AUSGEDEUTSCHT ist ein Jugendroman über zwei Mädchen, die unfreiwillig zu Fremden im eigenen Land werden. Jenni ist „Halb...
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AUSGEDEUTSCHT ist ein Jugendroman über zwei Mädchen, die unfreiwillig zu Fremden im eigenen Land werden. Jenni ist „Halbschwarze“, ihr begegnen die ganz alltäglichen Diskriminierungen. Oft zieht sie sich mit einem Buch zurück. Sie liest über Thamar, die Jüdin ist und der es zu Anfang des Dritten Reiches ganz ähnlich ergeht. Daß Jenni sich ausgerechnet in Björn, einen Skinhead verliebt, macht ihre Lage nicht einfacher …
ROMAN
Studentin und freie Journalistin aus Buxtehude stellt ihr erstes Buch vor:
ALEX KUI AUSGEDEUTSCHT
ALEX KUI
ALEX KUI
AUSGEDEUTSCHT
ALEX KUI
AUSGEDEUTSCHT Kritischer Jugendroman über zwei Mädchen, die Deutsche sind und doch nicht deutsch sein dürfen.
CIP Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kui, Alex Ausdedeutscht : Roman über zwei deutsche Mädchen, die nicht deutsch sein dürfen -1. Aufl. – Buxtehude HannaH 1998 ISBN 3-931735-06-0
Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors und des Verlages unzulässig und strafbar. Insbesondere gilt dies für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und das Einspeichern und Verarbeiten in elektronischen Medien.
1. Auflage Oktober 1998 Copyright © 1998 HannaH Verlagsgesellschaft mbH, Buxtehude und Alex Kui Alle Rechte vorbehalten Satz und Einbandgestaltung: HannaH-Verlag Titelfoto: Amin Druck und Bindung: Clausen & Bosse Printed in Germany ISBN 3-931735-06-0
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VORWORT Vor ein paar Wochen ist meine Freundin aus Jamaika mit dem Zug quer durch Deutschland gefahren und wurde als einzige Reisende in ihrem Abteil nach jedem größeren Bahnhof kontrolliert. Mir ist das noch nie passiert. Bin ich zu weiß für eine Schwarzfahrerin oder ist sie zu schwarz für eine „Weiß“-Fahrerin? In manchen Stadtvierteln wagt sich diese Freundin nicht mehr in öffentliche Verkehrsmittel … Als Anfang der 90er Jahre Rechtsextremisten Häuser anzündeten, in denen Ausländer lebten, als wieder Menschen sterben mußten, weil sie in ihrem Zuhause plötzlich nicht mehr willkommen waren, habe ich dieses Buch geschrieben. Um zu zeigen, daß das Gefühl gehaßt und verfolgt zu werden, immer gleich schlimm ist. Daß Menschen hier und heute dieselben Ängste ausstehen müssen, wie andere vor 60 Jahren, als die Nationalsozialisten in Deutschland an der Macht waren. Jetzt, Ende der 90er Jahre, ist dieses Thema aktueller denn je. Nicht nur radikale Gesinnung ist landauf landab an der Tagesordnung. Diskriminierung hat viele Gesichter: Manchmal treffe ich Männer, die mich für dumm halten, weil ich eine Frau bin. Manchmal treffe ich Frauen, die mich für klug halten, weil ich kein Mann bin. Ich versuche niemals Vorurteile zu haben, und auch ich schaffe es nicht. Solange in diesem Land Menschen um ihre Ruhe, ihren Besitz, vielleicht sogar um ihr Leben fürchten müssen, weil sie anders leben, anders aussehen oder anders denken, als ihre Nachbarn, wird es immer wieder Geschichten geben, die der von Jenni ähneln. Irgend jemand sollte sie erzählen. Deutschland, im Herbst 1998
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Kapitel 1
Mißtrauisch beobachtete der Kioskverkäufer das dunkelhäutige Mädchen, das neugierig in seinen Zeitschriften herumstöberte. „Du nix anfassen. Du erst bezahlen, dann Zeitung“, sagte der alte Mann laut und hob drohend den Finger. Jenni zuckte kaum merklich zusammen. „Für jemanden der Zeitungen verkauft, beherrschen Sie Ihre eigene Muttersprache ziemlich miserabel“, erwiderte sie verächtlich. „Mir wäre das ja peinlich, hoffentlich können Sie wenigstens etwas besser lesen.“ Sie wollte noch viel mehr sagen. Etwas, das wenigstens annähernd so gemein war, wie das Kauderwelsch des Verkäufers. Damit er ein schlechtes Gewissen bekam, das ihn um den Schlaf brachte. Aber ihr fiel nichts ein. Statt dessen starrte ihr Gegenüber sie kampflustig an: „Denk bloß nicht, du bist hier willkommen, bloß weil du Deutsch kannst. Wir wollen keine Ausländer und Neger schon gar nicht.“ Jenni konnte die häßliche Szene nicht mehr ertragen. Als sie ging, kam es ihr vor, als hätte sie eine Schlacht verloren. Eigentlich hatte Jenni sich vorgenommen, auf solche Typen überhaupt nicht zu reagieren, so wie ihr Vater es ihr geraten hatte. Diese Dinge passierten eben ab und zu, wenn man anders aussah, als die meisten anderen. Sogar Jennis Lehrerin hatte sie damals, an ihrem ersten Tag im Gymnasium gefragt, ob denn ihre Sprachkenntnisse für den Unterricht ausreichten. Dabei war
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sie als Kind eines senegalesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Hamburg geboren. Schon seit dreizehn Jahren lebten sie in einer Kleinstadt im Norden, in der Jenni dennoch immer wieder für eine Fremde gehalten wurde. Nach ihrem Paß war sie Deutsche, aber wen interessierte das schon. „Erde an Jenni, Erde an Jenni, bitte melden.“ Jenni erschrak und drehte sich um. Es war Malte aus ihrer Klasse, der sie von seinem Fahrrad herunter breit angrinste. „Du sprichst wohl nicht mit jedem? Ich fahre schon eine ganze Weile neben dir her und rede über die wichtigsten Fragen des Lebens“, erklärte er gutgelaunt. „Und was sind die wichtigsten Fragen des Lebens?“ „Mit wem gehst du am Samstag zu Maikes Party?“ Jenni hatte gewußt, daß Malte sie einladen würde. Sie waren schon seit dem Kindergarten befreundet. Wenn es nach ihm ginge, könnten sie wahrscheinlich morgen schon heiraten, obwohl sie beide erst fünfzehn waren. Sie überlegte, ob sie dem Freund von dem Mann am Kiosk erzählen sollte. „Ich schätze, wir zwei gehen zusammen zu der Fete.“ Jenni zwang sich zu einem Lächeln, entschlossen, ihre Sorgen doch lieber für sich zu behalten. Insgeheim hatte sie gehofft, Sascha aus der Elften würde vielleicht am Samstagabend mit ihr ausgehen wollen. Malte seufzte. „Etwas mehr Begeisterung hätte ich schon erwartet. Schließlich hast du soeben eine Verabredung mit dem aufregendsten Mann der 10b ergattert. Herzlichen Glückwunsch.“ Er zwinkerte Jenni zu, strich sich eine widerspenstige, rote Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ sie dann stehen. Petra Schuster, die Besitzerin der Buchhandlung, schien nicht sonderlich begeistert zu sein, als sie Jenni erblickte. „Liebes Kind, du schlingst ja geradezu die Bücher in dich hinein. Gerade letz-
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te Woche hast du doch erst drei dicke Romane gekauft. Man sollte meinen, ein junges Mädchen in deinem Alter hätte andere Dinge im Kopf!“ rief sie. Die Stimme der Frau war laut und schrill und Jenni konnte sie nicht ausstehen. „Was wissen Sie denn, was ich im Kopf habe, liebe Frau Schuster.“ Sie versuchte einmal mehr, den Tonfall der Buchhändlerin nachzuahmen. Was ihr ziemlich treffend gelang, wie sie dem ärgerlichen Gesicht Petra Schusters und dem verhaltenen Lachen des pickeligen Lehrlings entnehmen konnte. Trotz der Chefin kam Jenni gerne in den Laden. Ihre Mutter arbeitete dort seit einem Jahr als Verkäuferin, so bekam sie auf jedes Buch, das sie kaufte, Ermäßigung. Niemand sonst nutzte dieses kleine Privileg so ausgiebig wie Jenni, die leidenschaftlich gerne las. Wahrscheinlich war sie schuld, wenn Schuster & Söhne die Großzügigkeit gegenüber seinen Angestellten bereute. Auch heute war sie auf der Suche nach einer guten Lektüre. Ein mieser Tag, fand Jenni, konnte durch ein spannendes Buch wenigstens erträglich enden. „Du kostest mich noch mal meine Stellung“, flüsterte plötzlich ihre Mutter hinter ihr. „Beeile dich, wir schließen in fünf Minuten.“ Jenni hatte nicht gewußt, wie spät es schon war. Obwohl die Mutter ungeduldig drängte, erstand sie noch einen heruntergesetzten Ratgeber „Wie mache ich meinen Traummann auf mich aufmerksam? Flirt - Tips einer Psychologin“. Frustriert über die magere Ausbeute legte sie im allerletzten Augenblick noch einen blindlings gegriffenen Roman dazu.
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Kapitel 2
Jenni lag spätabends auf ihrem Bett und versuchte sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn sie die Ratschläge von dieser angeblichen Diplom-Psychologin Dr. Barbara Birnbach befolgen würde. Eines war sicher: Die ganze Schule hätte mal wieder was zu lachen. „Brüllen Sie ihre Gefühle einmal vor allen aus sich heraus“, schlug die Expertin vor. Na klar, dachte sie, gleich morgen werde ich in die Elfte gehen und schreien: „Sascha, ich bin verrückt nach Dir.“ So ein Schwachsinn. Sie feuerte den Ratgeber in eine Ecke und wandte sich kichernd dem anderen neuen Buch zu. Das Deckblatt gefiel ihr. Es zeigte ein abgegriffenes Schwarz-Weiß-Foto, auf dem zwei Kinder am Meer zu sehen waren. Beide sahen mit großen, dunklen Augen direkt in die Kamera und wirkten seltsam anrührend auf Jenni. Sicher waren sie Geschwister. Der ältere Junge war ernst, beinahe anklagend, das kleine Mädchen dagegen lachte und sah ganz unbekümmert aus. Ein tolles Foto, fand Jenni und dachte daran, daß ihr Vater ein wirklich miserabler Fotograf war. Keines seiner Familienfotos war je etwas geworden. Aber sie hatte auch meistens wenig Lust, sich fotografieren zu lassen. Schließlich widmete sie sich dem Titel des Buches: „Die Geschichte der Familie Netzer“ stand in altdeutschen Buchstaben über dem alten Bild. Neugierig geworden schlug Jenni die erste Seite auf und begann zu lesen:
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Die Geschichte der Familie Netzer
1933 Thamar hätte niemals vermutet, daß ihr Vater so ein phantastischer Tänzer war. In seinen Armen schien sie nur so über das Parkett zu schweben, vergessen war all die Plagerei in Madame Forbets Tanzstunden, vergessen waren die lästigen Sommersprossen in ihrem Gesicht. Plötzlich kam ihr der Vater nicht mehr so alt und vernünftig vor. Er war ein junger Mann, der sie umwarb. Bald schon würden sie ein Paar sein. „Ich liebe dich“, hauchte sie. Die Worte klangen neu und großartig. Papa lachte und hob den Zeigefinger: „Du hast doch nicht etwa verbotenerweise von der Bowle genascht, Kind? Alkohol in deinem Alter ist ungesund und schickt sich nicht“, sagte er streng, aber seine Augen blitzten vergnügt. Nicht, daß Thamar den ganzen Abend nur mit ihrem Vater getanzt hätte. Sogar die Freunde ihres großen Bruders, die sonst so überheblichen Tertianer, hatten das zierliche Mädchen mit den kastanienbraunen Locken und den großen, dunklen Augen immer wieder aufgefordert. David selbst hatte den Eifer seiner Mitschüler mit einem verächtlichen Lächeln quittiert. Wahrscheinlich war der gutaussehende Fünfzehnjährige neidisch, weil er nicht, wie sonst immer, im Mittelpunkt stand. Der Bruder war mit Sicherheit die Katastrophe ihres Lebens. Vom Vater hatte er die blonden Haare geerbt, von der Mutter den dunklen Teint und die schwarzen Augen, die denen seiner Schwester so ähnlich sahen. David wurde heftig umschwärmt und hielt sich daher für unwiderstehlich. Hoffentlich würde er Thamar nicht am Ende noch den Abend verderben. Niemals würde sie dieses Fest vergessen. Es war das erste Mal, daß sie nicht mit den Kindern ins Bett geschickt wurde. Und obwohl sie erst zwölf war, wurde sie noch viel herzlicher
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in den Kreis der Feiernden aufgenommen, als sie es sich erträumt hatte. Später stand Thamar allein am Büfett und beobachtete die vielen vergnügten Gäste. Sie überlegte, warum Papa ihr so unvermittelt erlaubt hatte, an dem Fest teilzunehmen. Noch vor wenigen Tagen hatte er auf ihr sehnsüchtiges Bitten unnachgiebig, fast ärgerlich reagiert. „Eine Zwölfjährige auf einem Ball, das ist einfach lächerlich“, hatte er gesagt. „Nach alter Familientradition darfst auch du mit vierzehn Jahren mit den Erwachsenen feiern, keinen Tag früher.“ Heute morgen dann hieß es plötzlich: „Wenn sie eben so versessen drauf ist, soll sie feiern.“ Und da war sie nun – eine staunende Beobachterin zwischen all den vornehmen Leuten. „Vielleicht hatte Papa eine böse Ahnung. Und er hat sich gedacht, du solltest wenigstens einmal in deinem Leben ein großes Fest erleben“, flüsterte plötzlich eine finstere Stimme hinter Thamar. Immer mußte David sie erschrecken! „Was für eine Ahnung?“ fragte sie den Bruder beunruhigt. „Ich werde bestimmt noch auf viel größeren Bällen tanzen, schließlich bin ich erst zwölf.“ – „Möglicherweise war das aber schon dein letzter Tanz, Süße. Wenn du nicht so ein kleines Mädchen wärst, hättest du gehört, was die Leute in den Straßen reden: ‚Es brechen neue Zeiten für Deutschland an’, sagen sie. ‚Große Zeiten’, meinen die einen, ‚schlimme Zeiten’, die anderen. Jedenfalls haben wir Juden vielleicht bald keinen Grund mehr zum Feiern. Frag Papa.“ Doch dazu kam sie nicht mehr. Es war jetzt kurz vor Mitternacht und die bunte Gesellschaft strömte ausgelassen auf die Terrasse. Plötzlich gab es einen lauten Trommelwirbel, die Menge zählte begeistert von zehn abwärts. Mit dem schönsten und prächtigsten Feuerwerk, das Thamar je gesehen hatte, begrüßten die Feiernden das neue Jahr 1933. Es gab Sekt, auch
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für sie, und die Leute fielen sich in die Arme und küßten sich. Künstler und Professoren, Ärzte und Schriftsteller, Lehrer, Philosophen und sogar die Hausangestellten riefen sich fröhlich „Prosit Neujahr“ zu. Von schlimmen Zeiten keine Spur. Thamar wurde bald darauf nun doch zum Schlafen geschickt. Das Fest ging aber bis weit in den Neujahrsmorgen hinein. Noch lange lag Thamar wach, hörte unten die Musik und dachte an Davids drohende Worte. Er sagte gern Dinge, die der kleinen Schwester Angst machen sollten, und er hatte fast immer Erfolg. Beinahe hätte er es damit sogar geschafft, Thamar das erste große Fest zu verderben. Aber nur beinahe. * Der erste Schultag nach den Weihnachtsferien verhieß nichts Gutes. Schon beim Frühstück stritten sich Mama und Papa heftig über Politik. Wenn die Nationalsozialisten an die Macht kämen, könne das Leben für Juden in Deutschland sehr gefährlich werden, fürchtete der Vater. Mama dagegen war wütend, daß, wie sie sagte, Papa immer alles übertreiben mußte. „Ich interessiere mich nicht für Adolf Hitler und seine Partei, warum sollte er sich also für mich interessieren? Nur du machst natürlich wieder ein Drama daraus“, schimpfte sie. Thamar wußte wenig über die Nazis. Denn eigentlich war dieses Thema im Hause Netzer tabu. Ihr Anführer Hitler glaubte jedenfalls, die Juden seien Schuld an den vielen Armen und Arbeitslosen und daran, daß es Deutschland so schlecht ging. Meistens prügelten sich die braunen Horden mit den Kommunisten, oder marschierten mit ihren Hakenkreuzfahnen durch die Straßen der Stadt. Eigentlich, überlegte Thamar, waren ihr die Nazis ganz egal.
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Sie verstand nicht, was ihre eigene Familie mit denen zu tun haben sollte. Und richtige Juden waren sie ohnehin nicht. Sogar der Sabbath war bei ihnen ein Tag wie jeder andere. Auch den hohen jüdischen Feiertagen schenkte die Familie kaum Beachtung, und nur sehr, sehr selten gingen sie alle zusammen in die Synagoge. „Na ja, so schlimm wird es schon nicht werden“, sagte Papa schließlich. Aber sein Gesicht blieb ernst und besorgt. Wahrscheinlich wollte er nur Mama beruhigen. Später in der Schule erzählte Thamar den anderen Mädchen von der großen Silvesterfeier. Staunend hörten die Freundinnen den ausschweifenden Schilderungen zu, stellten sich vor, sie wären dabei gewesen. „Ihr Juden habt jetzt lange genug auf Kosten von ehrlichen Deutschen wie die Könige gelebt“, mischte sich plötzlich die unausstehliche Lena Funke ins Gespräch. „Jetzt sind wir mal dran, sagt mein Vater, wartet’s nur ab.“ Ihre Augen funkelten boshaft und ihre Miene war genauso siegessicher, wie die der marschierenden Pimpfe. Thamar konnte das große Mädchen nicht leiden. Lena war hinterhältig, immer eifersüchtig und eine Petze. Leider war sie ziemlich stark, sogar ein paar Jungen hatten Angst vor ihr. „Wir kosten niemanden irgend etwas. Mein Papa ist Arzt, der vielen Menschen hilft. Und wir sind ehrliche Deutsche, dein Vater ist ein Lügner, wenn er solche Gemeinheiten erzählt. Papa hat deinem Bruder sogar letztes Jahr umsonst die Nase geflickt, so sieht’s aus.“ Ein heftiger Hieb ins Gesicht beendete Thamars Redeschwall. Lena hatte einfach zugeschlagen. Jetzt mußte sie sich wehren, auch wenn sie sich fürchtete. Sekunden später wälzten sich die beiden Mädchen unter lautem Gejohle der anderen auf dem Boden des Pausenhofs. Thamar hatte keine Chance. Die Gegnerin kämpfte rücksichtslos und kannte die richtigen Griffe, um ihr weh zu tun. Schon immer hatte die zierliche Thamar Prügeleien gehaßt. Sie gab ja zu, nicht besonders mutig zu sein.
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Schmerzen zu ertragen war einfach nicht ihre Stärke. Als der gutmütige Lehrer Aichner die zwei schließlich trennte, bekam Thamar seine Schelte kaum mit, so erschrocken war sie über ihre blutende Nase. Worum es denn gegangen sei, wollte Herr Aichner wissen. Und wie aus einem Munde antworteten alle beide: „Um Gerechtigkeit.“ „Wenn alle Nazis so wären wie Lena Funke, dann wären sie nicht gefährlich“, behauptete David am Abend. „Aber die ist unheimlich gefährlich, sie hat sogar meine Nase blutig geschlagen.“ Thamar funkelte den Bruder wütend an, aber der grinste nur. „Weil du zu schwächlich bist, dich kann jeder umpusten. Trotzdem ist die kleine Rotznase harmlos, weil sie nicht gescheit ist. Ihr Vater ist genauso dumm. Richtig gefährlich sind aber nur die klugen Nazis, die die Dummen anführen.“ „Genug jetzt“, sagte der Vater ärgerlich. „Ich dulde diese Ausdrucksweise nicht in meinem Haus. Es steht dir nicht zu, Erwachsene als dumm zu bezeichnen.“ David gab immer vor, alles genau zu wissen und jeden zu durchschauen, dachte Thamar. Dabei war er nur ein eitler Aufschneider. „Mädchen sollten sich nicht prügeln, Kind, das ist so entsetzlich ordinär“, unterbrach Mama ihre Gedanken, aber Papa meinte: „Wenn sie bedroht wird, muß sie sich wehren.“
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Kapitel 3
Jenni konnte dem Unterricht heute beim besten Willen nicht folgen. Ihre Gedanken drehten sich um David Netzer. Was für ein Volltreffer. Genau ihr Alter, schlagfertig und intelligent. Nach der Schilderung im Buch mußte er einfach phantastisch aussehen. David Netzer könnte ohne Frage der Mann fürs Leben sein. Er hatte nur einen Nachteil: Er war eine Romanfigur. Jenni verknallte sich meistens in die Helden ihrer Bücher. Schon eine kurze Beschreibung genügte, den Rest besorgte ihre lebhafte Phantasie. Aber wo blieben Typen wie er im wirklichen Leben? Hoffentlich würde ihm in der Geschichte nichts geschehen. Fast fürchtete Jenni sich weiterzulesen. Sie war nicht sicher, ob sie miterleben wollte, wie für die jüdische Familie Netzer das Leben in Deutschland zur Hölle wurde. Genau das würde aber passieren. Heute weiß schließlich jeder, was die Nazis den Juden angetan haben, dachte Jenni und grübelte, warum so viele damals erst zu spät bemerkt hatten, wie ernst und gefährlich die Lage gewesen war. „Nun Jenni, vielleicht könntest du uns etwas dazu erzählen.“ Frau Meissner, die Sozialkundelehrerin der 10b hatte die unangenehme Angewohnheit, abwesende Schüler aus ihren Träumen zu reißen. „Tut mir leid, aber ich habe gerade überhaupt nicht zugehört“,
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gestand Jenni freimütig, doch die Lehrerin war hartnäckig. „Das ist mir nicht entgangen. Malte wird dich sicher informieren, worum es geht.“ Malte sah seine Freundin entschuldigend an: „Wir sprechen über die Sache in Bremen“, murmelte er. „Was für eine Sache in Bremen?“ Sie hatte keine Ahnung, wovon die Rede war. Im Klassenzimmer brach Gelächter aus. „Das ist typisch. Die, die es am meisten angeht, weiß von nichts“, rief Katja, von der jeder wußte, daß sie in Malte verknallt war. „Genug jetzt!“ Die Lehrerin wurde ungeduldig. „Gestern Abend sind in Bremen vier junge Türken von Skinheads zusammengeschlagen und schwer verletzt worden. Wir wollen jetzt gerne von dir hören, ob du als Ausländerin dich in Deutschland bedroht fühlst. Wie ist es für deine Familie, hier zu leben?“ Erwartungsvoll waren die Augen von Frau Meissner und der ganzen Klasse auf Jenni gerichtet. Jenni spürte, daß ihr die Tränen kamen und sie wußte nicht warum. „Dazu kann ich überhaupt nichts sagen“, flüsterte sie. „Ich bin keine Ausländerin.“ Nach der Stunde wartete Malte vor dem Klassenzimmer auf Jenni. „Hey, tut mir wirklich leid, was eben passiert ist“, sagte er und ergriff vorsichtig ihre Hand. „Spinnst du?“ Empört stieß sie ihn zur Seite und strich sich hochnäsig durch die lange, schwarze Lockenmähne. „Wenn uns jemand sieht, denken alle, du willst was von mir“, flüsterte sie. Malte grinste. „Und wenn schon. Ich will ja auch was von dir.“ „Vergiß es, okay. Außerdem brauchst du nicht so zu tun, als ob du mich verstehst, wenn du es sowieso nicht tust.“ Resigniert schüttelte er den Kopf. „Also gut, ich verstehe dich nicht. Warum bist du eben bei Frau Meissner so ausgerastet?“ Jenni seufzte. „Weil ich es satt habe, daß mich alle wie eine Fremde behandeln, nur weil ich zufällig eine dunkle Haut und
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schwarze Haare habe. Ich habe mein ganzes Leben in diesem Land verbracht und unsere kleine Stadt ist zufällig mein Zuhause.“ Sie holte tief Luft. Nachdenklich betrachtete Malte die Freundin. „Trotzdem hättest du ja erzählen können, wie man sich hier als Ausländerin fühlt. Gerade weil dich alle so behandeln“, sagte er. Heftig schüttelte sie den Kopf. „Eben nicht! Ich interessiere mich nicht für Ausländer. Ich will ganz einfach meine Ruhe haben.“ Damit ließ Jenni ihren alten Freund und Verehrer stehen und verließ fluchtartig das Luisen-Gymnasium. Die kalte, klare Herbstluft tat ihr gut, als sie so schnell sie konnte nach Hause radelte. Jenni nahm den Weg durch die belebte Altstadt. Sie liebte die engen Gassen mit den alten, frisch restaurierten Fachwerkhäusern. In der Fußgängerzone herrschte, wie immer an Wochentagen, buntes Treiben und die älteren Leute riefen dem Mädchen ärgerlich zu, sie solle gefälligst vom Rad absteigen. Ein ganz normaler Tag in einer ganz normalen Kleinstadt. So, wie Jenni es mochte. Fast hatte sie ihren Ärger über Malte, Frau Meissner und ihre Klasse vergessen. Was wußten die schon? Eigentlich hätte sie heute noch zwei Stunden Sport gehabt, aber sie beschloß, sich ausnahmsweise ein wenig Extrazeit zum Lesen zu gönnen. „Die Geschichte der Familie Netzer“ fesselte Jenni, obwohl Nazis und die Judenverfolgung nicht gerade zu ihren Lieblingsthemen gehörten. Ebenso wenig, wie das ewige Gerede über wachsenden Rechtsextremismus. Die Katastrophe ereignete sich nur zwei Straßen entfernt von Zuhause. Eigentlich geschah in der friedlichen Wohngegend mit Ein- und Mehrfamilienhäusern nie etwas, was Jenni oft genug beklagte. Immerhin lebte sie dort mit ihrer Familie nicht in einem der vielen langweiligen Neubauten, sondern in dem zweifellos
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ältesten Gebäude des Viertels. Die prachtvolle Villa aus der Gründerzeit brauchte zwar dringend einen frischen Anstrich und auch das spitze Türmchen sah aus, als würde es beim nächsten Sturm einfach auf die Straße wehen, aber Jenni liebte ihr Zuhause. Nur schade, daß darin außer ihrer, noch vier andere Familien wohnten. Viele Nachbarn mochten die Villa nicht. Sie sei baufällig und passe heute nicht mehr in die Gegend, meinten sie. Nett und grausig öde, fand Jenni dagegen, außer ihrem Haus, das restliche Wohngebiet. „Spießig“ betitelte Malte die gepflegten und ordentlich umzäunten Vorgärten, über die Jenni jetzt vom Fahrrad aus ihren Blick schweifen lies. Sie war fast daheim. Schon von weitem hörte Jenni das laute Weinen der kleinen Maryam, die mit ihrer Familie im gleichen Haus wie Jenni wohnte. Fünf Halbwüchsige standen bedrohlich im Halbkreis um das türkische Mädchen. Bomberjacken, Springerstiefel und kahl rasierte Köpfe ließen an der rechtsextremen Gesinnung der Jungen keinen Zweifel. Das waren Skinheads und die haßten alle Türken. Jenni stoppte ihr Fahrrad direkt vor der kleinen Gruppe. „Was wollt ihr Mistkerle“, rief sie wütend und dann erkannte sie, was geschehen war: Sie hatten der Sechsjährigen ihr kleines Kätzchen aus den Armen gerissen und warfen sich das wimmernde Tier gegenseitig zu. Mit tränenüberströmtem Gesicht flehte Maryam ihre Peiniger an, ihr die Katze zurückzugeben. „Bitte, tut ihr nicht weh, sie ist doch noch so klein.“ Das Kind schrie verzweifelt. „Jenni, hilf mir. Tu doch was!“ „Na los, Niggerhure, tu doch was“, grölten die Angreifer und setzten ihr grausames Spiel fort.
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Fassungslos erkannte Jenni plötzlich zwei der Jungen. Es waren die Zwillinge Marco und Björn. Die beiden waren so alt wie sie und wohnten in der selben Straße. „Marco! Björn!“ schrie Jenni, als könnte allein das Rufen ihrer Namen die Brüder zur Vernunft bringen. „Wir sind doch Nachbarn!“ „Auf solche dreckige Nachbarschaft können wir scheißen“, rief einer der beiden. Den Jungen schien aber ihr Spiel sichtlich langweilig zu werden. „Lauf nach Hause und ruf die Polizei“, flüsterte Jenni der zitternden Maryam zu. Aber es war zu spät. Ohne jede Vorwarnung ergriff Marco plötzlich die Katze und schleuderte sie mit voller Wucht auf die Straße. Genau vor das nächste Auto, das viel zu schnell durch das Wohngebiet raste. Der Fahrer des Wagens hatte keine Chance zu bremsen oder auszuweichen. Und er versuchte es auch gar nicht. Es gab ein dumpfes Geräusch, das sterbende Tier jaulte auf. Das Auto fuhr davon. Maryams Katze war tot. „Dafür werdet ihr bezahlen“, kreischte Jenni den flüchtenden Skinheads hinterher. Verzweifelt versuchte sie, das schreiende Kind davon abzuhalten, zu der blutigen Tierleiche auf die Straße zu laufen. Das bleibt nicht ungestraft, schwor sich Jenni.
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Kapitel 4
Die Gerechtigkeit ließ auf sich warten. Vor der Polizei, die Jenni selbst angerufen hatte, sagten Marco und Björn, alles wäre nur ein Unfall gewesen. Klar hätten sie das kleine Mädchen ärgern wollen, aber sie hätten nie vorgehabt, ihr oder der Katze etwas zu tun. Es täte ihnen jetzt alles sehr leid. Unfälle mit jungen Tieren im Straßenverkehr gäbe es leider viel zu oft, meinten die Polizisten. Sie sprachen ein paar ermahnende Worte und gingen wieder. Von den anderen Jungen fehlte jede Spur. Jenni war die einzige, die den Beamten den Vorfall geschildert hatte. Denn die kleine Maryam stand unter Schock und es fanden sich keine weiteren Zeugen. Am Abend entschlossen sich Maryams Eltern, keine Anzeige zu erstatten. Der Vater der Zwillinge hatte der Familie am Telefon sein Bedauern erklärt und auch die Brüder mußten sich entschuldigen. „Wir sind einfache Menschen und wollen nichts mit dem Gesetz zu tun haben“, sagte Maryams Vater. Seine Frau blieb stumm. Auf der Wache bekam Jenni für einen kurzen Moment Marco zu fassen. „Warum habt ihr das getan“, fragte sie traurig. „Du hast doch auch einen Hund, den du lieb hast.“ Der Skinhead schnaubte verächtlich. „Und wenn schon. Das war doch nur ‘ne türkische Katze.“
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Als Jenni endlich nach Hause kam, wußten ihre Eltern längst Bescheid. „Das ganze ist vor allem ein Dumme-Jungen-Streich“, meinte der Vater. „In dem Alter denken sie alle, sie wären die Stärksten. Später normalisiert sich das schon wieder.“ Jenni haßte es, wenn ihr Vater versuchte, alles zu beschönigen. Aber bevor sie etwas entgegnen konnte, nahm er seine Tochter in den Arm und sagte: „Das war ein harter Tag für dich. Denk nicht mehr dran und geh jetzt ins Bett.“ Müde und erschöpft begann Jenni zu weinen. „Das war ein gemeines Verbrechen und die Täter müssen bestraft werden.“ „Sicher, meine Kleine.“ Er strich beruhigend über ihren Arm. „Aber das sollten ihre Väter übernehmen und nicht die Polizei.“ Zunächst sah es tatsächlich so aus, als würde genau das geschehen. Zumindest was Björn und Marco anging. Nie wieder wurden die beiden in der Öffentlichkeit mit Springerstiefeln und Bomberjacken, der Kluft der Neonazis, gesehen. Statt dessen trugen sie jetzt ganz unauffällige Kleidung und nachmittags mußten sie im Fahrradgeschäft ihres Vaters helfen. „Siehst du, wie ich es gesagt habe“, erklärte Jennis Vater zufrieden. „Mit ein wenig Disziplin biegt man diese Kerle schon wieder hin.“ Jenni hielt zwar überhaupt nichts von seinen Sprüchen über Disziplin, aber sie wollte dennoch nur zu gern glauben, daß er recht hatte. Heute war es eben nicht mehr so wie früher, als die Nationalsozialisten Deutschland beherrscht hatten. Heute kamen sogar viele ihrer deutschen Nachbarn gemeinsam zu Maryam und ihrer Familie und schenkten dem Kind ein neues Kätzchen. Nur die Eltern der Zwillinge, die das Unheil angerichtet hatten, waren nicht darunter. Aber trotzdem: Alles war in Ordnung.
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Jetzt erst hatte Jenni die Kraft, „Die Geschichte der Familie Netzer“ weiterzulesen: In der Winternacht, in der die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen, ging Papa allein fort, um den großen Triumphzug zu Ehren des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler mit eigenen Augen zu sehen. Erst als über der Stadt schon der Morgen graute, kam er zurück und brachte David mit. Beide waren sehr betrunken. Mama empfing sie schon im Treppenhaus. Sie hatte nur ihren Morgenmantel an, ihre Haare waren zerzaust und sie war außer sich vor Wut. „Wo hast du dich herumgetrieben, Simon Netzer? Den guten Ruf deiner Familie ziehst du mit deiner Trinkerei in den Schmutz! Wie konntest du auch noch unseren Sohn zu diesem sinnlosen Besäufnis verführen?“ Mamas Stimme mußte im ganzen Haus zu hören sein. Verwirrt stand Thamar oben an der Treppe und beobachtete die Szene. In der Tür zum Wohnzimmer drückten sich neugierig die Hausmädchen Tina und Ilse herum. „Seht euch an, ihr seht grauenhaft aus“, schimpfte Mama weiter, aber Papa begann plötzlich zu lachen. „Was ist so komisch?“ „Weißt du, Liebes, du siehst eigentlich auch nicht viel besser aus“, sagte er schmunzelnd. Plötzlich begann er ein jiddisches Lied zu singen, ergriff die Hände seiner Frau und zwang sie mit sanfter Gewalt zum Tanzen. David fiel in den Gesang des Vaters ein. Er holte sich die frierende Thamar vom Treppenabsatz und so tanzten sie alle vier vor den staunenden Blicken der Hausmädchen. Thamar hatte geglaubt, daß sich mit einem Schlag ihr ganzes Leben verändern würde, wenn die Nazis in Deutschland regier-
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ten. Sie hatte abends lange wach gelegen, an die drohenden Prophezeiungen ihres Bruders gedacht und sich gefürchtet. Aber tatsächlich änderte sich gar nichts! Papa hatte einflußreiche Freunde, die keine Juden waren und ihm immer wieder versicherten, daß er sich keine Sorgen um seine Familie und um sich zu machen brauche. Kaum jemand gäbe wirklich etwas auf das rassistische Gerede der neuen Machthaber. Auch alle Patienten sagten, sie würden immer zu Papa halten. Da würde sich dieser Herr Hitler schon etwas anderes ausdenken müssen. * In den nächsten Wochen bauten die Nationalsozialisten ihre Macht immer weiter aus. An einem Morgen im März erschien David in seinem besten schwarzen Anzug zum Frühstück. „Was soll das“, rief Mama ärgerlich. „Dieser Anzug ist nicht für die Schule bestimmt.“ Der Bruder machte ein ernstes Gesicht. „Ich bin in Trauer. Denn die Freiheit ist tot und wird in diesen Tagen zu Grabe getragen“, erklärte er mit gewichtiger Stimme. Erschrocken blickte Thamar ihre Eltern an. „Was meint er damit?“ David lachte laut. „Ich meine, daß die Nazis gesiegt haben. Die können jetzt alles machen, was sie wollen.“ „Stimmt das, Papa?“ fragte Thamar ängstlich. „Natürlich nicht.“ Papa war wütend. „Hör endlich auf, deiner Schwester Angst zu machen“, sagte er an seinen Sohn gewandt. „Zieh dir sofort etwas anderes an und geh zur Schule.“ Achselzuckend tat David, was Papa ihm befohlen hatte. Er ließ eine bedrückte Familie am Tisch zurück. „Wieso hat David gesagt, die NSDAP könne machen was sie
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will?“ Thamar versuchte, so erwachsen und vernünftig wie möglich zu klingen. „Die Nationalsozialisten haben ein Gesetz erlassen, das ihnen sehr, sehr viel Macht gibt“, erklärte Papa. „Aber David übertreibt. Die Zeiten werden sich schon wieder beruhigen.“ Mama nickte nachdenklich. „Dein Vater hat recht. Es ist eine unruhige Zeit. Das geht vorbei, Thamar, sorge dicht nicht.“ Silvester hatte David von „schlimmen Zeiten“ gesprochen! Jetzt überlegte Thamar, ob „unruhige Zeiten“ dasselbe bedeuten sollten. Dann erinnerte sie sich, daß vor einigen Wochen der Reichstag gebrannt hatte. Da war in Berlin allerdings wirklich Unruhe gewesen. Überall in der Stadt hatte man das Geheule der Feuerwehr hören können. Eigentlich war das ganz spannend. * Thamar wollte sich nicht mehr von ihrem Bruder verrückt machen lassen. Ihre beste Freundin Klara meinte auch, sie wäre jetzt einfach zu alt, um David alles zu glauben. An diesem Samstag kam Klara nach der Schule mit zu ihr und sie wollten den eingebildeten Wichtigtuer gemeinsam hereinlegen. Es war der erste April 1933. Kichernd und lachend machten sich die beiden Mädchen nach der letzten Stunde auf den Heimweg. Sie waren schon fast am Hause der Netzers angekommen, als sie die Gruppe der raufenden Jungen bemerkten. Es waren David und sein Freund Christoph, die sich erbittert mit drei Hitlerjungen in Uniform schlugen. Immer mußte der Bruder sich prügeln. Zwei der fremden Jungen hatten blutige Nasen und auch David hatte schon einige Schrammen. überall war weiße Farbe,
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auf dem Bürgersteig, auf den Kleidern und sogar auf den Gesichtern der Jungen. Ratlos blieben die Mädchen ein wenig abseits stehen. „Hört doch auf, euch zu schlagen“, rief Thamar, aber Klara schrie: „Gebt’s den Kerlen!“ Dann lief sie zu der kleinen Gruppe und begann, einem der Hitlerjungen immer wieder mit ihrer Schultasche auf den Kopf zu hauen. Schließlich schafften sie es, die drei Braunhemden in die Flucht zu schlagen, gerade als Mama und das Hausmädchen Tina wegen des Krachs auf die Straße gelaufen kamen. „Was ist denn hier passiert?“ Auf Mamas Gesicht machte sich Entsetzen breit. David und Christoph sahen schlimm aus, aber sie fühlten sich als Sieger. Auch Klara grinste stolz. „Wo kommt all die Farbe her?“ fragte Tina. „Diese Dreckskerle wollten Papas Schild beschmieren, aber wir sind ihnen zuvor gekommen.“ David zeigte auf das große Messingschild direkt neben der Eingangspforte. „Dr. Simon Netzer. Praktischer Arzt“ stand darauf. Von einem großen, hingeschmierten „J“ mitten auf dem Schriftzug tropfte noch die weiße Farbe herunter. Ein paar Meter weiter lagen der leere Farbeimer und der Pinsel auf dem Gehsteig. Angewidert blickte Mama auf das Durcheinander. „Das ist abscheulich“, sagte sie. „Tina, Sie werden mit Ilse die Farbe entfernen, auch von dem Gehsteig, bitte. Und ihr kommt alle mit herein und laßt euch von Papa verarzten.“ Dr. Netzer saß in seiner Praxis am Schreibtisch und machte ein trübsinniges Gesicht, mußte aber lachen, als er die weiße Farbe auf den Kindern sah. „Habt ihr euch mit einem Maler geprügelt“, fragte er grinsend. „Geht euch waschen und umziehen, bevor ich eure Schrammen behandle.“ Die drei zogen ab. Nur Thamar, die nicht mitgekämpft hatte, blieb allein mit ihrem Vater zurück.
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„Und du“, sagte er freundlich, „du hältst immer noch nicht viel von Schlägereien, was? Kluges Mädchen.“ Eine Weile saß Thamar schweigend auf der Liege für die Patienten und sah Papa bei der Schreibarbeit zu. „Warum haben die Hitlerjungen das getan“, fragte sie. Papa antwortete nicht gleich. „Die NSDAP hat für heute einen Boykott jüdischer Geschäfte, Einrichtungen und auch Ärzte befohlen. Schon gestern sind viele meiner nichtjüdischen Patienten einfach nicht gekommen, einige haben auch für Montag abgesagt.“ Er sah niedergeschlagen aus. „Ist Fräulein Born heute auch nicht gekommen?“ wollte Thamar wissen. Sie hatte die fröhliche Sprechstundenhilfe sehr gern. Meistens half Fräulein Born Papa am Samstag bei den Büroarbeiten. Papa schüttelte den Kopf. „Nein, die habe ich nach Hause geschickt.“ Die Tür sprang auf und Klara stürmte herein. „Jetzt können Sie mich behandeln“, rief sie. „Ich habe eine große Beule und einen Schnupfen. Und ich mache den Boykott jedenfalls nicht mit.“ * Damit schienen die „unruhigen Zeiten“ erst einmal vorüber. Am Dienstag waren alle Patienten wieder da. Sogar diejenigen, die schon in den Tagen davor nicht erschienen waren, kamen und wollten ihren Termin nachholen. Papa war froh, daß er so viel zu tun hatte und nicht einmal David wagte, ihm die gute Stimmung durch seine bedrohlichen Vorhersagen zu vermiesen. Am Abend beschlossen Mama und Papa, sich künftig nicht mehr um die Nationalsozialisten zu kümmern. Freunde der Eltern waren zu Besuch gekommen und meinten, Hitler würde sich ohnehin nicht länger als ein Jahr halten können. Man müsse nur abwarten.
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„Ich habe Vertrauen in unsere Mitbürger“, sagte Papa ganz ruhig. „Ich werde mich nicht verrückt machen lassen. Nicht wegen ein bißchen Farbe auf dem Gehsteig.“ Papa lachte und die anderen Erwachsenen stimmten ihm zu. David und Thamar hatten dem Gespräch durch die halb geöffnete Wohnzimmertür zugehört. Davids Gesicht verfinsterte sich und er verließ schweigend das Haus. Thamar dagegen fühlte sich glücklich. Die gute Stimmung der Eltern übertrug sich auf sie. Ihnen würde nichts geschehen. Alles war in bester Ordnung.
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Kapitel 5
Ärgerlich blickte Jenni von ihrem Buch auf. Wie konnten die Netzers nur so dumm sein und glauben, alles wäre halb so wild? Zwar hatten sie im Geschichtsunterricht darüber gesprochen, daß viele Juden damals die Gefahr erst zu spät erkannt hätten. Aber irgendwie erschien Jenni das unlogisch. Hitler hatte nie ein Geheimnis um seinen Judenhaß gemacht. Die Familie im Buch hatte doch offensichtlich genug Geld, um rechtzeitig das Land zu verlassen. Welcher normale Mensch würde da freiwillig bleiben, bis es zu spät war! Jenni störte die Arglosigkeit der Netzers so sehr, daß sie das Buch beiseite legte. Sie hatte ohnehin viel zu viel für die Schule zu tun, sagte sie beinahe entschuldigend zu sich selbst. Obwohl sie nicht weiter las, ertappte sie sich ziemlich oft dabei, wie sie über die Geschichte der Familie Netzer nachgrübelte. Bis ihre Aufmerksamkeit auf ein viel wichtigeres Ereignis der Gegenwart gelenkt wurde. * Irgendwie kam sich Jenni lächerlich vor. Knallenger Minirock aus dunkelgrünem Wildleder, die weiße Seidenbluse mit dem tiefen Ausschnitt und halbhohe Pumps – das war nicht ihre Welt.
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„Also, ich weiß nicht. Ich fühle mich so verkleidet.“ Jenni betrachtete ihr Spiegelbild stirnrunzelnd. „Du siehst toll aus“, sagte Laura aufmunternd und Jenni stimmte zu. Seit einer Stunde waren die drei Mädchen aus der 10b damit beschäftigt, sich in Lauras mit romantischen Kitschpostern vollgehängtem Zimmer gemeinsam für den Samstagabend im FunHouse fertigzumachen. Das Fun-House war die einzige Disco in der kleinen Stadt. Jeder fand sie ätzend und jeder ging hin. Jenni langweilten schon die endlosen Vorbereitungen. Sehnsüchtig schaute sie auf den Boden, wo ihre Lieblingsjeans und das karierte Holzfällerhemd zerknüllt herumlagen. „Diese blöden Strumpfhosen jucken und ich werde erfrieren.“ Sie kratzte sich am Bein. „Laß das, sonst kriegst du ‘ne Laufmasche“, tadelte Laura. „Mit deinem Schlabber-Look machst du Sascha niemals auf dich aufmerksam. Und das willst du doch, oder?“ Jenni nickte. Und ob sie wollte! „Ich verstehe einfach nicht, warum du dir nicht öfter mal was Schickes anziehst.“ Maike steckte sich eine Zigarette an und blies ihr den Rauch ins Gesicht. „Jungs mit Stil mögen das, und es wird wirklich Zeit, daß du einen festen Freund kriegst. Du bist ‘ne richtige Spätentwicklerin, Jenni Baby.“ Jenni haßte diese Sprüche. Maike und Laura hatten beide einen Freund und meinten, sie wären ihr um mindestens zehn Jahre voraus. Vor allem maike, die schon ein Jahr mit Michi zusammen war. Ich bin eben wählerisch, dachte Jenni trotzig. Maike und Laura sollten recht behalten: Das ungeliebte neue Outfit verfehlte seine Wirkung nicht. Jenni wurde im Fun-House von allen Seiten heftig umschwärmt. Aber was natürlich viel wichtiger war: Sascha nahm endlich Notiz von ihr. Und wie. Schon, als er ihr von den Billiardtischen aus zulächelte, begann Jennis Herz höher zu schlagen.
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Dann aber tat Maike das Unglaubliche: Sie schlenderte gelassen zur Clique der Oberstufenschüler hinüber und unterhielt sich mit Sascha. Nach einer Weile schauten beide in Jennis Richtung. Sicher sprachen sie über sie. Was mochte diese verdammte Maike ihm wohl erzählt haben? Immer mußte sie sich einmischen. Schließlich kam Sascha mit einem etwas zu selbstgefälligen Grinsen auf sie zu. Und sprach sie an. Eigentlich redete er von da an die ganze Zeit. Nur leider verstand Jenni kein Wort, weil die Musik so laut war. Also nickte und lächelte sie und Sascha schien das zu genügen. Später tanzten sie zusammen. Das heißt, sie tanzten ausgelassen nebeneinander her. Sascha wußte, daß er gut aussah. Das braune, leicht gewellte Haar war perfekt geschnitten und seine grünen Augen strahlten. Es war ein Mordsspaß. Jenni konnte ihr Glück kaum fassen. Sie tanzte mit Sascha, dem anerkannten Traummann des LuisenGymnasiums. Volltreffer. Von wegen Spätentwicklerin. Natürlich ernteten die beiden auf der überfüllten Tanzfläche massenhaft bewundernde und neidvolle Blicke. Jenni wollte sich gerade erschöpft an die Bar zurückziehen, da legte der DJ wie auf Bestellung ein langsames Lied auf. Schüchtern war Sascha jedenfalls nicht. Er hielt Jenni engumschlungen, schien seine Hände und seine Lippen überall zu haben. Aber irgend etwas war falsch daran. Zu viel Rasierwasser, dachte sie, und: Hoffentlich trete ich ihm nicht auf die Füße. Endlich war der Song zu Ende und Jenni flüchtete von der Tanzfläche. Sie fühlte sich verwirrt und unsicher. Wahrscheinlich hatte sie sich wie der letzte Trottel angestellt und Sascha würde mit seinen Freunden über sie lachen. Zehn Minuten später fuhr Sascha sie mit seiner knallroten Vespa nach Hause.
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Also habe ich mich doch nicht völlig blamiert, überlegte Jenni, während sie sich frierend an Sascha festklammerte. Immerhin fuhr er sie mit dem Motorroller spazieren. Was bei der herbstlichen Kälte allerdings ein zweifelhaftes Vergnügen war. Nach drei Extrarunden durch die Stadt hielt er vor ihrem Haus an. Jenni knetete zitternd ihre klammen Finger. „Na, wie war das?“ fragte Sascha stolz und nahm den Helm ab. „Kalt.“ Warum sollte sie ihm Begeisterung vorspielen? Falls er sich über ihre Antwort ärgerte, zeigte er es nicht. Statt dessen lächelte er und zog Jenni zu sich heran. Jetzt küßt er mich, dachte sie panisch und merkte, wie sie sich verkrampfte. Dann fühlte sie auf einmal seine Zunge auf ihren Lippen. Unwillkürlich biß sie die Zähne aufeinander. Sascha wich zurück. „Du hast wohl nicht viel Erfahrung mit Männern, was Jenni.“ Sie schüttelte den Kopf. „Macht ja nichts“, sagte er gönnerhaft. „Das kriegen wir schon hin.“ Lautstark startete er seine Vespa. „Ich ruf dich an“, versprach er noch und brauste davon. Soll das jetzt alles sein, fragte sich Jenni enttäuscht. Bin ich jetzt also endlich verliebt und das ist nun das größte auf Erden?“ Wahrscheinlich bin ich keine Spät- sondern eine Gar-NichtEntwicklerin“, murmelte sie. Ein wenig komisch war die ganze Geschichte schon. Um sich von den Verwirrungen ihres ziemlich anstrengenden Teenagerdaseins abzulenken, nahm Jenni schließlich wieder „Die Geschichte der Familie Netzer zur Hand“:
1934 Im April des Jahres 1934 war Adolf Hitler noch immer an der Macht. Er war sogar mächtiger als jemals zuvor, denn es gab
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jetzt nur noch den Führer und die NSDAP. Alle anderen Parteien und Organisationen waren verboten worden. Und wem das nicht gefiel, der schwieg besser darüber. „Sonst wurde er auch noch verboten und ins Gefängnis geworfen. Oder schlimmer“, sagte David. Natürlich wagte jetzt auch niemand mehr, zu behaupten, Hitler würde sich nicht lange an der Regierung halten können. Nicht einmal Papas einflußreiche Freunde. Manche von denen waren inzwischen gar nicht mehr so einflußreich. Manche waren auch nicht mehr Papas Freunde. Die meisten nichtjüdischen Deutschen hielten es für besser, nicht mehr zu einem jüdischen Arzt zu gehen. Also hatte Papa nicht nur Freunde, sondern auch Patienten verloren. Genug zu tun hatte er aber trotzdem. Viele neue Patienten kamen in seine Praxis. Alles Juden. Früher war Papa von Zeit zu Zeit zu einer Operation an das Krankenhaus gerufen worden. Damit war es auch vorbei. „Nur nicht verrückt machen lassen“, sagte Papa von Zeit zu Zeit. Unbeirrt hielt die Familie Netzer weiterhin an ihrem Vorsatz fest, die Nationalsozialisten gar nicht zu beachten. Aber manchmal war das eben nicht möglich: Zum Beispiel, als das Hausmädchen Ilse sich frech vor Mama hinstellte und sagte, sie wolle nicht länger bei Juden arbeiten. Die junge Jüdin, die sie dann einstellten, konnte nicht einmal halb so schnell Kartoffeln schälen. Oder als die Fleischerei Brauning Mama plötzlich nichts mehr verkaufen wollte. „Wir verkaufen kein gutes deutsches Fleisch an dreckige Juden“, zeterte die fette Frau Brauning. Mama nahm das sehr mit. Überhaupt litt Mama am meisten unter den täglichen Diskriminierungen und der Feindseligkeit,
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die ihr plötzlich überall entgegenschlug. Als Gattin eines angesehenen Arztes war sie es bisher gewohnt, mit Höflichkeit und Respekt behandelt zu werden. „Es ist, als hätten alle Menschen ihre gute Erziehung vergessen“, klagte sie. Und dafür hatte Mama überhaupt kein Verständnis.
Jenni schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Die werden bald noch mehr vergessen, als ihre Erziehung und euch alle umbringen.“ „Sprichst du immer mit deinen Büchern?“ fragte der Vater, der unbemerkt den Raum betreten hatte. Jenni wurde rot. Ihr Vater las eigentlich nie und würde bestimmt, wenn er es doch tat, keine Selbstgespräche führen.
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Kapitel 6
Es war schon dunkel, als Jenni an diesem Abend mit dem Klavierunterricht fertig war. „Ich fahre dich nach Hause“, bot ihr Herr Münster an, wie jedesmal. Und wie jedesmal antwortete sie: „Nein danke, das ist wirklich nicht nötig, ich nehme den Bus.“ Der Klavierlehrer wohnte in einem wunderschönen Bauernhaus auf dem Land und der Weg zu ihm hinaus lohnte sich, fand Jenni. Draußen war es bitterkalt. Frierend zog Jenni den Kragen ihrer Parka hoch. Sie wünschte wirklich, ihre Eltern würden ihr ein Mofa erlauben, dann bräuchte sie jetzt wenigstens nicht auf den Bus zu warten. Die Haltestelle war verlassen und es hatte angefangen leicht zu schneien. Der erste Schnee in diesem Jahr. Viel zu früh. Wahrscheinlich würde er nicht liegen bleiben. In etwa fünf Minuten sollte der Bus da sein, aber sicher würde er länger brauchen. Wie immer. Seufzend setzte sich Jenni in das winzige, schlecht beleuchtete Wartehäuschen und zog ihr Buch hervor. „Na, auch hier?“ hörte sie plötzlich eine freche Stimme direkt an ihrem Ohr. Erschrocken blickte sie auf und erkannte Marco, der sich neben sie auf die Bank gesetzt hatte. Oder Björn? Wenn die Zwillinge nicht zusammen waren, war es viel schwieriger, sie auseinanderzuhalten. Wortlos wandte sie sich ab und versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren.
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„Ist verdammt kalt“, sagte der Junge, der nun kein Skinhead mehr war. „Verzieh’ dich.“ Jenni hatte den grausigen Vorfallmit Mariyams Katze nicht vergessen. „Hey, das mit der Katze neulich tut mir echt leid. Wir wollten dieser Türkin nur ein bißchen Angst machen. Das hätte mein Bruder nicht tun dürfen.“ Er sah sie unsicher an. „Also bist du Björn“, fragte sie und bereute im selben Augenblick, überhaupt etwas gesagt zu haben. Der Junge nickte. Igendwie hatte sie das Gefühl, daß es kälter wurde. Wenn doch nur dieser verdammte Bus endlich käme. Jenni schnatterte vor Kälte. Sie fror erbärmlich. „Du kannst meinen Schal haben“, murmelte Björn. Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Björn ihr vorsichtig seinen dicken, endlos langen Wollschal um die Schultern. „Mir ist gar nicht so kalt und da wo du herkommst, ist es doch sicher viel wärmer.“ „Ob du es glaubst oder nicht, ich komme aus Norddeutschland, genau wie du“, entgegnete Jenni spitz. „Übrigens: Warum sprichst du eigentlich mit einer Farbigen?“ Gleichgültig zuckte Björn die Achseln. „Warum nicht? Ist ja sonst keiner hier.“ Eigentlich sah er jetzt, wo auf seinem Kopf wieder kurze, blonde Haare zu sehen waren, gar nicht so schlecht aus. Und er hatte wirklich schöne braune Augen. „So gefällst du mir viel besser“, sagte sie. Für einen winzigen Moment lächelte er. Aber seine Antwort wirkte fast trotzig: „Nur weil ich nicht mehr wie’n Skin rumlaufe, hab ich mich noch lange nicht geändert. Ich bin immer noch Nazi.“ Wieder lächelte er. „Trotzdem danke.“ Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander in der Kälte und blickten auf das immer stärker werdende Schneetreiben. Jenni wollte Björn hassen. Dieser Faschist ist widerlich, redete sie sich immer wieder ein. Aber sie konnte ihn nicht hassen. Nicht wirklich.
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„Was hast du eigentlich gegen Ausländer“, fragte sie leise. „Alles.“ Seine Stimme klang kalt. „Und was genau?“ Jenni wollte nicht locker lassen. „Die nehmen uns die Arbeit weg, das weiß doch jeder.“ „So ein Quatsch. Fällt dir nichts besseres ein?“ Björn betrachtete das dunkelhäutige Mädchen von oben bis unten. „Das ist kein verdammter Quatsch“, sagte er heftig. „Mein Onkel zum Beispiel, der war auf’m Bau. Bis vor zwei Jahren. Jetzt hat irgend so ein Kanacke seinen Job und mein Onkel und seine Familie sitzen auf der Straße, verstehst du?“ Jenni verstand. Dieses Argument kam immer, wenn gegen Ausländer Stimmung gemacht wurde. „Warum gibt denn dein Vater deinem Onkel nicht Arbeit in seinem Laden? Euer Fahrradgeschäft läuft doch gut, oder nicht?“ Wutentbrannt stand er auf und trat gegen die Holzwand des Bushäuschens. „Halt die Klappe, Mädchen, okay. Du verstehst sowieso nichts.“ Danach gab es zwischen ihnen nichts mehr zu sagen. Jenni beschloß, zum Haus von Herrn Münster zurückzugehen und ihre Mutter anzurufen. Es würde ja doch kein Bus mehr kommen. Erst zu Hause bemerkte Jenni, daß sie immer noch Björns Schal trug. Ratlos drehte sie ihn in ihren Händen. Er war ganz sicher selbstgestrickt - schwarz, rot, weiß gestreift. Entsetzt bemerkte Jenni schließlich eine aufgestickte Inschrift: „Sieg-Heil“ war auf dem Schal in altdeutschen Buchstaben zu lesen, der Schriftzug wurde von zwei Hakenkreuzen eingerahmt. Angewidert warf sie den Schal weit von sich. * Das Buch war weg! Jenni hatte überall gesucht, aber „Die Geschichte der Familie Netzer“ blieb verschwunden. Sie mußte
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das Buch in dem eisigen Wartehäuschen vergessen haben. Jenni wollte ihre Mutter überreden, sie trotz der glatten Straßen noch einmal hinaus zur Bushaltestelle zu fahren, um nachzusehen, ob es noch dort lag. „Wenn du dein Buch dort vergessen hast, fahr doch mit dem Bus hin und hol es ab“, sagte die Mutter unwillig. „Ich habe keinen Nerv mehr auf’s Busfahren. Bitte, Mama.“ Seufzend gab Jennis Mutter nach. „Manchmal bist du wirklich schwierig“, klagte sie. „Warum hast du eigentlich einen Ausländer geheiratet?“ fragte Jenni im Auto und ihre Mutter sah sie überrascht an. „Weil ich ihn liebte. Und ich liebe ihn noch immer. Außerdem haben wir uns im Senegal kennengelernt und geheiratet. Also hat er eine Ausländerin geheiratet und nicht andersherum.“ „Na toll“, entgegnete Jenni frustriert. „Da habt ihr also beide eure Heimat, ich gehöre nirgendwo richtig hin. Ich bin überall Ausländerin.“ Schockiert stoppte die Mutter den Wagen am Straßenrand und nahm ihre Tochter fest in den Arm. „Wie kannst du so etwas sagen“, flüsterte sie. „Du gehörst zu unserer Familie. Hier ist dein Zuhause und deine Heimat.“ Wenig später erreichten sie die Bushaltestelle. Jenni sah sogar im Papierkorb nach, aber das Buch war nicht mehr dort. „Ich kaufe es dir neu“, schlug die Mutter vor, aber Jenni schüttelte den Kopf. „Dieses Buch kann man nicht ersetzen. Wenn es verschwunden ist, werde ich es auch nicht mehr lesen.“ Vielleicht ist es sogar besser so, überlegte Jenni auf dem Rückweg. So blieb ihr wenigstens das schlimme Ende erspart. * Das Telefon klingelte. Jenni nahm widerwillig den Hörer ab. Es war Sascha. Damit hätte sie allerdings nicht gerechnet.
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Der meldet sich nie, hatte Jenni nach dem mißglückten Kuß gedacht und Sascha aus ihrem Kopf verbannt. Maike und Lauras Rat, „jetzt dran zu bleiben“ war sie nicht gefolgt. „… also, was ist?“ sagte Sascha abwartend. Sie hatte überhaupt nicht zugehört. „Tschuldigung, aber was hast du eben gesagt“, murmelte Jenni. „Ob du Lust hast, heute Nachmittag mit mir ein Eis essen zu gehen?“ Sie sagte Ja, obwohl ihr mehr nach heißer Suppe zumute war. Vielleicht würden sie ja diesmal richtig miteinander reden können. Heute wollte Jenni anziehen, was sie mochte. Also entschied sie sich für Jeans, ihren warmen Isländerpullover und die blaue Daunenweste. Das lange Haar flocht sie zu einem dicken Zopf. Pünktlich um drei ertönte auf der Straße Saschas Hupe. „Wo willst du hin“, fragte ihr Vater unwirsch, als sie das Haus verlassen wollte. „Ich treffe einen Mitschüler zum Eis essen.“ In letzter Zeit wurde der Vater ihr gegenüber immer strenger. „Heute ist Sonntag, da solltest du bei deiner Familie sein“, sagte er. „Und überhaupt: Warum hat dieser Flegel nicht so viel Anstand, hier zu klingeln?“ Darauf wußte Jenni keine Antwort. Aber schließlich durfte sie gehen. Für zwei Stunden. „Neulich hast du mir aber besser gefallen“, erklärte Sascha. Jenni kletterte genervt auf die Vespa. „Ich mir aber nicht.“ Viel zu schnell knatterten sie durch die Straßen. „Doch wirklich“, rief Sascha, „du solltest öfter kurze Röcke tragen. Außerdem hattest du im Fun-House deine Haare offen.“ Hatte der Typ denn nichts anderes im Kopf? „Heute habe ich aber einen Zopf.“ Im Eiscafé Roma wollte Sascha ihr unbedingt einen Erdbeereisbecher bestellen, obwohl sie viel lieber einen Cappuccino gehabt hätte. Nachdem sie darüber eine zeitlang diskutiert hatten, wußte Jenni nicht mehr, worüber sie reden sollte. Stumm be-
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trachtete sie die verblassende Wandbemalung des Cafés, die italienische Sehenswürdigkeiten zeigte. Diese berühmte Brücke in Venedig, der schiefe Turm von Pisa, das Kollosseum – alles da. Als kleines Mädchen hatte sie die Wandbilder im Café Roma ganz toll gefunden. Jetzt fand sie, der Laden könnte einen frischen Anstrich gebrauchen. „Du hast doch auch bei Frau Flügge Mathe?“ fragte Sascha. Sie nickte. „Und habt ihr nicht Kunst bei Herrn Böttjer?“ Wieder nickte Jenni. Minutenlang schwiegen sie und Jenni sah sich die anderen Gäste an. Wie lange die fette Kuh da drüben wohl für das ganze Eis und die Torte brauchen würde? „Wie ist der denn so?“ fing Sascha wieder an. „Wer?“ „Na, Herr Böttjer.“ Jenni zuckte die Schultern. „Ganz okay.“ Ihr Eis kam und Sascha erklärte, warum er Vanille lieber mochte als Schokolade. „Weißt du, was ich finde“, sagte er dann. „Ich finde, du kannst wirklich gut Deutsch. Du lebst wohl schon lange in Deutschland?“ Jenni hatte einfach keine Lust mehr, immer wieder dasselbe zu erzählen. Daß sie hier geboren und Deutsch ihre Muttersprache war. Daß sie hierher gehörte und den Senegal sowieso noch nie gesehen hatte. Und so weiter. Das wollte ja doch keiner wissen. Also blieb sie stumm. Plötzlich blickte Sascha nervös aus dem Fenster des Cafés auf die Straße und vergrub sein Gesicht in der Eiskarte. „Was ist los?“, fragte Jenni irritiert. „Nichts. Gar nichts“, stammelte er, noch immer sein Gesicht verbergend. „Nur, da draußen gehen meine Eltern.“ „Na und. Darfst du dich etwa noch nicht mit Mädchen treffen?“ Sascha schnaubte gekränkt. „Natürlich darf ich. So oft ich will. Es ist nur weil… Weil du…“ Er wurde rot und wußte nicht mehr weiter. Aber da hatte Jenni schon begriffen, worum es ging. „Du darfst dich nur nicht mit einer Farbigen erwischen lassen,
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stimmt’s?“ Ihre Stimme klang tonlos. Sascha wurde rot und sie wußte, daß sie ins Schwarze getroffen hatte. „Wir haben nichts gegen Ausländer. Wirklich überhaupt nicht!“ Sascha versuchte, die Situation zu retten und machte damit alles noch viel schlimmer. „Aber meine Eltern wären doch überhaupt nicht auf dich vorbereitet gewesen.“ Wortlos stand Jenni auf und verpaßte dem Schwarm aller Mädchen eine schallende Ohrfeige.
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Kapitel 7
Jenni war wie so oft eine der letzten, die nach der sechsten Stunde das Schulgebäude des Luisen-Gymnasiums verließen. Sie war tief in Gedanken versunken, als plötzlich jemand ihren Arm packte und sie hinter die Fahrradständer zog. Diesmal erkannte sie sofort, daß es Björn war. Nie wieder würde sie die Zwillinge verwechseln. „Was willst du“, fragte sie kalt. Er kramte in seiner Tasche. „Dein Buch.“ Plötzlich hatte er „Die Geschichte der Familie Netzer“ in der Hand. „Nun nimm schon“, sagte er ungeduldig und hielt ihr das Buch direkt vor die Nase. Jenni starrte es an ohne sich zu rühren. Nach einer Weile ging Björn achzelzuckend um sie herum und steckte das Buch in ihren Rucksack. „Also dann, tschüß.“ Er entfernte sich ein paar Schritte und drehte sich dann wieder zu Jenni um, die immer noch bewegungslos dastand. „Ist dir nicht gut?“ Sie schüttelte den Kopf. „Gehen wir ein paar Schritte“, schlug er vor, „vielleicht brauchst du nur etwas frische Luft. Du siehst auch ganz blaß aus.“ Unbekümmert kicherte Björn über seinen eigenen Witz. „Jedenfalls für’n Neger.“ Jenni wußte nicht, warum sie mit diesem Jungen mitging. Eigentlich war er doch ihr Feind. Und sie konnte sein dummes Gerede nicht ausstehen. Trotzdem folgte sie Björn in den Stadtpark, gleich neben der Schule.
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Außer ihnen schien niemand dort zu sein. Es war naßkalt und ziemlich nebelig. Auf den Wegen lag Schneematsch. Nachdenklich betrachtete sie Björn von der Seite. Er sah verdammt attraktiv aus. Sein kurzes blondes Haar war gutgeschnitten und nicht mehr stopplig. Jenni haßte Stoppeln. Er trug nagelneue Levis und einen hellen, dicken Wollpulli. Dagegen kam sie sich in ihrer zerissenen Jeans und der uralten Parka ausnahmsweise ziemlich schäbig vor. „Hoffentlich sieht uns keiner“, sagte sie. „Ich habe keine Lust, daß meine Freunde mich mit einem Nazi-Idioten sehen.“ Björn lachte verächtlich. „Denkst du vielleicht, ich bin scharf drauf, mit ‘ner Niggerin ertappt zu werden? Außerdem bin ich kein Idiot.“ Jetzt lachte sie. „Was du nicht sagst.“ „Ich hätte auch aufs Gymnasium gehen können, genau wie du“, erwiderte er. „Aber die haben lieber so ‘nen Kanacken genommen.“ Allmählich hatte Jenni keine Lust mehr auf seine schwachsinnigen Beschuldigungen. „Jetzt hör doch endlich mit dem Scheiß auf“, forderte sie. Aber Björn hörte nicht auf. „Du kennst doch Giovanni Leone, oder?“ Sie nickte. „Wir sind in einer Klasse.“ Er sah sie triumphierend an. „Ich und der hatten in der Orientierungsstufe dieselben Noten. Er ist auf’m Gymnasium, ich nicht. Ich bin aber nicht blöd.“ Eigentlich hatte Jenni an diesem Thema nur wenig Interesse. „Ist doch völlig egal, auf was für einer Schule du bist“, meinte sie. „Bei uns laufen jedenfalls genug Schwachköpfe rum. Wahrscheinlich waren damals Giovannis Eltern hinterher, daß er auf das Gymnasium kommt. Und deine halt nicht.“ Für einen Moment dachte Jenni, Björn würde sie schlagen. So zornig sah er aus. Aber stattdessen nahm er einen herunterge-
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fallenen Ast auf und schlug damit ins Gebüsch. Schneematsch wirbelte durch die Luft. Einmal mehr fragte sich Jenni, warum sie mit diesem Typen durch den Park spazierte. „Du hattest recht“, sagte er unvermittelt. Jenni war verwirrt. „Womit?“ „Mein Vater könnte meinem Onkel einen Job geben, aber er tut’s nicht. Er sagt, sein Bruder ist ein Faulpelz.“ Das plötzliche Eingeständnis des Unverbesserlichen ließ Jennis Herz höher schlagen. Vielleicht könnte ich ihn ändern. Vielleicht könnte ich ihn mögen, dachte sie. „Weißt du“, murmelte Björn, „ich hab nichts gegen dich persönlich. Du bist ganz okay.“ Sie spielte nachdenklich mit ihren Locken und grinste ihn dann an. „Ich kann dich überhaupt nicht ausstehen.“ Dann lachten sie beide. Erst vorsichtig und schließlich völlig unbekümmert. „Ist ja auch egal“, keuchte er irgendwann, immer noch lachend und ergriff ihre Hand. „Was ist egal?“ „Alles ist egal.“ Björn zog sie auf eine offene Wiese, die so grau aussah wie alles in dieser Jahreszeit. „Scheißegal“, rief er laut. Und dann liefen sie Hand in Hand und schrien sie es beide ganz laut: „Scheißegal!“ Doch so einfach war es nicht . Es war eben nicht alles scheißegal. Sie liefen noch eine Weile atemlos und Händchen haltend durch den Stadtpark. Bis Björn sie plötzlich losließ, als hätte er sich verbrannt. „Ich muß weg“, sagte er. Jenni nickte. „Dann geh doch.“ Sie würden ohnehin niemals miteinander befreundet sein können. Björn war ein Neonazi und sie eine Halbschwarze. „Tschüß!“ Er drehte sich um und stapfte durch den Schnee-
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matsch davon. Nach ein paar Metern blieb er noch einmal stehen. „Du glaubst doch nicht etwa all diese Lügen in deinem ScheißBuch“, rief er ihr zu. „Das haben sich diese dreckigen Juden und die Kommunisten doch alles nur ausgedacht, um das Ansehen von Deutschland runterzumachen. Alles gelogen. Außerdem hatten die Juden es nicht besser verdient.“ Irgendwie schienen Jenni die rechten Parolen aus Björns Mund jetzt nicht mehr so bedrohlich oder verletzend. Sie wirkten auswendig gelernt und irgendwie lächerlich. „Hey Idiot“, schrie sie ihm hinterher, „ich wußte gar nicht, daß du richtige Bücher lesen kannst.“ * In dieser Nacht konnte Jenni lange nicht einschlafen. Sie lag wach und dachte an Björn. Den Spaziergang im Park, seine großen braunen Augen und die Berührung seiner Hände. Einen wunderbaren Augenblick lang hatte es auf der Welt nur sie beide gegeben. Sie waren zusammen glücklich gewesen. Noch nie hatte Jenni so etwas gefühlt wie gerade jetzt. Was immer es war, es fühlte sich so aufregend an. Und anders. Und großartig! Dann aber fiel Jenni die brutale Ermordung von Maryams Kätzchen wieder ein. Björn hatte mitgemacht. Er hatte einfach zugesehen, als sein Bruder die Katze auf die Straße geschleudert hatte. Daran gab es nichts zu beschönigen. Niemals dürfte sie ihm das verzeihen. Björn war ein Neonazi und er war schuldig. Schuldig! Als Jenni endlich einschlief, träumte sie von Björn. Wie er ihre Hand nahm und festhielt. Und wie er mit seinem Wollschal eine kleine Katze erwürgte. Am nächsten Morgen in der Schule war Jenni hundemüde und schlecht gelaunt. Ihre Stimmung besserte sich nur ein wenig,
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als sie Maltes vertrauten Rotschopf erblickte. „Hey Malte, ich muß dir ganz dringend etwas erzählen“, rief sie. Denn sie hatte beschlossen, sich dem Freund anzuvertrauen. Zwar wußte sie, daß Malte schon seit langem in sie verknallt war. Aber er war eben auch ihr bester Freund und würde ganz bestimmt Rat wissen. Wegen Björn. „Ich muß unbedingt mit dir reden. Können wir uns nach der Schule treffen?“ fragte sie. Malte, der schon ihre erste Anrede ignoriert hatte, beachtete sie nicht. „Was ist los? Bist du taub?“ Einige Mitschüler sahen zu ihnen hinüber. „Na, Ehekrise bei unserem Traumpaar?“ sagte Katja gehässig. Verärgert wandte Jenni sich ab. Sie hatte doch keine Lust, sich zum Narren halten zu lassen. Später fand sie Malte allein im hintersten Winkel des Schulhofes. Er saß deprimiert auf einer halb demolierten Holzbank und rauchte. „Ich wußte gar nicht, daß du rauchst“, sagte Jenni und setzte sich zu ihm. Das zweite Gewicht war zu viel für die zerstörte Bank. Krachend brachen die angekokelten und morschen Balken unter den beiden zusammen. Jenni lachte schallend und rappelte sich auf. Aber Malte blieb einfach zwischen den Trümmern auf dem gefrorenen Boden sitzen. „Und ich wußte gar nicht, daß du auf Skinheads stehst“, murmelte er trübsinnig. Jenni lachte nicht mehr. Das durfte nicht wahr sein. Er konnte nicht Björn meinen, niemand hatte sie im Park beobachtet. „Ich habe dich mit einem von diesen miesen FaschoZwillingen aus eurer Straße gesehen“. Malte blickte sie zugleich traurig und verächtlich an. „Du bist bestimmt die erste Farbige, die scharf auf Nazis ist.“ Für Jenni brach eine Welt zusammen.
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Wie konnte Malte, ihr liebster und bester Freund solange sie denken konnte, nur so bösartige Dinge sagen? Selbst wenn er verletzt war. Sie fühlte sich hilflos. „Ich bin nicht scharf auf Nazis“, flüsterte sie. Malte lächelte kalt. „Ach nein? Aber du betonst doch immer so vehement, daß du Deutsche bist und keine Ausländerin! Vielleicht kannst du ja in deren Verein eintreten. Ich bin dir wohl nicht nationalbewußt genug.“ „Bitte, hör doch endlich auf“, unterbrach Jenni seinen Redefluß. Sie versuchte nicht einmal, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Zitternd drehte sie Malte den Rücken zu und starrte auf die beschmierte Rückwand der großen Turnhalle. Die Graffiti verschwammen vor ihren brennenden Augen zu einem grellbunten Schleier. „Björn ist nicht wie ein normaler Neonazi“, schluchzte sie um Verständnis bettelnd. „Er redet und benimmt sich zwar meistens wie einer, aber er ist irgendwie ganz anders.“ Es war, als ob die Freunde plötzlich eine unüberwindbare Mauer trennte. Sie waren sich fremd geworden. „Weißt, du Jenni: Irgend etwas stimmt nicht mit dir. Du weißt nicht wer deine Freude und wer deine Feinde sind“, sagte Malte noch. Er stand langsam auf und ging davon, ohne sie noch einmal anzusehen. Jenni blieb weinend zurück. Malte hat recht, dachte sie. Etwas kann mit mir nicht stimmen. Wie konnte sie von ihrem Freund Verständnis erwarten. Sie verstand sich ja selbst nicht mehr. Und das war das Allerschlimmste. Als sie nach einem einsamen und traurigem Schultag endlich nach Hause kam, hatte Jenni nur noch eines im Sinn: Sich mit ihren Büchern für die nächsten Jahre in ihr Zimmer zu verkriechen und zu lesen: „Was hast du denn auf dem Kopf?“ fragte Thamar ihren
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großen Bruder verwundert, obwohl ihr das winzige, bestickte Gebetskäppchen, die Kippa, sehr wohl bekannt war. Nur hatte sie David schon seit Jahren nicht mehr damit gesehen. Warum auch. Die jüdischen Traditionen waren ihm genau so fremd wie ihr. Unwillig blickte David von seinem Buch auf. „Frag nicht so dämlich.“ Thamar biß sich beleidigt auf die Unterlippe und spielte mit den Knöpfen ihrer Bluse. „Du bist doch überhaupt nicht religiös, wie kannst du da eine Kippa tragen?“ Mit gewichtigem Blick musterte David seine Schwester. Das Käppchen paßte nicht zu seinen blonden Haaren, fand Thamar. Er sah überhaupt nicht wie ein Jude aus. Papa auch nicht. Sie und Mama mit ihren dunklen Haaren und Augen schon viel eher. „Ich trage das nicht als Zeichen meiner Religiosität, sondern als Bekenntnis zu meinem Volk.“ Jetzt hatte er wohl endgültig seinen Verstand verloren. „Zu den Deutschen?“ fragte Thamar ungläubig. Verächtlich schüttelte David den Kopf. „Natürlich nicht“, sagte er heftig „Du bist wirklich noch ahnungsloser und dämlicher, als ich gedacht habe. Ich bekenne mich zum Volk Israel und werde dafür kämpfen, daß für alle Juden in Palästina eine Heimstätte errichtet wird. Ein jüdischer Staat. Ich bin Zionist.“ Davids Augen leuchteten. Der konnte wahrhaftig Reden halten wie ein Politiker. „Ach so“, murmelte Thamar, obwohl sie keine Ahnung hatte, was das alles zu bedeuten hatte. Jenni, die beim Lesen stets alles um sich herum vergaß, schreckte hoch. Es klingelte an der Tür. Außer ihr war niemand daheim. Ich mache einfach nicht auf, entschied sie und versuchte sich wieder auf Die Geschichte der Familie Netzer zu konzen-
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trieren. Doch der Besucher war hartnäckig und betätigte jetzt ununterbrochen die Türglocke. Vielleicht war es wichtig. Seufzend ging Jenni zur Wohungstür und öffnete. Vor ihr stand ein großer, grobschlächtiger Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Er trug einen schlechtsitzenden grauen Anzug. „Ja bitte?“ Der Mann schien ein wenig verwirrt. Oder auch verärgert. „Wohnen in diesem Haus eigentlich nur Ausländer?“ fragte er. Jenni zuckte zusammen. Was für eine Frechheit. Plötzlich wußte sie, daß der Mann an der Tür der Vater von Björn und Marco war. Der wußte doch genau, wer in der Gegend wohnte. „Was wollen Sie eigentlich“, fragte sie unfreundlich. „Ich kandidiere in diesem Bezirk für die Partei „Nationale Schutzfront Deutschland“- NSD. Ich wollte mich mit unserem Programm in der Nachbarschaft vorstellen. Wir kämpfen für ein Deutschland, in dem endlich wieder Politik für Deutsche und nicht nur für Ausländer gemacht wird. Aber ich glaube, ich bin hier falsch.“ Jenni schnappte nach Luft. „Das glaube ich auch!“ Außer sich vor Wut knallte sie die Tür zu. „Hör mal, Kleine“, rief der Mann durch die geschlossene Tür hindurch. „Wir haben nichts gegen euch persönlich. Solange ihr hier friedlich lebt und nicht auffallt. Es darf nur nicht zu viele von eurer Sorte geben. Das würde den Leuten im Busch ja auch nicht gefallen, wenn da plötzlich die ganzen Weißen rumlaufen.“ Er lachte selbstgefällig. „Verschwinden Sie endlich oder ich rufe die Polizei.“ „Ich bin gleich weg. Aber vielleicht machst du noch einmal ganz kurz auf und gibst mir deine Unterschrift.“ Jenni konnte ihre Neugierde nicht unterdrücken. „Wofür“, fragte sie. „Gegen das Asylantenheim, das hier gleich um die Ecke ein-
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gerichtet werden soll. ‘Ne Horde von diesem klauenden Zigeunerpack wollt ihr in der Nachbarschaft doch wohl auch nicht haben.“ Zornig rannte Jenni zurück in ihr Zimmer. Die Dreistigkeit dieses Mannes war nicht zu fassen. Sein Lachen drang noch aus dem Treppenhaus zu ihr hinein. Dann war er weg. Kein Wunder, daß seine Söhne zu Skinheads geworden waren. Die hatten das alles von ihrem ehrenhaften Vater. Armer Björn, dachte sie. Aber schließlich hatte er selber Schuld. Irgendwie. Sollte er doch seinem Vater die Meinung sagen. Wenn sie ehrlich war, wagte sie das bei ihrem eigenen Vater allerdings auch nur selten. Mit meinem Vater kann man wirklich nicht reden, überlegte sie und vertiefte sich wieder in ihr Buch:
Am Anfang trug David das Gebetskäppchen nur, wenn er seine neuen Freunde traf. „Sie gehören auch alle zur zionistischen Bewegung. Und wir werden immer mehr“, erklärte er stolz. „So etwas hat vor nicht allzu langer Zeit auch schon eine ganz andere Bewegung gesagt und jetzt sieh dir an, was in diesem Land geschieht“, sagte Papa. Er und Mama hatten für die Zionisten nicht viel übrig. Am liebsten hätten sie David verboten, zu ihnen zu gehören. Weil sie meinten, daß die Zionisten auch Kommunisten wären. Und die seien genau so schlimm wie die Nazis. Papa grollte: „Ich verbiete dir, deine politischen Parolen in meinem Haus zu verbreiten. Zudem werde ich niemals erlauben, daß mein Sohn zu einer kommunistischen Vereinigung gehört.“ Doch David hatte eigentlich schon immer genau das getan, was er wollte. „Dann erlaube es eben nicht“, sagte er. Von da an hatte David fast immer ein Gebetskäppchen auf
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dem Kopf. Obwohl er niemals betete. Und obwohl das für Zionisten keineswegs eine Pflicht war. Nein, der Bruder wollte es so. Thamar fragte ihn, ob er wirklich ein Kommunist sei. „Unsinn“, meinte er trotzig. Und dann erklärte er ihr, daß er in Palästina in einem Kibbuz leben wollte und was ein Kibbuz war: „Das ist eine Siedlung auf dem Land. Allen Kibbuzniks gehört alles gemeinsam - die Felder, die Obstgärten, die Küche, die Wohngebäude und so weiter. Alles wird gemeinsam verwaltet und bearbeitet.“ „Also willst du Bauer werden“, fragte Thamar zweifelnd. David sah ein wenig unglücklich drein und sagte: „Na ja, eine landwirtschaftliche oder handwerkliche Tätigkeit gehört eben dazu.“ Thamar schwieg. Eigentlich hatte David immer Arzt werden wollen. Es dauerte nicht lange, bis David wegen seiner traditionellen Kopfbedeckung überall in Schwierigkeiten geriet. Er war jetzt für fast jedermann sofort als Jude erkennbar. Und das ganz freiwillig in einer Zeit, in der die meisten jüdischen Mitbürger viel für seine blonden Haare gegeben hätten. Denn ein Jude konnte nicht blond sein, dachten viele. Der Stolz in Davids Blick und das würdevolle Selbstbewußtsein, mit dem sich David zum jüdischen Volk bekannte, erregte oft heftigen Zorn. Fast jeden Abend berichtete Thamars großer Bruder zerschunden, aber mit leuchtenden Augen von einer neuen Schlägerei. David schien sich an jedem Ort zu prügeln – in der Straßenbahn, mitten auf der Straße, im Café … „Ich lasse mich nicht einschüchtern oder demütigen“, sagte er und behauptete, seine Gegner würden noch viel schlimmer aussehen als er. Mama und Papa waren außer sich vor Sorge. Mama hatte Angst, die Nazis würden ihren leichtsinnigen Sohn totschlagen. Papa fürchtete, David könnte irgendwann Ärger mit
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der Polizei bekommen und im Gefängnis enden. Doch weder seine strengen Ermahnungen, noch Mamas sorgenvolles Flehen konnten den Sechszehnjährigen davon abhalten, sich immer wieder mit den Nazis anzulegen. Thamar war wütend auf den großen Bruder. Weil die blasse, besorgte Mama ihr so leid tat. Und weil ihre Eltern sich jetzt immerzu wegen David stritten. „Du bist zu hart mit ihm und hast kein Verständnis“, klagte Mama und Papa antwortete: „Die Zeiten sind schon hart genug, da braucht uns dieser Bengel wirklich nicht noch so viel Kummer zusätzlich zu machen.“ Thamar konnte ihren großen Bruder zwar nicht ausstehen, aber trotzdem wollte sie nicht, daß ihm etwas Schreckliches zustieß. „Ich habe solche Angst“, flüsterte sie manchmal vor dem Einschlafen in die dunkle Nacht hinein. Es kam ihr vor, als wären die Nächte früher niemals so finster gewesen. Jenni erschrak. Genau das hatte sie einige Tage zuvor beim Einschlafen auch gedacht: Die Nächte sind früher niemals so finster gewesen. Sie fühlte oft dasselbe wie die Helden in ihren Büchern. Nur, daß es in diesem Buch keine wirklichen Helden gab. Es war einfach ein finsteres Buch über eine finstere Zeit. Nicht einmal dieser David hatte sich als Held erwiesen, eher als Spinner. Sie würde jedenfalls niemals freiwillig mit Käppi, Judenstern oder einem Kopftuch herumlaufen, damit jeder sah, daß sie eine Fremde war. Das sieht bei mir ja leider sowieso jeder, dachte sie verbittert, dabei stimmt es noch nicht einmal. Fremd war eben für viele Menschen jeder, der auch nur ein bißchen anders aussah.
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Kapitel 8
Gelangweilt stand Jenni in der S-Bahn und starrte aus dem Fenster. Wieder einer von diesen grauen Tagen, von denen es im Herbst und imWinter viel zu viele gab. Sie fragte sich, wann eigentlich zum letztenmal der Himmel über den tiefhängenden Wolken zu sehen gewesen war. Quietschend näherte sich der Zug der Großstadt: Schmutzige Hafenindustrie wechselte sich ab mit den tristen, vernachlässigten Hochhausburgen der Vorstadt. Häßlichkeiten im Nieselregen. Wenigstens war es nicht mehr so kalt wie in den letzten Tagen. Etwa eine Stunde brauchte man von Jennis Heimatort in die große Metropole, zuerst mit dem Zug, dann mit der S-Bahn. Jenni fuhr nicht gern mit der S-Bahn. Die Wagen waren meistens in einem erbärmlichen Zustand und was noch schlimmer war: Sie fühlte sich dort nicht sicher. Nicht selten wurden Frauen belästigt, Ausländer angepöbelt und manchmal auch angegriffen. Immer wieder berichteten die Zeitungen von Prügeleien und Messerstechereien in der Linie 3. Heute mußte Jenni trotzdem das ungeliebte Verkehrsmittel in die Großstadt nehmen. Sie war auf dem Weg zu ihrem Ohrenarzt, einem Spezialisten, der sie jedes Jahr zweimal untersuchte. Denn als kleines Mädchen hatte sie im Ohr einen Tumor gehabt.
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Gerade wurde ein Sitzplatz frei und Jenni zwängte sich auf den orangefarbenen Plastiksitz. Hastig sammelte die grauhaarige alte Dame auf dem Nebenplatz ihre Plastiktüten zusammen, hielt ihre Handtasche auf dem Schoß fest umklammert und musterte Jenni mit unverhohlenem Mißtrauen von der Seite. Gegenüber saß eine sehr blasse junge Frau mit tiefen Rändern unter den Augen, neben sich ei ebenso blassen Mädchen. „Guck mal Mami, da ist ‘ne Negerin“, piepste das Kleinkind, das nicht älter als vier Jahre sein konnte, und die blasse Frau machte „Pssst.“ Das kleine Mädchen starrte sie an. Plötzlich konnte Jenni der Versuchung nicht widerstehen, das Kind zu erschrecken. Sie verzog das Gesicht zu einer möglichst häßlichen Grimasse, schämte sich aber gleichzeitig für ihr kindisches Benehmen. Die Fratze zeigte Wirkung: Starr vor Schreck wurde das Mädchen zuerst noch weißer als zuvor und fing dann lauthals an zu heulen. „Mami, Mami“, wimmerte es mit seiner unerträglichen Piepsstimme. Jenni lachte gehässig. Mutter und Kind ergriffen die Flucht, während die alte Frau kopfschüttelnd zeterte: „Wegen dem ganzen dreckigen Gesocks, das hier heutzutage frei rumläuft und anständige Leute belästigt, kann man sich schon gar nicht mehr in die S-Bahn trauen. Die sollte man alle an die Wand stellen.“ Andere Fahrgäste sahen neugierig zu ihnen herüber. „Da haben sie recht“, sagte Jenni laut. Nur meinte sie damit all die Rassisten, die ihr das Leben so schwer machten. Wie die Alte und die blasse Frau mit dem Kind. Und all jene, die noch schlimmer waren. Endlich erreichte die S3 den Hauptbahnhof. Jenni drängte mit den anderen Fahrgästen aus dem Zug und reihte sich ein in den eilig vorwärtsdrängenden Menschenstrom Richtung Ausgang. Am Fuß der großen Treppe, die aus dem unterirdischen
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Bahnhofswirrwarr hinauf ins Freie führte, teilte sich plötzlich die Masse der Passanten, schob sich aber einige Stufen höher wieder zusammen. Erst als Jenni direkt an der Treppe angekommen war, konnte sie erkennen, warum die Menschen auswichen. Sie erschrak. Auf den Stufen saß eine zusammengekrümmte Gestalt, das Gesicht in die Hände vergraben. Durch die Finger sickerte tiefrotes Blut und auf den kurzen, blonden Haaren erkannte Jenni eine jüdische Kippa. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte Jenni, den Verstand zu verlieren. Sie kannte den Jungen auf der Treppe! Darin bestand kein Zweifel. Das mußte David Netzer sein, wieder einmal verprügelt wegen dieses Käppchens, das ihn als Juden auswies. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Was ging hier vor? Was geschah mit ihr? Achtlos hasteten die Menschen vorüber. Minutenlang stand Jenni wie erstarrt, dann hob der Junge langsam den Kopf und die blutverschmierten Hände gaben das Gesicht frei. Jenni kannte ihn tatsächlich. Es war Björn. „Was machst du denn hier“, fragten beide gleichzeitig. Keiner antwortete. Schweigend starrten sie sich an. Björn hatte eine häßliche Wunde auf der Stirn, sein linkes Auge begann zuzuschwellen und die Lippen waren aufgeplatzt. Auch aus seiner Nase lief Blut. „Du siehst schlimm aus“, sagte Jenni und reichte ihm unsicher ein Papiertaschentuch. Er nahm es nicht. „Was zum Teufel machst du hier“, wiederholte er. „Ich wollte zum Arzt. Aber so wie’s aussieht, hättest du eher einen nötig.“ Björn schniefte. „Möglich.“
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„Hast du dich geprügelt?“ Im selben Moment bereute Jenni ihre überflüssige Frage. Das war doch offensichtlich. Und für jemanden wie Björn war das noch nicht einmal ungewöhnlich. Ungewöhnlich war etwas ganz anderes: „Warum hast du ein Judenkäppi auf und wo hast du das überhaupt her?“ Langsam wagte sie sich vor. „Soll das ein Verhör sein?“ Noch immer mußten die Ströme der Fahrgäste einen Bogen um die beiden machen. Um die Verletzungen des Jungen auf der Treppe kümmerte sich niemand. Immer öfter wurde Jenni angerempelt. „Hau endlich ab“, fuhr Björn sie an. Sie schüttelte den Kopf. Mühsam stand der Junge auf und verzog vor Schmerz das Gesicht. „Los, komm weg hier. Bevor die ganzen Idioten dich über den Haufen rennen.“ Damit zog er Jenni mit sich auf einen abgelegenen U-Bahnsteig. Jenni hatte das Gefühl, es würde plötzlich wärmer. Zugleich spürte sie wieder am ganzen Körper dieses Kribbeln, wie neulich im Park. Warum nur fühlte sie sich bei Björn so sicher und geborgen? Der konnte doch nicht einmal auf sich selbst aufpassen. Stöhnend ließ Björn sich auf eine Bank fallen. „Hier ist’s doch viel netter“, murmelte er und griff nach dem Taschentuch, das Jenni immer noch in der Hand hielt. Vorsichtig betupfte er seine Wunden. „Glaubst du, daß du wirklich keinen Arzt brauchst?“ Sie betrachtete ihn mit offener Sorge. Aber Björn schüttelte den Kopf. „Halb so wild.“ „Du hast vorhin meine Fragen nicht beantwortet“, fing Jenni wieder an, „wegen der Kippa.“ „Also schön.“ Er nahm das Käppchen vom Kopf und drehte es nachdenklich in den Händen. „Wir mußten uns vorhin mit der Schulklasse hier in der Stadt
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die jüdische Synagoge und den ganzen Scheiß ansehen. Da war auch ‘ne Schule oder sowas und die ganzen Judenbengels sind mit diesen bekloppten Mützen durch die Gegend gelaufen.“ Er schwieg, als wäre damit alles erklärt. „Und was weiter?“ Jenni wurde ungeduldig. „Ich, mein Bruder und ‘n paar Kumpels haben die Hunde dann ganz schön aufgemischt. Diesen komischen Hut hier hat einer von denen verloren. Das ist Kriegsbeute.“ Er versuchte kämpferisch zu klingen, aber sein Blick war ohne Begeisterung. Jenni nahm Björn die blaßblaue Kippa aus der Hand und bewunderte die kunstvollen Stickereien. „Haben dich also jüdische Schüler so zugerichtet?“ wollte sie wissen. „Nee, Skinheads!“ An Jennis irritiertem Blick erkannte er, daß sie nun gar nichts mehr verstand. „Diese Saujuden waren ja noch Kinder. Die haben wir nur erschreckt. Dann ist unser Lehrer gekommen, und da bin ich abgehauen. Ich hab’ keine Lust, wegen sowas von der Schule zu fliegen.“ Jenni fragte sich, ob Björn vielleicht am Kopf zu viel abbekommen hatte. „Warum hast du dich dann später mit Skinheads geprügelt?“ fragte sie langsam. „Ich habe das verdammte Ding aufgesetzt, um zu sehen, wie es ist, als Saujude durch die Gegend zu laufen“, erklärte der Junge mißmutig. „So wie dieser Typ in deinem Scheißbuch.“ David Netzer. Also doch! Jenni konnte kaum glauben, daß der Neonazi so weit gelesen hatte. Vielleicht hatte es ihm sogar gefallen. Einen Moment überlegte sie, ob sie erzählen sollte, daß sie vorhin an der Treppe zuerst geglaubt hatte, die Romanfigur David lebendig vor sich zu sehen. Aber Björn war noch nicht fertig: „Am Bahnhof bin ich dann zwischen eine ganze Horde Skinheads geraten.“ „Und dann?“ Jenni lauschte beklommen.
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„Die haben mir nicht geglaubt, daß ich auch Nazi bin.“ Mühsam versuchte Jenni das Lachen zu unterdrücken. Sicher tat ihr Björn leid, aber diese Geschichte war wirklich zu verrückt. Und irgendwie komisch. „Kannst ruhig lachen“, sagte er. „Ich frag mich nur, ob ich neuerdings etwas durchgeknallt bin. Bevor ich dich gekannt habe, wär ich niemals drauf gekommen, mit ‘nem Judenhut rumzulaufen.“ „Das Problem kenne ich“, meinte Jenni. „Dasselbe frage ich mich auch oft. Was dich angeht, bin ich mir allerdings ziemlich sicher: Du bist durchgeknallt.“ Diese Erkenntnis erheiterte beide. Björn vergaß seine Schmerzen und Jenni ihren Arzttermin. Ihre gute Laune hielt noch an, als sie Stunden später in ihrer Heimatstadt gemeinsam aus dem Zug stiegen. Nach Hause zurückgekehrt, wollte Jenni so schnell wie möglich „Die Geschichte der Familie Netzer“ weiterlesen. Wie konnte es sein, daß Björn in dem Buch so weit gekommen war, während sie überhaupt nicht vorankam? Er mußte lange darin gelesen haben! Das sah ihm wirklich gar nicht ähnlich.
1935 Ein weiteres Jahr verging. Im Frühjahr des Jahres 1935 hatten sich die Netzers und viele andere jüdische Familien damit abgefunden, daß die Herrschaft Adolf Hitlers und der NSDAP lange, wahrscheinlich sogar sehr lange dauern würde. Überwintern und bloß nicht auffallen, hieß die Devise. Jeder wußte, daß bei Nacht und Nebel Menschen von der Geheimen Staatspolizei, der GESTAPO, aus ihren Häusern abgeholt wurden und danach einfach verschwunden blieben. Wer in der Öffentlichkeit auf die Nationalsozialisten schimpfte, begab sich in große Gefahr.
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Einige Freunde der Familie Netzer hatten das Land verlassen, andere planten ihre Auswanderung. Die Netzers hatten jedoch nicht vor, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. „Was sollen wir im Ausland“, sagten die Eltern. Nur David träumte immer noch von Palästina. Die guten, alten Bekannten, die Papa noch einen Gefallen schuldeten, wurden immer weniger. Seit jeher war es Papa schwer gefallen, um etwas zu bitten. Dennoch forderte er bei Gustav Michels, einem ehemaligen Schulkameraden, der heute eine wichtige Position in der Partei hatte und außerdem Schulrat war, eine alte Schuld ein. Papa wollte erreichen, daß seine beiden Kinder auf dem Johannes-Gymnasium und der benachbarten Mädchen-Oberrealschule bleiben durften. „Ihr sollt die bestmögliche Schulbildung bekommen“, sagte er. In diesen Tagen wurden viele jüdische Kinder von den staatlichen Schulen verwiesen und mußten auf jüdische Institutionen gehen. Auch das ehrwürdige Johannes-Gymnasium hatte zwei Schüler aus sehr religiösen jüdischen Familien vom Unterricht ausgeschlossen. David und Thamar durften an ihren Schulen bleiben. „Ich will keine Sonderbehandlung“, klagte David. „Wenn Juden unerwünscht sind, gehe ich auch. Für meine Zukunft in Israel brauche ich sowieso kein Abitur, sondern Erfahrungen im Handwerk und in der Landwirtschaft.“ Diesmal aber setzte Papa sich gegen seinen Sohn durch. Vermutlich hatte David die Hoffnung auf ein Medizinstudium noch nicht ganz aufgegeben. Seit einigen Monaten war Thamar heimlich in einen Freund ihres Bruders verliebt. Er hieß Samuel Weingold, hatte wunderschöne dunkle Locken und die schönsten braunen Augen, die Thamar je gesehen hatte. Er konnte mit David und den anderen
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Freunden stundenlang über Politik und Literatur diskutieren.Thamar stand oft an der Zimmertür und lauschte verzückt. Sie war jetzt vierzehn, und für den gleichaltrigen Friedrich, der ihr schüchtern den Hof machte, interessierte sie sich nicht. Ihre beste Freundin Klara schwärmte neuerdings heftig Thamars siebzehnjährigen Bruder David. Alles andere kümmerte die verliebten Mädchen herzlich wenig. Daß zumindest Klaras heimliche Träume sich nicht erfüllen würden, zeigte sich schon bald. David beachtete die Freundin seiner kleinen Schwester nicht, Klaras Zuneigung blieb unerwidert. Als David plötzlich aufhörte, über Zionismus zu dozieren und statt dessen mit einem verzückten Gesichtsausdruck schweigend vor sich hin starrte, dachte Thamar sich zunächst nicht viel dabei. Aber als er anfing, komische kleine Liebesgedichte zu schreiben, die er unter seinem Kopfkissen versteckte, wußte Thamar, daß Mama recht hatte: David hatte sich verliebt. „Diesmal muß es etwas Ernstes sein“, behauptete Mama. „Unsinn“, sagte Papa, „der Junge hat doch nur seine verrückten politischen Ideen im Kopf.“ In diesen Dingen wußte Mama meistens besser Bescheid als Papa. Aber auch sie wußte nicht, welches Mädchen Davids Herz erobert hatte. Niemand aus der Familie bekam seine Angebetete zu sehen. Auf neugierige Fragen reagierte David unwirsch und wurde noch unausstehlicher als sonst. Wer könnte sie sein, grübelte Thamar. Fest stand, daß Janina Kirsch, der David im Sandkasten ewige Treue geschworen hatte, mit ihren Eltern vor zwei Tagen nach Amerika ausgewandert war. Zuvor hatten Hitlerjungen zum sechstenmal die Fenster des Schreibwarengeschäfts Kirsch zertrümmert. „Ihr Juden kriegt doch nur, was ihr verdient“, hatten Janinas
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Eltern auf der Polizei zu hören bekommen. Jetzt hatte die Familie Kirsch Deutschland den Rücken gekehrt. Janina kam also nicht mehr in Frage. Die Netzers wurden von Tag zu Tag neugieriger. „Vielleicht hat er die junge Dame ja noch gar nicht für sich gewinnen können“, spekulierte Papa. Die Geduld der Familie wurde auf eine harte Probe gestellt. Bis David schließlich an einem heißen schwülen Juniabend der Spannung ein Ende bereitete: Obwohl die Flügeltüren zur Terrasse weit offen standen, drang kein kühlender Luftzug in die Wohnstube der Netzerschen Villa. Es war stickig. Thamar klimperte lustlos auf dem Klavier und Mama besserte Papas Strümpfe aus, eine Arbeit, die sie noch vor zwei Jahren als ihrer nicht würdig an die Hausmädchen gegeben hätte. „Du mußt das wirklich nicht machen, Liebes“, sagte Papa. Er saß still auf dem riesigen alten Ledersofa und tat gar nichts. Am Tag zuvor hatte er sich schrecklich über einen Artikel im Deutschen Ärzteblatt aufgeregt. Darin hatte Dr. Peltret, ein namhafter deutscher Arzt die Juden mit Tuberkulose-Bazillen verglichen. Jetzt musterte Papa seine Tochter mißbilligend. Sofort hörte Thamar mit ihrem Geklimper auf und klappte den Klavierdeckel zu. Mitten in die unbehagliche Stille platzte David. Mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht stand er plötzlich in der Zimmertür. „Schön, daß ihr drei hier versammelt seit. Ich möchte euch nämlich jemanden vorstellen.“ Damit schloß er die Tür wieder und wenige Sekunden später betrat er an der Seite einer jungen Frau das Wohnzimmer. Thamar stockte der Atem. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Kein Wunder, daß er die so lange versteckt hatte! Das Mädchen
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war groß, viel zu groß und sehr schlank. Der hochaufgeschossene David mochte sie vielleicht um zehn Zentimeter überragen. Aber sie war ganz sicher größer als Papa. Und das war noch nicht das Schlimmste: Die Auserwählte ihres Bruders hatte feuerrote Haare. Die wilde Lockenmähne fiel ihr völlig ungebändigt bis zu den Hüften. Unzählige Sommersprossen bedeckten Gesicht, Dekolleté und sogar die Arme des Mädchens. Sie trug ein leichtes, ziemlich gewagtes blaues Sommerkleid. Thamar fand sie häßlich wie die Nacht. Dieses Frauenzimmer war einfach eine Geschmacklosigkeit. Sie glaubte dem Gesicht ihrer Eltern zu entnehmen, daß sie ähnlich dachten. „Mama, Papa, Schwesterchen, darf ich euch Fräulein Louisa Waldteufel vorstellen. Louisa, das sind meine Eltern und meine kleine Schwester Thamar“, sagte David gestelzt. Die drei starrten das Mädchen an. Thamar hätte beinahe laut herausgelacht. Hatte sie eben richtig gehört? Was für ein unmöglicher Name für eine unmögliche Person. Aber wie sollte so ein Fräulein auch sonst heißen? Mama räusperte sich. „Simon, bitte“, flüsterte sie fordernd. Endlich begriff Papa und erhob sich. Auf seinen Lippen glaubte Thamar ein unterdrücktes Grinsen zu entdecken. „Fräulein, äh … Waldteufel, wir sind sehr erfreut, Sie kennenzulernen.“ Er nahm die ausgestreckte, zierliche Hand der Rothaarigen und deutete einen Handkuß an. „Ganz meinerseits. David hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“ Wenigstens hatte sie eine schöne Stimme. Louisa Waldteufel lächelte und gab Mama und schließlich auch Thamar die Hand. Sie hatte tiefgrüne Augen. „Wie sind Sie bloß zu diesem Namen gekommen, Fräulein“, fragte Thamar vorlaut. Mama hüstelte: „Benimm dich.“ David räusperte sich. „Ihr Vater ist der berühmte Opernsänger Karl Waldteufel“, erklärte er stolz.
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„Den Namen habe ich noch nie gehört, so berühmt kann er wohl nicht sein“. Wütend packte David seine Schwester am Handgelenk. „Warum verschwindest du nicht einfach?“ „Laß doch das Kind in Ruhe“, bat Louisa Waldteufel. Thamar spürte, wie sie vor Wut rot wurde. Sie war kein Kind mehr. Was für eine Frechheit. Unvermittelt plapperte Mama los. „Gehen Sie noch zur Schule, Fräulein Waldteufel? Sind Sie Jüdin? Wo haben Sie denn meinen Sohn kennengelernt? Setzen Sie sich doch zu uns.“ Louisa Waldteufel nahm Platz. „Ich studiere Physik und Philosophie und bin keine Jüdin. David habe ich beim Tanzen kennengelernt.“ Also war sie älter als David. Das war wirklich der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Mama hatte dasselbe gedacht. „Aber Sie sehen ja noch so jung aus?“ Ihre Stimme klang fragend. „Ich bin zwanzig Jahre und im ersten Semester, gnädige Frau. Also fast drei Jahre älter als Ihr Sohn.“ Mama errötete. „Ich wollte nicht indiskret sein.“ Die unnatürliche Szene zog sich in die Länge. Thamar war zwar beleidigt, konnte aber ihren Blick nicht von Louisa Waldteufel wenden. Mama überschüttete den Gast mit weiteren Fragen, die geduldig beantwortet wurden, und Papa blieb seltsam unbeteiligt. Schließlich sagte David, das Verhör müsse nun ein Ende haben und er drängte Louisa zum Aufbruch. Als die beiden schon in der Tür standen, drehte er sich noch einmal um: „Ihr seid die ersten, denen wir es erzählen. Louisa und ich haben uns heute verlobt.“ Ein greller Blitz erhellte den Raum, direkt danach folgte ein krachender Donnerschlag. „Das kommt nicht in Frage.“ Papas Stimme übertönte das los-
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brechende heftige Gewitter. „Ich verbiete dir, in diesen Zeiten eine Verbindung mit einer nichtjüdischen Deutschen einzugehen. Ihr bringt euch beide in eine große Gefahr. Das werde ich niemals zulassen!“ Im Licht der zuckenden Blitze sahen David und seine Verlobte gespenstisch blaß aus. Louisas rotes Haar leuchtete, als stünde es in Flammen. „In guten wie in schlechten Zeiten, heißt es doch. Unsere Liebe beginnt eben mit den schlechten.“ Louisa flüsterte fast, dennoch war ihre Stimme selbstbewußt und zuversichtlich. Davids Worte klangen wie ein Todesurteil: „Ich verlasse lieber euch alle als Louisa.“ Dann gingen die beiden in das tobende Unwetter hinaus.
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Kapitel 9
Jenni war begeistert. Das war einfach wunderbar romantisch. Eine verbotene Liebe im Dritten Reich. Genau wie sie und Björn. Zwar lebten sie nicht in einer Diktatur, aber trotzdem: Auch ein Faschist und eine Halbschwarze hatten es heutzutage in diesem Land nicht leicht. Für einen Moment war Jenni wild entschlossen, alle Schwierigkeiten durchzustehen. „Moment mal, was denke ich hier eigentlich“, murmelte sie dann schockiert über sich selbst. „Ich bin nicht in Björn verliebt.“ Das sagte sie sich selbst immer wieder. Solange, bis sie es selbst glaubte. Fast jedenfalls. Die erneute Begegnung mit Björn am Hauptbahnhof hatte sie mehr verwirrt, als sie es sich eingestehen wollte. Vorher war alles so einfach gewesen: Es gab die Guten und die Bösen. Sie und ihre Mitschüler vom Luisen-Gymnasium, von denen sich die meisten als „links“ bezeichneten, waren die Guten. Und die Skins und Faschos, größtenteils Haupt- und Realschüler vom Schulzentrum waren nicht nur die Blöden, sondern eben auch die Bösen. Mit denen sprach man nicht. Vor denen mußte man sich in acht nehmen. Die kamen aus schlechtem Hause. Und so weiter … Nach zwei Tagen hatte Jenni ihre wahren Gefühle für Björn einigermaßen verdrängt. Warum sollte sie sich ihr Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon war? Schließlich war sie keine Romanfigur.
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Wenn ich Björn das nächstemal treffe, werde ich ihn einfach übersehen, hatte Jenni sich überlegt. Wie hätte sie ahnen können, daß er an diesem Nachmittag an ihrer Haustür schellen würde. Jenni war mal wieder allein im Haus, als es klingelte. Gedankenverloren öffnete sie die Tür. „Björn!“ Sie hätte ihm gleich die Tür vor der Nase zuknallen sollen. Aber sie schaffte es nicht. „Hi, Jenni.“ Er lehnte lässig am Türrahmen. „Was liegt an?“ Der traute sich was. „Hi.“ Mehr fiel ihr beim besten Willen nicht ein. Sollte er doch reden. „Na“, sagte Björn auffordernd. „Kann ich reinkommen?“ Das könnte dem so passen. „Geht nicht.“ Jenni machte eine Pause und kaute an ihrem Zopf. „Also sag schon. Was willst du?“ Björns Selbstsicherheit schwand. „… mmmh also, weißt du. Ich dachte, du hättest vielleicht heute Nachmittag nichts vor.“ Hatte sie nicht. „Und?“ Ihr Herz schlug vor Freude schneller, aber sie wollte ihn zappeln lassen. „Ja … also“, stotterte Björn. „Vielleicht haste ja Lust, ‘n bißchen …“ Plötzlich verstummte er und wurde rot. Langsam trat er einen Schritt zurück ins Treppenhaus. „‘n bißchen was“, fragte Jenni. Björn suchte nach Worten. „… rumzuhängen“, vollendete er schließlich seinen Satz. Gnadenlos lachte Jenni ihn aus. Etwas besseres hätte er sich schon ausdenken können. „ Rumzuhängen?“, wiederholte sie spöttisch. Beleidigt machte sich Björn auf den Rückzug. „Vergiß es“, sagte er wütend. „Glaub bloß nicht, ich laß mich von dir verarschen.“ Er war schon an der Treppe, als Jenni ihn zurückrief. „Sorry“, murmelte sie schüchtern. „Ich würd’ gern mit dir rumhängen. Klingt gar nicht schlecht.“
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Aber es war nicht so einfach, für den gemeinsamen Nachmittag einen Platz zu finden. Bei Jenni konnten sie nicht bleiben, da sie keine Ahnung hatte, wann ihre Mutter nach Hause kommen würde. „Wo hängst du denn sonst so rum“, fragte sie. „In der Höhle“, sagte Björn und Jenni schluckte. Sie kannte dieses sogenannte Billiardcafé, in dem die ganze Zeit FaschoRock dudelte und Neonazis ein- und ausgingen. Von ihren Freunden und Mitschülern würde sich kaum jemand dorthinein verirren. „Ist wohl kaum der passende Ort für mich“, meinte sie schnippisch. „Nö.“ Björn schüttelte den Kopf. In das Traumzeit-Cafe konnte sie einen wie Björn allerdings auch nicht mitnehmen. Dort trafen sich viele Schüler des LuisenGymnasiums nach der Schule. Irgendwohin mußten sie aber gehen. Es war zu kalt, um draußen herumzulaufen. Schließlich entschieden sie sich fürs Kino. „Hoffentlich ist niemand da, den ich kenne“, betete Jenni insgeheim. Warum hatte sie ihn nicht einfach weggeschickt? Doch sie hatte Glück. Das einzige Kino der Kleinstadt zeigte einen Zeichentrickfilm von Walt Disney und eine ganze Meute Kinder stürmte die Nachmittagsvorstellung. Sie schrien, tobten und bewarfen sich mit Popcorn. Die wenigen erwachsenen Begleiter standen auf verlorenem Posten. Weit und breit kein bekanntes Gesicht! Jenni und Björn zogen sich auf zwei der hinteren Plätze zurück und beobachteten das Chaos. Der Film hatte noch nicht angefangen. Vor allem Björn schien das bunte Treiben zu gefallen. Er lächelte glücklich. „Willst du mal Kinder haben?“ fragte er Jenni.
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Sie zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Und du? „Such dir welche aus“, forderte sie ihn auf. „Wie?“ Jenni zeigte auf die Kinderschar, die mit unverminderter Energie durch das Kino tobte. „Von denen da. Welche Kids nimmst du mit auf deine Insel? Welche könnten deine sein?“ Nachdenklich musterte Björn die vielen Kinder. „Mal sehen. Also auf jeden Fall den da. Und die Kleine daneben.“ Er zeigte auf einen kleinen, blondgelockten Bengel, der gerade ein Mädchen mit roten Zöpfen und Sommersprossen an den Haaren zog. Das Mädchen wehrte sich mit einem kräftigen Faustschlag in den Magen des Angreifers. Lachend balgten sich die zwei dann auf dem Sitz. „Die beiden will ich auf jeden Fall.“ Eine gute Wahl, fand Jenni. Björn suchte sich weiter Kinder aus. Er entschied sich immer für die, die am wildesten waren. Den frechsten von allen, einen chinesischen oder japanischen Jungen, der offenbar der Anführer der Kinderbande war, wählte Björn jedoch nicht aus. „Was ist mit dem Kleinen da drüben“, Jenni zeigte auf den Chinesen. „Der müßte doch was für deine Rasselbande sein.“ Björn schloß die Augen, als ob in seinem Inneren ein Kampf tobte. Jenni war sicher, daß er jetzt wieder wütend werden würde. Doch er schlug die Augen auf und lächelte. „Klar kommt der auch mit auf meine Insel“, sagte er, „und weißt’e, wen ich noch mitnehme?“ Jenni wurde ganz schwindelig. „Wen?“ „Dich.“ Er zog Jenni zu sich heran und küßte sie. Ganz schnell. In ihrem Kopf explodierten bunte Bilder. Ihr Herz schlug zum Zerspringen, ihr ganzer Körper wurde von einem herrlichen Prickeln erfaßt. Es war phantastisch. Dann fing der Film an. Ohne die störende Armlehne seines Sitzes zu beachten, zog Björn Jenni an sich. Er hielt ihre Hand die
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ganze Zeit fest, so daß sie sich sicher und geborgen fühlte. Aber sie fühlte noch mehr. Etwas, das viel aufregender war. Immer wieder küßte Björn sie. Bis sie miteinander zu verschmelzen schienen. Und dann gingen plötzlich die Lichter im Kino an. Jenni dachte, es wäre etwas passiert und die Vorstellung würde deswegen unterbrochen. Aber auf der Leinwand flimmerte schon der Abspann. Der Film konnte doch nicht zu Ende sein! Es waren doch höchstens fünf Minuten vergangen. Jedenfalls hatte Jenni keine einzige Szene mitbekommen. Wie peinlich. Jenni merkte, wie sie über und über erötete. „Also, ich fand den Film einsame Spitze. Und du?“ Björn beobachtete sie und lachte. Warum wurden Jungs eigentlich nie rot? Schon wieder spürte Jenni Björns Lippen auf ihren. Für dieses Gefühl würde ich sterben, dachte Jenni, während Björns Zunge ihren Mund ertastete. „Igitt, guck mal was die da machen. Die knutschen ja!“ Laut glucksendes Kinderlachen holte die beiden in die Wirklichkeit zurück. Die ganze Rasselbande hatte sich vor ihrem Platz versammelt und fixierte das Pärchen. „Pfui Teufel“, riefen die Kinder. Der kleine Chinese, den Björn hatte adoptieren wollen, gab laut schmatzende Geräusche von sich. „Du weißt eben noch nicht was gut ist, Kleiner“, sagte Björn grinsend, bevor er Jenni sanft aus dem Kino zerrte. Obwohl es draußen kalt und stürmisch war, schlenderten sie eng umschlungen so langsam in ihre Straße zurück, als wäre der schönste Sommerabend. Es waren stille Minuten der Vertrautheit. Keiner von ihnen sagte ein Wort, aber Jenni genoß das Schweigen. Worte waren überflüssig. In diesem Augenblick wußten sie, daß sie zusammengehörten. „Weißt du was“, fragte Björn, als sie schon fast bei Jennis Haus
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angekommen waren. Sie blieben stehen. Jennis Herz begann schneller zu schlagen. Jetzt wird er mir gleich seine Liebe gestehen und alles andere ist egal, dachte sie hoffnungsvoll. „Was?“ Björn zögerte noch. „Ich …“ „Ja?“ „Ich habe mein ganzes Leben lang fast jede Minute mit meinem Bruder Marco verbracht.“ Enttäuscht senkte Jenni den Blick. „Na und?“ „Wir gehören halt ganz fest zusammen, das ist so bei Zwillingen“, murmelte Björn. „Ich will, daß du das weißt. Marco ist in Ordnung.“ „Er ist überhaupt nicht in Ordnung. Dein Bruder ist ein mieser Scheißkerl und kriminell noch dazu. Und das weißt du auch.“ Jenni wurde wütend. Aber auch Björn war in Rage geraten. Unsanft stieß er Jenni an den nächsten Gartenzaun. „Paß ja auf, wie du über meinen Bruder redest. Auf meine Familie laß ich nix kommen, klar?“ Mit gequältem Gesicht raufte Björn sich die blonden Haare. „Die Familie ist das höchste Gut der Deutschen, sagt mein Vater. Ich wünschte nur, Marco und mein Vater würden dich mögen, aber sie würden eine wie dich niemals akzeptieren.“ „Dann richte ihnen aus, daß ich darauf verzichten kann. Bei solchen ehrenwerten Deutschen wie denen kommt mir nämlich das Kotzen.“ Jenni schleuderte Björn ihre Worte geradezu ins Gesicht. „Ich hasse deine Scheißfamilie und wenn du weiter zu diesen Rassisten hältst, wirst du auf mich verzichten müssen.“ Damit ließ sie Björn stehen. So schnell wie möglich rannte sie nach Hause. In ihrem Zimmer angekommen, sperrte sie die Tür ab, warf sich heulend aufs Bett und schluchzte ins Kissen. Warum nur mußte immer alles so verdammt kompliziert sein? Eben noch war sie so glücklichgewesen wie niemals zuvor. Im Himmel hatte sie geschwebt und
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nun war sie voll auf die Nase gefallen. Dieser gemeine Björn. Wieso tat er ihr das an? Es war doch schon alles klar gewesen zwischen ihnen. Eine neue Liebe hatte gerade begonnen. Jetzt hätte Björn es nur noch aussprechen müssen, daß sie zusammengehörten. Statt dessen kam er ihr mit seiner blöden NaziFamilie. Scheiße! Jenni heulte und heulte bis ihr Kopf und Augen schmerzten und sie kaum noch Luft bekam. Dann drehte sie ihren CD-Player voll auf. Sie drückte auf den Repeat-Knopf, so daß ihr Lieblingslied „Don’t cry“ von Guns n’ Roses wieder und wieder aus den Boxen dröhnte. Zweimal, zehnmal, zwanzigmal. Irgendwann klopfte ihre Mutter an die Tür. „Laß mich doch bitte herein. Was ist denn los mit dir, Jenni. Du kannst doch über alles mit mir reden“, schrie sie. „Don’t you cry tonight, there’s a heaven above you, baby“, sang Leadsinger Axl Rose. Und Jenni ließ niemanden herein. Auch ihren Vater nicht, der vor der verschlossenen Tür in Wut geriet. „Wenn du nicht mit uns reden willst, stell wenigstens die Musik leiser“, brüllte er, ungeduldig wie immer. Mechanisch gehorchte Jenni. Ihr Vater konnte sehr streng sein. Wahrscheinlich würde es mit ihr und der Liebe niemals klappen. „Du bist eine Eigenbrötlerin. Du wirst es mit Männern mal schwer haben“, hatte ihre Oma früher immer zu ihr gesagt. Jetzt war die Großmutter zwar längst tot, aber rechtbehalten sollte sie trotzdem, so wie es aussah. Wie schon oft, wenn sie Kummer hatte, floh Jenni in die Welt der Bücher. Auch heute ließ sie die Geschichte der Familie Netzerihre eigenen Sorgen vergessen: Thamar verstand ihren Bruder nicht. Es gab so viele hübsche und anständige Mädchen, die unsterblich in ihn verliebt waren. Die Herzen flogen dem gutaussehenden David reihenweise zu.
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Er hatte es bestimmt nicht nötig, sich mit diesem unmöglichen Fräulein Waldteufel mit dem wilden Karottenkopf abzugeben. Nichts an Louisa war in Ordnung. Und sie war viel zu alt für David. Wie anrüchig. Thamar konnte es nicht erwarten, die Meinung der Eltern zu Davids Freundin zu hören. Sicher würden sie an diesem Abend über nichts anderes sprechen. Neugierig schlich Thamar zum Elternschlafzimmer. Drinnen hörte sie die erregten Stimmen von Mama und Papa. Sie preßte ihr Ohr an die Tür und lauschte: „Wie kann David uns das nur antun. Als ob nicht schon alles schlimm genug wäre.“ Mama schien den Tränen nahe. Sie teilte ganz eindeutig Thamars Ansichten über Louisa. Sie fand das Mädchen einfach unmöglich. „Wahrscheinlich hat sie unseren Sohn ganz und gar unter Kontrolle“, schniefte Mama. „Sie hat ihn becirct und jetzt ist er ihr hörig. Sonst würde er doch niemals drohen, uns zu verlassen.“ „Sei doch bitte nicht so hysterisch, Rebekka.“ Papa mußte sehr aufgebracht sein, sonst würde er Mama nicht mit Rebekka anreden. Mama mochte ihren Vornamen nicht und normalerweise nahm Papa darauf Rücksicht. Außer, wenn er wütend war. „Diese Dame hätte keinen Grund, unseren David, wie du es nennst, zu becircen, außer wenn sie ihn wirklich liebt. Es ist heutzutage kein gesellschaftlicher Vorteil mehr, zur Familie von Dr. Simon Netzer zu gehören, liebste Rebekka. Im Gegenteil.“ Seine Worte waren voller Bitterkeit. Am liebsten hätte Thamar ihren heimlichen Lauschposten verlassen und ihren Vater fest in den Arm genommen. „Und was hast du sonst noch zu der Auserwählten unseres Sohnes zu sagen?“ fragte Mama spitz. „Lousia ist eine faszinierende und wunderschöne junge Frau.“ Thamar schnappte empört nach Luft und verschluckte sich. Beinahe hätte sie sich durch lautes Husten verraten.
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„Vielleicht ist David ein wenig zu jung für das Fräulein Waldteufel. Aber sie ist eine entzückende Abwechslung von all diesen deutsch-nationalen Durchschnittsdamen, die alle gleich aussehen und dasselbe zu sagen haben, nämlich gar nichts außer Naziparolen.“ „Dann heirate du sie doch gleich selbst, wenn du sie so entzückend findest.“ Mama war beleidigt. „Sei doch nicht albern, Rebekka. Ich mache mir große Sorgen um die beiden. Wir dürfen diese Verlobung niemals zulassen. Eine sogenannte arische Deutsche und ein Jude können in dieser schrecklichen Zeit nicht heiraten. Nicht auszudenken, was die Nazis ihnen antun würden. Und es sprechen ohnehin viele Anzeichen dafür, daß eine solche Ehe nach den Gesetzen des Herrn Hitler schon bald ein Verbrechen sein wird.“ Thamar hielt es vor der Tür nicht mehr aus. Sie stürmte ins Elternschlafzimmer. „Papa, findest du, ich bin auch bloß eine von diesen langweiligen Durchschnittsdamen“, rief sie und flog in seine Arme. Mama starrte sie mit einer Mischung aus Empörung und Verblüffung an und Papa lachte schallend. Er lachte, als könne er nie mehr aufhören. „Wie könntest du, Kleines“, keuchte er schließlich. Er betrachtete sie liebevoll. „Du bist doch unsere Tochter.“ Damit ging er zu seiner Frau und gab ihr einen sanften Kuß auf die Wange. „Wie kann ich eigentlich von schrecklichen Zeiten sprechen, wo ich doch eine so wunderbare Familie habe. Wir brauchen uns nicht zu fürchten. Hauptsache, wir vier halten fest zusammen. Was immer geschieht.“ Papa hat recht, dachte Thamar überglücklich. Mama fing an zu weinen. * Mit viel Mühe konnte Papa David überreden, seine Verlobung
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mit Louisa Waldteufel für ein Jahr, also für die tradtionelle Dauer der Verlobungszeit, geheimzuhalten. Zuerst wurde David fuchsteufelswild, wollte gleich seine Sachen packen und das Elternhaus für immer verlassen. Aber Papa überzeugte seinen Sohn davon, daß seine Familie immer zu ihm halten würde. David sah ein, daß er, gerade weil er Louisa so sehr liebte, zu größter Vorsicht verpflichtet war. Um ihrer Sicherheit willen. Für David war es dann ein noch größeres Stück Arbeit, Louisa zum Schweigen zu überreden. „Die Nazis sind mir gleich“, rief sie immer wieder. „Jeder darf von unserer Liebe wissen. Ob du nun Jude bist oder Neger oder Kommunist.“ Schließlich aber kam sie zur Vernunft. Nur ihr Vater, der Tenor Karl Waldteufel, der seit einem halben Jahr im fernen Wien an der Oper engagiert war, sollte eingeweiht, und zu einer heimlichen Verlobungsfeier im Haus der Netzers eingeladen werden. Unter einem Vorwand bat seine Tochter ihn, zu kommen. Louisas Mutter war schon seit vielen Jahren tot. * Die Verlobungsfeier von Louisa Waldteufel und David Netzer sollte für Thamar und alle anderen ein unvergeßliches Erlebnis werden. Sie übertraf sogar das prachtvolle Silvesterfest, mit dem die Netzers das Schicksalsjahr 1933 begrüßt hatten. Zwar wurde die Verlobung bei weitem nicht so aufwendig gefeiert. Denn der Familie ging es finanziell nicht mehr so gut wie noch vor zwei Jahren. Und es waren auch nicht, wie damals, mehr als hundert Gäste geladen. Nur sieben Personen nahmen an der kleinen Feier teil, die ja geheim bleiben sollte. Vielleicht machte gerade das den Abend so aufregend. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft. Sogar die beiden Hausmädchen hatten vorsichtshalber einen freien Tag bekommen. Karl Waldteufel war am Tag zuvor voller Sorge in der Stadt angekommen. Er
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hatte einen Krankheitsfall befürchtet und war nun überglücklich, zur heimlichen Verlobung seiner geliebten Tochter aus Wien fortgelockt worden zu sein. Der Opernsänger verabscheute die Nazis. Entschlossen, sich von ihnen nicht unterkriegen zu lassen, stimmte er der Verlobung sofort zu. Von seinem künftigen Schwiegersohn David war Louisas Vater sofort begeistert. „Ein prächtiger Bursche, Louisa“, sagte er augenzwinkernd, als spräche er von einem Pferd und klopfte David anerkennend auf die Schulter. Thamar war begeistert, weil David sich im letzten Moment entschlossen hatte, seinen besten Freund, ihren heimlichen Schwarm Samuel Weingold einzuladen. Bei Tisch wanderte ihr Blick verstohlen zwischen ihrem Angebeteten und Louisas Vater hin und her. Seine Tochter sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Seine Figur war ebenso gewaltig wie sein Appetit. Er war nicht besonders groß, hatte keine einzige Sommersprosse und schwarze Haare. Ob Louisa wohl ihrer verstorbenen Mutter glich? Eigentlich sah sie heute abend in ihrem moosgrünen Samtkleid gar nicht übel aus. Ihr rotes Haar glänzte im Kerzenschein und die grünen Augen leuchteten. Wunderschön fanden sie alle. – Außer Mama. Nachdem man gegessen hatte und die Reden gehalten worden waren, spielte Mama Klavier und Karl Waldteufel gab ein paar Kostproben seiner beeindruckenden Stimme. Schließlich wurde zu Musikplatten getanzt. Zuerst Wiener Walzer, dann legte Samuel eine streng verbotene Musik auf: Amerikanischen Swing. Vor allem Mama war zuerst sehr kritisch, aber schließlich tanzte sie genau so ausgelassen, wie die jungen Leute. Thamar war entzückt. Samuel Weingold forderte sie auf. Er wirbelte sie schwungvoll durch den Salon, bis ihr die Luft wegblieb. Später nahmen sie zusammen auf dem Sofa Platz und amüsierten sich über Louisa, die gerade mit ihrem Vater tanzte.
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Ein komisches Paar. Louisa war fast einen Kopf größer als der kleine, dicke Karl Waldteufel und sicher um mehr als die Hälfte schmaler. „Ist Louisa nicht eine Göttin?“ rief Samuel. Enttäuscht ließ Thamar ihn sitzen, um mit ihrem Vater zu tanzen. Erst gegen zwei Uhr endete die Feier. Ein letztes Mal stieß die kleine Gesellschaft auf die beiden Verlobten an und David küßte Louisa so unanständig, daß Mama Thamar empört die Augen zuhielt. „Ich hoffe, wir können hier in einem Jahr genauso schön, aber ohne erzwungene Heimlichkeiten gemeinsam Hochzeit feiern“, sagte Karl Waldteufel zum Abschied. * Diese Hoffnung wurde schnell entäuscht. Am Sonntag, den 15. September 1935, einen Monat nach der denkwürdigen Verlobungsfeier im Hause Netzer, wurden die Nürnberger Gesetze „Zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ erlassen. Alle Juden wurden damit vom Reichsbürgerrecht ausgeschlossen. Nach den Nürnberger Rassengesetzen, wie sie bald überall genannt wurden, war eine Eheschließung zwischen einer Deutschen wie Louisa und einem Juden streng verboten. Wer dennoch heiratete, wurde mit Zuchthaus bestraft. David konnte sogar wegen des Kontakts mit Louisa im Gefängnis oder Zuchthaus landen. An eine Heirat war nun natürlich nicht mehr zu denken. Vielmehr mußten die beiden, die sich verzweifelt liebten, jetzt noch viel vorsichtiger werden. Geheimhaltung war das höchste Gebot. Trotz allem waren Louisa und David nicht bereit, aufeinander zu verzichten. Thamar fand diese verbotene Liebe im Grunde furchtbar aufregend. Fast wünschte sie, ihr Leben würde ebenso romantisch
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und abenteuerlich verlaufen. Am liebsten hätte sie ihrer Freundin Klara die ganze Geschichte erzählt. Aber sie schwieg, wenn es auch schwer fiel. „Verantwortungslos“, schalt Papa seinen Sohn, weil David sich nicht aus Sorge und Rücksicht von Louisa lossagte. Schließlich hatte er den verzeifelten David so weit gebracht, daß dieser zu Louisa ging, um von ihr Abschied zu nehmen. Wutentbrannt stürmte Louisa daraufhin mit fliegenden Haaren in Papas Praxis und schimpfte, er solle sich künftig aus ihrem Leben heraushalten. Sie könne selbst auf sich aufpassen. Papa versuchte nie wieder, die beiden zu trennen. „Vor Louisa haben sicher sogar die Nazis Angst“, schmunzelte er. Auch Louisas Vater war in Sorge. Er bat Louisa und David, zu ihm nach Österreich zu ziehen. „Was soll aus Deutschland werden, wenn die Guten fortgehen“, sagte Louisa ernst. „Irgendwann werden wir gehen“, erklärte David. „Nach Palästina. Aber erst mache ich hier mein Abitur.“ Damit war es entschieden. Louisa und David blieben in der Stadt. Am glücklichsten darüber schien Mama zu sein. Weil sie ohnehin überzeugt war, daß ihr Sohn mit siebzehn Jahren für eine feste Bindung viel zu jung war: „In spätestens einem Jahr ist das Fräulein Waldteufel vergessen und was soll er dann ohne seine Familie in Wien anfangen.“
1936 Wie sich schon bald zeigen sollte, hatte Mama sich diesmal gründlich geirrt: Nach einem Jahr hatte David keineswegs seine Verlobte Louisa Waldteufel vergessen, sondern alles andere um sich herum. Er interessierte sich nicht mehr für die Nazis und hatte aufgehört, seinen Eltern Vorträge über die gefährliche
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Situation zu halten. Auch Palästina und der Zionismus waren ihm egal. David Netzer lebte nur noch für Louisa. Jede freie Minute gehörte ihr. Die beiden hatten sich ihre eigene geheime Welt geschaffen, in der die feindselige Wirklichkeit keinen Platz hatte. David kam oft tagelang nicht nach Hause, er traf Louisa in einem ihrer zahlreichen Verstecke. Mama war vor Angst um ihren Sohn schon ganz schmal und blaß . „Warum sollen sich die beiden nicht wenigstens, so wie früher hier zu Hause treffen, wenn wir sie doch nicht davon abhalten können“, fragte sie. Doch Papa wollte davon nichts wissen. „Juden dürfen keine Arier beherbergen, das weißt du doch. Ich lasse nicht zu, daß dein selbstsüchtiger Sohn uns alle ins Zuchthaus oder am Ende noch unters Fallbeil bringt.“ Thamar zuckte zusammen. Sie mochte es nicht, wenn ihr Vater so schlecht über den großen Bruder sprach. Außerdem gab sie Mama recht. David und seine Louisa wären bei ihnen im Haus bestimmt viel sicherer. „Du bist feige, Papa“, flüsterte sie. Zum Glück hörte er es nicht. Mamas Stimme war dagegen nicht zu überhören: „Ich habe keine Angst, unserem Sohn zu helfen, selbst wenn es gefährlich ist. Was ist heutzutage nicht gefährlich, und David hat es wirklich nicht leicht.“ „Habe ich es denn leicht? Ich muß an die ganze Familie denken und nicht nur an mich selbst!“ Papa schrie vor Wut. Früher war er nie laut geworden. Bevor die Nazis alles durcheinandergebracht hatten.
Es war ein wunderschöner Tag im Juni 1936 und Thamar war auf dem Heimweg von der Schule. Schweigend ging sie neben
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Klara her. Sie dachte an den Streit ihrer Eltern vom Vortag und die laute, kalte Stimme ihres Vaters. Wie gern hätte sie der besten Freundin von den Sorgen ihrer Familie erzählt. Klara hatte immer zu ihr gehalten. Sie war jetzt natürlich beim BDM, dem Bund Deutscher Mädel, und trug immer öfter ihre Uniform. „Ich hatte keine Wahl“, hatte sie Thamar traurig erklärt. Thamar spürte, daß sie Klara vertrauen konnte. Aber sie schwieg und musterte die strohblonden, geflochtenen Zöpfe und die blauen Augen ihrer Freundin mit einer Mischung aus Neid und Abscheu. Sie sah aus wie die Mädels auf den BDM-Plakaten. „Ist was?“ Klara hatte den Blick bemerkt. „Nein, nichts.“ „Warum bist du dann so still?“ „Weiß nicht.“ Thamar hatte plötzlich Schwierigkeiten, in dem BDM-Mädel mit der strengen Sommertracht, ihre alte Freundin wiederzuerkennen. So vieles hatte sich verändert. Sie ging nun auch nicht mehr gern zur Schule. Außer ihr hatten noch zwei andere Jüdinnen bleiben dürfen, deren Eltern ebenso wie Papa früher bekannte Persönlichkeiten gewesen waren und die jetzt bei alten Bekannten einen Gefallen einlösten. David war sogar der einzige Jude auf dem Jungengymnasium, außerdem gab es noch einen Halbjuden. Von den schweigend geduldeten „nicht-arischen“ Schülern wurde erwartet, daß sie unaufällig waren und sich bedingungslos anpaßten. So mußte Thamar wie alle anderen jeden Morgen den rechten Arm zum Hitlergruß heben. Sie tat es stets und sie haßte sich dafür. Wenigstens wurde sie von keinem der Lehrer schikaniert. An Davids Schule sollte das angeblich ganz anders sein. Aber David sprach nie darüber. „Also dann, bis morgen.“ Verwirrt blickte Thamar auf. „Was?“
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„Wir sind angekommen Du wohnst hier. Willst du nicht reingehen?“ Klaras Stimme klang unglücklich. „Oder erzählst du mir endlich, warum du so durcheinander bist?“ „Ich bin in Ordnung, danke“, antwortete Thamar kühl und öffnete die Pforte. „Bis morgen.“ Unvermittelt hielt Klara sie am Ärmel ihres Kleides fest. „Weißt du was? Ich komme noch mit rein.“ Bevor Thamar protestieren konnte, hatte die Freundin sie schon durch den Vorgarten ins Haus geschoben. Dann steuerte sie direkt auf die Küche zu. „Gibt’s hier denn nichts mehr zu essen undhabt ihr keine Hausmädchen mehr?“ fragte sie dreist. „Nein.“ Ärgerlich ging Thamar in ihr Zimmer hinauf. Klara folgte ihr. „Ich habe es vorhin schon einmal gefragt und ich frage dich jetzt: Was ist los?“ Klara war nun ebenfalls wütend. „Ist es das, was dich stört?“ Sie zupfte an der dunkelblau-weißen Uniform. „Ja, vielleicht ist es das“, schrie Thamar so laut wie am Vortag ihr Vater geschrien hatte. „Wenn’s weiter nichts ist.“ Mit dramatischer Geste befreite sich Klara von der dunklen Krawatte und warf sie in die Ecke. Dann öffnete sie sekundenschnell die strenge Leinenbluse, indem sie die Knöpfe einfach aufriß. Offensichtlich wollte sie auch noch den Rock zerreißen, aber das gelang ihr nicht. Also zog sie ihn aus und stand schließlich in weißer Spitzenunterwäsche vor Thamar. „Ich hasse den BDM, verstehst du. Aber ich muß hingehen. Du mußt ja auch jeden morgen brav ‚Heil Hitler‘ sagen.“ Außer sich vor Wut warf Thamar ihren Schuh nach Klara. „Das ist etwas ganz anderes. Außerdem siehst du immer noch wie ein BDM-Mädel aus. Wie ein BDM-Mädel in Unterwäsche.“ Klara hob den Schuh auf und wollte zurückwerfen. „BDMMädel haben keine Spitzenunterwäsche“, rief sie und ließ den
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Schuh wieder fallen. Wild entschlossen griff sie nach einer Schere, die auf Thamars Schreibtisch lag. Fast genauso schnell wie sie zuvor die Bluse zerrissen hatte, setzte sie jetzt die Schere an und trennte mit energischen Schnitten die beiden hüftlangen Zöpfe ab. „Bist du jetzt zufrieden.“ Zitternd hielt Klara die Schere in der einen Hand und schleuderte die Zöpfe der Freundin entgegen. Sie begann zu weinen. Thamar stürzte zu ihr und nahm sie fest in den Arm. Wie sehr sie sich plötzlich für ihr Mißtrauen schämte. „Du bist wirklich verrückt“, sagte sie hilflos. „Es tut mir leid, daß ich vorhin so gemein war. Und daß ich dachte, du wärest ein Nazi.“ Sie saßen auf Thamars Bett. Thamar spielte mit den abgeschnittenen Zöpfen. Plötzlich fand sie die Situation urkomisch. Bei der Erinnerung an Klaras kämpferisches Gesicht, als diese sich die Zöpfe abgeschnitten hatte, hatte sie große Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Klara saß auf der Bettkante und hatte das Gesicht in die Hände vergraben. Ihre Schultern bebten. „Jetzt hör doch bitte auf zu weinen. Du wirst mit den kurzen Haaren sicher umwerfend aussehen.“ Langsam hob Klara den Kopf und endlich konnte Thamar ihr Gesicht sehen. Es war tränenüberströmt, aber ihre beste Freundin lachte. Sie lachte so heftig wie schon lange nicht mehr. Erleichtert stimmte Thamar ein. Kichernd und prustend wälzten sich die beiden auf dem Bett. * Voller Selbstmitleid ließ Jenni das Buch sinken. Freunde! Jeder Mensch sollte doch Freunde haben, auf die immer Verlaß war. Die immer Rat wußten und stundenlang zuhören konnten. Wer würde ihr jetzt weiterhelfen? Ratlos blickte Jenni in den düsteren Nachthimmel. Es war sehr spät geworden. In wenigen Stunden mußte sie schon wieder aufstehen. Wen könnte sie jetzt
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anrufen? Maike und Laura betonten zwar immer, sie seien ihre besten Freundinnen. Dennoch hatte Jenni keine Lust, ihnen von Björn zu erzählen. Wozu auch. Sie würden sie ja doch nicht verstehen. Und Malte hatte sie schwer enttäuscht. Ihm hatte sie ihr Vertrauen geschenkt und er war nicht für sie dagewesen. Er hatte nur auf ihren Gefühlen herumgetrampelt. Nein, solche Freunde wie die Klara im Buch hatte sie nicht. Sie gehörte zwar mehr oder weniger zu einer beliebten Schulclique, aber das war etwas ganz anderes. Seufzend las sie weiter:
Später schenkte Thamar Klara ihr schönstes Sommerkleid, und Mama, die das Mädchen kopfschüttelnd gemustert hatte, schnitt ihre blonden Haare zu einem ordentlichen Bubukopf zurecht, der knapp über die Ohren reichten. Mit dem zartgeblümten grünen Kleid und den kurzen Haaren sah Klara wirklich wunderschön aus, fand Thamar. Es wurde ein vergnügter Nachmittag. „Wo steckt eigentlich David?“ fragte Klara, als sie gerade in der Küche standen und nach Klaras Lieblingskeksen suchten. „Ich glaube, ich bin immer noch in deinen Bruder verliebt.“ „Auf den brauchst du dir keine Hoffnungen mehr zu machen“, sagte Thamar. „Der ist nicht mehr zu haben.“ Fassungslos starrte Klara sie an. „Wirklich nicht? Du meinst, er ist in festen Händen. Wer ist sie?“ „Das darf ich dir beim besten Willen nicht erzählen. Tut mir leid. Aber sie sieht auf jeden Fall lange nicht so gut aus wie du, das kannst du mir glauben.“ Fragend hielt Thamar ihrer enttäuschten Freundin eine Dose mit Keksen unter die Nase. Diese nickte gleichgültig. „So ein Pech.“ Sie wollten gerade wieder in Thamars Zimmer hinaufgehen, als sie an der Hintertür, die zum Garten führte, ein unterdrück-
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tes Stöhnen hörten. Ein lautes Poltern folgte und die Tür wurde aufgestoßen. Es war Louisa. Ihr blaues Kleid war zerissen, schmutzig und voller Blut. Louisas rotes Haar war zerzaust, ihr Gesicht und ihr ganzer Körper waren von blutigen Schrammen und Wunden übersät. Am schlimmsten schien die rechte Hand verletzt zu sein, um die Louisa einen Stoffetzen geschlungen hatte. Die Hand blutete stark, und Louisas sommersprossiges Gesicht war schmerzverzerrt. „Hol … deinen Vater“, wimmerte Louisa schwach. Dann brach sie vor den Füßen der vor Schreck erstarrten Mädchen zusammen. Klara reagierte als erste. „Dr. Netzer! Dr. Netzer!“ schrie sie mit gellender Stimme. Sie stürmte in die Praxis von Thamars Vater. Thamar blieb, immer noch unfähig, sich zu rühren, mit der übel zugerichteten Louisa allein in der Küche zurück. Langsam und wie in Trance kniete sie neben der Verletzten nieder. „Was ist passiert?“ Vorsichtig strich sie Louisa das Haar aus dem zerschrammten Gesicht. „Sie … haben einen … Hund auf mich gehetzt“, sagte Louisa schwach, ohne die Augen zu öffnen. „Mein … Kleid … es ist ganz zerissen.“ Thamar spürte die Tränen nicht, die ihr über die Wangen liefen. „Nicht so schlimm. Das bringt Mama wieder in Ordnung.“ Sie ergriff Louisas unverletzte Hand. Sie fühlte sich eiskalt an. Endlich kam Papa. „Was ist los?“ Er stieß seine Tochter zur Seite und beugte sich über Louisa. „Jemand hat einen Hund auf sie gehetzt.“ Thamar wurde plötzlich übel. Durch einen Tränenschleier beobachtete sie, wie Papa die reglose Louisa aufhob und sie gefolgt von Mama und Klara in seine Praxis trug. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
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Als Thamar aus der Bewußtlosigkeit erwachte, fand sie sich auf dem Küchenboden wieder. Sie lag an der Stelle, wo zuvor Louisa zusammengebrochen war. Übrall war Blut. Mühsam unterdrückte Thamar das Gefühl, sich übergeben zu müssen, und stand auf. Sie schämte sich, weil sie versagt hatte. Sie hatte nicht wie Klara sofort Hilfe geholt, sondern war einfach nur unfähig herumgestanden. Und dann war sie in ihrer Hilflosigkeit auch noch ohnmächtig geworden. Hastig trank Thamar ein Glas Wasser und lief in die Arztpraxis ihres Vaters hinüber. Hoffentlich war Louisa nicht so schwer verletzt, wie es ausgesehen hatte. Ausgerechnet heute würde David erst spät am Abend aus der Schule heimkommen. Ob sie ihn holen sollte? Die Tür zur Praxis war geschlossen, im Flur standen Mama und Klara mit blassen Gesichtern unschlüssig herum. „Wie geht es Louisa?“ Thamar wollte ins Behandlungs–zimmer, aber Mama hielt sie fest. „Du darfst da nicht ‘rein. Papa braucht Ruhe für die Behandlung.“ „Wie geht es ihr? Wie schlimm ist es?“ Mama zuckte die Achseln. „Wir wissen noch nichts.“ Eine Weile lauschten sie alle drei schweigend auf Geräusche aus dem Behandlungszimmer. „Vielleicht solltest du lieber nach Hause gehen, Kind“, sagte Mama zu Klara gewandt. „Das ist nur eine von Papas langjährigen jüdischen Patientinnen, mußt du wissen.“ „Ich würde lieber noch bleiben und abwarten, ob es ihr besser geht, wenn Sie erlauben.“ Klara sah Mama bittend an. Mama nickte resigniert. Die Behandlung schien Stunden zu dauern. Thamar fragte sich, ob Papa und Louisa überhaupt noch da waren, weil durch die geschlossene Tür überhaupt kein Geräusch drang. „Ich werde mir jetzt einen starken Kaffee kochen“, sagte Mama und ging weg. Ihre Hände zitterten.
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Klara musterte Thamar mit bohrendem Blick. „Ist das Davids Freundin?“ „Das ist Louisa. Sie ist sogar Davids Verlobte." Thamar machte eine Pause. „Woher hast du es gewußt?“ Klara zog ein zerknittertes Foto aus der Tasche ihres Kleides und hielt es der Freundin hin. „Das hat sie verloren, als dein Vater sie hergetragen hat.“ Die Fotografie zeigte David mit seinem verschmitzten Lächeln, das alle so gern hatten. Thamar steckte das Bild ein. „Ich werde es Louisa zurückgeben.“ Es beunruhigte sie, daß Klara das Bild gesehen hatte. Nachdenklich spielte Klara mit ihren frisch geschnittenen Haaren. „Hast du etwa Angst, weil ich sie gesehen habe?“ fragte sie. „Ist sie keine Arierin?“ Sofort schüttelte Thamar heftig den Kopf. „Ich werde niemandem irgend etwas von dem erzählen, was ich heute hier erlebt habe“, sagte Klara. „Das schwöre ich dir.“ Thamar war ein wenig erleichtert. „Ist gut.“ Aber vielleicht wußte jemand anderes von ihrem Bruder und Louisa. Und vielleicht würde der nicht schweigen. Warum hätte dieser Unbekannte denn sonst einen Hund auf Louisa hetzten sollen? Ein hoher, gequälter Schrei aus dem Behandlungszimmer ließ die wartenden Mädchen vor der Tür aufschrecken. „Nein, nein … bitte nicht … nein“, schrie Louisa und Papa versuchte beruhigend auf sie einzureden. Thamar hielt es nicht mehr aus. Sie stürmte in die Praxis. Drinnen war Papa über die sich heftig wehrende Louisa gebeugt und hielt sie fest. Die weißen Laken waren voller Blut. „Thamar, geh wieder raus. Das hier ist nichts für dich!“ Papa wurde sofort wütend, als er sie bemerkte. Mit viel Mühe gelang es ihm, seiner Patientin eine Spritze zu geben. Nach einer Weile
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wurde sie ruhiger. Stumm starrte Thamar auf die Szene. Nein, das war wirklich nichts für sie. „Warum hat sich Louisa eben so sehr gewehrt?“, wollte Thamar wissen. Papa schien zuerst gar nicht antworten zu wollen, aber dann überlegte er es sich anders. „Der Hundebiß hat den kleinen Finger ihrer rechten Hand beinahe abgetrennt. Ich habe alles versucht, aber ich kann den Finger nicht retten.“ Jetzt wünschte Thamar, sie würde einfach wieder ohnmächtig werden, so wie vorher in der Küche. Noch lieber wäre sie aus diesem Alptraum erwacht. Doch es war kein Traum und sie fiel auch nicht in Ohnmacht. Irgend etwas mußte sie tun, um das Schreckliche zu verhindern. „Das darfst du nicht, Papa“, sagte sie erstickt, „Louisa spielt doch so gern Klavier.“ Mit einem Satz war der Vater plötzlich bei ihr und packte sie bei den Schultern. „Das weiß ich. Denkst du, ich würde amputieren, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe? Ich habe alles versucht.“ Das hatte er gewiß. Doch insgeheim gab Thamar ihrem Papa die Schuld an dem Unglück. Hatte er nicht Louisa und David verboten, sich hier zu treffen? Während der Amputation wich Thamar nicht von Louisas Seite. Obwohl sie lieber weit fortgelaufen wäre. Sie versuchte alles, um die halb betäubte Verletzte zu trösten. Später wußte sie nicht einmal mehr genau, was sie gesagt oder getan und wie lange alles gedauert hatte. Erst als Papa fertig war, wagte Thamar, Louisas rechte Hand anzusehen. Ein dicker Verband ließ sie zum Glück nichts erkennen. Fast nichts. Gern hätte sie sich bei Klara ausgeweint. Sie war aber längst fort, wie ihr Mama sagte.
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Thamar fühlte sich müde und wütend zugleich. Eigentlich hätte David heute an ihrer Stelle sein sollen. Schließlich war Louisa seine Verlobte und sie hätte ihn sicher lieber an ihrer Seite gehabt, als die kleine Schwester. Auf jede Katastrophe folgt ein Unheil. Das hatte Thamar in letzter Zeit schon sehr oft gedacht. Wie eine Kettenreaktion des Bösen schien ihr im Moment alles, was in Deutschland geschah. Ganz selten nur war es wie früher, als sie und David eine unbeschwerte Kindheit voller Abenteuer erlebt hatten. Thamar quälten jetzt oft schreckliche Bauchschmerzen. Einfach weil sie sich fürchtete. Kurz nach Louisas Operation hatte Papa sie für ihre Tapferkeit gelobt. „Alles wird gut“, hatte er versprochen, für einen kurzen Augenblick war da wieder der alte Papa mit der beruhigenden Stimme. Aber es wurde gar nicht „alles wieder gut“. Alles wurde schlimmer. David war außer sich vor Wut und Schmerz, als er erfuhr, was geschehen war. Er war voller Haß. Auf jenen unbekannten Nazi, der Louisa das angetan hatte. Auf Papa, weil er Louisas Finger nicht hatte retten können. Sogar auf Thamar, weil sie die Amputation nicht verhindert hatte. Am meisten jedoch schien David sich selbst zu hassen. Denn er war nicht bei Louisa gewesen, um sie zu beschützen. „Ich hätte doch spüren müssen, daß sie in Gefahr ist“, sagte er. Nichts konnte ihn davon abbringen. Am liebsten wäre David losgezogen, um den Täter „mit eigenen Händen zu töten“. Er erwartete von Louisa eine genaue Beschreibung des Verbrechers. Doch sie konnte sich nicht einmal an dessen Gesicht erinnern. „Judenhure“, hätte er geschrien und dann den Hund auf sie gehetzt. Sie wollte nicht länger darüber reden.
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Mamas und Papas größte Sorge war es, daß der Mann, der Louisa angegriffen hatte, nun David wegen Unzucht mit einer arischen Deutschen anzeigen würde. Sie versuchten, David zu überreden Deutschland heimlich zu verlassen. Papa wollte Papiere besorgen und sich nach einem geeigneten Versteck umsehen. Falls das nötig werden sollte. Verbittert sagte David: „Haltet euch einfach aus allem heraus, wie ihr es bisher auch immer getan habt.“ Zehn Tage später verließ Louisa Waldteufel Deutschland. Sie war blasser als je zuvor und trug immer noch einen dicken Verband. Zum Abschied hatten sich die Familienmitglieder mit bedrückten Mienen im großen Treppenhaus versammelt. Das letzte Geleit, dachte Thamar. Langsam stieg Louisa die Stufen hinab. Unten angekommen blieb sie vor der überraschten Thamar stehen, zögerte kurz und nahm sie fest in den Arm: „Danke für alles, kleine Schwester. Ohne dich hätte ich die Operation nicht durchgestanden.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Auch wenn das vielleicht besser gewesen wäre …au revoir.“ Damit wollte sie fortgehen, ohne David oder die Eltern noch einmal anzusehen. David hielt sie fest. „Ich werde nach Wien kommen, sobald ich kann. Dann wird alles wieder gut.“ Thamar verabscheute diesen Satz. Er war nichts als eine hilflose Lüge. „Das ist nicht nötig.“ Louisa befreite sich aus Davids Griff. „Bleib wo du bist, es ist aus. Ich liebe dich nicht mehr.“ Mit einem lauten Knall fiel die schwere Haustür hinter ihr ins Schloß. „Du mußt sie aufhalten“, rief Thamar ihrem versteinerten Bruder zu. „Man darf nicht im Streit auseinandergehen.“ David blieb. Er selbst hatte Louisa fortgeschickt. Nach Wien
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zu ihrem Vater, wo sie in Sicherheit war und ihr Studium fortsetzen konnte. Freiwillig wäre sie niemals gegangen, nur im Streit. „Jetzt, wo mir so etwas Schreckliches geschehen ist, sollen wir uns trennen“, hatte Louisa so laut gerufen, daß Thamar in ihrem Zimmer jedes Wort verstehen mußte. „Du mieser Feigling. Du kannst es wohl nicht ertragen, meine Hand anzusehen.“ „So ein Unsinn. Die Trennung ist doch nur vorübergehend, bis ich zu dir kann.“ Auch David hatte geschrien. „Ich könnte es nur nicht ertragen, wenn dir etwas noch Schlimmeres geschehen würde. Ich kann dich nicht beschützen. Ich bin krank vor Sorge um dich. Und wenn du nicht nach Österreich fährst, werde ich mich selbst anzeigen, weil ich eine Deutsche liebe.“ Jetzt war die rothaarige Louisa fort. Vielleicht für immer. Mit der ungewöhlichen jungen Frau, die Thamar zuerst so schrecklich gefunden hatte, war noch etwas anderes verlorengegangen, von dem sie nicht gleich sagen konnte, was es war. Noch immer standen die Netzers im Treppenhaus ihrer prachtvollen Stadtvilla herum. Kein Laut war zu hören, niemand sprach. Als hätte jemand die Zeit angehalten, dachte Thamar. Sie erschauerte. Plötzlich wußte sie, was sie nun ganz verloren hatte: Die Hoffnung.
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Kapitel 10
Widerwillig erwachte Jenni aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Ihr Zimmer war in helles Sonnenlicht getaucht, die grellen Strahlen taten ihren Augen weh. Noch immer spielte der CDPlayer „Don't cry”. Unermüdlich. Verwirrt stellte Jenni fest, daß sie noch die Kleidung vom Vortag trug: ihre Lieblingsjeans und den dicken Isländerpulli. So war sie gestern mit Björn im Kino gewesen. Ach, Björn ... Die Geschichte der Familie Netzer lag aufgeschlagen auf ihrem Bett. Sie mußte beim Lesen eingeschlafen sein. War wohl besser so, überlegte Jenni. Denn was sie zuletzt gelesen hatte, hatte ihr gar nicht gefallen. Eine furchtbare Geschichte. In Gedanken konnte Jenni die Amputation von Louisa Waldteufels Finger genau vor sich sehen. Wie klein und unbedeutend doch dagegen ihre eigenen Probleme waren. Irgendwie half ihr die Hoffnungslosigkeit der Geschichte im Buch, für sich selbst neuen Mut zu fassen. „Wenigstens war ich noch niemals wirklich krank oder verletzt”, sagte sie. Dann stellte sie endlich den völlig überhitzten CD-Player ab. „Jetzt brauche ich wohl ein neues Lieblingslied.” Das schöne Wetter und der neue Morgen wirkten belebend auf Jenni. In meinem Leben wird schon alles gut werden, dachte sie. Immerhin war heute Samstag und schulfrei. Das war schließlich auch nicht zu verachten. Wild entschlossen, positiv zu denken
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und Björn erst einmal aus ihrem Kopf zu verbannen, machte Jenni sich auf den Weg ins Badezimmer. Der Blick in den Spiegel bestätigte ihre Befürchtungen: Sie sah schlimm aus. Die Augen waren vom Weinen rot und verquollen, die schwarze Lockenmähne hoffnungslos verfilzt. Jenni nahm sich viel Zeit für eine heiße Dusche. Hinterher betrachtete sie ihr Spiegelbild erneut. Nun war sie ganz zufrieden mit dem, was sie sah: Die großen schwarzen Augen blickten ernst, die Wimpern waren lang und schön gebogen, das dichte, schwarze Haar glänzte und sie hatte eine glatte, seidige Haut. Kein einziger Pickel, stellte sie zufrieden fest. Viele Mädchen aus ihrer Klasse hatten schwer mit Akne zu kämpfen. Sie nicht. Dafür war sie eben eine Halbschwarze. „Bin ich schön?” fragte sie sich. „Eher exotisch als schön und die Nase ist zu groß”, beantwortete Jenni die eigene Frage laut. „Wäre ich lieber weiß?" Diese Frage hatte sie sich schon oft gestellt. Sie blieb sich die Antwort heute schuldig. „Hey, ich habe wohl das Frühstück verpaßt”, stellte Jenni betont munter fest, als sie mit frisch gefönten und gestylten Haaren in die Küche trat. Ihre Mutter räumte gerade das Geschirr in die Spülmaschine. „Ja, das hast du”, antwortete sie, „dein Vater war sehr ungehalten.” „Wieso?” Jenni zog die Augenbrauen hoch. „Du weißt doch, daß ihm das Familienfrühstück am Wochenende viel bedeutet. Außerdem konnte er sich dein Verhalten gestern abend beim besten Willen nicht erklären. Ich übrigens auch nicht." Die Stimme der Mutter klang bittend. „Willst du mir nicht erzählen was los war. Du hast dich doch noch nie eingeschlossen.” Jenni wußte, daß ihre Mutter es gut mit ihr meinte. Aber sie mochte ihr nicht von dem mißglückten Abend mit Björn erzählen. Und lügen wollte sie auch nicht.
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„Ich hatte 'nen Riesenkrach mit einem Freund”, sagte sie. Die Mutter nickte, als hätte sie genau das erwartet. „Also Liebeskummer”, stellte sie sachlich fest. Jenni schwieg. „Ich bin ja nicht so altmodisch wie dein Vater, Jenni. Ich habe dafür Verständnis. Also, hast du dich mit Malte gestritten?” Jenni nickte. Hatte sie ja auch. Sie beobachtete, wie ihre Mutter mit unschlüssig dastand. Nach kurzem Überlegen strich sie ihrer Tochter sanft übers Haar. „Das kommt schon wieder in Ordnung. Malte ist doch ein netter Junge”, tröstete sie. „Ich wünschte nur …” „Was denn?” „Daß du dir mit der Liebe noch ein wenig Zeit lassen würdest.” Jenni lächelte. „Das wirst du dir noch wünschen, wenn ich 30 bin. Ich bin aber kein kleines Kind mehr.” Jenni war froh, daß ihre Mutter nun die Aussprache offenbar als beendet ansah und sie mit dem Fahrrad in die Stadt schickte, um ein paar Besorgungen zu machen. Ganz in der Nähe der Straße, in der Jenni seit elf Jahren mit ihrer Familie lebte, gab es eine Wiese. Ein kleines Stück Grünfläche, umgrenzt von sorgfältig gepflegten Einfamilien- und Reihenhäusern auf der einen, und tristen drei- bis fünfstöckigen Mietskasernen auf der anderen Seite. Jahrzehntelang war die Wiese von den Stadtplanern vergessen worden. Sie wurde nicht gepflegt oder gemäht. Es gab dort keinen Spielplatz, keinen Weg und auch keine Bänke. Eigentlich hatten sich stets nur Hunde, Kinder und Katzen für dieses ungenutzte Land interessiert. Bis eines Tages heftiger Streit entbrannte: Die Stadt wollte auf dem Gelände eine vorübergehende Unterkunft für Asylbewerber errichten. Geplant waren drei Holzhäuser, die Platz für etwa 40 Personen bieten sollten. Da das Grundstück ohnehin im Besitz der Stadt war, mochten die Verantwortlichen gedacht haben, der
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Asylbewerberunterkunft stünde nichts im Wege. Sie hatten sich gründlich geirrt. Bei den meisten Einwohnern des Viertels waren die Pläne der Stadt auf Ablehnung gestoßen. Es war eine ruhige Wohngegend, jetzt aber waren die Bewohner laut geworden. Und aggresiv. Sie hatten sogar eine Bürgerinitiative gegen das Asylbewerberheim gegründet. „Noch vor einem Jahr wären diesselben Leute der Meinung gewesen, Bürgerinitiativen seien nur etwas für Kommunisten und Chaoten”, hatte Jennis Mutter dazu gesagt. Von den aktiven Mitgliedern der Gruppe wurden Unterschriften gesammelt, Gutachten erstellt, Protestnoten überreicht und ein pfiffiger Anwalt engagiert. Mit Erfolg, wie es zunächst schien. Inzwischen hatte sich jedoch das Blatt gewendet. Noch in diesem Jahr sollten die Holzhäuser errichtet werden. Jenni hatte den Streit um die Wiese mit mäßigem Interesse in der Lokalzeitung verfolgt. Natürlich hätte sie niemals ihre Unterschrift gegen das Asylbweberheim gegeben. Sie hatte ja auch neulich Björns Vater die Tür vor der Nase zugeschlagen. Eigentlich war ihr aber das Ganze ziemlich egal. Sollten die Asylbewerber ruhig kommen, sie hatte nichts dagegen. Und falls die Bürger mit ihrem Widerstand Erfolg hatten – auch gut. Dann blieb dort eben die wilde Wiese. Sie hatte wirklich andere Dinge im Kopf. Fast jeden Tag radelte Jenni auf ihrem Weg in die Stadt an dem Streitobjekt vorbei. Heute hörte sie schon von weitem einen Tumult. Auf der grünen Wiese, wegen einer leichten Erhebung in der Mitte von den Anwohnern Wichtelberg getauft, war eine Demonstration im Gange. Etwa 150 wütende Menschen hatten sich mit selbstgemalten Transparenten und Bannern versammelt, um gegen das Asylbewerberheim zu demonstrieren. Sie machten einen Riesenkrach. „Wir-wol-len-kei-ne-A-sy-lan-ten”, brüllten die Demonstranten in monotonem Sprechgesang. Eine kleinere Gruppe wandelte den Text schnell in „… A-syl-schwei-ne"
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ab. Mit einer Mischung aus Abscheu und Neugier stieg Jenni von ihrem Rad, und beobachtete das Geschehen. Angewidert nahm sie einen anderen Sprechchor wahr: „Deutsch-land-den Deut-schen-Aus-län-der-raus!” Bei diesen Worten lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Was zum Teufel ging hier eigentlich vor? Das waren doch ganz normale Leute, die da schrien. Zwar waren auch ein paar eindeutig rechtsradikale Skinheads in Nazi-Kluft zu sehen. Aber die meisten Demonstranten sahen aus wie jedermann. Einfache Durchschnittsbürger. Viele Gesichter kamen Jenni bekannt vor. Menschen aus der Nachbarschaft: Die dicke alte Frau Jansen von schräg gegenüber war da und dahinter die ganze Familie aus dem Haus mit den Blümchengardinen, Leumanns oder Lehmanns oder so ähnlich. Frau Piper und Frau Vogel, die Tratschtanten und der nette Herr Krug, dessen Frau Krebs hatte, standen zusammen mitten auf der Wiese und schrien mit: „Kei-ne-A-sy-lan-ten.” Plötzlich wurde Jenni übel. Sie hatte Angst. „Hoffentlich schicken sie hier keine Flüchtlinge her”, murmelte sie. „Die wären ja in Lebensgefahr.” Wie furchtbar mußte es sein, aus der eigenen Heimat vor Krieg und Verfolgung fliehen zu müssen. Und dann, überglücklich noch am Leben zu sein, in der Fremde mit soviel Haß und Mißtrauen empfangen zu werden. Plötzlich verstand Jenni, warum die Netzers in ihrem Buch nicht fortgehen wollten. Was hätte die jüdische Familie im Exil erwartet? Als das Gedränge zu groß wurde, wich Jenni ein paar Schritte zurück. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Aber sie konnte ihre Augen nicht von dem Geschehen abwenden. Sie las einige der Protest-Plakate: „Das Boot ist voll”, stand da oder „Hier ist kein Platz für Asylanten". Bei einem Transparent konnte Jenni nicht anders, sie mußte laut lachen: „Der Wichtelberg bleibt deutsch”, war zu lesen. Das war so bescheuert, daß es schon wieder komisch war. Alles andere als komisch fand Jenni den Spruch: „Schützt unsere Kinder.”
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„Als ob es um eine Mülldeponie ginge”, sagte sie. „Schlimmer”, antwortete hinter ihr Frau Piper, die mit ihrer kleinen Gruppe näher gekommen war. „Sieh mal, Mädchen, das hier hat ja nichts mit euch zu tun. Ihr seid doch anständige Leute, ihr seid ja in der Straße noch nie unangenehm aufgefallen”, plapperte Frau Piper los, „aber diese Asylanten …” „Die klauen alles, was nicht niet- und nagelfest ist”, fiel ihr Frau Vogel ins Wort. „Vor allem die Rumänen – und die Kinder, die verrichten ihr Geschäft in unseren Gärten. Die wollen doch alle nur unser Geld …” Jetzt war wieder Frau Piper an der Reihe. „Und als Frau”, schnaufte sie triumphierend, „als Frau, kann man sich nicht mehr allein auf die Straße trauen. Deutsche Frauen sind für die doch Freiwild, das liegt an der fremden Mentalität. Vor Vergewaltigung ist da keine mehr sicher.” Jenni hatte genug gehört. Sie versuchte, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. „Warum tun sie nichts”, rief sie, als sie auf einen einzelnen Polizisten stieß. Der Schutzmann blinzelte unglücklich zu ihr hinunter.
„Was sollen wir denn tun?” fragte er. „Die Demonstration ist doch genehmigt und verläuft friedlich.” Jenni schnaubte verächtlich. „Wirklich, sehr friedlich hier.” Und dann sah sie Björn. Er stand mit seinem Bruder, seinem Vater und einer Frau, die Jenni nicht kannte, an einem Informationstand der NSD, der Nationalen Schutzfront Deutschlands. Seine Aufgabe war es offenbar, Flugblätter der Partei zu verteilen. Mit finsterem Gesicht drückte er den Demonstranten wortlos seine Zettel in die Hand. Sein Vater war umso redseliger: „Wir sind gesetzestreue
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Bürger und bewegen uns auf dem Boden der Demokratie”, erklärte er gerade einer jungen Frau. Jenni schloß die Augen. „Bitte, lieber Gott, laß es nicht wahr sein”, flüsterte sie. „Mach, daß das eben nicht Björn war.” Aber er war es. Traurig ging Jenni auf ihn zu. Der Nachmittag im Kino schien tausend Jahre her zu sein. „Du hast dich also entschieden”, sagte sie leise, als sie direkt vor Björn stand. „Du willst wirklich weiter zu diesen Leuten gehören.” Björn schwieg. Er sah sie nicht an. „Hey, was will'n die”, rief Marco drohend. Björn reagierte nicht. „Paß auf du, quatsch meinen Bruder nicht dumm an! Verstanden?” Marco baute sich drohend vor ihr auf. „Was wollte die”, fragte er dann an seinen Bruder gewandt. Björn zuckte die Achseln. „Verpiß dich, sonst gibt's Zoff.” Noch zögerte Jenni. Vielleicht würde Björn doch zu ihr halten. Aber er blieb völlig unbeteiligt. „Feigling”, rief Jenni, „und deinetwegen habe ich heut' nacht geheult." Damit rannte sie davon. Erst als der Lärm der Demonstration kaum noch zu hören war, blieb sie stehen. „Mist!” Sie hatte aus Versehen ihr Fahrrad stehenlassen. Jetzt würde sie nicht mehr zurückgehen. „Die Leute sind froh, wenn sie für all' ihre Sorgen jemandem die Schuld geben können. Früher waren es die Juden. Heute sind es die Asylanten”, sagte ein alter Mann, der plötzlich neben ihr stand, wie zur Entschuldigung. „Ich schäme mich sehr für meine Mitbürger, das müssen sie mir glauben.” Jenni fühlte sich elend. Sie war den Tränen nahe. In letzter Zeit war sie wirklich eine Heulsuse. Der alte Mann bestand darauf, sie nach Hause zu bringen. „Ich kann sie doch so nicht alleine lassen.” Die Fürsorge des Fremden tröstete Jenni ein wenig.
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Vor dem Haus angekommen, entdeckte sie, daß irgendjemand ihr Fahrrad zurückgebracht hatte. „War wohl der Feigling”, murmelte sie müde. Wie am Tag zuvor flüchtete sie schnurstracks in ihr Zimmer. „Hast du nichts eingekauft?” rief ihre Mutter. „Nein.” Sie sperrte ab, schwor sich selbst, von jetzt an nicht mehr zu heulen und griff nach ihrem Buch. * Manchmal hatte Thamar das Gefühl, in einem Theater zu sitzen. Sie war Zuschauerin in einem sehr langen, ermüdenden Stück. Es war ein schwieriges Stück, das ihr nicht gefiel. Gelegentlich spielte sie darin sogar eine Nebenrolle. Aber es waren immer andere, um die sich alles drehte. Vermutlich war das auch besser so. Im Herbst begann Thamar, die Erlebnisse des Sommers und der Jahre zuvor aufzuschreiben. Das Schreiben machte vieles leichter, ohne daß sie sich erklären konnte, warum das so war. Meistens schrieb sie über David, stellte sie überrascht fest. David war die Hauptperson, der Held in diesem Theater. Früher war Thamar oft eifersüchtig gewesen, weil der große Bruder immer im Mittelpunkt stand. Vielleicht war es auch immer noch dieses Gefühl, aber es vermischte sich mit neuer Wut auf David. Vor allem ihm gab sie die Schuld daran, daß die Mitglieder ihrer Familie einander immer fremder wurden. Sicher machten die Nazis den Juden das Leben schwer. Aber früher hatten die Netzers fest zusammengestanden und solange das so war, hatte Thamar sich sicher gefühlt. Jetzt zog sich jeder immer mehr auf sich selbst zurück: Papa lebte nur noch für seine Arbeit, Mama spielte manchmal stundenlang Klavier, las oder saß einfach nur da und David trieb sich irgendwo herum. Zuerst hatten sie noch
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Angst gehabt, Louisas Peiniger würde David anzeigen. Merkwürdigerweise geschah aber gar nichts. Der Täter blieb verschwunden, ebenso wie Davids große Liebe verschwunden war. Nach diesem Schrecken wurde David nicht vorsichtiger. Ganz im Gegenteil. Thamar wußte, daß er in Musik-Clubs ging, wo verbotene Swing-Musik, „Negermusik”, gespielt wurde. Damit brachte er sich immer wieder in große Gefahr und Thamar fragte sich oft, warum ihrem Bruder niemals etwas zustieß, wo er doch das Schicksal ständig herausforderte. Sie selbst beobachtete und schrieb: „Mit dem grausamen Verbrechen an Louisa hat alles angefangen. Oder besser: aufgehört. Wir vier Netzers haben einfach aufgehört, miteinander zu reden. Keiner spricht über die Dinge, die im Sommer geschehen sind. Auch ich nicht. Wohl, weil wir so oft daran denken müssen, sind wir meistens ganz verstummt. Und sicher gibt jeder insgeheim zugleich sich selbst und den anderen die Schuld an Louisas Unglück. Aber angefangen hat alles mit David. Also bin ich wütend auf ihn, auch wenn er mir leid tut, weil er so unglücklich ist. Bestimmt liebt er Louisa noch immer. Gestern habe ich zu ihm gesagt, er solle sich doch einfach zu ihr nach Wien durchschlagen. Richtig wild vor Zorn hat er gebrüllt: Ich will diesen Namen nie wieder hören. Es ist vorbei. Und deswegen ist daheim nichts mehr wie früher. Ich werde mich niemals verlieben. Nicht in diesem Leben.” In diesem Winter bekam Thamar Netzer eine erste Vortellung davon, was Frieren bedeutete. Die Familie mußte sparen, so wurde die große Villa jetzt nicht mehr vom Keller bis unter das Dach geheizt. Manchmal war es nur in der Küche warm. Zudem war sie in den vergangenen Monaten sehr gewachsen, so daß neue Winterkleidung dringend nötig gewesen wäre.
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„Dafür ist kein Geld da”, sagte Papa, also trug sie Mamas Kleidung auf, was sie sehr peinlich fand. Schon im Herbst ergriff die Kälte Besitz von Thamar und sie fror den ganzen Winter hindurch. Selbst dann, wenn ihr Zimmer geheizt war.
1937 Am 13. Februar 1937 begann für die sechzehnjährige Thamar Netzer der Frühling. Sie war an diesem Samstag so mißmutig, daß David Mitleid bekam und sie fragte, ob sie am Abend mit ihm ausgehen wolle. Völlig überrascht sagte sie zu. Noch nie hatte ihr großer Bruder sie mitgenommen. Als sie dann um kurz nach neun mitten in der Stadt die Treppen zu einem unscheinbaren Keller hinunter stiegen, wäre Thamar am liebsten auf der Stelle umgekehrt. Doch David zerrte sie mit sich. Unten an einer schweren Tür angekommen, flüsterte er einem grobschlächtigen Burschen etwas ins Ohr und der ließ sie mit einem grimmigen Gesicht passieren. Mit klopfendem Herzen folgte Thamar ihrem Bruder durch lange, dunkle Gänge dem immer lauter werdenen Klang fröhlicher Musik entgegen. Irgendwann erreichten sie eine zweite Tür, vor der wieder ein Aufpasser stand. David flüsterte einen geheimen Code, dann zeigte er auf sie und sagte leise: „Meine kleine Schwester.” Die Tür wurde geöffnet und sie standen in einem überraschend großen Raum in hellem Licht. Nach dem Marsch durch die miefigen Kellergänge konnte sie kaum glauben, was sie sah. Es wurde wild und ausgelasssen getanzt. Junge Männer mit auffallend langen Haaren, karierten Sackos und seidigen Schals wirbelten ihre Mädchen, die weit schwingende Röcke trugen, voller Schwung über die Tanzfläche. Sie warfen sie sogar in die Luft und fingen sie lachend wieder auf, nur um sie auf dem
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Boden unter ihren Beinen hindurchzuziehen. Thamar beobachtete und staunte. Am verrücktesten tanzte ein orthodoxer Jude. Seine langen Schläfenlocken wippten im Takt. Was für ein Spaß. „Sind das alles Juden?” fragte sie. David schüttelte den Kopf. „Die wenigsten. Blöde Frage.” Die laute Musik, amerikanischer Swing, kam vom Grammophon. Sie kannte sie noch von Davids Verlobungsfeier. An den Wänden des Kellers standen Tische, an denen viel getrunken und geraucht wurde. Am Rande der Tanzfläche war aus alten Kisten eine kleine Bühne aufgebaut, auf der ein schwarzhaariger Trompeter versuchte, passend zur Schallplatte zu spielen. Er machte es eher schlecht und erntete dafür Pfiffe von den Tanzenden. „Hörst du das?" fragte David überflüssigerweise und grinste breit. „Das ist Benny Goodman." Von einem der Tische kam ein blondes Mädchen mit einem knallroten Kleid und einem genauso roten Lippenstift auf die Geschwister zu. „Dave, wie geht's?” Sie sprach den Namen englisch aus, so daß er wie Deif klang und küßte David auf beide Wangen, was grellrote Spuren auf seinen Wangen hinterließ. Thamar mußte lachen. „Du bist bestimmt die kleine Tammy, was?” Nur knapp konnte Thamar einem Kuß dieser merkwürdigen Frau entgehen. Sie nickte. „Und Sie?” „Ich bin Lilly. Und jetzt werde ich Dave zu einem Tänzchen entführen.” „Du trinkst keinen Alkohol”, raunte David ihr noch zu, bevor er sich mit Lilly unter die Tanzenden mischte. Thamar stand allein am Rande und wurde von niemandem beachtet. Es ist, als wäre ich unsichtbar, dachte sie. Zu ihrem eigenen Erstaunen machte ihr das überhaupt nichts aus. Es war in-
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teressant, ihren Bruder und die vielen fremden Leute zu beobachten. Daheim würde sie alles aufschreiben. Es war genau zu erkennen, wer wirklich seinen Spaß hatte oder wer nur vorgab, sich zu amüsieren. David war ein hervorragener Tänzer. Anscheinend wollten fast alle Mädchen nur zu gern mit ihm tanzen und so wechselte er ständig die Partnerin. Es war offensichtlich, daß die jungen Frauen entzückt waren von ihrem Bruder. David tanzte und lachte mit ihnen, aber glücklich war er nicht. Da war Thamar ganz sicher. Seine Augen lachten niemals und seine heitere Miene zeigte einen Hauch von Verbissenheit. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, sah David traurig aus. Diese Traurigkeit versetzte Thamar einen tiefen Stich. Natürlich dachte er an Louisa, die er immer noch liebte. Sicher hätte ihr diese heimliche Veranstaltung gefallen. „Ich liebe dich nicht mehr.” Das waren Louisas letzte Worte gewesen und vielleicht hatten sie ihrem Bruder das Herz gebrochen. „Bonjour Tristesse.” Eine tiefe, wohlklingende Stimme riß Thamar aus ihren Gedanken. „So traurig an diesem heiteren Ort?” Sie blickte auf und erkannte den Trompeter. Er hatte also aufgegeben. Das war wohl besser so. Seine hellblauen Augen, die nicht recht zu dem pechschwarzen Haar paßten, blickten sie besorgt an. „Gestatten Sie?” Der Trompeter zog ein sauberes, weißes Taschentuch hervor und tupfte ihr sanft über die Wangen. Erst jetzt bemerkte Thamar, daß sie schon wieder geweint hatte. Wie peinlich auf einem Tanzabend herumzuheulen. Die Fürsorge des jungen Mannes verwirrte sie. „Ich hoffe, Sie mußten nicht über mein Trompetenspiel weinen. Ich habe Sie beobachtet.” Thamar mußte lächeln. Wie aufmerksam von ihm.
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„Sie spielen wirklich ganz fürchterlich Trompete”, sagte sie, „aber das ist eher zum Lachen, als zum Weinen.” „Dann tun sie es doch!ø „Was?” Dieser Trompeter brachte sie ganz durcheinander. „Lachen sie doch mal.” Wenn er doch nur aufhören würde, sie mit diesen blauen Augen so anzustarren. Bei seinem Blick wurde es Thamar abwechselnd heiß und kalt. „Ach verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin …” „Benny Goodman, ich weiß”, fiel Thamar ihm hastig ins Wort. „Mein Bruder hat es mir erzählt. Ich bin nämlich die Schwester von David.” Sie hielt dem Trompeter die Hand hin. Er ergriff ihre Hand mit zusammengekniffenen Augen. Dann schüttelte er sich vor Lachen und die Tränen liefen jetzt ihm über die Wangen. „Zuviel der Ehre, schöne Frau”, japste er. Thamar fand diesen Ausbruch unmöglich. „Was ist so komisch?” Der Trompeter rang nach Luft. „Diese Musik, die Sie gerade hören. Ich meine die Musik vom Grammophon. Das ist Benny Goodman. Ich heiße Léon Chawer Nathan.” Wieder mußte er lachen und jetzt lachte Thamar mit. „Wenn das auf der Schallplatte Benny Goodman ist, dann haben sie wohl nicht viel Ähnlichkeit mit ihm …” „Ich bin vielleicht nicht musikalisch, aber sonst ein netter Kerl”, sagte Lèon augenzwinkernd. „Ich werde uns ein Glas Sekt besorgen, damit wir Brüderschaft trinken können, einverstanden?” „Ich trinke keinen Alkohol.” Thamar wollte ihren Bruder nicht verärgern. „Nur ein winziges Glas! Das wird David Ihnen schon genehmigen.”
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Kurz darauf saßen sie mit ihrem Sekt an einem der winzigen Tische und sahen sich tief in die Augen. Thamars Herz klopfte so laut, daß sie dachte, es müsse die Musik übertönen. „Also, auf uns.” Léon Nathan erhob sein Glas. „Verraten Sie mir ihren Namen, oder soll ich Sie immer mit Davids Schwester ansprechen.” Thamar wurde rot. „Thamar Netzer.” Sie stießen an und tranken mit verkreuzten Armen. Ganz sanft küßte Leon Chawer Nathan sie auf die rechte Wange. Sie schloß die Augen und wünschte, dieses warme Prickeln, das ihren ganzen Körper durchströmte, würde nie mehr aufhören. Ich kann fliegen, dachte sie glücklich … „Du bist dran. Ich möchte auch geküßt werden.” Thamar wagte es nicht. Sie saß da und versuchte Mut zu fassen. Schließlich schnellte ihr Kopf so heftig und unkontrolliert nach vorn, daß ihr Mund geradezu auf Léons Wange aufprallte. Sie errötete erneut. „Ich liebe stürmische Frauen. Ich hoffe, du tanzt so wild wie du küßt”, sagte er und zog sie sanft auf die Tanzfläche. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Thamar Netzer sich wirklich verliebt. Es war so plötzlich gekommen, daß sie keine Zeit gehabt hatte, sich dagegen zu wehren. Ihr Schwur, sich niemals zu verlieben, war vergessen. Und auch die Kälte des Winters. Schnell vergingen die Stunden. Sie erfuhr, daß Léon 18 Jahre alt war und gerade auf der jüdischen, höheren Schule sein Abitur machte. Irgendwann wollte er nach Amerika auswandern und Astronomie studieren. Nach einem langsamen Tanz küßte Léon sie wieder, diesmal auf den Mund. Plötzlich stand David neben ihnen und klopfte Léon auf die Schulter.
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„Immer langsam voran”, sagte er unwirsch. „Los, wir gehen nach Hause.” Er gab Thamar den Mantel und schob sie zur Tür. „Bleib hier stehen.” Damit ging er noch einmal zurück zu Léon und packte ihn heftig bei den Schultern. Sie sprachen miteinander. Am Ende schüttelten sie sich die Hand und Léon winkte ihr zum Abschied zu. „Was hast du ihm gesagt?” wollte Thamar auf dem Heimweg wissen. „Daß ich ihm den Hals breche, wenn er dich verletzt.” Thamar war gerührt und verägert zugleich. „Und?” „Ich denke, Léon ist ein feiner Kerl. Wir kennen uns flüchtig.” „Wenn du immer tust, was ich sage, nehme ich dich nächste Woche wieder mit.” Überglücklich fiel Thamar ihrem Bruder um den Hals. „Ich verspreche alles.” Eine Weile stapften sie still durch den Schneeregen. David hielt die Hand seiner Schwester ganz fest. So nahe waren sich die beiden Geschwister schon lange nicht mehr gewesen. „Freut mich, daß du heute Abend so glücklich warst”, sagte David. Thamar wünschte, David wäre es auch. Sie wußte genau, woran er jetzt dachte und beschloß, einen Vorstoß zu wagen. „Vielleicht könntest du ja Louisa einen Brief schreiben”, flüsterte sie. Abrupt ließ David Thamars Hand los und stieß sie von sich. „Ich habe dir schon einmal gesagt, daß es aus ist mit uns. Halt dich raus und fang niemals wieder davon an, verstanden?” Plötzlich war er wieder der zornige David, mit dem man nicht reden konnte. „Wo soll ich mich denn heraus halten. Na los sag es doch. Oder wagst du es nicht einmal mehr ihren Namen auszusprechen. Zur Erinnerung: Du bist verlobt mit Louisa Waldteufel.
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Und nicht mit Lilly, Barbara oder Cilly oder wie sie alle heißen.” „Halt den Mund”, schrie David und Thamar fürchtete, daß er sie gleich schlagen würde. Doch im letzten Moment riß er sich zusammen. „Tut mir leid.” David zitterte. „Laß uns endlich heimgehen." In dieser Nacht träumte Thamar nur von Léon Nathan, seinen blauen Augen, den vorsichtigen Küssen und dem abscheulichen Trompetenspiel. Als der neue Tag begann, träumte sie mit offenen Augen weiter. Es war ganz gleich, wer sie ansprach, sie hörte es nicht. In einem Rausch aus Glückseligkeit und Sehnsucht fragte sie sich, wie sie die Woche ohne Léon überleben sollte. So viele Tage bis es wieder Samstag war. Hoffentlich würde David sein Versprechen halten und sie mitnehmen. Sie drängte den Bruder, schon früher, spätestens am Freitag mit ihr in diesen geheimen Tanzclub zu gehen. „Ich gehe nicht allzu oft dorthin. Ich bin kein Swing Kid”, sagte er schlecht gelaunt. Was auch immer ein Swing Kid sein mochte, wenn das hieß, daß sie öfter mit Léon zusammensein könnte, würde Thamar sofort eins werden wollen. Thamar brauchte nur wenige Stunden, um ihrer gesamten Familie mit ihrer teils abwesenden, teils aufgedrehten Verliebtheit den letzten Nerv zu rauben. Als es am Nachmittag klingelte und ein sehr geschniegelter, sehr aufgeregter Léon Chawer Nathan vor der Tür stand, um sie auf einen Sonntagsspaziergang einzuladen, waren alle erleichtert. So erhielt Thamar Netzer ohne große Einwände der Eltern die Erlaubnis zu ihrem ersten, richtigen Rendezvous. Léon führte sie in den Park und lud sie in das Cafè am See ein, das sie seit ihrer Kindheit liebte. Sie schwebte wie auf Wolken.
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Kapitel 11
Eigentlich wollte Jenni das ganze restliche Wochenende mit Lesen verbringen. Bloß nicht grübeln! Sie mußte Björn aus ihrem Gedächtnis streichen, das war klar. Irgendwie ärgerte es Jenni, daß sich Thamar Netzer nun auch verliebt hatte. Überall um sie herum gab es nichts anderes als blöde Liebesgeschichten. In der Schule, im Fernsehen, in den Büchern – einfach überall. Nur bei ihr klappte gar nichts. Wütend legte sie die Geschichte der Familie Netzer zur Seite und griff statt dessen zu einer Horrorgeschichte von Stephen King. „Besser Monster als Verliebte“, murmelte sie grimmig. Als am Abend Maike anrief, um zu fragen ob Jenni mit ins Fun-House wollte, war sie froh aus ihrem Zimmer heraus zu kommen. Trotzdem ließ sie sich lange bitten. „Ich werde mich nicht amüsieren“, prophezeite sie Maike und Laura in der Schlange vor dem Einlaß in die Kleinstadtdisco. So war es dann auch. Mißmutig stand Jenni in einer dunklen Ecke herum und beobachtete, wie sich ihr guter Freund Malte mit der hinterhältigen Katja amüsierte. Sobald jemand versuchte, sich ihr zu nähern, wurde er mit einem finsteren Blick schleunigst in die Flucht geschlagen. „Wir nehmen dich nie wieder mit, wenn du allen Leuten die Stimmung vermiest“, grollte Laura am frühen Sonntagmorgen zum Abschied . „Und wenn schon.“
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Zuhause wartete schon Jennis Vater auf sie. „Wo treibst du dich nachts um drei Uhr herum“, schrie er so laut, daß es das ganze Haus hören mußte. „Mir gefällt dein Verhalten in letzter Zeit ganz und gar nicht. Du kommst nicht nach Hause. Keiner weiß wo du bist und zu Hause schließt du dich ein. Aber das wird sich ändern …“ „Sicher.“ Jenni war müde und fand die ganze Szene peinlich. „Kann ich jetzt ins Bett gehen.“ „Deine gelangweilte Art kannst du dir für deine Freunde aufsparen“, brüllte ihr Vater, der jetzt richtig in Fahrt war. „An den nächsten Wochenenden wirst du überhaupt nicht mehr ausgehen, bis du dich geändert hast und dich wieder an Spielregeln halten kannst.“ „Ich werde nie mehr ausgehen“, antwortete Jenni. Was für ein Wochenende!
In der Sonntagszeitung stand ein ausführlicher Bericht über die Demonstration am Samstag. Die Bewohner des Wohnviertels am Wichtelberg kamen darin nicht sehr gut weg. Offenbar war der Journalist, der den Artikel geschrieben hatte, über die wütenden Demonstranten und ihre ausländerfeindlichen Parolen genau so schockiert gewesen wie Jenni. „Gut, daß die Zeitung schreibt, was hier los war“, sagte Jenni beim Frühstück. Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Was soll daran gut sein, wenn das Viertel ins Gerede kommt? Ich will hier in Frieden leben und die meisten anderen auch. Das waren doch nur Randalierer und rechte Chaoten auf dieser sogenannten Demonstration. Und die ziehen jetzt alle in den Schmutz.“ Ihre Mutter goß Kaffee nach. „Jenni sagt, es wären ganz normale Leute gewesen. Sie hat sogar Herrn Krug gesehen, stell dir das mal vor.“ Genervt knüllte der Vater die Zeitung zusammen. „Unsinn.
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Wie will sie denn in dem Gedränge überhaupt jemanden erkannt haben.“ Noch am Sonntagnachmittag sagte der Bürgermeister in einem Gespräch mit einem Redakteur der Lokalzeitung: „Wir sind eine Stadt wie jede andere. Wir sind nicht ausländerfeindlich.“ Doch das Interview mit dem Bürgermeister fand nur wenig Beachtung. Denn ein grausames Verbrechen in einer anderen Stadt, ganz in der Nähe zog alle Aufmerksamkeit auf sich: Am Montag, dem 23. November 1992 zwischen 0.30 und 1.10 Uhr legten zwei junge Neonazis in der Möllner Innenstadt Feuer, in zwei von türkischen Familien bewohnten Mehrfamilienhäusern. In einem dieser Häuser starben die 51jährige Mutter, die 10jährige Tochter und die 14jährige Nichte von Faruk Arslan, der seit 23 Jahren in Deutschland lebte. Neun Menschen wurden bei dem Versuch sich zu retten zum Teil schwer verletzt, eine Frau schlug nach dem verzweifelten Sprung aus dem Fenster mit dem Kopf auf. Nachbarn versuchten zu helfen, aber sie kamen zu spät. Bei der Möllner Polizei war das Feuer von einem anonymen Anrufer gemeldet worden. Er schloß mit den Worten: „Heil Hitler!“ * Auf dem Weg zur Schule hätte Jenni an diesem Montag beinahe einen Unfall gebaut. Die schrecklichen Fernsehbilder vom Mordanschlag in Mölln, das verbrannte Haus, der weinende Vater und die Fotos von den toten Türkinnen, hatten sich tief in ihre Seele eingebrannt und ließen sie nicht mehr los. Diese Menschen mußten sterben, weil sie Ausländer waren. So wie damals die Juden. Verbrannt. Im Klassenzimmer der 10b waren alle in großer Aufregung. Einziges Thema war die Bluttat von Mölln, die an diesem Morgen die Emotionen in der Schule aufpeitschte. Die Jugendlichen waren wütend, erschüttert, beschämt und traurig.
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„Wir müssen etwas tun“, darin waren sich die Schülerinnen und Schüler einig. Ausgerechnet Katja stürzte als erste auf Jenni zu. „Jenni, es tut mir so leid“, rief sie. In den Augen der Mitschülerin glänzten Tränen, sie versuchte sofort, Jenni in den Arm zu nehmen, „Das muß ja alles schrecklich für dich sein, was in Mölln geschehen ist.“ Ungeduldig machte Jenni sich los. Sie wußte nicht, was sie davon halten sollte. „Warum sollte es ausgerechnet für mich besonders schrecklich sein?“ fragte sie schließlich. „Es ist doch für alle, die in diesem Land leben gleich schlimm.“ „Sicher.“ Katja tätschelte beruhigend Jennis Arm. „Ich meinte nur, ich an deiner Stelle würde sterben vor Angst, daß mir dasselbe passiert. Weißt du …“ Jenni war dankbar, als wütendes Protestgemurmel der Mitschüler Katja zum Schweigen brachte. „Du bist das Letzte, Katja“, sagte Jenni verächtlich. „Am besten du sagst überhaupt nichts mehr.“ Auch der Unterricht stand ganz im Zeichen des Möllner Brandanschlags. Klassenlehrer Jürgen Oldenburg ließ zuerst seine Schüler zu Wort kommen. Jeder konnte sich seinen Zorn oder seine Erschütterung von der Seele reden. Fast alle hatten etwas zu sagen. Jenni saß schweigend auf ihrem Platz. Ein paarmal sah Herr Oldenburg aufmunternd zu ihr herüber. Aber glücklicherweise sprach er sie nicht an. Schließlich wurden an der Tafel Namen aufgelistet, die den Jugendlichen in Erinnerung geblieben waren. Namen von Städten, in denen, teilweise unter dem Beifall der Bevölkerung, Anschläge auf Ausländer verübt worden waren. Hoyerswerda, Hünxe, Rostock … Es war eine lange Liste der Gewalt. Sie begann mit der Ermordung der Juden im dritten Reich. „Allein 1991 hat der Verfassungsschutz in Deutschland 338
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Brandanschläge auf Ausländer registriert“, sagte Herr Oldenburg. Mit unbehaglichem Schweigen nahm die Klasse diese Zahl auf. Doch in der Schule wurde nicht nur diskutiert. Am nächsten Tag fiel ab der dritten Stunde der Unterricht aus. Alle Schüler des Gymnasiums wollten sich zu einer Demonstration durch die Innenstadt versammeln. Auch die anderen Schulen der Stadt würden an dem Protestzug teilnehmen. Nachdem die 10b im Unterricht Transparente und Spruchbanner gemalt hatte, zogen nach dem Klingelzeichen zur großen Pause alle gemeinsam los. Jenni brach mit gemischten Gefühlen zu diesem Protestmarsch der Schüler auf. Jetzt waren alle aufgebracht – die ausländerfeindliche Protestaktion am Wichtelberg vom Samstag hatte in der Schule niemanden interessiert. Vermutlich mußten erst Häuser angezündet werden und Menschen sterben, um die Leute wachzurütteln. „Eine gute Idee, diese Schülerdemo“, sagte Malte zu Jenni, „so können wir wenigstens etwas tun.“ „Was tun wir denn schon“, sagte Jenni grimmig. „Denkst du, das tröstet die Überlebenden von Mölln? Das macht ihre Familie auch nicht wieder lebendig.“ Malte strich sich nervös durch die roten Haare. „Natürlich nicht. Aber wir können wenigstens zeigen, daß wir Deutschen nicht noch einmal zulassen werden, daß irgendwelche Minderheiten einfach ermordet werden. Im Nazideutschland hat niemand gegen die Judenverfolgung demonstriert.“ „Damals war Demonstrieren verboten. Glaubst du, es gäbe heute eine Schülerdemo, wenn es verboten wäre? Dann würde nämlich niemand auf die Straße gehen.“ Malte zwängte sich mit Jenni durch die immer größer werdenden Schülermassen. Auf Jennis energischen Worte wußte er
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nichts zu erwidern. „Trotzdem ist es besser, als gar nichts zu tun.“ Sie überlegte. Jeder Protest war besser als keiner, entschied sie. „Da hast du recht.“ Zufrieden drückte Malte ihre Hand. Plötzlich waren sie wieder Freunde. Draußen auf der Straße wartete schon eine riesige Menschenmenge. Die Schüler der Real- und Hauptschule West, und die Kleinen von der Geschwister-Scholl-Grundschule standen schon da und warteten auf das Luisen-Gymnasium. Es mußten annähernd 1000 Kinder und Jugendliche sein, die ein ganzes Meer von bunten Transparenten und Plakaten schwenkten. Der Anblick des großes Protestzuges bewegte Jenni. Das war wirklich viel besser als nichts. Es war doch nicht alles wie früher. Wie schon auf der anderen Demonstration am Samstag ließ Jenni ihren Blick über die Transparente schweifen: „Wir trauern um die Opfer von Mölln“, hatten die Jugendlichen geschrieben, oder „Stoppt den Haß – nie wieder Nazi-Terror“. Die Texte auf den Transparenten ähnelten sich. Sie zeigten Trauer und Abscheu über das Verbrechen in Mölln. Und sie versprachen „Widerstand gegen die ausländerfeindliche Gewalt“ zu leisten. „Hoffentlich“, sagte Jenni. Ohne Parolen und Gesänge setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Es war gespenstisch still, denn in letzter Minute hatten sich die Organisatoren im Gedenken an die Opfer für einen Schweigemarsch entschieden. Mit ernstem Gesicht ging Jenni gemeinsam mit Malte, Laura, Maike und Maltes Freund Christoph ziemlich an der Spitze. „Wir sind alle Ausländer – fast überall“ hatten die fünf auf ein großes Laken geschrieben, das an den Rändern von zwei langen Stangen gehalten wurde. Den Spruch hatte Jenni vorgeschlagen. Sehr langsam und sehr still gingen die Schüler durch die ver-
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regneten Straßen. Neugierige Menschen standen auf den Fußwegen und beobachteten die Schülerschar. Viele schlossen sich ihnen an. Ein Gefühl von Gemeinsamkeit breitete sich unter den Demonstranten aus. Sogar Jenni ließ sich zunächst mitreißen. Nach einer Weile begann sie jedoch zu frieren. Heute hatte sie nur ihre dünne Jacke angezogen. Schließlich wurde es so kalt, daß Jenni wie im Schmerz das Gesicht verzog. „Hey, das Ganze geht dir sehr nahe, was?“ flüsterte Maike. „Tut mir leid. Mach dir bloß nicht so viele Gedanken. Sonst hast du dich doch auch nicht so viel mit sowas beschäftigt.“ Jenni wollte protestieren, schwieg dann aber. Maike hatte recht. Noch vor wenigen Wochen hatte sie von den Gewaltaktionen der Neonazis gegen Ausländer ebenso wenig etwas wissen wollen, wie von der Judenverfolgung und dem Holocaust. Bis sie angefangen hatte, Die Geschichte der Familie Netzer zu lesen. Und bis sie Björn kennengelernt hatte. Nicht an Björn denken, rief sie sich selbst zur Ordnung. Der Schweigemarsch erreichte nun die Altstadt. Vor ihrem Einzug in die Fußgängerzone blockierten die Jugendlichen den gesamten Verkehr, aber die Autofahrer warteten geduldig. Hinter Jenni und ihren Freunden brach ein wahres Blitzlichtgewitter los. „Hey, Timo, sieh zu, daß du die kleine Schwarze da vorne zusammen mit den anderen Kids raufkriegst. Das macht sich immer gut bei ‘ner Ausländersause“, rief irgendjemand, den Jenni nicht sehen konnte. Empört drehte sie sich um, konnte aber nicht herausfinden wer da gerufen hatte. „Hast du das eben gehört?“ fragte sie Malte leise. Der sah sie verwirrt an. „Was?“ Da blitzte es schon wieder, diesmal direkt vor ihnen. Ein junger Fotograf mit Lederjacke hüpfte vor den sechs Jugendlichen auf und ab. Er stolperte rückwärts mit dem Zug der Demonstranten mit, sein Gesicht wurde von der Kamera mit dem riesi-
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gen Blitzlicht verdeckt. Immer wieder drückte der Fotograf den Auslöser. „Haltet mal euer Transparent straffer und ‘n bißchen tiefer, damit ich alles aufs Bild kriege“, ordnete er an. „Und du mit den roten Haaren, kannst du noch’n Stück näher an deine dunkle Freundin ranrücken?“ Beinahe automatisch gehorchten Laura und Christoph, die das Plakat hielten, Malte wollte sogar den Arm um Jenni legen. „Wag es nicht“, zischte sie. „Schon besser“, freute sich der Fotograf. Es blitzte und blitzte. „Prima. Ganz toll.“ Vor Begeisterung währe er fast gefallen, als er auf eine Bank klettern wollte. „Mist, verdammter.“ „Wissen Sie eigentlich nicht, daß das hier ein Schweigemarsch ist“, fuhr Jenni den Fotografen an. „Also halten sie endlich den Mund!“ „Timo, ich glaube das langt jetzt. Mach noch’n paar Fotos von den Kleinen da hinten.“ Aus dem Gedränge tauchte ein etwa dreißigjähriger Mann mit einem dicken, blonden Pferdeschwanz neben Jenni auf. Fotograf Timo verzog sich sofort. „Hallo, ich bin Nils Ritschkau von den Stadtnachrichten“, stellte der Reporter sich vor und zückte einen Notizblock. Neugierig starrten die Jugendlichen ihn an. „Mein Kollege hat euch fünf eben für unsere Zeitung fotografiert.“ Jenni schnaubte in gespieltem Erstaunen. „Ach wirklich? Also, das haben wir gar nicht bemerkt. Ihr Kollege ist wohl sehr unauffällig?“ Der Reporter ließ sich nicht beirren. „Für das Foto möchte ich mir jetzt eure Namen und euer Alter aufschreiben. Außerdem hätte ich gern gewußt, warum ihr heute hier seid und was ihr empfunden habt, als ihr von dem Möllner Brandanschlag gehört habt.“ Blöde Fragen, dachte Jenni. Was sollen wir schon empfunden haben?
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„Kann ich gleich mit dir anfangen?“ Damit war eindeutig sie gemeint. „Nein, können sie nicht“, sagte sie grimmig. „Ach komm schon, Jenni“, drängte Laura. „Also, sie heißt Jenni Gosheh, zehnte Klasse Luisen-Gymnasium wie wir alle. Ich bin Laura Parpst, wie der Papst, nur mit r.“ Laura war kaum zu stoppen, so begeistert war sie bei der Vorstellung, in die Zeitung zu kommen. Nacheinander nannten nun auch die anderen ihren Namen. „Wir wollen mit der Demo den Opfern von Mölln unsere Solidarität zeigen“, erklärte Maike. Christoph fügte hinzu: „Wir schämen uns für das, was geschehen ist.“ Malte sagte: „Wir dürfen nicht zulassen, daß so etwas wie in Nazi-Deutschland noch einmal passiert. Diesmal müssen die Deutschen sich wehren.“ Jenni sagte gar nichts. Es stimmte ja, was die anderen gemeint hatten. „Willst du mir nicht doch etwas sagen“, fragte Nils Ritschkau zu Jenni gewandt. Und plötzlich konnte sie sich nicht mehr beherrschen, so wütend war sie auf den Journalisten. „Warum soll ich denn unbedingt was sagen“, rief sie verächtlich, „weil es sich so gut macht, wenn die kleine Schwarze auch ‘ne Meinung hat? Die kleine Schwarze macht sich ja mit den anderen Kids auch so gut auf dem Foto, was? Also bitte, hier ist meine Meinung: Es ist verdammt leicht, Solidarität zu zeigen, wenn die Ausländer schön weit weg sind. Bei uns am Wichtelberg will doch auch keiner die Asylanten haben. Da war nämlich am Samstag ‘ne ganz andere Demo!“ Jenni wollte weg. Sie hatte keine Lust mehr auf diesen Schweigemarsch, auf die Kälte und vor allem nicht auf den nervigen Reporter. „Immer suchst du mit allen Streit“, zischte Laura. „Ihr könnt mich!“ Jenni machte sich durch das Gedränge der
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Schüler davon. Wenig später spürte sie eine feste Hand auf ihrem Rücken und drehte sich um. Es war Nils Ritschkau, der Journalist. „Tut mir leid wegen vorhin“, sagte er, „so arbeiten wir nun mal.“ Jenni schüttelte sich los. „Vergessen Sie’s.“ „Nur noch eine Frage: Was hast denn du am Samstag gegen die Demonstranten am Wichtelberg unternommen?“ So eine Frechheit! Sie allein hätte dagegen ja gar nichts unternehmen können. Verägert und völlig durchnäßt machte sie sich auf den Heimweg. Erleichtert stellte sie fest, daß niemand zu Hause war. Da konnte sie wenigstens ungestört weiterlesen:
Die nächsten Tage und Wochen in Thamars Leben drehten sich nur um Léon. In seiner Nähe fühlte sie sich so lebendig, wie schon lange nicht mehr. Vor jenem Samstag, an dem sie sich kennengelernt hatten, war ihr alles grau und trostlos erschienen. Plötzlich war die Welt wieder bunt und aufregend. Natürlich verbrachten sie so viel Zeit wie nur möglich zusammen, gingen ins Kino, wo Juden noch zugelassen waren, zum Tanzen und unternahmen endlose Spaziergänge. Es gab viel zu Lachen. Léon zeigte ihr seine Lieblingsplätze in der Stadt, las ihr aus seinen liebsten Büchern vor und spielte auf seinem Zimmer stundenlang Schallplatten mit amerikanischem Jazz. Er brachte ihr bei, im Rhythmus der Musik zu küssen, was sie zuerst äußerst unanständig, dann urkomisch und schließlich wundervoll fand. Am liebsten aber sprach Léon von Amerika: „In den Vereinigten Staaten von Amerika sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich“, schwärmte er. „Jeder hat das Recht auf das Streben nach Glück, ganz gleich, ob er Jude ist oder zu einer anderen Rasse gehört. Jeder darf seinen eigenen Traum verwirklichen.“
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„Nur die Indianer nicht“, sagte Thamar trocken. Als sie klein war, hatte ihr Papa vom Überlebenskampf der Indianer erzählt. Léon war ärgerlich. „Das war früher. Heute haben alle die gleichen Rechte, auch Indianer.“ „Weil die Weißen die Indianer fast ausgerottet haben.“ „Die Menschen haben sich eben geändert. Heute werden keine Völker mehr ausgerottet.“ Léon sprach, als wäre er sich seiner Sache ganz sicher. Dennoch fühlte Thamar in diesem Augenblick, wie sich ihr Magen verkrampfte. Er irrt sich, dachte sie. Es war wie eine dunkle Vorahnung. Das bedrohliche Gefühl hielt glücklicherweise nicht lange vor. Trübe Gedanken hielten sich nicht lange in ihrem Kopf, wenn Thamar mit Léon zusammen war. Je mehr er erzählte, desto faszinierender fand sie seine Geschichten vom fernen Amerika. Später wollte Léon in die USA auswandern und in Kalifornien leben, wo immer die Sonne schien. „Wirst du mit mir kommen?“ fragte er ernst. Thamar stimmte zu. Ja, später. * An einem Sonntagnachmittag im März stellte Léon Thamar ganz offiziell seinen Eltern vor. Es war ein besonders schöner Tag, der schon den bevorstehenden Frühling ankündigte. Die Luft war mild, die Sonne schien und in den Vorgärten blühten die Krokusse. „Du brauchst nicht so aufgeregt zu sein“, sagte Léon, während sie gemächlich zu seinem Elternhaus schlenderten. Thamar kannte die mit Büchern überladene Wohnung der Nathans schon von zwei vorangegangenen Besuchen. Auch Léons Mutter, eine energische, schwarzhaarige Frau mit einem gewinnenden Lächeln, und seine drei jüngeren Schwestern hatte sie dort kennengelernt. Sie mochte Léons Mutter und fand, daß er sehr viel Ähnlichkeit mit ihr hatte. Beide lachten viel.
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Heute aber würde auch der Vater, Benjamin Nathan, im Hause sein. Auf der Fotografie in Léons Zimmer sah er ziemlich streng aus. Früher war Herr Nathan Hochschulprofessor für Mathematik gewesen, aber seit jüdische Professoren an der Universität nicht mehr zugelassen waren, unterrichtete er an der jüdischen Schule. Als Léon ihr davon erzählt hatte, war Thamar froh gewesen, daß ihr Papa wenigstens noch seine Praxis hatte, wenn sie auch schlecht besucht war. Mit klopfendem Herzen betrat Thamar an Léons Seite die Wohnung der Nathans. Höflich schüttelte Frau Nathan ihr die Hand. „Herzlich Willkommen“, sagte sie, „mein Mann ist im Wohnzimmer.“ Léon zerrte Thamar mit sich. „Vater, darf ich dir Thamar Netzer vorstellen? - Thamar, das ist mein Vater, Benjamin Nathan.“ Fast enttäuscht musterte Thamar den Mann in dem alten Ohrensessel. Das konnte doch nicht Léons Vater sein. Vielleicht der Großvater. Herr Nathan war groß und sehr dünn, beinahe schmächtig. Sein zerfurchtes, blasses Gesicht sah sehr alt aus. „Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Thamar. „Freuen Sie sich mal nicht zu früh, kleines Fräulein“, antwortete Léons Vater. Léon sah verärgert drein: „Vater, ich bitte dich.“ „Nichts für ungut, ich habe nur einen Scherz gemacht.“ Benjamin Nathan lächelte. Dann wurde er von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Thamar fühlte sich unbehaglich. Beim Nachmittagskaffee rutschte Thamar, ohne es zu merken, unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie saßen um einen großen alten Tisch im Eßzimmer, das mit Büchern vollgestopft war, wie der Rest der Wohnung. Der Raum wirkte finster und ein wenig
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verstaubt. Die geschlossenen Fenster ließen den Frühling ausgesperrt. Frau Nathan war sehr liebenswürdig. Immer wieder versuchte sie, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Ihr Mann schwieg eisern und Léons kleine Schwestern zankten sich. Am schlimmsten aber war der Fuchs: Genau gegenüber von Thamars Sitzplatz hing ein Gemälde, auf dem ein roter Fuchs im Geäst zu sehen war. Thamar fand das Bild ganz abscheulich. Denn der Fuchs schien hämisch zu grinsen und seine bösartigen Augen starrten sie direkt an. Er beobachtete sie. Ganz egal, wie sie sich auf ihrem Stuhl auch drehte. „Gefällt Ihnen das Bild, Fräulein Netzer?“ fragte Herr Nathan in Thamars Überlegungen hinein. „Ich finde es scheußlich.“ Sie wunderte sich über ihre Unverblümtheit. Die ganze Familie brach in schallendes Gelächter aus. „Ja, der Fuchs, der schaut jedem direkt in die Seele“, schmunzelte Léons Vater und hustete erneut. Die jüngste Tochter, die gerade erst fünf war, fügte hinzu: „Das Bild ist unbezahlbar. Und der alte Fuchs ist tollwütig.“ Wieder lachten alle. Eilig trank Thamar ihren Kaffee aus. Sie wollte plötzlich weg von dieser merkwürdigen Familie Nathan, dem hustenden, dürren Vater Léons und diesem dämlichen Fuchs. „Ich muß jetzt leider gehen“, sagte sie und stand auf. Léons Vater packte ihr Handgelenk und hielt es fest. „Tun Sie mir einen Gefallen: Sagen Sie ihrem Vater, er soll seine Familie in Sicherheit bringen, bevor es zu spät ist. Es gibt viele tollwütige Füchse. Viel Glück.“ Er ließ sie los. „Auf Wiedersehen und vielen Dank.“ Beinahe fluchtartig brach Thamar auf. So schnell, daß Léon Mühe hatte, ihr zu folgen. „Was ist denn los“, wollte er wissen, als er sie auf der Straße endlich eingeholt hatte. „Hat es dir nicht gefallen?“ „Nein, hat es ganz und gar nicht. Dieses blöde Bild und ihr
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alle habt mich ausgelacht.“ Thamar wußte selber nicht, warum sie so durcheinander war. „Wir haben doch nur Spaß gemacht. Jetzt sei doch nicht albern. Mein Vater ist eben manchmal ein wenig schwierig.“ Nun kam Thamar sich tatsächlich albern vor. Sie konnte nie lange wütend sein auf Léon. Der Rest des Nachmittags gehörte nur ihnen.
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Kapitel 12
Wie praktisch, daß sich diese Thamar in einen Juden verliebt hat, das gibt wenigstens, bis auf ein paar Kleinigkeiten, keinen Ärger, dachte Jenni. Vielleicht sollte ich mir einen Farbigen suchen. An diesem Abend schlief sie früh ein. Im Traum vermischte sich die Geschichte der Familie Netzer mit den Erlebnissen des Tages. Sie erwachte am Mittwochmorgen, weil ihr Vater ins Zimmer stürzte. „Was zum Teufel hat das schon wieder zu bedeuten?“ schimpfte er los, noch bevor Jenni richtig wach war. „Mußte das unbedingt sein?“ Schlaftrunken rieb sich Jenni die Augen. Ihr Vater hatte auf ihrem Bett Platz genommen, die Mutter stand mit ernstem Gesicht in der Zimmertür. „Was ist denn los?“ Dann sah sie die Zeitung. Vor ihr aufgeschlagen lag die neuste Ausgabe der Stadtnachrichten. Auf der ersten Lokalseite war im Großformat ein Foto von ihr und den anderen zu sehen. Mit ernsten, aber selbstbewußten Gesichtern hielten Maike, Laura, Jenni, Malte und Christoph ihr Transparent hoch, die Schrift war klar zu erkennen: „Wir sind alle Ausländer – fast überall“. Ein gutes Foto, mußte Jenni in Gedanken widerwillig zugeben. Zum Foto hatte dieser Nils Ritschkau genau das geschrieben, was sie ihm zugerufen hatte: Wut und Trauer nach dem Möllner Brandanschlag: Mit einem
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Schweigemarsch durch die Innenstadt bekundeten gestern Mittag mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler ihre Trauer um die Toten von Mölln. Die Jugendlichen forderten ein größeres Engagement für die Opfer rassistischer Gewalt und für ausländische Mitbürger überall in Deutschland. „Es ist leicht Solidarität zu zeigen, wenn die Ausländer weit weg sind, aber bei uns am Wichtelberg will die Asylbewerber doch auch keiner haben“, sagte die aufgebrachte Gymnasiastin Jenni Gosheh (Foto, Mitte). Damit erinnerte sie an den wachsenen Bürgerprotest gegen die Errichtung eines Asylbewerberheims am Lerchenweg und warnte vor ausländerfeindlichen Tendenzen in der eigenen Stadt. „Was hast du dazu zu sagen“, wollte der Vater wissen. Jenni zuckte die Achseln. Sie wußte es wirklich nicht. „Wie konntest du unsere Wohngegend in den Schmutz ziehen. Ich habe dir schon mal erklärt, daß ich hier in Frieden leben will.“ Ihr Vater war wirklich sehr wütend. „Ich habe dem Journalisten nur gesagt, wie’s war“, verteidigte sich Jenni. „Warum mußtest du dich überhaupt so in den Vordergrund drängen. Ausgerechnet meine Tochter ist in Großaufnahme zu sehen.“ Jennis Vater schlug mit geballter Faust auf die Zeitung. „Deinetwegen werde ich noch meine Arbeit verlieren. Mein Chef wohnt auch in dieser Gegend. Der wird sich bedanken.“ Ohne ein weiteres Wort eilte er schnaubend davon. Jennis Augen füllten sich mit Tränen. „Nicht weinen, Jenni.“ Endlich meldete sich auch ihre Mutter zu Wort. Tröstend strich sie Jenni übers Haar. „In Wirklichkeit ist er sicher stolz auf dich. Er macht sich nur Sorgen. Gerade jetzt, wo es in Mölln diesen schrecklichen Anschlag gegeben hat, hat er Angst um dich. Und ich hab’ auch Angst.“ „Du brauchst ihn nicht immer zu verteidigen“, schluchzte Jenni, die sich einmal mehr von ihrem Vater ungerecht behandelt fühlte. „Der hat doch sowieso nur Angst um seinen Job.“
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Natürlich hatte jeder in der Schule das Zeitungsfoto gesehen. Jenni und ihre Freunde waren jetzt im Luisen-Gymnasium richtige Berühmtheiten. Laura und Maike fanden das toll, Jenni war die ganze Sache ziemlich peinlich. Die Meinungen ihrer Mitschüler über den Zeitungsartikel gingen auseinander: „Das war echt gut, was du da gesagt hast“, sagten die einen, ein paar fanden Jennis Anmerkung über den ausländerfeindlichen Protest am Wichtelberg sogar „mutig“. Andere Schüler waren dagegen der Meinung, Jenni hätte die eigene Stadt außenvor lassen sollen in ihrem Kommentar zum Reporter. „Cooles Foto“ oder „geniale Sache mit der Zeitung“ oder einfach nur „echt geil“ waren allerdings die Kommentare, die Jenni in der Schule am meisten zu hören bekam. Laura war ziemlich sauer, weil Jenni die ganze Aufmerksamkeit bekam, und sprach kein Wort mit ihr. Am schlimmsten war, daß Lehrer Oldenburg Jenni vor der ganzen Klasse über den grünen Klee lobte. „Es ist wichtig, daß man nicht nur gegen die Schandtaten anderer demonstriert, sondern auch gewissermaßen vor der eigenen Türe kehrt“, sagte er. Ich habe überhaupt nicht gekehrt, dachte Jenni, ich bin nur über den Dreck gestolpert. Abends klingelte bei Jenni zu Hause dreimal das Telefon. Beim ersten Mal ging ihre Mutter ran. Sie lauschte eine Weile und knallte dann mit versteinertem Gesicht den Hörer auf die Gabel. „Ein anonymer Anrufer“, erklärte sie, „er hat gesagt, wir sollen uns aus Dingen raushalten, die uns nichts angehen, sonst gibt’s Ärger.“ „Hast du die Stimme erkannt?“ wollte ihr Mann wissen. „Natürlich nicht. Es war ein Mann, klang noch nicht so alt.“ „Da hast du’s“, schalt der Vater Jenni, „ich hab’ ja gesagt, das gibt noch Ärger, aber du mußtest ja unbedingt in der Zeitung deine Meinung kundtun.“ Jenni wartete, daß ihre Mutter ihre Partei ergriff. Sie tat es
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aber nicht. Als das Telefon wieder klingelte, stürmte Jenni zum Hörer. „Hallo?“ „Mölln war erst der Anfang, ihr seid die nächsten.“ Es war eine tiefe, offenbar verstellte Männer- oder Jungenstimme. „Laßt uns in Ruhe, ihr Schweine“, rief sie in den Hörer. Doch der Anrufer hatte schon eingehängt. Jenni zitterte vor Wut und Angst. Sie fühlte sich sehr hilflos. „Was hat er gesagt?“ fragte ihre Mutter. „Dasselbe wie vorhin.“ Ihre Mutter wollte die Polizei rufen, aber ihr Vater war dagegen. „Was sollen die schon machen?“ Beim nächsten Telefonklingeln ging er hin und hob den Hörer nur kurz an, um ihn sofort wieder fallen zu lassen. Heute hatte Jenni Schwierigkeiten, sich auf Die Geschichte der Familie Netzer zu konzentrieren, so angestrengt lauschte sie auf das Telefon. Es klingelte nicht mehr.
Die Tage des unbeschwerten Glückes waren für Thamar Netzer gezählt. Schon am Montag nach dem Sonntagskaffee bei Nathans mußte sich die Familie mit neuen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Wieder ging es um David. Am Montagabend kam Thamar spät nach Hause, sie hatte den Tag mit Léon verbracht. Das Abendessen hatte sie verpaßt, aber die Familie saß noch am großen Tisch im Eßzimmer beisammen. Sie kam gerade rechtzeitig, um zu hören, was ihr Bruder den Eltern zu sagen hatte: „Heute morgen bin ich der Schule verwiesen worden. Mit der Begründung, ich hätte bei den schriftlichen Abiturprüfungen betrogen. Ich werde das Abitur also nicht bekommen.“ David war blaß und zornig. Fassungslos starrten Mama und Papa ihren Sohn an. Thamar wagte kaum zu atmen, so still war es. Als
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Thamar schon dachte, die Eltern würden die schlechte Nachricht kommentarlos aufnehmen, wetterte Papa los: „Diesmal sind sie zu weit gegangen. Jetzt ist endgültig Schluß, wir lassen uns nicht alles gefallen. Ich werde mich beschweren. Irgendwo in diesem Land muß es doch noch einen Richter geben, der sich für Gerechtigkeit einsetzt. Wir gehen vor Gericht.“ „Bist du nicht bei Sinnen, Simon?“, rief Mama erschrocken. „Juden sind keine Reichsbürger mehr, und da willst du vor Gericht gehen? Es gibt kein Gesetz, daß uns schützen könnte.“ Auch Thamar fand die Vorstellung, wegen Davids Abiturzeugnis vor ein Nazi-Gericht zu ziehen, lächerlich und höchst beunruhigend. David, um den es ja schließlich ging, saß unbeteiligt an seinem Platz. Die Eltern stritten ziemlich lange, ohne daß David oder Thamar ein Wort dazu sagten. Als Papa nach fast einer Stunde noch immer nicht davon abzubringen war, einen Richter einzuschalten, brach David endlich sein Schweigen: „Wir können nicht gegen das Gymnasium klagen.“ „Doch das können und müssen wir.“ Papa war ziemlich hysterisch, fand Thamar. Auch David erhob die Stimme: „Nein, wir können nicht klagen, weil wir im Unrecht wären. Ich habe im Abitur betrogen.“ Jetzt war Papa still. Gelassen erwiderte David die ungläubigen Blicke seiner Familie. Er lügt, dachte Thamar. Sie war die erste, die die Sprache wiederfand. „Das ist niemals wahr.“ „Sag, daß das nicht wahr ist, mein Sohn.“ „Es ist wahr. Ich habe betrogen und bin erwischt worden.“ Mama stand auf und ging hinaus. Die Tür knallte. Papa sah seiner Frau hilflos nach. „Kannst du schwören, daß das nicht nur eine schlechte Lüge ist?“ „Aber Papa!“ Thamar war empört. Wie konnte Papa seinem Sohn nur eine solche Ungeheuerlichkeit zutrauen. Warum soll-
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te er auch betrügen. David war immer ein exzellenter Schüler gewesen. Jetzt wollte er nur verhindern, daß die Familie Schwierigkeiten mit der Justiz bekam. Sie stand auf, damit jeder sie sehen konnte. „Natürlich lügt David, um dich zu schützen“, stieß sie hervor. „Du hältst dich da raus“, sagte David streng. „Ich schwöre bei meinem Leben, daß ich zu Recht des Betruges beschuldigt werde.“ Papas Gesicht war starr geworden. „Du bist eine Schande für meine Familie“, sagte er und ging hinaus. Später stellte Thamar David zur Rede: „Warum hast du das gesagt? Du hast doch nicht wirklich betrogen.“ „Ich habe keine Lust, mit dir darüber zu reden. Außerdem hast du es vorhin selbst gesagt: Ich wollte verhindern, daß Papa wirklich vor Gericht geht.“ „Weißt du noch, Herr Schwarzer, Papas Freund von früher. Der ist doch Richter. Glaubst du, er würde auch ein falsches Urteil sprechen?“ David schüttelte den Kopf. „Nein, aber er ist kein Richter mehr. Er verkauft jetzt den Völkischen Beobachter an der UBahnstation.“ Thamar wollte schon resigniert in ihr Zimmer gehen, als David sie zurückhielt: „Weißt du, was am schlimmsten ist?“ „Ja, daß Papa dir wirklich geglaubt hat.“ Er nickte unglücklich. „Er hatte nie eine so hohe Meinung von mir, glaube ich. Sein Liebling bist immer du gewesen.“ Plötzlich mußte Thamar lachen. „Was ist?“ Sie kicherte: „Eigentlich haben wir ganz andere Probleme als ausgerechnet unsere Eltern. Was willst du denn jetzt machen?“ „Weiß ich nicht. Mir fällt beim besten Willen nichts ein.“ Thamar wollte zu Papa gehen und ihm sagen, wie sehr er sich
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in seinem Sohn täuschte. Vor dem Schlafzimmer der Eltern blieb sie an dem Platz stehen, an dem sie all die Jahre zuvor schon so oft gelauscht hatte. Drinnen unterhielten sich Mama und Papa: „Du hast David doch nicht wirklich geglaubt“, sagte Mama gerade und an Papas Schweigen hörte Thamar, daß er David wirklich die Lüge abgenommen hatte. „Du warst doch mit Wilhelm Hansen befreundet“, murmelte Papa dann. „Der war doch ein sehr anständiger Kerl, der dir immer den Hof gemacht hat. Der hat dich doch wirklich gemocht.“ „Und?“ Mama klang mißtrauisch. „Heute ist Hansen der Leiter des Landesschulministeriums und Parteilandesgruppenleiter. Vielleicht erinnert er sich noch an dich. Könntest du nicht ein gutes Wort für David einlegen, um der guten alten Zeiten willen. Es würde ihn einen Anruf kosten und unser Sohn hätte sein Abitur.“ Jetzt war Mama wirklich wütend. Thamar hörte, wie ihre Finger nervös gegen irgendetwas trommelten. Das tat sie immer, wenn sie nicht mehr weiter wußte. „Und was soll er mit dem Abitur, wenn er ohnehin nicht auf die Universität darf? Soll ich deswegen bei einem Nazi betteln gehen, den du früher beim Tanzen beinahe aus Eifersucht verprügelt hättest? Niemals!“ Auch Thamar war jetzt zornig. Wie konnte er nur so etwas verlangen. „Die Nazis werden nicht ewig regieren, das weiß ich von vielen Freunden“, sagte Papa. „Später kann und wird David Arzt werden.“ „Ich mache es nicht, hast du mich verstanden? Niemals!“, rief Mama. Müde schlich Thamar auf ihr Zimmer. „Es ist kaum zu verstehen, wie sehr wir uns alle verändert haben“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „Obwohl es uns im Vergleich zu vielen anderen Juden
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immer noch gut geht. Wir sind gesund, haben immer noch ein schönes Zuhause und wir werden meistens in Ruhe gelassen.“ Sehr spät am Abend, als Thamar schon im Bett lag, hörte sie, wie unten leise die Haustür ins Schloß fiel. Als sie aufstand und aus dem Fenster sah, erkannte sie ihre Mutter, die durch die dunkle Nacht davon eilte. Thamar hatte ein ungutes Gefühl. Ob sie Mama nachgehen sollte? Doch es war schon zu spät. Mama war fort. Natürlich konnte Thamar jetzt nicht schlafen. Sie wollte warten, bis Mama zurück war. Eine Dame ging doch nicht so spät in der Nacht allein durch die Straßen. Besorgt hielt Thamar sich wach. Zuerst wollte sie David wecken, dann Papa, aber schließlich wartete sie ganz allein. Erst als über der Stadt schon der Morgen graute, kam Mama zurück. Thamar, die Stunde um Stunde am Fenster ihres Zimmers Wache gehalten hatte, hätte sie fast nicht erkannt. Sie ging merkwürdig taumelnd die Straße hinunter und hielt eine Hand in ihren Magen gepreßt. Im Licht der beginnenden Dämmerung sah sie grau aus. Ihr braunes Haar war wild zerzaust, einige Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. „Mein Gott, Mama“, murmelte Thamar und stürzte die Treppen hinunter. Sie traf Mama in der Eingangshalle. „Was hast du, Mama? Was ist mit dir und wo bist du die ganze Nacht gewesen?“ Thamars Stimme überschlug sich. „Ich hole Papa.“ Mamas Gesicht war tränenüberströmt, aber ihre Stimme klang ruhig wie immer. „Papa ist nicht zu Hause, Kleines. Er mußte zu einem Notfall. Mir geht es gut.“ Langsam begann sie, die Stufen hinaufzusteigen. „Geh jetzt bitte wieder ins Bett.“ Ratlos stand Thamar im Flur. Dann folgte sie ihrer Mutter ins Elternschlafzimmer. „Ich muß doch etwas für dich tun können, Mama!“ „Das kannst du: Geh ins Bett.“
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Aber Thamar wollte nicht zu Bett gehen. Sie wollte endlich wissen, warum Mama nachts das Haus verließ und weinend zurückkam. Sie wollte wissen, warum Papa von all dem nichts mitbekam. Plötzlich fiel ihr das Gespräch der Eltern im Schlafzimmer ein. Dieser Nazi, zu dem Papa Mama hatte schicken wollen. Sie war doch nicht wirklich … „Du warst bei diesem Schulfreund Wilhelm Hansen, Mama, stimmt’s?“ fragte Thamar atemlos, obwohl sie die Wahrheit schon kannte. „Hat der Nazi dich etwa …“ Der Schlag traf Thamar so unerwartet, daß sie taumelte. Mama hatte weit ausgeholt und sie ins Gesicht geschlagen. Es tat weh. Es brannte. Ungläubig stand Thamar vor ihrer Mutter und machte ein dummes Gesicht. Seelenruhig zog Mama ihren dunklen Mantel aus. Darunter trug sie ein rotes Samtkleid mit einem tiefen Ausschnitt. Thamar wurde übel. „Du must mir etwas schwören, Kind“, sagte Mama. Thamar nickte stumm. „Erzähle niemandem etwas von dieser Nacht. Vergiß sie. Du hattest kein Recht, an unserer Tür zu lauschen. Du solltest dir diese Unart endlich abgewöhnen.“ „Ich schwöre es, Mama. Bei allem, was mir heilig ist. Auch wenn ich im Moment nicht mehr weiß, was das sein sollte.“ „Braves kleines Mädchen. Gute Nacht.“ Die Frau in dem gräßlichen, roten Kleid war eine Fremde. „Gute Nacht.“ Als Thamar in ihr Zimmer ging, hörte sie noch, wie Mama sich ein Bad einließ. Am übernächsten Tag nach der Schule berichtete David, daß die Schule sein Abitur nun doch anerkennen wolle. Er würde sein Reifezeugnis erhalten und müsse sich verpflichten über „die ganze Angelegenheit“ Stillschweigen zu bewahren. An den
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Abiturfeierlichkeiten der Schule und der offiziellen Entlassung durfte David nicht teilnehmen. „Wie hat Papa das nur wieder geschafft?“ fragte David zugleich erfreut und mißtrauisch. Mama blickte zu Boden. „Ich weiß es nicht, David. Aber nun: Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abitur.“ Sie küßte David auf beide Wangen. „Es tut mir leid, daß wir den großen Anlaß nicht angemessen feiern können, aber uns fehlen leider das Geld und die Freunde.“ David nahm seine Mutter fest in den Arm. „Ich hätte ohnehin kein großes Fest gewollt“, sagte er. Das war wahrscheinlich nicht einmal gelogen, dachte Thamar. Wieder einmal hatten die Netzers also Glück gehabt: Der Jude David Netzer hatte im Jahr 1937 an einem deutschen, humanistischen Gymnasium sein Abitur gemacht. Alles andere hätte der stolzen Familientradition auch heftig widersprochen. Papa war überglücklich und glaubte nun fest, daß es an Davids Schule noch anständige Lehrer gab. Trotzdem fragte sich Thamar, ob ihr vermeintliches Glück nicht in Wirklichkeit ein Unglück war. Sicher war es in den letzten Jahren den meisten jüdischen Familien viel schlechter ergangen. Aber so war in ihrer Familie der Eindruck entstanden, sie könnten sich irgendwie durch die schlechte Zeit mogeln, ohne wirklichen Schaden zu nehmen. Auf den ersten Blick schien alles wie früher. „Es wird nicht gutgehen mit uns“, schrieb Thamar in ihr Tagebuch.
Jenni erwachte am Donnerstagmorgen mit Kopfschmerzen und schlecht gelaunt. Schon wieder war sie beim Lesen eingeschlafen, das Buch lag aufgeschlagen vor ihr, die Leselampe brannte und sie hatte noch ihre Sachen vom Vortag an.
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„Ich muß mir das echt abgewöhnen“, schalt sie sich selbst. Sie saß gerade mit ihrer Mutter beim Frühstück, als es wieder einen anonymen Anruf gab. Mit verbissenem Gesicht mußte die Mutter sich am Telefon als „Niggerhure“ beschimpfen lassen. Danach tat sie etwas sehr Ungewöhnliches: Gegen den Willen ihres Mannes rief sie die Polizei an. Das Ergebnis war für sie enttäuschend. Anzeige gegen Unbekannt könne sie erstatten und eine Geheimnummer beantragen, hatte der Beamte ihr gesagt. Sozusagen als „Hausmittel“ gegen die Belästigung hatte der Polizist ihr schließlich geraten, sich eine Trillerpfeife neben das Telefon zu legen und bei einem erneuten Drohanruf so kräftig wie möglich hineinzublasen. „Da platzt dem Burschen fast das Trommelfell und der hat erstmal keine Lust mehr, Sie zu belästigen“, hatte der Beamte gesagt. Genau das tat Jennis Mutter dann auch. Am Abend lag eine knallrote Trillerpfeife aus dem Spielwarengeschäft neben dem Telefon bereit. Als es klingelte war die Mutter so aufgeregt, daß sie vergaß, ersteinmal zu hören, wer überhaupt dran war. Stattdesssen schickte sie sofort einen ohrenbetäubenen Pfiff in den Hörer. Der Anrufer war Jennis Vater, der nur hatte sagen wollen, daß er heute später käme. Zum Glück war sein Trommelfell nicht geplatzt.
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Kapitel 13
In der ganzen Welt hatte der Mordanschlag von Mölln Trauer und Bestürzung ausgelöst. Plötzlich war die Angst vor einem neu erstehenden Nazi-Deutschland wieder lebendig, die Schlagzeilen im Ausland klangen besorgt. Die deutschen Politiker standen erschüttert und ein wenig hilflos vor den Toten von Mölln. In diesen Tagen gab es im ganzen Land vereinzelte Aktionen, Demonstrationen und Lichterketten gegen die rechtsradikale Gewalt. Gleichzeitig wurden aber auch weitere Anschläge auf Ausländer verübt, und wieder waren die Opfer türkische Staatsbürger: In Bad Salzufflen wurde ein 49jähriger Türke zusammengeschlagen und mit einem Messer schwer verletzt. In Freiburg schlugen vermutlich vier Skinheads einen 27jährigen Türken nieder. Jenni beobachtete die Entwicklung jetzt mit großem Interesse. Die Lokal-Zeitung machte eine Button-Aktion und bald liefen ziemlich viele Bürger mit eigens entworfenen „Stoppt den Haß“Ansteckern herum. Es war ein seltsamer Herbst. Am Freitagabend sollte es in der Stadt eine Lichterkette rund um das Rathaus geben. Jenni, Maike, Malte und Christoph gingen gemeinsam hin. Obwohl es für Jennis Geschmack natürlich wieder viel zu kalt war, stand sie eine gute Stunde mit einer Kerze in der Hand vor dem Rathaus und sang Lieder der Friedensbewegung. Es waren vielleicht zweihundert Bürgerinnen und Bürger gekommen, einige von ihnen hatten heißen Punsch
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dabei. Trotz des schlimmen Anlasses, war es ein schöner, beinahe feierlicher Abend. Jenni mochte ihren Augen nicht trauen, als sie plötzlich Herrn Krug entdeckte. „Was machen Sie denn hier“, fragte sie schnippisch. „Letzten Samstag haben sie doch gegen Asylanten demonstriert.“ Herrn Krug bereitete die Frage sichtlich Unbehagen. „Frau Piper hatte mich am Samstag aufgefordert mitzukommen“, verteidigte er sich. „Also wenn ich gewußt hätte …“ „Ja, ja. Was sagt eigentlich Ihre Frau dazu, daß sie so gern auf Demos gehen?“ In den Augen von Herrn Krug stand Trauer. „Meine Frau ist vor einem Monat gestorben.“ Verdammt. Wahrscheinlich suchte der arme Kerl nur Gesellschaft. „Tut mir leid. Kommen Sie doch zu uns herüber.“ Doch der traurige Herr Krug lehnte dankend ab. Nachdem sich die Lichterkette langsam aufgelöst hatte, wollten Jennis Freunde noch zu einem Konzert im städtischen Jugendclub. „Rock gegen Rechts mit Nachwuchs-Bands aus der Gegend. Wird von der Antifa veranstaltet. Du mußt unbedingt mitkommen, Jenni“, sagte Malte. „Ich hab’ eigentlich Ausgehverbot.“ „Ausgehverbot ist was für Babys“, grinste Maike. „Los, komm schon mit. Ich wette, da ist tierisch was los.“ Jenni überlegte. Sie ging nicht so gern zu Antifa-Konzerten, weil es da immer ziemlich wild zuging. Andererseits spielte auch eine Schulband, die sie sehr gern hatte. Der Sänger sah verdammt gut aus. Vielleicht wäre der eine gute Ablenkung von Björn. Auch wenn er sie niemals bemerken würde. „Spielen die Crash-Kids auch?“ „Na logo.“
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Damit war die Entscheidung gefallen. „Also schön, ich komme mit.“ Vielleicht hat Papa sein Verbot schon vergessen, hoffte Jenni. Maike hatte Recht gehabt, auf dem „Rock gegen Rechts“Konzert der Antifa war wirklich tierisch was los. Eine halbe Stunde brauchten die vier Freunde allein, um überhaupt in das völlig überfüllte Gebäude eingelassen zu werden. Drinnen tobte der Bär. Die gesamte Jungend der Kleinstadt schien an diesem Freitag im Clubhaus versammelt. Schon auf den Gängen und Treppen drängten sich Gruppen mit Bierflaschen und Hochprozentigerem. Liebespaare suchten nach stillen Plätzchen oder kamen gleich im Flur zur Sache. Es wurde gegröhlt und geknutscht und alles mögliche geraucht. „Geile Stimmung“, rief Christoph. Jenni brauchte erst einmal ein Bier. Um zur Veranstaltungsarena zu gelangen, brauchten sie nur dem Hauptstrom und den fetzigen Hardrock-Rhythmen zu folgen. Jenni hatte Glück. Auf der Bühne waren die „Crash-Kids“ voll in Aktion. Der niedliche Sänger schrie sich gerade die Seele aus der Brust. Das machte er so hingebungsvoll, daß die Mädchen auf der Tanzfläche vor Beigeisterung kreischten. „Wahnsinnsstimmung“, krakelte jetzt auch Malte und zog Jenni auf die Tanzfläche. Eigentlich hatte Jenni noch keine Lust, zu tanzen, außerdem war es ihr zu voll. Einige Antifa-Mitglieder, die Jenni vom Sehen kannte, fanden Spaß daran, sich gegenseitig umzurennen. Prompt wurde sie angerempelt und stürzte. Am Boden liegend unter all den tanzenden Beinen wäre sie fast in Panik geraten. Widerstandslos ließ sie geschehen, daß jemand sie von hinten packte, hochzog und sie in eine ruhigere Ecke des Saales schob. Schon bei der vertrauten Bewegung bekam Jenni am ganzen Körper eine Gänsehaut. Hastig drehte sie sich um. Grimmig starrte Björn sie an.
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„Du mußt besser aufpassen“, motzte er. „Was geht das dich an!“ Jenni war stinksauer – auf sich selbst, weil sie immer noch so heftig auf diesen Mistkerl reagierte. Und auf ihn sowieso. „Du bist ja jetzt richtig berühmt“, sagte Björn spöttisch. „Da biste wohl mächtig stolz, daß du in der Zeitung stehst.“ Er schüttelte unwillig den Kopf. „Du machst nur Scheiße.“ „Genau wie du.“ Jenni wünschte, sie könnte Björn wirklich hassen. Oder besser noch, er wäre ihr egal. Stattdessen mußte sie das Verlangen unterdrücken, ihn auf der Stelle zu küssen. „Was machst du eigentlich bei ‚Rock gegen Rechts‘?“ wollte sie wissen. „Ich hab dich reingehen sehen.“ Jenni schöpfte neuen Mut. Vielleicht hatte er seine Meinung über seinen Bruder und die anderen Neo-Nazis geändert. „Und?“ „Du solltest lieber hier abhauen. Das gibt’n Riesenärger. Kann sein, daß unsere Leute den scheiß roten Zecken ‘nen Denkzettel verpassen wollen.“ „Dann werden sie sich ganz schön die Zähne ausbeißen, deine tollen Freunde!“ „Du hast hier nix zu suchen, wenn die sich die Zähne einschlagen. Also hau ab.“ Björn begann, sie in Richtung Ausgang zu ziehen. „Hau du lieber ab.“ Jenni hatte endgültig die Nase voll von Björn und den fiesen Typen, mit denen er verkehrte. Vielleicht hatten die sogar etwas mit diesen Anrufen zu tun. Sie wollte Björn abschütteln, hatte aber keine Chance. Bis Malte, Christoph und Ingo aus der Elften ihr zu Hilfe kamen. „Laß das Mädchen in Ruhe“, rief Malte zornig und wollte sofort zuschlagen. Björn war klug genug, sich nicht mit Dreien auf einmal anzulegen. Er trat den Rückzug an. „Das wird dir noch leid tun“, rief er Jenni zu.
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Malte drehte Jenni zu sich herum. „Was wollte der von dir?“ „Keine Ahnung. Ich will jetzt ein Bier.“ Nach dem dritten Bier war Jenni in Hochstimmung. Die Party war toll, die Musik war geil und Tanzen machte einen Riesenspaß. Zuerst bemerkte sie gar nicht, daß aus dem spielerischen Gerempel auf der Tanzfläche eine ernste Schlägerei geworden war. Plötzlich war der ganze Saal voller Skinheads, die sich brutal mit den langhaarigen Antifa-Leuten und den Punks prügelten. Alle anderen versuchten kreischend, sich in Sicherheit zu bringen. Wie waren die überhaupt hier hereingekommen? Benommen mischte sie sich in den panischen Strom Richtung Ausgang. Sie suchte nach bekannten Gesichtern, aber von ihren Freunden war niemand zu sehen. Sie war ganz allein. Trotzdem hatte sie überhaupt keine Angst. Mit schlafwandlerischer Sicherheit erreichte sie die Treppe. „Scheiße, Bullen!“, schrie jemand. Automatisch drehte Jenni sich um und mußte mitansehen, wie ein Polizist Björn und einen Skinhead durch die Menschenmassen zerrte. „Sie dürfen ihn nicht verhaften“, rief sie. „Er ist Jude – fast.“ Ich hab’ zuviel Bier getrunken, dachte sie, und dann bekam sie von hinten einen heftigen Stoß. Jenni taumelte, versuchte sich zu fangen und verlor das Gleichgewicht. Kopfüber stürzte sie die steilen Treppen hinunter. Sie hörte ein splitterndes Geräusch, spürte noch den stechenden Schmerz im Handgelenk und im Kopf. Dann wurde alles dunkel um sie herum. Wenig später befand sich Jenni in einem merkwürdigen Dämmerzustand. Sie hatte rasende Kopfschmerzen. Sie wollte ihre Augen öffnen und sich bewegen, aber es ging nicht. Trotzdem nahm sie vieles von dem wahr, was um sie herum passierte. Sie spürte, wie sie aufgehoben wurde. „Ist sie tot?“ fragte eine hysterische Mädchenstimme.
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Nein, bin ich nicht, wollte sie sagen. Sprechen konnte sie nicht. Jetzt kehrten die Schmerzen in ihrer linken Hand zurück. Schreckliche Schmerzen. Irgendjemand fummelte an ihren Fingern herum. Plötzlich wußte Jenni, was jetzt geschehen würde. Sie würden ihr dasselbe antun, wie Louisa. „Bitte … nicht … amputieren.“ Mühsam und mit größter Anstrengung brachte sie die Worte hervor. „Ruhig, Jenni. Keine Angst. Du wirst jetzt erst einmal sehr lange schlafen.“ Die Männerstimme war vertrauenerweckend. Aber Jenni wollte nicht schlafen. Sie mußte wach bleiben. Der Arzt gab ihr eine Spritze und bald breitete sich eine wohltuende Müdigkeit in ihrem Körper aus. Sogar die Schmerzen im Kopf ließen nach. Sie wollte nicht einschlafen. Oder vielleicht nur ein paar Minuten …
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Kapitel 14
Jenni schlief tief und traumlos. Es war wie eine Flucht aus dieser Welt. Als sie endlich langsam erwachte, schien eine Ewigkeit vergangen. Ihr Kopf tat zwar immer noch weh, doch längst nicht mehr so schlimm. „Jenni, bist du wach.“ Das war die besorgte Stimme ihrer Mutter. „Wenn du wach bist, mach doch bitte die Augen auf.“ Jenni gehorchte und blickte direkt in das vetraute Gesicht. „Hallo, Mama.“ Ihre Mutter seufzte erleichtert. „Hallo Kleines. Wie geht es dir?“ „Ich bin okay.“ Zufrieden registrierte Jenni, daß das Sprechen ihr kaum noch Schwierigkeiten bereitete. „Bin ich im Krankenhaus?“ „Ja, aber du bist nicht schwer verletzt. Du hast eine leichte Gehirnerschütterung und deine linke Hand ist gebrochen. In ein paar Tagen darfst du wieder nach Hause, sagt der Doktor.“ Nachdenklich blickte Jenni an sich hinunter. Tatsächlich, ihr linker Arm war bis zum Ellenbogen eingegipst. „Jenni.“ „Ja?“ „Die Polizei will mit dir reden. Sie wollen wissen, ob du dich erinnerst, wer dich die Treppe hinuntergestoßen hat.“ Jenni musterte ihre Mutter. Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Sie mußte sich sehr gesorgt haben.
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„Ich habe nicht gesehen, wer mich gestoßen hat“, sagte sie gedehnt. „Es war so ein Chaos. Wahrscheinlich war es nicht einmal Absicht.“ Genau das erzählte sie Stunden später auch dem freundlichen Polizisten. Geduldig beantwortete sie alle seine Fragen. Weiterhelfen konnte sie ihm allerdings nicht. Dann wollte sie auch noch etwas wissen: So unbeteiligt wie möglich fragte sie den Beamten, ob nach der Schlägerei noch Jugendliche in Haft waren. „Nein, die sind alle wieder zu Hause bei ihren Eltern“, antwortete der Polizist verwundert. Jenni atmete innerlich auf. Björn war frei. Am Abend wurde Jenni in ein anderes Zimmer verlegt. Außer ihr lagen dort noch eine Rentnerin mit einem gebrochenen Bein und eine etwa dreißigjährige Frau nach einer Blinddarmoperation. Zwar war Jenni wenig begeistert von der Vorstellung, mit zwei wildfremden Frauen in einem Zimmer übernachten zu müssen, aber an dem Zimmer störte sie noch etwas ganz anderes: Gegenüber von ihrem Bett hing ein Bild an der weißgetünchten Wand, das ihr kalte Schauer über den Rücken jagte. Es zeigte einen rot-braunen Fuchs im Unterholz. Das Tier sah bösartig und tollwütig aus und schien sie mit seinen hinterlistigen Augen direkt anzustarren, egal aus welchem Winkel sie das Bild betrachtete. Jenni hatte das Bild sofort erkannt. Im Buch hatte es Léons Familie gehört. Kaum zu glauben, daß es den Fuchs wirklich gab. Und Jenni hatte nicht vor, den Raum mit ihm zu teilen. Wegen des Bildes machte sie ein solches Theater, daß der Arzt sie noch einmal untersuchte, um festzustellen, ob ihr Kopf vielleicht schwerer verletzt war als angenommen. Natürlich konnte er nichts finden. „Das ist ein Druck eines sehr berühmten Gemäldes“, erklärte er. „Das ist mir egal.“ Aber Jenni ging als Siegerin aus diesem Kampf hervor. Das
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Bild wurde vorübergehend abhängt. Zufrieden griff Jenni nach ihrem Buch, das ihr die Mutter in weiser Voraussicht mit ihren anderen Sachen ins Krankenhaus gebracht hatte. Obwohl der Arzt ihr das Lesen verboten hatte, versuchte sie sich auf Die Geschichte der Familie Netzer zu konzentrieren.
Es war sehr merkwürdig. Je mehr Thamar schrieb, desto schwieriger wurde es für sie, etwas zu empfinden. Sie beobachtete. Sie fühlte nichts. Möglich, daß sie es auch nicht wollte. So kam es, daß sie kaum unglücklich war, als Léon an einem schönen Maimorgen im Park zu ihr sagte: „Ich werde mit meiner Familie Deutschland verlassen.“ Thamar nickte. „Hast du nicht verstanden? Wir gehen fort. Für immer.“ Er nahm ihre Hand. „Nach Amerika?“ Léon nickte. „Ja, nach Amerika. Und ich möchte, daß du uns begleitest. Du hast einmal gesagt, du würdest mitkommen.“ Daran konnte sich Thamar noch erinnern. Sie hatte das nicht wirklich ernst gemeint. „Ich hatte gesagt, später. Wenn wir beide älter sind.“ Ich müßte jetzt wahrscheinlich anfangen zu weinen, dachte sie. Schließlich lag Léon ihr wirklich am Herzen. Sie hatten eine wunderschöne Zeit miteinander verlebt. Schuldbewußt wartete sie darauf, daß ihre Emotionen zurückkehrten. Aber sie fühlte sich nur müde. „Wir können nicht länger warten“, sagte Léon unglücklich. „Mein Vater ist sehr krank und später wird er die Reise vielleicht gar nicht überstehen. Wenn mein Vater stirbt, muß ich mich um Mutter und die Schwestern kümmern. Ich kann meine Familie nicht allein lassen.“
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Thamar dachte an den mageren, hustenden Mann und seine nette Frau. „Und ich kann meine Familie nicht allein lassen“, erwiderte sie. Verzweifelt raufte sich Léon die Haare. „Du hast doch selbst gesagt, ihr würdet euch in letzter Zeit nicht mehr verstehen.“ Er wollte sie küssen. „Komm mit uns. Das wird schon irgendwie gehen.“ Thamar machte sich los. „Ob wir uns verstehen oder nicht. Es ist immer noch meine Familie.“ Einsam stapfte sie durch den blühenden Park, in dem sich zahlreiche Ausflügler vergnügten. Um einen alten Eisverkäufer herum stand eine Gruppe Hitlerjungen. Sie pfiffen, als Thamar vorbeigehen wollte und einer rief ihr zu: „Warum so eilig, junge Dame? Vielleicht können wir Sie auf ein Eis einladen?“ Er lächelte sie freundlich an. Eigentlich sah er ganz nett aus. Wenn die Uniform nicht gewesen wäre. „Seid lieber vorsichtig, Jungs“, sagte Thamar. „Ich bin Jüdin.“ Damit ging sie weiter. Die Hitlerjungen standen eine Weile ratlos herum. Dann schrien sie ihr nach, was man ihnen in der HJ beigebracht hatte: „Hau bloß ab, du Judensau. Sonst zeigen wir dich an, weil du uns belästigt hast.“ Und nur der erste sagte: „Schade drum.“ Wenig später wurde Thamar von hinten an den Schultern gepackt: „Dich kenn ich doch, du kleine Jüdin. Jetzt bring ich dich zur Polizei und zeig dich an. Ich hab alles beobachtet.“ Thamar drehte sich um. Vor ihr stand ein kräftiger alter Mann in Uniform, der ihr sehr bekannt vorkam. „Was haben Sie beobachtet?“ Plötzlich wußte sie, wer der Mann war. Er hatte früher immer ihren Garten in Ordnung gebracht. Den Namen hatte sie vergessen. „Da staunst du, was? Ich bin jetzt Parkwächter für unseren Führer.“
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Er war so stolz, daß Thamar lachen mußte. Dieser Hitler schaffte es wirklich, auch dem Geringsten noch den Stolz eines Generals zu geben. „Hier gibt’s für dich nichts zu lachen. Ich hab dich vorhin mit einem jungen Mann hinten am Teich auf der Bank sitzen sehen. Hab dich erst nich erkannt, aber dann hab ich gewußt, Mensch das ist doch die Kleine vom Judendoktor. Jetzt sitzt die also schon mit’m Kerl auf der Bank.“ Thamar betrachtete ihren ehemaligen Gärtner angewidert: „Machen Sie sich keine Hoffnungen: Mein Freund ist auch Jude.“ Der uniformierte Gärtner rieb sich die schwieligen Hände. „Mag ja sein“, sagte er, „aber die Bank ist für Juden verboten. Alle Bänke sind für euch verboten. Im ganzen Park. Und bald dürft ihr dreckigen Gauner überhaupt nicht mehr in den Park.“ Seine Stimme wurde immer lauter und sein Gesicht lief rot an. „Und jetzt mitkommen. Das gibt ‘ne Anzeige.“ „Heil Hitler. Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?“ Thamar und der Parkwächter schnellten herum. Es war der Hitlerjunge, der sie vorhin zum Eis einladen wollte. Jetzt war er allein. Mit unbewegter Miene stand er vor dem Parkwächter stramm. „Ich muß diese jüdische Volksfeindin der Polizei übergeben. Die hat sich vorhin auf eine Bank gesetzt.“ „Wenn ich die Täterin überführe, können sie auf ihrem Posten bleiben.“ Der ehemalige Gärtner der Familie Netzer überlegte eine Weile. „Ich werde hier in der Tat gebraucht. Führ sie ab. Mit der wirste ja wohl fertig“, beschloß er und zerrte Thamar zu dem Hitlerjungen. Dann ging er. „Du glaubst ja wohl nicht, daß ich freiwillig mit dir komme“, sagte Thamar. „Und du glaubst ja wohl nicht, daß ich den Befehlen dieses Opas folge“, entgegnete der Hitlerjunge gelassen. „Aber sag mir
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eines: Warum erzählst du jedem sofort, daß du Jüdin bist. Willst du unbedingt Schwierigkeiten bekommen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Er wußte es. Er war früher unser Gärtner.“ Das fand der Hitlerjunge komisch. Er lachte und lachte und konnte überhaupt nicht mehr aufhören. Thamar beeilte sich, nach Hause zu kommen. An diesem Abend saß Thamar mit ihrem Bruder zusammen. Sie zählten auf, wer von all den Menschen, die sie seit ihrer Kindheit kannten, heute zu den Nazis gehörte oder zumindest sehr gut mit ihnen auskam. „Es gibt zwei Gruppen“, meinte David, „die, die begeistert mitmachen und die, die einfach wegsehen. Sie lassen stillschweigend zu, daß so viel Böses passiert. Aber alle sind gleich schlimm.“ „Wie wir wohl wären, wenn wir nicht jüdisch wären“, überlegte Thamar. Immerhin hatten sie in den letzten Jahren im Wegsehen auch schon einige Erfahrung gesammelt. „Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist es vor allem für die Eltern tragisch: Früher hatten sie so viele Freunde. Heute hält keiner mehr zu ihnen. Alle haben sich rechtzeitig zurückgezogen.“ Als die Liste der Nazis und Mitläufer in ihrem Bekanntenkreis immer länger wurde, schlug David frustriert vor, die anderen zu zählen. „Die Zeitungsfrau“, rief Thamar sofort. Viel mehr hatten sie nicht aufzuzählen. Nach diesem Gespräch schlief Thamar sehr schlecht. Sie hatte Alpträume, die sie allerdings beim Aufwachen vergessen hatte. Barfuß lief sie zum Zimmer ihres Bruders hinüber. Sie hatten sich heute Abend so gut verstanden. Sie wollte zu ihm ins Bett kriechen, wie sie es als ganz kleines Mädchen getan hatte. Seine Tür war nur angelehnt und es brannte noch Licht.
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„Bist du noch wach?`“ Vorsichtig trat sie ein. David hörte seine Schwester nicht. Er saß an seinem Schreibtisch und betrachtete eine Fotografie in seinen Händen. Leise schlich Thamar noch einen Schritt weiter nach vorn, um das Bild erkennen zu können. Obwohl sie genau wußte, wer darauf zu sehen war: Louisa. Ohne Thamar wahrzunehmen, starrte David auf die Frau, die er immer noch liebte. Er hatte Tränen in den Augen, aber er weinte nicht. Plötzlich wußte Thamar, was sie zu tun hatte. Zurück in ihrem Zimmer begann sie zu schreiben: Liebe Louisa, heute abend habe ich mit David beisammen gesessen. Wir zählten auf, wer in diesen Tagen noch nicht zu IHNEN gehört. Viele waren es nicht. Es ist sehr schlimm, wenn alte Freunde lieber die Straßenseite wechseln, als uns zu begrüßen. Hast Du auch schon die Straßenseite gewechselt? Was immer David gesagt hat, er meinte es nicht so, das weiß ich genau. Am Anfang wart ihr doch beide so mutig. Bitte komm zurück. Alles Liebe, Deine Thamar Sie wollte den Brief zerreißen, weil sie ihn so schlecht fand. Sie knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Doch ihr wollten keine besseren Worte einfallen. Also holte sie den Brief wieder hervor und steckte ihn in einen Umschlag. An Fräulein Louisa Waldteufel, zu Händen Herrn Karl Waldteufel, Tenor an der Staatsoper zu Wien, schrieb sie. Mehr wußte sie nicht. Am nächsten Tag machte Thamar noch die Anschrift der Wiener Oper ausfindig. Das war alles, was sie für ihren Bruder tun konnte. Als der Tag des Abschieds von ihrer ersten, großen Liebe Léon Nathan gekommen war, nahm sie den Brief, den sie
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an Louisa geschrieben hatte, und machte sich zum letztenmal auf den Weg zu ihrem gemeinsamen Liebligsplatz. Sie wußte, daß sie Léon sehr vermissen würde. Es waren herrliche gemeinsame Wochen gewesen. Aber nun waren sie vorüber. So war es eben: Gute Zeiten dauerten nicht ewig – sie gingen vorüber. Daran hatte sich Thamar in den letzten Jahren gewöhnt. Also wanderte sie gefaßt durch die satten, grünen Wiesen zu der alten Ulme am Fluß. Es war ein schwüler Tag, Gewitter lag in der Luft. Sie war traurig, aber nicht verzweifelt. Léon war schon da. Er hatte ein großes, in braunes Packpapier eingewickeltes Bündel bei sich. Plötzlich spürte Thamar den Wunsch, alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Bloß keinen Abschied mit Tränen und Versprechungen. Thamar schlich sich von hinten an Léon heran und hielt ihm die Augen zu. „Auf wen warten Sie denn, junger Herr“, sagte sie betont munter. Er drehte sich um und küßte sie so lange, daß sie keine Luft mehr bekam. „Endlich bist du da.“ „Ich habe nur wenig Zeit“, log sie. „Am besten wir fangen an.“ Thamar fühlte sich unsicher. Wie sollte man sich in dieser Situation verhalten. Ihre Gelassenheit verwirrte Léon. „Womit sollen wir anfangen?“ Thamar mußte lächeln. „Mit dem Ende.“ Das war offenbar zuviel für Léon, denn er umklammerte Thamar, als wollte er sie nie wieder loslassen. Statt ihm ins Gesicht zu sehen, betrachtete Thamar wie der Fluß träge und gleichgültig vorbeifloß. Sie hatte Wasser gern. „Ich stehe das nicht durch“, wimmerte er und Thamar dachte, jetzt fang endlich an, dich wie ein Mann zu benehmen. Ein letztes Mal bat er Thamar mitzukommen nach Amerika oder ihm wenigstens nachzureisen. Er sagte, er würde entweder echte oder gefälschte Pässe für ihre ganze Famile besorgen. Er
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machte sich lächerlich. Nach einer weiteren langen Umarmung, die Léon sicher mehr bedeutete als ihr, wußten sie beide nichts mehr zu sagen. „Warum bist du so abweisend“, fragte er schließlich. „Ich wollte dich nicht abweisen. Nur habe ich dich schon aus meinem Leben gestrichen, glaube ich. Es ist, als wärest du schon fort.“ Ihre Offenheit schockierte Léon. Ratlos reichte er ihr seine Abschiedsgeschenke. Es waren eine Silberkette mit einem sehr filigranen, wunderschönen Anhänger, der eine Seejungfrau darstellte, und das große Paket. Neugierig zerriß Thamar das Papier und schnappte nach Luft, als sie den Inhalt erkannte: Das schreckliche Fuchsbild aus seiner Wohnung. „Was zum Teufel soll das“, wütete sie los. „Was soll ich mit diesem verdammten Fuchs anfangen.“ „Das Gemälde ist sehr wertvoll. Irgendwann kann es deiner Familie vielleicht das Leben retten“, entgegnete Léon. „Bitte nimm es.“ Was bildete der sich eigentlich ein. „Wir brauchen keine Almosen“, sagte Thamar. „Wir haben selber noch genug Geld.“ Das war zwar gelogen, aber Thamar war zu verletzt, weil sie von Léon ein so häßliches Abschiedsgeschenk bekommen hatte. „Du mußt etwas für mich tun“, bat sie, nachdem sie die Beherrschung wiedererlangt hatte. „Bitte gib diesen Brief auf, sobald du im Ausland bist. Es ist sehr wichtig.“ Damit übergab Thamar das kurze Schreiben für Louisa an Léon. Sie hatte nicht gewagt, es mit der deutschen Post zu schicken. Die Post wurde schließlich kontrolliert. Jeder wußte das. Jetzt, wo der wichtigste Teil dieses Abschieds geschafft war, wollte sie schnellstens heim. „Ich wünsche euch allen viel Glück. Laß mal etwas von dir
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hören.“ Eine flüchtige Umarmung, ein schneller Kuß, dann packte sie doch noch das Fuchsbild und lief davon, ohne sich umzudrehen. Ich habe keine einzige Träne vergossen, dachte sie ein wenig beschämt, während sie nach Hause rannte. Sie hatte erst die Hälfte des Weges hinter sich, als das Gewitter losbrach.
Jenni kam im Krankenhaus nur selten zum Lesen. Nachts störte das Licht ihre Zimmergenossinnen und tagsüber bekam sie mehr Besuch, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Nacheinander ließ sich fast ihre gesamte Klasse bei ihr blicken. Ihre Freunde und Mitschüler brachten kleine Geschenke oder schickten lustige Grußkarten. Zwei Jungen, aus denen sie sich nie viel gemacht hatte, hatten extra für sie einen Comic gezeichnet. Jenni war gerührt. Von allen wurde sie fast wie eine Heldin behandelt. Sie fühlte sich, als könne sie es mit der ganzen Welt aufnehmen. Auch wenn sich ihr sehnlichster Besuchswunsch nicht erfüllte: Insgeheim hoffte sie jedesmal, wenn sich die Zimmertür öffnete, Björn wäre gekommen. Er kam nicht. Dafür kam Klassenlehrer Oldenburg und brachte Grüße vom gesamten Lehrerkollegium des Luisen-Gymnasiums. Und Malte brachte ihr die Stadtnachrichten vom Samstag. „Du bist schon wieder in der Zeitung“, sagte er stolz und begann vorzulesen: … Bei der Schlägerei zwischen rechtsradikalen Jugendlichen und Angehörigen der Antifaschistischen Jugend (ANTIFA) wurde eine unbeteiligte Konzertbesucherin verletzt. Mit einer Gehirnerschütterung und einem gebrochenem Handgelenk wurde die 15jährige ins städtische Krankenhaus eingeliefert. Alle anderen Jugendlichen kamen mit Hautabschürfungen und Prellungen davon …
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„Ein Wunder, daß sie nicht geschrieben haben die farbige Schülerin oder so“, sagte Jenni spöttisch. Malte blieb lange und redete die ganze Zeit. Eigentlich hatte Jenni erwartet, daß ihr Vater wütend auf sie sein würde. Schließlich war sie am Freitag verbotenerweise in dem verhängnisvollen Konzert gewesen. Doch der Vater sagte nichts dazu. Bei seinem einzigen Besuch im Krankenhaus sagte er überhaupt sehr wenig. Er hielt nur stumm und ganz fest Jennis Hand. Vielleicht eine halbe Sunde saß er so da. „Du mußt viel vorsichtiger werden, Jenni“, bat er dann und ging wieder. An Jennis fünftem und letzten Tag im Krankenhaus bekam sie Besuch von einem riesigen Blumenstrauß. Jedenfalls schien es zunächst so. Denn die Blumen verdeckten das Gesicht des Mannes. „Kommen Sie raus, sie sind umzingelt“, sagte Jenni. Zögernd gab der Besucher sein Gesicht frei. Jenni kannte ihn und hätte niemals mit seinem Besuch gerechnet. Es war der Reporter Nils Ritschkau. „Hi, Jenni. Ich wollte mal sehen, ob die dich hier auch gut behandeln. Bist du wieder okay?“ Vielleicht war er gar nicht so übel. Jedenfalls sah er ganz süß aus, wie er hilflos mit seinen Blumen im Zimmer stand. „Und was wollen Sie wirklich?“ Er wollte mit ihr über die Schlägerei im Jugendclub reden. Und er wollte wissen, wie sie sich als Farbige in Deutschland fühlte. „In diesen Zeiten.“ Jenni wußte nicht, was er mit „diesen Zeiten“ meinte. Sie hatte auch nie darüber nachgedacht, wie sie sich in Deutschland fühlte. Obwohl sie danach schon so oft gefragt worden war. Trotzdem war sie bereit, mit Nils Ritschkau zu reden. Unter der Bedingung, daß er nicht darüber schreiben würde. Er gab ihr sein Wort darauf.
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„Sie können sich sowieso nicht vorstellen, wie es ist, in diesem Kaff zu leben und anders auszusehen, als alle anderen. Oder was es heißt, ein Kopftuch zu tragen“, stieß sie im Laufe des Gesprächs zornig hervor. Ritschkau dachte eine Weile nach. „Nein, wahrscheinlich nicht“, gab er zu. „Deswegen solltest du es uns erzählen. Du solltest es allen erzählen.“ „Verzichte.“ Nils Ritschkau ließ nicht locker. „Wir haben eine Tradition in der Redaktion“, sagte er. „Wir laden von Zeit zu Zeit Interviewpartner, Leute, für die sich die Öffentlichkeit interessiert, in die Redaktion ein. Zu einem sogenannten Nachrichtenfrühstück. Es gibt ein prima Büfett und dabei wird ganz locker geredet. Und am nächsten Tag kommt ein Bericht ins Blatt. Das ist besser als ein steifes Interview.“ Jenni fühlte sich unbehaglich. „Warum erzählen Sie mir das?“ „Weil ich dich hiermit zum Nachrichtenfrühstück einlade. Sicher finden wir zum Thema Mölln und ausländerfeindlicher Alltag in Deutschland noch andere Gäste.“ „Ich bin nicht öffentlich interessant. Und ich habe nichts zu sagen.“ Jenni fand, sie hatte in letzter Zeit oft genug in der Zeitung gestanden. „Du hast eine Menge zu sagen. Jetzt kannst du nicht mehr kneifen.“ Sie stritten noch eine ganze Weile. „Ich gehe hier nicht ohne deine Zusage weg“, sagte Nils Ritschkau entschlossen. Jenni gab ihren Widerstand auf. „Also gut, ich bin dabei.“ „Ehrenwort?“ „Ehrenwort!“ Was hatte sie sich da nur eingebrockt?
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Kapitel 15
Jennis Zeit im Krankenhaus war ein Wechselbad der Gefühle gewesen: Freude über die vielen Besuche, Sehnsucht nach Björn, den sie einfach nicht vergessen konnte, Sorge über das, was im Jugendclub und in Mölln geschehen war und Angst vor dem, was noch kommen würde, geisterten ihr durch ihren Kopf. Nach fünf Tagen wurde Jenni entlassen. Mit vielen Ermahnungen und einem dicken Gipsverband am linken Handgelenk überließ sie der diensthabende Arzt der Fürsorge ihrer Mutter. Die fing daheim natürlich sofort an, ihre Tochter nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen. Jenni war froh, Zeit zum Lesen zu haben:
Mit Léons Abschied war die Kälte des Winters, die Thamar so sehr zu schaffen gemacht hatte, zurückgekehrt. Jedenfalls hatte sie diesen Eindruck. Nicht, daß sie unter der Trennung gelitten hätte, nein, sie fror einfach nur viel zu oft. Manchmal versuchte Papa, sie zu trösten, aber das nützte nichts. Denn sie war ja gar nicht traurig. „Ich verstehe dich nicht“, sagte Klara. „Noch vor ein paar Wochen wolltest du ohne Léon nicht leben und jetzt ist er weggegangen und du hast überhaupt nicht geweint?“ Klara war empört, als hätte sie etwas sehr Schlimmes getan. „Jede normale Frau in dieser Situation hätte geweint“, be-
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hauptete die Freundin. „Ich muß schon weinen, wenn ich mir einen Abschied nur vorstelle.“ Thamar war entnervt: „Dann wein’ du doch für mich.“ Aber es fand sich niemand, der Thamar ihre Trauer abnahm. Und so blieben ihre Tränen ungeweint. Tatsächlich ging der Sommer schnell und ereignislos vorüber und der Herbst zog ins Land. Es sollte sich zeigen, daß David Netzer als Jude keine Chance hatte, auf einer deutschen Universität als Medizinstudent aufgenommen zu werden. Also erinnerte er sich an seinen Traum von einem Leben in einem jüdischen Staat Israel. Jetzt aber machte er Nägel mit Köpfen: Mit Hilfe seiner alten, zionistischen Freunde bekam er einen Platz für die hachschara, die Vorbereitung für die Auswanderung nach Palästina. Eigentlich hätte er auch in einem der hachscharaZentren wohnen müssen, aber weil das Haus der Netzers in der Nähe war, kam er meistens nach Hause. Alle jungen Teilnehmer an dem hachschara-Programm sollten praktische Berufe lernen, mit denen sie in Palästina etwas anfangen konnten. Also nahm David Netzer, der schon als kleiner Junge gewußt hatte, daß er einmal ein berühmter Arzt werden wollte, eine Lehrstelle in einer Tischlerei an. Der Besitzer war Halbjude. Thamar beobachtete Davids Vorbereitungen, seiner Familie und seiner Heimat für immer den Rücken zu kehren, mit zunehmender Wut. Sie hätte auch gehen können, aber sie war noch da. Dafür hatte sie sicher nicht den Brief an Louisa geschrieben. Und dafür war Mama nicht in jener Nacht zu diesem Nazi gegangen. Bisher hatte Thamar sich verboten, daran zu denken. Sie hatte auch niemandem davon erzählt, wie sie es Mama geschworen hatte. Das ging sie nichts an. Obwohl sie ahnte, was in dieser Nacht geschehen war, wollte sie es nicht wissen. Nicht einmal in Gedanken wollte sie das Unglaubliche aussprechen. Es
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durfte nicht sein. Aber immer seltener wagte Thamar, ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen. Und nun machte David eine Tischlerlehre. Dafür hatte er nicht sein Abitur bekommen. Was war dieses lächerliche Zeugnis noch wert? Papa tobte, als er von Davids Anstellung als Tischlerlehrling erfuhr. Mama sagte gar nichts. Eigentlich sprach sie überhaupt nicht mehr. Papa und David schienen gar nicht zu bemerken, daß Mama sich immer mehr zurückzog. Nur Thamar fielen die Veränderungen auf. Mama verbrachte jetzt die meiste Zeit des Tages in ihrem Zimmer oder in der Hausbibliothek. Aber sie las nicht. Sie saß einfach nur in einem der großen, alten Ledersessel und starrte mit leerem Blick in den herbstlichen Garten. Schließlich kam sie nicht einmal mehr zu den Mahlzeiten herunter. Ein paarmal wollte Thamar mit Papa oder David reden. Denn sie wußte ja, warum Mama verstummt war. „Papa, es ist wegen Mama …“, begann sie dann zaghaft, nur um sofort wieder zu schweigen. Wie sollte man über so etwas Schreckliches sprechen? Es war vermutlich auch besser, einfach den Mund zu halten über diese Nacht, die Mama mit einem Nazi verbracht hatte. Außerdem wollte Mama es nicht anders. Die Wochen vergingen und es wurde November. Auch David und Papa mußten jetzt sehen, daß mit Mama etwas nicht stimmte. Jeder mußte das sehen. Mama verbrachte ihre Zeit mit langen Spaziergängen durch die kalte, graue Novemberlandschaft. Sie brach schon vor dem Mittag auf und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Und niemand außer Thamar schien sich überhaupt dafür zu interessieren. Papa verbrachte seine Tage bei seinen Patienten und David war im hachschara-Zentrum oder bei der Arbeit. „Ich mache mich gar nicht so schlecht“, erzählte er eines Abends seiner Schwester und Thamar fauchte: „Ich hoffe, du
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wirst dir die Hand abhacken.“ David registrierte ihre Wut mit Erstaunen. „Was ist los mit dir?“ fragte er und ging fort, ohne eine Antwort abzuwarten. An einem Mittwochabend, als außer Thamar und Mama niemand im Hause war, beschloß Thamar, ein Gespräch zu wagen. „Mama, ich muß mit dir reden“, begann sie schüchtern. Mama saß mit einer Handarbeit vor ihrem Fenster. Sie zeigte keinerlei Reaktion. „Mama, bitte.“ Ganz vorsichtig legte Thamar eine Hand auf die Schulter ihrer Mutter. „Ich glaube, ich weiß, was in dieser Nacht passiert ist, als du weggegangen bist. Du mußt mit Papa sprechen. Er wird dir helfen.“ Mama schüttelte langsam den Kopf und streifte die Hand ihrer Tochter ab. „Es ist alles in Ordnung, Kind. Wir wollen doch Papa nicht unnötig in Sorge versetzen.“ „Bitte. Es muß etwas geschehen. Du hast dich so sehr verändert. Wir bekommen das doch wieder in Ordnung, oder?“ Mama nahm ihre Hand. „Wir haben uns alle verändert, Thamar.“ Wenn doch dieser leere Blick in Mamas Gesicht nicht wäre. Wenn sie wenigstens weinen würde. Aber sie starrte nur aus dem Fenster. Emotionslos. „Thamar, du mußt mir etwas versprechen“, sagte sie. „Halte die Familie zusammen. Du bist von uns allen die Stärkste.“ Da endlich konnte Thamar weinen. Ohne nachzudenken fiel sie Mama in die Arme und weinte sich aus. Für einen Augenblick war alles wie früher. Sie war wieder klein und ihre Mama würde für sie alle Schwierigkeiten aus der Welt räumen. Sie war gar nicht stark. Viel zu schnell löste Mama sich aus der Umarmung. „Ich bin sehr müde“, sagte sie, „bitte, verzeih mir.“ Am nächsten Tag kam Mama erst nach Mitternacht von einem
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ihrer Spaziergänge zurück. Es war sehr kalt und es hatte den ganzen Tag in Strömen geregnet, später war der Regen in wäßrigen Schnee übergegangen. Als Mama schon viele Stunden fort war, zogen David und Papa los, um sie zu suchen. Doch sie fanden sie nicht. Gegen ein Uhr polterte es an der Küchentür und Mama kam herein. Sie trug nur ein dünnes Kleid und einen Sommermantel. Fassungslos über den Leichtsinn seiner Frau steckte Papa sie sofort ins Bett. Er machte sich Vorwürfe und war ganz krank vor Sorge. Seine Sorge kam zu spät. Noch in der Nacht bekam Mama hohes Fieber. Sie hatte sich eine Lungenentzündung geholt. Zwei Tage und Nächte wachten Papa und David an Mamas Bett. Papa versuchte alles, was in seiner Macht stand, um ihr Leben zu retten. Er besorgte Medikamente, er pflegte sie und er betete sogar zu einem Gott, den er gar nicht kannte. Thamar beobachtete alles. Sie wußte, daß Mama sterben würde. Mama würde sie allein lassen. Ihre letzten Stunden waren für Rebekka Netzer voller Glückseligkeit. Sie hatte hohes Fieber und erlebte in den Armen ihres Mannes die vielen schönen Jahre ihres Lebens ein zweites mal. In der Nacht von Freitag auf Samstag, den 28. November 1937 starb sie. Mit unbewegtem Gesicht stand Thamar am Fußende des Bettes und erlebte den Tod ihrer Mutter. „Dafür mußtest du keinen Finger rühren, Adolf Hitler“, schrieb sie in ihr Tagebuch, „wir anderen werden es dir nicht so leicht machen.“ Sie begruben Mama unter einer riesigen alten Eiche auf dem jüdischen Friedhof der Stadt. Direkt neben ihren Eltern, die früh bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren. Thamar konnte sich nicht an die Großeltern erinnern, nur David hatte sie
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als kleiner Junge noch kennengelernt. Es kamen nicht viele Menschen zur Beerdigung. Außer Thamar, David und Papa standen nur ein paar alte Freunde der Netzers, natürlich nur jüdische Freunde, hilflos im Schneematsch herum. Ein Stück weiter weg, hinter einem Nebelschleier verborgen, war noch eine alte Frau und traute sich offenbar nicht herüber. Nur Thamar erkannte in der Fremden die Zeitungsfrau. Sie war gerührt. In seiner Ansprache sagte der Rabbi wundervolle Dinge über Mama. Zwar hatte er sie nur selten zu Gesicht bekommen, aber er schien trotzdem genau zu wissen, daß sie mindestens eine Heilige gewesen war. Hinterher hatte Thamar das Gefühl, sie hätte Mama überhaupt nicht gekannt. Eigentlich hätte Papa auch noch etwas sagen müssen, fand Thamar. Irgendetwas darüber, wie Mama wirklich gewesen war. Doch er stand nur stumm im Nieselregen und blickte in das schwarze Loch in der Erde, das die Totengräber ausgehoben hatten. Eine unheimliche Stille lag über dem Friedhof. Niemand sprach, niemand weinte. Die wenigen Menschen am Grab wirkten wie gelähmt. Totenstille. „Vielleicht bin ich schuld, daß du jetzt tot bist, Mama“, flüsterte Thamar. „Ich habe dir nicht helfen können. Bitte verzeih mir.“ Sie wußte, daß auch Papa sich schuldig fühlte. Vielleicht konnte er deswegen nicht richtig um seine Frau trauern. Endlich versenkten die Totengräber Mamas Sarg in der Erde. Jetzt kam der Moment, den Thamar am meisten gefürchtet hatte: Nach Papa und David trat sie nach vorn und warf eine Schaufel Sand in die Grube. Es war gar nicht schlimm. Sie hatte nur plötzlich so schreckliche Bauchschmerzen. Und kalte Füße. Was gibt es schrecklicheres, als eine Beerdigung, auf der niemand weint, fragte sich Thamar während die Leute ihr nacheinander die Hand gaben. Dann war alles vorbei. Die letzten drei Netzers blieben allein auf dem nebelverhangenden Friedhof zu-
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rück. Plötzlich glaubte Thamar, aus der Ferne ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Es kam von den nahen Büschen. „Ist da jemand“, rief Papa. Er hatte also auch etwas gehört. Das Schluchzen wurde lauter, aber es war niemand zu sehen. „Wer ist denn da“, rief Papa ärgerlich, als gehörte der Friedhof ihm ganz allein. Thamar faßte ihn am Ärmel. „Laß doch Papa. Vielleicht ist noch jemand gestorben.“ Und dann rannte David los. Er sprintete hinüber zu den Büschen, als ginge es um sein Leben. Sekunden später war auch er nicht mehr zu sehen, aber Thamar und Papa vernahmen einen kurzen, hohen Aufschrei. Diese Stimme würde sie niemals vergessen. Ein warmes Glücksgefühl durchströmte Thamar, als sie begriff, wer da hinter dem Gebüsch um ihre Mama weinte. „Lieber Gott, bitte laß es wahr sein“, betete sie und hielt Papa davon ab, seinem Sohn zu folgen. Sie hatte sich nicht getäuscht: Eng umschlungen traten David und Louisa Waldteufel hinter den Sträuchern hervor. Louisas Gesicht war tränenüberströmt, aber sie lächelte. Ihr flammendrotes Haar leuchtete wie eine Fackel im Grau des Friedhofes. Louisa war zurückgekommen.
Das Buch machte Jenni schwer zu schaffen. Sie haßte Bücher, in denen die Hauptpersonen starben. Sie wünschte, der Autor hätte Thamars Mutter nicht sterben lassen. Nicht so. Sie wollte sich Die Geschichte der Familie Netzer nicht weiter antun. Irgendwie war das Buch nicht gut für sie. Es gab bessere Geschichten.
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Kapitel 16
Zwei Tage später hatte sich Reporter Ritschkau immer noch nicht bei Jenni gemeldet und sie dachte schon, er hätte seine Idee mit diesem Nachrichten-Frühstück vergessen. Aber am Samstag, genau acht Tage nach den Ereignissen im Jugendclub, erhielt sie eine schriftliche Einladung in die Redaktion der Stadtnachrichten. Sie wurde am Montag um 10.30 Uhr erwartet. Mist. Jetzt mußte sie wohl hingehen, sie hatte ja ihr Wort gegeben. Niemals würde ihr Vater ihr die Erlaubnis zu diesem Interview geben, das stand fest. Also beschloß Jenni, ihm nichts zu erzählen. Sie wollte niemandem etwas erzählen. Leider rief am Nachmittag Nils Ritschkau an, um ihrer Mutter zu erklären, was am Montag in der Redaktion passieren sollte und um ihre Einwilligung einzuholen. „Da werden Sie kein Glück haben“, murmelte Jenni und gab den Hörer widerstrebend an ihre Mutter weiter. Ritschkau redete ziemlich lange auf Jennis Mutter ein. Was er ihr alles erzählte, würde Jenni nie erfahren, aber als sie eingehängt hatte sagte sie: „Also gut. Wenn du meinst, daß du unbedingt zu diesem Interview gehen mußt, dann geh. Aber mach uns keine Schande. Ich werde eine Entschuldigung für die Schule besorgen und ich werde es deinem Vater schonend beibringen.“ Jenni glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Ist das dein Ernst?“ Die Mutter nickte.
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„Aber Vati erlaubt das nie.“ „Ich werde es ihm am Montag nachmittag erzählen.“ Das hätte Jenni nicht erwartet. Nun gab es kein zurück mehr. Mit klopfendem Herzen stieg Jenni am Montag um 10.25 Uhr die zwei Treppen zur Redaktion der Stadtnachrichten hinauf. Sie war furchtbar aufgeregt. Vor der unscheinbaren Tür mit dem schiefen Schild Lokalredaktion wäre sie am liebsten umgekehrt. Doch nach einem längeren Zögern trat sie tapfer ein. „Jenni, da bist du ja.“ Nils Ritschkau kam auf sie zu und belegte sie sofort mit Beschlag. Jenni war froh, als sie das vertraute Gesicht des Reporters mit dem blonden Zopf erblickte. Sofort fühlte sie sich ein wenig sicherer. „Als erstes zeige ich dir mal unser Domizil. Ist doch nett hier, oder?“ Neugierig sah Jenni sich um. Die Redaktion war nicht sehr groß. Sie war in einem alten Gemäuer mitten in der Altstadt untergebracht. Von den Fenstern hatte man einen Ausblick über das historische Stadtzentrum. „Cool“, kommentierte sie. Dann betrachtete sie die überladenen Schreibtische. Auf den Computerbildschirmen flimmerten die Artikel für die Zeitung von morgen. „So, jetzt wirst du die Kollegen und die anderen Gäste kennenlernen.“ Um einen großen, reichgedeckten Frühstückstisch hatte sich die Gesprächsrunde versammelt. Schnell begann Nils Ritschkau mit der Vorstellung. Der Redaktionsleiter Bernd Lafrenz war ein athletischer Mann um die Fünfzig. Hinter einer bunten, modernen Brille blinzelten listige, graue Augen. Jenni konnte sich unmöglich auch die Namen der anderen Redakteure merken. Jedenfalls arbeiteten außer Nils nur sieben Journalisten in der Lokalredaktion, fünf Männer und zwei Frauen. „Und das sind unsere anderen Gäste“, sagte Nils Ritschkau
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gerade. „Fatma Günay ist Türkin und lebt mit ihrer Familie seit elf Jahren in Deutschland. Yasar Kahraman stammt aus Afghanistan. Seit zwei Jahren ist er hier in der Stadt Leiter der Ausländerberatung bei der Arbeiterwohlfahrt. Er hilft vor allem Asylbewerbern, sich hier zurechtzufinden, übernimmt den Schriftverkehr, ist bei Amtsbesuchen dabei und so weiter …“ Unsicher beäugte Jenni die vielen fremden Erwachsenen. Was hatte sie hier eigentlich zu suchen? Das Gespräch begann und Jennis Nervosität war zurückgekehrt. Vor Aufregung brachte sie weder einen Bissen von dem fabelhaften Frühstück hinunter, noch traute sie sich, etwas zu sagen. Der Frau aus der Türkei schien es ähnlich zu gehen. Nur Yasar Kahraman hatte eine Menge zu erzählen. Er berichtete von seiner Arbeit: Mit welchen Problemen die Menschen aus allen Teilen der Welt zu ihm kamen. Wie unsicher sie auf deutschen Behörden waren, weil sie sich nicht verständigen konnten und von der Enge in einem Asylbewerberheim. Während der Mann erzählte, wurde er von einem der Redakteure fotografiert. Was soll ich bloß hier, fragte Jenni sich wieder. Es war zwar interessant zuzuhören, aber sie würde ohnehin nichts dazu sagen können. Aus lauter Verlegenheit begann Jenni, dann doch zu essen. Irgendetwas mußte sie ja tun. Sie aß ein halbes Brötchen nach dem anderen, starrte aus dem Fenster und vergaß sogar, dem Gespräch zuzuhören. Nach einer guten Stunde hatte sie noch immer kein Wort von sich gegeben. Ihr fiel einfach nichts ein. Sie wurde immer unsicherer. Ein paarmal versuchten die Journalisten freundlich, sie in die Diskussion einzubeziehen. Ohne Erfolg. Das Gespräch verlief angeregt, aber freundschaftlich. Bis es zu einem Streit zwischen der einen Journalistin, einer jungen Frau mit kurzem Rock und langen, braunen Haaren und der Türkin Fatma Günay kam. „Wenn eine Frau von ihrem Mann und ihrer Religion gezwungen wird, die Beine zu verdecken und ein Kopftuch oder gar
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einen Schleier zu tragen, kann sie unmöglich selbständig sein“, sagte die Redakteurin schnippisch. „Da können sie mir erzählen, was sie wollen!“ Und plötzlich, noch bevor jemand anderes antworten konnte, hatte Jenni etwas zu sagen: „Genau das ist es ja“, rief sie verägert. Alle Gesichter waren ihr zugewandt. „Solche Leute wie Sie, mit ihren Scheiß-Vorurteilen sind unser Problem. Türkische Frauen mit Kopftuch müssen unterdrückt sein. Neger können sowieso kein Deutsch und Zigeuner klauen. Sowas denken nicht nur die Brandstifter von Mölln, das denken hier nämlich viel mehr Leute.“ Jetzt sprudelten die Worte nur so aus Jenni hervor. „Sie wollen wissen, wie ich mich in Deutschland fühle? Ich fühle mich mies, wenn meine Lehrer ganz erstaunt sind, weil ich so gut Deutsch spreche. Obwohl ich, wie die meisten anderen aus der Klasse, Deutsche bin und hier geboren bin. Ich fühle mich beschissen, wenn der Zeitungsmann denkt, daß ich ihn beklauen will oder wenn die Frau in der S-Bahn vorsichtshalber ihr Kind zur Seite zieht, weil ich ihr gegenüber sitze. Und ich habe Panik, wenn die Leute in meiner Straße auf dem Wichtelberg gegen Ausländer demonstrieren gehen.“ In der Redaktion herrschte betretenes Schweigen. Jenni holte noch einmal tief Luft. „Solche Dinge interessieren keinen, obwohl sie ständig passieren. Wahrscheinlich überall in Deutschland. Aber spannend wird’s halt erst, wenn die Neonazis ganze Häuser abfackeln. Man müßte irgendwas in den Köpfen der Menschen ändern. So, daß sie nicht schon ihre fertige Meinung von mir oder der Türkin da haben, bevor sie uns auch nur kennen …“ Jenni hatte wie ein Wasserfall geredet, aber jetzt wußte sie nicht mehr weiter. Noch immer waren alle Augen in der Redaktion aufmerksam auf sie gerichtet.
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„Ich weiß nicht, wie ich’s erklären soll“, sagte sie verzweifelt. „Ich glaub’, ich muß jetzt nach Hause.“ „Niemand hätte es besser sagen können.“ Bernd Lafrenz schien wirklich ergriffen. Mit ernster Miene begann er, Jenni zu applaudieren, nacheinander folgten zuerst Nils Ritschkau und dann alle anderen seinem Beispiel. Das Nachrichtenfrühstück endete für sie mit einem Applaus. Verlegen und stolz zugleich ließ sich Jenni von Nils Ritschkau nach Hause fahren. Ich habe das Richtige getan, dachte sie glücklich. Leider war ihr Vater ganz anderer Meinung. Inzwischen hatte seine Frau ihn eingeweiht, damit er von Jennis Besuch beim Nachrichtenfrühstück nicht erst aus der Zeitung erfahren mußte. Wie erwartet war er schrecklich wütend. Nicht einmal Jennis Mutter schaffte es, ihn zu besänftigen. „Du wirst uns noch in große Schwierigkeiten bringen“, herrschte er Jenni an. Doch heute wollte Jenni sich ihren Triumph nicht verderben lassen. Nicht einmal durch ihren Vater.
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Kapitel 17
Am nächsten Morgen wagte Jenni kaum, die Stadtnachrichten aufzuschlagen. Vor Aufregung zitterten ihre Finger und die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Da war ihr Foto, ganz groß. Sie hatte überhaupt nicht gemerkt, daß sie fotografiert worden war. Daneben stand im fetten, roten Kasten der Artikel: MÖLLN UND DER GANZ ALLTÄGLICHE RASSISMUS oder „Zigeuner klauen sowieso“ lautete die Überschrift. Geschrieben hatte den Text der Chefredakteur Bernd Lafrenz selbst. Er zitierte jedes Wort von Jennis unüberlegter, leidenschaftlicher Rede. Daneben schienen die Kommentare der anderen zu verblassen. Jenni konnte nicht anders, sie platzte vor Stolz. Trotzig erwartete sie ein erneutes Donnerwetter ihres Vaters. Doch der las den Artikel aufmerksam, schüttelte nur unwillig den Kopf und ging zur Arbeit. „Du bist so mutig, Jenni“, lobte ihre Mutter. „Ich bin stolz auf dich.“ Gestern noch hatte Jenni sich wirklich mutig gefühlt, aber heute wollte sie eigentlich lieber feige sein. Denn sie sollte wieder zur Schule gehen und dort würde es sicher einen Riesenwirbel geben. „Ich kann heute nicht zur Schule, Mama“, jammerte sie. „Ich habe immer noch Kopfschmerzen.“ „Dann nimm ein Aspirin und beiß dich durch.“ Ihre Mutter kannte keine Gnade.
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Der Trubel in der Schule überstieg Jennis schlimmste Befürchtungen. Alles drehte sich nur um sie. In jeder Stunde wurde über das Interview oder über Vorurteile im allgemeinen und die Vorurteile der Deutschen im besonderen diskutiert. In den Pausen gingen die Gespräche weiter, so daß Jenni keine Sekunde zur Ruhe kam. Von den vielen Stimmen und Meinungen bekam sie rasende Kopfschmerzen. Und die Auswirkungen des Interviews wurden immer grotesker. Klassenlehrer Oldenburg schlug vor, sie solle sich als Schulsprecherin bewerben. Auch Frau Schwarzer, die Lehrerin, die sie damals für ihr gutes Deutsch gelobt hatte, sprach sie an: „Viele farbige Schüler können eben kein Deutsch“, versuchte sie zu erklären, „ich konnte ja nicht wissen, daß du hier geboren bist.“ „Hätten Sie halt besser gar nichts gesagt.“ Maike und Laura waren geradezu beleidigt. „Du hättest ja nicht gleich alle Deutschen schlecht machen müssen“, maulten sie. Malte sagte: „Ich glaube, du hast dir viele Feinde gemacht. Jenni schwieg zu all dem. Alles was sie zu sagen hatte, war gesagt. Nach der Schule ging Jenni sofort ins Bett. Sie genoß die Stille. Völlig übermüdet verschlief sie den ganzen Nachmittag. Am Abend gab es zwei anonyme Anrufe, die Jennis Vater entgegennahm. „Na, das hält sich ja in Grenzen“, meinte er, nachdem die feigen Anrufer ihre Drohungen ausgesprochen hatten. „Ich dachte, das Telefon würde nicht stillstehen.“ Später klingelte noch einmal das Telefon. Als niemand ranging, hob Jenni selbst den Hörer ab. „Warum hast du alles kaputtgemacht?“ Das war Björns Stimme. „Du hast alles kaputtgemacht.“ Jenni knallte den Hörer auf. „Wir haben einfach nicht zusammengepaßt“, flüsterte sie dem stummen Telefon zu. „Schade.“
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Obwohl ihr Kopf immer noch schmerzte, griff Jenni zu ihrem Buch. Lesen und vergessen, der alte Trick:
Bisher hatten die Netzers das Weihnachtsfest immer gefeiert, obwohl es eigentlich ein christliches Fest war. Trotzdem hatte es jedes Jahr einen großen Weihnachtsbaum gegeben und Geschenke für die Kinder. Im Jahr 1937 fiel das Weihnachtsfest im Hause Netzer aus. David war mit Louisa irgendwohin gegangen. Er hatte es längst aufgegeben, die Familie über seine Pläne zu informieren. Sie waren ja auch keine richtige Famlie mehr. Thamar saß ganz allein mit Papa in dem riesigen Haus. Es gab nichts zu sagen. Sie hatte ihm sein Lieblingsessen gekocht, doch er rührte es nicht an. Um neun Uhr ging Papa ins Bett. Thamar saß noch lange in dem stillen Wohnzimmer und dachte an Mama. Und an Weihnachten, wie es früher gewesen war. Mama war noch nicht einmal einen Monat tot und sie vermißte sie schon so sehr, daß es weh tat. Silvester wurde noch schlimmer als Weihnachten. Papa war bei einem Patienten, als David und Louisa hereinkamen und auf dem Grammophon amerikanische Tanzmusik spielten. Sie hatten sogar eine Flasche Sekt aufgetrieben. „Laß uns feiern, kleine Schwester, bevor die Welt untergeht“, rief David. Thamar wollte nicht fröhlich sein, sie wollte trauern. „Na, los, Thamar.“ Sie gaben ihr Sekt zu trinken. Sie zwangen sie, mit ihnen stürmisch durch den Raum zu tanzen. Das war albern. Aber nach einer Weile machte es Spaß. Einfach alles vergessen und nur noch ausgelassen das neue Jahr feiern. Selbst wenn es ein schreckliches Jahr werden würde. Zu dritt vergnügten sie sich viele Stunden lang. Dann fing Louisa plötzlich an, verschiedene Leute vorzu-
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spielen. „Jetzt bin ich gerade die dicke Frau des Bürgermeisters“, rief sie und bewegte sich träge im Takt. Nach einer Weile machten Thamar und David das Spiel mit. So fanden sie sich auf einem imaginären Festball mit einer bunten Gesellschaft wieder. „Was für ein geisterhaftes Treiben“, alberte Louisa. „Ich werde künftig nur noch auf diese Art feiern, das spart Getränke- und Speisekosten und es kommen niemals ungeladene Gäste.“ Sie kicherten und lachten. Zuerst bemerkte niemand, daß Papa nach Hause gekommen war. Bis die Musik abrupt verstummte. Mit versteinertem Gesicht baute sich Papa vor ihnen auf: „Was denkt ihr euch eigentlich“, rief er zornig. „Eure Mutter ist kaum ein paar Wochen tot und begraben und ihr feiert Silvester, als wäre nichts passiert.“ Er wandte sich ab. Er war schon fast an der Zimmertür, als er mit eiligen Schritten noch einmal zurückkam und seinem Sohn eine schallende Ohrfeige versetzte. Thamar dachte, David würde zurückschlagen, aber Louisa hielt seinen Arm ganz fest. Wortlos ging Papa in sein Arbeitszimmer. Nachdem David eine Weile bewegungslos mitten im riesigen Wohnzimmer gestanden hatte, stürmte auch er, gefolgt von Louisa, davon. Als die Kirchenglocken das Jahr 1938 einleuteten und in der Stadt das Feuerwerkt losbrach, war Thamar wieder allein.
1938 Im Januar mußte Papa seine Arztpraxis in der Villa der Netzers aufgeben. Es waren kaum noch Patienten gekommen, denn in dem vornehmen Wohgebiet wohnten keine Juden mehr. Nichtjüdische Deutsche ließen sich schon lange nicht mehr von einem Juden behandeln. Dafür teilte sich Papa jetzt mit einem befreundeten jüdischen Arzt die Praxis im jüdischen Viertel der Stadt. Dort konnten sie sich vor Patienten kaum retten. An
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Medikamenten herrschte dagegen Mangel. Papa stürzte sich mit Übereifer in seine neue Arbeit. Er war geradezu besessen, lebte nur noch für seine Patienten. Seine Familie schien er dabei ebenso zu vergessen wie David. Thamars zwanzigjähriger Bruder lebte sein eigenes Leben. Darin hatte neben dem Zionismus und seiner Ausbildung nur noch Louisa Platz. David hatte den irrwitzigen Plan, gemeinsam mit Louisa nach Palästina auszuwandern. Louisa sollte sich dort als Jüdin ausgeben. „Wir werden in Palästina heiraten“, sagte David immer. Papa wollte nichts davon wissen. Thamar hatte oft das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Für sich allein beschloß sie, nach dem Ende des laufenden Schuljahres auf die jüdische Schule zu wechseln. Die täglichen Diskriminierungen und Qualen wurden immer schlimmer, obwohl es Lehrer gab, die sich für sie einsetzen. Einmal versuchte Thamar, Papa zu überzeugen, daß sie alle gemeinsam Deutschland verlassen sollten. In den Jahren zuvor hatte er das selbst gelegentlich überlegt. Doch er wollte nichts davon wissen. „Meine Patienten brauchen mich. Ich werde sie niemals im Stich lassen“, sagte er. „Wer sollte sich denn auch sonst um Rebekkas Grab kümmern. In Deutschland bin ich geboren, in meiner Heimat werde ich auch sterben. Ich bleibe hier bei eurer Mutter. Ihr könnt ja fortgehen.“ Damit war das Thema für ihn endgültig erledigt. Das war nicht mehr der Papa, den Thamar von früher kannte. * Mal schien die Zeit unendlich langsam vorüberzugehen, mal rasten die Tage an Thamar vorbei. Wieder hatte sie das Gefühl, auf das Geschehen um sich herum keinen Einfluß nehmen zu
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können. Sie war nur Zuschauer. 1938 trieben die Nazis ihren haßerfüllten Kampf gegen die Juden mit neuer Intensität voran. War es nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 wenigstens von staatlicher Seite ruhiger geworden, gab es jetzt ein antijüdisches Gesetz nach dem anderem. Am 26. April befahl eine neue Verordnung allen Juden, ihr Vermögen soweit es 5000 Reichsmark überstieg, bei den deutschen Behörden anzumelden. Thamar konnte in diesem Befehl zunächst keinen Sinn sehen, aber David meinte: „Das ist der Anfang vom Ende.“ Trotzdem befolgte Papa den staatlichen Befehl widerspruchslos. Im Juni wurden bei den Finanzämtern und Polizeirevieren Listen vermögener Juden angelegt. Auch Dr. Samuel Netzer, einst ein hochangesehenes Mitglied der Gesellschaft, wurde dort vermerkt. In diesem Sommer begannen sich die Ereignisse nicht nur für die Netzers, sondern für alle deutschen Juden zu überschlagen. Vor allem David wußte stets viel Ungeheuerliches zu berichten. In München wurde die Synagoge zerstört, mehr als tausend Juden wurden im ganzen Land verhaftet und verschleppt. Während Thamar noch fassungslos vor diesen Schandtaten der Nazis stand, zersörte ein neues Gesetz einen weiteren Teil der ehemals so heilen Welt der Netzers: Am 25. Juli ordnete die „4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ die Streichung der Approbationen aller jüdischen Ärzte an. Schon ab dem 30. September sollten die Zulassungen von Juden zum Arztberuf für immer erlöschen. Ein Jude durfte im Nazi-Deutschland kein Arzt sein. Nur in Ausnahmefällen sollte es Juden erlaubt sein, als „Krankenbehandler“ für andere Juden zu arbeiten. Papas einziger Kommentar zu dem ganzen Gesetz war: „Ich werde tun, was ich immer getan habe, nämlich kranken Men-
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schen helfen. Ganz gleich, ob ich mich dabei Arzt oder Krankenbehandler nennen darf.“ Wochenlang lebten die Netzers wie Fremde nebeneinander her. Papa schaffte es tatsächlich, eine Genehmigung als „Krankenbehandler“ zu erhalten. David plante eifrig seine Auswanderung. Und Thamar hatte nahezu unbemerkt, bestätigt nur durch Papas Unterschrift, die Schule gewechselt. Die Jüdische Höhere Töchterschule war überfüllt und Thamar mußte einen langen Schulweg in Kauf nehmen. Dennoch fühlte sie sich dort viel wohler. Weil es sonst kaum jemanden interessierte, saß Thamar in dem wunderschönen Sommer oft an Mamas Grab, und erzählte ihr von der neuen Schule. Als der Herbst kam, wurden alle jüdischen Reisepässe eingezogen und mit einem „J“ versehen. Es war für Juden inzwischen schwierig, überhaupt einen gültigen Reisepaß zu erhalten. Deswegen verkündete David, er wolle jetzt wirklich so schnell wie möglich raus aus Deutschland, bevor es endgültig zu spät sei. Er setzte alles in Bewegung, um seine Auswanderung zu erreichen. Dabei bekam er von drei verschiedenen Stellen entscheidende Hilfe: Von seinem hachschara-Zentrum, vom Palästina-Amt, und von Mama, die ihrem Sohn eine große Geldsumme hinterlassen hatte. Anfang November war es dann soweit. David hatte es geschafft, seine Paiere zusammenzubekommen. Schon am 9. November wollte er Deutschland in Richtung Frankreich verlassen. Dort würde er sich später mit Louisa Waldteufel treffen. Mit falschen Papieren für Louisa, die sie als Jüdin ausgaben, sollte es dann mit dem Schiff weiter nach Palästina gehen. Das konnte niemals gut gehen, dachte Thamar. Mit Tränen in den Augen sah sie ihrem Bruder beim Packen
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zu. Viel konnte David nicht auf seine lange Reise mitnehmen. Sie wollte nicht, daß David wegging. Sicher hatten sie sich oft gestritten. Aber sie waren immer zusammengewesen, hatten ihr ganzes Leben zusammen verbracht. Was sollte sie ohne David anfangen? Wie sollte sie dieses Deutschland ohne ihn ertragen? „Bitte geh nicht weg von uns“, schluchzte die Siebzehnjährige Thamar wie ein kleines Mädchen. „Bitte nicht.“ Auch David schien der Abschied sehr nahe zu gehen. „Komm mit mir“, sagte er. „Noch ist es nicht zu spät. Wir kriegen schon irgendwie Papiere für dich. Du hast doch auch das Geld von Mama und du hast sogar noch das Bild von Léon Nathan. Das ist sehr wertvoll. Bleib nicht hier.“ Wie gern hätte Thamar einfach ja gesagt. Sie wollte nicht unbedingt weg aus Deutschland, doch sie fürchtete die Zukunft und wollte bei David bleiben. Und die Nazis für immer vergessen. Aber sie sagte nicht ja. „Und was ist mit Papa?“ fragte sie stattdessen. „Papa würde niemals aus Deutschland fortgehen. Nicht jetzt, wo Mama tot ist.“ „Eben!“ Thamar wurde wütend. „Wir können ihn doch nicht hier allein zurücklassen. Er hat sonst niemanden.“ Ungeduldig raufte David sich die Haare. „Es wäre eigentlich seine Aufgabe, die Familie in Sicherheit zu bringen. Aber er kümmert sich nur um seine Patienten. Wir sind ihm ganz egal.“ Das stimmte irgendwie. Aber es war dennoch nicht recht, ihn allein zu lassen. „Wir sind eine Familie“, sagte sie. „Wir gehören zusammen.“ Dazu wußte David nichts zu sagen. Schweigend rollte er dicke Wollsocken zusammen. „Ich glaube immer noch, daß Papa dich immer lieber mochte als mich“, murmelte er schließlich. Er irrte sich. Papa war immer gerecht gewesen. „Das ist doch jetzt völlig egal“, flüsterte Thamar. „Stimmt. Jetzt ist alles egal.“
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Sie schenkte David ein Foto, das sie alle zusammen vor ihrem Haus zeigte. In besseren Tagen. Am 7. November verübte der junge Jude Herschel Grünspan in Paris ein Attentat auf den deutschen Gesandtschaftsrat Ernst von Rath. David hatte Angst, daß er wegen des Attentats Schwierigkeiten an der Grenze bekommen würde und brach schon einen Tag früher auf. Zum Abschied drückte Thamar ihren Bruder nur einmal kurz an sich. Als David dann Papa Lebewohl sagte, rannte sie in ihr Zimmer und schloß sich ein. Sie weinte die ganze Nacht. Morgens ging sie nicht zur Schule, sondern setzte sich, wie es im Jahr zuvor Mama getan hatte, ans Fenster und starrte hinaus. Irgendwann kam Papa und versuchte ungeschickt, sie zu trösten. Es gelang ihm nicht. „Du hättest mit deinem Bruder gehen sollen“, sagte er. Zornig musterte sie ihren Vater. „Vielleicht hätten wir schon vor ein paar Jahren alle zusammengehen sollen.“ Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Er war nicht einmal dankbar, daß sie geblieben war. Sie hatte das nur für ihn getan. Sie wollte wenigstens Papa helfen, wenn sie schon bei Mama versagt hatte. Und er wollte ihre Hilfe gar nicht. Erst nach einem langen Schweigen sagte Papa: „Thamar, ich bin froh, daß wenigstens du da bist.“ Sie aßen später zusammen zu Abend. Zuerst schien es wieder eine dieser trostlosen Mahlzeiten zu werden. Bis sie plötzlich von vergangenen Tagen zu erzählen begannen: „Weißt du noch, Silvester 1933? … Erinnerst du dich noch an deinen sechsten Geburtstag, als Mama mit all deinen Freunden Fußball gespielt hat …?“ Der Familienurlaub am Meer, die Angst der kleinen Thamar vor dem Osterfeuer und ein Besuch im Kindertheater, wo der elfjährige David sich in den Schoß seiner Nachbarin übergeben hatte. Komisch, woran man sich so alles
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erinnerte. Es gab so viel zu erzählen. So viele schöne Geschichten. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Thamar ging früh ins Bett und fiel sofort in einen unruhigen Schlaf. Mit sanfter Gewalt wurde sie jedoch nach wenigen Stunden wieder wachgerüttelt. „Thamar, wach auf.“ Eine vertraute Stimme flüsterte ihren Namen. Das konnte doch nicht … Sie hatte nur geträumt. „Thamar.“ Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Voller Hoffnung schlug sie die Augen auf. Es war David. Mit einem breiten Grinsen hatte er auf ihrem Bett Platz genommen. „Na, Schietbüddel.“ David nahm ihre beiden Hände und hielt sie fest. Diese Bezeichnung hatte ihr der Bruder zugedacht, als sie noch ein Wickelkind gewesen war und er hatte sie jahrelang damit aufgezogen. Bei dem vertrauten Spitznamen, den sie in ihrer Kindheit stets gehaßt hatte, wurde Thamar warm ums Herz. Ein triumphierendes Glücksgefühl durchströmte sie. David war zurückgekommen. Jetzt würde alles gut werden. „Willst du mich denn gar nicht begrüßen, Schwesterherz?“ „Ich hab’ dich lieb, David.“ Sie hielten einander ganz fest. „Was ist mit Louisa?“ fragte Thamar. „Wartet die jetzt in Frankreich auf dich?“ „Sie weiß Bescheid. Sie wäre ohnehin erst morgen aufgebrochen. Du hattest recht. Wir Netzers müssen zusammenbleiben. Und Louisa gehört auch zur Familie.“ „Wir wollen uns nie mehr trennen.“ Gemeinsam gingen sie zu Papa, der noch wach war. Mit Tränen in den Augen schloß er seinen großen Sohn in die Arme. Er wollte gerade etwas sagen, als David den Zeigefinger auf die Lippen legte. „Psst. Was war das für ein Geräusch?“ Papa zuckte die Achseln. „Was für ein Geräusch.“ „Klang nach der Gartenpforte!“
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Thamar hatte nichts gehört. Doch dann erklangen Schritte von vielen schweren Stiefeln auf dem Pflaster. Ganz nah. „Sie sind im Garten.“ „Wo steckt ihr Judenschweine?“ Eine tiefe, wütende Männerstimme brüllte unten im Garten herum. Wildes Gegröle aus vielen Kehlen folgte. Thamar wurde blaß. Die wollten zu ihnen, das war sicher. Wollten die Nazis sie umbringen? „Ich habe solche Angst“, flüsterte sie. „Was wollen die von uns?“ Sie hörten das Klirren von zerberstendem Glas. Einmal, zweimal, dreimal. „Diese Verbrecher“, rief Papa. Aus seinem Schreibtisch holte er eine Pistole hervor. Thamar erschrak furchtbar. Gefolgt von David stürzte Papa die Treppen hinunter. „Du bleibst oben“, befahl David ihr noch. Thamar wollte nicht warten, während sich ihr Vater und der Bruder unten gegen diese Verbrecher zur Wehr setzten. Sie folgte den beiden. Fünf Männer in SA-Uniform, eine Frau und zwei Hitlerjungen waren ins Haus eingedrungen. Sie begannen, mit Brecheisen wild um sich zu schlagen. Papas leerstehende Praxis war bereits verwüstet. Mit Schrecken erkannte Thamar die Frau. Sie wußte ihren Namen nicht, aber sie wohnte seit einem Jahr in derselben Straße. Sie hatte zwei kleine Kinder. „Verschwinden Sie aus meinem Haus. Oder ich werde mich zu verteidigen wissen!“ Papas Stimme übertönte den Lärm, den die Eindringlinge verursachten. In der Praxis und in der Eingangshalle standen die Vorhänge in Flammen. Ihr Haus brannte. „Juda verrecke“ …
Jenni schauderte. Irgendetwas stimmte nicht. Es hatte mit diesem Buch zu tun. Ihr Puls raste und ihr war schrecklich heiß. Sie
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konnte das Feuer riechen und hörte wie Glasscheiben zersplitterten. Das war nicht möglich. Da waren die Schreie der Randalierer. Jenni wollte sich umsehen, konnte aber nichts erkennen. Angst schnürte ihre Kehle zu. Sie bekam keine Luft mehr. Womöglich wurde sie verrückt. „Jenni!“ Jemand schrie ihren Namen. Immer wieder und immer lauter. Die Stimme ihres Vaters. Warum kam er nicht zu ihr? Feuerwehrsirenen heulten. Jenni hustete. Ihr Zimmer war voller Rauch. Endlich begriff Jenni, was passiert war: Das alles war keine Einbildung, auch ihr Haus stand in Flammen. Sie würde verbrennen. „Ich will hier raus! Papa!“ Jenni brauchte Luft. In Panik taumelte sie zur Tür und wollte sie öffnen. Der Griff war so heiß, daß Jenni sofort zurückzuckte. „Hilfe! Ich will hier raus. Warum hilft mir denn keiner?“ Sie hustete und würgte. Irgendwie schaffte sie es zum Fenster und riß es auf. Die Straße war voller Menschen. Mit lautem Knall zerbarst die Zimmertür und die Flammen erreichten ihr Bett. „Hilfe! Hilfe!“ Die frische Luft gab dem Feuer neue Nahrung. Der Raum begann sich um Jenni zu drehen. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Sie fiel in eine tiefe Finsternis hinab. Sie ließ es geschehen.
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Kapitel 18
Als Jenni erwachte, fühlte sie sich ausgeruht und seltsam befreit. Langsam schlug sie die Augen auf. Sie war nicht zu Hause, aber sie kannte den Raum. Von der gegenüberliegenden Wand beobachtete sie ein altbekannter Fuchs. Das berühmte Fuchsbild hing wieder. Sie war also im Krankenhaus. Aber warum? Sie fühlte sich nicht krank. Verwirrt sah Jenni an sich hinunter. Sie schien ganz in Ordnung. Nur ihre linke Hand war noch immer eingegipst. Der Gips mußte neu sein, denn die vielen Unterschriften und bunten Bilder waren verschwunden. Jenni ließ ihren Blick weiter duchs Zimmer schweifen. Der große Raum war voller Blumen. In einer Ecke stand ein Weihnachtsbaum. Ach ja, bald war Weihnachten. Neben ihrem Bett war ein Sessel, in dem ihre Mutter tief und fest schlief. Plötzlich wußte Jenni, was geschehen war. Das Feuer! Ihr Haus war abgebrannt. Und sie war mittendrin gewesen. Jemand mußte sie aus den Flammen gerettet haben. Ob es Brandstiftung gewesen war? Hatten Nazis ihr Haus angezündet, wie zuvor das der Familie Netzer und das der türkischen Familie in Mölln? Wenn ja, war sie schuld daran? Weil sie der Zeitung das Interview gegeben hatte? Jenni hatte unendlich viele Fragen. Plötzlich wußte Jenni, daß sie ihr Haus sehen mußte. Sie wollte wissen, ob wirklich alles verbrannt war. Sie konnte nicht warten, bis ihr jemand davon erzählte. Es ging ihr ja auch nicht
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schlecht, da konnte sie es wagen, sich für eine Weile davonzuschleichen. Sie mußte es tun. Leise schlich Jenni durch einen Wald bunter Blumen zum Schrank am anderen Ende des Zimmers. Sie hatte Glück. Es waren tatsächlich Kleider darin. Sie gehörten nicht ihr, waren ein paar Nummern zu groß, aber das war Jenni jetzt egal. Schnell schlüpfte sie in eine schwarze Hose und einen dicken Pullover mit einem häßlichen Blumenmuster. An der Tür hing der Mantel ihrer Mutter. In letzter Sekunde dachte Jenni noch an Schuhe. Dort standen Stiefel, auch zu groß. Fast kam sich Jenni wie eine Verbrecherin vor, als sie aus dem Zimmer schlüpfte. Ihre Mutter war nicht aufgewacht. Sorgsam darauf bedacht, von niemandem entdeckt zu werden, huschte Jenni durch die langen Gänge des Krankenhauses. Zum Glück kannte sie sich schon aus. Durch einen Hintereingang gelangte sie ungesehen ins Freie. Sie war ein wenig schwach auf den Beinen, aber das war nicht so schlimm. Es war ein kalter, sonniger Dezembertag. Jenni fror nicht einmal. Vom Krankenhaus bis zu ihrem Zuhause waren es nur ein paar Straßen. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Niemand beachtete das Mädchen, das sich aus dem Krankenhaus davongeschlichen hatte. Jetzt war sie fast da, nur noch um diese Ecke. Jenni zögerte. Sie fürchtete den Anblick. „Na los, trau dich“, machte sie sich selbst Mut. Dann sah sie ihr Haus. Oder vielmehr das, was davon übrig war. Die einst wunderschöne, alte Villa war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Wie das Skelett eines riesigen Dinosauriers ragten die Mauerreste bedrohlich in den blauen Winterhimmel. Meterhoch türmten sich am Boden Schutt und verkohlte Trümmer. Es war ein Bild des Grauens. Wie in Trance bewegte Jenni sich näher an die Ruine heran. Alles war zerstört. Sie ignorierte die „Betreten verboten“-Schilder, die überall auf-
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gestellt waren. Auch die neue Umzäunung war kein Hindernis. Die Gartenpforte war noch da. Müde betrat Jenni die Trümmerwüste. Niemand war zu sehen. Das Feuer schien schon lange aus zu sein. „Na, endlich aufgewacht?“ Das war doch Björns Stimme. Immer mußte er sich anschleichen. Jenni schnellte herum. Sie hatte sich nicht getäuscht. Einen Augenblick lang überlegte Jenni, ob eres war, der ihr Zuhause angezündet hatte. Ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, daß dies ein dummer Gedanke gewesen war. Björn hatte Tränen in den Augen. „Jenni, es tut mir so leid, was passiert ist“, sagte er leise. „Ich bin froh, daß du endlich aufgewacht bist. Ich habe schreckliche Angst um dich gehabt.“ Hatte sie richtig gehört? Björn hatte Angst um sie gehabt? Jenni wußte nicht, was sie denken sollte. Aber sie konnte nicht anders: Sie war unendlich froh, Björn zu sehen. „Was heißt eigentlich endlich aufgewacht“, wollte sie wissen. Björn musterte sie verblüfft. „Haben die dir im Krankenhaus denn nichts erzählt? Der Brandanschlag war in der Nacht auf Mittwoch. Heute ist Sonntag und du bist tagelang einfach nicht aufgewacht.“ Jenni rang nach Luft. Sie war also lange bewußtlos gewesen. Und ihr Haus war tatsächlich angezündet worden. „Die Ärzte haben gesagt, du wärest nicht schwer verletzt“, berichtete Björn weiter. „Nur hat keiner gewußt, warum du nicht aufwachst. Es wäre, als ob du einfach immer weiter schlafen wolltest, haben sie gesagt.“ Jenni versuchte, die vielen Informationen zu verarbeiten. Nachdenklich stapfte sie weiter auf die Ruine ihres Hauses zu. „Sag mal, wieso weißt du denn selbst nicht, was mit dir los war?“ fragte Björn. „Ich bin vorhin aufgewacht und mußte sehen, was hier los
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war. Da bin ich aus dem Krankenhaus abgehauen. Ich mußte einfach herkommen.“ Jenni stieß die Worte hervor wie ein trotziges Kind. Björn starrte sie an. „Du spinnst echt völlig“, sagte er empört. Sofort begann er seine Parka auszuziehen. „Zieh das an!“ Er ließ nicht locker, bis Jenni gehorchte. Dann hängte er ihr noch seinen Schal um. Jenni mußte lachen. Sie kam sich vor wie ein dicker, unförmiger Schneemann. Björn war ohne Zweifel sehr besorgt um sie. „Was gibt’s da zu kichern? Also los, erzähl schon: Warum mußtest du unbedingt hierherkommen?“ Nachdenklich hob Björn aus den verkohlten Trümmern etwas in die Luft, das vielleicht einmal ein Stuhl gewesen war. „Ich habe so viele Fragen.“ Auch Jenni begann, im Schutt nach vertrauten Gegenständen zu stöbern. „Dann fang mal an und frag mich. Und später bring ich dich zurück ins Krankenhaus.“ Jenni ließ sich von Björn alles erzählen. Er berichtete, wie die Feuerwehr in jener Nacht verzweifelt versucht hatte, den Brand zu löschen. Und wie schon am nächsten Morgen Journalisten aus dem In- und Ausland angereist waren. „Das war vielleicht ‘ne Medienschlacht“, sagte er. „Alle waren da: Fernsehteams, Zeitungsreporter, Radioleute – alle! Sogar ein Kamerateam aus Amerika von ABC hat deinen Vater und euer Haus gefilmt. Dein Foto war sogar in den Abendnachrichten. Und der Bundeskanzler persönlich hat sich die Trümmer hier angesehen.“ Björn redete wie ein Wasserfall, aber Jenni hatte das Gefühl, daß er etwas wichtiges ausließ. Sie nahm allen Mut zusammen. „Hat es Tote gegeben?“ fragte sie. Björn ging auf Jenni zu und schloß sie fest in die Arme. „Das kleine türkische Mädchen, das unter euch gewohnt hat.
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Du weißt schon, die mit der Katze …“ Er senkte den Blick. „Sie haben sie nicht mehr retten können.“ „Nein. Bitte nicht.“ Jenni wollte um sich schlagen. Hätte sie doch nicht gefragt. Sie begann zu weinen, erst leise, dann immer lauter und heftiger. Björn hielt sie fest. „Ich bin schuld“, schluchzte Jenni. „Das ist alles wegen des verdammten Interviews passiert.“ Damit würde sie niemals fertig werden. „Wenn jemand schuldig ist, dann so einer wie ich“, flüsterte Björn. Als Jenni sich ein wenig beruhigt hatte, führte er sie auf einen verrußten Balken und bat sie, sich hinzusetzten.
„Ich muß dir noch etwas sagen“, begann er. „Mein Bruder hat damit geprahlt, dich neulich im Jugendclub die Treppe hinuntergestoßen zu haben. Außerdem haben Freunde von ihm bei euch angerufen und euch bedroht. Ich habe meinen Bruder und die anderen bei den Bullen angezeigt.“ Plötzlich wurde es Jenni zuviel. Sie wollte nichts mehr hören und sehnte sich zurück ins Bett. Trotzdem fragte sie immer weiter. „Glaubst du, er hat etwas mit dem Brandanschlag zu tun?“ Björn schüttelte den Kopf. „Aber vielleicht hat er eine Ahnung wer’s war. Die Polizei verhört ihn immerzu.“ Auf einmal sah Björn sehr traurig aus. Das hatte er nur für sie getan. Jenni begriff, daß er sich entschieden hatte. Wie schwer mußte das alles auch für ihn gewesen sein. „Jenni?“ „Ja?“ „Denkst du noch manchmal an unsere Insel?“ Gerade eben hatte sie sich dorthin gesehnt. Nein, sie hatte ihre gemeinsame Träumerei nicht vergessen. „Gelegentlich!“
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Björn räusperte sich unsicher. „Hab ich vielleicht noch Chancen bei dir?“ Jenni beugte sich vor und küßte Björn zärtlich auf den Mund. „Darauf kannst du wetten.“ Plötzlich bemerkte sie, daß er nur einen Pullover trug. Sie hatte ja seine Jacke. Er mußte schrecklich frieren und auch ihr war trotz der dicken Verpackung kalt. Sie wollte nicht mehr, in dieser eisigen Ruine sitzen, die einmal ihr Zuhause gewesen war. „Ich bringe dich jetzt zurück“, sagte Björn, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Wir sind schon viel zu lange hier.“ Während sie sich ein letztes Mal ihren Weg durch die Trümmer bahnten, hielt Björn ihre Hand. Jenni war traurig und überglücklich zugleich. „Mein Buch ist verbrannt“, murmelte sie. Sie fragte sich, was wohl aus der jüdischen Familie Netzer geworden war. Björn drückte ihre Hand noch fester. „Ich habe mir Die Geschichte der Familie Netzer auch gekauft. Wir können das Buch ja gemeinsam zu Ende lesen.“ Jenni nickte. Sie würden jetzt alles gemeinsam tun. Endlich hatten sie die Straße erreicht und stapften mit energischen Schritten voran.
„Euer Haus soll vielleicht ein Mahnmal werden“, sagte Björn. Jenni blickte zurück. „So ein Blödsinn. Die sollen da lieber endlich aufräumen.“ Björn lachte und sie stimmte ein, obwohl sie erschöpft war. Sie fühlte sich bereit, es mit der Welt aufzunehmen. ENDE