Mircea Eliade
Auf der Mântuleasa-Straße
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 328 der Bibliothek Suhrkamp
Mircea Eliade Auf...
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Mircea Eliade
Auf der Mântuleasa-Straße
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 328 der Bibliothek Suhrkamp
Mircea Eliade Auf der Mântuleasa-Straße
Suhrkamp Verlag
Originaltitel: Pe strada Mântuleasa … Aus dem Rumänischen von Edith Horowitz-Silbermann
Erste Auflage in der Bibliothek Suhrkamp 1972 © Copyright der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1972 Deutsche Erstausgabe. Alle Rechte vorbehalten Druck: Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege
Auf der Mântuleasa-Straße
I Seit einigen Minuten bereits ging der Alte auf und ab vor dem Haus und wagte nicht einzutreten. Es war ein mehrstöckiges, im Stil der neuen Sachlichkeit gebautes Haus von geradezu strengem Aussehen. Auf dem Gehsteig spendeten die Kastanienbäume noch etwas Schatten, die Straße jedoch glühte; es war Hochsommer, und die Sonne stach um die Mittagszeit ohne Erbarmen. Der Alte zog sein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß vom Nacken. Er war ein ziemlich hochgewachsener, hagerer Mann mit länglichem, knochigem, unauffälligem Gesicht, aschgrauen ausdruckslosen Augen und einem ungepflegten, weißen, vom Tabak leicht verfärbten Schnurrbart. Er trug einen alten Strohhut und einen verschossenen Anzug, der um seinen mageren Leib so schlotterte, als gehöre er nicht ihm. Ein Offizier kam ihm entgegen. Der Alte winkte ihm von weitem mit dem Hut und fragte ihn dann ungemein höflich nach der Zeit. »Es ist zwei«, erwiderte der Offizier, ohne auch nur auf die Uhr zu sehen. »Ich danke Ihnen«, sagte der Alte lächelnd und schüttelte den Kopf. Darauf ging er entschlossen aufs Tor zu. Als er die Klinke berührte, hörte er den Offizier hinter sich sagen: »Sie müssen zuerst klingeln.« Erschrocken wandte er sich um. 7
»Ich wohne ebenfalls hier«, sagte der Offizier, streckte die Hand aus und drückte auf den Knopf. »Wen suchen Sie übrigens?« fügte er gleich darauf hinzu, ohne den Alten eines Blickes zu würdigen. »Den Herrn Major Borza von der MAI *.« »Er dürfte nicht zu Hause sein. Um diese Zeit ist er gewöhnlich im Dienst.« Er sprach mit teilnahmsloser Stimme und starrte vor sich hin. Das Tor ging auf. Der Offizier ließ ihn eintreten, ohne ihn anzusehen. Aus dem Halbdunkel des Toreingangs tauchte der Portier auf und grüßte den Offizier. »Der Alte sucht den Genossen Major«, meinte der Offizier und ging weiter zum Aufzug. »Ich weiß nicht, ob er zu Hause ist«, sagte der Portier. »Schauen Sie lieber im Kommissariat nach.« »Er erwartet mich«, sagte der Alte. »Ich komme im Auftrag seiner Familie. Ich gehöre sozusagen zur Familie des Herrn Major, habe in der wichtigsten Phase seines Lebens, in seiner Kindheit, eine gewisse Rolle gespielt …«, betonte er vielsagend. Der Portier sah ihn mißtrauisch an und schüttelte den Kopf. »Sie können es ja versuchen«, sagte er schließlich. »Er wohnt im vierten Stock. Ich bezweifle allerdings, ob er zu Hause ist«, äußerte er nochmals sein Bedenken. Der Alte klemmte seinen Hut unter den Arm und ging zum Treppenaufgang. * Ministeriul Afacerilor Interne (Innenministerium)
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»Wenn Sie einen Augenblick warten, können Sie den Aufzug nehmen«, rief der Portier ihm nach. Der Alte wandte sich um, verneigte sich mehrmals respektvoll und sagte: »Ich danke Ihnen. Ich fahre nicht gern mit dem Aufzug. Ich gehe lieber zu Fuß. Vor allem dann, wenn ich ein Haus zum ersten Mal betrete«, fügte er bedrückt hinzu. Darauf begann er, den Hut unter den linken Arm geklemmt und die rechte Hand auf das Geländer gestützt, gemächlich die Treppe hinaufzusteigen. Als er im ersten Stock anlangte, blieb er stehen, lehnte sich an die Wand und fächelte sich mit dem Hut Luft zu. Er horte Kinderstimmen. Eine Frau stieß die Tür auf und erschien, eine leere Bierflasche in der Hand, lächelnd auf dem Treppenabsatz. Als sie ihn jedoch erblickte, verging ihr das Lächeln auf dem alterslosen Gesicht. »Wen suchen Sie?« fragte sie. »Ich wollte nur ein wenig verschnaufen«, sagte der Alte und verneigte sich mehrmals höflich. »Ich bin auf dem Weg zum Herrn Major Borza von der MAI im vierten Stock. Kennen Sie ihn?« »Fragen Sie unten beim Eingang nach«, verhaspelte sich die Frau und drehte mechanisch die Bierflasche zwischen ihren Fingern. »Auskunft können Sie dort beim Portier erhalten.« Darauf wollte sie die Treppe hinuntereilen, überlegte es sich jedoch und kehrte um. Sie drückte mehrmals kurz und nervös auf die Klingel, und wieder 9
vernahm man die Stimmen der Kinder. Nach einer Weile ging die Tür auf. Jemand, den der Alte nicht sehen konnte, wollte den Kopf herausstecken, doch die Frau ließ es nicht zu und war selber im Nu verschwunden. Der Alte lächelte verwirrt, klemmte seinen Hut wieder unter den Arm und ging weiter. Im zweiten Stock erwartete ihn der Offizier. »Sie sagten doch, Sie wollten zum Major«, flüsterte er ihm zu. »Warum haben Sie nicht den Aufzug genommen?« »Ich benutze nicht gern den Aufzug«, erwiderte der Alte eingeschüchtert. »Besonders im Sommer, wenn es so heiß ist, wird mir im Lift leicht schwindlig.« »Aber was haben Sie dann im ersten Stock gesucht?« fragte der Offizier ihn im gleichen Flüsterton, »Kennen Sie jemanden im ersten Stock?« »Nein, ich kenne dort niemanden. Ich blieb bloß stehen, um zu verschnaufen. Da kam gerade eine Dame heraus und fragte …« »Was hat sie Sie gefragt?« unterbrach ihn der Offizier und beugte sich näher zu ihm. »Sie hat mich nichts Besonderes gefragt. Sie wollte bloß wissen, wen ich suchte. Ich antwortete ihr …« »Schon gut«, unterbrach ihn der Offizier brüsk. Dann warf er einen Blick zum oberen Stockwerk, trat ganz nahe an den Alten heran und fragte noch leiser: »Kennen Sie den Major gut?« »Ich kannte ihn schon, als er noch ein Knirps war«, 10
erwiderte der Alte lächelnd. »Ich zähle mich sozusagen zu seiner Familie, stehe ihm vielleicht sogar noch näher als ein Blutsverwandter.« »Ah so«, sagte der Offizier. »So vertraut sind Sie also mit ihm. Daher kennen Sie auch seine Adresse. Er ist nämlich eben erst hier eingezogen. Ich kenne ihn übrigens auch recht gut«, fügte er hinzu. »Wir haben zusammen gearbeitet. Er ist ein solider Mensch. Man kann auf ihn bauen.« Man hörte den Aufzug. Der Offizier blieb einen Augenblick verwirrt stehen, öffnete dann geschwind seine Wohnungstür und verschwand, ohne noch etwas hinzuzufügen oder sich zu verabschieden. Der Alte lehnte sich an die Wand und fächelte sich mit seinem Hut wieder Luft zu. Der Aufzug glitt sanft an ihm vorbei. Der Alte sah einen jungen Mann mit bleichem Gesicht, der ihm einen durchbohrenden Blick zuwarf. Er wartete noch eine Weile, dann beschloß er weiterzugehen. Der Aufzug war bis zum dritten Stock hochgefahren, und der junge Mann mit den tiefliegenden Augen war ausgestiegen, hielt die Tür offen und sagte: »Sie können herein, ich bleibe hier.« »Ich danke Ihnen«, sagte der Alte. »Ich habe absichtlich nicht den Aufzug genommen, weil mir drinnen schwindlig wird. Ich ziehe es vor, zu Fuß hinaufzusteigen. Ich habe keine Eile. Ich gehe langsam, aber sicher wie ein alter Bergsteiger«, fügte er schmunzelnd hinzu. »Es wird Ihnen schwerfallen. Es sind noch drei 11
Treppen bis hinauf«, sagte der junge Mann, der von ungewöhnlicher Blässe war. »Ich habe es ja zum Glück schon geschafft«, erklärte der Alte, sich mit seinem Hut Luft zufächelnd. »Kommen Sie zum Genossen Ingenieur?« staunte der andere und zeigte auf die Tür, vor der sie standen. »Der dürfte nicht zu Hause sein. Haben Sie sich unten beim Portier angemeldet?« fragte er schnell und senkte plötzlich die Stimme. Der Alte schüttelte mehrmals den Kopf und lächelte verlegen. »Ich habe mich falsch ausgedrückt … Ich meinte, ich habe es beinahe geschafft. Ich muß in den vierten Stock.« Die Lider des jungen Mannes fingen heftig zu zucken an. Er zog geschwind sein Taschentuch hervor und wischte sich nervös den Schweiß von den Händen. »Zum Genossen Major? Ich zweifle, ob er zu Hause ist. Zu Mittag ißt er gewöhnlich in der Kantine seiner Dienststelle. Kennen Sie ihn gut?« fragte er und blickte den Alten forschend an. »Ich habe Sie noch nie hier gesehen …« »Der Herr Major ist ja eben erst eingezogen«, bemerkte der Alte. »Ich kannte ihn schon, als er noch ein Knirps war.« Der junge Mann blieb einen Augenblick unschlüssig stehen, knetete weiter das Taschentuch zwischen seinen Fingern, dann drückte er auf den Knopf des Aufzugs und schickte ihn hinunter. 12
»Kennen Sie auch seine Familie?« fragte er flüsternd, nachdem er mehrmals nach oben geblickt hatte. »Ich gehöre sozusagen zu seiner Familie«, leierte der Alte sein Sprüchlein herunter. »Dann sind Sie also aus der Provinz«, unterbrach ihn der junge Mann. »Seine Verwandten leben in der Provinz. Ich kenne seinen Bruder, der in den Paraffinwerken arbeitet. Ein hervorragender Mensch, ein alter Kämpfer. Ich kenne ihn sehr gut.« Er trat mit konspirativem Lächeln näher, wollte zweifellos noch etwas sagen, hörte jedoch Schritte auf der Treppe, zog sich daher geschwind zur Tür zurück, wandte dem Alten den Rücken zu und begann nervös nach seinem Schlüssel zu suchen. »Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben«, sagte der Alte mit einer Verbeugung und ging weiter, die Hand auf das Geländer gestützt. Auf der Treppe kam ihm ein Paar entgegen. Die Frau hatte kurz geschnittenes Haar und trug Uniform mit einem Abzeichen auf dem Aufschlag. Der Mann war viel jünger als sie, schritt sichtlich verlegen an ihrer Seite und wagte nicht, sie anzusehen. Der Alte grüßte. Die beiden erwiderten seinen Gruß nur flüchtig. Als er jedoch weitergegangen war, blieben sie stehen und wandten die Köpfe nach ihm um, Sie wollten wissen, wohin er ginge. Der Alte blieb vor der Tür stehen, zog sein Taschentuch hervor, wischte sich den Schweiß vom Gesicht, glättete sich mit dem Handrücken die Rockaufschläge und 13
schien läuten zu wollen, überlegte es sich jedoch und eilte ungewöhnlich flink wieder die Treppe hinunter. Als er das Paar eingeholt hatte, das überrascht zur Seite wich und sich an die Wand lehnte, blieb er stehen, verneigte sich höflich und fragte die Frau: »Entschuldigen Sie, bitte, könnten Sie mir sagen, wie spät es ist?« »Zwei Uhr. Nein, fünf nach zwei«, erwiderte die Frau. »Ich danke Ihnen, und entschuldigen Sie, daß ich Sie aufgehalten habe, aber ich werde um zwei Uhr erwartet.« Darauf stieg er eilig die Treppe hinauf und klingelte lange. Eine junge, auffällig geschminkte Frau öffnete ihm. »Küß die Hand, gnädige Frau«, sagte der Alte und verneigte sich vor ihr. »Ich hoffe, ich bin weder zu früh noch zu spät da. Ich dachte: zwei Uhr, fünf nach zwei, das wird gerade die richtige Zeit sein.« »Mein Mann ist noch bei Tisch«, sagte die Frau mit einem Lächeln und ließ ihre Goldzähne blitzen. »Er glaubte, Sie würden um Viertel nach zwei oder sogar erst um halbdrei kommen.« »Dann werde ich eben warten. Das macht mir nichts aus«, sagte der Alte und wollte umkehren. »Aber nein, treten Sie nur ein. Hier drinnen ist es kühler. Es ist eine herrschaftliche Wohnung«, fügte sie lächelnd hinzu. »Ich weiß, ich weiß Bescheid. Sie sind eben erst eingezogen.« 14
»Wissen Sie, die frühere Wohnung in der Calea Rahovei lag zu weit von der Dienststelle meines Mannes entfernt. Und sie entsprach auch nicht seinem Rang. Sie war viel zu klein. Es gab weder ein Klavier, noch ein Radio darin. Als Major der MAI und bei der Verantwortung, die auf ihm lastet, kann er schließlich gewisse Ansprüche stellen.« »Ich weiß, ich weiß alles«, wiederholte der Alte aufgeräumt. »Ich kannte ihn schon, als er noch ein Knirps war.« Die Frau fing zu lachen an. »Kommen Sie, bitte, in den Salon«, sagte sie und führte ihn in ein geräumiges, unauffällig, doch gediegen möbliertes Zimmer. »Ich werde meinem Mann sagen, daß Sie da sind.« Schmunzelnd setzte sich der Alte aufs Kanapee und strich sich freudestrahlend mit den Händen über die Knie. Doch nach wenigen Augenblicken kehrte die Frau zurück und hieß ihn wieder aufstehen. »Mein Mann läßt Sie bitten, in seinem Arbeitszimmer zu warten. Er kommt gleich.« Sie führte ihn ins benachbarte Zimmer und forderte ihn auf, im großen ledernen Lehnstuhl vor dem Bücherschrank Platz zu nehmen. Der Alte setzte sich dankend hin, warf von Zeit zu Zeit einen Blick in die Regale und las die Titel der Bücher. Als er Schritte hörte und die Tür aufging, erhob er sich, sichtlich erregt. Ein stämmiger, fast dickleibiger Mann mit dunklem Teint, roten Wangen, schwarzem Haar, dichten, engstehenden Brauen und win15
zigen, tief in den Höhlen liegenden und hinter geschwollenen, bläulich gefleckten Lidern verborgenen Augen maß ihn von der Schwelle aus mit stechendem Blick. Er war mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und um den Hals gebundener Serviette lachend eingetreten. Als er jedoch den Alten sah, verfinsterte sich seine Miene. »Was suchen Sie hier?« fragte er mit heiserer, rauher Stimme. »Wie sind Sie da hereingekommen?« »Erkennen Sie mich nicht?« staunte der Alte und versuchte zu lächeln. »Ich kannte Sie doch schon, als Sie noch ein Knirps waren«, sagte er. »Wie sind Sie hereingekommen?« wiederholte der Major seine Frage, zerrte an seiner Serviette und wischte sich Mund und Gesicht damit ab. »Wie hat der Portier Sie hereingelassen?« »Ich sagte mir, um zwei, Viertel nach zwei treffe ich Sie gewiß zu Hause an«, begann der Alte, immer noch lächelnd. »Wer sind Sie überhaupt?« »Sie erkennen mich also nicht«, sagte der Alte, schwermütig den Kopf schüttelnd. »Es sind zwar mehr als dreißig Jahre verstrichen seit damals, aber ich erinnere mich noch an Sie. Und als ich erfuhr, daß Sie hierhergezogen sind, sagte ich mir: Wie wäre es denn, wenn du ihm einen Besuch machtest, um nachzusehen, ob er dich wiedererkennt?« »Wer sind Sie, mein Herr?« fuhr der Major ihn drohend an und trat näher auf ihn zu. »Sagt Ihnen die Mântuleasa-Straße gar nichts? Gab’s 16
da nicht eine Schule mit Kastanienbäumen im Hof und hinten einen Garten mit Mirabellen und Sauerkirschen? Das können Sie doch nicht vergessen haben! Das ist doch gleich hier, keine zwei Schritte von Ihrer Wohnung entfernt«, sagte er und wandte den Kopf zum Fenster. »Ich sehe Sie vor mir, als sei es gestern gewesen: Sie trugen einen Matrosenanzug und schwitzten. Sie schwitzten entsetzlich …« Der Major ging schnell aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. »Aneta!« rief er, während er mit großen Schritten durch den Salon ging. »Aneta!« Die Frau war im Nu da. »Hast du dieses Individuum in mein Arbeitszimmer hereingelassen? Habe ich dir nicht eingeschärft, niemanden einzulassen? Habe ich dir nicht gesagt, daß du sie alle an meine Dienststelle verweisen sollst? Habe ich dir nicht gesagt, daß ich um Viertel nach zwei, spätestens um halbdrei einen Inspektor erwarte?!« »Ich dachte, der eben wäre es, da der Portier ihn hereingelassen hat. Er sagte, er würde dich gut kennen. Ich hielt ihn für den Inspektor.« Wieder durchmaß der Major mit großen Schritten den Salon und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. »Sie haben sich also eingeschwindelt«, sagte er und kniff die Augen zusammen. »Sie haben meiner Frau weisgemacht, Sie seien ein Inspektor.« »Ich habe nichts dergleichen gesagt«, verteidigte sich der Alte würdevoll. »Wiewohl ich das ruhig hätte 17
behaupten können, weil ich in der Tat Inspektor bin, wenn auch außer Dienst.« »Wer sind Sie, mein Herr?« fuhr der Major ihn wieder an, riß sich die Serviette vom Hals, wand und drehte sie zwischen den Fingern und hieb sie durch die Luft wie eine Peitsche. »Erinnern Sie sich denn immer noch nicht an mich? Ruft die Mântuleasa-Straße keinerlei Erinnerungen in Ihnen wach? Haben Sie nicht in der MântuleasaStraße die Volksschule besucht und pflegten Sie nicht in den Pausen auf die Kirschbäume zu klettern? Einmal sind Sie heruntergefallen und haben sich den Kopf zerschlagen. Hat Sie da nicht Ihr Schuldirektor auf seinen eigenen Armen in die Kanzlei getragen? Und hat er Ihnen nicht den Kopf verbunden? Am nächsten Tag feierten wir den 10. Mai *, und Sie waren ganz stolz auf Ihre Bandage. Und als der Direktor Sie fragte: ›Na, was macht der Kopf, Borza?‹ Da haben Sie geantwortet: ›Ich weiß nicht, ob ich das Gedicht noch richtig werde aufsagen können.‹ Denn mit dem Gedächtnis hat es bei Ihnen immer schon ein wenig gehapert«, fügte der Alte hinzu. »Nun gut, der Direktor also, der bin ich. Ich bin der Lehrer Fărămă, Zaharia Fărămă, der fünfzehn Jahre lang Direktor der Schule in der Mântuleasa-Straße und dann bis zu meiner Pensionierung Schulinspektor war. Erinnern Sie sich immer noch nicht an mich?« * damals rumänischer Nationalfeiertag
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Der Major hatte aufmerksam zugehört, und seine Miene verdüsterte sich immer mehr. »Sie scheinen sich über mich lustig zu machen«, brauste er wütend auf. »Wenn Sie nicht ein alter Mann wären, würde ich Sie auf der Stelle verhaften. Sie haben sich in mein Haus eingeschwindelt, indem Sie vorgaben, Inspektor zu sein.« »Das habe ich nicht behauptet.« »Unterbrechen Sie mich nicht, wenn ich rede«, fuhr ihn der Major barsch an und trat drohend auf ihn zu. »Sie haben sich in mein Haus eingeschlichen und dürften etwas damit bezweckt haben. Also heraus mit der Sprache, und zwar schnell, bevor mir der Kragen platzt. Wozu sind Sie gekommen? Was wollen Sie hier?« Der Alte fuhr sich mit zittriger Hand übers Gesicht und stieß unwillkürlich einen Seufzer aus. »Regen Sie sich, bitte, nicht auf«, sagte er mit verhaltener Stimme. »Ich wollte Sie nicht kränken. Vielleicht handelt es sich um eine Verwechslung. Wenn dem so ist, bitte ich Sie vielmals um Entschuldigung. Sie sind doch der Herr Major Vasile I. Borza von der MAI oder irre ich mich?« »Jawohl, der bin ich. Allerdings nicht der Herr, sondern der Genosse Major Vasile I. Borza. Was führt Sie hierher?« »Entschuldigen Sie, dann waren Sie doch aber mein Schüler in der Mântuleasa-Straße! Ich kann Ihnen sogar sagen, von wann bis wann. Es war zwischen 1912 und 1915. Sehen Sie, es sind zwar mehr als 19
dreißig Jahre her, dennoch erinnere ich mich sehr gut daran. Ich hatte in jeder Klasse meine Lieblingsschüler. Es waren nicht immer die Besten«, fügte er lächelnd hinzu, »aber ich fühlte, daß etwas Besonderes an diesen Jungen war, und daher schloß ich sie in mein Herz. Soweit es mir möglich war, interessierte ich mich für sie, auch noch als sie das Gymnasium besuchten, und verfolgte ihren Werdegang auch später noch, als sie auf die Hochschule kamen. Sie allerdings hatte ich ganz aus den Augen verloren. Aber schließlich brach 1916 der Krieg aus, das erklärt vieles. Ich habe gehört, daß Sie lange Zeit in der Provinz gelebt haben.« Der Major hatte ihm aufmerksam zugehört und zwischendurch immer wieder zum benachbarten Zimmer hinübergesehen. »Hören Sie zu, Herr Direktor«, sagte er etwas weniger barsch, doch immer noch in strengem, unfreundlichem Ton. »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Ich habe weder ein Gymnasium noch die Hochschule absolviert. Ich bin ein Mann aus dem Volke, habe mich keinerlei Privilegien erfreut, sondern nur Entbehrungen erlitten. Unsereins war immer unterdrückt. Ich hatte weder Zeit noch Geld, um höhere Schulen zu besuchen.« »Ich sprach doch von der Volksschule auf der Mântuleasa-Straße.« »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie mich nicht unterbrechen sollen, wenn ich rede«, fuhr ihn der Major wieder an und durchbohrte ihn mit sei20
nem Blick. »Die Hochschulen, die Diplome und Titel von damals können mir gestohlen bleiben. Jene Zeit ist endgültig begraben. Ihr Geschwätz hängt mir zum Halse heraus. Mit euerem Regime haben wir Schluß gemacht!« schrie er, sah wieder zum anderen Zimmer hinüber, und seine Stimme wurde immer lauter. »Wir haben mit diesen Ausbeutern aufgeräumt. Jetzt hat endlich die Arbeiterklasse das Wort. Merken Sie sich das ein für allemal! Verstanden?« »Ich habe verstanden«, sagte der Alte und senkte den Kopf. »Entschuldigen Sie. Ich habe Sie offenkundig mit einem anderen verwechselt. Es war nicht schlecht gemeint.« Der Major maß ihn mit einem ironischen Blick und sagte: »Das will ich sehr hoffen, sonst hätten Sie sich nämlich etwas Schönes eingebrockt. Sie haben Glück, daß Sie mich bei guter Laune angetroffen haben und daß ich Sie nicht ernst nehme. Jetzt aber schauen Sie, daß Sie weiterkommen.« Dann wies er Fărămă die Tür. »Meine Hochachtung, und entschuldigen Sie, bitte, nochmals die Störung«, verabschiedete sich der Alte respektvoll und zog sich geschwind durch den Salon zurück. Als Borza den verschreckten Alten losgeworden war, brach er in schallendes Gelächter aus und rief seiner Frau von der Schwelle aus zu: »Aneta, bring uns den Kaffee!« Dann ging er auf die andere Zimmertür zu, öffnete sie und sagte: 21
»Was sagen Sie zu dem Besuch, Dumitrescu?« Aus dem Speisezimmer trat ein jüngerer Mann ein, er hatte kastanienbraunes, geschniegeltes Haar, einen kurz gestutzten Schnurrbart, einen kleinen Mund mit schmalen Lippen. Seine Augen waren gelblich, die Lider blaß, seine Gesichtsfarbe fahl. »Die Sache kommt mir verdächtig vor«, sagte der kränklich aussehende Mann. »Äußerst verdächtig.« Borza wechselte die Farbe. »Auch mir«, meinte er. »Der Alte gab schließlich zu, mich mit jemandem verwechselt zu haben. Aber weiß ich, ob man ihm Glauben schenken kann?« »Seine Ausrede mutet mich sehr fadenscheinig an. Soll es noch einen Vasile I. Borza im gleichen Alter wie Sie hier in der Stadt geben? Das klingt recht unwahrscheinlich. Der Mann weiß etwas«, fügte er, böse lächelnd, hinzu. »Der führt was im Schilde. Er kannte genau Ihre Adresse, obwohl Sie doch eben erst eingezogen sind.« »Ich lasse ihn verhaften!« rief Borza aus. »Ich lasse ihn auf der Stelle verhaften.« »Nur nicht übereilen«, sagte Dumitrescu und ging aufs Fenster zu. »Wenn er mit Hintergedanken hergekommen ist, so ist es besser, wir behalten ihn zunächst im Auge.« Er zog den Vorhang zurück und sah auf die Straße hinunter. »Der Alte ist immer noch nicht unten. Das alles scheint mir äußerst verdächtig. Vielleicht steckt sogar mehr dahinter, als Sie annehmen«, fügte er, im22
mer noch auf die Straße hinunterspähend, hinzu. »Vielleicht verwechselt er Sie gar nicht mit jemand anderem. Vielleicht weiß er ganz genau, wer Sie sind, und ist gerade deshalb gekommen. Vielleicht hat er recht und Sie sind tatsächlich sein Schüler in der Mântuleasa-Straße gewesen.« »Was fällt Ihnen ein, Mensch!« empörte sich Borza. »Ich bin nie zur Schule gegangen. Meine Herkunft kennt jeder.« »Die Volksschule konnten im alten Regime auch Kinder armer Leute besuchen«, sagte Dumitrescu, ohne sich umzuwenden. »Sie brauchen sich doch dessen nicht zu schämen, die Volksschule in der Mântuleasa-Straße besucht zu haben.« »Ich erkläre Ihnen aber kategorisch, daß ich keine Schule in der Mântuleasa-Straße besucht habe!« brauste Borza auf. »Ich weiß nicht einmal, wo diese Schule ist.« »Sie liegt doch gleich hier, vor Ihrer Nase«, sagte Dumitrescu und drückte die Stirn auf die Fensterscheibe. »Mag sein, aber ich kenne sie nicht. Wie oft soll ich das noch wiederholen. Ich habe meine Kindheit in der Vorstadt Tei verbracht. Mein Vater war Fuhrmann … Warum bringt Aneta nicht endlich den Kaffee?« Er versuchte das Gesprächsthema zu wechseln und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. »Bald wird der Inspektor da sein, und ich wollte doch vorher noch in Ruhe einen Kaffee mit Ihnen trinken.« 23
»Endlich ist er aus dem Haus«, sagte Dumitrescu, öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. »Sie sollten unten anrufen, damit ihm jemand nachgeht. Man darf nur nicht überstürzt handeln«, fügte er hinzu und sah Borza lange an. »Der Mann weiß etwas, er verfolgt etwas. Sehen Sie sich vor!«
II Am nächsten Morgen wurde Fărămă bei Morgengrauen von einem Agenten der Geheimpolizei geweckt. »Kommen Sie mit. Wir brauchen einige Auskünfte von Ihnen«, hieß es. »Sie brauchen nichts mitzunehmen. Es dauert nicht lange.« Im Hof warteten noch einige Agenten, und vor dem Haus stand ein Wagen bereit. Sie stiegen wortlos ein. Fărămă fröstelte es. »Ein schöner Sommertag«, sagte er schließlich und versuchte zu lächeln. Der Wagen hielt vor der Geheimpolizei. Durch lange Korridore wurde der Alte zu einem geräumigen, schmutzigen Aufzug gebracht. Am obersten Stockwerk wurde noch gearbeitet, und man beförderte gerade Baumaterial hinauf. Sie fuhren mit. Auf welchem Stock man ihn aussteigen ließ, wußte Fărămă nicht. Sie betraten einen dunklen Korridor. Von der Decke herab hingen nur da und dort ganz schwache Birnen. Sie stiegen mehrere Stufen zu einem anderen Korridor hinunter, der nicht mehr im gleichen Gebäude zu sein schien. Die Fenster dort waren groß und sauber, der Parkettboden neu und frisch gebohnert, die Wände weiß getüncht. Vor einer der zahlreichen Türen bedeutete man ihm durch ein Zeichen zu warten. Einer der Agenten trat allein ein und kam nach einer Weile in Begleitung eines Beamten mit hängenden Schultern zurück, der einen Stoß Akten unter dem Arm trug. Wieder gin25
gen sie einen Korridor entlang, der einen Halbkreis zu bilden schien, nahmen einen anderen Aufzug und fuhren hinunter. Fărămă hätte gerne die Stockwerke gezählt, doch er stand eingeklemmt zwischen den beiden Agenten, und vor ihm pflanzte sich der Beamte mit dem Aktenstoß auf, so daß er nichts sehen konnte, bis sie ausstiegen. Als die Tür des Aufzugs sich öffnete, drängte sich eine andere Gruppe hinein. Es waren Geheimpolizisten in Uniform und mit Akten beladene Beamte in Zivil. Diesmal mußten sie nicht mehr lange gehen. Sie machten rechts vor der ersten Tür halt, und der Beamte mit der Aktenmappe unter dem Arm trat ein, ohne anzuklopfen. Nach einer Weile winkte ein junger Mann, der eine Brille trug und wie ein Intellektueller aussah, einen der Agenten herein. Kurz darauf ging die Tür wieder auf, der Beamte mit der Aktenmappe kam heraus, maß den Alten mit durchdringendem Blick und fragte: »Sie also sind Zaharia Fărămă, der ehemalige Direktor der Volksschule Nr. 17 in der Mântuleasa-Straße?« »Jawohl«, erwiderte der Alte, räusperte sich und fügte in feierlichem Ton hinzu: »Ich war auch Schulinspektor.« Der Beamte runzelte die Brauen, maß ihn noch einmal lange und brummte nur in seinen Bart: »So? Was Sie nicht sagen?!« Dann verschwand er und ließ sich eine Weile nicht mehr blicken. Als er wieder erschien, waren Fărămă die Beine schon steif geworden vom langen Stehen. 26
»Treten Sie bitte ein«, sagte ihm der Beamte. Es war ein Warteraum. An den Wänden einige Bänke. Mehrere Türen und ein einziges Fenster. »Kommen Sie mit«, sagte der Beamte und wandte sich der Tür neben dem Fenster zu. Sie betraten ein Büro. Auf dem Schreibtisch mehrere Telefonapparate. Auf dem Stuhl hingelümmelt saß Dumitrescu und spielte mit einem Bleistift. »Seit wann kennen Sie den Genossen Borza?« fragte er. »Seit seiner Kindheit«, sagte Fărămă. »Er war mein Schüler.« »Woher wissen Sie, daß er wirklich Ihr Schüler war?« Fărămă schüttelte melancholisch den Kopf und lächelte verlegen. »Nun, das eben ist es ja. Bis gestern mittag hätte ich schwören können, daß er es war. Aber ich war bei ihm, und er behauptet, daß er sich an nichts erinnert.« »Was haben Sie beim Genossen Borza gesucht? Wie sind Sie an seine Adresse gekommen?« »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Fărămă. »Vor einigen Wochen, es war im Juni, ging ich auf dem Boulevard spazieren. Ich halte mich nämlich immer noch am liebsten in der Nähe der Schule auf. Ich gehe gewöhnlich vom Denkmal des Pache Protopopescu den Boulevard entlang und komme durch die Mântuleasa-Straße zurück. Ich ruhte mich gerade auf einer Bank aus, da sah ich vor Nr. 138, vor dem 27
Haus gegenüber, einen Möbelwagen halten. Einige junge Milizleute stiegen aus und begannen die Möbel abzuladen. Dann trat jemand aus dem Haus und hieß sie alles wieder aufladen ›In den vierten Stock kommt der Genosse Major Vasile Borza‹, schrie sie der Mann an. Da erinnerte ich mich an ihn, als er noch klein war. Alles sah ich plötzlich lebhaft vor Augen. Auch die Geschichte mit dem Rabbinersohn, in die er verwickelt war.« »Was für eine Geschichte?« unterbrach ihn Dumitrescu. »Ah, das ist eine lange und seltsame Geschichte. Ja, eine höchst mysteriöse Geschichte. Die Zeitungen haben seinerzeit viel darüber geschrieben. Aber man kam nie darauf, was dahintersteckte. Soviel ich weiß, wurde der Fall nicht geklärt.« »Von was für einem Vorfall sprechen Sie? Und warum glauben Sie, daß er ein Geheimnis blieb?« »Es blieb alles in mysteriöses Dunkel gehüllt, weil niemand den Fall aufklären konnte«, wiederholte Fărămă. Er kam immer mehr in Schwung. »Sie müssen wissen«, sagte er, »daß Borza gar nicht von Anfang an mit dem Rabbinersohn Darvari und den anderen im Keller war. Alles ging, glaube ich, von diesem Petru Darvari aus. Der Junge war sehr einfallsreich, und er war bestimmt der Urheber der ganzen Sache. Ich habe lange Zeit seinen Lebensweg verfolgt, bis er schließlich eines Tages im Flugzeug davonflog und zwischen der Schlangeninsel und Odessa spurlos verschwand. Diesem Darvari, der bis heute verschollen 28
blieb, hatte Aldea, ein Freund von ihm, der in der Calea Mosilor die Schule besuchte, anvertraut, er hätte in den vergangenen Sommerferien in Tekirghiol einen Tatarenjungen kennengelernt, der sein Brot mit Fliegenvertilgung verdiente. Ja, das ist das richtige Wort: er vertilgte sie. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hätte es nicht geglaubt. Doch im Jahr darauf fuhr ich auch nach Tekirghiol und lernte den Tatarenjungen kennen. Dieser Junge war großartig. Ich sehe ihn vor mir. Er hatte ein hübsches Gesicht, Augen wie zwei Kugeln aus Stahl und einen glattrasierten Schädel. Auch seine Stimme klingt mir noch ganz deutlich im Ohr. ›Haben Sie viele Fliegen im Haus?‹ pflegte er zu fragen, wenn er von Villa zu Villa ging. Er hatte die Schule in Konstanza besucht und sprach daher fließend rumänisch, wenn auch mit leicht tatarischem Akzent. Zunächst klopfte er immer an, um sich bemerkbar zu machen, und dann fragte er vom Flur aus, ehe er ins Zimmer trat: ›Haben Sie viele Fliegen?‹ Er stellte diese Frage in leicht ironischem Ton, als wäre er geneigt, den Leuten die Fliegen abzukaufen, natürlich für einen Pappenstiel. Ich werde Ihnen erzählen, wie es mir mit ihm ergangen ist. Ich hatte bereits von ihm gehört, hatte ihn aber noch nicht zu Gesicht bekommen. Die Villa, in der ich in jenem Sommer ein Zimmer gefunden hatte, lag auf dem Hügel und war die letzte im Dorf. Sie hieß ›Villa Cornelia‹. Da sie abseits lag, mußte ich auf den Tatarenjungen etwas warten. Er kam spät, aber er kam. Einen Verdienst 29
ließ er sich nicht entgehen, und er verdiente sich ja, wie schon gesagt, mit dem Vertilgen von Fliegen sein Brot. Ich hatte bereits zu Mittag gegessen und war eingenickt, da hörte ich ihn anklopfen. Es war gegen zwei Uhr. ›Haben Sie Fliegen?‹ fragte er. Natürlich gab’s eine ganze Menge davon in meinem Zimmer. Wer hatte wohl nicht unter Fliegen zu leiden in Tekirghiol? Mir ging es jedoch hauptsächlich darum, den Jungen kennenzulernen. ›Ich habe Fliegen mehr als genug‹, erwiderte ich ihm. ›Was willst du mit ihnen machen?‹ ›Ich vertreibe sie, und dann läßt sich eine Woche lang keine mehr blicken. Taucht während dieser Zeit auch nur eine bei Ihnen auf, so zahlen Sie mir keinen Heller.‹ ›Und was wird mich das kosten?‹ fragte ich. ›Einen Leu‹, sagte er. ›Sie zahlen die Hälfte jetzt und die andere Hälfte nach einer Woche. Zeigen Sie mir im Verlauf dieser Woche auch nur eine Fliege in Ihrem Zimmer, so gebe ich Ihnen das Geld zurück.‹ ›Abgemacht‹, willigte ich ein. ›Mal sehen, was du kannst.‹ Doch ehe ich weitererzähle, möchte ich Sie um etwas bitten«, sagte Fărămă mit veränderter Stimme. »Sprechen Sie nur!« ermunterte ihn Dumitrescu. »Setzen Sie sich nur ruhig hin«, sagte Dumitrescu und wies mit einer Kopfbewegung auf den Stuhl. Fărămă verneigte sich, holte tief Atem und setzte sich. »Ich danke Ihnen sehr. Ich habe gleich erkannt, daß Sie ein gutes Herz haben. Sie sehen meinem alten Freund Dorobanju so ähnlich.« 30
»Lassen Sie das und kommen Sie zur Sache«, unterbrach ihn Dumitrescu. »Ich fragte Sie, was Sie beim Genossen Major Borza gesucht haben. Sie haben weit ausgeholt, meine Frage jedoch immer noch nicht beantwortet.« »Ich war ja gerade dabei«, wandte der Alte ein. »Ich saß also dort auf der Bank, dem Haus Nr. 138 gegenüber, da erinnerte ich mich an den kleinen Schüler Borza. ›Sieh mal einer an‹, sagte ich mir, ›der hat es aber weit gebracht. Ist Major geworden. Wie wäre es, wenn ich ihn mal aufsuchte? Wir könnten Erinnerungen austauschen. Ich könnte mich auch nach Lixandru erkundigen.‹ In der vierten Klasse hatte er sich nämlich Lixandru angeschlossen. Sie waren dicke Freunde. Dieser Lixandru war ein seltsamer Junge, eine Träumernatur. Mit dreizehn, vierzehn Jahren schrieb er schon Gedichte. Er war viel älter als seine Mitschüler. Er war als Kind lange Zeit krank gewesen und kam daher spät zur Schule. Dank seiner ungewöhnlichen Intelligenz holte er jedoch sehr bald alles nach. Später im Gymnasium übersprang er sogar einige Klassen. Ich wollte den Major fragen, ob er etwas von Lixandru wüßte.« »Wie war nur der Name?« fuhr Dumitrescu wie aus einem Traum auf. »Lixandru. Gheorghita V. Lixandru.« »Ja, und was war mit ihm? Was hat er mit dem Genossen Borza zu tun?« »Sehr viel. Sie waren wie Brüder. Als Lixandru durchbrannte, versteckte ihn Borza. Natürlich nicht 31
bei sich zu Hause sondern im Keller einer Baustelle. Sie müssen nämlich wissen, daß diese Buben seit dem Vorfall mit dem Rabbinerjungen eine Schwäche für alte, verlassene Keller und baufällige Hütten hatten. Vor der Universität gab es um jene Zeit einen großen freien Platz, den man den ›Gemeindeanger‹ nannte. Dort hatte man die Steinquadern gelagert, die nach dem Krieg für den Bau des neuen Flügels der Universität verwendet wurden. Ich sehe sie noch, als sei es gestern gewesen: große, weiß-blaue Mauersteine.« »Das interessiert mich nicht«, unterbrach ihn Dumitrescu. »Sie erwähnten einen Keller und sprachen von einem nicht aufgeklärten Vorfall in Zusammenhang mit dem Sohn eines Rabbiners. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« »Sehr viel, weil der Sohn des Rabbiners in einem Keller spurlos verschwunden ist. Es war, als ob ihn die Erde verschluckt hätte. Eines muß ich jedoch festhalten. Dieser Iozi wußte, daß er auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde. Er verabschiedete sich von allen Freunden, umarmte sie, warf sich ins Wasser, und keiner hat ihn seither wiedergesehen.« »Was faseln Sie da? Wo ist das geschehen?« »In einem verlassenen Keller in der Nähe der ›Kirche unter den Linden‹. Doch das ist eine sehr lange Geschichte, und es ist nicht einfach, die Zusammenhänge zu begreifen. Dazu müßte ich Sie in alles einweihen.« Er machte eine Pause und fragte dann demütig: »Darf ich mir eine Zigarette anzünden?« 32
»Bitte.« »Ich danke Ihnen«, sagte er und zog die Tabaksdose aus der Tasche. »Ich war zeit meines Lebens immer ein starker Raucher. Jetzt habe ich aber das Rauchen fast aufgegeben. Nur ab und zu gönne ich mir eine Zigarette. Ich drehe sie mir selber«, fügte er hinzu. »Sie scheinen nicht zu rauchen?« »Nein.« »Sie haben auch recht«, meinte Fărămă, während er sich die Zigarette drehte. »Das Rauchen soll krebsfördernd sein.« Er klebte die Zigarette zu, zündete sie an und machte einen tiefen Zug. Dann schloß er träumerisch die Augen und lächelte. »Ja, es ist eine verzwickte Geschichte, und damit Sie sie verstehen, habe ich vorhin auch den Tatarenjungen erwähnt. Denn von diesem Abdul ging eigentlich alles aus. Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich ihn selber bei der Arbeit gesehen. Er kam ins Zimmer, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Fußboden, zog einen Lederbeutel hervor, den er unter dem Hemd auf der Brust trug, und begann in seiner Sprache, auf tatarisch, Unverständliches zu murmeln. Mir blieb die Spucke weg. So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Rings um seinen Kopf wurde es schwarz von Fliegen, und im Nu ballte sich der ganze Schwarm zu einem Knäuel zusammen und verschwand in seinem Beutel. Abdul schnürte den Beutel zu und steckte ihn wieder unters Hemd. Dann stand er auf, ich gab 33
ihm, wie abgemacht, fünfzig Bani, und eine Woche lang, genau eine Woche, sah ich keine Fliege mehr in meinem Zimmer. Ich hörte sie im Flur summen, sah sie draußen an den Fenstern, aber herein wagte sich keine mehr. Nach einer Woche kam Abdul, um die restlichen fünfzig Bani einzukassieren. Am nächsten Tag, das heißt am achten Tag, nachdem er sein Zauberkunststück gezeigt hatte, belästigten mich die Fliegen mehr denn je. Natürlich rief ich wieder Abdul zu Hilfe. Und so sah ich ihn in den drei Wochen, die ich in der ›Villa Cornelia‹ verbrachte, dreimal. Aldea hatte sich bereits ein Jahr zuvor mit dem Tatarenjungen angefreundet. Wieweit ihn dieser in seine Zauberkünste einweihte, weiß ich nicht. Von Lixandru erfuhr ich jedoch in jenem Herbst, daß Abdul seinem neuen Freund einen Floh ins Ohr gesetzt hatte: Er müßte in einem unter Wasser stehenden Keller nach irgendwelchen verborgenen Zeichen suchen, die ihm den Weg ins Jenseits zeigen würden. Er hat ihm vielleicht auch andere Anweisungen gegeben, doch darüber bin ich nicht informiert.« »Quatsch!« rief Dumitrescu verächtlich aus. »Ja, ja, das hatte Abdul ihm eingeschärft: Er müsse unbedingt diesen verzauberten Ort finden. So begannen denn Aldea, Lixandru und Iozi, der Sohn des Rabbiners, in allen Vorstädten nach verlassenen Kellern und eingefallenem Gemäuer zu suchen. Ruinen und baufällige Hütten gab es dort genug, doch bloß zwei Keller standen unter Wasser, und nur einer von beiden entsprach ihren Erwartungen, denn dort 34
fanden sie die Zeichen, von denen Abdul zu Aldea gesprochen hatte.« »Was für Zeichen?« »Das weiß ich nicht. Das haben sie mir nicht verraten. Vielleicht waren es Hinweise auf irgendwelche Vermessungen, denn ich erfuhr später, daß die Jungens in ihrer Umhängetasche immer einen Meßstock bei sich hatten. Der Meßstock wurde zerbrochen gefunden, die Umhängetasche jedoch nicht. Vielleicht hat der Rabbinersohn sie mit sich genommen. Das alles habe ich erst aus den Zeitungen und bei der gerichtlichen Untersuchung erfahren. Dort hörte ich auch, daß Lixandru sich als erster ins Wasser gewagt hatte. Er war untergetaucht, mehrere Minuten unter Wasser geblieben und dann kreidebleich und am ganzen Leibe zitternd an die Oberfläche gekommen. ›Es hätte nicht viel gefehlt, und ihr hättet mich nie wiedergesehen. Aber schön war es unten wie in einem Märchen!‹ erklärte er. Darauf stürzte sich auch Darvari kopfüber ins Wasser, kam aber gleich wieder zähneklappernd heraus. ›Ich werde morgen wieder tauchen, jetzt ist es zu spät‹, sagte er. Es wagten sich auch noch zwei andere Jungen ins Wasser: Aldea und Ionescu. Der eine war ein guter Taucher und blieb lange unten. Der andere aber, Ionescu, kam ganz erfroren rasch wieder heraus. Aldea, der ein ausgezeichneter Schwimmer war, tauchte mehrmals empor und rief den anderen zu: ›Ich finde sie nicht mehr! Vorhin habe ich sie noch gesehen, und jetzt ist sie wieder verschwunden. Sie war ganz in Licht geba35
det.‹ Er tauchte nochmals, blieb ziemlich lange unter Wasser und gab schließlich das Suchen entmutigt auf. ›Es war eine wie mit Diamanten bespickte Höhle, in der Tausende von Fackeln zu brennen schienen‹, beteuerte er. ›Das ist sie!‹ hatte da der Rabbinersohn ausgerufen. ›Die Beschreibung paßt ganz genau.‹ Daraufhin hatte er Aldea und Lixandru umarmt und sich auch von den anderen Kameraden verabschiedet, war kopfüber ins Wasser gesprungen und kam nicht wieder heraus. Die Jungen warteten, bis es Abend wurde, dann schworen sie, das Geheimnis nicht preiszugeben, keinem etwas über die Zeichen zu verraten und gingen nach Hause. Am nächsten Tag ging Lixandru zum Rabbiner, um nachzusehen, ob dessen Sohn heimgekehrt war. Doch die Polizei suchte bereits in allen Vorstädten nach Iozi. Als der dritte Tag verging, und sein Freund immer noch spurlos verschwunden blieb, kam Lixandru zu mir, um mir über den Vorfall zu berichten. Er brachte auch Borza mit, obwohl dieser nicht dabeigewesen war. Daraufhin fingen die Untersuchungen an. Doch von Anfang an ergaben sich Schwierigkeiten, denn die Aussagen der Jungen entsprachen nicht den Tatsachen. Sie behaupteten, daß Wasser im Keller wäre, über zwei Meter tief, und sie hätten nicht leicht Grund gefunden. Als die Polizei jedoch hinkam, stellte es sich heraus, daß das Wasser kaum einen Meter tief war. Man pumpte den ganzen Keller leer, doch es war alles vergebliche Mühe. Als man später die Unter36
suchung wieder aufnahm und unter dem Keller die Erde aufgrub, stieß man auf eine alte Mauer. Es kam eine archäologische Kommission. Die Ausgrabungen wurden erweitert, und man fand die Überreste einer mittelalterlichen Festung und noch tiefer unten Kennzeichen menschlicher Siedlungen aus noch älterer Zeit. Den Rabbinerjungen fand man jedoch nicht.« »Wann hat sich das ereignet?« fragte Dumitrescu. »Im Oktober 1915, zu Beginn des Monats. Es wird wohl am fünften oder sechsten gewesen sein.« Dumitrescu notierte das Datum. »In welchem Stadtteil befand sich dieser Keller?« »In der Nähe des Obor-Marktes, genauer gesagt, auf der Straße zwischen dem Obor-Markt und dem Boulevard Pache Protopopescu. Ich war selbst zur Stelle und habe die Ausgrabungen der archäologischen Kommission mit eigenen Augen gesehen. Jetzt ist nichts mehr davon übriggeblieben. Als die Deutschen im November des Jahres 1916 einmarschierten, errichteten sie dort ein Munitionsdepot, das sie dann bei ihrem Rückzug in die Luft sprengten. Nach dem Krieg wurde dort viel gebaut. Lauter neue Wohnhäuser.« »War auch Borza mit Ihnen dort?« fragte Dumitrescu. »Ja, er kam mit Lixandru. Er ist zwar nicht dabeigewesen, war aber in alles eingeweiht.« »Schon gut«, sagte Dumitrescu lächelnd. »Das genügt für heute. Wir werden noch miteinander reden.« 37
Dann drückte er geschäftig auf einen Knopf und sagte dem Milizmann, der eingetreten war: »Führen Sie den Herrn Direktor in den Speisesaal B und bringen Sie ihm Essen aus der Kantine.«
III Vier Tage später war Dumitrescu bei Borza zum Mittagessen eingeladen. Als sie beim Kaffee angelangt waren, sagte er seinem Gastgeber so beiläufig, während er mit einem Zahnstocher spielte und seine Blicke über die Wand schweifen ließ, auf der einige Holzteller aus Siebenbürgen hingen: »Die Leute von der iii. Abteilung haben in der Bibliothek der Akademie die Zeitungen aus dem Jahre 1915 durchgesehen. Wissen Sie, daß Fărămă recht hatte? Es hat sich wirklich alles so zugetragen, wie er es uns gesagt hat: Iozi, der Rabbinerjunge, hat sich ins Wasser gestürzt und ist nicht mehr herausgekommen. Er ist spurlos verschwunden, denn auch sein Leichnam ist nie gefunden worden. Haben Sie etwas von dieser Geschichte gehört? Erinnern Sie sich an gar nichts?« fragte er und sah seinem Gastgeber fest in die Augen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Borza, zerrte seine Serviette vom Hals und wischte sich mit ihr das Gesicht. »Ich sprach von Fărămă, Ihrem Direktor aus der Mântuleasa-Straße.« Borza faltete wortlos seine Serviette zusammen, legte sie auf den Tisch und lehnte sich im Sessel zurück. »Ja, er ist bei uns«, sagte Dumitrescu grinsend. »Ich halte ihn in Untersuchungshaft, weil er mir verdächtig vorkam.« 39
»Das also ist es …«, sagte Borza und wurde puterrot. »Deswegen wurde auch der Portier ausgewechselt.« »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, unterbrach ihn Dumitrescu. »Er ist mit einer anderen Aufgabe betraut worden. Kehren wir jedoch zu Fărămă, Ihrem Direktor, zurück. Ich muß Ihnen gestehen, daß er ein sonderbarer Kauz ist. Er ist zwar sonderbar, hat aber ein phantastisches Gedächtnis. Er erinnert sich an die kleinsten Einzelheiten. Er erzählte mir, daß Sie in der vierten Volksschulklasse …« »Habe ich Ihnen nicht bereits gesagt, Mensch, daß ich ihn nicht kenne und nie sein Schüler gewesen bin?! Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich aus Tei stamme, daß ich meine Kindheit dort in der Vorstadt verbracht habe?!« »Da liegt ja der Hund begraben! Weil wir schon darauf zu sprechen gekommen sind, kann ich Ihnen verraten, daß es um jene Zeit bloß drei Volksschulen im Tei-Viertel gab, zwei Knaben- und eine Mädchenschule.« »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« unterbrach Borza ihn gereizt. »Sehr viel. Ihr Name ist nämlich in keinem der drei Schulregister eingetragen.« »Woher wissen Sie das?« »Wir sind der Sache nachgegangen.« Borza erblaßte, starrte sein Gegenüber an und schlug mit der Faust auf den Tisch. 40
»Aneta«, rief er schließlich, »koch uns geschwind noch einen Kaffee, und bring auch die Flasche Rum!« »Ich sagte Ihnen ja gleich, daß dieser Direktor mir verdächtig vorkam, und daher ging ich der Sache nach«, fuhr Dumitrescu gelassen fort. »Wo ist er, dieser verdammte Direktor, daß ich Hackfleisch aus ihm mache!« brauste Borza auf und schlug noch einmal mit der Faust auf den Tisch. »Überlassen Sie ihn mir nur für eine Nacht, und ich schlag ihm mit seinen Registern den Kopf ein. Da wird ihm die Lust vergehen, gegen andere zu intrigieren und sie zu verleumden.« Dumitrescu sah ihn angewidert an und zuckte verächtlich mit den Achseln. »Genosse Borza«, sagte er dann ungerührt, »Sie regen sich umsonst über diesen Mann auf, denn er hat Sie gar nicht verleumdet. Daß er verdächtig ist, steht auf einem anderen Blatt. Und sobald wir herausbekommen haben, was er mit seinem Besuch bei Ihnen bezweckt hat, werden wir es Ihnen mitteilen. Die Freude werden wir Ihnen bereiten. Die Behauptung aber, Sie hätten die Schule in der Mântuleasa-Straße besucht, ist keine Verleumdung. Es steht fest, daß Sie in keiner der Schulen im Tei-Viertel eingeschrieben waren, hingegen ist Ihr Name zwischen den Jahren 1913 und 1916 in allen Registern der Schule in der Mântuleasa-Straße verzeichnet. Da Sie eine Erklärung abgegeben haben, daß Sie eine Volksschule absolvierten – wie hätten Sie auch sonst direkt zum Major 1. Klasse ernannt werden können? – liegt es in Ihrem 41
Interesse, Fărămă nicht zu widersprechen. Übrigens ist es sehr wahrscheinlich, daß Sie die Schule in der Mântuleasa-Straße besucht und es einfach vergessen haben. Es sind schließlich dreißig Jahre her. Wer erinnert sich schon, was vor dreißig Jahren geschehen ist?!« »Sie werden wohl recht haben«, sagte Borza nachdenklich. »Es ist durchaus möglich, daß ich es vergessen habe. Sie wissen, ich hatte eine schwere Kindheit. Meine Eltern waren bettelarm. Wir haben zur Klasse der Unterdrückten gehört.« »Zumindest haben Sie eine sehr bewegte Kindheit gehabt. Was Sie für Freunde hatten, was für interessante Spielkameraden, Gestalten wie aus einem Roman!« rief Dumitrescu mit gespielter Bewunderung aus. »Ah, alle Kinder sind interessant«, wehrte Borza verlegen ab. »Nein, das war eine andere Zeit, die Sie erlebt haben«, sagte Dumitrescu mit einer gewissen Melancholie in der Stimme. »Ihre Kindheit fällt in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Sie hatten das große Glück, lauter intelligente, abenteuerlustige Jungen zu ihren Freunden zu zählen. Besonders dieser Lixandru, und wie hieß bloß der andere, der ein so guter Bogenschütze war?« »Ah, ich habe nur noch ganz vage Erinnerungen an jene Zeit«, sagte Borza versonnen. »Das Wichtigste verschwindet einem oft aus dem Gedächtnis. Ich kann mich kaum noch der Gesichter meiner Spiel42
kameraden erinnern. Nun aber, da Sie ihn erwähnt haben, glaube ich mich an einen zu erinnern, der ein guter Bogenschütze war. Das ist aber auch alles, was ich von ihm weiß.« Aneta brachte das Tablett mit dem Kaffee und der Flasche Rum, stellte alles auf den Tisch und wollte sich zu ihnen setzen, doch ihr Mann gab ihr durch ein Augenzwinkern zu verstehen, daß ihre Anwesenheit unerwünscht war; daher schenkte sie ihnen nur zwei Gläschen Rum ein, lächelte verlegen und zog sich zurück. Borza trank den Rum in einem Zug aus und schenkte sich schnell ein zweites Gläschen ein. »Und was gedenken Sie nun zu tun?« fragte er. »Wollen Sie ihn noch lange dabehalten?« Dumitrescu spielte mit dem Zahnstocher, zögerte einen Moment lang, ehe er antwortete, und sagte schließlich: »Das hängt nicht von uns ab. Er muß zunächst seinen Bericht zu Ende schreiben. Während er schreibt, stellen wir Untersuchungen an. Wir werden schon drauf kommen, was er von Ihnen wollte. Denn eines steht fest: Verdächtig ist er. All diese Geschichten in Zusammenhang mit der Schule in der Mântuleasa-Straße erzählt er nur, um Zeit zu gewinnen. Aber das macht nichts«, fügte er lächelnd hinzu. »Wir lassen ihn gewähren. Wir haben Zeit. Wir beeilen uns nicht.« »Ich frage mich schon die ganze Zeit, was er nur von mir gewollt haben mochte«, sagte Borza verdrossen. »Was hat er Ihnen gesagt, als Sie ihm diese Frage stellten?« 43
»Sehen Sie, da hat er sich, glaube ich, zum ersten Mal eine Blöße gegeben«, sagte Dumitrescu voller Genugtuung. »Er hat es natürlich nicht gemerkt; als ich mir jedoch das Tonband ein zweites Mal anhörte, kam ich zu der Überzeugung, daß ihm ein Fehler unterlaufen war, daß er sich unwillkürlich verraten und uns auf eine wichtige Spur gebracht hat. Er sagte, er wäre gekommen, um mit Ihnen über Ihre Kindheit zu plaudern, um gemeinsame Erinnerungen auszutauschen, um sich bei Ihnen nach Lixandru zu erkundigen. Begreifen Sie?« »Ich glaube schon …« »Na, sehen Sie?! Dieser Lixandru soll, wie Fărămă behauptet, eng mit Ihnen befreundet gewesen sein. Mit Ihnen und einem anderen Jungen namens Darvari. Dieser Darvari ist, wie wir nachgeprüft haben, im Jahre 1930 mit dem Flugzeug zwischen der Schlangeninsel und Odessa verschwunden und blieb bis heute verschollen. Es besteht die Vermutung, daß er nach Rußland geflohen ist. Und das – wohl gemerkt – im Jahre 1930. Begreifen Sie, was das bedeutet? Wir gehen der Sache nach. Es ist sehr anzunehmen, daß Fărămă Darvari auch späterhin, nachdem dieser die Militärschule beendet hatte und Pilot geworden war, mehrmals getroffen hat; denn er kam ja öfters mit Lixandru, Darvaris bestem Freund, zusammen. Das könnte uns, glaube ich, auf die richtige Spur führen«, fügte Dumitrescu hinzu und zwinkerte vielsagend mit einem Auge. »Ich kann mich überhaupt nicht an die beiden erin44
nern«, erklärte Borza und machte ein verzweifeltes Gesicht. »Als der Alte mir dann erzählte, wie ihr Pfeile in die Luft geschossen habt, war ich überzeugt, daß er Sie aufgesucht hat, um Sie nach Lixandru und Darvari zu fragen. Er wollte herausbekommen, ob Sie noch etwas über den Verbleib der beiden wüßten. Denn daran werden Sie sich doch wohl noch erinnern, daß Sie sich mit Ihren Freunden auf dem ›Gemeindeanger‹ im Pfeilschießen übten?!« »Ja, das haben wir oft getan«, nickte Borza. »Na, und kommt Ihnen das, was Lixandru, gerade ihm, passiert ist, nicht merkwürdig vor?« fragte ihn Dumitrescu und fixierte ihn argwöhnisch. Borza verschlug es den Atem. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er kippte noch ein Gläschen Rum, wischte sich dann umständlich mit der Serviette den Schweiß vom Gesicht und rief aus: »Ich weiß beim besten Willen nicht, worauf Sie anspielen!« »Dann scheinen Sie an Gedächtnisschwund zu leiden«, bemerkte Dumitrescu ironisch. »Mag sein, daß mein Gedächtnis gelitten hat«, gab Borza zu. »Sie wissen ja, wie sehr ich seinerzeit im Keller der Polizeipräfektur gefoltert worden bin. Wenn man so viel Hiebe auf den Kopf bekommt wie ich, kann auch das Gedächtnis Schaden erleiden.« »So eine Sache vergißt man auch nach dreißig Jahren nicht«, fuhr Dumitrescu unerbittlich fort. »Ihr habt euch oft auf dem ›Gemeindeanger‹ getroffen, 45
um um die Wette Pfeile abzuschießen. Eure Pfeile flogen zwölf, fünfzehn Meter weit. Als Lixandru jedoch eines Tages den Bogen spannte, schoß sein Pfeil in die Luft und kam nicht wieder herunter. Ihr saht den Pfeil auf das Brătianu-Denkmal zufliegen, sprangt über die Steinquadern, die man dort für den Bau des neuen Universitätsflügels gelagert hatte, lieft dem Pfeil nach, weil ihr Angst hattet, er könnte einen Passanten treffen. Ihr suchtet ihn am Boulevard, am Fuße des Denkmals, doch vergebens. Anfangs machtet ihr euch nicht viel Gedanken darüber, doch ein wenig unheimlich war euch die Sache schon. Ihr wolltet Lixandru nacheifern, spanntet den Bogen nach Leibeskräften und zieltet fortan nur noch nach oben. Euere Pfeile schnellten zwölf, fünfzehn, höchstens zwanzig Meter hoch. Als aber wieder die Reihe an Lixandru kam, verfolgtet ihr seinen Pfeil mit den Blicken, bis euch der Nacken steif wurde; ihr hocktet euch hin und wartetet und wartetet. Ihr ducktet euch hinter die aufgetürmten Mauersteine, weil ihr Angst hattet, der Pfeil könne mit großer Wucht zurückfallen und einen von euch verletzen. Ihr saßet zwei Stunden lang zusammengekauert da, doch der Pfeil fiel nicht herunter. Da fuhr euch der Schreck in die Knochen.« »Was Sie nicht sagen!« rief Borza ungläubig aus. »Und wann soll das alles gewesen sein?« »Nach den Worten Fărămăs im Frühjahr 1916, vermutlich im April oder Mai, während der Osterferien. Na, was sagen Sie jetzt?« lächelte Dumitrescu 46
bedeutungsvoll. »Fällt Ihnen da nichts auf? Können Sie sich jetzt alles zusammenreimen? Deswegen hat der Alte Sie aufgesucht«, fügte er hinzu, indem er plötzlich den Ton senkte. »Ja, das könnte sein«, stimmte ihm Borza völlig zerknirscht zu. Dumitrescu fing an zu lachen. Er war ganz aufgeräumt und schenkte sich noch ein Glas Rum ein. »Sie brauchen sich nicht zu ärgern«, sagte er. »Wir kommen schon hinter seine Schliche. Wir müssen nur etwas Geduld haben. Ich habe ihn alles aufschreiben lassen, was er über Lixandru und Darvari weiß. Er hat in den drei Tagen bereits zweimal Papier nachverlangt. Er hat eine schöne, geradezu kunstvolle, aber sehr schwer lesbare Schrift. Ich habe alles, was er bis gestern niedergeschrieben hat, abtippen lassen. Aber wie es schon seine Art ist, schweift er immer wieder vom Thema ab. Ich habe den ganzen Vormittag seinen Bericht gelesen und bin immer noch nicht bei Darvari angelangt. Er hat sich des langen und breiten über eine euerer Freundinnen ausgelassen, über Oana, die Tochter des Schankwirtes aus Obor. Welch ein Weibsstück! Zwei Meter und zweiundvierzig lang! Fărămă hat mit dem Ende der Geschichte begonnen. So habe ich erfahren, daß Oana einen Estländer geheiratet hat und daß sie beide ihre Skelette der Universität in Dorpat vermacht haben. Ich lasse nachforschen, was an der Geschichte wahr ist, und bin schon sehr auf das Ernis gespannt.« 47
IV Jene ganze Woche und auch die Woche darauf verbrachte Fărămă schreibend über den Tisch gebeugt. Gleich am zweiten Abend hatte man ihm ein anderes Zimmer im alten Flügel des Gebäudes zugewiesen. Er hatte dort ein Eisenbett ohne Matratze, einen Stuhl und einen Tisch. Durchs Fenster konnte er nur auf eine graue Mauer sehen. Zweimal am Tag kam ein Gefängniswärter, brachte ihm Essen aus der Kantine und ließ ihn einen Gutschein unterzeichnen. Wenn ihm das Papier ausging, stand er vom Tisch auf und klopfte an die Tür. Der Aufseher nahm ihm die beschriebenen Blätter ab und brachte ihm einen neuen Stoß Papier. Man hieß ihn, die Blätter auf beiden Seiten zu beschreiben, und er hielt sich an die Verordnung. Sooft man ihn zum Verhör rief, schärfte man ihm ein, er müsse leserlicher schreiben. Fărămă gab sich auch sichtlich Mühe. Wenn er zu schreiben anfing, malte er geradezu die Buchstaben. Sobald er sich aber seinen Erinnerungen hingab, wurde er von ihnen überwältigt und verfiel wieder in seine übliche, schwer entzifferbare Schrift. Fărămă glaubte, daß man ihn seiner unleserlichen Schrift wegen so oft zum Verhör rief. Oft ließ man ihn das, was er tagsüber niedergeschrieben hatte, die ganze Nacht erzählen. Der Wächter holte ihn ab, und Fărămă hatte den Eindruck, daß er immer einen anderen Weg geführt wurde, denn sie durchquerten immer wieder andere Korridore, 48
stiegen Treppen hinauf und hinunter, gelangten in große finstere oder grell beleuchtete Säle, in denen ein Milizsoldat auf einer Bank gegen den Schlaf ankämpfte. Plötzlich hieß ihn der Wächter, vor einer Wand stehenzubleiben, und drückte auf einen Knopf. Ein Aufzug kam, hielt hinter ihm, sie fuhren mehrere Stockwerke hinauf oder hinunter, dann klopfte der Wächter an einer Tür an und brachte ihn in ein grell beleuchtetes Büro. Hinter dem Schreibtisch saß Dumitrescu mit dem Bleistift spielend und empfing ihn schmunzelnd. So ging das zwei Wochen lang. Dann riß der Wächter eines Morgens die Tür zu seiner Zelle auf und rief ihm von der Schwelle aus zu: »Kommen Sie mit!« Fărămă schrieb gerade, wandte verwirrt den Kopf um und sagte demütig: »Ich hatte mich eben erst an den Tisch gesetzt. Ich hatte heute solche Lust zu schreiben.« »Befehl ist Befehl«, sagte der Wächter. Fărămă legte ordentlich den Federhalter aufs Löschpapier, korkte die Tintenflasche zu und folgte dem Wächter. Diesmal legten sie keinen so langen Weg zurück. Am Ende des Korridors erwartete sie ein Milizsoldat. Der Gefängniswärter übergab den Alten dem Milizsoldaten, und dieser führte ihn zu einem Aufzug, den er bis dahin noch nicht benutzt hatte. Sie fuhren in einen Hof hinunter, gingen ein paar Schritte die Mauer entlang und betraten dann einen anderen Flügel des gleichen Gebäudes. Im er49
sten Stock blieben sie vor einer Tür stehen, und der Milizmann klopfte an. Ein junger Mann mit strahlendem Gesicht empfing den Alten mit den Worten: »Sind Sie Fărămă, der Direktor der Schule in der Mântuleasa-Straße?« »Jawohl«, erwiderte der Alte und verneigte sich höflich. »Kommen Sie mit mir«, forderte der junge Mann ihn auf. »Und Sie warten hier«, sagte er zum Milizsoldaten. Sie durchquerten einen Flur, dann öffnete der junge Mann eine Tür und gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, er sollte eintreten. Es war ein geräumiges, luxuriös möbliertes Zimmer mit vielen Fenstern. Am Schreibtisch saß ein etwa fünfzigjähriger Mann mit graumelierten Schläfen, einer platten Nase und sehr schmalen Lippen. »Nun, lassen Sie hören, Fărămă, was war mit Oana?« empfing er ihn jovial. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Fărămă verwirrt. »Damit Sie Oanas Geschichte verstehen, müßten Sie zunächst wissen, was ihrem Großvater, dem Waldhüter, zugestoßen ist. Meines Erachtens ist alles darauf zurückzuführen, daß ihr Großvater, den ich irgendwann im Jahre 1915 als betagten Mann kennenlernte, den Eid, den er dem ältesten Sohn des Paschas von Silistra geleistet, späterhin gebrochen hat. Dieser Waldhüter versuchte als Kind, das Munitionslager der Garnison in Silistra in die Luft zu sprengen. Er wurde von den Türken auf frischer 50
Tat erwischt und sollte in die Donau geworfen werden. Die Türken pflegten nämlich die Christenkinder weder abzuschlachten noch aufzuhängen; sie banden ihnen einen Sack voller Steine an die Füße und ertränkten sie. Dieses Kind aber wurde begnadigt. Der älteste Sohn des Pascha wollte ihn zu seinem Leibdiener haben. Da die beiden gleichaltrig waren, schlossen sie rasch Freundschaft und hingen zehn Jahre lang wie Brüder aneinander. Dieser Sohn des Paschas hieß Selim. Er hatte alle Chancen, in seinem Land zu hohen Würden zu gelangen, wäre sein Knecht ihm nicht untreu geworden und hätte den ihm geleisteten Eid nicht gebrochen. Damit Sie verstehen, wie das alles gekommen ist, müssen Sie wissen, daß der Pascha seinen Sohn Selim schon mit sechzehn Jahren verheiratete. Und zwar mit zwei Frauen zugleich: mit einer Griechin aus Fanar *, die zum mohammedanischen Glauben übergetreten war, und mit einer richtigen Türkin …« »Nein, Fărămă, lassen Sie das«, unterbrach ihn der Herr am Schreibtisch. »Ich habe Ihnen eine präzise Frage gestellt: Wie war’s mit Oana?« »Es fällt mir schwer, das alles überspringen zu müssen«, entschuldigte sich Fărămă, »denn meines Erachtens ist alles, was Oana zugestoßen ist, auf den Waldhüter zurückzuführen.« »Lassen Sie den Waldhüter«, unterbrach der andere ihn wieder und schmunzelte. »Sagen Sie mir, was * Griechenviertel in Konstantinopel
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Sie über Oana wissen. Wann haben Sie sie kennengelernt? Wie war sie damals?« Fărămă schüttelte verzweifelt den Kopf. Wie soll ich Ihnen das erklären, wenn Sie mich nicht ausreden lassen, schien seine Miene auszudrücken. »Als ich sie im Jahre 1915 kennenlernte«, begann er schließlich, »war sie dreizehn und fast zwei Meter lang. Aber sie war nicht bloß hochgewachsen, sondern auch breitschultrig und schön wie eine Statue. Sie hatte schwarze Augen, langes, blondes Haar, das sie aufgelöst trug, ging immer barfuß und ritt ohne Sattel wie die Kosaken. Sie hatte eine Vorliebe für feurige Pferde, und wenn die Roßtauscher ein besonders bockiges Pferd loswerden wollten, nahmen sie Oana schon als Kind zum Jahrmarkt mit, damit sie es den Käufern vorführte. Anläßlich einer ihrer Kraftproben lernte auch ich sie kennen. Ich erinnere mich noch daran, als sei es gestern gewesen. Eines Tages erschien bei mir ein Händler aus der Armeneasca-Straße, der Vater einer meiner Schüler. Sein Sohn, sagte er, sei bei einer Schlägerei so arg zugerichtet worden, daß er das Bett hüten müsse. ›Wo haben die Jungen sich geprügelt?‹ fragte ich ihn. ›Das kann ich aus ihm nicht herausbekommen‹, erwiderte mir der Händler. Darauf nahm ich meinen Hut und ging mit dem Vater des Schülers in die Armeneasca-Straße. Ich betrat allein das Zimmer, in dem der Junge bleich im Bett lag. ›Wer hat dich so zugerichtet, Kleiner?‹ fragte ich ihn. ›Oana, die Tochter von Onkel Fănică, der die Schenke in Obor 52
hat. Wir haben uns nicht gerauft, wir wollten uns nur im Ringkampf messen. Ich war bisher der stärkste, niemand konnte mich besiegen. Deshalb wollten die Jungen, daß ich auch Oana zeige, was ich kann. Oana hat es gar nicht schlecht mit mir gemeint, sie hob mich nur hoch und schwang mich zum Spaß wie eine Fahne in der Luft. Als jedoch einer der Jungen zu schreien anfing: ‚Seht nur, die hat ja keine Hosen an‘, schleuderte sie mich zu Boden, und die Jungen mußten mich nach Hause tragen.‹ ›Schon gut, das geht vorüber‹, tröstete ich ihn. Seinem Vater, der nebenan wartete, sagte ich: ›Behalten Sie ihn paar Tage zu Hause. Er ist entschuldigt. Es wäre übrigens gut, wenn ihn ein Arzt sähe.‹ Dann ging ich nach Obor. Doch nun hätte ich, wenn Sie gestatten, eine Bitte«, fügte Fărămă mit veränderte Stimme hinzu. »Und zwar?« »Dürfte ich mich, bitte, einen Augenblick hinsetzen. Ich leide nämlich an Rheumatismus.« »Setzen Sie sich«, sagte der Mann am Schreibtisch. »Ich danke Ihnen sehr«, sagte Fărămă, setzte sich auf den Stuhl links vom Schreibtisch und strich sich die Hose zurecht. »Ja«, nahm er nach einer Weile den Faden seiner Erzählung wieder auf, »ich ging am gleichen Nachmittag nach Obor. Fănică Tunsus Schenke war leicht zu finden. Jeder kannte sie. Ich trat ein und fragte nach dem Wirt. Tunsu schien ein anständiger Mensch zu sein. Er hatte ein aufgedunsenes, rotes Gesicht, war kräftig gebaut, sonst aber nicht aus der Art geschlagen. 53
›Sie haben eine Tochter, die sich etwas seltsam aufführt‹, sagte ich zu ihm. ›Meine Frau und ich, wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, alles Übrige ist von Gott‹, erwiderte er. Ich begriff zunächst nicht, was er damit sagen wollte. Als ich jedoch in den Hof hinaustrat, wurde es mir klar. Da schien in der Tat Gott am Werk gewesen zu sein. Und er hatte mit seinem Segen nicht gespart. Oana hatte gerade einen Knecht, einen baumlangen Lakkel, zum Ringkampf herausgefordert. Der Bursche hatte sich die Stiefel ausgezogen und stand in Hosen da. Er wehrte sich aus Leibeskräften, konnte aber kaum noch atmen. Oana preßte ihm so die Rippen, daß er zu ersticken drohte; dann stemmte sie ihn hoch, wirbelte ihn durch die Luft und schleuderte ihn zu Boden. Ehe er sich erheben konnte, war sie schon über ihm und drückte ihm die Schultern in den Staub zurück. Da sah ich, daß mein Schüler die Wahrheit gesagt hatte. Die Frauen trugen damals noch lange Hosen. Oana aber war unter dem Kleid splitternackt. Sie war wie eine Statue, wenn Sie mich richtig verstehen.« »Und schön, sagen Sie, war sie auch!?« fragte der andere gedankenverloren. »Sie war wie eine schöne Statue«, nickte Fărămă. »Wenn wir eine gelungene Statue anschauen, stört uns das Überdimensionale ja nicht. So war es auch bei Oana. Wäre sie nackt herumgelaufen, wäre es einem vielleicht gar nicht so aufgefallen, daß sie über alle Maßen groß war. In Kleidern aber jagte dieses Rie54
senmädchen einem Schrecken ein. Die Geschichte Oanas beginnt also mit einem Ringkampf. Aber es ist eine lange Geschichte … Dürfte ich mir vielleicht eine Zigarette anzünden?« fragte er nach einer kurzen Pause. »Bitte sehr«, sagte sein Gegenüber. Seine Stimme kam wie von weit her, er schien in den Erinnerungen zu sein. »Ich danke Ihnen«, sagte Fărămă, zog ein Päckchen hervor und zündete sich eine Zigarette an. »Wo soll ich nur anfangen?« fragte er sich, nachdem er den ersten Zug getan hatte. »Ich sagte Ihnen, daß es eine lange Geschichte sei; sie zieht sich viele Jahre hin, bis ungefähr um 1930. Wenn es nach mir ginge, würde ich bis auf das Jahr 1840 zurückgreifen, denn in Wirklichkeit erstreckt sich diese Geschichte über einen Zeitraum von fast hundert Jahren. Doch nehmen wir an, daß Sie über den Anfang Bescheid wissen. Ich überspringe also vieles und komme auf das Jahr 1915 zurück, in dem ich Oana kennenlernte. Meine Schüler hatten sich einige Monate zuvor mit dem Mädchen angefreundet, als sie die Vorstädte nach verlassenen Kellern abklapperten. Oana hatte besonders an Lixandru und Darvari Gefallen gefunden. Im folgenden Sommer, im Jahre 1916, pflegten die Jungen jeden Samstag nach Obor zu kommen. Oana nahm sie in ihrer Britschka zu ihrem Großvater mit, der Waldhüter in Paserea war, und sie blieben dort bis Montag früh. Oana fühlte sich in der Gesellschaft dieser aufgeweckten, einfalls55
reichen Jungens sehr wohl, denn an Phantasie mangelte es, wie Sie bald hören werden, auch ihr nicht; auch sie hatte ihre tollen Ideen. Was sich dort in jenen Nächten im Paserea-Wald abgespielt hat, weiß ich nicht genau. Das wenige, das ich erfahren habe, half mir jedoch zu verstehen, warum diese Jungen so seltsame Wege eingeschlagen haben. Sie müssen wissen, daß außer Lixandru, der bereits vierzehn war, alle übrigen noch richtige Kinder waren, keiner älter als elf, zwölf Jahre. Zunächst erzählte mir einer von ihnen, es war Ionescu, folgendes: Eines Nachts, es war Sommer, Anfang Juni, erwachte er, von Durst geplagt, und ging hinaus, um Wasser zu trinken. Die Jungen schliefen in einer Art Scheune, neben dem Försterhaus, mitten im Wald. Als Ionescu die Wasserkanne zum Mund führte, glaubte er, ein Gespenst im Wald zu sehen, und bekam es mit der Angst zu tun. Bald sah er jedoch, daß es Oana war, und schlich ihr aus Neugierde nach. Es war eine mondhelle Nacht, und so konnte er sie gut beobachten. Das Mädchen blieb am Rande einer Lichtung stehen, zog das Kleid aus, kniete nackt im Gras nieder, schien irgendein Kraut zu suchen, stand dann auf, fing zu tanzen an, drehte sich singend im Kreise und murmelte schließlich etwas vor sich hin. Der Junge konnte nur die Worte verstehen, die sie wie einen Refrain immer wieder wiederholte: ›Alraune, Alraun, nur dir kann ich traun, erheb dich aus dem Staube und bring mir einen Mann!‹ Es war ihm nicht klar, daß dies ein Zauberspruch war, durch den 56
das liebestolle Mädchen zu einem Mann zu kommen hoffte. Er hatte sich hinter einen Baum geduckt und wollte gerade hervorspringen, um Oana zu erschrekken, als diese im Tanzen innehielt, die Hände in die Hüften stemmte und ausrief: ›Ich will heiraten, ich brenne wie im Fieber!‹ Da erstarrte der Junge, denn aus dem Unkraut stieg wie ein Gespenst ein verhutzeltes, zerlumptes Weib hervor, stürzte sich drohend auf Oana und schrie sie an: ›He, du läufige Hündin, bist ja noch keine vierzehn Jahre alt!‹ Oana fiel auf die Knie und verneigte sich demütig vor der Alten. Diese aber fuhr zornig fort: ›Zähme deine Gier! Ich kann den Zauberbann nicht lösen und dein Schicksal nicht wenden. Du wirst den kriegen, der dir beschieden ist. Wenn deine Zeit gekommen ist, sollst du ins Gebirge gehen. Dort wirst du den passenden Mann finden, aus der Art geschlagen wie du. Er wird auf zwei Pferden geritten kommen und ein rotes Halstuch tragen.‹ Mit diesen Worten verschwand die Erscheinung im Unkraut, wie Ionescu erzählte. Seit damals hatte Oana jedoch keine Ruhe mehr. Sie dachte nur daran, so schnell wie möglich ins Gebirge zu kommen. Sie hatte sich schon auf den Weg gemacht. Aber in jenem Herbst brach der Krieg aus, und so gelangte sie damals nicht gleich hin. Als sie von zu Hause fortging, nahm sie auch die Jungens mit.« »Wie kommt es, daß der Vater ihr gestattet hat, mit vierzehn Jahren allein mit den Jungens einen Ausflug ins Gebirge zu unternehmen?« fragte der Mann am Schreibtisch. 57
»Ah, das ist eine lange Geschichte«, sagte Fărămă lächelnd. »Einen Teil davon habe ich vorgestern zu Papier gebracht. Ich weiß nicht, ob Sie Gelegenheit hatten, sich das, was ich aufgeschrieben habe, durchzusehen. Der Vater ließ sie fortziehen, weil in jenem Jahr wieder der Doktor zum Waldhüter gekommen war, und dieser Doktor verfügte über seltsame Kräfte.« »Wie hieß dieser Doktor?« »Seinen wirklichen Namen wußte nur der Waldhüter, denn er kannte ihn von Kind auf. Die Leute nannten ihn Doktor, weil er sich in allerlei Heilmitteln auskannte, sprachgewandt war, ferne Länder bereist hatte und ein großes Wissen besaß. Er verstand es, mit einfachen Altweibermitteln Vieh und Menschen zu heilen, und hatte eine große Schwäche für die Zauberkunst. Als Illusionist und Fakir war er unübertroffen. Er vollbrachte unglaubliche Dinge. Und das nicht für Geld, sondern aus purer Freude an der Sache. Er gab seine Kunststücke nur in kleinen Marktflecken, auf Jahrmärkten zum besten, nie in Bukarest. Sein liebster Zeitvertreib war es, mit einer abenteuerlustigen Schar von Kindern einen Monat lang, so zwischen St. Peter und Maria Himmelfahrt, durch die Dörfer zu ziehen. Er mietete zwei Fuhrwerke, ließ je drei Pferde anspannen, und dann ging’s los. Im Jahre 1916 nahm er Oana, Lixandru, Aldea und Ionescu mit. Sie fuhren zunächst nach Câmpulung, wollten von dort ins Gebirge, kamen aber nicht mehr dazu, denn mittlerweile 58
trat Rumänien in den Krieg ein. Das war ein großartiger Zauberkünstler!« rief Fărămă kopfschüttelnd aus. »Haben Sie ihn je gesehen?« »Ich habe ihn mehrmals seine Zauberkunststücke vorführen gesehen. Als ich ihm das erste Mal im Hof des Waldhüters zusah, bekreuzigte ich mich. Es war an einem Sonntagspätnachmittag. Wir waren etwa zehn Leute und warteten, daß man die Pferde einspanne. Da rief der Doktor aus: ›Wartet noch ein wenig. Ich zeige euch etwas!‹ Er klatschte in die Hände und bat uns alle stillzuhalten. Darauf begann er, die Hände in den Taschen vergraben und die Brauen gerunzelt, wie tief in Gedanken auf und ab zu marschieren. Plötzlich streckte er eine Hand in die Luft und fing etwas auf. Wir guckten aufmerksam hin und sahen, daß es eine Art langes Lineal aus Glas war. Er legte es auf den Boden, begann, daran zu ziehen, es zu strecken, und das Lineal verwandelte sich im Nu in eine breite, etwa eineinhalb Meter lange Fensterscheibe. Er machte sie auf dem Boden fest, fing wieder an einer Seite zu ziehen an, und die Scheibe dehnte sich. In zwei, drei Minuten hatte er einen Glasbehälter fertig, eine Art Aquarium. Dann sahen wir Wasser aus der Erde schießen, und das Becken füllte sich bis an den Rand. Der Doktor machte noch irgendwelche Zeichen, worauf allerlei große Fische in den schönsten Farben im Becken auftauchten. Als wir sie vor unseren Augen schwimmen sahen, kamen wir aus dem Stau59
nen nicht heraus. Der Doktor zündete sich eine Zigarette an, kam auf uns zu und sagte: ›Treten Sie näher, meine Herren, sehen Sie sich die Fische genau an, und wählen Sie sich einen. Sie können jeden haben.‹ Wir traten näher, und einer von uns zeigte mit dem Finger auf einen großen Fisch mit blauem Schwanz und rosa Augen. ›Ah‹, sagte der Doktor, ›Sie haben keine schlechte Wahl getroffen. Das ist ein Ichtys columbarius, ein seltener Fisch, der in den Gewässern des Südens lebt.‹ Und ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, huschte er wie ein Schatten ins Becken, mitten durchs Glas, blieb eine Weile im Wasser zwischen den Fischen, damit wir ihn gut sähen, spazierte, die Zigarette im Mund, rauchend im Becken auf und ab, dann streckte er die Hand aus, fing den Columbarius, verließ das Becken, ebenso wie er hineingegangen war, die Zigarette im Mundwinkel, durchs Glas schreitend, und zeigte uns den Fisch. Wir sahen, wie der Fisch in seiner Hand zappelte, doch uns faszinierte noch mehr der Anblick des Doktors. Mit großen aufgerissenen Augen starrten wir das Wunder an: Wir bemerkten weder an seinem Gesicht noch an seinen Kleidern auch nur einen einzigen Tropfen Wasser. Einer von uns ergriff den Fisch, konnte ihn jedoch nicht festhalten. Der Fisch glitt ihm aus den Händen. Er fiel ins Gras, und wir wollten ihn aufheben. Der Doktor lachte. Er nahm den Fisch, streckte die Hand durchs Glas und ließ ihn im Wasser los. Dann klatschte er in die Hände, und das Aquarium mitsamt den Fischen verschwand.« 60
»Ein tüchtiger Illusionist!« rief der Mann am Schreibtisch aus. »Ein unübertrefflicher«, sagte Fărămă. »Das, was ich Ihnen jetzt erzählte, war noch nichts, gemessen an den Kunststücken, die er in dem Sommer, als er Oana und die Jungens mitgenommen hatte, auf Jahrmärkten zum besten gab. Nach dem Erlebnis in Paserea können Sie sich wohl denken, daß ich große Lust hatte, ihn wiederzusehen. Ich kam von dem Gedanken an ihn nicht mehr los. Daher fuhr ich ihnen nach und erreichte sie auf einem Viehmarkt, etwa vierzig Kilometer von Câmpulung entfernt. Dort blieben wir fünf Tage. Er trat zwei- bis dreimal täglich auf und führte jedes Mal andere Kunststücke vor. Auch das Zeremoniell war jedesmal ein anderes. Er hatte eine Vorliebe für große Aufmachung, und ich erlebte vieler seiner Galavorstellungen. Am ersten Tag ließ er Lixandru im Prinzengewand schweigend auf einem Schimmel durchs Städtchen reiten. Ich hatte in der Früh mit Lixandru gesprochen, und der Junge hatte mich in alles eingeweiht, sonst hätte ich ihn nie im Leben erkannt. Der Doktor hatte ihn nämlich nicht bloß verkleidet, sondern völlig verwandelt. Er hatte ihm eine schulterlange Perücke angezogen, wie es früher einmal Mode war, und Lixandru sah wie ein zwanzigjähriger Jüngling aus. Sein Gesichtsausdruck war verändert, seine Züge veredelt, der Blick ein wenig schwermütig. Und erst die Kleider und das Pferd! Was soll ich Ihnen noch viel erzählen: Die Leute liefen ihm 61
in Scharen nach. Sie begleiteten ihn bis zum Zelt des Doktors. Es war ein Riesenzelt, wie ich es nur bei den ganz berühmten Zirkussen in der Großstadt gesehen hatte. Vor dem Eingang hatte sich Ionescu aufgepflanzt. Auch er war nicht wiederzuerkennen. Er war groß, dick und schwarz wie ein Mohr, hatte aufgeworfene Lippen, die Brust entblößt, trug breite Pluderhosen und einen Jatagan und schrie aus vollen Lungen: ›Herein, ihr Leute, herein, wir brauchen Geld für Oanas Mitgift!‹ Drinnen im Zelt nahm Aldea die Leute in Empfang. Er saß wie ein Bojar an einem vergoldeten Tischchen inmitten von Säkken voller Dukaten. ›Eintritt: fünf Bani! Eintritt: fünf Bani!‹ schrie Aldea. ›Jeder erhält dafür einen Dukaten. Sie sind zwar nicht mehr im Umlauf, doch es sind Münzen aus Gold!‹ Die Leute zahlten fünf Bani, und Aldea steckte seine Hand in den Sack und reichte jedem von ihnen einen Dukaten.« »Welch ein Gaukler!« rief der Mann am Schreibtisch aus. »Stimmt«, gab Fărămă zu. »›Sie sind nicht mehr im Umlauf, Herr Direktor‹, sagte Aldea auch mir. Ich tat einen Blick in einen der Säcke: Es war in der Tat Geld aus der Zeit Maria Theresias und Peter des Großen; auch türkische Münzen waren darunter. Doch das alles war nichts, gemessen an dem, was folgte. Als die Zuschauer das Zelt gefüllt hatten, trat der Doktor vor den Vorhang. Er trug einen Frack und weiße Handschuhe und hatte einen langen, dünnen, rabenschwarzen Schnurrbart. Er klatschte ein62
mal in die Hände. Da trat Oana vor die Rampe. Sie allein schien unverändert. Sie war mir ja bereits bei unserer ersten Begegnung wie eine Statue vorgekommen. Das weiße, enganliegende Trikot, das sie nun statt eines Kleides trug, steigerte nur noch diesen Eindruck. Der Doktor erhob die Hand, fing aus der Luft eine Schachtel auf, die nicht größer als ein Pillendöschen war, zupfte bald an der einen, bald an der anderen Seite an ihr herum, bis er sie in eine zwei Meter lange und ebenso breite und hohe Kiste verwandelte. Dann reichte er sie Oana und hieß sie, die Kiste mit beiden Händen so hoch als möglich über ihrem Kopf zu halten. Mit der hochgestemmten Kiste in den Händen sah das Mädchen erst recht wie ein Denkmal aus. Man glaubte, eine Karyatide vor Augen zu haben. Selbstgefällig schritt der Doktor vor der reglosen Gestalt auf und ab; dann streckte er wieder die Hand aus und fing aus der Luft eine Streichholzschachtel auf. Er entnahm ihr einige Streichhölzer und hantierte so lange mit ihnen herum, bis er sie zu einer Leiter zusammengelegt hatte, die er an die Kiste lehnte. Darauf wandte er sich ans Publikum und forderte die Vertreter der Behörden auf hinaufzusteigen. Da niemand sich vorwagte, rief er die Amtspersonen der Reihe nach auf, so als wären sie alte Bekannte von ihm. ›Herr Bürgermeister und Frau Bürgermeisterin, kommen Sie herauf und nehmen Sie auch Ionel, Ihren Kleinen, mit! Herr Wachtmeister, Herr Oberfeldwebel Nămolosu und Sie, Herr Lehrer, Sie werden doch nicht zurück63
stehen wollen?!‹ So wandte er sich an jeden von ihnen persönlich, lockte sie aus der Menge, reichte ihnen die Hand und spornte sie an, die Leiter hochzuklettern und in die Kiste zu steigen. Die Leute versuchten, sich zu drücken, doch einmal oben, vor der Öffnung der Kiste angelangt, schämten sie sich umzukehren und traten ein. So verschluckte die Kiste den Bürgermeister samt Frau und Sohn, den Wachtmeister, den Lehrer, einen hohen Gerichtsbeamten und noch einige andere Leute, die dem Beispiel dieser Respektspersonen gefolgt waren. Als der Doktor den Popen erblickte, der sich verspätet hatte, trat er rasch auf ihn zu und sagte ihm: ›Kommen Sie doch auch herauf, Herr Pfarrer!‹ Der Pope wollte zunächst nicht und sagte entrüstet: ›Was, zum Teufel, soll der Spuk? Was treiben Sie da mit den Leuten?‹ ›Kommen Sie nur herauf, Herr Pfarrer, Sie verpfänden ja nicht Ihre Seele‹, der Doktor ließ nicht locker. Der Pope war alt und schon etwas schwerfällig, sah aber noch ziemlich rüstig aus. Er stieg bedächtig die Leiter hoch und verschwand in der Kiste. Oana rührte sich während der ganzen Zeit nicht vom Fleck, so als hielte sie nichts als ein Tuch über ihrem Kopf. Nachdem auch der Pope in der Kiste verschwunden war, stieg der Doktor auf die Leiter und begann die Kiste zu beklopfen, bis sie halb so groß war wie zuvor. Dann nahm er sie auf die Arme, stieg mit ihr herunter und drückte sie vor den Augen der Menge so lange, bis sie wieder zu einem Pillendöschen zusammenschrumpfte. Das dauerte nicht länger als 64
wenige Minuten. Er drehte die Schachtel noch einige Male zwischen seinen Fingern, bis sie winzig klein wie eine Erbse wurde. Darauf fragte er: ›Wer möchte sie haben?‹ ›Ich‹, erwiderte ein Greis in der hintersten Reihe. ›Es stecken ja all meine Enkel drin.‹ Der Doktor schnippte sie mit dem Fingernagel weg, aber sie war so klein, daß sie im Nu verschwunden war. Im gleichen Augenblick hörte man einen Knall, und der Pope, der Bürgermeister und alle anderen Leute, die in die Kiste gestiegen waren, saßen wieder auf ihrem Platz, als hätten sie ihn nie verlassen.« »Welch ein Gaukler!« »Ja«, nickte Fărămă. »Aber das ist nichts, gemessen an dem, was ich in Câmpulung gesehen habe. Dort hat der Doktor sich selber übertroffen. Dort, in Câmpulung, kam eine ganze Garnison, mit dem General und einer Militärkapelle an der Spitze, anmarschiert. Im Volksgarten hatte am Nachmittag eine Feier stattgefunden, und weil der General mit dem Ergebnis so zufrieden war, gestattete er nicht bloß den Offizieren sondern auch den Soldaten, der Aufführung beizuwohnen. Jeder durfte seine Angehörigen mitnehmen, und der Doktor forderte alle auf, in die Kiste zu steigen. Er beging jedoch den Fehler, die Musikanten voranschreiten zu lassen. Den Bläsern folgten die Trommler. Als der letzte von ihnen jedoch oben ankam, schlug er weiter die Trommel und stieg nicht in die Kiste hinein. Der Doktor hieß ihn aufhören und fragte ihn: ›Was ist los, Mensch? Warum gehst du nicht hinein? Ist denn 65
kein Platz mehr drin?‹ ›Doch‹, erwiderte der Trommler, ›Platz hätte ich schon, es ist ja niemand drin.‹ Der Doktor brach in ein schallendes Gelächter aus, erhob die Hand, und im nächsten Augenblick saßen alle wieder auf ihren Plätzen, und die Militärkapelle stimmte die Regimentshymne an. Das regte den General so auf, daß er brüllte: ›Wer hat euch Befehl erteilt zu spielen?‹ Und so mußte der Doktor dort, in Câmpulung, das Feld räumen, ehe die Kirmes zu Ende war.« Fărămă schwieg und versank in Gedanken. »Na, und weiter?« fragte der andere. »Was ist dann mit Oana geschehen?« »Darüber habe ich gerade nachgedacht«, fuhr Fărămă auf, wie aus einem Traum geweckt, und rieb sich verwirrt die Knie. »Wie soll ich Ihnen die Fortsetzung erzählen, ohne zurückzugreifen und über Lixandru und Darvari zu sprechen, über die neuen Freundschaften, die sie in Fănică Tunsus Schenke geschlossen haben? Denn es ist eine lange Geschichte, und um sie zu verstehen, müßten Sie wissen, was Dragomir und Zamfira passiert ist.« Der Mann am Schreibtisch lachte kurz auf und drückte auf einen Knopf. »Schon gut, wir reden noch miteinander«, verabschiedete er Fărămă. Die Tür ging auf, und der junge Mann mit dem strahlenden Gesicht erschien. »Ich bedanke mich vielmals«, sagte Fărămă, stand geschwind auf und verneigte sich tief. 66
V Fărămă erfuhr gleich am nächsten Tag, daß er bei Economu, dem Unterstaatssekretär im Innenministerium, gewesen war. Dumitrescu, der hinter seinem Schreibtisch saß, empfing ihn in viel schlechterer Laune als sonst. »Ich habe weitere 200 Seiten gelesen und weiß immer noch nicht, was mit Darvari geschehen ist. Uns interessiert vor allem Darvari und bloß an zweiter Stelle Lixandru und alle übrigen. Der Genosse Unterstaatssekretär Economu hat eine große Schwäche für Literatur, deswegen ist er von Oana so sehr fasziniert. Uns aber interessiert Darvari. Als Sie Borza aufsuchten, wollten Sie sich bei ihm nach Lixandru erkundigen und nicht nach Oana. Kehren Sie also zu Lixandru und Darvari zurück. Sie sagten vor einigen Tagen, daß Lixandru begonnen hatte, seinem Freund Darvari Hebräisch-Unterricht zu erteilen. Was steckt dahinter? Darvari war auf die Militärschule gekommen. Wozu brauchte er Hebräisch?« »Er brauchte es gar nicht«, sagte Fărămă eingeschüchtert. »Aber das ist, wie gesagt, eine lange Geschichte, und alles, was geschehen ist, steht in Zusammenhang mit Oana. Sie müssen wissen, daß Lixandru im Herbst 1916 Bukarest verließ. Viele Leute flüchteten damals aus der Hauptstadt. Als er im Jahre 1918 als Sechzehn- oder Siebzehnjähriger zurückkam, trat er im Gymnasium Spiru Haret in die vi. Klasse ein. Er hatte inzwischen privat gelernt und in Jassy Prüfun67
gen abgelegt. Ein Jahr später trat Darvari in die Militärschule in Târgul-Mureş. ein. Eines Tages suchte Lixandru den Rabbiner in der Calea Moşilor auf – was ihn dazu veranlaßte, weiß ich nicht – und sagte ihm: ›Sie werden mich vielleicht nicht erkennen, ich bin Lixandru, der Freund von Iozi. Ich möchte wissen, was mit ihm geschehen ist, und darum bin ich zu Ihnen gekommen. Hätte Iozi gelebt, Sie hätten ihn längst in Hebräisch unterrichtet. Nun möchte ich bei Ihnen das lernen, was Iozi bei Ihnen gelernt hätte.‹ Der Rabbiner antwortete ihm zunächst nicht, sondern sah ihn lange, in Gedanken versunken, an und sagte ihm schließlich: ›Nun gut, ich will Ihnen Unterricht erteilen. Kommen Sie jeden Tag in der Früh, eine Stunde bevor Sie in die Schule gehen, und jeden Nachmittag, eine Stunde vor Sonnenuntergang, zu mir.‹ So kam es, daß Lixandru Hebräisch zu lernen anfing. Da er ein fleißiger, intelligenter Junge war, konnte er zwei Jahre später, als er sein Abitur bestand, bereits so viel, daß er Stellen aus dem Alten Testament ebenso mühelos übersetzte wie Verse seiner Lieblingsdichter. Ich vergaß nämlich zu sagen, daß Lixandru eine Träumernatur war und bereits in der Volksschule eine Vorliebe für Gedichte hatte. Im Gymnasium beschäftigte er sich hauptsächlich mit Lyrik. Er hatte einen sehr eigenen Geschmack. Als Sechzehnjähriger waren Calderón, Camões, Sa de Miranda seine Lieblingsdichter.« »Lassen Sie das«, unterbrach ihn Dumitrescu. »Sa68
gen Sie mir lieber, was Lixandru veranlaßt hat, Darvari in Hebräisch zu unterrichten. Für Darvari gab es in der Militärschule genug Kopfzerbrechen mit anderen Dingen. Wozu brauchte er noch Hebräisch, vor allem, da er doch Pilot werden wollte?!« »Der Einfall, ihn in Hebräisch zu unterrichten, kam Lixandru gerade, als er hörte, daß sein Freund den Fliegerberuf ergreifen wollte. ›Dann mußt du mit mir kommen, um Iozi zu suchen‹, hatte er ihm gesagt, ›und dazu mußt du Hebräisch lernen. Denn Iozi, mußt du wissen, ist nicht tot. Wäre er gestorben, man hätte seinen Leichnam gefunden‹, fügte er hinzu. ›Also muß er irgendwo hier auf Erden sein, nur sehen wir ihn nicht oder suchen ihn nicht gründlich genug. Doch ich werde es schon herausbekommen, wie man ihn suchen muß.‹ Daraufhin fing er an, seinem Freund Stunden zu geben. Er unterrichtete Darvari nur während der Ferien, hatte ihm aber eine hebräische Grammatik und ein Wörterbuch gekauft und hielt ihn an, auch in Târgul-Mureş, auf der Militärschule, dieses Studium nicht zu vernachlässigen. Doch Darvari hatte weder Lixandrus außergewöhnliches Gedächtnis noch dessen Eifer. Deswegen glaube ich nicht, daß er viel gelernt hat. Ein Grund dafür wird wohl auch die Tatsache gewesen sein, daß die Jungens in jenen Jahren 1919–1920 wieder mit Oana zusammenkamen, die sie natürlich vom Lernen ablenkte. Sie suchten das Mädchen an Samstagabenden auf, blieben bei ihr, in der Schenke ihres Vaters, oder holten sie zum Spaziergang ab. 69
Sie fuhren jedoch nie mit ihr ins Zentrum, sondern zogen den Stadtrand vor, wo man Oana kannte, und sie sich ihretwegen nicht zu schämen brauchten. Sie durchstreiften mit ihr die Felder und Wiesen. Oana ging singend in ihrer Mitte, sie stimmten in den Gesang ein, und wenn sie sich in mondhellen Nächten ins Gras warfen oder unter einen Maulbeerbaum setzten, um auszuruhen, rief Lixandru dem Mädchen zu: ›Ich werde über dich schreiben. Mit dir begründe ich eine neue Mythologie!‹ Von allen Jungens hatte Oana ihn am liebsten.« »Lassen Sie Oana«, unterbrach ihn Dumitrescu. »Ich sagte Ihnen schon, daß wir vor allem an Darvari interessiert sind.« »Über ihn wollte ich Ihnen ja gerade erzählen«, lächelte Fărămă verwirrt. »In den Ferien war er ja mit von der Partie. Besonders im Sommer 1919 und während der Ostertage 1920. Diese langen Spaziergänge mit Oana waren schuld daran, daß Darvari nie ordentlich Hebräisch lernte. Die Burschen verbummelten halbe Nächte, obwohl keiner von ihnen älter als siebzehn Jahre war. Nachdem sie sich stundenlang im Freien herumgetrieben hatten, kamen sie gegen zwei, drei Uhr morgens, wenn Tunsu schon schlafen gehen wollte, in die Schenke zurück und bewogen die Zigeunermusikanten, ihnen noch aufzuspielen. Außer ihnen blieb nur noch manchmal ein vereinzelter Trunkenbold sitzen, der aber niemals Radau schlug, weil er Angst vor Oana hatte. So war denn das junge Volk unter sich und feierte 70
Feste über Feste. Sie tranken mit Maß. Lixandru rührte den Wein kaum an, war jedoch beschwingter als alle anderen. Seine Begeisterungsfähigkeit war groß, und er war unermüdlich im Rezitieren von Gedichten. Er sprang auf den Tisch, stützte sich auf Oanas Schulter, strich sich das Haar zurück und trug Verse seiner Lieblingsdichter vor. Keiner außer ihm verstand Spanisch, dennoch lauschten sie alle gespannt und verschlangen ihn mit den Blicken. Als Lixandru einmal seinen Vortrag beendete, standen Oana Tränen in den Augen. Während sie ihn einmal ganz verträumt ansah, trat ein junges Paar in die Schenke ein. Der elegant gekleidete, gut aussehende Jüngling war kaum viel älter als Lixandru. Er machte eine düstere Miene und lächelte herausfordernd. Er hatte offenkundig einen leichten Rausch, und als er Lixandru ein Gedicht von Calderón rezitieren hörte, sagte er verächtlich: ›Ihr seid wohl nicht Rumänen?!‹ Seine Begleiterin aber starrte Oana an und rief aus: ›Sie ist es! Oh, du herrliche Statue!‹ Die junge Frau war von ungewöhnlicher Schönheit, doch sehr exzentrisch gekleidet. Sie klatschte sogleich entzückt in die Hände, musterte Oana, als wäre sie ein Kunstwerk, streifte sich den Armreif ab und reichte ihn dem Mädchen mit den Worten: ›Ein bescheidenes Geschenk von Zamfira.‹ Wie die Jungens später erfuhren, hieß sie gar nicht so, aber sie nannte sich gerne Zamfira, und ihren Begleiter, der ihr Cousin war und Dragomir hieß, nannte sie Dionys. Wie ich später erfuhr, hatten diese beiden Leute, die aus 71
dem Geschlecht der Calomfirs stammten, vieles durchgemacht. Damit Sie begreifen, was den beiden zugestoßen war, und besonders, was noch folgte, müssen Sie das Leben ihres Ahnherrn, des Bojaren Calomfir, kennen.« »Fărămă«, unterbrach Dumitrescu ihn streng. »Ich habe Sie ins Blaue hinein schwätzen lassen, weil ich sehen wollte, wie lange Sie meine Geduld auf die Probe zu stellen gedenken. Ohne Grund schwatzen Sie ja nicht dieses ungereimte Zeug zusammen, etwas bezwecken Sie damit. Vielleicht glauben Sie, sich auf diese Weise leichter aus der Sache zu ziehen. Aber bei mir sind Sie an die falsche Adresse geraten. Beschränken Sie sich in Ihrem Bericht auf Darvari. Wie oft soll ich das wiederholen?« »Gerade über ihn wollte ich Ihnen ja erzählen«, entschuldigte sich der Alte. »Die Nacht, in der Zamfira in die Schenke hineinschneite, war ja auch für sein Leben entscheidend. Dieses Mädchen war, wie ich Ihnen bereits sagte, von ungewöhnlicher Schönheit, und Darvari verliebte sich auf der Stelle in sie. Er konnte die Augen nicht mehr von ihr lassen, war wie behext von ihr. Lixandru empfing die Gäste damals bei aller Höflichkeit äußerst kühl. Als er sie fragte, was sie zu so später Stunde dorthin geführt hätte, und Dragomir ihm erwiderte, er hätte einen Mordsdurst, die Dame an seiner Seite aber wäre auf der Suche nach einem Modell, wollte Lixandru sie hinauskomplimentieren. Er sagte ihnen: ›Es tut mir leid, aber um drei Uhr morgens, wenn Gott hernieder72
steigt und auf Erden wandelt, möchten wir unter uns bleiben.‹ Da gab Darvari seinem Freund durch ein Zeichen zu verstehen, es wäre ihm nur recht, wenn die beiden sich zu ihnen gesellten. Zamfira entging es nicht, daß Darvari sich für sie einsetzte. Sie trat auf ihn zu, ergriff seine Hand und sagte zu Lixandru: ›Sehen Sie, Ihr Freund hat nichts dagegen, daß wir mitfeiern.‹ Darvari erblaßte vor Seligkeit und redete Lixandru zu: ›Laß sie doch bleiben! Vielleicht haben auch sie ihre geheimen Zeichen.‹ Darauf hatte Dragomir verächtlich erwidert: ›Wenn ihr Streit wollt, so könnt ihr ihn haben. Euch fühle ich mich noch gewachsen! Wenn mir jemand Angst einjagt, so ist es die da, Zamfiras ‘Modell’. Gegen sie müßte ich schon von der Waffe Gebrauch machen. Ich müßte meine Pistole laden, und wer weiß, wo ich sie dann treffe. Es könnte ein Skandal entstehen.‹ Als Oana das hörte, fing sie zu lachen an und rief: ›Ich fürchte mich nicht vor deiner Kugel, Bojar, mir kann dein Blei nichts anhaben.‹ ›Es sind gar nicht Kugeln aus Blei‹, entgegnete der junge Mann. ›Bei jedem Knall schießt fünferlei Tinte hinaus.‹ Darauf zog er seine Pistole aus der Tasche und zeigte sie allen. Sie sah wie ein Browning aus, doch statt Patronen war eine Knallkapsel drin und an der Spitze ein Kügelchen mit farbiger Flüssigkeit. ›Diese Pistole habe ich soeben aus London bekommen. Sie ist für moderne Duelle sehr geeignet, man kann den Kampf sogar im Salon austragen. Eine Pistole mit fünf farbigen Kugeln!‹ So kam es 73
denn, daß sie die ganze Nacht zusammen durchzechten, und als bei Tagesanbruch der Schankwirt erschien, zog Dragomir ein Päckchen Banknoten aus der Tasche und wollte zahlen. Oana aber ließ es nicht zu. ›Um drei Uhr morgens, wenn, wie Lixandru so schön sagt, Gott herniedersteigt und auf Erden wandelt, seid ihr alle meine Gäste.‹ Vor der Schenke wartete der Wagen, mit dem das Paar gekommen war. Die beiden nahmen so viele der Jungens mit, als sie im Wagen Platz hatten, und natürlich waren Lixandru und Darvari darunter. Dragomir freundete sich sehr bald mit Lixandru an und Darvari mit Zamfira. Dieses Mädchen war ein seltsames Geschöpf. Sie frisierte sich nie wie andere, sondern trug das Haar entweder schulterlang oder im Nacken zusammengebunden. Sie schminkte sich nicht und kleidete sich altmodisch und sehr eigenwillig. Darvari war ganz verrückt nach ihr und glaubte, seine Kadettenuniform würde Eindruck auf sie machen, doch Zamfira …« In diesem Augenblick läutete das Telefon. Dumitrescu streckte die Hand aus, hob den Hörer ab, und die Röte stieg ihm ins Gesicht, sobald er die ersten Worte vernahm. »Ja, er ist bei mir«, sagte er und hörte weiter. »Gut, wir werden tun, was Sie wünschen. Ich habe begriffen«, fügte er hinzu und legte auf. »Das genügt für heute«, wandte er sich an Fărămă. Er schien über etwas nachzugrübeln, und Fărămă empfand plötzlich große Sympathie für ihn. 74
»Sie werden auch noch von anderen Personen verhört werden«, fing Dumitrescu wieder zu sprechen an. »Es ist in Ihrem eigenen Interessse, Borza nicht mehr zu erwähnen. Beschränken Sie sich auf Lixandru und Darvari. Dieser Borza war gar nicht Ihr Schüler in der Mântuleasa-Straße. Er hat gar keine Schule besucht, nicht einmal die Volksschule. Man ist draufgekommen, daß er ein Agent der faschistischen Sicherheitspolizei gewesen ist, ein Rowdy aus Tei *. Er hat sich durch falsche Angaben in die Partei geschwindelt. Ich denke, Sie haben mich verstanden«, fügte er hinzu und drückte auf den Knopf. »Ich habe verstanden und danke Ihnen sehr«, sagte Fărămă, stand geschwind auf und verneigte sich respektvoll.
* Vorstadtviertel
75
VI In der folgenden Woche rief Kommissar Dumitrescu ihn nicht mehr zum Verhör, doch Fărămă schrieb weiter seine Berichte, und der Gefängniswärter kam regelmäßig, um die beschriebenen Blätter abzuholen und ihm neues Papier zu bringen. »Kommen Sie nur ’raus, ich habe eine Überraschung für Sie«, sagte ihm der Aufseher eines Tages geheimnisvoll. Fărămă legte den Federhalter auf das Löschpapier, schloß das Tintenfaß und stand auf. Im Flur erwartete ihn ein elegant gekleideter junger Mann. »Sind Sie Zaharia Fărămă?« fragte er ihn. »Jawohl.« »Kommen Sie mit mir.« Sie fuhren in den Hof hinunter, überquerten ihn und betraten einen anderen Flügel des Gebäudes. Dort nahmen sie einen Aufzug, und Fărămă fiel es auf, daß der junge Mann ihn mit einem neugierigen Lächeln musterte. »Ich bin auch Schriftsteller«, sagte er dem Alten, als der Aufzug hielt. »Ihre Erinnerungen interessieren mich sehr.« Sie durchschritten mehrere Korridore, dann blieb der junge Mann vor einer massiven Eichentür stehen, klopfte an und bedeutete Fărămă einzutreten. Der Alte ging, wie es seine Art war, etwas vornüber gebeugt hinein. Als er die Frau am Schreibtisch er76
blickte, die ihn mit einem hochmütigen Lächeln empfing, begannen ihm die Knie zu schlottern. »Kennen Sie mich?« fragte sie. »Gewiß kenne ich Sie«, sagte Fărămă und verbeugte sich tief. »Sie sind doch Frau Minister Anca Vogel.« »Genossin Minister«, wies die Frau ihn zurecht. »Die gefürchtete Anca Vogel«, fügte Fărămă mit einem gezwungenen Lächeln hinzu. »So nennen Sie alle Leute: ›die gefürchtete Kämpferin‹.« »Ich weiß«, sagte die Frau und zuckte verächtlich mit den Achseln. »Ich frage mich, warum die Leute solche Angst vor mir haben, wo ich doch nur ihr Gutes will. Von meiner schlechten Seite lernen mich nur meine Nächsten kennen, und auch das nicht immer.« Fărămă wagte zum ersten Mal aufzuschauen. Er bewunderte diese Frau. Sie war noch unerbittlicher, als er sie sich nach den Fotografien vorgestellt hatte: Eine imposante Erscheinung von etwa fünfzig Jahren mit breitflächigem, stark gerunzeltem Gesicht, großem Mund, kurzem, dicken Hals und grauem Bubikopf. Sie rauchte unausgesetzt, reichte auch ihm ein Päckchen Lucky Strike über den Schreibtisch und fragte ihn: »Rauchen Sie? Nehmen Sie sich eine Zigarette und setzen Sie sich.« Fărămă verneigte sich wieder, griff ängstlich nach dem Päckchen Lucky Strike und setzte sich in den Sessel. »Das Feuerzeug liegt neben Ihnen«, sagte ihm Anca Vogel. »Ahnen Sie nicht, warum ich Sie zu mir kom77
men ließ? Ich habe einige Dutzend Seiten aus Ihrem Bericht gelesen. Sehr weit bin ich mit der Lektüre nicht gekommen, weil ich nicht viel Zeit zum Lesen habe. Aber was Sie geschrieben haben, hat mir gefallen. Wenn Sie die Flut Ihrer Erinnerungen eindämmen und Maß halten könnten, würden Sie ein großer Schriftsteller werden. Aber Sie können sich nicht beherrschen, Sie verlieren den Faden und versanden. Ich habe verlangt, daß man mir Auszüge aus Ihrem Bericht macht. Mich interessieren vor allem die Stellen über Oana. Ich wollte gern ihre Geschichte von Anfang bis zu Ende kennenlernen. Aber es ist mir nicht gelungen. Ich weiß immer noch nicht, was schließlich mit ihr geschehen ist. Ihr Bericht ist zu weitschweifig.« »Sie haben vielleicht recht«, gab Fărămă zu und senkte wieder seinen Kopf. »Ich bin ja kein Schriftsteller, ich schreibe, wie und was mir halt einfällt. Aus dem Zusammenhang gerissen, ist Oanas Geschichte auch nicht leicht zu verstehen. Man darf nicht außer acht lassen, daß sie die Tochter von Fănică Tunsu und, was noch wichtiger ist, die Enkelin des Waldhüters war. Alles, was ihr zugestoßen ist, rührte vom Eidbruch ihres Großvaters her. Das hat ihr Schicksal bestimmt, denn auf ihr ruhte der Fluch des ältesten Sohnes des Paschas von Silistra.« »Das werden Sie mir ein andermal erzählen«, unterbrach ihn Anca Vogel. »Ich möchte zunächst wissen, was mit Oana nach Kriegsende geschehen ist, als sie ins Gebirge fortzog. Wann war das?« 78
»Im Sommer des Jahres 1920.« »Haben Sie Oana damals gesehen? Wie sah sie aus?« »Wie eine Statue. Sie war mittlerweile achtzehn Jahre alt geworden und nahezu zwei Meter vierzig hoch.« »War sie hübsch?« »Sie war schön wie die Statue einer Göttin. Sie war die verkörperte Venus. Das rotblonde Haar fiel ihr über die entblößten Schultern, sie hatte eine wohlgeformte Brust, deren Anblick einen ganz verwirrte, leidenschaftliche schwarze Augen, einen vollen, roten, sinnlichen Mund und den sanften Gesichtsausdruck eines himmlischen Wesens. Doch sie war zwei Meter vierzig hoch, und daher wagte sich niemand an sie heran. Wenn man sie angezogen sah, flößte sie einem Schrecken ein. Wäre sie nackt herumgelaufen, man hätte sie für eine Göttin gehalten und hätte keinen Anstoß an ihr genommen. Man hätte sich an den Anblick viel rascher gewöhnt, ihre Dimensionen wären einem durchaus natürlich erschienen.« »Nun, erzählen Sie mir einiges über dieses Mädchen!« forderte Anca Vogel ihn auf, während sie sich die nächste Zigarette anzündete. »Eines Tages ging sie zu ihrem Vater und sagte ihm: ›Nun, da meine Zeit gekommen ist, will ich ins Gebirge fortziehen, denn dort hoffe ich einen passenden Mann zu finden.‹ Und so zog sie fort. Sie nahm zunächst den Zug, aber unterwegs versuchten Soldaten, mit ihr anzubandeln, und Oana schlug sie alle zu79
sammen. Als sie zudringlich wurden, zog sie ihnen die Hosen herunter und schlug sie mit der flachen Hand auf den Hintern, wie man unartige Kinder verprügelt. Die jungen Männer sahen ja, daß sie es mit einem nahezu zwei Meter vierzig großen Riesenweib zu tun hatten, dennoch hatten sie ihr nicht eine solch herkulische Kraft zugetraut. Sie konnten die ihnen angetane Schmach nicht verwinden und zwangen das Mädchen schließlich, in Ploeşti auszusteigen. So setzte sie denn ihren Weg zu Fuß fort, marschierte, den Brotsack umgehängt, singend von Dorf zu Dorf und war in weniger als einer Woche in den Karpaten angelangt. Ihr Vater hatte ihr genügend Geld mitgegeben, so daß sie unterwegs in Gasthäusern rasten und sich etwas zum Essen kaufen konnte. Sobald sie satt war, ging sie singend weiter, badete am hellichten Tag nackt im Fluß und kümmerte sich nicht darum, wenn die Leute die Hunde auf sie hetzten oder Kinder mit Steinen nach ihr warfen. Sie stieg, immerfort singend, hinauf, und wenn die Hunde sich an ihre Fersen hefteten, sprach sie ihnen ruhig zu und streichelte sie, so daß sie ihr die Hand leckten wie ihrem Herren und an ihr hochsprangen, als hätte sie sie großgezogen. Am fünften Abend ihrer Wanderung kam sie zu einer Sennhütte am Fuße des Königssteins. Als die Hirten das barfüßige Riesenweib mit umgehängtem Brotsack laut singend auf sich zukommen sahen, erstarrten sie und hetzten die Hunde auf sie. Doch die großen Schäferhunde schmiegten sich, mit dem Schweif wedelnd, an Oanas 80
Beine. Das Mädchen trat auf den alten Sennen zu und sagte ihm: ›Nehmen Sie mich in ihren Dienst auf, ich will gerne jede Arbeit verrichten und verlange keinen Lohn. Ich warte nämlich hier in dieser Gegend auf einen Mann.‹ Anfangs wollte der Senne sie nicht aufnehmen. Er sagte, er brauche kein Riesenweib bei sich auf der Alm, doch Oana übernachtete in einer Höhle in der Nähe und kam am nächsten Tag wieder in die Hütte. Sie räumte auf, und der Senne tat so, als bemerke er sie nicht. Als abends die Hirten mit den Schafen zurückkamen, forderte Oana die Männer zum Ringkampf auf. Sie gab ihnen einen Vorteil, indem sie selber hinkniete, während die anderen zum Kampfe antraten. Dennoch besiegte das Mädchen sie alle. Sie drückte einem nach dem anderen die Schultern auf den Boden. Innerhalb einer Woche sprach sich die Begebenheit in der ganzen Gegend herum, und es kamen Hirten von allen Bergen ringsum, sahen das Wunder und bekreuzigten sich. Am Abend badete Oana nackt im Bach, und die Hirten konnten sich an ihrem Anblick nicht sattsehen. Sie erregte alle so sehr, daß einer nach dem anderen sich ein Herz faßte und nachts zu ihrem Lager schlich, um mit ihr zu schlafen. Oana aber stieß sie alle von sich und legte sich wieder hin. Eines Nachts versuchten fünf Kerle, sie zu vergewaltigen. Sie überfielen sie im Schlaf, faßten sie an Händen und Füßen, doch Oana, kaum wach geworden, setzte sich auf, straffte ihre Muskeln und stieß sie mit solcher Wucht von sich, daß sie laut jammernd das Weite suchten.« 81
»Eine großartige Frau!« sagte Anca Vogel lächelnd. »Ja, sie war wirklich großartig«, nickte Fărămă. »Seit jener Nacht wagten sich die Hirten nicht mehr an sie heran. Sie lauerten ihr nur auf, wenn sie baden ging, schlichen ihr nach, und ihr Blut geriet bei ihrem Anblick in Wallung. In mondhellen Nächten tanzte Oana nackt; sie sang und hüpfte übermütig herum, und ihr gelöstes Haar fiel ihr bis auf den Rücken. Manchmal faltete sie auch ihre Hände zum Gebet, aber die Burschen verstanden nicht, was sie vor sich hin murmelte. Nur der alte Senne schlich sich einmal ganz nah an sie heran, duckte sich hinter ein Gebüsch, und als er ihre Worte hörte, wurde es ihm unheimlich zumute. ›Verheirate mich, edle Dame!‹ flehte Oana mit erhobenen Armen Frau Luna an. ›Bescher mir einen Gatten, der zu mir paßt, denn ich will keine alte Jungfer bleiben. Gott hat einen Fehlgriff begangen, als er mich schuf, und hat mich vergessen. Ihr aber, edle Dame, kreist dort oben am Himmel und könnt weit und breit alles sehen. Haltet gut Umschau und findet mir einen hochgewachsenen Mann, der zu mir paßt!‹ In jener Nacht faßte der Senne einen Entschluß. Er wußte, daß das Mädchen nur bei Vollmond mitten in der Nacht baden ging. So wartete er denn, bis der Mond im Abnehmen war, und überraschte sie eines Nachts im Schlaf. Als sie ihren Namen rufen hörte, fuhr sie auf und tappte schlaftrunken um sich. Da versetzte der Senne ihr mit dem Ochsenziemer einen Hieb auf den Hals. Oana stürzte zu Boden, der Senne 82
zerrte sie aufs Lager zurück und vergewaltigte sie. Dann rief er auch die anderen herbei, und alle Hirten schliefen der Reihe nach mit ihr. Als Oana am Morgen erwachte und ganz taumelig zum Bach ging, um sich zu waschen, sagte sie hell auflachend dem Sennen: ›Vielen Dank, das wird mir eine Lehre sein.‹« »Ein unverwüstliches Weib!« sagte Anca Vogel. »Ja, sie war unverwüstlich, und der Senne hatte sich da etwas Schönes eingebrockt. Seine Dreistheit sollte ihn teuer zu stehen kommen. Gleich in der nächsten Nacht ließ Oana alle Hirten der Reihe nach zum Liebesdienst antreten und bearbeitete sie so, daß sie sich in der Früh nicht auf den Beinen halten konnten. Sie wagten kaum, die Schafe auf die Weide hinauszutreiben, überließen sie dann der Obhut der Hunde und legten sich aufs Ohr. Oana aber war auf den Geschmack gekommen und gab ihnen auch tagsüber keine Ruhe. Sie spürte ihnen nach, und kaum sah sie einen von ihnen friedlich im Schatten liegen, rüttelte sie ihn wach und bearbeitete ihn. Die Hirten hatten allmählich genug von ihr, sie versuchten unter allerlei Vorwänden, sich zu drücken, doch Oana duldete keine Ausflüchte. Sie war unerbittlich. Wenn der Hirte, mit dem sie gerade geschlafen hatte, fort wollte, fragte sie ihn nach seinem Namen. ›Ich bin Dumitru‹, sagte der Bursche. ›Und wo steckt dein Freund Petru? Den habe ich heute gar nicht zu Gesicht bekommen‹, warf Oana ihm vor. ›Er hat sich nicht wohl gefühlt‹, versuchte der Hirte den ande83
ren zu entschuldigen. ›Wenn Petru nicht gleich hier ist, wirst du diese Nacht kein Auge zumachen‹, drohte Oana. Der Bursche eilte zur Almhütte und weckte seinen Freund. ›Steh auf, Brüderchen, denn, wenn du mich nicht ablöst, plagt sie mich so sehr, daß ich den morgigen Tag nicht mehr erlebe.‹ ›Ich bin müde‹, versuchte Petru sich herauszureden, ›nimm doch Marin mit!‹. ›Der war schon dran‹, erwiderte Dumitru. ›Komm nur, hast genug auf der faulen Haut gelegen‹, der andere ließ nicht locker. In zwei Wochen waren die Hirten ganz von Kräften gekommen. Sie versuchten, Oana aus dem Weg zu gehen, tauchten in der Almhütte nur flüchtig auf, wenn sie abends die Schafe in den Pferch trieben, und verkrochen sich dann zum Schlafen in entlegene Schluchten. Oana schlich sich auch mehrmals des Nachts zum Lager des älteren Sennen, doch der war nun gewitzigt und hatte, auch wenn er schlief, den Ochsenziemer immer griffbereit. ›Komm nicht näher, Mädel, sonst hau ich zu‹, fuhr er sie an. ›Ich bin ein alter Mann und will noch meine Kinder wiedersehen. Ich möchte bei uns im Dorf, unten im Tal, begraben werden.‹ Oana übte Nachsicht, fühlte Erbarmen mit ihm, und sie brach mitten in der Nacht auf, um die anderen Hirten aufzustöbern. Bald sprach es sich überall im Gebirge herum, was Oana dort trieb, und es strömten Hirten aus allen Himmelsrichtungen herbei, und Oana wälzte sich mit ihnen die ganze Nacht auf ihrem Lager, so daß sie morgens viel zu müde waren, um noch zu ihren Herden zurückzukehren. Die 84
Schafe, die sie in der Obhut der Hunde gelassen hatten, verirrten sich, glitten aus und stürzten in den Abgrund, und das ganze Gebirge hallte unheilverkündend von dem Geheul der Hunde und dem Geblöke der Schafe wider, die in finsteren Schluchten verreckten. Oana war bald auch in den Dörfern, unten im Tal in aller Munde, und die Blüte der Jugend stieg hinauf, um ihrer Gunst teilhaftig zu werden. Oana empfing alle der Reihe nach, aber nach zwei, drei Nächten mit ihr waren sie so erschöpft, daß manche von ihnen gar nicht mehr zurück ins Dorf konnten, sondern am Straßenrand zusammensackten und den ganzen Tag und auch die Nacht darauf so fest schliefen wie nach einer langen, schweren Krankheit. Voller Sorgen sahen die Frauen in den Dörfern, daß Oana ihnen die Männer abspenstig machte. Wen Oana einige Nächte bei sich oben in die Arbeit genommen hatte, der taugte, wenn er wieder ins Tal herunterkam, im Ehebett zu nichts mehr. Die Frauen versuchten durch allerlei Zaubermittel gegen sie aufzukommen. Als das jedoch nicht half, beschlossen sie, Gewalt anzuwenden: Sie wollten sie in Stücke reißen, sie unter ihren Füßen zertrampeln. Fünfzig Bäuerinnen taten sich zusammen und stiegen ins Gebirge hinauf. Als sie jedoch Oana nackt im Bach baden sahen, waren sie verblüfft von der Schönheit des Mädchens, das seine Blicke über Felsen und Gräser schweifen ließ und überall nach einem keuschen Jüngling Ausschau hielt. Und als Oana, mit den Zöpfen ihre Brust bedeckend, nackt vor sie hin85
trat und sie fragte, was sie wünschten, faßte sich eine der Frauen ein Herz und sagte ihr: ›Wir sind gekommen, um dich zu verwünschen, weil du unsere Männer verführt hast. Nun aber, da wir dich gesehen haben, erkennen wir, daß wir armen Weiber mit unseren Zaubersprüchen bei dir nichts ausrichten würden, denn du bist nicht unseresgleichen, du bist vom Geschlecht der Riesen. Du stammst sicherlich von jenen Judenriesen ab, die unseren Herrn Jesus Christus gemartert haben. Nur sie dürften so groß und kräftig gewesen sein, da sie selbst Gottes Sohn bezwingen konnten. Wenn dem aber so ist, würden all unsere Zaubermittel ihre Wirkung verfehlen. Dennoch bitten wir dich: Laß doch unsere Männer in Ruhe. Die sind nichts für dich. Sie taugen kaum für uns gottesfürchtige Frauen. Kehr heim, von wo du gekommen bist, und such dir dort einen passenden Mann. Nur in der Gegend, in der du geboren bist, kannst du den Sohn eines Riesen finden. Mit dem würdest du in jeder Hinsicht übereinstimmen. Nur er wäre der richtige Gatte für dich.‹ Oana aber erwiderte ihnen: ›Wenn ich hierherkam, meine Lieben, so tat ich es mit Bedacht. Mir war es vorherbestimmt, einen Mann im Gebirge zu finden. Eines Tages wird er auf zwei Pferden geritten kommen, um mich zu holen. Ja, das ist das Zeichen, an dem ich ihn erkennen werde. Hätte der alte Senne, dieser Schuft, mir nicht mit dem Ochsenziemer einen Hieb auf den Hals versetzt, ich hätte nichts von einem Mann gewußt. Denn, so oft sie es auch bei 86
mir versucht hatten, war es keinem der Hirten bisher gelungen, mich aufs Kreuz zu schmeißen. Nur durch Tücke haben sie mich gefügig gemacht, so daß mich keine Schuld trifft, wenn ich nun wild nach Männern bin. Schließlich bin auch ich aus Fleisch und Blut.‹ ›Mädel, einen Mann, der auf zwei Pferden zugleich reitet, gibt es hier, in dieser Gegend, nicht‹, schrie eine der Frauen. ›Wenn du aus dem Geschlecht der Riesen bist, brauchst du einen Drachen. Nur er würde zu dir passen. Mit einem solchen solltest du dich paaren. Lauf auf den Bergen nackt herum, und du wirst sehen, daß sich einer zu dir gesellt.‹ Oana sah die Frau groß an und lächelte: ›Ich danke dir‹, sagte sie, ›ich werde deine Worte beherzigen.‹ Am folgenden Tag zog Oana ein zerfetztes Kleid an, das einzige, das sie noch besaß, hing sich den Brotsack um die Schulter, bedankte sich beim Sennen für seine Gastfreundschaft und machte sich auf den Weg in ein Dorf, das unten im Tal lag. Die Hunde begleiteten sie bis weit. Noch ehe sie das Dorf erreicht hatte, sah sie aus der Ferne auf einem Hügel einen mächtigen Stier. Auch er erblickte sie, wandte sich nach ihr um und neigte feindselig seinen Nacken, als wollte er sie aufspießen. Es war ein ungewöhnlich starker Stier, eine Märchenerscheinung, doch ein richtiger Stier«, fügte Fărămă hinzu und räusperte sich verlegen. »Nehmen Sie eine Zigarette«, forderte Anca Vogel ihn auf. 87
»Ich danke Ihnen«, sagte Fărămă und verbeugte sich mehrere Male. Er zündete sich eine Zigarette an, zog den Rauch ein und fuhr lächelnd fort: »Ja, das war es. Seit jenem Abend wich der Stier nicht mehr von Oanas Seite. Er folgte ihr wie ein Schatten und ließ niemand an sie heran. Es war Ende Juli und ein überaus heißer Sommer. Oana warf den Fetzen vom Leibe und lief Tag und Nacht nackt herum. Das Gebrüll des Stieres aber hallte in mondhellen Nächten in sieben Tälern wider und riß die Leute erschreckt aus dem Schlaf. So waren alle Zeuge, wie Oana mit flatternden Haaren nackt über den Bergkamm rannte und der Stier hinterdrein. Sie sahen, wie Oana plötzlich im Laufen innehielt, sich vornüber beugte und dann laut aufschrie, wenn der Stier in sie eindrang. Der Stier schlug mit den Hufen aus und brüllte ohrenbetäubend, während er sie besprang. Eine ganze Weile blieben die beiden so vereint, und die Leute aus dem Dorf begafften sie.« »Ein tolles Weib!« rief Anca Vogel aus. »Ja, ein tolles Weib!« stimmte Fărămă ihr zu. »Oanas Treiben wurde bald in allen Dörfern ringsum ruchbar. Das Gerücht verbreitete sich auch in Bukarest und gelangte auch zu den Ohren ihres Großvaters. Als der Waldhüter das hörte, bekreuzigte er sich und rief aus: ›Gott sei Dank, daß ich diesen Tag noch erlebt habe! Endlich hat sich Selims Fluch erfüllt.‹ Darauf ging er ins Kloster zur Beichte, empfing die heilige Kommunion und sagte: ›Von nun an brauche 88
ich mich vor Selims Fluch nicht mehr zu fürchten. Ich bin zwar schon alt, aber vielleicht wird es mir noch vergönnt sein, eine junge Frau zu finden und wieder einen Sproß zu zeugen, auf dem nicht mehr Selims Fluch ruhen wird.‹ Der Waldhüter war schon hundert Jahre alt, aber immer noch ein rüstiger Mann und heiratete noch im gleichen Herbst eine dreißigjährige Witwe. Ein Kind bescherte ihm Gott jedoch nicht mehr. Diese Witwe, die Floarea hieß, war aus Ţigăneşti und hatte ihre eigene Geschichte …« »Die Witwe interessiert mich nicht«, unterbrach Anca Vogel ihn. »Erzählen Sie mir, was mit Oana geschehen ist.« »Es bekamen auch die Behörden Wind von der Sache. Die Gendarmerie schickte Patrouillen ins Gebirge, und auch die Bauern nahmen ihre Heugabeln und Knüppel, oder was sie gerade zur Hand hatten, und zogen damit gegen die beiden ins Feld. Gegen Morgengrauen stöberten sie Oana und den Stier in einer Schlucht auf. Dort hatte sich das Paar versteckt und auf ein Lager gebettet. Der Stier stürzte sich sogleich auf die Eindringlinge, um sie aufzuspießen und unter seinen Hufen zu zertrampeln, doch die Gendarmen legten das Gewehr an und töteten ihn. Oana sagte kein Wort. Sie warf das zerfetzte Kleid über, hing sich den Brotsack um, und als die Gendarmen ihr Handschellen anlegen wollten, sagte sie ihnen: ›Ihr braucht mich nicht zu fesseln, ich komme freiwillig mit.‹ So stieg sie, von Gendarmen eskortiert 89
und von den Bauern verhöhnt, erhobenen Hauptes und ein Lächeln auf den Lippen, hinab ins Tal und sah immerzu erwartungsvoll nach Osten, wo die Sonne aufging. Die Leute beschimpften sie, nannten sie eine gottverdammte Hure, doch sie sagte nur dann und wann: ›Es ist nicht meine Schuld. Die Frauen haben es mir geraten.‹ Als sie unten im Dorf anlangten, stand die Sonne längst am Himmel. Der Bürgermeister und der Gendarmeriehauptmann warteten bereits, um Oana in Empfang zu nehmen. Aber sie kamen nicht dazu. Denn Oana blickte auf die Landstraße und erstarrte. Ein blonder, junger Hüne, eine stattliche Erscheinung, wie sie ihr noch nie begegnet war, ritt auf zwei Pferden geradewegs auf sie zu. Oana eilte ihm entgegen, sank vor ihm auf die Knie und fiel den Pferden in die Zügel. Die Gendarmen liefen ihr nach, doch der junge Hüne saß im Nu von den Pferden ab und hob Oana aus dem Staub. Als die Gendarmen den Riesenkerl sahen, wichen sie alle zur Seite. Der junge Hüne überragte Oana um eine Handbreit. Er hatte einen kurz gestutzten, hellblonden Bart und war seltsam gekleidet: weder wie ein Städter noch wie ein Bauer. Er nahm Oana bei der Hand, trat vor die Vertreter der Behörden hin und sprach in einwandfreiem Rumänisch: ›Ich bin Dr. Cornelius Tarvastu, Professor für romanische Sprachen an der Universität in Dorpat. Ich bin in die Karpaten gekommen, um die hiesige Mundart zu studieren. Auf einer Almhütte erzählte man mir von Oana. Ihret90
wegen bin ich hierher ins Tal heruntergestiegen, und wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich sie zur Frau.‹ Oana stand an seiner Seite und weinte. Die Leute wußten nicht, was sie tun sollten. Keiner wagte, etwas einzuwenden. Da trat der Bürgermeister auf die beiden zu und sagte: ›Viel Glück, Herr Professor, aber feiern Sie, bitte, die Hochzeit nicht hier bei uns!‹ ›Das habe ich gar nicht vor‹, entgegnete der Professor. ›Deswegen habe ich ja zwei Pferde mitgebracht, damit wir gleich weiterziehen können.‹ Aber sie bestiegen die Pferde nicht«, fügte Fărămă lächelnd hinzu. »Sie hatten wohl Angst, die armen Tiere könnten unter ihrer Last zusammenbrechen. So wanderten sie Hand in Hand fort, und die Pferde trotteten hinter ihnen her.« »Ein großartiges Weib!« sagte Anca Vogel in Gedanken versunken. »Und so verließen sie das Land?« »Sie verließen nicht gleich das Land, denn Oana brachte den Professor zunächst nach Obor. Sie wollte ihn ihrem Vater, dem Schankwirt, vorstellen. Und die Hochzeit feierten sie im Kloster Paserea. Oana hatte Dr. Tarvastu aber vor allem nach Bukarest gebracht, damit ihn auch die Jungens kennenlernten. In ihrer Heimatstadt hatte sie ja einen großen Bekanntenkreis, zu dem auch Lixandrus neue Freunde, darunter ein sehr seltsamer Bursche namens Dragomir Calomfirescu, gehörten.« »Schon gut, das werden Sie mir ein andermal erzäh91
len. Nehmen Sie das Päckchen Zigaretten mit«, fügte sie hinzu, nachdem sie auf einen Knopf gedrückt hatte. »Und sollten Sie irgendeinen Wunsch haben, äußern Sie ihn ohne Bedenken.« »Ich hätte nur eine Bitte«, erklärte Fărămă verlegen. »Würden Sie mir vielleicht gestatten, mir etwas wärmere Kleidung von zu Hause kommen zu lassen? Es ist ziemlich kalt geworden …« »Schon gut«, sagte Anca Vogel und schrieb ein paar Zeilen auf ein Notizblatt. »Geben Sie das dem Gefängniswärter.« »Ich danke Ihnen sehr«, sagte Fărămă und stand geschwind auf. »Vielen Dank auch für die Zigaretten.«
VII Ungefähr zwei Wochen lang wurde er nicht mehr zum Verhör gerufen. Am nächsten Tag hatte man ihm einen alten, aber wärmeren Rock von zu Hause gebracht. Es hatte mehrere Tage geregnet, und der Himmel war noch bewölkt. Übers Papier gebeugt, saß Fărămă am Tisch und schrieb. Aber er schrieb nicht mehr so schnell und so viel wie früher. Manchmal blieb er stundenlang, die Stirn auf die Hand gestützt, sitzen und zermarterte sich das Gehirn, um sich zu erinnern, ob er die eine oder andere Begebenheit schon einmal aufgeschrieben oder nur im Verlauf der zahlreichen Verhöre, denen Dumitrescu ihn am Anfang unterzog, erzählt hatte. Und weil es ihm nicht gelang, sich zu erinnern, schrieb er alles von neuem auf. Schließlich wurde er eines Nachts gegen elf Uhr vom Gefängniswärter geweckt. »Ziehen Sie sich an«, sagte der Mann in viel respektvollerem Ton, als wenn er ihn sonst zum Verhör zu holen pflegte. »Ziehen Sie sich möglichst schnell an!« Schlaftrunken begann Fărămă sich anzukleiden. Es fiel ihm nicht leicht, denn die Hände zitterten ihm. »Es ist plötzlich so kalt geworden«, entschuldigte er sich demütig. »Ich sollte es Ihnen nicht sagen, aber der Wagen wartet draußen«, flüsterte ihm der Gefängniswärter zu. »Beeilen Sie sich.« 93
Fărămă begann plötzlich am ganzen Leibe zu zittern. Erst als er, von zwei Gefängnisaufsehern eskortiert, auf die Straße hinaustrat und den Wagen warten sah, beruhigte er sich. ›Schlimmer kann es mir nicht ergehen‹, versuchte er sich einzureden. Zwei Geheimagenten stiegen wortlos zu ihm in den Wagen. Fărămă wagte nicht, sie anzusehen. »Es ist Herbst geworden. Es ist auf einmal so kalt. Es wird im Gebirge geschneit haben«, sprach er leise vor sich hin. Ohne sich in ein Gespräch mit ihm einzulassen, reichte der Agent, der zu seiner Rechten saß, ihm ein Päckchen Zigaretten und sagte kurz angebunden: »Zünden Sie sich eine Zigarette an. Das wird Sie erwärmen.« »Ich danke Ihnen«, sagte Fărămă und verbeugte sich tief, wie es seine Art war. »Sie müssen wissen, daß ich bereits eingeschlafen war und geträumt hatte. Ich kann mich an den Traum nicht mehr genau erinnern, aber als der Gefängnisaufseher mich wachrüttelte, lief es mir kalt über den Rücken. Ich sprang so jäh aus dem Bett, und die Kälte ist mir in die Knochen gefahren.« Darauf lächelte er schicksalsergeben und zündete sich die Zigarette an. Nach etwa zehn Minuten wurde der Wagen von einem Kordon mit Maschinenpistolen bewaffneter Milizsoldaten angehalten. Ehe der Fahrer ein Wort mit ihnen wechseln konnte, steckte einer der Agenten den Kopf zum Fenster hinaus und flüsterte ihnen etwas ins Ohr, worauf sie den Wa94
gen weiterfahren ließen. Sie kamen jedoch nur langsam vorwärts, und Fărămă sah vor allen Villen Milizsoldaten Wache halten. Er begriff, daß er sich im Viertel befand, in dem die hohen Parteibonzen residierten, und wieder überlief es ihn kalt. Zitternd stieg er, als der Wagen anhielt, aus und wurde von den Agenten zu einem verriegelten Tor geführt, an dessen beiden Seiten Milizsoldaten in Schilderhäusern Wache hielten. Die ganze Straße war taghell beleuchtet. Einer der Agenten läutete am Eingang, sagte etwas in die Sprechanlage, woraufhin das Tor aufging und sie eingelassen wurden. Im Flur wurden sie von einigen Milizsoldaten in Empfang genommen. Ein Mann, der, hinter den Milizleuten verborgen, auf einem Stuhl gesessen hatte, so daß man ihn beim Eintreten gar nicht bemerken konnte, trat nun auf Fărămă zu und tastete ihn nach Waffen ab. Dann bedeutete er, ohne ein Wort zu sprechen, ihm zu folgen. Er führte den Alten in einen hell beleuchteten Saal und dann über eine Innentreppe in eine Art Loggia. Dort hieß er ihn einen Augenblick warten und klopfte einige Male leicht an die Tür. Eine Frauenstimme antwortete: »Herein!« Der Mann faßte Fărămă am Arm, öffnete die Tür und stieß ihn ins Zimmer. »Guten Abend«, begrüßte ihn Anca Vogel, vom Aktenstoß aufsehend, den sie vor sich liegen hatte. »Treten Sie näher und nehmen Sie Platz.« Fărămă war ganz verwirrt. Zögernd näherte er sich dem Schreibtisch und verbeugte sich tief. 95
»Setzen Sie sich und zünden Sie sich eine Zigarette an«, sagte ihm Anca Vogel. Fărămă blickte scheu um sich: An den Wänden prunkvolle Schränke mit Büchern in kostbaren Einbänden. Auf dem Schreibtisch mehrere Päckchen Lucky-Strike-Zigaretten, einige Aschenbecher und eine große Blumenvase. Daneben auf einem niedrigen Tischchen zwei Flaschen Champagner, zwei Gläser und eine Fruchtschale. »Ich habe Sie hierherkommen lassen, weil ich im Ministerium zu wenig Zeit habe, um Sie anzuhören«, sprach Anca Vogel weiter. »Außerdem habe ich dort ernstere Angelegenheiten zu erledigen«, fügte sie lächelnd hinzu. »Ich hätte es gern gesehen, wenn auch einige unserer Schriftsteller Ihnen zuhörten. Vielleicht wird sich das später arrangieren lassen. Nun aber trinken Sie ein Glas Champagner. Das wird Ihnen guttun.« Sie nahm die Flasche und schenkte ihm ein Glas ein. »Ich danke Ihnen«, sagte Fărămă, sprang auf, um ihr das Glas aus der Hand zu nehmen und verbeugte sich mehrmals tief. »Das ist ja, wie ich sehe, ein Veuve Cliquot. Einen solchen Wein habe ich seit dem Krieg nicht mehr getrunken. Ich erinnere mich noch an die Worte des Doktors. ›Herr Zaharia‹, pflegte er zu sagen, ›sooft Sie einen Veuve Cliquot sehen oder trinken werden, denken Sie daran, daß dieser Champagner eine Wendung im Schicksal eines Menschen bewirken kann.‹ Ich wußte, worauf er anspielte«, fügte Fărămă hinzu, stellte das Glas auf dem Rand des Schreibtisches ab und setzte sich wieder in den 96
Sessel. »Ich vermutete es mehr, als ich es wußte, ich erriet es aus dem, was der Waldhüter mir erzählt hatte. Dem Doktor war nämlich folgendes passiert: Seine Mutter war eine Griechin aus Smyrna, und sein Vater besaß ein Gut in Dor-Mărunt, im Bărăgan. Seine Mutter wollte ihn unbedingt mit einer Griechin, einer ihrer Nichten, namens Caliopi, verheiraten. Dieser Familienzweig lebte immer noch in Smyrna, und damit er seine Cousine näher kennenlernen sollte, schickte sie ihn in jedem Winter, zu Weihnachten, dorthin. Soviel ich verstanden habe, verliebte sich der Doktor auch wirklich in das Mädchen, und es wurde sogar die Verlobung festgesetzt. Man wartete nur auf seine Eltern, die ja in Rumänien lebten. Es kam jedoch bloß seine Mutter, die Griechin. Sein Vater war gerade in Monte Carlo und konnte sich nicht vom Roulettetisch trennen. Am Abend der Verlobung bestellte der Doktor, der bereits an die dreißig war und die Welt bereist hatte, Champagner, und zwar einen Veuve Cliquot. Zufällig war auch ein älterer Freund von Caliopis Eltern bei der Verlobung zugegen. Ich weiß nicht, ob er auch Grieche oder Armenier, oder weiß Gott was, war. Jedenfalls war er mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet und hatte seinen Spaß daran, in den Salons, in die er eingeladen wurde, allerlei Schabernack anzustellen und Zauberkunststücke zum besten zu geben. Während die Gäste aufs Wohl der Verlobten anstießen, trat der Alte auf den Doktor zu und fragte ihn: ›Warum hat man Ihnen keinen 97
Rosé eingeschenkt?‹ Der Doktor guckte in sein Glas, die anderen schauten ebenfalls hin, und in der Tat: Er hatte in seinem Glas den üblichen weißgoldenen Champagner. Caliopis Eltern, die den Alten kannten, hüllten sich in Schweigen. Der Doktor ließ sich ein anderes Glas bringen und wieder einen Veuve Cliquot einschenken, aber auch dieser war goldfarben. Als die Gastgeber merkten, wie verstimmt ihr zukünftiger Schwiegersohn war, brachen sie in ein schallendes Gelächter aus und sagten: ›Der Alte ist ein großer Illusionist. Er hat sich einen Spaß mit dir erlaubt.‹ Der Doktor schaute wieder auf sein Glas, und es war bis an den Rand mit dem rosé Champagner gefüllt. ›Wie machen Sie das?‹ fragte er den Alten neugierig. ›Das erfordert viel Kopfzerbrechen, setzt Fachkenntnis und große Geschicklichkeit voraus.‹ ›Ich bin ein gelehriger Schüler‹, der Doktor ließ nicht locker. ›Es ist zu spät für Sie, jetzt noch in die Lehre zu gehen‹, versuchte der Alte scherzend ihn davon abzubringen. ›Sie werden in Kürze heiraten und dann nur noch Zeit haben, ihre Frau zu verwöhnen.‹ ›Sie irren‹, bestand der Doktor, ›ich werde nicht eher heiraten, als bis Sie mir das Zauberkunststück beigebracht haben. Caliopi und ich, wir sind noch jung. Wir haben Zeit zu warten. Nicht wahr, mein Schatz?‹ wandte er sich an seine Verlobte. Caliopi aber brach in Tränen aus und lief aus dem Zimmer. Die Mutter redete auf ihn ein, und auch die anderen versuchten, ihn zur Vernunft zu bringen, aber er behauptete steif und fest, er würde nicht eher hei98
raten, als bis er gelernt hätte, die Farbe des Champagners zu ändern. So fiel also die Hochzeit der beiden ins Wasser. Caliopis Mutter gab lange Zeit die Hoffnung nicht auf, ihn zum Schwiegersohn zu bekommen. Die Familie bestand darauf, daß der Alte ihm Unterricht erteile, und der Zauberkünstler war erstaunt, wie schnell der Doktor all seine Tricks erlernte. Caliopi hatte erklärt, sie würde nicht länger als ein Jahr warten. Der Doktor wollte jedoch die Hochzeit für ein weiteres Jahr hinausschieben. Vielleicht hätte er Caliopi schließlich auch geheiratet, doch der Zufall wollte es, daß ein anderer Vetter aus Griechenland hereinschneite, und das Mädchen verliebte sich in diesen Jungen. Zudem lernte der Doktor einen holländischen Seemann kennen, der gerade aus dem Fernen Osten kam, und schiffte sich auf dessen Dampfer ein. Am schlimmsten ging die Sache für Caliopi aus. Leonida, der Vetter, den sie heiratete, wurde der Vertrauensmann eines großen Reeders, und sie hatte viel durch ihn zu leiden. Aber das ist eine Geschichte für sich.« »Fărămă, trinken Sie Ihren Champagner aus, er wird sonst warm«, ermahnte ihn Anca Vogel. Fărămă verbeugte sich höflich und trank sein Glas in einem Zug aus. Dann stand er auf, verneigte sich wieder tief, stellte das Glas auf das Tablett und setzte sich wieder hin. »Und nun, ehe Sie wieder vom Hundertsten ins Tausendste kommen«, fuhr Anca Vogel fort, »will ich 99
Sie darauf aufmerksam machen, daß ich mir Ihre Geschichten nur deshalb anhöre, weil ich wissen möchte, was mit Oana und ihrem Mann, dem estländischen Professor, und auch mit Lixandru geschehen ist.« »Darauf wollte auch ich zu sprechen kommen«, sagte Fărămă mit einem verlegenen Lächeln. »Bei Oanas Hochzeit hat der Doktor nämlich einige seiner Erlebnisse erzählt, und daran knüpfen sich viele Begebenheiten. Um sie zu verstehen, müssen Sie wissen, daß Lixandru sich späterhin mit Dragomir Calomfirescu, einem etwa zwanzigjährigen Burschen, angefreundet hatte. Mit ihm unternahm er nächtliche Spaziergänge, und die beiden verstanden sich sehr gut, auch wenn sie kein Wort miteinander wechselten. Dragomir war von Natur aus schweigsam und melancholisch, und wenn Lixandru nicht gerade Verse deklamierte, war auch er eher wortkarg. Nachdem sie eines Nachts lange schweigend nebeneinander einhergeschritten waren, hatte Lixandru mit einem Stoßseufzer ausgerufen: ›Wüßte ich bloß, wo der Pfeil verschwunden ist und wo Iozi sich befindet, dann wüßte ich alles!‹ Da Dragomir von all diesen Begebenheiten kaum etwas wußte, weihte Lixandru ihn ein. Als Lixandru zu Ende gesprochen hatte, lächelte Dragomir traurig und sagte: ›Ich hatte in meiner Kindheit nicht das Glück, solche seltsamen Abenteuer zu erleben. Außergewöhnliche Ereignisse haben sich in unserer Familie nur, ehe ich zur Welt kam, abgespielt, und ich selber habe erst lange, nachdem ich 100
den Kinderschuhen entwachsen war, interessante Erlebnisse gehabt. Ich erinnere mich jedoch an folgende merkwürdige Begebenheit aus der Kindheit. Als ich acht Jahre alt war, hatte ich Scharlach und lag im Krankenhaus. Man brachte mir allerlei Märchenbücher und Abenteuergeschichten, von denen ich die meisten längst vergessen habe. Eine Geschichte hat sich mir jedoch ins Gedächtnis eingeprägt. Sie war von Carmen Sylva, und ich kam gar nicht dazu, sie zu Ende zu lesen, da ich am nächsten Tag, nachdem ich sie erhalten hatte, das Krankenhaus verließ und alle Bücher, die ich während meines Aufenthaltes dort berührt hatte, verbrannt wurden. Sie konnten ja nicht desinfiziert werden. Eigentlich erinnere ich mich nur an einzelne, vielleicht ganz unbedeutende Details: an ein wunderschönes Mädchen, das auf einem weißen Elefanten ritt, an einen alten Tempel irgendwo in Indien. Das ist alles, aber es ist meine schönste Kindheitserinnerung. Jahrelang habe ich gegen die Verlockung angekämpft, das Buch zu suchen, um die Geschichte zu Ende zu lesen. Nun, ich habe diesen Wunsch unterdrückt und werde sicherlich nie erfahren, wer das wunderschöne Mädchen gewesen ist, das auf einem weißen Elefanten ritt, und was sie in einem indischen Tempel gesucht hat. Du hast nicht die Mühe gescheut, Hebräisch zu lernen, um einem Abenteuer aus der Kindheit auf den Grund zu kommen. Und du hast richtig gehandelt. Doch wenn ich dir einen Rat geben darf: Gehe der Sache nicht weiter nach. Zieh einen Strich unter das Vergan101
gene.‹ Er hatte die letzten Worte mit solchem Nachdruck gesprochen, daß Lixandru betroffen stehenblieb und ihn frage: ›Warum denn?‹ Dragomir nahm ihn am Arm und zwang ihn umzukehren. Sie befanden sich auf dem Boulevard Ferdinand, ein paar hundert Meter vom Feuerturm entfernt. ›Blick dich jetzt um‹, sagte er ihm. ›Siehst du bei der dritten Laterne ein weißes Haus mit Balkons?‹ ›Ja‹, erwiderte Lixandru. ›Gut, so komm mit. Es ist erst Mitternacht, wir haben noch etwas Zeit.‹ Und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte er sich, Arm in Arm mit Lixandru, eiligen Schritts dem Feuerturm zu. Dort machte er halt, hieß Lixandru sich nach rechts umdrehen und fragte ihn: ›Wie weit kannst du sehen?‹ ›Bis zur Kirche‹, erwiderte Lixandru. ›Gut‹, sagte sein Freund. Und wieder marschierten sie los, gingen den Boulevard Pake Protopopescu entlang, bogen in die Mântuleasa-Straße ein und kamen auf die Popa Soare. ›Bleiben wir hier‹, schlug Dragomir vor, ›es gibt hier eine Bank, auf der ich in Ruhe eine Zigarette rauchen kann.‹ Sie setzten sich, Dragomir zog seine Dose hervor und zündete sich eine Zigarette an. Da konnte Lixandru nicht länger an sich halten und fragte seinen Freund: ›Was soll das alles?‹ ›Dieses ganze Viertel, durch das wir jetzt gekommen sind, hat einmal der Familie Calomfir gehört. Und nun ist außer den Häusern, die du kennst, nichts mehr übriggeblieben, weil einer meiner Ahnen sich ebenso wie du Gedanken machte über den Verbleib von Men102
schen, die plötzlich verschwanden, wie vom Erdboden verschluckt‹. ›Ich verstehe dich nicht recht‹, sagte Lixandru. ›Komm mit, und ich werde es dir erklären‹, erwiderte Dragomir.« Fărămă hielt ein und zündete sich eine Zigarette an. »Sie müssen wissen«, nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf, »daß es in der Popa Soare damals ein Wirtshaus gab, das eine besondere Atmosphäre hatte. Vorn war ein Gärtchen mit einer alten Linde, so daß man von der Straße her das Haus kaum sah. Im Sommer pflegte dort ein Mädchen zu singen, das überaus schön, aber ein Teufel war. Die Leute nannten sie Leana, aber sie schüttelte den Kopf und sagte: ›Ich heiße gar nicht so.‹ Ihren wirklichen Namen verriet sie jedoch niemandem; sie tat immer sehr geheimnisvoll. Die Leute strömten aus allen Stadtvierteln herbei, um ihr zuzuhören, denn sie kannte alte, schon in Vergessenheit geratene Lieder und begleitete sich selber zur Laute, was damals nicht mehr üblich war. In jenes Wirtshaus brachte Dragomir seinen Freund Lixandru, und sie blieben dort bis gegen Morgen. Leana sang hauptsächlich für die beiden. Sie aber beachteten das Mädchen zunächst kaum, denn sie waren ins Gespräch vertieft. Dragomir erzählte Lixandru aus dem Leben seines Ahnen Iorgu Calomfir. Leana schaltete immer längere Pausen zwischen ihren Liedern ein, ließ die Laute auf ihren Knien ruhen und spitzte die Ohren, um zu hören, was Dragomir erzählte. Bald luden die Burschen Leana an ihren Tisch und bestellten auch für sie Wein. 103
Das Mädchen saß mit einem verträumten Lächeln vor ihrem Glas, lauschte gespannt den Worten Dragomirs, versank in Gedanken, sprang dann plötzlich auf, legte die Laute an ihre Brust und fing wieder zu singen an. Ich erzähle Ihnen das alles«, sagte Fărămă verlegen, »weil dieses Mädchen ihre eigene Geschichte hatte und in Lixandrus Leben eine wichtige Rolle spielte. Zwar verlor Lixandru Leana später aus den Augen, aber eine Zeitlang übte sie großen Einfluß auf ihn aus, und die Bekanntschaft mit ihr war für ihn von großer Bedeutung. Vieles wäre nicht so gekommen, wie es schließlich kam, hätte Dragomir seinen Freund nicht in jener Nacht ins Wirtshaus gebracht, um ihm von Iorgu Calomfir zu erzählen. Sie müssen wissen, daß dieser Bojar der Mann Arghiras war. Diese Frau, die man zu ihrer Zeit, also ungefähr um 1700, allgemein ›die schöne Arghira‹ nannte, war wirklich von Gott mit allen Himmelsgaben ausgestattet. Die Kunde von ihrer Schönheit drang bis zu den Türken, jenseits der Donau, und in Bukarest sprach man noch ein Jahrhundert nach ihrem Tod über sie. Die Zigeunermusikanten besangen noch im Jahre 1850 in ihren Liedern die Schönheit Arghiras. Sie war aber nicht bloß schön. Sie hatte, was damals in ihren Kreisen ziemlich selten war, eine große Schwäche für Theater und Dichtung, war sehr gebildet und sprach außer rumänisch auch griechisch, italienisch, spanisch und französisch. Mit einem Makel war sie jedoch behaftet: Sie war sehr kurzsichtig, sah fast überhaupt 104
nicht. Ihr Vater, der Statthalter, und später Iorgu Calomfir, ihr Gatte, brachten Augenärzte und Optiker aus Konstantinopel und aus dem Westen und gaben ein Vermögen aus. Auf ihrem Gut, das zwischen dem jetzigen Boulevard Pake Protopopescu und der Popa Soare-Straße lag, waren immer Ärzte und Linsenschleifer zu Gast. Manche von ihnen richteten sich in den Häusern der Calomfirs ihre Werkstätten, ja richtige Labors ein, in denen sie ihre Gläser schliffen und allerlei Versuche unternahmen. Von einem dieser Meister dürfte Iorgu zum ersten Mal über die Zauberkraft gewisser Kristalle und Edelsteine gehört haben, die angeblich unter der Erde verborgen liegen und nur von Berufenen unter großen Anstrengungen gefunden werden können. Vielleicht hat die große Zuneigung zu Arghira ihn ursprünglich dazu veranlaßt, den Geheimnissen der Erde nachzuspüren. ›Wenn etwas daran wahr ist‹, dürfte er sich gesagt haben, ›so wird Gott vielleicht auch mir helfen, den Kristall zu finden, der Arghira das Augenlicht wiedergibt.‹ Später ergriff die Leidenschaft, die Geheimnisse der Tiefe zu ergründen, von ihm in solchem Maße Besitz, daß er nicht mehr davon loskam. Er war wie süchtig. Mit Hilfe einiger ausländischer Meister hatte er sich eine Art Labor eingerichtet. Arghira hatte längst ihr Sehvermögen zurückerlangt, er aber setzte sein Treiben fort. Wie Arghira das Sehvermögen zurückerlangte, steht auf einem anderen Blatt. Diese Geschichte hatte Dragomir in jener Julinacht im 105
Wirtshaus in der Popa Soare Lixandru gewiß nicht erzählt. Seinen Freund interessierte ja nur Iorgu Calomfir, der der Leidenschaft verfallen war, der Erde ihre Geheimnisse zu entreißen. Nachdem die Meister aus dem Westen ihm erzählt hatten, welchen Einfluß Sonne und Mond auf die Bildung des Gesteins in den Bergen haben, wie die Metalladern anschwellen und wie Kobolde und Feen die Schätze der Erde horteten, erinnerte Iorgu sich, daß die rumänischen Bauern zu Ostern die rotgefärbten Eierschalen in den Bach werfen, im Glauben, das Wasser würde sie ins Reich der Blajini * tragen, jener Zauberwesen, die nach dem Volksglauben am Ufer des die Erde begrenzenden Sabbath-Flusses leben. Die Eierschalen würden, so glaubten die Bauern, den Blajinis das Osterfest verkünden. Da verließ Iorgu die in der Gesteinskunde bewanderten Meister aus dem Westen und begab sich aufs Land, wo er ebenfalls Güter hatte. Dort ließ er sich von den alten Leuten alles erzählen, was sie über die Blajini und deren unterirdisches Reich wußten. Aber auch sie konnten ihm nicht mehr berichten als das, was allgemein bekannt war: Daß die Blajini sanfte, mildtätige Wesen waren, die sich unter der Erde von dem ernähren, was die Menschen fortwerfen, und fleißig beten. Es hieß aber auch, die Blajini hätten irgendwann auf Erden gelebt und hätten sich dann nach irgendeiner Begebenheit unter die Erde zurückgezogen. Iorgu war zu dem Schluß gekommen, daß * blajin = sanft
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dieser Glaube eine erschütternde Wahrheit barg. Er war davon überzeugt, daß derjenige, der der Sache auf den Grund kommen würde, nicht bloß in die Welt der Blajini hinabsteigen, sondern auch alle anderen Geheimnisse aufdecken könnte, auf deren Wahrung die Kirche bestand. So kehrte er denn in die Stadt zurück und schloß sich einen ganzen Tag lang in sein Labor im Keller ein. Um sicher zu sein, daß niemand ohne sein Wissen den Keller betrat, ließ er eine Eisentür anbringen und hängte ein Schloß daran. Was er dort in seinem Labor trieb, wußte niemand. Doch eines Tages sprudelte im Keller eine Quelle empor, und bald stand das ganze Labor unter Wasser. Iorgu kam entsetzt herausgelaufen und befahl seinen Dienern, das Wasser auszuschöpfen. Die Leute eilten mit Eimern und Scheffeln herbei und schleppten eine Woche lang Tag und Nacht Wasser, doch es quoll immer mächtiger aus der Erde empor. Iorgu war ganz verzweifelt. Übernächtigt und unrasiert, stand er oben auf dem Treppenabsatz und schrie: ›Schneller, schneller!‹ Aber nichts half. Nach einer Woche war der ganze Keller voll, und das Wasser stieg unaufhaltsam. Da hob Iorgu den Arm und rief: ›Es ist alles vergebliche Mühe. Gott hat mir nicht geholfen.‹ Er war bleich und abgezehrt, und die Augen brannten ihm vor Müdigkeit. Er ließ sich in den Sessel fallen, vergrub sein Gesicht in die Hände und fing an zu weinen. ›Gott hat mir nicht geholfen!‹ wiederholte er mehrmals.« 107
Fărămă hielt inne, nahm das Glas Champagner, das Anca Vogel ihm reichte, bedankte sich mit einer Verbeugung, zündete sich eine neue Zigarette an und fuhr nach einer Pause fort: »Ich habe von all diesen Dingen erst tags darauf erfahren. Um die Mittagszeit erscheint plötzlich Lixandru bei mir in der Direktionskanzlei. Er war, ohne anzuklopfen, hereingestürzt. Die Augen brannten ihm, als hätte er Fieber. Er sah sich erschrocken nach der Tür um, als würde ihn jemand verfolgen, trat ganz nahe an mich heran und bat mich im Flüsterton, ihm zu gestatten, in den Schulkeller hinunterzusteigen. ›Sind Sie mir, bitte, nicht böse und lachen Sie mich nicht aus‹, sagte er, als er meine verdutzte Miene sah, ›fragen Sie mich auch nicht nach den Gründen, aber ich muß unbedingt hinunter, und zwar ganz allein.‹ Er hatte es kaum ausgesprochen, da riß ein junges Mädchen die Tür auf, kam auf mich zugelaufen, ergriff meine Hände und schrie: ›Lassen Sie ihn nicht, Herr Direktor, gestatten Sie es ihm nicht, in den Keller hinunterzusteigen. Es ist schade um seine Jugend!‹ ›Wer sind Sie?‹ fragte ich und versuchte, mich ihrem energischen Griff zu entziehen. ›Wie wagen Sie es, ohne anzuklopfen, in eine Direktionskanzlei hereinzustürzen?‹ ›Wenn Sie wüßten, was ich weiß, würden Sie es mir nicht übelnehmen‹, sagte das Mädchen. ›Man nennt mich Leana, aber das ist nicht mein richtiger Name. Meine Eltern haben mich zu Besserem erzogen, aber Gott hat mich meiner Sünden wegen dazu verdammt, in Schenken 108
zu singen. Nun singe ich im Wirtshaus zur Sonnenblume hier gleich in Ihrer nächsten Nähe. Gestern abend kam dieser, Ihr Schüler, mit seinem Freund zu uns. Die beiden gefielen mir gleich von Anfang an sehr gut, und ich sang nur für sie. Ich hörte aber auch, was der junge Bojar Ihrem Schüler erzählte, und weiß daher, welche Gefahr ihm droht, wenn er in den Keller hinuntersteigt.‹ Lixandru war bleich wie die Wand geworden, während sie sprach, und sagte mir: ›Nehmen Sie sie nicht ernst, Herr Direktor. Diese Leana ist eine exaltierte Person. Sie wittert überall Gefahr und sieht am helllichten Tag Gespenster. Werfen Sie sie hinaus, und lassen Sie sie ein nächstes Mal nicht herein, ehe sie, wie es sich gehört, an der Tür anklopft.‹ ›Ich verstehe nichts!‹ rief ich aus. ›Setzt euch erst einmal beide hin und erzählt mir alles der Reihe nach, damit ich überhaupt weiß, wovon die Rede ist. Fangen Sie zuerst an!‹ wandte ich mich an das Mädchen. ›Hören Sie nicht auf sie, Herr Direktor!‹ fuhr Lixandru dazwischen. ›Statt das Publikum zu unterhalten, belauscht sie die Gäste, fängt etwas auf, ohne zu wissen, wovon man spricht, und verdreht dann alles.‹ Ich warf meinem Schüler einen strengen Blick zu. Lixandru wurde puterrot und verstummte. ›Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen‹, begann Leana. ›Als mir klar wurde, was er vorhatte, war ich zutiefst erschrocken. Ich sah, wie jung er war, und er tat mir leid. ‘Der hat ja noch nicht einmal die Freuden des Lebens gekostet, ist es nicht eine himmel109
schreiende Sünde, ihn zugrunde gehen zu lassen?’ dachte ich mir. Ich merkte gleich, daß er ein Hitzkopf war, und wollte vermeiden, daß er sich ins Unglück stürzte. Daher legte ich mich gar nicht mehr hin, sondern ließ ihn nicht aus den Augen. Ich lauerte ihm auch hier auf der Straße auf, denn ich war sicher, er würde Sie aufsuchen. Als ich ihn in die Schule hineingehen sah, schlich ich ihm nach. Ich bitte Sie, Herr Direktor, ich flehe Sie an wie den lieben Herrgott, lassen Sie Lixandru auf keinen Fall in den Keller hinunter.‹ ›Aber weshalb denn?‹ fragte ich erstaunt, denn ich begriff immer noch nichts. ›Die Erklärung soll er Ihnen geben‹, sagte Leana. ›Das will ich gerne tun, aber nur unter vier Augen. Wenn Sie Leana hinausschicken, werde ich Ihnen alles anvertrauen, Herr Direktor. Wir reden noch miteinander!‹ fuhr er das Mädchen an. ›Ich gehe nicht eher fort, als bis Sie mir geschworen haben, daß Sie ihn nicht in den Keller lassen‹, sprang Leana auf. ›Das kann ich nicht‹, erwiderte ich ihr, ›weil ich überhaupt nicht weiß, worum es geht. Eins verspreche ich Ihnen aber: Er wird nicht hinuntergehen, ehe ich Sie wieder angehört habe. Dessen können Sie sicher sein. Jetzt aber wollen Sie uns, bitte, allein lassen. Sie können im Garten draußen warten.‹ Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte«, fuhr Fărămă nach einer Pause fort, »erzählte mir der Junge alles, was er in jener Nacht über Iorgu Calomfir erfahren hatte. Nachdem der Bojar am Eingang des Kellers von seinem Stuhl aus stundenlang das 110
Steigen des Wassers beobachtet hatte, rief er seinen Kellermeister und fragte ihn: ›Wie viele aus unserer Familie sind in den Räumen über diesem Kellergewölbe gestorben?‹ ›Kein einziger‹, erwiderte der Kellermeister. ›Ihr Vater ist auf dem Weinberg umgekommen, und die alten Herrschaften, Ihre Großeltern, sind in dem Haus da droben gestorben‹, sagte er und wies auf das gegenüberliegende Gebäude. ›Gott hat mich um den Verstand gebracht!‹ rief Iorgu aus und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Dann stützte er sich auf die Armlehne seines Sessels, stand schwerfällig auf und sagte seinen Leuten: ›Ihr braucht euch nicht mehr zu fürchten, das Wasser wird wieder sinken.‹ Und so war es auch: Gleich in jener Nacht begann es zu sinken, und innerhalb einer Woche war es völlig versickert. Nachdem der Keller wieder trocken war, stieg Iorgu allein hinunter, zerschlug alles, was das Wasser nicht zerstört hatte, mit einem Hammer und brachte nur ein Kästchen mit herauf. Doch es dauerte nicht lange, und er begann in den Kellern anderer alter Häuser Untersuchungen anzustellen. Er ließ an allen Kellereingängen Eisentüren anbringen, schloß sich ein und blieb Tag und Nacht unten. Nach wenigen Monaten aber wiederholte sich die Bescherung. Er stürzte mit lauten Hilferufen die Kellertreppe hinauf, seine Diener schöpften Tag und Nacht mit Eimern und Scheffeln das Wasser, bis Iorgu sie wieder aufhören hieß, entmutigt das Gesicht in die Hände vergrub und 111
seufzte: ›Gott hilft mir nicht!‹ Und dennoch gab er nicht auf. Er ließ einige Monate verstreichen, dann versuchte er es aufs neue. Hinten in seinem Garten hatten auch einmal Wohnhäuser gestanden. Einer seiner Ahnen hatte sie niederreißen und Stallungen an ihrer Stelle errichten lassen. In den unterirdischen Gewölben, die er unter diesen, ebenfalls längst verfallenen Stallungen fand, richtete sich Iorgu sein Labor ein. Was aus diesem geworden ist, wußte auch Lixandru nicht. Wahrscheinlich erreichte der Bojar auch diesmal nicht sein Ziel, denn er verkaufte bald darauf einen Teil seines Grundbesitzes und zog fort, ins Ausland. ›Das alles hat Dragomir mir heute nacht erzählt‹, sagte Lixandru. ›Ich hatte keine Ahnung, daß Leana uns belauschte. Und nun bitte ich Sie nur um das eine: Gestatten Sie mir, in den Keller hinunterzusteigen. Das Grundstück, auf dem diese Schule gebaut wurde, hat nämlich dem Bojaren Calomfir gehört.‹ ›Meines Wissens hat diese Parzelle wie alle Häuser ringsum Mântuleasa gehört‹, wandte ich ein. ›Ich kenne die Geschichte‹, entgegnete Lixandru. ›Ich weiß auch, wie er in den Besitz dieser Grundstücke gelangt ist. Doch ich werde den Gedanken nicht los, daß irgendwo auf dieser Straße, vielleicht gerade hier, wo die Schule steht, Zeichen geblieben sind.‹ ›Was für Zeichen, Lixandru?‹ fragte ich ihn. ›Verzeihen Sie, Herr Direktor, aber das darf ich Ihnen nicht verraten‹, sagte Lixandru und wurde rot bis über die Ohren. ›Gut, dann behalte das Geheimnis 112
eben für dich‹, sagte ich, stand auf und winkte ihm, mir zu folgen. Als Leana uns in den Hof hinauskommen sah, lief sie uns entgegen und rief mir zu: ›Nun, was sagen Sie?‹ ›Wir werden zusammen in den Keller gehen‹, erwiderte ich ihr. Leana fiel auf die Knie und umklammerte meine Beine. ›Lassen Sie ihn nicht hinunter, Herr Direktor!‹ schrie sie. ›Es ist schade um ihn. Er ist noch so jung.‹ ›Fürchten Sie sich nicht, Mädchen‹, beruhigte ich sie und half ihr aufzustehen. ›Unser Keller hat noch nie unter Wasser gestanden.‹ ›Das können Sie nicht wissen‹, rief Leana von neuem. Aber ich machte mir nichts aus ihren Worten, suchte den Schlüssel zum Keller, nahm drei Kerzen mit, da bloß der Vorkeller beleuchtet war, und wir stiegen hinunter. Leana hielt sich dicht an Lixandru, um ihn auffangen zu können, falls ihm etwas zustoßen sollte. So gingen wir mehr als eine viertel Stunde im Keller herum. Die Lippen zusammengepreßt und bleich wie der Tod, ließ Lixandru seine Blicke über die Kellerwände wandern, betastete und beklopfte sie aufmerksam und beleuchtete mit der brennenden Kerze auch den Sand am Boden, auf der Suche nach irgendwelchen Zeichen. Dann drehte er sich plötzlich zu mir um und sagte mir: ›Es ist nicht hier. Wir können wieder hinaufgehen.‹ Da fiel Leana ihm um den Hals, küßte ihn auf beide Wangen und rief aus: ›Möge Euch ein langes Leben beschert sein, junger Herr!‹ Ehe ich mich versah, nahm sie dann meine Hand, küßte sie und sagte mir: ›Und Ihnen möge 113
Gott viel Glück bescheren, denn Sie haben ein gutes Herz.‹ Darauf blies sie ihre Kerze aus und lief die Kellertreppe hinauf. »So lernte ich Leana kennen«, sagte Fărămă lächelnd. »Ich ging noch am gleichen Abend ins Wirtshaus zur Sonnenblume, um sie singen zu hören, und fand großen Gefallen an ihr. Späterhin habe ich auch ihre Geschichte erfahren. Was sie an Dragomirs Berichten so sehr entsetzt hat, weiß ich nicht. Über Lixandru hatte sie sich jedoch zu früh gefreut, denn Dragomir hatte seinem Freund durch den Bericht, über den sie so entsetzt war, einen Floh ins Ohr gesetzt, und der Junge gab die Hoffnung nicht auf, die Zeichen zu rinden. Gleich am nächsten Tag bat er in allen Nachbarhäusern die Leute um Erlaubnis, in deren Keller hinuntersteigen zu dürfen. Leana erfuhr davon erst später. Und was das alles für beide zur Folge hatte, ja, um das zu erzählen, brauchte man viele Nächte.« »Ruhen Sie sich aus und trinken Sie noch ein Glas Champagner«, sagte ihm Anca Vogel und reichte ihm die Flasche über den Schreibtisch hinüber. Aufgewühlt von seinen Erinnerungen, sprang Fărămă auf, griff nach der Flasche, schenkte sich ein Glas ein und stellte die Flasche behutsam in den silbernen Eiskübel zurück. »Trinken Sie endlich aus«, drängte Anca Vogel, »sonst wird er wieder warm.« Kopfschüttelnd schlürfte Fărămă den Champagner und seufzte unwillkürlich auf. Er zündete sich eine Zigarette an, lächelte verträumt und rauchte eine 114
Weile mit geschlossenen Augen. »Ja«, fuhr er dann unvermittelt fort, »Lixandru wurde lange Zeit diesen Gedanken nicht los. Im ganzen Viertel klopfte er an den Türen der Leute und bat sie, ihm zu gestatten, in den Keller hinunterzusteigen. Die meisten schlugen ihm die Tür vor der Nase zu oder drohten ihm sogar mit der Polizei. Manche aber waren nachgiebig. Lixandru stieg mit einer Taschenlampe oder mit Kerzen in die Keller hinunter, und wenn er an den alten, mit Schimmel überzogenen Mauern irgendwelche Zeichen zu entdecken glaubte, blieb er oft mehr als eine halbe Stunde unten. Dann kam er bleich aus dem finsteren Keller herauf und rezitierte den Leuten Gedichte zum Dank, daß sie ihm die Bitte gewährt hatten. Auf der Schwelle stehend, die eine Hand auf der Brust, die andere auf den Türrahmen gestützt, begann er mit Eminescus ›Melancholie‹, und wenn er den Eindruck hatte, daß die Verse den Leuten gefielen, sagte er ihnen auch Sonette von Camoens auf, am liebsten Mintha alma gentile … Wenn die Leute sich den schönen Jungen ansahen, der bleich, die Hände voller Staub und Schimmel, auf ihrer Schwelle Gedichte aufsagte, wurde ihnen schwer ums Herz. Sie wußten nicht, was mit ihm los war, der Junge tat ihnen aufrichtig leid, und sie schüttelten bedauernd den Kopf. Wies man ihn schroff ab und drohte sogar, die Polizei zu holen, so ließ Lixandru sich nicht einschüchtern, sondern versuchte nach Wochen oder Monaten bei denselben Leuten nochmals sein Glück. Er kam an heiteren 115
Frühlingsvormittagen oder an kühlen Sommerabenden, in der Annahme, das schöne Wetter würde die Leute nachgiebiger stimmen. Viele Schulmädchen und Dienstmägde verliebten sich in ihn, und auch verheiratete Frauen blickten ihm sehnsüchtig nach. Manchmal beobachtete auch ich ihn vom Fenster der Direktionskanzlei aus, wenn er in Gedanken versunken und melancholisch unter den blühenden Aprikosenbäumen vorbeiging. Um jene Zeit gab es viele Obstbäume dort, und im Frühling sahen sie morgens wie mit Schnee bedeckt aus«, fügte Fărămă lächelnd hinzu. »Wenn ich nicht zu beschäftigt war, rief ich ihn zu mir oder ging hinaus und unterhielt mich mit ihm eine Weile auf der Straße. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und glänzten. Er sah übernächtigt aus, und ich versuchte, mit ihm zu spaßen. ›Hast du es immer noch nicht aufgegeben?‹ fragte ich ihn schmunzelnd. Er aber warf mir einen vernichtenden Blick zu und ereiferte sich: ›Wüßten Sie, was ich weiß, Herr Direktor, Sie würden mich nicht auslachen. Ich habe Dragomir ausgehorcht und vieles von ihm erfahren. Ich fühle es, daß die Zeichen irgendwo hier, zwischen dem Boulevard, der Popa Soare und der Calea Moşilor sind‹, sagte er. ›Hätte ich eine Milliarde, ich würde all diese Häuser aufkaufen und niederreißen lassen. Da würden Sie und die Historiker und die Archäologen ihre blauen Wunder erleben, ja Sie alle würden große Augen machen, was sich Ihnen unter der Erde, unter diesen Gehsteigen, unter diesem Pflaster offenbaren würde!‹ rief er aus 116
und stampfte verzweifelt mit dem Fuß. ›Sie würden auf menschliche Siedlungen stoßen, die viel älter sind, als Sie ahnen können. Nicht daß ich danach aus wäre. Ich suche etwas ganz anderes. Für Sie alle wären solche Entdeckungen jedoch nicht uninteressant. Lockt es Sie nicht zu erfahren, welche Geheimnisse die Erde unter diesen Pflastersteinen, unter diesen Häusern verbirgt?‹ ›Hör zu, Lixandru‹, unterbrach ich ihn. ›Es ist Zeit, daß du vernünftig wirst. Bist schließlich kein Kind mehr, hast viel gelesen. Wie kannst du in deinem Alter glauben, Iozi würde nach so viel Jahren irgendwo versteckt unter der Erde leben und du könntest ihn finden?‹ Lixandru warf mir einen langen, prüfenden Blick zu und lächelte traurig. ›Schade, Herr Direktor‹, erwiderte er, ›Sie scheinen mich für verrückt zu halten. Ich aber weiß genau, daß Iozi lebt. Nicht hier, unter unseren Füßen‹, fügte er hinzu und stampfte noch einmal mit dem Fuß auf, ›aber die Zeichen, von denen ich sprach, müssen zunächst unter der Erde gesucht werden.‹ ›Was für Zeichen?‹ drang ich in ihn. ›Das kann ich Ihnen nicht verraten. Um die Zeichen zu verstehen, müßten Sie sie zuerst kennen.‹ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und ging unter den blühenden Aprikosenbäumen seines Wegs. Manchmal traf ich ihn im Wirtshaus in der Popa Soare. Er kam gewöhnlich mit Dragomir hin, um Leana singen zu hören. Einmal war er jedoch allein gekommen. Er nahm mich beiseite und sagte mir: 117
›Diese Leana ist mit allen Wassern gewaschen. So merkwürdig Ihnen das auch vorkommen mag, sie ist in das Geheimnis eingeweiht. Woher wüßte sie sonst von den Zeichen? Denn ich habe mich davon überzeugt, daß sie über die Zeichen Bescheid weiß. Erinnern Sie sich, wie sie zu Ihnen in die Direktionskanzlei hereingestürzt ist? Wie konnte sie ahnen, daß es für mich gefährlich ist, in den Keller hinunterzusteigen? Sie hatten, wie später andere Leute auch, keinerlei Bedenken, mich hinuntergehen zu lassen. Warum also hatte Leana solche Angst davor? Bedeutet das nicht, daß sie etwas weiß und es uns verheimlicht? Ich höre aufmerksam ihrem Gesang zu, denn ich weiß, daß sie oft ausschließlich für uns beide, für Dragomir und für mich, singt. Nach einem bestimmten Lied lächelt sie immer vielsagend und setzt sich an unseren Tisch. Immer wieder nach demselben Lied‹, betonte Lixandru. ›Hören Sie ihr zu, Herr Direktor, und Sie werden selber drauf kommen, welches ich meine. Sie singt es jede Nacht.‹ So wurde auch ich Stammgast des Wirtshauses in der Popa Soare. Ich ging, sooft ich nur konnte, hin, um Leana zu hören. Bald sprach es sich im ganzen Viertel herum, ich wäre vernarrt in das Mädchen. Das stimmte aber nicht. Ich hatte Leana einfach gern, wie ich so viele andere junge Leute ins Herz geschlossen hatte, an denen etwas Besonderes war, die kühnen Träumen nachhingen, die aus dem Alltag auszubrechen versuchten, in dem wir, arme, geplagte Menschen dahintrotteten und versauerten. Aber ich kam 118
nicht bloß Leanas wegen hin, ich fühlte mich einfach wohl in dieser Schenke, die Atmosphäre sagte mir zu. Die Popa Soare lag ja in meinem Viertel und war mir ebenso vertraut wie die Mântuleasa …« Anca Vogel fing plötzlich an zu lachen. »Nein, Fărămă, auf diese Weise werden Sie bis morgen mit Ihrer Erzählung nicht fertig«, sagte sie. »Sie müssen Ordnung in Ihre Gedanken bringen. Berichten Sie mir zunächst über Oanas Hochzeit. Ich will wissen, was aus ihr und ihrem Estländer geworden ist.« »Ich hatte gerade vor, darüber zu berichten«, sagte Fărămă lächelnd. »Um aber zu verstehen, wie sich das alles zugetragen hat, müssen Sie wissen, daß Dragomirs Cousine, jenes schöne, seltsame Mädchen, das sich Zamfira nannte, eine große Zuneigung zu Oana gefaßt hatte. Sie kam oft auch tagsüber zu ihr in die Schenke nach Obor, brachte ihren Zeichenblock mit und machte Skizze um Skizze. Damit Sie jedoch begreifen, was Zamfira so sehr an Oana fesselte, müssen Sie ihre Geschichte kennen.« Er stockte und blickte eingeschüchtert zu Anca Vogel. »Zamfiras Geschichte!« rief die Ministerin träumerisch aus. »Zamfiras Geschichte muß ich mir also auch anhören. Und wie lange dauert die?« fragte sie belustigt. »Ihre Geschichte erstreckt sich eigentlich über einen Zeitlauf von mehr als zweihundert Jahren, denn alles, was ihr zustieß, ist auf die Tatsache zurückzu119
führen, daß sie sich mit Zamfira identifizierte, jenem Mädchen, das, wie ich Ihnen bereits erzählt habe, Arghira das Augenlicht wiedergab.« Anca Vogel fing wieder an zu lachen: »Fărămă!« rief sie kopfschüttelnd aus. »Sie sind unverbesserlich. Stecken Sie das Päckchen Zigaretten ein. Es wird Ihnen zustatten kommen. Ich danke Ihnen für den heutigen Abend. Vielleicht sehen wir uns wieder. Für heute habe ich jedoch genug. Gute Nacht.« Darauf reichte sie ihm die Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte er. »Ich danke Ihnen vielmals für die Zigaretten und für das Vertrauen, das Sie mir geschenkt haben.«
VIII Fărămă fuhr fort, täglich zu schreiben. Er war jedoch nun vorsichtiger, ließ sich Zeit, überlegte lange, ehe er seine Gedanken zu Papier brachte, und gab die vollgeschriebenen Seiten nicht eher aus der Hand, als bis er sie nochmals durchgelesen hatte. Es war ihm klar, daß er immer wieder auf jene Geschehnisse zurückgriff, die er für wesentlich hielt. Wovor er jedoch Angst hatte, das waren nicht die Wiederholungen. Die schienen ihm unvermeidlich. Er fürchtete die Verwirrung, die er, in seinem Bemühen, ein Thema von allen Seiten zu beleuchten, durch die Vielfalt der gebotenen Varianten offenkundig anrichtete. Das wurde ihm klar, als man ihn nach mehreren Wochen wieder zu Dumitrescu brachte. »Ich meine es gut mit Ihnen und frage mich, warum eigentlich«, empfing dieser ihn in seinem Büro. »Ich selber bin kein Schriftsteller und habe für Künstler und Leute, die Bücher schreiben, nicht viel übrig wie manch anderer hier. Sie dürften sich Rechenschaft geben, daß Ihre Berichte durch viele Hände gegangen sind. Sie wurden nicht bloß von vielen bedeutenden jungen und alten Schriftstellern gelesen, sondern auch von Leuten, die sehr verantwortungsvolle Stellungen haben.« »Das wußte ich gar nicht«, sagte Fărămă errötend. »Ich wußte nicht, daß …« »Dann erfahren Sie es eben nun«, unterbrach Dumitrescu ihn. »Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam 121
machen, daß der literarische Wert Ihrer Erklärungen für mich nicht zählt. Mich interessieren ausschließlich die Ergebnisse der Untersuchung. Aus den vielen hundert Seiten, die Sie vollgeschrieben haben, wie auch aus all Ihren mündlichen Erklärungen geht immer noch nicht klar hervor, in welcher Beziehung Lixandru zu Darvari stand.« »Sie waren Freunde seit der Volksschule.« »Mich interessiert weder die Volksschule, noch ihre Freundschaft mit Oana, Zamfira und den anderen«, unterbrach Dumitrescu ihn. »Mich interessiert, wie sie im Jahre 1930 zueinander standen, als Darvari mit seinem Flugzeug in Rußland verschwand.« »Sie waren auch damals noch miteinander befreundet.« »Das geht aus Ihren Erklärungen nicht deutlich genug hervor. Es geht nicht deutlich hervor, weil Sie sich, zumindest dem Anschein nach, selber widersprechen. Ich werde Ihnen einmal Auszüge aus Ihren Erklärungen zeigen, da werden Sie sehen, wie wirr und widerspruchsvoll Ihre Aussagen sind. Ich sollte Ihnen das vielleicht gar nicht sagen«, setzte er nach einer Weile fort, »aber ich bin Ihnen im Grunde genommen gut gesinnt. Nur frage ich mich: Widersprechen Sie sich selber, weil Sie sich an die Vorgänge nicht mehr so ganz genau erinnern können, oder weil Sie etwas verheimlichen möchten? Wenn Sie das wirklich vorhaben, so kann ich Ihnen nur versichern, daß Sie sich Illusionen hingeben. Und in Ihrem Alter hat es wirklich keinen Sinn, sich falsche Hoffnungen zu machen.« 122
Einige Augenblicke schwiegen beide. Dann zwang Fărămă sich zu einem Lächeln und sagte: »Ich habe begriffen. Ja, ich begreife und danke Ihnen sehr. Ich versuche nichts zu verheimlichen. Doch ich weiß, worauf Sie anspielen: Wenn man die Dinge nicht richtig erzählt, wirkt oft alles konfus, und Geringfügigkeiten scheinen sozusagen das Ganze in Frage zu stellen. Entschuldigen Sie, wenn ich mich etwas schulmeisterlich ausdrücke. Ich werde von nun an sehr aufpassen und mir Mühe geben, mich möglichst klar auszudrücken.« »Es liegt in Ihrem eigenen Interesse«, sagte Dumitrescu, reichte ihm die Hand und drückte auf den Knopf. »Übrigens kann ich Ihnen etwas mitteilen, was Ihnen kaum bekannt sein dürfte«, fügte er hinzu und sah den Alten prüfend an. »Darvari ist nie in Rußland gelandet, und auch das Flugzeug, mit dem er flüchtete, ist nie gefunden worden, obgleich die Russen wie auch wir es lange gesucht haben. Ich denke, Sie begreifen, was das bedeutet …« An jenem Tag schrieb Fărămă fast nichts mehr. Den Kopf auf die Hände gestützt, saß er lange reglos vor dem weißen Bogen Papier. Dann faßte er plötzlich einen Entschluß und begann Daten zu notieren: 1700 (Arghira), 1840 (Selim), Oktober 1915 (Iozi), Herbst 1920 (Oanas Hochzeit), 1919–1925, MarinaDarvari, 1930 … Er hielt inne und starrte immerzu auf die Jahreszahlen. Schließlich tauchte er seine Feder in die Tinte und begann alle Daten mit peinlichster Genauigkeit der Reihe nach auszustreichen. 123
Am nächsten Tag machte er sich wieder ans Schreiben und faßte die Vorgänge zwischen den Jahren 1914 und 1915, bis zu Iozis Verschwinden, knapp und möglichst klar zusammen. Seit jenem Tag schilderte er immer sachlicher, wie in einem Polizeibericht, eine Reihe von Begebenheiten, die dem Verschwinden des Rabbinersohnes vorangegangen waren, die jedoch alle in direktem oder indirektem Zusammenhang zur Mântuleasa-Straße standen. Nach einer Woche wurde er wieder vom Gefängniswärter aus dem Schlaf geweckt. »Kommen Sie mit. Der Wagen wartet. Sie werden eine Spazierfahrt machen«, sagte er grinsend. Sie kamen um Mitternacht in der Villa an. Anca Vogel saß rauchend vor einem Aktenstoß am Schreibtisch. Auf dem Beistelltischchen daneben: zwei Flaschen Champagner. »Guten Abend, Fărămă«, begrüßte sie ihn. »Nehmen Sie Platz und zünden Sie sich eine Zigarette an.« Sie reichte ihm ein Päckchen Lucky Strike über den Schreibtisch hinüber, nahm eine Flasche, füllte zwei Gläser und sagte dann: »Ruhen Sie sich einen Augenblick aus und trinken Sie ein Glas Champagner.« »Ich danke Ihnen sehr«, sagte Fărămă und verneigte sich mehrmals. »Wenn Sie sich ausgeruht haben, schießen Sie los. Aber verlieren Sie sich nicht in Nebensächlichkeiten, wie es Ihre Art ist, sondern sprechen Sie zur Sache. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Wählen Sie von dem 124
vielen, über das Sie zu berichten wissen, das Schönste. Ich würde heute abend gern Näheres über Oanas Hochzeit hören.« »Wenn Sie gestatten, würde ich gern mit Zamfiras Geschichte anfangen …« »Die zieht sich ja, wie Sie behauptet haben, über zweihundert Jahre hin«, unterbrach ihn Anca Vogel lächelnd. »Ich werde mich so kurz wie möglich fassen. Aber ohne zu wissen, was vor mehr als zweihundert Jahren geschah, werden Sie weder Oanas Hochzeit noch die Vorgänge danach begreifen.« Anca Vogel lächelte wieder, zuckte die Achseln und schenkte sich ein weiteres Glas Champagner ein. »Sie werden sich vielleicht noch daran erinnern, daß die Gattin des Bojaren Iorgu Calomfir, die wunderschöne Arghira, sehr kurzsichtig war. Sie liebte Bücher und hätte sie gern selber gelesen, da sie jedoch so schlecht sah, betastete sie sie bloß, hielt sie ganz nahe ans Gesicht, um die Titel entziffern zu können, und reichte sie dann ihrer Gesellschaftsdame, einer Griechin, die ihr für gewöhnlich vorlas. Außer für Gedichte, Romane und Reisebücher hatte Arghira eine große Vorliebe für das Theater. Ja, das Theater war ihre wahre Leidenschaft. Gleich nachdem sie Calomfir geheiratet hatte, ließ sie die Wand zwischen zwei Räumen entfernen und durch Säulen ersetzen und richtete sich dort einen Theatersaal ein. Sie hätte gern selber Theater gespielt, ihre Kurzsichtigkeit hinderte sie jedoch daran. So begnügte sie sich damit, 125
ihre Freundinnen und deren Kinder spielen zu lassen. Sie hatte eine blühende Phantasie, entwarf aufsehenerregende Kostüme in grellen Farben und wählte selbst die Stoffe: purpurroten Samt, golddurchwirkte Gewebe, grüne, blaue und orangefarbene türkische Seiden, schneeweiße Schleier aus ungezwirnter Seide. Wenn die Schauspieler angekleidet waren, betastete sie die Stoffe, um sich zu überzeugen, ob alles nach ihren Anweisungen ausgeführt worden war. Die schreienden Farben konnte sie, auch ohne näherzutreten, erkennen. Wenn der Vorhang aufging, saß sie in einem Armstuhl vor der Bühne und verfolgte den Text, den sie fast immer auswendig kannte. Ihr Gatte hatte, wie ich Ihnen bereits erzählte, ein Vermögen für Ärzte und Linsenmeister ausgegeben. Sie probierten ihr allerlei Brillen an, doch alles war vergebens. Kaum setzte sie ein Glas auf, fingen ihre Augen an zu tränen. Kein Arzt konnte feststellen, warum Arghira keine Brille vertrug. Es kamen auch allerlei Quacksalber, doch auch ihre Wundermittel konnten Arghira nicht helfen. Eines Sonntagmorgens stieg jedoch ein junges Mädchen aus einem anderen Dorf nach der Messe zu Arghira ins Turmgemach hinauf und sagte ihr: ›Ich bin Zamfira. Wascht Euch mit diesem Wasser das Gesicht, und Gott wird Euch das Augenlicht wiedergeben.‹ Und so unwahrscheinlich das auch klingen mag, das Mädchen behielt recht. Arghira wusch sich mit jenem Wasser und wurde sehend wie alle Leute. Sie umarmte Zamfira, 126
beschenkte sie reichlich und ließ sie von nun an täglich zu sich ins Turmgemach kommen. Schließlich verheiratete sie das Mädchen mit einem Vertrauensmann ihres Vaters, namens Mântuleasa, und schenkte den beiden das Grundstück, auf dem späterhin die Mântuleasa-Straße gebaut wurde. Doch dies ist eine andere Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie Ihnen bei nächster Gelegenheit … Was ich Ihnen jetzt sagen will« – so nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf, nachdem er sich eine andere Zigarette angezündet hatte – »Dragomirs Cousine, die Bildhauerin, die in Wirklichkeit Marina hieß, hatte von all diesen Begebenheiten, die ich soeben erwähnte, bereits als Kind erfahren. Sie hielt Zamfira für eine Heilige, glaubte, ihr ähnlich zu sein, und identifizierte sich förmlich mit ihr. Sie redete sich ein, sie wäre die Reinkarnation jener Wundertäterin, Zamfira wandle wieder auf Erden, doch nicht um wie vor zweihundert Jahren Arghira das Augenlicht wiederzuschenken, sondern um allen Leuten die Augen zu öffnen. Marina hatte nämlich festgestellt, daß die Menschen nicht um sich blickten, daß sie einfach zu sehen verlernt hatten, und diese Blindheit hielt sie für die Quelle aller Übel auf Erden. Um sie davon zu heilen, wollte Marina die Leute lehren, Kunstwerke und vor allem Skulpturen zu betrachten. So erklärt sich ihre Schwäche für Oana. Dieses Riesenmädchen wäre wie geschaffen als Modell für eine Göttin, behauptete sie und kam daher immer wieder in Tunsus Schenke, um seine Tochter 127
zu zeichnen. Sie wurde nicht müde, Skizzen von Oana zu machen, und hatte bald ganze Mappen voll.« »Nein, Fărămă«, unterbrach ihn Anca Vogel mit einer brüsken Handbewegung. »Das alles interessiert mich nicht. Ich habe Sie gebeten, mir über Oanas Hochzeit zu erzählen.« »Darauf wäre ich ohnedies in wenigen Minuten zu sprechen gekommen«, sagte Fărămă errötend. »Marina und alle anderen Freunde Oanas waren ja bei der Hochzeit im Kloster Paserea anwesend.« »Wann fand die Hochzeit statt?« »Im Herbst des Jahres 1920.« »Und wann hat sich das alles zugetragen, was Sie mir vorhin über Marina, die sich Zamfira nannte, erzählten?« »Ungefähr ein Jahr vorher, also 1919.« »So, dann überspringen Sie diese Zeit und kommen Sie direkt auf Oanas Hochzeit zu sprechen.« Fărămă blickte zu Boden und rieb sich nervös die Knie. »Wenn Sie es wünschen, werde ich mich danach richten. Wenn Sie sich jedoch nur noch ein paar Augenblicke gedulden, möchte ich folgendes klarstellen: Marina hatte gerade begonnen, Oana in Stein zu meißeln. Sie wollte das Bildwerk ›Die Geburt der Venus‹ benennen. Da brach Oana mit Erlaubnis ihres Vaters ins Gebirge auf, und Marina blieb in diesem Sommer ohne Modell. Aus Verzweiflung lud sie die Jungens zu sich nach Hause ein, und sie feierten Nach für Nacht Gelage. Ein so herrschaftliches Haus hatte keiner meiner Schüler zuvor betreten.« 128
»Die paar Augenblicke sind längst vorbei«, unterbrach Anca Vogel ihn mit einem ironischen Lächeln. »Entschuldigen Sie. Es fällt mir schwer, gewisse Details einfach zu überspringen, denn so belanglos sie auf den ersten Blick auch scheinen mögen, sind sie doch von entscheidender Bedeutung für das, was später geschah. So mußte ich jenes alte, reiche Haus erwähnen, weil Marinas Tanten dort lebten. Diese beiden alten Damen schienen verrückt zu sein, doch der Schein war trügerisch.« »Na und? Was geht mich das an?« unterbrach Anca Vogel ihn barsch. »Das werden Sie bald hören. Bedenken Sie doch: noch keiner der Jungen war in jenem Sommer zwanzig! Diese alten Damen aber wollten sie davon abhalten, sich in ihre Nichte zu verlieben. ›Daß ihr mir nur ja kein Auge auf Marina werft‹, schärften sie ihnen fortwährend ein. ›Sie ist Dragomir zugedacht und muß ihn heiraten, sonst erlischt unser Stamm.‹« Fărămă stockte plötzlich. Mehr noch als das Telefon, das schrill zu läuten angefangen hatte, erschreckte ihn die jähe Wandlung, die er auf dem Gesicht der Frau ihm gegenüber wahrnahm. Anca Vogel blickte ihn finster an und drückte nervös die eben angezündete Zigarette aus. Dann hob sie den Hörer ab und zwang sich zu lächeln. Die Angst schnürte Fărămă die Kehle zu. Bestürzt wandte er den Blick fort und starrte den Bücherschrank an. »Schon gut«, hauchte die Frau in den Hörer, schwieg eine Weile, fügte geschwind etwas auf russisch hinzu und legte auf. 129
»Sie haben Glück, Fărămă«, sagte sie dann mit veränderter Stimme, füllte sich ein Glas, trank den Champagner in einem Zug aus, zündete sich eine neue Zigarette an und fügte mit einem geistesabwesenden Lächeln hinzu: »Ob Sie auch anderen Glück bringen, weiß ich allerdings nicht. Das wird sich erst zeigen. Jedenfalls scheinen die mysteriösen Geschichten, die Sie sich über Oana und Zamfira ausgedacht haben, mehr zu enthüllen, als Sie auch nur ahnen.« Der Alte erbleichte. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort«, stieß er mühsam hervor. »Unterbrechen Sie mich bitte nicht. Ich will jetzt nicht darauf eingehen, was an den abenteuerlichen Geschichten, die Sie so sorgfältig zu Papier bringen und uns immer wieder auftischen, auf Wahrheit beruht und was nicht. Mich interessiert lediglich die psychologische Seite des Falls. Ich frage mich: Was hat Sie dazu bewogen, uns mit den Produkten Ihrer blühenden Phantasie zu füttern? Warum schmücken Sie Ihre Erzählungen mit immer neuen Details aus? Treibt die Angst Sie dazu? Glauben Sie, auf diese Weise leichter davonzukommen? Was ist es, das Sie fürchten? Welche Gefahr sehen Sie auf sich zukommen?« Fărămă war noch bleicher geworden. Er rieb sich mechanisch die Knie und wagte kein Wort zu sagen, obwohl Anca Vogel ihn minutenlang musterte und offensichtlich eine Antwort von ihm erwartete. »Sie können jedenfalls von Glück sprechen«, sagte sie schließlich. »Sie ahnen nicht, was für eine Über130
raschung ich Ihnen heute nacht bereiten wollte. Nein, das hätten Sie sich wirklich nicht träumen lassen«, fügte sie mit ironischem Lächeln hinzu. »Draußen wartet eine Limousine, und ich hatte mir vorgenommen, so gegen drei Uhr morgens, wenn, wie Sie so schön sagen, Gott auf Erden wandelt, eine Spazierfahrt auf der Mântuleasa-Straße mit Ihnen zu machen. Ich wollte, daß Sie auch mir die Häuser mit den alten Kellern, die Kneipen und vor allem Ihre Schule zeigen …« »Sie sollten sie im Sommer sehen, wenn die Aprikosen- und Kirschbäume schwer von Früchten sind«, begeisterte sich Fărămă. Die Frau musterte ihn wieder lange und schlürfte dann nachdenklich ihren Champagner. »Doch wie gesagt, Sie haben Glück. Ich werde nie erfahren, was Dichtung und was Wahrheit an Ihren Berichten gewesen ist. Denn die Mântuleasa-Straße kann nicht mehr betreten werden …« Als Fărămă erschrocken aufsprang, brach sie in ein schallendes Gelächter aus. »Genauer gesagt, sie kann heute nacht nicht mehr betreten werden. Jedenfalls nicht von uns beiden. Nicht von uns beiden«, wiederholte sie. »Somit sind die Dinge noch verworrener als in Ihrer Darstellung.« Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, drückte sie auf den Knopf. Sofort war ein Agent zur Stelle. »Geben Sie ihm paar Zigaretten und bringen Sie ihn schnell zum Wagen.« 131
Darauf gab sie sich einen Ruck und ging eilig ans andere Ende des Salons, wo hinter den Vorhängen ein Balkon zu sehen war. Fărămă zitterte am ganzen Leibe, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen, und verneigte sich tief. Er spürte, wie der Agent ihn am Arm packte und ließ sich widerstandslos abführen. Als sie jedoch in den Hof kamen, und er dort die wartende Gruppe ihm völlig unbekannter Männer in langen Mänteln gewahrte, begannen ihm die Knie zu schlottern, und er wäre zusammengesackt, hätte der Agent ihn nicht fest im Griff gehabt. »Was hat sie noch gesagt?« fragte einer der Männer, der beide Hände in den Taschen seines Mantels vergraben hatte. »Sie sagte, ich sollte ihm Zigaretten geben.«
IX Als er wieder zu sich kam, saß er auf einem Stuhl in einem schwach und seltsam beleuchteten Raum, in dem er nichts als den Schreibtisch vor sich und dahinter die Gesichter von zwei Unbekannten sah, die ihn mit kühler Neugierde musterten. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Fărămă, nachdem er sich verwirrt im ganzen Raum umgesehen hatte. »Ich war sehr müde. Ich weiß gar nicht, wie ich hierhergelangt bin. Ich hatte die Ehre, von der Genossin Ministerin Anca Vogel empfangen worden zu sein.« »In diesem Zusammenhang wollten wir Ihnen eben einige Fragen stellen«, unterbrach einer der Männer ihn. Er hatte schütteres glattgekämmtes Haar, trug eine dunkle Brille und hielt eine Akte in der Hand. »Wir möchten vor allem wissen, ob die Genossin Vogel im Gespräch mit Ihnen Economu erwähnt hat?« fragte der Mann, jedes seiner Worte betonend. »Den Unterstaatssekretär im Innenministerium?« staunte Fărămă. »Er ist nicht mehr Unterstaatssekretär. Wir möchten wissen, ob Genossin Anca Vogel mit Ihnen über Vasile Economu gesprochen hat. Versuchen Sie, sich genau zu erinnern«, fügte er hinzu, als Fărămă die Frage durch ein energisches Kopfschütteln verneint hatte. »Das ist äußerst wichtig und könnte Ihre Lage bedeutend erleichtern.« 133
Der andere Mann reichte dem Alten ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug. Er hatte ein melancholisches, gezwungenes Lächeln, das seine gelben, breit auseinanderstehenden Zähne entblößte. Fărămă nahm eine Zigarette, zündete sie rasch an und versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. »Ich versichere Ihnen, daß in den Gesprächen, die ich mit der Genossin Ministerin Vogel zu führen die Ehre gehabt habe, der Name Economu nie gefallen ist.« »Und dennoch sind Sie zur Genossin Vogel gerufen worden, nachdem Sie eine lange Unterredung mit Vasile Economu, damals noch Unterstaatssekretär im Innenministerium, gehabt haben.« »Eine lange Unterredung?« staunte Fărămă und zog den Rauch tief in seine Lungen ein. »Herr Economu hat kaum mehr als ein paar Worte mit mir gesprochen. Er hatte mich eigens zu sich gerufen, damit ich ihm einiges über Oana, die Tochter eines Schankwirtes aus Obor erzähle. Ich sprach, und Herr Economu hörte mir zu.« »Das ist ja gerade der springende Punkt«, unterbrach ihn der Mann mit der dunklen Brille von neuem. »Nachdem Sie dem Economu gewisse Dinge über Oana erzählt haben, ließ die Genossin Vogel Sie zu sich rufen und das alles nochmals wiederholen. Warum tat sie das? Hat Economu ihr nicht etwa zu verstehen gegeben, daß man von Ihnen auch andere Dinge über Oana erfahren könnte, Dinge, die die Genossin Vogel direkt angehen?« fügte er nach einer Pause hinzu und durchbohrte Fărămă mit dem Blick. 134
Fărămă sah zu Boden. »Was für Dinge? Was für Dinge könnten an einer so alten Geschichte, die der Genossin Vogel gar nicht glaubhaft erschien, die sie für die Ausgeburt meiner erhitzten Phantasie hielt, die Genossin Ministerin direkt angehen?« »Woher wissen Sie, daß Ihre Geschichten Genossin Vogel nicht glaubhaft erschienen?« »Weil sie es mir selber gesagt hat, gestern abend oder vorige Nacht oder jedenfalls, als ich das letzte Mal bei ihr gewesen bin.« »Wann hat sie Ihnen zu verstehen gegeben, daß sie Ihren Worten keinen Glauben schenkt? War es vor oder nach dem Telefonanruf, den sie erhielt?« Fărămă erbleichte und zerdrückte verwirrt die Zigarette im Aschenbecher. »Nachher«, f lüsterte er. »Nach dem Telefongespräch.« Die beiden wechselten einen flüchtigen Blick, ihre Miene heiterte sich jedoch nicht auf. »Klarerweise nachher! Bis zum Telefongespräch hatte sie sich also nicht anmerken lassen, daß sie die Wahrhaftigkeit Ihrer Worte bezweifelte. Nun möchten wir folgendes herausbekommen: Was hat Economu, nachdem er die Geschichte Oanas erfuhr, zur Annahme veranlaßt, daß gewisse Dinge oder sogar nur eine einzige gewisse Sache in Zusammenhang mit dieser Geschichte die Genossin Vogel unmittelbar angehen könnte? Oder um noch deutlicher zu sein: Versuchen Sie sich zu erinnern, ob Sie Economu, als Sie 135
ihm Oanas Erlebnisse schilderten, auch von ihrer Hochzeit im Kloster Paserea erzählt haben, beziehungsweise ob Sie ihm über Oanas Traum berichtet haben, über den Traum, den das Mädchen damals im Kloster Paserea erzählt hat.« Fărămă führte die Hände zu den Schläfen und blieb eine Weile reglos sitzen. »Soweit ich mich erinnern kann, kam ich gar nicht dazu, Herrn Economu mehr zu erzählen als über Oanas Jugendjahre, über die Begebenheiten in Zusammenhang mit dem Doktor, über die Streifzüge der ganzen Freundesgruppe durch die kleinen Marktflecken der Walachei im Gefolge des Doktors.« »Über die Vorgänge im Jahre 1916 also«, unterbrach ihn der Mann mit der dunklen Brille und schlug die Aktenmappe auf. »Genau. Sommer 1916 vor dem Eintritt Rumäniens in den Krieg.« »Somit Dinge, die uns nicht interessieren. Kommen wir zur Sache: Konnten Sie uns schildern, wie die Genossin Vogel reagiert hat, als sie ihr über Oanas Hochzeit berichteten?« Fărămă lächelte. »Ich muß Ihnen gestehen«, sagte er aufgeräumt, »daß ich gar nicht dazu gekommen bin, der Genossin Ministerin diese fabelhafte Hochzeit zu schildern, obwohl sie mich mehrmals dazu aufgefordert, ja sogar darauf bestanden hatte. Und das nicht, weil ich der Genossin Vogel etwas vorenthalten wollte, sondern 136
weil man diese Geschichte, wie ich bereits mehrmals wiederholt habe, und nicht bloß der Genossin Ministerin, aus dem Zusammenhang gerissen, nicht verstehen kann. Um zu begreifen, was diese Hochzeit für Oana und all ihre Freunde bedeutet hat, muß man Begebenheiten kennen, die hundert, ja sogar zweihundert Jahre zurückliegen.« »Drücken Sie sich bitte deutlicher aus«, unterbrach ihn der Mann mit der dunklen Brille, während er aufmerksam die Akte durchblätterte. Der andere reichte Fărămă wieder das Päckchen Zigaretten und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Ich bezog mich auf die Geschichte Selims und die Geschichte des Bojaren Calomfir«, sagte Fărămă, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte. »Darüber haben Sie mehrmals geschrieben. Aber wir verstehen den Zusammenhang nicht. Ich will zusammenfassen, was Sie darüber geschrieben haben: Selim, der Sohn des Paschas aus Silistra rettet im Jahre 1835 einem etwa fünfzehnjährigen Jungen das Leben. Die beiden Knaben werden die besten Freunde. Selim heiratet in jungen Jahren eine Türkin und eine Griechin, die den mohammedanischen Glauben annimmt, entdeckt jedoch sehr bald, daß sein Freund ihn mit beiden Frauen betrügt, und verflucht ihn. Der Freund ändert seinen Namen, nennt sich Tunsu, flieht nach Siebenbürgen und von dort in die Walachei. Das geschah im Jahre 1848. Tunsu stellte vielen Frauen nach und fand auch bei ihnen Gefallen, scheute jedoch vor einem Ehebündnis zurück. Das 137
ging so bis zum Jahre 1870, als er fünfzig wurde. Da entschließt er sich endlich, eine Witwe mit drei Kindern zu heiraten.« Der Mann mit der Brille machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich sehe immer noch keinerlei Zusammenhang mit Oanas Hochzeit.« »Und dennoch steht ihre Hochzeit mit alldem in Zusammenhang. Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Sie traf ja Selims Fluch. Weil der Mensch, dem er das Leben gerettet hatte, ihn verriet, wünschte der Sohn des Paschas seinem untreuen Freund, daß nicht bloß ihm selber, sondern auch all seinen Nachfahren die Ehefrauen durchbrennen und ihre Töchter sich mit dem Vieh paaren sollen. Und so geschah es. Tunsu heiratete als Fünfzigjähriger, doch kaum war Fănică, das erste Kind, da, ging seine Frau mit einem seiner Knechte durch. Tunsu zog sich in den Wald zurück und lebte fortan einsam in der Nähe des Klosters Paserea. Sein Sohn Fănică wurde Schankwirt in Obor und Oanas Vater. Auch ihn verließ die Frau. Es hieß, sie wäre auf und davon, als sie von Selims Fluch erfuhr und Tag für Tag zusehen mußte, wie ihre Tochter ein Monstrum wurde. Die arme Oana war ein braves Mädchen, das niemandem Böses wollte, und doch hat auch sie schließlich Selims Fluch erreicht. Die Geschichte ist Ihnen ja bekannt.« »Ja, und gerade in Zusammenhang mit dieser Geschichte, die höchstwahrscheinlich von den Gebirgsbauern oder eher noch von deren Frauen erfunden 138
worden sein dürfte, wüßten wir gern Näheres über die Reaktion der Genossin Vogel. Wie hat sie sich dazu geäußert? Welchen Kommentar hat sie dazu gegeben? Erinnern Sie sich noch daran?« »Sie rief nur einige Male aus: ›Ein großartiges Weib!‹« Die beiden wechselten wieder einen ausdruckslosen, müden Blick. »Gehen wir nun zum nächsten Punkt über, ebenfalls in Zusammenhang mit Oanas Hochzeit. Sie behaupteten, die andere Geschichte, die Calomfirs, die 1700 anfängt, wäre ebenso wichtig. Das geht jedoch aus alldem, was Sie geschrieben oder mündlich erklärt haben, nicht hervor.« Der Mann mit der Brille öffnete wieder die Aktenmappe, nahm ein getipptes Blatt heraus, überflog es und fuhr dann äußerst bedächtig fort: »Ihre Berichte in Zusammenhang mit Calomfir waren schwer zusammenzufassen, weil sie fortwährend von Arghira und Zamfira, dem Mädchen, das ihr zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts das Augenlicht wiedergab, zur Bildhauerin überwechseln, die sich Zamfira nannte, obwohl sie Marina hieß, und die, wäre sie noch am Leben, Ihren Angaben gemäß heute ungefähr sechzig Jahre alt sein müßte. Hier sind Sie allerdings nicht konsequent, behaupten manchmal, sie wäre zehn, fünfzehn Jahre jünger, ein andermal, sie müßte jetzt viel älter sein. Ist das nicht merkwürdig?« fragte er Fărămă mit unverhohlener Ironie. »So genau die Daten der ande139
ren Personen aus unseren Tagen oder aus vergangenen Jahrhunderten in den meisten Fällen auch sein mögen, was Marina betrifft, stimmen sie nicht. Ihr Alter variiert in geradezu verdächtiger Weise.« »Das gebe ich zu«, sagte Fărămă nachdenklich. »Diese Marina ist mir bis heute ein Rätsel geblieben.« »Auf dieses Rätsel werden wir noch zu sprechen kommen und vielleicht werden wir es sogar lösen. Ich sagte, das Kapitel Calomfir wäre schwer zusammenzufassen, weil Sie ständig von einem Jahrhundert zum anderen springen. Sie springen von Calomfir und Arghira zu Dragomir und seiner Cousine Marina und erwähnen Mântuleasa nur so nebenbei …« Vor Nervosität begann Fărămă wieder unwillkürlich seine Knie zu reiben. »Alles, was Sie gesagt und mehrmals wiederholt haben, ist, daß Arghira Zamfira mit einem Mann vom Hofe, namens Mântuleasa verheiratet und den Jungvermählten das Grundstück geschenkt hat, auf dem später die Mântuleasa-Straße erbaut wurde. Ist es möglich, daß Sie sich gerade an diese Familie, die in ihrer nächsten Nähe lebte, so wenig erinnern, obwohl Sie doch über die Ihnen weit ferner stehende Familie des Bojaren Calomfir und des Dragomir Calomfirescu eine solche Fülle von Einzelheiten im Gedächtnis behalten haben?« »Über die Familie Mântuleasa habe ich nie allzuviel gewußt«, entschuldigte sich Fărămă und senkte den Blick. »Wissen Sie, ich kümmerte mich nur um die 140
Schule und was ringsum war: die Häuser, die Gärten, die Gartenlokale …« Die beiden Männer am Schreibtisch sahen einander schweigend an. Der mit den gelben, auseinanderstehenden Zähnen machte ein saures Gesicht, zuckte die Achseln und reichte Fărămă wieder das Päckchen Zigaretten. »Lassen wir das also jetzt beiseite, und kommen wir auf Oanas Hochzeit zurück«, sagte der andere wieder, während er zerstreut die maschinengeschriebene Seite überflog. »Ehe wir darauf zu sprechen kommen, möchte ich Ihnen noch eine Frage im Zusammenhang mit Mântuleasa stellen. Hat Genossin Vogel, als Sie sie das letzte Mal sahen, Mântuleasa erwähnt? Sprach sie vielleicht über die MântuleasaStraße?« fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. Fărămă lächelte versonnen. »Natürlich hat sie darüber gesprochen«, sagte er mit unverkennbarem Stolz. »Sie hatte sogar eine Überraschung für mich vorbereitet. Sie beabsichtigte, nach drei Uhr morgens mit mir in ihrer Limousine dorthin zu fahren, denn sie wollte den Zauber dieser Straße selber kennenlernen. Ich sagte ihr allerdings, daß es jetzt, wo der Winter vor der Tür steht, nicht viel zu sehen geben würde. Ich schlug vor, diese Spazierfahrt im Frühling zu machen, wenn die Aprikosenbäume in voller Blüte stehen, oder im Sommer, wenn die Kirschen reifen …« Die beiden Männer hörten gespannt zu. »Und dennoch hat sie diesen Plan fallenlassen«, 141
sagte der mit der dunklen Brille. »Weshalb? Was für einen Grund gab sie dafür an?« »Sie sagte, in dieser Nacht würde es nicht mehr möglich sein, zumindest uns beiden würde es nicht mehr möglich sein …« »Das hat sie Ihnen natürlich nach dem Telefonanruf gesagt. Hat sie sonst nichts mehr hinzugefügt?« »Nein. Das war alles.« »Gut. Kommen wir also auf Oanas Hochzeit zurück. Da interessieren uns vor allem zwei Dinge: der Traum, den Oana damals erzählte, und das seltsame Verhalten von Marina. Ihre drei Berichte darüber weichen sehr voneinander ab, obwohl Sie sie alle innerhalb von nur wenigen Monaten verfaßt haben. Fangen wir mit Oanas Traum an, den Sie, wie Sie soeben erklärten, weder Vasile Economu noch der Genossin Vogel erzählt haben«, fügte er, die letzten Worte mit Nachdruck betonend, hinzu, sah von der maschinengeschriebenen Seite auf und ließ seinen prüfenden Blick auf Fărămă ruhen. »Ehe wir ihn analysieren, möchte ich, daß Sie uns diesen Traum nochmals so genau wie möglich, mit allen Einzelheiten, an die Sie sich erinnern können, erzählen. Wir legen Wert auf jedes Detail.« Fărămă seufzte und legte müde die Hände auf seine Knie. »Nur den Traum, nicht auch das, was vorher geschehen ist?« fragte er kaum hörbar. »Nur den Traum. Was vorher geschehen ist, interessiert uns weniger.« 142
Fărămă starrte eine Weile ins Leere. Er schien sich zu sammeln. »Es war so«, begann er schließlich. »Oana hatte diesen Traum in jener Samstagnacht vor der Hochzeit und erzählte ihn uns am Sonntagabend beim Festmahl. Wir saßen alle um den Tisch herum, der Bräutigam, der estländische Professor, zu ihrer Rechten, ihr Vater zu ihrer Linken. Plötzlich wandte Oana sich an Lixandru und sagte ihm: ›Hör zu, Lixandru, deute mir folgenden Traum: Mir träumte, daß ich in der Donau schwamm. Ich schwamm lange stromaufwärts, bis ich endlich zu ihren Quellen gelangte. Dort, an der Stelle, wo sie der Erde entspringt, drang ich in eine riesige, funkelnde Höhle ein, deren Wände mit lauter Edelsteinen bespickt waren und in der Tausende von Kerzen brannten.‹ Ein Priester stand an meiner Seite und flüsterte mir ins Ohr: ›Es ist Ostern, darum haben sie so viele Kerzen angezündet.‹ Im gleichen Augenblick vernahm ich die Stimme eines Unsichtbaren: ›Hier feiern wir nicht Ostern, denn hier leben wir noch im Zeitalter des Alten Testaments!‹ Ich empfand große Freude beim Anblick der vielen Kerzen und funkelnden Edelsteine und dachte: ›Welch ein Glück, daß es mir gegeben wurde, die Heiligkeit des Alten Testaments zu begreifen. Wie sehr hat Gott doch jene Menschen geliebt, die zur Zeit des Alten Testaments lebten!‹ ›Mit diesen Worten erwachte ich.‹ Dies war der Traum, den Oana uns erzählte.« »Fahren Sie fort«, forderte der andere Fărămă auf, 143
als er sah, daß der Alte schwieg. »Was nun folgt, ist ebenso wichtig.« »Was nun folgt …«, wiederholte Fărămă in Gedanken versunken. »Ja, es ist noch vieles vorgefallen in jener Nacht.« »Wir möchten nun genau wissen, wie Lixandru, Darvari und Marina auf diesen Traum reagiert haben.« »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, sagte Fărămă. »Ich saß neben Lixandru, und es fiel mir auf, daß Oanas Traum ihn in große Aufregung versetzte. Er war ganz blaß geworden, und als sie zu Ende gesprochen hatte, sprang er, wie von der Tarantel gestochen, auf, stürzte auf sie zu, ergriff ihre Hand und rief aus: ›Auch dir haben sich also die Zeichen offenbart, sie sind dir im Traum erschienen! Das ist die unterirdische Grotte, die auch ich vor langer Zeit gesehen habe. Dort lebt auch jetzt noch Iozi. Wärst du nicht so schnell aufgewacht, du wärst ihm begegnet, und er hätte uns vielleicht durch dich wissen lassen, wie wir die Stelle wiederfinden könnten, von der aus man dorthin gelangt.‹ Dann schien er es zu bereuen, vor den vielen Hochzeitsgästen darüber gesprochen zu haben. Er wurde verlegen, entschuldigte sich und kehrte schweigend auf seinen Platz an meiner Seite zurück. Nun konnte er aber Marina nicht wieder loswerden. Sie hatte ihm gespannt zugehört und war ganz entzückt. ›Erklär uns doch die Zeichen!‹ rief sie ihm vom anderen Ende des Tisches zu. Lixandru strahlte über das ganze Gesicht, hüllte sich aber in Schweigen. Da 144
stand Marina auf, setzte sich zu ihm, legte ihren Arm um seine Taille und wich die ganze Nacht nicht mehr von seiner Seite, obwohl sie ganz genau wußte, daß sie durch ihr Benehmen den eifersüchtigen Darvari zur Verzweiflung trieb. Viele waren überzeugt, daß die Freundschaft zwischen Darvari und Lixandru in jener Nacht in die Brüche gehen würde. Aber das stimmte nicht.« »Aus Ihren bisherigen Erklärungen geht eigentlich gerade das Gegenteil hervor«, unterbrach ihn der Mann mit der dunklen Brille. »Doch wir wollen uns später Ihre Erklärung dafür anhören. Zunächst möchte ich nur die wesentlichen Punkte festhalten, die in all Ihren drei Versionen vorkommen und die Sie auch vorhin erwähnt haben: 1. Die Höhle, die so funkelte, als wären ihre Wände mit lauter Edelsteinen bespickt. 2. Die Anspielung auf das Alte Testament. 3. Die Tatsache, daß der Traum im Kloster Paserea erzählt wurde. In Anbetracht dessen, was wir wissen und was geschehen ist, halten wir es nun für absolut unmöglich, daß Economu diesen Traum nicht gekannt haben soll. Zweifellos hat er ihn gleich der Genossin Vogel weitererzählt. Er dürfte ihr auch suggeriert haben, Sie zu sich zu rufen und sich diesen Traum von Ihnen erzählen zu lassen, um möglicherweise auch noch andere Einzelheiten von Ihnen zu erfahren.« »Und dennoch habe ich den Traum nicht erzählt.« »Das bleibt noch zu beweisen. Übrigens war Economu der Inhalt dieses Traumes auch aus Ihren 145
schriftlichen Erklärungen, die ihm ja zur Verfügung standen, bekannt. Wir haben einen maschinegeschriebenen Text Ihrer Erklärungen auf seinem Schreibtisch gefunden.« »Na und? Was wollen Sie damit sagen? Ich begreife den Zusammenhang nicht«, sagte Fărămă und blickte von einem zum anderen. »Das gerade bezweifeln wir. Ihre Behauptung ist nämlich höchst unglaubwürdig«, mischte sich der Mann mit den gelben Zähnen ein und bot Fărămă noch eine Zigarette an. »Es müßten sonst eine Reihe von Zufällen im Spiel gewesen sein, noch seltsamer als das mysteriöse Verschwinden von Iozi und die anderen Wunder, über die Sie uns berichtet haben.« »Ich begreife nicht, worauf Sie anspielen.« »Wenn alles, was Sie da behaupten, der Wahrheit entspricht und Sie es nicht begreifen, müssen Sie sehr erschöpft sein. Denn es ist doch klar wie der hellichte Tag! In der Tat, nur wenn Economu und die Genossin Vogel den Traum gekannt haben, läßt sich erklären, warum Economu, einer der wenigen, die wußten, daß im Herbst 1939 ein Teil des polnischen Staatsschatzes im Paserea-Wald vergraben worden war, Economu, der einzige, der Kenntnis davon hatte, daß große Mengen von Gold und Schmuck dort gehortet wurden, nur so, sage ich, erklärt es sich, warum Economu sich entschlossen hat, diesen Schatz eines Nachts heimlich in den Keller seines Hauses in der Calomfirescu-Straße zu schaffen, in das Haus, das er in diesem Frühling beschlagnahmt 146
hat; eine Tatsache, die Ihnen, nebenbei bemerkt, unmöglich entgangen sein kann, da Sie, wie Sie selber des öfteren wiederholt, und wie einvernommene Zeugen in parallel laufenden Untersuchungen uns inzwischen bestätigt haben, täglich im ganzen Mântuleasa-Viertel spazierenzugehen pflegten und, sooft eine Übersiedlung stattfand, durch verschiedene Mittel herauszubekommen trachteten, wer da einzog.« Die Hände krampfhaft auf die Knie gepreßt, starrte Fărămă den verächtlich lächelnden Sprecher entgeistert an. »Nur so erklärt es sich«, fuhr dieser fort, »warum Economu vor wenigen Wochen unter dem Vorwand, sein Keller stünde unter Wasser, einem Vorwand, den er Ihren Geschichten entliehen hat, einige ihm treu ergebene Arbeiter holte und sie tief unten im Keller ein Versteck für das Gold und den Schmuck aus Paserea graben ließ. Welches seine weiteren Absichten waren, wissen wir nicht genau. Vermutlich gedachte er, seine hohe Stellung ausnützend, den übriggebliebenen Teil des polnischen Staatsschatzes ins Ausland zu verschieben. Vielleicht hoffte er auch, die Genossin Vogel für seinen Plan zu gewinnen und suggerierte ihr daher, Sie zu sich zu rufen, damit Sie ihr von Oana erzählen, vor allem von Oanas Traum, mit dem so deutlichen Hinweis auf das Glückseligkeit verheißende Alte Testament. Ich weiß nicht, in welchem Maße die Genossin Vogel sich von diesem Plan verlocken ließ. Daß sie entschlossen war, in eben jener Nacht, in der der polnische Staatsschatz aus 147
dem Kloster Paserea in die Calomfirescu-Straße, also zwei Schritte von der Mântuleasa-Straße entfernt, geschafft werden sollte, nach drei Uhr morgens eine Spazierfahrt mit Ihnen zu unternehmen, ist jedenfalls verdächtig. Nicht minder verdächtig ist es, daß Economu, als er zufällig erfuhr, man wäre ihm auf die Schliche gekommen, um Viertel nach eins in seinem Büro Selbstmord verübte, und daß wenige Minuten später Genossin Vogel von einer fremden Stelle angerufen und informiert wurde, daß der Sonderdienst einen Teil des Mântuleasa-Viertels absperren und durchsuchen würde, worauf sie die geplante Spazierfahrt schleunigst aufgab und zugleich an der Glaubwürdigkeit Ihrer Geschichten zu zweifeln anfing. Sie werden uns schwerlich davon überzeugen, daß all diese Vorfälle nicht miteinander in Zusammenhang stehen. Ich glaube vielmehr, daß Ihre Müdigkeit Sie bis jetzt daran gehindert hat, sich genau an die Gespräche zu erinnern, die Sie mit Economu und der Genossin Vogel geführt haben. Ihre Lage würde sich wesentlich verbessern, wenn Sie uns durch eine klare, eindeutige Erklärung die Beziehungen zwischen Economu und der Genossin Vogel bestätigen würden. Daß die beiden, die in gleichem Maße erpicht darauf waren, sich die Geschichte von Oanas Hochzeit anzuhören, unter einer Decke steckten, wird Ihnen doch gewiß nicht entgangen sein.« Fărămă starrte ihn erschrocken und zugleich flehend an, als wollte er ihn beschwören fortzufahren. 148
»Und das alles«, stieß er nach einer Weile mühsam hervor, »das alles soll eben erst vor wenigen Stunden passiert sein?« »Nein«, unterbrach ihn der Mann mit der dunklen Brille. »Sie waren sehr erschöpft. Sie sind es immer noch. Deshalb erinnern Sie sich nicht. Das alles ist vor drei Tagen geschehen. Aber weil Sie in einem Zustand völliger Erschöpfung hierhergebracht wurden, weil Sie so schwach waren, hat der Arzt Ihnen eine Spritze gegeben, und seither haben Sie ununterbrochen geschlafen.« »Aber seien Sie unbesorgt«, fügte der andere lächelnd hinzu, »Sie wurden während der ganzen Zeit künstlich ernährt. Hätte die Kur noch eine Woche gedauert, Sie hätten mindestens vier Pfund zugenommen …«
X »… sehen Sie«, hörte Fărămă den Mann am Schreibtisch plötzlich wieder sprechen, »nun erst nehmen die Dinge Gestalt an und fügen sich zu einem Gesamtbild. Das Ganze hat überhaupt nur einen Sinn, wenn wir von der Annahme ausgehen, daß Sie einerseits ein Geheimnis wahren, uns etwas vorenthalten wollen, andererseits Ihr Gedächtnis offenbar gelitten hat und Sie verrät. Wer kann sich schon auf sein Gedächtnis verlassen?! Ihr Gedächtnis hat mit der Präzision eines Fotoapparates Nebensächlichkeiten registriert, das Wesentliche aber nicht festgehalten. Es genügte daher, diese Nebensächlichkeiten mit peinlichster Genauigkeit und unerbittlicher Strenge unter die Lupe zu nehmen, um den Schlüssel zu finden zu alldem, was Sie uns verschweigen: Personen, ihre Handlungen und ihre Absichten. Dieses rigorose Untersuchungsverfahren ist nun abgeschlossen, und ich werde Ihnen nun einige der Schlußfolgerungen nennen, die wir daraus gezogen haben. Aus Gründen, die noch geklärt werden müssen, versuchen Sie hartnäckig die wahren Beziehungen zwischen Darvari, Lixandru und Marina zu verheimlichen. Beziehungen, die uns verständlich machen könnten, was Darvari dazu veranlaßt hat, nach Rußland zu fliehen. Auf diesen Punkt, den wir Punkt 1 nennen wollen, werde ich noch zu sprechen kommen. Die zweite Schlußfolgerung, die wir gezogen haben, ist folgende: Aus Gründen, die ebenfalls erst 150
geklärt werden müssen, haben Sie ferner die Tatsache verschwiegen, daß Lixandru, gleich nachdem Darvari 1931/1932 nach Rußland gef lohen war, beschlossen hatte, ebenfalls zu verschwinden, wenn auch auf andere Art als Iozi und Darvari. Er änderte seine Identität, das heißt seinen Namen, seinen Beruf und vermutlich auch sein Aussehen. Tatsächlich läßt sich Lixandru seit 1932 dort nicht mehr blicken, wo er bisher unter diesem Namen bekannt gewesen war: weder in der Depositenbank, noch in der Bibliothek der Rumänischen Akademie, noch im Schachklub und schon gar nicht in den Restaurants und Gartenlokalen, wo er ständiger Gast zu sein pflegte und wo nach 1932 sich niemand entsinnen kann, ihn je gesehen zu haben. Andererseits haben wir Beweise, daß Lixandru weder gestorben ist, noch endgültig das Land verlassen hat. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er im Jahre 1932 ins Ausland gefahren und später unter anderem Namen zurückgekehrt ist. Fest steht, daß weder im Inland noch in irgendeinem Konsulat im Ausland der Tod eines Mannes namens Gheorghe P. Lixandru registriert wurde. Ja, noch mehr: Aus Ihren Erklärungen geht hervor, daß Sie ihn noch nach 1932 zufällig getroffen haben. Sie berichten allerdings weder, wie er aussah, noch was Sie mit ihm gesprochen haben, noch wie lange Sie mit ihm zusammengewesen sind, ob nur wenige Minuten, einige Stunden oder einen ganzen Tag. Daß auch Sie ihn seit langem nicht mehr gesehen haben, geht aus Ihrem verzweifelten Versuch 151
hervor, aus Borza, den Sie für Ihren ehemaligen Schüler hielten, herauszubekommen, ob er noch etwas über Lixandru wüßte. Freilich könnte das auch nur ein Täuschungsmanöver gewesen sein. Sie wollten sich vielleicht nur vergewissern, ob auch andere über Lixandrus Verbleib unterrichtet waren, ebenso wie Sie über ihn Bescheid wußten. Ich wiederhole: Das ist lediglich eine Vermutung … Die Darstellung von Punkt 2 scheint Ihnen nicht recht einzuleuchten«, fügte er nach einer Pause schmunzelnd hinzu. »Ich finde mich nicht zurecht. Ich erinnere mich sehr wohl, begreife alles, dann aber entsteht eine Leere in meinem Kopf, und ich begreife nichts mehr.« »Sie waren sehr müde«, nahm der andere das Gespräch wieder auf, »aber die Sonderbehandlung, die Ihnen zuteil wurde, wird ihre Wirkung nicht verfehlen. Fangen wir also mit dem Punkt 1 an, zu dem die Analyse der verschiedenen Varianten von Oanas Hochzeit uns den Schlüssel geliefert hat. Ich will mich nicht in Erörterungen über die Varianten in Zusammenhang mit den Glanzleistungen, die der Doktor an jenem Morgen als Fakir, Zauberkünstler und Massenhypnotiseur zustande brachte, verlieren. Ich will mich auch nicht mit den Varianten in Zusammenhang mit der ersten, zwanzig Jahre zurückliegenden Begegnung zwischen dem Doktor und dem Waldhüter beschäftigen – ein ebenso phantastisches Abenteuer wie das Erlebnis des Bojaren Calomfir, das Verschwinden von Iozi und ähnliche Begeben152
heiten. Ich will meine Zeit nicht mit diesen Varianten verlieren, weil sie belanglos sind. Doch kommen wir auf die Beziehung zwischen Darvari, Lixandru und Marina zurück. Sie behaupteten, die Freundschaft zwischen Lixandru und Darvari wäre in jener Nacht nicht in die Brüche gegangen, obwohl viele Leute lange Zeit davon überzeugt waren. Und dennoch«, sagte der Mann am Schreibtisch, die Akte aufschlagend, »haben Sie in einer früheren Erklärung behauptet, Marina hätte Darvari in jener Nacht folgendes zugerufen. Ich zitiere: ›Du sollst nicht Flieger werden, sonst kommst du nicht mehr zurück!‹ Worauf Darvari die beiden groß ansah und erwiderte: ›Ich fürchte den Tod nicht.‹ ›Ich habe nicht vom Tod gesprochen‹, fügte Marina hinzu. ›Ich sagte, du würdest nicht mehr zurückkommen.‹ Da brachen die beiden Burschen in Gelächter aus. Dann sah Darvari seinen Freund an und sagte: ›Wie dein Pfeil!‹ Lixandru wurde plötzlich sehr ernst und versuchte, die Rede auf etwas anderes zu bringen. ›Heute feiern wir Oanas Hochzeit!‹ rief er aus. ›Alles, was ihr vorhergesagt wurde, hat sich erfüllt. Wir sollten uns daher nicht versündigen, indem wir Gott durch neue Prophezeiungen herausfordern und ihm weitere Geheimnisse zu entlocken versuchen.‹ Darvari ließ sich aber nicht ohne weiteres von ihm überzeugen. ›Vielleicht ist auch Marina mit Geheimzeichen vertraut, vielleicht weiß sie mehr als wir‹, beharrte er. ›Laß sie uns doch erklären, was sie damit gemeint hat: Ich würde nicht wiederkehren.‹ 153
Sie sehen also, daß zwischen Ihrer schriftlichen Erklärung vom 20. August und dem, was Sie vor einigen Tagen behauptet haben, ein Widerspruch besteht. Einmal behaupten Sie, Lixandru, Darvari und Marina hätten wichtige Dinge miteinander besprochen. Aus dem Text, den Sie am 20. August verfaßt haben, geht hingegen hervor, daß die Beziehung zwischen den beiden Freunden immer gespannter wurde. Man gewinnt den Eindruck, Darvari hätte sich plötzlich entschlossen, nicht mehr nach der Pfeife seines Freundes zu tanzen, sondern ihm in allem und jedem zu widersprechen und zuwiderzuhandeln.« »Alles, was Sie jetzt erwähnen«, sprach Fărămă mühsam, »ist nicht geschehen, nachdem Oana ihnen ihren Traum erzählt hat, sondern vorher. Als Darvari späterhin bemerkte, daß Marina nicht mehr von Lixandrus Seite wich, war ihm das gewiß nicht gleichgültig. Er grollte den beiden und wurde streitsüchtig. Dennoch blieben sie – das kann ich Ihnen versichern – ebenso eng befreundet, wie sie es bis dahin gewesen waren.« »Dem Anschein nach blieben sie natürlich enge Freunde. In der Tiefe ihrer Seele aber ging zweifellos eine Wandlung vor sich. Marina dürfte sich darüber im klaren gewesen sein; das geht ganz deutlich aus ihrem Verhalten hervor. Nachdem sie die ganze Zeit über an Lixandrus Seite gesessen hatte, kam sie plötzlich bei Tagesanbruch, als sie alle aus der Verzauberung erwachten, in die der Doktor sie versetzt hatte, 154
auf Darvari zu, schloß ihn in die Arme und rief laut, daß alle es hören konnten: ›Wenn du mich wirklich so sehr liebst, wie du behauptest, wirst du dann zehn Jahre auf mich warten?‹ ›Ich werde so lange auf dich warten, wie du es willst‹, erwiderte Darvari. ›Ich bin bereit, nicht nur zehn sondern auch zwanzig und fünfzig Jahre zu warten.‹ ›Dann lade gleich alle hier Anwesenden zu unserer Hochzeit ein. Sie soll, von heute an gerechnet, in zehn Jahren, im September 1930, hier im Kloster stattfinden, und Lixandru und Oana sollen unsere Trauzeugen sein.‹ ›Nicht Lixandru‹, unterbrach sie Darvari, ›sondern der Doktor und Oana.‹ In Ihrer Erklärung vom 20. August, aus der ich die obigen Stellen zitiert habe, berichten Sie nicht, wie Lixandru darauf reagiert hat. Er war sicherlich gekränkt, weshalb sich Marina sofort wieder an Darvari wandte und geschwind hinzufügte: ›Ich gebe dir allerdings zu bedenken, daß ich viel zu alt bin für dich. Du glaubst, es sei bloß ein Altersunterschied von fünf, sechs Jahren zwischen uns, aber ich bin um zwanzig Jahre älter als du, ich werde bald vierzig.‹ Alle Leute hielten das natürlich für einen Scherz und brachen in schallendes Gelächter aus. Darvari aber rief: ›Und wärest du fünfzig, im Jahre 1930 also sechzig, ich würde dennoch auf dich warten, denn ich werde dich bis in alle Ewigkeit lieben!‹« »Das hat er tatsächlich gesagt«, sprach Fărămă leise, wie aus dem Schlaf geweckt. »Natürlich hatte Marina das alles nicht ernst ge155
meint. Einerseits hatte sie Darvari selbst davor gewarnt, Flieger zu werden, weil er dann ›nicht zurückkehren würde‹, andererseits war dort beim Festmahl auch ihr Vetter Dragomir zugegen, und jedermann wußte, daß die beiden gewissermaßen von Kind auf miteinander verlobt waren. Die Familie hatte es so beschlossen, ›damit das Geschlecht der Calomfirs nicht aussterbe‹. Aus alldem können wir nur die eine Schlußfolgerung ziehen: Marina fühlte, daß die Freundschaft zwischen Darvari und Lixandru in Brüche ging und hatte das alles nur gesagt, um Darvari versöhnlicher zu stimmen.« »Und dennoch«, sagte Fărămă, »erinnere ich mich an folgende Bemerkung der Genossin Ministerin Vogel …« »Die Genossin Vogel ist nicht mehr Ministerin. Sie ist mit einer anderen Aufgabe betraut worden.« Fărămă verstummte. »Kommen wir also zu Punkt 1 zurück. Wiewohl Marina sich offenkundig einen Spaß mit ihm erlaubt hat, nahm Darvari ihre Worte für bare Münze. Von hier an wird Ihre Darstellung der Dinge immer unübersichtlicher. Sie zwingen uns, im dunkeln zu tappen, und wir fragen uns, warum Sie das tun. Handelt es sich um eine Gedächtnislücke, um mangelndes Interesse für die Geschehnisse zwischen 1920 und dem Verschwinden Darvaris zehn Jahre später, im Sommer 1930, oder haben Sie einfach den Entschluß gefaßt, uns gewisse Vorfälle um jeden Preis zu verheimlichen, Vorfälle, die uns nicht bloß über die 156
Motive für Darvaris Flucht, sondern auch über den Sinn von Lixandrus Metamorphose Aufschluß geben könnten. Ich persönlich neige dazu, letzteres anzunehmen, und will Ihnen auch auseinandersetzen, weshalb. Im Grunde genommen, haben Sie uns im Verlauf der vielen Verhöre und in den vielen Hundert Seiten, die Sie geschrieben haben, über die Beziehungen zwischen Darvari, Lixandru und Marina von 1920–1930 äußerst wenig gesagt. Sie kommen immer wieder auf dasselbe zurück, erzählen die gleichen Vorgänge unzählige Male. Ich will das von Ihnen so oft Wiedergekaute nun zusammenfassen: Sie behaupteten mehrmals, Marina hätte Darvari gestanden, sie wäre tatsächlich um zwanzig oder sogar dreißig Jahre älter als er. Ich zitiere: ›Dragomir wagt nicht, mich zu heiraten, weil er über mein Alter Bescheid weiß.‹ Einmal, im Jahre 1925 oder 1926, soll sie Darvari sogar ihre Geburtsurkunde gezeigt haben, aus der hervorging, daß sie damals nahezu sechzig Jahre alt war. Diese Geburtsurkunde war, wie Sie hervorheben, im Ausland ausgestellt. Darvari soll Marina erschrocken angesehen haben, nicht – wie Sie hinzufügen – weil er ihr wahres Alter erfuhr, sondern weil sie plötzlich tatsächlich so alt aussah. ›Wenn du mich immer noch liebst, jetzt, nachdem du erfahren hast, daß ich bald sechzig werde, darfst du mir einen Kuß geben‹, hatte Marina gesagt. Worauf Darvari, wie Sie schreiben, erblaßte und sie wie versteinert ansah. Da rief Marina mit exaltierter Stimme aus: ›Das ist 157
Männerliebe! Ihr seid nur auf junge Mädchen scharf!‹ Mit diesen Worten rannte sie aus dem Salon und kehrte nach wenigen Augenblicken zurück, ebenso jung aussehend wie in jener Nacht, als Darvari sie im Jahre 1919 in Fănică Tunsus Schenke kennengelernt hatte. Darvari fiel ihr zu Füßen, doch sie ließ sich nicht von ihm küssen, sagte ihm nur lächelnd: ›Ich nehme es dir nicht übel, denn naiv, wie alle Männer sind, nimmst du sicherlich an, ich hätte mich als alte Frau zurechtgeschminkt, um dir einen Schrecken einzujagen, dann aber hättest du mir leid getan. Und deshalb habe ich mich abgeschminkt. Ich wiederhole es dir jedoch noch einmal, daß ich tatsächlich eine alte Frau bin, was du übrigens auch aus meinem Geburtsschein ersehen kannst.‹ Darvari hörte ihr glücklich zu, denn damals hatte er ja eine zwanzig-, höchstens fünfundzwanzigjährige Frau vor sich. Aus Ihren Erklärungen können wir nicht klug werden und wissen nicht, was damals wirklich vorgefallen ist. Sie behaupten nur, daß Marina, die ja in allem ihrer Ahnin Arghira nacheiferte, gern Theater spielte, daß sie sich sonderbar, ja exzentrisch zu kleiden, sich das Haar zu pudern und sich auffällig zu schminken pflegte wie alte Frauen, die hoffen, auf diese Weise jünger auszusehen. Sie behaupten, daß Marina durch diese Aufmachung manchmal wirklich alt aussah. Glauben Sie, daß Marina, als sie Darvari ihren Geburtsschein vorlegte, sich tatsächlich das Gesicht einer Sechzigjährigen zurechtgeschminkt hatte, um Darvari hinters Licht zu führen?« 158
»Das habe ich lange Zeit geglaubt«, gab Fărămă zu. »Doch ich habe mich getäuscht.« »Das ist sehr wahrscheinlich. Denn Sie selber behaupteten, Darvari hätte nicht gleich von Anfang an gemerkt, wie alt Marina war. Die Augen wären ihm erst aufgegangen, nachdem sie ihm ihre Geburtsurkunde gezeigt hatte. Marina konnte sich somit ganz nach Belieben verwandeln. Sie beherrschte da eine besondere Technik. Und nun kommen wir zur letzten und wichtigsten Episode, die Sie uns leider immer nur in sehr knappen Worten geschildert haben. Ich beziehe mich auf jene Sommernacht im Jahre 1930, in der Marina aus uns unbegreiflichen Gründen Darvari bei sich behielt und zum ersten Mal mit ihm schlief. Ich sage aus unbegreiflichen Gründen, da sich einem die Frage, warum sie das nicht schon vorher getan hatte, warum sie zehn Jahre darauf gewartet hat und sich erst einige Wochen vor der Hochzeit mit ihm einließ, förmlich aufdrängt. Aus Ihren Erzählungen geht jedenfalls hervor, daß die beiden an jenem Abend zusammen ausgegangen waren. Sie saßen im Garten eines Lokals in Cotroceni, und Darvari schien verliebter als je zuvor, denn Marina hatte sich ganz anders angezogen als sonst; ihr Kleid war von unauffälliger Eleganz, sie hatte sich auch weder gepudert noch geschminkt und hatte den Teint eines jungen Mädchens, sie sah wieder so aus, wie er sie vor elf Jahren kennengelernt hatte. Dies ist eine Zusammenfassung Ihres Textes vom 159
20. August. Was nachher geschah, ist ziemlich unverständlich. Die beiden jungen Leute verbrachten die Nacht miteinander. Als Darvari am Morgen erwachte, beugte er sich über seine Geliebte, um sie zu küssen. Da sah er im Dämmerlicht des Morgens zu seinem Entsetzen – wie Sie schreiben –, daß Marina eine alte Frau war, viel älter, als ihr Geburtsschein es bezeugte. Darvari konnte es nicht fassen. Er blieb lange wie versteinert auf dem Bett sitzen und stand dann leise auf, um Marina nicht zu wecken. Er war noch nicht ganz angezogen, da merkte er, daß Marina ihn lächelnd betrachtete. ›Ich weiß, was du vorhast‹, sagte sie ihm. ›Mach es wenigstens nicht so banal wie alle anderen. Unternimm die große Flucht, steige auf, steige immer höher auf!‹ Dann rief sie ihm noch exaltierter nach: ›Ich werde dir einen Talisman schenken, und du wirst mit seiner Hilfe Lixandrus Pfeil finden!‹ Ob Darvari ihre letzten Worte noch gehört hat, ist ungewiß. Denn er hatte schweigend das Zimmer verlassen. Das alles, behaupten Sie, später von Lixandru erfahren zu haben. Ihm hatte Marina es noch am gleichen Tag erzählt. Wenn ich richtig verstanden habe, zog sich Marina, nachdem Darvari die Tür hinter sich geschlossen hatte, ebenfalls sofort an und lief fort, um Lixandru aufzusuchen. Sie fand ihn erst spät, um die Mittagszeit. Nachdem sie ihm alles anvertraut hatte, fügte sie hinzu: ›Ich vermute, daß er vorhat, mit dem Flugzeug durchzugehen. Er schwebt in großer Gefahr und ist sich dessen nicht bewußt. Versuch du, 160
ihn davon abzuhalten.‹ ›Meinst du, er sei in Gefahr, weil du nicht dazu gekommen bist, ihm den Talisman zu geben?‹ fragte Lixandru sie – ob im Ernst oder im Scherz, ist schwer zu sagen. ›Nein, das ist bloß eine Metapher gewesen, die er nicht verstanden hat‹, erwiderte ihm Marina. ›Ich besitze keinen Talisman und habe ihm zur ‘großen Flucht’ nur geraten, um ihn auf die Probe zu stellen; es sollte ihm eine Lehre sein, sich künftighin nicht mehr vom Schein täuschen zu lassen. Denn ich war weder heute nacht zwanzig Jahre alt, wie er es sich eingebildet hat, noch heute morgen über sechzig, wie es ihm vorkam. Ich habe das Alter, das ich eben habe …‹ Nach Ihren eigenen Worten hielt Lixandru sie wie immer für fünfundzwanzig, höchstens dreißig. Jedenfalls kam Lixandru zu spät zum Flughafen, und dort gelang es ihm erst nach mehreren Stunden des Wartens, den Geschwaderchef zu sprechen. Mittlerweile war Darvari in Konstanza gelandet, hatte vollgetankt und war gen Osten weitergeflogen … Das hört sich wie ein schönes Märchen, wie eine traurige Liebesgeschichte an. Doch sehen Sie, Sie haben erklärt, das alles von Lixandru, nur von ihm erfahren zu haben. Marina, behaupten Sie, seit 1925 oder 1926 nicht mehr getroffen zu haben. In einer anderen Aussage behaupten Sie, ungefähr um die gleiche Zeit Darvari getroffen zu haben. Er soll damals auf Marinas ›Zauberkünste‹ angespielt haben. Er soll Ihnen versichert haben, er wäre in sie ebenso verliebt wie eh und je, und soll Sie daran erinnert haben, daß Sie 161
für den September 1930 zu deren Hochzeit eingeladen wären. Eine Reihe von Einzelheiten widerlegen jedoch Lixandrus Version. Erstens war es selbst im Jahre 1930 für einen Piloten unmöglich, ohne präzise Anweisungen und Befehle einen Flughafen zu betreten, ein Flugzeug zu besteigen und einfach davonzufliegen. Wenn Darvari das gelungen ist, so muß er diese Flucht vorausgeplant und mit Hilfe von Komplicen in Bukarest und in Konstanza in die Wege geleitet haben. Daß Darvari nicht zufällig verschwunden ist, sondern vorsätzlich gehandelt hat, steht, wie die Untersuchung ergeben hat, außer Zweifel. Wer jedoch seine Helfershelfer waren, das konnten wir nie ermitteln. Für uns ist das von großer Bedeutung. Es drängen sich da mehrere Hypothesen auf. Die erste und plausibelste scheint folgende: Darvari unternimmt die Flucht nach sorgfältiger Vorbereitung mit Hilfe von Freunden, deren Schuld zwar noch nicht erwiesen ist, die wir jedoch mit gutem Grund der Mittäterschaft verdächtigen. Welches Darvaris Mission war, steht noch nicht fest. Halten wir uns jedoch das Datum seiner Flucht – August 1930 – vor Augen, so können wir uns den Sinn dieser Mission wohl vorstellen. Obwohl sie nicht mehr so enge Freunde waren wie bisher, gesteht Darvari Lixandru im letzten Augenblick seinen Entschluß. Welche Rolle Lixandru beim Verschwinden Darvaris gespielt hat, wissen wir zur Zeit noch nicht. Und solange wir Punkt 2 nicht geklärt haben, solange wir nicht über Lixandrus neue Existenz im 162
Bilde sind, können wir es auch nicht wissen. Denn nur wenn wir wissen, unter welchem Namen er seit 1932 hier lebt, werden wir auch wissen, welche Rolle er bei der Flucht Darvaris gespielt hat. Und dann werden wir auch noch etwas anderes wissen: Ob er auf unserer Seite oder gegen uns war. Und nun will ich Ihnen eine Frage stellen, eine einzige Frage. Sie werden vermutlich nicht bereit sein, gleich zu antworten. Doch werden wir die Antwort schon herausbekommen. Sie wissen längst über Lixandrus neue Identität Bescheid. Sie wissen auch, daß er so gut untergetaucht ist, daß niemand, der nicht Zeuge seiner Metamorphose war, niemand der nicht vor und nach 1931/32 mit ihm Kontakt hatte, ihn wiedererkennen würde. Nun sind Sie zufällig der einzige Zeuge dieser Metamorphose. Deshalb sind Sie für uns sehr wichtig. Denn sehen Sie, wenn er für alle außer für Sie unerkennbar ist, dann kann er jedermann in diesem Lande sein, er kann einer von uns sein, er kann einer unserer bedeutendsten Männer sein, einer der die Geschicke unseres Volkes lenkt. Kurz und gut, meine Frage lautet: Wer ist Lixandru, jetzt und hier, in dieser Stadt, vielleicht sogar in diesem Gebäude? Sie kennen ihn. Sagen Sie uns: Wer ist er?«
XI Der Sommer kam in jenem Jahr unerwartet früh. Wenn Fărămă am Nachmittag seinen Spaziergang machte, hielt er sich dicht an die Planken, wo die Bäume Schatten spendeten, warf einen Blick in die umhegenden Gärten und blieb vor den mit Früchten beladenen Aprikosen- und Kirschbäumen stehen, als warte er immer wieder darauf, einen seiner Schüler hinaufklettern zu sehen. Wenn er schließlich aus seinen Träumen erwachte, beschleunigte er den Schritt und suchte eine der Bänke, auf denen er so gerne ausruhte. Saß bereits jemand auf der Bank, so lüftete Fărămă seinen Strohhut und fragte höflich, ob er sich dazusetzen dürfte. Wenige Augenblicke später fragte er nach der Zeit, bedankte sich ebenso höflich, ließ sich aber nicht in Gespräche ein. Versuchte der Mann, der neben ihm saß, mit ihm ins Gespräch zu kommen, so hörte Fărămă ihm eine Zeitlang mit leichtem Kopfschütteln zu, stand dann auf, zog den Hut zum Gruß und ging weiter. An einem heißen Julinachmittag erspähte er von weitem eine leere Bank und freute sich, da er sehr müde war. Schwerfällig setzte er sich hin, zog sein Taschentuch hervor, wickelte es sich um den Hals und fächelte sich mit dem Hut Luft zu. Die Straße war wie ausgestorben. Er legte den Hut neben sich auf die Bank, stützte den Kopf in seine Rechte und schloß die Augen. Bald übermannte ihn der Schlaf. Nach einer Weile erwachte er und fuhr zusammen. An sei164
ner Seite saß ein Fremder. Er hatte Fărămă den Rükken zugewandt, so daß dieser sein Gesicht nicht sehen konnte. »Entschuldigen Sie«, sprach Fărămă ihn an. »Ich war wohl eingenickt. Es ist so heiß.« Und wieder fächelte er sich Luft zu mit dem Hut. Der Unbekannte drehte sich um, lächelte, nahm jedoch gleich die Lektüre der Zeitschrift, die er in der Hand hielt, wieder auf. Nach einer Weile ging ein Junge vorüber, der sich Mund und Hände mit Maulbeeren schwarz gemacht hatte. Fărămă sah ihm lächelnd nach. »Entschuldigen Sie, könnten Sie mir vielleicht sagen, wie spät es ist?« fragte er schließlich den Fremden. »Es mag zwei Uhr sein, fünf nach zwei«, erwiderte dieser, ohne aufzuschauen. »Danke schön. Ich bin nämlich für Viertel nach zwei, halb drei mit jemandem verabredet. Ich habe also noch Zeit, mich ein bißchen auszuruhen. Es ist sehr heiß …« Der Unbekannte wandte sich um, lächelte, nickte und nahm wieder seine Lektüre auf. Gleich darauf schien er sich jedoch auf etwas zu besinnen, hörte zu lesen auf und sah Fărămă mit gespieltem Erstaunen an. Dann schlug er wieder die Zeitschrift auf. »Sie haben sich sehr verändert, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe, Herr Direktor«, murmelte er, ohne aufzuschauen. »Sie werden auch viel durchgemacht haben. Ich habe Sie kaum wiedererkannt.« 165
Fărămă fuhr fort, sich mit dem Hut Luft zuzufächeln und schwieg. »Erinnern Sie sich nicht mehr an mich? Ich war vor vielen, sehr vielen Jahren Ihr Schüler. Aber wie sollten Sie sich an mich erinnern. Ich bin Borza, Vasile I. Borza.« »Borza? Vasile I. Borza?« wiederholte Fărămă und legte seinen Hut auf die Knie. »Wie merkwürdig!« fügte er seufzend hinzu. »Erinnern Sie sich noch, wie ich vom Aprikosenbaum heruntergefallen bin und mir den Schädel eingeschlagen habe? Sie trugen mich damals auf Ihren Armen in die Direktionskanzlei und bandagierten mir den Kopf. Und am nächsten Tag fand die 10. Mai-Feier * statt.« »Ja, ja, ich glaube mich zu erinnern«, sagte Fărămă. »Doch ich frage mich, ob ich nicht träume?« Er stand auf, verneigte sich mehrmals und fügte hinzu: »Ich muß jetzt leider gehen. Ich bin für Viertel nach zwei, halb drei mit jemandem verabredet. Es ist auch schrecklich heiß geworden. Sehr erfreut über die Bekanntschaft.« Der Fremde legte die Zeitschrift neben sich auf die Bank und zündete sich nachdenklich eine Zigarette an. Nachdem Fărămă hinter der Straßenecke verschwunden war, trat ein Mann aus dem Hof eines nahegelegenen Hauses heraus und kam auf die Bank zu. * ehemaliger rumänischer Nationalfeiertag
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»Hast du etwas aus ihm herausbekommen?« fragte er, ohne sich hinzusetzen. »Nein. Er tat so, als würde er mich nicht erkennen«, sagte der Mann auf der Bank. »Kein Wunder«, fügte er hinzu und versuchte die Zeitschrift in seine Rocktasche zu stecken. »Ich habe den eingedrillten Spruch heruntergeleiert und habe ihn vermutlich nicht überzeugt. Oder vielleicht hat er mittlerweile erfahren, daß Borza nicht mehr am Leben ist, und daher war ich ihm von Anfang an verdächtig.« Die beiden gingen nebeneinander. »Und dennoch müssen wir sein Vertrauen wiedergewinnen«, sagte der andere nach einer Weile leise. »Er ist bei Anca gewesen in jener Nacht, da alles geschah. Und dann wurde er von Nr. 1 und Nr. 3 verhört. Er weiß eine Menge Dinge. Er ist der einzige, der sie weiß. Wir müssen es noch einmal mit ihm versuchen …« Sie blieben an der Straßenecke stehen. »Versuch du es, Lixandru«, flüsterte der andere. Täsch, August 1955 Chicago, November 1967
328 Das hört sich wie ein schönes Märchen, wie eine traurige Liebesgeschichte an.