry, wir machen Schluß.« Wir verließen das Lokal und stapften gemeinsam durch den Matsch zurück zum Büro, aber es war nicht wie sonst. Das Vertrauen war weg. Er mußte sich fragen, ob ich den Mund endgültig halten würde, und ich wußte, daß er wahrscheinlich weitermachen würde, obwohl er das Gegenteil behauptete. Die braune Stute würde nicht mehr auf die Reise gehen, aber er konnte sie auswechseln. Außerdem hatte er noch ein zweites Pferd, das mir noch nicht einmal aufgefallen war. Wenn er Vorsicht walten ließ, konnte er weitermachen. Und ein vorsichtiger Mann war er tatsächlich. Bis zum Mittwoch der folgenden Woche war im Büro kein Flug nach Mailand mehr vorgesehen. Ich stellte fest, daß bis dahin überhaupt kein Transport auf der Tagesordnung stand. Lediglich für ein paar Polopferde, für die ich nicht verantwortlich war, hatte man Seetransporte vereinbart. Ich klopfte an Yardmans Tür, betrat das Zimmer und fragte ihn, ob ich den Rest der Woche frei haben könne. Das war mein Recht, hatte Conker behauptet. »Nächsten Mittwoch Mailand«, wiederholte er nachdenklich. »Und vorher nichts? Selbstverständlich, mein Lieber, selbstverständlich können Sie frei haben. Aber ich kann Sie doch holen, wenn etwas Dringendes dazwischenkommt?« »Natürlich.« »Gut, sehr gut.« 118
Die Brillengläser blitzten, als er zum Fenster hinaussah. Er lächelte schwach. »Sie sind also immer noch zufrieden?« »Ja, vielen Dank«, sagte ich höflich. »So so, mein Lieber. Ich will nicht behaupten, daß Sie nicht tüchtig wären, durchaus nicht. Sehr zuverlässig, ja, ja. Ich bewundere Sie deshalb, wirklich.« »Tja … vielen Dank, Mr. Yardman.« Ich war mir nicht sicher, ob er im Innern nicht über mich lachte, und fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis er begriff, daß ich meine Stellung nicht für einen so großen Witz hielt wie alle anderen Leute. Ich schrieb Gabriella einen Brief und teilte ihr mit, daß ich in der folgenden Woche kommen würde, dann fuhr ich langsam nach Hause und dachte abwechselnd über sie und Simon nach, was emotional ein ziemliches Auf und Ab bedeutete. Zu Hause fand ich eine Nachricht vor, ich solle Julian Thackerys Vater anrufen, was ich tat. Für Sonnabend sei gutes Wetter angesagt, meinte er, und es sehe so aus, als ob das Rennen stattfinde. Er habe vor, ein gutes Jagdpferd nach Wetherby zu schicken, und ob ich es reiten könne. »Ja«, sagte ich, »das kann ich.« »Sehr schön. Sie ist eine großartige kleine Stute, die sich unheimlich ins Zeug legt. Schultern wie ein Champion und genug hinter dem Sattel, um jedes Hindernis zu nehmen.« »Die haben es in sich in Wetherby«, sagte ich. »Für Sie doch ein Klacks«, entgegnete er enthusiastisch.»Und sie ist bereit. Wir haben sie heute morgen eine Meile galoppieren lassen, weil wir dachten, sie wäre nach dem Schnee vielleicht träge geworden, und zum Ende hin zog sie wie eine Lokomotive. Sie scheint nach einer Zwangspause richtig 119
aufzublühen.« »Klingt gut.« »Eine todsichere Sache«, sagte er. »Wir sehen uns dann im Wiegeraum, kurz vor dem ersten Rennen. In Ordnung?« Ich versicherte ihm, daß ich dort sein würde, und war froh, daß ich fortkonnte, denn neben dem Telefon lag die Zusage der Filyhoughs, die für dieses Wochenende mal wieder eingeladen worden waren. Während ich noch den Brief in der Hand hielt, kam meine Schwester Alice daher. »Ich bin am Sonntag in Wetherby«, sagte ich, ihr zuvorkommend. »Am Sonntag …«, fing sie an. »Nein, liebste Alice, nein. Da ich nicht die geringste Absicht habe, Angela Filyhough zu heiraten, besteht auch kein Anlaß, mit ihr zusammenzutreffen. Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, daß Mutter aufhört, mir Erbinnen zu präsentieren.« »Aber irgendwen mußt du doch heiraten, Henry«, protestierte sie. Ich dachte an Gabriella und lächelte. Vielleicht würde ich sie heiraten, wenn ich erst sicher sein konnte, daß sie ein Freund fürs Leben sein würde und unsere Liebe nicht nur ein Strohfeuer. »Sei ganz unbesorgt, irgendwen werde ich schon heiraten.« »Tja«, sagte Alice, »wenn du schon da oben in Wetherby bist, dann könntest du doch noch weiter rauf fahren und Louise besuchen. Sie ein bißchen aufheitern.« »Aufheitern?«, fragte ich verständnislos. Louise war die Schwester die direkt nach Alice kam. Sie wohnte in Schottland, was genau genommen doppelt so weit von Wetherby entfernt war wie Wetherby von London. Doch ich kam nicht mehr dazu, Alice darauf aufmerksam zu machen. »Das habe ich dir doch gestern abend erzählt«, sagte sie 120
genervt. »Hast du denn überhaupt nicht zugehört?« »Ich fürchte, nein.« Ich hatte über braune Stuten nachgedacht. »Louise mußte sich operieren lassen. Sie kommt heute aus dem Krankenhaus und muß noch zwei bis drei Wochen das Bett hüten.« »Was fehlt ihr denn?« Aber das wußte Alice nicht, oder sie wollte es mir nicht sagen. Obwohl ich Louise kaum kannte, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, war sie doch Angela Filyhough bei weitem vorzuziehen, und ich willigte ein. Da ich nun nach dem Rennen noch weit zu fahren haben würde, beschloß ich, noch am gleichen Tag nach Yorkshire rauf zu fahren und den Samstagvormittag zu faulenzen. Ich brach also um die Mittagszeit Richtung Norden auf und machte aus alter Gewohnheit einen Umweg über Fenland. »Hallo, Henry, Sie kommen wie gerufen. Ein Wunder.« Kaum hatte ich die Halle betreten, da packte mich Tom Wells schon beim Arm. »Können Sie morgen einen kurzen Flug für mich übernehmen? Zwei Trainer und ein Jockey von Newmarket nach Wetherby zum Rennen.« Fast hätte ich gelacht. »Es tut mir furchtbar leid, Tom, aber das geht nicht. Ich muß sogar meinen Flug am Sonntag absagen, da kann ich nämlich auch nicht. Deswegen bin ich überhaupt hier. Ich muß meine kranke Schwester in Schottland besuchen. Bin bereits auf dem Weg.« »Mist«, sagte er mit Nachdruck. »Können Sie das nicht aufschieben?« »Ich fürchte nicht.« »Sie können ein Flugzeug haben, um am Sonntag raufzufliegen.« Er war schon gerissen. »Umsonst.« Erwartungsvoll sah er mich an. Jetzt lachte ich wirklich. »Es geht nicht.« 121
»Dann muß ich den Trainern absagen.« »Tut mir wirklich leid.« »Tja, schöne Pleite. Kommen Sie mit auf eine Tasse Kaffee?« Wir saßen eine Stunde in der Kantine zusammen und redeten über Flugzeuge. Dann setzte ich meine Fahrt nach Wetherby fort und dachte belustigt, daß mein Leben immer größere Ähnlichkeit mit einer Jongleurnummer annahm. Es bedurfte einiger Geschicklichkeit, den Rennsport, das Fliegen, die Pferdetransporte und Gabriella sicher auf ihren unterschiedlichen Kreisbahnen zu halten. In Wetherby unterlag der sich abmühende Sonnenschein einem grimmigen Wind, aber das Geläuf war vorzüglich, was mich nach dem Schnee überraschte. Mr. Thackerys Stute hielt alles, was er versprochen hatte. Sie war eine robuste kleine Braune mit einem Herzen so groß wie eine Scheune, die ihr Handwerk verstand und nichts vom Aufgeben hielt. Ein echter Renner. Die ersten beiden Hindernisse nahm sie vorsichtig, da sie die Rennbahn noch nicht kannte, die übrigen ging sie voller Selbstvertrauen an. Ich hatte noch selten ein so zuverlässiges Pferd unter mir gehabt und genoß den Ritt sehr. Wenn sie einmal falsch auf ein Hindernis traf, brauchte sie nur minimale Hilfen und war auch nicht zu stur, um sie anzunehmen. Als sie nach der letzten Kurve in die Gerade einlief, war ihre Laufkraft noch so groß wie zu Anfang, und es bedurfte nur einer geringen Ermutigung meinerseits, und sie begann sich zügig an den vier Pferden vor uns vorbeizuarbeiten. Beim letzten Hindernis hatte sie das in Führung liegende Pferd erreicht, machte beim Landen einen kleinen Rumpler, fing sich, ohne aus dem Tritt zu kommen, nahm mit beneidenswerter Entschlossenheit die Verfolgung des einzigen Pferdes auf, das weit und breit zu sehen war. Wir holten es noch rechtzeitig ein und flogen am Zielpfosten vorbei. Die Siegesfreude pulsierte wie Wein in unseren Adern. 122
»Nicht schlecht«, sagte Mr. Thackery strahlend. »Gar nicht schlecht.« Und er gab mir ein verschlossenes Kuvert, das er im Vertrauen auf unseren Sieg schon rechtzeitig vorbereitet hatte. Da ich noch an die dreihundertfünfzig Meilen vor mir hatte, brach ich bald nach dem Rennen auf und kam auf den leeren nach Norden führenden Straßen schnell voran. Meine Schwester Louise lebte in einem trübseligen Schloß in der Nähe von Elgin, das fast so groß war wie unsers zu Hause und ganz genauso unbeheizbar. Sie hatte unseren Eltern die Freude gemacht, eine Geldheirat einzugehen, und erst hinterher gemerkt, daß ihr Mann von geradezu krankhaftem Geiz war. In Anbetracht der Summen, die sie seitdem zur Verfügung gehabt hatte, wäre sie mit einer Doppelhaushälfte in Peckham besser bedient gewesen. Als Kind hatte ich von ihr EverymanAusgaben der Klassiker bekommen. Jetzt bekam ich gar nichts mehr. Trotzdem, als ich sie am nächsten Morgen in ihrem Zimmer aufsuchte – bei meiner Ankunft hatte sie bereits geschlafen –, war klar erkennbar, daß sie sich noch nicht ganz hatte unterkriegen lassen. Wir betrachteten einander wie Fremde. Ich hatte sie seit sieben Jahren nicht mehr gesehen, und sie kam mir viel älter vor als in meiner Erinnerung, älter als dreiundvierzig, und sie sah blaß und krank aus, aber ihre Augen strahlten, und ihr Lächeln verriet echte Freude. »Henry, mein kleiner Bruder, ich bin so froh, daß du da bist …« Man mußte es ihr glauben. Ich war auch froh, und auf einmal war der Besuch keine lästige Pflicht mehr. Ich verbrachte den ganzen Tag mit ihr zusammen. Wir betrachteten alte Fotos, spielten das chinesische Damespiel, das sie mir als Kind beigebracht hatte, und sie erzählte von ihren drei Söhnen, die alle im Internat waren, und wie wenig Moorhühner es in 123
diesem Winter gegeben habe und wie gerne sie London wiedersehen würde, wo sie seit zehn Jahren nicht mehr gewesen sei. Sie bat mich um mehrere kleine Hilfeleistungen, weil, wie sie mir erklärte, »der gute James« immer gleich so gereizt reagiere, und die Hausangestellten zu viel anderes zu tun hätten, die Ärmsten. Ich holte ihr dies und das, packte ein Päckchen, räumte ihr Zimmer auf, brachte ihr eine frische Wärmflasche und holte auch noch eine neue Tube Zahnpasta. Dann überlegte sie, ob man nicht auch die Nachttischschublade mit den ganzen Arzneien aufräumen sollte, wo man nun schon die Möglichkeit dazu hatte. Die Vorräte hätten für eine große Apotheke ausgereicht. Die Hälfte der Medikamente, so meinte sie erleichtert, brauche sie nun nicht mehr, die könne ich wegwerfen. Sie sortierte die Flaschen und Schachteln in zwei Haufen. »Das kannst du alles in den Papierkorb werfen«, meinte sie. Gehorsam raffte ich die Sachen zusammen. Auf einer Schachtel stand ›Conovid‹, darunter einiges Erklärende. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff. Ich sah sie mir genauer an. Sie enthielt einen Folienstreifen mit einzeln abgepackten Pillen. Ich riß eins der Vierecke auf und nahm die kleine, rosa Tablette heraus. »Brauchst du die noch?«, fragte ich. »Natürlich nicht. Jetzt nach meiner Operation …« »Ach so … ich verstehe. Kann ich sie dann haben?« »Wozu denn?« »Jetzt bist du naiv, Louise.« Sie lachte. »Du hast also doch endlich eine Freundin! Natürlich kannst du sie haben. Irgendwo muß auch noch eine volle Schachtel sein, wahrscheinlich irgendwo in der obersten Schublade. Im Badezimmer kannst du auch mal nachsehen.« 124
Ich sammelte genug Anti-Baby-Pillen, um eine Flasche damit zu füllen, fast so groß wie die, die Gabriella von Patrick bekommen hatte, eine zehn Zentimeter hohe, viereckige, braune Glasflasche, die früher Hustensaft enthalten hatte. Louise sah mir amüsiert zu, als ich sie ausspülte, vor dem Heizgerät trocknen ließ und mit Tabletten vollstopfte. In den Hals drückte ich einen Wattepfropf, bevor ich den Verschluß aufschraubte. »Wann ist die Hochzeit?«, fragte sie. Sie war genauso schlimm wie meine Schwester Alice. »Ich weiß nicht.« Ich schloß die aufgeräumte Schublade. »Aber sag bitte nichts zu Mutter.« Der Mittwoch ließ sich lange bitten, und ich war schon viel zu früh am Flughafen Gatwick. Erst eine Stunde später trafen die ersten Tiere ein. Nicht einmal der Auftritt von Billy und Alf konnte meine gute Laune dämpfen. Wir verluden die Pferde ohne Zwischenfall und schneller als gewöhnlich, da zwei Gestüte ihre Pferdepfleger mitgeschickt hatten, die zur Abwechslung keine Scheu vor der Arbeit hatten. Es war einer von den Tagen, an denen Simon im letzten Augenblick mit neuen Dokumenten erschien. Er übergab sie mir kurz vor dem Start im Büro der Chartergesellschaft. Er war äußerst zurückhaltend. »Guten Morgen, Henry.« »Guten Morgen.« Um halb acht Uhr morgens, vor gähnenden Piloten und Büroangestellten konnte man eine Freundschaft nicht wieder flicken. Ich nahm die Unterlagen nickend entgegen, zögerte, und verließ das Gebäude, um zur Maschine zu gehen. Plötzlich holte mich jemand ein und legte mir die Hand auf den Arm. 125
»Lord Grey? Sie werden am Telefon verlangt. Es sei sehr dringend.« Ich nahm den Hörer ab und lauschte, sagte: »Ja, natürlich«, und legte ihn langsam auf die Gabel zurück. Nun konnte ich Gabriella also doch nicht besuchen. Mein Gesicht verzerrte sich plötzlich vor Schmerz. »Was ist denn?«, fragte Simon. »Mein Vater … mein Vater ist gestorben. Während der Nacht. Sie haben ihn gerade gefunden. Er war gestern abend sehr müde …« Im Büro wurde es totenstill. Simon sah mich verstehend an, denn er wußte, wie sehr ich diesen Tag gefürchtet hatte. »Das tut mir wirklich leid«, sagte er heiser. Ich sprach mit ihm, als stünde nichts zwischen uns. »Ich muß sofort nach Hause.« »Ja, selbstverständlich.« »Aber die Pferde sind alle verladen, und Billy allein …« »Schon gut. Ich fliege mit.« Er kramte in seiner Aktenmappe und zog seinen Paß heraus. Das war die beste Lösung. Ich gab ihm die Dokumente zurück und zog die Flasche mit den Pillen aus der Tasche. Mit einem schwarzen Kugelschreiber schrieb ich auf das Etikett: ›Gabriella Barzini, Souvenirstand, Flughafen Malpensa.‹ »Würden Sie das dem Mädchen am Souvenirstand geben und ihm erklären, warum ich nicht kommen kann? Ich schreibe bald.« Er nickte. »Sie vergessen es bestimmt nicht?«, fragte ich besorgt. »Nein, Henry.« Er lächelte wie früher. »Ich sorge dafür, daß sie die Flasche bekommt. Und Ihre Nachricht. Das verspreche ich Ihnen.« 126
Wir schüttelten uns die Hände. Er zeigte seinen Paß vor, stapfte übers Rollfeld und stieg die Rampe hinauf in die Maschine. Ich sah, wie die Türen geschlossen wurden, sah das Flugzeug starten. Es nahm meine Stellung, meinen Freund und mein Geschenk mit, aber nicht mich. An meiner Stelle flog Simon Searle nach Italien. Er kam nicht zurück.
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8 Es dauerte über eine Woche, bis ich dahinterkam. Als ich den Kai erreichte, betrat ich sofort sein Zimmer. Es war leer und aufgeräumt. Die begriffsstutzige junge Stenotypistin nebenan gab auf meine Frage hin zu, daß Mr. Searle heute nicht da sei und niemand zu wissen schien, wann er kommen werde – wenn überhaupt. »Was soll das heißen?« »Er fehlt schon seit einer Woche. Wir wissen nicht, wo er bleibt.« Verstört ging ich die Treppe hinunter und klopfte an Yardmans Tür. »Herein.« Ich trat ein. Er stand am offenen Fenster und beobachtete die Lastkähne, die von großen Schleppern flußaufwärts gezogen wurden. Ein finnischer Frachter, mit der Flut eingelaufen, manövrierte am anderen Ufer längsseits unter den geierartigen Kränen. Die Luft war erfüllt von Sirenensignalen und dem Rattern und Kreischen in den Werften. Die Flut trieb den Abfall von den unteren Docks langsam stromaufwärts nach Westminster. Yardman drehte sich um, sah mich, schloß das Fenster und kam mit ausgestreckten Händen auf mich zu. »Mein Lieber«, sagte er und drückte mir die Hand, »aufrichtiges Beileid zu Ihrem tragischen Verlust.« »Danke«, erwiderte ich gehemmt. »Sie sind sehr freundlich. Wissen Sie – äh – wissen Sie, wo Simon Searle ist?« »Mr. Searle?« Er zog die Brauen hoch, so daß sie über seinen schwarzen Brillenrändern erschienen. 128
»Er ist schon seit einer Woche nicht mehr dagewesen, wie seine Sekretärin sagte.« »Nein …« Er runzelte die Stirn. »Mr. Searle hat sich aus Gründen, die ihm am besten bekannt sind, entschlossen, nicht zu uns zurückzukehren. Offenbar entschied er sich an dem Tag, als er an Ihrer Stelle nach Mailand flog, dazu, in Italien zu bleiben.« »Aber warum denn?«, fragte ich. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Das ist für uns äußerst unangenehm. Ich muß seine Arbeit miterledigen, bis wir von ihm hören.« Er schüttelte den Kopf. »Na ja, unsere Probleme betreffen Sie ja jetzt nicht mehr. Ihre Papiere nehmen Sie aber lieber mit, wenn Sie sie auch nicht mehr brauchen.« Er lächelte ironisch und griff nach dem Hörer. »Sie werfen mich also hinaus?«, fragte ich. Er zog die Hand zurück. »Mein Lieber«, protestierte er, »ich wäre niemals auf die Idee gekommen, daß Sie bei uns bleiben wollen.« »Doch.« Er zögerte, dann seufzte er. »Das ist gegen meine bessere Einsicht, durchaus gegen meine bessere Einsicht. Aber die Firma mußte Aufträge zurückweisen, solange Sie und Searle beide nicht zur Verfügung standen, und das können wir uns auf die Dauer nicht leisten, durchaus nicht. Also gut, wenn Sie uns wenigstens so lange helfen, bis ich von Searle höre oder Ersatz für ihn finde, wäre ich Ihnen wirklich sehr dankbar.« Wenn die Dinge so stehen, dachte ich, muß ich noch etwas für mich herausholen können. 129
»Kann ich in zwei Wochen drei Tage für die Rennen in Cheltenham freihaben? Ich bin für den Gold Cup gemeldet.« Er nickte gelassen. »Geben Sie mir die genauen Daten, dann mache ich für diese Tage nichts fest.« Ich konnte sie ihm sofort nennen, dann kehrte ich ins Zimmer von Simon zurück und dachte, daß Yardman ein ungewöhnlich großzügiger Arbeitgeber war, obwohl ich ihn im Grunde noch genausowenig verstand wie bei unserer ersten Begegnung. Die an der Wand befestigte Liste zeigte mir, daß der nächste Flug für den kommenden Dienstag vereinbart war, und zwar nach New York. Drei Flüge während dieser und der vergangenen Woche waren gestrichen worden, was, wie Yardman schon gesagt hatte, dem Geschäft nicht guttat. Die Firma war zu klein, um den Verlust von Stammkunden hinnehmen zu können. Yardman bestätigte über die Gegensprechanlage, daß der Flug am Dienstag noch gelte, und seine Stimme klang so erfreut, daß ich annahm, er sei gerade dabeigewesen, ihn zu stornieren, als ich aufgetaucht war. Ich bestätigte, daß ich die erforderlichen Unterlagen am Montagnachmittag im Büro abholen und am Dienstagmorgen pünktlich am Flughafen Gatwick sein würde. Damit blieb mir ein langes Wochenende und die klare Erkenntnis, was ich damit anfangen sollte. Nicht ohne Erleichterung ließ ich am nächsten Tag die trübsinnige Versammlung von Verwandten zurück, schickte ein Telegramm, buchte bei der Alitalia einen Platz in der Nachmittagsmaschine und flog nach Mailand, um Gabriella zu besuchen. Drei Wochen und drei Tage Getrenntsein hatten nicht das geringste verändert. Ich hatte die Einzelheiten ihres Gesichts vergessen, in meiner Phantasie ihre Nase ein wenig verkürzt und die Ernsthaftigkeit ihrer Miene nicht mehr genau rekonstruieren können, aber ein einziger Blick genügte, um den Zauber wieder aufleben zu lassen. Sie sah mich für den 130
Bruchteil einer Sekunde ängstlich an, ob ich dasselbe fühlte wie sie, aber plötzlich lächelte sie strahlend. »Ich habe dein Telegramm bekommen«, sagte sie. »Eine Kollegin tauscht mit mir. Ich brauche morgen und am Sonntag keinen Dienst zu machen.« »Wunderbar.« Sie zögerte, und ihre Ohren färbten sich rot. »Über Mittag bin ich schnell nach Hause gefahren, habe ein paar Sachen gepackt und meiner Schwester erzählt, daß ich zwei Tage bei einer Freundin in der Nähe von Genua bleibe.« »Gabriella!« »Ist das gut so?«, fragte sie besorgt. »Ein Wunder ist das«, sagte ich begeistert, denn ich hatte befürchtet, am Tage nur kurz und verstohlen mit ihr sprechen zu können und die Nächte Wand an Wand mit ihr verbringen zu müssen. »Ich kann’s noch gar nicht glauben.« Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, fuhren wir zum Bahnhof und nahmen den Zug nach Genua. Man muß ja nicht mehr lügen als unbedingt nötig. Wir mieteten uns getrennt in einem großen, unpersönlichen Hotel voller Geschäftsleute ein, die sich für uns nicht interessierten, und stellten fest, daß unsere Zimmer nur vier Türen voneinander entfernt waren. Beim Essen in einem gemütlichen kleinen Restaurant sagte sie: »Es tut mir so leid, daß dein Vater gestorben ist, Henry.« »Ja …« Ihr Mitgefühl beschämte mich ein wenig. Ich hatte versucht, um ihn zu trauern, aber außer einer starken Abneigung dagegen, mit seinem Titel angesprochen zu werden, hatte ich kein Gefühl entdecken können. Ich wollte ich selber bleiben. Meine Verwandtschaft und die Anwälte der Familie hielten es jedoch für ausgemacht, daß ich, nachdem ich mir die Hörner abgestoßen hatte, jetzt seinen Lebensstil übernehmen würde. 131
Wenn ich nicht aufpaßte, konnte mich sein Tod unglücklich machen. »Ich habe mich über deinen Brief gefreut«, sagte Gabriella, »weil es sehr schlimm war, als du mit den Pferden nicht mitgekommen bist. Ich dachte, du hättest es dir anders überlegt.« »Aber Simon hat dir doch Bescheid gesagt?« »Wer ist Simon?« »Der große, dicke, glatzköpfige Mann, der für mich einsprang. Er versprach mir, dir zu erklären, warum ich nicht kommen konnte, und dir eine Flasche mitzubringen …« Ich grinste. »Eine Flasche mit Pillen.« »Die waren also von dir!« »Simon hat sie dir doch gegeben. Er konnte dir wahrscheinlich nicht erklären, warum ich nicht mitgekommen war, weil er nicht italienisch spricht. Ich habe vergessen, ihm zu sagen, daß er französisch sprechen soll.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Flasche hat mir jemand von der Besatzung gegeben. Der Mann sagte, er habe sie in der Toilette kurz nach der Landung gefunden und sie mit zu mir gebracht, um sich zu erkundigen, ob ich sie verloren hätte. Er ist ein großer Mann und trägt Uniform. Ich hab ihn schon oft gesehen. Dein glatzköpfiger, dicker Simon war das nicht.« »Und Simon hat überhaupt nicht versucht, mit dir zu sprechen?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Dicke glatzköpfige Reisende sehe ich jeden Tag, aber keiner hat mit mir über dich sprechen wollen.« »Ein freundlicher, großer Mann mit gütigen Augen«, sagte ich. »Er trug eine schrecklich alte, grüne Cordjacke mit einer Reihe Stecknadeln am Revers. Er sammelt sie überall auf, eine 132
alte Angewohnheit.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Ich habe ihn nicht gesehen.« Simon hatte mir versprochen, ihr die Nachricht und die Flasche zu überbringen. Er hatte beides nicht getan und war verschwunden. Ich hatte Yardman nicht über Gebühr zusetzen wollen, Nachforschungen anzustellen, weil immer die Gefahr bestand, daß dabei der Schwindel mit den Exportprämien aufgedeckt werden würde, und ich hatte, ohne nachzudenken, immer angenommen, daß Simon gerade deshalb nicht zurückgekommen war. Aber selbst wenn er sich so plötzlich entschieden haben sollte, wäre er doch auf jeden Fall noch zu Gabriella gegangen. Oder reichte eine wiederbelebte Freundschaft nicht so weit? »Was ist los?«, fragte Gabriella. Ich erklärte es ihr. »Du machst dir Sorgen um ihn?« »Er ist alt genug, um selbst zu entscheiden.« Aber es war wie eine kalte Dusche, als mir einfiel, daß mein Vorgänger Peters aus Mailand nicht zurückgekehrt war und vor ihm der Verbindungsmann Ballard. »Morgen vormittag fährst du nach Mailand zurück und suchst ihn«, sagte sie fest. »Ich spreche kein Italienisch.« »Du brauchst eben einen Dolmetscher«, meinte sie. »Mich.« »Der beste, den es gibt«, stimmte ich lächelnd zu. Wir schlenderten zum Hotel zurück. »War das mit den Pillen richtig so?«, fragte ich. »Ganz toll, vielen Dank. Ich habe sie der Frau unseres Bäckers gegeben … sie arbeitet normalerweise in der Bäckerei mit, aber wenn sie schwanger ist, dann wird ihr monatelang 133
schlecht, und den Anblick von Teig kann sie auch nicht ertragen, und ihr Mann muß dann eine Aushilfe einstellen, was ihn ärgert. Er ist kein guter Katholik.«Sie lachte. »Wenn ich die Pillen bringe, macht er mir immer einen riesigen Kuchen, der vor Sahne förmlich trieft.« Im Hotel nahm niemand die geringste Notiz von uns. Der Gang war leer, als ich im Morgenmantel zu ihrem Zimmer ging und anklopfte. Sie ließ mich ein, ebenfalls im Morgenmantel, und ich schloß hinter mir ab. »Wenn meine Schwester uns sehen könnte«, sagte sie lächelnd, »bekäme sie einen Anfall.« »Ich gehe wieder … wenn du möchtest.« Sie schlang ihre Arme um meinen Hals. »Könntest du das?« »Nur sehr schwer.« »Von mir aus nicht.« Ich küßte sie. »Ganz unmöglich«, sagte ich. Sie seufzte glücklich. »Finde ich auch. Da müssen wir wohl das Beste draus machen.« Was wir auch taten. Am nächsten Morgen fuhren wir nach Mailand zurück. Wir saßen nebeneinander und hielten Händchen, unauffällig unter ihrem Mantel, als ob wir durch diesen winzigen Hautkontakt die vollkommene Vereinigung der letzten Nacht am Leben erhalten könnten. Ich hatte noch niemals den Wunsch verspürt, die Hand einer Frau zu halten, nicht geahnt, daß es sich anfühlte, als würde man von einem schwachen elektrischen Strom durchpulst, warm, tröstlich und dennoch erregend. Abgesehen von der Tatsache, daß wir beisammen waren, war der Tag niederdrückend. Niemand hatte Simon gesehen. »Er kann doch nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein«, sagte ich verzweifelt, als wir am späten Nachmittag im kalten Wind vor dem letzten Krankenhaus standen. Überall 134
waren unsere Nachforschungen ergebnislos gewesen, auch hier, obwohl man sich sehr bemüht hatte, uns zu helfen. Man hatte keinen Mann seiner Beschreibung in den letzten zehn Tagen aufgenommen. »Wo sollten wir uns noch erkundigen?«, sagte sie müde, mit vor Erschöpfung hängenden Schultern. Sie war mir unentbehrlich gewesen, hatte immer wieder meine Fragen weitergereicht und die Antworten übersetzt, ruhig, sachlich und geschickt. Sie konnte nichts dafür, daß die Antworten alle negativ gewesen waren. Polizei, Behörden, Beerdigungsunternehmen – wir hatten es überall versucht. Wir hatten alle Hotels angerufen und nach ihm gefragt. Er war nirgends abgestiegen. »Wir könnten die Taxifahrer am Flughafen fragen …«, meinte ich schließlich. »Das sind so viele – und wer erinnert sich nach so langer Zeit noch an einen Fahrgast?« »Er hatte kein Gepäck«, sagte ich zum hundertstenmal. »Er erfuhr erst fünfzehn Minuten vor dem Start, daß er nach Mailand fliegen sollte. Er kann keine Pläne gemacht haben. Er spricht nicht italienisch. Er hatte kein italienisches Geld. Wohin ist er gefahren? Was hat er gemacht?« Sie schüttelte entmutigt den Kopf. Es gab keine Antwort. Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Bahnhof zurück und erkundigten uns auch dort noch, weil wir eine halbe Stunde auf den Zug nach Genua warten mußten. Niemand erinnerte sich an ihn. Es war hoffnungslos. Als wir um Mitternacht in dem kleinen Restaurant, das wir schon kannten, beim Essen saßen, vergaßen wir allmählich die Enttäuschungen des Tages. Zwar hatte die ganze Plackerei keine Spur von Simon zutage gefördert, aber sie hatte unser Verhältnis zueinander auf ein festeres Fundament gestellt. Auf dem Rückweg zum Hotel lehnte sie sich schwer an mich, und ich sah voller Reue, wie erschöpft sie war. »Ich habe dir 135
zuviel zugemutet.« Sie lächelte über die Sorge in meiner Stimme. »Du bist dir gar nicht klar darüber, wieviel Energie du besitzt.« »Energie?«, wiederholte ich überrascht. »Ja, das ist es wohl.« »Was meinst du damit?« »Du siehst gar nicht so energiegeladen aus. Du bist ruhig und bewegst dich glatt wie eine geölte Maschine. Mühelos, gleichmäßig, geschickt. Und irgendwo in dir drin befindet sich ein Dynamo. Der steht niemals still. Ich kann seine Kraft fühlen. Ich habe sie den ganzen Tag lang gefühlt.« Ich lachte. »Deine Phantasie geht mit dir durch.« »Nein, es stimmt schon.« Ich schüttelte den Kopf. In meinem Inneren liefen keine Dynamos vor sich hin. Ich war ein völlig normaler und nicht allzu erfolgreicher Mann, und die Glätte, die sie sah, war nur Ordentlichkeit. Sie war schon im Bett und beinahe eingeschlafen, als ich zu ihr kam. Ich verschloß die Tür und legte mich zu ihr, und um meinetwillen versuchte sie sich aus dem Schlaf zu reißen. »Komm, schlaf«, sagte ich und küßte sie zart. »Morgen ist auch noch ein Tag.« Sie lächelte zufrieden und kuschelte sich an mich. Ich hielt ihren süßen, weichen Körper in den Armen, ihr Kopf lag an meiner Schulter, mein Mund war in ihrem Haar vergraben, und ich hatte nur den einen Wunsch, sie zu beschützen und alles, was ich besaß, mit ihr zu teilen. Das Gefühl war so stark, daß es mir fast den Atem benahm. Henry Grey, dachte ich überrascht dort in der Dunkelheit, du bist auf dem besten Weg, eine Frau wirklich und wahrhaftig zu lieben. Am Sonntag vormittag bummelten wir ziellos durch die Stadt, redeten und betrachteten die Unmengen von Lederwaren 136
in den Arkaden. Am Nachmittag besuchten wir – so unwahrscheinlich es klingen mag – ein Fußballspiel, eine unerwartete Leidenschaft Gabriellas, und abends gingen wir früh zu Bett, da wir, wie sie mit ihrem unschuldigen Kichern sagte, am nächsten Morgen um sechs würden aufstehen müssen, damit sie rechtzeitig nach Mailand und zur Arbeit käme. Aber wie sie sich dann in der Nacht an mich klammerte, das hatte etwas Verzweifeltes, als ob wir uns für immer trennen müßten, statt nur für ein oder zwei Wochen, und als ich sie küßte, waren ihre Wangen naß von Tränen. »Warum weinst du?«, fragte ich und wischte sie mit den Fingern fort. »Wein doch nicht!« »Ich weiß auch nicht warum.« Sie schniefte, fast schon wieder lachend. »Auf der Welt geht es traurig zu. Schönheit zersprengt einen. Wie eine Explosion in einem drin. Man kann sich nur durch Tränen Luft machen.« Ich war unglaublich gerührt. Ich verdiente ihre Tränen nicht. Ich küßte sie demütig fort und verstand, warum es hieß, die Liebe tue weh, warum Amor mit Pfeilen dargestellt wurde. Die Liebe durchbohrte einem wahrhaftig das Herz. Erst als wir am Montag im Frühzug nach Mailand saßen, begann sie von Geld zu sprechen, und ihr Zögern verriet, daß sie mich nicht beleidigen wollte. »Ich zahl dir zurück, was du mir für meine Hotelrechnung geliehen hast«, sagte sie sachlich, aber ein wenig atemlos. Ich hatte ihr das Geld auf dem Weg nach unten in die Hand gedrückt, weil sie nicht gewollt hatte, daß ich für sie in der Öffentlichkeit bezahle, und ich wußte, daß sie nicht genug besaß. »Kommt gar nicht in Frage«, erwiderte ich. »Es war viel teurer, als ich dachte …«, meinte sie. 137
»In großen Hotels fällt man weniger auf.« Sie lachte. »Trotzdem …« »Nein.« »Aber du verdienst nicht viel, du kannst dir das alles doch gar nicht leisten – das Hotel, die Zugfahrt, die Restaurants.« »Ich habe ein Rennen gewonnen und dabei etwas verdient.« »Genug?« »Dann gewinn ich eben noch eins – und schon reicht es.« »Giulio paßt es nicht, daß du mit den Pferden unterwegs bist.« Sie lachte. »Er meint, wenn du ein tüchtiger Jockey wärst, hättest du es nicht nötig, nebenbei als Pferdepfleger herumzureisen.« »Was treibt Giulio eigentlich?« »Er arbeitet im Finanzamt.« »Aha«, sagte ich lächelnd. »Hätte es Zweck, wenn du ihm sagst, daß mir mein Vater Geld hinterlassen hat? Jedenfalls so viel, daß ich dich besuchen kann?« »Ich weiß nicht recht, ob ich ihm das erzählen soll. Er beurteilt die Menschen zu sehr danach, wieviel Geld sie haben.« »Möchtest du einen reichen Mann heiraten?« »Nicht, um Giulio einen Gefallen zu tun.« »Aber um deinetwillen?« »Er muß nicht unbedingt reich sein, aber er soll auch nicht zu arm sein. Ich möchte mir keine Sorgen darüber machen, ob ich mir Schuhe für die Kinder leisten kann.« Ich streichelte ihre Hand. »Ich glaube, ich muß Italienisch lernen.« Sie lächelte mich an. »Ist Englisch sehr schwierig?« 138
»Du kannst ja mit mir üben.« »Wenn du oft genug kommst. Wenn du das geerbte Geld nicht sparen mußt.« »Ich glaube, daß genug bleibt«, meinte ich langsam und lächelte sie an. »Genug für die Kinderschuhe.« Am nächsten Tag flog ich trotz wütender Opposition meiner Angehörigen mit Pferden nach New York. Ein paar Verwandte wohnten immer noch im Haus, einschließlich meiner drei scharfzüngigen ältesten Schwestern, die sich keine Zurückhaltung auferlegten, wenn es darum ging, ihre Meinung zu äußern. Ich saß ein deprimierendes Mittagsmahl ab, verdammt von allen Seiten. Man war sich darüber einig, daß meine unerklärte Abwesenheit übers Wochenende schon eine Schande sei, meine Absicht aber, bei Yardman zu bleiben, ein Skandal. Mutter weinte hysterisch, Alice machte mir bittere Vorwürfe. »Bedenk doch deine Position«, jammerten sie alle, mehr oder weniger im Chor. Ich bedachte meine Position und fuhr wenige Stunden nach meiner Rückkehr aus Mailand zum Flughafen Gatwick. Mutter hatte wieder einmal das Thema meiner Verehelichung mit einer passenden Erbin zur Sprache gebracht. Ich verschwieg, daß ich mehr oder weniger mit einer vermögenslosen Italienerin verlobt war, die in einem Souvenirladen arbeitete, Anti-Baby-Pillen schmuggelte und kein Wort Englisch sprach. Es wäre wohl auch nicht der rechte Augenblick gewesen. Der Hinflug verlief ohne Zwischenfälle. Timmie und Conker waren dabei, zusammen mit zwei Pflegern und vier Pferden von der ›Anglia‹. Die Arbeit ging daher schnell und mühelos vonstatten. Wegen eines Motorschadens saßen wir sechsund139
dreißig Stunden in New York fest, und als ich Yardman anrief, um unsere Rückkehr für Freitagmorgen anzukündigen, bat er mich, gleich in Gatwick zu bleiben, weil am gleichen Nachmittag Zuchtstuten zu verladen seien. »Wohin?« »Wieder nach New York«, sagte er. »Ich bringe die Dokumente selbst am frühen Nachmittag. Sie können Timmie und Conker heimschicken. Ich bringe Billy und zwei andere als Ersatz mit.« »Mr. Yardman …«, sagte ich. »Ja?« »Wenn Billy wieder einen Streit vom Zaun zu brechen versucht oder mich unterwegs auf irgendeine Weise belästigt, gilt mein Arbeitsverhältnis im Augenblick der Landung als gelöst. Ich helfe dann weder beim Ausladen der Pferde, noch übernehme ich die Verantwortung für sie.« Er schwieg einen Augenblick lang verstört. So, wie die Dinge standen, konnte er sich das nicht leisten. »Mein Lieber«, protestierte er seufzend, »ich möchte nicht, daß Sie Schwierigkeiten haben. Ich spreche mit Billy. Er ist gedankenlos. Ich erkläre ihm, daß nicht alle seine Späße mögen.« »Dafür wäre ich Ihnen dankbar«, sagte ich, nicht ohne Ironie angesichts seiner Meinung über Billys Verhalten. Was Yardman auch zu ihm gesagt haben mochte, es hatte Erfolg. Billy war mürrisch, faul und beleidigend, aber zur Abwechslung einmal überstand ich einen Flug mit ihm ohne blaue Flecken. Unterwegs saß ich eine Weile auf einem Heuballen neben Alf und erkundigte mich nach Simons letztem Flug nach Mailand. Ein hartes Stück Arbeit, denn die Taubheit des alten Mannes spottete jeder Beschreibung. 140
»Mr. Searle«, brüllte ich. »Hat er gesagt, wohin er will?« »Was?« Nach etwa zehn Versuchen begriff er endlich. Er nickte. »Er ist mit uns nach Mailand geflogen.« »Richtig, Alf. Und von dort aus?« »Was?« »Von dort aus?« »Keine Ahnung«, sagte er. »Er ist nicht zurückgekommen.« »Hat er gesagt, wohin er wollte?« »Was?« Ich brüllte ihm die Frage noch einmal ins Ohr. »Nein. Hat er nicht gesagt. Vielleicht zu Billy. Mit Billy hat er sich unterhalten, verstehen Sie?« Ich verstand. Ich verstand auch, daß es keinen Zweck hatte, Billy nach irgend etwas zu fragen. Yardman würde sich sowieso erkundigt haben, also hätte er Bescheid gewußt, wenn Simon Billy gegenüber etwas erwähnt hätte. Es sei denn, Simon hätte Billy gebeten, nichts zu verraten. Aber Simon mochte Billy nicht und hätte ihm niemals etwas anvertraut. »Wohin ging Mr. Searle, als er aus dem Flugzeug gestiegen ist?« Ich war heiser, bevor ich Antwort bekam. »Ich weiß es nicht, wohin er gegangen ist. Er war mit Billy und den anderen zusammen. Ich bin allein losgezogen und hab mir ein Bier gekauft. Billy meinte, sie kämen gleich nach, aber sie sind nicht gekommen.« »Keiner?« Außer Simon und Billy waren noch zwei Pferdepfleger vom Gestüt mitgeflogen. Alf schüttelte nach einer Weile den Kopf. 141
»Ich hab mein Bier getrunken und bin ins Flugzeug gestiegen. Ich hab geschaut, aber es war keiner da.« Dabei beließ ich es, weil meine Stimmbänder nicht mehr mitmachten. Beim Rückflug hatten wir einen zusätzlichen Gehilfen in Gestalt eines großen, blassen Mannes, der nicht wußte, was er mit seinen Händen anfangen sollte und sie an den Breeches rieb, als suche er dort Taschen. Angeblich begleitete er einen zweijährigen Hengst, aber ich vermutete, daß er mit dem Besitzer oder Trainer verwandt war und auf diese Weise die Kosten eines Transatlantikfluges sparen wollte. Ich kam nicht dazu, mich zu erkundigen, weil die zweifache Reise sehr anstrengend gewesen war. Ich schlief fast die ganze Zeit. Alf mußte mich wachrütteln, als wir uns Gatwick näherten. Gähnend half ich beim Ausladen – es war inzwischen Sonntagvormittag, und anschließend fuhr ich, noch immer ungewöhnlich müde, nach Hause, um mich ins Bett zu legen. Ein Brief von Gabriella stoppte mich in der Halle. Ich stieg langsam die Treppe hinauf und las ihn. Sie hatte, wie sie schrieb, jeden einzelnen Taxifahrer und alle Flughafenbuschauffeure gefragt, ob sie einen großen, dicken Engländer gesehen hätten, der kein Italienisch sprach, kein Gepäck dabei hatte und eine grüne Cordjacke trug. Niemand konnte sich erinnern. Außerdem hatte sie sich noch bei den Mietwagenfirmen erkundigt, die Büros im Flughafengebäude unterhielten, aber auch dort ohne Erfolg. In den Passagierlisten der Tage nach seinem Verschwinden war ebenfalls nichts zu entdecken gewesen. Ich legte mich ins heiße Badewasser und dachte darüber nach, ob ich meine Bemühungen fortsetzen sollte. Wenn ich mich an die Polizei oder auch nur an einen Privatdetektiv wandte, würde man in England nach einem Motiv für sein Verschwinden suchen und es nur allzu schnell finden. Ich 142
wollte ja nicht, daß man einen Haftbefehl gegen ihn erließ. Das würde ihn ganz entschieden daran hindern, zurückzukehren. Vermutlich wollte er überhaupt nicht gefunden werden, sonst wäre er nicht so spurlos verschwunden oder so lange fortgeblieben. Aber einmal angenommen, daß ihm tatsächlich etwas zugestoßen war … Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was das sein mochte. Ohne Peters und Ballard wäre ich überhaupt nie auf die Idee verfallen, dergleichen zu vermuten. Da waren noch Simons Partner bei dem Schwindel, sein Vetter und der Mann in Frankreich. Vielleicht könnte ich sie fragen, ob sie von ihm gehört hatten … Nein, dachte ich bestürzt, ich konnte sie nicht fragen, ich kannte ja ihre Namen nicht! Simon hatte irgendwo eine alte Tante, aber ihr Name war mir auch unbekannt … Das Ganze wurde mir zuviel … und ich schlief in der Badewanne ein. Am nächsten Morgen um halb zehn fuhr ich zum Kaigebäude, um mir meinen Lohn abzuholen und mich zu erkundigen, was für die nächste Zeit geplant war. Yardman hatte Wort gehalten und an den kommenden drei Tagen keine Transporte vorgesehen. Neben einem Flugtransport von sechs Zirkuspferden nach Spanien am selben Nachmittag stand ein großes Fragezeichen, nicht aber, wie ich erfreut feststellte, neben einem Flug nach Mailand mit Zuchtstuten am Freitag. Yardman, den ich anschließend aufsuchte, erklärte mir, die Zirkuspferde würden erst am folgenden Montag verfrachtet werden, weil der Trainer in seinem Horoskop gelesen habe, diese Woche sei für Reisen sehr ungünstig. Yardman ärgerte sich. Astrologie war schlecht fürs Geschäft. »Am Freitag Mailand«, sagte er und schob einen Bleistift zwischen den Fingern hin und her. »Ich fliege vielleicht selbst 143
mit, wenn ich mich freimachen kann. Es ist sehr schwierig, weil Searle fehlt. Ich habe eine Stellenanzeige aufgegeben … Aber wie gesagt, wenn ich mich freimachen kann, fliege ich mit, um mit den Leuten dort einmal zu sprechen. Das zahlt sich aus. Ich besuche alle Länder, in die wir exportieren. Ungefähr einmal im Jahr. Damit der Kontakt nicht verlorengeht, verstehen Sie.« Ich nickte. Gut fürs Geschäft, ohne Zweifel. »Würden Sie sich dort erkundigen, ob jemand Simon Searle nach der Landung gesehen hat?« Er sah mich überrascht an. Seine straffe Hand spannte sich über seine Kinnlade. »Das könnte ich, ja, aber ich glaube nicht, daß er ihnen erzählt hat, wohin er wollte, wenn er nicht einmal die Höflichkeit hatte, das mir zu sagen.« »Nur zur Vorsicht«, meinte ich. »Ich frag natürlich.« Er nickte. »Auf jeden Fall.« Ich ging wieder hinauf zu Simons Zimmer, schloß die Tür, setzte mich in seinen Sessel und starrte zum Fenster hinaus. Sein Zimmer, das unmittelbar über dem von Yardman lag, bot denselben weiten Überblick auf die Themse, nur aus einem höheren Winkel. Ich hätte dort gerne gewohnt. Mir gefielen das Vorbeigleiten der Schiffe, der Lärm der Werften und der Geruch des Flusses, das Kommen und Gehen. Vermutlich mochte ich einfach das Transportgeschäft. Das finnische Schiff gegenüber war wieder abgefahren, ein anderer kleiner Frachter lag jetzt am Landeplatz. Eine schlaffe Flagge hing am Masttop, rote und weiße Querstreifen mit blauem Dreieck und weißem Stern. Ich sah hinüber zur Nationalitätenkarte an der Wand. Puerto Rico. Man lernte doch nie aus. Etwas tiefer hingen drei Buchstabenflaggen, die sich, nachdem ich nachgesehen hatte, als E, Q und 144
M herausstellten. Ich schlug sie im Internationalen Signalbuch nach. »Bin beim Entladen.« So gehörte es sich. Ich machte das Buch zu, drehte Daumen, beobachtete eine Polizeibarkasse, die vorbeischoß und mit der Ebbe bestimmt zwanzig Knoten machte, und dachte nicht zum ersten Mal, daß der Fluß hier in London für kleine Boote eine schnelle, rauhe Wasserstraße darstellte. Nach einer Weile nahm ich den Hörer ab und rief in Fenland an, um für Sonntag eine Maschine zu mieten. »Zwei Uhr?« »Das wäre genau richtig«, sagte ich. »Danke.« »Moment mal, Henry. Mr. Wells sagte, daß er Sie sprechen will, wenn Sie anrufen.« »Okay.« Es knackte ein paarmal im Telefonhörer, dann meldete sich Toms Stimme. »Henry? Hören Sie mal, Menschenskind, was haben Sie überhaupt für einen Job?« »Ich arbeite bei … einem Reisebüro.« »Und was ist da so Besonderes dran? Kommen Sie her, ich bezahle Ihnen mehr.« Seine Stimme klang aufgeregt. »Was ist denn los?«, fragte ich. »Alles, bis auf meine Flugzeuge. Ich bin mit einer Autofabrik in Coventry ins Geschäft gekommen, die ihre Direktoren, Techniker, Verkäufer und so weiter in der Gegend herumfliegt. Sie haben eine Fabrik in Lancashire, Verbindungen in ganz Europa und sind mit dem bisherigen Flugplatz nicht mehr zufrieden. Sie schicken mir drei Maschinen. Ich soll sie warten, Piloten liefern und ständig bereithalten.« »Klingt ausgezeichnet«, meinte ich. »Was stört Sie denn?« »Ich will das Geschäft nicht schon wieder abgeben, bevor ich’s überhaupt angefangen hab. Ich kann aber nicht nur keine unbeschäftigten Piloten finden, die etwas taugen, sondern einer 145
von meinen drei Leuten war letzte Woche beim Skifahren und hat sich das Bein gebrochen, dieser Idiot. Also, wie steht’s?« »Das ist nicht so einfach, wie es sich anhört«, meinte ich zögernd. »Was hindert Sie denn?« »Allerlei … Wenn Sie am Sonntag da sind, können wir das besprechen.« Er seufzte enttäuscht. »Die Maschinen kommen Ende des Monats, das sind etwas mehr als zwei Wochen.« »Besorgen Sie sich jemand anderen, wenn es geht.« »Ja … wenn ich kann.« Er wirkte deprimiert. »Und wenn ich nicht kann?« »Ich weiß nicht. Ich könnte einen Tag in der Woche aushelfen, aber selbst dann …« »Selbst dann was?« »Gibt es Schwierigkeiten.« »Kein Vergleich mit den meinigen, Henry. Ich bring Sie am Sonntag schon soweit.« Jedermann hatte Schwierigkeiten, sogar beim Erfolg. Je höher, desto problematischer, schien es mir. Ich drückte auf die Gabel und verlangte die Nummer der Chartergesellschaft, bei der Patrick arbeitete. Das Büro am Flughafen Gatwick meldete sich, und ich fragte, wie ich ihn erreichen könne. »Sie haben Glück. Er ist gerade bei uns. Wer sind Sie?« »Henry Grey, von Yardman-Transport.« Ich wartete. Nach ein paar Sekunden meldete er sich. »Hallo, wie steht’s. Wie geht’s Gabriella?« »Ihr geht es gut«, sagte ich. »Andere Dinge stehen schlechter. Könnten Sie mir einen Gefallen tun?« »Schießen Sie los.« »Könnten Sie den Namen des Piloten für mich feststellen, der 146
am Dienstag vor vierzehn Tagen Pferde für uns nach Mailand geflogen hat? Ich brauche auch den Namen des Copiloten und des Bordingenieurs. Außerdem müßte ich wissen, wie und wann ich einen oder alle sprechen kann.« »Ärger?« »Oh, nicht mit Ihrer Firma, keine Spur, aber einer von unseren Leuten kam von diesem Flug nicht zurück und hat sich auch seither nicht mehr gemeldet. Ich wollte nur feststellen, ob die Besatzung weiß, was aus ihm geworden ist. Vielleicht hat er sich unterwegs mit jemandem unterhalten. Jedenfalls stapelt sich hier seine Arbeit, und wir wollen doch wissen, ob er überhaupt zurückkommt.« »Bleiben Sie dran. Dienstag vor vierzehn Tagen?« »Genau.« Es dauerte einige Minuten. Die Kräne machten sich über den Frachter aus Puerto Rico her. Ich gähnte. »Henry? Ich habe sie. Der Pilot war John Kyle, Copilot G. L. Rawlings, Bordingenieur V. N. Brede. Sie sind aber nicht hier, weil sie ganze Berge von Gepäck nach Saudi-Arabien bringen müssen, nachdem irgendein Ölscheich hier war. Er hatte sechs Frauen dabei, die alle hier einkauften.« »Donnerwetter«, sagte ich. »Wann kommen sie zurück?« Er fragte jemanden im Zimmer. »Im Laufe des Mittwochs. Sie haben Donnerstag frei, am Freitag geht es wieder nach Saudi-Arabien.« »Die haben wohl alle Geschäfte leergekauft«, meinte ich düster. »Am Mittwoch oder Donnerstag geht es bei mir nicht, ich starte in Cheltenham. Aber ich könnte sie am Mittwoch anrufen, wenn Sie mir die Telefonnummern geben.« »Moment mal«, sagte Patrick langsam. »John Kyle wettet gern auf Pferde.« »Sie glauben, daß er nach Cheltenham kommen würde?« 147
»Durchaus, wenn er nichts anderes vorhat.« »Ich besorge ihm und den anderen Mitgliedsausweise, wenn sie wollen.« »Fein. Passen Sie auf. Ich fliege morgen zweimal nach Holland. Wenn alles klappt, müßte ich sie am Mittwoch treffen. Ich sag ihnen Bescheid und rufe Sie dann an. Wenn sie nach Cheltenham kommen, sehen Sie sich ja sowieso, wenn nicht, können Sie sie anrufen. Einverstanden?« »Ausgezeichnet. Ich bin im ›Queens Hotel‹ in Cheltenham.« »Gut … und übrigens, ich sehe, daß ich am Freitag Pferde nach Mailand transportieren muß. Sind Sie das?« »Das sind wir«, erwiderte ich. »Jedenfalls die kärglichen Überreste.« Wir legten auf, und ich lehnte mich in Simons Sessel zurück, biß mir nachdenklich auf den Fingerknöchel und betrachtete die Gegenstände auf seinem Schreibtisch: Telefon, Bleistiftschale, Notizblock und eine Schachtel voll Büroklammern und Stecknadeln. Nichts Brauchbares. Ich begann langsam und methodisch, die Schubladen zu durchsuchen. Wie erwartet, waren sie mit Formularen aller Art vollgestopft, aber er hatte kaum persönliche Dinge mit an seinen Arbeitsplatz gebracht. Ein paar Verdauungstabletten, ein Schraubenzieher, grüne Socken und eine Schachtel mit der Aufschrift ›Zweitschlüssel‹. Keine Briefe, keine Rechnungen, keine privaten Unterlagen. Ich öffnete den Schlüsselkasten. Es waren an die zwanzig Stück darin, der Schwemmsand von Jahren: Kofferschlüssel, ein schwerer, alter eiserner Schlüssel, Wagenschlüssel. Ich rührte sie mit dem Finger durch. Ein Sicherheitsschlüssel. Ich nahm ihn heraus und sah ihn mir an. Es war ein Duplikat, ohne Nummer. Das Metall war nachgedunkelt, aber der Schlüssel schien nicht in Gebrauch gewesen zu sein. Ich drehte ihn nachdenklich in den Fingern und dachte, daß ein Versuch ja nichts schaden konnte. 148
9 Simons Wohnung – die Anschrift hatte ich von der Sekretärin bekommen – befand sich in einem alten Haus in den Außenbezirken von St. Johns Wood. Das Gras auf dem unregelmäßigen Rasen war schätzungsweise seit dem letzten August nicht mehr gemäht worden, und so sah das reizlose Gebäude irgendwie aus, als habe man es gedankenlos auf einer Heuwiese abgestellt. Ich ging durch fleckige Glastüren, stieg eine nicht gerade einladende Treppe hinauf, traf niemanden und blieb schließlich vor der Nummer fünfzehn stehen, die in weißem Plastik auf das billige, grün angestrichene Holz geschraubt war. Der Sicherheitsschlüssel glitt knirschend ins Schloß, als sei er dort noch nie gewesen, gehorchte jedoch meinem Druck, drehte sich und öffnete die Tür. An der Innenseite der Tür lag ein hoher Stapel von Zeitungen und Zeitschriften. Als ich die Tür öffnete, kippte der Stoß. Ich ließ die Zeitungen liegen und machte die Tür hinter mir zu. Die Wohnung bestand aus einer winzigen Diele, einem kleinen Schlafzimmer, aus Küche, Bad, beide ebenfalls winzig, und einem etwas größeren Wohnzimmer. Das Mobiliar schien vom Trödler zu stammen, und die vorherrschende Farbe war Dunkelbraun, die ich deprimierend fand. Der Gesamteindruck hätte harmonisch sein können, war es aber nicht, weniger aus Mangel an Geschmack als aus Mangel an Phantasie. Simon hatte an seine Umgebung so wenig Mühe wie möglich verwandt, und so sah es auch aus, trostlos. Die Luft war kalt und abgestanden, und es roch muffig. Auf dem Abtropfbrett in der Küche standen unabgewaschene, schimmelüberzogene Teller, und das Bett im Schlafzimmer war zerwühlt. Er hatte sein Rasierwasser im Waschbecken stehen lassen, und der Schaum 149
war am Rand zu einer harten, grauen Kruste getrocknet. Armer Simon, dachte ich unglücklich, was für eine Existenz. Keine Frau, keine Wärme. Man brauchte sich nicht zu wundern, daß er lieber in der Wirtschaft gesessen hatte. Im Wohnzimmer zogen sich an einer Wand Bücherregale hin, und der neueste, unübersehbar luxuriöseste Gegenstand war eine große Stereoanlage hinter der Tür. Kein Fernseher, keine Bilder an den trüben Kaffeewänden. Simon war offensichtlich kein Augenmensch. Neben einem großen, ramponierten Sessel stand in Reichweite ein hölzerner Bierkasten. Beim Rundgang durch die Wohnung wurde mir klar, was für ein schlechtes Licht die Tatsache auf mich warf, daß ich noch nie hier gewesen war. Diesen großen, toleranten, unehrlichen Mann hätte ich als meinen einzigen echten Freund bezeichnet, und ich war noch nie in seiner Wohnung gewesen. Ich war nicht gebeten worden, ich hatte nie daran gedacht, ihn nach Hause mitzunehmen. Selbst dort, wo ich Freundschaft gewünscht hatte, war ich nicht fähig gewesen, sie mir zu erwerben. Ich fühlte mich innerlich so kalt wie Simons Wohnung, so unbewohnt. Gabriella schien sehr weit weg zu sein. Ich holte die Zeitungen aus der Diele und trug sie ins Wohnzimmer. Sortiert ergaben sie sechzehn Tages- und drei Sonntagszeitungen, dreimal ›Pferd und Hund‹, dreimal ›Sport der Woche‹ und einmal ›Gestüt und Rennstall‹. Ein paar Briefe in braunen offenen Umschlägen versprachen wenig, nach kurzem Zögern öffnete ich alle anderen Briefe auch. Keiner stammte aus Frankreich, keiner von dem ominösen Vetter. Der einzig nützliche war auf hellblauem Papier geschrieben, mit zittriger Hand. Er begann: ›Lieber Simon‹, sprach Dank für das Geburtstagsgeschenk aus und war gezeichnet mit ›Deine Tante Edna‹. Der handschriftliche Absender lautete: ›3 Gordon Cottages, East Road, Potter’s Green, Berkshire.‹ Ohne Telefonnummer. Einen Schreibtisch gab es in seiner Wohnung nicht. Rechnungen und Papiere hatte er in der obersten Schub150
lade einer alten Kommode untergebracht. Es konnte sein, daß der Name seines Vetters darunter war, aber ich kannte ihn ja nicht. Neben den Unterlagen befand sich ein Exemplar von ›Pferd und Hund‹, fest zusammengerollt und mit Banderole versehen. Die Adresse fehlte noch. Ich klappte mein Taschenmesser auf und schnitt das Papier auseinander. Ich schüttelte die Zeitschrift, aber ohne Erfolg. Erst als ich sie Seite für Seite umblätterte, entdeckte ich das Geld, Fünfpfundnoten, mit schmalen Klebstreifen an die Seiten geheftet. Es waren gebrauchte Banknoten, sechzig Stück im ganzen. Ich rollte die Zeitschrift wieder zusammen und legte sie in die Schublade zurück. Als ich das Papier in den Papierkorb warf, sah ich Simon vor mir, wie er vor seinem Radio saß und das Geld in die Zeitschriften klebte. Nacht für Nacht, mühsame Arbeit, um sich fürs Alter etwas zurückzulegen. Potter’s Green erwies sich als großer Marktflecken, an dessen Rändern sich die Neubaugebiete wie Tentakel vorstreckten. Die East Road war neu, und Gordon Cottages gehörte zu einer Vielzahl von staatlich errichteten Bungalows für alte Leute. Nummer 3 war wie alle anderen auch sauber und frisch. In dem kleinen Blumenbeet unter dem Fenster wuchs noch nichts. Das leuchtende Gelb des Anstrichs biß sich mit dem blassen Rosa der Vorhänge. Auf der Türschwelle stand eine Flasche Milch. Ich läutete. Die Vorhänge zitterten, und ich sah mich von zwei traurigen Augen in einem großen, blassen Gesicht beobachtet. Eine Hand wollte mich fortscheuchen, aber ich drückte wieder auf die Klingel. Ich hörte, wie sie zur Tür kam. »Geh’n Sie weg«, sagte sie. »Ich will nichts.« »Ich verkaufe auch nichts«, sagte ich durch den Briefkastenschlitz. »Ich bin mit Simon befreundet, mit Ihrem Neffen Simon Searle.« »Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht.« 151
»Henry Grey … ich arbeite mit Simon zusammen bei Yardman. Kann ich bitte mit Ihnen im Haus sprechen? So läßt sich das kaum machen, und Ihre Nachbarn würden nur die Köpfe schütteln.« Das wirkte, zumal in den Nachbarhäusern bereits die ersten Köpfe an den Fenstern auftauchten. Sie öffnete die Tür und winkte mir, hereinzukommen. Das winzige Haus war vollgestopft mit Möbeln, die sie aus einem viel größeren Haus mitgebracht haben mußte, und jede verfügbare Fläche war mit nutzlosem, billigstem Nippes vollgestellt. Gleich neben mir an der Tür stand ein schwarzer Kasten, auf dem ›Ein Andenken aus Brighton‹ in Muscheln ausgelegt war. Daneben trug ein Porzellanesel Tragkörbe voller getrockneter Blumen. Bilder aller Art bedeckten die Wände, und dazwischen hingen eine Reihe von Sprichwörtern in Brandmalerei. ›Spare in der Zeit, so hast du in der Not‹ fiel mir auf und ›Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.‹ Simons leibesmächtige Tante trug ein knarrendes Korsett, atmete schwer und roch nach Hustenbonbons. »Simon ist nicht da. Er wohnt in London.« »Ich weiß, ja.« Zögernd erzählte ich ihr von Simons Verschwinden. »Ich wollte mich nur erkundigen, ob er Ihnen vielleicht geschrieben oder eine Ansichtskarte geschickt hat.« »Das macht er bestimmt noch.« Sie nickte ein paarmal. »Er bringt mir auch immer kleine Geschenke mit. Simon ist sehr aufmerksam.« »Aber Sie haben noch keine Karte bekommen?« »Bis jetzt noch nicht. Sie wird aber bald da sein.« »Wären Sie dann so freundlich, mir Bescheid zu sagen? Er hat nämlich nicht erwähnt, wann er zurückkommt, und Mr. Yardman will seine Stelle ausschreiben.« 152
»O Gott.« Sie war entsetzt. »Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen.« »Das glaube ich nicht. Aber würden Sie uns bitte verständigen, wenn Sie etwas von ihm hören.« »Ja, ja, selbstverständlich. Was wird er nur wieder anstellen?« Ihre Wortwahl erinnerte mich an das, was er tatsächlich trieb, und ich fragte sie, ob sie den Namen und die Anschrift von Simons Vetter kannte. Sie sagte sie mir sofort, ohne nachzudenken. »Das ist der Sohn meiner toten Schwester«, sagte sie. »Ein recht mürrischer Mann. Ich komme nicht gut mit ihm aus. Simon ist da ganz anders. Er vergißt nie meinen Geburtstag und bringt mir immer kleine Geschenke.« Stolz wies sie auf ihren überquellenden Besitz. »Simon ist sehr gut zu mir. Ich habe ja nur meine Rente, wissen Sie, und noch ein bißchen Erspartes, und Simon ist der einzige, der sich um mich kümmert. Ich habe zwar zwei Töchter, aber die eine ist in Kanada verheiratet, und die andere hat selbst Sorgen genug. Ob Sie’s glauben oder nicht, Simon hat mir in den letzten drei Jahren zum Geburtstag jedesmal hundert Pfund geschenkt.« »Das ist wirklich großartig.« Hundert Pfund aus der Tasche des Steuerzahlers. Wie bei Robin Hood. Na ja. »Sie geben mir also Nachricht«, sagte ich, mich zum Gehen wendend. Nickend und knarrend umrundete sie mich, um mir die Haustür zu öffnen. Mir gegenüber in der Diele hing noch mehr altersdunkle Brandmalerei. »Hebst du eine Nadel auf, glücklich ist dein Tageslauf. Läßt du eine Nadel liegen, wird der Hunger bald obsiegen!« Da also kommt Simons Angewohnheit her, dachte ich, innerlich lächelnd. Ein Sprichwort aus seiner Kinderzeit. Er wollte 153
offensichtlich nicht, daß bei ihm der Hunger obsiegte. Der Vetter besaß eine Farm in Essex. Der Flughafen Cambridge lag günstig, nicht aber Gatwick. Es war von Anfang an zu sehen, daß ich von ihm keine Unterstützung erwarten durfte. »Sie sind der Wichtigtuer, der uns alles verpfuscht hat, was?«, schimpfte er. »Sehen Sie bloß zu, daß Sie weiterkommen. Wo Simon ist, geht Sie gar nichts an. In Zukunft kümmern Sie sich nicht um jeden Dreck, der Sie nichts angeht.« »Wenn Sie möchten, daß ich die Polizei einschalte, kann ich das gerne tun«, erwiderte ich gelassen. Er schien explodieren zu wollen, ein großer Mann mit rotem Gesicht, Khakihose, kariertem Hemd, großen Gummistiefeln, der bullig auf seinem matschigen Hof stand. Es gelang ihm nur mit Mühe, sich zu beherrschen, aber die Klugheit obsiegte. »Na, schön, na schön. Ich weiß nicht, wo er ist. Das können Sie mir glauben, mir hat er nichts gesagt. Ich weiß auch nicht, wann er zurückkommt.« Deprimiert fuhr ich zurück nach Bedfordshire. Das Schloß lag in seiner ganzen Größe und Pracht vor mir, als ich gemächlich die lange Auffahrt hinauffuhr. Steingewordene Geschichte. Die Seele der Creggans. Ein Graf nach dem anderen hatte hier gelebt, angefangen bei jenem Piraten, der Königin Elisabeth spanisches Gold gebracht hatte, und seit dem Tode meines Vaters brauchte ich nur das Haus zu betreten, um mich augenblicklich als Gefangener jener Tradition zu fühlen. Ich hielt auf der kiesbestreuten Fläche vor dem Eingang, statt wie sonst um das Gebäude herum zu den Garagen zu fahren, und betrachtete, was ich geerbt hatte. Man konnte der großen Fassade mit ihren Säulen und Ziergiebeln und den beiden breiten Treppen, die sich oben an der Eingangstür trafen, die Schönheit nicht absprechen. Dem georgianischen Architekten, der dem ursprünglich elisabethanischen Schloß ein völlig neues palladianisches Gewand übergestülpt hatte, 154
war ein merkwürdig befriedigendes Resultat gelungen. Und da einer der viktorianischen Vorfahren seinen Drang zur NeoGotik glücklicherweise auf eine inzwischen verfallene Spinnerei im Park beschränkt hatte, bestand die einzige nachträgliche Hinzufügung in einem quadratischen Block aus roten Ziegelsteinen, in dem man zur Zeit Eduards VII. die sanitären Anlagen untergebracht hatte. Aber ungeachtet all seiner äußeren Pracht saß der Holzwurm im Dachgebälk, lagen die Küchen im Kellergeschoß, und an den kilometerlangen, zugigen Korridoren verrotteten zwanzig Schlafzimmer zu Staub. Heutzutage konnte nur noch ein Multimillionär ein solches Haus mit Angestellten und Gästen füllen. Ich dagegen würde mir nach Abzug der Erbschaftssteuer kaum noch eine Kiste Champagner leisten können, wenn dieser ebenso nutzlose wie gefräßige Steinhaufen erst einmal verschlungen hatte, was es kostete, ihn nicht umfallen zu lassen. Eine Möglichkeit wäre gewesen, ihn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenn ich das dafür nötige Show-Talent besessen hätte. Aber für einen Einzelgänger wie mich würde das eine lebenslange Verstellung bedeuten, ein entsetzlicher Gedanke. Der Sklave eines Gebäudes. Ein weiteres Menschenopfer auf dem Altar der Tradition. Ich konnte die Vorstellung einfach nicht ertragen. Da es unwahrscheinlich war, daß man mich das Ding einfach abreißen ließ, war der National Trust die einzige Hoffnung. Die mochten dann das Schloß besichtigen lassen, soviel sie wollten, und vielleicht konnte Mutter ja bis zu ihrem Lebensende dort wohnen bleiben, was sehr wichtig für sie war. Meine Mutter benutzte normalerweise den Vordereingang, während Alice und ich weiterfuhren und das Haus durch einen der Seiteneingänge in der Nähe der Garagen betraten. An diesem Spätnachmittag ließ ich jedoch mein kleines Auto auf dem Kies stehen und ging langsam die flachen Stufen hinauf. Oben angekommen, lehnte ich mich gegen die Balustrade und 155
schaute über die stillen, weiten Felder und die kahlen Bäume, an denen gerade die Knospen zu schwellen begannen. Das gehört mir alles gar nicht, dachte ich, nicht wirklich. Es war wie der Stab bei einem Staffellauf, der von einem zum anderen weitergegeben wird und der niemandem länger als für eine Runde gehört. Schön, aber ich würde ihn nicht weitergeben. Ich war der letzte Läufer. Ich würde plötzlich ausscheren und den Stab weggeben. Mein Sohn, falls ich jemals einen haben sollte, würde sich wohl oder übel damit abfinden müssen. Ich stieß die schwere Eingangstür auf und betrat das dämmrige Haus. Ich, Henry Grey, Abkömmling eines Piraten, Nachkomme von Kriegern und Forschern und Erbauern des Empire und Sohn eines Vaters, der für Tapferkeit an der Somme dekoriert worden war, ich, der letzte von ihnen, würde unter ihre Lebensweise ein für allemal den Schlußstrich ziehen. Es gab mir einen schmerzlichen Stich, um ihretwillen, das war alles. Wenn sie irgend etwas von sich selbst an mich weiterzugeben hatten, dann trug ich es schon in meinen Genen. Ihr Erbe pulsierte in meinen Adern, und ich brauchte ihr Haus nicht. In Cheltenham erschienen nicht nur John Kyle und sein Bordingenieur, sondern auch Patrick. »Ich bin noch nie hier gewesen«, sagte er. Seine hellen Augen und das kastanienbraune Haar schimmerten in der Märzensonne. »Die beiden da sind Süchtige. Ich bin nur zum Spaß mitgekommen.« »Freut mich sehr«, sagte ich, während ich den anderen beiden die Hände schüttelte. John Kyle war ein stämmiger, ramponiert aussehender junger Mann mit beginnender Stirnglatze. Sein Bordingenieur, groß und etwas älter, hatte Rennzeitungen und einen Wettschein unter dem Arm. »Ich sehe«, sagte er, nachdem er einen Blick darauf geworfen 156
hatte, »daß Sie gestern den United Hunts Challenge Cup gewonnen haben. Gut gemacht.« »Danke«, erwiderte ich. »War bißchen Glück dabei; ich hätte nicht gewonnen, wenn ›Century‹ nicht am letzten Hindernis gestürzt wäre.« »Das steht auch in der Zeitung«, gab er mit entwaffnender Unschuld zurück. Patrick lachte: »In welchem Rennen reiten Sie heute?« »Im Gold Cup und im Mildmay of Flete Challenge Cup.« »›Clobber‹ und ›Boathook‹«, sagte John Kyle sofort. »Ich werde auf Sie setzen«, sagte Patrick. »Auf ›Clobber‹ lohnt es sich gar nicht«, erklärte der Bordingenieur ernsthaft. »Herzlichen Dank«, sagte ich ironisch. »Sehr unterschiedliche Form«, ergänzte er. »Glauben Sie an eine Chance?« »Nein, eigentlich nicht. Ich hab ihn noch nie geritten. Normalerweise sitzt der Sohn des Eigentümers im Sattel, aber er hat Gelbsucht.« »Eine Wette lohnt sich nicht«, sagte der Bordingenieur. »Sie können einem ja jeden Mut nehmen«, wandte Kyle ein. »Und ›Boathook‹?«, fragte ich lächelnd. Der Bordingenieur befragte den Himmel. Das Ergebnis war dort nicht zu lesen, soweit ich das erkennen konnte. »›Boathook‹«, sagte er schließlich, »könnte es vielleicht schaffen, eine Plazierung zu erreichen.« »Ich setze trotzdem auf beide«, meinte Patrick entschieden. Ich führte sie alle zum Essen und leistete ihnen Gesellschaft. »Essen Sie nichts?«, fragte Patrick. »Nein. Wenn man stürzt, wird einem schlecht.« 157
»Wie oft stürzen Sie denn?«, fragte Kyle neugierig und säbelte an seinem kalten Roastbeef herum. »Im Durchschnitt einmal alle zwölf Rennen. Das ist verschieden. Ich habe nie richtig mitgezählt.« »Wann war der letzte Sturz?« »Vorgestern.« »Stört Sie das nicht?«, fragte Patrick. »Die Aussicht auf einen Sturz?« »Nein, eigentlich nicht. Man glaubt ja zunächst nicht daran. Und die meisten Stürze sind harmlos. Man trägt höchstens einen Bluterguß davon. Manchmal, wenn man unter das Pferd zu liegen kommt, wird es sehr gefährlich.« »Und manchmal bricht man sich die Knochen«, sagte Kyle trocken. Ich schüttelte den Kopf. »Nicht oft.« Patrick lachte. Ich reichte ihm die Butter, schaute auf die Uhr und sagte: »Ich muß mich bald umziehen. Könnten wir über den Tag sprechen, an dem Sie Simon Searle nach Mailand geflogen haben?« »Nur zu«, sagte Kyle. »Was wollen Sie wissen?« »Möglichst alles, vom Start bis nach der Landung, soweit Sie sich erinnern können.« »Da werde ich Ihnen nicht viel helfen können«, sagte er entschuldigend. »Ich war die meiste Zeit im Cockpit und habe kaum mit ihm gesprochen. Einmal mußte ich auf die Toilette, da saß er in einem der drei Sitzpaare, die hinten angeschraubt waren.« Ich nickte. Ich hatte die Sitze selbst angebracht, nachdem alle Pferde verladen worden waren. Normalerweise blieb Platz 158
dafür, und es saß sich dort besser als auf Heuballen. »War er allein?« »Nein, ein junger Mann saß neben ihm. Ihr Freund Searle hockte am Fenster, das weiß ich noch, denn der junge Bursche hatte die Beine in den Mittelgang hinausgestreckt, und ich mußte drübersteigen. Er rührte sich überhaupt nicht.« »Billy«, sagte ich nickend. »Als ich herauskam, fragte ich, ob alles in Ordnung sei, und meinte, wir würden in einer halben Stunde landen. Der Junge sagte: ›Danke, Paps‹, als langweile er sich zu Tode. Ich mußte wieder über seine Beine steigen. Er war mir nicht maßlos sympathisch.« »Das wundert mich«, sagte ich sarkastisch. »Hat Simon etwas gesagt?« Er zögerte. »Das ist drei Wochen her, ich weiß es wirklich nicht mehr genau, aber ich glaube nicht. Jedenfalls nichts Besonderes.« Ich wandte mich an den Bordingenieur. »Und wie ist es bei Ihnen?« Er kaute, schüttelte den Kopf, schluckte und trank einen Schluck Bier. »Glaube nicht, daß ich mehr weiß. Ich habe mich anfangs ziemlich viel mit ihm unterhalten. In der Kombüse. Er sagte, er sei im letzten Augenblick an Ihrer Stelle gekommen. Er sprach ziemlich viel von Ihnen.« Der Bordingenieur führte die Gabel zum Mund und redete ohne Verlegenheit weiter. »Er sagte, Sie seien Eis auf einem Vulkan. Ich erwiderte, das ergäbe keinen Sinn, und er meinte, anders ließen Sie sich nicht beschreiben.« Ohne von seinem Teller aufzusehen, murmelte Patrick: »Das 159
trifft die Sache haargenau.« »Das nützt mir gar nichts«, sagte ich, ohne ihn zu beachten. »Hat er nicht erwähnt, wohin er wollte oder was er in Mailand beabsichtigte?« Der Ingenieur schüttelte den Kopf. »Er wollte am Nachmittag mit uns zurück, davon bin ich überzeugt.« »Wir sind allerdings nicht sofort zurückgeflogen«, ergänzte Kyle sachlich. »Nein?«, fragte ich überrascht. »Das wußte ich nicht.« »Es war vorgesehen. Die Pferde wurden eingeladen, dann entdeckte man plötzlich, daß für eines der ersten Pferde keine Papiere vorhanden waren. Sie mußten alles wieder ausladen, und es ging sehr langsam, weil sie nur zu zweit waren. Ich sagte schließlich, es hätte gar keinen Zweck, mit dem Einladen wieder anzufangen, weil ich nicht mehr fliegen dürfte.« »Sie hätten doch die Papiere überprüfen müssen, bevor die Verladung begann«, sagte ich. »Tja, das mag schon sein.« »Nur zu zweit«, sagte ich stirnrunzelnd. »Stimmt. Der Junge – Billy, sagten Sie? – und noch einer. Nicht Ihr Freund Simon. Ein schwerhöriger alter Mann.« »Alf«, sagte ich. »Das war Alf. Und die beiden anderen? Es waren doch noch zwei Pfleger von den Gestüten dabei.« »Soweit ich den alten Mann verstanden habe, sollten sie die Pferde zu ihrem Zielort begleiten, irgendwo im Süden.« Ich dachte nach. Simon hatte offenbar überhaupt nicht vorgehabt, wieder zurückzukommen, und es war nicht die unerwartete Übernachtung gewesen, die ihn auf die Idee gebracht hatte. »Sie konnten nicht sehen, wohin Simon ging, als Sie in 160
Mailand ankamen?«, sagte ich ohne große Hoffnung. Sie schüttelten beide den Kopf. »Wir sind vor ihm ausgestiegen«, erwiderte Kyle. Ich nickte. Die Besatzung brauchte sich weder mit dem Zoll noch mit dem Ausladen zu beschäftigen. »Na schön … das war’s. Vielen Dank dafür, daß Sie gekommen sind. Vor allem danke ich Ihnen«, sagte ich zu dem Bordingenieur, »weil Sie dem Mädchen am Verkaufsstand die Flasche mit den Pillen gebracht haben.« »Pillen? Ah ja, ich erinnere mich.«Er war überrascht. »Wieso wissen Sie davon?« »Sie erzählte mir, daß ein Besatzungsmitglied die Flasche brachte.« »Ich habe sie in der Maschine gefunden. Sie stand auf dem Waschbecken in der Toilette. Ich dachte, am besten gibst du ihr sie gleich, weil ich sowieso hinüber mußte. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie sie dahingekommen war, aber ihr Name stand drauf.« »Simon sollte sie in meinem Namen überbringen«, erklärte ich. »Ah, ich verstehe.« Patrick fragte grinsend: »Waren das …?« »Ja, genau.« »Dann ist er also überhaupt nicht zum Flughafengebäude gegangen«, sagte Patrick. »Er ließ die Pillen an Bord, in der Hoffnung, Gabriella würde sie schon bekommen, und verschwand von dort aus.« »Es hat den Anschein«, gab ich bedrückt zu. »Man kann natürlich auf dieser Seite den Flugplatz leicht verlassen. Wiesen und Gebüsch, sonst nichts, und wenn man von der Stelle aus, wo die Pferdetransportwagen immer stehen, 161
einfach schräg über den Platz geht, ist man im Nu draußen. Das erklärt wohl, warum ihn niemand gesehen hat.« »Ja«, sagte ich seufzend nach einer Weile. »So muß er es wohl gemacht haben.« »Aber das erklärt immer noch nicht, warum«, meinte Patrick leise. Es blieb kurze Zeit still. »Er hatte – Probleme«, sagte ich schließlich. »War er in Schwierigkeiten?«, fragte Kyle. »Ja. Vielleicht hing es mit einer Sache zusammen, auf die ich gestoßen war. Ich möchte ihn finden und ihm sagen, daß er nichts zu befürchten brauche.« »Sie meinen, Ihr Gewissen läßt Sie nicht in Ruhe«, meinte Patrick. »So ungefähr.« Sie nickten, weil sie endlich begriffen hatten, warum ich mich für Simons Schicksal so interessierte. Der Kellner brachte Käse und fragte, ob sie Kaffee wollten. Ich stand auf. »Wir sehen uns noch«, sagte ich. »Wie wär’s nach dem fünften Rennen vor dem Wiegeraum, wenn ich mich umgezogen habe?« »Klar«, sagte Patrick. Ich ging zum Umkleideraum und legte Mr. Thackerys rotblauen Renndreß an. Ich war noch nie im Gold Cup geritten, und obwohl ich insgeheim mit der Einschätzung des Bordingenieurs übereinstimmte, war es doch besonders aufregend, im besten Rennen dieser Klasse anzutreten. Meine menschlichen Gegner waren alle ausgesuchte Profis, alle Gegner ›Clobbers‹ schienen ihm überlegen zu sein, aber trotzdem trocknete meine Kehle aus, trotzdem begann mein Herz zu hämmern. 162
Ich argwöhnte, daß Mr. Thackery ›Clobber‹ mehr um des Prestiges eines Gold-Cup-Starters wegen gemeldet hatte, als aus der Hoffnung heraus, das Rennen gewinnen zu können. Sein Verhalten im Führring bewies das auch. Er genoß seine Rolle sichtlich und war unberührt von der Erregung, die alle anderen angesteckt hatte. »Julian schickt beste Grüße«, sagte er strahlend und schüttelte mir kräftig die Hand. »Er verfolgt das Rennen im Fernsehen.« Fernsehen. Es bestand immer die vage Möglichkeit, daß eine der Personen, die ich in Fenland kennengelernt hatte, vor dem Fernsehapparat saß, aber soviel ich wußte, interessierte sich dort niemand für Pferderennen. Trotzdem drehte ich den Kameras den Rücken zu. »Blamieren Sie mich bloß nicht«, sagte Mr. Thackery strahlend. »Nur blamieren sollen Sie mich nicht, das ist alles, was ich von Ihnen verlange.« »Sie hätten sich einen Berufsjockey holen können«, meinte ich. »Oh – äh – natürlich. Aber offen gestanden ist das für mich noch kein Schaden gewesen, wenn die Leute wissen, daß Sie meine Pferde reiten.« »Dann sind wir ja beide zufrieden«, erwiderte ich trocken. »Jawohl, das stimmt«, sagte Mr. Thackery. Ich bestieg sein Pferd und ritt zum Start. ›Clobber‹, ein achtjähriger Kastanienbrauner, hatte erst einmal gegen gute Konkurrenz gewonnen, und das nur wegen seines niedrigen Handicaps, aber er war in bester Form und tänzelte vor Hochgefühl. Wie so viele Pferde reagierte er mit Freude auf Frühlingsluft und Sonne auf seinem Rücken, und auch ich faßte, von ihm angesteckt, neuen Mut. Es würde vielleicht doch kein Fiasko geben. 163
Wir reihten uns auf, die Bänder zuckten hoch, und ›Clobber‹ raste wie ein D-Zug auf das erste Hindernis zu. Da er nicht die geringste Siegchance hatte, wollte ich Mr. Thackery doch ein paar Augenblicke im Rampenlicht gönnen und gab ›Clobber‹ freie Bahn. Er übernahm die Spitze, fand seinen Rhythmus, und wir blieben zweieinhalb von den dreieinviertel Meilen die Ersten des Feldes. ›Clobber‹ hatte noch nie das Feld angeführt, wie aus den Unterlagen zu ersehen war, aber offenbar gefiel ihm das. Seine Formschwankungen rührten wohl daher, daß man ihn oft zurückgehalten hatte. Solchermaßen frustriert, hatte er dann das Interesse verloren und einfach nicht mehr mitgespielt. Die anderen kamen beim vorletzten Hindernis schnell heran, am letzten überholten uns drei, aber ›Clobber‹ kam gut darüber und stürmte gut gelaunt die Steigung hinauf. Immerhin wurde er noch Vierter bei acht Pferden, bei denen ein paar recht ordentliche hinter uns geblieben waren. Ich freute mich selbst über das Ergebnis, wie mir das ganze Rennen überhaupt Spaß gemacht hatte, und Mr. Thackery ging es genauso. »Donnerwetter«, sagte er, übers ganze Gesicht strahlend, »so gut war er noch nie.« »Es machte ihm Spaß, ganz vorne zu sein.« »Sieht so aus. Bis jetzt haben wir das noch nie probiert.« Ein Schwarm von weiblichen Verehrerinnen umringte uns, und ich flüchtete in den Wiegeraum, um mich für das nächste Rennen umzuziehen. Diesmal trug ich den Renndreß von Old Strawberry Leaves, der säuerlich erklärt hatte, es sei schändlich von mir, drei Wochen nach dem Tod meines Vaters in aller Öffentlichkeit Rennen zu bestreiten, aber zum Glück hatte er mir sein Pferd nicht weggenommen. In Wirklichkeit bezahlte er nicht gerne Profis, wenn er die Söhne seiner Freunde und Bekannten umsonst bekommen konnte. ›Boathook‹ war sein bestes Pferd, und für das Vergnügen, mit ihm zu gewinnen, 164
konnte ich mich mit den Beleidigungen abfinden, die mir zuteil wurden, wenn ich auf den anderen nichts erreichte. An diesem Tag war jedoch ein Pferd aus Irland dabei, das ihm überlegen war, und ich wurde um eine halbe Länge geschlagen. Die Beschimpfungen blieben nicht aus. Kein guter Verlierer, der Mann. Alles in allem ist Cheltenham für mich ein Erfolg gewesen, dachte ich, als ich wieder in den Straßenanzug schlüpfte: einmal Sieger, einmal Zweiter, einmal ferner liefen, ein harmloser Sturz, Vierter beim Gold Cup. Das würde sich schwerlich überbieten lassen. Patrick und die beiden anderen erwarteten mich draußen. Wir verfolgten gemeinsam das letzte Rennen, dann fuhr ich sie zum Bahnhof, damit sie den letzten Zug nach London erreichten. Alle hatten durch die Tips des Bordingenieurs ein schönes Stück Geld verdient und waren begeistert. »Ich verstehe, warum Ihnen das Spaß macht«, sagte Patrick unterwegs. »Ein herrlicher Sport. Ich komme bestimmt wieder.« »Fein«, sagte ich, als ich vor dem Bahnhof hielt, um sie aussteigen zu lassen. »Wir sehen uns also morgen.« Er grinste. »Erste Haltestelle Mailand.« »Für uns wieder Arabien«, meinte Kyle resigniert und schloß die Tür. Sie winkten und betraten das Bahnhofsgebäude. Ein alter Mann schlurfte langsam vor meinem Auto über die Straße, und während ich wartete, hörte ich die Stimme des Bordingenieurs laut und deutlich. »Komisch«, sagte er, »man vergißt ganz, daß er ein Lord ist.« Ich drehte verblüfft den Kopf. Patrick blickte über die Schulter zurück, bemerkte, daß ich es 165
noch gehört hatte, und lachte auf. Ich grinste ironisch und fuhr davon, wobei ich mir dachte, daß ich Menschen wie ihn vorzog, die es mich auch vergessen ließen.
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10 Ohne Luft brennt kein Feuer. Entzieht man ihm in einem umschlossenen Raum die Sauerstoffzufuhr, dann erstickt es. Der Stand der Dinge war mit einem Schwelbrand in einem Zimmer zu vergleichen, das völlig abgedichtet worden war, damit es in Ruhe auskühlen konnte. Hätte ich nicht versucht, Simon zu finden, wäre wohl kaum viel geschehen. Als ich aber schließlich seine Spur fand, war das, als hätte ich die Tür weit aufgerissen. Frische Luft strömte herein, und das Ganze ging in Flammen auf. Am Freitag, dem Tag nach dem Gold Cup, herrschte immer noch schönes Wetter. Die Wetterberichte im Büro der Chartergesellschaften verhießen wolkenlosen Himmel über ganz Europa und ein beständiges Hochdruckgebiet über Frankreich. Mit einer Änderung in den nächsten vierundzwanzig Stunden wurde nicht gerechnet. Jemand klopfte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah, daß Patrick über meine Schulter mitlas. »Da gibt es wenigstens keine Probleme«, meinte er zufrieden. »Glatte Sache.« »Wir haben wieder die alte DC4, wie ich sehe«, sagte ich und schaute zum Fenster hinaus aufs Rollfeld, wo das Flugzeug stand. »Verläßliches, altes Ding.« »Aber reichlich unbequem.« Patrick grinste. »Als nächstes werden Sie noch einer Gewerkschaft beitreten.« »Arbeiter vereinigt euch«, pflichtete ich ihm bei. Er sah mich von oben bis unten an. »Schöner Arbeiter. Sie erinnern mich an Fanny Cradock.« »An wen?«, fragte ich. 167
»Die Frau im Fernsehen, die im Abendkleid kocht, ohne sich schmutzig zu machen.« »Ach so.« Ich sah an meinem anthrazitgrauen Anzug hinunter, warf einen Blick auf meine schwarze Krawatte und die ein wenig hervorstehenden weißen Manschetten. In meiner Reisetasche, die ich bei mir trug, befand sich der Rollkragenpullover für die Arbeit und ein Kleiderbügel für mein Jackett. Ordnungsliebe ließ sich nicht so leicht abschütteln, selbst wenn sie einmal fehl am Platze war. »Sie sind auch kein Gammler«, meinte ich abwehrend. Er trug seine blaue Uniform mit dem goldenen Streifen wie ein General, und sein gutaussehendes, gutmütiges Gesicht strahlte Zuversicht aus. Eine ideale Beruhigung für nervöse Passagiere, dachte ich. Eine angeborene Überzeugung, daß man sich nur an die Regeln zu halten brauchte, damit alles in Ordnung ging. Verhängnisvoll. »Acht hin, acht her heute?«, fragte er. »Acht hin, vier zurück. Alles Zuchtstuten.« »Kurz vor dem Fohlen?« »Hoffen wir, nicht zu kurz.« »Allerdings.« Er grinste und trat zu einem Angestellten, um seinen Flugplan mit ihm zu besprechen. »Soll ich eine Übernachtung in Mailand arrangieren?«, erkundigte er sich über die Schulter. »Das sollen Sie.« »Sie könnten es doch selber machen.« »Wie denn?« »Verladen Sie die ganzen Pferde, dann verlieren Sie die Dokumente für eins in der vorderen Box. Wie John Kyle 168
gesagt hat, bis sie dann aus- und wieder eingeladen sind, können wir nicht mehr starten.« Ich lachte. »Eine großartige Idee. Wird sofort in Angriff genommen.« »Das möchte ich einmal erleben.« Er lächelte. Die Tür wurde aufgestoßen, und Yardman kam herein, begleitet von einem eisigen Luftzug. »Alles fertig?«, fragte er, um uns mit seiner Wachsamkeit zu dieser frühen Stunde zu beeindrucken. »Die Pferde sind noch nicht da«, sagte ich ruhig. »Sie haben sich wieder einmal verspätet.« »Oh.« Er schloß die Tür hinter sich, stellte die Aktentasche ab und rieb sich die schmalen Hände, damit sie wieder warm wurden. »Sie waren für sechs Uhr bestellt.« Er runzelte die Stirn und sah Patrick an. »Sind Sie der Pilot?« »Ja.« »Wie wird der Flug?« »Harmlos«, sagte Patrick. »Das Wetter ist ideal.« Yardman nickte befriedigt. »Gut, gut.« Er zog einen Stuhl heran, setzte sich und öffnete seine Aktentasche. Er hatte alle Dokumente für die Zuchtstuten mitgebracht, und da er sie mit den Leuten der Fluggesellschaft anscheinend selbst durchgehen wollte, lehnte ich mich an die Wand und dachte über Gabriella nach. Trotz der frühen Stunde trat in der Büroarbeit keine Pause ein. Wie gewöhnlich lagen einige Männer des Flugpersonals da und schliefen fest, einer auf einem Campingbett unter dem Tresen, auf den sich Patrick gerade lehnte, ein anderer unter dem großen Tisch, an dem 169
Yardman saß, und ein dritter zu meiner Rechten oben auf einer Reihe von Schränken. Sie hatten sich von Kopf bis Fuß in Decken gewickelt und lagen so bewegungslos da, daß man sie anfänglich gar nicht bemerkte. Sie brachten es fertig, bei all dem Kommen und Gehen, Telefonieren und Schreibmaschinengeklapper tief und fest zu schlafen, und selbst als Yardman den unter dem Tisch versehentlich trat, rührte sich dieser nicht. Bald darauf rollte der erste Pferdetransportwagen am Fenster vorbei und hielt vor der wartenden Maschine. Ich richtete mich auf, verbannte Gabriella vorübergehend aus meinen Gedanken und berührte Yardman am Arm. »Sie sind da«, sagte ich. Er drehte den Kopf und sah zum Fenster hinaus. »Ah, ja. Hier, mein Lieber, das ist die Liste. Sie können die ersten sechs verladen, soweit wäre alles erledigt. Nur bei einem sind wir noch nicht fertig, da scheint mit der Versicherung etwas nicht in Ordnung zu sein …« Er kramte in seiner Aktentasche und zog weitere Unterlagen hervor. Ich nahm die Liste und marschierte zum Flugzeug. Ich hatte erwartet, daß Timmie und Conker mit einem Transportwagen eintreffen würden, da sie in der Nähe eines Gestütes lebten, das diesmal mehrere Pferde geschickt hatte, aber als ich näher kam, entdeckte ich, daß es wieder Billy und Alf waren. Yardman hatte sie mitgebracht. Sie saßen auf den übereinandergestapelten Boxenwänden in der Maschine und verzehrten belegte Brote. Bei ihnen hockte ein dritter Mann in Breeches und einem alten Tweedsakko, das ihm zu klein war. Er hatte eine grüne Mütze auf dem Kopf und sah mich nicht einmal an. »Die Pferde sind da«, sagte ich. Billy sah mich unverschämt an und schwieg. Ich beugte mich vor, berührte Alfs Knie und deutete zu dem ovalen Fenster hinaus. Er sah die Transportwagen, nickte gleichmütig und begann seine Brote einzupacken. 170
Ich marschierte wieder die Rampe hinunter, weil ich sehr gut wußte, daß Billy sich nicht rühren würde, solange ich dabeistand. Die Fahrer behaupteten, sie hätten wegen Straßenarbeiten einen Umweg machen müssen. Wahrscheinlich einen Umweg in ein Rasthaus. Zwei Pfleger, die mit den Stuten zum Flugplatz gefahren waren, halfen uns beim Verladen, wodurch es wesentlich schneller ging. Der Mann, der mit Billy und Alf eingetroffen war und John hieß, wirkte eher zerstreut als geschickt, aber trotzdem klappte alles schneller als sonst, wenn Billy dabei war. Das lag wohl daran, daß er Yardman in der Nähe wußte. Yardman brachte schließlich die restlichen Unterlagen, und wir konnten auch die letzten beiden Tiere an Bord bringen. Dann ging es wie immer zur Paßkontrolle im Flughafengebäude, wo ein gelangweilter Beamter unsere zerknitterten Pässe begutachtete, sie durchblätterte und zurückgab. Auf meinem Paß stand immer noch kein Titel, weil ich ihn so beantragt hatte. Ich wollte ihn auch so schnell nicht ändern lassen. »Vier Pfleger und Sie«, sagte er zu Yardman. »Sind das alle?« »Das sind alle.« Yardman unterdrückte ein Gähnen. Es bekam ihm nicht, so früh aufstehen zu müssen. Eine Gruppe von erschöpften Passagieren, die den billigeren Nachtflug gewählt hatten, schlurfte in einer unordentlichen Zweierreihe an uns vorbei. »Okay.« Der Paßkontrolleur warf den Touristen einen hochmütigen Blick zu und zog sich in sein Büro zurück. Nicht jeder war vor dem Frühstück guter Laune. Yardman ging mit mir gemeinsam zum Flugzeug zurück. »Ich habe mich mit unseren Geschäftspartnern zum Mittages171
sen verabredet«, meinte er. »Sie wissen, wie es da zugeht, mein Lieber. Es kann sich hinziehen, so daß Sie ein paar Stunden am Flughafen warten müssen. Sorgen Sie dafür, daß die anderen halbwegs … äh … nüchtern bleiben.« »Natürlich«, sagte ich heuchlerisch. Je länger dieses Mittagessen dauerte, desto besser. Ein betrunkener Billy konnte nicht schlimmer sein als ein nüchterner, und ich hatte nicht vor, die paar Stunden in Malpensa als Aufsichtsperson zuzubringen. Patrick und seine Besatzung standen schon neben der Maschine. Sie hatten ihre Überprüfung abgeschlossen. Der fahrbare Batteriewagen stand am Bug, das Kabel führte in die Maschine. Patrick startete seine Motoren lieber von dem Wagen aus, um mit voll aufgeladenen Batterien abfliegen zu können. Yardman und ich folgten Billy, Alf und John über die Rampe ins Heckteil des Flugzeugs, während Patrick mit seinem Copiloten Bob und dem Bordingenieur Mike die Leiter ins Cockpit hochstieg. Das Bodenpersonal rollte die Treppe davon und montierte die Rampe ab. Die Propeller begannen sich langsam zu drehen, als ich die Doppeltüren zuzog, dann sprangen die Motoren donnernd an, und das ganze Flugzeug begann zu vibrieren. Wie gewöhnlich versetzte mich das Anspringen der Motoren in eine gewisse Hochstimmung, und innerlich lächelnd ging ich, um nach den Pferden zu sehen. Wir rollten zur Startbahn, und Patrick brachte die Maschine zum Stehen. Der ganze Rumpf stemmte sich gegen die Bremsen, als er Vollgas gab. Ich hielt zwei Pferde an den Köpfen fest, während ich automatisch in meiner Phantasie die letzten Handgriffe mitverfolgte, bevor er die Bremsen löste. Der Klang der Motoren wurde sonorer, die Maschine gewann schnell an Tempo. Pferde und Menschen stemmten sich gegen den Druck, als die Geschwindigkeit auf der Rollbahn bis über hundert Meilen anstieg. Wir lösten uns wie vorgesehen vom Boden und stiegen in großem, weitem Bogen hinauf in den Himmel, 172
Richtung Kanal und Funkfeuer Dieppe. Die trächtigen Stuten nahmen das Ganze mit stoischer Ruhe auf, und nachdem ich sie mir alle angesehen hatte, ging ich zur Kombüse, wobei ich wie immer in der engen DC 4 über die Spannketten hinwegsteigen und mich unter den Gepäckablagen hindurchwinden mußte. Mike, der Bordingenieur, schrieb bereits mit rotem Filzschreiber Namen auf die Pappbecher. »Alles okay?«, fragte er, während seine Braue auf und ab zuckte. »Bestens«, sagte ich. Er schrieb ›Patrick‹, ›Bob‹ und ›Henry‹ und fragte mich nach den Namen der anderen. ›Mr. Y.‹, ›Billy‹, ›Alf‹ und ›John‹ folgten Er füllte die Becher für die Piloten zuerst, und ich nahm Patricks und Bobs Kaffee mit nach vorn, während er sich hinten bei den anderen erkundigte, ob sie Durst hätten. Die aufsteigende Sonne schien grell ins Cockpit. Beide Piloten trugen Sonnenbrillen, Patrick hatte sich sein Jackett ausgezogen und aß seine erste Banane. Die Karte mit der Unmenge von kleinen Kreisen, die Funkstationen entsprachen und von den breiten, blaßblauen Linien zugelassener Flugwege verbunden wurden, lag griffbereit. Die geographischen Einzelheiten waren nur undeutlich zu erkennen. Bob zupfte sich einen Wattebausch von der Stelle, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte, wodurch sie wieder anfing zu bluten. Er fluchte, war aber bei dem Motorenlärm nicht zu verstehen. Beide Piloten trugen Kopfhörer, kombiniert mit einem Mikrofon, das von einem gebogenen Metallband vor ihrem Mund gehalten wurde. Sie sprachen miteinander mit Hilfe eines Umschalters, der am Steuerknüppel angebracht war. Da man sich bei dem Lärm nicht normal unterhalten konnte, grinsten mir beide zu, hoben die Daumen, um mir zu danken, und wandten sich wieder ihrer Aufgabe zu. Ich beobachtete sie eine Weile, dann schlenderte ich nach hinten, 173
holte meinen Becher und setzte mich auf einen Heuballen. Ich schaute durch das ovale Fenster hinaus und sah die Küste Frankreichs unter uns seitwärts kippen, als wir das Funkfeuer Dieppe überflogen und auf Kurs Paris gingen. Ein Tag wie jeder andere, ein Flug wie jeder andere. Und in Mailand erwartete mich Gabriella. Alle dreißig, vierzig Minuten kümmerte ich mich um die Stuten. Sie waren sehr brav und geduldig. Die meisten der Pferde fraßen während des Fluges nicht viel, aber ein paar knabberten doch an ihren Heunetzen, und ein kleines, braunes Pferd in der letzten Box schien ausgesprochen hungrig zu sein. Ich begann das Netz aufzuknüpfen und frisch aufzufüllen, als mir eine Stimme ins Ohr schrie: »Das mache ich.« Ich drehte den Kopf herum und sah Billy ins Gesicht. »Sie?« Überraschung und Sarkasmus wurden vom Lärm der Motoren übertönt. Er nickte, stieß mich zur Seite und machte sich an die Arbeit. Ich sah ihm erstaunt zu, als er das Netz in den schmalen Durchgang trug und es vollzustopfen begann. Er kam zurück, schnürte es zu, hängte es an seinen Platz und band es fest. Wortlos warf er mir einen verächtlichen Blick aus seinen Scheinwerferaugen zu, zwängte sich vorbei und warf sich mit, wie es mir plötzlich schien, unterdrückter Wut in einen der Sitze an der Rückseite der Kabine. In den Sitzen unmittelbar hinter ihm saßen Yardman und John nebeneinander. Yardman warf Billy einen verärgerten Blick zu, obwohl er nach meiner Meinung ein Lob für seine Selbstbeherrschung verdient hatte. Yardman richtete den Blick auf mich und lächelte düster. »Wann landen wir?« brüllte er. »Ungefähr in einer halben Stunde.« Er nickte und starrte zum Fenster hinaus. Ich schaute John an 174
und entdeckte, daß er vor sich hindöste. Er hatte die Mütze ins Genick geschoben, seine Hände lagen flach auf dem Schoß. Er öffnete die Augen, und seine entspannten Gesichtsmuskeln zogen sich so plötzlich zusammen, daß er mir bekannt vorkam, obwohl ich genau wußte, daß ich ihn noch nie gesehen hatte. Mir blieb nur wenig Zeit, darüber nachzudenken, weil Billy aufstand und mir einen Tritt an den Knöchel verpaßte, ohne daß Yardman etwas bemerkte. Ich drehte mich herum, schlug mit der Ferse aus und traf ihn hart am Schienbein. Eines Tages, dachte ich, als ich lächelnd wieder nach vorn ging, eines Tages wird er schon genug bekommen. Vier Stunden nach dem Start erreichten wir Malpensa. Alles war diesmal leicht und glatt gegangen. Ich hielt wieder zwei Stutenköpfe und sah die vertrauten, rotweißkarierten Gebäude am Rand des Flugfeldes größer werden, als wir hinabsanken, dann waren sie plötzlich hinter uns in Augenhöhe, als Patrick mit hundertzehn Meilen in der Stunde das Flugzeug sieben Meter über dem Boden abfing. Er setzte so sanft auf, daß die Stuten kaum etwas spürten. Erstklassig, dachte ich. Der Zollbeamte kam mit seinen beiden Gehilfen an Bord. Yardman präsentierte die Dokumente. Die Abfertigung ging ohne Zwischenfall vonstatten, schnell, aber gründlich; der Zollbeamte gab Yardman mit einer knappen Verbeugung die Dokumente zurück und machte uns ein Zeichen, daß wir mit dem Ausladen anfangen konnten. Yardman wich der Gefahr, mithelfen zu müssen, dadurch aus, daß er behauptete, er wolle nachsehen, ob ihn seine Geschäftspartner im Flughafengebäude erwarteten. Da es knapp halb zwölf war, erschien mir das zweifelhaft, aber er marschierte trotzdem die Rampe hinunter und über das Rollfeld davon, eine hagere, schwarze Gestalt, deren Brillengläser in der Sonne blitzten. 175
Die Besatzung folgte ihm, ein Trio in Marineblau mit verwegen in die Stirn gezogenen Mützen. Ein großes, gelbes Tankfahrzeug hielt neben der Maschine, und drei Männer in weißen Overalls begannen aufzutanken. Wir verluden in Rekordzeit. Billy schien es ebenso eilig zu haben wie ich, und eine halbe Stunde nach der Landung hatte ich meinen Pullover mit dem Jackett vertauscht und öffnete die Glastür des Flughafengebäudes. Ich blieb stehen und beobachtete Gabriella. Sie verkaufte gerade eine Puppe und drehte sie um, damit die zahlreichen Petticoats besser zur Geltung kamen. Ihr Gesicht wirkte ernst und versunken. Mit kühlen, ruhigen Augen schüttelte sie den Kopf, als sie der Kunde etwas fragte. Es war Mike, der Bordingenieur. In meiner Brust krampfte sich bei ihrem Anblick etwas zusammen. Ich fragte mich, wie ich es ertragen sollte, in drei Stunden schon wieder abzufliegen. Sie hob plötzlich den Kopf, als spüre sie meinen Blick, und lächelte. Mike bemerkte die Verwandlung und drehte sich verblüfft um. »Henry«, sagte Gabriella. Aus ihrer Stimme war die Wiedersehensfreude deutlich herauszuhören. »Hallo, Darling.« »Darling?«, rief Mike und ließ seine Braue hüpfen. »Ich habe meinen englischen Wortschatz verdoppelt, wie du hörst«, sagte Gabriella auf französisch. »Nun kann ich schon zwei Worte.« »Äußerst wichtige, Gott sei Dank.« »Moment mal«, sagte Mike. »Wenn Sie schon mit ihr sprechen können, Henry, fragen Sie doch gleich wegen der Puppe. Meine Größere hat morgen Geburtstag, und sie sammelt diese Dinger, aber ich weiß nicht, ob sie damit etwas anfangen kann.« »Wie alt ist sie denn?« »Zwölf.« 176
Ich erklärte Gabriella die Lage, die sofort eine andere, viel hübschere und auffälligere Puppe präsentierte und sie einpackte, während er seine Lire sortierte. Wie bei Patrick enthielt seine Brieftasche Geld in diversen Währungen, und er verstreute zahlreiche Markscheine auf der Theke, bevor er das Gesuchte fand. Schließlich raffte er das ganze Geld zusammen, dankte ihr lebhaft mit ein paar französischen Worten, nahm sein Paket und stieg hinauf zum Restaurant. Wir bekamen auf den Flügen zwar immer ein Mittagessen, abgepackte Menüs der Touristenklasse, aber Mike wie auch Bob zogen es vor, nach der Landung im Restaurant zu essen, und zwar reichlich und in Frieden. Ich wandte mich wieder Gabriella zu, sah sie an und berührte ihre Hand, um meinen eigenen Hunger zu stillen. In ihrem Gesicht konnte ich lesen, daß dies auch für sie nur wie eine Schale Reis angesichts einer riesigen Hungersnot war. »Wann mußt du wieder weg?«, fragte sie. »Die Pferde kommen um halb drei. Ich muß sie verladen. Vielleicht kann ich nachher noch auf ein paar Minuten kommen, wenn mein Chef beim Kaffee trödelt.« Sie seufzte und schaute auf die Uhr. Es war zehn nach zwölf. »In zwanzig Minuten hab’ ich eine Stunde frei. Wir machen einfach zwei Stunden draus.« Sie hastete zu der Verkäuferin nebenan im Duty-free-Shop, sprach ein paar Sekunden auf sie ein und kam lächelnd zurück. »Sie springt für mich ein, dafür übernehme ich abends ihre Arbeit mit.« Ich verbeugte mich vor dem Mädchen, und sie lachte strahlend. »Willst du oben essen?«, fragte ich. Gabriella schüttelte den Kopf. »Da kennen mich alle Leute. Wir haben Zeit, nach Mailand 177
hineinzufahren, wenn es bei dir geht.« »Die Pferde können ruhig warten, wenn sie zu früh kommen. Geschieht ihnen recht.« Sie nickte beifällig, und um ihren Mund zuckte es. Ein Schwarm abreisender Touristen stürmte herein und umringte den Souvenirstand. Ich zog mich zur Imbißbar zurück, um die zwanzig Minuten abzusitzen. An einem der kleinen Tische hatte Yardman Platz genommen. Er winkte mich heran, was mir nicht sehr paßte, und meinte, ich solle mir einen doppelten Gin mit Tonic bestellen. Er hatte auch einen vor sich stehen. »Ich möchte lieber Kaffee.« Er hob gnädig eine schlaffe Hand. »Trinken Sie, was Sie wollen, mein Lieber.« Ich blickte mich beiläufig in dem großen, luftigen Raum um, betrachtete all das Glas, das schimmernde Holz, den Terrazzofußboden. Eine Wand wurde von einem Süßigkeitenstand und daran angrenzend von der langen Theke eingenommen, an der Kaffee und Bier in schöner Eintracht mit Milch und Gin zu haben waren. Am anderen Ende des Imbißraums saßen Alf und Billy mit John, der uns den Rücken zudrehte. Sie hatten große Biergläser vor sich stehen. Zweieinhalb Stunden in der Art, dachte ich, und wir werden einen Mordsheimflug haben. »Sind Ihre Geschäftspartner noch nicht da?«, fragte ich Yardman. »Sie haben sich verspätet«, erwiderte er resigniert, »aber gegen ein Uhr dürften sie hier sein.« »Gut«, sagte ich, aber nicht seinetwegen. »Sie vergessen nicht, sie nach Simon zu fragen?« »Simon?« »Searle.« »Searle? O nein, das vergesse ich nicht.« 178
Patrick kam in die Halle, grüßte Gabriella von weitem und trat an unseren Tisch. »Setzen Sie sich doch«, lud ihn Yardman ein. »Auch einen Gin?« Dabei zeigte er auf sein Glas. Er meinte es nur freundlich, aber Patrick war schockiert. »Natürlich nicht!« »Wie bitte?« »Oh … ich dachte, Sie wüßten das. Wenn wir Alkohol trinken, dürfen wir die nächsten acht Stunden nicht fliegen.« »Acht Stunden«, wiederholte Yardman erstaunt. »So ist es. Nach einer Trinkerei vierundzwanzig Stunden nicht und nach einem richtigen Besäufnis am besten achtundvierzig Stunden nicht.« »Das habe ich nicht gewußt«, sagte Yardman schwach. »Vorschrift des Luftfahrtministeriums«, erklärte Patrick und bestellte sich auch einen Kaffee. Als ihn die Kellnerin gebracht hatte, wickelte er vier Zuckerstücke aus und rührte sie hinein. »Gestern hat es mir gefallen«, sagte er und lächelte mich mit seinen Bernsteinaugen an. »Ich komme wieder hin. Wann starten Sie wieder?« »Morgen.« »Da geht es nicht. Wann noch?« Ich warf Yardman einen Blick zu. »Das hängt von den Frachtaufträgen ab.« Patrick wandte sich in seiner freundlichen Art an Yardman. »Ich war gestern in Cheltenham und habe Henry zugesehen, als er Vierter im Gold Cup wurde. Sehr interessant.« »Sie kennen einander also gut?«, fragte Yardman. Seine tiefliegenden Augen waren hinter der Brille beinahe unsichtbar, und das schräg einfallende Sonnenlicht ließ jede Hautunrein179
heit deutlich hervortreten. Ich empfand immer noch nichts für ihn, weder Sympathie noch Antipathie. Er war ein großzügiger Arbeitgeber und zeigte sich liebenswürdig. Er war immer noch ein Rätsel für mich. »Wir kennen einander«, gab Patrick zu. »Wir sind schon öfter miteinander geflogen.« Gabriella kam auf uns zu. Sie trug einen weichen Wildledermantel über ihrem schwarzen Kleid, flache, schwarze Lackschuhe und eine Handtasche aus demselben Material. Eine gepflegte, beherrschte, selbständige, beinahe schöne junge Frau, für die Arbeit eine Selbstverständlichkeit war und der es Spaß machte, einen Geliebten zu haben. Als sie zu uns trat, stand ich auf, versuchte ein lächerliches Gefühl des Stolzes zu unterdrücken und stellte sie Yardman vor. Er lächelte höflich und sprach sie italienisch an, was mich ein wenig überraschte. Patrick übersetzte mir ins Ohr. »Er erzählt ihr, daß er während des Krieges in Italien war. Das ist allerdings reichlich taktlos von ihm, wenn man bedenkt, daß ihr Großvater damals bei der Invasion Siziliens gefallen ist.« »Vor ihrer Geburt«, protestierte ich. »Stimmt.« Er grinste. »Immerhin steht sie jetzt auf Seiten der Engländer.« »Miss Barzini sagt mir gerade, daß Sie sie in Mailand zum Essen ausführen«, meinte Yardman. »Ja«, erwiderte ich. »Wenn Ihnen das recht ist? Ich bin um halb drei Uhr zurück, wenn die Stuten für den Rückflug eintreffen.« »Ich habe keine Einwände«, erklärte er mild. »An welches Lokal dachten Sie?« »Trattoria Romana«, sagte ich sofort. Dort hatten Gabriella, Patrick und ich an unserem ersten Abend gegessen. 180
Gabriella legte ihre Hand in die meine. »Gut. Ich habe schrecklichen Hunger.« Sie reichte Yardman die Hand und drohte Patrick mit dem Finger. »Arrivederci.« Wir schlenderten durch die Halle. Unsere zusammengefügten Handflächen kribbelten leise vor elektrischer Spannung. Ich warf noch einen Blick zurück und sah, daß uns Yardman und Patrick beobachteten. Sie lächelten beide.
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11 Natürlich hatten wir gar keinen Appetit. Jeder aß seine Lasagne nur halb auf, dann bestellten wir Kaffee. Wir brauchten nichts als die gegenseitige Nähe. Wir sprachen nicht viel, aber einmal, als sie meine unwürdigen Gedanken deutlich erkannte, sagte sie wie aus heiterem Himmel, wir könnten nicht in die Wohnung ihrer Schwester, da sie zu Hause sei, zusammen mit einigen Kindern. »Das hab ich befürchtet«, sagte ich wehmütig. »Wir müssen es aufs nächstemal verschieben.« »Ja.« Wir seufzten gemeinsam und lachten. Etwas später, als sie ihren heißen Kaffee schlürfte, sagte sie: »Wieviel Pillen waren in der Flasche, die du Simon Searle mitgegeben hast?« »Keine Ahnung. Ein paar Dutzend. Ich hab sie nicht gezählt. Die Flasche war fast voll.« »Das hab ich mir gedacht.« Sie seufzte.»Gestern abend hat die Betreffende angerufen und mich gefragt, ob ich nachliefern kann. Sie sagte, die Flasche sei unten mit Papier vollgestopft, aber ich glaube eher, daß sie die Hälfte einer Freundin gegeben hat und es jetzt bedauert.« »In der Flasche war kein Papier. Nur oben Watte.« »Das hab ich mir gedacht.« Sie runzelte die Stirn und zog vor Kummer die Nase kraus. »Wenn sie nur die Wahrheit sagen würde.« Ich stand abrupt auf. »Komm«, sagte ich. »Laß den Kaffee stehen.« »Warum?« 182
Sie schlüpfte in ihren Mantel. »Ich möchte die Flasche sehen.« Sie sah mich verwirrt an. »Sie wird sie weggeworfen haben.« »Hoffentlich nicht«, sagte ich erschrocken, während ich die Rechnung bezahlte. »Wenn Papier in der Flasche ist, hat Simon es hineingetan.« »Du meinst … es könnte wichtig sein?« »Er dachte, daß die Pillen für dich seien. Er wußte nicht, daß sie für jemand anderen bestimmt waren. Und ich habe vergessen, ihm zu sagen, daß du nicht Englisch sprichst. Vielleicht dachte er, daß du das Papier findest, wenn du mit den Pillen fertig bist, und lesen kannst, was darauf steht. Jedenfalls müssen wir es finden. Das ist die erste und einzige Spur, die wir von ihm haben.« Wir verließen hastig das Restaurant, stiegen in ein Taxi und rasten zur Bäckerei, wo Gabriella die Pillen abgeliefert hatte. Die Frau des Bäckers war dick, mütterlich und sah aus wie fünfzig, obwohl sie wahrscheinlich erst fünfunddreißig war. Sie begrüßte Gabriella mit herzlichem Lächeln, machte aber ein besorgtes Gesicht, als ihr Gabriella auseinandersetzte, worum es sich handelte. Sie schüttelte den Kopf und breitete die Arme aus. »Sie ist in der Abfalltonne«, sagte Gabriella. »Sie hat sie heute früh weggeworfen.« »Wir müssen nachsehen. Frag sie, ob wir suchen dürfen.« Die beiden Frauen berieten. »Sie meint, du machst dir deinen schönen Anzug schmutzig.« »Gabriella …« »Sie sagt, die Engländer sind verrückt, aber du kannst suchen.« 183
Im Hinterhof standen drei Aschentonnen, zwei waren zum Glück leer, nur eine voll. Wir kippten den stinkenden Inhalt auf den Boden, und ich stocherte mit einem Besenstiel darin herum. Die kleine braune Flasche war da, halb zugedeckt von feuchtem Kaffeesatz und Nudelresten. Gabriella wischte sie mit einer Zeitung sauber, während ich den Abfall in die Tonne zurückschaufelte und den Hof kehrte. »Das Papier geht nicht heraus«, sagte sie. Sie hatte die Kappe abgeschraubt und den Finger in die Flasche gesteckt. Sie hielt sie mir hin. Ich warf einen Blick darauf, nickte, wickelte die Flasche in Zeitungspapier, legte sie auf den Boden und zerschlug sie mit der Schaufel. Sie kauerte neben mir nieder, als ich das Papier auseinanderfaltete und zwischen den braunen Glassplittern die Dinge hervorzog, die in das Papier gewickelt waren. Ich stand langsam damit auf. Ein Fetzen, abgerissen von einem der Briefköpfe Yardmans. Ein Geldschein in einer Währung, die ich nicht kannte, und ein paar Heuhalme. Der Fetzen und der Geldschein waren zusammengeheftet, das Heu dazwischen eingeklemmt. »Das ist doch Unsinn«, sagte Gabriella langsam. »Hast du eine Ahnung, woher das Geld stammt?« Ich deutete auf die Banknote. Sie drehte sie um. »Es ist aus Jugoslawien. Hundert neue Dinar.« »Ist das viel?« »Ungefähr fünftausend Lire.« Drei Pfund. Heuhalme. Ein Fetzen Papier. In einer Flasche. Gabriella nahm mir Geld und Papier aus der Hand und zog die Stecknadel heraus, mit denen sie zusammengeheftet waren. »Was bedeutet das?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht.« 184
Eine Botschaft in einer Flasche. »Das Papier ist durchlöchert.« »Wo er die Nadel durchgesteckt hat.« »Nein. Es sind viel mehr Löcher. Schau.« Sie hielt den Fetzen ans Licht. »Man kann durchsehen.« Auf dem Briefkopf stand in dicken roten Lettern ›Yardman Transport‹. Der Fetzen war etwa fünfzehn Zentimeter breit und fünf Zentimeter hoch, vom oberen glatten Rand bis zu dem gezackten, wo er von dem Bogen abgerissen worden war. Ich hielt ihn ans Licht. Simon hatte Buchstaben ins Papier gestochen, anschließend an den Namen der Firma, zuerst ein etwas größeres Loch, das deutlich als Punkt auszumachen war, dann LEUTE. Zum erstenmal lief es mir kalt über den Rücken. »Was ist denn?«, sagte sie. »Was steht dort?« »Yardman Transport.« Ich zeigte es ihr. »Schau, was er angefügt hat. Wenn man das Ganze liest, lautet es: ›Yardman Transport. LEUTE‹.« Sie sah mich verängstigt an, so düster hatte meine Stimme geklungen. »Was bedeutet das?« »Das bedeutet, daß er keinen Bleistift hatte«, sagte ich grimmig, um der letzten Schlußfolgerung auszuweichen. »Nur Stecknadeln an seinem Revers.« Eine Botschaft in einer Flasche, an Land gespült. »Ich muß mir das genau überlegen«, sagte ich. »Ich muß nachdenken.« Wir setzten uns auf leere Kisten in der Ecke des Hinterhofs, und ich starrte an die weißgekalkte Wand mir gegenüber und auf den vereinzelten Busch, der, in ein Faß gepflanzt, in einer 185
Ecke stand. »Sag doch«, drängte Gabriella, »du machst so ein – so ein schreckliches Gesicht.« »Billy«, sagte ich. »Billy hat also doch nur getarnt.« »Wer ist Billy?« »Ein Pferdepfleger. Jedenfalls tritt er so auf. Leute … Jedesmal, wenn Billy mitflog, war ein Mann dabei, der nicht zurückkam.« »Simon?«, fragte sie ungläubig. »Nein, Simon meine ich nicht, obwohl er mit Billy geflogen ist. Nein, jemand, der als Pferdepfleger reiste, aber etwas ganz anderes war und nicht zurückkam. Ich kann mich an ihre Gesichter nicht erinnern, nicht genau, weil ich nicht viel mit ihnen gesprochen habe. Dafür sorgte Billy.« »Wie denn?« »Ach, durch Beleidigungen und …« Ich verstummte und dachte angestrengt nach. »Beim erstenmal war ein sehr dicker Mann dabei, der John hieß. Jedenfalls wurde das behauptet. Er war völlig unbrauchbar. Er konnte überhaupt nicht mit Pferden umgehen. Wir flogen an diesem Tag zweimal nach Frankreich, und ich glaube, daß er schon bei der ersten Landung verschwinden wollte. Ich sah ihn heftig mit Billy streiten, kurz bevor wir zurückflogen. Aber Billy zwang ihn, dabeizubleiben, und als er mir erzählte, John sei nach Paris gefahren, statt mit uns zurückzukehren, goß er mir Bier über den Fuß, damit ich darüber wütend war und nicht über John nachdachte. Er sicherte sich ab, indem er auf dem Rückweg einen Streit vom Zaun brach …« »Wer war dieser John?« »Ich habe keine Ahnung.« »Und es hat noch andere gegeben?« 186
»Ja … beim nächstenmal, als er dabei war, flogen wir nach New York. Ein Pferdepfleger begleitete ein norwegisches Pferd. Er sprach kaum etwas und behauptete, er verstehe nur wenig Englisch. Es hieß, daß er zwei Wochen in den Staaten bleiben solle, aber wer weiß, ob er zurückgekommen ist? Und bei diesem Flug schmetterte mir Billy eine Eisenstange auf die Finger. Ich hatte ständig Schmerzen und dachte nur daran, nicht an den norwegischen Pfleger.« »Bist du sicher?«, fragte sie mit zusammengezogenen Brauen. »O ja, ich bin mir sicher. Ich hatte schon einmal den Gedanken, daß Billy das mit einer bestimmten Absicht getan hat. Ich habe nur die Absicht mißverstanden.« Ich überlegte. »Eines Tages nahmen wir einen Mann mit einem großen, buschigen Schnurrbart mit nach Frankreich, und zwei Wochen später flog ein Mann mit einem großen, buschigen Schnurrbart zurück. Ich habe mir nur den Schnurrbart angesehen … es könnten zwei verschiedene Männer gewesen sein.« »Was hat Billy bei diesen Gelegenheiten getan?« »Auf dem Hinflug schüttete er mir gezuckerten Kaffee über den Anzug. Ich stand fast die ganze Zeit in der Toilette und putzte. Auf dem Rückflug schlug er mit einer Kette zu, und ich verschwand in der Kombüse, um weiteren Mißhandlungen auszuweichen.« Sie sah mich ernst an. »Ist das … ist das alles?« Ich schüttelte den Kopf. »In der vergangenen Woche flogen wir nach New York. Ich erklärte Yardman, wenn Billy mich nicht in Ruhe ließe, würde ich Schluß machen. Der Hinflug verlief glatt, aber beim Rückflug … Wir hatten einen Mann dabei, der offenbar nichts von Pferden verstand. Er fühlte sich nicht einmal im Reitdreß wohl. Ich dachte zunächst, er sei ein Verwandter des Besitzers 187
und wolle nur kostenlos über den Atlantik fliegen, aber ich habe kaum mit ihm gesprochen. Ich schlief die ganze Zeit, zehn Stunden lang. So müde bin ich sonst nie, aber ich dachte, das könne daran liegen, daß ich in sechs Tagen viermal den Atlantik überquert hatte.« »Eine Schlaftablette?«, fragte sie langsam. »Möglich. Alf brachte mir kurz nach dem Start Kaffee. In der hinteren Box stand ein unruhiges Pferd, und ich versuchte es zu beruhigen. In dem Kaffee könnte ein Pulver aufgelöst worden sein.« »Alf?« »Das ist ein alter, schwerhöriger Mann, der Billy immer begleitet.« »Glaubst du, daß es wirklich eine Schlaftablette oder ein Schlafpulver war?« »Möglich. Es könnte sein … Ich war immer noch todmüde, selbst zu Hause noch. Ich bin sogar in der Badewanne eingeschlafen.« »Das ist sehr ernst«, sagte sie. »Heute«, sagte ich, »heute haben wir auch einen Fremden dabei. Er heißt ebenfalls John. Ich bin ihm noch nie begegnet, aber er hat irgend etwas an sich … ich besah ihn mir im Flugzeug näher und machte mir meine Gedanken. Billy gab mir einen Tritt an den Knöchel. Ich schlug zurück, ging aber weg und dachte nicht mehr über den Mann nach.« »Fällt dir jetzt etwas ein?« »Tja … seine Hände paßten nicht zu einem Pferdepfleger. Stallburschen haben rauhe Hände, die wund sind von Kälte und Nässe, vom Sattelzeugwaschen und dergleichen, aber seine sind glatt und überhaupt nicht abgearbeitet. Völlig unbeschädigte Nägel.« Sie sah meine Hände an, die rissig und verschwielt waren. 188
»Sie sehen also nicht aus wie deine.« »Nein. Aber vor allem ist es sein Ausdruck. Ich habe ihn aufwachen sehen. Mit dem Bewußtsein kam etwas in sein Gesicht …« Trotz Billys Fußtritt konnte ich mich an den Augenblick lebhaft erinnern. Ich kannte diesen Ausdruck gut … was war es nur? »Oh!«, rief ich, als mir ein Licht aufging. Fast mußte ich über meine eigene Dummheit lachen. »Jetzt weiß ich es. Er stammt aus meinen Kreisen. Er ist mit mir in dieselbe Schule gegangen.« »Du kennst ihn also? Ich meine, du hast ihn schon einmal gesehen? Wenn ihr doch zusammen auf der Schule wart?« »Nicht zusammen. Er ist älter als ich. Er muß etwa fünf Jahre vor meinem Eintritt abgegangen sein. Nein, ich habe ihn noch nie gesehen, aber der Ausdruck, den er hat, ist für manche von uns typisch. Es sind nicht die nettesten … Nur diejenigen, die von sich meinen, sie seien ein Gottesgeschenk für die Menschheit und alle anderen viel weniger wert. Zu diesen Leuten gehört er. Ein Pferdepfleger ist er auf keinen Fall. Er sah aus, als beeinträchtige es seine Würde, diese schmutzige Reitkleidung zu tragen.« »Aber du trägst doch auch keine«, wandte sie ein. »Wenn er sie nicht mag, muß es doch nicht sein.« »Doch. Alf trägt Breeches, Billy Blue Jeans. Die beiden Pfleger, die sich mit ihnen abwechseln, haben ebenfalls Breeches an. Das ist so eine Art Berufskleidung … Kein Mensch würde sich nach einem Mann umsehen, der mit einem Pferdetransport ankommt und Breeches trägt.« »Nein, das seh ich ein.« »Kein Mensch achtete besonders auf unsere Pässe. Schau dir an, wie einfach ich heute nach Mailand gekommen bin. Durch 189
die Tür fürs Flugpersonal. Auf den Flughäfen, vor allem auf den kleinen, kümmert sich kaum einer um diejenigen, die in einem Flugzeug arbeiten. Es ist überaus einfach, über die Laderampe den Flugplatz zu verlassen, ohne gesehen zu werden. Die Amerikaner sind am strengsten, aber selbst sie sind unser Kommen und Gehen gewöhnt.« »Aber manchmal werden eure Pässe doch geprüft«, protestierte sie. Ich zog meinen Paß heraus. Während der letzten drei Monate war er völlig zerknittert, nachdem er sich mehrere Jahre lang seine dunkelblaue Steife bewahrt hatte. »Schau ihn dir an. Das kommt davon, daß ich ihn immer in der Tasche habe. Aber gestempelt wird er kaum.« Ich blätterte. »Visum für Amerika, gewiß. Aber sieh, der einzige Stempel in Mailand stammt von dem Tag, als ich mit einer Passagiermaschine ankam und mit den anderen durch die Paßkontrolle gegangen bin. Für Frankreich habe ich kaum eine Eintragung, dabei war ich schon oft dort. Natürlich sieht ihn sich jemand an, aber nicht genau. Ich glaube, es ist überaus einfach, einen Paß in diesem Zustand zu fälschen, und es wäre sogar nicht einmal unmöglich, ganz ohne Paß zu reisen. Ein Pilot hat mir erzählt, daß er drei Wochen auf der ganzen Welt unterwegs war, ohne Paß.« »Leute, die in einem Flugzeug arbeiten, würden ja auch verrückt werden, wenn man jedesmal ihre Pässe gründlich prüfen würde, sobald sie auf irgendeinem Flugplatz landen.« »Na ja … normalerweise ist das nicht nötig. Ganz so einfach ist es für einen Arbeiter nicht, nur einen Hinflug zu organisieren. Es ist sogar unmöglich, wenn man nicht irgendwo Beziehungen hat. Irgendein beliebiger Mensch, der heimlich ins Ausland möchte, hätte keine Chance, sich in ein Transportflugzeug einzuschmuggeln. Aber wenn die Transportfirma oder jemand, der für sie tätig ist, bereit wäre, 190
zusammen mit Pferden illegal Leute zu transportieren, dann ist das sehr einfach.« »Aber … was für Leute?« »Was für Leute wohl! Billy kann seine Dienste wohl kaum in der Tageszeitung offerieren, aber an Kunden fehlt es ihm nicht.« »Verbrecher?«, sagte Gabriella stirnrunzelnd. Ich drehte den Geldschein in der Hand und studierte die Heuhalme. »Heu«, sagte ich. »Warum Heu?« Gabriella zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er das Geld im Heu gefunden.« »Selbstverständlich!«, rief ich. »Du hast völlig recht. Heunetze! Sie werden offen verladen und von den Zollbeamten nie durchsucht. Vielleicht transportiert man also auch Geld, nicht nur Leute.« Ich erzählte ihr, daß Billy an meiner Stelle das Heunetz gefüllt hatte und wie mich das verblüfft hatte. »Aber Henry, Liebling, ich verstehe nur nicht, warum dich nicht von Anfang an Billys Gemeinheiten mißtrauisch gemacht haben. Ich hätte das für äußerst merkwürdig gehalten und sofort Krach geschlagen.« Sie sah mich zweifelnd an. »Oh, ich dachte, das hinge damit zusammen, daß ich …« Ich verstummte. »Daß du was?« Ich lächelte schwach. »Daß ich zu einer Sorte von Menschen gehöre, die seiner Ansicht nach ausgerottet werden sollten.« »Henry!« Ihr Mund verlor seine Strenge. »Was für Menschen?« »Tja … bei euch in Italien gibt es ja auch Grafen und 191
Gräfinnen …« »Aber du bist doch kein … du bist doch … bist du … ein Graf?« »Sozusagen. Ja.« Sie starrte mich zweifelnd an, schien lachen zu wollen, wußte nicht, ob ich sie hänseln wollte. »Ich glaube dir nicht.« »Ich habe mich nur deshalb nicht über Billy gewundert, weil ich wußte, daß er mich wegen meines Titels haßte.« »Das sehe ich ein.« Es gelang ihr, gleichzeitig die Stirn zu runzeln und zu lächeln, was sie sehr liebenswert machte. »Aber wenn du einen Titel hast, Henry, warum arbeitest du dann als Pferdebegleiter?« »Rate mal, warum«, meinte ich. Sie sah mich einen Augenblick forschend an, dann legte sie die Arme um meinen Hals und preßte ihre Wange an mein Gesicht. »Es genügt dir nicht, daß du einen Titel hast«, sagte sie. »Das genügt keinem. Man muß ihnen auch zeigen, daß du …«Sie suchte in ihrem französischen Wortschatz und fand ein Wort: »… daß du véritable bist. Wirklich.« Ich stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung und der überquellenden Liebe aus und küßte sie auf den Hals, dort, wo unter ihrem Ohr das dunkle Haar wippte. »Meine Frau wird eine Gräfin sein«, sagte ich. »Würde dir das etwas ausmachen?« »Ich könnte es vielleicht ertragen.« »Und mich? Könntest du mich ertragen? Immer?« »Ich liebe dich«, sagte sie mir ins Ohr. »Ja, immer. Nur, Henry …« »Nur was?« 192
»Du wirst nicht aufhören, wirklich zu sein?« »Nein«, sagte ich traurig. Sie löste sich von mir und schüttelte den Kopf. »Ich bin dumm. Verzeih. Wenn ich sogar an dir zweifeln kann … und so schnell dazu … mußt du immer beweisen …« »Immer«, stimmte ich zu. »Trotzdem, ganz soweit brauchtest du es nicht zu treiben.« Mein Mut sank. »Schließlich bekommt man nicht jeden Tag in einem Hinterhof, umgeben von Abfalltonnen, einen Heiratsantrag.« Ihre Lippen zitterten und begannen zaghaft zu lächeln. »Kopf hoch, Kleines! Du geliebtes Biest!« »Henry«, sagte sie, »ich bin so glücklich, daß ich platzen könnte.« Ich küßte sie und spürte genau dasselbe. Es dauerte eine ganze Minute, bis ich wieder an Simon dachte. »Was ist denn?«, fragte sie, als ich mich aufrichtete. »Die Zeit vergeht.« »Oh.« »Und Simon …« »Ich habe Angst um ihn«, sagte sie leise. »Ich auch.« Sie nahm mir den Fetzen aus der Hand und starrte ihn wieder an. »Wir haben nicht zugeben wollen, was das bedeutet.« »Ja.« »Dann sag’s.« »Es war die einzige Nachricht, die er noch schicken konnte. Der einzige Weg, der ihm noch blieb.« Ich verstummte und sah ihr in die ernsten, dunklen Augen. 193
Nach zehn stummen Sekunden sprach ich es aus: »Er ist tot.« »Vielleicht wird er nur irgendwo festgehalten«, meinte sie niedergeschlagen. Ich schüttelte den Kopf. »Er ist jetzt der dritte Mann, der verschwunden ist. Ein gewisser Ballard, der hier Frachtaufträge abschloß, und der Mann, der meine Stellung hatte, ein gewisser Peters. Sie sind beide verschwunden, Ballard vor über einem Jahr, und kein Mensch hat mehr etwas von ihnen gehört.« »Dieser Billy …«, sagte sie langsam und sah mich besorgt an. »Dieser Billy«, sagte ich, »ist jung und skrupellos und trägt eine geladene Waffe unter dem linken Arm.« »Bitte … flieg nicht mit ihm zurück.« »Solange ich den Mund halte, besteht keine Gefahr.« Ich faltete die verzweifelte, mit einer Stecknadel verfaßte Botschaft mit dem Geldschein und dem Heu zusammen und steckte alles in meine Brieftasche. »Wenn ich in England bin, werde ich schon feststellen, wen ich verständigen muß.« »Die Polizei«, meinte sie nickend. »Da bin ich mir nicht so sicher.« Ich dachte an die jugoslawische Banknote, und dabei fiel mir ein, was Gabriella an unserem ersten Abend gesagt hatte. ›Die Kommunisten sitzen schon in Triest.‹ Ich kam mir vor wie jemand, der in angeblich festem Boden eingebrochen war und nun entdeckte, daß darunter ein Netz von Maulwurfgängen in einer ganz dunklen unsichtbaren Welt lag. Ich hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß die Männer, mit denen ich geflogen war, normale Gauner waren. Sie waren Kuriere, Agenten … der Himmel wußte, was noch. Für mich war es einfach unglaublich, daß ich mit Menschen in Kontakt geraten war, 194
von denen ich zwar wußte, daß es sie gab, mit deren Bekanntschaft ich aber nie gerechnet hatte. »Billy muß schon ausgeladen haben, was er im Heunetz mitbrachte«, sagte ich, »aber beim Rückflug …« »Nein!«, fuhr mich Gabriella an. »Schau nicht nach. Das muß Simon auch getan haben. Er hat das Geld gefunden, und Billy ertappte ihn dabei.« So mochte es gewesen sein. Und bei diesem Flug waren zwei zusätzliche Pfleger dabeigewesen, Männer, die ich noch nie gesehen hatte. Irgendwie hatte Simon während des Fluges etwas entdeckt, das mir entgangen war, vielleicht weil ein Mann mehr mitflog, als er vereinbart hatte, vielleicht, weil Billy seine Aufmerksamkeit nicht durch die Methoden ablenken konnte, die er bei mir anwandte. Vielleicht wegen anderer Dinge in der Vergangenheit, von denen ich nichts wußte. Jedenfalls war Simon Billy auf die Schliche gekommen und hatte Billy das wissen lassen. Ich dachte bedrückt darüber nach, wie Simon gegen Ende des Fluges plötzlich klargeworden sein mußte, daß Ballard und Peters nicht zurückgekommen waren und daß er keine Gelegenheit haben würde, Billy ins Zuchthaus zu bringen. Billy, den jungen Gangster, mit seiner griffbereiten Waffe. Ein paar Minuten in der Toilette, mehr Zeit hatte man ihm nicht gelassen. Kein Bleistift, nur seine Stecknadeln und die kleine Flasche, die ich ihm unter vier Augen übergeben hatte; die Flasche, von der Billy nichts wußte, auf der Gabriellas Name stand. Einen Teil der Pillen hinuntergespült, Banknote und Papier mit der unzureichenden Botschaft in die Flasche. Simon in die Ewigkeit. »Bitte, such nicht in den Heunetzen«, wiederholte Gabriella. »Nein«, versprach ich. »Das soll lieber jemand tun, der zuständig ist, beim nächsten Flug von Billy.« Ihre Erleichterung war spürbar. »Ich möchte nicht, daß du 195
auch noch verschwindest.« Ich lächelte. »Keine Angst. Ich bleibe morgen die ganze Zeit bei der Besatzung. Bei Patrick und dem Mann, der dir die Puppe abgekauft hat. Und von England aus rufe ich dich sofort an, damit du beruhigt bist. Was sagst du dazu?« »Das wäre wunderbar. Dann müßte ich mir wenigstens keine Sorgen mehr machen.« »Fang gar nicht damit an«, sagte ich zuversichtlich. »Es geht bestimmt nichts schief.« Die zuständigen römischen Götter müssen sich vor Lachen über meine Einfalt geschüttelt haben.
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12 Wir gingen durch den Bäckerladen und traten wieder auf die Straße hinaus. Ich schaute besorgt auf die Uhr und ahnte ein totes Rennen mit den Zuchtstuten voraus. »Wir brauchen ein Taxi«, sagte ich. Gabriella schüttelte den Kopf. »In der Gegend hier findet man fast nie eins. Wir fahren am besten mit der Straßenbahn zurück ins Zentrum und nehmen von dort ein Taxi.« »Also gut«, sagte ich. »Straßenbahn oder Taxi, was zuerst kommt.« Die Straßenbahnlinie führte durch die verkehrsreiche Straße am Ende der leeren, ruhigen Seitengasse, wo der Bäcker wohnte, und wir setzten uns in Bewegung. »Ich hab gar nicht gemerkt, wie spät es ist«, sagte Gabriella, als sie eine Turmuhr entdeckte, deren übereinanderliegende Zeiger nach Nordosten wiesen. »Und die geht noch nach. Es ist Viertel vorbei.« »Du meine Güte.« Nicht weit vor uns rollte eine der langen, grün-gelben Straßenbahnen vorbei. »Lauf!«, sagte Gabriella. »Die Haltestelle ist gleich um die Ecke. Wir schaffen es noch.« Wir begannen zu laufen, Hand in Hand. Es konnten nicht mehr als zehn große Schritte bis zur Ecke gewesen sein, keinesfalls mehr. Plötzlich schrie Gabriella auf, stolperte, wurde herumgerissen und prallte mit mir zusammen. Ich spürte einen starken, sengenden Schmerz in der Seite, dann stürzten wir beide aufs 197
Pflaster. Gabriella riß mich mit, als ich versuchen wollte, sie vor Verletzungen zu bewahren. Zwei oder drei Passanten blieben stehen, um ihr aufzuhelfen, aber sie bewegte sich nicht. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, die Glieder verrenkt. Ungläubig starrte ich auf das kleine, runde Loch etwa in der Mitte des Mantelrückens. Wie betäubt kniete ich neben ihr nieder, schob meine linke Hand in mein Jackett und preßte sie auf die wie von einem glühenden Eisen verbrannte Haut. Als ich sie herauszog, war sie voll Blut. »O nein«, sagte ich in meiner Muttersprache. »O lieber Gott, nein.« Ich beugte mich über sie, rollte sie herum und stützte ihren Kopf. Ihre Augen waren offen. Sie erkannte mich. Sie lebte. Viel war das nicht. »Henry«, hauchte sie. »Ich kann nicht … atmen …« Inzwischen hatten sich mehrere Zuschauer angesammelt. Ich starrte verzweifelt in ihre fragenden Gesichter. »Doktor«, sagte ich. »Medico.« Das war spanisch. »Doktor.« »Si si«, sagte ein kleiner Junge neben mir. »Un dottore, si.« Die Zuschauer kamen in Bewegung und diskutierten miteinander, ich verstand aber nur ein einziges Wort. »Inglese«, sagten sie, und ich nickte. »Inglese.« Vorsichtig knöpfte ich Gabriellas Ledermantel auf. An der rechten Seite war ein gezacktes Loch mit dunklen Rändern zu sehen. Das schwarze Kleid darunter klebte am Körper. Ich ruderte wild mit den Armen, um die Leute etwas zurückzutreiben, und sie entfernten sich um einen Schritt. Eine mütterlich aussehende Frau zog eine Schere aus ihrer Handtasche und kniete auf der anderen Seite neben Gabriella nieder. Sie bedeutete mir durch eine Geste, den Mantel zu öffnen, und als ich ihn zwischen Gabriellas Körper und dem meinen eingeklemmt hatte, begann sie das Kleid aufzuschneiden. So achtsam sie auch war, Gabriella bewegte sich in meinen Armen und stieß einen leisen Schrei aus. »Ruhig«, sagte ich, »ruhig, mein Liebes. Es wird schon wieder.« 198
»Henry …« Sie schloß die Augen. Ich umklammerte sie wie ein Ertrinkender, während die Frau mit der Schere ein großes Stück aus dem Kleid herausschnitt. Als sie sah, was sich darunter befand, verzerrte sich ihr Gesicht vor mitfühlendem Schmerz. Sie begann den Kopf zu schütteln. »Signor«, sagte sie zu mir, »mi dispiace molto. Molto.« Ich nahm das weiße Taschentuch aus meiner Brusttasche, faltete es auseinander und legte es auf die furchtbare Wunde. Die Kugel hatte beim Austritt eine Rippe zerschmettert. Man konnte in dem Blut unter ihrer Brust die Splitter sehen. Ihr weißer Büstenhalter hatte jetzt eine neue, scharlachrote Borte. Ich deckte Gabriella vorsichtig wieder mit dem Mantel zu, um sie warm zu halten, und dachte verzweifelt, daß sie sterben würde, bevor der Arzt kam. Ein Carabiniere mit glänzenden Stiefeln und grünlichen Hosen tauchte neben uns auf, aber ich hätte wohl selbst dann kaum etwas gesagt, wenn wir die gleiche Sprache gesprochen hätten. Die Umstehenden redeten halblaut auf ihn ein, und er ließ mich in Ruhe. Gabriella öffnete die Augen. Ihr Gesicht war grau und feucht. Die Schmerzen mußten entsetzlich sein. »Henry …« »Ich bin hier.« »Ich kann nicht … atmen.« Ich schob sie etwas höher, bis sie halb saß, gestützt von meinem Arm und meinem gebeugten Knie. Dieser Ruck war fast zuviel für sie. Ihr Gesicht wurde wachsbleich. Die kurzen, stoßweisen Atemzüge drangen deutlich hörbar aus ihrem schlaff geöffneten Mund. »Laß … laß mich nicht allein.« »Nein«, sagte ich. »Ruhig, mein Liebstes.« »Was … ist passiert?« 199
»Man hat dich angeschossen.« »Angeschossen?« Sie zeigte keine Überraschung. »War es … Billy?« »Ich weiß es nicht. Ich hab nichts gesehen. Sprich nicht, mein Kleines, sag nichts, der Arzt wird gleich hier sein.« »Henry …« Sie war völlig erschöpft, ihr Gesicht das einer Toten. »Henry … ich liebe dich.« Ihre Lider sanken wieder herab, aber sie war noch bei Bewußtsein, ihre linke Hand bewegte sich zuckend und unruhig auf dem Boden neben mir, und in ihr Gesicht gruben sich tiefe Schmerzspuren. Ich hätte alles, alles in der Welt dafür gegeben, sie wieder gesund machen, ihr diesen Schmerz nehmen zu können. Der Arzt, als er endlich erschien, war so jung, als hätte er sein Examen erst vor ein paar Tagen bestanden. Er hatte dichtes, schwarzes Haar und schmale, geschickte Hände: mehr sah ich kaum von ihm, als er sich über Gabriella beugte, an mehr konnte ich mich nachher nicht erinnern. Er schaute kurz unter das Taschentuch, dann drehte er den Kopf, um mit dem Polizeibeamten zu sprechen. Ich hörte die Worte ›auto ambulanza‹ und ›pallottola‹. Die Umstehenden gaben eifrig Auskunft. Der Arzt ließ sich auf ein Knie nieder und tastete nach Gabriellas Puls. Sie öffnete die Augen, aber nur einen Spalt. »Henry …« »Ich bin hier. Nicht sprechen.« »Mhm.« Der junge Arzt sagte ein paar beruhigende Worte zu ihr, und sie erwiderte kaum vernehmbar: »Si.« Er öffnete seine große Tasche und bereitete mit schnellen geschickten Bewegungen eine Infusion vor, machte ein Loch in ihren Strumpf, betupfte ihre Haut mit Alkohol und schob die 200
Kanüle in Gabriellas Oberschenkel. Wieder sprach er leise auf sie ein, wieder fühlte er ihren Puls. Seine ganze Art strömte Zuversicht aus, aber sie galt ihr, nicht mir. Nach einer Weile öffnete sie die Augen ganz und sah mich an. Auf ihrem Gesicht zeigte sich der Anflug eines Lächelns. »Es geht mir besser«, sagte sie. Ihre Stimme war so schwach, daß ich ihr die Worte von den Lippen ablesen mußte. Das Atmen fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer. Nichts ging besser, nur die Schmerzen ließen nach. Ich lächelte krampfhaft. »Gut. Du bist bald wieder gesund. Man wird dich ins Krankenhaus bringen.« Sie nickte kaum merklich. Der Arzt hielt immer noch die Finger an ihren Puls und schaute auf seine Uhr. Zwei Fahrzeuge hielten mit quietschenden Reifen, ein Polizeifahrzeug und ein Krankenwagen. Zwei Carabinieri offenbar höheren Ranges stiegen aus dem ersten, Träger mit einer Bahre aus dem zweiten. Diese beiden und der Arzt nahmen mir Gabriella vorsichtig aus den Armen und hoben sie auf die Bahre. Sie schoben Decken unter ihren Kopf, um sie zu stützen, und ich sah den Arzt einen Blick auf das Einschußloch am Rücken werfen. Er versuchte nicht, ihr den Mantel auszuziehen. »Sie sprechen Französisch?«, fragte einer der Polizisten. »Ja«, sagte ich und stand auf. Ich hatte bis zu diesem Augenblick nichts vom harten Pflaster gespürt. Mein eines Bein war völlig gefühllos. »Name und Anschrift der jungen Dame?« Ich sagte ihm Bescheid. Er schrieb mit. »Und Sie?« Ich gab Antwort. 201
»Was ist passiert?«, fragte er und schloß mit einer ausholenden Geste die ganze Szene ein. »Wir liefen zur Straßenbahn. Jemand hat von da hinten auf uns geschossen.« Ich deutete auf die leere Straße, Richtung Bäckerladen. »Wer?« »Das hab ich nicht gesehen.« Sie hoben Gabriella in den Krankenwagen. »Ich muß sie begleiten«, sagte ich. Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf. »Sie können sie später besuchen. Sie müssen mitkommen und genaue Angaben machen.« »Ich habe ihr versprochen, daß ich sie nicht allein lasse …« Ich konnte es nicht ertragen, sie allein zu lassen. Ich trat hastig einen Schritt vor und packte den Arzt am Ärmel. »Schauen Sie«, sagte ich und öffnete mein Jackett. Er warf einen Blick auf mich, dann zog er das blutbefleckte Hemd aus meinem Hosenbund, um die Wunde genauer zu betrachten. Eine schmale Furche entlang der untersten Rippe, etwa zwölf Zentimeter lang. Nicht sehr tief. Ich hatte dieselbe Empfindung wie bei einer Verbrennung. Der Arzt sprach mit dem Polizeibeamten, der mich ebenfalls in Augenschein nahm. »Also gut«, sagte der französisch sprechende Beamte. »Fahren Sie lieber mit und lassen Sie sich verbinden.« Er schrieb eine Adresse in sein Notizbuch, riß die Seite heraus und gab sie mir. »Anschließend kommen Sie dorthin.« »Ja.« »Haben Sie Ihren Paß bei sich?« Ich zog ihn aus der Tasche und gab ihn ihm. Den Zettel mit der Anschrift steckte ich ein. Der Arzt wies mit dem Kopf auf den Krankenwagen. Ich stieg ein. 202
»Warten Sie«, sagte der Polizeibeamte, als man die Tür schließen wollte. »Stammen die beiden Wunden von einer Kugel?« »Nein«, erwiderte ich, »es waren zwei. Sie wurde zuerst getroffen, dann ich.« »Wir werden uns danach umsehen«, sagte er. Gabriella lebte noch, als wir das Krankenhaus erreichten. Sie lebte noch, als man sie mit der Bahre auf einen Wagen hob. Sie lebte noch, als einer der Träger schnell einen Arzt unterrichtete, und während dieser Arzt und ein zweiter ihren Allgemeinzustand begutachteten, das Taschentuch unberührt ließen und sie im Laufschritt entführten. Ein Arzt begleitete sie. Der andere, ein stämmiger Mann mit Boxerschultern, blieb stehen und stellte mir eine Frage. »Inglese.« Ich schüttelte den Kopf. »Non parlo italiano.« »Setzen Sie sich«, sagte er auf englisch. Er sprach mit starkem Akzent und kannte nur wenige englische Worte, aber es war eine Erleichterung, überhaupt sprechen zu können. Er führte mich in eine kleine weiße Kabine, die ein hohes schmales Bett und einen Stuhl enthielt. Er deutete auf den Stuhl. Ich setzte mich. Er entfernte sich und kam mit einer Schwester zurück, die Formulare mitbrachte. »Wie heißt das Fräulein?« Ich sagte es ihm. Die Schwester schrieb alles auf, Namen, Anschrift, Alter, lächelte mich tröstend an, nahm die Papiere mit und kam mit einem Verbandswagen und einer Nachricht zurück. Sie überbrachte sie dem Arzt, und er übersetzte sie, weil sie an mich gerichtet war. »Die Carabinieri haben angerufen. Sie sollen vor vier Uhr dort sein.« 203
Ich schaute auf die Uhr, ganz ohne Zeitgefühl. Noch keine ganze Stunde, seit Gabriella und ich zur Straßenbahn gelaufen waren. Ich hatte ein paar Ewigkeiten durchlebt. »Ich verstehe«, sagte ich. »Bitte, ziehen Sie das Jackett aus«, sagte der Arzt. Ich stand auf, legte das Jackett ab und zog den rechten Arm aus dem Hemd. Er verband die Wunde und klebte sie mit Heftpflaster zu. Ich zog das Hemd wieder an. »Spüren Sie nichts?«, fragte er überrascht. »Nein.« Sein kantiges Gesicht nahm weichere Züge an. »E sua moglie?« Ich verstand nicht. »Verzeihung … Ihre Frau?« »Ich liebe sie«, sagte ich. Die Aussicht, sie zu verlieren, war unerträglich. Plötzlich liefen mir die Tränen übers Gesicht. »Ich liebe sie.« »Ja.« Er nickte mitfühlend und ohne Verlegenheit. Er gehörte einer Nation an, die dem Haltungbewahren keinen Wert beimaß. »Warten Sie hier. Wir sagen Ihnen …« Er sprach den Satz nicht zu Ende und verließ den Raum. Ich wußte nicht, ob es daran lag, weil er mir nicht sagen wollte, daß sie sterben mußte, oder einfach daran, weil er nicht genug Englisch konnte, um sich richtig auszudrücken. Ich wartete eine Stunde lang, die ich nie mehr durchstehen könnte. Schließlich erschien ein anderer Arzt, ein großer, grauhaariger Mann mit schmalem Gesicht. »Sie wollen sich nach Signora Barzini erkundigen?« Sein Englisch war perfekt, seine Stimme klang ruhig und 204
präzis. Ich nickte, unfähig eine Frage zu stellen. »Wir haben die Wunde gesäubert und verbunden. Die Kugel durchdrang die Lunge und zerschmetterte eine Rippe. Die Lunge war kollabiert. Zusammen mit dem Blut drang allmählich Luft in die Brusthöhle. Wir haben das Erforderliche getan, damit die Lunge sich wieder bläht.« Er schien mir keine klinische Einzelheit ersparen zu wollen. »Kann ich … kann ich sie sehen?« »Später«, sagte er, ohne zu überlegen. »Sie ist noch in Narkose und liegt in der Wachstation. Sie können sie später sehen.« »Und … die Aussichten?« Er lächelte schwach. »In solchen Fällen besteht immer Gefahr, aber bei guter Pflege sollte sie an sich wieder gesund werden. Die Kugel selbst hat kein lebenswichtiges Organ verletzt, keines der großen Blutgefäße. Sie wäre sonst an Ort und Stelle gestorben. Je länger sie durchgehalten hat desto besser sind die Aussichten.« »Sie schien rasch zu verfallen«, sagte ich, weil ich nicht wagte, ihm zu glauben. »In mancher Beziehung ja«, erklärte er geduldig. »Ihre Verletzungen verursachten große Schmerzen, sie hatte innere Blutungen und befand sich außerdem in einem schweren Schockzustand, was oft genauso gefährlich sein kann wie die eigentliche Verletzung.« Ich bewegte den Kopf auf und ab und schluckte. »Wir ziehen das alles in Betracht. Sie ist jung und gesund, was sehr viel nützt, aber sie wird wieder Schmerzen haben, und es kann zu Komplikationen kommen. Ich bin nicht in der Lage, Ihnen Zusicherungen zu geben. Dafür ist es zu früh. Aber Hoffnung, ja, unbedingt. Es besteht durchaus Hoffnung.« 205
»Danke für Ihre Ehrlichkeit.« Er lächelte wieder. »Sie heißen Henry?« Ich nickte. »Sie haben eine tapfere Braut«, sagte er. Wenn ich sie noch nicht sehen durfte, dann war es wohl am besten, gleich zur Polizei zu fahren, dachte ich. Ich sollte bis vier Uhr dort sein, und jetzt war es zwanzig Minuten nach vier. Nicht, daß mir das wichtig gewesen wäre. Ich war so wenig daran gewöhnt, mich nach den Gebräuchen der seltsamen Nebenwelt zu richten, in die ich gestolpert war, daß ich nicht einmal an die simpelsten Vorsichtsmaßnahmen dachte. Gequält von den Gedanken an Gabriella, fiel mir nicht einmal ein, daß ich, wenn man mich schon in einer abgelegenen Nebenstraße gefunden und angeschossen hatte, außerhalb des Krankenhauses sehr gefährdet war. Im Vorhof stand ein Taxi. Der Fahrer las Zeitung. Ich winkte ihm. Er faltete die Zeitung zusammen, ließ den Motor an und fuhr auf mich zu. Ich gab ihm den Zettel mit der Anschrift, die mir der Polizeibeamte notiert hatte. Er warf gelangweilt einen Blick darauf und nickte. Ich öffnete die Wagentür und stieg ein. Er wartete höflich, bis ich saß, den Kopf halb zur Seite gedreht, dann fuhr er zum Tor hinaus. Nach fünfzig Metern bog er rechts in eine verlassene Allee neben dem Krankenhaus ein und hielt nach weiteren fünfzig Metern. Eine behende Gestalt löste sich von einem Baum, riß eine Tür des Taxis auf und stieg ein. Er feixte übers ganze Gesicht. Seinen Triumph konnte er nicht verbergen. Die Waffe mit dem Schalldämpfer schien mit seiner Hand verwachsen zu sein. Ich war ihm genau in die 206
Falle gegangen. Billy the Kid. »Du hast dir aber verdammt viel Zeit gelassen, du Dreckskerl«, sagte er. Ich sah ihn ausdruckslos an und versuchte, mein Entsetzen zu verbergen. Er setzte sich neben mich und stieß mir den Lauf der Waffe in die Rippen, genau über der Stelle, wo die Kugel mich gestreift hatte. »Tempo, Vittorio«, sagte er. »Seine Scheißlordschaft haben sich verspätet.« Das Taxi fuhr an und wurde schneller. »Vier Uhr«, meinte Billy mit breitem Grinsen. »Vier Uhr haben wir gesagt. Ist die Nachricht nicht weitergegeben worden?« »Die Polizei -«, sagte ich leise. »Hörst du das, Vittorio?« Billy lachte. »Das Krankenhaus hat dich für die Polizei gehalten. Stell sich einer das vor. Sehr lustig.« Ich drehte den Kopf zur Seite, sah zum Fenster hinaus. »Versuch’s nur«, sagte Billy. »Du hast eine Kugel im Leib, bevor du die Tür aufbringst.« Ich sah ihn an. »Ja«, sagte er grinsend. »Gibt allerhand zu schlucken, wenn man tun muß, was ich sage. Macht mir Spaß. Aber jetzt geht es erst richtig los, Freundchen.« Ich schwieg. Das störte ihn nicht. Er hatte sich seitwärts hingesetzt, und das Grinsen verzerrte sein Gesicht zu einer Grimasse. »Wie geht’s denn der Kleinen … wie heißt sie gleich?« Er schnippte mit den Fingern. »Deiner Freundin.« Verspätet begann ich zu überlegen. 207
»Sie ist tot«, sagte ich tonlos. »Soso«, meinte Billy erfreut. »Das ist aber traurig. Hörst du das, Vittorio? Das Dämchen seiner Lordschaft hat das Zeitliche gesegnet.« Vittorio nickte. Er konzentrierte sich aufs Fahren, benützte meist Nebenstraßen und wich belebteren Verkehrsadern aus. Ich starrte wie betäubt auf seinen feisten Nacken und überlegte, was für eine Chance ich hatte, Billys Waffe zu ergreifen, bevor er abdrücken konnte. Die Antwort darauf war: keine. Ich spürte den Lauf in meinen Rippen. »Los, los«, sagte Billy. »Hältst du mich nicht für tüchtig?« Ich schwieg. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie das Lächeln seinen triumphierenden Zug verlor und bösartig wurde. »Dir zeig ich’s schon«, fauchte er, »du blaublütiger Arsch, du!« Ich schwieg. Er stieß mir die Waffe in den Brustkorb. »Warte nur, Freundchen, warte nur.« Mir schien kaum etwas anderes übrigzubleiben. Das Taxi fuhr in gleichmäßigem Tempo weiter und ließ das Stadtzentrum hinter sich. »Beeil dich, Vittorio«, sagte Billy. »Wir sind spät dran.« Vittorio trat aufs Gaspedal. Wir verließen die Stadt und fuhren durch eine ländliche Gegend. Die Straße beschrieb zwei große Kurven, streckte sich wieder zur Geraden, und ich starrte verblüfft und ungläubig durch die Windschutzscheibe. Vor mir lag das riesige Areal des Flughafens Malpensa. Wir hatten ihn von der Nebenstraße aus erreicht, die zum Verladeplatz führte, von der Straße aus, die auch die Pferdetransportwagen manchmal benützten. Die DC 4 stand auf dem Rollfeld, keine hundert Meter entfernt, um vier Zuchtstuten nach England zurückzubringen. 208
Vittorio brachte das Taxi fünfzig Meter vor dem Verladeplatz zum Stehen. »So«, sagte Billy genießerisch zu mir. »Du hörst jetzt zu und machst genau, was ich sage, sonst schieß ich dir ein Loch in deinen adeligen Körper. Und zwar in den Bauch, nicht ins Herz. Darauf kannst du dich verlassen.« Ich zweifelte nicht daran. »Du gehst jetzt die Straße entlang bis zum Flugzeug, steigst die Rampe hinauf und gehst in die Toilette. Verstanden? Ich bin zwei Schritte hinter dir, die ganze Zeit.« Ich wunderte mich, spürte aber auch große Erleichterung. Ein solch mildes Ende dieser Fahrt hätte ich nicht erwartet. Wortlos öffnete ich die Tür und stieg aus. Billy schob sich hinter mir hinaus und blieb neben mir stehen. Das triumphierende Grinsen zog seinen kindlichen Mund wieder auseinander. »Los«, sagte er. Auf dieser Seite des Flugplatzes war kein Mensch zu sehen. Vierhundert Meter vor mir standen und gingen Menschen vor dem Flughafengebäude, aber vierhundert Meter auf offener Fläche waren sehr lang. Hinter mir hatte ich nur Landschaft und das Taxi. Resigniert führte ich die Anweisungen aus, ging das letzte Straßenstück entlang, erreichte die Maschine und stieg die Rampe hinauf. Billy stakte zwei Schritte hinter mir her, zu weit entfernt für einen Sprung, zu nah, um zu verfehlen. Oben auf der Rampe stand Yardman. An der Nasenwurzel hatten sich zwei steile Falten eingegraben, aber seine Augen waren wie üblich hinter den Brillengläsern unerkennbar. Er tippte mit dem Finger auf seine Uhr. »Das war aber sehr knapp«, sagte er verärgert. »Noch eine Viertelstunde, und wir wären in den größten Schwierigkeiten gewesen.« 209
Mir kam immer noch alles unwirklich vor. Billy ließ die irreale Seifenblase platzen, als er über meine Schulter hinweg sagte: »Ja, er ist erst im letzten Augenblick aus dem Krankenhaus gekommen. Fünf Minuten länger, und wir hätten ihn rausholen müssen.« Meine Nackenhaare sträubten sich. Die Fahrt hatte also doch genau ins Zentrum aller Dinge geführt. Der Abgrund gähnte vor mir. »Dann rein mit euch«, sagte Yardman. »Ich sag’ dem Piloten, daß unser Vermißter endlich vom Essen zurück ist und wir nach England zurückfliegen können.« Er hastete an uns vorbei die Rampe hinunter. Billy kicherte. »Los, Euer Scheißlordschaft«, sagte er. »Toilettentür aufmachen und rein. Gleich da links.« Der Pistolenlauf traf mich an der Wirbelsäule. »Marsch jetzt!« Ich tat die drei erforderlichen Schritte, öffnete die linke Tür und trat ein. »Hände an die Wand«, sagte Billy. »Hier vorn, damit ich dich sehen kann.« Ich gehorchte. Er schloß die Tür und lehnte sich dagegen. Wir warteten stumm. Von Zeit zu Zeit kicherte er zufrieden, und ich bedachte meine blinde Dummheit. Yardman. Yardman transportiert Leute. Simon hatte sich zu einer Schlußfolgerung durchgekämpft, wo ich auf halbem Weg steckengeblieben war. Billys Tarnmanöver hatten mich geblendet. Ich hatte nicht über sie hinaussehen und Yardman erkennen können. Statt aus Simons Botschaft und meinem eigenen Gedächtnis zu begreifen, daß auch Yardman beteiligt sein mußte, hatte ich Gabriella geküßt und den Faden verloren. Fünf Minuten später hatte sie blutend auf dem Pflaster gelegen… 210
Ich schloß die Augen und lehnte mich mit der Stirn an die Wand. Was die Zukunft auch bringen mochte, mir bedeutete das alles nichts, wenn Gabriella sterben mußte. Nach einiger Zeit kam Yardman zurück. Er klopfte an die Tür, und Billy trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. »Jetzt geht’s los«, sagte er, »wir starten bald. Aber bevor es losgeht … was ist mit dem Mädchen?« »Abgekratzt«, erwiderte Billy lakonisch. »Gut«, sagte Yardman. »Ein Problem weniger für Vittorio.« Mein Kopf zuckte zur Seite. »Mein Lieber«, sagte Yardman. »Sehr bedauerlich. So ein nettes Mädchen.« In ganz anderem Tonfall sagte er zu Billy: »Du hast miserabel gezielt. Ich hätte mehr von dir erwartet.« »Moment mal«, erwiderte Billy. In seiner Stimme war ein winselnder Unterton nicht zu überhören. »Sie fingen plötzlich an zu laufen.« »Du hättest eben näher herangehen sollen.« »Ich war ganz nah. Nah genug. Zehn Meter höchstens. Ich stand in einem Hauseingang und wollte sie gerade vollpumpen, als sie vorbeigingen, und plötzlich fingen sie zu laufen an. Ich hab’ doch das Mädel erwischt, oder? Ich meine, auch wenn sie nicht gleich hin war. Was ihn angeht – zugegeben, ich hab’ ihn verfehlt, aber sie riß ihn mit zu Boden, als ich das zweitemal abdrückte.« »Wenn Vittorio nicht dabeigewesen wäre …«, begann Yardman kalt. »Er war aber dabei«, verteidigte sich Billy.»Schließlich hab’ ich ihm gesagt, er soll sich unter die Leute mischen und zuhören. Da hat Vittorio gehört, daß der Kerl vom Krankenhaus aus sofort zur Polizei gehen sollte, aber ich bin auf die Idee gekommen, im Krankenhaus anzurufen und ihn herauszulocken. Und als ich dann das zweitemal anrief, haben Sie doch 211
selber gesagt, es sei ganz gut, Sie könnten ihn hier lebend brauchen, weil Sie noch etwas mit ihm vorhaben.« »Na gut«, sagte Yardman. »Es ist noch einmal gutgegangen, aber geschossen hast du trotzdem miserabel.« Er öffnete die Tür, so daß ich einen Augenblick lang hören konnte, wie die Rampe weggeschoben wurde, dann machte er sie hinter sich zu. Billy stieß mürrisch eine lange Reihe von Verwünschungen aus, deren Vokabular ausnahmslos den unteren Körperregionen zuzuordnen war. Kritik vertrug er nicht. Die Maschine begann zu vibrieren, als ein Motor nach dem anderen ansprang. Ich schaute auf die in Augenhöhe befindliche Uhr an meinem Handgelenk. Wenig länger, und Patrick hätte sich geweigert, an diesem Tag noch zu starten. Und jetzt blieb ihm nur wenig Zeit, um innerhalb von fünfzehn Stunden seit Dienstbeginn am Morgen nach Gatwick zurückzugelangen. Entscheidend war die Gesamtzeit, nicht nur die Addition der Flugstunden. Schon bei wenigen Minuten darüber gab es Ermittlungen und Geldstrafen. »Hinknien«, sagte Billy und stieß mir die Waffe in den Rücken. »Die Hände bleiben an der Wand. Du brauchst gar nicht zufällig zu stolpern, wenn wir abheben. Das nützt dir gar nichts.« Ich bewegte mich nicht. »Du wirst jetzt schön tun, was ich sage, Bürschchen«, sagte Billy und trat mich in die Kniekehle. »Runter mit dir.« Ich kniete mich auf den Boden. »So ist’s brav«, sagte Billy hämisch erfreut und preßte mir die Pistolenmündung in den Nacken. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung und hielt noch einmal an, rollte auf der Startbahn vorwärts und wurde schneller. In der fensterlosen Toilette konnte man den genauen Augenblick des Abhebens nicht feststellen, aber der anschließende Steigflug preßte mich sowieso an die Wand, weil ich mit dem Gesicht zum Heck 212
kniete. Billy bewahrte sein Gleichgewicht, indem er die Pistole zwischen meine Schulterblätter schob und sich darauf stützte. In einem Winkel meines Gehirns hoffte ich, daß Patrick nicht in ein Luftloch geraten würde. Er saß jetzt oben im Cockpit, so weit entfernt von mir wie nur möglich. Wahrscheinlich verfluchte er mich wegen meines Zuspätkommens. Er trank seinen ersten Becher Kaffee und schälte seine erste Banane, ohne auch nur im entferntesten zu ahnen, daß ich seine Hilfe brauchte. Er beendete den Steigflug, richtete das Flugzeug aus und nahm Gas weg. Wir waren unterwegs nach Süden, zum Mittelmeer. Zum Mittelmeer. Es lief mir zum zweitenmal kalt über den Rücken. Die DC 4 besaß keine Druckkabine. Man konnte während des Fluges die Türen öffnen. Vielleicht hatte Billy einfach aufgemacht und Simon hinausgestoßen. Exit ohne Spur. Dreitausend Meter abwärts zur azurblauen See.
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13 Yardman kam zurück und zwängte sich durch die Tür. »Es ist Zeit«, sagte er. Billy kicherte. »Kann nie zu früh sein.« »Stehen Sie auf, stehen Sie auf, mein Lieber«, sagte Yardman. »Sie sehen da unten sehr armselig aus. Bleiben Sie aber immer mit dem Gesicht zur Wand stehen.« Als ich mich aufrichtete, packte er mein Jackett am Kragen und zog es nach unten. Er zerrte zweimal daran, dann hatte er es heruntergerissen. »Ich bedauere das, wirklich«, sagte er, »aber wir müssen Sie leider bitten, Ihre Hände auf dem Rücken zu verschränken.« Wenn ich das tat, war ich so gut wie tot, dachte ich. Ich bewegte mich nicht. Billy schob sich in die schmale Lücke zwischen Waschbecken und mich und setzte mir die Pistole in den Nacken. Yardmans sachliche Stimme sagte: »Ich muß Sie wirklich warnen, mein Lieber, Ihr Leben hängt an einem sehr dünnen Faden. Wenn Billy Sie auf der Straße nicht ungeschickterweise verfehlt hätte, lägen Sie jetzt im Leichenschauhaus von Mailand. Wenn Sie nicht tun, was wir verlangen, wird er seinen Fehler mit Vergnügen augenblicklich korrigieren.« Ich verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »So ist’s gut«, sagte Yardman anerkennend. Er fesselte sie mit einem rauhen Strick zusammen. »Mein Lieber«, fuhr er fort, »Sie werden uns helfen. Wir haben einen kleinen Auftrag für Sie.« Billys große Augen glänzten, und sein Lächeln gefiel mir 214
nicht. »Sie fragen nicht, worum es geht«, sagte Yardman, »also muß ich es Ihnen erklären. Sie werden Ihren Freund, den Piloten, dazu überreden, den Kurs zu ändern.« Den Kurs zu ändern. Schlichte Worte. Eine Vorahnung durchzuckte mich. Patrick war nicht widerstandsfähig genug. Ich schwieg. Nach einer kurzen Pause fuhr Yardman leichthin fort: »Wir wollten ursprünglich den Bordingenieur verwenden, aber da Sie und der Pilot befreundet sind, wird er bestimmt tun, was Sie verlangen.« Ich schwieg immer noch. »Er kapiert es nicht«, sagte Billy verächtlich. Ich verstand es durchaus. Patrick würde tun, was sie von ihm wollten. Yardman öffnete die Toilettentür. »Umdrehen«, sagte er. Ich drehte mich um. Yardmans Blick fiel sofort auf die getrockneten Blutflecken auf meinem Hemd. Er streckte seinen langen Arm aus, zog den ehemals weißen Stoff aus meinem Hosenbund und sah den Verband. »Du hast ihn gestreift«, sagte er kritisierend zu Billy. »Wenn man sich überlegt, daß er gleichzeitig lief und hinfiel, war das nicht schlecht, vor allem mit einem Schalldämpfer.« »Fehlerhaft.« Yardman ließ nicht locker. »Ich mach’s wieder gut«, zischte Billy. »Ja, tu das.« Yardman sah mich an. »Hinaus.« Ich betrat hinter ihm die Kabine und blieb stehen. Sie machte einen völlig normalen Eindruck. Die vier Stuten standen friedlich in den zwei mittleren Boxenpaaren, wohl errichtet von Yardman und Alf. Die vorderen und die hinteren Boxen lagen zusammengeklappt am Boden. Wie üblich hatte man Heuballen 215
ins Flugzeug gebracht. Der Lärm war normal, die Luft weder wärmer noch kälter als sonst. Alles bekannt. Normal. Normal wie ein Sarg. Yardman ging weiter. »Hierher«, sagte er. Er durchquerte den freien Platz im Heck, trat auf das flache, von den zusammengelegten Boxenwänden gebildete Podest, stieg wieder herunter, neben der ersten Box, in der zwei Stuten standen. Billy stieß mir die Pistole in den Rücken. Ich folgte Yardman. »Sehr klug, mein Lieber«, meinte mein Arbeitgeber nickend. »Stellen Sie sich mit dem Rücken an die Box.« Ich drehte mich um und stand wieder mit dem Gesicht zum Heck. Yardman brauchte eine Weile, bis er meine gefesselten Hände an der mittleren Eisenstange der Box festgebunden hatte. Billy stieg auf die am Boden liegenden Boxenwände und amüsierte sich damit, die Pistole auf verschiedene Stellen meines Körpers zu richten. Er durfte nicht abdrücken. Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern schaute nach hinten, zu den beiden Sitzen an der Rückwand. Dort saß ein Mann, entspannt und interessiert, der Mann, der mit uns nach Italien geflogen war, der Mann, der John hieß. Mailand war nicht das Ziel seiner Reise gewesen, dachte ich. Yardman wollte ihn an einer anderen Stelle absetzen. Er erhob sich langsam. Seine hochmütige Haltung stand in seltsamem Widerspruch zu seiner schmutzigen Kleidung. »Ist dergleichen wirklich notwendig?«, fragte er, aber aus Neugierde, nicht aus Mitgefühl. Seine Stimme übertönte sogar das Motorengeräusch. »Ja«, sagte Yardman kurz. Ich drehte den Kopf und sah ihn an. Er beobachtete mich ernst. Auf der gespannten Haut traten die Knochen seines Schädels deutlich hervor. »Wir verstehen 216
unser Fach.« Billy wurde es müde, vor lustlosem Publikum mit einer Waffe herumzufuchteln. Er stieg von dem Podest herunter und zerrte einen Heuballen in den schmalen Durchgang zwischen der stehenden und der zusammengeklappten Box. Auf diesen Ballen setzte er einen zweiten, auf diesen wieder einen und noch einen. Vier Heuballen übereinander. Dann türmte er unmittelbar daran auf die zusammengeklappte Box drei weitere Ballen, bis keiner mehr übrig war. Gemeinsam bildeten sie eine feste Mauer, einen Meter zu meiner Linken. Yardman, John und ich beobachteten ihn stumm. »So«, sagte Yardman, als er fertig war. Er schaute auf die Uhr und sah dann zum Fenster hinaus. »Fertig?« Billy und John bejahten. Ich verzichtete auf die Bemerkung, daß ich nicht fertig war und nie fertig sein würde. Sie gingen zu dritt nach vorn, duckten sich unter der Gepäckablage und stolperten über die Spannketten. Als ich an meiner Fessel zerrte, merkte ich sofort, daß Yardman auch auf diesem Gebiet Fachmann war. Ich konnte die Hände nicht bewegen. Während ich mich verzweifelt abmühte, entdeckte ich plötzlich, daß Alf mich beobachtete. Er war überraschend aufgetaucht und stand rechts von mir. Sein Gesichtsausdruck ließ wie üblich jede Intelligenz vermissen. »Alf«, brüllte ich, »mach mich los!« Er hörte mich nicht. Er stand da und starrte mich ohne Überraschung an, ohne Gefühl. Dann drehte er sich langsam um und ging davon. Wirklich taub, aber es zahlt sich für ihn auch aus, blind zu sein, dachte ich bitter. Was er auch sah, er sprach nicht darüber. Er hatte mir auch nichts über Simon erzählt. Ich dachte gepeinigt an Gabriella, die in Mailand um ihr Leben rang. Sie muß noch am Leben sein, dachte ich, sie muß. Komplikationen, hatte der Arzt gesagt. Es kann Komplikatio217
nen geben. Eine Infektion. Eine Lungenentzündung. Nichts war mehr wichtig, wenn sie starb. Aber sie würde nicht sterben. Sie durfte nicht sterben. Meine Angst um sie ging so tief, daß sie sogar das Wissen in mir darüber erstickte, wie sehr ich Angst um mich haben mußte. Ihre Chancen, am Leben zu bleiben, standen etwa fünfzig zu fünfzig, auf mich hätte ich nicht einen Penny verwetten mögen. Nach zehn Minuten, die zehn Ewigkeiten dauerten, kam Yardman mit Billy zurück. Sie hatten Patrick zwischen sich. Patrick starte mich an. Sein Gesicht war blaß und ungläubig. Ich wußte sehr gut, was in ihm vorging. Billy trieb ihn mit der Pistole nach hinten, und Yardman deutete auf die Sitze. Er und Patrick ließen sich nebeneinander nieder. Fünf Meter von mir entfernt. Ein gefesseltes Publikum, dachte ich säuerlich. Erste Reihe Sperrsitz. Billy sprach mir ins Ohr: »Er hält nichts von einem Umweg, Ihr Freund. Sagen Sie ihm, er soll es sich überlegen.« Ich sah Billy nicht an, nur Patrick. Yardman sprach ohne Hast auf ihn ein, aber der Motorenlärm ließ kein Wort zu mir dringen. Patricks bernsteinfarbene Augen wirkten in dem hageren Gesicht dunkel, aber er schüttelte schwach den Kopf und starrte mich flehend an. Fleh soviel du magst, dachte ich, aber gib nicht nach. Ich wußte, daß es trotzdem keinen Zweck hatte. Er war nicht hart genug. »Frag ihn!«, sagte Billy. »Patrick«, schrie ich. Er konnte mich hören. Er legte den Kopf auf die Seite, um zu lauschen. Es war schwierig, innere Überzeugung und Drängen zu vermitteln, wenn man schreien mußte, um sich überhaupt verständlich zu machen, aber ich gab mein Bestes. »Bitte … nach Mailand zurückfliegen.« 218
Drei Sekunden lang geschah nichts. Dann versuchte Patrick aufzustehen. Yardman hielt ihn auf dem Sitz zurück und sagte etwas, das die beginnende Entschlußkraft in seinem fassungslosen Gesicht zunichte machte. Patrick, um Gottes willen, sei vernünftig, dachte ich. Steh auf und geh weg. Billy schraubte den Schalldämpfer von seiner Pistole und steckte ihn in die Tasche. Er knöpfte sorgfältig mein Hemd auf, zog mir den Kragen über die Schulter und schob den vorderen Hemdrand in die Rückseite meines Hosenbundes. Ich kam mir sehr nackt und lächerlich vor. Patricks Gesicht wurde noch blasser, soweit das überhaupt möglich war. Billy packte den Verband und riß ihn mit einem Ruck ab. »He!«, schrie er Yardman zu, »das ist doch kein Fehlschuß!« Yardmans Antwort ging auf dem Weg zu uns verloren. »Weißt du was?«, sagte Billy und starrte mir hämisch grinsend ins Gesicht. »Mir macht das Spaß.« Ich sparte mir die Antwort. Er legte den Pistolenlauf sorgfältig an meine Haut, flach entlang einer Rippe über der Wunde. Dann schob er mich herum, bis ich halb der Wand gegenüberstand, die er aus den Heuballen errichtet hatte. »Stillhalten«, sagte er. Er zog die Waffe etwas zurück, aber so, daß mich der Lauf noch immer berührte, und drückte ab. Bei dieser Nähe und ohne den Schalldämpfer gab es einen dröhnenden Knall. Die Kugel ritzte mir die Haut auf und grub sich in das Heu. Das Mündungsfeuer versengte mir die Haut. In der Box hinter mir begannen die erschrockenen Stuten zu trampeln. Wenn sie jetzt vor Aufregung anfingen zu fohlen, dachte ich, könnte mir das als Ablenkung nur recht sein. Patrick war aufgesprungen, entsetzt und schwankend. Ich hörte ihn Billy etwas Unverständliches zurufen, und Billy 219
brüllte zurück: »Du brauchst ja bloß nachzugeben.« »Patrick!«, schrie ich. »Flieg nach Mailand!« »Jetzt reicht’s aber«, sagte Billy. Er legte mir erneut die Pistole auf die Haut. »Stillhalten!« Yardman konnte sich meinen Tod nicht leisten, bis Patrick nachgegeben hatte. Ich war durchaus dafür, mein Leben so lange wie möglich zu verlängern, und eine ruckhafte Bewegung konnte mein Ende bedeuten. Ich gehorchte und hielt mich still. Er drückte ab. Knall, Einschlag. Sengen wie vorher. Ich sah an mir herunter, konnte aber wegen des ungünstigen Winkels nicht gut sehen. Jetzt waren es drei lange parallelverlaufende Spuren an meinem Körper, die wie Feuer brannten. Die beiden oberen fingen jetzt an zu bluten. Patrick setzte sich schwerfällig, als versagten seine Knie den Dienst, und legte die Hand auf die Augen. Yardman redete auf ihn ein und versuchte ihm klarzumachen, daß er mir weitere Qualen ersparen solle. Billy hielt nichts vom Warten. Er brachte die Waffe in Position, befahl mir stillzuhalten und drückte ab. Ob er es gewollt hatte oder nicht, diesmal ging der Schuß etwas tiefer. Der Einschlag riß mich herum und verrenkte mir die Arme. Ich verlor das Gleichgewicht. Die Stuten wieherten und trampelten in den Boxen, aber leider ließ ihre Aufregung bald wieder nach. Bedauerlich. Diesmal hatte ich die Augen geschlossen. Ich öffnete sie langsam. Patrick und Yardman standen nur noch drei Meter von mir entfernt. Patrick starrte mit weitaufgerissenen Augen Billys Kunstwerk an. Zu weichherzig, dachte ich verzweifelt. Uns blieb nur eine Chance, wenn er ohne Rücksicht auf mich nach Mailand zurückflog. Wir waren erst eine halbe Stunde unterwegs. 220
Und in einer halben Stunden konnten wir landen. Eine halbe Stunde … Ich schluckte und befeuchtete meine trockenen Lippen. »Wenn du sie hinfliegst, wo sie landen wollen«, rief ich drängend zu Patrick, »bringen sie uns alle um.« Er glaubte mir nicht. Es war ihm nicht gegeben, das zu glauben. Statt dessen hörte er Yardman zu. »Seien Sie nicht albern, mein Lieber. Natürlich bringen wir Sie nicht um. Sie landen, wir steigen aus, und Sie können wieder abfliegen, völlig unbehelligt.« »Patrick«, schrie ich verzweifelt, »flieg nach Mailand!« Billy zielte. »Was glauben Sie, wie lange Sie stillhalten können?«, fragte er. »Was wollen Sie wetten?« Ich versuchte zu sagen: ›Sie haben Gabriella erschossen‹, aber Billy wartete schon darauf. Ich brachte die ersten beiden Worte heraus, aber als ich ihren Namen aussprechen wollte, drückte er ab, und er ging im Knall der Explosion und meinem eigenen Ächzen unter. Als ich diesmal die Augen öffnete, waren Patrick und Yardman verschwunden. Kurze Zeit klammerte ich mich an die vage Hoffnung, daß Patrick umkehren würde, aber Billy blies nur in die Mündung seiner heißgeschossenenen Pistole und lachte mir ins Gesicht. Als die Maschine seitlich abwinkelte, tat sie das nach links und nicht in einem Bogen, der sie um hundertachtzig Grad drehte. Nachdem das Flugzeug wieder ausgerichtet war, sah ich das Licht der untergehenden Sonne in messerscharfen Strahlen schräg durch die Reihe der ovalen Fenster zu meiner Rechten einfallen. Kein Wunder, dachte ich dumpf. Wir flogen Richtung Osten. Billy hatte die Tasche voller Patronen. Er saß auf der zusam221
mengeklappten Box und lud seine Waffe. Als das Magazin gefüllt war, schob er es hinein und streichelte die Pistole. Sein Blick richtete sich plötzlich auf mich, war voller Bösartigkeit. »Drecks-Earl«, sagte er. ›Hängt die Aristokraten!‹, dachte ich müde, ›und so weiter.‹ Er stand abrupt auf und zischte: »Ich zwing dich schon dazu.« »Wozu?« »Daß du bittest.« »Was soll ich bitten?« »Irgendwas. Ich zwing dich schon dazu.« Ich schwieg. »Fang an!«, fauchte er. Ich sah ihn an, als sei er nicht vorhanden. Kämpfe werden nicht immer mit den Fäusten ausgetragen, dachte ich betroffen. »Na schön«, sagte er abrupt. »Du bittest schon noch. Du bittest ganz bestimmt.« Ich fühlte mich nicht sicher genug, um zu widersprechen. Das herausfordernde Grinsen erschien wieder auf seinem Gesicht, vielleicht ohne die alte, hundertprozentige Sicherheit, aber trotzdem nicht weniger gefährlich. Er nickte knapp und ging nach vorn. Hoffentlich blieb er dort. Ich sah zu, wie die Sonnenstrahlen immer kürzer wurden, und versuchte konzentriert, unseren Kurs auszurechnen; eigentlich mehr, um mich abzulenken, als in der Hoffnung, diese Angaben für eine Rückkehr verwenden zu können. Es hatte schon weh genug getan, als Billy geschossen hatte, aber die Brandwunden waren erst hinterher richtig heiß geworden. Das war normal. Der Druck, der im Lauf einer Pistole erzeugt wurde, lag, wenn ich mich recht erinnerte, irgendwo bei fünf Tonnen. Die Kugel verließ den Revolver mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Metern pro Sekunde und flog, wenn sie nicht 222
aufgehalten wurde, ungefähr vierhundertfünfzig Meter weit. Die Explosion, die die Kugel auf den Weg brachte, schleuderte auch Flammen, Rauch, heiße Gase und brennende Schießpulverpartikel heraus, die, wenn man ihnen direkt ausgesetzt war, eine ziemliche Schweinerei anrichteten. Doch die Kenntnis dieser charmanten Einzelheiten konnte mich auch nicht trösten. Meine Wunden brannten wie Feuer und hörten auch nicht auf, so als ob jemand ein heißes Bügeleisen draufgestellt und es dort vergessen hätte. Es dauerte eine Stunde, bis ich wieder jemanden zu Gesicht bekam. Es war Alf. Er schlurfte um die Box herum und starrte mich an. In der Hand hatte er einen Becher Kaffee. Sein zerfurchtes, altes Gesicht war wie üblich völlig ausdruckslos. »Alf!«, brüllte ich. »Mach mich los!« Es gab keinen Fluchtweg. Ich wollte mich nur hinsetzen. Aber Alf konnte oder wollte nicht hören. Er sah sich geruhsam meinen Brustkorb an, ohne zu reagieren, aber irgendwo schien doch Menschlichkeit in ihm zu hausen, denn er trat einen Schritt vor und hob seinen Becher, ohne mich zu berühren. Auf dem Becher stand ›Alf‹, so wie es Mike heute morgen in jener fernen, vergangenen Welt der Normalität und der Sicherheit dort hingeschrieben hatte. »Wollen Sie was?«, fragte er. Ich nickte, halb befürchtend, er würde den Kaffee auf den Boden gießen, wie es Billy eingefallen wäre, aber er hielt mir den Becher an den Mund und ließ mich austrinken. Lauwarmer, zu stark gesüßter Pulverkaffee. Das beste Getränk meines Lebens. »Danke«, sagte ich. Er nickte, zog eine Grimasse, die man für ein Lächeln ansehen konnte, und schlurfte wieder davon. Kein Verbündeter; aber wenigstens kein Gegner. Die Zeit verging. Ich konnte nicht auf meine Uhr sehen, 223
traute auch nicht meinem Schätzungsvermögen, aber ich nahm an, daß seit der Kursänderung etwa zwei Stunden vergangen waren. Ich hatte die Orientierung verloren. Die Sonne war untergegangen, und wir flogen in die Dämmerung hinein. In der Kabine wurde es kälter. Ich hätte mein Hemd gerne ordentlich zugeknöpft, noch lieber einen warmen Pullover getragen, aber die Stuten in meinem Rücken lieferten Wärme genug, daß ich wenigstens nicht fror. Eine volle Ladung von acht Pferden in diesem engen Flugzeug sorgte für die Temperatur eines Sommertages, selbst wenn es draußen eisig kalt war, und wir brauchten nur selten die Heizung. Daß Patrick unter diesen Umständen daran denken würde, sie anzustellen, war wohl kaum zu erwarten. Zwei Flugstunden. Wir mußten in der Nähe von Albenga gewesen sein, dachte ich, als wir den Kurs geändert hatten. Wenn wir also seitdem immer nach Osten geflogen waren und dieselben Windverhältnisse herrschten wie am Vormittag, mußten wir Italien nördlich von Florenz überquert haben. Vor uns lag die Adria, dann folgte Jugoslawien und dann Rumänien. Ich wußte, daß es überhaupt nicht darauf ankam, wohin wir flogen, das Ende war dasselbe. Ich bewegte mich erschöpft, um etwas Entlastung zu finden, und fragte mich zum tausendstenmal, ob Gabriella es schaffen würde. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken. Die Polizei würde mein Ausbleiben übel vermerken. Meinen Paß hatte ich abgegeben. Wenn ich ihn nicht mehr abholte, mochte es wenigstens eine genaue Untersuchung geben. Gabriella wußte genug, um erklären zu können, wo ich ohne Absicht hineingestolpert war. Wenn sie am Leben blieb … wenn sie am Leben blieb! Die Maschine neigte sich zur Seite und kurvte steil nach links weg. Ich stemmte mich gegen die Schräglage und versuchte, sie abzumessen. Neunzig Grad, dachte ich. Nein, mehr. Ich 224
begriff das nicht ganz. Aber wenn – wenn wir die Adria erreicht hatten, flogen wir jetzt vielleicht nach Nordwesten, zurück nach Venedig – und Triest. Ich gestand mir düster ein, daß das reine Vermutungen waren, daß ich hoffnungslos verwirrt war, und das in mehr als einer Beziehung. Zehn Minuten später veränderte sich der Motorenklang. Das Brausen ließ nach. Wir gingen tiefer. Mein Herz sank mit hinunter. Viel Zeit blieb nicht mehr. Hereinbrechende Nacht und langsames Tiefergehen, das war das Ende. Zwei Reihen von Lichtpunkten, die wie Autoscheinwerfer aussahen, bezeichneten die beiden Enden einer Landebahn. Wir kreisten einmal so steil darüber, daß ich sie durch das schräggestellte Fenster sehen konnte. Dann fing Patrick die Maschine ab. Sie wurde langsamer und setzte auf unebenem Boden auf. Gras, kein Beton. Das Flugzeug rollte noch ein Stück, dann hielt es. Die vier Motoren verstummten, einer nach dem anderen. In der Maschine war es dunkel und still, und drei irreführende Minuten lang herrschte Frieden. Die Deckenbeleuchtung flammte grell auf. Die Stuten hinter mir schlugen aus, das andere Paar wieherte unruhig. In der Kombüse polterte es, dann hörte ich, wie jemand zurückkam, über die Spannketten stolpernd. Patrick tauchte als erster auf, hinter ihm Billy. Billy hatte den Schalldämpfer wieder auf die Pistole geschraubt. Patrick ging an der zusammengelegten Box vor den beiden Toilettentüren vorbei. Er bewegte sich steif, als spüre er seine Füße nicht am Boden, als schlafwandle er. Billy war neben mir stehengeblieben. »Dreh dich um, Pilot«, sagte er. Patrick drehte sich, zuerst mit dem Rumpf, dann mit den Beinen. Er taumelte ein wenig und blieb schwankend stehen. Sein Gesicht war vorher weiß gewesen, jetzt sah es grau aus. Seine Augen wirkten unnatürlich groß, seine Lippen zitterten. 225
Er starrte mich durchdringend an. »Er … hat … sie … erschossen. Bob … und Mike. Bob und Mike.« Seine Stimme brach. Billy kicherte leise. »Du hast gesagt, daß sie uns alle umbringen.«Er begann am ganzen Körper zu zittern. »Ich konnte es … nicht glauben.« Er starrte meinen Brustkorb an. »Ich konnte einfach nicht … Sie sagten, sie würden weitermachen …« »Wo sind wir?«, fragte ich scharf. Er hob ruckartig den Blick, als hätte ich ihn wachgerüttelt. »Italien«, begann er automatisch. »Südwestlich von …« Billy hob die Pistole und zielte auf seinen Kopf. »Nein!«, schrie ich voller Zorn und Entsetzen, so laut ich konnte. »Nein!« Er zuckte ein wenig zusammen, aber er war nicht zu beirren. Die Pistole bellte leise durch den Schalldämpfer, und die Kugel traf ihr Ziel. Patrick konnte die Hände halb zum Kopf hochreißen, bevor ihn die Dunkelheit erfaßte. Er drehte sich auf einknickenden Beinen und stürzte zu Boden, lag mit dem Gesicht nach unten, regungslos. Sein rotbraunes Haar berührte die Toilettentür. Seine Schuhsohlen zeigten nach oben. In der rechten war ein kleines Loch.
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14 Yardman und John schoben sich an Billy und der zusammengelegten Box vorbei und starrten auf Patrick hinunter. »Warum haben Sie das hier gemacht?«, fragte John. Billy schwieg. Sein Blick war auf mich gerichtet. »Billy, Mr. Rous-Wheeler möchte wissen, warum du den Piloten hierhergebracht hast, um ihn zu erschießen«, sagte Yardman ruhig. Billy lächelte und wandte sich an mich. »Ich wollte, daß du zusiehst.« John – Rous-Wheeler – sagte leise: »Mein Gott!« Ich drehte den Kopf und sah, daß er meine Rippen anstarrte. »Nicht schlecht geschossen, was?«, meinte Billy, der seinem Blick gefolgt war und seinen Ton als Kompliment auffaßte, zufrieden. »Er hat überhaupt kein Fett auf dem Leib, und die Haut über seinen Rippen ist dünn. Sehen Sie, ich habe jedesmal direkt an einem Knochen entlanggeschossen! Saubere Arbeit das. Gekonnt, würde ich sagen. Hier, von diesen Streifen rede ich«–, ihm lag sehr daran, daß der andere es auch richtig begriff, »nicht von dem ganzen Schwarz und Rot drum rum. Das sind nur Brandspuren und getrocknetes Blut.« Rous-Wheeler, das mußte man ihm lassen, schien sich nicht ganz wohl zu fühlen. »Gut, Billy«, sagte Yardman gelassen. »Leg ihn um.« Billy hob seine Waffe. Ich hatte die Unvermeidbarkeit dieses Augenblicks längst akzeptiert und spürte kein Gefühl außer Bedauern. »Er hat keine Angst«, sagte Billy enttäuscht. 227
»Na und?«, sagte Yardman. »Er soll Angst haben.« Yardman hob die Schultern. »Darauf kommt es doch nicht an.« Für Billy kam es vor allem darauf an. »Ich möcht mir ein bißchen Zeit lassen bei ihm. Wir haben ja Stunden zu warten.« Yardman seufzte. »Na schön, Billy, wenn du meinst. Aber zuerst erledigst du alles andere. Zieh die Vorhänge an den Fenstern vor, wir wollen nicht auffallen. Dann gehst du hinunter und sagst Giuseppe, er soll die Landebeleuchtung abschalten, der Narr denkt an nichts. Leitern und Farbe hat er für uns bereitgestellt. Er, du und Alf, ihr könnt sofort damit anfangen, den Namen der Fluggesellschaft und die Kennzeichen zu übermalen.« »Ja«, sagte Billy. »Okay. Und dabei laß ich mir was einfallen.« Er sah mich höhnisch an. »Etwas ganz Besonderes für Euer Scheißlordschaft.« Er steckte die Pistole ins Halfter und den Schalldämpfer in die Tasche, dann zog er alle Vorhänge im hinteren Teil der Kabine zu, bevor er nach vorn ging. Rous-Wheeler stieg über Patrick, ließ sich in einem der Sitze nieder und zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten. »Warum lassen Sie das zu?«, fragte er Yardman. »Warum lassen Sie ihn tun, was er will?« »Er ist unbezahlbar«, meinte Yardman seufzend. »Der geborene Totschläger. So häufig sind die nicht, verstehen Sie. Diese Kombination von Roheit und Genußsucht ist unschlagbar. Wenn es geht, laß ich ihm als eine Art Belohnung freie Hand, weil er jeden umbringt, den ich ihm nenne. Ich könnte das nicht. Er bringt Menschen um, wie andere einen Käfer zertre228
ten.« »Er ist so jung«, protestierte Rous-Wheeler. »Sie taugen nur etwas, solange sie jung sind«, erwiderte Yardman. »Billy ist neunzehn. In sieben oder acht Jahren würde ich ihm nicht mehr trauen. Über Dreißig sind solche Leute nicht mehr zuverlässig.« »Das klingt so, als würde man sich einen Tiger an der Leine halten«, meinte Rous-Wheeler nach kurzem Räuspern. Er versuchte, so sachlich zu bleiben wie Yardman. Er schlug die Beine übereinander und stieß mit den Schuhen gegen Patrick. Mit angeekeltem Gesicht sagte er: »Können wir ihn nicht zudecken?« Yardman nickte gleichmütig und ging nach vorn. Er brachte eine graue Decke aus dem Gepäckraum mit, entfaltete sie und deckte Patrick damit zu. Die kurze Pause benützte ich dazu, Rous-Wheeler anzustarren, der meinem Blick auswich. Ich fragte mich, wer er war und warum er so viel bedeutete, daß ein Transport über Mailand hinaus das Leben von drei völlig unbeteiligten und unschuldigen Fliegern wert war. Ein unauffällig aussehender Mann Mitte Dreißig, mit beginnenden Tränensäcken unter den Augen und schmalen Lippen. Ein an die Gewalttätigkeit nicht Gewöhnter, der bemüht war, seine Hände in Unschuld zu waschen. Ein Mann, dessen Flugkarte mit Tod und Leid bezahlt wurde. Als Yardman Patrick zugedeckt hatte, setzte er sich auf den Stapel von Boxenwänden. Die Deckenbeleuchtung ließ seine Glatze schimmern, und die schwarze Hornbrille legte breite Schattenbänder über Augen und Wangen. »Ich bedaure das, mein Lieber, glauben Sie mir, ich bedaure es ernsthaft«, sagt er mit einem Blick auf das Resultat von Billys Zielübungen. Wie Rous-Wheeler nahm er eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. »Er hat Ihnen übel 229
mitgespielt.« Aber nur oberflächlich, wenn man’s genau betrachtete. Ich dachte darüber nach. Es hatte nicht viel Sinn. »Verstehen Sie, was Billy will?«, fragte Yardman. Ich nickte. Er seufzte. »Können Sie ihn dann nicht … äh … befriedigen, mein Lieber? Sie machen es sich nur um so vieles schwerer, wenn Sie es nicht tun.« Ich erinnerte mich an die dumme Prahlerei Billy gegenüber, als wir uns kennengelernt hatten, nämlich, daß ich so hart sein konnte, wie nur immer notwendig. Jetzt zweifelte ich sehr daran. Als ich schwieg, schüttelte Yardman betrübt den Kopf. »Dummheit. Was für eine Rolle spielt das noch für Sie, wenn Sie tot sind?« »Niederlage …« Ich räusperte mich und versuchte es von neuem. »Eine Niederlage in jeder Beziehung.« Er runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?« »Die Kommunisten sind gierig«, sagte ich. »Gierig«, wiederholte er. »Sie reden irr.« »Sie wollen die Menschen zermalmen, bevor sie sie töten. Und das ist … eine Form von Gier.« »Unsinn«, erklärte Rous-Wheeler hochmütig. »Sie müssen doch von den Prozessen in Rußland gehört haben«, sagte ich und zog eine Braue hoch. »Diese Selbstbezichtigungen …« »Die Russen sind ein großes, warmherziges, schlichtes Volk«, erklärte er steif. »Gewiß«, sagte ich. »Aber es gibt dort auch Leute wie Billy.« »Billy ist Engländer.« 230
»Das sind Sie auch«, sagte ich. »Und wohin gehen Sie?« Er preßte die Lippen zusammen und schwieg. »Ich hoffe, daß Ihr Reisebüro die Größe, Warmherzigkeit und Schlichtheit der Erdhälfte, in die Sie überwechseln wollen, garantiert«, sagte ich mit einem Blick auf Patricks zugedeckte Leiche. »Mein Lieber«, unterbrach mich Yardman. »Was für eine Rednergabe!« »Wenn man sich unterhält, braucht man an verschiedenes nicht zu denken«, erwiderte ich. Ich war plötzlich von einer Art Tollkühnheit besessen, mein Verstand arbeitete klar und scharf. Ein Gespräch selbst mit diesen beiden Wesen war plötzlich weitaus angenehmer, als allein auf Billy warten zu müssen. »Der Zweck heiligt die Mittel«, sagte Rous-Wheeler gespreizt. »Quatsch!«, gab ich weniger elegant zurück. »Sie schätzen sich zu hoch ein.« »Ich bin …«, begann er zornig, verstummte aber sofort. »Weiter«, sagte ich. »Sie sind was? Sie können es ruhig aussprechen. Ich werde schweigen wie ein Grab …« Das brachte ihn aus der Ruhe, was mich freute. »Ich bin Staatsbeamter«, erklärte er steif. »Sie waren es«, verbesserte ich. »Äh … ja.« »In welchem Ministerium?« »Schatzamt«, erwiderte er selbstzufrieden. Schließlich war er damit ins innerste Heiligtum vorgestoßen. Das Schatzamt. Das verschlug mir die Sprache. »In welchem Rang?«, fragte ich. »Höhere Laufbahn.« 231
Seine Stimme klang mürrisch. Man hatte ihn nicht befördert. »Und warum wechseln Sie über?« »Das geht Sie nichts an.« Seine Mitteilsamkeit endete abrupt. »Eigentlich schon«, meinte ich, »da Ihr Übertritt für meine Zukunft recht entscheidend sein dürfte.« Er machte ein säuerliches Gesicht und schwieg. »Sie gehen also wohl dorthin, wo man angeblich Ihre Fähigkeiten besser zu schätzen weiß«, sagte ich mit sanfter Ironie. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er fast so bösartig aus wie Billy. Ein engstirniger Mensch, dachte ich, erbost über vermeintliche Herabsetzung. Wo man ihn seiner Meinung nach nicht hoch genug einschätzte, stieg er eben aus. Aber das verminderte um kein Jota den Wert des Wissens, das er im Kopf mit sich trug. »Und Sie?«, sagte ich zu Yardman. »Warum tun Sie es? All das hier?« Er sah mich an. »Ideologie?«, fragte ich. Er schnippte Asche von der Zigarette, schien an seinen Lippen zu knabbern und sagte kurz: »Geld.« »Die Ware ist Ihnen egal, solange die Frachtkosten bezahlt werden?« »Richtig.« »Ein Söldner. Gemetzel nach Vereinbarung. Gekämpft wird für den, der am meisten bezahlt?« »Stimmt«, sagte er. Kein Wunder, daß ich ihn nie hatte verstehen können, dachte ich. »Aber glauben Sie mir, mein Lieber«, sagte er ernsthaft, »ich habe nie etwas gegen Sie im Schilde geführt. Nicht gegen Sie.« 232
»Danke«, gab ich trocken zurück. »Als Sie mich um eine Stellung baten, hätte ich beinahe abgelehnt, aber ich dachte, Sie bleiben nicht lange. Ihr Name hat meiner Firma außerdem Respekt verschafft, also war ich einverstanden.« Er seufzte. »Ich muß zugeben, Sie haben mich überrascht. Sie waren ungemein tüchtig, wenn das ein Trost für Sie sein sollte. Sehr tüchtig. Zu tüchtig. Ich hätte der Sache ein Ende machen sollen, als Ihr Vater starb, als ich die Gelegenheit dazu hatte, bevor Sie auf Dinge gestoßen sind … es war egoistisch von mir, egoistisch.« »Simon Searle hatte etwas gemerkt«, erinnerte ich ihn. »Nicht ich.« »Leider«, meinte er gelassen. »Sehr schade. Auch er war unbezahlbar. Ein Mensch von großer Genauigkeit, sehr schwer zu ersetzen.« »Wären Sie so freundlich, mein Hemd aus der Hose zu ziehen?«, sagte ich. »Mir wird kalt.« Wortlos stand er auf, zog das zusammengeknüllte Hemd hinten aus dem Hosenbund und schob Kragen und Schultern an die richtige Stelle. Das Hemd fiel vorne übereinander, aber die leichte Berührung des Stoffs an den Wunden wurde durch die Wärme mehr als ausgeglichen. Yardman setzte sich an seinen Platz und zündete die nächste Zigarette am Stummel der ersten an, ohne Rous-Wheeler auch eine anzubieten. »Ich wollte Sie auf diese Strecke nicht mitnehmen«, fuhr er fort. »Glauben Sie mir, als wir in Gatwick abflogen, wollte ich in Mailand durch ein Ablenkungsmanöver dafür sorgen, daß Sie nicht mit zurückfliegen könnten.« »Nennen Sie das ein Ablenkungsmanöver, wenn Sie meine Freundin erschießen lassen?«, fragte ich düster. Er sah mich bekümmert an. 233
»Natürlich nicht. Ich wußte nicht, daß Sie eine Freundin haben, bis Sie sie mir vorstellten. Aber dann hielt ich es für eine ausgezeichnete Idee, Ihnen zu empfehlen, daß Sie ein oder zwei Tage bei ihr bleiben, weil wir sehr gut ohne Sie ausgekommen wären. Er«, er wies mit dem Kopf auf Patrick, »er sagte mir, daß Sie sich Hals über Kopf in das Mädchen verliebt hätten. Pech für Sie, daß er mir auch erzählt hat, wie eifrig Sie nach Searle suchten. Und er erzählte mir das mit der Pillenflasche. Dieses Risiko konnten wir nicht eingehen.« »Risiko«, sagte ich bitter. »O ja, mein Lieber, selbstverständlich. Risiken können wir uns in diesem Geschäft nicht leisten. Ich handle sofort, wenn ich ein Risiko erkenne. Auf Gewißheit zu warten kann tödlich sein. Und ich hatte in diesem Fall ja recht, nicht wahr? Sie haben mir selbst erzählt, wohin Sie zum Essen gehen, also wies ich Billy an, Sie zu suchen, Ihnen zu folgen und sich zu vergewissern, daß nur Liebe auf dem Spiel stand und nichts sonst. Aber Sie stürmten aus dem Restaurant und brausten zu einer kleinen Bäckerei. Billy folgte Ihnen in Vittorios Taxi und rief mich von dort aus an.«Er breitete die Hände aus. »Ich befahl ihm, Sie beide zu töten, sobald Sie herauskamen, und Sie unter dem Vorwand, Ihnen helfen zu wollen, zu durchsuchen.« »Ohne darauf zu warten, bis Sie wußten, ob die Flasche noch etwas anderes enthielt als Pillen?« »Das war eben das Risiko«, sagte er. »Ich hab es Ihnen gesagt. Wir können es uns nicht leisten. Dabei fällt mir ein, wo ist Searles Nachricht?« »Er hat keine Nachricht hinterlassen.« »Aber sicher, mein Lieber«, mahnte er mich. »Sie haben so wenig Überraschung gezeigt, so wenig Fragen gestellt. Für mich stand sofort fest, daß Sie viel zuviel wußten, als Billy Sie zur Maschine zurückbrachte. Ich habe Erfahrung in diesen 234
Dingen.« Ich zuckte die Achsel. »In meiner Brieftasche«, sagte ich. Er zog an seiner Zigarette, warf mir einen anerkennenden Blick zu, stieg über Patrick hinweg und holte mein Jackett aus der Toilette. Er leerte die Brieftasche und legte die Sachen neben sich auf den Stapel von Boxenwänden. Als er den Hundert-Dinar-Schein entfaltete, fielen der Fetzen Papier und die Heuhalme heraus. Er sah sich den Geldschein an. »Schuld ist Billy mit seiner Nachlässigkeit. Er hat die Behälter nicht gut genug versteckt.« »Es war also viel Geld?« »Räder müssen geölt werden«, sagte Yardman. »Und es hat keinen Sinn, Jugoslawen mit englischem Geld zu bezahlen. Alle Agenten bestehen darauf, in der Währung entlohnt zu werden, die sie ohne Aufsehen ausgeben können. Mir geht es genauso.« Ich sah ihm zu, als er den Papierfetzen unschlüssig hin- und herdrehte. Schließlich entdeckte er die Löcher und hielt das Papier ans Licht. Nach ein paar Sekunden ließ er es sinken und sah von mir zu Rous-Wheeler. »Leute«, sagte er ohne Betonung, »und als Sie das gelesen haben, mein Lieber, begriffen Sie das meiste.«Eine Feststellung, keine Frage. Gabriella, dachte ich dumpf, bleib um Himmels willen am Leben. Bleib am Leben und erzähl, was du weißt. Ich schloß die Augen und stellte sie mir vor, wie sie beim Mittagessen gewesen war. Fröhlich, hinreißend, vor Leben sprühend. Gabriella, mein geliebtes Herz … »Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte Yardman trocken. 235
Ich öffnete die Augen und schob die Gedanken an Gabriella beiseite, dorthin, wo seine erschreckende Intuition sie nicht erreichen konnte. »Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. Yardman lachte tatsächlich. »Sie gefallen mir, im Ernst. Sie werden mir sehr fehlen.« »Sie sind …« Ich starrte ihn an. »Sie fliegen wieder heim?« »Selbstverständlich.« Er schien überrascht zu sein, dann lächelte er schwach. »Woher sollen Sie das wissen, das hab’ ich ganz vergessen. Ja, wir fliegen natürlich nach Hause. Mein Transportsystem wird … äh … dringend benötigt und sehr geschätzt. Nur die Maschine und Mr. Rous-Wheeler setzen den Weg fort.« »Und die Pferde?«, fragte ich. »Auch sie«, erwiderte er nickend. »Es sind wertvolle Zuchtstuten. Wir dachten erst, wir müßten sie schlachten, hörten dann aber, daß man sie wegen ihrer Fohlen lebendig akzeptieren würde. Nein, mein Lieber, Billy und ich fahren mit dem Wagen zurück. Den halben Weg mit Giuseppe, die zweite Hälfte mit Vittorio.« »Zurück nach Mailand?« »Ja. Morgen vormittag erhalten wir die tragische Nachricht, daß das Flugzeug, das wir heute nachmittag um Minuten verfehlten, vermißt wird und wahrscheinlich ins Mittelmeer gestürzt ist, wobei alle Insassen ums Leben kamen, einschließlich Ihnen.« »Es muß aber doch eine Funkmeldung …«, sagte ich. »Mein Lieber, wir sind Profis.« »Geölte Räder?«, meinte ich ironisch. »Sehr aufmerksam«, sagte er. »Schade, daß ich Sie nicht dazu bewegen kann, zu uns zu kommen.« 236
»Und warum geht das nicht?«, fragte Rous-Wheeler gereizt. »Was soll ich ihm bieten?«, erkundigte sich Yardman. »Sein Leben«, erklärte Rous-Wheeler triumphierend. Yardman versuchte nicht einmal zu erklären, warum das keinen Zweck hatte. Das Schatzamt hat doch keinen sehr großen Verlust erlitten, dachte ich. Billys Stimme tönte plötzlich durch die Kabine. »He, Mr. Yardman«, rief er. »Können Sie nicht herkommen mit Mr. Rous-Wheeler und uns helfen? Das ganze Flugzeug ist voll Buchstaben und Ziffern. Wir müssen fast das ganze Dinge überpinseln.« Yardman stand auf. »Ja, natürlich«, sagte er. Rous-Wheeler hatte keine Lust. »Ich bin nicht …«begann er gewichtig. »Und Sie wollen nicht zu spät kommen«, unterbrach ihn Yardman. Er trat beiseite, um einen ernüchterten RousWheeler vorangehen zu lassen, dann marschierten sie beide nach vorn durch die Kombüse und stiegen die ausziehbare Leiter hinunter. Verzweiflung kann Berge versetzen. Ich hatte nicht mehr gehofft, auch nur eine Minute allein sein zu können, um das zu testen, aber mir war eine Möglichkeit eingefallen, mich von der Box loszumachen, wenn ich noch Kraft genug besaß. Yardman hatte es schwer gehabt, das Seil zwischen der Eisenstange und der Holzwand hinunterzuschieben, als er mich dort festband; er hatte es mit der Klinge seines Taschenmessers hinunterschieben müssen. Es wäre wahrscheinlich gar nicht gegangen, dachte ich, wenn sich die Holzwand nicht ein wenig verzogen hätte oder die Eisenstange verbogen gewesen wäre. Die meisten Stangen lagen flach und eng an den Boxen, ohne jeden Zwischenraum. 237
Ich stand etwa einen halben Meter von der Ecke der Box entfernt, und an der Ecke war die Stange mit einem Durchsteckbolzen befestigt. Ich zog mir Holzsplitter ins Handgelenk, und nachdem ich zehn Zentimeter vorangekommen war, dachte ich, es niemals schaffen zu können. Stange und Holzwand schienen sich einander immer mehr zu nähern, und das Seil dazwischen durchzuziehen wurde immer schwieriger, bis es gar nicht mehr ging. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann dachte ich an meine Füße. Ich beugte das Knie, stellte meinen Fuß an die Box hinter mich, so hoch ich konnte, und drückte mit aller Kraft dagegen. Gleichzeitig zog ich mit den Armen an der Stange und ruckte meine Handgelenke seitwärts. Ich kam wieder zwei Zentimeter voran. Es klappte. Verbissen arbeitete ich mich weiter, bis es nur noch wenige Zentimeter waren. Jetzt konnte ich den Bolzen, wenn auch unter Verdrehungen, mit den Fingern erreichen. Langsam, peinigend langsam schob ich ihn von unten hoch, wechselte den schwachen Griff, packte den Bolzen oben an der runden Kappe, zog ihn Millimeter für Millimeter in meiner Handfläche nach oben und spürte schließlich mit unbeschreiblichem Triumph, daß er ganz herausglitt. Die Eisenstangen klafften auseinander, und es erforderte fast keine Kraft mehr, das Seil durch die Lücke herauszuziehen. Gar nicht so übel, sagte ich mir mit einem Hauch von Grinsen. Jetzt brauchte ich nur noch meine Hände frei zu bekommen. Yardman hatte mein Jackett auf dem Stapel von Boxenwänden liegengelassen, und in meiner Innentasche befand sich ein kleines, scharfes Taschenmesser. Ich setzte mich auf das niedrige Podest, versuchte mir einzureden, daß das nicht deshalb geschah, weil meine Knie mich nicht mehr trugen, sondern weil ich so das Jackett besser erreichen konnte. Das Messer war noch da, schmal und vertraut. Ich klappte es 238
auf, umklammerte es fest und begann blindlings an einer Stelle zwischen meinen Handgelenken zu schneiden. Durch das Entlangzerren zwischen Stange und Holzwand war das Seil schon etwas zerfasert, so daß es nach wenigen Sekunden schon barst. Meine Schultern schmerzten, als ich die Hände nach vorn nahm. Yardman, der nicht von Natur aus brutal war, hatte die Fesseln nicht so stramm gezogen, daß die Durchblutung behindert war. Ich bewegte die Finger. Sie waren in Ordnung. Ich raffte Brieftasche und Jackett zusammen und ging gebeugt unter der Gepäckablage nach vorn, stieg ganz vorsichtig über die Spannketten, um keinen Lärm zu machen, denn die fünf Kunstmaler wären sofort zur Stelle gewesen. Ich erreichte die Kombüse und schritt hindurch. Vor dem Cockpit blieb ich einen Augenblick wie angewurzelt stehen. Mikes Leiche lag zusammengekrümmt an der linken Wand. Ich riß den Blick und meine Gedanken von ihm los und schob mich langsam zum Ausgang vor. Rechts erreichte ich erst den Gepäckraum, danach kam die Tür. Der Anblick meiner Reisetasche im Gepäckraum rief mir meinen schwarzen Pullover ins Gedächtnis. Besser als mein Jackett, dachte ich. Er hatte einen Rollkragen, behinderte die Beweglichkeit nicht und schonte meine gemarterte Haut. Nach wenigen Sekunden hatte ich ihn übergestreift und schob meine Brieftasche in die Hose. Fünf Mann, rund um die Maschine verteilt, dachte ich. Die Ausgangstür stand einen Spalt offen, aber wenn ich sie ganz öffnete, würde Licht hinausfallen, und bis ich auf die Leiter gelangen konnte, würden sie mich deutlich sehen können. Es sei denn, daß sie wie durch ein Wunder alle auf der anderen Seite malten. Na ja, dachte ich kühl, wenn der erste Billy mit seiner Pistole ist, hast du Pech gehabt. Es war nicht Billy, sondern der Mann, den ich nicht kannte, Guiseppe. Er stand auf der Tragfläche und überpinselte den Namen der Fluggesellschaft auf dem Rumpf, und er sah mich sofort, als ich die Tür nicht weit unter ihm öffnete. Ich schob 239
sie zu und stieg die Treppe hinunter, während ich hörte, wie Guiseppe zu brüllen anfing und die anderen warnte. Sie mußten auch Leitern hinuntersteigen, dachte ich. Ich konnte es immer noch schaffen. Guiseppe gehörte zum harten Kern, ein praktizierender, militanter Kommunist. Außerdem war er jung und äußerst gelenkig. Er fackelte nicht lange. Ohne eine Leiter zu suchen, lief er auf der Tragfläche entlang, bückte sich, umfaßte den Rand mit den Händen und ließ sich drei Meter nach unten fallen. Ich konnte seine Gestalt gegen den Nachthimmel ausmachen und schlug einen Haken nach links, als ich festen Boden erreichte, und rannte los, mehr oder weniger parallel zur Längsachse des Flugzeugs. Meine Augen waren an die Dunkelheit nicht so gewöhnt wie die ihren. Ich konnte nicht sehen, was vor mir war. Ich hörte Giuseppe auf italienisch rufen und Yardman antworten. Billy riskierte einen Schuß, der mich weit verfehlte. Ich rannte weiter, hielt mir die Arme vors Gesicht und hoffte, gegen nichts allzu Hartes zu prallen. Ich brauchte nur auf den Beinen zu bleiben, sagte ich mir immer wieder vor. In Schwarz war ich schwer zu erkennen, auf dem Grasboden verhallten meine Schritte. Wenn ich genug Distanz zwischen das Flugzeug und mich legen konnte, würden sie mich nicht finden, nicht zu fünft, wobei Alf, diese Schnecke, kaum zählte. Renn weiter und versteck dich. Dann blieb mir die ganze Nacht, um die Zivilisation wiederzufinden und einen Menschen, der Englisch sprach. Das Feld schien endlos zu sein, endlos. Das Laufen tat mir weh. Was für eine Rolle spielt das, dachte ich leidenschaftslos, wenn du Billy hinter dir hast. Ich durfte auch keinen Laut von mir geben, damit man mich nicht hörte, und bei jedem Atemzug wurde es schlimmer. Schließlich blieb ich stehen, sank in die Knie und versuchte, lautlos Luft in mich hineinzupumpen. Hinter mir hörte ich nichts als eine schwache 240
Brise, sah nichts als die Sterne, nichts vor mir als die Dunkelheit. Nach ein paar Sekunden stand ich wieder auf und lief weiter, aber langsam. Nur in Alpträumen waren Felder endlos. Genau in dem Augenblick, als ich zum erstenmal dachte, ich könnte es schaffen, flammten grellweiße Lichter auf und hielten mich in ihren Strahlen fest. Eine entferntere Reihe von vier Lichtern vorn, hinter mir noch eine, etwas nähere Reihe, und ich, eine schwarze Gestalt, mitten im Leuchtpfad. Entsetzt durchzuckte es mich: ich hatte versucht, entlang der Start- und Landebahn zu fliehen. Abrupt, fast ohne außer Tritt zu kommen, bog ich nach links ab und spurtete, aber Guiseppe war doch nicht weit hinter mir. Ich sah und hörte ihn erst im letzten Augenblick, als er mich fast von vorn überrumpelte. Ich schlug einen Haken, um ihm auszuweichen, er streckte das Bein, und ich stolperte darüber. Obwohl ich nicht schwer stürzte, genügte das. Guiseppe klemmte meinen Kopf zwischen seinen Beinen ein. Ich spürte Gras in Augen, Nase und Mund und konnte mich nicht bewegen. Billy kam heran, schrie wie ein Betrunkener, erleichtert und triumphierend. »Was hast du denn da, einen vom Adel? Und im Dreck liegt er auch noch. Ist das nicht zum Brüllen?« Ich erkannte im letzten Sekundenbruchteil, was er tun wollte, und fing den Tritt mit dem Ellbogen auf statt mit den Rippen. Yardman kam herbeigelaufen. »Aufhören«, sagte er. »Laßt ihn aufstehen.« Guiseppe gab meinen Kopf frei, und als ich die Hände vorstreckte und mich hochstemmte, gab mir Billy den Tritt, dem ich beim erstenmal ausgewichen war. Ich rollte auf den Rücken und versuchte den Schmerz zu verbeißen. Das Licht 241
der Strahler glomm vor meinen geschlossenen Lidern, und die Welt schien ein geschmolzener Fluß aus Blut und Gold zu sein. Mühsam raffte ich mich auf. Keiner sagte etwas. Es schien eine unglaublich lange Reise, bis ich endlich auf den Füßen stand, schweigend und ruhig. Wir befanden uns immer noch auf der Startbahn zwischen den Lichtern, Yardman vor mir, Guiseppe und Billy hinter mir, während Rous-Wheeler atemlos herankeuchte. Yardmans Augen nahmen im Widerschein des Lichts einen grünlichen Schimmer an. Ich hatte seine Augen noch nie genau gesehen. Es war, als ziehe man die Vorhänge zurück und schaue in eine Seele. Ein Soldat ohne Patriotismus. Strategie, Kampfkraft und Transport waren Dienste, die er vermietete. Sein Stolz bestand darin, Perfektion zu liefern. Sein Stolz ging ihm über alles. Wahrscheinlich meinte er es sogar, wenn er sagte, daß er mich mochte. Es war merkwürdig, aber irgendwie empfand ich ihm gegenüber keinen Haß, sondern Respekt, obwohl ich ihm Gabriella nicht verzeihen konnte. Bei ihm hatte der Kampf nichts Persönliches oder Emotionales, so wie bei Billy. Aber mir war klar, daß er trotz irgendwelcher unerwarteter wärmerer Gefühle für mich viel zu klug wäre, einem Feind gegenüber törichte Gnade walten zu lassen. Wir starrten einander kühl abschätzend an. Dann glitt sein Blick rasch an mir vorbei und über meine Schulter, und seine Worte waren in seinen Augen ein Kompliment. »Den kriegst du nie klein, Billy. Leg ihn um. Ein Schuß, sauber und glatt.«
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15 Ich verdanke mein Leben Billys Gier, mich zu erniedrigen. Er war immer noch unzufrieden, und er schüttelte den Kopf. Wenn ich so beobachtete, wie Yardman Billys Wünsche akzeptierte, fiel mir auf, daß Rous-Wheelers Vergleich mit einem Tiger an der Leine gar nicht so weit neben der Sache lag. Jedenfalls war ich zum erstenmal froh darüber, daß Billy mein blaues Blut tropfenweise vergießen wollte, da ich wirklich nichts davon hielt, auf der Stelle niedergeschossen zu werden; und ich gab zu, daß ich ihm schon dafür danken mußte, überhaupt noch atmen zu dürfen. Wenn ich nicht genau das gewesen wäre, was Billy am meisten haßte, hätte ich zusammen mit der Besatzung sterben müssen. Wir gingen zusammen die Startbahn wieder hinauf, ich voraus, die anderen vier hinter mir. Ich hörte Rous-Wheeler keuchen. Er war als einziger körperlich nicht fit. Fit … Erst gestern war ich im Gold Cup geritten, dachte ich ungläubig. Das Flugzeug, schwach erleuchtet, tauchte links am Ende der Startbahn auf. Hundert Meter davor sagte Yardman: »Nach links, mein Lieber. So. Geradeaus. Dort sehen Sie ein Gebäude. Gehen Sie hinein.« Tatsächlich stand dort ein Gebäude, ein großes. Es glich einer riesigen Garage aus Asbestplatten auf einem Metallgerüst. Die Tür stand einen Spalt offen, eingerahmt von Lichtstreifen. Ich öffnete sie und trat ein. Billys Waffe berührte meinen Rücken. Auf dem Betonboden stand eine kleine viersitzige, einmotorige Maschine, eine neu aussehende Cessna mit italienischem Kennzeichen, daneben ein staubiger schwarzer Citroen, mit der Motorhaube zu mir. Hinter dem Wagen und dem Flugzeug bestand die ganze Rückwand aus Schiebetüren. Nirgends ein Fenster. Drei Metallträger ragten links vom Auto aus dem 243
Boden, trugen das Flachdach und teilten die linke Hälfte des Hangars in eine Art Bucht. Dort stand Alf. »So«, sagte Yardman, »gut gemacht, Alf. Du kannst wieder abschalten.«Seine Stimme hallte laut. Alf starrte ihn an, ohne etwas zu hören. Yardman trat zu ihm und brüllte ihm ins Ohr: »Schalt die Startbahnbeleuchtung aus.« Alf nickte, ging zur Wand links von der Tür, durch die ich hereingekommen war, und schob einen Hebel neben einem Sicherungskasten nach oben. Ein zweiter, ähnlicher Kasten versorgte wohl die Leuchtröhren an der Decke und die Heizstrahler hoch oben an den Wänden. Neben den Schaltern stand eine Werkbank mit verschiedenen Werkzeugen und einem Schraubstock, daneben hingen Gartengeräte an der Wand: Spaten, Heugabeln, Rechen, Baumscheren. An der Rückseite des abgeteilten Raumes stand ein riesiger Motorrasenmäher mit Sitz für den Fahrer, umgeben von Benzinkanistern, Trichtern, Farbdosen, verschiedenen Overalls und ein paar schmierig aussehenden Metallstühlen. Diese Cessna, dachte ich kurz. Ich konnte sie im Schlaf fliegen. Und der Wagen! Wenn ich nur gewußt hätte, daß sie dastehen … Yardman suchte in dem Durcheinander auf der Werkbank und zog schließlich eine lange Kette und zwei Schlösser hervor, ein großes, ein kleines. Billy hatte die Tür geschlossen und sich daran gelehnt, seine Pistole zielte in meine Richtung. Alf, Rous-Wheeler und Guiseppe hatten sich klugerweise aus der Schußlinie begeben. »Gehen Sie zu der ersten Säule«, sagte Yardman, »dort setzen Sie sich auf den Boden.« Es wäre milde ausgedrückt, zu sagen, daß ich mich nur widerwillig fesseln lassen wollte. Damit war mir nicht nur endgültig jede Hoffnung auf Flucht verbaut, ich hatte auch 244
physisch einen starken Widerwillen dagegen, an irgendeinen Gegenstand gefesselt zu werden. Das kam daher: In meiner Jugend war ich von ein paar Vettern eines späten Nachmittags in einem Wald in Schottland an eine Fichte gebunden worden. Sie waren davongerannt, um mich zu erschrecken und hatten sich verirrt. Erst am anderen Morgen wurde ich entdeckt. Als ich nicht sofort gehorchte, traten Yardman, Guiseppe und Billy gleichzeitig einen Schritt vor, wie von einem Willen beseelt. Es hatte keinen Sinn, mich mißhandeln zu lassen, mir tat sowieso schon alles weh. Ich ging zu dem Metallträger, setzte mich auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken an die glatte metallene Oberfläche. »Schon besser«, sagte Yardman. Er trat hinter mich und kniete nieder. »Hände nach hinten, mein Lieber.«Er wand mir die Kette um die Handgelenke und ließ beide Schlösser zuschnappen, dann trat er vor mich hin und warf die beiden Schlüssel ein paarmal in die Höhe und fing sie wieder auf. Alle fünf starrten mich mehr oder minder feindselig an, und ich erwiderte mit etwas glasigen Augen ihren Blick. »So«, sagte Yardman. »Wir machen weiter mit dem Malen, aber diesmal bleibt jemand bei Ihnen, für alle Fälle.«Er besichtigte seine Truppen und wählte Rous-Wheeler. »Sie setzen sich hierher«, sagte er, holte einen Stuhl und stellte ihn zu den Hebeln. »Wenn er irgend etwas macht, was Ihnen nicht paßt, schalten Sie einfach die Beleuchtung ein, dann kommen wir sofort. Klar?« Rous-Wheeler war froh, nicht mehr pinseln zu müssen, und übernahm seine neue Aufgabe mit Begeisterung. »Gut.« Yardman schaute auf die Uhr. »Los, Billy.« Billy, Alf und Giuseppe marschierten hinaus. Yardman blieb vor Rous-Wheeler noch einmal stehen und meinte: »Die Fracht kommt bald. Daß Sie mir nicht erschrecken.« »Fracht?«, sagte Rous-Wheeler überrascht. 245
»Richtig«, sagte Yardman, »Fracht. Der Grund für diese … äh … Operation.« »Aber ich dachte, ich …«begann Rous-Wheeler. »Mein lieber Rous-Wheeler, nein«, sagte Yardman. »Wenn es sich nur um Sie gehandelt hätte, wären Sie auf der normalen, diskreten Route weitergeschleust worden. Ihre Reise wäre genauso geheim vor sich gegangen wie jetzt. Nein, wir brauchten das Flugzeug für eine ganz besondere Fracht, und wie Sie wissen, mein Lieber«, er drehte sich herum und wandte sich mit ironischem Lächeln direkt an mich, »nütze ich den Frachtraum bei unseren Flügen gerne ganz aus. Ich sorge, wenn es möglich ist, immer für volle Beladung, damit keine Gelegenheit ungenutzt bleibt.« »Was ist das für eine Fracht?«, fragte Rous-Wheeler, dessen Eigendünkel einen ziemlichen Schlag erhalten hatte. »Hm?«, sagte Yardman und legte die Schlüssel für die beiden Schlösser auf die Werkbank. »Es handelt sich um das Produkt eines ausgezeichneten Forschungsinstituts bei Brescia, eine Art Maschine. Eine interessante Apparatur. Laienhaft ausgedrückt ist es ein Gerät für die Ausstrahlung von Überschall auf der natürlichen Frequenz beliebiger Mineralien.« »Das Ultraschallgebiet ist aber ziemlich abgegrast«, meinte Rous-Wheeler gereizt. Yardman lächelte. »Glauben Sie mir, dieses Gerät hat eine große Zukunft. Unsere Freunde versuchten, Fotografien der Zeichnungen und technischen Details zu erlangen, aber sie waren zu gut bewacht. Am Ende war es doch einfacher, wichtige Teile des Geräts selbst mitzunehmen. Aber dadurch ergab sich natürlich ein Transportproblem, ein schwieriges Transportproblem, das meine persönliche Aufsicht erforderte.« Er erzählte das nicht nur Rous-Wheeler, sondern auch mir. Er wollte mir zeigen, wie tüchtig er war. 246
»Als wir uns erst einmal für das Flugzeug entschlossen hatten, war es natürlich am einfachsten, auch Sie gleich mitzunehmen.« Keine Gelegenheit ungenutzt lassen. Aber er hatte ursprünglich nicht vorgehabt, auch mich mitzunehmen, das mußte man ihm lassen. Yardman verließ den Hangar. Rous-Wheeler saß auf seinem harten Stuhl, ich auf dem harten Beton, und wieder brachten ihn meine Anwesenheit oder meine hoffnungslose Lage in Verlegenheit. »Sind Sie schon einmal – gewesen –, wo Sie jetzt hin wollen?«, fragte ich. »Nein«, sagte er kurz, ohne mich anzusehen. »Verstehen Sie die Sprache?« »Ich lerne sie«, erklärte er. »Was wird Ihnen geboten?« »Ich bekomme eine Wohnung, einen Wagen und ein besseres Gehalt«, erklärte er selbstzufrieden. »Natürlich übernehme ich eine wichtige Beraterposition.« »Natürlich«, sagte ich trocken. Er warf mir zum erstenmal einen Blick zu. Mißbilligend. »Ich soll als Berater für den gesamten Bereich des britischen Lebens dienen … ich glaube, daß ich auf meine Weise auch zu größerem Verständnis zwischen zwei großen Völkern beitragen und damit fruchtbare Beziehungen fördern kann.« Er tat so, als meine er es ganz ernst; wenn er so selbstzufrieden war, würde er gar nicht daran denken, umzukehren. Aber Yardman hatte die Schlüssel auf die Werkbank gelegt. »Zu Hause wird man Sie vielleicht mißverstehen«, meinte ich. 247
»Am Anfang. Das hat man mir erklärt. Aber mit der Zeit …« »Sie täuschen sich. Man wird Sie als Verräter bezeichnen. Als ganz gemeinen, hinterhältigen Verräter.« »Nein«, sagte er unsicher. »Sie brauchen jemanden, der Ihre Ansichten verbreitet, der erklärt, was Sie tun, damit Ihre früheren Kollegen Sie bewundern und sich wünschen, mehr von Ihren Fähigkeiten zu besitzen …« Ich dachte schon, ich hätte zu dick aufgetragen, aber das war nicht der Fall. Er begann ernsthaft nachzudenken. »Sie meinen, Sie würden mich verteidigen …?« Er schob die Unterlippe vor. »Ich sehe nicht immer so schmutzig aus«, sagte ich ernsthaft. »Bei den Freunden meines Vaters hab ich einen gewissen Einfluß, und … äh … ich – mein Onkel ist im Reform Club.« Er nickte, hatte begriffen. »Ein Wort am richtigen Platz …«, meinte er abwägend. »Anerkennung«, ergänzte ich. Er versuchte bescheiden zu wirken. »Das wäre zuviel verlangt.« »Aber im Lauf der Zeit«, deutete ich an. »Glauben Sie wirklich?« »Aber natürlich.« Ich machte eine Pause. »Ich wäre gerne bereit, alle … äh … Irrtümer aufzuklären, die Ihr … Schritt … verursacht haben mag.« »Das ist überaus freundlich von Ihnen«, meinte er geziert. »Im Augenblick bin ich dazu aber wohl kaum in der Lage.« Er machte ein enttäuschtes Gesicht. »Leider, ja«, er runzelte die Stirn, »Sie hätten mir ausgezeichnete … wie ich es jetzt sehe, entscheidend wichtige … Dienste leisten können.« 248
»Sehr bedauerlich, ja«, sagte ich beiläufig. »Übrigens, die Schlüssel liegen neben Ihnen, wenn Sie Lust hätten.« Er sah die Schlüssel an, sah mich an. Er stand auf, nahm die Schlüssel in die Hand. Ich spürte, wie mein Herz schlug, als ich ein gleichgültiges Gesicht zu machen versuchte. Er trat einen Schritt auf mich zu. Dann blickte er sich verlegen um, und sein Blick fiel auf den Lichtschalter. Er starrte ihn an. »Yardman sagte, ich soll das Licht einschalten, wenn Sie irgend etwas unternehmen«, erklärte er bestürzt. Er drehte sich um und legte die Schlüssel auf die Werkbank zurück, als wären sie plötzlich rotglühend geworden. »Yardman möchte, daß Sie unbedingt hierbleiben. Es wäre kein guter Anfang für mich, wenn ich gegen die ausdrücklichen Wünsche meiner neuen Freunde handle.« »Gegen Yardmans Wünsche«, verbesserte ich. »Wenn ich Sie nach England zurückgehen lasse, kann Yardman nicht mehr nach Hause«, sagte er und bewies damit zum erstenmal ein Quentchen Intelligenz. »Sein unschätzbarer Transportdienst müßte eingestellt werden …« Er schaute entsetzt vor sich hin, sah den Abgrund, in den er fast hineingestolpert wäre. »Das hätte mir sehr schaden können.« Ich entgegnete nichts. Also raus und zurück auf Feld eins. Ich versuchte mich mit einem erneuten Houdini-Trick aus Yardmans Kettenfesselung zu befreien. Ohne Erfolg. Rous-Wheeler setzte sich wieder auf seinen Stuhl und beobachtete mich mit einer Mischung aus Besorgnis und Verärgerung. »In welcher Abteilung des Schatzamtes?«, fragte ich. Es hatte keinen Sinn. »Anschubfinanzierung«, erwiderte er steif. »Das heißt?« 249
»Fördermittel.« »Sie wollen damit sagen, Ihre Abteilung entscheidet, wer öffentliche Fördermittel erhält und wieviel?« »So ist es.« »Entwicklung, Forschung, Verteidigung und so weiter?« »Genau.« »So daß Sie persönlich genau wissen, welche Projekte gerade bearbeitet werden … oder in Betracht gezogen werden?« »Ja.« Andernfalls hätten sie sich wohl auch kaum mit ihm abgegeben, dachte ich. »Und was ist mit diesem Ultraschallsender?«, fuhr ich nach einer Weile fort. »Was soll damit sein? Es ist kein britisches Projekt, wenn Sie darauf hinauswollen.« »Habe ich das richtig verstanden … er sendet Wellen aus auf der natürlichen Frequenz jedes beliebigen Minerals?« »So hat Yardman es ausgedrückt, glaube ich«, pflichtete er mir steif bei. »Man könnte mit ihm Dinge zerstören – so wie man mit einem Ton Glas zum Springen bringen kann?« »Ich bin kein Naturwissenschaftler. Ich habe keine Ahnung.« Und nach seinem Ton zu urteilen, war es ihm auch völlig egal. Ich starrte düster auf den Boden und fragte mich, was jemanden dazu bringen konnte, zur anderen Seite überzulaufen. Rous-Wheeler mochte ja eingebildet und enttäuscht sein und unfähig, seine eigenen Grenzen zu akzeptieren, aber das waren unzählige andere auch und trotzdem nicht bereit, die Zukunft ihrer Nation, oder einen Teil davon, für eine Wohnung, ein Auto und ein freundliches Schulterklopfen einzutauschen. Das 250
mußte noch andere Gründe haben. Tief verborgene, zwanghafte, dunkle, verschlungene Motive, die ich nicht erahnen konnte, die ihn aber unwiderstehlich dazu trieben. Doch wo immer er hinging, er würde derselbe bleiben: In fünf Jahren höchstens würde er wieder verärgert und übergangen worden sein, ein nutzloses und entbehrliches Stück Treibgut. Er, so schien es, sah meine Zukunft in einem genauso trüben Licht wie ich die seine. »Glauben Sie«, er räusperte sich, »glauben Sie, daß Billy Sie wirklich töten wird?« »Tun Sie doch nicht so«, sagte ich. »Sie haben gesehen, was er mit der Besatzung gemacht hat.« »Er schiebt es aber immer wieder hinaus«, meinte er. »Weil er sich das Beste bis zum Schluß aufheben will.« »Wie können Sie so frivol sein?«, rief er aus. »Ihre Lage ist sehr ernst.« »Die Ihre auch«, erwiderte ich, »und ich möchte nicht mit Ihnen tauschen.« Er lächelte verächtlich, aber es war wirklich so. Alles stirbt einmal, hatte Simon gesagt, und man hatte wahrscheinlich mit achtzig genausowenig Lust wie mit sechsundzwanzig. Und es gab tatsächlich Schlimmeres als den Tod, wie es schon im viktorianischen Melodrama so schön geheißen hatte. Ein schwerer Lastwagen hielt mit quietschenden Bremsen draußen in der Nähe des Eingangs, kurz danach betrat der Fahrer den Hangar. Er sah aus wie Giuseppe, jung, hart, kalter Blick und reaktionsschnell. Er beäugte mich, ohne überrascht zu sein, und sprach italienisch auf Rous-Wheeler ein. Ich verstand nur ein einziges Wort. Brescia. Rous-Wheeler hob die Hand. »Ich verstehe Sie nicht, mein Guter. Warten Sie, ich hole Yardman.« 251
Das war nicht nötig, weil mein ehemaliger Arbeitgeber den Lastwagen schon hatte kommen sehen. Gefolgt von seinen Leuten, die Leitern, Pinsel, Overalls und Farbtöpfe trugen, erschien Yardman im Hangar und unterhielt sich mit dem Fahrer. »Gut«, sagte Yardman auf englisch zu Billy, »es sind ein paar leichte Kisten und eine große, schwere. Am einfachsten ist es, wenn wir die leichteren durch die vordere Tür in die Maschine tragen und im Gepäckraum stapeln. Dann öffnen wir die großen Türen, heben die schwere Kiste mit dem Flaschenzug hinein und stellen sie auf die letzte, die abmontierte Box. Klar?« Billy nickte. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, preßte aber sofort wieder die Lippen zusammen. Yardman bemerkte es. »Was ist denn?«, sagte er scharf. »Nichts«, sagte ich teilnahmslos. Er trat zu mir, kauerte nieder und starrte mir ins Gesicht. »O doch, mein Lieber, da ist durchaus etwas. Aber was?« Er starrte mich an, als könne er meine Gedanken lesen, während sich in seinem Kopf die Überlegungen jagten. »Sie wollten etwas sagen und haben es sich noch überlegt. Ich glaube, daß ich es wirklich wissen muß. Es scheint zu meinem Nachteil zu sein, ganz bestimmt sogar, so wie die Dinge zwischen uns stehen.« »Lassen Sie mich ran«, meinte Billy. »Es geht schneller, wenn ich rate. Was ist beim Verladen zu beachten? Ach ja, mein Lieber, Sie wissen doch damit genau Bescheid, nicht wahr? Sie wissen, daß das falsch gewesen ist …« Er schnippte mit den Fingern und stand auf. »Die schwere Kiste ganz hinten wäre gefährlich. Billy, bringen Sie die Stuten 252
nach vorn, so daß sie in den ersten beiden Boxen stehen, schaffen Sie die schwere Kiste in die vorletzte Box und lassen Sie die letzte, so wie sie ist.« »Ich soll die Stuten nach vorn bringen?«, beklagte sich Billy. »Ja, gewiß. Der Schwerpunkt darf nicht verändert werden, nicht wahr, mein Lieber?« Er lächelte. Sein Geist war sehr beweglich. Wenn ich ihm auch nur die Spur eines Verdachts lieferte, daß Gabriella noch lebte … Billy kam herüber und sah mit widerwärtig selbstzufriedenem Lächeln auf mich herunter. »Es dauert nicht mehr lange«, sagte er. »Zuerst wird verladen«, sagte Yardman. »Der Lastwagen muß so schnell wie möglich zurück. Du kannst dich … äh … amüsieren, wenn ich den Piloten hole. Und sorg dafür, daß er tot ist, wenn ich zurückkomme.« »Okay«, sagte Billy. Er ging mit Alf, Giuseppe und dem Fahrer hinaus. Der Lastwagen rollte brummend zur DC 4. »Was für einen Piloten?«, fragte Rous-Wheeler. »Mein lieber Rous-Wheeler«, erklärte Yardman mit einer Spur von müder Verachtung. »Wie, glauben Sie, soll die Maschine weiterfliegen?« »Oh! Warum haben Sie den anderen umgebracht? Er hätte uns doch überall hingeflogen.« Yardman seufzte. »Das hätte er nicht getan, wenn Billy nicht zur Stelle gewesen wäre, um unseren jungen Freund hier in Streifen zu schießen. Und offen gestanden, ganz abgesehen von dem Problem der Rückkehr meiner Person und Billys, wäre es peinlich für uns gewesen, die Besatzung in Ihrer neuen Heimat zu beseitigen. Hier ist das viel besser. Diskreter, finden Sie nicht?« 253
»Wo sind wir denn überhaupt?«, fragte Rous-Wheeler. Eine wirklich sehr gute Frage. »Auf einem Privatflugplatz«, sagte Yardman. »Ein älterer, sehr geachteter Adliger überläßt ihn uns von Zeit zu Zeit.« Älterer, geachteter – Yardmans Stimme klang ironisch. »Die übliche Erpressung?«, fragte ich. »In einem Bett gefilmt, wo er nichts zu suchen hatte?« Yardmans Nein klang nicht überzeugend. »Wovon spricht er?«, fragte Rous-Wheeler gereizt. »Ich spreche von den Methoden, die Ihre neuen Freunde anwenden«, sagte ich. »Wenn sie es nicht auf andere Weise schaffen, indem sie Leute hereinlegen oder umdrehen, dann wird eben erpreßt oder eingeschüchtert.« »Bei mir war das anders«, sagte Rous-Wheeler beleidigt, »ich bin nicht hereingelegt worden.« »Sie sind ein Idiot«, erwiderte ich. Yardman trat drohend auf mich zu. Es war das erste Mal, daß er Ärger zeigte. »Das reicht.« »Glauben Sie, ich hätte etwas zu verlieren?«, fragte ich. Yardmans Brillengläser glänzten im Licht, und RousWheeler sagte selbstgerecht: »Er bat mich, ihn loszumachen, während Sie das Flugzeug übermalt haben. Er bat mich, die Schlösser aufzusperren. Ich hab es natürlich nicht getan.« »Aber beinahe«, sagte ich. »Sie legt doch jeder rein. Bei Ihrer Einbildung übersehen Sie jede Fallgrube.« Yardman sah uns beide mit zusammengepreßten Lippen an. »Ich muß zum Flugzeug, Mr. Rous-Wheeler, und ich halte es für besser, wenn Sie mitkommen.« »Aber ich lasse ihn doch nicht frei«, sagte er wie ein ermahnter Schuljunge. 254
»Trotzdem.« Yardman überprüfte meine Fesseln und sagte mir ins Ohr: »Sie sehen so ungefährlich aus, mein Lieber. Das täuscht oft, nicht wahr?« Sie gingen hinaus und ließen mich allein. Ich versuchte mich wieder einmal loszumachen, denn die neben mir stehende Cessna lockte quälend, aber diesmal war Yardman vorsichtiger gewesen. Die Stützsäule war im Beton verankert, die Kette ließ sich nicht zerfasern wie ein Seil, und die Hände vermochte ich nicht herauszuziehen, so sehr ich mich auch anstrengte. Es blieb mir nicht mehr viel Zeit, dachte ich. Und ich hatte keine Fragen mehr. Ich hätte mit einer Antwort auch nicht viel anfangen können, denn sehr bald schon würde ich nicht mehr fragen und antworten. Darüber dachte ich auch nach. Ich glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod. Wenn man starb, war Schluß. Ich hatte bei Reitunfällen schon mehrmals das Bewußtsein verloren, und der Tod war bloß eine Bewußtlosigkeit, aus der man nicht wieder erwachte. Ich konnte ehrlicherweise nicht behaupten, daß ich große Angst davor hatte. Hatte ich nie gehabt. Zweifellos deutete das auf einen Mangel an Phantasie und Sensibilität meinerseits hin. Das einzige, was ich empfand, war ein ausgesprochenes Widerstreben, die Party so bald schon zu verlassen, wo es doch noch so viel gab, was ich gern getan hätte. Aber zunächst mußte die Schweinerei durchgestanden werden, die sich Billy ausgedacht hatte – und ich mußte mir eingestehen, daß ich der gern aus dem Weg gegangen wäre, wenn ich nur die geringste Idee gehabt hatte, wie. Alf kam in den Hangar geschlurft, ging zu den Gartengeräten hinüber und nahm einen Spaten herab. Ich rief ihn an, aber er reagierte nicht und verschwand so zielstrebig wie er gekommen war. Weitere Minuten verstrichen. Ich dachte an Gabriella. Eine Gabriella voller Leben und Liebe, deren Ernsthaftigkeit nur die Oberfläche war, unter der sich unendliche Wärme und Stärke 255
verbargen. Eine Frau für immer und ewig, oder für das, was davon noch übrig war. Der Lastwagen kam zurück, hielt kurz vor dem Hangar und brummte davon. Yardman und seine Mannschaft, mit Ausnahme von Alf, marschierten in den Hangar. Giuseppe ging an mir vorbei zu den Schiebetüren und öffnete sie hinter dem Auto. Ein kühler Wind blies herein, der Staub stieg vom Boden hoch. Der Himmel draußen war samtschwarz. »So, Billy«, sagte Yardman, »wenn die neue Besatzung pünktlich ist, sind wir in einer knappen Stunde wieder da. Sobald das Flugzeug gestartet ist, muß alles erledigt sein. Verstanden?« »Okay«, sagte Billy. »Nur keine Aufregung.« Yardman trat zu mir, blieb stehen und sah mich mit einer Mischung aus Bedauern und Befriedigung an. »Leben Sie wohl, mein Lieber.« »Leben Sie wohl«, sagte ich höflich. Sein Mund verzerrte sich. Er sah zu Billy hinüber. »Kein Risiko eingehen, Billy, verstanden? Du unterschätzt diesen Mann. Das ist keiner von deinen eingebildeten Laffen, sosehr du dir das auch wünschst, das müßtest du doch inzwischen begriffen haben. Und, Billy, ich warne dich, ich warne dich mit allem Nachdruck, wenn du ihn entkommen läßt, jetzt, wo er so viel weiß, kannst du dir gleich eine Kugel ins Gehirn schießen, denn sonst übernehme ich das, mein lieber Billy.« Sogar Billy war von der kalten Drohung in Yardmans normalerweise so ruhigen Stimme ein wenig beeindruckt. »Ja«, sagte er unsicher. »Der entkommt mir schon nicht, keine Angst.« »Sorg dafür!« Yardman nickte, drehte sich um und stieg in den Citroen. 256
Giuseppe, der am Steuer saß, ließ den Motor an, fuhr rückwärts aus dem Hangar heraus und brauste davon. Yardman sah sich nicht einmal um. Billy schloß die Tür und kam langsam auf mich zu. Er setzte die Füße so vorsichtig und leise, als müsse er sich anpirschen. Vier Schritte vor mir blieb er stehen. Die Stille wurde immer drückender. Rous-Wheeler räusperte sich nervös. Es klang sehr laut. Billy warf ihm einen Blick zu. »Geh spazieren«, sagte er. »Spazieren?« »Ja, spazieren.« Er wurde unverschämt. »Einen Fuß vor den anderen. Einmal die Startbahn rauf und runter, das wird gerade reichen.« Rous-Wheeler begriff. Er wich meinem Blick aus und besaß nicht einmal Menschlichkeit genug, um für mich zu bitten. Er wandte der Situation den Rücken und ging zum Ausgang. Soviel also zum Thema ›Gleiche Schule‹. »So«, sagte Billy. »Jetzt sind wir zwei allein.«
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16 Er ging lautlos durch den Hangar und suchte alles mögliche zusammen. Schließlich kam er zu mir zurück, mit einer alten, auseinandergerissenen Fahrradkette und einem vollen Zwanzig-Liter-Benzinkanister. Ich betrachtete diese Gegenstände mit, wie ich hoffte, leidlichem Gleichmut und verkniff mir die Frage, was er mit ihnen vorhabe. Es war anzunehmen, daß ich es ohnehin bald genug erfahren würde. Er kauerte vor mir nieder und grinste mich an, die Kette in der einen, den Kanister in der anderen Hand. Seine Pistole lag drüben auf der Werkbank. »Jetzt bitt mich schön«, sagte er, »dann mach ich’s gnädig.« Ich glaubte ihm sowieso nicht. Er wartete eine Weile, dann kicherte er. »Das kommt schon noch«, meinte er, »du wirst mich schon noch schön bitten.« Statt mich mit der Fahrradkette zusammenzuschlagen, wie ich erwartet hatte, legte er sie um meinen rechten Fußknöchel und verknotete sie. Es war schwierig, aber als er es geschafft hatte, sahen die Knoten wie für die Ewigkeit gemacht aus. Das freie Ende schob er durch den Griff des Kanisters und verknotete es auch dort. Als er fertig war, betrug die Kettenlänge zwischen dem Knoten an meinem Knöchel und dem am Kanister etwa fünfzehn Zentimeter. Billy hob den Kanister auf und ruckte. Mein Bein ging sofort mit. Er lächelte zufrieden, schraubte den Verschluß ab und ließ etwas Benzin über mein Bein auf den Boden laufen. Er schraubte die Kappe wieder auf, aber nur locker. Dann ging er hinter die Säule und löste beide Schlösser an meinen Handgelenken. Die Kette fiel herunter, aber infolge der Überraschung und wegen meiner steifen Schulter konnte ich nichts unternehmen, um die 258
Fahrradkette aufzuknoten, bis Billy seine Waffe geholt hatte und sie auf mich richtete. »Aufstehen«, sagte er. »Hübsch langsam, sonst werf ich das an dein Bein.« Das in seiner linken Hand, war ein Feuerzeug, ein Gasfeuerzeug von der Sorte, die von allein nicht wieder zuschnappte. Die Flamme loderte hoch, als er das Feuerzeug aufspringen ließ. Ich erhob mich mühsam, an die Säule gestützt, während sich in mir alles zusammenkrampfte. Ich wußte, was Billy vorhatte. Von wegen keine Angst vor dem Tod! Inzwischen war ich anderer Meinung. Manche Todesarten waren schlimmer als andere. Billy verzog spöttisch den Mund. »Sag ›bitte‹«, zischte er. Ich schwieg. Er wies mit seiner Pistole auf den Boden. »Raus, Freundchen, ich hab etwas zu tun für dich, aber vorsichtig, wir können hier keine Explosion brauchen.« Er strahlte übers ganze Gesicht vor gieriger Vorfreude. In seinem bisherigen Leben schien er sich noch nie so amüsiert zu haben. Mir ging das wirklich auf die Nerven. Der Kanister, den ich mit langsamen Schritten hinter mir durch die Tür und draußen durchs Gras schleppte, war schwer. Durch den gelockerten Verschluß schwappte ununterbrochen Benzin heraus, so daß ich eine höchst entzündbare Spur hinterließ. Die Nachtluft duftete süß, die Sterne funkelten hell. Kein Mond. Leichter Wind. Eine herrliche Nacht fürs Fliegen. »Jetzt nach rechts«, sagte Billy hinter mir. »Wo das Licht ist, steht Alf. Dahin geht es, aber beeil dich, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« Er kicherte über seinen mageren Scherz. Alf war nicht weit entfernt, aber ich konnte den Kanister 259
kaum mehr hinter mir herziehen, als ich bei ihm ankam. Er hatte gegraben, wie ich feststellte. Ein längliches Rechteck war ausgehoben, die Rasenziegel fein säuberlich auf einer Seite aufgeschichtet. Etwa dreißig Zentimeter waren herausgeschaufelt. Eine große Fackel, die in den Rasenziegeln steckte, beleuchtete Alfs Gesicht. Er ließ den Spaten sinken und sah fragend zu Billy herauf. »Geh spazieren«, schrie Billy. Alf begriff, nickte kurz, lehnte den Spaten an den Erdhaufen, stieg heraus und schlurfte davon in die Dunkelheit, die ihn verschlang. »Okay«, sagte Billy, »steig rein und beginn zu graben. Wenn du aufhören willst, brauchst du nur zu bitten.« »Und wenn ich’s tue?« Das Licht glänzte in Billys hellen Augen und beleuchtete seinen hämisch grinsenden Mund. Er hob die Pistole. »In den Kopf«, sagte er. »Dann hab ich dich auf jeden Fall geschlagen, du Saukerl. Nur schade, daß ich nicht euch alle hier hab!« »Wir tun keinem was«, sagte ich ziemlich lahm und wußte gleichzeitig, daß die Geschichte mich Lügen strafte. Wir hatten in der Vergangenheit genug auf anderen rumgetrampelt, und der Groll darüber konnte jahrhundertelang wachbleiben. »Beide Hände am Spaten«, sagte er. »Wenn du die Kette abmachst, bist du erledigt.« Er sah mir beim Graben zu, außer Reichweite des Spatens, und ließ immer wieder das Feuerzeug aufspringen. Der Benzingeruch stieg mir durchdringend in die Nase, während Tropfen um Tropfen aus dem lockeren Verschluß sickerte und im Boden verrann. Die Erde war weich und lehmig, das Graben fiel nicht schwer, aber Billy hatte diese Aufgabe nicht ohne bösartige Hintergedanken für mich ausgesucht. Sosehr ich 260
mich auch anstrengte, ich konnte keinen Spaten voll Erde hinausbefördern, ohne mit dem Arm an meinem Brustkorb entlangzustreifen. Pullover und Hemd reichten als Puffer nicht aus, und jede Schaufelvoll war eine Qual. Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Billy sah zu und wartete. Die Grube wurde langsam tiefer. Ich versicherte mir streng, daß viele Menschen noch Schlimmeres hatten erdulden müssen, daß andere vor mir gegraben hatten, was sie als ihr eigenes Grab erkannten, daß andere vor mir um eines Prinzips willen in Flammen aufgegangen waren … daß es zwar kein Spaß, aber möglich war. Billy wurde ungeduldig. »Sag ›bitte‹«, fauchte er. Als Antwort warf ich einen Spaten voll Erde nach ihm und hätte damit der ganzen Sache fast ein Ende gemacht. Die Pistole zuckte hoch … und sank langsam wieder herunter. »Freu dich«, sagte er zornig. »Du wirst noch in die Knie gehen.« Als ich überzeugt war, daß er meine Füße nicht mehr sehen konnte, zog ich den Fuß so weit vom Kanister weg, wie es die Kette zuließ, und schmetterte den Spaten mit Wucht auf die Kettenglieder zwischen den Knoten nieder. In der weichen Erde klang das viel leiser, als ich befürchtet hatte. Ich versuchte es immer wieder, bei jedem Spatenstich, den ich führte. Ohne Ergebnis, wenn man mal von den Schmerzen in meinem Knöchel absah. »Beeil dich«, sagte Billy verärgert. Er ließ das Feuerzeug aufschnappen. »Beeil dich!« Ein guter Rat. Meine Zeit ging zu Ende, Yardman würde bald zurückkommen. Ich ließ den Spaten niedersausen und spürte endlich mit einem Aufwallen lang totgeglaubter Hoffnung, daß die Kette nachgab. Es genügte nicht. Selbst wenn ich mich von dem Benzinkanister befreien konnte, stand ich immer noch bis 261
zu den Hüften in einem Erdloch und Billy hatte immer noch seine Waffe. Aber ein bißchen Hoffnung war besser als gar keine. Beim nächsten Schlag barst die Kette auseinander, aber ich hatte mit solcher Wucht zugeschlagen, daß ich auf Hände und Knie fiel. »Aufstehen«, sagte Billy scharf, »sonst …« Ich hörte ihn gar nicht. Ich entdeckte mit unbeschreiblichem Entsetzen, daß das Grab, das groß genug für Patrick und Mike und Bob und für mich war, schon einen Bewohner hatte. Meine rechte Hand hatte sich um ein Stück Stoff geschlossen, das aus der lockeren Erde herausragte. Ich fuhr mit meinen Fingern entlang, grub tiefer und stach mich. Ich tastete weiter und wußte Bescheid: eine Reihe von Stecknadeln. Ich stand langsam auf und starrte Billy an. Er kam bis an den Rand der Grube, sah kurz hinunter und richtete dann den Blick auf mich. »Simon«, sagte ich tonlos. »Das ist … Simon.« Billy lächelte. Ein kaltes, entsetzliches, zufriedenes Lächeln. Die Zeit war aufgebraucht. Die Zeit war nur noch die Entfernung von seiner Pistole bis zu meinem Kopf, von seinem Feuerzeug zu meinen benzindurchtränkten Schuhen und dem Kanister vor meinen Füßen. Er hatte nur gewartet, bis ich Simon entdeckte. Seine Gier war fast gestillt. »So«, sagte er mit weitaufgerissenen Augen. »Sag ›bitte‹. Deine letzte Chance.« Ich schwieg. »Sag ›bitte‹!«, wiederholte er wutentbrannt. »Du mußt.« Ich schüttelte den Kopf. Ein Narr, dachte ich, ich bin ein verdammter Narr. Ich muß verrückt sein. »Na schön«, fauchte er. »Wenn ich mehr Zeit hätte, würdest du ganz schön bitten, aber wenn du nicht willst …« 262
Seine Stimme erstarb, und er schien plötzlich vor dem, was er tun wollte, genausoviel Angst zu haben wie ich. Er zögerte, hob einen Augenblick die Pistole, aber er überwand die Angst, fand seinen Mut, seine Unbarmherzigkeit wieder. Er ließ das Feuerzeug aufschnappen. Die Flamme zuckte hoch, scharf umrissen, lodernd vor dem dunklen Himmel. Er hielt das Feuerzeug hoch, als wolle er dafür sorgen, daß ich es unterwegs nicht auffangen konnte, und in diesem Augenblick bückte ich mich, hob den Kanister hoch und warf ihn nach Billy. Im Flug fiel unerwartet der Verschluß herunter, und das Benzin ergoß sich in einem weiten, glitzernden Strahl der Flamme entgegen. Ein Sekundenbruchteil für die Flucht, bevor die Welt in Flammen aufging. Das emporschießende Benzin fing in der Luft mit einem dumpfen, brausenden Geräusch Feuer und sprühte wie eine Fontäne über beide Stellen, wo Billy und ich gerade gestanden hatten. Der Kanister explodierte. Das Grab war ein einziges Flammenmeer. Flammen zuckten über den aufgeschichteten Erdhaufen, wie Kognak auf einem riesigen Plumpudding. Zwanzig Liter waren schließlich kein Pappenstiel. Ich rollte mich über den Rand des Grabes, bevor es zu einem Krematorium wurde, und wie durch ein Wunder konnte ich sogar meine Füße vor dem hochfauchenden Feuer in Sicherheit bringen. Meine Hoffnungen waren weit übertroffen. Billy lief schreiend davon. Sein Jackett brannte an der linken Schulter, am Arm. Er versuchte verzweifelt es auszuziehen, hielt aber seine Pistole in der rechten Hand und schaffte es deshalb nicht. Ich brauchte die Waffe und hätte darum gekämpft, aber als ich ihm nachlief, sah ich, wie er sie fallen ließ und weitertaumelte, in panischer Angst und schmerzgequält die Knöpfe seines Jacketts abriß, während ich bei dem Gedanken an das schreckliche Schicksal, dem ich gerade entronnen war, 263
am ganzen Körper zu zittern begann. Mit wankenden Knien taumelte ich zu der Stelle, wo die Pistole auf den Boden gefallen war. Sie schimmerte im Widerschein des Feuers. Ich bückte mich und hob sie auf. Der Schalldämpfer machte den Lauf schwer, und der Griff schmiegte sich in meine Hand. Billy hatte endlich sein Jackett heruntergerissen. Es lag schwelend am Boden. Er war immer noch auf den Beinen und rannte schwankend und nach Alf brüllend zum Hangar. Ich folgte ihm. Alf war nicht im Hangar. Als ich ihn erreichte, stand Billy mit dem Rücken zu mir, dort, wo das Auto geparkt gewesen war, taumelte hin und her und brüllte immer noch. Ich trat durch die Tür und schloß sie hinter mir. Billy fuhr herum. Sein linker Hemdsärmel war verbrannt, seine Haut angesengt. Er starrte mich ungläubig an, sah die Waffe in meiner Hand. Sein Mund klappte zu, und selbst in diesem Augenblick gelang es ihm, mich verächtlich anzusehen. »Du tust es ja doch nicht«, sagte er keuchend. »Grafensöhne lernen schießen«, sagte ich. »Aber nur Wildenten«, höhnte er. »Du hast ja keinen Mut.« »Da irrst du dich, Billy. Du hast dich von Anfang an in mir geirrt.« Ich sah, wie ihn der Zweifel beschlich, wie der Zweifel in ihm wuchs, sah, wie sich seine Augen, sah, wie sich sein Kopf hin und her bewegte, als er nach einem Fluchtweg suchte. Ich sah, wie sich seine Muskeln zusammenzogen. Und als ich bemerkte, daß er in einem Augenblick völliger Verblüffung begriff, daß ich es tun würde, schoß ich.
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17 Die Cessna war vollgetankt. Hastig drückte ich den Hauptschalter im Cockpit und sah die Zeiger der Benzinuhr ausschlagen. Alle Instrumente schienen zu funktionieren, das Funkgerät arbeitete, und die letzte Wartungsbestätigung war drei Tage alt. Soweit ich das bei oberflächlicher Prüfung beurteilen konnte, mußte die kleine Maschine startklar sein. Trotzdem … Alf und Rous-Wheeler stürmten gemeinsam durch die Tür, beide bestürzt, außer Atem und mit wilden Mienen. Zurück von ihrem Spaziergang, erschreckt vom Freudenfeuer. Alf stieß einen unartikulierten Schrei aus und rannte zu Billys lebloser Gestalt. Rous-Wheeler folgte ihm langsam. Ihm war gar nicht wohl in seiner Haut. »Es ist Billy«, sagte er fassungslos, »Billy.« Alf schien nichts zu hören. Sie betrachteten Billy, der auf dem Rücken lag und mit leeren Augen an die Decke starrte. Links von seinem Brustbein leuchtete ein kleiner, scharlachroter Stern. Alf und Rous-Wheeler wirkten betroffen und hilflos. Ich stieg leise und eilig aus der Cessna und schlich um die Maschine herum. Nach ein paar Sekunden drehten sie sich um und entdeckten mich, keine zwei Meter entfernt. Dabei sahen sie die Pistole in meiner Hand. Ich war schwarz gekleidet. Machte vermutlich ein grimmiges Gesicht. Mein Anblick erschreckte sie. Alf wich zwei Schritte zurück, Rous-Wheeler drei. Er deutete mit zitternder Hand auf Billy. »Sie … haben ihn erschossen.« »Ja«, sagte ich hart. »Sie kommen auch dran, wenn Sie nicht genau das tun, was ich Ihnen sage.« 265
Ihm fiel es nicht so schwer wie Billy, mir zu glauben. Er hob beschwörend die Hände. Als ich in scharfem Ton sagte: »Gehen Sie hinaus und nehmen Sie Alf mit«, gehorchte er widerspruchslos. Draußen tippte ich Alf auf die Schulter, deutete zuerst auf Billy und dann zu der Grube. Das Feuer war erloschen. »Begrab Billy«, schrie ich ihm ins Ohr. Er verstand mich und sah mich forschend an, entdeckte aber ebenfalls nichts Beruhigendes in meinem Gesicht. Außerdem war er daran gewöhnt, meine Anweisungen zu befolgen. Er nahm das Unabänderliche noch um eine Spur resignierter hin als sonst und stapfte in den Hangar, drückte Billy mit rauhen, mitfühlenden Fingern die Augen zu, hob ihn auf die Schulter und trug ihn hinaus. Ich mußte daran denken, wie er mir den Becher Kaffee gebracht hatte, als ich ihn dringend brauchen konnte. Solange er unten beim Grab blieb, hatte er von mir nichts zu fürchten. Ich streckte den Arm aus und zog den Hebel herunter. Die Scheinwerfer an beiden Enden der Startbahn flammten auf. In ihrem Licht konnte Alf sehen, wohin er ging und was er tat. Die Cessna hatte vermutlich eine Reichweite von sechs- oder siebenhundert Meilen, dachte ich. Wenn … »Sie«, sagte ich abrupt zu Rous-Wheeler. »Steigen Sie in die Maschine, mit der wir hergekommen sind. Gehen Sie nach hinten und setzen Sie sich auf einen der Plätze. Haben Sie mich verstanden?« »Was …?«, begann er nervös. »Tempo!« Er warf mir einen verängstigten Blick zu und trabte zum Flugzeug, eine schwankende graue Gestalt im Licht der Scheinwerfer. Ich hielt drei Schritte Abstand und beobachtete ohne Mitgefühl sein Stolpern. 266
»Tempo!«, sagte ich noch einmal, und er stolperte schneller. Der Gedanke an die Rückkehr des Wagens trieb mich vorwärts. Ich hatte nicht die Absicht, mich noch einmal fassen zu lassen. In der Pistole waren noch fünf Schuß. Der erste für RousWheeler, der nächste für Yardman, und dann … er würde Giuseppe mitbringen und mindestens zwei Männer dazu. Schlechte Aussichten. »Schneller«, sagte ich. Rous-Wheeler erreichte die Leiter und stieg schwankend hinauf, jede zweite Sprosse verfehlend. Gehorsam marschierte er nach hinten und sank keuchend auf seinen Sitz. Ich folgte ihm. Irgend jemand, vermutlich Alf, hatte den Stuten Heu gegeben. Einer der Ballen aus Billys inzwischen abgebauter Mauer war aufgerissen. Der durchtrennte Draht lag daneben. Ich griff danach, um Rous-Wheeler damit zu fesseln, aber an dem bequem gepolsterten Sitz gab es keine Befestigungsmöglichkeit. Er wehrte sich nicht, als ich ihm die Handgelenke fesselte. Seine Angst verwandelte ihn in ein schlaffes, wehrloses Wesen, und seine Augen wirkten, als spüre er die Schockwellen, die der in mir vibrierende Zorn aussandte. »Hinknien«, befahl ich und deutete auf den Boden vor den Sitzen. Das gefiel ihm nicht. Zu unwürdig. »Hinknien! Ich habe keine Zeit, mich um Ihr Wohlbefinden zu kümmern.« Mit leidender Miene, die zu jeder anderen Zeit komisch gewirkt hätte, ließ er sich schließlich auf die Knie nieder. Ich steckte die Drahtenden durch eines der Löcher in der im Boden eingelassenen Befestigungsschiene und band ihn dort mit den Handgelenken fest. »M-moment mal …«, stotterte er. »Sie dürfen von Glück sagen, daß Sie überhaupt noch leben, also Schnauze!«, fauchte ich. 267
Er hielt den Mund. Seine Hände waren nur einen halben Meter von der über Patrick gebreiteten Decke entfernt. Er starrte widerstrebend auf den stummen Haufen. Geschieht ihm recht, dachte ich ohne Mitgefühl. »Was … was haben Sie vor?«, fragte er. Ich gab ihm keine Antwort, sondern marschierte durch die Kabine, um mir alles genau anzusehen. Die hinterste Box war immer noch abmontiert. Die Wände der nächsten hatte man auf der Steuerbordseite gestapelt. Im Torfrahmen stand jetzt eine große Kiste, zwei Meter lang, einszwanzig breit und fast eineinhalb Meter hoch. Man hatte sie mit Ketten festgezurrt. An allen Seiten waren Seilgriffe angebracht. Yardman hatte von einem Flaschenzug gesprochen, aber das Verladen mußte dennoch eine schwierige Aufgabe gewesen sein. Immerhin – um den Inhalt der Kiste einem unrechtmäßigen Empfänger zuzustellen, hatte Yardman ein Flugzeug gestohlen und drei Menschen umgebracht. Ich ging weiter. Die vier Stuten malmten ungerührt aus vollen Heunetzen und beachteten mich kaum. Ich eilte durch die Kombüse und in den Raum hinter dem Cockpit, wo Mikes Leiche lag. Das Begräbnis war bis zuletzt aufgeschoben worden. Im Gepäckraum standen vier weitere, mittelgroße Kisten mit Handgriffen, alle ohne Beschriftung. Dahinter die offene Tür. Für mich bedeutete sie die letzte Chance, zu unterlassen, was ich plante. Yardman war noch nicht zurückgekommen, die Cessna stand bereit. Wenn ich sie nahm, mit intaktem Funkgerät und vollen Tanks, war ich zweifellos in Sicherheit, und Yardmans Transportgeschäft ging in die Binsen. Aber die DC 4 mit den Kisten blieb ihm immer noch … Abrupt zog ich die Leiter ein und schlug die Tür zu. Zuviel Mühe, jetzt wieder umzuschalten, dachte ich. Ich hätte Rous268
Wheeler mit zur Cessna schleppen oder ihn erschießen müssen. Beides mißfiel mir. Aber die Situation, die mich im Cockpit erwartete, hätte meine Pläne beinahe zunichte gemacht. Billy hatte Bob in seinem Copilotensitz erschossen, durch den Hinterkopf. Er war nach vorne gekippt, über den Steuerknüppel, festgehalten von dem Sicherheitsgurt über den Schenkeln. Es war schon unter normalen Umständen bei dem beengten Raum äußerst schwierig, in den Copilotensitz zu gelangen. Einen Toten herauszuheben überstieg meine physische Kraft bei weitem. Ich verschloß mein Gehirn vor dem erdrückenden Gedanken, daß dies ein Mann war, den ich gekannt hatte. Ich betrachtete ihn allein als ein Objekt, das meinen Untergang herbeiführen konnte, wenn ich es nicht von der Stelle zu bewegen vermochte. Ich löste den Sicherheitsgurt, zerrte die zusammengekrümmte Gestalt so weit herum, daß Füße und Beine die Steuerung nicht mehr behinderten; dann schnallte ich den Sicherheitsgurt wieder fest, so daß mir der Tote halb den Rücken zuwandte. Mit derselben eiskalten Konzentration setzte ich mich an Patricks Platz und begann die Maschine zu starten. Schalter. Überall Dutzende von Schaltern: vor mir, am Dach, an der linken Wand und in der Reihe von Gashebeln rechts neben mir. Jeder mit kleinen Metallbuchstaben gekennzeichnet. Es waren zu viele, die richtig eingestellt werden mußten, bevor die Maschine fliegen würde. Patrick hatte mir gezeigt, wie man das machte. Das hieß noch lange nicht, daß ich es konnte. Ich beschränkte die Startchecks auf ein Minimum: Treibstoffzufuhr ein, Propellerumdrehungszahl maximal, Gashebel leicht geöffnet, Bremsen fest, Trimmer zentral, Kursweiser mir Kompaß synchronisiert. Mit dem ersten Zündschalter hatte ich sämtliche Brücken hinter mir verbrannt, denn es klappte. Der dreiflüglige Propeller drehte sich, und der innere Steuerbordmotor sprang mit ohrenbetäubendem Lärm an. Gashebel zu weit offen. 269
Vorsichtig schob ich den langen Hebel mit dem schwarzen Knopf nach vorn, bis der Motor ruhig lief. Danach ließ ich in schneller Reihenfolge und mit zunehmender Hast die anderen drei Motoren an. Als letztes schaltete ich die Scheinwerfer ein: Alf mochte die Motoren nicht gehört haben, aber die Lichter sah er auf jeden Fall, es ließ sich nicht ändern. Ich mußte schließlich sehen können, wohin ich rollte. Wenn ich Glück hatte, würde er nicht wissen, was er tun sollte, und damit nichts unternehmen. Ich nahm das Gas etwas zurück, löste die Bremsen, und das Flugzeug begann zu rollen, zu schnell, zu schnell. Ich rollte geradewegs auf die Scheinwerfer zu und konnte sie rammen, ich brauchte sie aber. Für eine Sekunde nahm ich die beiden Steuerbordgashebel zurück, die Maschine drehte sich halb herum, verfehlte die Scheinwerfer knapp und rollte auf die Startbahn. Der Wind war hinter mir. Ich mußte also zum anderen Ende rollen und dort umkehren, bevor ich starten konnte. Kein Mensch hat eine DC4 je schneller rollen lassen. Am anderen Ende verzichtete ich auf alle Motorenchecks und auf alles, was ich je gelernt hatte, drehte die Maschine und schob ohne zu zögern alle vier Hebel nach vorn. Die große, schwere Maschine dröhnte, vibrierte und begann, wie mir schien, mit quälender Langsamkeit schneller zu werden. Die Startbahn wirkte zu kurz. Auf Gras ging es langsamer als auf Beton. Die Bahn war für leichte Maschinen gebaut, und nur der Himmel wußte, wieviel die große Packkiste wog … Bei kurzen Startbahnen die Klappen raus. Die Anweisung tauchte automatisch aus dem Unterbewußtsein auf, nicht als klarer, zusammenhängender Gedanke. Ich legte meine Hand auf den Hebel und ließ die Landeklappen herunter. Zwanzig Grad, knapp die Hälfte. Wenn man sie ganz herunterließ, bremsten sie. 270
Yardman kam zurück. Im Gegensatz zu Alf wußte er genau, was zu tun war. Er verlor keine Sekunde. Am anderen Ende wurde der schwarze Wagen direkt in der Mitte der Startbahn gefahren. Meine Scheinwerfer erfaßten dunkle Gestalten, die heraussprangen und auf den Hangar zurannten. Wenn du weit genug ausweichst, daß du den Wagen nicht streifst, dachte ich, dann kippst du auf dem unebenen Boden um. Wenn du geradeaus weiterrollst und nicht rechtzeitig abheben kannst, erwischt du das Auto entweder mit dem Fahrwerk oder mit den Propellern. Yardman tat, was Alf unterlassen hatte. Er schaltete die Startbahnbeleuchtung aus. Die Dunkelheit umhüllte mich, als hätte man mir einen Sack über den Kopf gestülpt. Dann sah ich den Widerschein des starken Scheinwerferlichts meiner Maschine auf dem schon entsetzlich nah herangerückten Auto. Wenigstens war ich mir damit über die Richtung im klaren. Ich war schon zu schnell, um noch aufhören zu können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Der Absprung war verpaßt, und ich befand mich immer noch am Boden. Ich zog den Steuerknüppel leicht an mich, aber die Maschine war nicht hochzubekommen. Ich hatte Vollgas gegeben und keine Reserven mehr. Ich biß die Zähne zusammen und ließ die Maschine weiterrollen, kostbare Sekunden, die ich nicht übrig hatte, während der Wagen mit hundert Meilen pro Stunde auf mich zuschoß, bis es tatsächlich soweit war: jetzt oder nie. Nie konnte ich mir nicht leisten. Ich zog den Steuerknüppel heran und knallte gleichzeitig den Hebel nach oben, der das Fahrwerk einzog. Entweder fiel die Maschine auf den Bauch, oder ich stieß mit dem Auto zusammen. Eine weitere Chance gab es nicht. Aber die DC 4 flog. Ich konnte es nicht fassen, doch es gab kein explosives Finale, sondern nur einen glatten, dröhnenden Steigflug. Die 271
Scheinwerferstrahlen der Maschine stachen schräg in den Himmel, der Wagen verschwand unter mir, die Reibung der Grasnarbe war weg. Ich flog. Ein schöneres Wort gab es nicht. Mir lief der Schweiß übers Gesicht; zum Teil Anstrengung, zum Teil Angst. Die DC 4 war schwer; es war, als steuere ich einen vollbeladenen Möbelwagen, nachdem ich mit einem leeren Minicar den Führerschein gemacht hatte. Die Muskelkraft, die dazu gehörte, die Maschine geradezuhalten und nach oben zu bringen, war unter den Umständen ungeheuer. Aber sie flog, stieg in einem vernünftigen Winkel, und die Zeiger auf dem Zifferblatt des Höhenmessers drehten sich beruhigend. Zweitausend, dreitausend, viertausend Fuß. Ich fing die Maschine ab und nahm ein wenig Gas weg, als die Maschine zweihundertzwanzig Knoten erreicht hatte. Ein langsames, altes Flugzeug, 1945 gebaut. Zweihundertzwanzig Knoten, mehr schaffte es nicht. Die kleine, moderne Cessna, die ich zurückgelassen hatte, war ungefähr genauso schnell. Yardman hatte einen Piloten mitgebracht. Wenn er ohne Checks startete, konnte er nur um Minuten zurückliegen. Verschwinde, dachte ich mir. Ich hatte den ganzen Himmel, um mich zu verkrümeln. Die Scheinwerfer waren abgeschaltet, aber aus Gewohnheit hatte ich die Navigationslichter an den Flügelenden und am Heck eingeschaltet, ebenso das rotierende Blinklicht über dem Cockpit. Der kreisende rote Lichtstrahl übergoß die Tragflächen abwechselnd mit blaßrosa Licht. Ich schaltete es ab, ebenso die Navigationslichter. Nur eine übertretene Vorschrift mehr. Die Startbahn war in Ost-West-Richtung angelegt. Ich war Richtung Westen gestartet und geradeaus weitergeflogen, nur von dem Gedanken beseelt, endlich von dort wegzukommen, gleichgültig, wohin. Da machte ich es ihnen zu leicht. Ich versuchte es mit einer Querneigung nach links und spürte, wie die Maschine schwerfällig reagierte. Meine Arme schmerzten. Südwest, dem Wind entgegen. Ich stellte die Maschine gerade 272
und flog weiter, eine unsichtbare Kapsel in der Dunkelheit, und nach fünf Minuten wußte ich, daß sie mich nicht finden würden, jedenfalls nicht mit der Cessna. Meine zum Zerreißen angespannten Nerven beruhigten sich ein wenig, aber mit höchst unerfreulichen Folgen. Ich war mir plötzlich der Schmerzen durch Verbrennungen am Brustkorb zu deutlich bewußt und erkannte, daß ich nichts mehr gespürt hatte, seit ich auf Simon gestoßen war. Im Drang der Ereignisse hatten die Signale gar nicht bis zu meinem Gehirn vordringen können. Das wurde jetzt doppelt und dreifach nachgeholt. Schwäche breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Ich fröstelte, obwohl mir noch immer der Schweiß herunterlief. Meine Hände fingen auf dem Steuerknüppel an zu zittern, und mir wurde zum erstenmal klar, daß ich überhaupt nicht fähig war, irgendein Ding zu fliegen, geschweige denn zum erstenmal eine große Maschine, von der ich überhaupt nichts verstand. Aber weitaus schlimmer als die körperliche Belastung war der seelische Absturz, der sie begleitete. Es war Stolz, was mich in die Maschine und nach oben getrieben hatte, nichts als Stolz. Ich versuchte Billy immer noch etwas zu beweisen, obwohl er schon tot war. Ich hatte die DC 4 nicht aus der leidenschaftlichen Überzeugung gewählt, daß das Gerät in der großen Kiste um jeden Preis gerettet werden mußte, sondern um Yardman und dem toten Billy zu beweisen, daß es nicht viel gab, was ich nicht schaffte. Kindisch, prahlerisch, dumm, lächerlich. Und jetzt saß ich fest, hoch oben in der Luft, in Tonnen dröhnenden Metalls und wußte nicht, wohin ich unterwegs war. Ich wischte mir mit den Ärmeln das Gesicht ab und versuchte nachzudenken. Wenn ich je wieder festen Boden unter die Füße bekommen wollte, kam es entscheidend auf den Kurs und 273
die Höhe an. Viertausend Fuß, dachte ich, nach einem Blick auf den Höhenmesser. In dieser Höhe konnte ich direkt gegen eine Bergwand fliegen … wenn es hier Berge gab. Kurs Südwest, aber Südwest von wo aus? Ich suchte nach einer Landkarte, konnte aber keine finden. Patrick hatte erklärt, wir seien in Italien. Guiseppe war Italiener. Die Cessna trug ein italienisches Kennzeichen. Das Ultraschallgerät war von Brescia gebracht worden. Eindeutig, dachte ich. Norditalien. Wahrscheinlich irgendwo in der Nähe der Ostküste. Genauer ließ es sich nicht bestimmen. Wenn ich weiter nach Südwesten flog, mußte ich schließlich das Mittelmeer erreichen. Und vorher … Auf meiner Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen. Zwischen der nördlichen Tiefebene und dem Mittelmeer gab es die Apenninen, und ich konnte mich einfach nicht daran erinnern, wie hoch die Berge waren, aber viertausend Fuß war viel zu niedrig … und die Berge mochten nur eine Meile entfernt sein. Ich stellte die Nase hoch, gab Gas und gewann langsam an Höhe. Fünftausend, sechstausend, siebentausend, acht. Das sollte genügen. Die höchsten Gipfel der Alpen ragten nicht über zwölftausend hinaus, die Apenninen waren ein gutes Stück niedriger. Reine Vermutung. Vielleicht waren sie höher, als ich dachte. Ich stieg wieder, bis auf zehntausend Fuß. In dieser Höhe hatte ich nichts zu suchen, und an irgendeiner Stelle würde ich die Fluglinie nach Rom kreuzen. Das bedeutete eine starkbefahrene Hauptstraße im Dunkeln überqueren, ohne Licht. Ich schaltete die Navigationslampen wieder ein, auch das Blinklicht. Einer Düsenmaschine auf Kollisionskurs mochte das keine rechtzeitige Warnung sein, aber immerhin war es besser als nichts. Das donnernde Motorengeräusch ermüdete mich. Ich griff nach Patricks Kopfhörern und setzte sie auf. Dadurch 274
wurde der Lärm erträglicher. Ich hatte von Anfang an unterstellt, daß Yardman das Funkgerät zerstört haben würde, bevor er von Patrick verlangte, den Kurs zu ändern, und ein paar Drehungen der Knöpfe bestätigten meine Annahme. Kein Pfeifen, kein Knistern aus dem Äther. Ich hatte an die vage Möglichkeit gedacht, daß er das VOR-Gerät nicht beschädigt haben mochte, mit dem man sich von einem Funkfeuer zum anderen vortasten konnte. Es arbeitete unabhängig vom normalen Funkgerät, und er hatte es vielleicht gebraucht, um das Flugfeld zu finden, auf dem wir gelandet waren; aber auch die VOR-Anlage war tot. Zeit, dachte ich. Wenn ich nicht auf die Zeit achtete, würde ich mich vollends verirren. Ich schaute auf die Uhr. Halb zwölf. Ich starrte die Zeiger verständnislos an. Sie hätten mir genausoviel gesagt, wenn sie auf halb zehn oder halb zwei gestanden hätten. Die in Minuten und Stunden gemessene Zeit hatte in einer stillen Straße in Mailand zu existieren aufgehört. Ich schüttelte mich. Halb zwölf. Von jetzt an war es wichtig, entscheidend. Ohne Karten und Funk entschieden die Zeit und der Kompaß über mein Schicksal. Wie allen modernen Piloten war mir beigebracht worden, stets sämtliche Hilfsmittel zu benützen und alle Vorschriften zu beachten. Das ›frei nach Schnauze‹ der Flugpioniere galt als unwissenschaftlich und unnötig. Für mich war genau der richtige Augenblick gekommen, dergleichen lernen zu müssen. Wenn ich seit einer Viertelstunde in der Luft war, dachte ich, und wenn ich in einer nördlichen Tiefebene gestartet war, und wenn ich nur auf hundert Meilen hin oder her bestimmen konnte, wie breit Italien war, konnte ich mir in etwa ausrechnen, wann ich das Meer erreichen würde. Jedenfalls noch nicht gleich. Unter mir zeigten sich winzige Lichter und ein paar kleine Städte. Keine hellbeleuchteten Flughäfen mit einladenden Landebahnen. Wenn ich die Cessna genommen hätte, dachte ich bedrückt, wäre es einfach. Ich hätte nur an den Knöpfen zu drehen 275
brauchen und hätte sofort Funkkontakt bekommen. Die internationale Fliegersprache war Englisch. Ein Kinderspiel. Man hätte meine Position bestimmt, meinen Kurs, mir die Landung erleichtert. Aber wenn ich die Cessna genommen hätte, wäre die DC 4 intakt zurückgeblieben, wegen der Stuten. Ich hatte zuerst vorgehabt, ein paar Benzinkanister unter der Maschine auszuleeren und den Sprit anzuzünden, aber dann war mir die lebendige Hälfte der Fracht eingefallen. Yardman mochte kaltblütig genug sein, drei Flieger umzubringen, aber ich brachte es nicht fertig, vier Pferde bei lebendigem Leib zu braten. Und ich konnte sie nicht herausholen, weil das Flugzeug keine Rampe mit sich führte. Wäre mir genügend Zeit geblieben, dann hätte ich die Motoren beschädigen können … aber sie wären reparierbar gewesen. Ich hatte aber keine Zeit gehabt, sonst wäre mir auch die Chance, mit der Cessna davonzufliegen, ehe Yardman zurückkam, verlorengegangen. Ich hätte Rous-Wheeler in der Cessna mitnehmen, sicher landen und der Firma Yardman-Transport das Geschäft endgültig vermasseln können. Aber ich war genauso gierig wie Billy. Die Hälfte genügte mir nicht. Alles mußte es sein. Aber ich konnte ebenso an allem ersticken, wie es Billy gegangen war. Die nutzlosen Gedanken jagten sich in meinem Gehirn und brachten keine Resultate. Ich fuhr mir wieder mit dem Ärmel übers Gesicht und begriff, warum Patrick fast immer in Hemdsärmeln geflogen war, selbst im Winter. Italien konnte nicht viel breiter sein als England, wenn es überhaupt so breit war. Hundertzwanzig, hundertvierzig Seemeilen. Vielleicht mehr. Ich hatte nicht auf die Uhr gesehen, als ich gestartet war. Ich hätte es tun müssen; das war eine Routinesache. Ich hatte keine Chance, wenn ich mich nicht besser zu konzentrieren vermochte. Hundertvierzig Meilen bei zweihundertzwanzig Knoten … sagen wir hundertsechzig Meilen, für alle Fälle … das nahm zwischen vierzig und fünfundvierzig Minuten in Anspruch. Wenn ich soviel 276
Verstand gehabt hätte, früher auf die Uhr zu sehen, hätte ich gewußt, wie weit ich gekommen war. Die Lichter unter mir wurden seltener und verschwanden schließlich. Das Meer konnte ich wohl noch nicht erreicht haben … es mußten die Berge sein. Ich flog einige Zeit, dann schaute ich wieder auf die Uhr. Mitternacht. Und immer noch keine Lichter unter mir. So breit konnten die Apenninen nicht sein. Aber wenn ich zu früh hinunterging, würde ich einen Gipfel rammen. Ich gab noch fünf Minuten zu und hoffte, daß die Schmerzen am Brustkorb nachlassen würden. Sie waren ausgesprochen lästig. Immer noch keine Lichter. Ich begriff das nicht. Ich konnte doch nicht mehr über den schmalen Apenninen sein. Es hatte keinen Zweck, ich mußte tiefergehen, um mich orientieren zu können Ich nahm Gas weg, ließ den Bug sinken und beobachtete die Höhenmesserzeiger, die entgegen dem Uhrzeigersinn 7, 6,5 und 4 anzeigten. Viertausend Fuß. Ich fing das Flugzeug wieder ab. Die Nacht war genauso schwarz wie vorher. Ich stieß zwar gegen keinen Berg, aber ich sah auch nichts. Es war kein angenehmes Gefühl. Als ich endlich Lichter vor mir sah, nahm meine Unruhe eher zu. Meine Uhr zeigte zwölf Uhr fünfzehn. Das bedeutete, daß ich fast zweihundert Meilen zurückgelegt hatte. So breit konnte Italien nicht sein. Jedenfalls hätte ich das nicht angenommen. Die Lichter vor mir formten sich zu kleinen Gruppen, horizontal aneinandergereiht. Ich kannte das zu gut, um mich zu irren. Ich näherte mich einer Küste. Fassungslos starrte ich durch die Scheibe. Ich näherte mich dem Land vom Meer her. Alpträume waren harmlos dagegen. Ich empfand alles als unwirklich. Es schien mir, als hätte sich die Welt gedreht und ihr ganzes Gesicht verändert. Nichts würde je wieder so aussehen wie vorher. Ich muß doch 277
irgendwo sein, dachte ich, um meine ausschweifende Phantasie zu zügeln, aber wo um alles in der Welt, wo war ich? Ich konnte nicht ewig blindlings nach Südwesten fliegen. Die Küste mußte doch eine Gestalt haben. Etwa drei Meilen davor neigte ich die Maschine nach rechts und flog Richtung Norden, geleitet von nichts Vernünftigerem als meinem Instinkt. Ich flog parallel zu den vereinzelten Lichtern an der Küste. Das Meer unter mir war dunkel, das Land noch schwärzer. Die Linie, wo sich beide begegneten, war wie Ebenholz und Kohle, ein schattenhafter Wechsel der Oberfläche, ein kaum wahrnehmbares Aneinanderreiben zweier Massen. Ich konnte doch nicht, dachte ich, um meinen Verstand zur Vernunft zu zwingen, ich konnte doch nicht quer über den Golf von Genua geflogen sein und jetzt der italienischen Küste nördlich von Alassio entlangfliegen? Dafür sah ich nicht genug Lichter, auch wenn es spät in der Nacht war. Diese Küste kannte ich gut, aber nicht die unter mir. Außerdem lief sie viel zu lange nordwärts. Ich folgte ihr nun schon fünfzehn Minuten: über fünfzig Meilen. Ich mußte mir eingestehen, daß ich mir über meinen Startplatz Illusionen gemacht hatte. Oder der Kursweiser funktionierte nicht. Das gab es doch nicht. Ich hatte ihn zweimal mit dem Fernablesekompaß verglichen, der unabhängig davon arbeitete. Ich überprüfte die Geräte noch einmal; sie stimmten überein. Sie konnten sich nicht beide irren. Aber ich mußte doch in Italien gestartet sein. Ich dachte angestrengt nach, versetzte mich zu dem Zeitpunkt zurück, zu dem Patrick zum erstenmal nach Osten abgebogen war. Es war Osten gewesen, davon war ich immer noch überzeugt. Vor mir, am Rande des Meeres, sah ich ein aufblitzendes Licht, einen Leuchtturm. Sehr nützlich, wenn ich eine Seekarte besessen hätte, was aber nicht der Fall war. Ich brauste über den Leuchtturm hinweg und erstarrte innerlich. Dahinter war kein Land mehr! 278
Ich brachte die Maschine nach links in Querlage und kehrte um. Der Leuchtturm stand am Ende einer langen, schmalen Halbinsel, die genau nach Norden wies. Ich flog etwa zwanzig Meilen an der westlichen Seite entlang nach Süden, bis die vereinzelten Lichter sich weiter ausbreiteten und mein Kursweiser wieder Südwesten anzeigte. Eine Faust, die nach Norden zeigte. Angenommen, es stimmte, daß ich in Italien gestartet war, mich aber im Irrtum befand, wenn ich glaubte, so weit im Osten gewesen zu sein. Dann mußte ich über dem Meer geflogen sein, als ich glaubte, über dem Gebirge zu sein. Angenommen, ich war schon länger als eine Viertelstunde in der Luft gewesen, als ich zum erstenmal auf die Uhr gesehen hatte, dann hatte ich eine längere Strecke zurückgelegt, als ich ursprünglich dachte. Wie dem auch war, im nördlichen Mittelmeer gab es Land mit solchen Umrissen nicht, nicht einmal eine Insel. Eine Insel dieser Größe … Korsika. Das kann nicht sein, dachte ich. So weit nach Süden kannst du nicht geraten sein. Ich kehrte wieder um und flog zum Leuchtturm zurück. Wenn das Korsika war und ich nach Nordwesten flog, mußte ich Südfrankreich erreichen, und dort kannte ich mich wieder aus. Wenn es Korsika war, hatte ich am Südrand der Po-Ebene abgehoben, nicht in der Nähe von Triest oder Venedig, wie angenommen. Es war nicht unmöglich, es ergab einen Sinn. Die Welt begann sich wieder zu ordnen. Ich flog Richtung Nordwesten über das schwarze, unsichtbare Meer. Siebenundzwanzig Minuten, ungefähr hundert Meilen. Die Lichter entlang der französischen Küste sahen aus wie Spitzen, mit Brillanten durchwirkt. Sie waren mir genauso kostbar. Ich flog eine Kurve und folgte ihnen Richtung Westen, um den Flughafen Nizza zu suchen. Bei Tag fand man ihn leicht; die Start- und Landebahnen schienen fast am Strand zu verlaufen. Entweder war ich aber weiter nach Westen geraten, 279
als ich annahm, oder der Flughafen hatte nachts den Betrieb eingestellt, denn ich verfehlte ihn. Der erste Ort, den ich sicher erkannte, war Cannes in seiner Bucht, und das lag so nahe bei Nizza, daß ich die Landebahn hätte sehen müssen, wäre sie beleuchtet gewesen. Eine Welle der Müdigkeit flutete in mir hoch, begleitet von einer Empfindung der Sinnlosigkeit. Selbst wenn ich einen großen Flughafen fand, was ich noch bezweifelte, konnte ich dort nicht ohne Funkverbindung landen, alle kleineren hatten den Betrieb längst eingestellt. Im Dunkeln vermochte ich nirgends niederzugehen. Offenbar schien mir nichts anderes übrigzubleiben, als im Kreis herumzufliegen, bis es hell genug wurde für eine Landung in Nizza … aber reichte der Treibstoff aus? In diesem deprimierenden Augenblick dachte ich zum erstenmal daran, daß ich versuchen könnte, nach England zurückzufliegen. Der Heimkehrinstinkt trieb mich an. Ich fand keinen Einwand, außer der Tatsache, daß ich unterwegs wahrscheinlich vor Müdigkeit einschlafen würde, aber daß mir das noch viel eher passieren würde, wenn ich vor Cannes kreiste. Entschlossen, vom gleichen Augenblick an, an dem ich es zum erstenmal dachte, folgte ich der Küste, bis sie sich wieder nach Norden schwang und die Lichter von Marseille unter mir lagen. Der wohlbekannte Heimweg von dort aus führte über das Rhonetal, vorbei an den Funkfeuern von Montélimar und Lyon. Bei Dijon mußte man das Flugzeug nach links steuern, Richtung Paris. Unverwechselbar waren jedoch nur die Funkfeuer, nicht die geographischen Merkmale, und ich konnte nicht blindlings in den vielbeflogenen Komplex Paris eindringen, ohne alle anderen Flugzeuge dort zu gefährden. Nördlich von Paris war es genauso riskant, weil dort die Luftwege nach Deutschland und den Osten verliefen. Also nur der Süden. Quer durch Frankreich, südlich von Paris. Es wäre 280
ungeheuer wichtig gewesen, genau zu wissen, wo Paris lag. Ich mußte wieder raten … meine ersten Vermutungen waren keineswegs umwerfende Triumphe gewesen. Dreihundertzwanzig Grad, dachte ich. Damit wollte ich es versuchen. Zehn Grad zusätzlich einkalkuliert für die Windabdrift aus Südwest. Dreihundertzehn. Und etwas steigen. Frankreichs Süden wurde vom Zentralmassiv beherrscht, und es wäre blamabel gewesen, dort abzustürzen. Ich gab mehr Gas und stieg auf zehntausend Fuß. Jetzt blieb nur noch der Treibstoff zu bedenken, das ärgste Problem überhaupt. Ich war mit den Haupttanks gestartet. Die Treibstoffuhren zeigten halbvoll an. Ich schaltete auf die Zusatztanks um. Sie waren ebenfalls halbvoll. Auch halbleer. Die Maschine war am Vormittag in Mailand aufgetankt worden, vor tausend Jahren. Sie faßte – ich forschte in meinem Gedächtnis nach den Informationen, die mir Patrick bei unserer ersten Begegnung beiläufig vermittelt hatte –, sie faßte viertausendachthundert Liter, was ihr eine Reichweite von annähernd tausendachthundert Meilen unter normalen Umständen bei normaler Beladung verlieh. Die Beladung war zwar nicht normal, aber sie wog nicht mehr als üblich Es herrschte ideales Flugwetter, wenn auch der Pilot nicht in guter Verfassung war. Neunhundert Meilen ab Marseille würden mich weit nach England hineinbringen, aber bei der derzeitigen Geschwindigkeit konnte es nicht länger als vier Stunden dauern bis der Treibstoff zu Ende ging, und dann war es immer noch zu dunkel. Es gab also nur eine Möglichkeit. Ich legte meine Hand auf die Gashebel und zog sie um ein beträchtliches Stück zurück. Die Geschwindigkeit fiel von 220, 180 auf 150 Knoten zurück. Langsamer wagte ich nicht zu fliegen, weil mir Patrick nicht die kritische Geschwindigkeit genannte hatte, schließlich wollte ich nicht runterfallen. Als die Geschwindigkeit so stark sank, neigte der Bug zum Absinken, und ich hielt ihn mit meiner ganzen Kraft hoch, den Steuerknüppel mit dem linken 281
Unterarm festhaltend. Ich streckte die rechte Hand aus, zum Trimmergriff am Dach, und drehte ihn viermal herum. Die Maschine fand ihr Gleichgewicht. Zehntausend Fuß bei hundertfünfzig Knoten; aber meine Wunden begannen wieder zu bluten, weil sich das festgeklebte Hemd durch die Bewegung losgerissen hatte. Bei hundertfünfzig Knoten mußte der Treibstoffverbrauch so weit sinken, daß ich lange genug in der Luft bleiben konnte, um nach Anbruch der Dämmerung einen Landeplatz zu finden. Das hoffte ich. Damit hatte ich aber nicht nur vier Stunden vor mir, sondern über fünf, und ich konnte kaum mehr. Trotzdem, seit ich ungefähr wußte, wohin die Reise ging, konnte die Maschine von alleine fliegen. Ich stellte den Trimmer ein, bis die Nadel an dem Instrument, das anzeigte, ob das Flugzeug stieg oder sank, ohne zu zittern in der Mitte blieb, dann schaltete ich den Autopiloten ein. Ich nahm die Hände von der Steuersäule und lehnte mich zurück. Die DC 4 flog geradeaus weiter. Beruhigend und erholsam. Ein paar Minuten lang passierte gar nichts, abgesehen davon, daß ich durstig wurde und zum erstenmal seit dem Start wieder an Rous-Wheeler dachte. Wahrscheinlich liegt er noch auf den Knien. Sehr unbequem. Sein Pech. Wasser gab es in der Kombüse, nur fünf oder sechs Schritte hinter mir, kalt und verlockend. Vorsichtig zwängte ich mich aus dem Sitz. Die Maschine flog weiter. Ich ging zwei Schritte rückwärts. Die Instrumente mucksten nicht. Ich trat in die Kombüse, füllte einen Becher mit Wasser, das ich auf dem Weg zum Cockpit trank. Offenbar kam die Maschine ohne mich sehr gut aus. Ich ging zur Kombüse zurück und wollte den Becher zum zweitenmal mit dieser kalten Köstlichkeit füllen. Um ein Haar hätte ich ihn fallen lassen. Sogar über dem Motorenlärm hörte ich Rous-Wheeler schreien. Das blanke Entsetzen war so unverkennbar, daß sich mir die Nackenhaare sträubten. Das sind keine Schmerzen, 282
dachte ich, jedenfalls nicht solche, die man von einem Krampf bekommt. Es war Angst. Er schrie noch zweimal auf. Eines der Pferde, dachte ich sofort. Wenn Billy sie nicht richtig untergebracht hatte … Meine frisch gewässerte Kehle wurde wieder trocken. Ein frei herumlaufendes Pferd war einfach zuviel. Ich hastete zum Cockpit zurück. Am Instrumentenbrett hatte sich nichts verändert. Ich mußte es riskieren. Das Flugzeug war mir nie länger, die Ketten und Gepäckablagen nie schwerer zu überwinden vorgekommen. Und keine der Stuten hatte sich losgerissen. Sie waren nicht einmal unruhig, sie malmten nur. Halb erleichtert, halb wütend ging ich an der Kiste vorbei. Rous-Wheeler kniete immer noch auf dem Boden. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu treten, sein Gesicht war schweißnaß. Der letzte Schrei hing wie ein Echo in der Luft. »Was zum Teufel ist los?«, schrie ich ihn zornig an. »Er …«, kreischte er, »er … hat sich bewegt.« »Wer hat sich bewegt?« »Er.« Seine Augen waren starr auf die Decke gerichtet, unter der Patrick lag. Er konnte sich nicht bewegt haben. Armer, armer Patrick. Ich ging zu ihm, zog die Decke weg und starrte hinunter, auf den großen, regungslosen Körper, das wirre Haar, die große Blutlache unter seinem Gesicht. Blutlache! Das war unmöglich. Er hatte gar keine Zeit gehabt, so viel zu bluten. Ich kniete neben ihm nieder, rollte ihn auf den Rücken, und er öffnete die bernsteinfarbenen Augen.
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18 Er war sechs Stunden lang völlig bewußtlos gewesen und kam auch jetzt nicht zu sich. In seinen Augen regte sich nichts, und nach ein paar Sekunden fielen sie wieder langsam zu. Meine Finger tasteten ungeschickt nach seinem Puls, und ein paar schreckliche Augenblicke lang spürte ich nichts; der Puls war aber da. Langsam und kaum spürbar, aber regelmäßig. Er befand sich auf dem Weg zum Bewußtsein. Ich war so froh, daß ich ganz bestimmt geweint hätte, wäre Rous-Wheeler nicht dagewesen. So kämpfte ich gegen die Tränen an, die ich zurückgehalten hatte, als Billys Finger am Abzug lag. Merkwürdig, daß mich so starke Gefühle bewegten, nur, weil die Ursache dafür plötzlich nicht mehr existierte. Rous-Wheeler stotterte: »Was … was ist denn?« Sein Gesicht war lehmfarben. Ich starrte Rous-Wheeler unfreundlich an. »Er ist am Leben«, sagte ich knapp. »Ausgeschlossen!« »Halten Sie den Mund.« Die Kugel aus Billys Waffe hatte Patrick über dem Haaransatz in einem solchen Winkel getroffen, daß sie, statt seinen Schädel zu durchdringen, am Rand entlanggeglitten war. Die lange, geschwollene, blutverklebte Wunde sah entsetzlich aus, war aber im Vergleich mit einem kleinen, sauberen Loch beinahe schön zu nennen. Ich stand auf und breitete wieder die Decke über ihn, um ihn warmzuhalten. Dann ging ich nach vorn, ohne Rous-Wheelers Protest zu beachten. Im Cockpit hatte sich nichts verändert. Die Maschine dröhnte vor sich hin, alle Instrumente zeigten normal an. Ich berührte 284
den Rücken des Copiloten, weil mir plötzlich wieder zum Bewußtsein gekommen war, daß er neben mir kauerte. Die Stille in ihm war ewig, er konnte mein Mitgefühl nicht spüren, aber er besaß es. Ich ging zwei Schritte zurück und kniete neben Mike nieder. Auch er war in den Kopf geschossen worden. Bei ihm gab es keinen Zweifel. Die lebendige Braue war für alle Zeiten erstarrt. Ich richtete ihn auf und legte ihn flach auf den Rücken. Das half ihm zwar nicht, aber es schien ihm mehr Würde zu verleihen. Mehr konnte man für die Toten nicht tun. Die vier Kisten im Gepäckraum waren schwer und mehr mit Gewalt als mit Überlegung hineingeworfen worden. Sie hatten vieles von dem zerdrückt, was dort aufbewahrt wurde. Ich schob die erste Kiste etwas zur Seite, streckte den Arm hinein und zerrte eine Decke heraus, die ich über Mike legte. Mit einer zweiten Decke kehrte ich in die Kombüse zurück. Früher hatte ich in einem der Schränke den Verbandskasten gesehen, und zu meiner Erleichterung befand er sich noch an derselben Stelle. Auf dem Verbandskasten befand sich ein Paket, eingewickelt in das gestreifte Papier des Souvenirstands des Flughafens Malpensa. Die Puppe für Mikes Tochter. Es war, als hätte ich einen Schlag erhalten. Die Tatsachen konnte man nicht verniedlichen. Zu ihrem Geburtstag brachte ich ihr einen toten Vater. Und Gabriella … Die Besorgnis um sie hing in mir wie eine niedrige Wolkendecke, dicht, drohend und unverändert. Ich griff nach dem Paket, das sie eingewickelt hatte, und legte es auf die Theke neben die Papierbecher und den Zucker. Man hörte oft, daß sich Leute von Lungenschüssen erholten; ich wußte es. Aber der italienische Arzt hatte mir nur vage Hoffnung gemacht, und die Hoffnung besaß reißende Klauen. Ich flog nach Hause und hatte ein Nichts vor mir, wenn sie nicht am Leben blieb. 285
Mit der Decke und dem Verbandskasten kehrte ich zu Patrick zurück. In der Toilette wusch ich mir die schmutzigen Hände, dann tränkte ich eine Lage Watte mit sauberem Wasser, um sein Gesicht zu waschen. Als ich es mit Watte trocknete, fand ich eine große, harte Beule an seiner Stirn, wo er auf dem Boden aufgeprallt war: zwei schwere Erschütterungen des Gehirns innerhalb von Sekunden. Seine Lider zuckten nicht, während ich ihn säuberte, und ängstlich griff ich nach seinem Puls. Er war immer noch da, schwach, aber gleichmäßig. Ich seufzte erleichtert, riß die Hülle von einem großen Mullverband, legte ihn sanft auf die große Wunde an seiner Kopfhaut und befestigte ihn mit Heftpflaster. Ich schob ihm die zweite Decke, flach zusammengefaltet, unter den Kopf, um ihn ein wenig vor der Vibration des Flugzeugrumpfes zu schützen. Ich lockerte seine Krawatte, öffnete den obersten Kragenknopf und den Hosenbund. Sonst konnte ich ihm nicht helfen. Ich stand langsam auf und drehte mich um. Mit einer Besorgnis, die an Hysterie grenzte, schrie RousWheeler: »Sie lassen mich doch nicht wieder so allein?« Halb sitzend, halb kniend, kauerte er am Boden, die Hände am Boden festgebunden. In dieser Haltung verharrte er nun schon fast drei Stunden, und seine schlaffen Muskeln waren wohl überfordert. Es war zu grausam, ihn für den Rest des Fluges so zu quälen. Ich legte den Verbandskasten auf die zusammengelegte Box, zog einen Heuballen heran und schob ihn an die große Kiste. Dann schnitt ich mit Alfs Blechschere den Draht um seine Handgelenke auseinander und deutete auf den Heuballen. »Hinsetzen.« Er erhob sich langsam und steif und schrie leise auf. Mühsam wankte er zum Ballen und setzte sich. Ich holte mir ein anderes Stück Draht, fesselte trotz seiner Proteste die Handgelenke wieder zusammen und befestigte sie an einer Kette, mit der die 286
Kiste festgezurrt war. Ich wollte vermeiden, daß er im Flugzeug herumlief und mich behinderte. »Wohin fliegen wir?«, fragte er. Jetzt, wo er etwas von mir erhalten hatte, blies er sich auch gleich wieder auf. Ich schwieg. »Und wer steuert die Maschine?« »George«, sagte ich und drehte den Draht zum Abschluß so zusammen, daß er ihn nie würde aufkriegen können. »Selbstverständlich.« »Was für ein George?« »Gute Frage«, sagte ich und nickte gleichmütig. Er war wunderbar durcheinander. Ich überließ es ihm, sich zurechtzufinden, griff nach dem Verbandskasten, tastete noch einmal nach Patricks Puls, der ruhig vor sich hin arbeitete, und kehrte zur Kombüse zurück. Im Erste-Hilfe-Kasten gab es Verbände genug, sogar besondere für Verbrennungen, und ich hatte keine Lust, mir immer wieder den Hemdenstoff von der Wunde zu reißen. Vorsichtig zog ich den Pullover hoch und stopfte das Hemd darunter. Wohl niemand außer Billy hätte den Anblick lustig gefunden. An der Luft ging alles wieder von vorne los. Ich nahm eine der größten Brandbinden aus ihrer Hülle und legte sie mit jener ganz besonderen Behutsamkeit auf, die man nur für sich selbst übrig hat. Trotzdem reichte es mir. Mühsam verband ich die Wunde und zog Hemd und Pullover wieder darüber. Einen Augenblick lang tat es so weh, daß ich bedauerte, mich überhaupt damit befaßt zu haben. Ich trank noch einen Becher Wasser, ohne meinen Durst löschen zu können. Dann besichtigte ich den Verbandskasten genauer. Er bot drei Möglichkeiten der Schmerzbekämpfung. Aspirin- und Codeintabletten und sechs Ampullen Morphium. Ich schluckte zwei Codeintabletten, dann tat ich alles wieder in 287
den Kasten zurück, klappte den Deckel zu und ließ ihn auf der Theke stehen. Langsam kehrte ich ins Cockpit zurück und besichtigte das Instrumentenbrett. Alles funktionierte. Ich holte eine dritte Decke aus dem Gepäckraum und legte sie über Bob. Augenblicklich wurde er etwas weniger real, und ich fragte mich, ob man deshalb immer die Gesichter der Toten zudeckte. Dann schaute ich auf die Uhr. Eine Stunde seit Marseille. Nur hundertundfünfzig Meilen, eine endlose Strecke noch vor mir. Ich lehnte mich an die Metallwand und schloß die Augen. Es war kein gutes Gefühl, nicht, wo noch so viel zu tun war. Ironischerweise mußte ich an die Regeln des Luftfahrtministeriums denken …»Viele Flugunfälle haben ihren Grund darin, daß die daran beteiligten Piloten nicht flugtauglich waren … je anstrengender die zu bewältigende Aufgabe, desto gefährlicher können kleine Unpäßlichkeiten werden … wenn Sie so krank sind, daß Sie Medikamente benötigen, starten Sie erst gar nicht … wenn Kaffee nicht ausreicht, um Sie wachzuhalten, dann sind Sie nicht flugtauglich.« Das gute, alte Luftfahrtministerium, dachte ich. Traf den Nagel genau auf den Kopf. Wenn es nach ihm ginge, hätte ich festen Boden unter den Füßen haben sollen. Dem konnte ich nur von Herzen beipflichten. Das Funkgerät, dachte ich plötzlich zusammenhanglos. Ich öffnete die Augen, richtete mich auf und versuchte festzustellen, woran es lag, daß es nicht funktionierte. Ich brauchte nicht lange zu suchen. Yardman hatte alle Trennschalter entfernt. Es war dasselbe, als würde man in einem Haushalt alle Sicherungen herausschrauben. In jeder Maschine wurde jedoch Ersatz mitgeführt. Ich fand den Platz, wo die Trennschalter aufbewahrt wurden, aber ich hatte kein Glück. Sie steckten wohl alle in Yardmans Taschen. Ich holte mir noch einen Becher Wasser, setzte mich wieder 288
auf Patricks Platz und schob den Kopfhörer über die Ohren, um den Lärm zu dämpfen. Ich lehnte mich bequem zurück, legte die Ellbogen auf die kurzen Armlehnen, und nach einiger Zeit begannen Schmerzmittel und Verband zu wirken. Der Himmel war immer noch schwarz und mit hellen Sternen besetzt. Das rotierende Blinklicht warf immer noch rötliches Licht auf die Tragflächen, aber schon machten sich graue Schatten bemerkbar. Es war nicht die Dämmerung, der Mond ging auf. Sehr freundlich von ihm, dachte ich anerkennend. Obwohl er stark im Abnehmen war, würde ich wenigstens einigermaßen sehen können, wenn ich über die Küste hinausflog. Ich begann mir zu überlegen, zu welcher Zeit ich sie erreichen würde. Wieder Vermutungen. Nordwestliche Richtung durch Frankreich waren von Küste zu Küste mindestens fünfhundert Meilen. Um ein Uhr vierzig hatte ich Marseille hinter mir gelassen. Jetzt war es drei Uhr zehn. Den Kanal mußte ich also gegen fünf Uhr erreichen. Seit ich wußte, daß Patrick noch lebte, hatte sich alles verändert. Ich war jetzt ohne jede Einschränkung froh darüber, daß ich die DC 4 gewählt hatte, so idiotisch mein Motiv zunächst auch gewesen sein mochte. Hätte ich sie zurückgelassen, und Yardman hätte Patrick am Leben gefunden, dann hätten sie nur noch eine Kugel hinterhergejagt oder Patrick so begraben, wie er war. Das ermüdende Gedankenkarussell, ob ich nicht doch lieber die Cessna hätte nehmen sollen, war zum Stehen gekommen. Ich gähnte. Das war schlecht. Auf keinen Fall konnte ich es mir leisten, einzuschlafen. Ich hätte die Tabletten nicht nehmen dürfen, dachte ich. Solange man Schmerzen hat, bleibt man wach. Ich rieb mir das Gesicht. Es fühlte sich an, als gehöre es einem anderen. Ich habe Billy umgebracht, dachte ich. Ich hätte ihn ins Bein schießen und Yardman überlassen 289
können. Statt dessen hatte ich ihn selbst umgebracht. Die Wahlmöglichkeit und jene kaltblütigen Sekunden der Rache machten es zum Mord. Theoretisch eine interessante Frage, wann Notwehr in etwas anderes umschlug. Na ja … niemand würde es je herausfinden, und mein Gewissen regte sich nicht. Ich gähnte wieder, noch heftiger, und überlegte, ob ich eine von Patricks Bananen essen sollte. Vor der Windschutzscheibe lag ein ziemlich reduziertes Büschel, und vier schwärzliche Stengel zeugten von seinem morgendlichen Kampf gegen den Hunger. Aber ich stellte mir ihre pappige Süße vor und ließ sie liegen. Ich hatte sowieso keinen Hunger. Das letzte Essen war die Lasagne mit Gabriella gewesen. Gabriella … Nach einer Weile stand ich auf und ging nach hinten, um mir Patrick anzusehen. Er hatte sich nicht bewegt, aber seine Augen waren wieder offen. Ich kniete neben ihm und spürte seinen Puls. Unverändert. »Patrick«, sagte ich, »kannst du mich hören?« Er reagierte nicht. Ich stand langsam auf und starrte Rous-Wheeler auf seinem Heuballen an. Er schien ein wenig geschrumpft zu sein, als wäre die ganze heiße Luft ausgeströmt, und er ließ die Schultern hängen. Offenbar hatte er begriffen, daß ihn keine rosige Zukunft erwartete. Wortlos kehrte ich ins Cockpit zurück. Vier Uhr. Noch nie war mir Frankreich so groß erschienen. Zum hundertstenmal prüfte ich die Treibstoffanzeiger und sah, daß die Zeiger für die Zusatztanks fast auf Null angelangt waren. Die vier Motoren der Maschine verbrauchten bei normaler Geschwindigkeit sechshundert Liter in der Stunde, und selbst bei zurückgenommenem Gas schienen sie den Sprit zu saufen. Der Treibstoff wurde nicht automatisch von den Haupttanks zugeführt, sobald die Zusatztanks leer waren. Man 290
mußte von Hand umschalten. Und ich konnte es mir einfach nicht leisten, den letzten Tropfen aus den Zusatztanks zu verbrauchen, denn die Motoren würden in derselben Sekunde, in der die Treibstoffzufuhr ausblieb, stehenbleiben. Meine Finger ruhten auf dem Schalter, bis ich es einfach nicht mehr aushalten konnte, dann schaltete ich auf die Haupttanks um. Die Zeit verging, das schlafende Land glitt unter mir vorbei. Sobald ich die Küste erreiche, stehe ich wieder vor dem alten Problem, dachte ich. Ich wußte innerhalb von zweihundert Meilen nicht, wo ich mich befand, und der Himmel war den Verirrten nicht gnädig. Man konnte nicht stehenbleiben und sich erkundigen. Man konnte überhaupt nicht stehenbleiben. Hundertundfünfzig in der Stunde waren vielleicht im Hinblick auf Düsenmaschinen langsam, aber in der falschen Richtung auf jeden Fall zu schnell. In Patricks Aktentasche befand sich nicht nur eine dicke Mappe mit Funkfeuerkarten, sondern auch eine Anzahl von topographischen Landkarten. Man brauchte sie für die normale Luftnavigation nicht, aber man mußte sie mitführen, falls die Funkgeräte ausfielen. Die Aktentasche befand sich sicher irgendwo unter oder hinter den vier Kisten im Gepäckraum. Ich schaute nach, wußte aber schon vorher Bescheid. Die schweren Kisten waren eingeklemmt, und selbst wenn ich Platz gehabt hätte, sie alle in dem kleinen Raum hinter dem Cockpit zu stapeln – mir fehlte die Kraft dazu. Gegen halb fünf sah ich noch einmal nach Patrick. Die Situation hatte sich grundlegend verändert. Er hatte die Decke abgeworfen und zupfte mit schwachen, unkoordinierten Bewegungen an seinem Kopfverband. Seine Augen waren offen, konnten aber noch nichts erkennen. Sein Atem kam in kurzen, regelmäßigen Stößen. »Er stirbt -«, schrie Rous-Wheeler wenig hilfreich. Patrick lag nicht nur nicht im Sterben, sondern war dem 291
Bewußtsein nahe, und seine Schmerzen schienen ihm das klarzumachen. Ohne Rous-Wheeler Antwort zu geben, holte ich das Morphium aus dem Verbandskasten. Es waren sechs gläserne Ampullen in einer Schachtel. Sie waren alle mit einer in einer Glashülse steckenden Spritze versehen. Ich las die Anweisungen sorgfältig durch, während Rous-Wheeler ungebeten brüllte, ich hätte kein Recht, eine Injektion zu geben, ich sei kein Arzt, ich solle das jemandem überlassen, der sich auskenne. »Kennen Sie sich aus?«, sagte ich. »Äh … nein.« »Dann halten Sie den Mund.« Er brachte es nicht fertig. »Dann fragen Sie doch den Piloten.« Ich musterte ihn kurz. »Ich bin der Pilot.« Das brachte ihn zum Schweigen. Seine Kinnlade fiel runter und gab den Blick auf seine Mandeln frei. Von nun an sagte er kein Wort mehr. Patrick hörte auf zu stöhnen, während ich seinen Hemdsärmel nach oben rollte. Ich sah ihm hastig ins Gesicht, und seine Augen bewegten sich langsam und sahen mich an. »Henry«, sagte er. Seine Stimme drang nicht zu mir, aber die Bewegung der Lippen war klar verständlich. Ich bückte mich und sagte: »Ja, Patrick. Alles okay, bleib ruhig liegen.« Seine Lippen bewegten sich wieder. Ich näherte mein Ohr seinem Mund. Er sagte: »Mein Kopf tut verdammt weh.« Ich nickte lächelnd. »Nicht mehr lange.« Er sah mir zu, als ich die Glaskappe zerbrach, um die Kanüle 292
freizulegen, und rührte sich nicht, als ich sie ihm in den Arm stieß, obwohl ich ziemlich ungeschickt gewesen sein mußte. Schließlich war ich bisher immer auf der Empfängerseite einer Injektion gewesen. Als ich fertig war, begann er wieder zu sprechen. Ich beugte den Kopf hinunter, damit ich ihn verstehen konnte. »Wo … sind … wir?« »Unterwegs zu einem Arzt. Schlaf ruhig.« Er lag da und sah eine Zeitlang unbestimmt nach oben, dann schloß er allmählich die Augen. Sein Puls ging kräftiger und nicht mehr so langsam. Ich deckte ihn wieder zu und kehrte ins Cockpit zurück, ohne Rous-Wheeler weiter zu beachten. Drei Viertel fünf. Zeit zur Landung. Ich überprüfte alle Instrumente, entdeckte, daß ich die Schachtel mit den Ampullen immer noch bei mir hatte, steckte sie zu den Bananen und dem Becher. Ich schaltete die Cockpitbeleuchtung aus, damit ich besser hinaussehen konnte. Die runden Skalen waren nur noch an den roten Rändern erhellt. Nach einer Weile schaltete ich den Autopiloten ab. Als ich den Bug senkte und wieder das große Gewicht der Maschine spürte, bezweifelte ich im Ernst, ob ich sie jemals landen konnte, selbst wenn ich einen Flughafen fand. Ich war der Erschöpfung nahe, meine Muskeln machten nicht mehr mit, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch das Gehirn nicht mehr voll funktionierte. Wenn ich nicht klar und blitzschnell denken konnte, würde ich einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begehen, und um Patricks willen, ganz abgesehen von meiner Person, konnte ich mir das nicht leisten. Viertausend Fuß. Ich fing die Maschine ab und flog weiter, starrte in die vom Mond erhellte Dunkelheit und suchte das Meer. Die Müdigkeit kroch langsam in mir hoch, heimtückisch wie die Flut, die einen schließlich verschlingt. Ich hätte das 293
Codein nicht nehmen sollen, dachte ich, wahrscheinlich war das an meiner Schläfrigkeit schuld. Obwohl ich nach Reitverletzungen schon öfter welches genommen und keine derartige Wirkung verspürt hatte. Aber da war ich auch unten auf der Erde gewesen und brauchte mich nur aufs Gesundwerden zu konzentrieren. Da! Da war das Meer. Anthrazit, schwarz, ein wenig glänzend im Mondlicht, so daß ich keine Zweifel zu haben brauchte. Ich flog ein Stück hinaus, wendete das Flugzeug nach rechts und begann dann an der Küste entlangzufliegen. Der Kompaß zeigte Ostsüdost. Das kam mir äußerst merkwürdig vor, aber zweifellos mußte das die Nordwestküste Frankreichs sein, und ich wollte mich nicht wieder verirren. Ich sah dort Leuchttürme, die ihre Signale in die Nacht hinausstrahlten. Keine Karten, um mich zurechtzufinden. Der größte Hafen an dieser Küste war Le Havre, ich konnte ihn nicht verfehlen, selbst um fünf Uhr morgens mußten dort viele Lichter zu sehen sein. Wenn ich von dort aus in etwa nach Norden flog, mußte ich England erreichen. Aber dieses »in etwa« machte mir gerade Sorgen. Der Landkarte in meinem Kopf durfte ich nicht trauen. Wenn ich ungefähr nach Norden flog, mochte ich auch in die Kontrollzone London eindringen, was noch schlimmer gewesen wäre als Paris. Hell wurde es frühestens um sechs Uhr. Am Tag zuvor war die Sonne um drei Viertel sieben aufgegangen. Vor mir tauchten die Lichter von Le Havre auf, und dann unter mir, bevor ich mich entschieden hatte. Ich reagiere zu langsam, dachte ich dumpf. Ich würde das Flugzeug nie auf die Erde bringen. Die Küstenlinie schwang nach Norden, und ich folgte ihr. Fünf Uhr zwanzig. Bald würde die Morgendämmerung einsetzen, da stand es nicht allzu schlecht um die Kraftstoffreserven. Aber ich mußte mich entschließen, wo ich runtergehen wollte, das war unumgänglich. 294
Wenn ich einfach noch ein bißchen weiterflog, würde ich nach Calais kommen. Irgendwo auf der anderen Seite lagen die Flugplätze von Lympne, Lydd und Manston. Irgendwo. Meine Gedanken waren wie gelähmt. Ich flog wie ein Automat an der Küste Frankreichs entlang, bis ich schließlich begriff, daß ich zu weit geflogen war. Ich hatte nicht genau auf den Kompaß geachtet, und er hatte sich von Nord fast bis Ost gedreht. Das Licht, an dem ich vorher vorbeigekommen war, das Licht, das in Abständen von fünf Sekunden aufblinkte, mußte Gris Nez gewesen sein. Ich war über Calais hinausgeraten. Ich befand mich fast in Belgien. Ich mußte mich entscheiden … Der Himmel begann heller zu werden. Überrascht erkannte ich, daß schon ein paar Minuten lang die Küste deutlicher zu sehen gewesen war, das Wasser unter mir bleiernes Grau zeigte. Bald konnte ich einen Flughafen suchen, aber nicht in Belgien. Die Erklärungen dort würden zu kompliziert werden. Vielleicht zurück nach Kent … In gewisser Weise war die Lösung, als ich sie fand, recht einfach. Ich wollte dorthin fliegen, wo ich mich am besten auskannte. Nach Fenland. Bei Tag konnte ich von jeder Richtung aus spielend hinfinden, was mir ängstliches Kreisen ersparte. Die vertraute Umgebung würde einen Großteil der Müdigkeit wettmachen. Der Flugklub benützte Grasbahnen, die keinesfalls für eine DC 4 ausreichten, aber die Gebäude hatten einmal einem alten Luftwaffenstützpunkt gehört, und die Betonlandebahnen für die Bomber waren noch vorhanden. In den Rissen wuchs Gras, und sie wurden nicht gepflegt, waren aber an beiden Enden mit einem weißen Kreuz über einem weißen Streifen gekennzeichnet. Signal für eine halbwegs sichere Landemöglichkeit in Notfällen. Mein Gehirn begann wieder zu funktionieren. Ich flog eine Linkskurve und brauste übers Meer nach Norden. Erst nach fünf entscheidenden Minuten dachte ich an den Treibstoff. 295
Meine Wunde begann wieder zu schmerzen, meine Stimmung fiel auf den Nullpunkt. Würde ich es je richtig machen? Ich bin ein Amateur, dachte ich verzweifelt. Ich war ein Amateur, immer ein Amateur. Es ging mir genauso wie beim Reiten. Ich hatte nie etwas Richtiges geleistet und schon gar nicht ein Leben aufgebaut, wie ich es mir vorstellte. Simon hatte völlig recht gehabt. Ich hätte nicht mein ganzes Leben lang Pferde durch die Welt transportieren können, und jetzt, da die Firma YardmanTransport nicht mehr existierte, würde ich mir bestimmt nicht mehr so einen Job suchen. Es war ein Maßstab für meine Erschöpfung, daß ich, nachdem ich mich einmal entschieden hatte, nach Fenland zu fliegen, nicht mehr den Willen besaß, in die Unsicherheit zurückzutauchen. Die Treibstoffreserve war viel zu gering, um dieses Risiko einzugehen. Am Leben blieb man als Flieger aber nur, wenn man ganz sicher ging. Flog ich nach Fenland, dann mußte ich mit dem letzten Tropfen landen, und wenn die Motoren fünf Meilen davor stehenblieben, war es zu spät, den Entschluß zu bedauern. Am Himmel zeigten sich rötliche Streifen, die See wurde perlgrau. Der Himmel war nicht mehr so klar wie vorher, am Horizont tauchten Wolkenschleier auf, graublau und silbrig. Den Anblick bevor es hell wird, hatte ich immer als genauso stärkend empfunden wie Schlaf, aber diesmal, wo ich diese Stärkung wirklich brauchte, funktionierte es nicht. Meine Augen brannten, meine Glieder zitterten bei jeder Bewegung. Die Wirkung der Tabletten hatte nachgelassen. Die Küste East Anglias lag wie ein großer grauer Schatten links vor mir. Am besten fliegst du rundherum und kommst über dem Wash-Meerbusen herein … Ein dunkler Schatten huschte vor der DC 4 vorbei, und mein Herz setzte für mindestens zwei Schläge aus. Ein Jagdflugzeug, 296
dachte ich ungläubig. Es war eine Düsenmaschine gewesen. Eine zweite flog fauchend knapp über mir hinweg und raste kreischend davon. In der Turbulenz begann meine Maschine fürchterlich zu wackeln. Die beiden Flugzeuge kehrten in weiter Ferne um und rasten auf mich zu, knapp nebeneinander. Ausgezeichnete Formationspiloten und mir nicht wohlgesonnen. Sie kamen fast mit Schallgeschwindigkeit heran und rauschten über die DC 4 hinweg, mit nicht viel mehr als dreißig Metern Abstand. Ihnen muß es wohl so vorgekommen sein, als stünde ich still. Die Turbulenzen, die ihr Flug verursachte, hätten mir beinahe das Genick gebrochen. Yardman kann mich nicht gefunden haben, dachte ich verzweifelt, nicht nach diesen riesigen Umwegen. Sie können mir nicht gefolgt sein und auch nicht gewußt haben, daß ich über die Nordsee fliege … Yardman kann es also nicht sein. Wer dann? Ich schaute hinüber nach East Anglia und wußte nicht, ob ich lachen oder vor Angst sterben sollte. Amerikaner. In East Anglia gab es zahlreiche amerikanische Luftwaffenstützpunkte, Sie hatten mich auf ihren Radarschirmen erfaßt, ein unidentifiziertes Flugzeug, das in der Dämmerung einflog und auf Funkanfragen nicht reagierte. Natürlich hatten sie sofort zwei Jagdflugzeuge hochgeschickt und eine Maschine ohne Kennzeichen und Markierungen entdeckt. So ein Flugzeug konnte nichts Gutes im Schilde führen – mußte einer feindlichen Macht gehören. Man konnte ihre Gedanken fast hören. Sie würden nicht zu schießen anfangen, nicht, ohne Gewißheit zu haben … noch nicht. Wenn ich einfach geradeaus weiterflog und die Turbulenzen überstand, was würden sie dann tun? Ich ließ mich nicht nach unten zwingen. Ich brauchte nur weiterzufliegen … 297
Sie rauschten zu beiden Seiten an mir vorbei und warfen die DC 4 herum wie einen Kork auf den Wellen. Ich werde es nicht schaffen, dachte ich, nicht, wenn das noch zu allem hinzukommt. Meine Hände waren schweißnaß. Wenn die Jäger so weitermachten, würde die tapfere alte Maschine auseinanderbrechen. Sie kamen noch zweimal vorbei und bewiesen mir meinen Irrtum. Sie verwandelten nur mich in ein zitterndes Wrack. Dann verschwanden sie irgendwo hoch über mir. Als ich hinaufsah, entdeckte ich sie, wie sie über mir kreisten, wütenden Bienen gleich. Sie können mich ruhig heimbegleiten, dachte ich erschöpft, wenn sie nur da oben bleiben. Ich konnte das Feuerschiff vor Cromer sehen, das alle fünfzehn Sekunden Signale ausschickte. Zum erstenmal wußte ich, daß ich fast zu Hause war. Nur noch sechzig Meilen. Fünfzehn Minuten bis zum Feuerschiff im Wash, und als ich es überflog, ging die Sonne auf. Ich schwenkte ein zur letzten Etappe bis Fenland, und meine Eskorte folgte mir. Die Treibstoffuhren sahen schrecklich aus. Ich zwang mich mit letzter Kraft dazu, ein paar entscheidende Checks durchzuführen. Steigung normal, Bremsen los, Treibstoffpumpen eingeschaltet. Irgendwo mußte es eine Liste geben, aber ich hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Ich durfte ja das Flugzeug überhaupt nicht steuern, ich kannte mich nicht aus … Das Luftfahrtministerium konnte mir sofort die Lizenz nehmen, und eine Gefängnisstrafe stand auch in Aussicht. Aber Patrick durfte die Maschine steuern, und man konnte behaupten, daß er theoretisch das Kommando führte, dachte ich amüsiert. Ich nahm das Gas zurück und ging tiefer. Wenn es mir gelingt, dachte ich, bin ich ein Profi. Die Entscheidung stand plötzlich vor mir, so eindeutig wie nur möglich. Diesmal war es nicht zu spät. Ich würde Tom Wells’ 298
Angebot annehmen und auch keinen Rückzieher dulden, wenn er hinter meinen Titel kam. Ich würde seine Auto-Direktoren in der Gegend herumfliegen, mir das Leben so einrichten, wie ich es mir wünschte, auch wenn das hieß, den Rennsport aufzugeben. Der Geschwindigkeitsanzeiger wies auf hundertunddreißig Knoten bei langsamem Sinken, und vor mir konnte ich den Flughafen sehen. Die Jagdflugzeuge waren schon da, kreisten hoch darüber. Bevor meine Maschine ausrollte, würden die Beamten der Abwehrdienste wie Bienenschwärme einfallen. Fragen, obwohl ich nichts als schlafen wollte. Der orangefarbene Windsack blähte sich träge in einer Brise aus Südwest. Der Sprit reichte nicht mehr für Kinkerlitzchen wie Kreisen, die Treibstoffuhren zeigten auf Null. Ich mußte hinunter und beim erstenmal landen. Wenn ich konnte. Ich war ganz nah herangekommen. Man sah die Fenster des Gebäudes, und da war Toms Bungalow … Eine weite, steile Kurve, um die alte Betonlandebahn anfliegen zu können … Sie sah so schmal aus, aber sie war von Bombern benützt worden. Sechshundert Fuß. Meine Arme zitterten. Ich drückte den Hebel, das Fahrwerk wurde ausgefahren, die Lampe leuchtete grün auf, als es einrastete. Fünfhundert … Ich ließ die Landeklappen herunter … Ich trimmte die Maschine, spürte, wie sie langsamer und schwerer wurde … vorsichtig jetzt … ich konnte sie überziehen und vom Himmel herunterfallen … etwas mehr Gas … immer noch ein bißchen Sprit übrig … vor mir der Beginn der Landebahn, das weiße Kreuz raste mir entgegen … zweihundert Fuß … ich flog jetzt mit hundertzwanzig Knoten … ich hatte noch nie ein Flugzeug gelandet, dessen Cockpit so hoch über dem Boden war … darauf mußte ich achten … einhundert … tiefer … mir war, als hielte ich mit der Kraft meiner Arme das ganze Flugzeug in der Luft … ich zog die Gashebel ganz zurück und fing die Maschine ab, als das weiße Kreuz und der Streifen 299
unter mir vorbeiglitten und wartete ein paar quälende Sekunden, während die Geschwindigkeit geringer und geringer wurde, bis der Auftrieb nicht mehr ausreichte und die ganze Masse zu sinken begann … Die Räder setzten auf, sprangen, setzten auf, blieben am Boden, kreischten und holperten über den unebenen Boden. Mit verkrampften Muskeln kämpfte ich, um die Maschine in gerader Richtung zu halten. Ich konnte jetzt keine Bruchlandung mehr machen … ich wollte einfach nicht. Die große Maschine raste über den unebenen Beton. Ich hatte noch nie so ein schweres Ding gesteuert. Ich hatte die Geschwindigkeit falsch einkalkuliert, war zu schnell gelandet und würde sie nie zum Stehen bringen … Auf die Bremse tippen … es war eine Qual, vorsichtig zu sein, tödlich, wenn ich es nicht war … die Bremsen griffen, zerrten, das Flugzeug blieb geradeaus gerichtet … stärker bremsen … sie griffen stärker … die Maschine würde nicht umkippen … sie besaß ja auch ein Bugrad … ich mußte es riskieren … Ich zog die Bremsen scharf an, und die Maschine erzitterte unter der Belastung, aber die Reifen platzten nicht, ich war nicht gekippt, hatte keinen Flügel geknickt oder die Propeller zerfetzt, das gute alte Ding würde nicht einmal einen Kratzer davontragen … Hundert Meter vor dem Stacheldraht und den Ginsterbüschen am Ende der Landebahn erreichte sie Rollgeschwindigkeit. Das war mehr als früh genug. Zitternd, von Übelkeit befallen, wendete ich die Maschine und rollte langsam auf der Landebahn zurück zu der Stelle, wo sie dem Flughafengebäude am nächsten kam. Dort zog ich die Bremse ganz an, streckte eine Hand aus, die mir nicht mehr zu gehört, schien, und schaltete die Motoren ab. Das Dröhnen erstarb zu einem Flüstern, dann wurde es still. Langsam nahm ich die Kopfhörer ab und hörte, wie das heiße Metall der Motoren beim Abkühlen zu knacken anfing. 300
Es war geschafft. Und ich auch. Aber ich konnte mich nicht aus dem Sitz erheben. Ich kam mir körperlos vor, ausgebrannt. Trotzdem fand ich in mir in einer Art erschöpftem Frieden den Glauben, daß, nachdem ich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz die Nacht überstanden hatte, auch Gabriella es schaffen würde … daß sie in Mailand ungefährdet mit ihrer durchschossenen Lunge atmen konnte. Ich mußte daran glauben. Alles andere war unmöglich. Durch das Fenster sah ich Tom Wells aus seinem Bungalow kommen, zuerst zu den kreisenden Jagdflugzeugen hinaufstarren, dann herüber zur DC 4. Er schlüpfte in seine alte Lederjacke und lief auf mich zu.
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