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Scan: Keulebernd Korrektur: zxmaus
Das Genre der Gerichtsberichte ist alt und immer wieder neu. Lautet doch eine der spannendsten Fragen: Warum handelt ein Mensch so und nicht anders? Das Leben bietet viel mehr, als Literatur zu erfinden vermag. Man muß nur einen Blick dafür haben und es aufschreiben können. Wolfgang Schüler kann es: Mit beinahe liebevollem Verständnis und der gebotenen kritischen Distanz schildert er, was Frau Hinz und Herrn Kunz im Alltag zustößt, wie Frau Krethi und Herr Plethi, aus welchen Gründen auch immer, von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Erben und Sterben, Kauf und Schenkung sind ebenso Themen wie Pfusch beim Arzt und Ärger mit Handwerkern oder auch Mord.
Wolfgang Schüler
Bessere Beweise Fälle Fakten Fehlurteile
Militzke
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Schüler, Wolfgang: Bessere Beweise : Fälle – Fakten – Fehlurteile / Wolfgang Schüler. Leipzig : Militzke, 1999 ISBN 3-86189-161-1 1. Auflage © Militzke Verlag, Leipzig 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Dietmar Senf Satz und Layout: Krystyna Müller Lektorat: Monika Werner Druck und buchbinderische Verarbeitung: Steidl Verlag, Göttingen
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................... 6 1. Kapitel.............................................................................. 8 Abfall und Ärzte ................................................................ 8 Auftragswerk, Autokauf, Automaten................................ 18 Banküberfall, Beamte, Behinderte, Beton......................... 27 Betrug und Blaulicht ........................................................ 37 2. Kapitel............................................................................ 46 Bußgeld, Datenschutz, Diebstahl...................................... 46 Ehescheidung, Einbrecher, Erbschaft ............................... 54 Erpressung, Falschgeld, Fernsehen................................... 65 Feuer und Finderlohn ....................................................... 74 3. Kapitel............................................................................ 84 Freispruch, Garantie, Gaststätten, Geiselnahme................ 84 Geschwindigkeitsmessung, Gesellschaften, Graffiti ......... 94 Grundstücke, Handwerker.............................................. 104 Kapitalanlage, Kindesmißbrauch, Kindesmißhandlung, Konzertbesuch ............................................................... 114 4. Kapitel.......................................................................... 123 Körperverletzung und Kriegsdienstverweigerer.............. 123 Kündigung und Lärm..................................................... 133 Lehrer, Lügen, Makler ................................................... 142 Miete, Mietwagen, Mitleid ............................................. 152 5. Kapitel.......................................................................... 161 Mord, Mordversuch, Mundraub ..................................... 161 Nachbarn, Namen, Notwehr, Parken .............................. 170 Polizei, Probefahrt, Prozeßkostenhilfe............................ 180 Rauchen, Raub, Rechtsanwälte, Richter, Rowdys........... 190
6. Kapitel.......................................................................... 199 Schadensersatz, Schule, Sorgerecht................................ 199 Telefonieren, Tiere, Totenruhe ....................................... 209 Totschlag, Trinker, Unfall.............................................. 219 Unterlassene Hilfeleistung, Urlaub, Verein, Vergleich ... 230 7. Kapitel.......................................................................... 240 Verkehr.......................................................................... 240 Versicherungen und Versorgungsausgleich .................... 249 Vertrag, Verwandte, Videoaufnahmen, Wasser .............. 257 Waffen, Wandelung, Werbung ....................................... 267
Vorwort Ob Kriminalgeschichten oder Gerichtsreportagen – das Genre ist alt und immer wieder neu. Lautet doch eine der spannendsten Fragen der Menschheit: Warum handelt ein Mensch so und nicht anders? Es muß gar nicht um Mord und Totschlag, um Kapitalverbrechen und spektakuläre Straftaten gehen, schon Bagatellfälle vor dem Zivilgericht können bizarres Tun, scheinbar abwegiges Denken und sonderbare Ansichten ans Tageslicht bringen. Und das Leben bietet viel mehr, als Literatur zu erfinden vermag. Man muß nur einen Blick dafür haben und es aufschreiben können. Wolfgang Schüler kann es: Mit beinahe liebevollem Verständnis und der gebotenen kritischen Distanz schildert er, was Frau Hinz und Herrn Kunz im Alltag so zustößt, wie Frau Krethi und Herr Plethi, aus welchen Gründen auch immer, von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Sein Personal agiert nicht in exklusiven Kreisen, (ab-)gehobenen Funktionen oder an illustren Schauplätzen, es sind Handwerker und Hausfrauen, Beamte und Bauern, Mütter und Makler, es könnten unsere Nachbarn, Bekannten, Verwandten sein. Schüler braucht keinen langen Atem, um eine Geschichte zu erzählen, die den Leser amüsiert, verwundert oder empört. Es sind Spotlights, die auch ein Milieu, eine gesellschaftliche Situation erfassen. »Das Wahrscheinlichste, das Unwahrscheinlichste, ja, das Unglaubliche, das Unglaublichste wird ihm (…) an jedem Tag im Gericht vorgeführt, und er ist naturgemäß bald von überhaupt nichts mehr überrascht.« Das hat Thomas Bernhard einmal über Gerichtsberichterstatter gesagt. Wolfgang Schüler berichtet seit Jahren in Zeitungen und Büchern über Gerichtsfälle, und sollte ihn wirklich einmal etwas überraschen, ließe er es sich nicht anmerken. Der Mann ist so, wie er schreibt: Lakonisch, präzise, knapp, mit leisem Humor und einem sicheren Blick fürs Detail. Dazu 6
kommt eine profunde Kenntnis des Metiers, was diesem Genre nur guttut … In der DDR war Schüler Journalist, Lokalreporter der Berliner Zeitung. Er verließ 1984 die Redaktion, um als freier Schriftsteller zu arbeiten; ein Schritt, der Mut verlangte, hatte er doch Weib und zwei Kinder zu ernähren. Der Schritt beweist aber auch sein Streben nach Unabhängigkeit – er geht lieber aufrecht ins Ungewisse, statt sich zu ducken. Die WendeRegierung unter dem Rechtsanwalt Lothar de Maiziere bot DDR-Juristen die Möglichkeit, als Anwälte zugelassen zu werden. Wolfgang Schüler besann sich auf sein Jura-Studium, ergriff die Chance und stürzte sich auf BGB und Strafgesetzbuch. Lernte monatelang, ohne einen Pfennig zu verdienen. Und blieb unabhängig, verkaufte sein geliebtes Motorrad, um die Miete zahlen zu können. Inzwischen betreibt er mit Kollegen eine Anwaltskanzlei im Osten Berlins. Die ist ihm außer Hauptbroterwerb ewig sprudelnder Quell für neue tragische und komische Geschichten. Brigitte Biermann
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1. Kapitel Abfall und Ärzte Weiße Säcke voller Papier In den neuen Bundesländern ist eine Seuche ausgebrochen. Die Müllpest. In Straßengräben, in Feld, Wald und Flur türmen sich Abfallhaufen: Autowracks, alte Kühlschränke, zerschlissene Couchgarnituren, leere Flaschen, Papier. Der Bauer heult wütend auf, wenn schon wieder ein gestohlenes Auto auf seinem Feld brennt. Der Spaziergänger pfeift schnell seinen Hund zurück, wenn der in einem Haufen leerer Konservendosen wühlt. Der Ordnungsamtsleiter macht erleichtert drei Kreuze, wenn illegale Camper endlich weitergezogen sind. Der Bürgermeister feilscht schwitzend mit dem Kämmerer um ein paar Mark zur Müllbeseitigung. Der Naturschützer ruft verärgert zum freiwilligen Arbeitseinsatz auf, um die schlimmsten Dreckecken zu beseitigen. Alle sind entrüstet. Alle empören sich. Doch niemand weiß sich zu helfen. Bis auf Arnold. Arnold ist einer der letzten drei Bauern in seinem Dorf. Seine Feldwege hat er mit Schlagbäumen versehen. Doch es nützt nicht viel. Immer wieder liegt ein neuer Schuttberg im Korn. Zum Beispiel: Drei weiße Plastikeimer, ein Karton sowie zwei weiße Plastiksäcke. Alle gefüllt mit Abfällen. Arnold fuhr zum Polizeiposten und konnte die Beamten sogar dazu bewegen, den Tatort zu inspizieren. Sie durchsuchten den Abfall und stießen auf eine alte Rechnung, die an einen gewissen Herrn Hartwin gerichtet war. Vor dem Amtsgericht stellte sich heraus, daß sich Hartwin von seiner Ehefrau getrennt hatte. Nachdem alle größeren Stücke aus der Wohnung entfernt worden waren, blieben noch Abfälle übrig, die sich in weißen Plastikeimern und weißen 8
Plastiksäcken befanden … »Aha«, sagte der Richter und verhängte gegen Hartwin »wegen einer fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit der unzulässigen Ablagerung von Abfällen eine Geldbuße von 150 DM«. Leider ist die Geschichte an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Hartwin legte gegen das Urteil Rechtsbeschwerde ein. Das Oberlandesgericht residiert fernab vom Ort des Geschehens. Die Richter hatten augenscheinlich noch nie etwas von der gefährlichen Seuche der Müllpest gehört oder gesehen. Sie kamen zu einem verblüffenden Ergebnis, sozusagen zu einem gedanklichen doppelten Salto: »Der Tatrichter hätte entweder den Kreis der Beteiligten abklären müssen, die Zugang zu den Abfällen hatten, solange sie sich im Einwirkungsbereich von Hartwin befanden, und diese Personen als Täter ausscheiden lassen müssen, oder aber die Annahme, Dritte hätten die Abfälle von Hartwin auf dessen Veranlassung zur Entsorgung erhalten, auf eine nachvollziehbare tatsächliche Grundlage stützen müssen.« Bei diesem im schönsten Richterdeutsch verfaßten Urteilsspruch soll Justitia unter ihrer Augenbinde errötet sein, denn danach genießen illegale Müllbeseitiger doch Narrenfreiheit. Nur in den seltensten Ausnahmen dürfte es gelingen, einen solchen Umweltrowdy auf frischer Tat zu ertappen. Ansonsten aber wird kein Mensch die vom Gericht geforderten Beweise erbringen können. Der ungelesene Abschiedsbrief Es wird gesagt, der Mensch sei ein vernunftbegabtes Wesen. Doch dem ist nicht so, jedenfalls nicht in dieser Ausschließlichkeit. Sämtliche Handlungen des Homo Sapiens werden vom Unterbewußtsein (mit-)gesteuert. Das ist meistens gar 9
nicht so verkehrt, weil unsere Instinkte einen wichtigen Überlebensmechanismus darstellen. Problematisch wird die Sache erst, wenn Ursache und Wirkung nicht mehr zusammenpassen, wenn auf die richtigen Außensignale innerlich falsch reagiert wird. Ein Symptom dafür sind Depressionen. In leichten Fällen können die Betroffenen sogar noch erkennen, daß es eigentlich gar keinen Grund dafür gibt, sich niedergeschlagen zu fühlen. Aber sie sind außerstande, das Gefühl der Ohnmacht, der Betäubung abzuschütteln. Bei schweren Fällen scheint das Leben völlig sinnlos zu sein. Dann gibt es nur noch einen Ausweg: den eigenen Tod. Katja war 17 Jahre alt, als sie sich zum dritten Mal einen tiefen Schnitt am Handgelenk zufügte. Jeder Selbstmordversuch ist ein dringendes Hilfesignal an die Umwelt. Es bedeutet: Ich komme allein nicht mehr klar! Doch wenn die Reaktion dann nicht mit den Erwartungen übereinstimmt, kann der nächste Suizidversuch der letzte sein. Katjas Eltern machten sich deshalb berechtigte Sorgen, und sie fuhren mit ihrer Tochter, nachdem die Wunde versorgt war, ins nächste Krankenhaus. Dr. Albert, Leiter der Abteilung ›Psychiatrie und Psychotherapie im Jugendalter‹, unterhielt sich fünf Minuten lang mit dem Mädchen. Dann stellte er die Verdachtsdiagnose: ›Selbstwertkrise und reaktive Depression infolge verbaler Auseinandersetzungen mit Eltern und Freund‹. Eine akute Lebensgefahr konnte er nicht erkennen. »Gehen Sie nach Hause, und machen Sie sich keine unnötigen Gedanken. Das wird schon wieder. Frische Luft und kaltes Wasser beim Duschen wirken wahre Wunder.« Drei Tage später fand Katjas Mutter einen Abschiedsbrief ihrer Tochter. Diesmal ließ sich Dr. Albert überzeugen. »Bedenklich, bedenklich«, brummelte er und schüttelte seinen Kopf. »Nun scheint tatsächlich eine latente Suizidgefährdung vorzuliegen. Ich schlage Ihnen vor, daß wir hier in der Klinik 10
bei einem stationären Aufenthalt von Katja eine Krisenintervention unternehmen und so die akute Konfliktsituation entschärfen. Allerdings haben wir im Moment Probleme mit dem Personal. Am besten ist, Sie kommen in drei Tagen noch einmal vorbei.« Katjas Eltern waren verzweifelt, aber sie hatten keine andere Wahl. Drei Tage lang ließen sie ihre Tochter keine Minute mehr aus den Augen, dann wurde sie endlich in der Klinik aufgenommen. Dr. Albert bat Katja, ihre Probleme aufzuschreiben. Das Mädchen tat, wie ihm geheißen. 14 Seiten lang berichtete die Patientin über ihre Sorgen und Nöte. Sie fühlte sich ungeliebt und häßlich. Der letzte Satz lautete: ›Helfen Sie mir, bitte, bitte!!!‹ Dr. Albert nahm den Brief entgegen, fand jedoch keine Zeit, ihn zu lesen. In der Nacht erhängte sich Katja in ihrem Krankenzimmer mit einem Kälberstrick. Niemand hatte ihr Gepäck kontrolliert, als sie gekommen war; keine Nachtwache hatte auf sie aufgepaßt. Katjas Eltern erstatteten Strafanzeige gegen Dr. Albert, aber die Staatsanwaltschaft führte keine Ermittlungen durch. Die Begründung lautete: »Die Antragsteller werden sich selbst die Frage vorgelegt haben, wieso sie nicht selbst das Gepäck ihrer Tochter durchgesehen haben. Diese Umstände mildern das Verschulden.« Die gerichtliche Beschwerde von Katjas Eltern blieb erfolglos, das Verfahren gegen Dr. Albert wurde eingestellt. Wir leben eben in einer kalten, grellen Welt, wo fehlende Menschlichkeit kein juristisches Problem darstellt.
Schuld hat immer nur der Medikus Eine etwas makabre Geschichte, die einem Dr. Jonas widerfuhr. Der Mann ist Frauenarzt. Er ähnelt jenen Doktoren, wie 11
man sie aus Fernsehserien kennt: groß, graumeliert, sportlich durchtrainiert, sonnengebräunt, gestutztes Bärtchen. Eine anerkannte Kapazität, beliebt bei seinen Patientinnen. So manche Dame erscheint öfter in seiner Praxis, als es unbedingt notwendig wäre. Doch der ärztlichen Kunst sind Grenzen gesetzt. Sonja, eine werdende Mutter, wurde in der 38. Schwangerschaftswoche durch eine Kaiserschnittoperation von einem Sohn entbunden. Sieben Stunden später starb das Kind. Es war nicht lebensfähig gewesen. Bei der Obduktion stellte sich heraus, daß der Säugling keine Nieren hatte. Die pathologischanatomische Diagnose lautete ›Potter-Syndrom‹. Kaum war das Kind unter der Erde, reichte Sonja Klage gegen Dr. Jonas ein. Sie forderte 1.324 DM Beerdigungskosten sowie 20.000 DM Schmerzensgeld sowohl in eigenem Namen als auch im Namen ihres verstorbenen Sohnes sowie im Namen ihres Ehemannes. Begründung: »Dr. Jonas betreute mich zwar während meiner Schwangerschaft regelmäßig und führte Ultraschalluntersuchungen durch, aber nicht gründlich genug. Der Arzt hat infolge fehlerhafter Auswertungen der Untersuchungsergebnisse die Feststellung der Mißbildung des Kindes verhindert. Wäre die Mißbildung erkannt worden, hätte ich die Schwangerschaft abbrechen lassen.« Ein ärztlicher Kunstfehler? Im Hinblick auf die Beerdigungskosten beschäftigte sich das Gericht überhaupt nicht mit dieser Frage: »Auf die wirtschaftlichen Folgen, die allein daran anknüpfen, was mit dem abgetöteten Embryo oder dem nach seiner Geburt verstorbenen Kind geschieht, erstrecken sich die im Rahmen des Behandlungsvertrages übernommenen ärztlichen Pflichten nicht.« Nun kann eine Frau zwar nicht nur ein wenig schwanger sein, aber ein Arzt ist durchaus in der Lage, einen unbedeutenden Kunstfehler zu begehen. Die Richter hielten deshalb ein Schmerzensgeld von 3.000 DM für angemessen: »Sicherlich bedeutete das Erlebnis des Leidens und des Todes ihres Kindes 12
erhebliche psychische Belastungen für die Klägerin. Dennoch kann nicht übersehen werden, daß die Klägerin auch dann schwerwiegende Beeinträchtigungen hätte ertragen müssen, wenn sie schon früher davon erfahren hätte, daß das Kind infolge teilweise fehlender Organbildung nicht lebensfähig war, und wenn es daraufhin zu einem Schwangerschaftsabbruch gekommen wäre.« Im Leben geht es doch ganz anders zu als in bunten Fernsehserien.
Das Folterkabinett der Frau Doktor Caligari Es gibt einen Ort auf dieser Welt, an dem werden selbst stahlharte Männer mit eisblauen Augen und Muskeln aus Beton, die Kartoffeln in der nackten Faust zerquetschen, barfuß den Himalaja besteigen und sich lustvoll auf Nagelbetten rekeln, so klein mit Hut. Sie schmelzen dahin wie gute Landbutter in der heißen Kasserolle, verwandeln sich in vorpubertäre Muttersöhnchen und müssen ganz schnell aufs Klo. Das ist immer dann der Fall, wenn sie im überhitzten Wartezimmer eines Zahnarztes sitzen, die hübsche blonde Sprechstundenhilfe im kurzen Kittel frohlockend »Der nächste bitte« säuselt und sadistisch lächelnd auf sie zeigt. Und zack, da sitzen sie in der Falle. Der glitschig-gummierte Stuhl klappt nach hinten, grelle Lichter blitzen schmerzhaft auf, elektrische Motoren wimmern ohne Erbarmen, und bissige Bohrer brechen sich schrappend ihre Bahn. So lustig geht es normalerweise beim Zahnarzt zu. Doch es gibt auch Ausnahmen. Frau Doktor Caligari – von ihren Patienten liebevoll ›Der weiße Teufel‹ genannt – ist eine solche. Für sie hat der Schmerz, den sie anderen bereiten kann, immer etwas Erregend-erotisches, weil er nicht nur erlitten, sondern auch bezahlt werden muß. ›Sobald das Geld im Kasten klingt, 13
die Seele in den Himmel springt‹, meint ein spezielles Sprichwort zu diesem Thema. Landwirt Albin beispielsweise, der ein kleines Puckern in einem Backenzahn verspürte, nahm leichtsinnigerweise auf dem Behandlungsstuhl Platz. Acht Stunden später hatte ihm Frau Doktor Caligari zehn gesunde Zähne abgeschliffen und Zahnersatz daraufgestöpselt. Aus Albins Augen sprudelten die Tränen wie zwei Niagarafälle. In seiner ausgehungerten Magengrube schwappte die Verdauungsflüssigkeit ziellos umher. Der arme Landwirt war an Leib und Seele gebrochen. Widerstandslos unterschrieb er ein Blankopapier. Die Rechnung belief sich auf 3.500 Piepen pro Zahn – insgesamt also 35.000 DM. Die 81jährige Rentnerin Wilhelmine, die lediglich über drei intakte Kuchenzähne verfügte, kam wesentlich billiger weg. Sie mußte nur 9.000 DM berappen. Allerdings vergaß ihr die behende Frau Doktor zu sagen, daß die Kasse in diesem Fall die gesamten Kosten getragen hätte. Nachdem sich die Beschwerden gegen Frau Dr. Caligari häuften und ihr mehrere Fälle von Kunstfehlern nachgewiesen werden konnten, wurde ihr die Kassenzulassung entzogen. Die fleißige Zahnreißerin behandelte die Kassenpatienten trotzdem munter weiter und legte ihnen die gepfefferten Rechnungen vor. Als der Hügel der blutigen Zähne hoch genug war, wurde der Staatsanwalt aktiv. Die Anklage gegen Frau Doktor Caligari lautete auf Betrug und Körperverletzung in 43 Fällen. Bei dieser hohen Intensität hielt das Gericht einen außerordentlich großen Dämpfer für angebracht und verurteilte die agile Dentistin zu viereinhalb Jahren Gefängnis nebst vier Jahren Berufsverbot. Landwirt Albin sprach nach der Verhandlung: »Am schönsten war es, als der Schmerz nachließ.« Frau Doktor kann sich darauf noch eine Weile freuen. 14
Schmerzhafter Sturz von der Treppe »Sport ist Mord«, weiß jeder Grundschüler, und der ehemalige britische Premierminister Sir Winston Churchill (1874-1965) antwortete auf die Frage eines Zeitungsreporters, wie er im hohen Alter so rüstig geblieben sei: ›No Sports‹, sein Lebtag lang habe er keinen Sport getrieben. Sebastian ist da aus ganz anderem biegsamem Holze geschnitzt. In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit einem halben Dutzend verschiedener Sportarten, wie Kraftsport, Schwimmen, Laufen und Fahrradfahren. Er ißt obskure amerikanische Muskelaufbaupülverchen und anderen Mist aus teuren bunten Dosen. Außerdem bereitete er sich intensiv auf eine Sommerbergtour durch die Rocky Mountains vor. Soviel zum Thema sinnvolle Freizeitgestaltung. Als der Schwarzenegger für Arme eines Abends im Juli auf seinem Veloziped die dreißigste Runde um den Park drehte, schnitt ihm auf einer Durchgangsstraße ein rechts abbiegender Pkw die Vorfahrt. Sebastian bremste und stürzte vom Fahrrad. Plumps, lag er auf dem Pflaster und fluchte. Von dem Auto sah er nur noch die Rücklichter um die Ecke verschwinden. Doch glücklicherweise war weder dem teuren Fahrrad noch dem Hasenfänger etwas passiert. Oder, besser gesagt, fast nichts. Als er nämlich aufstieg und weiterfuhr, durchzuckte ein scharfer Schmerz seinen linken Fußknöchel. »Das gibt sich schon von ganz allein«, dachte er sich zu voreilig. Zu Hause schmierte er seinen Fuß mit Schlangensalbe ein und kühlte ihn mit einem Eisbeutel. Da das ekelhafte Gepiekse jedoch zunahm, anstatt zu verschwinden, humpelte Sebastian zum Krankenhaus um die Ecke und begab sich zur Notaufnahme. Ein Arzt kam schnell zu einer Diagnose: »Der Knöchel ist verstaucht, er muß ruhiggestellt werden. Wir legen Ihnen eine 15
Schiene an, und schon ist die Welt wieder in Ordnung.« Gesagt, getan. Sebastian bekam eine sogenannte ProteraUnterschenkelschiene angeschnallt, zwei Krücken in die Hand gedrückt und gute Wünsche mit auf den Weg. Er stützte sich mit den Krücken ab und hüpfte auf die Straße wie eine flügellahme Nebelkrähe. Glücklicherweise kam in diesem Moment ein Taxi vorbei. Sebastian ließ sich bis zur Haustür fahren und quälte sich dann die Stufen hoch. Oder besser gesagt: Er wollte sich quälen. Bereits beim ersten Absatz rutschte ihm eine Krücke weg, er fuchtelte hilflos in der Luft herum und knallte seitwärts auf den Beton. Diesmal ging es schlechter aus. Zurück im Krankenhaus lautete die Diagnose: ›Riß der rechten Achillessehne‹. Was immer das sein mag. Damit war Sebastian für längere Zeit aus dem Verkehr gezogen. Ade, ihr schönen Berge. »Bluebirds over the Mountains«, wie schon die Beach Boys in den Sechzigern sangen. Sebastians ohnehin nicht gute Laune sank auf den Gefrierpunkt. Von dem Autofahrer kannte er weder Namen noch Adresse, sich selbst konnte er schlecht zur Verantwortung ziehen, also mußte das Krankenhaus an der ganzen Misere schuld sein. »Es handelt sich ganz klar um einen Fall von Verletzung ärztlicher Sorgfaltspflicht. Niemand hat mir beigebracht, wie man mit zwei Krücken Treppen steigt. Bei einer solchen Einschränkung meiner Beweglichkeit hätte mich außerdem ein Krankentransport nach Hause bringen müssen.« Da der Krankenhausdirektor nur mit den Schultern zuckte, reichte Sebastian Klage ein. Er forderte 3.000 DM Schmerzensgeld und Ersatz aller seiner Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Sehnenriß. Der Richter sah wie Churchills jüngerer Bruder aus. Er starrte aus blutunterlaufenen Augen in die Runde, kaute auf wulstigen Lippen und sprach dann: »Dem Kläger stehen weder Ansprüche aus Vertrag noch aus unerlaubter Handlung zu. Beim Kläger handelt es sich um einen sich sportlich gebenden 16
35jährigen Mann. Seine Verletzung ist nur von geringer Schwere gewesen. Die Nichteinweisung in das Treppensteigen mit Krücken stellt keinen schuldhaften Behandlungsfehler dar. Die Klage wird kostenpflichtig abgewiesen.«
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Auftragswerk, Autokauf, Automaten Sein zweites Leben wollte er vertuschen Oskar Wilde, der berühmte englische Erzähler, der wegen seiner gleichgeschlechtlichen Neigungen ins Gefängnis geworfen wurde, faßte seine bitteren Erkenntnisse wie folgt zusammen: »Es gibt zwei Klassen von Menschen: Die Gerechten und die Ungerechten. Die Einteilung wird von den Gerechten vorgenommen.« Amalia ist eine würdige alte Dame, die in einem großen Haus mit parkähnlichem Garten wohnt. Seit ihr guter Ehemann, der namhafte Komponist und Musiker Ottfried, vor etlichen Monaten im hohen Alter von 85 Jahren verstarb, trägt sie nur noch schwarze Sachen und lebt gedanklich in der Vergangenheit. Eines Tages kam sie auf die löbliche Idee, dem teuren Verblichenen ein Denkmal ganz eigener Art zu setzen: Amalia beauftragte Thorben, einen Literaturwissenschaftler und Privatdozenten, eine Biographie über Ottfried zu verfassen. Sie schloß mit ihm einen Autorenvertrag über 20 000 DM Honorar plus 25 000 DM Aufwandsentschädigung nebst Spesen ab. Im Gegenzug verpflichtete sich Thorben, umfangreiche Recherchen anzustellen; mit Freunden und Bekannten des Künstlers zu sprechen; Fotos, Briefe und Veröffentlichungen zu sammeln. Weiterhin sollte er einen Verlag für die Herausgabe der Biographie gewinnen und einen Autorenvertrag mit der Maßgabe aushandeln, daß die Tantiemen in Amalias Tasche fließen würden. Thorben stürzte sich mit Feuereifer in die Arbeit. Er reiste von Pontius zu Pilatus, vergrub sich in Bibliotheken, Archiven und privaten Sammlungen. Er fand mehrere vergilbte Tagebücher, verstaubte Koffer voller unveröffentlichter Briefe und brüchige Kladden mit allerlei Notizen. 18
Je mehr sich Thorben mit dem Leben des bekannten und beliebten Künstlers beschäftigte, um so schillernder wurde die Persönlichkeit, die sich hinter der Maske bürgerlicher Biederkeit verbarg. Ottfried war nämlich in Wirklichkeit homosexuell gewesen, hatte jahrelang mit häufig wechselnden Männerbekanntschaften zusammengelebt und die fünfzehn Jahre jüngere Amalia nur geheiratet, um den wild rankenden Gerüchten um seine Person radikal Einhalt zu gebieten. Sicherlich, später verwandelte sich dieses reine Zweckbündnis in Kameradschaft oder gar Liebe, aber ursprünglich war es kalt ersonnen gewesen. Thorben hatte kein Problem damit. Eine Biographie, ein Roman lebt von Konflikten und nicht von harmonischen Spaziergängen auf der Kurpromenade. Doch als Amalia den ersten Entwurf las, fiel ihr das Lorgnon von der Nase. Wutentbrannt schleuderte sie das Machwerk in den Kamin und untersagte Thorben strengstens, an dem Elaborat weiterzuarbeiten. Der hoffnungsvolle Autor aber dachte nicht im Traum daran. Er trug das Geld bereits in der Tasche, das Werk war fast fertig – also schickte er den Entwurf an mehrere Verlage. Sobald Amalia davon erfuhr, reichte sie Klage ein. Sie forderte, das Gericht möge Thorben verbieten, die Biographie veröffentlichen zu lassen. Nichts da. »Die Klägerin hat den Beklagten in Kenntnis des Umstandes, daß er Wissenschaftler ist, beauftragt und gerade ihn in die Lage versetzen wollen, selbständig über das Leben ihres verstorbenen Ehemannes zu forschen. Das bedeutet, daß inhaltlich die Biographie nicht etwa ausschließlich an dem Wunsch der Klägerin, ihren verstorbenen Ehemann gewürdigt zu sehen, orientiert sein muß, sondern Auftragsinhalt war eine wissenschaftlich recherchierte Lebensbeschreibung. Das Recht, das nicht gebilligte Werk zu verbieten, steht ihr nicht zu, wenn dies nicht eindeutig vertraglich vorbehalten ist«, sagte der Richter und zuckte bedauernd mit den Schultern. 19
Mit anderen Worten: Die Biographie darf erscheinen. Möglicherweise wird in der Folge der Ruhm des Komponisten Ottfried vor dem Ruhm des Lebemannes Ottfried verblassen. In bezug auf Thorben hätte sich Amalia an die Worte von Paul Getty erinnern sollen: »Wenn man einem Mann trauen kann, erübrigt sich ein Vertrag. Wenn man ihm nicht trauen kann, ist ein Vertrag überflüssig.«
Mißglückter Trick Hartmut ist einer von jenen Menschen, die von sich sagen: »Ich bin nicht wählerisch. Ich habe einen ganz einfachen Geschmack. Ich nehme von allem immer nur das Beste.« Aus dem breiten Angebot eines bekannten Mittelklassewagen-Herstellers suchte er sich das mit Abstand teuerste Modell für über 60 000 DM aus, und zwar eine 174 PS starke Limousine mit Sechszylinder-Motor, ABS, Antischlupfregelung, elektrischen Fensterhebern und allem möglichen anderen modischen Schnickschnack. Autohändler Kurt war gerne bereit, diesem guten neuen Kunden fünf Prozent Rabatt einzuräumen (worüber Profis nur milde lächeln können). Hartmut zückte seinen goldenen Füllfederhalter und unterschrieb die Bestellung. Dann ging er in sein exquisit eingerichtetes Büro und blätterte in den Geschäftsunterlagen. Es sah nicht gut aus. Hartmut betrieb eine ganze Reihe von Firmen mit wohlklingenden Namen, von denen die einen nur auf dem Papier existierten, die anderen Hartmut als einzigen Mitarbeiter beschäftigten. Die Geschäfte gingen schlecht, sehr schlecht sogar. Windige Projekte gab es jede Menge, nur an Dummköpfen mangelte es, die ihr Geld dafür aus dem Fenster warfen. Offene Rechnungen, Mahnungen sowie Klageandrohungen stapelten sich, und der Gerichtsvollzieher war kein gern gesehener, dafür aber häufiger Gast. 20
Vier Tage später kreuzte Hartmut beim Autohändler auf und unterschrieb den Kaufvertrag, obwohl er außer Schulden nichts mehr hatte. »Mit det Bezahlen vaplempert man det meiste Jeld«, dachte er sich in der Hoffnung auf baldigen geschäftlichen Erfolg. Doch der erträumte Gewinn blieb aus, statt dessen bekam er böse Briefe vom Bankdirektor. Hartmut tat das einzige, was er noch tun konnte: Er stellte sich tot und holte das Auto nicht ab. Nach einigen Tagen wurde Händler Kurt unruhig: »Entweder Sie nehmen den Wagen und bezahlen ihn, oder ich bekomme von Ihnen 15 Prozent Schadensersatz.« Hartmut stöhnte auf: »Ick bin etwas klamm zur Zeit, Meister. Wollnse sich nich an meine Transportfirma, der KiesfixwegGmbH, als stilla Teilhaba beteiligen?« Kurt wußte besseren Rat. Er bot ihm die Vermittlung eines Kreditvertrages an. Hartmut willigte ein und grinste diabolisch; denn er sah eine Möglichkeit, auf diesem Weg um den Schadensersatz herum- und aus dem Vertrag herauszukommen. Ein Kreditvertrag muß nämlich eine Widerrufsklausel enthalten, die es gestattet, den Vertrag innerhalb von einer Woche zu lösen, was bei dem ursprünglichen Autokaufvertrag nicht möglich gewesen war. Am 15. Juni unterschrieb Hartmut den Kreditvertrag einschließlich Widerrufsbelehrung. Einen Tag später widerrief er den Vertrag. Seiner Meinung nach hatte er mit diesem Trick den Kaufvertrag über das Auto und damit die Schadensersatzklausel ausgehebelt. Das Gericht war anderer Meinung: »Die Berufung des Beklagten auf das ihm dem Text nach eingeräumte Widerrufsrecht wertet die Kammer unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles als mißbräuchliche Ausnutzung – einer formalen Rechtsstellung.« Hartmut muß an Kurt nun doch 15 % vom Verkaufspreis als Schadensersatz zahlen und die gesamten Gerichts- und Anwaltskosten tragen – theoretisch. 21
Praktisch hat der feine Herr nämlich immer noch kein Geld – es sei denn, Sie als Leser hätten Interesse an guten Geschäften.
Computer oder nicht Computer, das ist hier die Frage Es gibt einen Berufsstand, über den leider viel zu selten berichtet wird: den des Haarspalters. Der gewissenhafte Haarspalter (und nur solche sind in der Literatur bekannt) bringt viel Abwechslung in unseren grauen Alltag, weil er entweder aus einem Problem gleich zwei macht (die einfache Haarspaltung) oder einen einfachen Sachverhalt so verklausuliert und verkompliziert, daß Dutzende neuer Probleme entstehen (die Kern-Haarspaltung). Fritz ist einer jener jungen Männer, die glauben, mit wenig Grips und viel Faulheit trotzdem schnell reich werden zu können. Bei einer Reise in ein europäisches Nachbarland fiel ihm auf, daß dort Münzen kursieren, die zwar in Gewicht und Größe Fünf-Mark-Stücken ähneln, hingegen aber nur etwa eine Mark wert sind. Und schon hatte Fritz einen Plan … Einige Wochen später fuhr er mit seinem Auto zu einem Spielsalon, in dem moderne Varianten von ›Einarmigen Banditen‹ darauf warteten, mit Geldstücken gefüttert zu werden. Fritz hatte sich eine Gürteltasche umgeschnallt, in der knapp 500 der erwähnten ausländischen Münzen steckten. Der Plan war ganz einfach. Fritz stellte sich an einen vollelektronischen Spielautomaten und warf in den 5-DM-Schlitz ein Stück Hartgeld der fremden Währung ein. Sobald er einen geringfügigen Gewinn erzielte, ließ er sich den Betrag samt ›Restgeld‹ auszahlen. Auf diese Weise ›wechselte‹ der Computer quasi Fremd- gegen Landeswährung. 182mal ging die Sache gut (so viele 5-DM-Stücke steckten inzwischen in Fritzens Gürteltasche), dann verschluckte sich der Automat und rührte und rappelte sich nicht mehr. Ralf, der 22
Aufsichtswart, öffnete das Gerät und erblickte 243 ausländische Münzen. Seine eiserne Pranke krallte sich um Fritzens Nacken. Die Polizei fand später weitere 2 000 (!) fremdländische Geldstücke im Kofferraum seines Wagens. Der Falschspieler kam vor Gericht. Da Fritz bereits zweimal wegen ähnlicher Taten zu Freiheitsstrafen verurteilt worden war, kannte das Gericht keine Gnade. Wegen versuchten Computerbetrugs sollte er für zwei Jahre und drei Monate ins Gefängnis, ihm wurde die Fahrerlaubnis entzogen und sein Auto beschlagnahmt. Doch der Richter hatte seine Rechnung ohne einen Haarspalter beim Oberlandesgericht gemacht. Der penible Rechtsgelehrte meinte zwar auch, ein moderner, vollelektronischer Geldspielautomat sei ein Computer, aber: »Dabei ist allerdings zu bedenken, daß Geldspielautomaten Charakteristika sowohl von Leistungs- als auch von Warenautomaten aufweisen. Wenn es dem Täter nur darauf ankommt, sich durch mißbräuchliche Inbetriebnahme des Geldspielautomaten das im Geldausgabeteil vorhandene Geld durch ›Spielgewinne‹ zu verschaffen, tritt der Spielaspekt derart in den Hintergrund, daß der Geldspielautomat nicht mehr als Spiel- und Leistungsautomat, sondern nur noch als Geldauszahlungsstelle und damit als Warenautomat benutzt wird.« Ergo handele es sich nicht um Computerbetrug, sondern um Diebstahl. Das Urteil wurde aufgehoben, der Fall muß noch einmal neu verhandelt werden.
Gewaltlose Plünderung eines Spielautomaten Dem Tüchtigen gehört die Welt, sagt das Sprichwort, und: Das Geld liegt auf der Straße. Man muß sich nur bücken, um es aufzuheben. So dachte der 21jährige Rene, ein begnadeter Hobby-Computerspezialist, als ihm ein Kumpel aus der soge23
nannten Hackerszene ein Computer-Programm für einen Triomint-Jacky-Jackpot anbot. Das ist ein Geldspielautomat, eines von diesen ekelhaft blinkenden, laute Piep-Geräusche von sich gebenden Ungeheuern, bei denen alles vollelektronisch abläuft und am Ende nur einer gewinnt: der Automatenaufsteller. Rene hatte als Jugendlicher viel Lehrgeld für die Erkenntnis gezahlt, daß man Glück nicht kaufen kann. Dann sah er irgendwann einmal einen Dokumentarfilm über einen Mann mit dem Spitznamen Monarch. Dieser Glücksritter hatte durch ein geniales mathematisches Gedächtnis die Zahlenabläufe der Geldspielautomaten ›Monarch‹ in seinem Gehirn gespeichert. So konnte er zielgerichtet durch das Betätigen der richtigen Taste im richtigen Moment das Programm zu seinen Gunsten beeinflussen. In einer Viertelstunde leerte er einen Automaten bis auf die letzte Puseratze durch ›Ausmisten‹, wie er es nannte – mit mehreren Leibwächtern an seiner Seite zum Schutz gegen neidische Glücksspieler. Rene gefiel dieser Beruf. Und eines Tages lud er seinen Laptop ins Auto und fuhr zur ›Grünen Linde‹, der Kneipe vom Nachbardorf. Im Vorraum zum Tanzsaal hingen ein halbes Dutzend einarmiger Banditen, ein Jacky-Jackpot war auch darunter. Rene packte den Computer auf einen Tisch, schob die CD ein und riskierte die ersten fünf DM. Der Computer zeigte ihm genau an, in welchem Moment er die sogenannte Risikotaste zu drükken hatte, und tatsächlich: Nach wenigen Minuten klimperten 105 DM als Gewinn in den Ausgabeschacht. Rene jubelte. Doch er hatte die Rechnung ohne den LindenWirt gemacht. Der Kneipier war nämlich prozentual an den Automatengewinnen beteiligt. Die Anklage lautete auf Mißbrauch von Geldspielautomaten. Rene wurde zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen a 35 DM verurteilt. Für dieses Geld hätte er sich einen eigenen Geldspielautomaten kaufen können. Es ist immer schlecht, wenn 24
jemand über Intelligenz ohne eine gehörige Portion Klugheit verfügt.
Meine Bank liebt mich Die meisten Menschen hassen Veränderungen wie die Pest – und ganz genau aus diesem Grund verändert sich ständig alles in diesem Land. Der Staat tut dies, um die Leute einerseits zu ärgern und sie andererseits auf ein Leben nach der D-Mark vorzubereiten: Telefonzellen werden grau, Krankenwagen bunt, Straßenbahnen gelb gestrichen, und alle Bahnschaffner sehen aus wie auf dem Weg zum Tuntenball. Alte Zähne neu zu machen kostet plötzlich sehr viel Geld, Alkohol am Steuer ist noch nicht ganz verboten, aber auch nicht mehr so richtig erlaubt, die Mehrwertsteuer ist gestiegen und wird bald weiter klettern, die Benzinpreise haben Fieber, und bei den Ladenöffnungszeiten sieht kein Schwein mehr durch. In den Kaufhäusern liegen heute Windeln, wo es gestern noch Kochtöpfe gab, wer mit dem Zug zu Tante Clara reisen will, muß zwischen einem guten Dutzend an Spar-, Superspar- und sonstigen Fahrkartenpreisen wählen, und nur Baron Münchhausen persönlich findet sich im Dschungel der Telefontarife zurecht. Johannes ist ein pfiffiger Schüler der zwölften Klasse. Er kennt sich mit Computern aus, doch manchmal stößt auch er an Grenzen, die er nicht überspringen kann. Eines Tages beispielsweise suchte er den Vorraum seiner Bank auf, um am Automaten 100 DM abzuheben. Johannes führte die Karte ein, der Apparat rumpelte und schnurrte, dann spuckte er den Plastikstreifen wieder aus. Geld gab es keins. Johannes war leicht verwirrt. Ohne Moos nix los. Er trat an ein anderes Wunderwerk der Technik, um seinen Kontostand abzufragen. »5,20 DM minus«, meldete ihm Kollege Blech. 25
Der Abiturient trat resigniert den Rückzug an: »Klaro, Piepen nur bei plus.« Doch der nächste Kontoauszug brachte eine Überraschung: Die 100 DM waren abgebucht worden. Johannes kombinierte. Da er das Geld nicht hatte, mußte es in der Tasche eines anderen stecken. Der Pennäler ging zur Polizei und erstattete Strafanzeige. Die Überwachungskamera im Schaltervorraum entlarvte sehr schnell den Übeltäter. Gerd, ein völlig harmloser Bürger und gutmütiger Familienvater, war nach Johannes an den Geldautomaten getreten. Er hatte 400 DM eingetippt und plötzlich fünf Blaue in den Händen gehalten. »Ein Geschenk des Himmels«, hatte er erfreut gerufen. »Meine Bank liebt mich, sie prämiert meine Treue.« Mitnichten. Ein Geschenk der Hölle. »Das war eindeutig Diebstahl«, meinte nämlich der gestrenge Staatsanwalt und bot dem reuigen Sünder einen Handel an: Gerd zahlt Johannes seine 100 DM zurück, überweist 300 DM an einen gemeinnützigen Verein, und das Strafverfahren gegen ihn wird eingestellt. Gerd blieb nichts weiter übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. 300 Piepen sind ein hoher Preis für ein kurzes Glücksgefühl. Das war die schlechte Nachricht. Die gute lautet: Die 300-DM-Spende kann er von der Steuer absetzen.
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Banküberfall, Beamte, Behinderte, Beton Freund und Helfer ohne Uniform Wenn Rock ’n’ Roll-Star Elvis Presley (1935-1977) nach einem anstrengenden Konzert mit einer Flasche Bier in der Hand im Hotelzimmer vor dem Fernsehapparat saß und ihm das Programm nicht gefiel, dann – so wird erzählt – pflegte der weltberühmte Rockabilly-Sänger nach dem Colt zu greifen und auf die Flimmerkiste zu schießen. Weshalb brauchte der Hotelmanager in einem solchen Fall nicht nach der Polizei zu rufen? Ganz einfach: Weil sie schon im Hause war! Elvis Presley trug nämlich passend zum Revolver den Stern eines vereidigten Hilfssheriffs in der Tasche. Pikanterweise handelte es sich dabei um die Dienstmarke der Bundesbehörde für Narkotika und gefährliche Suchtmittel. Pikant deshalb, weil das Rock-Idol am 16.08.1978 an einer Überdosis von Valium, Quaalud, Valmid, Demoral, Dilaudid und sieben weiteren Drogen starb. In deutschen Landen ist es glücklicherweise nie zur Mode geworden, bei schlechten Fernsehprogrammen mit Handfeuerwaffen auf Mattscheiben zu zielen. Selbst die fleißigen Japaner wären nämlich kaum in der Lage, uns tagtäglich zirka dreißig Millionen neuer Fernsehgeräte zu liefern. Hingegen Polizisten mit schwarzen Seelen, Wölfe im Schafspelz, oder – je nach dem Standpunkt des Betrachters – schwarze Schafe im Wolfspelz, die gibt es auch in der BRD. Nicht viele, aber einige. Nicht oft, aber immer öfter. Hauptkommissar Herwig war ein knallharter Cop. Hochmotiviert, einsatzfreudig, erfolgreich. Die Ganoven in seinem Viertel schlugen das Kreuzzeichen, wenn er am Horizont auftauchte. Doch in Herwigs Leben gab es auch eine dunkle Seite: Er war der Spielsucht verfallen. Allerdings verzockte er seine 27
mühsam verdienten Mäuse nicht am Roulett-Tisch hoch oben im Casino über der Stadt. Nein, der böse Bulle verballerte seine Kohle nach Proletenart in Automatenhallen. Ein völlig irrationaler Wunderglaube ließ ihn auf den großen Reibach hoffen, auf den Sieg des Menschen über die Maschine. Doch bekanntlich gewinnt, wie bereits erwähnt, in diesem Geschäft nur einer: Der Automatenaufsteller. Jeder Leser, der in seinem Leben schon einmal das Schicksal eines Fünf-MarkStücks dem Schlitz eines einarmigen Banditen anvertraut hat, weiß, wie schnell sich unberechtigte Hoffnungen blinkend und piepsend in den leuchtenden Hinweis ›Game over, insert coin‹ auflösen. Doch Herwig wurde nicht schlau. Tagtäglich warf er, sprichwörtlich betrachtet, mit dem Schinken nach der Wurst. Wenn das Geld dann alle war, tat er das, was die meisten Bürger in diesem Land in Momenten pekuniärer Engpässe zu tun pflegen: Er ging zur Bank. Allerdings stellte sich Herwig nicht hinten an, nein. Er zog sich eine Strumpfmaske über den Kopf, zückte seine Dienstpistole Marke Sig Sauer P 226 und schob eine Plastiktüte nebst Zettel durch die Luke am Kassenschalter: ›Ruhig bleiben – Geld her.‹ Zweimal klappte alles wie am Schnürchen. Herwig traf bei den Schalterangestellten auf gut geschulte Leute, die wußten, daß Löcher im Mobiliar nur die Kundschaft verschrecken, und deshalb freiwillig kleine Scheine in die große Tüte stopften. Man kann sich dran gewöhnen, dachte sich Herwig. Aber, wie in jedem Beruf, schlich sich auch bei dem freischaffenden Bankräuber Routine ein. Bei seinem dritten Coup trödelte die Kassiererin beim Eintüten der Zehn-Mark-Scheine etwas. Herwig belferte: »Schneller bißchen!« Um seiner Aufforderung mehr Nachdruck zu verleihen, steckte er seine Pistole durch die Luke. Die Bankfachfrau lächelte freundlich, reichte den halbgefüllten Beutel zurück und schlug ihm dann mit einem scharfen Handkantenschlag die Sig Sauer P 226 aus der 28
Hand. Herwig sagte: »Autsch!« Er hatte ein Problem. Seine Pistole lag nun im Kassenschalter, und er stand davor. Was sollte er tun? Die resolute Dame mit seinem ausgestreckten Zeigefinger bedrohen? Oder ein Tauschgeschäft vorschlagen: Kanone gegen Moneten? Oder lieber Fersengeld geben? Herwig flüchtete. Nicht weit. Seine Kollegen, die ihn anhand der Seriennummer auf der Dienstwaffe schnell identifizieren konnten, fanden den zweiarmigen Räuber zwei Querstraßen weiter in einer Automatenhalle vor einem einarmigen Banditen, den er inzwischen mit 3 000 DM gefüttert hatte. Fünfeinhalb Jahre Haft lautete das Urteil.
Der schwarze Mann: Ein Untoter auf Ausgang An einem frostigen, verhangenen Februartag, an dem bleiche Nebel wallten und mikroskopisch kleine Eiskristalle die Gesichter der Passanten peitschten, sah die Bankangestellte Gisela gegen 10.30 Uhr von ihrer Arbeit auf und machte ein verblüfftes Gesicht. Die Tür der kleinen Zweigstelle sprang nämlich plötzlich auf. Herein kam ein schwarzer Mann. Schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzer Mantel. Ein langer, schwarzer Schal war mehrfach um den Kopf gewickelt, und dort, wo die Augen sein mußten, thronte eine schwarze Sonnenbrille. Er wirkte wie ein Zombie, ein Untoter, auf Ausgang. Gisela schwor sich, in ihrem Leben nie wieder, so wie am Abend zuvor, zuviel Fruchtlikör zu trinken. Gleich würde der schwarze Mann seine Flügel ausbreiten und durch den Raum schweben. Er tat es nicht. Statt dessen ging er auf Petra, die einzige Kundin im Kassenraum, zu, packte mit der linken Hand nach ihren Haaren und hielt ihr mit der rechten Hand eine Pistole an die Schläfe. »Das ist ein Überfall! Geld raus!« Dann ließ er Petra 29
los, die schluchzend zusammenbrach, und schob eine Plastiktüte durch den Auszahlschlitz in die Kassenbox zu Gisela, die mit offenem Mund hinter ihrer kugelsicheren Scheibe saß und wie ein Karpfen nach Luft schnappte. »Eh, Mudda, mach keine Späne, sonst knall ich die Olle ab«, sagte der schwarze Mann. Giselas Zähne klapperten. Ober- und Unterkiefer tanzten Kasatschock. Sie stopfte wahllos Scheine und Münzen in die Plastiktüte und schob das kleine Päckchen zurück. Petra kroch wimmernd auf allen Vieren in Richtung Ausgang. »So, und nun mach die Tür zum Kassenraum auf, oder es gibt Hackepeter«, forderte der schwarze Mann und fuchtelte mit seiner Pistole herum. Petra schluchzte auf und preßte sich auf den Boden, platt wie eine Briefmarke. Gisela verabschiedete sich in Gedanken von ihrem Mann und den Kindern. Hoffentlich vergaßen sie in ihrer Aufregung nicht, das Meerschweinchen zu füttern. Sie öffnete die Tür zum Tresorraum. Der schwarze Mann hielt die Tüte auf, und Gisela packte hinein, was so herumlag. Banknotenbündel, Hartgeldrollen, einzelne Scheine. Eine Minute später war alles vorbei. Vor der Bankfiliale heulte ein Motor auf, und mit dem Fluchtfahrzeug verschwand die Plastiktüte. Inhalt: 32 675 DM. Bei der Kriminalpolizei lief ein Video ab, wieder und immer wieder. Es waren die Aufnahmen der automatischen Kamera im Kassenraum während des Überfalls. Unscharfe Bilder, aus einem schlechten Winkel aufgenommen, ständig von Streifen unterbrochen. Der Täter hätte genausogut der Osterhase wie der Weihnachtsmann sein können. »Halt mal«, schrie plötzlich Sebald, ein Streifenpolizist, der seinen Rüssel neugierig zur Tür hineingeschoben hatte. »Das ist Arno, mein ehemaliger Schwager. Den Drecksack erkenne ich mit verbundenen Augen.« Die grüne Minna sauste los und traf Arno bei einer angenehmen Beschäftigung an. Er saß an seinem Schreibtisch und 30
türmte Zweimarkstücke zu kleinen Häufchen auf. Doch bei der Gegenüberstellung konnten ihn weder Gisela noch Petra als Täter identifizieren. In der Gerichtsverhandlung hatte Arno eine plausible Erklärung zu den Münzen parat: »Ich bin Spieler, da muß ich ständig flüssig sein.« Das Video reichte nicht aus, ihn zu identifizieren. Der Gutachter konnte nur eine Wahrscheinlichkeit von knapp 90 % feststellen. Für eine Verurteilung in diesem Fall zu wenig. Arno wurde mangels Beweisen freigesprochen. In dieser Sache. Für mehrere andere Straftaten, die ihm nachgewiesen werden konnten, bekam er fünfeinhalb Jahre aufgebrummt. Hoffentlich hat er sein Geld in dieser Zeit gut angelegt.
Lange Leitung in Sektor 3c Beamte gelten als muntere Kerlchen. Beamte sind fleißig und immer zum Wohle des Bürgers da. Sie sprechen eine verständliche Sprache (›Verfristung‹, ›Rechtsmittelbelehrung‹, ›Schlußund Übergangsvorschriften‹). Und sie arbeiten stets schnell und unbürokratisch – meinen jedenfalls die Beamten. Frank ist eine leuchtende Zierde seines Standes. Er schuftet in der unteren Landesbehörde im Sektor 3c, Sachgebiet IV, Referat K. Rastlos und unermüdlich wühlt er sich durch staubige Aktenberge, ist ein Spezialist im Ausfüllen des Formblattes 2765/2, und er vergißt nie, einen Beleg zu kopieren. Wenn es sein muß, überzieht er (ohne mit der Wimper zu zucken) seinen Feierabend um ein, zwei Minuten und spült trotzdem zum Dienstschluß immer noch ordentlich seine Kaffeetasse aus. Doch wo viel Licht ist, ist bekanntlich auch viel Schatten. In der unteren Landesbehörde wird für die innere Verwaltung so viel Zeit benötigt, daß für die nach außen gerichtete Tätigkeit kaum noch etwas übrig bleibt. »Ohne die Bürger würden wir unsere Aufgabe prächtig erledigen können, aber die Dödel hal31
ten uns ständig von der Arbeit ab«, meinte neulich ein Regierungsdirektor scherzhaft. In den Bereich der inneren Verwaltung fällt die Telefonkontrolle. In einer Behörde wird viel telefoniert, das ist klar. Doch es geht darum, die einzelnen Telefonate richtig zuzuordnen. Dazu gab es ein einfaches und übersichtliches System: Bei Dienstgesprächen mußte die Nummer 1, bei privaten Ortsgesprächen die Ziffer 7 und bei privaten Ferngesprächen die Ziffer 5 vorweg gewählt werden. Außerdem sollte jedes Privatgespräch auf einem gesonderten Datenerfassungsbeleg festgehalten werden. Frank jedoch telefonierte fleißig über die ›1‹ mit seiner Verlobten, mit Cousine, Schwager und dem Feinkostladen am Markt, ohne diese Privatgespräche auf dem Datenerfassungsblatt einzutragen. Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirtschaftsprüfer gemacht. Selbst im Innenbereich handelt eine Behörde nach dem Motto: ›Vertrauen ist für Dumme, Kontrolle ist besser.‹ In der zentralen Datenerfassungsanlage wurden nämlich sämtliche außer Haus gehenden Telefongespräche mit Datum, Uhrzeit und angerufener Nummer abgespeichert. So war bei einer Routinekontrolle leicht herauszufinden, daß Frank privat im Werte von 822,64 DM telefoniert hatte. Für ihn noch lange kein Grund, sich aus dem Fenster zu stürzen. Als Beamter war er schließlich (fast) unkündbar. Als ihm sein Dienstherr für die Dauer von 48 Monaten die Bezüge aus disziplinarischen Gründen um jeweils 1/15 kürzte, rief er das Gericht um Hilfe an. Der Richter (ebenfalls unkündbar) hob drohend den Finger und donnerte: »Das Dienstvergehen ist nicht leichtzunehmen.« Dann fuhr er leiser fort: »Trotz des relativ hohen Schadens liegt ein minderschwerer Fall des Betruges zum Nachteil des Dienstherrn vor. Es fehlt eine mißbräuchliche Ausnutzung der dienstlichen Stellung oder dienstlich erworbener spezieller 32
Kenntnisse. Der Senat hält die Verhängung einer Gehaltskürzung von einem Jahr für angemessen.« Der Richter senkte die Stimme noch weiter ab und flüsterte fast: »Erschwerend hat dagegen der Senat gewertet, daß der Beamte auch nach seiner Anhörung im Vorermittlungsverfahren noch weitere private Ortsgespräche auf Kosten seines Dienstherrn führte«. Beamter müßte man sein.
Der Sachbearbeiter lief blaurot an Ach, wie oft muß man von bösen Einsparungen am Sozialstaat lesen oder hören. Rezepte werden teurer, Kuren gekürzt, Schulen geschlossen. Für so gut wie nichts ist mehr Geld da. Wer etwas haben will, muß zuerst zwanzig Formulare ausfüllen und bekommt am Schluß doch nur die Hälfte von dem, was er braucht. Aber es geht auch anders, wie der folgende Fall zeigt. Sophie ist seit ihrer Geburt körperbehindert. Sie bewegt sich langsam und unkoordiniert, ihre Hände zittern, und ihre Sprache ist sehr undeutlich. Trotzdem war sie in der Lage, auf eine normale Schule gehen zu können. Alle gaben sich viel Mühe. Die Lehrer, die Eltern, Sophie und – man höre und staune – auch ihre Mitschüler. Sie wurde weder gehänselt noch verspottet, ganz im Gegenteil. Ihre Klassenkameraden kümmerten sich rührend um sie, und mit Hilfe von sonderpädagogischem Förderunterricht im Fach Mathematik schaffte sie den Abschluß der vierten Klasse, ohne jemals ein Jahr wiederholen zu müssen. In der fünften Klasse wurde ein Beratungsgutachten über Sophie erstellt, um den von ihr weiterhin benötigten sonderpädagogischen Förderbedarf festlegen zu können. Anschließend mußte das Mädchen vor einer sogenannten Förderkommission 33
vorsprechen. Sowohl Gutachter als auch Förderkommission stellten bei Sophie einen sonderpädagogischen Förderbedarf fest. Die Schulbehörde handelte schnell und eiskalt. Sie überwies das Kind auf eine Sonderschule für körperbehinderte Jugendliche, weit weg von Sophies Wohnort. Das Mädchen weinte bittere Tränen. Warum sollte sie von ihren Freunden und ihrer gewohnten Umgebung getrennt werden? Sophies Eltern legten Widerspruch gegen die Überweisung ein. Der zuständige Sachbearbeiter im Amt lief blaurot an. Undank ist der Welten Lohn. An allen Ecken und Kanten wurde gespart auf Teufel komm raus. Nur einmal wollte das Land weder Kosten noch Mühe scheuen, und dann so etwas! Die zutiefst beleidigte Widerspruchsbehörde schaltete deshalb auf stur und ordnete den sofortigen Vollzug der Überweisung an: »Die Unterrichtung führt zu einer Überlastung der Lehrkräfte und damit zur Beeinträchtigung des Unterrichts. Bei der Schülerin sind Fördermaßnahmen notwendig, die im Rahmen einer integrativen Beschulung nicht zu ermöglichen sind.« Doch diese Geschichte geht gut aus. Sophie traf auf verständige, lebenskluge Richter, die auf den Kern der Sache zurückkamen: »In der Entscheidung der Schulbehörde wird weder dargelegt, weshalb eine sonderpädagogische Förderung von Sophie an der Gesamtschule nicht möglich sein soll, noch wird ausgeführt, was dem Einsatz einer pädagogischen oder therapeutisch vorgebildeten Stützkraft entgegenstehen soll.« Die Richter verwiesen abschließend darauf, daß laut Grundgesetz niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Sophie darf weiter in ihre alte Schule gehen.
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Alles Gute kommt von oben – oder auch nicht Der Potsdamer Platz ist die größte Baustelle in Berlin-Mitte, wenn nicht gar im Weltall. Hier sprießen die Wolkenkratzer wie Pilze aus der Erde. Der Fachmann staunt, und der Laie wundert sich. Als die Amerikaner von diesem Projekt erfuhren, fusionierten sie eins-zwei-fix mit Mercedes, weil sie die Deutschen endlich für salonfähig hielten. Doch der Potsdamer Platz ist nicht nur eine Großbaustelle, sondern auch ein überdimensionales Gruselkabinett, weil er von einer Fahrbahn durchquert wird. Die Straße schlängelt sich in aberwitzigen Kurven und Bögen, die sich nahezu täglich ändern, vorbei an Stahlbetonskeletten, Betonsilos, Baugruben und Hochdrehkränen. Erwachsene Männer in japanischen Kleinwagen, die nachts bei Regen (zwischen aggressiven Kieslastern und erbarmungslosen Doppelstockbussen eingepfercht) orientierungslos den verwirrenden Wegweisern zu folgen versuchen, pflegen laut nach ihren Müttern zu rufen und sind um Monate gealtert, wenn sie endlich die rettende Randbebauung erreicht haben. Doch auch am hellichten Tage kann man auf dem Potsdamer Platz etwas erleben, wie unlängst Kristof und Jochen erfahren mußten. Die beiden Herren mittleren Alters, die sich bis dato nicht kannten, fuhren in zwei Autos in östlicher Richtung hintereinander her, als sie plötzlich unter Beschuß genommen wurden: An Kristofs Nissan breitete sich ein Spinnennetz an der Windschutzscheibe aus, im vorderen Dachbereich zählte er zwei tiefe Einschläge. Bei Jochens BMW zerbarst die Heckscheibe, und der hintere rechte Kotflügel wies plötzlich eine tiefe Delle auf. Glücklicherweise handelte es sich um zwei sehr routinierte Fahrer. Sie gerieten nicht vor Schreck auf die Gegenfahrbahn, sondern hielten ihre Autos in der Spur und bremsten sie allmählich ab. Mit zitternden Knien und schlotternden Händen 35
stiegen sie aus. Sie betrachteten sprachlos die Schäden an ihren Wagen und sahen sich um. Direkt neben dem Ort des Attentats wackelte ein Kran hin und her. Nur er konnte der Übeltäter gewesen sein! Jochen alarmierte über sein Handy die Polizei. Die Besatzung des Funkstreifenwagens inspizierte routiniert den Ereignisort. Auf dem Rücksitz des BMW fand sich ein faustgroßer Betonbrocken. »Aha, ein Bohrkern«, stellte der Polizeimeister fachmännisch fest und spazierte hinüber zum Kran. Die Ergebnisse seiner Ermittlungen hielt er im Protokoll fest: »Nach Angaben des Einweisers besteht für Kranführer die Auflage, den Ausleger nicht über Fahrbahnen des öffentlichen Straßenverkehrs zu führen. Zur Ereigniszeit wurde ein Flüssigbehälter durch den Kran bewegt. Bei unserer Begehung der Baustelle konnten getrocknete Betonreste im Behälter festgestellt werden, die sich unkontrolliert hätten lösen können. Der im Pkw vorgefundene Stein kann unserer Meinung nach nicht vom Kran stammen, da es sich um einen runden Betonkern handelt. Der Bodenmannschaft wurde auferlegt, getrocknete Betonreste unverzüglich vom Betonbehälter zu entfernen und den Behälter regelmäßig mit Wasser zu reinigen.« Damit war für die Polizei die Sache erledigt. Pech gehabt, Täter nicht ermittelt. Bevor sich die Beamten auf die nächste spannende Verbrecherjagd begaben, fanden sie noch Worte des Trostes für Kristof und Jochen: »Auch wenn das hier nichts gebracht hat, können Sie immer noch den zivilen Rechtsweg beschreiten, das bleibt Ihnen unbenommen.« Inspektor Clouseau ist tot, es lebe der rosarote Panther in Berlin!
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Betrug und Blaulicht Flinke Finger und die Folgen Im Mittelalter gingen die Gerichte mit überführten Straftätern nicht zimperlich um: Es war üblich, Personen ihre Wehrhaftigkeit zu nehmen, indem man ihnen die rechte Hand und das linke Bein abschlug. Diese Methode wurde durch das System der sogenannten Spiegelstrafen ergänzt. Die Tat sollte sich in der Art der Strafe widerspiegeln. Deshalb schlitzte der Scharfrichter Betrügern die Ohren auf (Schlitzohr), schnitt Meineidigen die Schwurfinger ab, riß Verleumdern die Zunge heraus und hackte Dieben die Hand ab. Diese Zeiten sind längst vorbei – »schade«, sagen Bestohlene, »glücklicherweise«, meinen die überführten Diebe, wie zum Beispiel das Ehepaar Jutta und Volker. Die beiden gingen eines schönen Tages in ein Kaufhaus, marschierten schnurstracks in die Musik-Abteilung, nahmen vier CDs sowie eine Videokassette im Gesamtwert von 105,81 DM aus dem Regal und legten sie flach in ihren Einkaufswagen. In der Textilabteilung griffen sie sich Herrensocken, packten sie zu den Tonträgern und deckten die flache Schicht mit Werbeprospekten ab. Darauf stapelten sie andere Waren im Wert von 132,85 DM. An der Kasse sortierten Jutta und Volker nur die oben liegenden Gegenstände auf das Band und bezahlten mit drei Fünfzigmarkscheinen. Sie nahmen das Wechselgeld in Empfang, legten die bezahlte Ware wieder in den Wagen und schoben ihn frohgemut in Richtung Ausgang. Dort standen zwei finster blickende Warenhausdetektive … Die Gerichtsverhandlung war zwar nicht angenehm, aber das Diebespaar hatte Glück im Unglück, es kam mit einer Geldstrafe davon. 37
Torsten, einem anderen Langfinger, erging es weniger gut. Er gab einem großen Fotogeschäft einen Film zum Entwickeln und wollte die Bilder abholen. Vor dem Tresen des Ladens herumlungernd, nahm er in einem unbeobachteten Moment die Tüte mit den entwickelten Fotos aus dem Regal und steckte sie sich unter die Jacke. Dann ging er, ein fröhliches Lied pfeifend, zum Ausgang. Dort löste die Fototüte (Wert 30,68 DM!) die Alarmanlage aus. Wieder sprangen blitzschnell Detektive herbei. Das Amtsgericht verurteilte Torsten zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten! Torsten wurde schreckensbleich und legte Berufung ein. Doch das Landgericht verwarf das Rechtsmittel als unbegründet. Auch die Revision blieb erfolglos: »Der Erörterung bedarf lediglich die Frage, ob das Landgericht zu Recht Vollendung des Diebstahls angenommen hat, weil der Angeklagte durch das an der Ware angebrachte Sicherungsetikett den Kassenbereich nicht verlassen konnte, ohne akustischen Alarm auszulösen, was zur Entdeckung der Tat führte. Bringt der Täter eine Ware an sich, indem er sie unter seiner Kleidung versteckt, ist die Wegnahme in der Regel vollendet.« Am Strafmaß gab es nichts zu rütteln. Im Paragraphen 242 des Strafgesetzbuches steht: »Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Torsten kann zwar froh sein, nicht mehr im Mittelalter der Spiegelstrafen zu leben, aber ob das ein Trost für ihn ist?
Mit Wachs und Deckweiß »Ja, ja«, sagte die Großmutter seufzend zu ihrem Enkel Sven, »was waren das noch für Zeiten, als wir in der Stadt für zwanzig Pfennig Straßenbahn fahren konnten: ›Linke Hand am lin38
ken Griff, Abspringen während der Fahrt verboten‹ und ›Nicht auf dem Perron stehenbleiben‹ stand auf den Emailleschildern. »Vergiß es, Oma, wie die vierzig Jahre Zwangsherrschaft ohne Wasser und Strom. Und Mutter hat immer geweint, weil es so wenig zu essen gab. Nee, nee, laß mal, jetzt kannste dir jede Woche einen neuen Walkman kaufen und hast immer noch Knete von deiner Rente übrig.« Doch in Svens Unterbewußtsein arbeitete es weiter. Die Straßenbahnfahrpreise waren tatsächlich mächtig hoch. Er wußte das so genau, weil er infolge alkoholbedingten Fehlverhaltens nur noch als Fußgänger oder als Fahrgast am Straßenverkehr teilnehmen durfte. Sven fand bald die Lösung. Der Fahrschein mußte zum Entwerten in einen roten Automaten am Einstieg gesteckt werden. Der machte klapperdieklack, und ein Stempelaufdruck mit Datum und Uhrzeit zierte unauslöschlich das untere Ende der Fahrkarte. Unauslöschlich? Sven kramte seinen alten Chemiebaukasten vom Boden und begann zu experimentieren. Aus Kerzenwachs und Deckweiß stellte er eine Mischung her, mit der er das untere Ende eines Fahrscheins überzog. So konnte man den Fahrschein oft benutzen, weil sich der Aufdruck mit der Wachsschicht abschaben ließ. Mit der Zeit begann der wächserne Überzug allerdings zu bröckeln … Dies bemerkte auch der Kontrolleur. In Svens Magen ballte sich eine glühende Kugel zusammen, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn, und er mußte plötzlich ganz dringend für kleine Jungs. Erfinderpech. Doch hat Edison aufgegeben, bevor er die Glühlampe erfand? Nein! (Oder war es das Grammophon? Egal!) Sven experimentierte weiter. Der neue Überzug hielt auch dem gestrengen Auge stand. Die Augen des Kontrolleurs verengten sich allerdings zu Schlitzen, als er mit seinem Daumennagel über die Fahrkarte schabte und sich Wachsspäne spiralförmig zwirbelten. 39
Die Anklage lautete auf versuchten Betrug in zwei Fällen. »Eine ordnungsgemäße Entwertung liegt nur dann vor, wenn der Stempelaufdruck dauerhaft auf dem Fahrausweis aufgebracht wird, so daß er nicht mehr beseitigt werden kann.« Sven wurde zu einer Geldstrafe von 65 Tagessätzen von je 15 DM verurteilt, insgesamt 975 DM. Seine Erfindertätigkeit ist nun ein für allemal vorbei. Der Chemiebaukasten steht wieder in der Bodenkammer.
Egon hat bestimmt schon wieder einen neuen Plan Existenzgründer wissen ein garstig Lied davon zu singen. Wer morgen Geld ausgeben und es übermorgen von der Steuer absetzen will, muß es heute erst einmal verdienen. Die prächtigste Geschäftsidee nützt wenig, wenn man nichts in der Tasche hat. Kredit bekommt nur der Unternehmer, der eigentlich keinen mehr benötigt. Für arme Schlucker mit großen Rosinen im Kopf bleibt die Tür zum hochkarätigen Darlehen versperrt. Zwar wurden uns allenthalben blühende Landschaften versprochen, doch zunächst ist einmal alles teuer, teuer, teuer. Büromöbel kosten ein Vermögen, die Angestellten fressen einem die letzten Haare vom Kopf, die Mieten sinken nur anderenorts, die Versicherungsgesellschaften kündigen drastische Preiserhöhungen an, und die diversen Leasingraten wollen auch bezahlt werden. (Von modernen Raubrittern im Gewande des Finanzamtes schweigt des Sängers Höflichkeit sowieso.) Da bleibt dem hoffnungsvollen Neuunternehmer – jung, dynamisch, erfolglos – nichts weiter übrig, als eisern zu sparen, sparen, sparen. Nicht so Egon. Er hatte ein Patentrezept erfunden, als er die Firma ›Schmidtchens Patent- und Planungstechnik‹ gründete. Teure Möbel? Nicht für ihn, er kaufte keine. Hohe Miete? Nichts da, er mietete kein Büro. Ausufernde Angestelltenlöh40
ne? Kein Problem, er hatte keine. Es gab weder ein Geschäft noch einen Geschäftsbetrieb. Das einzig real Existierende an Schmidtchens Patentbüro war Egons Schwiegervater Karl Schmidtchen, und der wußte nicht, was sein feiner Schwiegersohn so trieb. Da es das Planungsbüro nur auf dem Papier gab, hatte Egon auch keine Ausgaben, die seinen Gewinn schmälern konnten. Doch um Gewinn zu erwirtschaften, müßte eigentlich ein Geschäftsbetrieb entfaltet werden. Das wußte auch Egon. Geschäftsbetrieb mußte sein, und Geschäftsbetrieb war auch da. Allerdings spielte sich dieser Geschäftsbetrieb ausschließlich in seiner Phantasie ab. Auf dem Papier standen Kunden aus halb Europa und Übersee Schlange, um in den Genuß seiner Planungen kommen zu dürfen. Auf der Grundlage umfangreich gefälschter Geschäftsunterlagen ließ Egon dann von einem Steuerberaterbüro eine Buchhaltung, Jahresabschlüsse, eine Zwischenbilanz sowie eine Umsatzsteuervoranmeldung erstellen, die hoch in die Hunderttausende ging. Wie der Herr Immobilien-Schneider legte Egon die gefälschten Bilanzen und Abschlüsse Banken vor. So ergaunerte er sich auch Bankkredite. Vom Finanzamt gar ließ er sich für die falsche Umsatzsteuervoranmeldung Vorsteuern von 85 137 DM erstatten, die seinem Geschäftskonto gutschrieben wurden. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis der Staatsanwalt ruft: »Es werde Licht!« Ähnlich wie Herr Schneider hatte Egon nicht für einen sicheren Abgang gesorgt. Statt auf einer Insel unter Palmen saß er plötzlich in einer sicheren Zelle. Wegen Betruges wurde er zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Egon liest viel. Allerdings nur Fachbücher über Warentermingeschäfte, Investmentfonds und Akkumulationsraten. Bestimmt hat Egon schon wieder einen neuen Plan.
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Schaffe, schaffe, Häusle baue Früher benötigte der private Bauherr ein Grundstück, etwas Geld und viele Beziehungen. Heutzutage braucht man ein Grundstück, viele Beziehungen – und kein Geld! »Wie das?« werden die verdutzten Leser fragen. Ein Dr. Ignatius fand quasi das Ei des Kolumbus des Häuserbaus. Zunächst gründete er die Nervus-Rerum-Immobilien GmbH, um etwaiges Unheil in Form von direkter Haftung von seiner Person abzuwenden. Dann begann er im großen Stile, Häuser ohne Geld zu bauen: Dr. Ignatius telefonierte beispielsweise am 6. Januar mit dem Baustoffhändler Tilo und erzählte ihm, ein Lieferant habe ihn sitzengelassen, nun benötige er dringend Fußbodenfliesen, am liebsten sofort und gleich. Tilo versprach zu helfen, setzte sich ans Telefon und lieferte die Fliesen drei Tage später auf die Baustelle. Nun kam die zündende Geschäftsidee von Dr. Ignatius zum Tragen. Er schrieb am 12. Januar einen zweiseitigen Brief an Tilo, in dem er dies und das und jenes bemäkelte: Die Toleranzen der Fliesen seien zu groß, die Fliesen wären zu frisch und würden zum Bröckeln neigen. Tilo möge sich doch bitte mit dem Hersteller in Verbindung setzen und dort nach Härtegrad, Abriebfestigkeit, Feuchtigkeitsgehalt und den Toleranzen fragen. Tilo war verwundert. Dr. Ignatius schien ihn mit einer Auskunftei zu verwechseln. Trotzdem forderte er vom Hersteller einen amtlichen Prüfbericht an. Als dieser eintraf, schickte er ihn und die Rechnung an die GmbH. Statt des Geldes trudelte ein weiterer Brief von Dr. Ignatius ein: »In der Anlage erhalten Sie zunächst Ihre Originalrechnung zu Ihrer Verfügung zurück. Ich bestehe vor ihrer Anerkennung auf Ihrer ausführlichen Stellungnahme zu meinem Schreiben mit den darin enthaltenen Fragen.« Tilo war Baustoffhändler und kein Alleinunterhalter. Er hatte Fliesen geliefert, nun wollte er das Geld dafür haben. Im nächsten Brief von 42
Dr. Ignatius hieß es: »Sollten meine Fragen nicht ruckzuck beantwortet werden, übergebe ich die Angelegenheit meinem Anwalt.« Eigentlich wäre Tilo derjenige gewesen, der allen Grund dazu gehabt hätte, einen Rechtsanwalt zu beauftragen. Er begann seinen Hut zu essen und reichte dann Klage ein. In der Verhandlung erfuhr Tilo, daß auch der als Zeuge geladene Fliesenleger bislang keine müde Mark erhalten hatte. Der Richter wiegte den Kopf: »Mir ist unklar, was der Brief vom 12. Januar bedeuten soll. Eine Mängelanzeige ist es nicht, was ist es eigentlich?« Das Urteil lautete dann ganz folgerichtig: »Die beklagte Immobilien GmbH wird verurteilt, an den Kläger 10 562,84 DM zu zahlen.« Sein Geld hat Tilo deshalb noch lange nicht. Herr Dr. Ignatius legte jedenfalls Berufung ein, um die Sache für ein Jahr hinauszuzögern. Und ob es künftig die Immobilien GmbH noch geben wird, steht in den Sternen.
Der lustige Wodkatrinker auf Spritztour Peter ist ein lustiger Mann. ›Lustig‹ bedeutet in seinem Fall, daß er gerne einen trinkt. Er kann eine große Flasche Wodka durch die Gurgel jagen und anschließend immer noch gerade gehen. Und Auto fahren. Das tut er am liebsten. An einem Abend im August geriet er in eine Polizeikontrolle. Ein Streifenwagen überholte den schlingernden Pkw und stoppte ihn. Peter hielt folgsam an, lächelte freundlich, und als ein Mützenmann an seine Scheibe pochte, gab er Gas. Mit quietschenden Reifen jagte er um die nächste Kurve. Eine Verfolgungsjagd wie in Manhattan begann. Peter hatte einen Vorteil: Bei seinem kleinen flachgelegten Flitzer schlummerten doppelt soviel PS unter der Motorhaube wie in dem Polizeiauto dicht hinter ihm. Aber bei einem Zick43
zackkurs durch enge nachtdunkle Straßen in einer unbekannten Gegend nützen hohe PS-Zahlen nicht allzuviel, und außerdem trübten ihm die Wodkadämpfe immer mehr die Sicht. »Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!« schrie Peter vergnügt und steuerte in eine Parkanlage. Funken sprühten, als er mit voller Pulle durch zwei Poller peitschte. Der Verfolger blieb immer weiter zurück. Der Beamte am Steuer hatte nämlich Familie. »Na siehste, geht doch«, freute sich Peter zu früh, als er in eine dunkle Gasse einbog. Plötzlich flackerte vor ihm ein anderes Blaulicht auf. Ein zweiter Streifenwagen blockierte die Fahrbahn. Peter drückte ordentlich auf die Tube und raste auf ihn zu. Einer der Beamten gab einen Warnschuß ab. Der Schuß blieb nicht ohne Folgen: Der Schütze erlitt einen Hörsturz. Peter rauschte durch die Straßensperre wie ein heißes Messer durch die Butter. Das Polizeiauto besaß anschließend nur noch Schrottwert. Doch zu früh gelacht: Peters Pkw hatte auch sein Teil abbekommen. Öl lief aus, und ein Reifen war platt. Fünf Minuten später wurde der Wodkatrinker verhaftet. Seine Fahrerlaubnis ist er zwar bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag los, aber er kam mit einer Bewährungsstrafe davon. An das Strafverfahren schloß sich ein Zivilprozeß an. Es ging um das Geld für den kaputten Streifenwagen und die Behandlungskosten für den Hörsturz. Peters Versicherung tönte: »Das Polizeiauto hat die Straße blockiert und damit den Unfall herbeigeführt. Und wer grundlos in der Luft rumballert, muß auch die Folgen in Kauf nehmen.« Das Gericht teilte diese humoristische Betrachtungsweise nicht: »Der Beamte hat seine Dienstpflicht erfüllt, als er den Fliehenden zum Anhalten zwingen wollte. In solch einem Fall gilt ein Verkehrsunfall als unvermeidlich. Auch der Hörsturz des Beamten ist dem Autofahrer zuzurechnen. Durch seine Flucht hatte er den Beamten zur Abgabe eines Warnschusses 44
herausgefordert.« Eine weise Entscheidung. Anderenfalls würden Polizisten nämlich nichts weiter mehr tun, als ausschließlich alte Omis über die Straße zu geleiten.
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2. Kapitel Bußgeld, Datenschutz, Diebstahl Zusammenstoß auf dem Galgen Die Bahnlinie entstand in den zwanziger Jahren. Da die Herrschaften vom Rittergut damals weit und breit die einzigen Menschen waren, die über ein Automobil verfügten, wurde eine über die Schienen reichende Brücke hauptsächlich für Ackerwagen oder andere Gespanne konstruiert. Im Volksmund heißt dieses Verbindungsstück der Galgen. Eine enge Straße führt steil nach oben, biegt in einer scharfen Kurve über die Gleise und geht dann schmal nach unten. Der Galgen war viele Jahre ein Ärgernis und im Winter kreuzgefährlich. Schon so mancher Wagen rutschte von der eisglatten Piste in Richtung Böschung. Höchstgeschwindigkeit ist 30 km/h. Nach dem Bau der Umgehungsstraße ist der Galgen für den Durchgangsverkehr gesperrt und wird fast nur noch von Anliegern benutzt. Matthias ist Kraftfahrzeugschlosser und fährt einen hochgezüchteten Sportflitzer. An einem frühen Sonnabendmorgen im April hatte er es sehr eilig. Er wollte einem gutbetuchten Kunden in der Werkstatt außer der Reihe schnell den Wagen reparieren. Auf dem Weg begegnete ihm zunächst kein Mensch. Die meisten lagen noch in den Federn. Deshalb gab Matthias vor dem Galgen ordentlich Gas. Wuff, raste er in die Kurve – und erschrak. Ihm kam nämlich ein maisfarbener Kleinwagen entgegengetuckelt. Matthias bremste, kam leicht ins Schleudern und beschädigte der Asphaltblase die hintere Tür. Manfred, der Fahrer, hielt sofort seinen Wagen an, das Spaßmobil rollte noch etliche Meter weiter. »Da haben wir wohl beide etwas getrieft«, meinte Matthias zu 46
Manfred. Doch der war sich keiner Schuld bewußt. »Ich bin vorschriftsmäßig gefahren. Und nun habe ich eine demolierte Tür. Wer bezahlt mir den Schaden?« Matthias zuckte nur mit den Schultern. Die Polizei fällte später ein salomonisches Urteil. »Beide Fahrer räumen ein, möglicherweise zu weit links gefahren zu sein«, stand im Unfallprotokoll. Zwei Monate später erhielt sowohl Matthias als auch Manfred einen Bußgeldbescheid zugestellt. Sie sollten jeder 100 DM plus Auslagen bezahlen und lustige Punkte im Verkehrszentralregister bekommen. Sowohl Matthias als auch Manfred legten Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein, und so kam es zu einer Gerichtsverhandlung. »Ich bin ganz langsam und ganz rechts gefahren. Manfred ist schuld«, sagte Matthias. »Ich bin ganz langsam und ganz rechts gefahren. Matthias ist schuld«, meinte Manfred. »Vermutlich sind beide zu schnell und zu weit links gefahren. Beide sind schuld«, vermutete der Polizist. Der Richter hüstelte und knallte ärgerlich die Akte zu. »Das Verfahren wird eingestellt«, verkündete er gemäß dem Grundsatz »Im Zweifel zugunsten der beiden Angeklagten«.
Das Recht des Schwächeren Gisberts Frau Marianne verschluckte sich Silvester 1992 an einer Fischgräte, lief blau an und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Seitdem ist Gisberts Wille wie gebrochen. Bis er in Rente ging, hatte er sein Leben lang hart gearbeitet. Es blieb nicht viel übrig. Schließlich zog zu seinem Sohn in die Stadt. Seitdem sich die Schwiegertochter um ihn kümmert, sind seine Anzugsjacken nicht mehr fleckig, und er bekommt drei Mahlzeiten am Tag plus ein Stück Kuchen zum Kaffee. Doch er hat nichts mehr zu tun, und die Stadt gefällt ihm 47
nicht. Bei schönem Wetter geht er nachmittags in den Park, füttert Tauben und Spatzen. Wenn er auf einer Bank sitzt, murmelt er meist leise vor sich hin. Er unterhält sich mit Marianne. Er kann noch immer ihre Stimme hören. Er weiß, daß sie auf ihn wartet. An einem warmen Tag im Mai lief er mit kleinen Schritten den schmalen Parkweg am Ententeich vorbei, als ihm zwei Rowdys den Weg versperrten. Der eine, ein junger Bursche mit zurückgekämmten Haaren, schlug ihm ohne Vorwarnung auf den Mund und verlangte die Brieftasche. Zitternd wischte sich Gisbert das Blut ab und fingerte sein abgegriffenes KunstlederPortemonnaie aus dem Mantel. Ein Zehnmarkschein und Kleingeld befanden sich darin. »Willst du uns verscheißern, Alter?« schrie der Schläger wütend und prügelte wahllos auf den alten Mann ein. Gisbert fiel ins Gebüsch und zerkratzte sich Gesicht und Hände. Ein Polizist half ihm wieder auf die Beine. »Das war ein Unfall, ehrlich. Der Alte ist gestürzt«, hörte Gisbert seinen Peiniger stammeln. Er wurde zur medizinischen Notaufnahme gebracht. Glücklicherweise waren es keine ernsthaften Verletzungen. Nach einer ambulanten Behandlung konnte er nach Hause gehen und beschieß, die ganze Sache zu vergessen. Er hatte nicht an die Behandlungskosten gedacht. Gisberts Krankenkasse machte nämlich bei den Rowdys Schadensersatzanspruch geltend. In dem Schreiben standen auch Gisberts Name und Adresse. Einen Tag später klingelte es an der Tür. Gisbert war allein zu Hause und öffnete. Ihn traf ein Faustschlag mitten ins Gesicht. »Hör zu, Alter, wenn du uns verpfeifen tust, dann setzt es was, klar?« Gisbert brach zusammen. Ihn trafen mehrere Fußtritte am Kopf, an der Brust, im Bauch. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, sprach sein Sohn mit ihm: »Die Schläger haben deine Adresse durch die Schuld der Krankenkasse erfahren. Wir verklagen die 48
Krankenkasse auf Schmerzensgeld.« Nach Meinung des Richters aber hatte die Krankenkasse völlig korrekt gehandelt: »Die Verfolgung des Schadensersatzanspruchs gehört zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben. Die Angabe der Anschrift war zur Erfüllung dieser Aufgabe erforderlich. Der Schädiger hat Anspruch auf Kenntnis von Namen und Anschrift des Zeugen. Die Wut des Schädigers hätte sich genausogut am Strafbefehl entzünden können.« Sicherlich könnte Gisbert von den Rowdys Schmerzensgeld verlangen. Doch selbst mit einem entsprechenden Urteil in der Tasche würde er nichts bekommen: Die beiden sind arbeitslos und haben kein Einkommen.
Schabernack nach Kneipenzug »Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben«, sagt das Sprichwort. Nun gibt es kurze und lange Reisen, so wie es kurze und lange Züge gibt. Am besten genießt sich das Leben in vollen Zügen beim sogenannten Kneipenzug. Dafür benötigt man genügend Kleingeld, einen guten Magen, Stehvermögen und mehrere Gaststätten. Zu erleben gibt es dabei sehr viel. Friedhelm ist 35 Jahre alt und hat meist großen Durst, wenn er von der Arbeit kommt, weil er in einer Lackiererei tätig ist und den ganzen Tag lang schweißtreibende Schutzkleidung tragen muß. Auf dem Weg von seinem Betrieb bis zu seinem Häuschen kommt er an fünf Kneipen vorbei. An einem heißen Sommertag kehrte Friedhelm gegen 16.30 Uhr zuerst im ›Anker‹ ein und trank am Stehtisch drei Halbe auf einen Ritt. Der Kneipenzug hatte begonnen. Er endete gegen Mitternacht im ›Falken‹ nach 15 Litern Bier. In Friedhelms Bauch gluckste es verdächtig. Er schielte überkreuz und war der deutschen Sprache längst nicht mehr mächtig. Mit babyartigem Gelalle wollte er die nächste Molle bestellen. 49
Doch der Wirt hatte kein Erbarmen mehr. Er schnappte sich den unermüdlichen Zecher und bugsierte ihn vorsichtig, aber bestimmt vor die Tür. Rumms, krachte sie zu. Friedhelm stand draußen und fühlte sich ungerecht behandelt, denn zwischen Leber und Milz paßt immer noch ein Pils. Er hätte sehr gern den 31. halben Liter des Abends getrunken, aber er durfte ja nicht. So beschloß er, sich zu rächen, und wollte Kuno, einem anderen Gast, der drinnen gerade den Schaum vom Glas pustete, dessen Fahrrad klauen. Doch der Drahtesel war mit einem stabilen Schloß gesichert. Also lud sich Friedhelm das Fahrrad auf die Schulter und schwankte gen Heimat. Nach mehreren Stürzen schmiß er die unbequeme Last in das nächste Gebüsch. Als Kuno wenig später aus der Kneipentür trat und sein Stahlroß vermißte, brauchte er nicht lange zu überlegen, wer ihn da bestohlen hatte. Er fand auch das gute Stück. Das Gericht verurteilte Friedhelm wegen Diebstahls im fahrlässigen Vollrausch zu einer Geldstrafe in Höhe von 1 000 DM. Er legte Revision gegen das Urteil ein – und hatte Erfolg. Die nächste Instanz befand erstaunlicherweise, es habe kein Diebstahl stattgefunden: »Wer nämlich nur aus Wut eine Sache wegnimmt, um den Eigentümer zu ärgern, will nicht den wirtschaftlichen Wert der Sache seinem Vermögen zuführen.« Das Gericht meinte mit anderen Worten, daß es von vornherein unmöglich gewesen sei, mit dem Fahrrad zu fahren. Das habe Friedhelm auch nie vorgehabt. Er wollte es nicht benutzen, sondern nur ein Stück wegtragen. Und für solch einen harmlosen Schabernack könne er nicht bestraft werden. Wie sagt schon das Sprichwort: »Kommt Zeit, kommt Rad, denn gutes Rad ist teuer.«
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Aluminium in der Aktentasche Die Zeit der genialen Einzelerfinder, die jahrelang über der Lösung eines Problems brüten, soll vorbei sein. Der Fortschritt wäre so weit vorangeschritten, meinen die Gelehrten, daß bahnbrechende Erfindungen wie die Büroklammer, der Reißverschluß, der Lachsack und das Papiertaschentuch nur noch in großen Instituten zu machen seien. Doch Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Rolf ist wohl so eine Ausnahme. Er erfand einen sprechenden Toaster (›Hol mich raus, ich verbrenne!‹), einen 20 Millimeter langen Füllfederhalter und einen kugelrunden Kühlschrank. Aber leider interessierte sich außer ihm kein Mensch für diese Geniestreiche. Mit anderen Worten: Es gelang ihm nicht, seine Produkte zu vermarkten. Eines Tages klagte er Freund Eduard sein Leid. Eduard, ein lebenserfahrener Schnorrer, wußte Rat: »Du mußt etwas erfinden, womit du sofort selbst Geld verdienen kannst, ohne die Hilfe von anderen. Capito?« »Aha«, meinte Rolf und fing an zu überlegen. Wie alle großen Erfinder brauchte er nur einen Denkanstoß. Bereits nach einer Woche besuchte er Eduard. »Ich habe die Erfindung des Jahrhunderts gemacht.« »Steckt sie in der ledernen Aktentasche, die du in der Hand hältst?« fragte Eduard neugierig. Rolf grinste selbstzufrieden: »Die Tasche ist die Erfindung. Ich habe sie mit Aluminiumfolie ausgekleidet und die Folie dann mit schwarzem Samt überzogen. Sie wirkt wie eine Blackbox. Alles, was du hineinsteckst, ist verschwunden. Wir spazieren jetzt in das nächste Geschäft hinein, stopfen die Tasche voll und verschwinden. Die Aluminiumfolie schirmt die Sicherungsetiketten an den Waren vor der elektronischen Ausgangsüberwachung ab. Niemand wird etwas bemerken. Ich habe es mit dem Voltmeter ausgemessen.« 51
Gesagt, getan. Rolf und Eduard schlenderten mit den Mienen gutbetuchter Biedermänner durch die Pelzabteilung eines großen Warenhauses. In einer unübersichtlichen Ecke nahm Rolf eine sibirische Pelzkappe im Werte von 3 300 DM aus der Auslage und steckte sie in die Tasche. Eduard versperrte unterdessen mit seinem breiten Rücken zufälligen Beobachtern den Blick. Es klappte famos, niemand bemerkte etwas. Doch als die beiden durch die Tür gehen wollten, sprang die Sensorkontrolle an. Es ertönte ein schrilles Alarmsignal. Eduard machte ein obszönes Zeichen und zischte: »Voltmeter, daß ich nicht lache!« Dann griffen die Kaufhausdetektive zu. Rolfs Erfindung hatte den ersten Praxistest nicht bestanden. Da beide bislang noch nie vor dem Richtertisch erscheinen mußten, ließ das Gericht Milde walten. Rolf, das Superhirn, erhielt eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung, Eduard kam mit einer Geldstrafe davon. Durch diesen schicksalsschweren Fall wurde Rolf die Anregung für seine nächste Erfindung vermittelt: Er konstruiert nun eine Tarnkappe.
Das im Garten entwendete Auto Mittags fuhr Sieglinde mit ihrem uralten Kombi in den nahegelegenen Supermarkt zum Einkaufen. Wenig später öffnete sie zu Hause das Gartentor und rollte mit ihrem Wagen rückwärts auf das Grundstück, bis er wenige Meter vor der Treppe stand. Dann stieg sie aus, schloß die Heckklappe auf und begann den ersten Teil der Einkäufe ins Haus zu tragen. Knapp zwei Minuten später stand Sieglinde wieder im Garten, um den zweiten Schwung zu holen. Zu ihrer größten Verblüffung aber war das Auto verschwunden. Und das in einer stillen Nebenstraße, wo eigentlich jeder fremde Stehlemann sofort auffallen müßte! Außerdem: Welcher geistig normale Mensch klaut einen 18 Jahre alten, zerbeulten Kombi? 52
Sieglinde fuhr mit dem Bus zur Polizei, erstattete Strafanzeige. Wunder über Wunder: Zwei Tage später wurde ihr Auto im Nachbarort mit leer gefahrenem Tank gefunden. Der Wagen wies neue Beulen und Schrammen auf. Die Reparatur kostete knapp 1 200 DM. Sieglinde meldete den Schaden ihrer Kasko-Versicherung. Doch sie hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Assekuranz verwies auf angeblich großen Leichtsinn und lehnte ab. Sieglinde klagte. Das Urteil fiel kurz und bündig aus. »Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt. Sie kann sich nicht darauf berufen, daß sich ihr Fahrzeug auf ihrem Grundstück befand; denn entscheidend ist, ob für einen Dritten die Möglichkeit bestand, an dieses Fahrzeug heranzukommen, was, wie der vorliegende Fall beweist, tatsächlich auch der Fall war.« Wenn Sieglinde jetzt vom Einkaufen kommt, legt sie eine Kette um das Tor, eine Lenkrad- und eine mechanische Wegfahrsperre an den Kombi, hebt Kartons, Netz und Beutel aus dem Wagen, schließt ihn ab und geht mit den Einkäufen ins Haus, wobei sie hinter sich die Tür verrammelt und verriegelt. Zum Zeitungslesen setzt sie sich in die Küche (im Garten ist es zu gefährlich und wäre deshalb grob fahrlässig) und erfreut sich an jenen Berichten, die vermelden, daß die Kriminalitätsrate weiter rückläufig ist.
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Ehescheidung, Einbrecher, Erbschaft Geteiltes Leid ist doppeltes Leid Gebhard arbeitete als leitender Angestellter, währenddessen seine Gemahlin Rosa das zufriedene Dasein einer Hausfrau in ländlicher Villa genoß. Die beiden waren seit 25 Jahren verheiratet. Gebhard fragte sich manchmal, ob er unter einer Art Gehirnfieber gelitten hatte, als er vor den Traualtar getreten war. Doch noch schien es nicht zu spät zu sein, den Kardinalfehler zu korrigieren. Es galt nur, den richtigen Moment abzupassen. Gebhards Sternstunde kam, als seine Tante Cynthia starb und ihm ihr Haus hinterließ. »Wir sollten uns trennen«, schlug er seiner Ehehälfte vor. Rosa schlug zurück. Ein Stück Kaminholz traf die Stirn ihres Gatten. »Nur über meine Leiche«, schrie sie in völliger Verkennung der Umstände. Sie haßte ihn seit Jahren. Wen sollte sie tyrannisieren, wenn er nicht mehr da war? Gebhard wischte sich das Blut aus dem Gesicht und meinte gefaßt: »Wir verfügen über zwei komplett eingerichtete Häuser. Ich ziehe aus, du bleibst hier. Besser kann man nicht teilen.« Wie sehr er sich geirrt hatte, wurde ihm einige Tage später klar, als er den ersten Brief von Rosas Anwälten las. »Entweder bekommt unsere Mandantin alles, oder es gibt keine Scheidung.« Gebhard schrieb zurück: »Geteiltes Leid ist halbes Leid. Mehr als die Hälfte meines Vermögens trete ich nicht ab.« Einige Monate lang korrespondierten nur die Advokaten miteinander. Dann rief Rosa an: »Wir müssen miteinander reden.« »Die Narbe am Haaransatz ist noch zu gut zu sehen. Eine zweite will ich nicht haben.« »Wir treffen uns auf neutralem Boden. Im Cafe am Bahnhof.« 54
Gebhard willigte ein und fuhr hin. Rosa machte ihm Vorhaltungen und überschüttete ihn mit einer Flut von Verwünschungen. Nach zehn Minuten sprang Gebhard wütend auf: »Du widerst mich an. Ab sofort kämpfe ich um jede Mark. Das Tischtuch ist zerschnitten.« Dann rannte er grußlos aus der Tür. Draußen durchzuckte ihn ein jäher Schreck: Sein Auto war weg, der Parkplatz leer. Der Bestohlene dachte eine Weile nach, dann kam ihm die Erleuchtung: Rosa hatte ihn in eine Falle gelockt! Gebhard nahm ein Taxi und fuhr zu Rosas Bruder Leonhard. Er kletterte über den flachen Jägerzaun und warf einen Blick in die Garage. Dort stand sein Wagen. »Runter von meinem Grundstück, oder ich lasse den Hund von der Kette!« schrie hinter ihm Leonhard. »Das solltest du lieber lassen«, entgegnete Gebhard mit frostiger Miene und wies auf sein Handy, »die Polizei wird gleich hier sein.« Am Nachmittag klingelte es an seiner Gartentür. Rosa stand auf der Straße. »Ich will dich um Verzeihung bitten. Nimm die Strafanzeige zurück«, flehte sie. Gebhard öffnete die Pforte. Peng! knallte das Stück Kaminholz zum zweiten Mal auf seinen Kopf. Bis zum Scheidungstermin vergingen noch etliche Monate. Die Gerichts- und Anwaltsakten füllten bis dahin mehrere Ordner. Die Kosten schnellten in steiler Kurve nach oben. Im Verhandlungstermin fiel Gebhard auf, wie dünn und blaß seine Frau geworden war. »Du kannst dich freuen, du Teufel«, flüsterte sie. »Ich habe Krebs.« Trotzdem entkorkte Gebhard zu Hause zur Feier des Tages eine Flasche Champagner. »Endlich frei!« rief er aus. Ein halbes Jahr später starb er an einem Herzinfarkt. Er liegt nun drei Reihen hinter Rosa.
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Die Bande des Schreckens An einem Sonnabend im Februar sahen sich Vater Rudolf und Sohn Ulrich gemeinsam einen Spätfilm im Fernsehen an. Plötzlich hörten sie es auf der Straße klirren und scheppern, Glas ging zu Bruch, eine Alarmanlage heulte auf. Es war genau 1.20 Uhr. In der Straße parkten drei Autos kreuz und quer auf dem Bürgersteig. Mehrere junge Männer warfen mit Steinen die Schaufensterscheibe des Sportartikelgeschäfts ein. »Was ist los, Papa?« flüsterte der zwanzigjährige Ulrich, den das blanke Entsetzen gepackt hatte. »Es scheint sich um besonders skrupellose Einbrecher zu handeln«, erwiderte der siebzigjährige Vater und wies auf das Haus gegenüber, wo auch die Lichter angingen. »Sie machen sehr viel Krach und lassen sich nicht stören.« Inzwischen waren die Jugendlichen in das Geschäft eingedrungen. Sie schleppten bündelweise Diebesgut heraus und stopften es in die Autos. »Ruf die Polizei an, Ulrich«, befahl der Vater und zog die Schublade vom Nachttisch heraus. »Ich werde inzwischen versuchen, das Kroppzeug zu verscheuchen.« Dann ging er zurück ans Fenster, öffnete es und feuerte mehrmals mit seiner Schreckschußpistole auf die Einbrecher. Als der erste Schuß fiel, ließen die Diebe alles fallen, was sie in den Händen hielten. Doch als sich weiter keine Wirkung zeigte, hoben sie die Sachen wieder auf. Ein großer, schlaksiger Bursche rief zu Rudolf hinauf: »Wülste uns verscheißern, Alter?« Dann begann er ihn mit vollen Cola-Dosen zu bewerfen. Die Fensterscheiben zersplitterten. Als das Polizeiauto vorfuhr, waren die drei Autos längst über alle Berge. Im Geschäft herrschte das völlige Chaos. Um Spuren zu verwischen, hatten die Einbrecher mit einem Feuerlöscher gesprüht. Die drei Fluchtautos standen angezündet und ausgebrannt auf 56
einem Feld, etwa 20 Kilometer weit vom Einbruchsort entfernt. Wenige Tage später ereignete sich in der kleinen Nachbarstadt ein ähnlicher Vorfall in einem Waffengeschäft. Durch die mit Hohlblocksteinen eingeschlagene Schaufensterscheibe reichten die Diebe kurz nach Mitternacht bündelweise Schreckschußrevolver, Gaspistolen, Degen und Schwerter nach draußen. In diesem Augenblick näherte sich Nachtwächter Erwin dem Waffenladen. Er trug eine scharfe Waffe bei sich, zog sie und rief mit fester Stimme: »Hände hoch und rauskommen, einer nach dem anderen.« Die Reaktion war völlig anders, als er gedacht hatte. Die Jugendlichen antworteten nämlich nur mit lautem Gelächter, zogen ihrerseits jeder eine Pistole und richteten die Knarren auf Erwin. »Los, drück ab, du Pfeife, dann machen wir dich fertig!« schrie einer der Einbrecher. »Oder komm mit rein und hol dir was. Es ist noch genug da.« Erwin verspürte nicht die geringste Lust herauszubekommen, ob die auf ihn gerichteten Waffen echt oder nur Imitationen waren. Er ging vorsichtig rückwärts und rannte weg, so schnell er konnte. Drei Tage danach hatte der Handelsvertreter Herbert ein merkwürdiges Erlebnis. Er fuhr mit seinem Auto eine schmale Allee entlang, als ihm ein Pkw mit überhöhter Geschwindigkeit entgegenkam. Etwa 50 Meter vor ihm geriet der andere Wagen ins Schleudern, wich von der Fahrbahn ab, streifte einen Baum und bohrte sich dann in einen Erdhügel. Herbert fuhr rechts ran und suchte nach dem Sanitätskasten, denn er wollte erste Hilfe leisten. Als er aufschaute, sah er, wie der Fahrer ausstieg, mehrmals mit dem Fuß gegen die Fahrertür des Unglücksautos trat, dann einen Stein aufhob und ihn durch die bis dahin noch ganz gebliebene Frontscheibe warf. Herbert startete sofort, wendete und fuhr von dannen. Die Polizei in dem kleinen Landkreis war fast der Verzweiflung nahe. Es verging kaum noch ein Tag, an dem nicht irgendwo eingebrochen und ein Geschäft verwüstet wurde. Auf 57
den Feldern standen ausgebrannte oder zu Schrott gefahrene Autos. Als dann ein Polizeiauto mit Blaulicht einen verdächtigen Pkw verfolgte und ihm den Weg versperrte, raste der Pkw mit voller Wucht gegen den Polizeiwagen und beförderte ihn in den Straßengraben. Die Insassen konnten unerkannt entkommen. Am Abend kam die nächste Meldung: Einbruch in einen Lebensmittelladen, Schaufensterscheibe eingeschlagen. Ein brennender Pkw stand zwei Dörfer weiter am Straßenrand. Nachdem das Feuer gelöscht worden war, stellten die Beamten fest, daß im Kofferraum des Autos mehrere Stangen Zigaretten lagen. Es schien sich um einen Fluchtwagen zu handeln. In der unweit gelegenen Stadt hatten Einbrecher die Scheibe von einem Bekleidungsgeschäft zertrümmert, großen Sachschaden angerichtet, etliche Jeans- und Lederjacken gestohlen. Vor dem Geschäft lagen volle Schnapsflaschen und Zigarettenstangen. Auf der Fahrt zum Jeansgeschäft bemerkte ein Polizist einen großen amerikanischen Pkw, der mit Reifenschaden an der Straße stand. Er leuchtete mit einer Taschenlampe hinein. Der Wagen war vollgestopft mit Jeans- und Lederjacken. Die Spur schien heiß zu sein. Nun suchte die Polizei die nächsten Orte ab, und in einem Dorf, etwa fünf Kilometer entfernt, konnte sie endlich einen Teil der Bande stellen. Die Täter waren gerade dabeigewesen, sich ein neues Fluchtfahrzeug zu beschaffen. Sie zeigten sich geständig und nannten die Namen ihrer Kumpane. Zahllose Täter, zahllose Taten. Unmöglich, alle gleichzeitig vor Gericht zu stellen, sie in einem Verfahren abzuurteilen. Es mußten deshalb mehrere Prozesse geführt werden. In einem großen Verfahren beispielsweise, das über viele Tage lief, standen 14 Angeklagte vor Gericht, die in unterschiedlicher Beteiligung bei 30 verschiedenen Einbrüchen und Autodiebstählen mitgemacht hatten. Der von ihnen angerichtete Gesamtschaden ging in mehrere Hunderttausende Mark, da sie 58
bei den Einbrüchen in vielen Fällen die Geschäftsräume noch mit Feuerlöschern ausgesprüht hatten. Alle Täter waren zum Zeitpunkt der Diebstähle und Einbrüche 16- und 17jährige Jugendliche. Einen Bandenchef gab es nicht. Sie handelten spontan. Selten wurde eingebrochen, um etwas zu essen oder zu trinken zu holen, meistens trieb sie nur die Langeweile. Ein tieferer, kommerzieller Zweck stand nicht dahinter. Es ging nicht ums Geld, ohnehin stammten die meisten Jugendlichen aus intakten Elternhäusern. Wieviel Angst und Schrecken sie verbreitet, wieviel Geschäftsleute sie ruiniert und wieviel Existenzgründer sie ins Elend gestürzt hatten, war ihnen nie bewußt geworden. Die Strafen fielen alle sehr mild aus. Geldbußen, Verwarnungen, Bewährungsstrafen. Es bleibt nur zu hoffen, daß der erzieherische Zweck trotzdem erfüllt wurde. Der Richter gab nämlich in seinem Abschlußvortrag zu bedenken, daß sich jetzt die internationalen Autoschieberbanden an solche Jugendlichen heranmachen würden, die bisher nur Autos klauten, um damit zum eigenen ›Spaß‹ herumzufahren. Gegen ein geringes Entgelt seien die Diebe leider oftmals bereit, gestohlene Pkws zu geheimen Sammelorten zu bringen.
Wenn das Wörtchen ›wenn‹ nicht wär Bekanntlich (so steht es jedenfalls ab und an in der Zeitung) leben wir in einem freien Land. Das bringt viele Vorteile mit sich (z. B. brauchen Millionäre in der Regel keine Steuern zu zahlen), hat aber auch etliche Nachteile. Ein solcher Nachteil ist die Fiktion vom mündigen Bürger. Danach sind sämtliche Einwohner Deutschlands schlaue Kerlchen, die über alle Lebenssachverhalte von der Aalräucherei bis zu den Zylinderstiften bestens Bescheid wissen. Wenn nicht, dann fragen sie ihren Arzt oder Apotheker, Rechtsanwalt, Steuer- und Vermögensbe59
rater, Banker, Versicherungsagenten, Verbraucherschutzzentralenmitarbeiter, Zugbegleiter, Ombudsmann, Kontaktbereichsbeamten, Briefkastenonkel etc. pp. Wer einmal zuwenig fragt und trotzdem nicht draufzahlen will, findet sich hischhaschhurtig als Kläger oder Beklagter im Gerichtssaal wieder. Für Tante Lenchen allerdings bleibt der Weg vor die Schranken des Gesetzes versperrt. Sie starb im hohen Alter von 84 Jahren, möge sie in Frieden ruhen. Trotzdem spielt sie im folgenden Fall eine wichtige Rolle. Als es nämlich mit ihr zu Ende ging, meinte ihre beste Freundin Amelie, nun sei es höchste Zeit, ein Testament zu verfassen. Gesagt, getan. Notar Ernst-Emmerich wurde gerufen, und er trat flink wie der Wind an das Bett der am Parkinsonschen Syndrom leidenden alten Dame. Unter mühevoller Mithilfe von der Krankenschwester Getrude gelang es ihm, Lenchens unverständlichem Gestammel einen Sinn zu entlocken: Danach sollte Amelie Alleinerbin werden und Schwester Getrude ein Vermächtnis erhalten. Ernst-Emmerich skizzierte den Gesprächsinhalt und ließ Lenchen auf einem weißen Blatt Papier unterschreiben. Anschließend stand er auf und murmelte in seinen gepflegten Spitzbart: »Noch einmal komm’ ich und dann nimmermehr.« Einige Monate später erlitt Lenchen einen Schlaganfall, kurze Zeit später verstarb sie. Amelie streifte sich Trauerkleidung über, und nach der Beerdigung holte sie sich einige Kataloge aus dem Reisebüro. Doch zu ihrem größten Entsetzen mußte sie wenig später feststellen, daß es kein Testament gab! Notar Ernst-Emmerich hatte schlichtweg vergessen, anhand seiner Notizen eine formgültige Urkunde anzufertigen und diese von Lenchen unterschrieben zu lassen. Rumms, gingen 138 572 DM den Bach runter und landeten in den Taschen eines Großneffen 3. Grades. Amelie fand das gar nicht lustig, und sie verklagte Notar Ernst-Emmerich auf Schadensersatz, weil er amtspflichtwidrig 60
das Testament nicht beurkundet hatte. Aber die Richter fischten ein Haar aus der Suppe. Sie meinten, Tante Lenchen habe Schuld! Von ihr als der Erblasserin sei es fahrlässig gewesen, den Notar nicht an den Abschluß des Geschäfts zu erinnern. Für die Fahrlässigkeit gelte folgender Maßstab: »Es ist zu prüfen, ob der Betroffene die nach den gegebenen Umständen sowie nach seinem Bildungsstand und seiner Geschäftsgewandtheit gebotene Sorgfalt beachtet hat.« Der Notar sei nur dann haftbar zu machen, wenn er der Mahnung, nun endlich das Testament zu beurkunden, nicht gefolgt wäre. Die Erblasserin habe nämlich gewußt (oder hätte wissen müssen), daß das Testament noch nicht rechtswirksam errichtet gewesen war. In diesem Fall bestehe kein Schadensersatzanspruch des Testamentserben. So einfach ist das. Amelie hätte eben drei Semester Erbrecht studieren oder einen Rechtsanwalt damit beauftragen müssen, das Abfassen des Testaments zu überwachen. Doch was wäre gewesen, wenn Amelie vergessen hätte, den Rechtsanwalt daran zu erinnern, Tante Lenchen zu erinnern, den Notar zu erinnern? Wenn das Wörtchen wenn nicht war, war mein Vater Millionär.
Wer zuletzt lacht, lacht am längsten ›Brüder haben ein Geblüte, aber selten ein Gemüte‹, sagt das Sprichwort. Ferdinand und Franz sind zwei Brüder, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: Ferdinand ist groß, dick und glatzköpfig; Franz hingegen ähnelt einem abgebrochenen Gartenzwerg mit langer, spitzer Nase. Ferdinand liebt Wein, Weib und Gesang, das Portemonnaie sitzt bei ihm locker. Franz dreht jeden Pfennig dreimal um, seine Lieblingslektüre ist das Sparkassenbuch. 61
Im Januar verstarb die Mutter der beiden. Ende des Monats lud der Testamentsvollstrecker alle Erben ein, um den Nachlaß zu verteilen. Es gab reichlich zu tun, denn die teure Verblichene hatte nebst reichlichem Bargeld wertvolle Antiquitäten und Möbel besessen. Ferdinand wurde u. a. das Ölgemälde ›Heiliger Paulus‹ eines in Kunstkennerkreisen berühmten italienischen Malers aus dem 17. Jahrhundert zugeschlagen. Es lag eine dreißig Jahre alte Expertise vor, auf deren Grundlage der Wert Pi mal Daumen auf 20 000 DM geschätzt wurde. Franz schrie empört: »So haben wir nicht gewettet! Der Ölschinken ist selbst unter Freunden mehrere 100 000 DM wert.« Ein Wort gab das andere, und später korrespondierten die Anwälte der beiden Brüder miteinander. Ferdinand ließ ein aktuelles Gutachten des Ölgemäldes anfertigen. Der Kunstexperte wiegelte ab: Allerhöchstens 10 000 DM. Franz heulte auf: »Betrug! Ich soll um mein Erbe geprellt werden!« Ferdinand war die Sache inzwischen nur noch lästig. »Wenn du befürchtest, du würdest übers Ohr gehauen, verkaufe ich dir das Bild für 20 000 DM«, ließ er Franz ausrichten. Gesagt, getan. Franz lieferte einen Scheck ab und nahm das Bild in Empfang. Er hüpfte rum wie Rumpelstilzchen. »Chefchen, du bist ein cleveres Bürschchen. Nun schnell zum nächsten Kunsthändler und das Bildchen versilbern!« Auf eine angenehme Nacht folgte ein unangenehmes Erwachen: Das Gemälde war nicht das Werk des berühmten italienischen Meisters, sondern das eines seiner Schüler. Der Rahmen sei mehr wert als die Leinwand, meinte der Händler. Franz sauste in Hausschuhen zur Bank und ließ den Scheck sperren. Dann rief er Ferdinand an: »Du infamer Schweinehund wolltest mich reinlegen. Aber nichts da. Hol dir deinen beklecksten Schund ab, und gib mir meinen Scheck zurück!« Die Sache kam vor Gericht. »Bei dem Verkauf des Bildes handelte es sich um ein reines Spekulationsgeschäft für Franz. Ferdinand steht ein Anspruch auf Zahlung von 20 000 DM 62
nebst Zinsen, Provision und Kosten zu«, lautete kurz und knapp das Urteil.
Das verlorene Vorvermächtnis Was ist Glück? Ruhm, viel Geld, eine reiche Erbschaft? Nein. Glück ist, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Elsbeth war zur falschen Zeit am falschen Ort, als sie eine reiche Erbschaft machte. Und so zerfiel alles unter ihren Händen. Aus purem Gold wurde märkischer Sand. Folgendes war geschehen: 1986 verstarb Elsbeths Tante Julia in Bad Pyrmont/BRD. Sie hinterließ ein hübsches Haus in der DDR, welches ihre Nichte bekommen sollte. Allerdings war ein kleiner Haken an der Sache. Im Testament stand nämlich geschrieben: »Meine Nichte erhält das Grundstück als Vorvermächtnis. Es wird ihr auferlegt, es nicht an den Mieter Heinz oder einen seiner Angehörigen zu verkaufen – auch nicht über Mittelsmänner. Anderenfalls soll es an meine Erben Selma und Luise in Ostberlin als Nachvermächtnisnehmer fallen.« Heutzutage haben Haus und Grundstück einen Wert von rund 300 000 DM. Damals stand Elsbeth vor einem großen Problem: Zu DDR-Zeiten gab es keinen legalen Weg, die Mieter aus dem Haus zu vertreiben. Deshalb war das Grundstück praktisch unverkäuflich. Sicherlich hätte sie die Parzelle behalten können. Doch erstens bewohnte sie selbst ein kleines Häuschen, und zweitens fielen ständig Reparaturkosten an. Elsbeth quälte sich zwei Jahre mit Haus und Hof ab, dann stand sie kurz vor dem Ruin. Die Mieteinnahmen betrugen sensationelle 58,70 Mark im Monat. Das Grundstück mußte deshalb weg, so schnell wie möglich. Als einziger Käufer kam Mieter Heinz in Frage. 1988 wurde der notarielle Vertrag geschlossen. Mieter Heinz ist seitdem Herr über 3 200 Quadrat63
meter Land plus Einfamilienhaus und Nebengelaß. Für dieses stattliche Anwesen zahlte er 5 480 Mark. Als Selma und Luise in Ostberlin davon erfuhren, störte sie das nicht die Bohne. Doch mit der Wende änderte sich ihre Meinung urplötzlich. Sie kramten das Testament der guten alten Tante hervor, brachen in Krokodilstränen aus und gingen daran, Julias letzten Willen zu erfüllen. Sicherlich war es kaum noch möglich, an das Grundstück von Heinz heranzukommen. Er stand im Grundbuch wie ein Fels in der Brandung. Doch hatte Elsbeth nicht gegen das Vermächtnis ihrer Tante verstoßen und sich damit möglicherweise schadensersatzpflichtig gegenüber den Nacherben gemacht? Selma und Luise wandten sich an den Testamentsvollstrecker Arnfried. Der reichte Klage gegen Elsbeth ein. Zunächst forderte er Auskunft und verlangte Einsicht in den Kaufvertrag. Sicherlich hätte Elsbeth den Kaufvertrag ohne weiteres vorlegen können. Doch es galt, den Angriff von vornherein abzuwehren; denn am Ende lauerte eine Schadensersatzforderung von mehreren Hunderttausend DM. So kam es dann zu einer Gerichtsverhandlung. Das Gericht gelangte zu dem Ergebnis, die Auflage von Tante Julia, daß das Grundstück nicht an den Mieter Heinz verkauft werden dürfte, sei nach damals geltendem DDR-Recht nichtig gewesen. Daraus folge: »Dem Kläger stand ein Auskunftsanspruch für das Grundstück nicht zu, weil ein Anspruch der Erben auf dessen Auszahlung nicht besteht.« Arnfried trug die Gerichts- und Anwaltskosten. Sie wurden nach einem Streitwert in Höhe von einem Viertel des heutigen Wertes des Grundstücks berechnet und liegen deshalb bei mehreren Tausend DM. Heinz ist der lachende Dritte. Er war zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen und konnte für läppische 5 480 Mark ein riesengroßes Grundstück einsacken.
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Erpressung, Falschgeld, Fernsehen Störung im gastrischen System Wenn früher eine Ehe geschieden wurde, dann suchte der Richter einen Schuldigen, den Bösen, den Ehebrecher. Das geltende Recht hat sich geändert, glücklicherweise seit vielen Jahren schon. Nun prüft das Gericht nur noch, ob die Ehe unheilbar zerrüttet ist. In einer kaputten Zweiergemeinschaft gibt es nämlich in den seltensten Fällen einen Schuldigen und einen Unschuldigen. Beide Partner haben in der Regel ihren Anteil daran, daß der Bund fürs Leben zerbrochen ist. Deshalb existiert meistens kein Gewinner, übrig bleiben zwei Verlierer. Jakob liebte seine Frau abgöttisch, was ihn aber nicht daran hinderte, Abend für Abend zu Hause in ausgeleierten Trainingshosen vor dem Fernsehapparat zu sitzen, Dosenbier zu trinken und wie ein Stadtsoldat zu rauchen. Karla ertrug dieses triste Dasein länger, als ihr lieb war. Doch eines Tages faßte sie sich ein Herz, ging zum Anwalt Felix und reichte die Scheidung ein. Als Jakob Post vom Gericht bekam, fiel er aus allen Wolken. Für ihn war die Welt bis dahin in Ordnung gewesen. Karla wusch die Wäsche, kochte und brachte ihm Stullen, wenn er vor der Flimmerkiste hockte. Nie wagte sie sich zu mucksen. Was war da falsch gelaufen? Bei ihm konnte die Schuld nicht liegen, so viel stand für Jakob fest. Auch Karla wäre von allein nie auf den Gedanken gekommen, sich scheiden zu lassen. Jemand hatte sie aufgehetzt. Jakob dachte nach. »Hah«, rief er dann aus, »der Anwalt, diese fiese Socke. Er hat die Sache eingefädelt, um massig Kohle zu verdienen.« Jakob griff zum Telefon und rief Felix an. Mit verstellter Stimme zischte er in die Sprechmuschel: »He, Rechtsverdreher, hör mir gut zu. Dieser Tag wird dein letzter sein. Heute um 65
Mitternacht murkse ich dich widerliche Advokatenkreatur ab!« Krach, legte er auf. Felix hielt entgeistert den Hörer in der Hand. Eine Hitzewelle überflutete ihn. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und in seinem Magen begann es zu rumoren. Hatte nicht erst unlängst ein Verrückter einen Rechtsanwalt erschossen? Wenig später klingelte erneut das Telefon. Nun verstellte Jakob seine Stimme nicht mehr: »Ich habe es mir überlegt. Ich lasse dich leben. Dafür will ich von dir 5 000 DM haben. Du sollst an meiner Ehescheidung keinen einzigen Pfennig verdienen. Wenn du nicht zahlst, zünde ich deine Bude an.« Felix schrie auf, ließ den Hörer fallen und raste zum Klo. Schwere Krämpfe schüttelten ihn. Eine Störung im gastrischen System: Durchfall. Erst nach drei Tagen kam er wieder von der Toilette herunter. Dann erstattete er Strafanzeige gegen Jakob. Das Gericht fackelte nicht lange und verurteilte Jakob wegen Bedrohung, versuchter Erpressung und Körperverletzung zu fünf Monaten ohne Bewährung. Jakob ging in Revision, und die übergeordnete Instanz hob das Urteil auf. Begründung: »Nach den Feststellungen haben die telefonischen Drohungen des Angeklagten bei Herrn Felix mehrfach das Auftreten von Durchfällen bewirkt. Anders als etwa Magenschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schlaflosigkeit oder Schwindelgefühl verursacht das vorübergehende Auftreten von Durchfall nach einem Angsterlebnis keine so schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens, daß die Erheblichkeitsgrenze erreicht oder überschritten wäre.« Der Fall wird noch einmal verhandelt und Jakob aller Voraussicht nach mit einer Bewährungsstrafe davonkommen. Ein glattes Fehlurteil, denn Felix litt selbstverständlich auch unter Schlaflosigkeit. Oder ist es vorstellbar, daß jemand mit Durchfall auf dem WC hockt und dabei schläft?
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Onkel Dagoberts Neffe Über Dagobert, den Kaufhauserpresser, gibt es ein Buch und mehrere Schallplatten-Aufnahmen. Romane, Spielfilme und Fernsehserien sind in Vorbereitung. Dagobert las 1999 während der Leipziger Buchmesse vor vollem Saal aus seiner Autobiographie, und er zeichnet regelmäßig für den ›Eulenspiegel‹. Das glücklose Genie genießt relativ breite Sympathie unter der Bevölkerung. Der verhinderte Meisterdieb gilt wohl als eine Art Rächer der Enterbten. Im Fahrwasser von Dagobert schwammen manche anderen Erpresser, die noch glückloser waren als er, weil es ihnen an der notwendigen Phantasie mangelte. Die meisten allerdings waren keine Schlagzeile in der Zeitung wert. Ulli gehört dazu. Der Maurer hat nur ein Hobby: Biertrinken. Er ist 1,70 Meter groß, wiegt über 100 Kilo und trägt am liebsten das T-Shirt ›Bier formte diesen edlen Körper‹. Da Ulli die Arbeit nicht erfunden hat, suchte er nicht sonderlich intensiv nach einer neuen Beschäftigung, als er entlassen wurde. Die Untätigkeit an sich störte ihn nicht – lediglich die Ebbe in seinem Portemonnaie. Da Bier und Geld untrennbar miteinander verbunden sind, kam Ulli auf die Idee, Dagobert nachzueifern. »Die Brauerei hat schon genug an mir verdient – jetzt wird abgezockt«, dachte er sich, kaufte sich eine Zeitung und schnitt Buchstaben aus. Nach mehreren Stunden mühsamer Schnipselei hatte er einen Brief fertiggestellt: »In drei Tagen will ich eine Million DM in kleinen, gebrauchten Scheinen haben. Anderenfalls werde ich mit Salzsäure gefüllte Bierflaschen in den Handel bringen!« Kaum hatte Ulli den Brief abgeschickt, schon ärgerte er sich. Eine Million war viel zuwenig! Zwei Millionen hätte er fordern müssen! Zwei Tage später rief er nachts in der Brauerei an und teilte mit, daß er – probehalber – eine erste Salzsäureflasche im nahe gelegenen Einkaufszentrum deponiert habe. 67
Am nächsten Morgen stürmte die Polizei in den Supermarkt und fand im Regal eine Bierflasche mit dem Aufkleber ›Vorsicht Salzsäure‹. Eine äußerlich unversehrt wirkende Flasche mit siebenprozentiger Salzsäurelösung. Spezialisten kamen zu dem Ergebnis: Die Bierpulle war mit einer anderen als Hebel geöffnet worden. Der Täter hatte die Flasche umgefüllt und sie mit dem originalen Kronkorken wieder verschlossen. Nun ist das Öffnen von Bierflaschen mittels einer anderen Flasche eine Kunst, die vor allem auf Baustellen erlernt wird. Salzsäure wurde früher verwendet, um beim Mauern das Umfeld von Zierfugen zu säubern. Die Buchstaben der Briefe waren aus einer örtlichen Anzeigenzeitung ausgeschnitten worden, wobei die Botschaften mehrere Rechtschreibfehler aufwiesen. Zusammengefaßt lauteten die Schlußfolgerungen im Stile von Sherlock Holmes: Der männliche Täter dürfte Ende Zwanzig mit einfacher Bildung, von Beruf Bauarbeiter sein, und er wohnt in der Nähe. Die Geldübergabe sollte zur Hauptgeschäftszeit in der belebten Fußgängerpassage stattfinden und wurde zunächst zu einem Reinfall für die Polizei. Ulli konnte dem Boten den Koffer aus der Hand reißen und in der Menschenmenge entkommen. Seine Freude währte allerdings kurz. Im Koffer befanden sich nämlich nur gebündelte Zeitungen und ein Miniatursender. Wenige Stunden später kam es zur Festnahme. Das Urteil lautete auf eine sechsjährige Freiheitsstrafe. Vielleicht bekommt Ulli den Onkel Dagobert als Zellennachbarn.
Bertrams freies Unternehmertum Bertram ähnelt einem tapsigen Bären. Er ist 1,80 Meter groß, besitzt einen hervorquellenden Bauch, trägt einen ungepflegten Vollbart und hat lockiges Haar, dem ein Friseurbesuch nicht 68
schaden würde. Bertram könnte sich als Attraktion auf dem Rummelplatz ausstellen lassen: Seinen Körper zieren an allen denkbaren Stellen Tätowierungen von unterschiedlicher künstlerischer Meisterschaft. So schlängelt sich um seinen Hals eine feine blaue Linie, unter der vermerkt steht: »Hier abtrennen!« Diesen Wunsch wird ihm vorerst keiner erfüllen wollen. In Deutschland ist die Todesstrafe abgeschafft. Bertram zählt zu den Opfern des Zonenregimes. Immer wieder wurde er an freier schöpferischer Entfaltung gehindert. 1978 erhielt er eine Geldstrafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung, 1979 eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen gemeinschaftlichen Diebstahls, 1981 zwei Jahre wegen Diebstahls, 1984 sieben Monate wegen Betruges, 1985 zwei Jahre und zwei Monate wegen schweren Diebstahls und Begünstigung, 1987 drei Jahre wegen Raubes, 1989 sechs Monate wegen Beihilfe zum Betrug. Er litt also wie kein anderer an der Unterdrückung seiner individuellen Persönlichkeit und an der gnadenlosen Verfolgung als Andersdenkender – die Schlauen leben von den Dummen, die Dummen von der Arbeit. Wären nicht einige Amnestien bzw. vorfristige Haftentlassung gewesen, hätte er noch viel mehr leiden müssen. Bertram bewohnte eine windschiefe Kate in einem brandenburgischen Dorf. Die LPG, in der er in den kurzen Momenten zwischen zwei Verurteilungen als Schweißer tätig gewesen war, hat längst ihre Pforten für immer geschlossen. Die gesamte Gemeinde wartete seit Wochen und Monaten auf den Aufschwung Ost, hoffte auf Golfplätze, Einkaufszentren und Imbißbuden. Doch trotz günstiger Zeitungsprognosen herrschte bislang Schweigen im Walde. Nur an der jetzt privaten Dorfkneipe ›Zum deutschen Kaiser‹ (vormals HO-Gaststätte ›Ernteschlacht‹) lockte eine weiß-goldene Bierreklame. Nun beschloß Bertram, unternehmerisch tätig zu werden. Und ist der Handel noch so klein, bringt er doch mehr als Arbeit ein. 69
Zuerst galt es, das dafür nötige Kapital zu beschaffen. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen? Bertram wußte einen besseren Weg: Rauben! Mit Olaf, einem guten Kumpel aus schlechten Zeiten, stattete er dem Invalidenrentner Friedo einen ungebetenen Besuch ab. Zitternd und blutend füllte der alte Mann 15 Postbarschecks über je 400 DM aus. Doch Bertrams Unternehmertum sollte sich nicht lange frei entfalten. Rauhe Polizeischergen rissen ihn aus dem ›Deutschen Kaiser‹, wo er seit einer Woche ununterbrochen soff und eifrig Pläne schmiedete. Auch das Gericht brachte wenig Verständnis für ihn auf. Wegen schwerer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung wurde er zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Außer Spesen nichts gewesen.
Blütenträume Das Leben ist viel komplizierter, als mancher denken mag. An einem nebligen Herbstabend trafen sich drei Männer auf einem verschwiegenen Parkplatz: Fiete, Adriano und Aldo. Alle drei trugen dunkle Mäntel, Hüte und Sonnenbrillen. Sie besprachen ein nicht ganz gewöhnliches Geschäft: Fiete bestellte bei Adriano und Aldo einen Koffer voller Geld. 500 Millionen italienischer Lire, um es ganz genau zu sagen. Dafür wollte er zwei Raten von je 150 000 DM zahlen, die erste Rate bei Übergabe der heißen Ware, die letzte nach dem Verkauf. Ein paar Wochen später fand das zweite Treffen statt, diesmal vor den Schließfächern auf dem Hauptbahnhof. Aldo klappte einen schwarzen Aktenkoffer auf, Fiete lupfte seine Sonnenbrille und erblickte zwölf pralle, in Klarsichtfolie verpackte und mit Banderolen versehene Geldscheinbündel von 100 000-Lire-Noten. Der Geldeinkäufer übergab seinem Geschäftspartner 135000 DM, schnappte sich den Koffer, kletterte in seine dunkle Li70
mousine und fuhr beschwingt von dannen. Zu Hause entleerte er den Koffer auf dem Küchentisch und entfernte die Banderolen von den Geldbündeln. Plötzlich wurde er leichenblaß: Auf jedem ›Geldschein‹ stand sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite in großen Druckbuchstaben: ›FAC SIMILE RISTORANTE IL BACCALINO POTU QUATO CA‹. Fiete hatte sich einen Koffer Spielgeld gekauft. Doch auch Aldo und Adriano hatten nicht viel Freude an den vielen echten Geldscheinen. Die Polizei schnappte sie wenige Stunden nach der Transaktion wegen einer anderen Sache. Sie sangen wie die Amseln und standen plötzlich vor Gericht. Die Anklage lautete zunächst auf Geldfälschung und Betrug. Doch die Richter meinten, von Geldfälschung sei keine Spur: »Nach ständiger Rechtsprechung liegt falsches Geld nur vor, wenn es den Anschein gültigen Geldes erweckt, d. h. seiner Beschaffenheit nach geeignet ist, im gewöhnlichen Zahlungsverkehr Arglose zu täuschen. In diesem Fall waren die fraglichen Abbildungen im gewöhnlichen Zahlungsverkehr nicht verwechslungsträchtig. Hierfür gibt den Ausschlag, daß sich auf beiden Seiten jeder dieser Abbildungen ein die Geldeigenschaft ausschließender Aufdruck befindet, der einem Betrachter ohne weiteres ins Auge springt.« Adriano und Aldo hatten sich nun nur noch wegen Betruges zu verantworten und verließen den Gerichtssaal als freie Leute. Ein deutscher Kollege von ihnen namens Florian traf auf weniger verständnisvolle Richter. Florian hatte in einem CopyCenter 1 824 Blüten im Nennwert von je 1 000 Schweizer Franken hergestellt. Auch diese Geldscheine zierte ein Aufdruck. Diesmal stand darauf ›FAC SIMILE FALSO RISTORANTE ITALIANO‹. Florian wurde geschnappt und kam in Untersuchungshaft. Er legte dagegen Beschwerde ein, doch das Gericht lehnte es ab, ihn wieder freizulassen: »Der beiderseits angebrachte Aufdruck steht einer zur Verwechslung ausreichenden Geldähnlichkeit nicht entgegen. Es ist die Mög71
lichkeit eröffnet – wie bundesweit bereits in anderen Fällen geschehen –, diesen Aufdruck durch eine Banderole zu verdekken, um so den Anschein echten Geldes vorzutäuschen.« Also Vorsicht, wenn finstere Gestalten auf einsamen Parkplätzen dicke Geldbündel mit Banderolen zücken. Lassen Sie die Tausend-Mark-Schein-Stapel dort, wo sie hingehören: In Ihrer Hosentasche.
Liebesgrüße aus der Lederhose und anderer Unsinn Aus den USA kamen Blue Jeans, Popcorn und merkwürdige Sportarten zu uns. Beispielsweise eine Schlägerei im Boxring, bei der fast alles erlaubt ist, ›Catch as Catch Can‹, abgekürzt ›Catchen‹. Heutzutage ist ›Wrestling‹ (Ringen) modern. Aber mit klassisch griechisch-römischen Ringkämpfen hat dieses zweifelhafte Vergnügen nichts zu tun. Da schreien sich bunt tätowierte oder grell geschminkte Fleischklopse in engen Trikots an, wirbeln einander durch die Lüfte, treten, würgen und schlagen sich, gehen anscheinend bewußtlos zu Boden, um Sekunden später wieder völlig fit auf ihren brutalen Gegner einzuprügeln. Jeder erwachsene Fernsehzuschauer, der zufällig oder bewußt eine Wrestling-Sendung auf der Mattscheibe sieht, weiß natürlich, daß dort ein Schauspiel aufgeführt wird. Der Gewinner steht von Anfang an fest. Normalerweise laufen solche Sendungen (neben Liebesgrüßen aus der Lederhose und ähnlichem Unsinn) im Nachtprogramm. Doch eines schönen Tages kam ein Privatsender auf die Idee, Wrestling-Kämpfe bereits am Nachmittag auszustrahlen; denn an den Kämpfen hängt noch ein riesiger Warenverkauf – das große Geld wird mit Plastikfiguren, Stickern und T-Shirts zweifelhafter Idole gemacht. Glücklicherweise griff sofort eine Landesanstalt für privaten Rundfunk ein und forderte einen Gerichtsbeschluß: Keine sol72
chen Kämpfe vor 21 Uhr, weil jugendgefährdend. Die Richter sahen sich mehrere Wrestling-Kämpfe an und waren erschüttert: »Nach Überzeugung der Kammer können Kinder nicht erkennen, daß es sich bei den gezeigten Kämpfen um reine Show-Veranstaltungen handelt. Es erfordert ein genaues und aufmerksames Hinsehen, Verständnis der größeren Zusammenhänge sowie ein abstrahierendes Wertungsvermögen, um zu erkennen, daß sich die Akteure nicht gegenseitig verletzen. Zu dem Eindruck, es handele sich um einen echten Kampf, trägt – neben der Mimik und Gestik der Akteure – auch die überhaupt nicht kindgerechte Moderation bei.« Damit war die Sendung wieder in die Nachtstunden verbannt.
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Feuer und Finderlohn Ein flammendes Inferno sollte die Rache sein Nach der Wende schien das Geld im Osten auf der Straße zu liegen, man brauchte es nur aufzuheben. ›Freie Bahn dem Tüchtigen, wer nichts wagt, der nichts gewinnt!‹ Der Verlust des Arbeitsplatzes war noch keine Tragödie wie heutzutage, weil das eigene Unternehmertum lockte. Wie Pilze schossen Imbißbuden aus dem Boden, rollten Fleischer- und Bäckerwagen über die Lande, entstanden mobile Blumen- und Bekleidungsstände. Eine Weile lang lief alles prächtig, nämlich so lange, wie Umsatzsteuer und Gebühren noch Fremdworte für die Jungkapitalisten waren. Doch dann kam die Verwaltungsbürokratie allmählich aus den Schuhen. Es hagelte Antragsformulare, Fragebögen, Steuererklärungsanforderungen und so weiter. Plötzlich hielten Behörden, Banken und Kommunen ihre Hände auf, forderten Ratenzahlungen, Standmieten und Zuschüsse. Auch die Konkurrenz schlief nicht. So zeigte sich bald das Schreckgespenst des Konkurses. Die Zahl der mobilen Händler ging im selben Maße zurück, wie sich die Kunden an altölfetten Pommes frites und zerkochten Knackwürsten übergessen hatten. Hans und Evelyn waren knapp über vierzig und lebten zusammen, ohne miteinander verheiratet zu sein. Sie hatten ihre gesamten Ersparnisse geopfert, um sich ein Geschäft aufzubauen. Mit einem Grillhähnchenwagen fuhren sie von Volksfest zu Volksfest oder standen an belebten Straßenkreuzungen. Im ersten goldenen Jahr lief alles wie geschmiert. Hans dachte bereits über einen zweiten Wagen nach. Doch dann war der Umsatz rückläufig, aber die Ausgaben stiegen an. Was tun? ›Wer Sorgen hat, hat auch Likör‹, sagt das Sprichwort. Hans 74
schaute tief ins Glas, und Evelyn machte die Arbeit. Abends gab es meistens Krach. Besserung war nicht in Sicht. Eines Tages sagte Evelyn zu Hans: »Ich schlage vor, daß wir uns trennen. Das Geschäft ernährt uns beide nicht mehr, und du bist sowieso ständig besoffen. Deinen Anteil am Grill zahle ich dir in Raten zurück.« Hans stand mit seinen Koffern vor der Tür. Am nächsten Tag führte ihn sein erster Weg zum Arbeitsamt. Er wartete fünf Stunden. Dann schüttelte der Sachbearbeiter bedenklich den Kopf: »Dreiundvierzig Jahre alt, also knapp fünfzig – schwieriges Problem. Fragen Sie in drei Wochen noch mal nach – oder besser in fünf.« Aus dem dynamischen Jungunternehmer war ein beschäftigungsloses Wrack geworden. Einige Wochen lang tröstete er sich mit billigem Schnaps, spülte mit Bier aus Einwegflaschen nach und grübelte. Wer war schuld an seinem Elend? Eindeutig Evelyn! In seinem vernebelten Gehirn nahm ein perfider Plan Gestalt an: Rache und Vergeltung. Er schlich sich nachts zum Hähnchengrill und öffnete eine Verschlußkappe an der Propangasleitung. Als Stunden später die Ex-Lebensgefährtin mit dem Feuerzeug den Grill entzünden wollte, entstand eine Stichflamme, die zu einer Verpuffung des Gas-Luft-Gemisches führte. Beherzte Bürger retteten Evelyn in letzter Minute aus dem flammenden Inferno. Sie erlitt schwere Verbrennungen, das Fahrzeug fackelte völlig ab. Wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung und Herbeiführung einer Explosion wurde Hans zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Es fällt schwer, ihm irgendeine Form von Mitgefühl entgegenzubringen.
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Der Junge mit den Zündhölzern In jeder großen Familie gibt es schwarze Schafe, Verwandte, die völlig aus der Art geschlagen sind. Solange sie nur Anlaß zum Gerede geben, mag es noch angehen, denn es gibt Schlimmeres. Aber David, der Sohn eines (immer noch) gut betuchten Tierarztes, war solch ein Ausbund an Gemeinheit und Niedertracht, daß sich sein verzweifelter Vater immer wieder fragte, wer ihm wohl dieses Kuckucksei ins Nest gelegt haben mochte. David mußte in seinem jungen 17jährigen Leben mehrfach die Klasse und die Schule wechseln, wei es weder seine Mitschüler noch die Lehrer lange mit ihm aushielten. Beispielsweise goß er einmal seinem Banknachbarn Spezialklebstoff auf den Stuhl, der den ahnungslosen Jungen fast unlösbar mit dem Sitz verband. Ein anderes Mal schleuderte er einen schweren Atlas quer durch den Klassenraum und brach mit dem Geschoß einem Mädchen das Nasenbein. Nach der Schulentlassung fand er keine Lehrstelle, sein schlechter Ruf eilte ihm voraus. Dafür machte er reichlich Bekanntschaft mit der Polizei, gegen ihn liefen mehrere Ermittlungsverfahren. Im September lud Großvater Wilhelm die näherere Verwandtschaft zur Goldenen Hochzeit zu sich nach Hause ein. Etwa 30 Gäste kamen und amüsierten sich, wie man sich auf Goldenen Hochzeiten zu amüsieren pflegt: Sie erzählten altbekannte Geschichten aus längst vergangenen Zeiten, reichten zerknitterte Fotos und vergilbte Zeitungsausschnitte herum. David, im schwarzen Anzug mit Krawatte, schwankte ständig zwischen Wut und Langeweile. Der Zorn kam immer dann in ihm hoch, wenn über ihn gesprochen wurde, ansonsten ärgerte er sich über das belanglose Geschwafel der trüben Tassen ringsherum. Wie es auf solchen Festen ebenfalls üblich ist, wurde von den Anwesenden wesentlich mehr getrunken, als allen gut tat. Zu76
erst fiel Opa Willi aus. Mit tatkräftiger Hilfe seines Sohnes schwankte er die Treppen ins Obergeschoß hinauf, plumpste ins Bett und begann zu schnarchen. Unten im Wohnzimmer schoben die Gäste derweil die Stühle beiseite und begannen zu tanzen. Die Oma saß dabei und freute sich. Für David gab es nichts zu tun. Unter den Verwandten befand sich kein Jüngerer mehr, den er hätte drangsalieren können. Gegen 1.30 Uhr schlich David in die obere Etage, betrat das leere Schlafzimmer seiner Großmutter, nahm eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und zündete einen Morgenmantel an. Das synthetische Kleidungsstück brannte sofort lichterloh. David verließ den Raum und harrte dann unten der Dinge, die da kommen würden. Das Feuer breitete sich schnell aus. Dicker, schwarzer, beißender Rauch quoll durch das Haus. Harry, der zwölfjährige Enkel von Wilhelm, der in einem Raum neben dem Schlafzimmer seines Großvaters schlief, wurde wach und sprang in seiner Angst aus dem Fenster. Unter den Gästen breitete sich Panik aus. Sie rannten schreiend und gestikulierend auf die Straße. Nur der 22jährige Norbert nicht. Er wollte seinem Großvater sowie seinem Bruder Harry das Leben retten und stürzte die Stufen hinauf in den Qualm. Auf dem Flur der oberen Etage brach er bewußtlos zusammen und starb wenig später an den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung. Als die Feuerwehr eintraf und mit den Löscharbeiten begann, kam auch für Opa Wilhelm jede Hilfe zu spät. Lediglich Harry war mit dem Schrecken davongekommen: Bei seinem Sprung aus dem Fenster war er nicht in die Tiefe gestürzt, sondern auf das Vordach gefallen, von dem er unverletzt auf die Straße hinabklettern konnte. Nachdem die Löscharbeiten beendet waren, stellten die Fachleute sofort fest, daß nur Brandstiftung die Ursache für das furchtbare Unglück sein konnte. Der Verdacht fiel sehr schnell 77
auf David. In seiner ersten Vernehmung verwickelte er sich in Widersprüche und legte bald ein Geständnis ab. In der Gerichtsverhandlung hielt ihm das Gericht sein jugendliches Alter zugute. Unter Einbeziehung einer anderen Straftat erhielt er eine allzu milde Einheitsjugendstrafe von vier Jahren.
Kaputtes Trinkerhirn Alkoholiker sind bedauernswerte Menschen, die mit einer schweren Krankheit kämpfen und sich am Ende selber töten. Besonders tragisch wird es, wenn sie mit ihrer Trunksucht nicht nur sich, sondern auch noch andere ins Unglück stürzen. Harro ist so ein schwerer Trinker. Der Alkohol hat einen Großteil seiner Gehirnzellen vernichtet. Er lebt in einer Welt, die mit unserer nicht mehr allzuviel zu tun hat. In einer Februarnacht wankte er kurz vor drei Uhr morgens sturzbetrunken nach Hause. Er war auf einem mehrtägigen ›Fackelzug‹ gewesen, einer Wanderung durch mehrere Kneipen. 3,23 Promille wurden später bei ihm festgestellt, ein Quantum Sprit im Blut, bei dem jeder untrainierte Mensch im Koma liegt! Immerhin konnte der Suffke noch die Treppen zu seiner Dachgeschoßwohnung hochsteigen. Doch die Vorkorridortür war verschlossen. Gudrun, seine Lebensgefährtin, hatte ihn wieder mal ausgesperrt. Harro fackelte nicht lange. Er hob ein Bein, trat ein Brett aus der Tür, griff durch die Öffnung und drehte den Schlüssel herum. Dann blieb er unschlüssig stehen. Er hatte plötzlich Angst vor den harten Knöcheln seiner Lebensgefährtin. Harro beschloß deshalb – er wohnte in keiner besonders feinen Gegend, wie seine kurze Biographie vermuten ließ –, in einer leeren Wohnung in der zweiten Etage zu nächtigen. Aber irgend jemand hatte den Zugang verstellt. Was nun? Ein irrwitziger Gedanke, wie er nur im kaputten Gehirn eines Trinkers entstehen kann, fuhr durch seinen Kopf: 78
Sicherungen herausschrauben, dann würde Gudrun herauskommen, um nach dem Sicherungskasten zu sehen, und er könnte um gut Wetter bitten. Mit seinen zittrigen Fingern vermochte er im Keller die Sicherungen nicht herauszudrehen. Um sie zu lockern, goß er etwas Verdünnung in den Sicherungskasten. Nichts passierte. Da stieg in Harro plötzlich Wut auf seine Lebensgefährtin hoch. In seiner Trinkerlogik machte er sie für sein Herumirren im Haus verantwortlich. Dafür wollte er sie nun bestrafen. Er kippte Verdünnung auf die Treppe, zündete Zeitungen an und schleuderte sie auf die Stufen. Die Flammen loderten, die Holztreppe begann zu brennen. Einen anderen Ausgang gab es nicht. Als die Feuerwehr kam, konnte sie nicht mehr helfen. Grelle Schreie tönten durch die Nacht. Gudrun und ihre Tochter verbrannten bei lebendigem Leibe. Für Harro gab es keinen Pardon. Wegen Doppelmordes in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung wurde er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ungewollt hatte ihm das Gericht damit das Leben gerettet; denn in der Haftanstalt kann er nun seine Alkoholkrankheit bekämpfen. Glücklicherweise legte Harro keine Berufung ein. In der nächsten Instanz hätten die Richter nämlich den Trunkenheitsgrad berücksichtigen und eine wesentlich mildere Strafe aussprechen müssen.
Der Überfall der Stammtischrunde Wilfried war ein angesehener und beliebter Mann im Dorf. Sein Wort galt etwas, und jedermann mochte sein Freund sein: Dem dicken Willi gehörte der Lindenkrug. Doch damit nicht genug. Er war sein bester Gast, und wenn er gute Laune hatte, schmiß er eine Lokalrunde nach der anderen. Oder gab Kredit, 79
schrieb an. Die Kasse bleibt jedenfalls allzuoft gähnend leer. Aus lauter Verzweiflung pflegte sich Willi dann ein, zwei Gläschen zu genehmigen, und langsam färbten sich danach die grauen, trüben Aussichten mit fröhlich rosa Hoffnungswölkchen. »Heut mach’ ich ernst. Heut muß jeder seine Schulden zahlen«, dröhnte bald darauf sein tiefer Baß durch die gefüllte Gaststube. Die Zecher duckten sich, ihre Köpfe verschwanden zwischen den Bierkrügen. Dann gab einer einen aus, und alles war wieder gut. Bis zum nächsten Morgen … So ging die Zeit ins Land. Bis eines Abends auch der Klare die schwarzen Sorgen nicht mehr vertreiben konnte. »Ich bin völlig pleite«, gestand Wilfried dem Schmied, einem Stammgast. »Die Brauerei liefert kein Bier mehr, der Schnaps ist fast alle, der Strom soll abgestellt werden, und das Finanzamt droht mit dem Vollstrecker.« »Teufel noch eins. Ich bin selber ziemlich klamm. Fünfzig Mark könnte ich dir geben, aber die werden nicht viel nützen, oder?« »Ich habe einen Plan«, raunte Willi mit gesenkter Stimme, und dann steckten sechs Männer am Tisch ihre Köpfe zusammen. Völlig entgegen seiner Gewohnheit trank Wilfried an diesem Abend keinen Alkohol mehr. Um 23 Uhr schloß er überraschend das Lokal, stieg in seinen klapprigen Lieferwagen und fuhr in die Stadt, wo er zum ersten Mai in seinem Leben eine Diskothek besuchte. Dort starrten die schwarz gekleideten Jugendlichen mit modischen Kurzhaarfrisuren verblüfft auf den großen, dicken Mann mit Lederschürze und kariertem Hemd. Doch auch die aggressivsten Glatzen wagten nichts zu sagen im Hinblick auf seine bratpfannengroßen Hände. Nach zwei Stunden, einem Päckchen Zigaretten und vier Gläsern Mineralwasser hielt es Willi nicht länger bei dem ohrenbetäubenden Lärm in der grellbunten Katakombe aus. Als er nach Hause kam, rollte die freiwillige Feuerwehr gera80
de die Schläuche ein. Böse Buben hatten Willis Abwesenheit genutzt, um den Lindenkrug zu überfallen, auszurauben und anschließend anzuzünden. Das gesamte Inventar war verbrannt. Das Haus konnte gerettet werden. Ein anonymer Anrufer hatte die Feuerwehr noch rechtzeitig alarmiert. »Merkwürdige Zufälle gibt es«, meinte der dünne, grau gekleidete Versicherungsvertreter, als er Willi einen Vorschuß in Form eines dicken Bündels Tausend-DM-Scheine in die Hand drückte. Der Kriminalpolizei waren es einige Zufälle zuviel. Die Beamten schnüffelten hier, schnüffelten da, verhörten ausgiebig die fünf Männer vom Stammtisch, und bald war es heraus: Die Bierpichler hatten die Kneipe unter Leitung des Schmieds heiß abgerissen! Wilfried kam vor Gericht. Wegen versuchter schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit versuchtem Versicherungsbetrug wurde er zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Aus einem großen Problem war ein ganz großes geworden. Adieu, du schöner Lindenkrug. Statt seiner klaren Schnäpse trinkt Wilfried jetzt Muckefuck aus der Blechtasse.
Undank Rüdiger war früher Vorsitzender einer LPG-Tierproduktion gewesen. Von den ehemaligen Mitgliedern sind nur noch zwei Übriggeblieben: er und sein Hauptbuchhalter Frieso. Die LPG heißt jetzt MTS-GmbH und verfügt über zwei Standbeine. Zum einen vermietet sie ehemalige Lagerhallen an neugegründete Gewerbebetriebe, zum anderen verleiht sie Fahrzeuge aller Art – vom Traktor bis zum Lkw. Anfangs betrieben Rüdiger und Frieso den Fahrzeugverleih mit billig übernommenen Anhängern und Zugmaschinen der einstigen LPG und aus einem aufgelösten Stasi-Stützpunkt. Im Laufe der Zeit wurde fleißig in81
vestiert. Reichtümer kann Rüdiger damit zwar nicht erwerben, doch er hat sein Auskommen. Im Dorf gibt es trotzdem böses Blut. Zum einen, weil die Arbeitslosigkeit unter den vormaligen LPG-Mitgliedern sehr hoch ist, zum anderen, weil die Mietwagen am Straßenrand stehen und das Ortsbild verschandeln – so wird jedenfalls gesagt. Eines morgens bekam Rüdiger einen großen Schreck: Ein Pkw vom Typ Transporter-Pritschenwagen war verschwunden. Rüdiger ging zur Polizei. Die versprach, alles zu tun. Und heftete die Anzeige ordnungsgemäß ab. Vierzehn Tage passierte gar nichts, still ruhte der See. Dann erhielt Rüdiger einen Anruf aus der Kreisstadt. Am Telefon meldete sich Rentner Willbrecht mit einer erfreulichen Nachricht: Der vermißte Lieferwagen stand vor dem Bahnhof. Der Leihwagen war Willbrecht durch die weiß-blaue Beschriftung aufgefallen. »Vielen Dank, guter Mann«, rief Rüdiger hocherfreut. »Ich werde Sie reich entlohnen. Bitte verständigen Sie die Polizei, damit mir mein Auto zurückgebracht werden kann.« Rentner Willbrecht ging tatsächlich zur nächsten Polizeiwache und meldete seinen Fund. Am Nachmittag kam ein Abschleppwagen zur MTS-GmbH getuckert, am Haken hing der Transporter. Alle Türen waren sorgfältig verschlossen. »Der Täter kann nur ein schlechter Kunde gewesen sein, der sich heimlich einen Nachschlüssel anfertigen ließ«, dachte sich Rüdiger. Rentner Willbrecht wartete unterdessen auf Finderlohn – einen Präsentkorb, einen Scheck, einen warmen Händedruck von Rüdiger. Doch für den war die Sache längst erledigt. Er hatte seinen Dank am Telefon geäußert und nun anderes zu tun, als sich mit Kalkleisten abzugeben. Als Willbrecht nachfragte, knallte Rüdiger den Hörer auf die Gabel: »Macht eine Staatsaktion aus der kleinen Sache, der alte Sack!« Daraufhin schrieb Willbrecht einen Brief und forderte 770 82
DM Finderlohn. Rüdiger verstand die Welt nicht mehr vor soviel Frechheit. Knapp acht Scheine für nichts und wieder nichts. Schließlich reichte Willbrecht Klage ein. Der Richter zupfte sich ein borstiges Haar aus dem linken Nasenloch. »Das ist doch eine klare Sache«, meinte er und deutete auf das Bürgerliche Gesetzbuch. Der Neuwert des Transporters betrug 35 000 DM, der Zeitwert nicht unter 25 000 DM. Nach 971 BGB hat der Finder einen Finderlohn in Höhe von drei Prozent, bezogen auf mindestens 24 000 DM, und in Höhe von fünf Prozent, bezogen auf 1 000 DM, zu bekommen. »Dem Kläger steht gegen den Beklagten Finderlohn in Höhe von 770 DM zu«, lautete der Richterspruch.
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3. Kapitel Freispruch, Garantie, Gaststätten, Geiselnahme Boxergang gegen Nachtbar Egbert lebte in einer sächsischen Kleinstadt und arbeitete vor der Wende in einer Konsum-Klubgaststätte als Buchhalter. 1990 wurde er arbeitslos. Er absolvierte zwar einen Computerlehrgang und einen Kursus für Betriebswirtschaft, aber seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt waren gleich Null. Als auch Egberts Frau arbeitslos wurde und die Miete zum wiederholten Mal stieg, kaufte er sich zwei Flaschen Moskovskaja-Wodka, steckte sich ein paar Hundertmarkscheine ins Portemonnaie und fuhr hinaus in die Vorstadt zum Kasernenviertel. Er besuchte Boris, einen alten Bekannten, aß mit ihm Speck und Brot und trank den Wodka aus Wassergläsern. Der Oberleutnant trug bereits den Marschbefehl, zurück nach Rußland, in der Tasche. Nach der ersten Flasche Wodka umarmten sich die Männer, später schlossen sie einen Handel: Egbert kaufte Boris eine Pistole Makarov nebst Reservemagazin ab. Zu Hause steckte sich Egbert die Pistole in den Mund und drückte ab. Es klickte metallisch. Er hatte vergessen, den Sicherungsbügel herunterzudrücken. Die Waffe entglitt seiner Hand. Er war in tiefen Alkoholrausch gefallen. Ein Jahr später eröffnete Egbert die ›Rote Mühle‹, seine eigene Nachtbar. Er hatte dem Konsum eine heruntergekommene Kneipe abgeschwatzt, war von Pontius zu Pilatus gelaufen, um die nötigen Kredite aufzutreiben. Das Geschäft lief müde an, aber Egbert gab nicht auf. Kurz nachdem er die ersten schwarzen Zahlen schreiben konnte, kamen die Boxer. Das war eine Gruppe von fünf, sechs arbeitslosen Männern Anfang zwanzig, die sich abends mit Prügeleien vergnügten. Egbert sprach den 84
Boxern Hausverbot aus, die Schläger hielten sich nicht daran. Ganz im Gegenteil: An einem Abend würgte einer der Rowdys sogar Egberts Frau. Egbert erstattete Strafanzeige und forderte Polizeischutz. Der Beamte kratzte sich verlegen mit einem Bleistift hinter dem Ohr … An einem Tag Mitte Mai klopfte es nachts um eins an die Tür der Nachtbar. Ein aufgeregter Taxifahrer rief, die Schläger hätten eine nahe gelegene Diskothek verwüstet, nun seien sie hierher unterwegs. Wenig später standen die üblen Gestalten der Boxer vor der Tür. Mit schweren, genagelten Stiefeln traten sie die Tür ein, drei Banditen stürmten in das Foyer. Der Rest der Bande wartete auf der Straße. Egbert zog die Makarov aus der Hosentasche, legte diesmal den Sicherungsbügel herum und schrie: »Raus aus meinem Lokal!« Anschließend schoß er und verletzte Sebo, einen der drei Ganoven, lebensgefährlich. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen Egbert. Das Landgericht verneinte Notwehr, weil »der Hausfriedensbruch weder ein gegenwärtiger noch ein unmittelbar bevorstehender Angriff auf die Person des Angeklagten gewesen sei. Das Eindringen in die Bar sollte nur als Lageerkundung dienen, während das eigentliche ›Rollkommando‹ noch vor der Tür wartete. Zur Abwehr des Hausfriedensbruchs sei der gezielte Schuß nicht erforderlich gewesen.« Außerdem habe es Egbert unterlassen, die Polizei zu alarmieren. Er hätte auch die Flucht ergreifen können, als die Tür in Stücke ging. Der von den Verbrechern Heimgesuchte wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Nicht der Angreifer, sondern der Überfallene ist also schuldig! Doch Egbert ging in Revision. Der Bundesgerichtshof entschied zu seinen Gunsten. Für ihn war nicht nur der Hausfriedensbruch, sondern Leib und Leben bedroht. Der Strafausspruch wurde aufgehoben. Wegen des unerlaubten Waffenbesitzes wird sich Egbert allerdings noch verantworten müssen. 85
Es geht um die Wurst Ilona fuhr mit dem Fahrrad durch den Park, als ihr plötzlich ein streunender Schäferhund in das Vorderrad geriet. Ilona schoß einen bühnenreifen Salto mortale in das nächste Gebüsch. Bei dem Sturz zerriß sie sich Hose und Anorak, ihre Designerbrille zerbrach, und das nagelneue Funktelefon gab seinen Geist auf. Sie selbst hatte Abschürfungen an Knie und Händen davongetragen, und das Hollandrad besaß nur noch Schrottwert. Alles in allem – Schadensersatz und Schmerzensgeld – kamen Kosten in Höhe von rund 3 000 DM zusammen. Dem unfallverursachenden Hund war wunderbarerweise nichts passiert. Die Versicherung des Hundehalters fand das zunächst nur merkwürdig. Dann entdeckten die cleveren Schadensregulierer, daß Herrchen Horst ein guter Bekannter von Ilona war. »Versuchter Versicherungsbetrug!« lautete der harte Vorwurf. »Die radelnde Dame hat nicht aufgepaßt und ist gegen eine Parkbank oder einen Betonpapierkorb gefahren. Der Hund kam erst angehechelt, als das Unglück längst geschehen war.« Die Versicherung weigerte sich zu zahlen und erstattete Strafanzeige. Die Akte landete auf dem Tisch eines eifrigen Staatsanwalts, der Ilona auch eilfertig vor die Schranken des Gerichts zitierte. Da es für den Unfall keinen Zeugen (außer dem Hund) gab, ließ er den Unfall mit Hilfe eines Schweinedummys (also einer Attrappe) nachstellen und kam zu dem Ergebnis, daß er sich so, wie behauptet, nie und nimmer hätte zutragen können. Ilonas Verteidiger lächelte nur müde. »Hohes Gericht«, hob er an, »ich glaube, mein Schwein pfeift. Wenn der Test überhaupt einen Sinn haben soll, dann nur mit einem Hundedummy.« Das Gericht vertagte sich, und der Anwalt ließ von einem Fachmann einen Hundedummy anfertigen. Als Modell saß der unfallverursachende Schäferhund, er mußte fotografiert, gemessen und gewogen werden. Um den Vierbeiner bei guter Laune zu halten, bekam er eine leckere Wurst spendiert. 86
Der zweite Versuch mit dem Hundedummy bestätigte Ilonas Variante. Sie wurde freigesprochen, und die zähneknirschende Versicherung mußte die geforderten 3 000 DM herausrücken. Trotzdem ging es nun erst richtig um die Wurst. Ilonas Verteidiger rechnete nämlich als notwendige Ausgaben auch 16,19 DM für Hundefutter ab. Doch das Gericht weigerte sich, ihm diese Kosten aus der Staatskasse zu ersetzen: »Die angemeldeten Auslagen für die Fleischwurst sind nicht notwendig, da nicht kostengünstig verfahren wurde. Wenn der Hund im Sachverständigenbüro für Vermessungsarbeiten ruhig gestellt werden mußte, hätte zum Erreichen dieses Zweckes ein einfaches Tierfutterpräparat wie z. B. Hundekuchen oder eine Packung Schmackos (12 Riegel), Geschmacksrichtung Rind, Kostenpunkt 2,79 DM, genügt.« Bekam der Anwalt nun wenigstens 2,79 DM ersetzt? Mitnichten, denn dafür hatte er keinen Beleg.
Totale Mattscheibe oder Innovation für die Zukunft In Deutschland herrscht bekanntlich an drei von vier Tagen schlechtes Wetter: Es stürmt, windet, regnet, hagelt, nieselt, graupelt oder schneit. Trotzdem kaufen sich wahnsinnig viele Leute Kabrioletts oder Miniflitzer mit Schiebedach, so als ob morgen das Autofahren verboten würde. Eberhard ist da ganz anders. Als bodenstämmiger Typ mit Gesundheitsschuhen und ausgebeulten Kordhosen legt er Wert auf ganz andere Ausstattungsmerkmale. Er erwarb der Bequemlichkeit zuliebe einen Renault Laguna mit Frontscheibenheizung, getreu dem Slogan: Innovation für die Zukunft. Einen Winter lang war er der König vor seinem Neubaublock. Mit stolzgeschwellter Brust stieg er in seinen weißbemützten Pkw und drückte ein winziges Knöpfchen, währenddessen die neidischen Nachbarn mit Schabern, Sprays, dampfenden Was87
sertöpfen, steifen Plastikfolien und angefrorenen Tageszeitungen hantierten. Doch dann im nächsten Jahr, o Schreck, o Graus, brannte knicke-knacke ein dünnes Drähtchen nach dem anderen durch. Die klare Sicht auf die weiße Winterlandschaft in Eberhards Komfortchaise wurde durch eine Mattscheibe getrübt, in deren Mitte lediglich ein schmaler Sehschlitz nach guter alter Panzerspähwagenart den Durchblick ermöglichte. Eberhard ließ sich von den hämischen Blicken seiner eiskratzenden Nachbarn nicht verdrießen, er hatte nämlich – Vertrauen in den filigranen französischen Fahrzeugbau hin, Vertrauen in die tolle Thermo-Technik her – gleich damals beim Abschluß des Autokaufvertrages einen Kontrakt über eine Renault-Plus-Garantie unterzeichnet. Doch der freundliche Renault-Händler schaute sehr mürrisch, als er sprach: »Schäden an Scheiben sind nicht abgedeckt.« Eberhard entgegnete: »Nicht doch, guter Mann. Das Glas ist einwandtutti. Nur mit der Elektrik gibt es Problemchen.« Doch der Werkstattonkel winkte wehmütig ab: »Nur Bares ist Wahres.« Eberhard gab sich damit nicht zufrieden und schrieb an den Hersteller persönlich. Die Deutsche Renault AG sandte ihm freundliche Grüße. Nun reichte Eberhard Klage gegen die Renault AG ein. In der Autoschmiede waren von Zukunftstechnologien berauschte Ingenieure am Werk, die in ihrer Klageerwiderung zu der verblüffenden Erkenntnis kamen: »Ein Garantiefall nach Ziff.5 Typ 4 ›elektrische Anlage‹ des Renault-Plus-Garantie-Vertrages ist nicht gegeben. Bei der Frontscheibenheizung handelt es sich nicht um eine elektrische Anlage. Elektrische Anlagen sind Maschinen, die zum Betrieb des Kraftfahrzeugs erforderlich sind …« Eberhard wunderte sich. Wie mochte eine Frontscheibenheizung funktionieren (wenn sie denn funktionierte)? Mittels tele88
pathischer Fähigkeiten, Sonnenenergie, kosmischer Strahlen – oder durch das Magnum Arcanum, den Stein der Weisen? Der Richter rätselte nicht lange, sondern urteilte: »Gerade wenn die Beklagte bei dem gegebenen Fahrzeugtyp eine zusätzliche Garantie übernimmt, durfte der Kläger darauf vertrauen, daß die gesamte elektrische Anlage mit Ausnahme der ausdrücklich genannten Ausschlüsse unter die Garantie fällt. Dies gilt insbesondere deshalb, da eine elektrisch betriebene Frontscheibenheizung durchaus als elektrische Anlage anzusehen ist.« Tjaja Renault, nichts ist unmöglich bei diesem guten Stern auf allen Straßen.
Suppen-Kaspars Leid und Pustekuchen Im Struwwelpeter, dem bekanntesten deutschen Kinderbuch, wird das grausige Schicksal eines jugendlichen Gourmets beschrieben, den es nach allem Möglichen gelüstet, nur nicht nach profanen Suppen. Das rasche Ende des Kostverächters ist bekannt: »Nein, meine Suppe eß ich nicht!« ruft der SuppenKaspar entrüstet, magert darüber zu einem Strich ab und stirbt. Karl Valentin, der berühmte Komiker, machte einen Sketch daraus. Seine Frau kredenzte ihm eine leckere Suppe. Aber Valentin schob den dampfenden Teller entrüstet von sich. »Die Suppe ist zu heiß«, nörgelte er so lange, bis sie zu kalt geworden war. Doch manchmal wird die Fiktion von der Realität eingeholt. Lutz, ein korpulenter Mittvierziger, besuchte an einem (für ihn) schlechten Wochenende gemeinsam mit seiner Gattin Siegmunde den ›Güldenen Tannenzapfen‹, ein exquisites Speiserestaurant. Dort kommen auf jeden Gast zwei Kellner, und für dekorative Miniaturportionen müssen große Scheine hingeblättert werden. An diesem Abend stand Wild auf der pergamente89
nen Karte. Lutz entschied sich für das Menü: als Vorspeise ›Consomme aux Morilles‹ (Wildsuppe mit Morcheln), als Zwischengericht ›Cailles Roties‹ (gebratene Wachteln), als Hauptgang ›Escalopes de Chevreuil a la Chasseur‹ (Rehsteaks an Reisrand) und zum Dessert ›Glace aux Framboises‹ (Himbeereis). Dazu orderte Lutz, ganz der Mann von Welt, einen trokkenen französischen Landwein. Vielleicht lag es am zwar stilvollen, aber lichtschwachen Kerzenschein, vielleicht hätte Lutz doch nicht zwei Schoppen Roten auf nüchternen Magen kippen sollen. So entging ihm zu seinem Leidwesen, daß ihm aus der klaren Consomme mehrere Fettaugen verführerisch zublinzelten. Lutz hob den silbernen Löffel zum Mund, schluckte – und fing mörderisch zu schreien an. Er hatte sich mit der kochendheißen Suppe Lippen, Zunge und den Schlund verbrüht. Lutz gurgelte eine Karaffe Mineralwasser hinterher – es half nichts. Der Abend war gelaufen. Zu Hause lag Lutz leidend auf dem Sofa und sah sich leise stöhnend eine bunte Reportagesendung im Fernsehen an. Plötzlich zuckte er zusammen. In einem Filmbericht aus den USA wurde vermeldet, daß sich eine Dame in einem Restaurant mit zu heißem Kaffee den Mund verbrüht und dafür vor Gericht 50 000 Dollar Schmerzensgeld erstritten hatte. »Von den Amerikanern lernen heißt siegen lernen«, dachte sich Lutz und verklagte am nächsten Tag den Wirt vom ›Güldenen Tannenzapfen‹. Allerdings gab er sich viel bescheidener als die Lady in der Neuen Welt, er verlangte lediglich 5 000 DM. Auf unseren Straßen herrschen zwar schon vielfach amerikanische Verhältnisse, nicht aber im Gerichtssaal. Die Klage wurde abgewiesen: »Wer eine Suppe bestellt, weiß, daß er ein Heißgericht serviert bekommt. Der Kläger hätte leicht erkennen können, daß die Suppe nur mit Vorsicht zu genießen war, denn aufsteigender Dampf kündigt gewöhnlich eine hohe Temperatur an. Die Suppe trug quasi das Gefahrensignal be90
reits in sich. Ein weiterer Hinweis war überflüssig«, murmelte der Richter leicht verkrampft, denn seine Prothese machte ihm gar arg zu schaffen. Später, in der Kantine, entschied sich der Mann der Gesetze deshalb gegen ein zähes Schnitzel und für eine ›Potage du Lait a L’orge Monde‹ (Milchsuppe mit Graupen) nebst Pustekuchen.
Das gebrochene Ehrenwort des Richters Friedbert ist ein Kerl wie ein Schrank: 1,95 Meter groß, mit Pranken wie Schaufeln, breitem Kreuz und muskulösem Stiernacken. Erträgt am liebsten schwarze Ledersachen, Cowboystiefel und Schirmmützen. Sein gezwirbelter Schnurrbart geht in einen dichten Backenbart über. Friedbert ist nicht der Mensch, den man zum Feind haben möchte. Einmal hatte er Pech bei einer Schlägerei. Während er zwei chancenlosen Raufbolden volle Kellen austeilte, schlich sich ein weiterer Gegner heimtückisch von hinten an und zog ihm eine volle Sektflasche über den Schädel. Friedbert wurde bewußtlos und fiel eine Betontreppe hinunter. Sechsmal schlug sein Kopf auf den Stufen auf. Zur Erinnerung leuchten die Narben feuerrot auf seiner Stirn. Seitdem ist Friedbert nicht mehr derselbe. Er leidet an einer hirnorganischen Wesensveränderung. Die Folgen sind Vergeßlichkeit, häufig starke Kopfschmerzen und Bewußtseinsaussetzer. Der Alltag überfordert ihn. Er kann sich kaum um die einfachsten Dinge kümmern. Häufig bekommt er von Behörden Briefe, die er nicht versteht. Manchmal wird er von der Polizei abgeholt. Dann muß Friedbert auf Fragen antworten, die für ihn keinen Sinn ergeben. Er ist verzweifelt. Farben, Gesichter, Formen zerfließen, bilden einen Strudel. Niemand kann ihm helfen.
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An einem Morgen herrschte eine überraschende Klarheit in Friedberts Kopf. Nun wußte er, was er zu tun hatte. Er steckte sich eine Pistole und eine Handgranate in die Tasche. Dann ging er zum Gerichtsgebäude und klopfte beim Richter Axel an die Tür. Die beiden kannten sich schon seit vielen Jahren. Friedbert hatte mehrere Geld- und Bewährungsstrafen wegen seiner häufigen Schlägereien kassiert. Im Richterzimmer zog Friedbert die Pistole aus der Tasche und legte die Handgranate auf den Tisch. »Schwarzrock, ein Muckser, und ich mach dir alle. Ich brauche Hilfe. Die Bürokraten machen mir fertig. Du bist ein Studierter. Schreib Briefe, sie sollen mir in Ruhe lassen.« Nach dieser langen Rede wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Wirste mir helfen?« Axel schluckte mehrmals, verkrampfte die Hände vor sich auf der Schreibtischplatte und nickte dann wortlos. »Wenn ich die Knarre einstecke, schreiste dann um Hilfe?« Axel wackelte mit dem Kopf. »Oder wirste mir später verpfeifen?« Der Richter schien von einer Art Schüttellähmung befallen zu sein. »Großes Richterehrenwort?« Axel hob die rechte Hand und stammelte: »Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe.« »An die Arbeit«, befahl Friedbert. Axel nahm einen Kugelschreiber in die Hand und ließ die Spitze über das Papier flitzen. Nach einer Stunde stand Friedbert auf und steckte die Handgranate ein. »Nichts für ungut, Euer Ehren. Ich verlaß mir auf das Versprechen.« Bereits vor dem Gerichtsgebäude wurde Friedbert von mehreren Polizisten überwältigt. Der Richter hatte sein Wort gebrochen. Friedbert wurde »wegen Geiselnahme in Tateinheit mit unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine 92
Kriegswaffe und in Tateinheit mit Führen einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe« zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
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Geschwindigkeitsmessung, Gesellschaften, Graffiti Teure Anti-Blitz-Folie Der erstaunte Besucher in Schweden oder Kanada muß feststellen, daß es tatsächlich noch Länder auf dieser Welt gibt, in denen sich Kraftfahrer diszipliniert an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten und breite, autoleere Straßen, die bis zum Horizont führen, stundenlang mit Tempo 90 entlangschleichen. In Deutschland ist so etwas natürlich völlig undenkbar. ›Freie Fahrt für freie Bürger‹ lautet das Motto, und der Durchschnittsautofahrer scheint mit einem Bleifuß geboren worden zu sein. Doch die böse, böse Polizei hat etwas dagegen und stellt an Autobahnbaustellen, Ortseingangsschildern und unübersichtlichen Stellen heimtückische Radarfallen auf. Die meisten rasenden Autofahrer vertrauen auf ihren Schutzengel, den Verkehrsfunk und schlechte Fotoapparate, andere hängen sich silberne CD-Scheiben als Reflektoren an den Spiegel, kleben Laub an die Nummernschilder oder schalten illegale Radarwarngeräte ein. Arnulf hatte sich im Ausland ein anderes Wunder menschlichen Erfindungsgeistes gekauft: Eine hauchdünne durchsichtige Folie, die er auf seine Nummernschilder zog. Dem normalen Betrachter fällt sie nicht auf, aber sie wirkt reflektierend und macht beim Blitzen die Identifizierung des Fahrzeugs auf dem Kontrollfoto unmöglich. Arnulf hatte aber doppeltes Pech, als er frei wie ein Vogel eine fünfziger Strecke mit neunzig Sachen entlangpreschte. Er wurde geblitzt und anschließend von der Polizei angehalten. Ein Beamter polkte mit dem Daumennagel die Folie vom Kennzeichen, und einige Wochen später fand sich Arnulf vor dem Richterstuhl wieder. 94
Das Gericht wertete den mißglückten Trick als Urkundenfälschung und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 4 000 DM. »Das amtliche Kennzeichen stellt eine öffentliche Urkunde dar«, drohte der Richter mit dem Finger. »Durch das Anbringen des Dienststempels beurkundet die Zulassungsstelle, daß das Kennzeichen den Vorschriften entspricht und uneingeschränkt lesbar ist. Mit der Täuschung hat der Angeklagte versucht, die Ermittlung seiner Personalien nach einer Radarkontrolle unmöglich zu machen. Er kann sich nicht damit herausreden, nicht an eine Urkundenfälschung gedacht zu haben. Hätte er rechtlichen Rat eingeholt, wäre ihm das Unrecht seines Tuns nicht verborgen geblieben.« Der Topf geht eben so lange zum Wasser, bis er bricht, denn für jeden Topf findet sich ein Deckel, sprich ein passendes Gesetz. Diese Erfahrung mußte auch Schorsch machen, der eine ganz andere Variante des Umgangs mit Geschwindigkeitsmessungen entwickelt hatte: Er fuhr mit seinem Auto umher, richtete prüfende Blicke auf die Straßenränder, und wenn er eine Radarfalle entdeckte, stellte er sich fünfzig Meter davor mit einer Papptafel auf, die die Aufschrift ›Achtung, Radar‹ trug. Das Gericht untersagte ihm dieses Tun: »Die Warnungen beeinträchtigen die ordnungsgemäße Durchführung der Verkehrsüberwachung und fördern keineswegs die Verkehrssicherheit. Verdeckte Kontrollen sollen Kraftfahrer abschrecken, die mit überhöhter Geschwindigkeit fahren.« »Aber, Euer Ehren«, wandte Schorsch ein, »an vielen Orten stehen offizielle Schilder mit der Aufschrift ›Radarkontrolle‹.« Der Richter schüttelte den Kopf. »Behördliche Hinweise stellen eine Ausnahme dar. Sie sind dazu gedacht, Unfallschwerpunkte gezielt zu bekämpfen.« Wenn zwei dasselbe tun, ist es noch lange nicht das gleiche.
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Umstrittene Raserei nach Mitternacht ›Dunkel war’s, der Mond schien helle, als ein Auto blitzesschnelle langsam um die Ecke fuhr‹, lauten die ersten Zeilen eines Scherzgedichtes. Seinen tieferen Sinngehalt werden all jene Bürger unseres Landes, die motorisiert auf den Straßen unterwegs sind, spätestens dann verstehen, wenn sie wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung Ärger bekommen. Problematisch wird es, wenn Beweismittel nicht zur Verfügung stehen. Doch die Gerichte sind da nicht zimperlich. So gibt es einen Fall, bei dem der an einer Straßenecke stehende Polizist die Geschwindigkeit eines vorbeibrausenden Autos schätzte und der Kraftfahrer aufgrund dieser gewiß sehr zweifelhaften Aussage verurteilt wurde! Der Richter meinte in seiner Begründung: »Der Zeuge hat eine langjährige Berufserfahrung, die ihn dazu befähigt, die Geschwindigkeit genau zu schätzen. Außerdem war der betreffende Pkw so stark motorisiert, daß er mühelos diese Geschwindigkeit fahren konnte.« Musiker Siegfried hat einen nicht ganz so großen Schlitten. Einmal fuhr er nach einem langen Arbeitstag gegen zwei Uhr in der Nacht nach Hause. Die Straßen waren wie leergefegt. Kurz vor der Stadtgrenze überholte Siegfried zwei andere Autos. Als er an einer Ampel halten mußte, stoppten die Fahrzeuge hinter ihm. Aus dem einen Pkw sprangen zwei Polizisten in Zivil heraus und meinten zu Siegfried: »Die Papiere bitte! Sie sind 130 km/h gefahren.« Einen knappen Monat später erhielt Siegfried einen Bußgeldbescheid zugestellt, in dem vermerkt stand, daß er (abzüglich einer Toleranz von 20 Prozent) 104 km/h gefahren sei und damit 54 Kilometer schneller, als es die Polizei erlaubt. Dafür sollte er 300 DM berappen und vier Punkte im Flensburger Verkehrszentralregister bekommen. Das Geld schmerzte Siegfried nicht so sehr, aber die vier Punkte wollten ihm ganz und 96
gar nicht gefallen. Als Musiker war er auf seinen Führerschein angewiesen, und wo sich bereits vier Punkte befinden, kommen schnell noch weitere hinzu. Siegfried legte Einspruch ein. Die Polizisten sagten vor Gericht aus, sie hätten mehrfach auf den Tachometer geschaut und eindeutig 130 km/h feststellen können. Siegfried wandte ein, es sei Nacht gewesen und der Abstand zwischen den Autos viel zu groß. Außerdem wären sie um Kurven gefahren, und das zweite Auto habe teilweise die Sicht verdeckt. 80 km/h würde er freiwillig einräumen, doch niemals 130 km/h. Sein Auto sei ein alter rostiger Klapperkasten, der jeden Moment auseinanderzufallen drohe. Der Richter war wohl ein Musikliebhaber. »In Anbetracht der teilweisen schlechten Sichtverhältnisse ist von einer Toleranz in Höhe von 30 Prozent auszugehen. Damit kommen wir auf 91 km/h, und dafür ist ein Geldbetrag in Höhe von 300 DM angemessen.« Also keine Punkte nach alter Tabelle. Siegfried fiel ein Stein vom Herzen, die bösen Punkte war er los. Die Polizisten machten grimmige Gesichter. Ab sofort gehen sie nur noch mit Fotoapparaten und Videokameras auf Raserjagd: ›Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft ...‹ Im sogenannten Dudelfunk – das sind jene Radiosender, in denen die Moderatoren sagen können, was sie wollen, vorausgesetzt, es hat keinen Sinn, und wo junge Damen freudestrahlend mit glucksenden Stimmen von Vollsperrungen auf Autobahnen und herannahenden Unwettern berichten – wird alle naselang vor Radarkontrollen gewarnt. Selbst seriöse Tageszeitungen drucken sogenannte Blitzpläne ab. Die Verkehrspsychologen kommen über den Nährwert dieser Mode ins Streiten, viele Autofahrer murmeln vor dem Einschlafen einem Gebet gleich: »Dienstag Radarfalle in der Lindenstraße« – nur die Polizei zieht eine lange Nase. 97
Doch dem menschlichen Erfindungsgeist sind keine Grenzen gesetzt, wie Gunnar erfahren mußte. Der junge Mann war Lehrling und stolzer Besitzer eines PS-starken, tiefergelegten japanischen Kleinwagens mit folienbeklebten Scheiben und röhrender Musikanlage, deren Wattzahl zur Beschallung eines mittleren Volksfestes ausreichen würde. An einem Sonntag im Mai fuhr Gunnar mit seiner Reisschüssel zum Parkplatz eines riesengroßen Einkaufszentrums, um sich dort mit weiteren jungen Menschen in anderen putzigen Autos zu treffen. Der Sammelplatz war günstig gewählt, da die freiheitlich-demokratische Grundordnung den verkaufsoffenen Sonntag damals noch nicht kannte und deshalb auf der flugplatzgroßen Betonfläche so viel Betrieb wie am Ostseestrand zu Weihnachten herrschte. Gunnar kurbelte die linke Scheibe herunter, legte noch ein paar Phon zu, rückte die Sonnenbrille grade und rollte lässig die Einfahrt hinein. Whupps, sprang ein grünes Männchen auf die Piste und hob die Kelle hoch. »Sie sind 35 km/h gefahren, obwohl hier nur zehn km/h erlaubt sind!« lautete der Tatvorwurf. »Noch einmal tappe ich nicht in eine solche Falle«, schwor sich Gunnar und installierte zwei Tage später ein Radarwarngerät in seinem Wagen. Das Ding funktionierte ausgezeichnet: An allen Tankstellen und vor jeder Bank begann es laut zu piepen. Dann geriet Gunnar in eine Verkehrskontrolle, das wachsame Auge des Gesetzes entdeckte den elektronischen Retter vor der Not und beschlagnahmte ihn kurzerhand. Großes Unheil drohte. Doch die Richter sind, wie wir alle wissen, nicht alle gleich. Diesmal neigte sich Justitias Waage zu Gunnar hin: »Die Beschlagnahme ist unzulässig. Der Autofahrer hat nicht gegen das Telekommunikationsgesetz verstoßen und unzulässig Nachrichten abgehört. Von einer Nachricht kann nur dann die Rede sein, wenn die Information von einem Sender ausgeht mit dem 98
Ziel, von einem Empfänger aufgenommen zu werden. Mit dem fraglichen Gerät können keine Inhalte wahrgenommen, sondern es kann nur festgestellt werden, ob ein in der Nähe befindliches Radargerät in Betrieb ist. Ein strafbares Abhören kommt also nicht in Betracht.« Gunnar seufzte tief und laut hörbar auf. Zum Abschluß erhielt er noch eine Warnung mit auf den Weg: »Das Betreiben eines Radarwarngerätes im Interesse der Verkehrssicherheit zu sanktionieren, wäre nach Ansicht des Gerichts wünschenswert. Aber das ist die Sache des Gesetzgebers, nicht des Gerichts.« Wenn ein solches Gesetz kommt, was macht dann der Dudelfunk? Wirbt er etwa mit dem Slogan: »Ab sofort null Informationen, rund um die Uhr«?
Krummes zwischen GmbH und Architekturbüro Bei GmbH haften die Gesellschaften (und damit auch die Gesellschafter) meistens nur in der Höhe des eingezahlten Stammkapitals. BGB-Gesellschafter hingegen haben in der Regel für alle Schulden und Verbindlichkeiten aufzukommen. Sie müssen also auch ihr Privates in der Schatulle unterm Bett angreifen. Aus diesem einfachen Grund ist die GmbH in Deutschland eine beliebte Gesellschaftsform. Sobald das Stammkapital von mindestens 50 000 DM aufgetrieben wurde, kann es losgehen. Falls die Firma Pleite macht, sind zwar 50 000 DM futsch, aber zumeist kein Pfennig mehr. Daß es auch Ausnahmen gibt, mußten Gernot und Volkmar, zwei ausgeschlafene Architekten, bitter am eigenen Leibe erfahren. Die beiden betrieben ein gemeinsames Architekturbüro in Form einer BGB-Gesellschaft. Sie verdienten gut und lebten in Freuden. Doch wenn die Maus satt ist, schmeckt das Mehl ranzig. »Warum wollen wir uns mit Kleinkram abgeben und ande99
ren Leuten das große Geld lassen? Wir gründen eine Bauträger-Gesellschaft und werden richtig reich.« Gesagt, getan . Gernot und Volkmar zeichneten für 50 000 DM Stammkapital, und wenig später bot die ›GeVo-Bauträger-GmbH‹ ihre Dienste an. Die Architekten Gernot und Volkmar hatten sich jeder damit über Nacht vervierfacht: Sie waren nun BGBGesellschafter, GmbH-Gesellschafter, GmbH-Geschäftsführer und die juristische Person GmbH. Ihrer Firma flossen die Aufträge reichlich zu. Aber nicht nur der GmbH, sondern auch dem Architekturbüro. Selbstverständlich beauftragten die GeVo-Geschäftsführer Gernot und Volkmar ausschließlich die Architekten Gernot und Volkmar. Dann trat Teil 2 ihres Planes in Kraft. Die beiden Baumeister schrieben fleißig Rechnungen über insgesamt 100 000 DM. Die schickten sie an die GeVo-GmbH. Aber die GeVo bezahlte die Rechnungen nicht, sondern trat mehrere ihrer Geldforderungen gegenüber verschiedenen Bauherren an die Architekten Gernot und Volkmar ab: Eine Rechnung über 960 000 DM und zwei weitere über je 500 000 DM. Die Architektenleistung im Wert von 100 000 DM hatte sich quasi über Nacht auf 1 960 000 DM verzwanzigfacht. Für die GeVo-GmbH sah die Sache allerdings nicht so gut aus. Nachdem sie die knapp zwei Millionen DM an ihre beiden Gesellschafter (halt, Verzeihung, nicht an die Gesellschafter, sondern an die Architekten) übertragen hatte, geriet sie in arge Zahlungsschwierigkeiten. Sie stellte ihre wirtschaftliche Tätigkeit ein und verschickte Briefe des Bedauerns an ihre Gläubiger. Speziell die Lieferanten von Fenstern und Türen wurden wütend. Sie sahen, daß ihr Material in den Häusern verbaut worden war, doch der Bauherr verwies auf seinen Vertrag mit der GeVo-Bauträger-GmbH und diese wiederum auf ihre Abtretungsverträge mit der Gernot & Volkmar BGB-Gesellschaft sowie die damit verbundene eigene Zahlungsunfähigkeit. 100
Türenhersteller Friedel allerdings klagte gegen die GmbH, die Geschäftsführer der GmbH, die Gesellschafter der GmbH und die BGB-Gesellschaft. Zur größten Verblüffung und zum Kummer der beiden Oberschlaumeier war er erfolgreich. Das Gericht durchschaute den Trick: Die Eigenhaftung eines GmbH-Geschäftsführers komme in Betracht, wenn er selbst wirtschaftlich stark an dem Geschäft interessiert sei. Dies war hier so. Außerdem hätten die beiden Absahner verschwiegen, daß die GmbH die Forderungen voraussichtlich nicht erfüllen kann. Die Abtretung der Forderungen ohne sachliche Notwendigkeit aber führte dazu, daß der GmbH das wesentliche Vermögen entzogen wurde. Das Gericht meinte, in diesem Falle läge eine Art Konzern vor, bei dem Geld aus einem Konzernbetrieb in den anderen umgeschaufelt worden wäre. Deshalb gäbe es auch keinen Haftungsausschluß für die GmbH-Gesellschafter. Sie müssen nun kräftig in die eigene Tasche fassen. So ist das eben, wenn man den Hals nicht voll genug kriegen kann.
Narrenhände, Narrenmünder Aus den USA kamen die drei wichtigsten Erfindungen der Menschheit zu uns: 1. Spearmint-Kaugummi, 2. Cola in Dosen, 3. Hamburger. Meint jedenfalls mein Sohn. Die Amerikaner kümmern sich jedoch nicht nur um Plombenzieher, zuckersüße Koffein-Getränke und flache Fleischklopse in nach Pappe schmeckenden Matschbrötchen, nein, sie sind auch auf anderen Gebieten äußerst kreativ. In den Schwarzenghettos US-amerikanischer Großstädte entstand in den siebziger Jahren mit dem sogenannten Graffiti eine völlig neue 101
Kunstform. Das waren riesengroße Bilder, die an Häuserwänden prangten und häufig politische Botschaften zu vermitteln suchten. Deutscher Kaugummi zerkrümelt im Mund, deutsche Cola schmeckt nach Medizin, deutsche Hamburger sind völlig ungenießbar, und deutsche Graffitomanen nennen sich ›Taker‹, ›Writer‹ oder einfach nur ›Sprayer‹. Gleich ihren amerikanischen Kollegen ziehen sie nachts mit einem Rucksack auf dem Rücken los. Sie tragen ebenfalls Dutzende Sprühflaschen mit sich, doch meistens schaffen sie keine – wie auch immer gearteten – Kunstwerke. Politische Botschaften sind ihnen fremd, und sie wollen den Betrachtern ihrer Werke keine Nachrichten zukommen lassen. Die Sprüher laufen durch die Straßen wie Hunde, die an jede Ecke pinkeln, um ihre Marke zu setzen. Die Sprayer haben sich auf das Signet beschränkt, das eigentlich dazugehörige Kunstwerk lassen sie weg. Verständlicherweise rollen sich bei jedem Hausbesitzer die Fußnägel auf, wenn er morgens an seiner frischgeweißten Wand einen undefinierbaren Krickelkrakel aus der Sprühflasche entdeckt. In Berlin beispielsweise hat die Polizei deshalb eine Sonderkommission gebildet, und es gibt eine Bürgerinitiative gegen das Sprühen. Die Erfolge sind mäßig. Solange der Verkauf von Spraydosen nicht verboten oder eingeschränkt wird, kann sich kaum etwas ändern. Doch auch die Gerichte bleiben nicht untätig, wie der folgende Fall beweist: Lars, ein 17jähriger Lehrling, war erwischt worden, als er einen Waggon der Bundesbahn mit schwarzen Kringeln beschmiert hatte, die die spannende Botschaft ›Lars war hier‹ hinaus in die weite Welt tragen und vermutlich die Eingeborenen am Titicacasee zu Freudentänzen inspirieren sollten. In einem schnell anberaumten Strafverfahren wurde der Kricksler wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung verurteilt. Lars legte Berufung ein, und man höre und staune – das Landgericht sprach ihn mit der folgenden Begründung frei: 102
»Eine Sachbeschädigung setzt voraus, daß eine Sache entweder in ihrer Substanz erheblich verletzt oder ihre technische und bestimmungsgemäße Brauchbarkeit nachhaltig beeinträchtigt wurde. Das war hier nicht der Fall. Der besprühte Waggon ist durch die notwendige Reinigung nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Er hat eine metallische Oberfläche, von der die aufgesprühten Lacke rückstandslos entfernt werden konnten. Durch das Besprühen war auch die Brauchbarkeit des Waggons nicht nachhaltig beeinträchtigt. Man hätte ihn trotz der neuen farblichen Gestaltung einsetzen können.« Da fällt einem nichts mehr ein. Nur noch eine Frage: Wie hätte dieser lebenskluge und weise Richter geurteilt, wenn der lustige Lars den silberfarbenen Benz des erleuchteten Rechtsgelehrten verziert hätte? Ganz gewiß wäre das hohe Gericht trotz der neuen farblichen Gestaltung mit Sonne im Herzen vom Hof gerollt, denn das Recht bleibt immer gleich, es gilt für jedermann.
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Grundstücke, Handwerker Viel Knete für ein Feuchtbiotop Knut lag in der Badewanne und trällerte vergnügt: »Ein Häuschen mit Garten und lauter Sonnenschein, das wünsch ich mir, das wünsch ich mir, das wünsch ich mir so sehr«. In diesem Moment knallte ruckartig die Tür auf. Gattin Claudia kam nachsehen, ob sich ihr Mann eventuell mit heißem Wasser verbrüht hätte. »Hasenbein, ich habe unsere Traumvilla gefunden«, krähte der Badewannenkapitän und deutete mit tropfenden Fingern zur Toilettenbrille. Dort lag ein Hochglanzprospekt. ›Wohnresidenz am Krötenfließ, direkt am Lurcher-Naturschutzpark‹. Drei Tage später saß das Ehepaar Herrn Gilbert gegenüber, dem Geschäftsführer der HMDP-GmbH. Es gab Kaffee, Kekse und viele süße Worte: »Herr Knut, Frau Claudia. Sie sind erfolgreich und dynamisch, die typischen Macher von heute, keine zaudernden Knieweichlinge. Für Sie habe ich das absolute Sahnestück. 800 Quadratmeter Land, unverbaubarer Blick auf das idyllische Krötenfließ, exquisites Gebäude mit exzellenter Ausstattung, alles vom Feinsten.« Eine Stunde später nannte Gilbert den Preis, der selbst dem abgebrühtesten Basar-Händler die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. Doch Gutes muß ja nicht billig sein. »Top, die Watte quillt«, schrie Knut begeistert, und auch Claudia befand sich in einem Zustand von Somnambulimus, auf gut Deutsch schlafwandelnder Mondsüchtigkeit. Drei Wochen später sollte der Kaufvertrag unterzeichnet werden. Der Notar verlas ein zwanzigseitiges Vertragswerk nebst mehreren Anlagen, das jeden ausgekochten Winkeladvokaten zu Begeisterungsstürmen hingerissen hätte. 104
Knut sah zum Fenster hinaus und sich vor seinem geistigen Auge Stiefmütterchen und Rhabarber auf der eigenen Scholle anpflanzen. Plötzlich, murmel-murmel, drangen die folgenden Worte an sein Ohr: »Dem Käufer ist bekannt, daß ein Teil der Gartenfläche Biotop ist und dieser Teil deshalb gärtnerisch nicht angelegt werden darf, durch die Nutzung der Charakter der feuchten Frischwiese nicht verändert werden darf.« Knut fragte verblüfft: »Was bedeutet das?« »Nichts, gar nichts«, entgegnete ölig und fröhlich Gilbert. »Eine Formalität, eine Lappalie. Wir empfehlen Ihnen lediglich, keinen Gartenzaun zu setzen, damit Sie sich – wie gesagt – den Blick auf das Krötenfließ nicht verbauen.« »Ich verstehe«, erwiderte Knut wahrheitswidrig und ließ die Gedanken wieder abschweifen. Monate später gab es ein bitteres Erwachen. Als Knut und Claudia ihr fast fertiges Haus besichtigten, mußten sie voller Entsetzen feststellen, daß der Gartenzaun weniger als 600 qm Fläche umschloß, mehr als 200 qm ihres Grundstücks lagen dahinter. »Was bedeutet das?!« schrieen sie unisono. »Feuchtbiotop, keine gärtnerische Nutzung, steht im Vertrag«, entgegnete Gilbert. »Soll das bedeuten, daß wir für teures Geld ein Feuchtbiotop gekauft haben, das außerhalb unseres Gartenzaunes liegt?«, fragte Knut mit zittriger Stimme. »Klaro«, schmunzelte Gilbert. »Dann gib mir von meiner Knete 50 000 Mark zurück!« »Ich denke nicht im Traum daran«, erwiderte der Geschäftsführer der HMDP (Her mit den Piepen)-GmbH. Knut und Claudia reichten Klage ein und verloren. Der Richter räumte zwar ein, daß für die Käufer nicht alles ganz optimal gelaufen sei. Dann aber sagte er: »Die Kläger 105
wußten aus dem Notarvertrag um die stark verminderte Nutzungsmöglichkeit eines Teils des Grundstücks. Die weitere Einschränkung durch die nicht mögliche Umzäunung der gesamten Fläche ist deshalb zu vernachlässigen.«
Der Tanz der Kakerlaken Einem Sprichwort zufolge soll ein richtiger Mann in seinem Leben ein Buch schreiben, einen Baum pflanzen, einen Sohn zeugen und ein Haus bauen. Doch warum umständlich, wenn es auch einfacher geht. Für die Memoiren kann man einen Ghostwriter, für die Eiche ein Gartenbauunternehmen, für den Stammhalter einen guten Freund und für die Villa eine Immobilienfirma bemühen. Hauskauf ist Vertrauenssache. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Makler haben den Ruf, den sie verdienen. Jedes Schnäppchen kann sich als faules Ei erweisen. Und so dicht läßt sich kaum ein Notarvertrag stricken, daß sich nicht noch eine winzige Lücke zum Durchschlüpfen finden würde. Cornelius, ein moderner Robin Hood, betrügt als Finanzberater die Armen und nimmt es von den Reichen. Er hatte gerade einen hübschen Batzen Geld auf seinem Konto angehäuft, als ihn selbst die Angst vor dem Euro zu schütteln begann. Was sollte er tun? Dollar, Aktien, Goldbarren oder Immobilien kaufen? Er entschied sich für ein Fachwerkhaus aus dem 15. Jahrhundert, direkt am Marktplatz. Nicht billig, aber ausbaufähig. »Bei meinen Fähig- und Fertigkeiten werde ich schon die verschlossenen Fördertöpfe wieder öffnen, mögen sie noch so verriegelt und verrammelt sein. Der brave Mann denkt an sich zuerst«, überlegte sich Cornelius, und tatsächlich. Auch eine dürre Kuh gibt noch Milch, wenn sie die Zauberworte Denkmalspflege, Stadtsanierung, Sonderabschreibung, Anschubfinanzierung, Investitions- sowie Eigenheimzulage, 1., 2. und 3. 106
Förderweg aus berufenem Munde hört. Alles wurde gut, aber leider nur fast. Nachdem Cornelius die Verträge in Sack und Tüten hatte, bemerkte er einen blinden Fleck am Spiegel. Er bewegte sich. Der Fleck war kein Fleck, sondern eine Schabe! Cornelius sah sich genauer um und stellte fest, daß das hübsche alte Fachwerkhaus vom Keller bis zum Dach von Ungeziefer wimmelte. Zwei Populationen hatten sich breitgemacht: die gemeine Deutsche Küchenschabe und die Orientalische Schabe, bekannter unter dem Namen Kakerlake. Cornelius zog vor Gericht. Er verlangte Schadensersatz. Zwar hatte er das Haus laut Notarvertrag unter dem Ausschluß jeglicher Sachmängel gekauft, aber er berief sich auf arglistige Täuschung. Der Verkäufer hätte ihn auf die Schaben hinweisen müssen, denn es sei unmöglich, dieses Ungeziefer wieder loszuwerden. Doch das Gericht konnte keinen erheblichen Mangel feststellen. Nach Aussagen von Bausachverständigen würden weder Schaben noch Kakerlaken die Bausubstanz eines Gebäudes angreifen und so seinen Wert mindern. »Allenfalls wäre ein massiver Befall mit Schädlingen, der das Wohnen unmöglich macht, als Schaden anzusehen. Doch dazu wurde nichts vorgetragen«, sagte der Richter und fuhr fort: »Solange das Ungeziefer nur sporadisch und abhängig vom Hygieneverhalten der Bewohner auftritt, ist es auch nicht unausrottbar.« Cornelius münzte selbst diese Niederlage in einen Sieg für sich um, indem er eine Broschüre verfaßte: »Leitfaden privater Denkmalspflege – Aufgabe und Herausforderung«. Einen Platz für den Baum wird er auch noch finden.
Mächtige Mäkelei an Martins Maisfeld Martin besaß nicht nur ein kleines Bauernhaus mit Scheune und Stall, sondern noch ein paar Wiesen am Hang und einen 107
hübschen Acker dazu. Martins Haus war das letzte am Ortsausgang vor dem Wald, zu ihm führte eine schmale Asphaltstraße, die gerade breit genug für ein Auto war. Die Straße schlängelte sich auf engen Serpentinen zum Denkmal auf dem Berg, doch nur selten verirrte sich ein Wagen hierher: Es war ein Schleichweg, den nur Eingeweihte kannten, die offizielle Zufahrt zum Parkplatz unterhalb des Plateaus befand sich nämlich genau auf der anderen Seite vom Berg. Martin war eigentlich Rentner, doch statt endlich einmal nach Paris zu reisen oder sich ähnliche Wünsche zu erfüllen, kümmerte er sich nach wie vor um seinen Hof und gönnte sich keine Ruhe. Im Stall standen ein paar Färsen, er hielt Hühner und baute Mais an. Mit dem der ganze Ärger begann. Unterhalb von Martins Acker wohnte Reinhard mit seiner Familie. Reinhard arbeitete in der Stadt, die Landwirtschaft interessierte ihn nicht die Bohne. Nur die Eier kaufte er bei Martin ›noch woarm aus dem Hühneroarsch‹. In der Vergangenheit, nun nicht mehr. Bei einem starken Regenguß schossen nämlich plötzlich Sturzbäche aus dem Maisfeld in Reinhards Garten, über ein kleines Mäuerchen hinweg, drohten es zum Einsturz zu bringen. Reinhard hörte das Gegrummel, tappte die Treppe unterm Vordach hinunter auf den Hof – und stand plötzlich bis zu den Knien in der Modderpampe. Er hastete wie von Sinnen die Straße hinauf und trommelte mit beiden Fäusten an die Tür vom kleinen Haus am Wald. »Moch uff, du Vorbrecha«! schrie Reinhard außer sich vor Zorn. Martin war sich keiner Schuld bewußt. »Wos konn ich darvor, wenns regnen tut?« fragte er nicht ganz zu Unrecht. Seinem Widersacher schwollen die Adern auf der Stirn. »Vorbrecha, Vorbrecha«! stieß er mit fiepsender Stimme heraus. Dann hastete er wieder davon. Diesem Bauerntrampel würde er es zeigen, dachte er sich. Gleich am nächsten Tag reichte er Klage ein. In besagter 108
Schrift verlangte er von Martin, daß dieser die erforderlichen Maßnahmen träfe, damit das von seinem Acker abfließende Oberflächenwasser nicht Reinhards Grundstück beeinträchtige. Insbesondere dürfe der Bauer fortan keinen Mais mehr anpflanzen, weil nun der Boden kaum noch Niederschläge aufnehme. Doch der Richter schüttelte nur den Kopf. »Allein die Tatsache, daß der Beklagte von der Wiesen- zur Ackernutzung mit Maisanbau übergegangen ist, bedeutet keinen Eingriff in den Zustand des Grundstücks, der eine unzulässige Veränderung darstellt und den Beklagten als Störer erscheinen läßt. Die bei landwirtschaftlichen Grundstücken notwendige Art der Bodenbearbeitung sowie die mit einem Wechsel der Fruchtfolge zwangsläufig verbundenen Änderungen der Oberfläche gehören zur natürlichen Eigenart des Grundstücks.« Weiterhin sei Martin nicht verpflichtet zu verhindern, daß das auf seinem Grundstück anfallende Niederschlagswasser auf das tiefergelegene Anwesen von Reinhard abfließt. Doch Martin zeigte sich entgegenkommend. Er bot seinem Widersacher an, daß Reinhard auf eigene Kosten einen Wasserabfluß auf Martins Maisfeld installiert und zukünftig in Ordnung hält. Reinhard biß die Zähne zusammen, murmelte etwas Unverständliches – und griff dann nach einigem Zögern doch nach der ihm gereichten Hand. Martin lächelte. Warum denn nicht gleich so, schien er sich zu fragen. Und schenkte seinem Nachbarn Reinhard eine Mandel Eier, ›noch woarm aus dem Hühneroarsch‹.
Alte und neue Götter in Blau Früher in der DDR gab es Halbgötter in Weiß (das waren die Ärzte) und ganze Götter in Blau – die Handwerker. Irgendeinen Handwerker, egal ob Elektriker oder Klempner, zum Be109
treten der Wohnung überreden zu können, erforderte großes Glück, bemerkenswerte theatralische Fähigkeiten und den Besitz einer Zweitwährung, also von Westgeld, Lizenzschallplatten oder Rosenthaler Kadarka. Diese Misere resultierte nicht etwa aus einem akuten Handwerkermangel an sich, sondern aus der rigiden Steuergesetzgebung, die jeden fleißigen Handwerker erbarmungslos abstrafte. Inzwischen hat sich alles geändert, aber besser geworden ist nichts. Handwerker gibt es inzwischen wie Sand am Meer, aber dafür pfuschen viele, was das Zeug hält. Ihre phantasievollen Kostenvoranschläge entstehen nach der Methode Daumen x Fensterkreuz + Datum, und Termintreue kennen sie nur beim Eintreiben der Rechnungen. Auf der anderen Seite stehen die überheblichen Kunden, die dem irrigen Glauben verfallen sind, ein paar knisternde Scheinchen in der Brusttasche würden sie zu den Herren der Welt machen, vor denen die dankbaren Blaumänner auf den Knien rutschen. Bert ist einer dieser Burschen. Für eine halbe Million kaufte er sich ein Häuschen mit Garten hinter dem Stadtrand und ließ es für eine weitere halbe Million um- und ausbauen. Anschließend wunderte er sich, daß ihn die armen Schlucker ringsum nicht unterwürfig grüßten, wenn er mit seinem silbernen Auto durch die Sandstraßen rumpelte, obwohl er doch den Aufschwung Ost in dieses Kuhkaff gebracht hatte. Doch Undank ist der Welten Lohn, und es kam noch schlimmer. Bert verpflichtete Schlossermeister Alfred zum Bau von zwei Zäunen: Einen aus Drahtgeflecht an der hinteren Grundstücksseite und einen aus Holz nach vorne. Alfred legte los. Einige Sträucher, die im Weg standen, buddelte er aus und versetzte sie um zwei Meter. Zack, stand der Drahtzaun. »Nun, mein Herr, wollt Ihr den Meister loben?« fragte er mit stolzgeschwellter Brust. Aber Bert deutete nur mit finsterer Miene auf die verpflanzten Sträucher: »Sie stehen nicht in einer Reihe. Mehrere Zweige 110
sind abgerissen und umgeknickt. Für diesen Pfusch ziehe ich Ihnen zweihundert Mark ab! Und beim nächsten Mal graben Sie ordentlich!« »Ich denke ja nicht im Traum daran«, antwortete die beleidigte Leberwurst. »Am Dienstag komme ich, wie vereinbart, um den Holzzaun aufzustellen. Wenn dann der Arbeitsbereich nicht frei von den drei Tannen ist, gehe ich wieder.« Und so geschah es. Bert hatte selbstverständlich nicht die niederen Sklavenarbeiten verrichtet (»Bin ick Järtner, oda watt?«), die Nadelgehölze wiegten sich im milden Frühlingswind, und Alfred verschwand in einer Staubwolke am Horizont. Logischerweise weigerte sich Bert, anschließend die Rechnung zu bezahlen. Ratz, batz verklagte Alfred seinen Auftraggeber auf Zahlung des vereinbarten Werklohns – und gewann den Prozeß. Nun setzte Bert dem Schlossermeister eine Nachfrist, innerhalb derer der Zaun errichtet sein müsse. Alfred ließ sich nicht blicken. Also zerrte ihn Bert im Gegenzug vor den Kadi und forderte sein Geld zurück. Doch der Geldsack verlor auch diesen Prozeß: »Es war keinesfalls die Sache des Beklagten, die Gartenarbeit zu verrichten, sondern die des Klägers. Wer einen Handwerker bestellt, darf dessen Tätigkeit nicht behindern. In diesem Fall hätte der Kläger die Pflanzen zurückschneiden müssen. Der Beklagte wäre ansonsten Gefahr gelaufen, durch unfachmännische Behandlung Pflanzen zu beschädigen«, meinte der Richter. In dem kleinen Ort sprach sich das Urteil herum wie ein Lauffeuer. Plötzlich wurde Bert von allen Leuten freundlich gegrüßt, und manch einer winkte gar mit dem Zaunpfahl.
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Rauher Putz und rauher Geselle Ehre, wem Ehre gebührt, meint das Sprichwort. Deshalb hängt die Handwerkerehre besonders hoch. Bei den schwarzen Schafen der Zunft manchmal allerdings so hoch, daß niemand mehr herankommt. Walpurga war Ende Sechzig, seit vielen Jahren Witwe und Besitzerin eines hübschen Einfamilienhauses. Dieses Haus diente als ständiger Gegenstand von Kummer und Freude, meistens parallel nebeneinander. Walpurga war deshalb so stolz auf das Bauwerk, weil sie es einst mit ihrem verstorbenen Ehemann als halbe Ruine gekauft und über viele Jahre zu einem wahren Schmuckstück ausgebaut hatte. Außerdem betrachtete sie das Gemäuer als ihre Altersversorgung – wenn sie nicht mehr allein zurechtkäme, wollte sie es verkaufen und dann in eines jener komfortablen Altersheime ziehen, in denen die besonders gut Betuchten ihren Lebensabend verbringen. Kummer bereitete das Haus, weil ständig etwas repariert werden mußte. Dazu reichte oft die magere Rente nicht hinten und nicht vorne. Als die morschen Fenster aus ihren Angeln zu brechen drohten, beauftragte die alte Dame den Handwerksmeister Max, Kunststofffenster einzusetzen. Doch er verputzte nach dem Einbau die Wände nicht richtig, Wasser drang ein. Walpurga reklamierte. Der Vorschlag des Meisters: »Sie überweisen erst mal meinen Lohn bis auf 500 Piepen. Sobald ich kann, bringe ich alles in Ordnung. Abgerechnet wird zum Schluß.« Walpurga zahlte bis auf die 500 DM, mahnte die Arbeiten an – ohne Ergebnis. Ein halbes Jahr später hatte sie endgültig die Faxen dicke und beauftragte eine neue Firma. Die arbeitete rasch, solide und gut. Allerdings wurde es etwas teurer als gedacht. Insgesamt mußte Walpurga 595 DM bezahlen. Damit nicht genug. Eines Tages flatterte ihr eine Klage ins 112
Haus. Max, der Pfuscher, forderte die offenstehenden 500 DM. Schäden hätte es nie gegeben. Mehrfach habe er das Gespräch mit seiner Auftraggeberin gesucht, die sei ihm allerdings stets aus dem Weg gegangen. Doch der (vermutlich handwerklich unbegabte und deshalb selbst geplagte) Richter stellte Max die hochnotpeinliche Frage: »Wann hat die Beklagte, also die ältere Dame, die Leistung abgenommen? Weshalb haben Sie auf die Mahnschreiben nicht geantwortet?« Max zuckte unschlüssig mit den Schultern und nuschelte etwas Unverständliches. – »Tut mir leid, Meister, die Klage wird abgewiesen. Sie, Herr Max, haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.« Walpurga triumphierte. Sie überlegte ernsthaft, ob sie noch die offenstehenden 95 DM einklagen sollte. Es wäre ihr gutes Recht gewesen.
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Kapitalanlage, Kindesmißbrauch, Kindesmißhandlung, Konzertbesuch Der Zweck heiligt die Mittel Väterchen Staat ist ab und zu zu Scherzen aufgelegt. Scherze auf Kosten anderer, versteht sich. Ein Beispiel: Die sogenannte Arbeitnehmersparzulage. Mit diesem Modell wurden Hunderttausende Kleinsparer in die Fänge betrügerischer Anlage-, Fonds- und Time-Sharing-Gesellschaften getrieben. Nachdem für die Arbeitgeber der gesetzliche Zwang zum Geldverschwenden entfallen war und als Folge die Arbeitnehmer ihre Sparverträge kündigten, fielen die Kartenhäuser vieler Moneteneinsammlungsgesellschaften zusammen. In den Sparstrümpfen ihrer Kunden klafften plötzlich Milliardenlöcher. Aber auch Richter haben Sinn für schwarzen Humor, wie der folgende Fall beweist. Bekanntlicherweise sterben die Dummen nicht aus, und Jakobus ist ganz ohne Zweifel einer von ihnen. Von einem Freund (wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr) erfuhr er, daß der Versicherungsmakler Haribert, der in Bürogemeinschaft mit dem Devisenhändler Poldi zusammenlebte, besonders zinsgünstige Kapitalanlagen vermitteln könnte. Jakobus hatte gerade 50 000 DM übrig, und so stattete er Haribert einen Besuch ab. Der Versicherungsmakler bot ihm einen Vertrag über eine internationale Kapitalanlage bei der Firma ›Investments Inc. International Bond & Investment Corp. Florida/USA‹ mit einer garantierten Rendite von jährlich zehn Prozent an! Jakobus legte die fünfzig Riesen in bar auf den Tisch des Hauses. Haribert unterzeichnete den Vertrag als Bevollmächtigter des Treuhänders. Jedem halbwegs normalen Menschen, der seine Hose nicht 114
mit der Kneifzange anzieht, hätte klar sein müssen, daß die in dem Vertrag als Treuhänder bezeichnete Firma nicht existierte (oder anders gesagt nur in der Phantasie des Devisenhändlers Poldi). Was Jakobus allerdings nicht wußte und auch nicht wissen konnte, war: Poldi stand das Wasser bereits bis zur Oberkante Unterlippe. Die 50 000 DM waren für ihn weniger als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Schon einige Wochen später wußte er keinen Ausweg mehr und knüpfte sich auf. Die Forderungen der von ihm geschädigten Anlagenkunden beliefen sich auf 100 Millionen DM. Poldi war tot, bei ihm gab es nichts mehr zu holen. Jakobus verklagte deshalb Haribert auf Rückzahlung der 50 000 DM. Begründung: »Der Versicherungsmakler haftet, da er als Bevollmächtigter einer nicht existierenden Firma aufgetreten war.« Das Oberlandesgericht verurteilte Haribert zur Zahlung. Der Versicherungsmakler wandte sich an die höchste Instanz in diesem Land, und der Bundesgerichtshof kam zu der verblüffenden Erkenntnis: »In der Vertragsurkunde war eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß Haribert nicht im eigenen Namen, sondern namens des Treuhänders tätig wurde. Tatsächlicher Träger des Treuhandunternehmens war der Devisenhändler Poldi. Eine Haftung tritt nicht ein, wenn der Vertreter zwar namens einer nicht existierenden Scheinfirma handelt, hinter dieser Firma jedoch ein tatsächlicher Träger des Unternehmens steht, der als wirklicher Vertragspartner gewollt ist und dem Vertreter Vollmacht erteilt hat. Dem Gläubiger einen zusätzlichen Schuldner zum Geschäftsinhaber zu geben, besteht kein Grund.« Jakobus hätte die Schriften Machiavellis lesen sollen. Der italienische Staatsmann kam bereits um 1512 zu der Erkenntnis: ›Wenn ihn auch die Tat anklagt, so muß ihn der Erfolg doch entschuldigen.‹ Der Zweck heiligt die Mittel, und sei es die Vertretung einer nicht existierenden Firma. 115
Der nette Opa aus der Nachbarschaft »Nimm nichts Süßes von Fremden«, lautet eine oft wiederholte Warnung an Kinder. Erschütternde Tatsachenberichte von in Büschen lauernden Vergewaltigern wühlen die Seelen auf. Doch die Realität ist anders. In 90 Prozent aller Fälle sexuellen Mißbrauchs von Kindern stammen die Täter aus dem unmittelbaren Lebensumfeld der Opfer. Sie tarnen sich als Verwandte, Bekannte, Freunde oder Nachbarn. Deshalb sind die psychischen Schäden meist auch so schlimm und schwer reparabel: Wenn der ›gute‹ Onkel dem kleinen Mädchen oder Jungen ein schlimmes Leid zugefügt hat, dann wird das Vertrauen in die gesamte Welt der Erwachsenen (also oft auch in die der Familie) nachhaltig gestört. Die Folgen sind Auffälligkeiten aller Art, Identitätsverluste und häufig die Unfähigkeit, später mit einem Partner normal umgehen zu können. Simone ist zehn Jahre alt und lebt in einem kleinen Dorf. Schräg gegenüber von ihrem Elternhaus wohnt Rentner Konrad mit seiner Frau. Am Wochenende sind häufig seine beiden Enkel zu Besuch, Spielkameraden von Simones jüngerem Bruder Andy. An einem kalten Sonntag im März hatte Simone Langeweile. Sie ging hinüber auf die andere Straßenseite und schaute den Jungen beim Spielen zu. Nach einer Weile kam Konrad aus dem Keller vom Heizen hochgestiegen und sah zufällig das Mädchen am Gartenzaun stehen. »Hast du Lust, mit mir Mau Mau zu spielen?« fragte er. Simone nickte hocherfreut und öffnete das Gartentor. So nahm das Unglück seinen Lauf. Konrad hatte nämlich gerade zum Frühstück drei Flaschen Pilsner und eine kleine Flasche Boonekamp getrunken. Nach einigen Runden Mau Mau sagte er zu dem Kind: »Weil du so oft gewonnen hast, sollst du eine nette Belohnung erhalten. Eine Rolle Drops. Sie steckt in der Hosentasche von meiner Trainingshose. Willst du mal füh116
len?« Dann nahm er die Hand des kleinen Mädchens und führte sie an sein steifes Glied. »Du mußt deine Hand hin und her bewegen, das gefällt den Drops«, krächzte er heiser. »Das sind keine Bonbons«, flüsterte Simone entgeistert. »Doch, doch, mein süßer Engel, meine Prinzessin. Und nun gib dem guten Opi einen Kuß.« Konrad umklammerte den Kopf des Mädchens, blies ihm seinen fauligen Alkoholatem ins Gesicht. Er preßte seine Lippen auf die ihren und versuchte seine Zunge zwischen die zusammengepreßten Zähne zu zwängen. »Mach den Mund auf, Liebling«, forderte er und fingerte mit seiner Hand am Schritt ihrer Jeans. Wer weiß, was noch alles passiert wäre, wenn in diesem Moment nicht seine Frau nach ihm aus der Küche gerufen hätte. Der alte Mann ließ das Kind los, und Simone rannte aus dem Haus. Erst viele Stunden später getraute sie sich, ihren Eltern von dem Vorfall zu erzählen. Die beratschlagten lange, was zu tun sei, und gingen dann zur Polizei. Gegen Konrad wurde Anklage erhoben. In der mehrstündigen Verhandlung leugnete er zunächst hartnäckig und gab am Ende doch alles zu. In seinem Geständnis sah das Gericht einen Milderungsgrund. Die Strafe für ihn lautete auf zehn Monate Haft, zur Bewährung ausgesetzt. Außerdem muß er eine Geldbuße in Höhe von 1 000 DM an einen gemeinnützigen Verein zahlen. Simone, sein Opfer, hat noch immer ihr Päckchen zu tragen. Sie traute sich lange Zeit nicht mehr auf die Straße. Ihre Eltern mußten sie jeden Tag morgens zur Schule bringen und am Nachmittag wieder abholen. Als das Mädchen erfuhr, daß es vor Gericht als Zeugin gegen Konrad aussagen sollte, erbrach es sich und bekam hohes Fieber. Einen Tag vor der Verhandlung wurde Simone in der Kaufhalle erwischt, als sie eine Büchse Cola stehlen wollte. ›Ein typisches Notsignal verängstigter Kinder‹, meint die Fachliteratur dazu. Welche Langzeitfolgen geblieben sind, weiß niemand. 117
Seelische Wunden heilen schwer Marion war 13 Jahre alt. Sie wirkte noch sehr kindlich – ganz im Gegensatz zu anderen Mädchen aus ihrer Klasse. An einem warmen Herbstsonnabend radelte sie in das Nachbardorf zu Onkel Kilian, Tante Petrissa und deren drei Kindern. Gegen 15 Uhr kamen auch Oma und Opa zu Besuch. Der Kaffeetisch wurde gedeckt, danach tranken die Männer Weinbrand. Onkel Kilian schenkte sich öfter ein. Die Kinder spielten Monopoly. Nach dem Abendbrot hatte Marion keine Lust mehr, die fünf Kilometer zurückzufahren. Sie rief zu Hause an, und ihre Mutter erlaubte ihr, bei den Verwandten zu übernachten. Oma und Opa verabschiedeten sich, der Rest der Familie machte es sich vor dem Fernsehapparat gemütlich. Onkel Kilian beschäftigte sich weiter mit der Weinbrandflasche. Etwa um 22 Uhr gingen alle schlafen, bis auf den Onkel. Die Kinder verschwanden in ihren Zimmern, Tante Petrissa legte sich ins Ehebett, Marion kam auf die Besucherritze, der Onkel öffnete die zweite Flasche. Gegen ein Uhr morgens wurde das Kind aus dem Schlaf gerissen. Onkel Kilian betastete sie schwer atmend. Marion wußte vor Angst nicht, was sie tun sollte. Als die Tante wach wurde, versuchte sie nicht zu ergründen, was neben ihr im Bett vor sich ging, sondern schlurfte schlaftrunken ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch. Marion schluchzte verzweifelt. Der Onkel wurde immer zudringlicher. Doch plötzlich rollte er sich zur Seite und begann zu schnarchen. Marion kauerte sich zitternd in der äußersten Ecke des Bettes zusammen. Am nächsten Tag erzählte sie alles ihrer Mutter. Die ging gleich zur Polizei. In der Gerichtsverhandlung bekam Marion Weinkrämpfe, als sie die ganze Geschichte noch einmal erzählen sollte. Auf Antrag ihres Rechtsanwaltes mußte der Angeklagte den Saal ver118
lassen. Nun gelang es dem Richter mit vielen einfühlsamen Worten, das Vertrauen Marions zu gewinnen und sie zu veranlassen, von den für sie sehr schlimmen Ereignissen der Septembernacht zu berichten. Und was meinte Onkel Kilian anschließend dazu? Er habe anderthalb Flaschen Weinbrand getrunken und könne sich an absolut überhaupt nichts mehr erinnern. Der Gutachter errechnete, daß Kilian zum fraglichen Zeitpunkt einen Blutalkoholgehalt von mindestens 3,6 Promille gehabt haben müsse. Aus diesem Grund wurde Kilian auch nicht wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes verurteilt, sondern wegen fahrlässigen Vollrauschs. Er hat 50 Tagessätze von 40 DM, also 2 000 DM, plus Gerichtskosten zu zahlen. Der Richter meinte in seinen abschließenden Worten, daß nun, nachdem die Angelegenheit geklärt worden sei, endlich wieder Frieden in der Familie einziehen solle. Die Strafe müsse auch die Vergebung in sich tragen. Doch Marions Mutter und Tante Petrissa sahen aneinander vorbei, als sie aus dem Gerichtssaal gingen, und auch Onkel Kilian wich den Blicken aus. Es wird wohl noch lange Zeit dauern, ehe diese seelischen Wunden vernarbt sein werden.
Tragischer Tod eines kleinen Kindes Machmud stammte aus dem Libanon. Für ihn gab es gute Gründe, sein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land zu verlassen. Er kam nach Deutschland und besorgte sich seine Aufenthaltserlaubnis auf eine durchaus übliche Art und Weise, indem er heiratete. Machmud war ein hübscher, großer Bursche mit krausem Haar und gepflegtem Schnurrbärtchen. Elke, seine Ehegattin, leidet unter Übergewicht und einem borstigen Kinn. Trotzdem erfüllte Machmud seine ehelichen Pflichten. Elke wurde zweimal schwanger, bekam erst eine Tochter, dann ei119
nen Sohn. In der winzigen Zwei-Raum-Wohnung mit Außentoilette zog das Chaos ein. Vor dem Küchenherd stapelten sich die Mülltüten, überall lagen Abfälle herum. Elke fühlte sich mit Haushalt, Säugling und Kleinkind überfordert, zumal Machmud nur noch selten nach Hause kam. Tagsüber arbeitete er, sonst hielt er sich meistens bei seinen Freunden auf. Elke saß bis in die späte Nacht nur vor dem Fernsehapparat. Häusliches, familiäres Interesse fehlten nahezu vollständig. So bahnte sich das Drama an. Ihre Aggressionen reagierte sie meistens an ihrer dreijährigen Tochter Sandra ab. Am Ende mißhandelte sie Sandra täglich mit Fußtritten und Schlägen. Die Wehrlose erlitt zahlreiche Blutergüsse, eines Tages sogar einen Bruch des Schlüsselbeins und der Elle. Als Machmud dies merkte, verbot er seiner Frau energisch, die kleine Sandra jemals wieder zu schlagen. Elke hielt sich nicht daran. Einige Tage später begann sie sogar, das Kind in seiner Gegenwart zu verprügeln. Machmud ging dazwischen. Dann forderte er seine Frau auf, die Familie zu verlassen. Doch mehr unternahm er nicht. Wenige Wochen danach schlug Elke ihrer Tochter derart heftig mit der flachen Hand ins Gesicht, daß das Kind mit dem Kopf gegen eine Anrichte prallte. Sandra erlitt ein schweres Hirntrauma, an dem sie zwei Tage später verstarb. Elke wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mitleid verdient sie nicht. Das Urteil gegen ihren Mann steht noch aus. Auch er hat schwere Schuld auf sich geladen, wäre er doch verpflichtet gewesen, Gefahr für Leib und Leben seines Kindes abzuwehren. Als er merkte, daß seine Appelle nichts fruchteten, hätte er Polizei oder Jugendamt informieren müssen. Damit wäre zwar seine Ehe endgültig zerstört gewesen, aber seine Tochter würde noch leben.
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Vorhang auf und Türen zu Dr. Friedlieb ist Opernliebhaber. Einmal im Monat zwängt er sich in einen dunklen dreiteiligen Anzug, und seine holde Gemahlin wählt das anschmiegsame tief ausgeschnittene Abendkleid, wobei sie Dekollete und freie Schultern mit einer passenden Stola verhüllt. An diesem Samstagabend im Mai wurde ›Nabucco‹ gegeben. Pünktlich um sieben Uhr hupte der Taxifahrer vor dem Haus, und auf der Fahrt in die Stadt diskutierte das Ehepaar lang und breit die beabsichtigte Getränkefolge in der Pause. Erst einen Cocktail und dann ein Gläschen Sekt oder umgekehrt – das war hier die Frage. Doch dann blitzten blaue Lichter vor ihnen. Ein Unfall, die Straße war gesperrt. Dr. Friedlieb wedelte mit einem Zwanzigmarkschein. Der Taxifahrer wendete auf der Stelle, preschte eine Einbahnstraße in der falschen Richtung entlang, raste mit quietschenden Reifen um die Kurve und versuchte mit überhöhtem Tempo den Zeitverlust wettzumachen. Vergebens. Fünf Minuten nach acht Uhr hielt das Taxi vor dem Opernhaus. Das Ehepaar stürzte die große Freitreppe hinauf. Dr. Friedlieb kramte die Eintrittskarten heraus, aber der Einlasser im schwarzen Frack stellte sich ihm in den Weg. »Tut mir leid, meine Herrschaften«, meinte er bedauernd, »aber auf Anordnung der Geschäftsleitung werden Nachzügler mit Plätzen im Parkett erst in der großen Pause eingelassen.« Dr. Friedlieb sagte einige böse Wörter, die Tür blieb jedoch verschlossen. Enttäuscht und verbittert verließ das Ehepaar den in ihren Augen ungastlichen Kunsttempel. Dann reichte Dr. Friedlieb Klage ein. Er forderte den Ersatz von zwei Eintrittskarten a 46 DM nebst unnütz aufgewendeter Fahrtkosten. »Die Pflicht zum pünktlichen Erscheinen bei Aufführungsbeginn ist keine vertragliche Hauptpflicht«, führte der Richter aus. »Kein Inhaber einer Opernkarte muß sich der Aufführung 121
tatsächlich aussetzen, was sich schon in der guten alten Tradition des ›Opernschläfchens‹ erweist. Vereitelt aber der Opernkartenbesitzer durch Zuspätkommen das Zustandekommen des Werkes, nämlich zwar nicht der Aufführung als solcher, wohl aber der Interaktion zwischen Bühnenakteuren und lauschendem Publikum, darf der Veranstalter als billige Entschädigung für das Bereithalten eines geheizten und beleuchteten Saales sowie eines wohlpräparierten Ensembles das vorausentrichtete Eintrittsgeld behalten.« Richter verstehen es nun mal, sich schön barock auszudrükken. Kein Problem, Opernfreunde sind es schließlich gewohnt, Texte nicht oder nur nach mehrmaligem Lesen des Opernführers zu verstehen. Wo aber gibt es für die Normalsterblichen einen Urteilsführer?
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4. Kapitel Körperverletzung und Kriegsdienstverweigerer Kampfhahn und Sumpfhuhn Es gibt zwei Arten von ernst zu nehmenden Motorrädern: Schnarchsessel und Joghurtbecher. Auf den chromblitzenden, irgendwie altertümlich wirkenden Apparaten mit hochgestelltem Lenker knattern sogenannte Biker – das sind in Fransenleder gehüllte tätowierte Typen mit Rauschebärten – über die Landstraßen, während auf den stromlinienförmigen Rennmaschinen die ›Heizer‹ in glatten bunten Kombis über die Autobahnen rasen. Danilo ist ein Biker. Er hat ein hübsches blaues Motorrad mit nietenbesetztem Sattel und ausladenden Packtaschen. Was ihm fehlt, ist der dazu passende Bierbauch. Danilo versucht dieses Manko durch besonders cooles Verhalten wettzumachen. Beispielsweise parkt er seinen Chopper immer direkt vor dem ›Wilden Affen‹, seiner Stammkneipe in der Fußgängerzone vom Einkaufszentrum, obwohl hinter dem Haus ein riesengroßer Parkplatz liegt. Ein paar Mal gab es deshalb schon Ärger. Jasper, der Hausmeister des Konsumtempels, forderte den Motorradfreak auf, seine Maschine anderswo aufzubocken. »Machen Kopp zu, Alter!« lautete die stereotype Antwort. An einem Freitag im März benutzte Jasper einen dienstfreien Abend, um im ›Wilden Affen‹ zu versumpfen. Es war sehr gemütlich: Ein hörgeschädigter Diskotheker machte mehr Krach als fünfzig kasachische Düsenjäger beim Start. Ein Drittel der zahlreichen Gäste hampelte auf der Tanzfläche herum, ein weiteres Drittel übte sich im Kampftrinken, und der letzte 123
Rest vom Schützenfest paffte, als wenn es morgen verboten würde. Als sich Jasper wieder einmal den Schaum von der Nase wischte, drang wie aus weiter Ferne ein Ruf an sein Ohr: ›Staliklein‹. Jasper wendete aufmerksam den Kopf. Gänseklein kannte er, aber was war Staliklein? Plötzlich tauchte eine schwankende Gestalt vor ihm auf. Es war Danilo, der abwechselnd ›Stasisau‹ und ›Stasischwein‹ brüllte. Es lag auf der Hand, wen er damit meinte. Nur ein ehemaliger MfS-Mitarbeiter konnte auf die perfide Idee kommen, einen parkenden Biker aus der Fußgängerzone verweisen zu wollen. Einmal Zonen-Vopo, immer Zonen-Vopo. Doch Jasper verhielt sich widerborstig. Anstatt als enttarnter Kommunistenknecht auf der Stelle eine Saalrunde zu schmeißen, pikste er Danilo mit seinem spitzigen Zeigefinger in die Brust und ließ den Schlauen raushängen: »Heute wird aber nicht mehr gefahren, Kollege!« Als Danilo dieses widerfuhr, ging’s ihm gegen die Natur. Er ballte seine rechte Faust und ließ sie in die verhaßte Fratze des Memphis-Mannes krachen. Knicks, knacks, ging die Brille zu Bruch. Zwei Schneidezähne verstellten sich hasenartig und schlitzten die Lippe. Aus der klaffenden Wunde sprudelte das Blut. Lebensmüde Gäste, die in ihrem Leben zu wenig Western gesehen hatten, trennten den Kampfhahn vom Sumpfhuhn. Jasper ließ sich die Lippe nähen und die Zähne richten. Starke Kopfschmerzen plagten ihn noch wochenlang. Schließlich forderte er Schadensersatz und Schmerzensgeld. Vor Gericht behauptete Danilo: »Ich handelte in Notwehr. Der Kläger griff mich an und stieß mir vor die Brust. Ich mußte mich verteidigen.« Der Richter hatte Langeweile und vernahm insgesamt sieben Zeugen, einen nach dem anderen: Welcher Bürger hatte wen wann wie womit weshalb wie oft wieso wohin gepocht? Der 124
Prozeß schleppte sich. Dann offenbarte sich dem Mann des Gesetzes die kristallklare Wahrheit: »Das Gericht sieht in dieser Bewegung (Piksen) keinen Angriff des Klägers gegenüber dem Beklagten, der die Reaktion des Beklagten (Schlag mit der Faust ins Gesicht des Klägers) rechtfertigen könnte.« Danilo muß 3 000 DM Schadensersatz und Schmerzensgeld zahlen.
1+1=3 oder: Die Erde ist eine Scheibe Obwohl unsere alltäglichen Handlungen zu 90 Prozent vom Unterbewußtsein diktiert werden, glauben wir an die eisernen Gesetze der Logik: Wer A sagt, muß auch B sagen, und auf C folgt stets D. Da es gute Feen und böse Hexen nur im Märchen gibt, biegen wir uns die Wahrheit zurecht, falls einmal 1+1=3 ergibt. Fabian, Schüler einer achten Klasse, schlenderte am Ende der großen Pause von der Kaufhalle in Richtung Schulhof. Er wurde von Rando und Jörg begleitet. Plötzlich blieb Fabian zurück. Seine Freunde gingen weiter. Als sie sich wenig später umdrehten, war er verschwunden. Fast jedenfalls. Die Freunde sahen noch, wie seine Beine in einem Hauseingang verschwanden. Jörg: »Es sah so aus, als ob ihn dort jemand hineinschleifte oder zog.« Fabian erzählte, was ihm geschah. »Daniel, ein Schüler aus meiner Schule, ich kenne ihn kaum, nahm mich grundlos in den Schwitzkasten, zerrte mich in den Hauseingang, schlug mir mit der Faust ins Gesicht und rammte mir sein Knie in den Magen. Ich kam erst auf der Couch im Lehrerzimmer wieder zu mir.« Im ärztlichen Gutachten steht: ›Verletzung am Hinterkopf, Hämatom am Auge, stumpfes Bauchtrauma, keine bleibenden Schäden.‹ Fabian erstattete Strafanzeige. Daniel mußte sich wegen Kör125
perverletzung vor Gericht verantworten. Doch seine Version der Geschichte ist eine ganz andere: »Ich ging etwa zwanzig Meter hinter Fabian, als er plötzlich stolperte und stürzte. Er blieb wie bewußtlos auf dem Pflaster liegen. Ich rannte zu ihm hin und gab ihm ein paar leichte Ohrfeigen, bis er wieder zu sich kam. Dann faßte ich ihm unter den Arm und brachte ihn in die Schule. Er war noch völlig benommen und taumelte die ganze Zeit neben mir her.« Zeugin Ute: »Ich kam aus der Kaufhalle und sah, wie Fabian hinfiel. Daniel lief mehrere Meter von ihm entfernt.« Zeuge Roger: »Fabian war allein, als er hinknallte. Von einer Schlägerei weiß ich nichts.« Zeuge Sascha: »Ich habe von allem nicht viel mitbekommen. Fabian lag auf der Erde, die anderen, auch Daniel, flitzten zu ihm hin.« Zeuge Martin: »Ich unterhielt mich mit Daniel. Als Fabian hinpurzelte, half ihm Daniel wieder auf die Beine. Geschlagen hat niemand.« Die Richterin kniff den Mund zusammen. Der Staatsanwalt sah gelangweilt zum Fenster hinaus. Dann hielt er sein Plädoyer: »Schuldig im Sinne der Anklage.« Er hatte keine Spur eines Zweifels. Der Verteidiger verwies auf die zahlreichen Widersprüche: »Außerdem gibt es kein Motiv. Daniel hatte keinen Grund, Fabian zu schlagen. Man kann ihm das Versagen von Rando und Jörg nicht zur Last legen. Sie sind die wahrhaft Schuldigen. Sie ließen ihren Freund im Stich, als er sich in einer Notlage befand.« Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Das Urteil: »Schuldig! Rangeleien unter Jugendlichen kommen immer wieder vor. Wirklich schlimm ist, daß hier vier Zeugen massiv unter Druck gesetzt und zu Falschaussagen genötigt wurden.« Was wahr ist, muß wahr bleiben. Die Erde ist eine Scheibe, um die sich die Sonne dreht. Und wenn ein Schüler einer ach126
ten Klasse stolpert und stürzt, dann nur deshalb, weil er niedergeschlagen wurde. Daniel muß an zwei Tagen an einem Lehrgang teilnehmen, bei dem er lernen soll, mit seinen Aggressionen besser umzugehen. Ob damit die im Gerichtssaal entstandenen gemeint waren, wurde nicht gesagt.
»Volltreffer!« schrie das begeisterte Publikum Jahrelang hatte es mit der Kirmes große Probleme gegeben, doch in diesem Jahr war das Dorffest endlich wieder gut gelungen. Auf der Festwiese standen nagelneue, attraktive Fahrgeschäfte, das Bier floß in Strömen, und auf der großen Bühne heizte eine durch Funk und Fernsehen bekannte Band die Stimmung an. Philip, der Organisator, drängte sich mit stolzgeschwellter Brust durch das Publikum im Festzelt. Viele Wochen harter Feierabendarbeit lagen hinter ihm, denn das Leben hat bekanntlich den Schweiß vor den Erfolg gesetzt. Nun war ihm selbst der Dank des griesgrämigen Bürgermeisters gewiß. Und nicht nur das. Höchster Lohn ist zwar Gottes Lohn, aber Philip hatte so geschickt kalkuliert, daß auch etliche Märker in seine eigene Tasche wandern würden. Freddy, ein arbeitsloser Traktorist, holte ihn aus seinem Glücksgefühl zurück auf den harten Boden der Realität. »Eh, Fettsack«, nuschelte der Angetrunkene und schnippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Wann gibt es endlich das versprochene Freibier?« »Morgen zum Frühschoppen«, entgegnete Philip verärgert. »Heute würde es dir sowieso nichts mehr nützen. Du bist schon voll wie eine Radehacke!« Freddy lächelte zufrieden. Famos, famos. Er war auf eine kleine Keilerei aus, und schneller, als gedacht, ergab sich ein triftiger Grund. »Warum beleidigst du mich, Schweinebacke? 127
Ich trinke hier alle unter den Tisch!« Mit diesen Worten versetzte er Philip einen harten Faustschlag mitten auf die Nase. Philip quiekte wie ein angestochener Eber. Das Blut spritzte, und wer weiß, wie die Sache für ihn ausgegangen wäre, wenn nicht ein Ordner dazwischengegangen wäre. Philip rannte zum Getränkestand und ließ sich einige Eiswürfel zur Kühlung geben. Freddy fühlte sich als strahlender Sieger, doch als er die finsteren Blicke einiger Dorfburschen bemerkte, beschlichen leise Zweifel sein alkoholbenebeltes Hirn. Philip war eindeutig der Chef hier, und er hatte ganz gewiß die Macht, sich grausam zu rächen. Freddy torkelte auf Philip zu, um ihm nunmehr die Hand zur Entschuldigung zu reichen. Philip hatte gerade den Blutfluß gestoppt, als er erneut den Wüterich auf sich zukommen sah. Für ihn bestand nicht der geringste Zweifel, daß die Klopperei nun ihren Fortgang finden würde. »Angriff ist die beste Verteidigung«, dachte er sich und ließ seine Faust in das Gesicht von Freddy krachen. »Volltreffer!« schrie begeistert das Publikum, denn der Trunkenbold streckte alle Viere von sich. Knock out. Freddy erwachte am nächsten Tag mit einem Brummschädel und einem zugeschwollenen Matschauge. »Das wird er mir büßen, der Hundsfott«, schrie er wütend und verklagte Philip auf die Zahlung von Schmerzensgeld. 40 000 DM hielt er für angemessen. Aber die Richter versagten ihm die Entschädigung: »Wie sich in der Beweisaufnahme ergeben hat, war der Kläger zuerst handgreiflich geworden. Unter diesen Umständen konnte auch ein gewissenhafter Mensch die gegen ihn gerichtete Armbewegung als einen zweiten Angriff auffassen. Mit einem Faustschlag als Abwehrmaßnahme hat der Beklagte die Grenzen der angemessenen Verteidigung nicht überschritten. Wenn sich der Gegner täuscht, von einer Notwehrlage ausgeht, und dieser Irrtum nicht auf Fahrlässigkeit beruht, gibt es für eine Körper128
verletzung keinen Schadensersatz.« Und was meinten die Leute im Dorf dazu? »Es war die schönste Kirmes seit langer Zeit«, sagten sie übereinstimmend.
Machtkämpfe in der Clique Enricos Haare waren zwei Millimeter lang. Er trug schwere Stiefel, Armeehosen und eine Bomberjacke. In seinem Gürtel steckte ein Messer, in seiner Tasche ein Revolver. »Den habe ich aufgebohrt, jetzt ist er scharf«, sagte er zu seinen Kumpels, und die hatten keinen Grund, seinen Worten zu mißtrauen. Seit zwei Jahren trieb sich der Neunzehnjährige in Deutschland herum. Eine Zeitlang hauste er in einer verwüsteten Bauarbeiterbaracke. Dort trafen sich die Jugendlichen. Enrico wollte der Chef der Clique werden. Mehrere Faustkämpfe hatte er bereits erfolgreich absolviert. Einmal, als es für ihn bedrohlich wurde, griff er regelwidrig zum Messer im Gürtel und schlitzte einem Rivalen die Wange vom Mundwinkel bis zu den Augenbrauen auf. Etliche Tage später ging es um die Wurst. Gordon, ein blonder I7jähriger Hüne, wollte sich nicht unterordnen. Enrico, der schon Hunderte Schlägereien gewonnen hatte und alle fiesen Straßenkämpfertricks beherrschte, schonte seinen Gegner keine Sekunde lang. Es ging nicht um einen sportlichen Wettstreit, sondern um den Sieg. Nicht der Stärkere, sondern der Schnellere und Brutalere würde gewinnen. Erbarmungslos prasselten die Faustschläge, Leberhaken, Kinnhaken, die Augen schwollen zu. Gordon schwankte und fiel zu Boden. Enrico stürzte sich auf ihn und hämmerte den Kopf seines Gegners auf den Beton, bis das Blut floß. Als er nicht aufhören wollte, griff Mike ein, Gordons Freund. Mike trug einen Wehrmachtshaarschnitt und 129
die übliche Skinhead-Kluft. Er trat Enrico mit der vollen Wucht seiner genagelten Stiefel in die Rippen, zog eine Gaspistole und schoß dem Rasenden die volle Ladung mitten ins Gesicht. Enrico begann zu husten, ließ von seinem Gegner ab und taumelte keuchend in die Baracke. Nun mischte sich ein weiterer Freund von Gordon ein – Dennis. Er rannte hinter Enrico her und feuerte mit einem Gasrevolver zweimal wahllos durch ein Fenster. Enrico verlor das Bewußtsein. Als er erwachte, loderten ringsum Flammen. Die Feuerwehr rettete ihn. Vom Krankenbett aus erstattete er Strafanzeige gegen Mike und Dennis. Monate später standen die beiden vor Gericht. Enrico, der als Zeuge aussagen sollte, konnte nicht erscheinen: Er befand sich wieder einmal auf der Flucht, wurde wegen diverser Autodiebstähle gesucht. Wer war der Gute, wer war der Böse? Schwere Körperverletzung oder Notwehr? Angriff mit gefährlicher Waffe oder Selbstverteidigung? Richter, Schöffen, Staatsanwalt und Verteidiger debattierten lang und breit über eine Welt, von der sie weniger wußten als über den hinteren Orient … Zum Hergang der Schlägerei gab es genügend Zeugenaussagen. Wie und wann das Feuer entstanden war, wußte niemand zu sagen. Am Ende drückte Justitia ein Auge zu, wohl getreu dem Motto ›Pack schlägt sich, Pack verträgt sich‹: Das Verfahren gegen Mike und Dennis wurde eingestellt. Sie mußten lediglich einen Rotkreuzlehrgang besuchen. Draußen vor der Tür wartete die Clique und reckte jubelnd die rechten Arme in die Höhe.
Der körperverletzende Kriegsdienstverweigerer Eine Illustrierte zitierte kurz vor dem Jugoslawien-Krieg einen deutschen Offizier, der in Mazedonien stationiert war und sich 130
auf den Ernstfall im Kosovo vorbereitete: »Irgendwann reicht es nicht mehr, nur die Muskeln zu zeigen. Wer pokert, muß auch bereit sein, den Einsatz zu geben.« Falko wurde 1975 geboren. Im September 1995, anläßlich seiner Musterung, beantragte er, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden. Damals war vielleicht an einen Einsatz im Kosovo noch nicht zu denken, doch Falko fand an dem Spruch ›Heute wacker, morgen auf dem Totenacker‹ ebensowenig Gefallen wie an der Aussicht ›Heute noch auf stolzen Rossen, morgen durch die Brust geschossen‹. Auch der Hinweis, daß Wehrpflichtige nicht in Krisengebiete entsandt werden, konnte ihn nicht beruhigen. Er schrieb: »Ich halte die Vorstellung, in einem Kriegsfall mit der Waffe Menschen töten zu müssen, für unvereinbar mit meinem Gewissen und meiner humanistischen Einstellung.« Das zuständige Bundesamt für Zivildienst prüfte seine Unterlagen und stellte fest, daß das polizeiliche Führungszeugnis fehlte. Falko wurde aufgefordert, es nachzureichen. Und siehe da, es wies zwei Eintragungen auf: Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung und eine Verurteilung wegen Fahrens ohne Führerschein. »Oho«, rief der Beamte im Bundesamt aus, »ein feines Früchtchen das. Schlägt massenhaft Leute zusammen und will sich dann auf Gewissenskonflikte berufen. Völlig unglaubhaft!« Er gab den Vorgang an den Ausschuß für Kriegsdienstverweigerung beim Kreiswehrersatzamt ab. In der mündlichen Verhandlung am 30.09.1996 hatte Falko einen schlechten Tag. Der Ausschuß konnte keine Anzeichen für die behauptete Gewissensnot erkennen. Der Antrag wurde abgelehnt. Falko legte Widerspruch ein. Am 19.10.1996 mußte er vor der Kammer für Kriegsdienstverweigerung antreten. Erneut wurde festgestellt, daß er nicht berechtigt sei, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Begründung: »Der Vortrag des Antragstellers war vom Inhalt131
lichen her wenig aufschlußreich und bot keinen hinreichenden Anhaltspunkt für das Vorliegen der behaupteten Gewissensnot. Es verbleiben Zweifel an der Güte der behaupteten Gewissensposition.« Falko reichte Klage ein. Das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht fand im Februar 1999 statt. Fünf Richter hatten zu beurteilen, ob für Falko Artikel 4 des Grundgesetzes gilt, daß niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf. Die Verhandlung dauerte anderthalb Stunden. Falko mußte seine Gewissensentscheidung ausführlich begründen. Die Richter fragten ihn auch nach dem eigentlichen Auslöser der Prozedur, nach der Ansicht der Behörde, sein Bekenntnis zum Gewaltverzicht stünde im krassen Widerspruch zur Eintragung im polizeilichen Führungszeugnis. Falko erzählte: »Ich hatte eine Ampel übersehen, bin bei Rot auf die Kreuzung gefahren und habe ein anderes Auto gerammt. Der Fahrer wurde verletzt und stellte Strafantrag. So kam ich zu meiner Verurteilung wegen Körperverletzung.« Die Richter waren wahrscheinlich die ersten Menschen in diesem Zusammenhang, die Falko richtig zugehört hatten. Sie maßen einem Verkehrsunfall (der jedem passieren kann) eine ganz andere Bedeutung zu als beispielsweise einem bewußten Faustschlag in das Gesicht eines Widersachers. Sie sprachen Falko endlich das Recht zu, Zivildienst leisten zu dürfen.
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Kündigung und Lärm Ein Kalk, ein Sand, ein Stein, ein Bier Traditionen sind wichtig, sie müssen bewahrt werden. Dachte sich jedenfalls der Bauarbeiter Marian. Deshalb widmete er sich täglich der Traditionspflege, getreu dem alten MaurerMotto ›Ein Kalk, ein Sand, ein Stein, ein Bier.‹ Leckere Pilssuppen, an heißen Sommertagen genossen, haben mitunter unliebsame Nebenwirkungen. Einmal stolperte Marian über einen Eisendraht, plumpste kopfüber in eine Baugrube und klatschte in den frischgeschütteten Beton. Ein andermal fiel Marian vom Gerüst. Wieder hatte er Glück im Unglück. Ein Stapel Kalksäcke bremste seinen Aufprall. Weiß gepudert und grinsend trat er aus der Staubwolke und reckte triumphierend die leere Bierpulle. Die Kollegen klatschten Beifall. Nur einer nicht: Sein völlig humorloser Chef Volkbert. Fünf Minuten später hielt Marian einen blauen Brief in der Hand. ›Fristlose Kündigung wegen Alkohol am Arbeitsplatz!‹ stand in ihm geschrieben. Es gibt viele Arten, sich unglücklich zu machen. Eine mittelständische Baufirma zu führen, ist eine davon. Am schlimmsten ist die schlechte Zahlungsmoral der Kunden. Speziell größere Bauträger versuchen mit allerlei legalen und illegalen Tricks, auf Kosten ihrer Subunternehmer so billig wie möglich davonzukommen. Ständig listen sie irgendwelche Mängel auf, monieren die Rechnungen und bezahlen sie nicht. Ein geflügeltes Wort lautet: ›Wenn bei einem größeren Bauvorhaben nicht mindestens zwei Firmen bankrott gehen, hat der Bauträger irgend etwas falsch gemacht.‹ Auch Volkbert konnte ein trauriges Lied davon singen. Der Pleitegeier schwebte ständig über ihm. Manchmal war das Geld so knapp, daß er seinen Leuten den Lohn nicht zahlen 133
konnte. Auch Marian war er bei dessen Kündigung noch drei Monatsgehälter schuldig. Doch der hatte infolge seiner alkoholischen Exzesse ein solch schlechtes Gewissen, daß er nicht aufmuckte. Ein Jahr lang jedenfalls. Dann forderte er knapp 8 000 DM sowie weitere rund 2 500 DM für Steuern und Sozialabgaben. Seine einfache Logik lautete: Wenn Volkbert mich nicht bezahlt hat, dann auch nicht die Renten- und Krankenkasse. Volkbert fühlte sich auf der sicheren Seite. Er verwies auf den Tarifvertrag und die darin geregelten Ausschlußfristen. Danach war Marians Lohnanspruch längst verjährt. Das Gericht teilte diese Ansicht nicht: »Sie haben Ihrem Mitarbeiter Gehaltsabrechnungen zugeschickt und damit Ihre Zahlungsverpflichtung schriftlich anerkannt. In diesem Fall gelten die tariflichen Ausschlußfristen nicht mehr.« Bezüglich der Steuern und Sozialabgaben versicherte Volkberts Steuerberater, der als Zeuge geladen war, daß diese Beträge in voller Höhe abgeführt worden seien. Daraufhin schlossen Marian und Volkbert einen Vergleich. Marian erhält einen Betrag in Höhe von 7 750 DM, zahlbar in vier Raten. Ob er sie tatsächlich bekommen wird, steht in den Sternen: Volkbert reicht das Wasser inzwischen bis zum Hals.
Krach im Treppenhaus Gildo wohnt in einem Mehrfamilienhaus. Das ist einerseits gut, weil er beim Nachbarn Mehl oder Zucker borgen kann. Das ist andererseits schlecht, weil es nicht nur gute Nachbarn gibt. An einem Freitag im Mai tobte in der Etage über Gildos Schlafzimmer eine wilde Fete. Aus Lautsprecherboxen dröhnte harter Sound, die Deckenlampe schlug wie ein Pendel aus. ›Musik wird störend oft empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden‹, dichtete schon Wilhelm Busch. Doch bei dem 134
Krach aus der Stereoanlage blieb es nicht. Die zahlreichen Gäste mußten sich nämlich ständig anschreien, weil sie sonst bei dem Lärm kein Wort verstanden hätten. Ab und zu fielen rumpelnd Möbelstücke um, zerschellten Gläser und Flaschen, knallten Fenster und Türen. Der Lärmgeplagte hantierte hoffnungslos mit einem Besenstiel. In dem Inferno über ihm konnte er sich mit seinen Klopfzeichen nicht bemerkbar machen. So ging es stundenlang. Plötzlich verlagerte sich der Radau aus der Wohnung hinaus ins Treppenhaus. Gildo stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Wütend riß er seine Wohnungstür auf und erblickte Joachim, seinen Obermieter, der in ein silberfarbenes Signalhorn blies. Gildos Augen quollen aus den Höhlen. Sein Blutdruck stieg, eine dicke Ader auf seiner Stirn begann zu pulsieren, und er sagte mit zuckersüßer Stimme: »Ruhe bitte, Onkelchen.« »Halt’s Maul, Saftsack«, konterte Joachim. Plötzlich sprangen zwei johlende Gestalten herbei, ergriffen Gildos Arme von links und von rechts und hoben ihn leicht in die Höhe. Joachim legte das Signalhorn ab, nahm Maß und verpaßte Gildo einen linken und einen rechten Haken. Die Wucht der Doublette war so stark, daß der Wehrlose rückwärts gegen die angelehnte Wohnungstür prallte und in seinen Flur purzelte. Dann ging das Licht aus. Als nächstes erblickte Gildo die entsetzten Augen seiner Frau Adelheid. Sie half dem Taumelnden auf die Beine. Als er in den Spiegel schaute, erschrak auch er. Die Schläge hatten gesessen. Ein doppelter Nasenbeinbruch, eine Jochbeinprellung, eine aufgeplatzte Oberlippe sowie ein Hämatom am linken Auge waren ihr schmerzhaftes Ergebnis. Gildo erstattete Strafanzeige und klagte auf Schmerzensgeld. Vor dem Zivilrichter stritt Joachim alles ab: »Es war Notwehr! Ich schlich auf leisen Sohlen die Treppe hinunter. Ich wollte meine Freunde Mino und Klaus zur Haustür bringen. 135
Plötzlich sprang der Verrückte auf mich zu und begann mich zu würgen. Mino: »Genauso war’s.« Klaus: »Der Wahnsinnige wollte unseren guten Freund grundlos allemachen. Joachim hat sich nur gewehrt.« Mit dieser Mischung aus Dichtung und Wahrheit beschäftigt sich nun die Staatsanwaltschaft. Sicherlich wird es ein Strafverfahren gegen alle drei wegen Körperverletzung und Falschaussage geben. Vom Zivilgericht wurde Joachim bereits dazu verurteilt, an Gildo 2 000 DM Schmerzensgeld zu zahlen. ›Böse Nachbarschaft ist schlimmer als Bauchschmerzen‹, sagt schon das Sprichwort.
Apachen gegen Cowboys Siegbert und Martina sind seit vierzig Jahren verheiratet. Ihre Ehe blieb kinderlos, was beide einerseits sehr bedauerten, andererseits aber gar nicht so schlecht fanden. »Uns geht es doch gut, was Mutter?«, meinte Siegbert ein über das andere Mal versonnen. Siegbert hatte als Zugführer bei der Eisenbahn gearbeitet. Mit Schnauzbart, fescher Mütze und frischgebügelter Uniformjacke war er bis zu seiner Pensionierung ein ganzer Kerl gewesen, nach dem sich die Mädchen gerne umdrehten, wenn er in seinen roten Triebwagen stieg. Die Nebenstrecke in die Kreisstadt war nun längst stillgelegt. Siegbert kümmerte sich um Haus, Hof und Garten, seine Fotosammlung seltener Lokomotiven und um den Kaninchenstall. Auf die oft gestellte Frage: »Verstehst du denn was von der Kaninchenzucht?« pflegte er zu antworten: »Ich nicht, aber dafür die Karnickel.« Der ganze Ärger begann damit, daß irgendeine Kommission über Land reiste und Geld unterbringen mußte. Das Dorf, in dem Siegbert und Martina wohnen, schließt sich 136
nahtlos an die Kreisstadt an. Dahinter beginnt ein wunderschöner großer Wald. Die wenigen kleinen Industriebetriebe der Gegend mickern ruhmlos vor sich hin, die Perspektive liegt eindeutig im Tourismus. Also wurde verkündet: Auf der Gemeindewiese vor Siegberts Haus wird ein Abenteuerspielplatz mit hölzernen Burgen, Zugbrücken und Palisadenzäunen errichtet. Dort können sich dann die blassen Stadtkinder so richtig austoben, während ihre Eltern im Freisitz vor dem Lindenkrug den Schaum von den Biergläsern pusten oder heißen Kaffee schlürfen. Zuerst beobachteten Siegbert und Martina recht interessiert das vielfältige Treiben vor ihren Fenstern: Mehrere Dutzend Arbeiter hantierten vom Frühjahr bis zum Herbst. Dann passierte lange Zeit überhaupt nichts. Doch im Frühjahr begann das Chaos: Komplette Schulklassen und Kindergartengruppen kreischten und tobten tagein, tagaus, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf dem Spielplatz und vergällten Siegbert seinen geliebten Mittagsschlaf. Weder Wattepfropfen, Baldrian noch die Ohrenschützer halfen. Draußen kämpften Apachen gegen Cowboys. Schließlich reichte Siegbert Klage ein. »Für mich als älteren Menschen ist dieses Gelärme unzumutbar. Entweder wird der Spielplatz geschlossen, oder genügend Aufsichtspersonal hat für Ruhe zu sorgen, basta!« Das Gericht war da allerdings anderer Meinung: »Nachbarn eines Kinderspielplatzes für Kinder unter zwölf Jahren müssen Beschränkungen hinnehmen, die üblich, adäquat und zumutbar sind. Gehen von solchen Kinderspielplätzen im wesentlichen Geräusche als Folge der natürlichen Lebensäußerung von Kindern aus, so halten sie sich im Rahmen des Gebietscharakters eines reinen Wohngebietes und sind mit dem Ruhebedürfnis der Anlieger regelmäßig vereinbar.« Siegbert hat sich von seinen Kaninchen getrennt. Er widmet sich nun einem neuen Hobby. Er übt auf seine alten Tage 137
Trompete und will eine Blaskapelle gründen. Mehrfach schon baten entnervte Eltern um Ruhe, weil der Amateur-Satchmo das Kriegsgeschrei der Indianer übertönte.
Der Schrecken in der Nacht Jürgen betrieb ein Fitneßcenter. Das war so eine Art moderne Folterkammer, wo sich Männlein und Weiblein mit den unterschiedlichsten Apparaten selbst quälten und dafür auch noch Geld bezahlten. Mit dem Schwabbelbauch hinein und als Muskelprotz wieder heraus, lautete der Slogan. Doch Ideal und Wirklichkeit klafften weit auseinander, denn vor den Erfolg hat der liebe Gott den Schweiß gesetzt. Hasso meldete sich im Januar als Dauerkunde zu einem Vorzugsjahresabonnement in der Schwitzbude von Jürgen an. Anfangs ging er regelmäßig dreimal pro Woche. In einem halben Jahr nahm sein Bizepsumfang tatsächlich um drei Zentimeter zu. Doch im Laufe der Zeit fand es Hasso interessanter, Biere zu stemmen. Schließlich blieb er ganz weg. Den Vertrag mit Jürgen zu kündigen, vergaß er. Eines Tages traf ein Brief vom Fitneßcenter ein. ›2 645 DM rückständige Mitgliedsbeiträge‹ lautete die schlechte Botschaft. Hasso reagierte nicht. Erst als ihm ein Mahnbescheid ins Haus flatterte, legte er Widerspruch ein. Dann erhielt er die Klageschrift. Guter Rat war teuer. Die Richterin schüttelte besorgt ihr weises Haupt. »Mein lieber Mann, Sie stecken in echten Schwierigkeiten. Sie haben die Frist für die Klageerwiderung verstreichen lassen. Nun hilft Ihnen nur noch ein juristischer Kniff: Sie tun so, als ob Sie heute gar nicht hier wären. Dann ergeht gegen Sie ein sogenanntes Versäumnisurteil, und Sie können sich immer noch verteidigen.« Hasso strahlte. Er fand die Richterin prima. 138
Jürgens Anwalt wurde puterrot und bekam bald einen Tobsuchtsanfall. Mit mühsam beherrschter Stimme beantragte er, die Richterin wegen Befangenheit abzulehnen. Das nächsthöhere Gericht teilte diese Meinung: »Der Senat ist der Ansicht, daß damit die Grenze der erlaubten richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflicht überschritten wurde, so daß aus der Sicht des Klägers Anlaß besteht, an der Unvoreingenommenheit der Richterin zu zweifeln.« Manchmal aber läuft es genau anders herum. Dann nützt auch zuviel Klugheit nichts, wie Störenfried Paul erfahren mußte. Dieser, ein munterer Knabe von 22 Lenzen, feierte in seiner Zweiraumwohnung Geburtstag. Dreißig Gäste tummelten sich nach heißen Diskoklängen. Von links, rechts, oben und unten hämmerten die Nachbarn mit Krückstöcken und Teppichklopfern – vergebens. Schließlich rief ein geplagter Mieter nach der Polizei. Paul wurde in barschem Ton aufgefordert, seine Stereoanlage leiser zu stellen. »Nun nennen Sie mir Namen, Vornamen, Geburtsort, Geburtsdatum und Wohnort. Gegen Sie wird ein Bußgeldverfahren eingeleitet.« »Ich denke nicht im Traum daran. Ich bin ein freier Bürger in einem freien Land. Die Zeiten des Polizeistaates sind lange vorüber. Außerdem gibt es Datenschutz«, erwiderte keck das Geburtstagskind. Statt eines Bußgeldverfahrens handelte sich Paul damit zwei ein. Wegen des Lärms sollte er 200 DM bezahlen und für die Verweigerung der Namensangabe 150 DM. Paul ging zu einem schlauen Anwalt, und der legte Beschwerde ein. »Das waren nicht zwei verschiedene Vorgänge, sondern der Anfang und das Ende einer Handlung. Deshalb sind zwei Bußgeldverfahren rechtswidrig.« Der Richter lächelte mild. Hokuspokus fidibus – aus zwei machte er eins. »Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache aber nur insoweit Erfolg, als das Amtsgericht den Betroffenen wegen zweier rechtlich zusammentreffender vorsätz139
licher Ordnungswidrigkeiten der Zuwiderhandlung gegen ein lärmschützendes Verbot verurteilt hat.« Paul muß nicht 200 DM plus 150 DM zahlen, sondern nur noch einmal 350 DM …
Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sein Graupapagei Lisbeth plagte das Fernweh. Die knusprige Endzwanzigerin in hautengen Jeans träumte von Überseereisen, weißen Palmenstränden, Sonnenuntergängen über dem azurnen Meer, heißen Limbo-Tänzen im Bananenkleid. Doch die triste Wirklichkeit sah anders aus. Statt im PorscheCabriolet mit wehendem Schal via Costa del Sol raste sie morgens im Minicooper zum Landwarenhaus, welches jetzt Supermarkt hieß. Dort saß sie dann an der Kasse, tippte Zahlenkolonnen ein, schaute lediglich von Zeit zu Zeit sehnsüchtig auf eine buntschillernde Ansichtskarte, die im Zettelhalter klemmte. Zu Hause holte sie sich die weite Welt ms Zimmer. Da mixte sich Lisbeth einen Tequila Sunrise, legte Salsa-Musik auf und schäkerte mit Napoleon, einem 19jährigen Graupapagei, den sie für viel, viel Geld in einem Zoogeschäft gekauft hatte. Dieser Vogel, der in afrikanischen Ländern rund um den Äquator zu Hause ist, gehörte zu den ausgesprochenen Plappermäulern unter den Gefiederten. Und hier – Sie ahnen es – begann auch schon der Ärger. Lisbeth wohnte nämlich in der ersten Etage eines VierFamilien-Hauses. Wenn sie zur Arbeit ging und Seine Majestät der Papagei allein auf seiner Stange saß, stieß dieser schrille Pfiffe aus, die so manches Mal über einen Zeitraum von zwei Stunden mit nur kurzen Unterbrechungen andauerten. Nachbarin Clarissa wohnte in der zweiten Etage. Als Vorruheständlerin hatte sie sehr viel freie Zeit, die sie vor allem da140
mit verbrachte, ihre Wohnung aufzuräumen, lange Kreuzworträtsel zu lösen und den dicken Kater Frodewin zu streicheln. Schwarze Katzen haben eine genauso natürliche Antipathie gegen graue Vögel wie Cellulitisopfer gegen Knackärsche. All dieses hätte sich ja noch ertragen lassen, wenn da nicht das ständige, nervende Gekreische von Napoleon gewesen wäre. Clarissa begann unter Dauerkopfschmerzen zu leiden. Ohrenstöpsel halfen ebensowenig wie Gesichtsgüsse mit kaltem Wasser. Nachbarin Lisbeth zeigte sich wenig einsichtsvoll. »Soll ich meinem Liebling etwa den Schnabel zubinden?«, meinte sie schnippisch. Nachbarin Clarissa verklagte Nachbarin Lisbeth. Das Gericht stellte fest, daß die Pfiffe des gefiederten Hausgenossen die ortsübliche Lärmbelästigung bei weitem überstiegen. Graupapageien hätten eine durchschnittliche Alterserwartung von 30 bis 50 Jahren. Das Exemplar der Verklagten stehe erst in der Blüte seiner Jahre. Es sei mit Sicherheit noch steigerungsfähig. Denn: Je älter die Tiere würden, desto stärker sei auch ihr Kommunikationsbedürfnis. Da sie zudem sehr sozial veranlagt seien und Zuwendung durch den Menschen benötigten, würde es bei fehlenden Streicheleinheiten zu vermehrter Lautäußerung kommen. Diese sei rhythmischer Natur und dauere normalerweise längere Zeit an. Papageien – insbesondere solche, die öfters allein seien – würden laute Kontaktschreie und Rufe von sich geben. Entscheidend für das Empfinden des Menschen wäre dabei weniger die Lautstärke als die sehr obertonreiche Frequenz, die sich für das menschliche Gehör – wie hier geschehen – sogar schmerzhaft auswirken könne. Lisbeth mußte – als logische Konsequenz aus all dem – zunächst eine Geldbuße in Höhe von 100 DM entrichten. Sie hat dafür zu sorgen, daß Napoleon in Zukunft seinen Schnabel hält. Wenn ihr das nicht gelingt, wird sie sich möglicherweise bald von ihm trennen müssen. 141
Lehrer, Lügen, Makler 15 000 DM für den gierigsten Pauker Achim arbeitet bei einer Tageszeitung von jener Sorte, wo der größte Wert auf eine reißerische Überschrift gelegt wird. Eines Tages quälte er sich auf der Suche nach einer Story durch voluminöses, stocktrockenes Druckwerk, das sich außer ihm kaum ein anderer freiwillig zu Gemüte ziehen würde: Den Jahresbericht des Rechnungshofes seines Bundeslandes. Achim wendete gähnend Seite um Seite. Das Kursbuch zu lesen wäre zehnmal spannender gewesen. Doch plötzlich, heureka, fand er die Nadel im Heuhaufen. In dem Bericht stand geschrieben: »Bei einem im Oktober 1993 erkrankten Lehrer (höheres Lehramt) beschränkte sich die Tätigkeit der Verwaltung im wesentlichen darauf, vom Amtsarzt bestätigen zu lassen, daß der Beamte weiterhin dienstunfähig sei. Während seiner Dienstunfähigkeit hat der Beamte mit Erfolg seine Promotion betrieben. Die ärztlicherseits zur Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit dringend angeratene Heilkur hat er länger als ein Jahr hinausgezögert. Die vorliegenden amtsärztlichen Untersuchungsergebnisse lassen die Verwaltung über Einzelheiten zur Beurteilung der Dienstunfähigkeit im unklaren. So könnte sich die Angelegenheit noch jahrelang hinziehen. Der Beamte erhält seit Oktober 1993 ohne Arbeitsleistung unverändert seine vollen Bezüge. Nach den Durchschnittssätzen für das Jahr 1995 sind das 91 180 DM. Inzwischen bewirbt er sich, obwohl immer noch erkrankt, um verschiedene höher dotierte Leitungspositionen.« Ein Journalist, der im Leben bestehen will, muß über gute Kontakte verfügen. Achim zählte 1+1 zusammen, kramte in seinem Telefonverzeichnis und tätigte mehrere Anrufe. Nach einer halben Stunde hatte er den Namen des Lehrers herausge142
funden. Er hieß Hubert und wohnte wenige Querstraßen von der Redaktion entfernt. Achim legte sich vor dem Haus mit einer Kamera auf die Lauer. Drei Stunden später wurde seine Geduld belohnt. Hubert trat aus der Tür. Achim fingerte am Teleobjektiv, der Verschluß klickte. Rumms, am nächsten Tag schrie die Überschrift von Seite 1: »Der gierigste Pauker!« Darunter war Hubert in voller Lebensgröße abgebildet, nur seine Augen wurden von einem schmalen schwarzen Balken verdeckt. Als Hubert nach dem Frühstück in den Tabakwarenladen um die Ecke ging, um sich wie jeden Tag eine Schachtel seiner Lieblingszigaretten zu holen, erstarben die Gespräche schlagartig. Feindseliges Schweigen schlug ihm entgehen. »Ihre Glimmstengel sind aus. Nehmen Sie statt dessen die Lokalpresse mit«, schlug der Verkäufer höhnisch lächelnd vor. Als Hubert den Text las, konnte er nur noch mühsam stöhnen. »Der gierigste Pauker. Er machte drei Jahre krank, baute seinen Doktor und will jetzt mehr Gehalt«, lautete sein Charakteristikum. Hubert reichte sofort Klage ein. Er verlangte die Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 10 000 DM für die ihn beeinträchtigende Presseveröffentlichung. »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.« Manchmal stimmen Sprichwörter sogar. Der Richter sprach Hubert weit mehr als gefordert zu, nämlich satte 15 000 DM Schmerzensgeld. Die merkwürdige (also die des Merkens würdige) Begründung lautete: »Dem Kläger ist in seiner Auffassung zu folgen, daß er durch die Art der Berichterstattung dem Publikum sozusagen stellvertretend für alle dauerkranken Beamten, die tatsächlich gar nicht krank sind, vorgeführt wird. Inhalt und Aufmachung des Artikels sind geeignet, ihn erheblich in der Öffentlichkeit herabzusetzen und Neid-, wenn nicht gar Haßgefühle in der Bevölkerung hervorzurufen. Es ist dem Beklagten unbenommen, vermeintliche Mißstände auch und gerade im 143
öffentlichen Dienst aufzudecken und ggf. auch anzuprangern, dafür ist es aber nicht erforderlich, die betreffende Person beim Namen zu nennen oder – wie hier – auf andere Weise kenntlich zu machen.« Für diese Rechtsansicht des Richters gibt es auch ein passendes Sprichwort: ›Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!‹
Kniestoß in die Magengrube Elvira war 1,58 Meter groß, wog knapp 50 Kilo, hatte eine spitze Nase und trug eine Brille. Elvira arbeitete als Lehrerin am Gymnasium. Zweimal im Jahr litt sie unter scharfem Sodbrennen, saurem Atem und verstärkter Transpiration: Immer dann, wenn sie mit ihrer neunten Klasse auf Klassenfahrt gehen mußte. Die Schüler waren ausnahmslos ein bis zwei Köpfe größer als sie, rauchten wie Schlote und hatten nur Unsinn im Sinn. Am meisten fürchtete sich die zierliche Lehrerin vor den Nächten in den Jugendherbergen. Dann schlichen sich ihre Jungs heimlich in die Mädchenzimmer, spielten Gespenster, lieferten sich Kissenschlachten, und aus der Herrentoilette klang das Klimpern von Flaschen mit hochprozentigem Inhalt. Auch an jenem Abend, um den es hier geht, fühlte sich Elvira wieder einer Ohnmacht nahe. Es war ihr zwar gelungen, die Jungs nach einer anstrengenden Tageswanderung mit anschließendem abendlichem Stadtrundgang in die Waschräume zu treiben, aber dort klatschten sich die Taugenichtse nasse Handtücher um die Ohren. Der Hausmeister scheuchte die Bengels in den Schlafsaal. Fünf Minuten lang herrschte Ruhe. Elvira atmete auf und löschte das Licht. Doch kaum hatte sie den Raum verlassen, hörte sie das Getrappel von nackten Füßen. Tief seufzend kehr144
te Elvira zurück und knipste das Licht wieder an. Kein einziger ihrer Schützlinge lag im Bett! Einige Schüler hatten Kameraden huckepack genommen und lieferten sich Reiterkämpfe. Ein rotblonder Junge namens Anselm wendete seinen Blick und schrie laut: »Kommen Sie auf meine Schulter, Frau Lehrerin!« Diesen Moment der Unaufmerksamkeit benutzte sein Gegenüber und rammte ihm das Knie in die Magengrube. Anselm wurde kreidebleich und brach zusammen. Sofort herrschte eisige Stille im Saal. Anselm war ohnmächtig. Im Krankenhaus wurde ein stumpfes Bauchtrauma mit einem Riß des Dünndarms festgestellt. Eine langwierige Behandlung schloß sich an. Doch das eigentliche Drama begann nach der Genesung. Die gesetzliche Unfallversicherung weigerte sich nämlich, für die Kosten aufzukommen. Wenn nicht sie, wer dann? Elvira? Der Streit tobte durch drei Instanzen. Erst das Bundessozialgericht entschied, daß Versicherungsschutz bestehen würde, weil sich Anselm seine Verletzungen im Rahmen einer Klassenfahrt zugezogen habe und der Kniestoß deshalb als Arbeitsunfall einzustufen sei: »Klassenfahrten dienen der Förderung des sozialen Verhaltens in der Gruppe. Der Zeitraum im Schlafsaal zwischen der angeordneten Nachtruhe und der tatsächlich eingetretenen Ruhe ist für die Gruppendynamik geradezu typisch. Der Grund liegt im jugendlichen Spieltrieb, aber auch im Zwang zur Einordnung, der regelmäßig zu Spannungen führt.« Elvira klagt neuerdings über Magengeschwüre. Ob sie als Berufskrankheit anerkannt werden, bleibt ungewiß.
Der kleine Thomas Es soll tatsächlich Leute geben, die sich gerne an ihre Schulzeit erinnern. Beispielsweise der 98jährige Aaron Smith in Austra145
lien, der allerdings nur die erste Klasse besuchte. In der Regel werden sogar Oberstaatssekretäre und Professorinnen für angewandte Ägyptologie von einer Art Schüttellähmung befallen, sobald die Rede auf die harten Jahre an der Penne kommt. Weshalb ist das so? Weil sich – einer allgemeinen Verschwörungstheorie zufolge – unter all den braven Lehrerlein, die nichts weiter im Sinn haben, als ihre dummen Schafe auf den Weg ins Leben vorzubereiten, immer ein ausgekochter Sadist befindet, und zwar an allen Schulen, in jedem Jahrgang. Der kleine Thomas weiß ein trauriges Lied davon zu singen. Er ging in die dritte Klasse und war im Wachstum (nicht im Geiste!) etwas zurückgeblieben. Selbst die ABC-Schützen überragten ihn um halbe Haupteslänge. Die logische Folge davon war, daß ihn sämtliche Schulkameraden hänselten, wo sie nur konnten. Doch damit nicht genug. Auch Deutsch- und Turnlehrer Etzel ließ kaum einen Tag vergehen, ohne einen Scherz auf Kosten von Thomas zu machen. Im Sportunterricht war Thomas stets der erste Kandidat beim Stangenklettern, jener bewährten Foltermethode seit den Zeiten der Inquisition. In der Deutschstunde mußte Thomas immer Gedichte aufsagen, was infolge seiner piepsigen Stimme zu großen Heiterkeitsausbrüchen auf allen Bänken führte. Einmal brachte ein Mitschüler das gerahmte Bild eines Schimpansen mit, um das Klassenzimmer damit zu verschönern. »Hat das gute Tier schon einen Namen?«, fragte scheinheilig Lehrer Etzel. »Nein? Dann schlage ich vor, es auf den Namen ›Thomas‹ zu taufen!« Das anschließende Gebrüll der ausgelassenen Rangen war so laut, daß sogar der betrunkene Hausmeister aus seiner Mittagsruhe aufschreckte. Ein anderes Mal beobachtete Lehrer Etzel, wie ein Mädchen namens Sabrina eine Art Spickzettel vollkritzelte. Zack, entriß er ihm den Fetzen Papier, warf einen Blick darauf, stieß ein lautes Wiehern aus, ähnlich einem liebestollen Ackergaul, und 146
las dann laut vor: »Thomas, du bist zwar saudumm, trotzdem lieben wir dich. Warum? Weil du nur zwei Millimeter groß bist!« Die Folgen für den kleinen Thomas waren dramatisch. Er litt unter Alpträumen, näßte nachts ein und war nur noch mit Gewalt zum Schulbesuch zu bewegen. Die besorgten Eltern gingen mit ihm zu einem Psychologen, und der fand sehr schnell die Wurzel des Übels heraus. Die Eltern stellten Lehrer Etzel zur Rede, doch der kanzelte sie kalt ab: »Suchen Sie die Schuld bei sich und nicht bei anderen!« Nun war das Maß voll. Die Eltern verklagten das Land, in dessen Diensten Etzel tätig war, auf 1 600 DM Schmerzensgeld. Das Gericht fand, daß der Lehrer seine Amtspflichten verletzt habe: »Anstatt die Beleidigungen der Mitschüler zu unterbinden und den Schüler vor Schaden zu bewahren, wie es seine Pflicht gewesen wäre, hat er die Klasse zur Verspottung des Jungen geradezu aufgestachelt. Das stellt einen gravierenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Schülers dar, der anders als durch Geld nicht mehr ausgeglichen werden kann. 1 600 DM sind angemessen.« Der kleine Thomas bekam ein neues Mountainbike und ist überdies fünfzehn Zentimeter gewachsen. Wie schon die alten Lateiner sagten: ›Non scholae, sed vitae discimus – Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir.‹
Der Welten Acker und Pflug ›Lug und Trug ist der Welten Acker und Pflug‹, sagt das Sprichwort. Die Lüge gehört zum normalen Leben. Wissenschaftler haben herausgefunden, daß jeder Mensch täglich zwanzig- bis dreißigmal lügt: Aus Bequemlichkeit, um einen 147
anderen nicht zu verletzen, um einer Diskussion aus dem Weg zu gehen usw. usf. ›Wie geht es Ihnen?‹ – ›Gut.‹ ›Wie gefällt dir mein neuer Hut?‹ – ›Ausgezeichnet!‹ ›Wo bist du so lange gewesen?‹ – ›Ich hatte Überstunden.‹ Diese kleinen Notlügen haben selten schwerwiegende Folgen, und meistens will der Gesprächspartner ja auch gar nicht die Wahrheit hören. Beispielsweise sollte sich der treusorgende Gatte hüten, seiner liebenden Ehefrau auf die rhetorische Frage: ›Findest du nicht auch, daß mich das lila Kleid älter macht?‹ zu antworten: ›Ja, so alt wie Steinkohle.‹ Doch es gibt auch andere Lügen, richtig böse. Aribert betrieb ein Fitneßstudio, aber die Geschäfte gingen schlecht. Die Kunden machten sich rar, die Kredite und die Miete drückten. Schweren Herzens schloß Aribert kurz vor Weihnachten seinen Laden. Die Lieferanten holten die Trimm-Geräte ab, der Rest des Inventars landete auf dem Sperrmüll. Nun mußte nur noch eine Terrasse von Lattenrosten beräumt werden. Aribert blätterte im Branchenbuch und stieß auf den Eintrag: ›Siggi’s Service – Transporte aller Art‹. Aribert rief an und schilderte sein Anliegen. Sieghild, die Service-Chefin, ließ sich den Auftrag genau erklären, stellte noch diese und jene Frage und meinte dann: »Wir brauchen zwei Mann, um die Roste auseinanderzusägen. Ein Tag Arbeit plus Lkw. Kurz und gut, 1 000 Piepen bar auf die Kralle.« Mitte Januar erhielt Aribert eine Rechnung über 1 000 DM. Da er nicht zahlte und auch zwei Mahnungen nicht beachtete, reichte Sieghild Klage gegen ihn ein. Begründung: »Die Arbeiten wurden am 11. Januar ausgeführt.« Aribert erwiderte: »Der Preis war zu hoch. Ein Vertrag ist nicht zustande gekommen. Ich habe die Lattenroste selbst demontiert und abtransportiert, und zwar schon am 4. Januar.« In der Gerichtsverhandlung machte die Richterin ein sehr fin148
steres Gesicht. »Einer von Ihnen lügt wie gedruckt«, meinte sie wütend. Dann ordnete sie an, eine Reihe von Zeugen zu vernehmen: 1. Sieghilds Mann Waldemar, 2. den Mitarbeiter des Service-Unternehmens Sebe, 3. Oswald (einen Helfer von Aribert), 4. Niklas (einen weiteren Helfer). Waldemar und Sebe schworen Stein und Bein, sie hätten am 11. Januar die Lattenroste zersägt und abtransportiert. Oswald und Niklas behaupteten genau das Gegenteil: »Die Terrassenauflage wurde von uns bereits am 4. Januar fortgeschafft.« Nun war guter Rat teuer. Nach welcher Seite würde sich die Waage neigen? Die Klage wurde abgewiesen. Sieghild bekommt kein Geld. Begründung: »Es steht nicht fest, daß ein Werkvertrag zustande gekommen ist und daß die Klägerin die Arbeiten tatsächlich durchgeführt hat. Das Gericht hat keine Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugen Oswald und Niklas. Diese stehen eben nicht in einem sogenannten Abhängigkeitsverhältnis zum Beklagten. Hingegen handelt es sich bei dem Zeugen Waldemar um den Ehemann der Klägerin und bei dem Zeugen Sebe um einen Arbeitnehmer. Ohne die Glaubwürdigkeit dieser Zeugen geringzuschätzen, haben diese jedoch ein berechtigtes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits.« Manchmal ist selbst im Gerichtssaal auf den gesunden Menschenverstand Verlaß.
Wer nichts wird, wird nicht immer Wirt Von Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs, so geht die Sage, sollen vor allem zwei Berufsgruppen profitieren: Die Pfarrer und die Wirtsleute. Doch was vielleicht in den zwanziger Jah149
ren wahr war, stimmt heute längst nicht mehr. Trotz ständig steigender Arbeitslosenzahlen predigen die Seelenhirten vor halbleeren Bänken, und in vielen Kneipen ist der Wirt sein bester Gast. Es hockt sich halt bequemer im Jogginganzug auf dem weichen Sofa vor der Glotze als im schwarzen Anzug auf hartem Kirchengestühl. Drei Büchsen Billigbier kosten weniger als eine zischende Molle im Schanklokal, und halb besoffen ist rausgeschmissenes Geld. Die Banken wissen das schon lange. Wenn’s um Geld geht, Sparkasse, es sei denn, es handelt sich um ein Lokal. Deshalb ist es viel einfacher, fünf Millionen DM für ein Joint Venture in Singapur zur Produktion von sprechenden Gartenzwergen zu bekommen als einen sogenannten Kleinkredit zum Kauf eines Restaurants. Lieselotte war eine ansehnliche Mittvierzigerin mit viel Holz vor der Tür. Zwei Jahre lang rekelte sie sich, wie gewisse Berufspolitiker gerne zu sagen pflegen, in der sozialen Hängematte. Mit anderen Worten: Sie war arbeitslos. Dann besann sie sich auf das alte Sprichwort ›Wer nichts wird, wird Wirt‹. Den Anstoß zu diesem Entschluß hatte sie bei der Lektüre einer Anzeigenzeitung erhalten: ›Günstige Gelegenheit! Geschäftsaufgabe! Gebe gut gehende Gaststätte gegen geringstes Gebot ab.‹ Lieselotte dachte sich: Kochen kann ich, das Bier läuft von selbst aus dem Hahn, und den Rest lerne ich eins, zwei fix dazu. Bin ja nicht blöd! Makler Meinhard beugte sich vornüber, um besser in ihren Blusenausschnitt schielen zu können, und bestärkte sie in ihrer hoffnungslosen Selbstüberschätzung: »Gnädige Frau, Sie haben das Herz am rechten Fleck, wie man sieht, denn sie sind zupackend und dynamisch. Schlagen Sie zu!« ›Das Wirtshaus am See‹, so hieß das Verkaufsobjekt, befand sich tatsächlich in einem überraschend guten Zustand. Stühle, Tische, Gläser, Geschirr, Töpfe und Pfannen gab es im Über150
fluß. Im Gastraum roch es zwar ein wenig muffig, und die Toiletten stammten offenbar aus den Zeiten des sozialistischen Frühlings auf dem Lande, doch einer sofortigen Wiedereröffnung stand weiter nichts im Wege. 500 000 DM sollten Grundstück und Haus nebst Inventar kosten. Weniger wäre geschenkt gewesen. Lieselotte rechnete: 15 000 DM von der Oma, 10 000 DM von Onkel Henry, 5 000 DM vom Konto und 20 000 DM Festgeld aus besseren Zeiten. »Zehn Prozent Eigenkapital müßten reichen, nicht wahr? Den Rest finanziert die Bank. Stimmt doch?« »Sie kennen sich gut aus, gnädige Frau«, erwiderte Meinhard und zerrte Lieselotte zum Notar. In den Vertrag ließ er eine Klausel aufnehmen: »Maklerlohn 8% vom Kaufpreis, zahlbar bei Vertragsabschluß.« Aber schade, schade. Keine Bank weit und breit wollte Lieselotte auch nur eine einzige Mark pumpen. Der Notarvertrag mußte rückabgewickelt werden. Lieselottes kleines Kapital schmolz durch die Kosten dahin wie Butter in der Sonne. Dann kam Meinhard und hielt die Hand auf: »Wo bleiben meine 40 000 DM Maklerprovision?« Lieselotte wollte und konnte nicht mehr zahlen, und so kam die Sache vor den Kadi. Natürlich würde es kaum ein Richter wagen, die Kreditpolitik deutscher Banken zu kritisieren, aber das Gericht fand ein anderes Haar in der Suppe: »Ein Immobilienhändler hat zwar nicht die Aufgabe, Nachforschungen über die finanzielle Situation seiner Auftraggeber anzustellen. Drängen sich aber Zweifel an der Finanzierbarkeit eines Grundstückskaufs auf, so muß der Makler vor dem Abschluß des notariellen Kaufvertrags warnen. Daß der Kaufinteressentin in diesem Fall sowohl die Erfahrung als auch die nötigen Mittel gefehlt haben, war offenkundig.« Lieselotte erhielt noch einen Rat mit auf den Weg: »Der Beklagten steht ein Schadensersatzanspruch gegenüber dem Makler zu.«
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Miete, Mietwagen, Mitleid Bekloppte Kuh und fette Sau Als der alte Johann im Sterben lag, rief er seine beiden Söhne zu sich ans Bett und sagte: »Kinder, mit mir geht es zu Ende. Das Leben hat es nicht immer gut mit mir gemeint, doch wenigstens den Hof konnte ich halten. Und so soll es bleiben. Deshalb erbst du, Odin, die Wirtschaft. Und du, Lutmar, bekommst das Geld.« Sprach’s, machte die Augen zu und wachte nicht wieder auf. Zwei Jahre vergingen. Odin wohnte mit seiner Frau unten im Haus, Lutmar hatte es sich in der ersten Etage bequem gemacht. Odin ging arbeiten, wie gewohnt. Lutmar hingegen lebte von den Spargroschen seines Vaters, trank von morgens bis abends Bier und warf die Flaschen aus dem Fenster. Jede Nacht gegen drei, wenn er aus dem Koma erwachte, pflegte er laute Musik zu hören. ›Blut ist dicker als Wasser‹, sagt das Sprichwort, aber irgendwann brannten bei Odin die Sicherungen durch. Er hämmerte mit dem Besenstiel an die Decke und schrie: »Gib endlich Ruhe, du Drecksack!« »Halt die Schnauze, fette Sau. Du bist genauso blöde wie die bekloppte Kuh neben dir«, tönte es fröhlich von oben zurück, untermalt von einem rhythmischen Schlagzeugsolo. Odin ging zu einem Anwalt, um sich Rat zu holen. »Die Sache ist ganz einfach«, meinte der. »Obwohl es sich um Ihr Elternhaus handelt, sind Sie nun der alleinige Eigentümer. In der Rechtsstellung zu Ihrem Bruder treten Sie demzufolge als Vermieter auf. Wenn Ihr Mieter Sie also permanent stört, müssen Sie ihm die Wohnung kündigen.« Einige Wochen lang herrschte Ruhe vor dem großen Sturm. 152
Lutmar wurde nämlich von Flatulenzen und anderen Störungen im gastrischen System gequält, die ihn von jeglichen Trinkund Lärmexzessen abhielten. Dann tat die lindernde Kraft von warmen Wickeln und Kamillentee ihre Wirkung. Lutmar griff wieder zur Flasche und später zur Taste der Stereoanlage. Odin begnügte sich nun nicht mehr mit dem Besenstiel. Er rannte wütend die Treppe hinauf und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür. Lutmar revanchierte sich, indem er im Bad mit einem Hammer die Fliesen von der Wand zu schlagen begann. Am nächsten Morgen, als er gegen 16 Uhr aufstand, fand er auf der Schwelle einen Brief. ›Hiermit kündige ich Ihnen fristlos!‹ stand dort geschrieben. Da Lutmar nicht freiwillig auszog, trug Odin die Sache vor Gericht. »Aber Euer Ehren«, rief Lutmar in der Verhandlung aus. »Für eine fristlose Kündigung besteht überhaupt kein Raum. Mich trifft an der Zerrüttung keine Schuld. Ich benamste meinen Bruder nur als fette Sau, weil er mich als Drecksack titulierte. Die Fliesen im Bad habe ich nicht entfernt, um Lärm zu machen, sondern zum Behuf des Renovierens.« Doch der Richter winkte nur müde ab: »Quackeldiequack. Darauf kommt es überhaupt nicht an. Das Verhältnis zwischen Mieter und Vermieter ist offenkundig so gestört, daß für den Vermieter eine Fortsetzung des Mietverhältnisses schlichtweg unzumutbar erscheint. Von wem im Einzelfall die Störungen ausgingen, ist im nachhinein zwar nicht mehr feststellbar. Aber ein weiteres Zusammenleben der Mietparteien ist in dieser feindseligen Atmosphäre nicht länger möglich.« Der Richter handelte getreu dem Motto: ›Wer sich mit seinem Bruder schlägt / Dem sollst du deine Hilf abschlagen / Denn wer sich mit dem Bruder nicht verträgt / Wird mit dem Freunde sich noch weniger vertragen.‹ Lutmar muß ausziehen.
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Ohne Wasser, merkt euch das … Die LPG in der mittelgroßen brandenburgischen Gemeinde war still dahingeschieden. Ein Teil der Bauern ging in Rente, ein anderer, geringerer Teil fand Arbeit als Zeitungsausträger, Müllmann und Versicherungsvertreter. Die wenigen Landbesitzer spekulierten glücklos mit ihren Äckern und fielen auf alle möglichen Nepper, Schlepper und Bauernfänger herein, die dummes Zeug von Millionenbeträgen schwatzten. In dem Maße, wie die LPG schrumpfte, hatte sie einen Teil der Ställe, Schuppen und Funktionsgebäude an Autohändler, Baubetriebe und ortsansässige Handwerker vermietet. Später trat eine GmbH an ihrer Stelle als Vermieter auf. Einer der Mieter war Konstantin. Er stammte aus dem Sauerland und besaß eine gute Nase für Geschäfte. Den ›Aufschwung Ost‹ fand er toll. Er ermöglichte ihm den eigenen Aufschwung in dem guten Glauben, sozial zu denken und zu handeln. Konstantin betrieb einen Groß- und Einzelhandel mit Produkten für Haus, Hof und Garten. In seinem Panzerschrank lag ein Mietvertrag, der ihm eine Festmiete bis zum Jahr 2005 garantierte: 10 DM pro Quadratmeter. Das summierte sich zu einer monatlichen Miete von 8 000 DM. ›Denken hilft Kosten senken‹, lautete eine Maxime von Konstantin. Er legte darum die Füße auf den Schreibtisch, zog die Stirn in Falten und ließ sich von seiner Sekretärin Tanja einen Kaffee kochen. Doch igittigitt. Kein Geschmack nach sanfter Bohne oder vollem Verwöhnaroma! Die kriminalistische Recherche ergab: Der Bleigehalt des Trinkwassers betrug 0,23 mg je Liter und überschritt damit bei weitem die zulässige Grenze von 0,04 mg. Konstantin reichte Klage ein. Er forderte eine saftige Mietpreisminderung. Das Gericht: »Grundsätzlich gehört bei der hier vorgenommenen Vermietung von Büro- und Lagerräumen zu Gewerbezwecken auch eine den Rechtsvorschriften entsprechende Qualität des Trinkwassers zu den Eigenschaften der 154
Mietsache, welche ihren vertragsgemäßen Gebrauch mitbestimmen. Der Kläger muß sich nicht entschädigungslos darauf verweisen lassen, daß andere Zapfstellen qualitativ besseres Wasser geben, da es zum vertragsgemäßen Zustand der Mietsache gehört, daß im mitvermieteten Bereich Küche und nicht an anderer Stelle Trinkwasser zur Verfügung steht. Im Hinblick auf die Tatsache, daß der Kläger nur vier bis sechs Mitarbeiter beschäftigt und der größte Teil der Fläche zu Lagerzwecken vermietet ist, erscheint eine Mietzinsminderung von höchstens fünf Prozent angemessen, was monatlich einem Betrag von 400 DM entspricht.« Konstantin läßt sich jetzt seinen Kaffee mit Mineralwasser kochen. Auf die Woche umgerechnet reichen die 400 Mark gut und gerne für 10 Liter Sprudel pro Tag.
Wer anderen aufs Dach steigen will Es gibt sie nicht nur in Berlin-Marzahn, in Leipzig-Grünau oder in Halle-Neustadt: Nein, die Segnungen der einst modernen, nun verpönten Großplattenbauweise sind landauf, landab unübersehbar. Selbst in allerkleinsten Dörfern stehen sie klotzig am Feldesrand, die grauen Blöcke, die einst das Wohnungsbauprogramm erfüllen halfen, den Mietern Vollkomfort versprachen und Wohnregale genannt wurden. Dies bedeutete: Heißes Wasser aus der Wand und warme Stube im Winter. Aber auch: Räumliche Enge und belastende Hellhörigkeit, über die nur die geringen Mieten hinwegtrösteten. Nun, da die gepfefferten Preiserhöhungen den Mietern die Tränen in die Augen treiben, hat dieser ›Vollkomfort‹ allerdings den letzten Rest des früheren Glanzes verloren. In einem kleinen Ort in Sachsen-Anhalt stehen mitten im ehemaligen Park, direkt neben dem verfallenen Gutshaus, drei hellgelbe, an Türen und Fenstern braun abgesetzte Sechsge155
schosser mit schmalen Balkons. Die Mieter dieser Neubauten hatten beim Warten auf die blühenden Landschaften sehr viel freie Zeit, die sie vor allem vor ihren Fernsehapparaten verbrachten, gespeist von einer vorsintflutlichen Gemeinschaftsantennenanlage. Die Gemeindeverwaltung als Vermieterin wollte ihren Bürgern etwas Gutes tun und schrieb deshalb die Verkabelung der Häuser aus. Mehrere Firmen bewarben sich, der Hauptausschuß wählte das günstigste Angebot aus, und wenige Wochen später sollten sämtliche Wohnungen angeschlossen sein und Zugang zu vielen, vielen Fernsehprogrammen bekommen. Auch die Firma ›SMIDAK‹ (Schau mir in die Augen, Kleines), die Satellitenanlagen vertreibt, erfuhr davon. Sie beteiligte sich zwar nicht an der Ausschreibung, unterbreitete der Gemeindeverwaltung aber trotzdem ein Angebot. Doch der Bürgermeister wies sie ab. »Wir wollen im Keller knallhartes Kabelfernsehen und keine lustigen Salatschüsseln auf dem Dach«, meinte er und warf das Angebot in den Papierkorb. »Wenn es keinen geraden Weg gibt, dann gibt es einen krummen«, dachte das so abgeblitzte Unternehmen und ließ ein Rundschreiben an alle Mieter der Neubauwohnungen austeilen. Darin waren Halbwahrheiten und Wahrheiten geschickt miteinander vermengt: »Die Gemeinschaftsantennenanlage wird bald demontiert. Ohne Antenne können Sie nichts empfangen. Rasche Abhilfe schafft unsere Satellitenempfangsanlage. Äußerst kostengünstig, wenn Sie sofort bestellen.« In einem Dorf gibt es keine Geheimnisse, und so erfuhr der Bürgermeister noch am gleichen Tag von dem Anschlag der modernen Strauchdiebe. Er flitzte sofort zum Amtsgericht und erwirkte eine einstweilige Verfügung, mit der der Firma ›SMIDAK‹ verboten wurde, auf dem gemeindeeignen Grundstück Satellitenempfangsanlagen oder Teile derselben anzubringen –, ja sogar, die Häuser mit dem Ziel, derartiges tun zu wollen, zu betreten. 156
Die Firma legte dagegen Rechtsmittel ein. Sie meinte völlig unverfroren, die Gemeindeverwaltung würde sie vom Wettbewerb ausschließen und das Informationsrecht der Mieter beschneiden. Daß sie selbst permanent versucht hatte, den Mietern etwas aufzuschwatzen, was der Vermieter zu zahlen nicht bereit war, vergaß sie zu erwähnen. Das Gericht ließ sich nicht verwirren. Es schmetterte die Sache ab: »Wenn der Vermieter eine Gemeinschaftsantennenanlage anbietet, bleibt es ihm überlassen, welches Unternehmen er mit dem Bau der Anlage beauftragt.« Außerdem hat der Vermieter ganz allein zu bestimmen, von wem er sich aufs Dach steigen läßt.
Dumm gelaufen, weil gut gefahren Georg blätterte im Frühjahr 1989 mit stolzgeschwellter Brust 32 000 Mark hin und brauste mit seinem Wartburg davon. Zwölf Monate später wurde sein Auto nur noch mit knapp 4 500 DM gehandelt. Doch der Wartburg rollte Jahr für Jahr weiter munter durch das Land – bis zu jenem Tag, als Georg in die große Stadt fahren mußte. An einer Ampelkreuzung passierte das Unglück. Georg hielt folgsam bei Rot, doch ein Jeep hinter ihm kam nicht mehr zum Stehen. Krach, und der Wartburg war um fast einen halben Meter kürzer. Aus dem Jeep kletterte eine junge Dame namens Karola, bedauerte den Unglücksfall: »Die Fahrbahn war schmierig. Aber halb so schlimm, mein guter Herr. Mein Mann hat nämlich eine Autoreparaturwerkstatt. Dort bringen wir Ihr Wägelchen hin.« Der Werkstattmeister Hubertus war die Freundlichkeit in Person. »Sie brauchen sich um nichts zu kümmern, Kollege. Die Sache mit der Versicherung regele ich. Bis dahin können Sie 157
kostenlos mit meinem kleinen gelben Werkstattwagen fahren.« Georg nahm hocherfreut an. »Nette Menschen wohnen in der großen Stadt«, erzählte er abends im Krug. Nach 14 Tagen fragte er nach, wie weit die Reparatur vorangeschritten sei. »Ein Glück, daß Sie anrufen«, meinte der Werkstattmeister. »Ihr Auto muß in eine Spezialwerkstatt. Bringen Sie bitte meinen gelben Flitzer zurück. Ich besorge Ihnen einen Leihwagen. Das bezahlt alles die Versicherung.« Georg kam mit einem schwarzen Mittelklassewagen zurück. »Genauso habe ich mir die soziale Marktwirtschaft immer vorgestellt«, befand der stolze Chauffeur. Wochen vergingen. Der Wartburg wurde und wurde nicht repariert. »Ich brauche eine Kostenübernahmeerklärung der Versicherung«, sagte der inzwischen herangezogene Kfz-Meister Traugott. Georg telefonierte mit der Versicherungsgesellschaft, füllte Fragebögen aus, besorgte ein Gutachten, schickte Briefe und Telegramme. Immer fehlte noch irgend etwas. Schließlich, nach knapp zwei Monaten, hatte Georg seinen ›Warti‹ wieder. Die Autovermietung wollte von ihm knapp 7 500 DM haben, und die gegnerische Versicherungsgesellschaft zahlte nicht. Karola und Hubertus ließen sich am Telefon verleugnen. Georg blieb nichts weiter übrig, als einen Kredit aufzunehmen, um das Leihauto bezahlen zu können. Dann reichte er Klage gegen Karola und die Versicherung ein. »Tja«, dozierte der Richter bedeutungsschwer, »Sie haben gegen das Gebot der Schadenminderungspflicht verstoßen. Auf seiten der Versicherung ist zwar auch nicht alles optimal gelaufen, aber bei einem Auto im Wert von nunmehr knapp 2 000 DM können Sie nicht Mietwagenkosten in Höhe von 7 500 DM anhäufen. Ich schlage einen Vergleich vor. Die Versicherung zahlt Ihnen kulanterweise 3 000 DM, und die Sache ist verges158
sen.« Georg schluckte die bittere Pille. Mit Zinsen, Gerichts- und Anwaltskosten hatte ihn der Spaß 6 500 DM gekostet. ›Schaden, Sorgen, Klagen wachsen an allen Tagen‹, sagt schon das Sprichwort.
Der unbarmherzige Busfahrer Viele Menschen beklagen, daß in unserer Ellenbogengesellschaft Hartherzigkeit, Gefühllosigkeit und menschliche Kälte ständig weiter um sich greifen. Doch wer den Bogen überspannt, findet sich schneller, als gedacht, vor Gericht wieder. Auch Anton mußte diese für ihn schmerzliche Erfahrung machen. Er ist Busfahrer. An einem frostigen Januartag drehte Anton seine übliche Runde durch mehrere Dörfer bis hin zum Sitz der Amtsverwaltung und wieder zurück. Auf dem Dorfanger stieg eine schwer atmende alte Frau zu. Sie war ganz grau im Gesicht, auf ihrer Stirn stand Schweiß. Sie ließ sich auf den Einzelplatz hinter dem Fahrersitz fallen und begann zu stöhnen. Die Fahrgäste horchten auf und machten betretene Gesichter. Eine Studentin fragte die alte Frau, ob es ihr nicht gut gehe. Die alte Frau nickte mühsam. Die Studentin sagte zu Anton. »Bitte, unternehmen Sie etwas, der Dame hinter Ihnen ist übel geworden.« Anton wendete sich halb um und erwiderte: »Sie hätte an der frischen Luft bleiben sollen!« Die Studentin stand von ihrem Sitzplatz auf und ging zu der alten Frau, die in sich zusammengesackt war. »Mein Herz, mein Herz«, jammerte die Zugestiegene. Die Studentin wendete sich erneut an Anton: »Sie müssen etwas tun, der Frau geht es immer schlechter, sie klagt über Herzbeschwerden.« Der Busfahrer brabbelte zurück: »Was soll ich denn da machen, ich bin doch kein verdammter Medizinmann oder so. Wo 159
will sie denn hin?« »Zum Amt, zur Sprechstunde«, lautete die Antwort. »Wir sind gleich da«, erwiderte Anton. Doch die Fahrt dauerte noch mehrere Minuten, die Route führte zu weiteren Haltestellen. Am Rathaus half die Studentin der alten Frau hoch, die sich krampfhaft am Einstiegsgeländer festhielt. Auf der Straße stützte sie sich schwer auf ihre Begleiterin. Anton sah in den Rückspiegel, schloß die Türen und fuhr davon, ohne einen weiteren Gedanken an die kranke Frau zu verschwenden. Doch die brach wenige Minuten später zusammen. Der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen. Sie hatte an skierotisch verengten Herzgefäßen und einer chronischen Bronchitis gelitten. Die Schädigung der kleinen Herzgefäße führte zum Versagen des Herzmuskels. Rasche ärztliche Hilfe hätte möglicherweise den Tod verhindern können. In Antons Bus gab es ein Funkgerät. Es hätte ihn keinerlei Mühe gekostet, seine Zentrale zu verständigen und einen Krankenwagen anfordern zu lassen. Da er dies nicht getan hatte, wurde er wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Geldstrafe in Höhe von insgesamt 3 600 DM verurteilt. Eine symbolische Buße, denn das Leben eines Menschen läßt sich mit Geld nicht aufwiegen.
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5. Kapitel Mord, Mordversuch, Mundraub Sturz aus dem Fenster Aus Mafia-Filmen kennt man sie, die Schuldeneintreiber. Der grobschlächtige Veit, mit Händen wie Schaufeln, saß im Wirtshaus und unterhielt sich mit Theo. Theo erzählte, daß ihm ein Bekannter namens Reno 8 000 DM entwendet habe. »Reich’ einen Riesen rüber, und ich hol’ die Kohle zurück«, meinte Veit und schob seine riesige Pranke über den Tisch. Theo schlug ein: »7 000 für mich, 1 000 für dich.« Zwei Tage später lungerte Veit mit zwei Spießgesellen auf dem Bahnhofsvorplatz herum. Ein Zug kam an, Reno stieg aus. Er ging durch die Halle. Da tippte ihm Veit auf die Schulter. Reno drehte sich um, erhielt einen Faustschlag mitten ins Gesicht und wurde von den beiden Kumpanen aufgefangen. Blut tropfte. »Wann willst du deine Schulden begleichen, Freundchen?« fragte Veit mit falscher Freundlichkeit. »Bitte nicht schlagen. Das Geld habe ich in der Wohnung meines Onkels versteckt. Wir holen es dort ab«, winselte Reno vor Angst. Veit legte Reno seinen Arm um die Schulter und begleitete ihn zu dem Hochhaus, in dem der Onkel wohnte. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben und klingelten, doch der Onkel öffnete nicht. Er war auf Montage, wie Reno sehr gut wußte. Er hatte nur Zeit gewinnen wollen. Veit drängte mit seinem massigen Körper gegen die Wohnungstür. Die Tür sprang auf. Reno, der vergeblich hoffte, irgendwo Geld zu finden, kramte ziellos in Kisten und Kästen, winselte schließlich um Gnade. Doch Schläge prasselten auf 161
ihn ein. Eine halbe Stunde lang verprügelte Veit systematisch sein Opfer: Nicht zu stark, aber so, daß es weh tat. Am Ende verlor der Gewalttäter die Geduld. Er griff zu einem Besenstiel und schlug Reno damit auf die Stirn. Der Hieb hinterließ eine stark blutende Platzwunde. Der Verletzte war sichtlich benommen und sackte zusammen. Es folgten Faustschläge und Tritte. Reno war vor Angst kaum noch in der Lage zu sprechen. Er bat darum, frische Luft schnappen zu dürfen, worauf Veit das Fenster öffnete. Reno schleppte sich zum Fenster, wälzte sich über die Brüstung und ließ sich nach unten fallen. Der Sturz aus 27 Metern Höhe war tödlich. Das Gericht stellte fest, daß es sich bei dem Sturz um ein durch die permanenten Mißhandlungen bewirktes Panikverhalten gehandelt hatte, also um einen zwangsläufigen und eigenverantwortlichen Vorgang und keinesfalls um einen Unfall oder Selbstmord. Die Ursache war durch Veit gesetzt worden. Trotzdem wurde Veit nur zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Vier Jahre in einer Gefängniszelle sind eine lange Zeit. Gemessen an dem Schrecklichen, das Reno durchmachen mußte, und gemessen an dem, wie er endete, sind vier Jahre eine Bagatelle. Das war selbst Veit klar. Zum Abschied flüsterte er deshalb Theo zu: »Die paar Monate sitze ich auf der linken Arschbacke ab, Alter!«
Bis daß der Tod euch scheidet Hendrik und Else zogen 1987 zusammen. Sie waren sicher, daß die Liebe ein Leben lang halten würde. Im Frühjahr 1989 starb Elses Oma, und die beiden übernahmen deren altes, marodes Bauernhaus. Hendrik legte Doppelschichten ein: als Kraftfahrer am Tage, als Bauarbeiter am Abend. Doch es kamen Bau162
sparverträge, fällige Tilgungsraten der Kredite: Der finanzielle Spielraum wurde immer enger. 1993 verlor Hendrik seine Arbeit. Oft saß er nachts im Trainingsanzug vor dem sinnlos flimmernden Fernseher, trank Boonekamp mit Selters und weinte. Für Else aber begann eine neue Karriere. Sie stieg zur rechten Hand des Geschäftsführers auf. Hendriks Selbstwertgefühl sank in den Keller. Wenn Else spät nach Hause kam, schnarchte Hendrik entweder betrunken im Sessel, oder er empfing sie mit gelallten Flüchen. Elses Liebe verging. Aus Mitleid wurde Verachtung. »Du mußt ausziehen. Laß uns voneinander Abstand gewinnen.« Hendrik erstarrte zur Salzsäule. Außer der Arbeit hatte er nun noch sein Heim und seine Liebe verloren. Das war viel mehr, als die meisten Menschen verkraften können. 14 Tage später, nach unzähligen Flaschen Schnaps und Bier, kehrte er nachts zurück und kletterte über das Schuppendach ins Schlafzimmer. Er legte Else ein Kopfkissen aufs Gesicht und drückte zu. Dann würgte er sein sich aufbäumendes Opfer, versuchte es mit einem Gummiband zu erdrosseln, ließ aber plötzlich von ihm ab und floh durch das Fenster. In seiner Einraumwohnung setzte sich Hendrik in die Küche und verfaßte einen Abschiedsbrief, in dem er mitteilte, wie leid es ihm tue, was er seiner überaus geliebten Frau angetan habe. Anschließend schluckte er zwei Röhrchen Schlaftabletten. Die Polizei fand ihn wenige Stunden später. Ihm wurde der Magen ausgepumpt, und er überlebte. Im Prozeß wurde der Abschiedsbrief als Geständnis gewertet; denn Hendrik stritt nun alles ab. Else hatte ihn zwar als Täter vermutet, aber nicht zweifelsfrei erkennen können. Weil er einen heimtückischen Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung versucht hatte, wurde Hendrik zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
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Gemetzel auf dem S-Bahnhof Remo und Holger sind stattliche Burschen mit Gardemaß, VKreuz und schwellendem Brustkorb. Doch der liebe Herrgott ist selten gerecht bei der Verteilung seiner Gaben. Remo und Holger haben zwar tolle Oberarmmuskeln, aber im Oberstübchen herrscht weitgehend Funkstille. An einem schicksalsschweren Tag im August faßten die beiden den Entschluß, der dörflichen Einöde für einen Abend zu entrinnen und in der großen Stadt das Nachtleben zu studieren. Sie kamen an einem Hotel vorbei, an dem die Aufschrift ›Spielcasino‹ flimmerte. »Eh, Holly«, meinte Remo, »da zokken wir tierisch ab und hauen dann die Knete auf’n Kopp.« Zwei Stunden später waren beide um je 100 DM ärmer, und noch war nichts passiert. Die beiden kippten deshalb ratzfatz drei, vier Bier mit Kompott. »Watten nu?«, fragte Remo, »Discodancing?« Wenig später saßen die zwei in einem Schuppen, in dem Laserlicht vielfarbig flimmerte und die Gläser auf den Tischen im Rhythmus der Bässe hin und her hüpften. Bunte Nebelschwaden strichen durch die Räume, in denen sich außer den Kellnern nur noch zwei Pärchen langweilten. »Is noch zu früh. Aber morgens um drei geht hier die Post ab«, erläuterte der Barkeeper. Die silberne Bahnhofsuhr an der Wand zeigte auf 23 Uhr. Nachdem die Burschen eine Stunde lang vergeblich auf tolle Bräute gewartet hatten, standen sie gegen 0.30 Uhr schwankend auf dem S-Bahnhof, mit leeren Taschen und tiefem Groll in den Mägen. Diesen taktisch ungünstigen Moment benutzte ein ebenfalls betrunkener Fahrgast, um auf den ansonsten fast menschenleeren S-Bahnsteig zu torkeln. Ohne Vorwarnung streckte ihn Holger mit einem Faustschlag nieder, trat ihm brutal ins Gesicht sowie in den Bauch und schlug seinen Kopf mehrfach auf 164
die Bodenplatten. Remo zögerte zunächst, stieß dann aber auch kräftig mit seinen Turnschuhen zu. Der Mann war längst ohnmächtig geworden. Remo versuchte ihn mit Fußtritten aufzurütteln. Als das mißlang, meinte Holger: »Der muß weg.« Remo verstand, was gemeint war. Holger ergriff den Bewußtlosen und warf ihn wie einen nassen Sack auf die Gleise. Dann sprangen beide hinterher. Holger legte das regungslose Opfer quer über die Schienen. Der nächste Zug würde den Kopf vom Rumpf abtrennen, dachten sich die gewissenlosen Schläger und verschwanden. Ein beherzter Bürger verhinderte das grausige Gemetzel. Er zerrte den Mann von den Schienen. Dann rannte er winkend der sich nähernden S-Bahn entgegen. Zum Glück bemerkte ihn der Fahrer und brachte den Zug rechtzeitig zum Stehen. Der halbtot Geschlagene überlebte. Der Richter aber, der wohl noch nie nachts mit der S-Bahn gefahren war, bezeichnete die Untat als ›große Dummheit‹. Ohnehin hätte nichts weiter passieren können, da die S-Bahn planmäßig stets vor der Stelle hielt, an der das Opfer auf den Schienen gelegen hatte. Folgerichtig erhielten beide Angeklagten nur Freiheitsstrafen von je zwei Jahren, und die wurden auch noch zur Bewährung ausgesetzt. Der Staatsanwalt sah die Sache realistischer. Er ging in Revision und hatte Erfolg. Der Bundesgerichtshof befand, daß die verhängten Strafen kein gerechter Schuldausgleich seien. Die Strafen wurden aufgehoben. Gegen Remo und Holger findet demnächst eine neue Gerichtsverhandlung statt.
Das kalte Herz In den USA erschienen in den letzten Jahren einige Bücher und Filme, die sich mit der Todesstrafe beschäftigen, dieser legali165
sierten Form des Tötens. Für ihre Abschaffung gibt es zwei gewichtige Argumente: Immer wieder kommt es zu Justizirrtümern, und die Gesellschaft ist mit ihren Gefängnissen sehr gut in der Lage, sich dauerhaft vor überführten Mördern zu schützen. Doch ab und zu geschehen auch bei uns so brutale Verbrechen, daß man am liebsten nach dem alten Bibelwort ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ handeln möchte. Steven, Anfang Zwanzig, stammte aus einem zerrütteten Elternhaus. Er war ein schlechter Schüler, ein Einzelgänger. Freunde hatte er keine, und nach der Schulentlassung absolvierte er mehrere Lehren – mit wenig Erfolg. Nur Reitsport interessierte ihn. Ab und zu half er in seiner Freizeit in dem einen oder anderen Reitstall aus. Doch jähzornig und leicht reizbar, wie Steven war, kam es immer wieder zu Zwischenfällen, an deren Ende der Laufpaß für ihn stand. Steven aber suchte die Schuld stets bei anderen. Seine letzte Freizeittätigkeit endete abrupt, als er einen angeketteten Hofhund, der nach seinem Stiefel geschnappt hatte, mit der Reitgerte verprügelte. Als der Bauer das Gewinsel der geschundenen Kreatur vernahm, rannte er über den Hof, packte Steven am Kragen und schleifte ihn zum Auto. »Dir Tierquäler wird das Lachen noch vergehen, wir fahren jetzt zur Polizei!«, schrie er. Der Prügler hockte jammernd auf dem Rücksitz und flehte den Bauern an, ihn nicht anzuzeigen. Als der Wagen an einer Bahnschranke stoppen mußte, zog Steven einen Strick aus der Tasche, knüpfte eine Schlinge, warf sie dem Bauern über den Kopf, zog zu und verknotete sie. Der Mann brach bewußtlos zusammen. Steven zerrte ihn nach hinten, fesselte ihn am Boden an die Sitze und lockerte die Schlinge um wenige Millimeter. Viereinhalb Stunden fuhr Steven dann kreuz und quer über Feldwege und durch Nebenstraßen. Sein röchelndes Opfer war so festgebunden, daß es sich bei jeder unvorsichtigen Bewegung selbst strangulieren mußte. Als 166
die Nacht hereinbrach, hielt Steven mitten im Wald an, zog die Schlinge wieder fest zu und weidete sich am Todeskampf des Mannes. Dann nahm er dem Toten die Brieftasche weg, stieß ihn aus dem Auto und fuhr nach Hause. In der Gerichtsverhandlung kam nichts zur Sprache, was zu seiner Entlastung geführt hätte. Steven wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das tollwütige Tier in ihm ist eingesperrt, und er muß büßen.
Der schwierige Fall vom bösen Tomatenbeißer Ab und zu gibt es Gerichtsverfahren, in denen die eigentlich Beteiligten eine völlig untergeordnete Rolle spielen, weil sich knallharte Kämpfe auf den Korridoren der Macht abspielen, wie der folgende Fall zeigt. Bodo ist ein allerliebstes Kerlchen, eine Augenweide für jede Schwiegermutter: Er trägt Hosen, deren Hintern fast auf der Erde schleift, Plateau-Schuhe, Netzhemden und schiefsitzende Basecaps. Logischerweise verfolgte der Warenhausdetektiv Donald argwöhnisch jede Bewegung Bodos, als dieser durch die Lebensmittelabteilung schlurfte. Der Einzelhandel erleidet jährlich Verluste in Milliardenhöhe durch Ladendiebstähle. Die Langfinger werden immer dreister und versuchen, selbst mit kompletten Tiefkühltruhen auf dem Buckel klammheimlich zu verduften. Am Gemüsestand wurde Donald, der junge Nachfahre von Sherlock Holmes, aktiv. Bodo hatte nämlich nach einer Tomate gegrabbelt, sie angebissen und dann zurück in die Auslage gepfeffert. Im nächsten Moment umklammerte eine stahlharte Hand seinen Oberarm, und aus einer Pfefferminzwolke klang ein Zischen an sein Ohr: »Jetzt gibt’s Saures, Bürschchen!« Eine Zeitlang schien es so, als sollte Donald recht behalten. Nachdem die Ermittlungen der Kriminalpolizei abgeschlossen 167
waren, bekam Staatsanwalt Otwin den Fall auf den Tisch. Otwin klatschte vor Freude in die Hände: Ein einfacher Sachverhalt, ein geständiger Beschuldigter, kein Grund für Nachermittlungen. Also ran an die Buletten. Otwin beantragte den Erlaß eines Strafbefehls. Fünf Tagessätze zu je 15 DM (auf gut Deutsch 75 Piepen) sollte der Mundräuber berappen. Doch Staatsanwalt Otwin hatte die Rechnung ohne Richter Reimar gemacht. Der notierte: »Sehr verehrter Herr Kollege von der Anklagebehörde. Finden Sie nicht auch, daß wir hier mit Kanonen auf Spatzen schießen würden?« Die Akte wanderte wieder zurück. Otwin hatte nun ein Problem. Im Gegensatz zur Kriminalpolizei hätte er das Verfahren von Anfang an wegen Geringfügigkeit einstellen lassen können. Doch wie sollte er nun seinen plötzlichen Sinneswandel begründen? Was würde der große Aktenrevisor denken? Otwin zermarterte seine grauen Zellen, dann schickte er die Akte zurück an das Gericht. Richter Reimar las verblüfft: »Die Staatsanwaltschaft ist damit einverstanden, daß das Verfahren gegen den Angeklagten Bodo gegen Zahlung einer Geldbuße in Höhe von 75 DM eingestellt wird.« Für einen Nichtjuristen ist der Unterschied zwischen einem Strafbefehl über 75 DM und einer Geldbuße in Höhe von 75 DM sicherlich sehr schwer zu verstehen. Gleiche Brüder, gleiche Kappen, möge man meinen. Doch dem ist nicht so. Bei Variante A endete das Strafverfahren mit dem Strafbefehl, bei Variante B wird es eingestellt, was bei einer möglichen späteren erneuten Straftat von großer Bedeutung sein kann. ›Eiskalter Wiederholungstäter‹ oder ›Pech gehabt habendes Unschuldslämmchen‹ wäre dann die Frage. Doch zurück zum eigentlichen Fall. Richter Reimar schüttelte propellergleich seinen hageren Kopf, dann schraubte er seinen Füllfederhalter auf und brachte fünf herrlich gedrechselte Sätze im schönsten Juristendeutsch zu Papier, deren Übersetzung ins 168
Berlinische lautet: ›Dir hamse woll ins Jehirn jeschissen, wa?‹ Otwin seufzte tief auf, als die Akte Wochen später wieder bei ihm auftauchte. So viel Arbeit, und alles für die Katz! Das Verfahren wurde eingestellt.
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Nachbarn, Namen, Notwehr, Parken Einer grillt immer Simon bewohnte eine sogenannte Vollkomfortwohnung in einem jener Neubaublocks, die vom Volksmund gerne als beheizte Beischlafbuchten bezeichnet werden. Warmes Wasser aus der Wand und ein Blick vom Balkon auf die Hauptverkehrsstraße ließen ihn sich jahrelang als Glückspilz fühlen. Doch mit der Zeit war er es leid geworden, in den hellhörigen Räumen die Gespräche und Toilettenbesuche seiner geräuschvollen Nachbarn live miterleben zu können. Eines Tages las Simon eine Anzeige. Ein Immobilienhändler pries vollmundig entspanntes Wohnen am Stadtrand an. Simon sprach vor, besah sich bunte Prospekte und war entzückt. Kurzentschlossen kündigte er der Wohnungsbaugesellschaft und mietete für sich und seine Frau eine Drei-ZimmerWohnung in einem nagelneuen Gebäude auf der grünen Wiese. Der Mietpreis betrug zwar knapp das Doppelte seiner alten Behausung, dafür gab es aber ein gefliestes Bad, Teppichboden im Wohnzimmer und eine große Terrasse. Hauseigentümer Philipp, ein älterer Herr, der sich von ungeahnten Steuervorteilen, Sonderabschreibungen, Förderprogrammen und Investitionsbeihilfen hatte begeistern lassen, wollte endlich sein sauer erspartes Geld für sich arbeiten lassen. Sehr bald nach seinem Einzug mußte Simon feststellen, daß nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Wohnanlage war zwar wunderschön, aber es gab keine Post, keinen Laden, keine Kneipe. Die nächste Bushaltestelle lag zwei Kilometer weit entfernt, und wenn sein altersschwacher Japaner den Geist aufgab (was im Winter einmal pro Woche passierte), hatte Simon ein echtes Problem. Doch dann kam der Frühling und mit ihm am ersten warmen 170
Wochenende der erste Besuch. Simon servierte um 15 Uhr kühle Drinks auf der Terrasse und erfreute sich an den bewundernden Ausrufen seiner Gäste über die frische Luft und die herrliche Aussicht. Um 16 Uhr warf der Nachbar links von ihm seinen Grill an, eine halbe Stunde später tat es ihm der Nachbar rechts gleich. Statt nach Blumen und saftigen Wiesenkräutern roch es nun nach Holzkohle, Steaks und Rostbratwürsten Thüringer Art. So war es an diesem Wochenende, so blieb es an jedem Sonnabend und Sonntag, an dem der liebe Herrgott die Sonne scheinen ließ. Sobald Simon nur einen Schritt auf die Terrasse tat, schon umschmeichelten alle Düfte des Orients seine Nase, versetzt mit giftigen Nebelschwaden. Ganz egal, wie früh oder spät es war, einer grillte immer. Simon schrieb einen bösen Brief an Philipp und forderte dringende Abhilfe: »Verbieten Sie den Barbaren das Grillen!« Doch der Vermieter wollte nicht bei seinem neuen Hobby, dem Geldzählen, gestört werden. Deshalb kürzte Simon eigenmächtig die Miete um 292 DM. Schwupps, hatte er eine Klage am Hals. Simon, nicht faul, reichte Widerklage ein. Er verlangte vom Gericht, seinem Vermieter in dem Mehrfamilienhaus jegliche Belästigung durch Rauchentwicklung zu untersagen. Eine alte Regel lautet: Im Zweifel entscheide man sich für das Richtige. Der kluge Richter tat es, indem er ein salomonisches Urteil fällte: »Die Mietminderung war gerechtfertigt. Mit einer Forderung nach einem völligen Grillstopp schoß der Widerkläger jedoch über das Ziel hinaus. Das Grillen im Freien ist als sozial üblich anerkannt. Es kann daher nicht völlig untersagt werden. Jedoch muß Grillen nicht uneingeschränkt hingenommen werden. Mieter in Mehrfamilienhäusern dürfen in der Zeit von April bis September einmal monatlich auf der Terrasse grillen. Sie müssen allerdings die Mieter im Haus 48 Stunden vorher darüber informieren.« 171
Ein wahrhaft weiser Spruch! Einige Fragen indes bleiben noch: Was ist die Folge, wenn die Information 47 1/2 oder 48 3/4 Stunden vorher erfolgt? Ist es möglich zu tauschen? Also zwei Grillnachmittage im Juni und dafür keiner im Juli? Zählt Grillen am Nachmittag und Grillen am Abend als eine oder als zwei Handlungen? Wer führt Buch über die Verstöße? Hauseigentümer Philipp jedenfalls ist inzwischen als Gasthörer im Bereich Mietrecht an der juristischen Fakultät der Universität seiner Heimatstadt eingetragen und hat damit als Rentner einen wahrhaft erfüllten Lebensabend.
Der schöne Schein vom besseren Sein Es gibt, und das muß man einfach wissen, in unserer Gesellschaft einige äußerst bedauernswerte Geschöpfe. Das sind jene Leute, die irgendwann zu ihrem größten Entsetzen feststellen, daß sie für Geld nicht alles kaufen können. Was macht nun ein solch armer reicher Mann, der zwar fünf Häuser, vier Autos, drei Rennpferde, zwei Geliebte und eine Ehefrau besitzt, aber mit Nachnamen Meier-Raffke heißt? Soll er sich auf dem freien Markt umsehen und von einem betrügerischen Titelhändler für viel Geld einen falschen Adelsnamen kaufen? Oder soll er sich mit seinen 49 Jahren von einem blaublütigen verarmten Tattergreis adoptieren lassen und sich damit zum Gespött der Leute machen? Es gibt noch einen dritten Weg. Jedenfalls glaubte Jonathan, ihn gefunden zu haben. Jonathan war vor der Wende Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter einer kleinen GmbH gewesen, die Fenster herstellte. Kurz vor dem drohenden Konkurs fiel die Mauer, und für Fensterbauer brachen paradiesische Zeiten an. Jonathan verdoppelte, verdreifachte, verzehnfachte sein Personal und gründete mehrere Zweigbetriebe. Auf dem Gipfel des Erfolgs 172
verkaufte er die Firma für gutes Geld und lebt nun seit drei Jahren im wohlverdienten Ruhestand. In seiner reichlichen Freizeit beschäftigte er sich mit der Ahnenforschung, und anhand alter Briefe fand er heraus, daß ein Urgroßvater mütterlicherseits auf dem Schloß derer von Schniedelwutz unter merkwürdigen Umständen zur Welt gekommen war. Uropis Erzeuger, so ging die Sage, sei der alte Fürst im stattlichen Alter von 96 Jahren gewesen! Jonathan meinte, nun sei es endlich an der Zeit, die Schande der unehelichen Geburt von der Ahnentafel abzuwaschen, und beantragte eine Änderung seines Nachnamens in ›Fürst von Schniedelwutz‹. Als ihm die Behörden dieses absolut logische und völlig legitime Ansinnen ablehnten, reichte er Klage ein. Doch das Verwaltungsgericht stellte sich nicht auf seine Seite. Die Richter befanden: »Adelsbezeichnungen gelten nach der als einfaches Gesetzesrecht fortgeltenden Regelung der Weimarer Reichsverfassung nur als Teile des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden. Daher dürfen auch im Wege der Namensänderung Namen mit Adelsbezeichnungen nur ausnahmsweise gewährt werden. Ein solcher Ausnahmegrund liegt hier nicht vor. Das Bestreben, einen von den Eltern als gemeinsamen Ehenamen geführten Familiennamen abzulegen, um zu einem Namen zurückzukehren, den einer der Vorfahren mütterlicherseits vor vier Generationen geführt hatte, rechtfertigt im allgemeinen keine Namensänderung. Wollte man allein schon dieses Bestreben als wichtigen Grund für eine Namensänderung gelten lassen, müßte dies zu unvertretbaren Ergebnissen führen. Es stünde dann nahezu jedem ein wichtiger Grund für eine Namensänderung zu.« Na ja, wer weiß. Ein noch früherer Vorfahre von Jonathan hieß übrigens Adam. Seine Frau war Eva.
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Scharfe Schüsse auf den Verfolger Der 33jährige Dieter war ein Schrank von einem Mann. 1,90 Meter groß, breite Schultern, muskulöse Oberarme. Sein blankgewienerter Wagen hatte fast die Größe eines Lkws. Und mit diesem schlängelte sich Dieter an einem verkaufsoffenen Sonnabend durch die gewundenen Straßen einer Kleinstadt. Entgegenkommende Fahrzeuge mußten ausscheren oder zurückweichen. Dieter nahm auch engste Kurven äußerst schwungvoll, die Räder rollten über den Bürgersteig, und Passanten kamen ins Hüpfen. Auch Patrick, ein schmächtiges Kerlchen, der übers Wochenende zu Besuch bei seiner Tante weilte, mußte in einen Hauseingang flüchten. Darüber ärgerte er sich so sehr, daß er mit seinem rechten Turnschuh gegen das Fahrzeug trat. Dieter hörte den Knall und trat auf die Bremse. Wuff, stand die Limousine, wippte vor und zurück. Patrick bekam es mit der Angst zu tun, gab Fersengeld und sauste davon. Dieter sprang aus der Karosse und rannte schnaufend hinterher. Trotz seiner 120 Kilo Gewicht holte er langsam, aber stetig auf. Nach 200 Metern hatte er den Flüchtenden fast erreicht. Er konnte nicht wissen, daß Patrick einen mit zwei Patronen geladenen Revolver in der Tasche trug, eingetauscht in dunkler Regennacht unter einem Torbogen im Bahnhofsviertel. Als sich der 1,65 Meter große Patrick während des Laufens umblickte und den keuchenden Koloß kurz hinter sich sah, riß er den Colt aus der Tasche. Ein Schuß löste sich und verletzte Dieter leicht am linken Zeigefinger. Doch der hielt nicht ein. »Packt ihn!« schrie er mit wutrotem Gesicht. Patrick drehte sich nach seinem Verfolger um, spannte den Hahn des Revolvers nochmals, zielte auf Dieter und rief: »Halt, stehenbleiben, ich habe doch gar nicht fest zugetreten.« Doch der Wüterich dachte einfach nicht daran einzuhalten. Drohend streckte er seine Pranken aus. Dann knallte es ein 174
zweites Mal. Aus einer Entfernung von drei Metern traf ihn die Kugel zehn Zentimeter unterhalb der rechten Brustwarze. Wie von einer Axt gefällt brach Dieter tot zusammen. Patrick kam wegen Totschlags vor Gericht und erhielt eine siebenjährige Freiheitsstrafe. Außerdem wurde die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt angeordnet. Gegen das Urteil legte er Revision ein. Und die nächst höhere Instanz stellte fest, daß Patrick in Notwehr geschossen hatte. Das Gericht erkannte an, daß es sich in diesem Fall zweifelsfrei um einen Angriff auf Leib und Leben des Angeklagten gehandelt habe. Es erklärte, daß derjenige, der auf solche Art und Weise rechtswidrig angegriffen werde, grundsätzlich dazu berechtigt sei, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches die Gefahr endgültig beseitige. Das gelte auch für den Gebrauch einer Schußwaffe, selbst wenn diese ohne Erlaubnis getragen würde. Das Urteil wurde aufgehoben. Doch ganz straffrei geht Patrick trotzdem nicht aus: Es erwartet ihn ein Verfahren, weil er gegen das Waffengesetz verstoßen hat.
Beschmierte Reifen Um die chronisch leeren Kassen der Städte und Gemeinden wenigstens etwas aufzufüllen, haben einfallsreiche Bürokraten die sogenannte aggressive Parkraumbewirtschaftung erfunden. Auf öffentlichen Parkplätzen oder am Straßenrand müssen nun happige Parkgebühren bezahlt werden. Die Begründung ist einleuchtend: Es geht nicht um Geldschneiderei, sondern es handelt sich um Erziehungsmaßnahmen. Die Bürger sollen auf diese Art und Weise dazu angehalten werden, Bus oder Bahn zu benutzen. Das wäre gut, wenn es nicht die andere Seite der Medaille gäbe: Beim Personennahverkehr wurden und werden die unlukra175
tiven Linien eingestellt. ›Ausgedünnt‹, heißt das in der Fachsprache. Und die Fahrscheinpreise haben inzwischen das Niveau des Tagesverdienstes eines russischen Kinderarztes erreicht. Die Bürgermeister zucken bedauernd mit den Schultern: »Auf die Fahrpreisgestaltung haben wir leider keinen Einfluß, weil die Verkehrsbetriebe schon vor langer Zeit aus Finanzgründen privatisiert werden mußten.« Doch da es immer noch genügend Reiche zu geben scheint, die sich ganz bequem eine Straßenbahnfahrt leisten können, ließen sich die Parkwächter einen ganz gemeinen Trick einfallen, ein Blendwerk des Teufels sozusagen: Die gebührenfreien Kurzzeitparkzonen. Eine oder zwei Stunden kostenfreies Parken hört sich zunächst sehr großzügig an, ist es aber ganz und gar nicht. Rund ein Fünftel der Autofahrer vergißt nämlich, die Parkuhr ins Fenster zu legen. Und zack! Schon klemmt ein Knöllchen unterm Scheibenwischer. Der Preis ist heiß, in der Regel werden zweistellige Beträge gefordert. Ein weiteres Fünftel der Pkw-Besitzer verplaudert sich, wird irgendwo aufgehalten, kommt zu spät. Und zong! Das nächste Knöllchen. Leichter kann niemand Geld verdienen. Schwarze Schafe unter den Autofahrern versuchen zu tricksen: Sie springen fünf vor zwölf zu ihrem Wagen und stellen die Parkuhr vor. Doch gegen den menschlichen Erfindungsgeist ist kein Kraut gewachsen. Pfiffige Polizisten führen nunmehr ein Stückchen Kreide in der Tasche mit sich. Nein, nicht um es wie der Wolf bei den sieben Geißlein zu verspeisen, sondern sie markieren damit die Autoreifen. Wenn dann ein Subventionsbetrüger seine Parkscheibe zu manipulieren versucht, hat er Pech gehabt. Und boing! Schon wieder ein Knöllchen. Mara, eine junge Dame, fand es gar nicht lustig, an den Breitreifen ihres tiefergelegten Sportwagens Krixelkraxelkreuzchen vorzufinden. »Das setzt eine Beschwerde«, fauchte sie beim Anblick des Kainszeichens. »Narrenhände beschmieren Tisch 176
und Wände. Niemand hat das Recht, mein Eigentum zu beschmutzen.« Doch die Verwaltungsbehörde ließ sie abblitzen: »Die Kreidemarkierung ist bei Verstößen gegen die Parkhöchstdauer eine notwendige Maßnahme der Beweissicherung.« Mara sah das anders und klagte vor dem Verwaltungsgericht. »Nun ja«, räusperte sich der Richter. »Die Reifen werden zwar berührt, erleiden aber keine Minderung ihres Gebrauchsoder Marktwerts. Die Beeinträchtigung des Eigentums fällt sehr gering aus. Hingegen stört die Überschreitung der Parkzeit die öffentliche Ordnung. Müßten die Beamten, anstatt sie mit Kreide zu markieren, alle Fahrzeuge ständig beobachten, nämlich um feststellen zu können, ob die Parkuhr nur verstellt wird, ohne daß der Pkw aus der Parklücke gefahren wurde, wäre der Aufwand unverhältnismäßig hoch und eine effektive Überwachung nicht möglich.« Die alte Redensart ›Tief in der Kreide stehen‹ hat einen neuen Sinn bekommen.
Die umkämpfte Lücke In der BRD, dem Land der vielen Autos, hat sich nach dem Besetzen von Häusern eine weitere höchst verwerfliche Untugend eingebürgert: Das illegale Besetzen von Parklücken! In der Regel läuft die Sache nach dem gleichen Schema ab. Während Vati am Steuer entnervt Runde um Runde um den überfüllten Parkplatz dreht, läßt Mutti auf dem Beifahrersitz den Kopf nach dem Leuchtturmprinzip kreisen. Wenn sie dann endlich eine Parklücke entdeckt hat, springt sie aus dem rollenden Wagen, hastet hurtig zu der freien Stelle und verteidigt sie regenschirmschwingend gegen jeden noch so frechen Eindringling. Die deutsche Rechtsprechung ist wenigstens in diesem le177
benswichtigen Punkt fest, eindeutig und präzise: Parkplätze sind für Autos da und nicht für Menschen! Jeder Versuch, einen solchen Parkplatz zu blockieren, stellt eine Nötigung, also eine strafbare Handlung, dar. Aber es gibt trotzdem noch interessante Spielarten zu diesem Thema. Wilma beispielsweise hatte gerade keinen Regenschirm zur Hand, weil die Sonne schien. Sie verschanzte sich deshalb hinter einer prallgefüllten Einkaufstüte und verharrte wie ein eherner Fels in der Brandung auf der einzigen Parklükke im Umkreis von fünf Kilometern. In diesem Moment bog Sabine in einem großen grauen Kombi um die Ecke. Da war sie, ihre Chance, und sie würde nie, nie wiederkommen. Also nahm Sabine Kurs auf die Parklücke. Wilma holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Sabine wedelte mit der Hand, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen. Wilma hob die Faust zum Thälmanngruß. Der Kombi rollte Zentimeter um Zentimeter auf sie zu. Wilma gab einige selten gehörte Passagen aus den lustigen Weibern von Windsor zum besten. Der Kombi versetzte ihr einen leichten Stupser an den Knien. Wilma suchte ihr Heil in der Flucht. »Und sie bewegt sich doch«, freute sich Sabine. Im selben Augenblick erfaßte ihr linkes Vorderrad die Einkaufstüte. Es knirschte ein wenig, als der Reifen Kartons und Schachteln zermalmte. Zermatschte Eier vermengten sich mit der fertigen Backmischung, obwohl in ihr bereits alle Zutaten enthalten gewesen waren. Das Gericht brummte Sabine eine Geldstrafe in Höhe von 600 DM auf. Die nächste Instanz hob das Urteil natürlich auf, denn »derjenige hat Vorrang, der einen Stellplatz als erster mit seinem Fahrzeug erreicht. Gegen diese Regel hat die Parkplatzbesetzerin mit ihrem dreisten Verharren in der Parklücke verstoßen. Die Autofahrerin ist langsam, in maßvoller Weise einge178
parkt. Sie hat der Gegnerin mehrfach durch Anhalten Gelegenheit gegeben, den Platz freizugeben.« Daß dieses Urteil Auswirkungen für Sommerurlauber in überfüllten Strandhotels haben wird, ist so gut wie sicher. Nehmen Sie also getrost das Handtuch von der damit blockierten Liege und werfen Sie es in den Swimmingpool, denn schließlich ist ein Campingstuhl für den Menschen da, der ihn als erster mit seinem Körper erreicht hat.
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Polizei, Probefahrt, Prozeßkostenhilfe Skandal im Juweliergeschäft Gerald war 59 Jahre alt und von Beruf Buchhalter. Die Zukunft des kleinen Betriebes, in dem er sein Büro hatte, galt als ungewiß, aber nicht als aussichtslos. Gerald trug meist Gesundheitsschuhe, ein blaukariertes, bis zum Hals zugeknöpftes Hemd, eine hellbraune, steife Jacke aus Lederimitat und eine starke Brille, hinter deren Gläsern seine Augen wie Stecknadelköpfe wirkten. Er besaß noch sein volles Haupthaar, das er streng gescheitelt und leicht pomadisiert nach hinten zu kämmen pflegte. An einem für ihn freien Donnerstag holte der Buchhalter die zerschrammte blaugelbe ›Schwalbe‹ aus dem Schuppen und fuhr ins Stadtzentrum. Er wollte sich beim Juwelier am Marktplatz eine Armbanduhr kaufen. Zwar war ihm erst wenige Tage zuvor bei einer Kaffeefahrt eine schicke Taucheruhr geschenkt worden, doch das gute Stück hatte bereits vorsichtiges Händewaschen unter einem tröpfelnden Wasserhahn nicht überstanden. Auch an der neuen Uhr sollte er nicht viel Freude haben: Der Verschluß am Metallarmband ging ständig auf, und das Chronometer knallte auf die Erde. Am Freitag fuhr Gerald deshalb erneut los. Er pfefferte die Uhr auf die Glasvitrine und verlangte sein Geld zurück. Der Geschäftsführer schüttelte den Kopf: »Die Uhr ist in Ordnung, die nehme ich nicht wieder.« »Nehmen Sie doch«, entgegnete Gerald. »Nehme ich nicht!« So ging es hin und her, bis dem Geschäftsführer der Kragen platzte. Er wies auf die Tür und schrie: »Hinaus, hinaus!« Gerald lachte nur höhnisch, setzte sich in einen Ledersessel am Fenster, verschränkte trotzig die Arme und sprach zur Er180
heiterung der anderen Kunden halblaut vor sich hin: »Betrüger, Strauchdieb, Gangster, Beutelschneider …« Der Geschäftsführer wechselte mehrfach die Gesichtsfarbe. Dann ging er zum Telefon und rief die Polizei an. Die Ordnungshüter kamen wenig später, und als sie den Ruhestörer sahen, der aufgrund seiner äußeren Erscheinung bedrohlich wirkte, wurden sie auch tätig. Mit lauter Stimme forderten sie den aufgeregt schnaufenden Buchhalter auf, unverzüglich den Hausfriedensbruch zu beenden. Der Unruhestifter rückte und rührte sich nicht. Da griffen die Beamten zu. Halb zogen, halb trugen sie ihn hinaus auf die Straße. In diesem Moment hielt ein Kleinbus am Straßenrand, zwei weitere Polizisten waren zur Verstärkung gekommen. Gerald zappelte und strampelte, entwand sich den hart zupakkenden Fäusten und fiel auf den Boden. Fulbert, einer der ersten beiden Polizisten am Ereignisort, hatte nun die Nase voll und versetzte Gerald einen Fußtritt in die Seite. Dann griffen alle Ordnungshüter zu, stopften den Zappelphilipp in den Kleinbus und brausten zur Wache. Wegen des Fußtrittes erstattete Gerald Strafanzeige gegen den Polizisten Fulbert. Das Gericht sah den Tathergang als eindeutig erwiesen an. Der Beamte wurde wegen Körperverletzung im Amt verurteilt, 30 Tagessätze von je 60 DM, also insgesamt 1 800 DM, zu bezahlen. Fulbert ging in Revision. Das Gericht der nächsten Instanz verwies darauf, daß nur derjenige eine Körperverletzung begeht, der entweder einen anderen a) körperlich mißhandelt oder b) in seiner Gesundheit schädigt. Da die Gesundheit nicht geschädigt wurde, konnte es sich nur noch nach a) um eine körperliche Mißhandlung drehen. Hierzu meinte jedoch das Gericht: »Die Feststellungen ergeben auch keine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens. Die setzt zwar nicht unbedingt das Zufügen eines Schmerzes voraus, doch darf es sich nicht nur um eine ganz 181
unerhebliche Einwirkung handeln. Da hierzu noch weitere Feststellungen möglich sind, hat der Senat das Urteil mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.« Gerald muß nun auf überzeugende Art und Weise darlegen, daß er sich durch den Tritt erheblich in seinem körperlichen Wohlbefinden beeinträchtigt fühlte. Die wichtigste Lehre aus diesem Fall lautet: Aufgepaßt beim Umtausch von Uhren! Und noch ein Hinweis am Schluß: Einem Richter darf man selbst dann nicht in die Seite treten, wenn damit sein körperliches Wohlbefinden nur ganz unwesentlich beeinträchtigt wird.
Über Bullen und unsichtbare Kühe Das Verhältnis der Leute zu Polizeibeamten ist in der Regel äußerst zwiespältig. Jeder normale Mensch fordert mehr Polizeipräsenz auf den Straßen, aber den Beamten, der mit den Worten an ihn herantritt: »Nun, Bürger, was haben wir denn falsch gemacht«, kann er auf den Tod nicht leiden. Wenn fünf angetrunkene Glatzköpfe Fahnen schwenken und das eine Demonstration nennen, stehen zu ihrem Schutz zwei Hundertschaften Bullen mit Schlagstöcken und Schilden bereit. Falls aber nächtens ein Einbrecher in Ihrem Wohnzimmer raschelt, wird die Antwort auf den ins Handy gehauchten Hilferuf vermutlich lauten: »Unser Einsatzwagen ist gerade unterwegs. Verhalten Sie sich still! Sie können auch noch morgen früh schriftlich Anzeige auf dem Revier erstatten.« Auch Gottfrieds Erfahrungen mit den Hütern des Gesetzes sind nicht die besten. Und das kam so: Eines Tages gegen 23.30 Uhr klingelte es an seiner Haustür Sturm. Gottfried schreckte aus dem Fernsehsessel hoch und sah verdutzt aus dem Fenster. Eine halbe Stunde vor Mitternacht ist gemeinhin 182
kein üblicher Zeitpunkt für unangemeldete Besuche auf dem flachen Land. Vor der Einfahrt parkte ein silbergrauer Pkw. Daneben standen mehrere Gestalten mit schwarzen Basecaps auf den Köpfen. Gottfried fragte: »Was wünschen Sie?« Die Antwort folgte in gebrochenem Deutsch: »Du kommen raus, wir machen dich tot!« Dann begannen die fremdländisch wirkenden Männer an Tor und Zaun zu rütteln. Gottfried hatte keine Lust, der Einladung Folge zu leisten. »Ruf die Polizei an!« befahl er seiner Frau und rannte in seiner Not zum Waffenschrank (in seiner Freizeit betätigte er sich nämlich in einem Schützenverein). Er ergriff einen Revolver, lud ihn durch und gab aus dem geöffneten Fenster mehrere Warnschüsse ab. Doch die gemeinen Halunken lachten nur. Sie hielten die Faustfeuerwaffe für einen Zündplättchencolt und deshalb in völliger Verkennung der Lage das Mündungsfeuer für die harmlosen Blitze einer Schreckschußpistole. Ihr fataler Irrtum wurde ihnen schlagartig bewußt, als der unerschrockene Schütze den Lauf seiner Knarre senkte und plingploing den Fluchtwagen der Banditen mit einigen Streifschüssen markierte. Nun endlich ergriffen die Räuber die Flucht und rasten mit quietschenden Reifen ins Ungewisse. Eine Viertelstunde später lugte ein Polizist vorsichtig um die Ecke. Als er sah, daß die Luft rein war, schritt er sofort zur Tat: Er beschlagnahmte die Waffe und nahm Gottfried mit zur Wache. Egmonds Erlebnis ist vergleichsweise harmlos. Er fuhr nachts mit seinem Auto über holprige Nebenstraßen. Als er eine Viehkoppel passierte, knallte er plötzlich gegen ein schwarzes Loch, das sich urplötzlich vor ihm auf der Chaussee aufgetan hatte. Benommen, aber unverletzt krabbelte Egmond aus dem Wagen. Am Auto war der Kühler zerbeult und die Frontscheibe 183
zersprungen. Das düstere Loch entpuppte sich als eine Kuh, die schwarz war wie die Nacht und die er deshalb nicht hatte erkennen können. Eine freundliche Autofahrerin verständigte den Tierhalter und die Polizei. Der Bauer führte seine Kuh, die ebenfalls glimpflich davonkommen war, zurück auf die Koppel. Der Polizist vermerkte folgerichtig in seinem Protokoll: »Beim Eintreffen des Unterzeichnenden nahm die Kuh schon nicht mehr am Straßenverkehr teil.«
Das dicke Ende einer Spritztour Im Gegensatz zu früher gibt es heutzutage Autos wie Sand am Meer, und die Händler überschlagen sich mit attraktiven Sonderangeboten. Ein kostenloser Service, der häufig offeriert und gerne angenommen wird, sind die sogenannten Probefahrten. Manchmal dauert eine solche Spritztour nur wenige Minuten einmal ums Karree, mitunter währt sie ein ganzes Wochenende und führt von Finsterwalde bis nach Saßnitz und zurück. Am Montag stellt der Kunde den Wagen auf den Hof, bedankt sich fein, und das war’s gewesen. Ein Unfallschaden? Kein Problem, die Versicherung wird es schon richten. Marcel war von Beruf Immobilienhändler. Mit Vorliebe trug er dunkelblaue Blazer, helle Flanellhosen, cremefarbene Hemden und Halstuch zum sauber gebürsteten Toupet. An einem folgenschweren Sonnabend vormittag tat er etwas, was er heutzutage nie wieder tun würde: Er schlenderte durch die Ausstellungshalle eines Autohauses und besah sich große, dunkelblaue Limousinen, solche, wie sie einem Mann seines Schlages gut zu Gesicht stehen. Draußen vor der Tür entdeckte er ein besonders preiswertes, weil gebrauchtes Exemplar eines oberen Mittelklassewagens. »Guter Mann«, sagte Marcel zum Autoverkäufer Gerhard, 184
»dieses feine Fahrzeug würde ich mir gerne zu einem Probefährtchen ausleihen.« Doch der Händler schüttelte bedenklich den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das geht. Das gute Stück gehört Herrn Ludger, einem Kunden von mir. Er veräußert es auf eigene Rechnung.« »Ein Telefonanruf tut manchmal Wunder«, sprach Marcel wie in den Raum hinein. Fünf Minuten später war die Sache klar. Herr Ludger hatte fernmündlich sein Okay gegeben. Marcel nahm auf dem Fahrersitz Platz, startete und ließ den Motor röhren. »Der hat ordentlich PS unter der Haube«, dachte er sich. Ab ging die Post. Linksherum, rechtsherum, geradeaus, die Reifen quietschten in der Kurve. Plötzlich lag ein leerer Pappkarton mitten auf der Fahrbahn. Er wurde hochgeschleudert, entfaltete sich und klatschte gegen die Frontscheibe. Marcel rief nach seiner Mutter, doch die konnte ihm auch nicht mehr helfen. Ein Straßenbaum stoppte abrupt die Weiterfahrt. Die Reparatur kostete 15 714,17 DM. »Her mit den Scheinchen. Ich will den Schaden auf Heller und Pfennig ersetzt haben«, schrieb Ludger einen unfreundlichen Brief an den Pechvogel. Marcel wehrte ab: »Bei einer Probefahrt habe ich nur vorsätzlich und grob fahrlässig verursachte Schäden zu ersetzen. Das war jedoch höhere Gewalt, im besten Falle einfache Fahrlässigkeit.« Das Gericht sah das anders: »Nach ständiger Rechtsprechung kann der Kfz-Händler, der einem Kaufinteressenten ein Kfz zu einer Probefahrt überläßt, von diesem jedenfalls keinen Ersatz für die – leicht fahrlässige – Beschädigung des Fahrzeuges verlangen«, meinte der Richter und fuhr dann fort: »Dies ist bei einer Probefahrt mit dem Kfz eines privaten Halters – wie vorliegend – nicht der Fall. Bei einer solchen kann nicht von einer stillschweigenden Haftungsbeschränkung ausgegangen werden.« 185
›Borgen bringt Sorgen‹, sagt in diesem Fall das passende Sprichwort.
Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Vor Gericht in unserem Land sind alle Menschen gleich, unabhängig von der Dicke ihrer Brieftasche. Damit selbst die ganz Dünnen die Möglichkeit haben, ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Rechte einzuklagen bzw. zu verteidigen, gibt es die sogenannte Prozeßkostenhilfe. Wem sie gewährt wird, der braucht weder Gerichts- noch eigene Anwaltsgebühren zu bezahlen. Damit aber das Prozessieren nicht zum neuen Hobby der Armen wird, muß der Antragsteller (ähnlich wie im Märchen) zwei Bedingungen erfüllen: Erstens darf sein Einkommen eine bestimmte Grenze nicht überschreiten (in etwa den Sozialhilfesatz), und zweitens muß seine Sache Aussicht auf Erfolg haben. Der Streit um des Kaisers Bart oder der Prozeß um des Esels Schatten wird wohl auf eigene Kosten geführt werden müssen. Was tun jedoch die Leute, die zwar etwas mehr als Sozialhilfe beziehen, sich deswegen aber trotzdem kein teures Gerichtsverfahren leisten können? Ihnen gewährt der Staat ein Darlehen, genannt Prozeßkostenhilfe mit Ratenzahlung. Otfried war ein solch bedauernswerter Grenzfall. Seine Gattin Pia hatte auf einer Billigbusreise ins Ausland einen Kellner kennengelernt, der sie zwecks Aufenthaltsgenehmigung heiraten wollte. Liebe macht bekanntlich blind. Pia jedenfalls mißdeutete die Motive des servilen Lockenköpfchens derart eklatant, daß ihr eine gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten sehr gut zu Gesicht gestanden hätte. Ehe Otfried erfaßte, wie ihm geschah, stand der freundliche Nebenbuhler mit zwei Koffern vor der Tür. Der Gehörnte wollte nun die Scheidung, das Gericht billigte ihm Prozeßkostenhil186
fe zu, aber die monatliche Ratenzahlung sollte 90 DM betragen. Otfried fand das ungerecht. Er ging zum Psychiater, und der bescheinigte ihm, daß er auf Grund der nervlichen Anspannung unter einer Psychose leiden würde, die ihn zum Kettenrauchen verdammt hätte. Die Sucht verlange täglich 70 bis 80 Zigaretten. Otfried argumentierte: »Meine Nikotinsucht ist krankheitsbedingt. Zigaretten auf Rezept gibt es nicht. Ich muß die Glimmstengel selbst finanzieren. Selbst polnische Zigaretten ohne Steuerbanderole schlagen mit rund 300 DM monatlich zu Buche. Und damit liege ich unter dem Sozialhilfesatz.« »Aber, aber, wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greifen Sie lieber zur Mohrrübe«, dachten die Richter und setzten sich über das Gutachten hinweg: »Der unsinnige Zigarettenkonsum ist letztlich vermeidbar und darf keinesfalls die Staatskasse belasten.« Wie schon der EG-Gesundheitsminister sagte: »Rauchen gefährdet die Gesundheit – auch die des Portemonnaies.«
Dr. Jekyll und Mr. Hyde ›Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung‹, sagt ein Sprichwort, aber selbst die besten Sprichwörter stimmen nicht immer. Die meisten Menschen erinnern sich sicherlich noch an jenen Tag in einem der vorigen Winter, als es bei frühlingshaften Temperaturen wie aus Kannen schüttete und dann das Thermometer urplötzlich ins Bodenlose fiel. Die Straßen verwandelten sich in wenigen Minuten in tückische Eisbahnen, auf denen sich die Autos wie Brummkreisel drehten und die Passanten wie wild mit den Armen fuchtelten, ehe sie ein um das andere Mal auf das Pflaster krachten. Birgit, eine junge Hausfrau und Mutter, saß gemeinsam mit ihrem arbeitslosen Mann am Fenster und beobachtete amüsiert 187
das interessante Schauspiel auf der großen Kreuzung vor ihrem Haus. Am nächsten Morgen hörte sie die Entwarnung im Radio. Die meisten Straßen und Plätze waren inzwischen gestreut worden und konnten wieder passiert werden. Birgit zog sich ihre hellblaue Webpelzjacke über und ging hinaus, um vom Bäckerauto frische Brötchen zu holen. Sie kam nicht weit. Kaum hatte sie einen Schritt von der untersten Treppenstufe auf den Bürgersteig gesetzt, da sausten ihre Thermostiefel in völlig entgegengesetzte Richtungen auseinander. Möglicherweise wäre ein bühnenreifer Spagat das Ende dieser akrobatischen Übung geworden, aber ihr zu enger Minirock verhinderte diesen glücklichen Ausgang des frostigen Abenteuers. Birgit verharrte eine Zehntelsekunde in der Senkrechten, die Hände zum Himmel gestreckt wie ein Sonnenanbeter, Stoff zerriß knirschend, dann rollte sie seitwärts über das linke gestreckte Bein ab. Knacks machte es inKaum der Wade. war Birgit aus dem Krankenhaus entlassen worden, forderte sie vom Hausbesitzer Howard 50 000 DM Schmerzensgeld, weil vor dem Haus nicht gestreut gewesen war. Nichts rührte sich. Birgit humpelte ratsuchend mit Gipsbein und Krücken zum Gerichtsgebäude. Was würde nun werden? Sie wollte den Hauswirt verklagen, aber wie sollte sie den Prozeß und den teuren Anwalt bezahlen? Väterchen Staat, der gütige alte Herr, griff ihr mit der Prozeßkostenhilfe unter die Arme. Im Gerichtsverfahren feilschten der Hauswirt und Birgit wie Händler auf dem orientalischen Basar. Nach langem Hin und Her einigten sie sich auf 12 000 DM Schmerzensgeld: Howard hatte zwar nicht gestreut, wie es seine Pflicht gewesen wäre, aber Birgit wußte, daß es glatt war, und hätte auf keinen Fall ihre rutschigen Moonboots anziehen dürfen. In diesen Vergleich wurde auch ein Passus zu den Kosten aufgenommen. Der Hauseigentümer muß 1/4, Birgit 3/4 aller Gerichts- und Anwaltskosten tragen. Birgit stimmte diesem Vorschlag be188
denkenlos zu. Als Prozeßkostenhilfe-Empfängerin brauchte sie ja schließlich keinen einzigen Pfennig zu bezahlen. Normalerweise. In diesem Fall verwandelte sich Väterchen Staat vom gütigen Dr. Jekyll in den geizigen Mr. Hyde. Von den 12 000 DM Schmerzensgeld knöpfte er Birgit 3 000 DM wieder ab. Die Begründung des Rechtspflegers lautete: »Es ist der Klägerin zuzumuten, einen Teil ihres Vermögens – d. h. des erstrittenen Schmerzensgeldes – für den Rechtsstreit einzusetzen. Bei der Sozialhilfe liegt die Grenze für das eigene Vermögen, bei deren Überschreitung es keine Unterstützung mehr gibt, sogar nur bei 4 500 DM. Mit den restlichen 9 000 DM verbleibt der Klägerin noch ein ausreichender Betrag für die Annehmlichkeiten und Erleichterungen, für die das Schmerzensgeld gedacht war.«
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Rauchen, Raub, Rechtsanwälte, Richter, Rowdys Wider den blauen Dunst Wenn es den Wissenschaftlern zu langweilig wird, setzen sie sich hin und erfinden etwas. So haben beispielsweise Gelehrte der Erasmus-Universität in Rotterdam entdeckt, daß das Gedächtnis von Rauchern im Alter deutlich stärker abnimmt (nämlich fast zehnmal mehr) als das von Nichtrauchern. Deshalb sei Altersschwachsinn bei Rauchern wesentlich ausgeprägter als bei Nichtrauchern. Hans-Jürgen quarzte früher zwei Schachteln pro Tag weg, dann sprach sein Hausarzt ein Machtwort. Seitdem ist HansJürgen ein militanter Nichtraucher. Gegen Nikotinabstinenz ist an sich nichts einzuwenden, doch Menschen mit Sendungsbewußtsein entwickeln sich leicht zu einer Landplage. Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Hans-Jürgen meidet jeden Ort, wo blauer Dunst in den Raum gepustet wird, wie der Teufel das Weihwasser. Er spielt nicht mehr Skat, geht nicht mehr zum Bowling, und Kneipen kennt er nur noch von außen. Aber dann, eines Tages, wurde er in einen schweren Gewissenskonflikt gestürzt: Er hatte eine Vorladung vom Amtsgericht erhalten, er sollte als Zeuge aussagen. Nun ja, mag sich der unbeteiligte Leser fragen, wo liegt das Problem? Hans-Jürgen, der notgedrungen seine Freizeitaktivitäten vor den Fernsehapparat im glimmstengelfreien Wohnzimmer verlagert hatte, kannte sich dank diverser AnwaltsSerien bestens aus. Deshalb beantragte er vier Wochen vor dem Verhandlungstermin beim Verwaltungsgericht den Erlaß einer Einstweiligen Verfügung. Inhalt: Das Rauchen in den Fluren des Amtsgerichts sollte verboten werden, um ihn vor den giftigen Nebelschwaden zu schützen. Doch ihm wurde eine Abfuhr zuteil. »Nur wenn als Folge der 190
Untätigkeit der öffentlichen Gewalt schwere Nachteile zu befürchten sind, kommt der Erlaß einer Einstweiligen Verfügung in Betracht«, lautete die Begründung. Weiter hieß es: »Von schweren Nachteilen kann keine Rede sein. In den Gerichtssälen darf ohnehin nicht geraucht werden. Das kurzzeitige Einatmen von Zigarettenrauch beim Gang über den Flur ist allenfalls eine Belästigung und kein Eingriff in das Recht auf Gesundheit.« »Haben Sie denn noch nichts von den Gefahren des Passivrauchens gehört?«, schrieb Hans-Jürgen erbost zurück. Auch hierauf wußte der Richter eine passende Antwort: »Der Antragsteller mag auf seinen Termin in einem rauchfreien Bereich des Amtsgerichts warten und den Vorsitzenden bitten, ihn per Gerichtsdiener zu benachrichtigen.« Passend zum Thema hatte einst Ingo Insterburg gedichtet: ›Ich tu so gerne rauchen, recht lange noch, Gott geb’s, in Qualm die Lungen tauchen, das freut den kleinen Krebs.‹
Kundenjagd per Gaspistole Die beiden Freunde paßten ausgezeichnet zueinander: Der 29jährige Bernd war ein Taugenichts und der gleichaltrige Patrick ein Tunichtgut. Selbst als es noch genügend Arbeit gab, hielten sie sich fern von ihr. Später lebten beide vom Ankauf schrottreifer Autos, die sie neu lackierten und dann für den zehnfachen Preis an den Mann zu bringen versuchten. Vor Monaten noch war das fast problemlos, nun mußten sie schon manchmal nachhelfen. Abends und nachts trieben sie sich in Bars und Kneipen herum auf der Suche nach neuen Opfern. Eines sollte der 36jährige Magnus werden, der an einem Donnerstagabend im ›Wilden Mann‹ am Ecktisch saß und mißmutig in ein Glas laue Cola starrte. Magnus war seit einigen Wochen arbeitslos. Die Zukunft sah 191
äußerst trübe für ihn aus. Die Beamten auf dem Arbeitsamt zuckten nur mit den Achseln, wenn sie ihn sahen. In der großen Stadt schien es keine einzige freie Stelle mehr zu geben. Magnus wollte gerade nach Hause fahren, als ihm Patrick auf die Schulter tippte. »Hey, Fremder«, meinte der. »Heute wird dein Glückstag werden. Ich habe ein sagenhaft günstiges Sonderangebot für dich. Einen fast nagelneuen, werkstattgepflegten Garagenwagen aus erster Hand. Von meinem Schwager. Macht mühelos 200 Sachen. Wie aus dem Ei gepellt. Ein Traumauto! Ich will nichts daran verdienen, keinen Pfennig. Du bekommst es für sagen wir mal …« Doch Magnus winkte ab. »Danke, kein Bedarf. Einen Teppich und ein Lexikon habe ich auch schon.« Dann stand er auf und ging hinaus. Patrick lief puterrot an vor Wut. »Komm, die Flasche kaufen wir uns«, meinte er zu seinem Kompagnon. Vor dem ›Wilden Mann‹ startete Magnus gerade seinen roten Lada, als die beiden Ganoven aus der Kneipe gerannt kamen und wild mit den Armen fuchtelten. Plötzlich zog Bernd eine Gaspistole und feuerte zwei Schüsse in Richtung des erwählten Kunden. Der verstand keinen Spaß und rauschte ab. Bernd und Patrick sprangen in ihr Schrottauto und sausten hinterher, dicht an dicht, mit aufgeblendeten Scheinwerfern und 120 Sachen, wobei Bernd weiter mit seiner Gaspistole ballerte. Magnus dachte, es wäre eine echte Waffe. Er duckte sich, kam ins Schleudern, pfiff rechts um die Kurve haarscharf an einem Mast vorbei und preschte in eine Sackgasse. Als er wenden wollte, versperrten ihm die Gangster den Weg. Bernd stieg aus, die Pistole im Anschlag. Er schritt langsam auf den Lada zu und zischte: »Komm raus!« Verängstigt folgte Magnus dem Befehl und hob die Hände. Patrick befahl ihm, die Brieftasche herauszugeben. Doch in ihr steckte nur noch ein einziger Zehnmarkschein. Wütend darüber schrie sein Kumpan: »Mach ihn kalt!« Magnus zitterte am ganzen Körper. Er tastete in seine Gesäßtasche 192
und zog seine letzten Ersparnisse hervor: 400 DM. »Warum nicht gleich so«, freute sich Patrick und steckte das Geld ein. Die Polizei brauchte sich keine große Mühe zu geben, um die Täter zu stellen. Sie waren stadtbekannt. In der Gerichtsverhandlung fand ihr ›Spaß‹ dann sein verdientes Ende. Patrick und Bernd erhielten je eine Freiheitsstrafe von drei Jahren.
Der verhinderte Lokomotivführer ›Advokaten und Soldaten sind des Teufels Spielkameraden‹, weiß ein Sprichwort zu berichten. Trotzdem kommen in der heutigen Zeit immer weniger Menschen ohne den tatkräftigen Beistand eines Anwaltes aus, denn – wie die Franzosen sagen – ›Gut Recht bedarf der Hilfe‹. Aber zwischen recht haben und recht bekommen besteht ein riesengroßer Unterschied, und die Mühlen der Gerichte mahlen (ähnlich wie Gottes Mühlen) langsam, langsam, immer langsamer. Viele Mandanten verstehen nicht, weshalb ihre Sache nur schleppend in die Gänge kommt, und geben ihrem Rechtsanwalt die Schuld. So auch Josef, der sich seit drei Jahren mit einem quälenden Bauprozeß herumschlagen mußte. Schludrige Handwerker hatten ihm ein sogenanntes Niedrigenergiehaus hingesetzt, in dem er selbst im Sommer heizen mußte. Im folgenden Beweissicherungsverfahren hatten diverse Gutachter ihre Besichtigungstermine auf exakt 24 Monate verteilt, und in dem anschließenden Hauptsachverfahren herrschte schon seit vielen Wochen völlige Funkstille. Josef nahm Volkmann, seinen Rechtsanwalt, ins Gebet. »Wenn hier nicht bald etwas passiert, ist die Baufirma pleite. Wer soll dann den Pfusch in Ordnung bringen? Tun Sie mal endlich was für Ihr Geld!« »Guter Mann«, entgegnete Volkmann, »erstens habe ich noch 193
keinen einzigen Pfennig gesehen, weil Sie Prozeßkostenhilfe bekommen und die Staatskasse bislang meine Vorschußforderung ignoriert hat. Zweitens sind mir die Hände gebunden. Das Landgericht ist völlig überlastet. Die Verhandlungstermine werden ein Jahr im voraus vergeben.« »Faule Ausreden«, erboste sich Josef, »Sie haben vom Baurecht keine Ahnung, daran liegt es. Sie können nur Fälle gewinnen, bei denen der Hund in Nachbars Garten bellt.« Volkmanns Gesicht nahm die Farbe seiner blauroten Krawatte an. »Das ist nun der Dank für meine jahrelange Tätigkeit«, zischte er. »Aber nun ist das Maß voll. Ich lege mein Mandat nieder, jawohl! Noch heute melde ich das dem Gericht!« Das tat er dann auch. Doch plötzlich, Wunder über Wunder, hatten die fernen Richter auf einmal Zeit für den Fall. Sie schrieben postwendend zurück: »Die Äußerung des Mandanten war geeignet, die Zusammenarbeit empfindlich zu stören. Trotzdem müssen aber vor einem Rücktritt alle Umstände des Einzelfalls sorgsam abgewogen und die Interessen der am Rechtsstreit beteiligten Parteien berücksichtigt werden. In dem umfangreichen Bauprozeß ist bereits umfassend Beweis erhoben worden. In einem solchen Fall kann man von einem Anwalt erwarten, daß er die abschließenden anwaltlichen Aufgaben noch für den Mandanten wahrnimmt.« »O mein Gott«, stöhnte Volkmann verzweifelt, »wäre ich doch nur Lokomotivführer geworden, wie ich es mir immer gewünscht hatte.«
Leckere Akte an brauner Soße Richter können Rechtsanwälte nicht leiden. Wehe dem armen Rechtsverdreher, der in eigener Sache vor den Kadi treten muß. Dann gibt es keinen Pardon, denn einem Schwarzrock werden keine Sünden schöngebetet. Doch Rang Nummer Eins auf der 194
Unbeliebtheitsskala der Richter nimmt eine andere Berufsgruppe ein. Deren Mitglieder werden von den Richtern wie die Pest gehaßt: Es sind die Richter. Hjilmar ist seit knapp dreißig Jahren Verkehrsrichter. Er kennt wirklich alle Höhen und Tiefen des menschlichen Geistes. Seine drei wichtigsten Maximen lauten: 1. Jeder Verkehrsunfall hätte sich vermeiden lassen können. 2. Deshalb lügen alle Angeklagten wie gedruckt, falls sie nicht frank und frei ihre Schuld eingestehen. 3. Es gibt keine unglücklichen Zufälle, bestenfalls fahrlässige Fehler. Bei Hjilmar kommt kein Angeklagter ungeschoren davon, es sei denn, er stirbt vor der Urteilsverkündung. Hjilmar trägt Justitias Schwert in der rechten Hand und zerteilt mit scharfen Hieben die Lügengespinste, hinter denen sich die verbrecherischen Verkehrssünder zu verbergen versuchen. Hjilmar ist fleißig und von hellem Verstand. Jedes Wochenende nimmt er sich dicke Aktenbündel mit nach Hause und arbeitet sie akribisch durch. An einem Sonntag im April saß er im lichtdurchfluteten Speisezimmer am Tisch, blickte versonnen hinaus in den Garten und dachte über einen komplizierten Fall nach. Die Akte lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Suppenteller, denn es sollte gleich Mittagessen geben. In diesem Moment betrat seine Gattin Gerlinde den Raum. Sie schleppte ein hölzernes Tablett, auf dem drei dampfende Schüsseln standen. Als sie ihren sinnierenden Ehemann erblickte, der weder – wie ihm von ihr vor fünf Minuten aufgetragen – den Eßtisch abgeräumt, geschweige denn den Wein entkorkt hatte, kochte der Köchin das Blut. In dieser brisanten Situation beging Hjilmar seinen zweiten taktischen Fehler. Er fragte zwar sehr gehoben, aber mit einem deutlichen Anzeichen von Desinteresse in der Stimme: »Meine 195
Blume, womit sollen denn heute meine Geschmacksknospen zum Erblühen gebracht werden?« »Mit leckerer Akte an brauner Soße, du Satansbraten«, schrie die erboste Dame des Hauses und kleckste ihm einen dicken Schwapp sämiger Soße auf die aufgeschlagene Akte. Lustig, lustig, mag sich der Leser denken, denn eine Tragödie für den Betroffenen ist häufig eine Komödie für den Betrachter. Doch für Hjilmar nahm das Unglück nun erst seinen richtigen Lauf. Zwar hatte er die Akte sofort im Badezimmer zu reinigen versucht, doch eine fetttriefende Seite löste sich unrestaurierbar in ihre Zellulosebestandteile auf. Das Landgericht verurteilte deshalb den armen Richter wegen ›Zerstörung eines amtlichen Schriftstücks, Verwahrungsbruch und Urkundenunterdrückung‹ zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung. Die Begründung lautete: »Es ist lebensfremd anzunehmen, daß die Ehefrau eines seit fast dreißig Jahren im Justizdienst stehenden Richters Aktenbestandteile vernichten würde.« In diesem Moment zweifelte Hjilmar zum ersten Mal in seinem Leben an der Schuld eines Angeklagten. Er sollte recht behalten. Der Bundesgerichtshof sprach ihn frei: »Es ist mindestens genauso lebensfremd anzunehmen, daß ein seit fast dreißig Jahren im Justizdienst stehender Richter Akten vernichtet.« Hoffen wir, daß nicht allzuviele Richter von diesem Urteil erfahren. Denn sonst nehmen sie keine Akten mehr mit nach Hause, und die Wartezeiten bei Gericht wachsen weiter an.
Leichte Schläge auf den Hinterkopf … Es gibt zuckersüße Burschen, nach denen leckt sich jede Schwiegermutter alle Finger ab. Der brünette Adolf und der blonde Dirk sind zwei Jungs von diesem Kaliber. Sie tragen ihr 196
Haupthaar hübsch kurz (Streichholzbreite), klobige Quadratlatschen an den Füßen (Springerstiefel) und grauglänzende Anoraks (Bomberjacken) über bunttätowierten Heldenbrüstchen. Auch ihre knappen Lebensläufe gleichen sich wie ein Überraschungsei dem anderen: Beide verpaßten den exakten Schulabschluß, schmissen die Lehre und rekeln sich seitdem als Langzeitarbeitslose in sozialen Hängematten, den warmen Betten ihrer elterlichen Kinderzimmer oder rauchend und mit Bierdosen in den Händen auf buntbezogenem U-Bahngestühl. An einem Tag im Mai waren zwei asylsuchende Jugoslawen in dem fatalen Irrtum begriffen, daß es für sie in Deutschland sicherer sei als im von Heckenschützen wimmelnden Sarajevo. Adolf und Dirk belehrten sie während einer nächtlichen UBahnfahrt eines Besseren. »Wollt ihr nicht aussteigen?«, fragte das blonde Goldkämmchen und öffnete zwischen zwei Stationen die Abteiltür. Die Bürgerkriegsflüchtlinge bereuten längst ihren Entschluß, nach Einbruch der Dunkelheit noch einen Fuß vor die Tür ihres neonbeleuchteten Schlafsaales gesetzt zu haben. Nun war es zu spät. Faustschläge und Fußtritte prasselten auf sie ein. Doch es gibt nichts Schlechtes ohne etwas Gutes: Dirk konnte entweder die Tür offenhalten oder prügeln. Da er sich für die Mißhandlungen entschieden hatte, bestand keine akute Lebensgefahr mehr. Auf dem nächsten Bahnhof konnten die blutenden Ausländer ihren Peinigern entkommen. Einige Tage später erfuhr Adolf, daß seine Freundin Seiina mit dem bösen Buben Benno zu einer Party gegangen war. Der möglicherweise Gehörnte dachte nach. Um sein Gehirnschmalz anzuregen, trank er ein Schlückchen. Nach einer großen Flasche Braunem griff er nach seiner Ausrüstung (einer BaseballKeule) und machte sich auf den Weg zum betreffenden Neubaublock. Aus einem Fenster im zweiten Stock drang rhythmische neue deutsche Volksmusik. 197
Adolf barg die Keule an seinem Busen und kletterte wie ein Affe (oder wie Rambo) an den Balkons nach oben. Ein Blick durch das Fenster ließ ihn erschaudern: Seiina hielt den Fremdling eng umschlungen und saugte sich an ihm fest. Adolf stieß die Balkontür auf, hob den Baseballschläger hoch in die Luft und hieb ihn wuchtig gegen den Schädel des Nebenbuhlers. ›Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöh’n das Denkvermögen‹, sagt das passende Sprichwort. Benno flüsterte leise: »Autsch!« und legte sich auf den Teppich. Am nächsten Tag erwachte er mit Kopfschmerzen, mehr war ihm glücklicherweise nicht passiert. Wieder einige Tage später gab es erneut Spaß: Dirk sprühte einen U-Bahnhof mit einem entwendeten Feuerlöscher aus, währenddessen Adolf sturzbetrunken mit dem Auto eines Freundes umhergondelte, von der Fahrbahn abkam, einen Akker umpflügte und dabei einige Hinweisschilder umsenste. Die Richterin hätte ihm gerne die Fahrerlaubnis abgenommen, aber sie konnte es nicht, weil er keine besaß. Adolf und Dirk erhielten je eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung. Beide atmeten erleichtert auf – Dirk eine Minute zu früh. Die Richterin hatte nämlich in seinen Akten einen einwöchigen Jugendarrest gefunden, der noch nicht vollzogen worden war. Am Ende der Verhandlung ließ sie Dirk aus dem Stand heraus verhaften und zum Angewöhnen für sieben Tage ins Gefängnis bringen. Der mit einem blauen Auge davongekommene Adolf schlich unterdessen gesenkten Blicks rückwärts zur Tür. Hoffentlich hatte die Richterin für ihn nicht eine ähnliche Überraschung parat! Er hastete die Treppen hinunter aus dem Gerichtsgebäude. Dann rannte er die Straße entlang nach Hause, so schnell ihn seine Beine trugen. Adolf konnte sehr schnell flitzen. Diesmal hatte er Turnschuhe an und keine Ausrüstung dabei.
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6. Kapitel Schadensersatz, Schule, Sorgerecht Kein Anschluß unter dieser Nummer »Gut Ding will Weile haben«, sagt das Sprichwort, aber viele Dinge erledigen sich von ganz allein. Burkhard bewohnte ein verklinkertes Einfamilienhaus mit Erker und Wintergarten in einer äußerst ruhigen Wohngegend. Die Straße vor seinem Haus hieß Finkensteig und war eine Sackgasse. Ein sogenannter Wendehammer ersparte selbst großen Müllautos das Rückwärtsfahren. Im Finkensteig kannte jeder jeden, dort blieb nichts geheim. Als Burkhard eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, fand er seine gesamte Auffahrt zerfahren vor. Ein schweres Fahrzeug war über den Bürgersteig gerollt, hatte den gemauerten Torpfosten touchiert und rund zwanzig Gehwegplatten zu kleinen Betonbrocken zerschrotet. Burkhard brauchte nicht lange zu rätseln, wer der Übeltäter gewesen sein konnte: Nachbar Willy ließ seit einigen Tagen sein Haus umbauen. Ständig kamen Lastkraftwagen angebraust, kippten Ladungen ab und zirkelten dann durch den engen Wendehammer. Burkhard ballte sein Gesicht zur Faust und ging hinüber zu Willys Grundstück. Dort pikste er dem Bauunternehmer Fridolin mit dem Finger in den Schmerbauch und forderte: »Sie haben meine Einfahrt versaut, Sie bringen das wieder in Ordnung, und zwar ramba-zamba!« »Regen Se sich nich auf, Meister«, erwiderte Fridolin. Sein Atem roch nach Knackwurst, Bier und Knoblauch, »det is janüscht. Det wird wieda wie neu.« Burkhard klopfte sich in Gedanken auf die Schulter, lobte sich ob seiner Zivilcourage. Tage und Wochen vergingen. Burkhard erhielt von Fridolin 199
nur Ausweichendes. Schließlich schrieb er: »Wenn Sie nicht innerhalb von 14 Tagen den Schaden behoben haben, reiche ich Klage ein.« Fridolin: »In spätestens vier Wochen verlegen wir die Gehwegplatten und mauern einen neuen Pfeiler.« Doch vergeblich. Als ein Vierteljahr herum war und Burkhard auf weitere Mahnungen keine Antwort erhielt, beauftragte er eine andere Firma. 2 500 DM kostete der Spaß. Burkhard hatte nichts zu verschenken. Im Gerichtssaal traf er Fridolin wieder. Der Bauunternehmer blickte leutselig zur Richterin, hob entrüstet die Arme und sprach in lupenreinem Hochdeutsch: »Euer Ehren, ich bin an dem Vorfall völlig unschuldig. Ich weiß beim besten Willen nicht, was dieser Mann von mir will.« Burkhard: »Ich habe es schriftlich, daß er sich verpflichtet, den Bürgersteig zu reparieren.« Die Richterin schüttelte nur mit dem Kopf: »Der Kläger hat keinen Beweis dafür erbracht, daß der Beklagte der tatsächliche Verursacher des Schadens war. Aus dem erwähnten Schreiben geht nur hervor, daß der Beklagte den Schaden beseitigen will. Davon, daß die Schadensbeseitigung kostenlos erfolgen sollte, steht nichts geschrieben. Die Klage wird abgewiesen.« Vor dem Gerichtsgebäude trennten sich die Wege von Kläger und Beklagtem. Fridolin ging in den ›Blauen Anker‹ und Burkhard in die ›Kranich-Apotheke‹. Er benötigte dringend ein Mittel gegen seine frisch aufgebrochenen Magengeschwüre.
Klar wie dicke Kaufhaustinte ›Ehrlich währt am längsten, schuftig lebt in Ängsten‹, sagt das Sprichwort, doch manche böse Menschen handeln nicht danach. Für sie hat der liebe Gott Kaufhausdetektive, Magnetetiketten und piepsende Sicherheitsmelder an den Ladentüren 200
erfunden. Der blonde Hanno hingegen war ein durch und durch ehrenwerter Mann. Er zahlte freiwillig vierzig statt zwanzig Mark Krankenhaus-Notopfer. Er bot selbst hinfälligen Schwarzfahrern in der Straßenbahn seinen Sitzplatz an. Und wenn er einen Pfennig fand, trug er ihn ins Fundbüro. Ein echter Kerl von Schrot und Korn also. Aber manchmal müssen auch die Gerechten leiden. Und das kam so: Hanno besorgte Weihnachtsgeschenke im Warenhaus. Jeder Erwachsene kennt dieses Drama: Tausende schwitzende Menschen, vom Kaufrausch umnebelt, drängeln, schieben und grabschen. Aus diversen Lautsprechern dröhnt aggressive Schneeflöckchen-Musik. Die Hitze ist unerträglich. Stark parfümierte Weihnachtsmänner mit verrutschten Bärten bieten billige Herrensocken an. Die Neonlichter blenden grell und unbarmherzig. Und dann speit das weit geöffnete Haus einen erfolgreichen Käufer nach dem anderen aus. So erging es auch Hanno. Plötzlich stand er wieder auf der Straße, trug zwei große Tüten in den Händen und wunderte sich. Was nur zum Teufel hatte er gerade wohlfeil erworben? Zu Hause packte er die hübschen Sachen aus. An einer Kinderjeans für 17,50 DM entdeckte er einen knopfähnlichen Gegenstand. Er hatte vergessen, das Sicherheitsetikett entfernen zu lassen. Kein Problem für den blonden Hanno. »Mutti, bring mal die Werkzeugkiste«, rief er in die Küche, wo der Braten lustig schmurgelte. Kricks, kracks machte die Kombizange, und die Diebstahlsicherung vom Typ ›Colortag‹ zerbrach. Nun saß der blonde Hanno tief in der Tinte, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Der zerstörte ›Colortag‹ hatte ihn von oben bis unten mit einer schwarzen Flüssigkeit vollgespritzt. Und nicht nur ihn … Hanno verklagte das Warenhaus auf Schadensersatz. Er wollte lediglich haben, was ihm zustand: 20 485,50 DM. Für die ver201
saute Kinderjeans, für seine beschmutzte Kleidung und für zwei nagelneue Sofas, auf die die Wundertinte ebenfalls geflossen war. Keinen Pfennig mehr. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt, aber die Richter vom Landgericht taten es: »Der Kläger hat den Schaden selbst verschuldet«, bürsteten sie den Tintenkleckser ab. Hanno ging in Berufung. Am Oberlandesgericht hatten sich die Richter schon längere Zeit mit dem Inhalt diverser Tintenfässer befaßt: »Das Etikett trägt zwar auf der einen Seite die Aufschrift ›Niemals öffnen, sonst bleibende Flecken!‹, aber es war mit dieser Seite in den Stoff eingeheftet gewesen. Der eingetretene Schaden ist so überwiegend vom Warenhaus verursacht worden. Ein etwaiges Mitverschulden des Klägers bei der Entstehung des Schadens fällt nicht ins Gewicht.« Die Sache wurde zurück an das Landgericht verwiesen. Es muß über die Höhe des Schadensersatzes entscheiden. Hanno denkt inzwischen voll Wehmut daran, daß es ihm gelang, den verdorbenen Teppich (8 000 DM), den verschmutzten Parkettfußboden (15 000 DM) und die beklecksten PavarottiHausschuhe (750 DM pro Stück) von der Tinte zu reinigen. Aber so ist es halt: Nur Schufte würden mehr fordern, als ihnen ehrlich zusteht. P.S. Bald nun ist Weihnachtszeit, herrliche Zeit. Eine Kinderjeans gefällig?
Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt Bereits Wilhelm Busch dichtete über böse Buben. Doch die Streiche von Max und Moritz sind oft harmlos im Vergleich zu dem, was heutzutage von den lieben Kleinen so alles angestellt wird. Patty ist ein ganz besonderes Früchtchen. Er wäscht sich nur zweimal im Jahr, kleidet sich im sogenannten Gammel-Look 202
(abgewetzte Arbeitsschuhe, zerfetzte alte Hose, speckiges TShirt, schmieriger Anorak), und seine ungekämmten blonden Haare stehen in alle Himmelsrichtungen. Patty geht gern zur Schule. Allerdings nicht, um zu lernen, sondern um Geschäfte mit seinen Mitschülern zu machen. In den Hofpausen verkauft er Schnaps in kleinen Flaschen (Taschenrutscher) und Haschisch, getreu dem Motto: ›Hascht du Haschisch in den Taschen, hascht du immer wasch zu naschen.‹ Nun haben die Lehrer zwar heutzutage ein dickes Fell, aber irgendwann war das Maß voll. An einem Tag im Januar fand eine Klassenkonferenz statt, zu der auch die Eltern von Patty eingeladen waren. Einziger Tagesordnungspunkt: Das Fehlverhalten des Rowdys. Der Klassenlehrer begann seinen Vortrag: 1. Vorkommnisse auf der letzten Klassenfahrt 2. Rauchen auf dem Schulhof 3. Verlassen des Schulhofs in der Mittagspause 4. störendes Verhalten während des Unterrichts 5. Nichteinhalten ihm gestellter Aufgaben. Am Ende der Versammlung faßte die Klassenkonferenz den Beschluß, Patty für eine Woche vom Schulunterricht auszuschließen. Anfang Juni erhielten die Eltern des holden Knaben einen Brief vom Direktor. Darin teilte ihnen der Schulleiter mit, daß ihr Goldsohn seine Disziplinarverstöße kontinuierlich fortsetzen würde. Der gute Mann hätte sich sein Schreiben auch ans Knie nageln können, denn es änderte sich überhaupt nichts. Patty hatte nach wie vor nur Unsinn im Sinn. Er produzierte im Unterricht am laufenden Band Darmgeräusche, zweckte Mädchen mit Reißnägeln die Röcke an den Stühlen fest und schnipste mit Nasensteinen. In den Pausen rauchte er seine Joints und besserte mit Verkäufen sein Taschengeld auf. 203
In den Sommerferien atmeten die leidgeplagten Lehrer auf, doch im Herbst setzte sich ihr Martyrium fort. Im Oktober riß der Geduldsfaden endgültig. Mit Bescheid vom 18.10. wurde Pattys Eltern mitgeteilt, daß die Lehrerkonferenz mit sofortiger Wirkung beschlossen habe, den bösen Buben von der Schule zu entlassen. Nun war guter Rat teuer. Keine einzige Schule im näheren Umkreis zeigte sich bereit, Patty aufzunehmen. Den Eltern blieb nichts weiter übrig, als ihr Goldstück an einer Privatschule unterzubringen. Sie mußten zunächst 450 DM Aufnahmegebühr und 7 470 DM Schulgeld zahlen. Zunächst, weil Pattys Sorgeberechtigten gegen die Schulentlassung ihres Sonnenscheinchens Klage einreichten. Sie gewannen den Prozeß. Das Oberverwaltungsgericht meinte, die Schulentlassung von Patty sei unrechtens gewesen, weil ihr nicht eine Androhung derselben vorausgegangen sei. Nun kam, was kommen mußte. Pattys Erzeuger verlangten vom Bundesland die Aufnahmegebühr und das Schulgeld für die Privatschule zurück. Die weisen Rechtsgelehrten am Oberlandesgericht nickten: »Die Entlassung von der Schule war rechts- und damit amtspflichtswidrig, dem Kläger steht der geltend gemachte Schadensersatzanspruch zu.« Wie schön, daß es Gerechtigkeit nicht nur im Himmel, sondern bereits auf Erden gibt.
Feier mit schlimmen Folgen Welcher Erwachsene denkt nicht voller Wehmut an die schöne Schulzeit zurück: An die vollgekritzelten Pulte, die heimlichen Zigarettenzüge auf der Toilette, die zugesteckten Zettelchen mit Liebesbotschaften. Dennoch, kein halbwegs normaler Mensch möchte noch einmal die alte Schulbank drücken müssen. 204
In einer kleinen Stadt gab es ein besonderes Jubiläum. Die einzige Realschule des Ortes sollte ihr 25jähriges Bestehen feiern. Der Direktor hatte eine Idee, und das Lehrerkollegium nickte halbwegs begeistert. »Wir feiern einen großen Ball. Alle jetzigen und alle ehemaligen Lehrer und Schüler werden eingeladen«, meinte der Herr Direktor. Es gab nur ein winziges Problem: Selbst bei minimalem Interesse und einer niedrigen Beteiligungsquote von zehn Prozent würden weder die Aula noch der Speisesaal ausreichen. Wo sollte das Fest stattfinden? Dem Direktor kam noch ein Einfall. Beim allmonatlichen Skatabend im Ratskeller sprach er mit dem Bürgermeister, und schon war ein geeigneter Veranstaltungsort gefunden: die Stadthalle. Die Stadthalle, ein klotziger Backsteinbau aus den vierziger Jahren, stand mitten im Stadtpark und bestand aus der eigentlichen Halle und einem sehr geräumigen Foyer. Am Ballabend hingen dort neben den Garderoben alte Schülerlisten und Klassenfotos aus. Im Wandelgang fielen sich ältere, angegraute Herrschaften um den Hals und küßten sich mit Tränen der Wiedersehensfreude ab. Im Saal spielten abwechselnd eine Schülerband und eine Tanzkapelle. An den Längsseiten sorgten mehrere Bierstände und ein rustikales kaltes Büffet für das leibliche Wohl. Doch nur wenige Stunden nachdem das Fest begonnen hatte, war es für die meisten Gäste schon wieder zu Ende. Nach den vielen Reden, dem großen Gruppenfoto vor der Bühne und der sich anschließenden Polonaise lichteten sich die Reihen sehr schnell. In der Festhalle blieben fast ausschließlich ältere Schüler und erst vor kurzem ausgeschiedene Ehemalige zurück. Ihre Zahl schmolz zwar von Stunde zu Stunde, was ihrer Tanzwut jedoch keinen Abbruch tat. Als die Kapelle kurz nach Mitternacht einpackte, blickten die aufsichtsführenden Lehrer seufzend auf ihre Uhren, doch an ein Ende der Feier war noch lange nicht zu 205
denken. Nun zeigte die Schülerband, was so richtig in ihr steckte. Jazz, Rock und Blues, Hipphopp, Techno und Grunge – fast kein musikalisches Genre wurde nun mehr ausgelassen. Die erste Lehrerin vom Aufsichtspersonal gab resigniert um 0.30 Uhr auf, die zweite ging um 2.30 Uhr. Um 3 Uhr morgens beendete schließlich der letzte anwesende Lehrer das Spektakel. Am nächsten Tag traf pünktlich um 18 Uhr der Gesangverein ›Deutsche Eiche‹ zur Probe in der Festhalle ein. Ihm bot sich ein Bild des Grauens. Umgeworfene Stühle, zerschlagene Gläser, zerknüllte Papierservietten. Dann hallte ein spitzer Schrei durch den Saal: Der weiße Flügel war beschädigt, beschmutzt auch das Innere des königlichen Instrumentes. Gesamtschaden: 11 937,80 DM. Der Gesangverein verklagte das Land (als Träger der Schule) auf Schadensersatz wegen Verletzung der Aufsichtspflicht. Das Gericht wies die Klage ab. Die Lehrer hatten sicherlich ihrer Amtspflicht nicht hinreichend genügt. Aber: »Die Aufsichtspflicht der Lehrer erstreckt sich nur auf die Veranstaltungsteilnehmer, die Schüler der Schule sind.« Mit anderen Worten: Es ist unstreitig, daß Vandalen den Flügel mutwillig beschädigt haben. Wären es Schüler der Schule gewesen, hätte die Schule haften müssen, weil die Lehrer ihre Aufsichtspflicht verletzten. Da aber die Lehrer ihre Aufsichtspflicht verletzten, kann niemand sagen, wer den Flügel mißbrauchte. Es können Schüler der Schule, aber auch Exer gewesen sein. Deshalb meinte der Richter: »Selbst wenn man annehmen wollte, daß die Art der Beschädigung auf jugendliche Täter hindeutet, so bleibt doch völlig offen, ob es sich um Schüler oder um wenig ältere ehemalige Schüler handelt. Weitere zur Einengung des Täterkreises geeignete Kriterien lassen sich nicht finden.« Die ›Feuerzangenbowle‹ nach Rühmannscher Art fand im Gerichtssaal ihre Fortsetzung. 206
Der niederbarnimsche Kreidekreis oder Achtung Kamera! Karsten hatte einen kleinen niederbarnimschen Bauernhof mit acht Reitpferden, Dutzenden Hühnern und Gänsen, dem im Misthaufen wühlenden Hängebauchschwein ›Mechaniker‹ sowie einem rustikalen Plumpsklo. Touristen liebten diese Idylle. Sie kamen bei schönem Wetter, aßen Schmalzstullen zu Wurstsuppe und ritten dann über die Wiesen. Wenn sie abends Abschied nahmen, traten ihnen Tränen der Rührung in die Augen. Carola, Karstens Frau, heulte auch oft. Bei ihr waren es Tränen des Zorns. Sie sehnte sich nach Fußbodenheizung, gleichmäßig temperierten Räumen, Wasserklosett und Badewanne. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus, schnürte ihr Ränzlein und zog hinaus in die große, weite Welt. Ihr Ehemann und der sechsjährige Sohn Dominik blieben allein zurück. Karsten beantragte das Sorgerecht für sein Kind und bekam es ohne Probleme zugesprochen. So ging die Zeit ins Land hinein. Carola suchte weiter nach dem Glück. Eines Tages, hoppla, stolperte sie darüber und hob es auf. Sie ließ sich von Karsten scheiden, heiratete Claus und lebte seitdem als Hausfrau in einem feinen Gebäude mit vielen Zimmern – angenehm warm im Winter, gut temperiert im Sommer. Alles ist weiß, sauber und ordentlich. Aber (denn in den meisten Geschichten gibt es ein Aber) nach einer Fehlgeburt mußte Carola operiert werden und kann seitdem keine Kinder mehr bekommen. Carola dachte nach. Und plötzlich fiel ihr ihr armes, armes Baby ein, das mit den Schweinen auf dem Misthaufen großwuchs. Carola setzte sich in ihr neues, chromblitzendes Auto (ein Weihnachtsgeschenk von Claus) und fuhr hinaus aufs Land. Karsten verzog sich brummelnd in die Scheune. Dominik war inzwischen neun Jahre alt. Er freute sich über Inli207
neskater und Walkman, aß mitgebrachte Schokolade, Eis und Cracker, spülte mit reichlich Cola nach und fand seine Mutter prima. Die strich ihm liebevoll über den Blondschopf, machte einige Erinnerungsfotos von ihm und flüsterte: »Noch einmal komm’ ich und dann nimmermehr. Dann hole ich dich nämlich heim zu mir.« Gesagt, getan. Carola reichte Klage beim Gericht ein und beantragte die Abänderung des Sorgerechts. Als Begründung schrieb sie: »Die Wohnung, speziell das Kinderzimmer, ist sehr schmutzig. Es existiert noch immer kein Badezimmer oder eine Toilette im Haus. Dominik sah nicht besonders sauber und gepflegt aus. Er roch unangenehm. Er litt unter schlimmem Fußpilz.« Um diese Worte anschaulicher zu machen, fügte sie ein Dutzend von den ›Erinnerungsfotos‹ bei, die aber weniger Sohn Dominik, als vielmehr schmutziges Geschirr in der Spüle, den Hahn auf dem Mist und vor allem das chaotische Kinderzimmer zeigten. Karstens Anwalt sagte in der Verhandlung: »Mein Sohn ist neunzehn. Wenn Sie sein Zimmer sehen könnten, Euer Ehren, würden Sie mir sofort das Sorgerecht entziehen, so ich es denn noch hätte. Zum anderen verfügt auch der Beklagte über bunte Bilder, allerdings legale. Sie zeigen einen netten, friedlichen Bauernhof.« Der Richter befragte Dominik, dann sah er Carola tief in die Augen, blies die Backen auf und murmelte entnervt: »Nehmen Sie bloß Ihren Antrag zurück, gute Frau.« Und so geschah es.
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Telefonieren, Tiere, Totenruhe »Handy aus!« forderte der Richter Wer noch nie peinvoll in einem Gerichtssaal ausharren mußte und Prozesse deshalb lediglich aus Filmen kennt, hat ein relativ festgefügtes (positives) Vorurteil über das Interieur der Räumlichkeiten und den Gestus der dort agierenden Personen: Die Wände sind holzgetäfelt, an der Wand schwingt eine geschnitzte Justitia ihr Schwert, die Sessel im englischen Stil sind mit grünem Leder gepolstert. Der Richter in verbrämter Robe, umgeben von vier Beisitzern und zwei Protokollanten, thront erhaben weit oben an einem riesigen Tisch und läßt dröhnend den Hammer fallen. Hinter einer halbhohen Schranke sitzen Hunderte gespannter Zuschauer im Sonntagsstaat, auf die grimmige Gerichtsdiener ein waches Auge halten. Die weitschweifigen Plädoyers der Staatsanwälte oder Verteidiger in Richtung ernst dreinblickender Geschworener werden andauernd vom Blitzlichtgewitter Dutzender rattengesichtiger Sensationsreporter unterbrochen. Die Wirklichkeit ist profaner. Die meisten Gerichtssäle befinden sich in hellhörigen Baracken, unpersönlichen Bürogebäuden, abgewohnten Sozialismus-Quadern oder renovierungsbedürftigen Altbauten. Das Mobiliar ist entweder abgewetzt oder wahllos zusammengestoppelt, oder aber es hat den Charme einer Betriebskantine. Der hammerlose Richter hockt in der Regel einsam an einem Tisch mit Plastik-Furnier und nuschelt kurze Sätze in ein Diktiergerät. Der einzige Mensch an seiner Seite ist dann bestenfalls der Bundespräsident auf einem verschwommenen Foto an der Wand. Die Zuschauer bestehen aus einem schlafenden Obdachlosen und drei zeitungslesenden Rechtsanwälten, die auf den nächsten Prozeß warten. Doch die Würde des Menschen ist unantastbar, wie die Im209
mobilienmaklerin Imke kürzlich erfahren mußte. Die braungecremte Dame war ein häufiger Gast in den Zivilkammern der Amts- oder Landgerichte. Meistens handelte es sich um Provisionen, die sie zu bekommen hatte oder zurückzahlen sollte. In dem betreffenden Verfahren war Imke als Zeugin geladen. Es ging um die spannende Frage, ob die mündliche Zusage eines Bauträgers an den Hauskäufer, die Treppe zur Haustür vor dem Einzug zu errichten, tatsächlich Vertragsbestandteil geworden war. Wer vor Gericht erscheint, muß viel Zeit mitbringen. Unpünktlichkeit von Parteien, Rechtsanwälten oder Zeugen wird hart bestraft – der Richter hingegen hat alle Zeit der Welt. Minute um Minute tröpfelte dahin. Imke saß deshalb wie auf Kohlen. Franklin, ein finanzstarker Kaufinteressent, wollte sich justament am Gerichtstag bei ihr melden. Dann kam es, wie es kommen mußte: Mit zweistündiger Verspätung fing endlich Imkes Zeugenvernehmung an. Die Maklerin holte tief Luft und begann mit dem Vortrag ihrer Geschichten aus der Fabelwelt – in diesem Moment gab das Funktelefon eine nervende Tonreihe von sich. Der Richter forderte barsch: »Handy aus!« Imke entgegnete: »Uno momento, Euer Ehren«, und lauschte in den Hörer. Versonnen wendete sie den Blick zum Fenster und säuselte: »Oh, gütiger Herr Franklin, ein Sekündchen.« Dann winkte sie dem verdutzten Richter zu und stöckelte hinaus vor die Tür, um dort in aller Ruhe ihr dringendes Telefonat zu erledigen. Als sie hereinkam, las niemand mehr Zeitung. Selbst der Obdachlose horchte auf. Der Richter übte sich in Selbsthypnose, zählte ganz langsam bis zehn und verkündete dann mit zitternder Stimme: »Wegen grober Mißachtung des Gerichts wird gegen die Zeugin Frau Imke ein Ordnungsgeld in Höhe von 300 DM verhängt.« Der Penner verdrehte entsetzt die Augen, die Anwälte runzel210
ten mißbilligend die Stirn, und Imke widerstand gerade noch der Versuchung, sich (in Hinblick auf ihr gerade verdientes Salär) für soviel Großzügigkeit zu bedanken.
Der Mann mit dem Hammer Im England des vorigen Jahrhunderts nahmen Dockarbeiter eine ganz spezielle Hunderasse in ihren Manteltaschen mit zur Arbeit. Bevor sie mit dem Entladen der Schiffe begannen, ließen sie Manchester Terrier los, um der Rattenplage Herr zu werden. Fast alle Frachter von Übersee waren nämlich mit Ratten verseucht, und die Terrier räumten in wenigen Minuten mit dem Ungeziefer auf. Auch als Wachhunde standen (und stehen) die kurzhaarigen dunklen kleinen Kerle in hohem Ansehen. Der berühmt-berüchtigte Mörder und Einbrecher Charlie Peace soll auf dem Weg zum Galgen gesagt haben, daß nur Dummköpfe auf die schwachsinnige Idee kommen könnten, in ein Haus mit einem Manchester Terrier einzudringen. ›Hexe‹ war ein Manchester Terrier, doch sie hatte mit 13 Jahren ihre besten Zeiten schon lange hinter sich. An einem Sonnabend im Mai beschieß Herrchen Moritz, mit seinem nagelneuen, gerade 14 Tage alten Auto einen Ausflug zu machen und eine große Freilichtausstellung zu besuchen. Seine Ehegattin Maxie nahm auf dem Beifahrersitz Platz, und Hexe rollte sich hinten auf ihrer karierten Decke zusammen. Es war ein sehr sonniger, ausgesprochen warmer Frühlingstag mit knapp 30 Grad im Schatten, doch bei dem Pkw handelte es sich um ein Wunder der Technik mit getönten Scheiben und Klimaanlage, die die Innentemperatur auf erträgliche 20 Grad herunterkühlte. Am Ausstellungsgelände angekommen, parkte Moritz den Wagen unter einem Baum und schritt mit seiner Holden von dannen, um die zahlreichen Exponate zu besichti211
gen. Hexe machte derweil ein Nickerchen. Nicht lange. Eine knappe Stunde später pochte Wigald, ein militanter Tierschützer, an die Scheibe. Hexe hob den Kopf und musterte schläfern den Störenfried. Wigald riß theatralisch die Arme in die Höhe und schrie voller Empörung: »Diese Barbaren haben ihren Hund im Auto zurückgelassen! Die Luft kocht im Wageninnern! In wenigen Minuten wird die gequälte Kreatur eines grausamen Todes sterben!« Im Nu versammelten sich zahlreiche Schaulustige um den Pkw und stimmten in das Klagelied mit ein. Dann brauste ein Polizeiwagen auf den Parkplatz. Die Beamten beäugten argwöhnisch den apathisch wirkenden, aus Altersgründen stark hechelnden Hund, fragten ihre Leitstelle über Funk um Rat und bestellten dann einen Schlüsseldienst zur Nothilfe. Wigald tanzte unterdessen wie ein Derwisch im Delirium um die Folterhölle auf vier Rädern. Dann griff er kurzentschlossen in sein Wams, riß einen Hammer (den er rein zufällig bei sich trug) hervor und ließ ihn krachend niederfahren. Das neue Auto sah nun gar nicht mehr gut aus. Den Holm der Fahrertür verunzierte eine tiefe Delle, und die Scheibe lag zersplittert im Fahrzeuginnern. 1 638,64 DM betrugen später die Reparaturkosten. Aber was soll der Geiz! Hauptsache, Hexe war gerettet! Die Polizisten handelten umsichtig und sofort. Sie nahmen die Personalien vom guten Tierfreund Wigald auf. So hatte Moritz später keine Mühe, ihn ausfindig zu machen und auf Schadensersatz zu verklagen. Wigald war ob dieser bodenlosen Frechheit empört. Sein Anwalt schrieb: »Die Innentemperatur im streitgegenständlichen Pkw betrug ca. 55 Grad Celsius. Der Beklagte setzte sich testweise bei geschlossenen Fenstern in sein eigenes Fahrzeug und mußte es nach kürzester Zeit wieder verlassen, da er befürchten mußte, wegen der enorm hohen Innentemperatur gesundheitlichen Schaden zu nehmen. Der Hund hat infolge des Ein212
gesperrtseins im aufgeheizten Innenraum des Pkw länger anhaltende, erhebliche Schmerzen bzw. Leiden erlitten. Es bestand akute Gefahr für Leben und Gesundheit des Hundes.« Da war guter Rat teuer. Lag tatsächlich ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz vor? Und wenn ja, berechtigt ein solcher Verstoß einen Dritten dazu, das Eigentum des Hundehalters zu beschädigen? Ist ein Hundeleben mehr wert als ein neues Auto? Bleibt es zwar erlaubt, Tiere zu schlachten, sie in Laboratorien zu Tode zu quälen, aber verboten, sie im Auto mitzunehmen? Das Gericht meinte, es sei überhaupt nicht notwendig, Antworten auf diese Fragen zu finden, denn die Polizisten hätten einen Schlüsseldienst angefordert: »Nachdem dies erfolgte, war der Beklagte verpflichtet, zunächst ausreichend abzuwarten, ob diese Maßnahme erfolgreich umgesetzt werden kann. Dies hat der Beklagte aber nicht getan. Darüber hinaus ist auch offensichtlich, daß ein Handlungsbedarf zur Abwehr einer Gefahr durch Schadenszufügung an der Fahrertür nicht vorhanden war. Dem Hund Lüftung zu verschaffen konnte auch durch Eindrücken der kleinen Seitenscheibe erreicht werden. Der Beklagte hat nicht angemessen und verhältnisgemäß reagiert.« Wigald muß die Reparaturkosten, Nutzungsausfall, Gutachterkosten, Wertminderung, Unkostenpauschale, Gerichts- und Anwaltskosten sowie Zinsen bezahlen – insgesamt rund 3 500 DM. Hoffentlich ist ihm das eine Lehre, nicht wieder mit dem Hammer am Busen über fremde Parkplätze zu schleichen.
Schrottpaules mißlungener Coup Die Fuchsstute ›Rosinante‹ war ein putziges Wesen. Sie fraß am liebsten Kartoffeln mit Gulasch, zog blitzschnell die Wäsche von der Leine und gab beim Ausreiten irritierende Darmgeräusche von sich. Andreas konnte das bockige Vieh noch nie 213
leiden. Er hatte das Pferd gekauft, als die Kinder klein waren. Nun hoppelte er damit über die Koppeln. Ab und zu, wenn der Reiter plumps machte, wieherte Rosinante schadenfroh. Andreas wollte sich nicht länger ärgern und verkaufte den Gaul an Schrottpaule. Paul besaß am äußersten Ende des Dorfes einen großen Bauernhof. Zu ihm führte lediglich ein zerfahrener Sandweg. Paul sammelte alles, was andere nicht mehr haben wollten. Oder was billig zu bekommen war. Daher rührte sein Spitzname. Auf seinen Wiesen standen Dutzende Autowracks, Erntemaschinen aus Kaisers Zeiten, rostzerfressene Lanz-Bulldogs. Andreas und Paul machten einen fairen Preis. Sechstausend Piepen bar auf die Kralle für den Gaul. Zahlungsziel in einer Woche. Anschließend tranken sie einen lauwarmen Doppelkorn aus der Halbliterflasche. Schwanzschnaps. So, wie es sich bei einem richtigen Pferdekauf gehörte. Roß nebst Papieren wechselte den Besitzer. Andreas steckte den unterschriebenen Kaufvertrag ein und ging beschwingt nach Hause. Er hatte ein großes Problem gelöst. Dachte er. Statt dessen fing nun der Ärger erst richtig an. Paul zahlte nämlich weder in einer Woche noch in einem Monat. »Ick leb nur von die Stütze, kannste jlooben«, grinste Schrottpaule und wischte sich die ölverschmierten Hände ab. Andreas beantragte einen gerichtlichen Mahnbescheid, und als er nach vielen Monaten einen rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid in den Fingern hielt, ließ er das Pferd pfänden. Doch die Papiere fehlten, und ein Pferd ohne Stammbaum ist nicht viel wert. Andreas beauftragte den Gerichtsvollzieher, die Urkunde zu beschaffen. Der Gerichtsvollzieher fragte Schrottpaule, ob er noch den Abstammungsnachweis von Rosinante habe. Der zuckte bloß mit den Schultern. »Weg, verbrannt, irgendwo hier im Chaos verschwunden.« Rosinante mußte ohne Papiere versteigert werden für nur 4 500 DM. 214
Till, der neue Besitzer, freute sich über das Schnäppchen. Anschließend schrieb er an die Reiterliche Vereinigung in Warendorf und ließ sich für 150 DM eine Zweitschrift des Stammbaums schicken. So einfach ging das. Um so größer war sein Erstaunen, als eines Tages Paul an seiner Tür klingelte und ihm Rosinantes Papiere für 500 DM anbot. Till lehnte dankend ab, erzählte aber Andreas davon. Und der erstattete Strafanzeige gegen Paul wegen Betruges. Für das Gericht war die Sache klar: »Der Angeklagte hat dem Gerichtsvollzieher vorgespiegelt, nicht im Besitz der Abstammungspapiere des bereits gepfändeten Pferdes zu sein, Täuschung, Irrtum, Vermögensverfügung und Schaden wurden vom Vorsatz des Angeklagten erfaßt. Es kam ihm darauf an, durch das Behalten der Abstammungspapiere einen Vermögensvorteil zu erzielen, indem er die Papiere veräußern wollte.« Der Schrottfreund bekam wegen Betruges eine Freiheitsstrafe von vier Monaten aufgebrummt. »Oih, oih, oih«, stöhnte er: »Weh’ den Eseln oder Pferden, so die Bettler reiten werden.«
Nero haßte schwarze Vierbeiner Schlumpi war ein kleiner schwarzer Mischlingshund. Der Kopf stammte vom Dackel, das Fell vom Spitz und der Schwanz vom Rehpinscher. Wenn sie nach der Rasse gefragt wird, pflegt Frauchen Hannelore zu sagen: »Ein echt italienischer Kampfteckel.« Schlumpi war mutig – wenn er hinter dem Gartenzaun stand. Dann bellte er jeden hysterisch an und versuchte, unter dem Tor hindurch in Waden und Fersen zu zwicken. Wenige Häuser weiter wohnte Erna. Sie war ebenfalls Hundenärrin, nur hatte sie es auf größere Brocken abgesehen – zwei ausgewachsene Rottweiler namens Prinz und Nero. Nero wog 215
50 Kilogramm und war ein ausgebildeter Schutzhund, der aufs Wort hörte. Allerdings gab es einen schwachen Punkt in seinem Vierbeinerleben: Als Welpe war er von einem schwarzen Köter gebissen worden. Seitdem haßte er schwarze Hunde und versuchte, sie zu töten, wenn er nur konnte. Erna wußte das, doch sie machte sich keine Gedanken darüber. Um ihr Grundstück stand ein hoher Zaun, und auf der Straße hielt sie Nero immer kurz an der Leine. Doch mit des Geschickes Mächten ist keine ew’ger Bund zu flechten. Eines schönen Tages hatte sich Erna mit Volkrad, dem Besitzer einer Rottweilerhündin, verabredet. Sie wollten hinaus auf die Wiesen am Fluß gehen und dort die Hündin vom Rüden decken lassen. Justament in diesem Augenblick machte sich Hannelore mit Schlumpi an der Leine auf den Weg. An einer Kreuzung trafen die drei Hundehalter aufeinander. Nero roch die heiße Hündin und sah seinen Todfeind, den schwarzen kleinen Kläffer! Wollte ihm womöglich dieses Ungeheuer seine Braut wegnehmen? Nero setzte zum Sprung an, hetzte auf den bellenden Schlumpi zu. Der kleine Mischling verkroch sich vor Angst zwischen den Beinen von Hannelore und brachte sie zu Fall. Das war ein Glück für den Schwarzen und Pech für Hannelore. Nero schnappte mehrfach zu und versetzte Hannelore tiefe Wunden am rechten Oberschenkel. Sie lag blutend am Boden. Nachbarn brachten sie ins Krankenhaus, in dem sie 14 Tage lang bleiben mußte. »Der Halter eines Hundes ist grundsätzlich verpflichtet, diesen zu überwachen und dafür Sorge zu tragen, daß Verletzungen oder sonstige Schädigungen Dritter verhindert werden«, sagte der Richter und fällte den Urteilsspruch: Wegen schuldhaft verursachter Körperverletzung wurde Erna zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu je 30 DM verurteilt.
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Nachhaltige Störung Mit den Menschen ist das so eine komische Sache. Viele Zeitgenossen stehen im alltäglichen Leben ihren Mann oder ihre Frau, wirken seriös und distinguiert, doch irgendwo ticken sie nicht richtig, haben sie nicht alle Tassen im Schrank, ist bei ihnen eine Schraube locker. Eiskalte Generaldirektoren tragen Strapse unter ihren Maßanzügen, leuteschindende Unteroffiziere gehen zu Dominas, um sich auspeitschen zu lassen, einfühlsame Ärzte sammeln harte Kinderpornos. Aber nicht alle Macken haben einen sexuellen Hintergrund. Gottheit beispielsweise, von Beruf Verwaltungsjurist (!), beantragte, daß nach seinem Tode und anschließender Feuerbestattung die Asche in seinem Garten verstreut werden dürfe. Dieses Ansinnen stieß, wie man sich denken kann, bei den Behörden auf großes Unverständnis. Gegen den ablehnenden Bescheid legte Gottheit Klage beim Verwaltungsgericht ein. Er verlor diesen und den Nachfolgeprozeß, auch seine Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos. Dann starb er. Seine Urne wurde auf dem Friedhof beigesetzt, so wie es das Gesetz verlangt. Doch die Behörden hatten nicht mit Gotthelfs folgsamem Sohn Lukas gerechnet. Er tat so, wie ihm sein Vater auf dem Sterbebette geheißen, grub eine halbe Stunde nach der Beisetzung die Urne wieder aus, verstreute die Asche im häuslichen Garten und hinterlegte gut sichtbar auf der geschändeten Grabstätte eine von Gottheit verfaßte ›Jubiläums-Ode‹. Darin hieß es: »Wenn Ihr meine Urne sucht / ruft Ihr sicher, ei, verflucht! / Urne längst schon ist verschwunden / denn das Grab wurd’ leer gefunden. / Asche stets zu Erde werde / Sucht sie doch in meiner Erde / keine Spur Ihr werdet finden / unter Rosen oder Linden. / Diejenigen, die Ascheurnen verwalten / sind nur traurige Gestalten. / Der Bürger hat hier gekonnt und gezielt / die Behörden überspielt.« 217
Als die böse Tat ruchbar wurde, ärgerten sich die Behörden weniger über die mangelhaften Reimkünste, sondern mehr über den Frevel an sich. Lukas kam vor Gericht. In dem Urteil hieß es: »Der Angeklagte handelte unbefugt, als er die Asche seines Vaters aus dem Gewahrsam der Friedhofsverwaltung wegnahm. Dabei befand er sich nicht in einem Verbotsirrtum, denn er wußte, daß er nach geltendem Verwaltungsrecht die Asche des Vaters nicht aus dem Friedhofsgrab fortnehmen durfte. Der Wunsch des Vaters beruhte nicht mehr auf einer achtbaren Weltanschauung, sondern er bedeutete eine Verspottung der Friedhofsverwaltung und eine Verherrlichung der Selbsthilfe gegenüber einem als engherzig empfundenen, aber für alle geltenden Gesetz.« Lukas wurde zu einer Geldstrafe von 1 800 DM verurteilt.
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Totschlag, Trinker, Unfall Die wilde Meute vor der Kneipentür Das Dorf war ein verschlafenes Nest in der Nähe vom Oderbruch, abseits größerer Städte und Fernverkehrsstraßen. An einem Tag im November erlangte der Ort traurige Berühmtheit. Da veranstaltete der Wirt von der ›Kastanie‹ eine Diskothek. Die zumeist jugendlichen Gäste kamen aus der Gegend, aber auch aus entfernteren Ortschaften. Vor dem Gasthof parkten Autos, Mopeds und Motorräder. Zunächst verlief der Abend friedlich. Der stämmige Kneiper glaubte schon mit seinem Aussehen dafür zu sorgen, daß es in seinem Lokal keinen Ärger gab. Dieser Bierzapfer brauchte keinen Rausschmeißer. Außerdem hatten die Gäste, wie in einem Western-Saloon, ihre Waffen (!) am Tresen abzugeben. Baseballschläger, Messer, Pistolen und Gummiknüppel wurden im Haus nicht geduldet. Im Saal tummelten sich die 16- bis 17jährigen, im Gastraum hatte die reifere Jugend Platz genommen. An einem Tisch saßen drei Männer im Alter zwischen 30 und 35 Jahren. Zwei von ihnen, die Brüder Gero und Willi, tranken Bier, ihr Freund Ralph nippte an einer Cola. Gegen 23 Uhr meinte Gero: »Kommt, laßt uns gehen. Wir fahren noch woanders hin.« Die drei Männer bezahlten und schlenderten hinaus. Vor der Kneipentür standen mehrere Dutzend Jugendliche rauchend und johlend beisammen. Gero, Willi und Ralph drängten sich hindurch, stiegen in ihr Auto ein, wollten gerade losfahren, als sie von etwa 15 Jugendlichen umringt wurden. »Wo ist der Geldschrankknacker?«, schrie zuerst einer, dann stimmten die anderen ein. Warum sie so etwas fragten, blieb unverständlich. Einer der Brüllenden riß die hintere Tür des Wagens auf und 219
stieß mit einem Baseballschläger hinein. Der Keulenschlag traf Willi am Kopf und ließ ihn in sich zusammensacken. Vorn zerrten mehrere Hände Gero vom Beifahrersitz. Doch er kämpfte sich frei und rannte weg. Die Meute stürzte hinter ihm her. An der nächsten Kreuzung hatte sie ihn eingeholt. Mit einer Baseballkeule und einem Totschläger prügelten die Jugendlichen auf ihr Opfer ein, versetzten ihm Faustschläge und Fußtritte. Dann ließen sie von ihm ab. Gero rappelte sich hoch und taumelte davon. Wenig später fiel die wilde Meute erneut über den Wehrlosen her. Als Willi wieder zu sich gekommen war, suchte er gemeinsam mit Ralph nach seinem Bruder. Sie fanden ihn bewußtlos vor der Feuerwehrwache liegen, riefen Arzt und Krankenwagen. Drei Tage später starb Gero an seinen schweren Verletzungen. An seinem entsetzlich zugerichteten Körper wurden 21 Brüche, Prellungen und tiefe Wunden festgestellt. Die meisten der Täter kannten den Getöteten nicht einmal. Es hatte vorher keinerlei Absprachen zwischen den Schlägern gegeben. Die Tat geschah aus einer Laune, aus dem Zufall heraus. Um so erschreckender war die Brutalität der jungen Burschen. Einer der Totschläger allem hätte sich nicht an den Mann herangewagt, erst in der Gruppe fühlten sie sich stark. Der Schlimmste von allen war der 19jährige Silvio gewesen. Er hatte dem bereits besinnungslos am Boden liegenden Opfer mit dem Basebalischläger den Schädel zertrümmert und war anschließend mit schweren Stiefeln auf den Kopf des Verletzten gesprungen. Zwei schwere Straftaten gingen bereits auf sein Konto. Vor Jahresfrist hatte er polnische Bürger mißhandelt, später stach er einem Farbigen ein Messer in den Hals. Silvio war einige Monate in Untersuchungshaft gewesen und dann – wenige Tage vor dem Exzeß im Dorf – wieder auf freien Fuß gekommen. Zu den übrigen sechs Angeklagten gab es nicht viel zu sagen. Sie waren an sich ganz normale Jugendliche, die inzwischen 220
ihre Tat bereuten und ihr Handeln im nachhinein nicht mehr verstehen konnten. Ursache für die Gewalttat dürfte die Orientierungs- und Perspektivlosigkeit gewesen sein: Das Wertgefüge ihrer zumeist arbeitslosen Eltern war mit dem Untergang der DDR zerbrochen, ein neues noch nicht entstanden, und die Zukunft sah nicht rosig aus. Nur zwei der sechs Jugendlichen hatten eine Lehrstelle. Es gab keine vernünftigen Freizeitangebote, niemand kümmerte sich um sie. So wuchsen Frustrationen und Aggressionen, die sich dann derart tragisch entluden. Außer Silvio war keiner der sieben Angeklagten vorbestraft. Für alle mußte das mildere Jugendstrafrecht angewendet werden. Durch ihre und Aussagen von Zeugen sowie das gerichtsmedizinische Gutachten ergab sich eindeutig, daß der Tod von Gero durch Silvio verursacht worden war. Die übrigen Verletzungen wären nicht tödlich gewesen. Daraus folgten die sehr differenzierten Strafzumessungen im Urteil: Bewährungsstrafen mit Bewährungszeiten zwischen zwei bis drei Jahren plus Geldbußen und viele Stunden gemeinnützige Arbeit für die jugendlichen Täter. Silvio aber erhielt eine sogenannte Einheitsjugendstrafe, in die die früheren Taten mit eingingen: Alles in allem sieben Jahre und sechs Monate Freiheitsentzug. Ein zu mildes Urteil? Vielleicht. Doch alle gewalttätig gewordenen Jugendlichen lebenslang in Gefängnisse zu stecken, nützt nichts. Wird Silvio nach seiner langen Haftstrafe ein besserer, geläuterter Mensch geworden sein? Kaum. Auf die abschreckende Wirkung von Urteilen zu hoffen, hat ohnehin wenig Sinn. Der Weg zu normalen Verhältnissen führt nur über eine Verbesserung der sozialen Lage. Es muß sinnvolle Beschäftigungen geben, ein Lebenssinn vermittelt werden. Und genau daran fehlt es immer mehr.
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Das Tier im Menschen Eigentlich soll es in uns allen stecken, das Tier im Menschen. Tief verborgen im Innersten, an die Ketten der Vernunft geschmiedet, liegt es auf der Lauer. Doch wehe, wenn es losgelassen! Manchmal genügt ein nichtiger Anlaß. Dann zerreißt die wilde Bestie ihre Fesseln und bricht sich ihre Bahn. Den Auslöser für das folgende blutige Drama bildete ein mißglückter Waffenkauf. Markus hatte sich von seinem Bekannten Timm für 300 DM einen verrosteten Wehrmachtsrevolver gekauft. Doch die alte Waffe funktionierte nicht. Eines Tages saßen Timm, Markus und dessen Freund Stefan in der Küche von Markus, tranken billigen Fusel. Nebenan im Wohnzimmer spielte der kleine Stiefsohn von Markus mit der elektrischen Eisenbahn. Als die drei Männer gehörig betrunken waren, kam kalte Wut in Markus hoch. Er stellte Timm wegen des Revolvers zur Rede: »Du hast mich reingelegt, du Schwein«, lallte er. »Dafür sollst du büßen. Ich werde dir eine Glatze schneiden.« Der Angesprochene hielt das zunächst für einen famosen Spaß und lachte herzhaft. Doch Markus fuchtelte mit einer Rasierklinge herum, ritsch, ratsch. Timm kreischte auf. Aus mehreren Schnittwunden an seinem Kopf sprudelte Blut. Nun mischte sich Stefan ein. Er setzte Timm mit einem gezielten Kopfstoß außer Gefecht, nahm Markus die Rasierklinge aus der Hand, brachte dem Opfer noch tiefere Schnittwunden bei und rammte ihm die Faust in die Magengrube. Markus trat ihm mehrfach gegen die Brust und in die Seite, bis Timm regungslos liegenblieb. »Die Pfeife ist hin. Komm, wir gehen in die Kneipe«, meinte Markus zu Stefan. Als die beiden kurze Zeit später zurückkamen, sahen sie, daß eine Blutspur von der Küche ins Wohnzimmer führte. Timm 222
hockte dort stöhnend neben dem Sofa, preßte sein Unterhemd auf die Wunden und versuchte vergeblich, das Blut zu stillen. Markus erfuhr von seinem Stiefsohn, der bleich und verstört in der Ecke hockte, daß Timm telefonisch um Hilfe gerufen hatte. Markus geriet darüber so sehr in Wut, daß er nach einer Verlängerungsschnur griff, sie Timm um den Hals schlang und zuzog. Er ließ nicht locker, bis der Strangulierte röchelnd wegsackte und unkontrolliert zu zucken begann. Markus ging wortlos in die Küche, nahm einen Hammer aus der Werkzeugkiste, holte aus und schlug mit aller Kraft zu. Wenige Augenblicke später starb Timm. Vor Gericht konnte Markus keine Erklärung für die Wahnsinnstat finden. – »Es ist einfach über mich gekommen«, stammelte er hilflos. »Timm war ein Kumpel, es gab eigentlich keinen Grund …« Gegen Markus wurde eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren wegen Totschlags und unterlassener Hilfeleistung verhängt. Das Urteil gegen Stefan steht noch aus. »Wir haben einen kaputtgemacht. Da muß ich mit fertig werden, was soll ich sonst machen«, meinte er niedergeschlagen, als er befragt wurde. Timm ist tot. Und für alle anderen, die mit dieser Sache zu tun hatten, wird nichts wieder so sein, wie es war. Sie haben dem Tier im Menschen ins Gesicht gesehen. Ob sie – vor allen Dingen der kleine Stiefsohn von Markus – nun in der Angst leben, die Bestie könnte wieder erwachen? Oder wissen sie, daß es auf jeden Fall geschehen wird?
Der gute Geist aus der Flasche Wenn es um den Abschluß eines Versicherungsvertrages geht, fließen süße Worte wie Honig. Der Vertreter ist des Lobes voll ob seiner idealen Produkte. Wenn man ihm Glauben schenken will, gibt es keine zweite Gesellschaft unter Gottes freiem 223
Himmel, die auch nur annähernd soviel Sicherheit mit Dividende bei solchen sensationell niedrigen Beiträgen bietet. Bei dem schönen Wort ›verdienen‹ werden heller alle Mienen. Aber wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe. Sobald es ans Bezahlen nach dem Schadensfall geht, pocht der nun zuständige Sachbearbeiter nach wochenlanger Prüfung mit versteinerter Miene auf das Kleingedruckte. »Bedaure außerordentlichst, aber gerade in diesem speziellen Fall kommen wir ausnahmsweise für den Schaden nicht auf.« Der doppelt gebeutelte Versicherungsnehmer steht einsam im Regen, verprügelt vor Wut seinen Hund und nimmt sich vor, klüger zu werden. Edmund war knapp zwei Meter groß, wog 130 Kilo und trug stets blütenweiße Hemden zu schwarzen Anzügen. Er besaß eine tiefe, grollende Stimme, haßte Treppensteigen, rauchte Zigarren und nannte sich trotz seiner vierzig Jahre Jungunternehmer. Gleich nach der Wende gründete er im Handumdrehen weit über ein halbes Dutzend Firmen mit phantasievollen Namen. Einige von ihnen existierten nur auf dem Papier, andere warfen erstaunliche Gewinne ab. Real aber existieren zwei Hobbys von Edmund: Organisieren und Schnaps trinken. Nachdem er bereits einmal seiner Fahrerlaubnis verlustig gegangen war, verhielt er sich nun beim Picheln äußerst vorsichtig. Wenn sich ein Trinkgelage ankündigte, ließ er sich anschließend von seinem Mitarbeiter Hugo nach Hause fahren. Doch nach einer Betriebsfeier ging etwas schief. Hugo hatte Heuschnupfen und war vorübergehend stockblind wie ein Maulwurf. Edmund telefonierte mit seiner Frau. Die fügsame Friedrun fuhr zwar sogleich nach dem Anruf ihres Gatten los, aber ihr Auto begann unvermutet zu stottern und mußte abgeschleppt werden. Edmund saß inzwischen mit einer Flasche Goldbrand im Magen und einer Bügelflasche Bier in der Hand auf einer Bank und wartete. Nach einer halben Stunde und einer ganzen Brasil 224
hatte er die Faxen dicke, kletterte in seine eigene große silbergraue Limousine, die er morgens auf den Parkplatz gestellt hatte, und schaukelte los. Dummerweise versperrte ihm ein leichtsinniger Lichtmast den Weg. Edmund schälte sich unverletzt aus dem Schrotthaufen und dankte seinem Schöpfer für den Airbag. Später wurde ein Blutalkoholwert von 3,0 Promille festgestellt. Für die Versicherungsgesellschaft lag die Sache klar auf der Hand: »Der Versicherer ist von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt.« Oh, welch ein bodenloser Leichtsinn. Sachbearbeiter Gideon hätte sich besser überlegen sollen, wen er da gerade verärgerte. Als erstes reichte Edmund Klage ein – und bekam recht. Seine Versicherung muß zahlen! Das Gericht meinte nämlich, eine grobe Fahrlässigkeit würde nicht vorliegen, wenn der Versicherungsnehmer vor Trinkbeginn hinreichende Vorkehrungen getroffen habe, um das Führen seines Fahrzeugs im Zustand alkoholbedingter absoluter Fahruntüchtigkeit zu verhindern. Und dies sei hier unzweifelhaft der Fall gewesen. Daß Edmund sich schließlich doch ans Steuer setzte, sei ihm nicht anzulasten gewesen, da er sich im Vollrausch befunden habe und damit schuldunfähig gewesen sei. Trotzdem ist es keinesfalls zu empfehlen, diesem Beispiel zu folgen. Der gute Geist aus der Flasche wacht nicht über jeden. Edmund wiederum legte die Füße auf den Schreibtisch, zerkaute eine Zigarre und rief dann seine Versicherungsgesellschaft an: »Aufgrund ihres schofeligen Verhaltens ziehe ich es in Erwägung, sämtliche Verträge für jedes Autos in allen meinen Betrieben zu kündigen. Mit anderen Worten – ich erwarte eine angemessene Entschuldigung.« Wie diese Wiedergutmachung aussah, ist zwar nicht bekannt, aber sie wurde erbracht. Sachbearbeiter Gideon erhielt eine Beförderung: Zum Leiter der Zweigstelle in Ustinad Labern. 225
Da liegt der Hase im Pfeffer Es gibt immer eine Regel und eine Ausnahme. Zuerst die Ausnahme: Ina fuhr nachts mit ihrem Pkw bei Tempo 120 auf der Autobahn. Plötzlich sah sie einen braunen Schatten vor sich auf der Fahrbahn, dann gab es einen dumpfen Schlag. Ein Hase war über die Straße gehoppelt, gegen den Wagen geprallt und hatte sich um das rechte Vorderrad gewickelt. Das Auto zog stark nach rechts. Ina lenkte mit aller Macht gegen, um nicht von der Fahrbahn abzukommen. In diesem Augenblick wurde der Hase aus dem Radkasten herausgeschleudert. Der bremsende Widerstand war verschwunden. Ina versuchte, das Lenkrad herumzureißen, aber zu spät. Ihr Auto prallte links gegen die Leitplanke, überschlug sich mehrfach, flog in ein kleines Wäldchen neben der Autobahn, senste drei Bäumchen um und landete als Haufen Schrott auf seinen Rädern. Ina stieß die Fahrertür auf, löste den Gurt und fiel schreiend aus dem Wrack. Sie stand unter schwerem Schock, hatte ein Schleudertrauma erlitten – mehr war ihr glücklicherweise nicht passiert. In allerletzter Sekunde hatte Inas Schutzengel doch noch seine Hand über ihr ausgestreckt. Fand auch die Versicherung – und zahlte nicht. Begründung: Der geschilderte Unfallhergang sei absolut unglaubwürdig. Nun die Regel: Auch Bärbel war nachts mit ihrem Auto unterwegs. Sie benutzte die Landstraße. Die Tachonadel zeigte auf 90. Auf einmal sah sie im Scheinwerferlicht einen Hasen. Er tauchte unter der Leitplanke auf und rannte von rechts nach links über die Straße. Bärbel wollte dem Tier nach links ausweichen. Das Auto kam von der Fahrbahn ab, stieß gegen die Böschung, trudelte um die eigene Achse, knallte aufs Dach und rutschte in den rechten Straßengraben. Totalschaden. Bärbel besaß eine Teilkaskoversicherung. Nach ihrer Entlas226
sung aus dem Krankenhaus schrieb die Genesende ihrer Filialdirektion und schilderte den Sachverhalt. Die Versicherung zahlte anstandslos 958,77 DM für den entstandenen Glasschaden. Den Rest der Forderung, nämlich 12 841,23 DM Wiederbeschaffungswert für das Auto, lehnte sie ab. Bärbel reichte Klage ein und verlor. Das Gericht meinte: »Nach 63 l VVG fallen dem Versicherer nur solche Aufwendungen zur Last, die der Versicherungsnehmer den Umständen nach für geboten halten durfte. Es ist zur Abwehr oder Minderung eines versicherten Schadens jedenfalls nicht objektiv geboten, einem Hasen durch eine Fahrtrichtungsänderung auszuweichen. Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte die Klägerin erkennen können und müssen, daß die Beibehaltung der Fahrtrichtung die einzig richtige Reaktion auf das plötzliche Auftauchen des Hasen gewesen war.« Wie schon gesagt, die Regel und die Ausnahme. Was tut man aber selbst in einer solchen Lage? Der einzige vernünftige Ratschlag kann nur lauten: sofort anhalten und den Hasen fragen, mit welchem Wagenteil er zu kollidieren beabsichtigt. Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, geradeaus weiterfahren oder ausweichen.
Ein Virus mit umweltfreundlicher Wirkung In Deutschland grassiert ein schrecklicher Virus (DGAB), der in den meisten anderen Staaten der Welt völlig unbekannt ist: Die gemeine Autobahn-Baustelle. Kaum ist sie nach vielen Monaten an einer Stelle verschwunden, tauchen ruckzuck wenige Kilometer weiter zwei, drei neue auf. Überall wird fieberhaft gearbeitet. Ein Mann mit gelbem Helm schaufelt einen Sandhaufen um, und dreihundert Meter weiter rückt sein Kollege weiß-rote Verkehrshütchen zurecht. Hinter langen LkwKolonnen rollen die Autos in Schrittgeschwindigkeit an Tem227
po-80-Schildern vorbei. Mathilde saß entnervt im Fond ihres Dienstwagens. Wichtige Termine drückten, bis zur nächsten Abfahrt war es nicht mehr weit, doch es wollte einfach nicht vorwärts gehen. Und hinter ihr, im nächsten Pkw, hockte ein kompletter Vollidiot, der ständig drängelte und dazu die Lichthupe betätigte. »Auf dem nächsten Parkplatz halten wir an und lassen den Trottel vorbei«, meinte Mathilde zum Fahrer, ihrem Sohn Steve. Zu spät. Steve mußte bremsen. Es knallte mörderisch. Der Hintermann war aufgefahren. Beide Fahrzeuge hatten sich unlösbar ineinander verkeilt. Steve packte die kalte Wut. Er war zum Äußersten entschlossen. Er schlug die Jacke zurück, griff zum Schulter-Holster und riß das Handy heraus. Piep-piep-pap. Polizeiruf 110. Wieder zu spät. Der Täter gab Fersengeld und schlug sich seitlich in die Büsche. Eine Überprüfung des Unfallwagens ergab, daß er gestohlene Kennzeichen trug und vor zweieinhalb Jahren stillgelegt worden war. Als letzter Halter ließ sich ein Gebrauchtwagenhändler namens Hildemar ermitteln. Hildemar zog einen Flunsch: »Ich habe die Schrottkarre abgemeldet, weil sie nichts mehr taugte. Dann hat sie sich irgend so ein Bastler zu einer Probefahrt ausgeliehen und nicht wieder zurückgebracht. Ich weiß weder, wie er hieß, noch wo er wohnt, noch wie er aussah.« Mathilde schnaubte entrüstet: »Alles Lüge, jeder vernünftige Mensch hätte sich erst die Papiere zeigen lassen und dann Strafanzeige wegen Diebstahls erstattet.« »Quatsch mit Soße«, entgegnete Hildemar. »Wegen der paar Mark habe ich keinen Aufstand gemacht.« Mathilde reichte Klage gegen Hildemar ein und forderte von ihm Schadensersatz, weil er der letzte Halter des Unfallwagens gewesen war. »Das spielt keine Rolle«, meinte der Richter. »Der Beklagte war zum Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr Halter des Pkw. Er 228
war auch gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmern nicht verpflichtet, die Personalien eines Kaufinteressenten festzustellen.« Mathilde hatte verloren. Doch die Geschichte nahm trotzdem noch ein gutes Ende. Die ältere Dame benutzt nämlich nun zu ihren Dienstreisen nur noch die Eisenbahn. Und darin liegt wahrscheinlich auch der Sinn der Autobahnbaustellen. Sie sollen uns das Autofahren gründlich verleiden. Deshalb: Freie Fahrt für den Trans-Rapid, denn Zeit ist Geld, und Geld spielt keine Rolle!
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Unterlassene Hilfeleistung, Urlaub, Verein, Vergleich Gutgemeinte Hilfe endete tödlich Alexander war Lehrling, 21 Jahre alt, wohnte noch bei seinen Eltern und besaß einen zehn Jahre alten Wagen. Alexanders bisheriges Leben war ohne größere Höhen und Tiefen verlaufen – bis zu jenem Tag im Winter, an dem alles anders wurde. An diesem verhängnisvollen Sonnabend fuhr er nachmittags in das Nachbardorf und setzte sich in die Gaststube. Im Saal hottete die reifere Jugend. Alexander warf einen Blick hinein, traf auf die rothaarige Roswitha und die brünette Manja, rockte mit der einen, twistete mit der anderen, trank mit Roswitha ein Glas Sekt an der Bar, bezahlte für Manja einen Cocktail. Als die Diskothek die letzte Runde spielte, stand Alexander aber allein am Rand der Tanzfläche. »Macht nichts, fahre ich eben nach Hause und schaue ins Nachtprogramm«, dachte sich Alexander. Das alte Auto sprang schwer an – es herrschte starker Frost. Die Fenster waren vereist. Im Schritttempo fuhr er auf den spiegelglatten Straßen. Plötzlich entdeckte er am Straßenrand eine torkelnde Gestalt. Alexander bremste ab und blickte nach rechts. Er erkannte Ilse, ein 17jähriges Mädchen aus seinem Dorf. Alexander hielt an und ließ Ilse einsteigen. Die aber konnte nur noch mühsam lallen: »Haaat mich vaaalassen, dis Schwein.« Dann fiel ihr Kopf vornüber, sie schlief fest. Alexander mußte kein Prophet sein, um zu ahnen, daß Ilse zu dem Ärger, den sie bereits hatte, noch sehr viel mehr bekommen könnte, wenn sie ihr Vater so erblicken würde. Er beschloß deshalb, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen. Alexander öffnete das Hoftor und stellte sein Auto direkt vor der Eingangstür ab, um die stockbetrunkene Ilse möglichst ohne 230
viel Aufhebens hineinschaffen zu können. Doch so sehr er an dem Mädchen auch ruckelte und zerrte, er bekam sie nicht mehr wach. Ins Haus schleifen wollte er sie auch nicht. Also holte er eine Decke, breitete sie über die schlafende Ilse, schloß die Autotür und legte sich in sein Bett. Als er morgens gegen 9.30 Uhr nach Ilse sah, lag sie völlig leblos im Wagen. Der entsetzte junge Mann rief den Notarzt. Aber der konnte nur noch ihren Tod feststellen. Alexander wurde angeklagt und zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Seine Beteuerungen, Ilse wäre auf der menschenleeren Landstraße erfroren, wenn er sie nicht in seinem Auto mitgenommen hätte, überzeugten den Richter nicht: »Tatsächlich hat der Angeklagte die Rettungsmöglichkeiten für das Mädchen verringert. Sichere anderweitige Rettungsmöglichkeiten gab es freilich nicht. Bei dem Zustand des Mädchens war es unwahrscheinlich, daß es zu Fuß seinen mehreren Kilometer entfernten Wohnort erreicht hätte. Dadurch, daß der Angeklagte die alsbald bewußtlose Ilse in seinem Kraftfahrzeug mitgenommen und schließlich in den zu seiner Wohnung gehörenden Hof gefahren hatte, hatte er die Situation verändert; es war nun von ihm zu erwarten, daß er sie in der kalten Nacht nicht unzureichend geschützt im Auto beließ.« Mit diesem Urteilsspruch hatte das Gericht recht und auch wieder nicht. Die Konseguenz wäre sonst: Wer sich um andere kümmert, ist selbst daran schuld. Diese egoistische Logik kann der Richter wohl nicht ernsthaft gewollt haben.
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Reise mit Nachspiel »Muddi«, sprach Herr Luitpold zu seinem Eheweib Isolde, »Muddi, was soischn alles eibaggn?«(*) »Nimm ruisch dischdisch mit, Vaddi, die Hoddendodden genn doch geene Guidur«, (**) lautete die salomonische Antwort. Dieser kurze Dialog besagte, daß das Ehepaar auf Ferntour gehen wollte, denn bekanntlich reisen Sachsen gern. Diesmal sollte es ganz, ganz weit gehen, bis hin ins ferne Mexiko, zu einem sogenannten Bade- und Bildungsurlaub. Baden war klar, und Bildung bedeutete mehrere Ausflüge zu historischen Tempelanlagen. Anfangs gab es die üblichen Probleme. Zum Frühstück wurde nur eine Sorte Wurst gereicht, die Rühreier waren zu sehr gestockt, und im Orangensaft schwammen wäßrige Eiswürfel. Das mexikanische Bier schmeckte furchtbar, in der Minibar fehlten die Cracker, und der Wasserhahn im Bad tropfte. Aber gewiefte Weltenbummler lassen sich durch solche Kleinigkeiten die gute Laune nicht verderben. Morgens kam eine Büchse Böhlener Blutwurst auf den Tisch, die Eiswürfel landeten im Blumentopf, und die mitgebrachten Vorräte an Bornaer Dosenbier und Kamenzer Kartoffelchips würden eine Weile reichen. Der erste Busausflug war ein Fiasko. Stundenlang fuhren sie durch die Pampa, bis sie endlich einen großen Schutthaufen erreichten, der angeblich von den Azteken stammen sollte. Der zweite Busausflug geriet zu einer Katastrophe. Bei einem Zwischenstopp an einem Buschrestaurant fragte Luitpold nämlich den Reiseleiter, ob er seine Tasche im Auto lassen könne. (*) wörtlich: Mutti, was soll ich denn alles einpacken? Besser: Geliebte Gattin, welche Reiseutensilien sind deiner geschätzten Meinung nach unverzichtbar? (**) wörtlich: Nimm ruhig tüchtig mit, Vati, die Eingeborenen kennen doch keine Kultur. Gehoben: Besser zuviel, als zuwenig, mein Ehegemahl, die einheimische Bevölkerung lebt in kultureller Hinsicht noch etwas unterprivilegiert.
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Fröhlich und ölig antwortete der Fremdenführer, ein emigrierter Rheinländer, der sich mit gefärbtem Schnauzbart und dunklen Brillengläsern tarnte: »Si, si, Senior, nos problemos.« Er deutete auf den Chauffeur: »Pablo exilio in bussos und dospassos aufos, por favor.«(***) Aber leider stimmte es nicht, was der freundliche Reiseleiter versprochen hatte. Pablo verspürte nämlich ebenfalls großen Appetit auf ein kühles Cerveza und verdrückte sich heimlich, still und leise von seinem Aufsichtsposten. In diesem Moment schlug eine gut organisierte Diebesbande zu. Innerhalb weniger Minuten räumte sie sämtliche Reisetaschen aus den Gepäcknetzen und verschwand damit im Dschungel. Luitpold vermißte außer seiner Fotoausrüstung noch eine Designer-Sonnenbrille für 350 DM und den Schüssel für den Hotelsafe. »Zum Glück habe ich eine Reisegepäckversicherung«, dachte er und sagte zu Isolde: »Zum Gligg habsche Boliß.« Das Glück erwies sich bald als trügerisch. Zwar war die Police gültig, aber die Versicherung wollte trotzdem nicht zahlen. »Für Bruder Leichtsinn wollen wir nicht bluten«, überlegte sich der Sachbearbeiter und formulierte diesen Gedanken wie folgt: »Wer im Verkehr die erforderliche Sorgfalt außer acht läßt …« Luitpold reichte Klage ein und verlor. »Für eine Fotoausrüstung, die in einem unbeaufsichtigt abgestellten Kraftfahrzeug zurückgelassen wurde, gibt es keinen Versicherungsschutz. Der Kläger hat zumindest leicht fahrlässig gehandelt, als er sich in einem Land mit hoher Diebstahlsgefahr auf die Erklärung des Touristenführers verließ«, sagte der Richter und dachte an seinen letzten Urlaub mit Sonntraud und die heißen Nächte im Doppelbett. (***) wörtlich: Ja, ja, mein Herr, kein Problem. Pablo bleibt im Bus und paßt auf, bitteschön.
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Seemannsbraut ist die See Ewald hatte einen kleinen braunen Kurzhaardackel namens ›Dracula‹. Eines Tages im Sommer mietete Ewald in Dänemark ein Ferienhäuschen für sich sowie seinen treuen Vierbeiner und schiffte sich in Rostock ein. Die Fähre nach Gedser war vollbesetzt. Trink- und sangesfreudige Dänen sowie mehrere Schock hochleibiger deutscher Urlauber in Shorts und bunten Hemden hatten sämtliche Sitzplätze in Beschlag genommen. Nur im Bordrestaurant gab es noch einige freie Tische. Doch an der Tür leuchtete weithin sichtbar ein Piktogramm, das einen rotdurchkreuzten Hund zeigte. Ewald blieb unschlüssig am Eingang stehen. Wo sollte er seinen putzigen Gefährten lassen? Ein Kellner hatte Mitleid: »Bei dem kleinen Kerlchen können wir eine Ausnahme machen.« Ewald orderte das Menü des Tages, für Dracula gab es ein Schälchen mit Wasser. Die Bordkapelle spielte, Dutzende stark angetrunkene Tanzpaare stolperten auf der Tanzfläche herum. Das Schiff gewann die hohe See und begann merklich zu kränken. Krachbumm, zerschellten Tellerstapel auf dem Fußboden. Ihnen folgten Flaschen, Gläser, Blumenvasen. Das Restaurant leerte sich blitzartig. Nur Ewald harrte aus. Der hohe Wellengang machte ihm nichts aus. Zunächst jedenfalls. Der Kellner kam vorbeigeschlingert und erfreute ihn mit einem Scherz: »Mein Herr, kennen Sie die zwei Stufen der Seekrankheit? Zuerst wird Ihnen so schlecht, daß Sie Angst haben, Sie sterben. Dann, in der zweiten Phase, wird Ihnen so schlecht, daß Sie Angst haben, Sie sterben nicht. Hah, hah.« Ewald lächelte säuerlich. Plötzlich hörte er ein merkwürdiges Geräusch unter seinem Tisch. Er beugte sich hinab und bemerkte, wie sich der gute Teckel seiner letzten Mahlzeit auf dem Festland entäußerte: Leckeres Hundefutter aus der Dose. Ewald hatte nun alle Hände voll zu tun, und als er alle Bröckchen aufgeklaubt und die bräunlichen Magensäfte mit Serviet234
ten aufgesaugt hatte, ging es ihm plötzlich auch nicht mehr so gut. Er eilte im Sauseschritt zur nächsten Toilette, doch die befand sich fest in dänischer Hand. Der Hundefreund strebte deshalb dem Oberdeck zu, doch er kam nur bis zum nächsten Schott. Dann würgte ihn Ullrich, und das teure Menü verließ ihn auf demselben Weg, den es kurz zuvor genommen hatte. Stunden später, im Ferienhäuschen, war alles wieder okay, doch bei der Rückkehr entschied sich Ewald lieber für den Luftweg. Von der Schiffahrtsgesellschaft forderte er anschließend 280 DM für die Flugkosten, 300 DM Schmerzensgeld für die erlittene Schmach sowie die Rückgewähr der Kosten für die nicht in Anspruch genommene Passage. Das Gericht hat nicht die Möglichkeit, eine völlig unsinnige Klage einfach abzuweisen. Eine Begründung muß sein. Und die lautete in diesem Fall: »Der Unternehmer ist nicht dazu verpflichtet, die Fahrgäste beim Kartenverkauf auf die Gefahr der Seekrankheit hinzuweisen. Daß eine Seereise Übelkeit verursachen kann, ist allgemein bekannt. Eine Aufklärungspflicht der Schiffsführung hätte nur bestanden, wenn sich der Kläger vorher nach dem vermutlichen Verlauf der Reise (Wetterlage, Windstärke etc.) erkundigt hätte.« Ewald sackte auf seinem Sitz zusammen. Doch der Richter war noch nicht mit ihm fertig. Seine Augen funkelten spöttisch, als er ihm den Rest gab: »Ob die Seekrankheit auftritt oder nicht, hängt von der jeweiligen Person ab. Für viele Reisende ist diese Ungewißheit sogar der besondere Reiz einer solchen Fahrt.« Seemannsbraut ist schließlich die See, denn nur ihr kann er treu sein. Oder: Landratte, bleib bei deinem Leisten.
Hoch auf dem gelben Wagen ›Singe, wem Gesang gegeben‹, forderte 1812 der Dichter Ludwig Uhland. Doch was früher wahr war, muß heute nicht mehr 235
gelten. Unter Umständen kann Singen nämlich ein ziemlich kostspieliges Hobby sein, wie der folgende Fall beweist. In einer hübschen mittelgroßen Gemeinde gab es seit vielen Jahren den gemischten Dorfchor ›Gelber Wagen‹. 30 Männlein und Weiblein, die meisten im vorgerückten Lebensalter, trafen sich ein- bis zweimal monatlich im Siedlerheim, um dort im kleinen Saal der gemeinsamen Sangeslust zu frönen. Dabei allein blieb es natürlich nicht, denn auch Chorsänger brauchen von Zeit zu Zeit ein Publikum. Schließlich ist der Applaus des Künstlers höchster Lohn. Bei Rentnerweihnachtsfeiern und Tanzvergnügen der Laubenpieper war der Chor stets gern gesehen und gehört. So hätte es gut und gerne noch ewig und drei Tage lang weitergehen können, wenn nicht die Chorleiterin Elisabeth auf die Schnapsidee gekommen wäre, an einem überregionalen Sängerwettstreit in der Kreisstadt teilzunehmen. Erstens hatten die dilletierenden Freizeitjodler gegen staatlich geförderte Sangesprofis aus der Stadt keine Chance, zweitens verschlangen die Fahrtkosten fast den gesamten Inhalt der mageren Vereinskasse, und drittens kam das dicke Ende hinterher. Hätte Elisabeth nämlich das Publikum etwas näher ins Auge gefaßt gehabt, wäre ihr möglicherweise ein rundlicher Gemütsmensch mit Lederhosen und Tirolerhütchen aufgefallen, der auf der Bank in der ersten Reihe gesessen und frenetisch Beifall geklatscht hatte. Klodwig, so hieß der scheinbare Freund der Volksmusik, war in Wirklichkeit nämlich Beamter und als solcher auch in seiner Freizeit im Dienst. 14 Tage später bekam Elisabeth einen blauen Brief zugestellt. Auf drei Seiten stand da in unverständlichem Behördendeutsch, daß es der Gesangsverein ›Gelber Wagen‹ bislang schnöde verabsäumt hätte, Künstlersozialabgaben abzuführen. Diese würden nun rückwirkend für mehrere Jahre veranlagt. Mit Säumnis- und Mahngebühr kam ein Betrag zusammen, der 236
Elisabeth den Angstschweiß ins bleiche Antlitz trieb und sie an rasches Exil denken ließ. Glücklicherweise war dem Bescheid eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt, und der ›Gelbe Wagen‹ reichte Klage beim Sozialgericht ein. Die Richter meinten: »Chöre sind abgabepflichtig, wenn sie künstlerische Werke kommerziell öffentlich aufführen und darauf der Schwerpunkt der Tätigkeit liegt. Die Mitglieder des Gesangsvereins üben den Chorgesang aber weder haupt- noch nebenberuflich aus, sondern pflegen nur ihr Hobby. Derartige Tätigkeiten sind nicht abgabepflichtig.« Chorleiterin Elisabeth hat nun das Repertoire des Dorfchores bereinigt. Das ›Vaterlandslied‹, das ›Lied der Deutschen‹ und ›Kein schöner Land‹ stehen nicht mehr auf dem Programm, statt dessen ›Mein Handwerk fällt mir schwer‹, ›Ein Heller und ein Batzen‹ sowie ›Nun ade, du mein lieb Heimatland‹.
Das Salz der Erde Die Arbeiter sind das Salz der Erde. Im Schweiße ihres Angesichts schaffen sie Werte. Landolf war Maurer. Er schuftete auf dem Bau. Da hatte er noch Glück gehabt, möchte man meinen, bei der Vielzahl der beschäftigungslosen Bauarbeiter. Doch Glück ist relativ. Denn der Firma, bei der Landolf in Lohn und Brot stand, ging es schlecht. Eugen und Karlheinz, die beiden Chefs, waren am Verzweifeln. Trotz voller Auftragsbücher herrschte chronische Ebbe in der Kasse. Vier Monate lang zahlten sie Landolf keinen Lohn, dann kündigte er. Anschließend zog er vor Gericht. Die Sache war klar wie Kloßbrühe. Eugen und Karlheinz lenkten ein. Ein Vergleich wurde geschlossen. ›Landolf bekommt vier Raten a 3 000 DM‹, stand schwarz auf weiß geschrieben. Landolf frohlockte. Der Prozeß war gewonnen, bald würde das Geld fließen. Tat es aber nicht. Landolf ließ deshalb das 237
Geschäftskonto von Eugen und Karlheinz pfänden. »Wir haben Ihre Forderung vorgemerkt«, schrieb die Bank zurück. »Allerdings steht das Konto mit 120 000 DM im Minus.« Wochen später kam die nächste Nachricht: »Das Konto ist geschlossen, wir stehen mit dem Schuldner nicht mehr in Geschäftsbeziehungen.« Nun schickte Landolf den Gerichtsvollzieher zu Eugen. Der erste Vollstreckungsversuch verlief ergebnislos, der zweite ebenso. ›Keine pfändbare Habe vorgefunden‹, vermeldete das Protokoll. Landolf verstand die Welt nicht mehr. Er hatte kein Geld, Eugen auch nicht. Aber im Gegensatz zu ihm wohnte sein früherer Chef in einem feinen Haus und gondelte mit einem teuren Auto durch die Botanik. Eine Überprüfung ergab: Pkw und Grundstück gehörten Eugens Frau Isabelle. Allerdings noch nicht lange. Eugen hatte den Wagen auf seine Gattin umschreiben lassen und ihr die Immobilie kostenlos übertragen. Landolf schäumte vor Wut. »Beruhigen Sie sich, guter Mann«, meinte sein gewiefter Anwalt, der sich auch in den Grauzonen zwischen Recht und Unrecht bestens auskannte. »Noch ist nicht alles verloren. Speziell für Ihren Fall existiert nämlich ein kleines, aber feines Gesetz. Es klopft denjenigen Schuldnern gehörig auf die Finger, die versuchen, kurz vor Toresschluß ihre Vermögenswerte beiseite zu schaffen. Wir verklagen nun Frau Isabelle und fechten die Grundstücksübertragung an. Dann muß sie die Zwangsvollstreckung in die Immobilie dulden, und der feine Eugen hat das Nachsehen.« Gesagt, getan. Doch der Richter in der Verhandlung winkte ab: »Sie haben leider das Gesetz nicht bis zu Ende gelesen, Herr Anwalt. Dort steht schwarz auf weiß, daß die Anfechtung erst der allerletzte Schritt sein darf. Gegen den Partner von Herrn Eugen, den Kompagnon Karlheinz, wurden aber keine Vollstreckungsversuche unternommen. Deshalb muß die Klage abgewiesen werden, was mir persönlich sehr leid tut. Herr 238
Landolf mußte gewiß sehr hart arbeiten, um 12 000 DM zu verdienen, aber auf diesem Weg kann er – vorerst jedenfalls – nicht zu seinem Geld kommen.« Glücklicherweise leben wir in einem Rechtsstaat. Das bedeutet, daß jeder die rechtsstaatlichen Mittel voll ausschöpfen kann. Und wenn Landolf nicht gestorben ist, dann schöpft er immer noch.
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7. Kapitel Verkehr Stinker, Vollglatze und weise Richtersprüche Alfons war ein junger Mensch von zwanzig Jahren, der stolz wie der König von Spanien in seinem eigenen Auto herumkurvte. Zugegeben, rein äußerlich macht das Vehikel nicht mehr viel her. Aber beim Start an der Kreuzung flitzte die Rostlaube meistens als erste davon, und zwar schneller, als es die Polizei erlaubt. So kam es, wie es kommen mußte. Eine Radarfalle wurde Alfons zum Verhängnis, und zwar gleich in doppelter Hinsicht: Bei der Kontrolle beäugten die Beamten den Oldtimer argwöhnisch von allen Seiten und bemerkten zu allem Unglück auch noch, daß die ASU-Plakette längst abgelaufen war. Alfons mußte ein Verwarnungsgeld bezahlen und bekam die Auflage, innerhalb von sieben Tagen die längst fällig gewesene Abgassonderuntersuchung nachzuholen. So weit, so gut. Alfons wurde zu einem vorbildlichen Verkehrsteilnehmer. Seine lahme Ente rangierte nun unter ferner liefen. Alle anderen Autos sausten an ihr vorbei. Ein eifriger Ordnungshüter wunderte sich darüber. Er stoppte Alfons, besah sich die Nummernschilder und tippte höhnisch lächelnd auf die ASU-Marke. »Abgelaufen, Meister. Zücken Sie mal Ihr Portemonnaie!« »Aber nicht doch, Herr Oberwachtmeister. Mein Auto mag zwar ein Stinker sein, aber ich habe noch zwei Tage Zeit. Bei einer Kontrolle vor fünf Tagen wurde mir eine Frist von einer Woche eingeräumt, alles wieder in Ordnung zu bringen.« Das Auge des Gesetzes kannte kein Erbarmen. »Her mit den Radatten!«, forderte der Polizist. 240
Alfons zog vor Gericht und bekam recht. »Die Überschreitung der Frist für die ASU hat die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs nicht berührt. Außerdem liegt ein Dauerdelikt vor, das nur einmal geahndet werden darf. Der Betroffene mußte sich darauf verlassen können, daß er während der Frist, die ihm zur Behebung des Mangels eingeräumt wurde, nicht nochmals belangt werden würde. Das folgt aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, der in einem Rechtsstaat zu beachten ist«, dozierte der Verkehrsrichter mit erhobenem Zeigefinger. Rudi ist ebenfalls zwanzig Jahre alt. Sein Auto ähnelt dem von Alfons wie ein faules Ei dem anderen. Auch er geriet in eine Verkehrskontrolle und fing sich ein Verwarnungsgeld ein. Der Grund: An seinem Wagen waren drei Reifen abgefahren. Vollglatze. Frist zum Auswechseln eine Woche! Fünf Tage später fuchtelte ein kleines grünes Männchen mit einem schwarz-weiß gestreiften Stöckchen auf der Fahrbahn herum. Rudi bremste, hielt an. Alles wiederholte sich. Ordnungsgeld, Gerichtstermin, derselbe Verkehrsrichter. »Ach jetzt, ja«, denkt sich der aufmerksame Leser. »Kapito, klaro fixo. Dauerdelikt, Vertrauensschutz, Rechtsstaat. Das Verfahren wird eingestellt. Ist ja logisch.« Denkste. Der Verkehrsrichter meinte diesmal: »Es liegt keine Dauerordnungswidrigkeit vor, sondern es wurde zweimal gegen die Pflicht verstoßen, nur mit Reifen zu fahren, die wenigstens 1,6 Millimeter Profil aufweisen. Abgefahrene Reifen führen zu Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer. Hier entsteht durch Setzung einer Frist zur Beseitigung der Mängel kein Vertrauenstatbestand.« Wie heißt es so schön: Sind Sie schon einmal in etwas Weiches getreten?
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Fahrer ohne Führerschein Der Bauingenieur Simo stammte aus Jugoslawien. Seit 1994 lebte er in Deutschland, war verheiratet und hört nunmehr auf den klangvollen Nachnamen Meier. Im Frühjahr 1997 hatte er Pech: Nach einer Familienfeier fuhr er nachts nach Hause. Eine zappelige Frau am Steuer nahm ihm die Vorfahrt. Die Blechbeule war groß, verletzt wurde niemand. Obwohl die Schuld der nervösen Dame eindeutig feststand, bekam auch Simo seinen Teil. Bei ihm fand die Polizei nämlich 1,3 Promille Alkohol im Blut. 10 Monate Fahrerlaubnisentzug lautete der Ratschluß des Richters. Im Herbst stand Simo erneut vor Gericht. Er war sehr aufgeregt, nun ging es um die Wurst. Er hatte deshalb seinen Bruder Milan mitgebracht. Milan sollte als Dolmetscher einspringen. Falls notwendig. Dann erzählte Simo seine Geschichte: »Ich wollten mit Kollega in Auto nach Jugoslawien besuchen. Ich nix fahren, nur sitzen neben ihn. An Grenze Austria gab kleine Stau. Meine Kollega sagen, du warten, ich holen die Plakaten für Benutzung von Straßen in Austria. Kollega gehen. Plötzlich Autos fahren weiter. Machen Lichtblenden und hupen hinter mich. Ich rutschen auf Sitz von Fahrer und lenken Wagen von Straße. Dann kommen Policia und verlangen den Papieren.« »Fahren ohne Fahrerlaubnis« lautet der Tatvorwurf. Das Delikt wurde von dem aufmerksamen Grenzbeamten Holm festgestellt. Seine Version der Geschichte klingt folgendermaßen: »Es war mitten in der Nacht. Es kamen nur vereinzelte Fahrzeuge, einen Stau gab es nicht. Den betreffenden Pkw konnte ich bereits rund 400 Meter von mir entfernt erkennen. Er hielt zwischendurch nicht an, sondern rollte direkt auf den Grenzkontrollpunkt zu. Im Wagen saßen zwei Personen, der Angeklagte am Steuer. Vignetten oder Plaketten für die Straßenbenutzungsgebühr in Österreich gab es bei uns nicht zu kaufen.« 242
Simo begann zu weinen. »Ich schwören bei Augenlicht meiner Mutter, daß ich sagen Wahrheit. Wenn ich werden bestraft, ich bekommen Fahrerlaubnis nicht zurück. Ich sein arbeitslos. Ich sein entlassen, als ich verloren Fahrerlaubnis. Ich sprechen gestern mit ehemalige Chef. Chef sagen, du bekommen Fahrerlaubnis zurück, du bekommen Arbeit.« Simos Anwalt fragte Holm: »Sagen Sie, Herr Zeuge, wo befindet sich der Grenzkontrollpunkt? Auf deutschem oder auf österreichischem Gebiet?« »In Österreich, etwa dreihundert Meter hinter der Grenze«, lautete die klare Antwort. »Dann können wir noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen«, meinte aufatmend der verständnisvolle Richter. »Der Angeklagte legte dreihundert Meter auf österreichischem Territorium zurück. Das ist nach deutschem Recht nicht strafbar. Ihm kann nach glaubwürdiger Aussage des Zeugen Holm nur eine Fahrstrecke von maximal einhundert Metern zur Last gelegt werden. Der Angeklagte wird daher lediglich zu einer Geldstrafe in Höhe von 1 200 DM verurteilt.« Simo nahm die Strafe dankbar an. Da sein Fahrverbot nicht verlängert wurde, erhielt er wenige Tage später seine Fahrerlaubnis zurück. Dann stellte ihn – wie versprochen – sein ehemaliger Arbeitgeber wieder ein. »Wer ist denn Ihr Chef?«, wollte nach der Verhandlung Simos Anwalt interessiert bei einer Tasse Kaffee wissen. »Ich bin das«, antwortete Milan, Simos Bruder.
Dürfen Radfahrer jetzt wirklich alles? Jeder Kraftfahrer, der mit seinem Auto am Straßenverkehr teilnimmt, ist sozusagen in Feindesland unterwegs: Lebensmüde Motorradfahrer überholen zwischen den Fahrspuren, Fußgänger laufen bei Rot über die Kreuzung, und die Lkws machen 243
sowieso, was sie wollen. Am schlimmsten von allen sind die Radfahrer. »Dürfen Radfahrer jetzt wirklich alles?«, lautet eine nicht unberechtigte Frage, seitdem für sie zahlreiche Einbahnstraßen in der Gegenrichtung freigegeben wurden. Augustus war seit zwanzig Jahren Taxifahrer. Er hatte schon alles erlebt. Beispielsweise beförderte er jenen betrunkenen Fahrgast, der von ihm wissen wollte: »Haben Sie noch Platz für eine Currywurst und einen Kasten Bier?« und ihm anschließend die Lederpolster vollkotzte. An einem Sonntag im April brauste Augustus frohgemut mit einem Fahrgast im Fond eine Straße entlang, als er sich einem Fußgängerüberweg näherte. Augustus ließ den Leuchtturmblick schweifen: Nach rechts, nach links und wieder zurück, kein Mensch weit und breit. Doch dann, als er nur noch wenige Meter von den Zebrastreifen entfernt war, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein rotgewandeter Radfahrer auf und sauste einem neunschwänzigen Teufel gleich quer über die Straße. Augustus hämmerte den Bleifuß auf das Eisen. ›Ihhuhh‹, quietschten qualmend die Pneus. Der nicht angeschnallte Passagier schoß von hinten einen Salto mortale und fand sich bleich und unverletzt auf dem Beifahrersitz wieder. Der rote Radler erstarrte zur Salzsäule. Zwischen sein rechtes Schienbein und den Kühlergrill hätte man bequem noch ein Löschblatt schieben können. Ein Cop (oder neudeutsch ›Kob‹ = Kontaktbereichsbeamter) eilte herbei und nahm die Personalien auf. Doch zu Augustus’ größter Verblüffung sollte er, und nicht der Drahteseldompteur, der böse Mann gewesen sein. Das Amtsgericht brummte ihm folgerichtig eine Geldbuße in Höhe von 90 Emmchen auf. Nun sind 90 DM zwar auch Geld, aber keinesfalls den Ärger wert, den sich Augustus nicht ersparen wollte. Er legte nämlich Rechtsmittel ein, und zwar aus Prinzip. Aber diese Geschichte 244
geht gut aus: Diesmal bekam der Taxifahrer recht. »An Fußgängerüberwegen müssen Fahrzeuge Fußgängern und Rollstuhlfahrern das Überqueren der Fahrbahn ermöglichen, wenn diese den Überweg erkennbar benutzen wollen. Der Autofahrer darf dann nur mit mäßiger Geschwindigkeit heranfahren. Der Taxifahrer hat sich vorschriftsmäßig verhalten, da Radfahrer nicht zu den Verkehrsteilnehmern zählen, die durch die Einrichtung von Fußgängerüberwegen geschützt werden sollen. Sie dürften Fußgängerüberwege gar nicht benutzen«, urteilten die Richter der höheren Instanz. Augustus hat zwar mit dem sprichwörtlichen Schinken nach der Wurst geworfen, denn die beiden Gerichtsverhandlungen kosteten ihn mehr Zeit, als 90 DM wert gewesen wären. Doch dafür hat er nun eine neue lustige Geschichte parat, mit der er seine Fahrgäste erheitern kann.
Ritter der Landstraße Marien war eine nette junge Frau mit einem winzigen weißen Pkw. Eines schönen Tages fuhr sie, nichts Böses ahnend, in die Stadt. Auf der Rückfahrt rollte sie mit ihrem weißen überdachten Aschenbecher im Schrittempo auf der Hauptmagistrale. In der Geradeausspur staute sich der Verkehr. Nur auf der Linksabbiegerspur herrschte freie Fahrt. Dies sah Dietrich mit seinem großen blauen deutschen Auto. Große Autos haben es immer eiliger als kleine. Als Dietrich den Stau vor sich erblickte, fackelte er nicht lange. Auf der Linksabbiegerspur bretterte er geradeaus an den anderen Wagen vorbei. Wenige Meter vor der Kreuzung, kurz vor dem Abzweig, setzte er den rechten Blinker. Er schaute hinüber und sah vor Marlens weißer Reisschüssel eine Lücke klaffen. Dietrich riß den Lenker nach rechts und zögerte nicht eine Sekunde. Marien auch nicht. Sie schloß auf. 245
Dietrich bremste in höchster Not, was sein ABS mit Antischlupfregelung hergab. Die große Limousine wippte auf und ab. Dietrich trommelte wie wild auf seiner Hupe herum und breitete seinen reichen Wortschatz in der Fäkalsprache aus. Mehr passierte zunächst nicht. Marien blickte desinteressiert geradeaus und ließ sich nicht irritieren. »Das kann doch wohl nicht wahr sein!« schrie Dörte, die Freundin des Großmobilisten Dietrich, und öffnete die Beifahrertür. Sie wollte der feinen Dame mal ihre Meinung sagen. Marien verspürte kein Interesse, sie zu hören. Als sie die Furie aus dem Auto hüpfen sah, betätigte sie die Zentralverriegelung ihres Wagens, kurbelte die Scheibe hoch und drehte das Radio auf volle Lautstärke. Vor dem Fenster vollführte Dörte eine Pantomime. Dann wurde Grün. Die Schlange setzte sich in Bewegung, der blaue Wagen blieb weit abgeschlagen zurück. Monate später flatterten Marien zwei Anzeigen ins Haus. Sie habe, so lautete der Tatvorwurf, laut Aussage der Zeugin und Anzeigenerstatterin Dörte, a) einen sogenannten Stinkefinger gezeigt, und sie sei b) bei Rot über die Kreuzung gefahren. Marien schrieb auf, was sich tatsächlich ereignet hatte. Daraufhin ließ man den Stinkefinger fallen. Für den angeblichen Rotlichtverstoß erhielt Marien eine Geldbuße in Höhe von 176 DM und drei Punkte aufgebrummt. Sie legte Einspruch ein. Der Richter: »Nach dem Akteninhalt besteht kaum Aussicht, in der Hauptverhandlung zu einem günstigeren Ausspruch zu kommen. Die schriftsätzliche Einlassung vermag die Betroffene nicht zu entlasten, die rechtliche Bewertung geht fehl. Es wird angeregt, die Einlegung des Einspruches nochmals zu überdenken.« In der Verhandlung verwickelten sich Dietrich und Dörte in einen Widerspruch nach dem anderen. Nach zehn Minuten gab der entnervte Richter auf. »Das Verfahren wird eingestellt«, verkündete er äußerst mißgelaunt, denn er sammelte Rotlichtverstöße wie andere Leute Briefmarken. 246
Eine rote Ampelkreuzung und nützliche Haarspalterei Mal scheint die Zeit stillzustehen, mal rast sie nur so dahin. 14 Tage mit der neuen Liebe vergehen wie im Fluge, aber Stunden dehnen sich ins Unendliche, wenn Tante Eulalia zu Besuch gekommen ist. Bei Verkehrsunfällen geht es häufig um Sekunden: Hätte der Fahrer den Aufprall trotz Schrecksekunde noch verhindern können? Diesmal aber dreht es sich nicht um Sekunden, sondern um Zehntelsekunden (!), die über Recht oder Unrecht entscheiden. An einem heißen Sommertag war Melinda mit ihrem kleinen roten Auto (einem unerklärlichen Naturgesetz folgend lieben Frauen kleine rote Autos) zum Einkaufen gefahren. Der Asphalt kochte, die Leute schwitzten, und Melinda stöhnte in ihrem Miniflitzer ohne Schiebedach. Punkt 14.48 Uhr überquerte der Pkw eine Kreuzung als Linksabbieger auf dem rechten Fahrstreifen. Die Ampel stand auf Rot! Melinda übersah das in der Hitze. Der Technik einer versteckten Kamera aber konnten die dreißig Grad im Schatten nichts anhaben: Melindas bei Rot einbiegender Wagen wurde auf den Film gebannt. Ein mittleres Drama mit großem Rechenexempel nahm seinen Anfang. Die Distanz zwischen der Haltelinie an der Ampel und der Induktionsschleife, die den Kameraverschluß auslöste, betrug 1,6 Meter. Melinda fuhr exakt 21,6 km/h. Sie benötigte von der Haltelinie bis zur Schleife genau 0,26 Sekunden. Zum Zeitpunkt, als Melinda über die Induktionsschleife fuhr, stand die Ampel bereits 1,1 Sekunden auf Rot. Der Richter meinte jedoch, daß der entscheidende Zeitpunkt des Überfahrens der roten Ampel der Moment des Überfahrens der Haltelinie und nicht der Augenblick des Passierens der Induktionsschleife sei. Deshalb zog er die 0,26 Sekunden von den 1,1 Sekunden ab. So kam er unter Berücksichtigung einer Verzugszeit von 0,1 Sekunden (!) auf einen Wert von 0,84 Se247
kunden. Wozu, so mag sich der geneigte Leser fragen, hat das Gericht überhaupt diese irrsinnige Berechnung angestellt? Kann es nicht völlig dahingestellt bleiben, ob Melinda 0,84 Sekunden oder 1,1 Sekunden nach dem Umschalten auf Rot über die für sie damit gesperrte Kreuzung bretterte? Genau hier liegt der Hase im Pfeffer! Die Straßenverkehrsordnung im Zusammenhang mit dem Bußgeldkatalog unterscheidet nämlich zwischen einer erheblichen Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer und einem fahrlässigen Rotlichtverstoß. Der Richter verneinte die erhebliche Gefährdung: »Da die Betroffene die Haltelinie bei einer Rotlichtdauer von 0,84 Sekunden passierte, hat sie sich nur eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes schuldig gemacht.« Gegen Melinda wurde eine Geldbuße in Höhe von 100 DM verhängt. Dabei blieb es, trotz energischen Protests der Staatsanwaltschaft. Manchmal kann es also auch gut sein, wenn ein Verkehrssünder auf einen sogenannten Haarspalter oder Korinthenkacker trifft.
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Versicherungen und Versorgungsausgleich Das Leben ist wie eine Hühnerleiter Rechtsanwälte sind alle furchtbar reich, das weiß jeder. Ausnahmen bestätigen die Regel. Frieder war solch eine Ausnahme. An Mandanten und Aufträgen mangelte es ihm nicht, nur die Zahlungsmoral seiner Klienten ließ zu wünschen übrig. Am Anfang tat die chronische Flaute im Portemonnaie nur ein bißchen weh, denn – gottlob – gab es gute Freunde (die Banken), und die haben bekanntlich von den Raubrittern den Kontokorrentkredit übernommen. Frieder wußte schon lange nicht mehr, wie schwarze Zahlen geschrieben werden. Er riß ein großes Loch auf, um zwei kleine zu stopfen, und seine Kreditlinie reichte inzwischen bis zum Horizont. Wer Sorgen hat, hat auch Likör. In dieser unglücklichen Lage waren zwei Autofahrer so leichtsinnig, mit ihren Wagen zusammenzukrachen. Helmut, der Geschädigte, beging gleich darauf den nächsten Fehler, indem er die Kanzlei Frieder aufsuchte. Frieder korrespondierte mit der gegnerischen Versicherung, forderte 15 000 DM Schadensersatz, Nutzungsausfall sowie Wertminderung und gab die Kontonummer von Helmut an: »Bitte überweisen Sie das Geld direkt an meinen Mandanten.« Die Versicherung zahlte prompt (auch hier bestätigte die Ausnahme die Regel). Allerdings überwies sie die 15 000 DM auf das Anwaltskonto von Frieder. Normalerweise hätte das keine Probleme bereitet, aber in diesem Fall war der Zeitpunkt äußerst ungünstig gewählt. Der entnervte Direktor von Frieders kontoführender Bank hatte nämlich gerade den folgenschweren Entschluß gefaßt, ihm den sprudelnden Geldhahn für immer abzudrehen. Zack, wurde das Konto gesperrt. Helmuts Schadensersatz verschwand im Strudel der Verbindlichkeiten. 249
Frieder rutschte auf Knien vor seinem Filialleiter herum und flehte ihn an, wenigstens noch die 15 000 DM an Helmut zu überweisen. Doch der Herr des Geldes blieb hart wie die DMark. Frieder schlich betrübt nach Hause, trank eine Flasche 45%igen Gebirgskräutersaft und hängte sich dann in der Garage auf. Nun hatte Helmut ein echtes Problem, denn die Versicherung weigerte sich verständlicherweise, noch einmal zu zahlen. Helmut reichte Klage ein und verlor in erster Instanz. In der Berufungsverhandlung zeigten die Richter aber ein Einsehen: »Der bevollmächtigte Anwalt hatte unmißverständlich die Anweisung erteilt, daß das Geld direkt an seinen Mandanten zu zahlen sei. Da die Beklagte dieser Anweisung nicht Folge leistete, muß sie für den entstandenen Schaden aufkommen.« Die Versicherung macht es nicht viel ärmer, Helmut hingegen etwas reicher. Aber sind fehlende 15 000 DM Grund genug, sich gleich umzubringen? Schließlich ist das Leben vieler Leute wie eine Hühnerleiter: kurz und besch…
Die Gesellschaft wollte sich drücken An einem trüben, nebligen Junitag setzte sich der damals 15jährige Ronny auf sein Moped, um die Freundin im Nachbardorf zu besuchen. Die knapp drei Kilometer lange Strecke kannte er wie im Schlaf, selbst mit geschlossenen Augen hätte er jedem Schlagloch ausweichen können. Trotzdem geschah das Unglück: Als er unten im Tal in die Haarnadelkurve einbog, rutschte das Hinterrad seines Modeps auf einem Bündel feuchter Blätter weg. Ronny verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug, überschlug sich mehrfach und landete schwerverletzt im Straßengraben. 250
Tagelang hing sein Leben an einem seidenen Faden. Nach einigen Wochen der Besserung gab es einen Rückfall. Ronny klagte über immer stärker werdende Schmerzen im Oberbauch. Die Ärzte stellten eine Oberbauchfellentzündung mit vergrößerter Gallenblase fest. Der Junge mußte nochmals operiert werden. Anschließend gaben die Ärzte ein Zwischengutachten ab: Ronny werde sein Leben lang nur noch humpeln können. Einige Monate später trennten sich die Eltern von Ronny. Der Vater übergab der Mutter die Kassette mit Garantieurkunden, Sparkassenbuch, Mietvertrag und sämtlichen Versicherungsunterlagen. An einem Sonntagnachmittag setzte sich die Mutter hin und sah die Papiere durch. Plötzlich stellte sie fest, daß Ronny Mitversicherter in einer Unfallversicherung war. So schnell es ging, trug sie alle Unterlagen zum Unfallgeschehen und Heilungsverlauf zusammen, die sie bekommen konnte. Reichlich eineinhalb Jahre nach dem Unfall zeigte sie ihn der Versicherung an. Diese Gesellschaft antwortete schnell, aber bestimmt: Der Versicherungsfall sei verspätet gemeldet worden, eine fristgerechte ärztliche Feststellung zur unfallbedingten Invalidität fehle, die Invalidität sei nicht binnen Jahresfrist eingetreten. Ronny reichte Klage gegen die Versicherung ein. Das Gericht meinte, die verspätete Unfallmeldung sei von der Mutter ausreichend und glaubhaft entschuldigt worden: »Da die Versicherungsnehmerin vor dem Entdecken des fortbestehenden Versicherungsschutzes keinen Anlaß gehabt hatte, die genannten Unterlagen zusammenzutragen, kann es ihr nicht als schuldhafte Verzögerung angerechnet werden, wenn sie hierfür nunmehr reichlich drei Wochen benötigte. Als Laie auf medizinischem Gebiet stand ihr auch kein anderer rascher zum Ziel führender Weg für das Geltendmachen unfallbedingter Invalidität offen.« 251
Die weiteren Ausflüchte der Versicherung bezeichnete das Gericht als rechtsmißbräuchlich. Die Gesellschaft mußte an Ronny zahlen.
Wer anderen eine Grube gräbt… Beim Abschluß eines Versicherungsvertrages bekommt der Bürger die Vertragsbedingungen als drei Seiten Kleingedrucktes ausgehändigt, die er nur mit Hilfe einer Lupe lesen und nach Parallelstudium eines speziellen Lexikons verstehen kann. Wenn er Glück hat. Selbst bei eindeutigen Verkehrsunfällen, bei denen die Schuldfrage ganz klar auf der Hand liegt, muß das unschuldige Opfer oft lange Zeit auf sein Geld warten und bekommt es mitunter erst nach langwierigen Klageverfahren. Bei einem Verkehrsunfall kann der geschädigte Autofahrer der gegnerischen Versicherung folgende Positionen in Rechnung stellen: 1. Reparaturkosten 2. Nutzungsausfall oder die Kosten eines Leihwagens für die Dauer der Reparatur, wenn eine Werkstattrechnung vorgelegt wird 3. Wertminderung 4. Unkostenpauschale 5. Gutachterkosten 6. Rechtsanwaltsgebühren Da bei eindeutiger Schuldfrage die gegnerische Versicherung den Rechtsanwalt bezahlen muß, sollte der Geschädigte einen Anwalt beauftragen, denn sonst nimmt ihn die Versicherung womöglich nicht für voll. Winfried, in feinem Zwirn, steuerte seine große Limousine die Hauptstraße entlang. Aus einer Nebenstraße kreuzte ein Lie252
ferwagen die Fahrbahn. Die Bremsen quietschten. Schepper, schepper, und auf dem Pflaster lag ein Haufen Blech (der Lieferwagen). Winfrieds Auto hatte einen eingebeulten Kofferraum. Der Mann im Nadelstreifen-Anzug beauftragte einen Gutachter. Der besah sich den Schaden, fertigte eine Zustandsbeschreibung sowie eine Kostenrechnung an und legte mehrere Farbfotos bei. »So haben wir aber nicht gewettet!«, erwiderte die Versicherung. »In dem Gutachten wurden die Stundenlöhne einer Fachwerkstatt zugrunde gelegt. Kein wirtschaftlich denkender Bürger würde sich einer Fachwerkstatt anvertrauen, wenn er den Schaden selbst bezahlen müßte. Maßgebend ist deshalb der niedrigere Durchschnittssatz freier Kfz-Werkstätten«, schrieb die Versicherung weiter und zahlte prompt 650 DM weniger in der berechtigten Hoffnung, der oft geübte Trick würde auch diesmal wieder funktionieren. Winfried war ein reicher Mann. Alle reichen Leute sind extrem geizig, sonst wären sie nicht reich geworden. Er konnte deshalb über diesen schlechten Scherz auf seine Kosten nicht lachen und verklagte die Gesellschaft. Auch der Richter schüttelte nur den Kopf. »Ein Geschädigter kann sein Auto jederzeit bei einer typengebundenen Werkstatt reparieren lassen, so daß deren Stundensätze anerkannt werden müssen. Besitzer von Wagen der oberen Mittelklasse bevorzugen in der Realität sehr wohl markengebundene Fachwerkstätten. Davon kann auch der Sachverständige ausgehen.« Die Versicherung mußte zwar die 650 DM nachzahlen, aber den Ärger und die verschwendete Zeit hat Winfried umsonst. Als er Kollegen sein Leid darüber klagte, hatten sie vollstes Verständnis für ihn. Winfried arbeitete nämlich als stellvertretender Direktor in einer großen Versicherungsgesellschaft!
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Zwischen allen Stühlen In seinem Roman ›Der Regenmacher‹ beschreibt der weltberühmte Autor John Grisham eine fiktive amerikanische Versicherungsgesellschaft, die auf die perverse Idee kommt, ein Jahr lang keinen einzigen gemeldeten Schadensfall zu regulieren. Wer schon einmal in seinem Leben ernsthaft mit einer Versicherungsgesellschaft zu tun gehabt hat, der weiß, daß Dichtung und Wahrheit gar nicht so weit auseinander liegen … Harald wollte an einem sonnigen Junitag des Jahres 1989 mit seinem nigelnagelneuen Pkw eine kleine Spritztour unternehmen. Stunden später wachte er mit mehreren komplizierten Brüchen im Krankenhaus auf. Ein anderes Auto hatte ihm die Vorfahrt genommen und seinen Wagen in einen Schrotthaufen verwandelt. Der Heilungsprozeß verlief sehr langsam, und Harald war in Rechtsfragen äußerst unkundig. Er wartete lange Zeit vergeblich darauf, daß sich sein Unfallgegner bei ihm melden und den Totalschaden begleichen würde, so wie es der Anstand erfordert. Nachdem Harald aus dem Krankenhaus entlassen worden war, humpelte er an seinen Krücken zur Polizei und ließ sich das Unfallprotokoll zeigen. Auf diese Weise erfuhr er nach einem Jahr den Namen seines Unfallgegners und den der zuständigen Versicherungsgesellschaft XYZ. Er forderte von ihr 22 413,27 DM Schadensersatz für sein kaputtes Auto. XYZ reagierte prompt. Bereits eine Woche später übersandte sie einen mehrseitigen Fragebogen. Formulare waren nicht Haralds Stärke. Nach sieben langen Monaten aber war das Werk vollendet. Er schickte das Formular zurück. Warten, mahnen, warten. Nach anderthalb Jahren teilte die Gesellschaft mit, es lasse sich kein Versicherungsvertrag für den Pkw seines Unfallgegners finden. Nun müsse beim Stra254
ßenverkehrsamt nachgeforscht werden. Harald hoffte und harrte. Dann fragte er selbst beim Amt nach: Der Wagen stand bei der Versicherungsgesellschaft ABC unter Vertrag! Harald meldete dort Anspruch an. Antwort: »Die Sache ist längst verjährt!« Der Kampf vor Gericht gegen XYZ tobte durch drei Instanzen. Endlich, volle sieben Jahre nach dem Unfall, erklang der Schlußakkord: »Die Versicherung muß zahlen, die ganze Summe.
Ehemalige Regierungssekretärsgattin im Abseits Das Scheidungsrecht in der BRD geht von zwei irrealen Annahmen aus. Erstens sollen die Renten angeblich sicher sein, und zweitens würden Ehen erst nach einer langen Zeit geschieden werden. Wie sicher die Renten tatsächlich sind, wird die Zukunft zeigen, und Anträge auf Ehescheidung werden vor allem von Jungvermählten gestellt. Damit die Sache trotzdem wieder ins rechte Lot kommt, wächst nun kontinuierlich von Jahr zu Jahr die Verfahrensdauer der Scheidungsprozesse. Sie beträgt inzwischen im Durchschnitt drei Jahre, so daß manch überlasteter Familienrichter hinter vorgehaltener Hand von einer quasi Rechtsverweigerung des Staates tuschelt. Aber sei dem, wie ihm wolle. Am sogenannten Versorgungsausgleich, das ist die Übertragung von während der Ehezeit erworbenen Rentenanwartschaften, kommt kein scheidungswilliges Männlein oder Weiblein so ohne weiteres vorbei. Die einfache Regel lautet: Derjenige Ehegatte, der höhere Rentenanwartschaften gesammelt hat, muß seinem mittlerweile ungeliebten Partner etwas davon abtreten. Das ist natürlich sehr schmerzlich, denn ›Teilen macht Spaß‹ gilt selten für ehemalige Ehegesponse.
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Wilbert war Beamter und durfte sich Regierungssekretär nennen. Das war natürlich nur so ein Titel, denn selbstverständlich arbeitete er nicht als Sekretär für irgendeine Regierung. Aber Zitronenfalter falten ja schließlich auch keine Zitronen. Trotz regelmäßiger Arbeitszeit, schweinslederner Aktentasche und föngewellter Kurzhaarfrisur ging seine Ehe in die Brüche. Der Canossagang zum Familiengericht blieb ihm deshalb nicht erspart. Allerdings hatte Wilbert Glück im Unglück: Wenige Tage nach dem Scheidungsurteil wurde er zum Regierungsobersekretär befördert, und zwar rückwirkend. Aber irgendein neidischer Kollege hielt nicht dicht und steckte Exgattin Grete den Karrieresprung ihres Verflossenen. Die Holde witterte Morgenluft, denn eine Beförderung – so schlußfolgerte sie messerscharf – führt neben einer höheren Besoldungsgruppe einen gestiegenen Pensionsanspruch im Schlepptau. Zwei Tage vor Ende der Rechtsmittelfrist legte Grete Berufung ein. Die Richter grübelten lange. Im Prinzip hatte Grete ja recht, aber würde damit nicht ein schwerwiegender Präzedenzfall geschaffen? Welche Auswirkungen hätte eine positive Entscheidung auf ähnlich gelagerte Fälle mit bereits rechtskräftigen Urteilen? Wer seinen Hund schlagen will, findet auch einen Stock, und das Gericht deshalb eine einleuchtende Begründung: »Wenn ein Beamter nach der Scheidung befördert wird, bleibt das ohne Einfluß auf die Bewertung der während der Ehe erworbenen Versorgungsanwartschaften, weil die Beförderung erst mit der Aushändigung der Ernennungsurkunde wirksam wird.« »Hach, noch mal gut gegangen«, freute sich Wilbert und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Dann ließ sich der Regierungsobersekretär – obwohl er selbst sowohl ›Ober‹ als auch ›Sekretär‹ war, von seiner Sekretärin Kaffee bringen, obwohl diese den Titel ›Kellnerin‹ gar nicht führte.
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Vertrag, Verwandte, Videoaufnahmen, Wasser Der plötzliche Pakt mit dem Boxer Bruno war ein treusorgender Ehemann und liebevoller Vater zweier Kinder. Mehr noch. Er schraubte stets die Zahnpastatube zu, klappte nach dem kleinen Geschäft die Toilettenbrille nach unten und putzte im Anschluß an die morgendliche Naßrasur den Badezimmerspiegel blitzeblank. Er hätte noch lange weiter herrlich und in Freuden leben können, wenn er nicht eines Abends den unverzeihlichen Fehler begangen hätte, von einer Dienstreise vorzeitig nach Hause zurückzukehren. Die gute Gattin Gundula kuschelte zwar in ihrer Schlafstatt, aber nicht allein. Im unmittelbaren Anschluß an die Entdekkung (im wahrsten Sinne des Wortes) der fremden weißen Waden erlebten die übrigen Mieter des mangelhaft geräuschisolierten Mehrfamilienhauses ein spannendes Live-Hörspiel, zu dessen eindeutigem Höhepunkt der Treppensturz des fremden Betthüpfers geriet. Ein Ende mit Schrecken ist besser als ein Schrecken ohne Ende. Aber Bruno hatte ein Hobby. Seit frühester Kindheit ging er in seiner Freizeit boxen. Nicht immer ganz erfolgreich, wie seine gebrochene Nase verriet. ›Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen‹, sagt zwar das Sprichwort, aber nach einigen Tagen fand Gundula, sie hätte genügend nachgedacht. Sie machte dem Wüterich einen Vorschlag: »Wenn du sofort ausziehst, bekommst du von mir 30 000 DM!« Bruno war es inzwischen leid, ständig seine Frau zu verprügeln, und stimmte deshalb zu. »Also gut, schließen wir einen Vertrag, denn Vertrag kommt von vertragen.« Er schaltete den Heimcomputer an und tippte: »Schuldanerkenntnis über 30 000 DM, Zahlungsbeginn ist der Auszugstermin.« Weiter unten 257
hieß es dann: »Mit diesem Schuldanerkenntnis erlöschen alle Ansprüche auf die Wohnungseinrichtung und die Wohnung.« Am nächsten Tag bestellte Bruno einen Möbelwagen, räumte vertragswidrig die halbe Wohnung leer und verschwand. Der Scheidungsantrag lief, ging, schlich. Aber irgendwann kommt auch eine Schnecke ans Ziel, und die Ehe wurde erfolgreich geschieden. Vor dem Richterzimmer knisterte Bruno dann mit dem Schuldanerkenntnis vor Gundulas Nase herum: »So, mein Zuckerschnäuzchen, jetzt aber her mit die Radatten, und zwar zack, zack!« Gundula begriff schlagartig den Sinn der Spruchweisheit: ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹. Selbst wenn sie das Geld gehabt hätte, hätte sie es ihrem Verflossenen nicht mehr in den Rachen schmeißen wollen. Bruno blieb ganz cool, behielt die geballte Faust in der Hosentasche und verklagte Gundula. Er war sich seiner Sache völlig sicher, denn Vertrag ist schließlich Vertrag. Nicht immer, war die Ansicht des Richters: »Es läßt sich nicht feststellen, was die Parteien hiermit vereinbaren wollten. Während der Kläger hierzu ausgeführt hat, daß die Verpflichtung zum Auszug Gegenleistung gewesen sei, hat die Beklagte erklärt, daß die Gegenleistung vielmehr der Verzicht des Klägers auf die Wohnungseinrichtung gewesen sei. Demnach ist der Wortlaut des Schuldanerkenntnisses oder die darin liegende Urkunde kein hinreichender Beweis für die zwischen den Parteien getroffene Vereinbarung.« Bruno hat den Prozeß in erster Instanz verloren. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. »Die Rache ist mein«, sprach Bruno.
Besser tot als lebendig Siegmar wollte an einem Fußgängerüberweg die Straße passieren. Ein Sportwagen kam angerast. Siegmar wurde durch die 258
Luft geschleudert und knallte mit dem Kopf auf den Asphalt. Er überlebte schwerverletzt. Der Autofahrer beging Unfallflucht. Im Krankenhaus gaben die Ärzte ihr Bestes, vergeblich. Siegmar wachte aus dem Koma nicht mehr auf. Zweieinhalb Jahre lang wurde er künstlich am Leben erhalten, dann hörte er auf zu atmen. Thea, seine Witwe, wandte sich nun an die Versicherung und legte die Unfalltod-Zusatzpolice ihres verstorbenen Mannes vor. Doch der Sachbearbeiter schüttelte nur mit dem Kopf: »Herzliches Beileid, gnädige Frau«, sprach er mit gedämpfter Stimme, »ich kann Ihren tiefen Schmerz gut verstehen, aber wir sind vom Einstand befreit. Hier, lesen Sie das Kleingedruckte. Dort steht, daß unsere Leistungspflicht entfällt, wenn der Tod als Unfallfolge nicht innerhalb eines Jahres nach dem Ereignis eintritt.« Thea verklagte die Versicherungsgesellschaft. Das Gericht in zweiter Instanz: »Der Tod binnen Jahresfrist stellt eine Voraussetzung für die Versicherungspflicht dar. Diese Bedingung ist hier nicht erfüllt, auch wenn der Tod des Versicherungsnehmers infolge irreversibler Schäden zwangläufig war.« Thea schrie verblüfft auf: »Euer Ehren, dies bedeutet doch im Klartext, daß ich einen schweren Fehler beging, als ich vor anderthalb Jahren trotz katastrophaler Prognose die Zustimmung verweigerte, meinen Mann von den lebenserhaltenden Maschinen abzuklemmen?« »Gute Frau, so können Sie das nicht sehen«, entgegnete der sich plötzlich sichtlich unwohl fühlende Richter. »Nur ein unlauterer Bezugsberechtigter würde doch lebensverlängernde Maßnahmen vom Klauselwerk einer Versicherung abhängig machen.« Mit anderen Worten also: Moral haben nur die Armen, denn Geld verdirbt den Charakter. Diese Erfahrung mußte in einem anderen Fall auch Ludwig machen. Sein einziger Sohn Franko lehnte sich zu weit aus 259
dem Fenster und schlug zwanzig Stockwerke tiefer unsanft auf. Für die Vermutung, daß es sich um einen Selbstmord handelte, sprach die Tatsache, daß Franko einen Tag vor seinem Tod ein Testament zugunsten seiner Frau Rosie verfaßt hatte. Die Tage, wo Selbstmörder auf dem Schindanger begraben wurden, sind glücklicherweise vorbei. Auch Franko erhielt ein anständiges Begräbnis. Allerdings drückten sich viele Freunde, Bekannte und Verwandte vor dem anschließenden Leichenschmaus. Sie quälte wohl ihr schlechtes Gewissen, weil sie Frankos Depressionen nicht beachtet hatten. So fiel die Rechnung für Essen und Getränke sehr moderat aus: 285,50 DM drückte Ludwig dem Wirt vom ›Anker‹ in die Hand. Doch als er anschließend die verauslagte Summe von Rosie zurückverlangte, weigerte sie sich zu zahlen. »Ich werde doch mein sauer ererbtes Geld nicht irgendwelchen Schmarotzern an der Volksgesundheit in den Rachen werfen. Von mir bekommst du keinen Pfennig, Suffke!« Ludwig verklagte seine Schwiegertochter und gewann: »Einem Vater steht es zu, seinen Sohn zu beerdigen. Der Familienvorstand entscheidet über die Gestaltung der Zeremonie einschließlich des Leichenschmauses. Das ist Gewohnheitsrecht. Die Kosten hat der Erbe zu tragen. Das steht im Gesetz.«
Bruderliebe Den tieferen Sinngehalt des Sprichworts: ›Verwandte hat man, Freunde kann man sich aussuchen‹, mußte Uwe schon sehr frühzeitig schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren. Im zarten Alter von drei Jahren schleuderte ihn nämlich sein zwei Jahre älterer Bruder Rainer im Laufe einer Rangelei gegen einen Zentralheizungskörper. Der Kopf prallte gegen eine scharfe Metallrippe, Blut spritzte, und Uwe wachte im Krankenhaus wieder auf. Die Narbe kann er heute noch fühlen. 260
Dies blieb zwar die letzte gewalttätige Auseinandersetzung mit Solch gravierenden Folgen, doch Uwes Leben wurde auch danach nicht leichter. Der körperlich überlegene Rainer verprügelte ihn häufig nach Herzenslust, machte sein Spielzeug mutwillig kaputt, kippte ihm den Nachttopf, Regenwürmer und Maikäfer ins Bett, zwang den Käsefeind Uwe, so lange Harzer Roller zu essen, bis der sich unter Krämpfen übergeben mußte. Das Martyrium endete erst, als Rainer für ein paare Jahre im Jugendwerkhof verschwand. Als Uwe erwachsen geworden war, ging er seinem Bruder nach Möglichkeit aus dem Wege. Er wollte mit ihm nichts mehr zu tun haben. Lange Zeit sahen sie sich nur einmal im Jahr: Am Geburtstag ihrer Mutter. Sie ließ keine Entschuldigung gelten, ohne ihre beiden Söhne am Kaffeetisch hätte die Feier für sie keinen Sinn gehabt. Der 21. September verlief in Ruhe und Harmonie. Scheinbar. Uwe und Rainer saßen nebeneinander auf dem Sofa in der guten Stube, aßen Buttercremetorte, vertilgten riesige Berge von belegten Broten, tranken Kaffee, später Bier und Doppelkorn, rauchten Karo aus einer Schachtel. Die Mutter strahlte vor Glück und Zufriedenheit. Sie strich ihren Söhnen abwechselnd durchs Haar und meinte: »Ich bin so froh, daß ihr euch endlich wieder vertragt.« Dann huschte sie hinaus in die Küche, um wenig später die nächste Köstlichkeit aufzutischen. Das dicke Ende kam am nächsten Tag. Uwe stand im Laden, und sein Geld reichte nicht. Kein Problem, wozu gab es Schecks. Er griff ins Portemonnaie, doch alle Schecks waren weg! Gestohlen! Drei Stück! Uwe fuhr sofort zur Sparkasse, um sein Konto sperren zu lassen. Zu spät. Der Dieb hatte keine Zeit verstreichen lassen und 1 150 DM abgehoben. Uwe ging zur Polizei und erstattete Strafanzeige, zunächst gegen Unbekannt. Wer der Übeltäter gewesen war, wurde sehr 261
bald offensichtlich. Der böse Bruder Rainer hatte nicht viel Federlesens gemacht und die Schecks auf seinen eigenen Namen eingelöst. Viel Freude sollte er nicht daran haben. Per Strafbefehl wurde er zu einer Geldstrafe von 1 200 DM verurteilt. Doch damit hatte Uwe seine 1 150 DM noch lange nicht zurück. Die Geldstrafe strich die Staatskasse ein, sein Geld mußte sich Uwe auf dem Zivilrechtsweg zurückholen. Er reichte Klage ein, und zwei Jahre nach dem Vorfall wurde das Urteil gefällt: Rainer hatte an seinen Bruder 1 150 DM plus Zinsen zu zahlen sowie die Gerichtskosten zu tragen. Ob Uwe das Geld jemals bekommen wird, ist aber ungewiß. Rainer war seit langem arbeitslos, er lebte von Sozialhilfe und Schwarzarbeit. Für den Gerichtsvollzieher gab es bei ihm nichts zu holen. Die Mutter mußte ihren Geburtstag nun immer an zwei Tagen feiern. Uwe wollte Rainer nie mehr Wiedersehen, denn wie sagt ein anderes Sprichwort: »Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.«
Das dritte Auge Ottokar hatte ein ganz besonderes Hobby: Er sammelte Lokomotiven. Allerdings weder im Original noch im Miniaturformat einer Modelleisenbahn, sondern ihren bloßen Anblick. Der Ursprung dieser seltsamen Leidenschaft soll in Großbritannien liegen. Dort gibt es Tausende von Freizeiteisenbahnern, die mit speziellen Fahrplänen und Ferngläsern bewaffnet an den Strekken lauern und – ›Train Spotting‹ genannt – Züge beobachten. Wenn Ottokar beispielsweise eine Güterzuglokomotive der Baureihe 58, Gattung G 12, oder eine Heißdampf-Schnellzuglokomotive der Baureihe 01 zu Gesicht bekam, dann hatte sein ansonsten sehr tristes Leben als Pförtner im Finanzamt wieder einen echten Sinn. 262
Die Fangemeinde der Zugbeobachter ist auch in Deutschland viel größer, als man glauben mag. Die Lokomotiv-Fetischisten tauschen Fotos, seltene Tonbandaufnahmen von Fahrgeräuschen – und selbstverständlich die Fahrpläne der Oldtimer auf Schienen untereinander aus. Aber warum auch nicht. Menschen, denen beim Fauchen einer Dampflokomotive ein glückliches Lächeln über das Gesicht huscht, sind sicherlich sympathischer als aggressive Pitbull-Halter. An einem windigen Sonntag im März stand Ottokar kurz nach drei Uhr morgens auf. Er belud seinen klapperigen Kombi mit der kompletten Train-Spotting-Ausrüstung: Campingstuhl, Campingtisch, Stullenbüchse, Thermoskanne, Kartenblätter, Stativ, Videokamera, Fernglas, Kataloge und Schreibmaterial. Kurz vor fünf kam Ottokar im Zielgebiet an. Er hatte sich eine Eisenbahnbrücke in der Nähe vom Bahnhof einer sächsischen Kleinstadt ausgesucht. Nach verläßlichen Informationen sollte dort gegen 5.30 Uhr – einem Fünfer im Lotto gleich – die letzte deutsche Dampfspeicherlokomotive vorbeirollen. Um 5.25 Uhr justierte Ottokar die Videokamera im Heck des offenen Kombis und schaltete sie ein. Er zitterte vor Aufregung und Vorfreude. In diesem Moment torkelte Björn, ein arbeitsloser Maurer, völlig betrunken über die Eisenbahnbrücke. Björn hatte schlechte Laune. Vor wenigen Tagen war er seiner Fahrerlaubnis infolge des ›Allflusses einkoholischer Getränke‹ verlustig gegangen. Da kam ihm der spinnerte Opa im Campingstuhl zum Abreagieren gerade recht. Björn hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf, sondern ballte seine Faust und ließ sie unter Ottokars Kinn krachen. Ottokar saß sehr tief und deshalb äußerst ungünstig. Außerdem hatte er nicht mit dem Schlag gerechnet. Es hob ihn wie eine Feder von seinem Sitz. Der Zugbeobachter flog einen halben Meter rückwärts durch die Luft. Sein Hinterkopf knallte mit voller Wucht gegen das Brückengeländer. Dann ging das Licht aus. 263
Ottokar versank in weicher, warmer Watte. Nach seiner Genesung verklagte er Björn auf Schmerzensgeld und Schadensersatz. Der Maurer stritt alles ab. Aussage stand gegen Aussage. In der Verhandlung präsentierte Ottokar einen Videomitschnitt. Die laufende Kamera hatte als drittes Auge den Überfall in Bild und Ton aufgezeichnet. Björn erhob Einspruch: »Diese Aufnahme verletzt mein Recht am eigenen Bild. Daher darf sie nicht als Beweismittel verwendet werden.« Doch der Richter winkte ab: »Es gibt immer eine Ausnahme von der Regel. Ganz allgemein darf ein Mensch sicherlich nicht gegen seinen Willen gefilmt werden. Doch dieses Persönlichkeitsrecht steht in Konkurrenz zum Grundrecht auf persönliche Unversehrtheit. Das Interesse an der Wahrheitsfindung und der Durchsetzung eines berechtigten Anspruchs auf Schadensersatz überwiegt gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Abgebildeten. Die öffentliche Mißhandlung verdient keinen Schutz, der darauf hinausläuft, den Beweis für eine Straftat unmöglich zu machen.« Björn muß blechen – Balsam für die kahle Stelle an Ottokars vernarbtem Hinterkopf.
Der verdorbene Brunnen Oskar war Gärtnermeister. Seine Gärtnerei lag an einer vielbefahrenen Landstraße. Das war einerseits gut fürs Geschäft (weil viele Durchreisende hielten und schnell noch einen Blumenstrauß für die lieben Verwandten und Bekannten kauften) und andererseits schlecht fürs Geschäft aus den folgenden Gründen: Oskars Großvater ließ in den dreißiger Jahren einen Brunnen schachten, aus dem seither das Wasser zum Gießen genommen wurde. Das war praktisch und half, die Kosten zu senken. Doch eines schlechten Tages mußte Oskar zu seiner größten Verbit264
terung feststellen: Seinen Pflanzen schien das Brunnenwasser nicht mehr zuzusagen. Sie mickerten vor sich hin. Das Wasser stank nach Chemie und schmeckte bitter. Ein Gutachten des Geologischen Landesamtes ergab einen so hohen Chloridgehalt, daß es zum Gießen nicht mehr verwendet werden konnte. Doch wie gelangte das Chlorid auf einmal in das Brunnenwasser? Weit und breit keine Chemiefabrik. Das Chlorid konnte nur aus dem winterlichen Streusalz stammen. Oskar vermochte seinen materiellen Schaden genau zu beziffern. Es war jener Betrag, den er für das Leitungswasser bezahlen mußte, seitdem der alte Schachtbrunnen nicht mehr zu benutzen war. Deshalb verlangte der Gärtner Schadensersatz. Da es sich bei der Landstraße um eine Bundesstraße handelte, verklagte er kurzerhand die Bundesrepublik Deutschland. Das Gericht hielt sich nicht lange mit der Frage auf, ob das Streusalz tatsächlich das Brunnenwasser verdorben hatte, denn darauf kam es nach Meinung des Richters überhaupt nicht an: »Einbringen, Einleiten oder Einwirken setzt ein auf die Gewässerbenutzung zweckgerichtetes Verhalten voraus. Danach reicht die bloße Verursachung des Hineingelangens nicht aus. Das Ausbringen von Streusalz auf die Bundesstraße im Zuge des winterlichen Räum- und Streudienstes dient der Erhaltung der Verkehrssicherheit der Straße. Zweck des Streuens ist nicht das Hineingelangen salzhaltiger Stoffe in das Grundwasser.« Dem Straßenwinterdienst hätte nur dann vorgeworfen werden können, Brunnenwasser vergiftet zu haben, wenn er das Salz ausschließlich zu dem Zweck verstreut hätte, daß es ins Grundwasser gelangte. Leider läßt sich diese Spruchpraxis nicht ohne weiteres auf Schwiegermütter übertragen. Nun beschäftigte sich das Gericht damit, ob Oskar ein Recht darauf habe, Wasser aus seinem eigenen Brunnen schöpfen zu dürfen. Auch dies wurde verneint: »Für das Wasserrecht ist anerkannt, daß ein Recht auf Zufluß von Wasser bestimmter 265
Menge und Beschaffenheit nicht besteht und daher ein Recht auf Abwehr von Beeinträchtigungen der Grundwasserqualität nicht anzuerkennen ist.« Zum Schluß merkte der Richter an: »Der Kläger muß sich die ungünstige Lage seines Grundstücks neben der Bundesstraße, durch die seine Eigentumssituation geprägt wird, zurechnen lassen.« Das leuchtet völlig ein. Umweltschutz geht schließlich alle an (außer den Straßenwinterdienst). Wenn Oskar als Geschäftsmann nur einen Funken Verstand besessen hätte, würde er ein Grundstück in den blauen Bergen erworben haben, wo aus kristallklarer Quelle naturreines Lebenselixier sprudelt.
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Waffen, Wandelung, Werbung Zielübungen am Ententeich Angeblich soll es nichts Spannenderes geben, als auf die Jagd zu gehen. Stundenlang hocken einsame Männer schweigend auf Ansitzen in den Bäumen oder pirschen sich vorsichtig durch das Unterholz. Früher war die Jagd ein königliches Vergnügen. Zu DDR-Zeiten ballerten Partei- und Staatsführung, was die Gewehrläufe hergaben. Heutzutage steht die Jagd jedem offen – wenn er genügend Kleingeld hat. Tommy war kein Waidmann und wird auch nie einer werden. Trotzdem liebäugelte er gerne in einschlägigen Fachgeschäften mit Lodenmänteln, Försterhüten und Jagdmessern. Noch viel mehr hatten es ihm allerdings die Waffen angetan. Zwillinge, Drillinge und so weiter und so fort. Doch wir leben nicht in den USA, wo sich jeder Waffenfreak mit leichter bis schwerer Artillerie eindecken kann, wenn er nur möchte. In Deutschland braucht noch immer jeder Mensch, der eine Pulverbüchse schultern will, einen Waffenschein. Glücklicherweise. Tommy besaß nur den Abschluß der achten Klasse, arbeitete als Transportarbeiter und war irgendwie dem Jagdschein näher als dem Waffenschein. Deshalb hingen in seinem Zimmer über dem Bett lediglich Luftgewehre und Attrappen von Feuerwaffen. Aber die Sehnsucht nagte an seinem Herzen, unentwegt. An einem regnerischen Sommertag hielt es Tommy nicht länger aus. Er wollte und mußte endlich auf die Jagd gehen, Zu diesem Zweck betrat er ein gut sortiertes Waffengeschäft und kaufte sich eine durchschlagsstarke Luftdruckpistole, die wie eine kleine echte MPi aussah. Aber wo sollte er damit jagen? Aus dem Radio kannte er das Lied: ›Geh’n wir Tauben vergif267
ten im Park‹. Das ist eine sehr gute Idee, dachte sich Tommy und schlenderte zum Ententeich. Er warf ein paar Brotstückchen ins Wasser, und als sich das muntere Federvieh vor ihm tummelte, zog er seinen Colt aus der Tasche, zielte und schoß. Päng, ein armes Entenvieh verschwand in den ewigen Jagdgründen. Nun wird zwar derzeit von nicht wenigen Deutschen der Steinwurf auf ein Asylantenheim als Kavaliersdelikt angesehen, doch beim Entenmord hörte der Spaß auf. Empörte Bürger drohten mit Schirmen und Stöcken und setzten zur Lynchjustiz an. Tommy rettete sich mit einem Hechtsprung in den Ententeich. Dort wartete er geduldig, bis ihm ein Polizist das Leben rettete. Etliche Wochen später stand Tommy vor Gericht. Voller Reue schilderte er, wie leid ihm sein unbedachtes Herumgeknalle inzwischen tun würde. Der milde Richter dachte wohl noch voller Genuß an den knusprigen, im Supermarkt erstandenen Entenbraten vom Sonntag, hatte vielleicht gerade deshalb ein Einsehen und stellte das Verfahren unter einer Bedingung ein: Tommy mußte einem gemeinnützigen Verein 500 DM spenden. Bereitwillig zückte der Wildschütz sein Portemonnaie und kaufte sich frei.
Alle Autos sind gleich Ortwin, ein Angestellter im mittleren Management einer großen Firma, tat etwas in den heutigen Zeiten völlig Unübliches: Er bestellte sich einen neuen Pkw, aber er stotterte ihn nicht in Raten ab oder leaste ihn, sondern bezahlte bar. 79 213,95 DM legte er auf den Tisch des Autohauses von Kai. Dafür bekam er ein Sondermodell der sogenannten Oberklasse mit vier Rädern, integriertem Sonnenbrillenhalter und anderem Schnickschnack.
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Ortwin verdiente zwar gut, aber er war kein Krösus. In diesem Fall war er dem Beispiel des englischen Vielschreibers und Verschwenders Edgar Wallace gefolgt, der gesagt hatte: ›Wenn ich mir etwas erst dann kaufe, wenn ich es mir leisten kann, würde ich es nie bekommen.‹ Aber Ortwin hatte Pech gehabt. Sein neuer Wagen war ein sogenanntes Montagsauto. Ständig ging irgend etwas kaputt. Nach einem dreiviertel Jahr und mehreren mißratenen Reparaturversuchen hatte Ortwin die Faxen dicke. Er gab dem Händler die Luxuskarosse zurück und verlangte den Kaufpreis heraus. Kai akzeptierte die Wandlung (so lautet der juristische Fachbegriff dafür), ohne mit der Wimper zu zucken. »Nur ein zufriedener Kunde bleibt ein guter Kunde. Ich kann mich nur entschuldigen. Wieviel Kilometer sind Sie gefahren?« »35 000«, antwortete Ortwin. »0,67 Prozent von 79 213,95 DM sind 530 DM. 530 mal 35 macht 18 550 DM. 79 231,95 DM minus 18 550 DM sind 60 681,95 DM. Ich stelle Ihnen einen Scheck aus.« Ortwin erbleichte. »Halt, so haben wir nicht gewettet. Im Prinzip müßte ich noch Geld dazubekommen, weil ich mich mit dieser Schrottkarre herumärgern mußte.« Kai schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie müssen mir den Gebrauchsvorteil ersetzen, den Sie durch den Pkw hatten. 1 000 gefahrene Kilometer kosten 0,67 Prozent des Kaufpreises. So ist es allgemein Usus.« Ortwin nahm wütend den Scheck und reichte Klage ein. In der Gerichtsverhandlung mußte er sich belehren lassen, daß sich Kai exakt im Rahmen des Üblichen bewegt hatte. »Bei der Berechnung wird davon ausgegangen, daß die Gesamtfahrleistung eines Wagens 150 000 Kilometer beträgt.« »Okay!« schrie Ortwin erregt. »Dann nehme ich einen Teil der Klageforderung zurück. Aber bei meinem unseligen Auto handelte es sich weder um einen überdachten Aschenbecher, 269
noch um eine Telefonzelle auf Rädern, noch um ein Überraschungsei mit Purzelgarantie, sondern um einen sauteuren Superschlitten, der normalerweise bei 150 000 eingefahren ist. Mein Entgegenkommen lautet: Ich veranschlage 200 000 Kilometer Fahrleistung, damit einen Faktor von 0,5 Prozent und verlange wenigstens 4 700 DM zurück!« Wieder wurde er enttäuscht. »Für die Bewertung der Autonutzung ist ein einheitlicher Maßstab unerläßlich. Anderenfalls müßten in jedem Prozeß Sachverständige zu Rate gezogen werden«, meinten die Richter und wiesen die gesamte Klage ab.
Die gute und die böse Fee Viele Erwachsene sind wie Kinder, nur größer. Selbst steinalte Rentner mit rutschfester Gummizwinge am rustikalen Krückstock glauben noch an Märchen. In bunten Blättern lesen sie von blonden Prinzessinnen und schnurrbärtigen Königen, von feinkörnigen Waschmitteln mit sieben Weißmachern, von einem stetigen Rückgang der Arbeitslosigkeit und Dementis über geplante Erhöhungen der Mehrwertsteuer. Auch Marie ist wundergläubig. Sie schwört darauf: Die Außerirdischen leben längst unter uns, im kalten Sarg von Erich Honecker liegt dessen Double, und bei Werbepreisausschreiben kann man Geld gewinnen. Eines Tages erhielt sie von einer Versandfirma einen dicken Briefumschlag mit dem roten Aufdruck »Wichtige Nachricht – sofort öffnen«. Mit zittrigen Fingern riß sie das Kuvert auf. Auf einem steifen Blatt Papier stand geschrieben: »Gnädige Frau, Sie haben in unserem ›Gute Fee Preisausschreiben‹ den ersten Preis gewonnen. Und zwar entweder einen BMW 320i Cabrio oder 60 000 DM in bar. Bitte kleben Sie den beigefügten Losabschnitt auf 270
den Gewinnanforderungskupon. Beachten Sie bitte auch die herrlichen Sonderangebote in unserem Katalog. Beispielsweise das geschmackvolle Topfset für nur 49,90 DM plus Versandkosten. Ordern Sie, solange der Vorrat reicht. Ihre freundliche Drosselbart GmbH.« Marie tat, wie ihr geheißen. Sie pappte die Gewinnummer auf die Karte, schrieb die Bestellnummer der Tiegel und Kasserollen daneben, vermerkte ihre Kontonummer und harrte der Dinge, die da kommen würden. Nach vierzehn Tagen brachte der fröhliche Postillion einen grauen Karton. Er war zwar groß, doch für ein Auto zu klein. »Also wird Bares drinnen sein«, freute sich Marie. Pech gehabt. Fünf häßliche Emailletöpfe und ein skrofulöser Dosenöffner kamen unter dem raschelnden Papier zum Vorschein. Die gute Fee litt offensichtlich unter Gedächtnisschwund, denn auf dem Packzettel stand: »Vielen Dank für Ihre Bestellung. Ihr Gewinn – der Super-Plus Tin-Opener – liegt anbei, er wird Ihnen sicherlich viel Freude im Haushalt bereiten.« Marie schrieb einen wütenden Brief zurück: »Ihr Arschgeigen, her mit den Radatten.« Als dies nichts fruchtete, verklagte sie kurzerhand die Drosselbart GmbH. Doch die bleiche Richterin in nachtschwarzer Robe entpuppte sich als böse Fee: »Ein Anspruch auf Auszahlung von 60 000 DM als ausgelobte Belohnung besteht nicht, da es an der erforderlichen Aussetzung einer solchen durch öffentliche Bekanntgabe fehlt«, meinte sie glühenden Blicks. Und mit sorgenvoll gefurchter Stirn setzte sie fort: »Wenn es sich um eine Aufgabe handelt, die von jedermann ohne Mühe gelöst werden kann, also bei Gratisverlosungen und unechten Preisausschreiben, liegt keine bürgerlich-rechtliche wirksame Auslobung vor. Zwar dürfte das ›Gute Fee Gewinnspiel‹ unlauter sein, weil es darauf abzielte, bei den Empfängern den Eindruck zu erwekken, die wertvollen Preise seien bereits gewonnen, und sie da271
mit zu Bestellungen zu animieren. Aber das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb schützt den Mitbewerber, nicht jedoch den Verbraucher, der sich von der unlauteren Werbung betroffen fühlt.« Die Pechmarie schlich sehr betroffen nach Hause, und die Drosselbart GmbH fühlte sich wie Hans im Glück. Ein feines Schlaraffenland dies, in dem die Lügenbarone unter dem Schutz von Schild und Schwert stehen.
Achtung! Hier spricht die Polizei! Rechtsanwälte im Fernsehen fahren Motorrad, essen in duften Lokalen mit feschen Bienen und wedeln im Gerichtssaal nonchalant mit den Zipfeln ihrer Robe. Im wahren Leben geht das ganz anders zu. Da stopfen spitznasige Advokaten hinter staubigen Aktenbündeln krümelige Käsebrote in sich hinein, während sie an solch aufregenden Fällen wie dem Casus knaxus der ewig im Garten pinkelnden Katze des Nachbarn arbeiten. Doch damit nicht genug. Ständig werden Anwälte mit Anrufen belästigt. Gruppendynamische Versicherungsverbände versprechen viel (nämlich viel Aufwand und wenig Nutzen), Softwarehäuser halten die Komplettlösung für alles oder nichts parat, Markisenbauer, Pizzabäcker und Tresorhersteller preisen ihre Produkte an. Rechtsanwalt Dietbald will kein Eisen. Er hatte seine Sekretärin Annegret deshalb perfekt instruiert. Werbeanrufer bekamen bei der resoluten Vorzimmerdame keine Chance, selbst wenn sie naßforsch den großen Meister persönlich sprechen wollten. Eines Tages versagte aber auch sie kläglich. Und das kam so: Am Telefon meldete sich eine Frau mit den Worten: »Achtung, hier spricht die Polizei! Geben Sie mir sofort Herrn Dietbald!« Annegret drückte die Trenntaste und flüsterte in den Hörer: 272
»Chef, die Bullen!« Dietbald löste seine Finger von der klebrigen Katzenakte und lauschte. »Rosemarie, Deutsche Polizeigewerkschaft. Wir bringen putzige kleine Broschüren heraus. Wie man klapprigen Rentnern richtig über die Straße hilft und so. Liegen später in allen Polizeirevieren aus. Da wäre noch Platz für einen süßen Werbeeintrag. Haben Sie Interesse?« Dietbald war nicht ganz so blöd, wie er aussah. »Gewiß doch, gnädige Frau«, flüsterte er. »Faxen Sie mir bitte ein Angebot.« Dann kam es, wie es kommen mußte. Auf dem gefaxten Formular prangte dick und deutlich die Aufschrift ›ABC-Verlag‹, von ›Deutscher Polizeigewerkschaft‹ stand dort kein einziges Wort. Dietbald fackelte nicht lange. Er steckte das Formular in einen Briefumschlag, adressierte ihn an die Staatsanwaltschaft und erstattete Strafanzeige wegen Betrugsversuchs und des Verdachts auf strafbare Werbung. Sieben Monate vergingen. Dann erhielt Dietbald Post von der Strafverfolgungsbehörde: »Die durchgeführten Ermittlungen bieten keinen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage.« Begründung: »Die ermittelte Mitarbeiterin hat angegeben, daß sie stets bei telefonischen Anfragen darauf hingewiesen habe, daß sie nicht im Auftrage der Deutschen Polizeigewerkschaft, sondern im Auftrage des ABC-Verlages anrufe. Sie sei auch ausdrücklich von den Verantwortlichen des ABC-Verlages darauf hingewiesen worden, daß sie auf keinen Fall den Eindruck erwecken dürfe, im Auftrag der Deutschen Polizeigewerkschaft aufzutreten. Soweit bei Ihnen möglicherweise durch eine nicht vollständige Auskunft der Eindruck entstanden ist, direkt mit Mitarbeitern der Deutschen Polizeigewerkschaft zu telefonieren, wäre dies aufgrund dieser Angaben allenfalls als fahrlässiges Vergehen anzusehen. 273
Da eine strafbare Werbung nur vorsätzlich begangen werden kann, könnte die Mitarbeiterin des ABC-Verlages strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden.« Also, aufgepaßt, wenn Sie demnächst von einem grünweißen Pkw mit Blaulicht verfolgt werden! Möglicherweise will Ihnen nur jemand ein Abonnement für eine Autozeitschrift aufschwatzen.
Alles Käse mit dem Joghurt Kritische Kinobesucher und feinsinnige Fernsehzuschauer haben beim Betrachten von Filmen immer stärker unter einer Form der verdeckten Werbung zu leiden, die in den USA erfunden wurde und sich ›Product Placement‹ (ErzeugnisVorstellung) nennt. Die Filmproduzenten finanzieren damit einen Teil ihrer Kosten, und es gibt schon einige Spielfilme, deren (kaum vorhandene) Handlung sich ausschließlich darum rankt, immer andere Artikel recht auffällig in Szene zu setzen. Wie funktioniert das? Ganz einfach: Immer wenn ein Schauspieler beispielsweise zu einer Flasche Whisky, zu einer Schachtel Zigaretten oder nach einer Kaugummipackung greift und das Etikett leicht lesbar vor die Kamera hält, handelt es sich um ›Product Placement‹. Andere Formen sind, daß der Held völlig unmotiviert mit der Edelkarosse einer ganz bestimmten Automarke davonbraust oder daß die Hauptdarstellerin gut sichtbar mit Cremedöschen und Puder herumhantiert. Selbstverständlich hat das ›Product Placement‹ längst auch bei deutschen Filmproduktionen Einzug gehalten. Allerdings halten sich die Preise, die dafür gezahlt werden, im Rahmen, weil einheimische Jungfilmer bei weitem nicht so viele Zuschauer in die Kinos locken wie amerikanische Erfolgsregisseure. Eine deutsche Produktionsfirma hatte eine jener jetzt modernen Komödien geschaffen, die so humorvoll sind wie der dritte 274
Aufguß von Blondinenwitzen. Zwei sonnengebräunte Tagediebe lümmelten ständig in fremden Betten herum und benutzten böse Wörter, wenn sie erwischt wurden. In einer Einstellung löffelte ein rauchender Herr beim Telefonieren einen Joghurtbecher leer, in der nächsten Sequenz biß ein unrasierter Herumtreiber ein Stück Käse ab und spülte mit reichlich Schnaps nach. Nachdem die letzte Aufnahme im Kasten war, legte Produzent Armin die Rechnung, doch der Milch- und Käsehersteller wollte die vertraglich vereinbarten 50 000 DM nicht zahlen. Begründung: »Unsere Produkte signalisieren Natürlichkeit und Frische. Paffende Suffköppe wirken da äußerst kontraproduktiv! Seien Sie froh, daß wir keinen Schadensersatz fordern.« Armin freute sich nicht, sondern zog vor Gericht. Doch die Richter waren ältere Herrschaften, die sich eher an gemächlichen Derrick-Folgen, denn an hektischen James-Bond-Werbespots zu ergötzen pflegten. In diesem Sinne fiel dann das Urteil aus: »Werbung muß für den Adressaten als solche erkennbar sein. Die auf Täuschung angelegte Tarnung einer Werbemaßnahme – die Produkte sollen als ›Teil der Handlung‹ erscheinen – wird weder dem Wahrheitsgrundsatz im Wettbewerbsrecht noch dem Gebot der Achtung der Persönlichkeitssphäre gerecht. Würde man ›Product Placement‹ gutheißen, führte das zu absurden Konsequenzen: Bei einem Rechtsstreit darüber, ob die Leistung ordnungsgemäß erbracht worden sei, müßte ein Gericht beurteilen, wie gut die Manipulation gelungen sei, und sich so zum Handlanger der Täuschung des Publikums machen.« Zu diesem klugen Richterspruch paßt ein Dialog aus dem Mel-Brooks-Film ›Spaceballs‹, in dem der Held Lone Star erleichtert ausruft: »Oh, du weiser Joghurt!«
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