Nr. 385
Attentat auf Urgan Im Labyrinth des Rechengehirns von Kurt Mahr
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Nr. 385
Attentat auf Urgan Im Labyrinth des Rechengehirns von Kurt Mahr
Der Flug von Atlantis-Pthor durch die Dimensionen ist erneut unterbrochen wor den. Der Kontinent, der auf die Schwarze Galaxis zusteuerte, wurde durch den Kor sallophur-Stau gestoppt. Pthor ist nun umschlossen von Staub und planetarischen Trümmermassen, die von einem gewaltigen kosmischen Desaster zeugen, das sich in ferner Vergangenheit zugetragen hat. Die Zukunft sieht also nicht gerade rosig aus für Atlan und seine Mitstreiter. Alles, was sie gegenwärtig tun können, ist, die Lage auf Pthor zu stabilisieren und eine ge wisse Einigkeit unter den verschiedenartigen Clans, Stämmen und Völkern herbeizu führen. Die angestrebte Einigkeit der Pthorer ist auch bitter nötig, denn Pthor bekommt es mit den Krolocs zu tun, den Beherrschern des Korsallophur-Staus. Diese spinnen ähnlichen Wesen haben bereits eine rege Spähertätigkeit auf Pthor entfaltet, die auf eine drohende Invasion schließen läßt. Glücklicherweise findet die Invasion jedoch vorerst noch nicht statt – dafür trifft es die Eripäer, die in der Lichtung des Korsallophur-Staus leben, mit voller Wucht. Die Krolocs wollen sich erst ihrer alten Gegner entledigen, bevor sie sich Pthor zu wenden. Um die eripäische Verteidigung entscheidend zu schwächen, unternehmen sie das ATTENTAT AUF URGAN …
Attentat auf Urgan
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Die Hautpersonen des Romans:
Razamon und Balduur - Die Pthorer im Urgan-Labyrinth.
Mursync, Peilan und Quana - Die Urgan-Lauscher in Nöten.
Zeyl und Konos - Zwei Roboter.
Nunkapter und Quarxchs - Bewohner der Perdana.
1. Da standen wir – Balduur und ich, Raza mon aus der Familie Knyr: zwei Ritter von der traurigen Gestalt, denn die braunen Raumanzüge, die uns der Steuermann an Bord des Pyramidenbeiboots zur Verfügung gestellt hatte, waren alles andere als kleid sam. Wir wußten nicht so recht, woran wir wa ren. Noch vor einer halben Stunde hatten wir uns zusammen mit Pona, Tirsoth und Guran kor an Bord eines eripäischen Raumschiffs befunden, das zur Landung auf Aarl, der Hauptwelt der Eripäer, ansetzte. Nach der Landung waren die drei Eripäer plötzlich verschwunden. Unser dagegen hatten sich etliche bewaffnete und uniformierte Männer bemächtigt, die keinen Zweifel darüber lie ßen, daß wir jede ihrer Anweisungen zu be folgen hatten. Man hatte uns in bemerkens werter Eile von Bord und in ein Gebäude ge bracht, das am Rand des Raumhafens lag und so aussah, als diene es Verwaltungs zwecken. Wir waren in einen kleinen, kah len Raum geschafft worden, der von einer lumineszenten Leuchtplatte in der Decke spärlich erhellt wurde. Man hatte die Tür hinter uns verschlossen und verriegelt – und, wie gesagt: Da standen wir nun. Der Weg von Pthor bis in diese nichtssa gende Kammer auf der Welt Aarl war lang, mühselig und wirr gewesen. Balduur, ich und der Fenris-Wolf waren vor wer weiß wieviel Tagen von Pthor aufgebrochen, um zu erkunden, warum der Materiebrocken in mitten des Dimensionskorridors, durch den er auf die Schwarze Galaxis zuraste, plötz lich steckengeblieben war. Thalia hatte den Steuermann dazu überreden können, uns ei ne der sechs kleinen Pyramiden, die die Pe
ripherie der FESTUNG bildeten und in Wirklichkeit Raumboote waren, zur Verfü gung zu stellen. Ein Teil des Steuermanns machte die Reise mit. Unmittelbar nach dem Start von Pthor gerieten wir in den Korsallo phur-Stau – gewaltige Massen aus kosmi schem Staub und den Trümmerstücken zahl loser Planeten, die in grauer Vergangenheit hier kollidiert waren und einander zerrieben hatten. Die Ursache für Pthors Steckenblei ben war somit gefunden, aber wir bekamen keine Gelegenheit, diese Information nach Hause zu bringen. Wir wurden von den Kro locs eingefangen, spinnenähnlichen Intelli genzen, die im Innern des KorsallophurStaus ihr Unwesen trieben. Es kostete uns einige Mühe, den Spinnen schließlich wie der zu entkommen. Inzwischen hatten wir einer anderen Gefangenen der Krolocs zur Freiheit verhelfen können: Pona, der Enkelin des Lichtfürsten Nurcrahn von Zaardenfoort. Die Eripäer, zu denen Pona sich zählte, be wohnten ein Sonnensystem, das sich auf der sogenannten »Lichtung«, d.h. einem staub freien Raum, im Innern des Staus befand. Zu dieser Lichtung hatten Balduur und ich uns schließlich durchschlagen können. Un ser Pyramidenboot und Fenrir waren auf ei nem Stützpunkt der Krolocs namens Hyrco nia zurückgeblieben. Kaum in die Randzone der Lichtung eingedrungen, wurden wir von einem eripäischen Raumschiff aufge schnappt und an Bord einer Raumstation ge bracht. Man betrachtete uns als Spione der Krolocs, die immer wieder versuchten, das kleine Sternenreich der Eripäer zu überren nen, bis jetzt aber noch jedesmal mit bluti gen Köpfen wieder heimgeschickt worden waren. Unsere Berufung auf Pona nützte uns wenig – im Gegenteil, nun kam Pona in Ver dacht, ebenfalls eine Agentin der Krolocs zu sein. Das alles hatte mit einem Unglück zu
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tun, das sich in der Familie des Lichtfürsten Nurcrahn ereignet hatte und von dem später noch die Rede sein wird. Wir konnten einen Teil des Verdachts zerstreuen – soviel jeden falls, daß das Staatsoberhaupt der Eripäer, Gurankor, der manchmal auch schlicht »der Eripäer« genannt wurde, zu dem Schluß kam, unser Fall sei eine Untersuchung wert. Er war selbst nach Zaardenfoort gekommen, um uns von dort nach Aarl zu holen. Wir sollten uns vor den Urgan-Lauschern verant worten, und wie immer die Entscheidung der Lauscher ausfiel: Die Eripäer würden sich daran gebunden fühlen. Von den Urgan-Lauschern wußten wir nicht allzu viel. Nur daß es ihrer drei gab und daß sie die Vermittler zwischen den Eripäern und einem uralten, aber unglaub lich mächtigen Rechengehirn waren, das auf einer Anhöhe über der Hauptstadt Yardanso residierte. Das Gehirn hieß Urgan. Wir kannten darüber hinaus die Namen der drei Urgan-Lauscher, die uns allerdings nicht viel besagten, und wußten, daß es sich bei den Lauschern um zwei alte Männer und ei ne ebenso alte Frau handelte. Im Augenblick nahmen wir an, daß wir in die kahle Kammer gebracht worden waren, um auf die Urgan-Lauscher zu warten. Aber sicher waren wir unserer Sache nicht. Konn te sein, daß wir einer Gruppe in die Hände gefallen waren, die Gurankors Zielen ableh nend gegenüberstand, und daß auf uns das Fallbeil anstelle der Urgan-Lauscher warte te. Wir hätten kaum etwas dagegen unterneh men können. Die einzigen technischen Gerä te, die wir bei uns trugen, waren kleine Translatoren, die uns die Eripäer gegeben hatten, damit wir uns mit ihnen verständigen konnten. Waffen besaßen wir keine mehr.
* Mit Balduur war ich seit unserem Auf bruch von Pthor erstaunlich gut zurechtge kommen. Wer den Odinssohn nur aus der Zeit kannte, in der er an der Straße der
Mächtigen gehaust hatte, der würde ihn die ser Tage wohl schwerlich wiedererkennen. Balduur hatte sich zu einem Gesellen ge mausert, auf den man sich verlassen konnte, zu einem Kameraden, um genau zu sein. Er hatte auch begonnen, seine Gewohn heiten aus der Götter-Ära aufzugeben. Er machte keine großartigen Gesten mehr, wenn er sprach. Er erlaubte sich den Luxus einer Laune oder Stimmung, die der gegen wärtigen Lage angemessen war, anstatt ewig bärbeißig herumzulaufen. Und er benutzte große Worte wie »wahrlich«, »fürwahr« und »Neiding« nur noch, wenn er betrunken war. Zum Trinken aber hatten wir in den vergan genen Tagen wenig Gelegenheit gefunden. Was mit Balduur vor sich ging, war mir kein Geheimnis. Sein bisheriges Gehabe war von seiner Umgebung geprägt. Er war der finstere Bewohner einer finsteren Burg auf dem finsteren Pthor gewesen, belastet von einer unbewältigten, ebenfalls finsteren Ver gangenheit. Jetzt plötzlich erkannte er, daß es außer Pthor mit seinen ewigen Kämpfen, Intrigen und Zwistigkeiten noch andere Din ge gab. Eine gänzlich neue Welt hatte sich vor ihm aufgetan. Sie war zwar um kein Iota weniger feindselig als Pthor; aber sie bot Perspektiven, von deren Existenz der Odins sohn bis vor kurzem noch nicht einmal et was geahnt hatte. Er reagierte auf das Neue, indem er hinter seiner alten, grimmigen Maske hervorschlüpfte und sich wie ein nor maler Mensch zu benehmen begann. Dabei entwickelte er einen Tatendrang, der manch mal nur mühsam zu bändigen und in die richtigen Bahnen zu lenken war. Außerdem begegnete er der neuen Welt mit einer Nai vität, die aus seiner Unerfahrenheit rührte und mich dazu veranlaßte, ihn keine Sekun de aus dem Auge zu lassen, auf daß er uns mit seiner Ahnungslosigkeit nicht in Gefahr brächte. In diesem Augenblick fragte er mich: »Wozu, glaubst du, haben sie uns hier eingesperrt?« »Wir sind nach Aarl gekommen, um von den Urgan-Lauschern verhört zu werden«,
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antwortete ich. »Ich nehme an, daß wir hier auf die Lauscher warten sollen.« »Diese Behandlung gefällt mir nicht«, knurrte Balduur. »Was sagst du dazu: Wir rennen die Tür nieder!« »Hab noch eine Stunde Geduld!« bat ich ihn. »Gurankor ist freundlich zu uns gewe sen. Ich meine, wir stehen ein wenig in sei ner Schuld.« »Gut, wenn du meinst«, brummte er. »Aber wirklich nur eine Stunde!« Es stellte sich heraus, daß ich ziemlich knapp ge schätzt hatte. Es verging tatsächlich fast eine ganze Stunde, bevor sich die Tür ein zweites Mal öffnete. Draußen standen fünf Eripäer. Sie waren uniformiert und bewaffnet. Ihr Anführer erklärte: »Die Urgan-Lauscher erwarten euch! Kommt mit!«
* Die Eripäer waren zierliche, zerbrechlich wirkende Geschöpfe. Ihre Frauen wurden im Durchschnitt anderthalb Meter groß, die Männer etwas mehr. Auffallend waren an den Eripäern die übergroßen, ausdrucksvol len Augen, der völlige Mangel an Haar wuchs und schließlich eine gewisse Trans parenz der Körpersubstanz. Man meinte, durch den Körper eines solchen Wesens hin durchsehen zu können. Ihrer zierlichen Bauweise entsprechend, waren körperliche Leistungen nicht die star ke Seite der Eripäer. Ein Berserker hätte ge meint, man müsse solche Gestalten mit einer Hand entzweibrechen können. Auf der ande ren Seite aber waren die Eripäer die Besitzer und Bewahrer einer hochentwickelten Kul tur und einer fortgeschrittenen Technik. Die Eripäer hätten den maraudierenden Krolocs draußen im Korsallophur-Stau schon längst den Garaus gemacht, wenn ihnen das Ge heimnis der Durchdringungsenergie bekannt gewesen wäre. Dieses aber kannten nur die Krolocs. Sie hüllten ihre primitiven Schei benfahrzeuge in dichte Feldschirme aus Durchdringungsenergie und durchpflügten
die Staub- und Trümmermassen des Staus, als seien sie nicht vorhanden. Die Eripäer dagegen, der Durchdringungsenergie unkun dig, blieben mit ihren Riesenraumern im Stau hilflos stecken. Immerhin hatten sie es bis jetzt geschafft, die Krolocs von der Lich tung fernzuhalten. Wenn es eines gab, was mich an den Eripäern unsicher machte, dann war es die Frage, warum sie sich nicht schon längst ei ne der Kroloc-Scheiben geschnappt und die Technik der Durchdringungsenergie einfach abgeschaut hatten. Nach meiner Ansicht mußte dies für sie eine Leichtigkeit sein. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie nicht schon längst selbst auf den Gedanken ge kommen waren. Aber vielleicht hatte das mit dem Trauma zu tun, unter dem die eripäische Gesellschaft litt. Ich nannte es das Drei-Augen-Trauma. Es hatte mit der Vor geschichte der Eripäer zu tun. Aber das ist eine lange Geschichte, die woandershin ge hört. Unsere fünf Wachtposten brachten uns zum Ausgang des Gebäudes, wo ein großes, geschlossenes Fahrzeug auf uns wartete. Wir mußten einsteigen. Drinnen gab es Reihen von Einzelsitzen. Ich suchte mir einen, der unmittelbar an einem kleinen, runden Fen ster stand. Draußen war es inzwischen dun kel geworden – d.h. so dunkel, wie es auf ei ner Welt der Eripäer jemals wird. Diese klei nen Wesen verehren nämlich das Licht und hassen die Finsternis. Aarl war eine hoch entwickelte, dicht besiedelte Industriewelt. Zwischen den Bauten erhoben sich immer wieder hohe Türme, von denen aus grelle Sonnenlampen tagesgleiche Helligkeit ver breiteten. Das Fahrzeug setzte sich geräuschlos in Bewegung. Vier der fünf Eripäer hatten in meiner und Balduurs Nähe Platz genommen. Der fünfte war in eine kleine Kabine am Bug verschwunden und machte offenbar den Piloten. Das Fahrzeug bewegte sich in gerin ger Höhe über weite Flächen von Gebäuden, die um diese Tageszeit leer zu sein schienen. Wahrscheinlich handelte es sich um Indu
6 strieanlagen. Eine Zeit später kamen wir über unbebautes, mit schütterem Gras be wachsenes Gelände. Auch hier standen Ma sten mit den Sonnenlampen, und das Gras sah wahrscheinlich deswegen so kümmer lich aus, weil es durch die ständige Hellig keit in seinem Lebensrhythmus gestört war. Nach etwa einer halben Stunde erreichten wir ein riesiges, düsteres Gebäude, das sich mitten aus der Grasfläche erhob und den Eindruck machte, als sei es vor mindestens einem Jahrhundert außer Dienst gestellt worden. In der Seite des Gebäudes gab es, etwa in der Mitte, eine tiefe und breite Ni sche, in die eine Landeplattform eingebaut war. Auf dieser Plattform setzte unser Fahr zeug auf. Man forderte uns zum Aussteigen auf. Die vier Eripäer – der Pilot kam nicht wieder zum Vorschein – führten uns auf ei ne portalähnliche Öffnung in der Wand des Gebäudes zu. Als wir hindurchschritten, schaltete sich selbsttätig die Beleuchtung ein. Wir blickten in einen langen, kahlen Gang, der die gesamte Ausdehnung des Bauwerks entlang zu führen schien. Die vier Wachtposten hatten uns inzwischen in die Mitte genommen. Wir gingen etwa einhun dert Schritte, dann wurde zu unserer Linken eine Tür geöffnet. Wir gelangten in einen Raum, der mich an Bilder von der Erde des 20. Jahrhunderts er innerte. So hatte es damals in den terrani schen Industriezentren ausgesehen, als Ferti gungsanlagen in den alten Stadtkernen auf gegeben und neue Einrichtungen auf dem flachen Land geschaffen wurden. Hier hat ten früher Maschinen gestanden. Die Sockel waren noch zu sehen und die Spuren der Werkzeuge, mit denen die Aggregate aus ih ren Verankerungen gelöst worden waren. Schutt bedeckte den Boden der Halle mitun ter knöcheltief. Die Lampen in der hohen Decke waren grell und unverkleidet. Plötzlich sagte Balduur: »Das werden sie doch nicht etwa sein?« Ich fuhr herum. Die vier Wächter waren verschwunden. Die Tür hatte sich hinter uns geschlossen: Seitwärts stand ein langer
Kurt Mahr Tisch, hinter dem in bequemen Sesseln drei Eripäer saßen. Sie hatten umfangreiche, ka stenförmige Geräte vor sich auf dem Tisch liegen. Ich sah Kontrollampen flackern und beobachtete, wie sich die drei Gestalten im mer wieder über die merkwürdigen Kästen beugten und etwas hineinflüsterten. Sie wa ren so damit beschäftigt, daß sie uns über haupt noch nicht wahrgenommen hatten. Balduurs besorgte Frage fand sofort mein Verständnis. Die drei waren Eripäer, das war gewiß. Sie waren gleichzeitig die ältesten Angehörigen dieses Volkes, die ich bis jetzt zu sehen bekommen hatte. Diese drei wirkten, als könne es nur noch eine Frage von Minuten sein, bis sie um kippten und tot von ihren Sesseln fielen. Wenn das die Urgan-Lauscher waren, die für die eripäische Gesellschaft eine so un vergleichlich wichtige Rolle spielten, dann war es um die Zukunft des eripäischen Rei ches in der Tat besorgniserregend bestellt. Trotz des Alters der drei Gestalten ließ sich erkennen, daß zwei von ihnen Männer waren, während die dritte dem weiblichen Geschlecht angehörte. Also waren sie wahr scheinlich doch die Lauscher, von denen wir verhört werden sollten, damit sie sich ein Urteil über uns bilden konnten. »Das sind sie«, sagte ich zu Balduur.
* Ich schritt auf den Tisch zu. Unterwegs kickte ich einen Trümmerbrocken beiseite. Er holperte über den unebenen Boden und prallte schließlich mit lautem Knall gegen eine Wand. Das störte die drei Lauscher nicht. Sie fuhren fort, sich über ihre Geräte zu beugen und ihnen Worte zuzuwispern, die so leise waren, daß mein Translator sie nicht auffing. Vor dem Tisch blieb ich stehen. »Wir sind da!« sagte ich laut und deutlich. Einer der drei Alten sah kurz auf. Seine Augen waren groß, aber sie hatten nicht die nachtdunkle Farbe, die man an anderen Eripäern bemerkte. Sie waren grau und von
Attentat auf Urgan zahllosen roten Äderchen durchlaufen. »Ja, das ist recht«, wurde mir geantwortet. Gleich darauf beugte sich der Greis wie der über den Kasten. Er wisperte etwas. Diesmal stand ich nahe genug. Mein Trans lator übersetzte: »Sektor einundzwanzig … gefährliches Vakuum … drei Einheiten … postieren … schnellstens geschehen!« Ich stutzte. Waren das Anweisungen an die eripäische Verteidigungsflotte, die ent lang des Randes der Lichtung stationiert war? Lenkten die drei Alten von hier aus die Bewegungen der Flottenverbände und sorg ten dafür, daß in dem Verteidigungsring um die Lichtung keine Lücke entstand? Wenn das der Fall war, was tat dann Urgan, das Rechengehirn? Von Gurankor hatte ich den Eindruck erhalten, daß Urgan die gesamte eripäische Verteidigung vollautomatisch be sorge. Aus dieser Sicht betrachtet, mutete die Tätigkeit der drei Urgan-Lauscher ge heimnisvoll an. Was war hier im Gang? Lei steten die drei Alten dem Rechengehirn Un terstützung – oder wollten sie etwa Urgans Aktionen stören? Ich mußte es wissen! Ich mußte herausfin den, was hier vorging. Mein größtes Pro blem in diesem Augenblick war, die Auf merksamkeit der Lauscher auf mich zu len ken. Der erste Versuch war fehlgeschlagen. Ich mußte zu drastischeren Mitteln greifen. »Sie haben offenbar keine Zeit, sich um uns zu kümmern«, erklärte ich. »Wir werden später wiederkommen.« Der Alte, vor dem ich stand, nahm eine Serie von Schaltungen vor. Ohne den Blick zu heben, erklärte er: »Das können Sie nicht! Niemand darf das Gebäude verlassen.« »Das werden wir sehen!« trumpfte ich auf. Der Urgan-Lauscher fuhr fort zu schalten. Seine beiden Kollegen waren ebenfalls un unterbrochen beschäftigt. Ich warf Balduur einen aufmunternden Blick zu. Wir wandten uns um und schritten auf den Ausgang zu. »Was haben Sie gesagt?« rief da der Alte
7 hinter mir her. »Wir werden sehen, habe ich gesagt.« »Was werden Sie sehen?« »Ob niemand das Gebäude verlassen darf.« »Das ist so. Die Türen sind versperrt.« Ich mußte die Gelegenheit ausnützen. Der Lauscher hatte sich von dem Schaltkasten ablenken lassen. Es durfte in unserer Unter haltung auch nicht die geringste Pause ein treten, sonst würde er sich sofort wieder dem Gerät zuwenden. »Versperrte Türen lassen sich aufbre chen«, erklärte ich. »Warum haben Sie es so eilig?« wollte der Eripäer wissen. »Wir sind hierhergebracht worden, um uns von Ihnen verhören zu lassen. Von Ihrer Entscheidung soll abhängen, ob man uns auf der Lichtung als Gäste oder als Feinde be trachtet. Glauben Sie, ich möchte diese Ent scheidung lange hinausgeschoben sehen?« Der alte Eripäer machte eine abwehrende Geste. »Nein, das ist nicht so«, erklärte er mit müder Stimme. »Sie sollen hier nicht ver hört werden. Man hat der Öffentlichkeit et was vorgespielt, um Dinge, die nicht jeder zu wissen braucht geheimzuhalten.« Ich war verblüfft. »Warum sind wir dann hier?« fragte ich. »Wir brauchen Ihre Hilfe«, antwortete der Alte. Was war das? Hatte ich richtig gehört, oder narrte mich der Translator? »Hilfe?« wiederholte ich. »In welcher Hinsicht?« »Urgan hat vor wenigen Tagen alle Kom munikation mit der Außenwelt abgebrochen. Unsere Verteidigung gegen die Übergriffe der Krolocs steht kurz vor dem Zusammen bruch.«
2. Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bis ich begriffen hatte, was da eben gesagt wor den war. Mit ein paar raschen Schritten
8 stand ich von neuem vor dem Tisch der drei Alten. Nur der, der zu mir gesprochen hatte, sah zu mir auf. Die beiden anderen waren nach wie vor ausschließlich mit ihren Kästen beschäftigt. »Sie sind die Urgan-Lauscher?« fragte ich, um mich zu vergewissern. »Das ist richtig«, bestätigte der Alte. »Ich bin Mursync. Dieser hier nennt sich Peilan, und jene dort drüben ist Quana.« »Wie kommen Sie auf die Idee, daß wir Ihnen helfen können?« »Dazu ist eine längere Erklärung erforder lich«, antwortete Mursync. »Ich habe jetzt nicht die nötige Zeit. Ich muß mich um die Dinge kümmern, die Urgan seit jüngstem vernachlässigt.« Er schickte sich an, von neuem in den Ka sten zu wispern. »Aber wir sollen Ihnen helfen, Urgan wieder in Kontakt mit der Umwelt zu brin gen?« fragte ich rasch. »Ja«, antwortete er gequält. »Und bis wir Ihnen geholfen haben, wer den Sie damit beschäftigt sein, die Lücken zu füllen, die Urgan hinterlassen hat. Mann, das gibt keinen Sinn!« Die Lage erforderte eine drastische Akti on. Ich beugte mich über den Tisch und er griff den Kasten, dem Mursync soeben seine Aufmerksamkeit wieder zuwenden wollte. Das Gerät war ziemlich schwer. Ich zog es bis an den Rand der Tischplatte, so daß der Alte es nicht mehr erreichen konnte. Mursync sah entsetzt zu mir auf. Seine Wangen waren eingefallen, die Augenlider flatterten. Der Alte bebte am ganzen Körper! »Das … das dürfen Sie nicht tun!« stieß er hervor. »Es wird alles zusammenbrechen, wenn …« Jetzt sahen auch die beiden anderen auf. Sie waren ebenso erschrocken wie Mursync. Die drei Alten hatten sich derart in ihre Auf gabe verrannt, daß sie außer dieser Aufgabe nichts mehr zu sehen vermochten – nicht einmal die Notwendigkeit, daß sie uns einen Teil ihrer wertvollen Zeit würden widmen müssen, wenn wir ihnen helfen sollten.
Kurt Mahr »Ich bitte Sie, mir eine Minute zuzuhö ren!« sprach ich sie an. »Wir sind bereit, al les zu tun, was in unseren Kräften steht, um Ihnen zu helfen. Dazu brauchen wir Infor mationen. Nur einer von Ihnen kann uns die se Informationen geben. Ich schlage vor, daß Peilan und Quana mit ihrer Tätigkeit wie bisher fortfahren. Sie dagegen, Mursync, be fassen sich mit uns und klären uns über alles auf, was wir wissen müssen.« Ich mußte ziemlich überzeugend geklun gen haben. Das Entsetzen wich aus ihrem Blick, und Mursync hörte auf zu zittern. Die drei Alten unterhielten sich eine Zeitlang mit knappen Worten und wogen Vor- und Nach teile meines Vorschlags gegeneinander ab. Die Entscheidung fiel zugunsten meines Vorschlags. Mursync erhob sich langsam und schwerfällig von seinem Sessel. »Ich schlage vor, wir ziehen uns eine Strecke weit zurück«, erklärte der UrganLauscher mit matter Stimme. »Jetzt, da ich ausfalle, bedürfen Quana und Peilan der Ru he und Konzentration noch mehr als zuvor.«
* Wir gingen bis zur Mitte der Halle. Dort fand sich ein alter Maschinensockel, der ge rade die richtige Höhe für Mursync hatte. Ächzend ließ sich der Alte darauf nieder. »Ich gebe Ihnen am besten einen Über blick über die gegenwärtige Lage«, begann er. »Daran können Sie erkennen, wie groß die Gefahr ist, die uns allen droht. Peilan, Quana und ich können unmöglich sämtliche Steuerfunktionen Urgans übernehmen. Un ser Verstand arbeitet nur mit einem Million stel der Geschwindigkeit, die wir von Urgan gewöhnt sind. Die drei Lauscher können al so nur da eingreifen, wo die Gefahr am brennendsten ist. Alles andere muß liegen bleiben. Infolgedessen ist es den Krolocs im Lauf der vergangenen zwei Tage bereits zweimal gelungen, die eripäische Verteidi gungsfront zu durchbrechen und ins Innere der Lichtung vorzustoßen. Zwar wurden alle gegnerischen Fahrzeuge entweder zerstört
Attentat auf Urgan oder abgedrängt. Aber allein der Umstand, daß die Krolocs jetzt bewirken können, was ihnen nie zuvor möglich war, zeigt, wie ernst die Lage ist. Urgan muß unbedingt da zu veranlaßt werden, die Verteidigung des Reiches wieder zu übernehmen. Sonst ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann unser Widerstand zusammenbricht.« »Eine Frage von wieviel Zeit?« wollte ich wissen. »Wie lange können Sie sich unter den gegenwärtigen Bedingungen noch hal ten?« »Zehn Tage«, antwortete Mursync ohne Zögern. »Vielleicht zwölf. Es kommt darauf an, ob die Krolocs merken, was sich hier tut.« »Gut«, meinte ich. »Wir haben also we nigstens Zeit zum Nachdenken. Und gleich beim ersten Gedanken stoße ich auf eine Frage. Sie sind die Urgan-Lauscher, nicht wahr? Sie sind die einzigen, die zu dem Re chengehirn Zutritt haben. Warum unterneh men Sie es nicht, Urgan wieder zur Besin nung zu bringen?« »Wir haben es versucht. Wir sind zurück gewiesen worden. Urgan hat die Sperren vorgefahren.« »Wie wäre es mit Gewalt?« »Die Zugänge zu Urgan sind vielfältig ge sichert. Jemand, der mit Gewalt dort eindrin gen wollte, würde im Handumdrehen besei tigt. Aber es gibt noch einen zweiten Grund. Es ist denkbar, daß ein gewaltsamer Vorstoß von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt bleibt. Wie, stellen Sie sich vor, würde es auf die Eripäer wirken, wenn sie erführen, daß die Urgan-Lauscher eigenhändig ver sucht hätten, gewaltsam bei dem Rechner einzudringen?« Er konnte nicht so naiv sein, zu überse hen, daß er mir soeben genau den Grund ge nannt hatte, der geeignet war, meine Hilfs bereitschaft zu erdrosseln, noch bevor sie sich richtig hatte entfalten können. »Wenn jeder, der mit Gewalt eindringt, im Handumdrehen beseitigt wird«, sagte ich, »wie wollen Sie dann uns dazu überreden, einen solchen Versuch zu unternehmen?
9 Halten Sie uns für Selbstmörder?« Mursync war ungerührt. »Nein, aber für kräftiger und weniger empfindlich, als wir Eripäer es sind. Wir wissen nicht genau, wie Urgans Fallen funk tionieren. Aber wir nehmen an, daß sie le diglich darauf abgestellt sind, unliebsame Eindringlinge unschädlich zu machen, nicht aber, sie zu töten. Urgans Sicherheitsvorkeh rungen sind begreiflicherweise auf Eripäer kalibriert. Was einen Eripäer bewußtlos macht, das fügt Wesen wie Ihnen womög lich nur einen milden Schmerz zu.« »Womöglich!« wiederholte ich, nicht oh ne Spott. Mursync schien zu spüren, daß uns beiden die Begeisterung für sein Vorhaben allmäh lich abhanden kam. Er mußte sich beeilen, wenn er die Lage noch retten wollte. »Wir stellen Ihnen selbstverständlich alles Wissen zur Verfügung, das wir selbst besit zen.« »Zum Beispiel?« »Eine Karte, die die genaue Position aller Sicherheitsfallen anzeigt. Außerdem Schutz anzüge, die von Urgan selbst konstruiert wurden und gegen alle denkbaren Einflüsse schützen. Und schließlich zwei ebenfalls von Urban angefertigte Roboter, die sie als Vorausabteilung einsetzen können.« Ich verstand ihn nur zu gut. Er gab uns ei ne Landkarte, die alle Fallen zeigte. Wenn die Karte aber nichts wert war, dann besaßen wir erstens die Roboter, die wir statt unser selbst im Strahlenbündel einer Energiewaffe verglühen lassen konnten, und zweitens, wenn uns die Roboter ausgingen, Schutzan züge, die bei der nächsten Falle, indem sie die Strahlungsdosis milderten, dafür sorgten, daß wir wenigstens noch sehen konnten, wo her die tödliche Salve kam. Es war, das muß ich sagen, der unver schämteste Vorschlag, den man mir je ge macht hatte. Wenn ich aber in mich hineinhorchte, so meinte ich, irgendwo weit im Hintergrund eine Stimme zu vernehmen, die mich mahn te, den alten Mann mit seinen Sorgen nicht
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im Stich zu lassen. Die Sache begann, mich zu reizen. Ich hatte noch nie einer echten Herausforderung lange standhalten können. Und wenn ich Balduur ansah, dann er kannte ich an dem Ausdruck seiner Augen, daß er ähnlich empfand wie ich. »Wir sind bereit, ein solches Unterneh men ernsthaft in Erwägung zu ziehen«, er klärte ich Mursync. »Geben Sie uns die nöti gen Informationen und zeigen Sie uns die Karte sowie das Gerät!«
* Mursync führte uns in einen Raum, der an die verwahrloste Halle angrenzte. Hier war alles sauber und aufgeräumt. Die UrganLauscher hatten eine regelrechte Präsentati on vorbereitet. Mursync setzte einen Projektor in Betrieb. An der Wand erschien ein Bild der Haupt stadt Yardanso. Das Bild war dreidimensio nal, und die Projektion wirkte, als ob man durch ein Fenster blicke. Die beiden Hügel der Stadt – jener, auf dem sich das Regie rungszentrum Gnosier erhob, und der ande re, auf dem Urgan residierte – waren deut lich zu erkennen. Der Urgan-Hügel rückte näher. Die Projektion vermittelte uns den Eindruck, wir flögen in geringer Höhe, aber mit beträchtlicher Geschwindigkeit über Yardanso hinweg. In unmittelbarer Nähe des Urgan-Hügels hielt die Kamera an. Am Fuß des Hügels breitete sich ein Gewirr von en gen Straßen und Gassen aus. Die Gebäude machten einen verwahrlosten, zum Teil halb verfallenen Eindruck. Hier schien es mit den Segnungen der eripäischen Zivilisation nicht zum Besten zu stehen. Selbst die allgegen wärtigen Masten mit den Sonnenlampen, die die Nacht zum Tag machten, waren hier sel ten. »Das ist die Perdana«, erklärte Mursync, »die ärmste Gegend der Stadt. Dort wohnen die, denen die Natur die Fähigkeit versagt hat, sich ein hinreichendes Auskommen zu erarbeiten. Dort wohnen auch viele von den Fremden, die zur Lichtung geflüchtet sind,
als der Terror der Krolocs begann, unter ih nen solche, die das grelle Tageslicht scheuen oder die von dunkler Hautfarbe sind.« Damit sprach er ein Phänomen an, das ei ne Eigenart des eripäischen Charakters dar stellte. Für die Eripäer war das Licht etwas Göttliches. Ihre Sonne hieß SirkhPrelljaddum, was soviel wie Lichtquelle be deutet. Die drei Planeten, Damaukaaner, Aarl und Zaardenfoort, hatten zwar ihre Ei gennamen, wurden nebenbei aber auch Lichtträger 1, 2 und 3 genannt. In eben dem selben Maße, wie die Eripäer das Licht ver ehrten, verachteten, haßten oder fürchteten sie die Dunkelheit. Deswegen die hohen Türme, an denen während der Nacht die Sonnenlampen brannten. Wesen, die nicht dieselbe Verehrung für das Licht empfan den, hatten es unter den Eripäern schwer. Ebenso erging es Geschöpfen, die von der Natur mit einer dunklen Haut bedacht wor den waren. Wir selbst, Balduur und ich, wa ren unserer finsteren Bekleidung wegen schon angefeindet worden. Wir redeten uns gewöhnlich darauf hinaus, daß wir der An züge unserer Konstitution wegen bedürften, und stellten bereitwillig die Weiße unserer Haut unter Beweis. »Was hat es mit der Perdana auf sich?« fragte ich den Urgan-Lauscher. »Warum zei gen Sie sie uns?« »Weil Ihr Weg dort beginnen wird«, lau tete seine Antwort. »Es gibt nämlich unter dem Hügel, auf dem Urgan untergebracht ist, ein uraltes Labyrinth. Es hat sicherlich wenig Zweck, wenn Sie versuchen, sich dem Rechner auf dem herkömmlichen Weg zu nähern. Sie müssen ihn überlisten. Dazu bie tet das Labyrinth die beste Möglichkeit. Denn von einem zentralen Raum aus führt ein Schacht in die Höhe und mündet unmit telbar im Vorraum der Halle, in der Urgan installiert ist.« Die Kamera bewegte sich von neuem und rückte ein altersschwaches Gebäude, von dessen Fassade schon vor langer Zeit der Verputz abgebröckelt war, in den Vorder grund.
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»Das ist die Herberge der Nächtlinge«, er klärte Mursync. »In ihr wohnen Fremde, die das Licht der Sonne schlecht vertragen kön nen, aber auch blinde Eripäer. In den Keller geschossen dieses Hauses befindet sich der Eingang zum Labyrinth.« »Die Leute, die dort wohnen«, fragte ich, »wissen die von dem Eingang?« »Das ist kaum anzunehmen«, entgegnete der Urgan-Lauscher. »Es sei denn, sie hätten ihn durch Zufall gefunden.« »Werden die Bewohner der Herberge uns Schwierigkeiten machen?« wollte ich wis sen. »Das ist leider zu erwarten. Sie sind bitter gegen alle, die im Licht leben. Ich überlasse es Ihren taktischen Fähigkeiten, sich Zugang zu verschaffen.« Das war trostreich. Mursync empfand of fenbar keinerlei Gewissensbisse in der Rolle dessen, der zwar alle Schwierigkeiten ge treulich aufzeigte, aber für keine eine Lö sung wußte.
* Die Vorführung des technischen Materials war womöglich noch niederschmetternder. Die beiden Roboter waren wie zu kurz gera tene Eripäer geformt. Sie maßen etwa 1,30 Meter, und ihre Körperoberfläche bestand aus blankem Metall. Die Roboter hatten Na men: Zeyl und Konos. Sie sprachen mit schriller, raspelnder Stimme, die kaum eine Spur von Modulation aufwies. Balduur und ich stellten ihnen einige Fragen. Die Ant worten, die wir bekamen, waren zum Teil banal, zum anderen Teil falsch. Mit der In telligenz der beiden schien es nicht weit her zu sein. Sie waren Antiquitäten der eripäi schen Technik, wahre Museumsstücke. Die Karte, die Mursync uns versprochen hatte, entpuppte sich als ein Stück Druckfo lie, das so oft zusammengerollt, geknickt, gefaltet und gefalzt worden war, daß es die Konsistenz eines Stofflappens angenommen hatte. Der Druck war dadurch natürlich nicht besser geworden. Man sah eine Unzahl bun
ter Linien und Punkte. Die Erklärungen wa ren in eripäischer Schrift abgefaßt, die we der Balduur noch ich zu lesen verstanden. Glücklicherweise hatte Mursync in weiser Voraussicht einen kleinen Bandspeicher be sprochen, der uns mit Hilfe der Translatoren in die Lage versetzte, die Symbolik der Kar te zu verstehen. Die verschiedenen Farben, so schien es, repräsentierten verschiedene Stockwerke des Labyrinths. Ich zweifelte nicht daran, daß wir mit der Zeit lernen wür den, die Karte zu lesen. Die Frage war nur, für wie zuverlässig wir die Informationen halten sollten, die sie uns gab. Sie fiel etwa in dieselbe Altersgruppe wie Mursync und die beiden Roboter Zeyl und Konos. Und dann erst die Schutzmonturen! Sie waren so schwer, daß selbst der muskulöse Balduur Schwierigkeiten hatte, sie vom Bo den aufzuheben. Es waren keinerlei Gräte an ihnen zu erkennen. Ihre Funktion schien zu sein, den Träger einfach durch die Menge an Substanz zu schützen. Mursync wußte nichts über die Funktion der Anzüge. Sie waren, wie gesagt, nach Urgans Spezifikation ver fertigt worden – vor Hunderten von Jahren, nahm ich an. Aber zum Schluß kam doch noch etwas ans Tageslicht, was für uns nicht nur von Bedeutung, sondern auch nützlich war. Es ging dabei um die geheimnisvolle Art und Weise, wie wir von Gurankors Raumschiff zu dem Treffpunkt mit den drei UrganLauschern gebracht worden waren. Es stellte sich heraus, daß die drei UrganLauscher beizeiten daran gedacht hatten, daß es für Balduur und mich schwer, wenn nicht gar unmöglich sein würde, im Gebiet der Perdana zu operieren, solange wir als Gu rankors Schützlinge galten. Wir brauchten Bewegungsfreiheit, um den Eingang zum Labyrinth in der Herberge der Nächtlinge zu finden, und wir würden uns einen, womög lich zwei Tage in der Perdana aufhalten müssen. Daß die Fremden und Armen zwei Günstlingen Gurankors alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg werfen würden, lag auf der Hand. Es mußte also unser Image
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manipuliert werden. Während wir im Verwaltungsgebäude am Rand des Raumhafens warteten, war auf die Fahrzeugkolonne, mit der Gurankor und sei ne Begleiter zum Regierungspalast Gnosier zurückkehrte, ein Attentat verübt worden. Man hatte die Kolonne zum Anhalten ge zwungen. Es waren Schüsse gefallen. Die Attentäter hatten bewirkt, daß ihnen zwei Fremde namens Razamon und Balduur aus geliefert wurden. In den Nachrichten war davon die Rede, daß die Fremden den Ur gan-Lauschern hatten vorgeführt werden sollen, weil sie im Verdacht standen, krolo cische Spione zu sein. Die Nachrichten wollten fernerhin wissen, daß Razamon und Balduur keine Sekunde lang gezögert hätten, sich den Attentätern anzuschließen. Der Trick war Gold wert – vermutlich mehr als die Roboter, die Karte und die monströsen Schutzanzüge zusammengenom men. In der Perdana würden keine unnützen Fragen gestellt werden, wenn wir dort auf tauchten. Wer weiß, vielleicht bahnte uns die Nachricht von dem Attentat sogar einen Weg in die Herberge der Nächtlinge!
3. Die Eripäer waren überaus seßhafte Leu te. Das Reisen war nicht eine ihrer hervor stechendsten Gewohnheiten. Der Eripäer lebte und starb gewöhnlich unweit des Or tes, an dem er geboren war, und entfernte sich während seines Lebens im Durchschnitt ein halbes Dutzend Male weiter als fünfzig Kilometer von seinem Wohnort. Diese Stati stik hatte ich von Pona, der Enkelin des Lichtfürsten, und erwähnt werden muß sie deshalb, weil Balduur und ich, als wir uns in die Perdana aufmachten, die Folgen dieses Mangels an Reiselust sofort zu spüren beka men. Es gab nämlich keine Hotels. Wir waren aber darauf angewiesen, irgendwo in der Nähe der Herberge der Nächtlinge Unter kunft zu finden, wenn wir nicht auf der Stra ße kampieren wollten.
Unsere Ankunft vollzog sich im großen Stil. Wir legten Wert darauf, der Öffentlich keit zu zeigen, daß die, die uns aus Guran kors Gefangenschaft befreit hatten, mächtig und reich waren. Durch Mursyncs Vermitt lung war uns ein großer Gleiter zur Verfü gung gestellt worden, der nur den einen Nachteil hatte, daß sein Querdurchmesser die Weite einiger Gäßchen der Perdana um mehrere Handspannen übertraf, so daß unse rer Beweglichkeit Grenzen gesetzt waren. Die beiden Roboter sowie die monströsen Schutzanzüge waren im Ladeabteil des Fahrzeugs untergebracht. Sie brauchten vor läufig von niemand gesehen zu werden. Aus der Nähe gesehen, wirkte die Perdana noch weitaus unappetitlicher als auf Mur syncs Projektionsschirm. Die Straßen waren eng, finster und voller Unrat. Die Häuser zu beiden Seiten waren schmutzig und unge pflegt, viele davon in fortgeschrittenen Sta dien der Baufälligkeit. Ich hatte erwartet, in den Straßen quirlenden Verkehr zu finden. Aber es stellte sich heraus, daß ich mich bei dieser Vorstellung zu sehr von den Bildern orientalischer Großstädte des terranischen Altertums hatte leiten lassen. Die Perdana machte im Gegenteil einen trostlos verlasse nen Eindruck. Hundeähnliche Kreaturen suchten im Unrat ihren Lebensunterhalt zu sammen. Hin und wieder erblickte man eine Gestalt, die hastig von einer Seite der Straße zur anderen huschte. Das war alles. Eine un heimliche Stille lag über dem Stadtviertel der Elenden. Es war Mittag, als wir in die Perdana ein fuhren. Ob die Verlassenheit daher rührte, daß alle Bewohner des Viertels das Licht scheuten, oder ob es die Furcht war, die die Perdaner hinter den Wänden ihrer Häuser hielt, konnte ich nicht erkennen. Unser Gleiter befand sich plötzlich am Ende einer Sackgasse. Ringsum ragten acht , neun-, zehnstöckige Gebäudeveteranen in die Höhe. Mein. Blick wanderte die zernag ten Fassaden entlang. Nirgendwo erblickte ich auch nur ein einziges Lebewesen. Balduur, der am Steuer saß, setzte das
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Fahrzeug ab. »Wir haben keinen Platz zum Wenden«, knurrte er. »Wenn wir hier wieder hinaus wollen, müssen wir rückwärts fahren.« Ich versuchte, mich zu orientieren. Wir hatten von Anfang an versucht, so nahe wie möglich an die Herberge der Nächtlinge her anzukommen. Diese Gasse hätte zur Herber ge führen müssen. Nach meiner Ansicht be fand sich unser Ziel unmittelbar hinter dem Haus, das den Abschluß der Sackgasse bil dete. Mir ging allmählich die Geduld aus. Wenn wir unseren Auftrag ausführen woll ten, dann durften wir nicht mit unwichtigen Dingen Zeit verlieren. »Bleib hier!« trug ich Balduur auf. »Ich sehe mich um!«
* Ich stieg aus. Mein Augenmerk war auf das Haus vor uns gerichtet. Es ragte neun Stockwerke weit in die Höhe. Der Eingang hatte die Form eines Portals. Die Tür leistete wenig Widerstand. Ich schob sie auf und ge langte in eine düstere, staubige Halle, in der uralte Möbelstücke, mit dicken Schmutz schichten belastet, ein frustriertes Dasein fri steten. Im Hintergrund erblickte ich die Einstiege zweier Antigravschächte. Ich trat hinzu und fand heraus, daß beide Schächte in Betrieb waren. Die Eripäer kannten das Prinzip des bipolaren Schachtes nicht. Dieses Haus – ebenso wie andere – brauchte zwei Schäch te, von denen einer auf-, der andere abwärts führte. Ich betrat den aufwärts gepolten Schacht und schwebte langsam in die Höhe. Bis jetzt hatte ich in dem alten Haus außer dem Ge räusch der eigenen Schritte keinen Laut ge hört. Ich schwebte an verlassenen Etagen ausstiegen vorbei und gelangte schließlich zum obersten Stockwerk. Von dem Ausstieg fort führten vier rechtwinklig zueinander an gelegte Korridore durch das Gebäude. Ich wählte den Gang, der in dieselbe Richtung
führte wie die Gasse, in der wir steckenge blieben waren. Er endete vor einem der halbkreisförmigen Fenster. Ich blickte hin aus. Hinter dem Haus lag ein verwahrloster, zum Teil von Unkraut überwucherter Hof. An diesen Hof wiederum, durch eine Mauer von ihm getrennt, grenzte ein Garten, der in seinem gepflegten Zustand in dieser Umge bung fehl am Platz wirkte. Und auf der an deren Seite des Gartens erhob sich jenes Ge bäude, dessen Bild ich mir so nachdrücklich eingeprägt hatte, weil es bei unserem Vorha ben eine wichtige Rolle spielte: die Herber ge der Nächtlinge. Damit hatte ich genug gesehen. Ich kehrte zu den Schächten zurück und fuhr vier Stockwerke weit abwärts. Dort wandte ich mich abermals in denselben Gang. Diesmal öffnete ich die Türen zur Rechten und zur Linken und fand lauter verlassene, schmutzi ge Wohnungen. Sie lagen nicht alle in der selben Höhe. Manche Tür führte unmittelbar in einen Raum, hinter anderen wiederum lag eine Treppe, die man hinauf- oder hinabstei gen mußte, um zu den eigentlichen Wohn räumen zu gelangen. Mich interessierte besonders die Woh nung am Ende des Ganges. Sie lag mit dem Korridor auf einer Ebene und bestand aus drei kahlen, verstaubten Räumen. Kein ein ziges Möbelstück, kein einziges Küchenge rät war zu sehen. Die beiden rückwärtigen Räume hatten Fenster, die auf den Hof hin aus gingen. Der Garten und die Herberge der Nächtlinge lagen klar im Blickfeld. Ich ent schied, daß Balduur und ich hier unsere Un terkunft einrichten würden – und wenn nie mand kam, um uns die Bleibe zu vermieten, dann würden wir sie unentgeltlich benützen. Ich wandte mich um und wollte zur Tür hinaus. Aber das ging nicht. Unter der Tür stand ein Eripäer, durchsichtig und zerbrech lich wie alle seines Volkes, aber mit einer Energiepistole in der Hand, deren Lauf auf mich zielte. »Was suchst du hier?« übersetzte mein Translator.
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* Der Kerl war mir nicht geheuer. Woher war er so plötzlich aufgetaucht? Er schien mittleren Alters zu sein. Er hatte die großen, dunklen Augen der Eripäer, aber in den Au gen glomm ein Feuer, das mich warnte. Die ser Mann war gefährlich! Ich war ebenfalls bewaffnet, und zwar besser als er. Mursync hatte uns nicht ziehen lassen, ohne uns vorher mit zwei mittelka librigen Strahlern modernster Konstruktion zu versehen. Aber die Waffe stak in einer Tasche meiner Montur. Ehe ich sie in die Hand bekam, hätte mir der Eripäer ein Loch durch den Leib gebrannt. »Ich suche eine Unterkunft«, antwortete ich. »Such woanders!« knurrte er mich an. »Hier gibt es nichts für dich.« Ich erinnerte mich an meine Rolle. »Sag mir deinen Namen!« forderte ich ihn auf. »Warum?« murrte er störrisch. »Damit ich ihn Zempach nennen kann.« »Wer ist Zempach?« »Das wirst du erfahren, wenn er dich auf sucht, um sich bei dir für die Gastfreund schaft zu bedanken, die du uns entgegenge bracht hast.« Ich sah, wie der Eripäer unsicher wurde. Er mußte wissen, wer ich war. Der Nach richtendienst hatte die beiden Fremden, die während des Attentats auf Gurankors Fahr zeugkolonne entführt worden waren, aus führlich beschrieben. Der Eripäer mußte auf den Gedanken kommen, daß Zempach der Unbekannte hinter dem Attentat sei. Genau das bezweckte ich. »Nenne mich Nunkapter«, brummte er. »Ich will mit diesem Zempach nichts zu tun haben.« »Gehört dir dieses Haus?« »Ja.« »Dann laß uns diese Wohnung ein paar Tage lang benützen«, schlug ich ihm vor. »Es soll dein Schaden nicht sein!«
»Was wollt ihr hier?« »Uns ausruhen und abwarten, bis Guran kors Zorn sich abkühlt. Inzwischen ver schafft uns Zempach eine Reisemöglichkeit nach Damaukaaner.« »Hm, das ist gefährlich«, brummte Nun kapter. »Das macht die Sache teuer. Wieviel hattest du gedacht?« »Einen Scheiner pro Tag«, antwortete ich. Da riß Nunkapter die Augen auf. »Scheiner? Was soll ich hier in der Perdana mit Scheinern anfangen?« Scheiner waren Kristalle, die die Fähigkeit besaßen, einfal lendes Licht zu speichern und es im Lauf vieler Stunden, in sämtliche Farben des Spektrums zerlegt, wieder von sich zu ge ben. Unter »normalen« Eripäern galt ein Scheiner als äußerst wertvolles Besitztum. Hier in der Perdana sah die Sache allerdings anders aus. Trotzdem war Nunkapters Reak tion weiter nichts als ein Trick, der dazu die nen sollte, den Preis in die Höhe zu treiben. Ich wollte ihm beweisen, daß ich mich hier auskannte. »Mach dich nicht lächerlich!« fuhr ich ihn an. »Für die Perdana sind die Scheiner nicht gedacht. Hier gibt es niemand, der genug Geld hat, um sich einen Scheiner zu leisten. Wenn du aber hinaus auf den freien Markt gehst, so …« Er winkte ab, als er erkannte, daß ich mich nicht einwickeln ließ. »Ich bin einverstanden«, erklärte er. »Aber das Fahrzeug muß verschwinden. Gu rankor hat seine Späher überall. Mir liegt nichts daran, daß sie es finden. Es paßt nicht in diese Gegend, und sie würden sofort miß trauisch.« »Wohin sollen wir es bringen?« »In den Hof! Bugsiert es über das Haus hinweg.« Damit war die Sache abgemacht. Wir hat ten unser Quartier, und die Herberge der Nächtlinge lag innerhalb unserer Reichwei te.
*
Attentat auf Urgan Der Gleiter wurde ausgeräumt – bis auf die beiden Roboter und die Schutzmonturen. Dann schaffte Balduur das Fahrzeug in den Hof, wie Nunkapter es verlangt hatte. Dieser hatte inzwischen ein paar finster wirkende Gestalten geschickt, unsere Wohnräume not dürftig zu säubern. Ich versuchte, mit den Männern ein Gespräch anzufangen, stieß aber auf wenig Resonanz. Wir machten es uns so bequem wie mög lich. Man hatte uns ein wenig Proviant mit auf den Weg gegeben – kaum genug, den heutigen Hunger zu stillen. Ebenfalls in un serem Besitz befand sich ein kleiner Bild empfänger, mit dessen Hilfe wir die Nach richten verfolgen konnten. Unser Plan war, die frühen Abend- und Nachtstunden auszuruhen und kurz vor Mor gengrauen in die Herberge der Nächtlinge einzudringen. Wir hatten von Mursync er fahren, was er über die Lage des Eingangs zum Labyrinth wußte, und das war nicht eben viel. Ich rechnete mit wenigstens zwei Vorstößen in die Herberge, bevor wir den Zugang fanden. Nur wenn der Zufall auf un serer Seite war, konnten wir schon beim er sten Versuch fündig werden. Am späten Nachmittag stattete Nunkapter uns seinen Besuch ab. Er erkundigte sich, ob alles nach unseren Wünschen sei, und kam sogleich darauf auf sein eigentliches Anlie gen zu sprechen. »Du schuldest mir einen Scheiner«, sagte er zu mir. »Wir sind noch keine drei Stunden hier«, hielt ich ihm entgegen. »Das Abkommen lautet auf einen Scheiner pro Tag.« »Das mag sein. Aber ihr beide seid Män ner, die gefährliche Pfade gehen. Wer sagt mir, daß ihr nach Ablauf eines Tages noch am Leben seid?« Das Argument war nicht ungeschickt ge wählt. Außerdem lag mir daran, Nunkapter fürs erste bei guter Laune zu halten. Ich stand auf und ging in den Nebenraum. Es entging mir nicht, daß Nunkapters Blick mir aufmerksam folgte. Mursync hatte mir insgesamt fünf Schei
15 ner gegeben – Prachtstücke nach eripäi schem Geschmack. Die Kristalle hatten einen hexagonalen Querschnitt. Der kleinste war zwei Zentimeter im Durchmesser und etwa fünf Zentimeter lang. Ich trug die kost baren Steine in den Taschen meiner Montur. Ich suchte einen davon hervor und machte dabei Geräusche, als kramte ich in unserem Gepäck. Dann kehrte ich in den Nebenraum zurück. »Schau ihn dir genau an und wisse, daß du dafür fast dieses ganze baufällige Haus kaufen könntest«, sagte ich zu Nunkapter, während ich ihm den Stein reichte. In der Tat leuchteten seine Augen begehr lich auf. Aber das dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann war er sofort wieder der geschickte Händler. »So mag es aus deiner Sicht aussehen«, antwortete er. »Ich aber bin ein Gebrand markter, der sich nicht auf den offenen Markt wagen darf. Ich muß mich der Zwi schenhändler bedienen, die mehr als die Hälfte des Gewinns für sich beanspruchen.« Er schickte sich zum Gehen an. Unter der Tür blieb er aber noch einmal stehen. »Kennt ihr euch in der Perdana aus?« wollte er wissen. »Nein«, antworteten wir. »Es gibt viele Orte der Zerstreuung in die sem Stadtviertel«, erklärte Nunkapter. »Zum Beispiel eine Trink- und Spielhalle weiter oben an der Gasse. Sie nennt sich ›Zu den Vier Dunkelheiten‹. Ich bin überzeugt, ihr hättet dort euren Spaß.« »Wir danken dir für den Hinweis«, sagte ich. »Vielleicht sehen wir uns die Dunkel heiten an.«
* »Was meint er damit?« fragte Balduur, nachdem Nunkapter uns verlassen hatte. »Wenn ich das wüßte!« seufzte ich. »Nach außen hin spielt er die Rolle eines Mannes, der uns von hier weglocken will, um in der Zwischenzeit unser Gepäck zu durchsuchen und dabei Beute zu machen.
16 Insbesondere, sollen wir denken, hat er es auf die Scheiner abgesehen.« Balduur sah mich verwirrt an. »Wieso Rolle und warum soll er das nicht wirklich vorhaben?« »Er ist zu schlau«, antwortete ich. »Wenn er die Scheiner haben wollte, brauchte er uns nur mit seinen Leuten zu überfallen. Ich meine, er hat etwas anderes vor, und es wäre mir weitaus leichter ums Herz, wenn ich wüßte, was es ist.« »Dann bleiben wir einfach hier«, schlug Balduur vor. »Es gibt ohnehin nicht viel, was mich in die Vier Dunkelheiten lockt.« »Nunkapter würde deswegen nicht aufge ben«, widersprach ich. »Er würde einfach nach einer anderen Gelegenheit suchen. Wir müssen den Rücken frei haben, wenn wir in das Labyrinth eindringen. Und wir haben keine Zeit zu verlieren. Je rascher wir her ausfinden, was Nunkapter im Schild führt, desto besser für uns.« Balduur sah nachdenklich vor sich hin. »Heh, ich habe eine Idee!« rief er plötz lich. Er trug sie mir vor. Sie hörte sich plausi bel an. In der Folge machten Balduur und ich uns von neuem an unserem Gleiter zu schaffen. Wir waren sicher, daß wir beob achtet wurden, auch wenn wir den Beobach ter nicht wahrnehmen konnten. Es war ziem lich mühselig, die beiden Roboter in eine der schweren Monturen zu stopfen und den An zug so zu verschließen, daß niemand seinen Inhalt erraten konnte. Es bedurfte unserer vereinten Kräfte, das übergewichtige Paket bis zum Antigravschacht und von dort wie derum bis in unsere Unterkunft zu schleifen. Aber schließlich hatten wir Zeyl und Ko nos an Ort und Stelle. Ich instruierte die bei den: »Wir verlassen das Gebäude für ein paar Stunden. Es ist zu erwarten, daß während unserer Abwesenheit Fremde hier eindrin gen werden, um unsre Habe zu durchsuchen, vielleicht sogar, um etwas zu stehlen. Ihr dürft das nicht zulassen. Eure Aufgabe ist es, die Eindringlinge zu verjagen. Ihr dürft
Kurt Mahr physische Gewalt anwenden, soweit es nötig ist. Aber es darf kein Menschenleben geop fert werden. Habt ihr verstanden?« »Wir haben verstanden«, antworteten die beiden einstimmig. Balduur und ich überzeugten uns von der Einsatzbereitschaft unserer Waffen. Dann machten wir uns auf den Weg zu den Vier Dunkelheiten.
* Nach Sonnenuntergang füllten sich die Straßen der Perdana mit Leben. Zu unserer Überraschung bestand die Bevölkerung des Elendsviertels nur zu einem äußerst gerin gen Teil aus Eripäern. Fremde Gestalten überwogen bei weitem, humanoide und nichthumanoide Erscheinungsformen, Flüchtlinge von den Planetentrümmern des Korsallophur-Staus, deren Vorfahren die Katastrophe überlebt hatten. Die Fremden waren vor den Krolocs geflohen. Es sprach einerseits für die Weitherzigkeit der Eripäer, daß sie diese Bedauernswerten aufgenom men hatten, andererseits herrschte aber auch in der eripäischen Gesellschaft jene Trägheit des Denkens, die Andersartige, obwohl sie der Hilfe bedürfen, nach der ersten Hilfelei stung sich selbst überläßt und somit bewirkt, daß Flüchtlingsschicksal gleich Elends schicksal wird. Die Straßen waren nur notdürftig beleuch tet. Die Gestalten, denen wir begegneten, waren wie Schatten: große, pelzige Schatten, kleine, tentakelbewehrte Gestalten und ein Wirrwarr von Winzlingen, die sich am Bo den bewegten und protestierend quietschten, wenn unsereiner aus Versehen darauf trat. Die Trink- und Spielhalle zu den Vier Dunkelheiten fanden wir trotz der schumme rigen Straßenbeleuchtung ohne Mühe. Sie war nämlich ein Hauptanziehungspunkt für die Bewohner dieser Gegend, und durch ihre hohen Portale ergoß sich, einwärts wie aus wärts, ein nicht endenwollender Strom von Wesen aller Gestalten und Formen. Drinnen stellten wir fest, daß das Unter
Attentat auf Urgan nehmen seinen Namen zu Recht trug. Es war hier womöglich noch finsterer als draußen auf der Straße. Inzwischen hatten unsere Augen allerdings begonnen, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Wir gewahrten ein kunterbuntes Durcheinander von Tischen und Bänken, dazwischen die hin und her wogende Menge und ab und zu einen Ange stellten des Etablissements, der sich mit ei nem schüsselförmigen Tablett voll bauchi ger Becher durch das Gewühl schob und da bei schrille Schreie von sich gab, um die Gä ste zur Vorsicht zu mahnen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Nie zuvor hatte ich eine derartige Vielfalt von Ge räuschen gehört, allesamt hervorgebracht von intelligenten Wesen. Wir entschieden uns für einen Tisch, der nicht allzu weit vom Ausgang entfernt stand. Er besaß nur eine Bank, und die war leer. So dachte ich wenig stens. Als ich mich aber niederlassen wollte, da ertönte irgendwo unter mir ein helles Quietschen, und eine knurrende Stimme stieß in holprigem Eripäisch hervor: »Paß doch auf, wo du dich hinsetzt, du Klotz!« Ich fuhr kerzengerade wieder in die Höhe. Nur mit Mühe erkannte ich eine gedrungene, in einen langhaarigen Pelz gehüllte Gestalt, die es sich auf der Bank bequem gemacht hatte. Der Fremde schien geschlafen zu ha ben. Deswegen hatte er die nahende Gefahr erst im letzten Augenblick bemerkt. Er rich tete sich jetzt langsam auf. Ich sah zwei haa rige, stummelförmige Arme, schmale Schul tern und einen über und über von Zottelhaar bedeckten Auswuchs, der der Schädel zu sein schien. Aus dem Gestrüpp drang es un wirsch hervor: »Es gibt nämlich außer euch Riesen auch noch ein paar andere Leute in dieser elenden Stadt, mußt du wissen!« »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich habe dich nicht gesehen. Das nächste Mal werde ich vorsichtiger sein.« Ich konnte zwar seine Augen nicht sehen, d.h. ich wußte nicht einmal, ob er Augen hatte. Doch hatte ich das Gefühl, daß er uns
17 beide aufmerksam musterte. »Du sprichst eine fremde Sprache«, be merkte er. »Woher kommt das eripäische Gequäke?« Ich zeigte ihm den kleinen Translator, den ich um den Hals trug. »Oh, vornehme Leute!« krächzte er halb spöttisch, halb beeindruckt. »Es würde mich nicht überraschen, wenn eure Namen Raza mon und Balduur wären.« Ich dagegen war um so überraschter. Dann aber fiel mir ein, daß wir in der Nach richtensendung, die von dem Attentat auf Gurankors Fahrzeugkolonne berichtete, na mentlich erwähnt worden waren. »Du hast recht«, gab ich zu. »Und wer bist du?« »Ich bin Quarxchs von Yakhoch«, erwi derte er stolz. Der Name bestand in der Hauptsache aus Zischlauten, mit denen sich der Translator schwertat. »Also schön, Quarxchs von Yakhoch«, lachte ich: »Es tut mir leid, daß ich mich auf dich setzen wollte. Sag mir, was ich für dich bestellen kann, damit wir Freunde werden!« Da richtete er sich vollends auf. Seine Beine waren ebenso stummelförmig wie die Arme. Wie er da auf der Bank hockte, reich te er mit den Armen kaum bis zur Tischplat te herauf, und die Beine baumelten haltlos in der Luft. Er war höchstens einen Meter zwanzig groß. »Wenn das so ist, dann nehme ich einen Becher Barquillen-Wein!« krähte er fröh lich.
4. Quarxchs von Yakhoch, der auf den er sten Blick bestenfalls den Eindruck eines zu groß geratenen Schoßhunds machte, ent puppte sich im Laufe des Abends als ein Wesen von überaus wacher Intelligenz und weitreichenden Interessen. Es zeigte sich, daß die Yakhochiter Überlebende jener großen Katastrophe waren, die den Korsallo phur-Stau erzeugt hatte. Generationenlang
18 hatten sie friedlich auf einem Bruchstück ih rer ehemaligen Heimatwelt gelebt. Infolge der Staubmassen besaß ihre Sonne nur noch einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Leucht stärke, und es war den Yakhochitern ziem lich bald kalt geworden. Zwei Generationen nach der Katastrophe, so wußte Quarxchs zu berichten, wären sie um ein Haar ausgestor ben. Dann jedoch hatte die Natur eingegrif fen und mit Hilfe einer Mutation den wär menden Pelz geschaffen, dem die Yakhochi ter ihr weiteres Überleben verdankten. Dann allerdings waren die Krolocs gekommen. Viele Yakhochiter hatten die Flucht ergrif fen und waren auf weiten Umwegen schließ lich zur Lichtung gelangt. Zu den Flüchtlin gen gehörten Quarxchs' Eltern. Er selbst war bereits auf Aarl geboren – in der Perdana, wie er mit abfälligem Tonfall hinzufügte. Unser Schicksal interessierte ihn sehr. Ich berichtete von Pthor und unserer Irrfahrt durch den Stau. Über unser Verhältnis zu den Krolocs drückte ich mich zurückhaltend aus. Ich wollte mich da der Bewegungsfrei heit nicht berauben. Es mochte sein, daß die Schuld an dem Attentat auf Gurankor krolo cischen Agenten in die Schuhe geschoben würde, und es störte mich nicht, wenn man in der Perdana glaubte, wir ständen unter dem Schutz der Krolocs. Zwischendurch sprachen wir eifrig dem Barquillen-Wein zu, einem äußerst angeneh men, wohlschmeckenden Getränk, das ich allerdings im Verdacht hatte, es könne sich im Handumdrehen in einen wahren Heim tücker verwandeln. Der Yakhochiter hatte offenbar nichts dagegen, sich von uns aus halten zu lassen. Wir auf der anderen Seite waren von Mursync so großzügig ausgestat tet worden, daß wir unserer Spendierfreudig keit keine Zügel anzulegen brauchten. Auf diese Weise kamen wir recht gut in Stimmung. Balduur hatte glänzende Augen und begann jeden zweiten Satz mit »Wahrlich, ich sage euch …!« Quarxchs von Yakhoch schien das Zeug ziemlich gut vertragen zu können, und ich hatte den Ein druck, ich sei noch wenigstens vier Becher
Kurt Mahr von dem Punkt entfernt, an dem ich aufhö ren mußte. Da plötzlich sorgte Quarxchs für sofortige Ernüchterung, indem er die völlig unerwar tete Frage stellte: »Ihr erwartet also, daß Zempach euch von hier fortschaffen wird?«
* Ich strengte mich an, daß man mir die Überraschung nicht anmerkte. »Was weißt du von Zempach?« fragte ich. »Oh – was man so hört«, antwortete der Yakhochiter ausweichend. »Ich komme 'rum.« »Wir haben zu niemand von Zempach ge sprochen«, meinte ich. Dann kratzte ich mich an der Schläfe, als sei mir plötzlich et was eingefallen. »Außer zu …« Quarxchs fiel auf meinen Trick herein. »Du brauchst zu niemand von Zempach gesprochen zu haben«, wehrte er ab. »Meine Quellen sitzen anderswo!« Es wäre mir viel lieber gewesen, wenn er zugegeben hätte, den Namen von Nunkapter gehört zu haben. Ich hatte den haarigen klei nen Kerl nämlich halbwegs ins Herz ge schlossen, und es enttäuschte mich, daß er unehrlich war. Da es Zempach nur in meiner Einbildung gab, konnte Quarxchs den Na men unmöglich von jemand anders als Nun kapter erfahren haben. Steckte er mit dem scharfäugigen Eripäer unter einer Decke? Es fiel mir wieder ein, wie angelegentlich Nun kapter uns die Trink- und Spielhalle zu den Vier Dunkelheiten empfohlen hatte, und ich erinnerte mich an die seltsame Art der ersten Begegnung mit Quarxchs. Hatte der Yakho chiter womöglich auf der Lauer gelegen und war blitzschnell auf diese Bank gesprungen, als er sah, daß wir uns da hinsetzen wollten? Er mißdeutete mein Zögern. »Ich will nicht in eure Geheimnisse drin gen«, sagte er. »Versteh mich nicht falsch. Ich frage mich nur, wie zuverlässig dieser Zempach ist. Hierzulande wird nämlich ein Attentat auf den Eripäer nicht leicht genom
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men. Ich bin sicher, daß die Regierung eine intensive Suche nach euch sowie nach dem unbekannten Attentäter betreibt. Unter die sen Umständen mag es Zempach ratsam er scheinen, eine Zeitlang in der Versenkung zu verschwinden. Was aber wird dann aus euch?« Seine Fürsorge hätte mich unter anderen Umständen gerührt. So aber empfand ich sie lediglich als einen weiteren Versuch, uns auszuhorchen. »Ich habe keinen Grund, Zempach zu mißtrauen oder zu glauben, daß er sein Ver sprechen nicht halten wird«, antwortete ich zurückhaltend. »Na schön«, machte Quarxchs und gab sich den Anschein des Uninteressierten. »Ich dachte, wenn ihr in die Klemme kommt und nicht mehr aus noch ein wißt, könnte ich euch eine Bleibe anbieten, in der euch sicher niemand sucht.« »Wo wäre das?« wollte ich wissen. »Da, wo ich wohne. In der Herberge der Nächtlinge.«
* Ich sah, daß Balduur mit irgend etwas herausplatzen wollte, und warf ihm einen warnenden Blick zu. Er führte daraufhin ha stig den Becher zum Mund und verschluckte sich prompt. Damit war die Gefahr fürs erste gebannt. »Herberge der Nächtlinge?« wiederholte ich, scheinbar nachdenklich. »Ist das nicht das Gebäude, das sich hinter unserem Haus erhebt?« Quarxchs tat erstaunt. »Ihr seid nicht etwa bei Nunkapter unter gekommen!« rief er. »Doch, genau bei dem.« Er machte eine wegwerfende Geste. »Na ja, ihr könnt's euch wohl leisten.« »Was soll das heißen?« fragte ich. »Nunkapter ist der schlimmste Halsab schneider in der ganzen Perdana. Ich möchte nicht wissen, was er euch abverlangt.« Ich sagte es ihm auch nicht. Er kannte
Nunkapter also, wenigstens daraus machte er keinen Hehl. War es sinnvoll, auf sein Angebot einzugehen? Ich war überzeugt, daß er unredliche Absichten hatte. Er hielt uns für reich. Vielleicht malte er sich aus, daß er uns in der Herberge irgendwo ver schwinden lassen und unsere Besitztümer an sich nehmen könne. In der Herberge hatte er wahrscheinlich Freunde, die ihm behilflich sein würden, uns zu überwältigen. Das wa ren Überlegungen, die ernst genommen wer den wollten. Auf der anderen Seite bot Quarxchs uns Gelegenheit, die Herberge of fen zu betreten. Wenn wir uns vorsahen, konnten wir die Pläne des Yakhochiters leicht vereiteln. Für diesen Preis erhielten wir ungehinderten Zugang zu den Unterge schossen der Herberge, in denen sich irgendwo der Zugang zu dem Labyrinth befand, das uns zu Urgan führen sollte. »Es kann nie schaden, wenn man sich ein wenig umsieht«, meinte ich philosophisch. Quarxchs hielt den Kopf schräg. Er schien mich anzusehen, aber ich war immer noch nicht sicher, ob sich irgendwo unter dem zottigen Gestrüpp wirklich Augen verbar gen. »Was soll das heißen?« fragte er. »Vielleicht ist die Herberge der Nächtlin ge kein so übler Platz!« Der Yakhochiter geriet in Fahrt. »Überhaupt nicht!« beteuerte er. »Viele von uns kommen von dunklen Welten und kön nen den Glanz heller Lichter nicht vertragen. Deswegen haben wir uns in der Herberge zusammengetan, wo wir auf unsere Weise leben können. Ihr wißt aber, wie die Eripäer über Wesen denken, die das Licht nicht auf dieselbe Weise verehren wie sie. Sie halten sie für barbarisch und primitiv! Ich sage euch: An den Gerüchten, die ihr über die Herberge der Nächtlinge gehört haben mögt, ist so gut wie nichts Wahres!« Sein Eifer bestätigte meinen Verdacht: Er führte etwas Übles im Schilde. Dennoch sagte ich: »Meinst du, wir könnten uns den Platz einmal ansehen?«
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»Ihr seid meine Gäste!« quäkte der Yak hochiter voller Begeisterung. »Und du bist übergeschnappt!« sagte Bal duur zu mir. Ich machte eine Geste, die nur ein Pthorer verstand: die Spitze des kleinen Fingers ge gen die Daumenkuppe gelegt, die Hand halb erhoben. Das bedeutete soviel wie: Laß mich nur machen. Balduur fand sich damit ab. Er widersprach nicht mehr, und Quar xchs hatte seinem Einwurf anscheinend kei ne besondere Bedeutung beigemessen. »Die Nächtlinge verstehen es, ihre eige nen Feste zu feiern«, erklärte der Yakhochi ter. »So, wie ich euch kenne, wird es euch bei uns gefallen. Ich schlage vor, daß wir bald aufbrechen.« Ich hatte nichts dagegen einzuwenden.
* Der erste Eindruck, den ich vom Inneren der Herberge der Nächtlinge gewann, war gespenstisch. Wir näherten uns dem Gebäu de von der Straßenseite. Die Fensterhöhlen waren finster, und kein einziger Laut ließ sich vernehmen. Kaum aber öffnete Quar xchs die hohe, schwere Tür, da drang ein wahres Inferno von Geräuschen auf uns ein, da spülte uns eine Woge von Gerüchen ent gegen, die sämtliche Fragranzen des Dschungels und noch einiges mehr enthielt, da waren wir plötzlich eingehüllt in waberndes, düsterrotes Licht, das das gesamte Ge bäude zu erfüllen schien. Halbwegs benommen sah ich mich um. Die Nächtlinge hatten das Haus nach ihren Bedürfnissen hergerichtet. Es gab keine Wände, keine Decken und keine Böden mehr. Das ehemals zehnstöckige Gebäude war ein einziger, riesiger Raum, etwa zwölf mal zwölf Meter im Querschnitt und dreißig Meter hoch. An den Außenwänden entlang hatten die Nächtlinge hölzerne Plattformen errichtet, immer eine schräg über der anderen, und von jeder Plattform führte eine primitive Leiter, bestehend aus einem Rundbalken mit
seitwärts eingepaßten Sprossen, zur nächst höheren. Quarxchs bemerkte mein Staunen. Er drängte sich nahe heran und schrie, um den Lärm zu übertönen: »Die Nächtlinge kommen von mehr als einem Dutzend verschiedener Welten! Man cher bringt Gewohnheiten mit, die einen an deren stören. Deswegen hat sich jede Grup pe ihre eigene Plattform gebaut. Auf diese Weise kommen wir wie Freunde miteinan der aus.« Das düstere Licht kam von mächtigen Fackeln, von denen drei in metallenen Hal tern in den Wänden staken. Auch ein Teil der fremdartigen Gerüche schien von den Fackeln auszugehen. Andere Düfte jedoch schwebten von einzelnen Plattformen herab. Ich sah eine, von der sich in diesem Augen blick eine dichte Qualmwolke löste und langsam in die Tiefe sank, wobei sie sich allmählich auflöste. Wie hatte Quarxchs gesagt? Die Nächtlin ge verstehen es, ihre eigenen Feste zu feiern. Er selbst war ein Anhänger des Weins, ande re Nächtlinge versetzten sich offenbar mit Hilfe gasförmiger Substanzen in Hochstim mung. Die Dämpfe waren ohne Zweifel be rauschend, vielleicht sogar giftig. Wie sie auf einen Pthorer wirkten, würde sich bald herausstellen. Auf jeden Fall mußten Baldu ur und ich auf der Hut sein, wenn wir nicht beizeiten umkippen wollten, ohne daß auch nur Hand an uns gelegt worden war. Mit einem seiner haarigen Stummelarme bezeichnete Quarxchs eine Plattform, die in knapp zehn Metern Höhe an der Wand befe stigt war. Anscheinend handelte es sich um die Unterkunft der Yakhochiter. Wir began nen zu klettern. In die Plattformen waren, gewöhnlich am äußersten Rand, runde Lö cher geschnitten worden, in denen die primi tiven Leitern Halt fanden. Quarxchs kletterte voran. Um die Unterkunft der Yakhochiter zu erreichen, mußten wir vier andere Platt formen passieren. Auf der ersten hauste eine Gruppe von Schlangenwesen, die uns aus druckslos anstarrten. Auf der zweiten hatte
Attentat auf Urgan sich ein einzelnes Geschöpf entweder zum Schlaf oder im Zustand des Vollrauschs in einer Ecke zusammengerollt, so daß wir au ßer einer grauen, schuppigen Haut keine Artmerkmale erkennen konnten. Auf der dritten Plattform lebte ein kleines Volk von Zwergintelligenzen, deren Vorfahren aquati sche Nagetiere gewesen sein mußten. Sie bewegten sich watschelnd auf Extremitäten, die halb Beine, halb Flossen waren. Ihr Fell war glatt und von schwarzem Glanz. Sie schienen spielerische Naturen zu sein und näherten sich uns zutraulich. Wir aber mach ten uns auf dem schnellsten Weg aus dem Staub, als wir die Ausdünstung rochen, die von den Nagern ausging. Die vierte Plattform war leer. Hier hielt ich an, um mich ein wenig näher umzuse hen. Die Plattform enthielt einige primitive Gerätschaften, anscheinend zum Zubereiten von Speisen bestimmt, und eine geringe Menge von Vorräten, in hölzernen Schüs seln aufbewahrt. Ein Fäßchen war offenbar mit jener Flüssigkeit gefüllt, die die Bewoh ner dieser Plattform bei ihren Festen zu sich nahmen. Der Hahn tropfte. Ich probierte mit Finger und Zunge: Das Zeug war widerlich süß und gleichzeitig bitter. Der Himmel mochte wissen, wovon es gebraut wurde! Schließlich gelangten wir auf die Platt form der Yakhochiter. Auch sie war leer. Hier gab es mehr Gerätschaften, und auch um die Vorräte war es besser bestellt. Aber alles in allem war es trotzdem ein Elends loch. Im Augenblick fehlte mir noch jedes Verständnis dafür, wie ein intelligentes We sen von Quarxchs' Qualitäten sich auf die Dauer mit einem solchen Dasein abfinden konnte. Auf den Plattformen selbst war der Lärm nicht so drastisch wie drunten auf ebenem Boden. Ich fragte Quarxchs: »Wo sind deine Genossen? Ich dachte, hier wird gefeiert!« »Wer sagt, daß ich Genossen habe?« ant wortete der Yakhochiter. »Meine Eltern sind längst nicht mehr, und die andern von Yak hoch haben sich über ganz Aarl verstreut.
21 Ich frage mich manchmal, wie viele von ih nen noch am Leben sind.« Er bewirtete uns – nicht mit Wein, son dern mit einer dicken, sirupähnlichen Flüs sigkeit, die nur einen geringen Betrag Alko hol enthielt und angenehm schmeckte. Dazu gab es salzige Fladen, die aus einer mir un bekannten Substanz gebacken waren und einen angenehmen Kontrast zu dem süßen Getränk bildeten. Wir hockten auf der Plattform und spra chen nicht viel. Ich ließ die eigenartige At mosphäre dieses Gebäudes auf mich wirken. Es war wie ein exotischer Traum. Weiter oben hatte jemand zu singen begonnen. Der Gesang war eintönig und schwermütig. Ich ertappte mich dabei, wie ich den Oberkörper im langsamen Rhythmus der fremden Melo die hin und her bewegte. Ich war, bei allen Teufeln, auf dem besten Weg, dieser hypno tischen Mischung aus Halbdunkel, Gerü chen, Gesang und Alkohol zum Opfer zu fallen. Ich stand auf und trat an den vorderen Rand der Plattform. Mit einem raschen Blick überzeugte ich mich, daß Balduur, ob wohl er wie ein Wachträumer vor sich hin starrte, noch klar bei Sinnen war. Ich hatte zuvor, als wir das Gebäude betraten, im Hin tergrund des ehemaligen Erdgeschosses eini ge Öffnungen bemerkt, die in die Tiefe zu führen schienen. Von hier oben konnte ich sie deutlich sehen. Es waren insgesamt vier finstere Löcher, womöglich die Überreste früherer Antigravschächte, deren Tiefe sich nicht abschätzen ließ. Ich wußte nicht, wie ich auf möglichst un auffällige Weise die Rede auf die Löcher bringen könne. Da kam mir, als hätte er mei ne Gedanken erraten, Quarxchs von sich aus zu Hilfe. Er trat ebenfalls an den Rand der Plattform und blickte nach unten. »Wohnt dort noch jemand?« fragte ich und deutete auf die Löcher. »Oh nein«, antwortete der Yakhochiter. »Dort sind … dort gibt es … ich meine …« Er hob den Kopf und schien mich unter dem zotteligen Haargestrüpp hervor anzuse
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hen. »In eines dieser Löcher werfen wir unsere Abfälle«, erklärte er. »Das andere ist ein Brunnen. Dort steigen wir hinab, wenn wir … nun, uns säubern wollen.« Es war ihm offenbar peinlich, über Ab fallbeseitigung und Hygiene zu sprechen. Ich ersparte ihm weitere Verlegenheit, denn mich interessierte weder der Abfallschacht, noch das Badeloch. »Was ist mit den anderen beiden Öffnun gen?« wollte ich wissen. »Wohin führen sie?« »Das weiß man nicht«, sagte Quarxchs. »Habt ihr euch nie dort unten umgese hen?« fragte ich. »Nein. Nunkapter hat es uns verboten.« »Nunkapter!« stieß ich hervor. »Ja, er«, bestätigte Quarxchs. »Ihm gehört auch dieses Gebäude!«
5. Die Sache hatte mich gepackt. Ich gab mir Mühe, damit es der Yakhochiter mir nicht anmerkte. »Solche Dinge interessieren mich im mer«, sagte ich. »Ich möchte gerne dort hin untersteigen.« »Oh, tu das nicht!« bat Quarxchs. »Wenn Nunkapter davon erfährt, dann wird er uns alle bestrafen.« »Wie sollte er davon erfahren? Werden die Nächtlinge mich verraten?« »Nein. Aber …« Quarxchs' Widerstand schien zu schwin den. Nach meiner Theorie mußte er das auch. Denn schließlich wollte der Yakhochi ter mich ausnehmen, und eine bessere Gele genheit, mir an den Kragen zu fahren, als dort unten in dem finsteren Loch, bot sich so rasch nicht wieder. Die Sache mit Nunkap ters Verbot war, dessen fühlte ich mich si cher, nur eine Finte. Um Quarxchs' Entscheidungsprozeß zu beschleunigen, unternahm ich einen ent scheidenden Vorstoß. »Bist du reich?« fragte ich ihn.
Wiederum sah er zu mir auf. Wenn ich nur seine Augen hätte sehen können! Aus Augen war viel zu lesen, selbst aus den Au gen einer fremden Art, der ich heute zum er stenmal begegnet war. »Ich? Reich? Wir sind alle arm! Niemand gibt uns etwas, auch nicht Arbeit, für die wir bezahlt werden.« Ich zog einen der Scheiner aus der Tasche und hielt ihn ihm hin. »Das ist für dich, wenn du keinen Ein wand dagegen erhebst, daß ich mir die bei den Löcher dort unten ansehe.« Sein Armstummel schoß nach vorne. Er konnte daraus feingliedrige Finger ausfah ren, wie ich bemerkt hatte. Die Fingerspit zen drangen aus dem Pelz hervor, dann zo gen sie sich wieder zurück. Der Arm sank herab. »Nein, ich kann das nicht annehmen«, sagte er. »Du bist mein Freund. Du brauchst mich nicht zu bestechen. Wenn du dort hin absteigen willst, dann habe ich nichts dage gen.« Ich ergriff seinen Arm und drückte den Scheiner dorthin, wo ich die Hand vermute te. »Nimm ihn!« riet ich ihm. »Und such dir einen ehrlichen Händler, der ihn für dich auf dem Markt verkauft.« Nach meiner Hypothese war Quarxchs nur deswegen so zurückhaltend, weil er oh nehin damit rechnete, alle meine Besitztü mer an sich zu bringen. Ich trat auf Balduur zu. Den Translator hatte ich inzwischen aus geschaltet. Ich bedeutete ihm, dasselbe zu tun. »Ich sehe mir die beiden Öffnungen dort unten an«, erklärte ich. Er fuhr auf, daß die Plattform wackelte. »Allein?« fragte er. »Allein ist am besten. Ich brauche Rückendeckung. Du bleibst hier und feierst mit Quarxchs weiter. Aber paß auf, daß du nicht zuviel Schlagseite bekommst! Laß den Kerl keine Sekunde aus den Augen. Wenn du falsches Spiel vermutest, dann mach Lärm!«
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Er war nicht damit einverstanden, das sah ich ihm an. Aber er erkannte, daß wir keine Zeit zum Debattieren hatten. Ich winkte Quarxchs zu, dann kletterte ich an dem Ein holm in die Tiefe.
* Hoch über mir ertönte noch immer der monotone Gesang. Die Nächtlinge schienen meiner nicht zu achten. Sie lebten zurückge zogen auf ihren Plattformen. Ich sah mehr mals auf, aber nicht ein einziges Mal er blickte ich einen Fremden, der sich etwa über den Rand seiner Plattform gebeugt hät te, um mir zuzusehen. Die beiden Löcher, die Nunkapter, wenn man Quarxchs glauben sollte, off limits er klärt hatte, lagen ganz in der Nähe der rück wärtigen Wand des Gebäudes. Ich betrachte te das Mauerwerk ringsum und kam zu dem Schluß, daß es mit seiner Festigkeit nicht mehr zum besten stünde. Der Anblick, den die zwei Schächte boten, war nicht eben be lehrend. Sie führten steil in die Tiefe, mehr ließ sich kaum sagen. Die Wände waren glatt gegossen und boten dem Fuß keinen Halt. Ich nahm eine kleine Münze aus der Tasche und warf sie in das der Wand näher gelegene Loch. Schon nach ganz kurzer Zeit hörte ich den Aufschlag. Es wäre wahr scheinlich nicht allzu gefährlich gewesen, einfach in den Schacht hinabzuspringen. Ich aber ließ mich zunächst vorsichtig vom Rand aus in die Tiefe und tastete mit den Füßen umher. Und siehe da: Meine Vorsicht wurde belohnt. Ich stieß gegen einen Wider stand, der sich genau so anfühlte wie die Sprossen der Einholme, mit denen die Nächtlinge von Plattform zu Plattform klet terten. Damit hatte ich schon halb gewon nen. Es kostete lediglich einige gymnasti sche Mühe, die Leiter auch mit den Armen zu erreichen. Ich kletterte geschwind in die Tiefe. Es wäre mir wohler gewesen, wenn ich ein Licht bei mir gehabt hätte. Die Sohle des Schachts lag etwa drei Meter unter dem Erd
geschoß der Herberge. Von dort aus führte ein Stollen mit geringfügiger Neigung wei ter nach unten. Ich tappte ihn entlang, beide Arme ausgestreckt, um den Kontakt mit den Wänden nicht zu verlieren, und alle paar Schritte stehenbleibend, um zu horchen. Der Gesang hinter mir wurde allmählich leiser. Einmal kam ich an eine Stelle, an der ein deutlich spürbarer Luftzug herrschte. Die Luft trug Gerüche mit sich, die mir mittler weile vertraut waren. Ich tastete umher und fand schließlich eine Öffnung in der linken Wand des Stollens. Der Zusammenhang ließ sich einfach erklären. Hier mündete, wie der Geruch eindeutig bewies, der Stollen, der von dem zweiten Loch im Boden der Her berge herkam. Das Problem, welches der beiden Löcher das richtige war, hatte sich damit von selbst gelöst. Sie führten beide an dasselbe Ziel. Diese Erkenntnis gab mir neuen Mut. Ich drang rascher vor als bisher. Schließlich glaubte ich, in der Ferne ein Licht zu gewah ren. Ich eilte darauf zu. Die Lichtquelle war von grellem Weißblau. Sie hing unter der Decke des Stollens. Der Stollen endete vor einer nackten Felswand wenige Meter jen seits der Lampe. Zuvor aber zweigte nach rechts hin ein anderer Gang von ihm ab. Dieser war höher und breiter, als der Stollen, durch den ich gekommen war. Auch bestan den seine Decke, Boden und Wände nicht aus Guß, sondern aus uraltem, feingefügtem Mauerwerk. Ich erinnerte mich an Mursyncs Schilderung: Urgan war unsagbar alt. Er hat te schon auf dem Hügel gestanden, als Sirkh-Prelljaddum, die Sonne der Eripäer, nicht den Mittelpunkt der Lichtung bildete, sondern in einem Schwarm von anderen Sonnen und Planeten das Universum durch pflügte. Der Stollen paßte zu dieser Schilderung. Er stammte aus einer Zeit, als Mauerguß technik auf Aarl noch nicht verwendet wur de. Ich wußte instinktiv, daß ich den Ein gang zum Labyrinth gefunden hatte. In diesem Augenblick waren alle Beden ken, daß Quarxchs mir auf den Fersen sei,
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um mich auszurauben, verflogen. Ich hatte nur noch einen Gedanken: Ich mußte so schnell wie möglich zu Balduur zurück und ihm verkünden, daß ich den geheimen Ein gang gefunden hatte. Ich wandte mich um. Im selben Augen blick fuhr ein greller Blitz auf mich zu. Ein Donnerschlag erschütterte die Luft. Mir war, als schlüge mir jemand einen Hammer mit voller Wucht auf den Schädel. Ich verlor au genblicklich das Bewußtsein.
* Als ich zu mir kam, war es ringsum eini germaßen hell. Ein menschliches Gesicht er schien in meinem Blickfeld: Balduur. Ich war erleichtert. »Alles in Ordnung?« fragte er grinsend. In meinem Schädel tobte ein dumpfer Schmerz. Ich hatte Mühe, die Augen zu fo kussieren. Rachen und Mund waren ausge trocknet. Ich hatte mörderischen Durst. Al les in Ordnung? Soweit wohl. Ich richtete mich zu sitzender Stellung auf. Da erkannte ich, daß wir uns in der Herberge der Nächt linge befanden. Ich hatte unmittelbar neben dem Loch, durch das ich abgestiegen war, auf dem nackten Boden gelegen. »Was war los?« fragte ich Balduur. »Ich saß mit Quarxchs oben auf der Plattform. Wir unterhielten uns ein wenig. Quarxchs sagte des öfteren, er hoffe, daß dir dort unten nichts zustieße. Mir wurde allmählich die Zeit lang. Nachdem ich eine Stunde gewar tet hatte, machte ich mich auf die Suche. Ich stieg dasselbe Loch hinab, durch das ich dich hatte verschwinden sehen. Und da fand ich dich – weit hinten bei der Lampe. Du hattest eine Mordsbeule am Kopf und warst bewußtlos. Ich schleppte dich nach oben und – ja, da bist du nun!« »Wo steckt Quarxchs?« wollte ich wissen. »Verschwunden. Ich rief nach ihm, als ich dich aus dem Loch bugsiert hatte. Er melde te sich nicht. Dann stieg ich zu seiner Platt form hinauf. Er ist nicht mehr da.« Ich fuhr mit der Hand in die Tasche. Hatte
ich's doch geahnt: Die Scheiner waren ver schwunden! »Du bist sicher, daß Quarxchs die ganze Zeit über bei dir war?« fragte ich. »Absolut sicher. Ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen. Aber das bedeutet nichts. Er kann Helfershelfer gehabt haben.« »Wahrscheinlich«, gab ich zu. »Gab es da unten irgendwelche Spuren?« »Nein.« Ich kam wacklig auf die Beine. »Hier gibt's für uns nichts mehr zu ho len«, entschied ich. »Wir haben den Zugang zum Labyrinth gefunden. Ich brauche ein paar Stunden Ruhe, dann kann's losgehen!« Die Nächtlinge waren noch immer am Singen, als wir die Herberge verließen. Wir durchquerten den Garten und kletterten über die Mauer in den Hof des Hauses, in dem unsere Unterkunft war. Der Schmerz, den die körperliche Anstrengung des Kletterns in meinem Schädel verursachte, war mörde risch. Ich bezwang ihn mit zusammengebis senen Zähnen. Ich war wütend – und zwar auf mich selbst, weil ich mich so leicht hatte übertölpeln lassen, obwohl ich ganz genau wußte, was auf mich zukam.
* Die Ruhe tat mir gut. Ich erwachte, als die Sonne schon eine Handbreit hoch am Him mel stand. Ich hätte mir ein Badeloch ge wünscht, wie es die Nächtlinge hatten. Denn unser Quartier war bar aller hygienischen Einrichtungen. Noch in der Nacht hatte Balduur die bei den Roboter befragt. Sie gaben an, es habe in der Tat jemand versucht, sich an unserer Habe zu schaffen zu machen. Es sei ihnen ohne große Schwierigkeit gelungen, den Eindringling zu vertreiben. Um wen es sich gehandelt hatte, darüber konnten sie keine Aussage machen. Für sie sahen alle Wesen gleich aus. Balduur hatte ebenfalls für ein kräftiges Frühstück gesorgt, das wir uns munden lie ßen, sobald ich aufgestanden war. Während
Attentat auf Urgan des Essens besprachen wir unseren Plan. Wir hatten unwahrscheinliches Glück bei der Suche nach dem Eingang zum Labyrinth gehabt und nach meiner Schätzung wenig stens einen Tag eingespart. Dieser Vor sprung mußte gehalten werden. Aus den Nachrichten, die wir aus dem kleinen Emp fänger hörten, den Mursync uns mitgegeben hatte, ging hervor, daß die Lage an der Ver teidigungsfront sich rascher als erwartet ver schlechterte. Den Krolocs waren im Lauf der vergangenen fünfzehn Stunden mehrere tiefe Einbrüche gelungen, die nur mit Mühe hatten neutralisiert werden können. Ich nahm an, daß die Nächtlinge, nach dem sie die ganze Nacht hindurch gefeiert hatten, den Tag zumeist mit Schlafen ver bringen würden. Für uns gab es also keinen Grund, mit unserem Vorstoß bis zum Ein bruch der Nacht zu warten. Wir konnten so fort beginnen. Bevor wir in die Herberge eindrangen, würden wir Mursync das verein barte Signal geben, damit er seine Leute schicken konnte, den Gleiter abzuholen. Balduur und ich hatten eben den letzten Bissen verzehrt, da ging die Tür auf, und Nunkapter trat ein. Ich hatte Mühe, ein La chen zu verbergen, als ich ihn sah. Er hatte den linken Arm auf einer Stütze ruhen, die am Gürtel befestigt war. Die Hälfte seines Schädels war mit einer gelblichbrauner Sal be beschmiert. Außerdem humpelte er beim Gehen. »Mein Freund, was ist dir zugestoßen?« fragte ich. Nunkapter warf mir einen bitterbösen Blick zu. »Was kümmert's dich?« fragte er mür risch. »Ich sorge mich um meine Freunde«, er klärte ich, so teilnahmsvoll ich konnte. »Es schmerzt mich, wenn ihnen ein Leid wider fährt.« Er hörte den Spott aus meinen Worten; aber er reagierte nicht darauf. »Ich hatte einen Unfall«, sagte er. »Nichts Ernsthaftes.« »Und du kommst, dich von uns pflegen zu
25 lassen?« »Ich komme, um die Miete zu kassieren«, knurrte er. »Du mußt dich in der Wohnung geirrt ha ben«, wies ich ihn zurecht. »Wir zahlen hier einen Scheiner pro Tag, und der erste Tag ist noch nicht herum.« »Der neue Tag begann um Mitternacht!« beharrte Nunkapter. »Irrtum, mein Freund! Unser erster Tag ist zu Ende, wenn die Uhr seit unserem Ein treffen gestern nachmittag einmal rundum gelaufen ist, und bis dahin hat es noch ein paar Stunden Zeit!« Der Eripäer antwortete nicht sofort. In seinen Augen glomm ein gefährliches Feuer. »Ich habe Mittel und Wege, dich zu zwin gen!« stieß er hervor. Mit gespielter Verwunderung wandte ich mich an Balduur. »Höre ich recht, oder beginnt unser Freund, uns zu drohen?« Balduur stand gemächlich auf. »Er droht«, bestätigte er. »Wir wollen ihm zeigen, was wir davon halten.« Er schritt zu der Tür, die in den Neben raum führte. Ich wußte, was er vorhatte, und behielt Nunkapter scharf im Auge. Die Tür ging auf, und unsere beiden Roboter, Zeyl und Konos, kamen zum Vorschein. Sie taten ein paar tappende Schritte auf Nunkapter zu und blieben dann stehen. Nunkapter aber war vor Angst und Schreck grau im Gesicht geworden. Er stieß einen halblauten Schrei aus und wich bis zum Ausgang zurück. Er wandte keinen Blick von Zeyl und Konos, als erwarte er jeden Augenblick, von ihnen angegriffen zu werden. »Du hast die Bekanntschaft dieser beiden schon gemacht«, bedeutete ich ihm. »Leider auf wenig freundliche Weise. Aber das hast du dir selbst zuzuschreiben. Ich rate dir, dich mit deiner Forderung an unsere beiden Freunde Zeyl und Konos zu wenden.« »Nein!« schrie Nunkapter voller Entset zen. »Von mir aus behalte deinen Scheiner …« Er wandte sich um und rannte zum Aus
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gang hinaus. Ich konnte das Lachen nicht länger halten, und Balduur platzte ebenfalls los. Ich ging, immer noch lachend, zur Tür und blickte in den Gang hinaus. Ich erwarte te nicht anders, als daß Nunkapter gänzlich Reißaus genommen hatte. Daher war ich äu ßerst verwundert, ihn draußen im Korridor stehen zu sehen, ein paar Meter entfernt, in der Nähe des Antigravschachts. Er blickte zurück, und auf seinem Gesicht spiegelte sich etwas, das ich nicht anders denn als blanken Hohn empfinden konnte. Die trium phierend blitzenden Augen, das zur Grimas se verzerrte Gesicht – das war der Ausdruck eines Mannes, der einen anderen hereinge legt zu haben glaubt. Nunkapter hatte mit meinem Auftauchen nicht gerechnet. Er wandte sich blitzschnell ab und stieg in den Schacht.
* Balduur schlug vor, wir sollten die unför migen Schutzanzüge zurücklassen, anstatt uns unnötig mit ihnen zu belasten. Ich war zunächst geneigt, ihm zuzustimmen. Dann aber kamen mir Bedenken. Vielleicht war doch etwas an den angeblich von Urgan selbst entworfenen Monturen. Vielleicht be saßen sie doch irgendwo eine geheime Vor richtung, die uns im Augenblick der Gefahr zu schützen vermochte. Ich lehnte Balduurs Vorschlag also ab. Aber überzeugt hatte ich ihn erst, als ich erklärte, daß nicht wir, son dern die beiden Roboter die Monturen schleppen würden, bis wir in eine Lage ge rieten, in der wir sie brauchten. Zeyl und Konos trugen ebenso die techni sche Ausrüstung, die wir von Mursync mit bekommen hatten. Mit den Robotern brauchten wir jetzt nicht mehr heimlich zu tun. Als wir aus unserer unwirtlichen Unter kunft auszogen, tappten sie vor uns her. Wir gaben das vereinbarte Signal an Mursync, nachdem wir das Haus verlassen hatten. Wie in der vergangenen Nacht kletterten wir über die Mauer, die den Garten der Herberge der Nächtlinge von dem Hof trennte. Es war
weit und breit niemand zu sehen, aber ich war sicher, daß Nunkapter irgendwo lauerte und jede unserer Bewegungen beobachtete. Die Erinnerung an den hinterhältigen Eripä er verursachte mir Unbehagen. Ich konnte mich der Ahnung nicht erwehren, daß wir es mit Nunkapter noch auf höchst unangeneh me Art und Weise zu tun bekommen wür den. Der Eingang zur Herberge der Nächtlinge war nicht verriegelt. Drinnen war es düster. Die Fackeln waren gelöscht worden. Kalter Rauch hing schwer und drückend in der Luft. Von den Plattformen, die an den Wän den entlang übereinander aufgereiht waren, drangen halblaute Geräusche. Die Nächtlin ge schliefen ihren Rausch aus. Ich spielte ein paar Augenblicke lang mit dem Gedanken, zu Quarxchs' Plattform hinaufzusteigen und den Yakhochiter zur Rede zu stellen, kam jedoch rasch wieder davon ab. Ich hatte kei nerlei Beweise gegen das Pelzwesen. Außerdem drängte die Zeit. Die Nachrich ten von draußen lauteten nicht gut. Wenn das Reich der Eripäer vor den Krolocs geret tet werden sollte, dann durften wir keine Mi nute verlieren. Den kleinen Empfänger hat ten wir übrigens in dem Gleiter zurückgelas sen, den Mursync von seinen Leuten abho len lassen würde. Zeyl oder Konos – ich konnte die beiden nicht auseinanderhalten – kletterte als erster in den Schacht hinab. Trotz der schweren Last, die ich ihm aufgebürdet hatte, stellte er sich dabei nicht ungeschickt an. Der zweite Roboter folgte. Balduur und ich machte den Abschluß. Zeyl und Konos waren mit Lam pen ausgestattet. Sie beleuchteten den Stol len, den ich in der vergangenen Nacht im Finstern entlanggetappt war. Wir erreichten ohne Zwischenfall die Stelle, an der die grel le Leuchte brannte und der gemauerte Quer stollen nach rechts abzweigte. Dort, wo ich niedergeschlagen worden war, sah ich mich noch einmal genau um. Aber Balduur hatte recht: Es gab keine Spuren.
*
Attentat auf Urgan Der gemauerte Stollen verlief eine lange Strecke weit leicht abschüssig. Nach etwa acht oder neun Kilometern wurde er eben, und kurze Zeit später begann er anzusteigen. Das bedeutete, daß wir den Fuß des Hügels, auf dem Urgan stand, erreicht hatten. Bisher hatte es keinerlei Gangkreuzungen, Gabe lungen oder ähnliche Anlässe zur Verwir rung gegeben. In dem Stollen brannte etwa alle zweihundert Meter weit eine grelle Lampe wie die, die sich am Eingang befand. Der Stollen war völlig kahl. Es gab keinerlei Anzeichen, daß er im Lauf der vergangenen Monate oder Jahre begangen worden war. Auf der anderen Seite gab es auch keine Spuren des Zerfalls. Die Luft war rein, kühl und angenehm zu atmen. Bisher, das mußte man sagen, hatte uns Mursyncs gefährlicher Auftrag keine Mühe gemacht. Das allerdings änderte sich abrupt, als der gemauerte Gang plötzlich eine scharfe Bie gung nach rechts beschrieb und kurze Zeit später in einen großen, hallenähnlichen Raum von kreisförmigem Querschnitt mün dete. Entlang der Hallenwand gewahrten wir fünf weitere Stollenmündungen, und es war für uns unmöglich, zu entscheiden, welche davon ans Ziel führte. Das war der Augenblick, in dem wir zum erstenmal die Karte zu Rat zogen, die Mur sync uns mitgegeben hatte. Wir studierten das alte Stück Folie mit großer Sorgfalt. Es gab mehrere lange und schnurgerade Linien, die von außen her in das Gewirr der Symbole und Kringel hinein führten, die angeblich das Labyrinth dar stellten. Jede davon mochte den Stollen re präsentieren, durch den wir gekommen wa ren. Wir suchten vergeblich nach dem einzi gen Merkmal, mit dessen Hilfe wir unseren Standort hätten fixieren können: einem Symbol, das die kreisförmige Halle markier te. Während wir die Karte studierten, unter hielten wir uns miteinander, und da wir die Translatoren nicht ausgeschaltet hatten, blieb es nicht aus, daß Zeyl und Konos unser Gespräch mithörten. Einer der beiden sagte
27 plötzlich: »Wegfallen sind durch Farbwechsel mar kiert.« Ich hatte mich so an den Gedanken ge wöhnt, daß die beiden Roboter uns zu nichts nütze sein würden, daß ich völlig überrascht war. »Was meinst du damit?« fragte ich. »Was ist eine Wegfalle?« »Dies ist eine Wegfalle«, antwortete der Robot und ließ einen seiner Arme kreisen, um die Halle zu bezeichnen. »Einer dieser Wege führt herein, und einer führt hinaus. Die anderen vier führen ins Nichts.« »Welcher von euch beiden bist du: Konos oder Zeyl?« fragte ich unwillkürlich. »Ich bin Konos«, lautete die Antwort. »Also gut, Konos. Du meinst, du kennst dich hier aus?« »Selbstverständlich. Hat Mursync euch nichts davon gesagt?« Gesagt hatte er uns schon davon, nur nicht auf überzeugende Art und Weise. Vielleicht war das eine Eigenart der Eripäer, an die man sich erst gewöhnen mußte: Sie drückten sich vager aus als die Wesen, an deren Um gang Balduur und ich gewöhnt waren. »Kennst du den richtigen, Ausgang?« er kundigte ich mich. »Nicht ohne weiteres«, antwortete Konos. »Ich brauche die Karte.« Ich gab sie ihm. Er studierte sie nur einen Augenblick. Dann zeigte er auf eine der ge raden Linien, die wir bereits zuvor bemerkt hatten, und fuhr mit dem feingliedrigen, me tallenen Finger auf ihr entlang bis zu einer Stelle, an der sie plötzlich die Farbe wech selte. »Hier sind wir«, erklärte er und ließ den Finger auf dem Ort des Farbwechsels ruhen. »Und welches ist unser Ausgang?« wollte ich wissen. Er wandte sich um und zählte von der Stollenmündung, durch die wir gekommen waren, drei nach rechts. »Dieser dort«, sagte er. »Woher weißt du das?« »Farbwechsel von Schwarz nach Grün«,
28 lautete seine verblüffende Antwort: »Das ist das Symbol für drei.« Ich sah mich um. »Du hast nach rechts gezählt«, bemerkte ich. »Warum nicht nach links?« »Dieser Raum hat sechs Ausgänge«, be lehrte mich Konos. »Ob ich von unserem Stollen drei nach rechts oder drei nach links zähle: das Resultat ist dasselbe.« Ich sah Balduur feixen. Leicht beschämt gestand ich mir ein, daß ich mir diese Frage hätte ersparen können. Nichtsdestoweniger wuchs mein Respekt vor den beiden Robo tern. Sie waren offenbar keineswegs so nutz los, wie wir befürchtet hatten. Wir setzten unseren Weg fort, indem wir den Stollen wählten, den Konos bezeichnet hatte. Er unterschied sich in nichts von dem Gang, durch den wir gekommen waren. So wenigstens meinte ich. Bis Konos, den ich seit unserem Gespräch an einigen kleinen Merkmalen von seinem Genossen Zeyl unterscheiden konnte, plötz lich stehenblieb. »Vor uns befindet sich eine endgültige Falle«, erklärte er. »Was ist eine endgültige Falle?« erkun digte ich mich. »Eine solche, die den unbefugten Ein dringling vernichtet.« Ich wollte an ihm vorbei, um mir die Sa che anzusehen. Er aber breitete die Arme aus und ließ mich nicht durch. Ich sah mir über seinen Zwergenkörper hinweg den Gang an. Nichts ließ vermuten, daß sich hier eine Falle befand. »Bist du deiner Sache sicher?« fragte ich Konos. Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Hast du einen Gegenstand bei dir, den du entbehren kannst?« Ich kramte in meinen Taschen und brach te eine Münze zum Vorschein. Es war die letzte, die ich besaß – eine ziemlich wertvol le obendrein. Halb überzeugt, daß Konos sich ohnehin täuschte, war ich gewillt, sie aufs Spiel zu setzen. »Wirf!« trug der Robot mir auf.
Kurt Mahr Ich schleuderte die Münze in den Stollen hinein. Zwei, drei Meter weit flog sie glit zernd durch die Luft. Dann gab es plötzlich einen grellen Blitz und ein mattes Geräusch, als sei ein nicht zu heftig aufgeblasener Bal lon geplatzt: Die Münze war verschwunden. »Ich gehe jetzt, die Falle unschädlich zu machen«, erklärte Konos ungerührt. Er schritt ein paar Meter weit vorwärts. Etwa dort, wo die Münze vernichtet worden war, blieb er stehen. Er stand völlig reglos. Nach etwa einer halben Minute wandte er sich um und sagte: »Von jetzt an bis in fünf Minuten ist alles in Ordnung!« Wir passierten die gefährliche Stelle un gehindert. Konos versicherte auf meine Fra ge nochmals, daß die Falle sich nach Ablauf von rund fünf Minuten selbsttätig reaktivie ren würde. Von da an stand für mich fest, daß die beiden Roboter entgegen unserer ursprüngli chen Befürchtung überaus brauchbare Bur schen waren.
6. Im Lauf der nächsten Stunden stellten Zeyl und Konos des öfteren unter Beweis, daß man sich auf sie verlassen konnte. Sie neutralisierten insgesamt acht Fallen, die wir ohne ihre Hilfe unmöglich hätten entdecken können. Der Vorgang war immer derselbe: Die Falle wurde für eine gewisse Zeitspanne desaktiviert, danach trat sie selbsttätig wie der in Betrieb. Wenn wir zur Rückkehr den selben Weg benutzten, waren wir wiederum auf die Hilfe der beiden Roboter angewie sen. Ich hoffte jedoch, daß wir, wenn wir Urgan einmal erreicht hatten, den normalen Ausgang würden benützen können. Etwa zu der Zeit, da es draußen dunkel wurde, legten wir eine längere Rastpause ein. Balduur und ich stillten unseren Hunger an dem mitgeführten Proviant. Zeyl und Ko nos versanken vorübergehend in den Zu stand der Inaktivität. Als wir aufbrachen, ging es draußen auf
Attentat auf Urgan Mitternacht zu. Wir kamen an eine Stelle, an der der Weg sich gabelte. Der Gang, durch den wir gekommen waren, führte eben wei ter. Zur linken Hand dagegen stieg eine brei te Rampe in die Höhe. Zeyl studierte die Karte und entschied, daß wir der Rampe zu folgen hätten. Diese begann, nachdem sie den Stollen unter sich zurückgelassen hatte, sich nach rechts zu winden. Sie war mitunter recht steil, und es kostete Anstrengung, un ser bisheriges Tempo beizubehalten. Es war während einer kurzen Verschnauf pause, als das Unerwartete geschah. Ich hör te einen dumpfen Knall. Gleichzeitig wurde mir der Boden unter den Füßen fortgerissen. Eine Druckwelle traf mich mit der Wucht ei nes Dampfhammers und schleuderte mich die steile Neigung der Rampe hinab. Ich hörte das Prasseln von stürzendem Gestein. Ein gräßlicher Gedanke fuhr mir durch den Sinn: Wir werden verschüttet! Es dauerte eine Weile, bis ich auf der ab schüssigen Strecke meinen Sturz bremsen konnte. Ich war benommen, und es gab kei ne Stelle meines Körpers, die nicht schmerz te. Etwa zehn Meter vor mir sah ich Baldu ur. Die Explosion hatte ihn ebenfalls die Rampe hinabgeschleudert. Er richtete sich ächzend auf. »Wo sind Zeyl und Konos?« war seine er ste Frage. Die beiden Roboter waren nirgendwo zu sehen. Es war ruhig geworden. Das Gepras sel der herabstürzenden Gesteinsmassen hat te aufgehört. So rasch wir konnten, eilten Balduur und ich die Steilung der Rampe hin auf. Nach kurzer Zeit stießen wir auf die er sten Trümmerstücke. Je weiter wir kamen, desto wüster war der Anblick, der sich uns bot. Es war klar, daß die Explosion eine be trächtliche Strecke der Rampe zum Einsturz gebracht hatte. Schließlich tauchten hinter der Krüm mung des Ganges Zeyl und Konos auf. Ich erschrak zunächst. Denn es sah so aus, als seien die beiden Maschinenwesen wenig stens zur Hälfte unter einer Wand aus Trüm mern begraben, die sich hinter ihnen auf
29 türmte und den Gang bis zur Decke hinauf füllte. Dann jedoch sah ich Konos uns zu winken. Ich trat näher heran und erkannte, daß er und Zeyl keineswegs begraben wa ren, sondern vielmehr eine Sperre bildeten, die die Trümmermasse daran hinderte, wei ter die Rampe hinabzurutschen. Inmitten des Trümmerbergs befand sich ein übermanns großes Stück Felsgestein. Gegen dieses Fels stück stemmten sich die beiden Roboter und hielten es an Ort und Stelle. Die herabstür zenden Trümmer hatten sich dahinter aufge staut. Der Felsbrocken füllte nahezu die ge samte Weite und Höhe der Rampe. Mir lief es kalt über den Rücken, als ich erkannte, daß, falls Konos und Zeyl die Kräfte verlie ßen, wir alle im Handumdrehen unter den Trümmermassen begraben sein würden. Aber auch wenn die beiden Roboter standhaft blieben, war die Lage ziemlich verfahren. Der einzige Weg zum Ziel führte durch den Trümmerberg, der vor uns lag. Balduur und ich hätten uns notfalls zurück ziehen und Mursyncs Auftrag einfach als undurchführbar abschreiben können. Aber Zeyl und Konos waren auf jeden Fall dazu verdammt, bis auf alle Ewigkeit hier zu blei ben. Denn sobald sie losließen, geriet die Schuttmasse in Bewegung und begrub sie unter sich. Inzwischen hatte Balduur die Struktur des Felsbrockens untersucht. »Ich glaube, es gibt eine Lösung«, erklär te er. »Wenn wir einen Teil des Felsstücks wegbrennen, entsteht eine Öffnung, die groß genug ist, um den meisten Schutt durchzu lassen. Ich rechne damit, daß das Zeug ziemlich weit die Rampe hinabrutscht. In der Zwischenzeit gehen wir im Schatten des Felsens in Deckung.« Ich überzeugte mich von der Brauchbar keit seine Idee. Aus der Deckung heraus er öffneten wir das Feuer auf die rechte Kante des Felsens, während wir selbst uns so weit wie möglich nach links drückten. Die Waf fen, die Mursync uns mitgegeben hatte, er wiesen sich als für diesen Anwendungs zweck hervorragend geeignet. Der breite Fä
30 cherstrahl drang durch den Fels wie glühender Stahl durch Eis. »Aufgepaßt!« schrie Balduur plötzlich. Die Flanke des Felsbrockens hatte zu glü hen begonnen. Die Luft war stickig heiß. Ein knisterndes, knirschendes Geräusch war zu hören. Ich sah die rechte Hälfte des mächtigen Felsstücks sich nach vorne nei gen. Geschmolzenes Gestein tropfte zi schend zu Boden. Weiter oben im Gang be gann der in Bewegung geratene Schutt zu rumoren. Dann brach der Fels in sich zusammen. Nur das Stück, gegen das sich Zeyl und Ko nos stemmten, blieb aufrecht stehen und bot uns Deckung. An uns vorbei schoß mit oh renbetäubendem Gedonner die Trümmerflut, die sich hinter dem Hindernis aufgestaut hat te. Das ging mehrere Minuten: ein quirlendes, wirbelndes Durcheinander von zerrisse nen Mauerstücken, Felsbrocken und locke rem Erdreich, das sich an uns vorbei die Rampe hinab ergoß. Dann endlich trat Ruhe ein. Ein halbmetertiefer Schutteppich be deckte den Boden des Ganges. Ich trat vor sichtig hinter dem stehengebliebenen Fels stück hervor und blickte die Rampe hinauf. Dort oben gab es immer noch eine Menge Trümmer. Die Explosion hatte den Gang über eine Strecke von etwa zwanzig Metern völlig verschwinden lassen. Ein gewaltiges Loch war in der Erde entstanden. Durch die ses Loch führte unser Weg – ein gefährli cher Weg, weil die geringste Erschütterung die Erdmassen, die das Loch umgaben, zum Einsturz bringen konnte. Ich wandte mich an Balduur. »Das Felsstück muß verkeilt werden«, sagte ich. »Wir dürfen es auf keinen Fall die Rampe hinabrollen lassen, sonst stürzt das alles ein.« Wir sammelten Felstrümmer und wuchte ten sie zwischen den mächtigen Stein und den Boden der Rampe. Schließlich konnten die beiden Roboter sich von ihrem Posten zurückziehen, ohne daß der Fels sich beweg te. Als erstaunlich empfand ich, daß ihre
Kurt Mahr Traglast, die aus den monströsen Schutzan zügen und unserer technischen Gerätschaft bestand, den Zwischenfall unbeschadet überstanden hatte. Vorsichtig durchquerten wir das Loch, das die Explosion gerissen hatte. Mitunter rieselte von oben Erdreich herab. In solchen Augenblicken blieben wir stehen, um durch die Erschütterungen, die von unseren Schrit ten ausgingen, die Sache nicht noch schlim mer zu machen. Ich hielt mehrmals den Atem an – gewiß, daß im nächsten Augen blick eine herabstürzende Erdflut mich unter sich begraben würde. Aber letzten Endes ging alles gut. Wir er reichten die Fortsetzung der Rampe auf der anderen Seite des Loches. Noch ein letzter Blick zurück – dann ging es weiter. Bisher war kein Wort über die möglichen Ursachen der Explosion gefallen. Jetzt machte Balduur dem Schweigen ein Ende. »Das war keine von den Fallen, die Urgan zur Abwehr unerwünschter Eindringlinge er richtet hat, nicht wahr?« fragte er. »Es sieht nicht so aus«, mußte ich beken nen. »Sonst hätten Konos und Zeyl davon gewußt.« »Wenn du mich fragst, war es eine gezielt plazierte Detonation«, knurrte er. »Gezielt gegen wen?« fragte ich. »Etwa gegen uns?« »Gegen wen sonst?« »Aber …« Ich wollte widersprechen. Seine Hypothe se erschien mir zu abenteuerlich. Aber bevor ich noch mehr als das eine Wort hervor brachte, wurde mir klar, daß er recht haben mußte. Erdreich und Mauerwerk explodie ren nicht von selbst. Irgend jemand mußte sich an der Rampe zu schaffen gemacht, ei ne Detonationskapsel angebracht haben. Für welchen Zweck aber? Es gab keinen einzi gen Hinweis, daß diese unterirdischen Räu me und Gänge im Lauf der vergangenen hundert Jahre genutzt worden waren. Wir waren seit wer weiß wie langer Zeit die er sten Benutzer. Ich blieb stehen und sah Balduur an.
Attentat auf Urgan
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»Weißt du, was das bedeutet?« fragte ich ihn. Er machte mit schwerer Hand die Geste der Zustimmung. »Nur zu genau«, antwortete er. »Ich den ke die ganze Zeit schon darüber nach. Ganz egal, wie ich die Sache drehe und wende, es kommt nichts Erfreuliches dabei heraus.« »Wie meinst du das?« »Jemand, der uns feindlich gesinnt ist, weiß, daß wir hier sind. Und er weiß auch genau, zu welchem Zeitpunkt wir uns an welchem Ort befinden, sonst hätte er die Ex plosion nicht in dem Augenblick zünden können, als wir diesen Abschnitt der Rampe erreichten. Es ist, als würden wir auf Schritt und Tritt beobachtet.«
* Diese Erkenntnis nahm uns einiges von der bisherigen Zuversicht. Bislang waren wir der Ansicht gewesen, wir hätten es nur mit Urgans Fallen zu tun, und die beiden Roboter schienen durchaus in der Lage, mit diesen fertig zu werden. Auf einmal aber er gab sich ein neuer Aspekt. Wir hatten es an scheinend nicht nur mit Urgan, sondern au ßerdem noch mit einem unbekannten Dritten zu tun. Das Rechengehirn durften wir für unparteiisch halten. Es zerstörte mit seinen Fallen jeden, der sich unbefugt in diesen Ge wölben bewegte. Der Unbekannte dagegen schien es unmittelbar auf uns abgesehen zu haben. Er wußte offenbar, wo wir uns befan den. Wir dagegen hatten keine Ahnung von seinem Aufenthaltsort. Wir wußten nicht, wann er zum nächsten Mal zuschlagen und welcher Mittel er sich dabei bedienen wür de. Wir waren aufs reine Reagieren ange wiesen und konnten nur hoffen, daß wir da mit weiterhin soviel Glück haben würden wie beim ersten Mal. Während mir das alles durch den Sinn ging, kam mir ein Gedanke. Wir waren ur sprünglich der Ansicht gewesen, daß die beiden Roboter nichts taugten. Wir hatten Mursyncs vagen Versicherungen, daß sie
von Urgan selbst programmiert worden sei en, nicht geglaubt. Inzwischen jedoch hatten sie sich als äußerst tüchtig und zuverlässig entpuppt. War unser Vorurteil gegenüber den Schutzanzügen, die der Urgan-Lauscher uns mitgegeben hatte, womöglich ebenfalls unbegründet? Die Sache war einen Versuch wert. Ich hieß Konos und Zeyl anhalten. Ohne Baldu ur zu erklären, was ich vorhatte, begann ich, mir einen der beiden Anzüge überzustreifen. Die Montur bestand, das muß hier gesagt werden, aus aneinandergefügten Platten, die aus einem nicht sonderlich flexiblen Materi al gefertigt waren. Das Ganze war ein Stück – Beine, Arme, Handschuhe und Helm, alles zusammen. Für den, der sich den Anzug überstreifen wollte, war im Rücken ein lan ger Schlitz gelassen, durch den er quasi in die Montur hineinsteigen mußte. Ich tat mich schwer. Das Material war von so unglaublicher Dichte, daß mir der Schweiß von der Stirn troff, als ich schließ lich daran ging, mir den Helm über den Kopf zu ziehen. Der Schlitz im Rücken hatte sich selbsttätig geschlossen. Anscheinend besaßen die Platten zueinander eine Affini tät, die sie veranlaßte, sich miteinander zu verbinden, ohne daß dazu ein Verschlußme chanismus erforderlich war. Der Helm sank mir über den Schädel. Ich blickte durch eine trübe Sichtscheibe in den hell erleuchteten Gang und kam mir ausge sprochen dumm vor. Das Gewicht des An zugs wollte mich erdrücken. Der Schweiß lief mir in die Augen und erzeugte ein hefti ges Brennen. Ich war bereit, den Versuch als gescheitert zu bezeichnen, als plötzlich et was Unerwartetes geschah. Das erste, was ich bemerkte, war, daß die Sichtscheibe heller und klarer wurde. Nahe zu gleichzeitig wich der Druck von meinen Schultern. Ein kühler Luftzug wehte mir ums Gesicht und trocknete den Schweiß. Kein Zweifel: das Gewicht des Anzugs hatte sich innerhalb von Sekunden drastisch ver ringert, so daß ich es kaum noch empfand. Außerdem schien die Montur doch über ihre
32 eigenen Aggregate zu verfügen. Denn die Luft, die mich umspülte, war ohne Zweifel konditioniert. Ich sah mich um. Das Bild meiner Umge bung war so klar und deutlich, als sei die Sichtscheibe überhaupt nicht vorhanden. Mein Blick fiel auf Balduur. An seinem Ge sicht konnte ich ablesen, daß er nicht ver stand, was ich vorhatte. Ich spannte die Muskeln und sprang mit einem weiten Satz auf ihn zu. Der Anzug war dabei kein Hin dernis – im Gegenteil: ich hatte das Gefühl, er unterstütze die Tätigkeit der Muskeln. Balduur wich erschreckt zurück. »Nur keine Angst!« rief ich. »Dieses Ding ist ganz anders, als wir es uns vorgestellt ha ben! Du solltest es probieren!« Ich hatte keinen Zweifel, daß er meine Stimme hören konnte – obwohl die Montur scheinbar keinen Mechanismus besaß, durch den Schall von drinnen nach draußen getra gen werden konnte. Daß ich damit recht hat te, erkannte ich sofort an Balduurs Reaktion. Der verdutzte Ausdruck wich aus seinem Gesicht. Er strahlte und rief: »Du meinst, die Montur ist nicht zu schwer?« Ich verstand ihn so deutlich, als gäbe es keinen Helm über meinem Kopf. »Man spürt sie überhaupt nicht!« antwor tete ich. Balduur trat auf Konos zu, der den zwei ten Anzug trug, und begann, sich ebenfalls anzukleiden. Währenddessen machte ich mich mit meiner Montur vertraut, indem ich auf der Rampe, die hier nicht mehr so steil war wie früher, auf und ab ging. Dabei fiel mir etwas auf. Das Licht der Deckenlampen, das Gemäuer, der Boden – sie alle hatten einen rötlichen, Farbstrich, den ich zuvor nicht bemerkt hatte. Das muß te mit der Sichtscheibe zusammenhängen. Sie war wahrscheinlich nicht gänzlich farb frei. Oder … Der Gedanke hatte fast die Wirkung eines elektrischen Schocks. »Konos, zeig mir die Karte!« rief ich. Der Robot kam gehorsam herbei und ent-
Kurt Mahr faltete die Karte, die ich ihm anvertraut hat te. »An welcher Stelle befinden wir uns?« wollte ich wissen. »Zeig mir die Rampe!« Konos' metallener Finger glitt über die al te Folie und kam auf eine Linie zu ruhen, die die Rampe darstellte. Diese Linie war rot!
* Daß mich nicht etwa nur der Zufall narrte, erkannte ich an der nächsten Wegfalle – ei nem kreisrunden Raum wie jenem, in dem Konos uns mit der Entschlüsselung des Farbcodes überrascht hatte. Ein Blick auf die Karte belehrte mich, daß der Weg, der von hier aus weiterführte, hellblau gezeich net war. Ich sah mich um und musterte eine der insgesamt sieben Gangmündungen nach der andern. Tatsächlich: eine von ihnen, die zweite zur Linken, schien in lichtblauem Glanz zu strahlen. Ich konsultierte Zeyl und Konos. Nach einem Blick auf die Karte be stätigten sie mir, daß ich in der Tat den rich tigen Ausgang gewählt hatte. Inzwischen war auch Balduur in seine Montur gestiegen und hatte dieselbe Wir kung erlebt wie ich. Die Anzüge schienen über eine verborgene Energiequelle zu ver fügen, die ein künstliches Schwerefeld er zeugte, wodurch das Gewicht neutralisiert wurde. Außerdem waren die Helme mit ei ner komplizierten Optik versehen, die die Gänge, die zu Urgans Kuppel führten, in denselben Farben erscheinen ließ, wie sie auf der Karte eingezeichnet waren. Das al les, die beiden Roboter, die Monturen und die Karte, bildete ein nahtlos ineinanderge fügtes Ganzes, gewissermaßen die Standard ausrüstung dessen, der auf ungewöhnlichen Wegen zu Urgan vordringen wollte. Wir hatten uns, als Mursync uns die Ausstattung vorführte, gründlich verschätzt. Das war an dererseits kein Wunder; denn als wir damals auf Mursyncs Geheiß die Monturen anleg ten, da hatten sie keine einzige der wunder samen Wirkungen entfaltet, die sie jetzt be saßen. Anscheinend bedurfte es der Nähe
Attentat auf Urgan Urgans, um die geheimen Reserven der An züge zu aktivieren. Mit frischer Zuversicht drangen wir wei ter vor. Wir marschierten durch lange Gän ge, über steile Rampen und durch ausge dehnte, leere Hallen, bis es etwa die Zeit war, zu der in der Außenwelt der Morgen anbrach. Anhand der Karte erkannte ich, daß wir uns in unmittelbarer Nähe des Laby rinth-Mittelpunkts befanden. Von dort aus, so hatte Mursync gesagt, führte ein Schacht hinauf zu Urgans Kuppel. Er mündete in ei nem Vorraum der Halle, in der sich der Rechner befand. Es war damit zu rechnen, daß wir den Schacht binnen einer oder zwei Stunden finden würden. Bevor es soweit kam, brauchten wir eine Ruhepause. Ich wußte, daß Balduur sich von nichts und niemand würde halten lassen, wenn er erst einmal vor dem Schacht stand. Er würde sofort aufsteigen wollen. Das aber sollte er erst tun, nachdem er ein paar Stun den solide Ruhe gehabt hatte. Irgendwo im Gewirr dieses Labyrinths lauerte ein gefähr licher Gegner. Wenn wir zum entscheiden den Vorstoß ansetzten, würde er sich rühren. Wir konnten keinen schlimmeren Fehler be gehen, als ihm müden Geistes und matten Körpers gegenüberzutreten. Wir fanden schließlich einen kleinen Raum, dessen Deckenbeleuchtung nicht mehr funktionierte. Die Dunkelheit würde uns das Einschlafen erleichtern. Balduur und ich verzehrten die Hälfte des übriggebliebe nen Proviants. Der Rest würde uns nach dem Aufwachen als Frühstück dienen. Wir legten die Schutzmonturen ab und falteten sie so zusammen, daß sie ein einigermaßen beque mes Polster bildeten. Ich streckte mich aus und war wenige Augenblicke später einge schlafen. Wieviel Stunden der Ruhe mir vergönnt waren, das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war ich noch lange nicht aufwachbereit, als ein lärmendes Gezeter mich aufschreckte. Schlaftrunken fuhr ich in die Höhe. Von ir gendwoher kam Licht, und in der Helligkeit sah ich unsere zwei Roboter sich mit einem
33 kleinen, pelzbedeckten Wesen balgen. Der Pelzige war es, der das Gezeter veranstalte te. Er sprach, nein, er schrie Eripäisch mit einem derart holprigen Akzent, daß es sogar meinem ungeübten Gehör auffiel. Ich hatte meinen Translator vor dem Einschlafen nicht ausgeschaltet und hörte: »Laßt mich in Ruhe, ihr Blechkästen! Ich komme als Freund! Ich habe mit dem Mann zu sprechen, der sich Razamon nennt. Ich muß ihn warnen!« Ich kam mir vor wie im Traum. Ich kann te die Gestalt und die Stimme. Das war Quarxchs von Yakhoch, wie er leibte und lebte!
7. Das brachte mich sofort auf die Beine. »Laßt ihn in Ruhe!« befahl ich den beiden Robotern. Zeyl und Konos ließen von dem Yakho chiter ab. Ich hatte meinen Groll gegen Quarxchs wenigstens für den Augenblick völlig vergessen. Es ging jetzt lediglich dar um, herauszufinden, wie er hierhergekom men war. Er kam auf mich zu. Die zotteligen Pelz haare hingen ihm wie üblich ins Gesicht. Die Helligkeit übrigens kam von einer Lam pe, die Quarxchs zu gehören schien und die ihm bei dem Gerangel mit den Robotern ent fallen war. »Du hältst mich für den, der dich nieder geschlagen und beraubt hat, nicht wahr?« er öffnete der Yakhochiter die Unterhaltung. »Nicht dich selbst«, antwortete ich. »Einen deiner Genossen.« »Ich war es nicht«, beteuerte Quarxchs. »Und keiner von den Nächtlingen ist wirk lich mein Genosse. Wenn du meinst, ich hät te mit jemand ein Komplott geschmiedet, um dich zu berauben, dann täuschst du dich.« Das waren wirklich nicht die Dinge, die mich im Augenblick interessierten. Aber da er nun einmal die Sprache darauf gebracht hatte, sollte er meine ganze Meinung dazu
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hören. »Wenn du darauf Wert legst, daß ich dir glaube, mußt du mir noch etwas anderes er klären«, sagte ich. »Was ist das?« »Woher du von Zempach weißt.« »Oh das«, murmelte er. »Ich dachte mir schon, daß es ein Fehler war, den Namen zu gebrauchen. Ich wollte mich nur damit auf spielen. Ich wollte dich überzeugen, daß ich Informationen und Einfluß besitze. In Wirk lichkeit habe ich keine Ahnung, wer Zem pach ist. Ich hörte den Namen, als ich Nun kapter belauschte.« Balduur war inzwischen ebenfalls erwacht und hatte einen Teil unserer Unterhaltung mitangehört. Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, daß er weit weniger als ich bereit war, den Zwischenfall in dem Stollen unter der Herberge der Nächtlinge zu ver gessen. »Am besten, du erzählst uns die ganze Geschichte von vorne«, schlug ich Quarxchs vor. Der Yakhochiter hockte sich auf den Bo den. Erst jetzt bemerkte ich, daß er erschöpft und abgespannt wirkte. Er war uns offenbar in höchster Eile gefolgt. Wenn ich nur gewußt hätte, wie es ihm gelungen war, Urgans Fallen unbeschadet zu passieren!
* »Wie ihr wißt, gehören Nunkapter nicht nur das Haus, in dem ihr euch einquartiert hattet, sondern noch mehrere andere Gebäu de in der Perdana«, begann Quarxchs, »darunter auch die Herberge der Nächtlinge. Ich schöpfte schon früh Verdacht, daß Nun kapter sich außer dem Vermieten von Woh nungen noch mit anderen Tätigkeiten be schäftigte, und manche davon betrieb er so heimlich, daß ich allmählich neugierig wur de. Er hatte viel mit Leuten zu tun, die man nur einmal zu Gesicht bekam. Irgendwann tauchten sie auf, zogen sich mit Nunkapter zu einer geheimen Besprechung zurück und
gingen dann wieder fort. Ich begann, Nun kapter für einen Agenten zu halten, und wollte herausfinden, für welche Interessen er arbeitete. An dem Tag, als ihr einzogt, hatte ich mich heimlich in euer Haus geschlichen, um zu erfahren, womit Nunkapter sich beschäf tigte. Ich war zugegen, als er nach eurem Einzug mit einigen seiner Leute sprach. Er beauftragte sie, herauszufinden, wer Zem pach ist. Ich war auch noch da, als die Spä her, die Nunkapter ausgesandt hatte, zurück kehrten und ihm berichteten, daß niemand jemals von Zempach gehört habe. Daraufhin wurde Nunkapter sehr aufge regt. Er sprach von merkwürdigen Dingen – zum Beispiel, daß ihr wahrscheinlich gar keine geflüchteten Verbrecher seit, sondern vielmehr Spione des Eripäers. Er sagte, man müsse euch unschädlich machen. Entweder sofort oder später, nachdem ihr aufgebro chen wart. Er sprach nicht davon, wohin ihr aufbrechen würdet; aber er hatte bemerkt, daß ihr euch für die Herberge der Nächtlinge interessiertet und daraus einige Schlußfolge rungen gezogen, die ich damals noch nicht verstand. Er sprach auch davon, daß er sich Mühe geben werde, euch zu einem Besuch der Spielhalle zu den Vier Dunkelheiten zu bewegen. Dorthin machte ich mich alsbald auf. Ich wußte nichts von euch, aber ich kannte Nun kapter als einen bösen Spitzbuben und woll te euch helfen. Ich wartete vor dem Haus, bis ihr zum Vorschein kamt, und eilte euch dann zu den Vier Dunkelheiten voraus. Ich hatte mir ausgerechnet, daß ihr in der Her berge der Nächtlinge vor Nunkapter ziem lich sicher sein würdet. Deshalb gab ich mir alle Mühe, euch zum Mitgehen zu bewegen. Um euch zu beeindrucken, gab ich vor, von Zempach zu wissen. Später, als offenbar wurde, daß es gar keinen Zempach gab, wurde mir klar, daß ich mir damit selbst einen üblen Streich gespielt hatte. Nun – ihr kamt mit, und du zeigtest als bald ein Interesse an den Schächten im Bo den der Herberge. Ich wollte es dir ausreden.
Attentat auf Urgan Denn Nunkapter hatte uns wirklich vor die sen Löchern gewarnt. Aber dann erinnerte ich mich an das, was ich am Nachmittag er lauscht hatte. Die Schächte waren womög lich der Weg, auf dem ihr aufbrechen woll tet. Ich ließ dich also gehen. Du warst kaum verschwunden, da beob achtete ich, wie zwei Ugha-Ughas, die zwei Plattformen unter mir wohnen, die Herberge verließen.« »Das sind die Nager mit den Flossenfü ßen?« fiel ich ihm in die Rede. »Ja«, bestätigte er. »In der Herberge ist bekannt, daß Nunkapter die Ugha-Ughas be sonders ins Herz geschlossen hat und ihnen alle denkbaren Vorteile zukommen läßt. Ich nehme an, daß sie als Gegenleistung Dienste für ihn verrichten müssen. Deshalb wurde ich mißtrauisch, als ich die zwei die Herber ge verlassen sah. Womöglich waren sie auf dem Weg zu Nunkapter, um ihm mitzutei len, daß du in den Schacht gestiegen warst. Ich wartete, aber nichts geschah. Ich hielt dich für sicher, denn ich sah niemand, der hinter dir her stieg. Schließlich aber wurde dein Freund Balduur unruhig. Er folgte dir. Ich dagegen machte mich auf den Weg, die beiden Ugha-Ughas zu verfolgen. Ich kannte die Mehrzahl von Nunkapters geheimen Un terschlupfen. In einem davon fand ich ihn. Die Ugha-Ughas waren nicht mehr zugegen. Nunkapter hatte einige Eripäer um sich ver sammelt und besprach mit ihnen einen Plan. Leider kam ich so spät, daß ich nur noch einen Teil des Planes zu hören bekam, den ich nicht verstand. Immerhin erfuhr ich, daß es von einem anderen Gebäude der Perdana aus einen Zu gang zu den beiden Schächten der Herberge gab. Dieser Zugang verlief unterirdisch. Nunkapter war, als er die Meldung der bei den Ugha-Ughas erhielt, hinter dir hergeeilt und hatte dich niedergeschlagen. Er prahlte mit den Scheinern, die er dir geraubt hatte, und meinte, daß die Schuld an dem überfall wohl auf einen Bewohner der Herberge fal len werde. Es ging aus seinen Worten her vor, daß der Raub der Scheiner keineswegs
35 Nunkapters Hauptanliegen war. Er hätte dich umgebracht, wie er sagte, aber damit wäre wenig gewonnen gewesen, da dann im mer noch Balduur übrigblieb, der den Auf trag allein ausführen konnte. Wiederum fiel kein Wort über den Auftrag als solchen. Um so mehr wurde dagegen über den Mann namens Zempach gesprochen. Nun kapters Späher hatten inzwischen mit Si cherheit ermittelt, daß es einen solchen Mann nicht gebe. Das heißt, du mußtest den Namen erfunden haben. Als ich das hörte, wurde mir klar, was ich mir mit meiner Großtuerei eingebrockt hatte. Ich zog mich zurück. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie du von Balduur nach Hause gebracht wurdest. Ich wagte nicht, mich euch zu nähern. Ich ver brachte die ganze Nacht und den darauffol genden Tag damit, Sinn in die Dinge zu bringen, die ich von Nunkapter erlauscht hatte. Aber erst, als ich ein weiteres Ge spräch mit anhörte, wurde mir klar, worum es hier eigentlich ging. Am Nachmittag des darauffolgenden Ta ges – gestern also – nahm ich nämlich Nun kapters Spur wieder auf. Ich folgte ihm zu einer Besprechung mit zwei Unbekannten. Nunkapter erklärte, daß es mit der Ausschal tung Urgans nur noch ein einziges Problem gebe und das werde bald gelöst sein. Jetzt endlich machte ich mir einen Reim. Der Hügel, auf dem Urgans Kuppel steht, liegt am Rand der Perdana. Es war schon immer gerüchteweise davon die Rede gewe sen, es gebe im Innern des Hügels ein ural tes Labyrinth. Ich war nahezu sicher, daß ihr in das Labyrinth eingedrungen wart, um ir gendwo an Urgan heranzukommen. Nie mand anders als ihr wart das Problem, von dem Nunkapter sprach und das er bald zu lö sen gedachte – wahrscheinlich dadurch, daß er euch umbringen ließ. Da wußte ich, daß ich euch warnen muß te. Ich machte mich sofort auf den Weg. Es war ein höllischer Marsch. Ich verirrte mich Dutzende von Malen. Die Spuren, die ihr zurückgelassen hattet, waren spärlich. Ich
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kroch durch ein mächtiges Loch in der Erde, in dem ich beinahe verschüttet worden wäre. Aber nun bin ich hier, und es freut mich, daß ich euch wohlbehalten finde.« Ich sah Balduur an. Er erwiderte meinen Blick. In seinen Augen stand geschrieben, ebenso wie in den meinen, was wir in die sem Augenblick dachten: Wir hatten dem kleinen Pelzwesen bitter unrecht getan.
* Ich stand auf. »Wen der Anblick eines halbbekleideten Menschen stört, der soll wegschauen!« sagte ich. Niemand empfand offenbar solcherlei Be denken. Denn alle, selbst die beiden Robo ter, sahen mir aufmerksam zu, als ich be gann, mich meiner Kleidung zu entledigen. Das war die Montur, die ich noch auf Pthor angelegt hatte. Ich breitete die einzelnen Stücke sorgfältig auf dem Boden aus und untersuchte sie nacheinander. Es dauerte nicht lange, da hatte ich gefunden, wonach ich suchte. Es war ein winziges Ding, eiförmig und von der Größe einer durchschnittlichen Per le. Es bestand aus einem harten, glänzenden Material von schwarzer Farbe. Jemand hatte es mit Hilfe eines Tupfers Klebmasse an der Innenseite meines linken Ärmels ange bracht. Ich hatte das Ding niemals bemerkt, weil die Ärmel ziemlich locker geschnitten waren. »Des Rätsels Lösung!« sagte ich, während ich den kleinen Gegenstand herumzeigte. »Nunkapter hatte es wirklich nicht auf die Scheiner abgesehen, als er mich im Stollen überfiel. Er wollte vielmehr dieses Ding an mir montieren.« »Was ist es?« fragte Balduur. »Du selbst kamst auf die Idee, daß unser unbekannter Gegner genau wußte, wo wir uns befanden, als er die Explosion zündete. Wie konnte er das wissen? Weil er von die sem kleinen Gerät Signale erhielt, mit denen er uns anpeilen konnte. Nunkapter sah keine
Möglichkeit, uns beide aus dem Weg zu schaffen, bevor wir in das Labyrinth ein drangen. Also wollte er wenigstens seinem Kumpan, der sich schon im Innern des La byrinths befand, das Leben so leicht wie möglich machen, indem er ihn über unseren Aufenthaltsort auf dem laufenden hielt.« »Schlau!« staunte Balduur. »Überaus schlau! Und warum drang Nunkapter in der Nacht in unser Quartier ein und ließ sich von Zeyl und Konos verprügeln?« »Wahrscheinlich Neugierde. Er wollte wissen, was für Geräte wir mit uns schlepp ten. Er wollte erfahren, was es mit uns auf sich hatte. Vergiß nicht, daß er damals noch nicht mit Sicherheit wußte, ob wir entflohe ne Verbrecher oder Gurankors Spione wa ren.« »Aha«, machte Balduur. »Wir beide schulden dir Dank«, wandte ich mich an Quarxchs. »Außerdem siehst du uns beschämt. Wir hatten dich wirklich in Verdacht. Du hast keine Ahnung, worauf du dich einließest, als du aufbrachst, um uns zu folgen. Ich hätte, wenn mir davon berichtet worden wäre, keine grüne Münze für dein Leben gegeben. Darüber laß uns jetzt spre chen. Wie bist du Urgans Fallen entgan gen?«
* »Welchen Fallen?« fragte Quarxchs ver ständnislos. Es war offenbar, daß er von den tücki schen Sicherheitsvorkehrungen, die Zeyl und Konos desaktiviert hatten und die un mittelbar nach unserer Passage wieder hat ten wirksam werden sollen, unberührt ge blieben war. Man mochte die Sache drehen und wen den, wie man wollte, es gab nur eine einzige Erklärung. Urgans Fallen waren zwar noch vorhanden, wie mein Experiment mit der Münze bewiesen hatte. Aber nachdem sie einmal desaktiviert worden waren, traten sie nicht wieder in Tätigkeit. Urgan hatte also nicht nur aufgehört, die
Attentat auf Urgan Verteidigungsanstrengungen der eripäischen Flotte zu dirigieren. Er schützte auch sich selbst nicht mehr so wirksam, wie er es frü her getan hatte. Aufgrund unseres Eindrin gens waren die Fallen neutralisiert. Von jetzt an würde sich jeder durch das Labyrinth an den Rechner heranarbeiten können. Für uns wurde dadurch nur um so deutli cher, daß die Befürchtungen der drei UrganLauscher in der Tat berechtigt waren. Urgan war nicht mehr funktionsfähig. Früher hätte man noch darüber rätseln können, ob dies ei ne Folge seines hohen Alters oder eines Sa botageaktes war. Seitdem wir von Quarxchs erfahren hatten, was zwischen Nunkapter und seinen Besuchern besprochen worden war, gab es diese Unsicherheit nicht mehr. Ein Sabotageunternehmen gegen Urgan war in Gang. Offenbar hatte es zumindest schon teilweisen Erfolg gehabt. Unter diesen Umständen war an weitere Ruhe nicht mehr zu denken. Wir brachen so fort auf. Quarxchs schloß sich uns an. Ich hatte versucht, ihn zur Rückkehr zu bewe gen. Aber in je lebendigeren Farben ich die Gefahren schilderte, die auf uns warteten, desto hartnäckiger bestand er darauf, uns zu begleiten. Ich gab meinen Widerstand schließlich auf. Wie ich vermutet hatte, brauchten wir nicht lange, um jenen zentral gelegenen Raum zu finden, von dem ein Schacht direkt hinauf in Urgans Kuppel führte. Der Raum hatte die äußere Erscheinung einer der Weg fallen. Er war kreisrund im Querschnitt und hatte insgesamt neun Ausgänge. Es war ein reiner Reflex, der mich dazu bewegte, in die Höhe zu blicken. Da sah ich die Öffnung in der Decke. Sie hatte einen Durchmesser von etwa fünf Metern. Der Schacht, dessen unte res Ende sie darstellte, war finster. Zeyl wollte hinaufleuchten, aber ich untersagte es ihm. Wir wußten nicht, wie lang der Schacht war, und es konnte durchaus sein, daß unser Gegner oben auf uns wartete. In diesem Fall wäre ihm Zeyls Lichtsignal ein willkomme nes Zeichen unserer bevorstehenden An kunft gewesen.
37 Für mich war es jetzt an der Zeit, mich des kleinen Signalgebers zu entledigen, den Nunkapter an meiner Kleidung befestigt hat te, damit sein Spießgeselle ständig über un sere Bewegungen informiert sei. Ich übergab das winzige Gerät Konos und trug ihm auf, den Weg zurückzugehen, den wir gekom men waren. Er sollte bis zu der Rampe vor dringen, auf der sich die Explosion ereignet hatte. Dort war der Signalgeber zu deponie ren, so daß er die Rampe hinabrollte. Ich nahm an, daß er etwa eine Viertel- bis eine halbe Stunde lang rollen würde, bis er in das Loch fiel, das die Explosion gerissen hatte. Konos würde mehrere Stunden brauchen, um das obere Rampenende zu erreichen. Das ergab eine ausreichend lange Zeitspan ne, während der sich unser unbekannter Gegner getrost den Kopf darüber zerbrechen mochte, was aus uns geworden sei. Ich war mir darüber im klaren, daß Konos' Auftrag nicht ungefährlich war. Der Unbe kannte mochte einen weiteren Vorstoß un ternehmen. Er glaubte ja, daß sich der Si gnalgeber nach wie vor an meiner Kleidung befinde. Womöglich legte er eine zweite Bombe. Es mußte also damit gerechnet wer den, daß Konos nicht zu uns zurückkehrte. Für den Fall, daß wir uns nicht mehr an diesem Ort befanden, wenn Konos zurück kam, trug ich ihm auf, uns durch den Schacht zu folgen. Ich überließ es dabei ihm selbst, wie er das bewerkstelligen wolle. Denn im Augenblick war mir selbst noch unklar, wie wir dieses Hindernis bezwingen würden. Konos machte sich sofort auf den Weg. Wir dagegen schritten zur Untersuchung des Schachtes. Ich trat unter die Öffnung und blickte hinauf. Die Höhe der Decke betrug etwa sechs Meter. War diese Distanz schon schwierig zu überwinden, so war ich gänz lich ungewiß, wie wir den Schacht selbst er klimmen sollten. Denn seine Wände bestan den, so weit das Licht reichte, völlig glatt und boten Hand und Fuß keinen Halt. Während ich noch da stand, erschien es mir plötzlich, als beginne die Luft ringsum
38 zu flimmern. Ich muß dazu bemerken, daß ich den Schutzanzug, den Mursync uns ge geben hatte, seit unserem Aufbruch wieder trug. Ich fragte mich noch, was die seltsame Erscheinung zu bedeuten habe, da verlor ich mit einemmal den Boden unter den Füßen und schwebte langsam zu der Mündung des Schachtes empor. Ein künstliches Schwere feld war in Tätigkeit getreten und schickte sich an, mich zu. Urgans Kuppel hinaufzu befördern. Das war nun allerdings ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. Ich begann zu strampeln, mich zu wenden und zu drehen, und mit einiger Mühe gelang es mir, dem Einfluß des Feldes zu entkommen. Zu dieser Zeit befand ich mich schon zwei bis drei Meter über dem Boden. Einmal aus der Ein flußzone des Feldes entlassen, stürzte ich wie ein Stein zu Boden. Die schwere Montur milderte den Aufprall. Ich war sofort wieder auf den Beinen. Von außen, stellte ich fest, war das Anti gravfeld deutlich zu erkennen. Eine schlauchförmige Zone flimmernder Luft reichte vom Boden der Halle bis zu dem Loch hinauf. Das Feld blieb noch etliche Minuten bestehen, dann brach es in sich zu sammen. Es gab offenbar einen Mechanis mus, der erkannte, wann jemand durch den Schacht auffahren wollte, und daraufhin das künstliche Schwerefeld aktivierte. Sobald das Feld nicht mehr gebraucht wurde, wurde es abgeschaltet. Das Problem, wie wir durch den Schacht emporsteigen würden, hatte sich somit von selbst gelöst. Ich allerdings beabsichtigte nicht, mich kopfüber in dieses gewagte Un ternehmen zu stürzen. Ich hatte noch immer mit dem Unbekannten zu rechnen, der ir gendwo auf uns lauerte. Ich entschloß mich, einen Späher vorauszusenden. Meine Wahl fiel auf Zeyl, aber erst nach reiflicher Über legung. Von Konos wußten wir nicht, ob er sein gefährliches Unternehmen überleben werde. Wenn Zeyl auf seinem Erkundungs gang etwas zustieß, dann wären wir womög lich beide Roboter los und damit Urgans
Kurt Mahr Fallen, die jetzt noch zwischen uns und dem Ziel liegen mochten, hilflos ausgeliefert. Dennoch schickte ich Zeyl. Der Vorstoß war derart riskant, daß ich es vor meinem Gewissen nicht hätte verantworten können, ein organisches Wesen auszusenden, solan ge mir noch ein Roboter zur Verfügung stand. Zeyl erhielt einen genau umrissenen Auf trag. Er sollte bis zum oberen Ende des Schachtes vorstoßen und die Umgebung der Schachtmündung bis auf einhundert Meter im Umkreis erkunden. Er war angewiesen, sich von niemand sehen zu lassen und auf dem schnellsten Weg wieder zu uns zurück zukehren. Er postierte sich unter das Loch in der Decke. Wenige Augenblicke später erwach te das künstliche Schwerefeld zum Leben. Zeyl schwebte in die Höhe und war wenige Augenblicke später verschwunden. Für uns begann das Warten.
8. Daß Zeyl den Schacht am oberen Ende verlassen hatte, erkannten wir daran, daß das Antigravfeld nach einer Weile erlosch. Es verging eine halbe Stunde, und dann noch eine. Ich begann, unruhig zu werden. War Zeyl etwas zugestoßen? Es war bedrückend still ringsum. Auch durch den Schacht ka men keinerlei Geräusche. Aber das brauchte nichts zu bedeuten. Es gab vielerlei Metho den, einen Roboter unschädlich zu machen, und einige davon waren so gut wie lautlos. Es waren insgesamt achtzig Minuten ver gangen, als plötzlich unterhalb des Loches in der Decke die Luft von neuem zu flim mern begann. Balduur, der Yakhochiter und ich sprangen auf und eilten zum Schacht. Wenige Minuten später glitt Zeyl zu uns herab. Ich hätte mich über einen wiederge fundenen Freund nicht herzlicher freuen können als über den Anblick des fast schon verloren geglaubten Roboters. »Die Luft ist rein«, erklärte Zeyl. Er schilderte die Umgebung der oberen
Attentat auf Urgan Schachtmündung. Es gab dort eine große, rechteckige Halle, in der sich viel techni sches Gerät befand. Ein Teil des schräg ver laufenden Hallendachs bestand aus durch sichtigem Material. Zeyl hatte die Sonne er blickt und aus ihrem Stand geschlossen, daß es mitten am Nachmittag sein mußte. Das berichtete er nicht von sich aus, sondern auf meine Frage hin. Die Halle hatte eine Weite von rund ein hundert Metern. Seinem Auftrag getreu war Zeyl in einen Gang eingedrungen – den ein zigen, der die Halle mit den anderen Räum lichkeiten der Kuppel auf dem Gipfel des Hügels verband. Dieser Gang besaß Türen zu beiden Seiten. Zeyl hatte sie allesamt ge öffnet und festgestellt, daß sich dahinter kleine, fensterlose Räume befanden, in de nen solche, die Urgan mit der Lösung eines Problems beauftragen wollten, ihre Formu lierung vorbereiten konnten. Es gab dort kleinere Rechner und Datensichtstationen – alles, was zur Peripherie einer großen Re chenanlage gehört. Zeyl war bis zu einer Entfernung von ein hundert Metern von der Schachtmündung vorgedrungen und dann umgekehrt. Wie er den Gang mit den vielen Türen schilderte, konnte man sich leicht vorstellen, warum er so lange gebraucht hatte. Mich wunderte nur eines. Seit fast ewigen Zeiten hatten nur die drei Urgan-Lauscher Zutritt zu dem Rechengehirn. Weshalb gab es dort oben soviele Arbeitsräume, wenn es doch nur drei Personen waren, die sich ihrer bedienen konnten? Die Antwort mußte in der fernen Vergan genheit liegen. Urgan, so hieß es, hatte es schon gegeben, bevor die Sonne SirkhPrelljaddum auf der Lichtung inmitten des Korsallophur-Staus zum Stillstand kam. Da mals, als sie noch mit vielen Geschwister sonnen durch das Universum eilte, mochten auf den Welten der Eripäer andere Zustände geherrscht haben. Wahrscheinlich war da mals der Zutritt zu Urgan einer größeren Personengruppe gestattet. Durch Zeyls Schilderung ermutigt, mach
39 ten wir uns sofort auf den Weg. Das künstli che Schwerefeld sprang gehorsam an, nach dem wir uns unter der Schachtmündung auf gestellt hatten. Zeyl machte die Vorhut. Hin ter ihm kam ich, gefolgt von Quarxchs. Bal duur war der Schlußmann.
* Die Halle entsprach voll und ganz Zeyls Beschreibung. Die Decke verlief schräg, da sie ein Teil des Kuppeldaches war, das die gesamte Struktur bedeckte. Am äußeren Rand der Halle bestand das Dach aus einer glasähnlichen Substanz. Zum erstenmal seit geraumer Zeit erblickten wir den Himmel wieder über uns. Unsere Irrfahrt durch die Eingeweide von Aarl war beendet. Zeyl postierte sich an der Mündung des Ganges, durch den wir vorzudringen hatten, wenn wir zu Urgan gelangen wollten, und sicherte dort, während Balduur und ich die Maschinen in Augenschein nahmen. Es ge lang uns nicht, zu erkennen, welchem Zweck die Aggregate dienten. Aber wir fan den rasch heraus, daß sie sich unschwer in zwei Kategorien einteilen ließen: Solche, die unbeschädigt waren, und solche, an denen sich – vor kurzem! – jemand in zerstöreri scher Absicht zu schaffen gemacht hatte. Diese letztere Sorte war ihrer Verkleidungen beraubt, und in den Eingeweiden der Ma schinen war mit schweren Werkzeugen ge wütet worden. Es gab keinen Zweifel, daß unser unbe kannter Gegner hier am Werk gewesen war. Er kannte die Funktion der einzelnen Aggre gate offenbar weitaus besser als wir; denn er war äußerst selektiv vorgegangen. Die be schädigten Maschinen waren mitunter weit voneinander entfernt und anscheinend auf grund ihrer Funktion ausgesucht worden. Ich wurde ungeduldig. Der Feind war ak tiver, als wir uns vorgestellt hatten. Wenn wir Urgan retten wollten, durften wir keine Zeit verlieren. Wir schritten in Richtung des Korridors, an dessen Ausgang der Roboter Zeyl Wache hielt. Wir waren noch ein gutes
40 Dutzend Meter von der Mündung des Gan ges entfernt, da fühlte ich plötzlich Balduurs Hand auf meiner Schulter. »Sieh dir das an!« sagte er. Seine Hand deutete nach oben. Wir waren soeben hinter einem mächtigen Maschinen aggregat hervorgekommen. Jetzt standen wir im hellen Sonnenlicht, das durch den gläser nen Teil des Daches hereinfiel. Balduurs Geste wies geradewegs auf SirkhPrelljaddum, die kleine, rote Sonne der Eripäer. Ich wußte zuerst nicht, was er meinte. »Hat Zeyl nicht gesagt, nach dem Son nenstand sei es mitten am Nach-Mittag?« er innerte mich Balduur. »Weiß der Himmel – ja, das hat er ge sagt!« stieß ich hervor. Zeyl mußte sich geirrt haben. Die Sonne stand hoch über uns. Mittag konnte nicht seit mehr als einer Stunde vorüber sein. Zeyl aber hatte seine Beobachtung vor mehr als einer Stunde gemacht. Wie konnte er zu dem Schluß kommen, es sei mittlerer Nachmit tag? Eine Vorahnung drohender Gefahr be mächtigte sich meiner. Hier war etwas nicht in Ordnung. Ich erwog die Möglichkeit, Zeyl wegen seines Irrtums zur Rede zu stel len. Aber eine innere Stimme hielt mich da von ab. Wir erreichten den Eingang des Kor ridors. Zeyl setzte sich, ohne meine Anwei sung abzuwarten, in Bewegung. Er mar schierte in den Gang hinein. Ich musterte ihn mißtrauisch. Hatte der unbekannte Gegner etwa unseren Zeyl gegen einen Robot glei cher Bauweise ausgetauscht? Aber nein – da waren die winzigen Merkmale, anhand de ren ich Zeyl von Konos zu unterscheiden ge lernt hatte: eine stecknadelgroße Korrosions stelle am rechten Oberarm, ein Kratzer auf dem Rücken – Dinge, die dem oberflächli chen Blick entgingen. Zeyl bewegte sich mit der gebotenen Vor sicht. Als der Gang eine Biegung beschrieb, winkte er uns stehenzubleiben und schritt lautlos bis zu einem Punkt, von dem aus er die vorab liegende Strecke des Korridors
Kurt Mahr überblicken konnte. Gleich darauf kam er zu uns zurück. »Der Feind nähert sich!« erklärte er in un mißverständlicher Eile. »Wir müssen in Deckung gehen.« Ohne unsere Reaktion abzuwarten, schritt er auf die nächste Tür zu und öffnete sie. »Hier hinein!« sagte er. Ich blickte den Gang entlang. Zum ersten mal fiel mir auf, daß es hier nur eine kleine Anzahl von Türen gab. Nach Zeyls Schilde rung hatte ich mehrere Dutzend erwartet. Von meinem derzeitigen Standort aus sah ich dagegen ihrer nur vier. Das Gefühl des Unbehagens verstärkte sich. »Du, geh voran!« befahl ich Zeyl. Er trat durch die Türöffnung. Ich sah einen kleinen Raum, der mit mehreren Ti schen und einer Sammlung technischen Ge räts ausgestattet war. Plötzlich empfand ich Furcht vor diesem Raum. Eine unsichtbare Drohung ging von ihm aus. »Kommt!« drängte der Robot. »Schließ die Tür!« trug ich ihm auf. »Ich will erst sehen, mit wem wir es zu tun ha ben!« Er war mit meinem Entschluß anschei nend nicht einverstanden und schickte sich an, den kleinen Raum wieder zu verlassen. »Bleib drinnen und schließ die Tür!« fuhr ich ihn an. Er stockte unwillkürlich. Ich trat seitwärts von der Tür weg und näherte mich dem Knick, jenseits dessen Zeyl den Gegner ge sehen haben wollte. In diesem Augenblick tat es hinter mir einen dumpfen, dröhnenden Knall. Ich warf mich instinktiv zu Boden. Eine Druckwelle, gefolgt von einem Trom melfeuer metallener Trümmerstücke, fegte über mich hinweg. Ich barg den Schädel un ter den Armen. Als das Geprassel aufhörte, richtete ich mich vorsichtig auf. Der Gang war voller Rauch. Wo früher die Tür gewesen war, gähnte ein gezacktes Loch. Die glühenden Metallteile auf dem Boden waren vermutlich die Überreste des Roboters Zeyl. Ich hörte ein mattes Stöhnen. Es kam von Balduur,
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der offenbar von der Druckwelle gegen die Wand geschleudert worden war und dabei halbwegs das Bewußtsein verloren hatte. Ich half ihm, sich aufzurichten. Er war anschei nend nicht verletzt, und das hatte er der schweren Montur zu verdanken, die er von Mursync erhalten hatte. »Zurück!« drängte ich ihn. »Die Explosi on muß überall in der Kuppel gehört worden sein. Wir sind hier nicht sicher!« Vergebens hielt ich nach Quarxchs Aus schau. Das kleine Pelzwesen schien von der Detonation zerrissen worden zu sein. So we nigstens glaubte ich, bis ich mit Balduur, der sich schwer auf mich stützte, die Maschi nenhalle erreichte. Ich hörte ein helles Quietschen, sah auf und erblickte den Yak hochiter, der sich soeben anschickte, von ei nem Maschinenaggregat herabzuklettern. Er war zerzaust – nicht nur in seiner äußeren Erscheinung, sondern offenbar auch im Ge müt. »Das ist eine hinterlistige Art, einen Ah nungslosen zu behandeln«, zeterte er. »Die Wucht der Explosion hat mich glattwegs bis dort hinaufgeschleudert. Wenn ich nicht so biegsam wäre, hätte sie mich in Stücke zer rissen!« Sein Zorn wirkte erheiternd. Ich zerrte Balduur in die Deckung eines hohen Aggre gatsockels. Quarxchs kam von selbst hinter uns drein. Ich hielt den Strahler schußbereit und wartete auf das Erscheinen des unbe kannten Gegners.
* Eine Viertelstunde verging, ohne daß sich etwas rührte. Mittlerweile war Balduur wie der bei Sinnen. »Wie konnte das geschehen?« fragte er. »Ich meine: Wer hat Zeyl in eine lebende Bombe verwandelt?« Das war die Frage, an der auch ich schon seit einiger Zeit kaute. Zeyl und Konos wa ren von Mursync auf bedingungslose Loya lität Balduur und mir gegenüber program miert worden. Diese Programmierung war
offenbar von dem Unbekannten unwirksam gemacht worden, bevor er den Sprengkörper an Zeyl montiert und ihn zu uns zurückge schickt hatte. Zeyl hatte, als er hinter der Gangbiegung hervorspähte, niemand gese hen. Er hatte einen Vorwand erfunden, uns in den kleinen Raum zu locken, in dessen Enge die Detonation uns unweigerlich aus gelöscht hätte. Wer aber hatte sich an Zeyls Programmie rung zu schaffen gemacht? Und wie war es ihm gelungen, sich den Robot gefügig zu machen? Die Änderung in Zeyls Programm war offenbar in aller Hast und ein wenig di lettantisch ausgeführt worden. Zeyls Kombi natorik hatte darunter gelitten. Damit erklär te sich, warum er den Stand der Sonne nicht mehr richtig hatte deuten können. Wäre das nicht gewesen, so hätte ich vermutlich kei nen Verdacht geschöpft und läge jetzt mit Balduur und Quarxchs in dem kleinen Ar beitsraum, in Hunderte von Stücken zerris sen. Waren all diese Fragen schon verwirrend, so brachte mich die Ruhe, die zwanzig Mi nuten nach der Explosion noch immer rings um herrschte, vollends aus dem seelischen Gleichgewicht. Der Unbekannte, der Zeyl mit der Bombe bestückt hatte, mußte sich doch dafür interessieren, ob sein Anschlag Erfolg gehabt hatte oder nicht! Warum ließ er sich nicht sehen? Warum kam er nicht nachschauen? Oder fühlte er sich seiner Sa che etwa so sicher, daß sich das Nachsehen für ihn nicht lohnte? Von dort, wo ich kauerte, blickte ich in den Korridor hinein. Der Qualm hatte sich inzwischen verzogen. Ich hatte freies Blick feld. Niemand zeigte sich. Die Szene blieb so ruhig, als hätte es nie eine Explosion ge geben. Ich stand auf. »Es hat keinen Zweck, länger zu warten!« erklärte ich. »Wir stoßen weiter vor!« Wir hatten jetzt keinen Roboter mehr. Wenn sich in dem Gang eine von Urgans Fallen befand, waren wir verloren. Unsere einzige Hoffnung lag darin, daß das Rechen
42 gehirn in so geringer Entfernung von seinem Standort keinen Tötungsmechanismus mehr installiert hatte. Wir passierten den Ort der Explosion. Das Innere des kleinen Raumes war bis zur Un kenntlichkeit verwahrlost. Die Bombe hatte eine wahrhaft mörderische Wirkung entfal tet. Ich schritt bis zur Biegung des Ganges und spähte dahinter hervor. Das Bild, das sich mir bot, ließ mein Herz unwillkürlich schneller schlagen. Wenige Meter vorab weitete sich der Gang abrupt und ging in einen riesigen Raum über, der den Mittelpunkt der Kuppel bildete. Das Dach bestand aus glasartigem Material und bot dem Tageslicht ungehin derten Zutritt. In dem mächtigen Saal stan den die Einzelteile, aus denen das Rechen gehirn Urgan sich zusammensetzte, zu lan gen Kolonnen aufgereiht: Speicherbänke und Prozessoren. Auf den ersten Blick bemerkte ich, daß auch hier jemand am Werk gewesen war, einzelne ausgesuchte Aggregate zu beschä digen. Auch hier – wie drüben in der Ma schinenhalle – war das Ziel des Unbekann ten nicht etwa die Zerstörung der Geräte ge wesen, das sich leicht genug hätte erreichen lassen, sondern eher die Anrichtung eines gewissen Schadens. Es war fast so – und dieser Gedanke fraß sich in meinem Be wußtsein fest – als wäre es dem geheimnis vollen Gegner nicht darum zu tun gewesen, die Aggregate an der Ausübung ihrer Funk tion zu hindern, sondern vielmehr darum, ihr Funktionieren in einem gewissen Sinn zu beeinflussen. Die Geräte gaben ein leises Summen von sich – ein Anzeichen, daß sie sich in Tätig keit befanden. Ansonsten aber gab es in dem weiten Saal keinerlei Aktivität. Wo war der Gegner? Beobachtete er uns aus dem Hinter halt? Holte er in diesem Augenblick zum nächsten Schlag aus? Ich wandte mich an Balduur. »Irgendwo in der Nähe muß es einen Kontrollraum geben«, sagte ich. »Die Anla ge funktioniert im allgemeinen automatisch,
Kurt Mahr aber die Eripäer haben ohne Zweifel die Möglichkeit eines manuellen Eingriffs vor gesehen. Diesen Kontrollraum müssen wir finden!« »Das geht schneller, wenn wir uns teilen«, meinte Balduur. »Du nimmst die rechte Wand, ich die linke.« »Zu gefährlich!« wehrte ich ab. »Wir dür fen uns nicht zersplittern. Wir bleiben zu sammen – auch wenn das länger dauert!« Der große Raum war von annähernd kreisförmigem Querschnitt. Das gläserne Kuppeldach erreichte den höchsten Punkt seiner Wölbung über der Mitte des Raumes. Lediglich da, wo wir eingetreten waren, und auf der gegenüberliegenden Seite gab es je weils etwa dreißig Meter geradlinig verlau fender Wand, die das Ebenmaß des Kreises störte. Der Raum beanspruchte nicht die gesamte Grundfläche der Kuppel. An der Peripherie gab es weitere Räume, wie zum Beispiel die Maschinenhalle, durch die wir gekommen waren. Die Wände des Zentralraums besa ßen eine Höhe von etwa zwanzig Metern. Im Mittelpunkt stieg die Kuppel bis auf mehr als einhundert Meter an. Wir wandten uns zunächst nach links. Das Bild der selektiven Zerstörung war allgegen wärtig. Hier hatte jemand ganze Arbeit ge leistet. Das Ziel des Unbekannten konnte kein anderes sein, als die eripäischen Vertei digungsanstrengungen lahmzulegen und den Krolocs Einlaß zur Lichtung zu verschaffen. Die hier am Werke waren, standen in krolo cischem Sold, und in der Verschwörung ge gen das Sternenreich der Eripäer spielte ein habgieriger Hausherr namens Nunkapter, selbst ein Eripäer, eine maßgebliche Rolle. Quarxchs gab plötzlich einen überrasch ten Laut von sich. »Was ist?« wollte ich wissen. Er reckte den Stummelarm und deutete an der Wand empor in die Höhe. »Dort ist ein Fenster! Seht ihr es nicht?« Balduur und ich gaben uns Mühe, aber für unsere Augen war von einem Fenster nichts zu sehen. Quarxchs litt entweder an einer
Attentat auf Urgan Halluzination, oder seine Sehorgane waren leistungsfähiger als die unseren. Ich hielt das letztere durchaus für möglich. Wenn es an mir gewesen wäre, einen Kontrollraum für diese gewaltige Rechenanlage zu bauen, ich hätte ihm wahrscheinlich eine überhöhte Po sition gegeben, damit man von dort aus die Rechnerhalle überblicken konnte. Wenn Quarxchs recht hatte, dann mußte sich der Aufgang, der zu dem Raum mit dem Fenster emporführte, irgendwo in der linken Wand zu finden sein. Wir suchten da nach. Da der Zugang sich uns nicht optisch offenbaren wollte, begannen wir, die Wand abzuklopfen und nach verborgenen Mecha nismen zu forschen. Auch das erwies sich als erfolglos. Ich war fast bereit, zu glauben, daß Quarxchs sich getäuscht habe und wir unsere Zeit hier umsonst vergeudeten, als et was Eigenartiges geschah. Ich klopfte mit den Handschuhen des schweren Schutzanzugs ohne viel Hoffnung ein Stück Wand ab, mit dem ich mich we nigstens schon dreimal zuvor beschäftigt hatte. Gerade wollte ich mich abwenden, da gewahrte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Gleichzeitig hörte ich ein leises Knirschen. Ich fuhr herum – und da war sie! Eine Öffnung von der Form eines Torbo gens, gut drei Meter hoch und annähernd ebenso breit. Hinter der Öffnung führte eine Treppe in die Höhe. Ich rief Quarxchs und Balduur zu mir her an. Sie waren mindestens so erstaunt wie ich. In Balduur aber regte sich alsbald das Mißtrauen. »Sieht so aus, als hätte einer die Falle für uns geöffnet!« meinte er. »Wir müssen vorsichtig sein«, gab ich zu. »Allerdings hatte ich einen anderen Ein druck.« »Inwiefern?« »Ich habe dieses Wandstück mehrmals abgeklopft. Wenn uns einer in eine Falle locken wollte, hätte er gleich beim ersten Versuch öffnen können. Ich meine eher, daß man uns bis jetzt beobachtet hat und zu dem Schluß gekommen ist, wir seien ungefähr
43 lich. Daraufhin öffnete man uns den Zugang zum Kontrollraum.« »Man!« spottete der Odinssohn. »Wer ist man?« »Urgan, zum Beispiel.«
9. Wir stiegen die Treppe hinauf. Sie war hell erleuchtet. Der Zugang schloß sich hin ter uns wieder. Trotz der Meinung, die ich soeben geäußert hatte, trug dieser Umstand nicht eben zu meiner Beruhigung bei. Im merhin glaubte ich, daß wir den Ausgang, wenn er sich für uns nicht öffnen wollte, zur Not mit den Strahlern niederbrennen könn ten. Die Stufen wanden sich in der Art einer Wendeltreppe. Auf einer Höhe von etwa fünfzehn Metern – also genau da, wo Quar xchs das Fenster zu sehen geglaubt hatte, ge langten wir auf eine Plattform, von der aus ein Durchgang in den Kontrollraum führte. Dieser war kleiner, als ich ihn mir vorge stellt hatte, und mit technischem Gerät bis in den hintersten Winkel vollgepfropft. Und an der gegenüberliegenden Wand lag in der Tat das Fenster, das Quarxchs von unten be merkt hatte. Es gewährte einen weiten Über blick über die Rechnerhalle. Es mußte von außen mit irgendeiner Substanz beschichtet sein, die es für menschliche Augen unsicht bar machte. Wir brauchten nicht lange, um uns zu ver gewissern, daß sich außer uns niemand in dem kleinen Raum befand. Natürlich be stand immer noch die Gefahr, daß irgendwo ein Sprengkörper verborgen war, der uns beizeiten in die Luft jagte. Aber ich glaubte nicht daran. Es gab in diesem Kontrollraum keinerlei Anzeichen der Zerstörung, die un ten im Rechnerraum und draußen in der Ma schinenhalle so unübersehbar gewesen wa ren. Ich gelangte zu dem Schluß, daß unser unbekannter Gegner diesen Raum nie zu Ge sicht bekommen hatte. Für ihn hatte sich der Zugang nicht geöffnet! Warum aber waren wir hereingelassen
44 worden? Ich musterte die zahllosen Geräte, Produkte einer fremden Technik, von der ich so gut wie nichts verstand. Batterien von Kontrollichtern blinkten an und ab. Ein hel les Summen war zu hören. Über Dutzende von kleinen Bildschirmen huschten endlose Ströme von Daten. Kein Zweifel, hier wurde hart gearbeitet. Auf einer der Bildflächen erschienen in rascher Folge Zeichen des eripäischen Al phabets. Jeder einzelne Buchstabe, jede Zif fer, jedes Sonderzeichen wurde dargestellt, und nachdem das Alphabet abgearbeitet worden war, begann die Vorstellung von neuem, nur erschienen die Zeichen jetzt in vergrößerter Darstellung. Der Vorgang elektrisierte mich. Hier hatte ich endlich etwas gefunden, was ich verste hen konnte. Eine der wichtigsten Fähigkei ten eines Datensichtgeräts ist die, die Zei chen, aus denen sich Daten zusammenset zen, korrekt darstellen zu können. Geräte, die ich von der Erde her kannte, besaßen da her eingebaute Diagnostikprogramme, mit denen die Fähigkeit der korrekten Zeichen darstellung überprüft werden konnte. Ein solches Programm war offenbar hier am Ar beiten: Urgan prüfte die Funktionsfähigkeit seiner Peripherie! Warum aber sollte er sich ausgerechnet, für dieses eine kleine Daten sichtgerät interessieren? Wer sagte mir, daß er das tat? War nicht vielmehr die ganze Hektik, die sich im Flackern der Kontrol leuchten und in den nicht endenwollenden Datenströmen zeigte, ebenfalls diagnosti sche Tätigkeit, lediglich bezogen auf andere Funktionen, die ich nicht verstand? Das mußte es sein! Urgan, durch den un bekannten Feind zur Hälfte zerstört und in seiner Funktionsfähigkeit behindert, machte Generalbestandsaufnahme. Er prüfte jede einzelne seiner Millionen Komponenten auf Einsatzbereitschaft. Er fertigte eine Scha densliste an, anhand deren er Reparaturen an sich selbst vornehmen konnte. Wenn Urgan ähnlich gebaut war wie terranische Rechen gehirne, dann behandelte er die Schadens aufnahme als eine Sache höchster Priorität.
Kurt Mahr Er würde sich durch nichts in seiner diagno stizierenden Tätigkeit unterbrechen lassen und außer an den Diagnostikroutinen an kei nem anderen Programm arbeiten – auch nicht an dem Programmkomplex, der die eripäische Verteidigung steuerte! Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Die unbekannten Eindringlinge verstanden von der Technik, die Urgan produziert hatte, ebenso wenig wie ich. Sie wollten Urgan lahmlegen. Sie hätten das tun können, indem sie die gesamte Kuppel in die Luft spreng ten. Das aber wäre den Eripäern nicht ent gangen. Sie hätten sofort gewußt, daß sie auf die Unterstützung des Rechners nicht mehr hoffen durften, und womöglich Schritte un ternommen, die den Krolocs nicht in den Plan paßten. Der unbekannte Gegner hätte auch in den Kontrollraum eindringen und Urgan einfach abschalten können. Das aber war ihm nicht gelungen. Der Rechner hatte sein Allerheiligstes vor den fremden Spio nen verborgen. Also blieb nur noch eines: Urgan mußte so beschäftigt werden, daß er zu nichts ande rem mehr Zeit hatte. Man zerstörte ihn nicht, sondern beschädigte ihn nur. Urgan setzte die Diagnostikroutinen in Tätigkeit. Aber während er den ersten Schaden isolierte, ent standen an anderen Orten der zweite, der dritte – und so weiter. Von da an war Urgan nur noch mit sich selbst beschäftigt. Er hatte keine Zeit mehr für andere Dinge – auch nicht für die Vertei digung der Lichtung, von der das Überleben der eripäischen Zivilisation abhing.
* Ich teilte Balduur meine Überlegungen mit. »Wie soll das weitergehen?« erkundigte er sich nachdenklich. »Wird Urgan jemals wieder in der Lage sein, sich um die Belan ge der Eripäer zu kümmern?« »Das hängt davon ab, wie bald wir dem Unbekannten das Handwerk legen können. Urgan ist ein mächtiges Gebilde. Er besitzt
Attentat auf Urgan sehr wohl die Fähigkeit, sich selbst zu repa rieren. Wenn die Serie der gezielten Beschä digungen aufhört, wird er bald wieder voll in Betrieb sein.« Während dieser kurzen Unterhaltung kam mir ein Gedanke. Ich hatte zuvor den Schluß gezogen, daß Urgan mit der Selbstreparatur voll ausgelastet war und sich daher um nichts, aber auch um gar nichts anderes kümmern konnte. Dieser Schluß bedurfte zumindest in einem Punkt der Korrektur. Ich hatte im Eifer des Argumentierens etwas Wichtiges übersehen. Es war Urgan gewesen, der uns den Zu gang zum Kontrollraum geöffnet hatte, nachdem er zu der Überzeugung gelangt war, wir seien harmlos. Also mußte er neben seiner Beschäftigung mit der Bestandsauf nahme, wenigstens vorübergehend, Zeit für zwei Dinge gehabt haben: uns zu beobach ten und den Öffnungsmechanismus zu betä tigen. Das war interessant festzustellen. Denn daraus ging hervor, daß Urgan der Beobach tung der Umgebung und dem Öffnen des Zugangs zum Kontrollraum höchste Bedeu tung beimaß. Man konnte daraus mühelos den Schluß ziehen, daß er nach Hilfe Aus schau hielt und diese Hilfe womöglich in uns gefunden zu haben glaubte. Weiter kam ich mit meinen Überlegungen vorläufig nicht. Balduur, der in der Nähe des Fensters stand, stieß einen überraschten Ruf aus. »Er hat's geschafft!« rief er freudig. »Braver Kerl!« Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo von er sprach. Als ich zum Fenster trat und seinem Wink mit dem Blick folgte, gewahr te ich einen Robot, ohne Zweifel Konos, der soeben aus dem Gang in die Rechnerhalle trat. »Er sucht uns. Gehen wir ihm entgegen!« schlug ich vor. Wir schritten die Treppe hinab. Der Aus gang öffnete sich uns nicht sofort, sondern erst nach ein paar Sekunden. Wir traten hin aus, konnten den Robot jedoch nirgendwo
45 sehen. Hinter uns schloß sich die Treppen öffnung automatisch. Kurze Zeit später kam Konos wieder zum Vorschein. Er war an einer hohen Speicher bank entlangmarschiert, die ihn vor unseren Blicken verbarg. Er nahm uns wahr und kam auf uns zu. Ich gebe zu, daß ich ihm mit ge mischten Gefühlen entgegenging. Der Zwi schenfall mit Zeyl war noch zu frisch in meiner Erinnerung. Wer mochte wissen, ob Konos nicht ebenfalls umprogrammiert wor den war. »Ich komme nicht allein!« erklärte der Robot bereits aus bedeutender Entfernung. »Ich bringe Gäste mit!« Mein Blick wanderte unwillkürlich zu der Mündung des Ganges, der von der Maschi nenhalle herüberführte. Dort erschienen in diesem Augenblick drei zerbrechlich wir kende Gestalten. Ich traute meinen Augen nicht: Es waren die drei Urgan-Lauscher – Mursync, Peilan und Quana!
* Wir gingen ihnen entgegen. Sie wirkten genauso altersschwach und hinfällig, wie ich sie in Erinnerung hatte. Aber sie trugen die Kästen nicht mehr bei sich, die Minirechner, mit denen sie Urgan zu ersetzen getrachtet hatten. »Ich begrüße Sie«, empfing ich sie. »Sie sehen uns verwundert. Was veranlaßte Sie, uns durch das Labyrinth zu folgen?« »Wir erhielten eine Botschaft von Ur gan«, antwortete Mursync, der auch hier den Wortführer machte. »Er stellte in Aussicht, daß er sämtliche Kontrollfunktionen in na her Zukunft wieder versehen werde. Wir teilten ihm mit, daß wir einen Spähtrupp durch das Labyrinth in Richtung der UrganKuppel in Marsch gesetzt hätten. Urgan riet uns, den Spähtrupp zurückzurufen. Wir äu ßerten Bedenken wegen der Fallen. Der Rechner versicherte uns aber, daß er die Fal len desaktivieren werde, so daß wir ungehin dert passieren konnten.«
46 »Es tut mir leid, daß Sie sich die große Mühe umsonst gemacht haben«, erklärte ich. »Da Urgan wieder ansprechbar ist, wäre es Ihnen sicherlich weitaus leichter gefallen, durch den Haupteingang zu kommen.« »Das hätten wir getan«, versicherte mir Mursync, »wenn wir gewußt hätten, daß Sie bereits am Ziel sind. Wir konnten nicht er warten, daß Sie so ungeheuer schnell vor dringen würden.« Ich sah Balduur an. Sein Gesicht war stei nern. Begriff er, was hier vorging? Hatte er eine Ahnung von der Gefahr, in der wir uns befanden? Da sah ich, wie er sich unauffäl lig ein paar Schritte seitwärts bewegte, bis er hinter Konos zu stehen kam. Da wußte ich, daß er verstanden hatte. Ich wandte mich von neuem an die Ur gan-Lauscher. »Ich nehme an, daß Sie von jetzt an unse rer Dienste nicht mehr bedürfen.« »Das ist in der Tat richtig«, bestätigte Mursync. »Wir aber haben zu danken. Sie haben eine schwere Aufgabe übernommen, und ich zweifle keine Sekunde, daß Sie sich ihrer in brillanter Weise entledigt haben würden, wenn Urgan nicht von selbst wieder zu Vernunft gekommen wäre.« »Sprechen Sie nicht von Dank!« wehrte ich ab. »Es war selbstverständlich, daß wir Sie in einer Notlage unterstützten. Erlauben Sie uns jedoch bitte, daß wir in den Kon trollraum zurückkehren, um die Geräte auf zusammeln, die wir dort zurückgelassen ha ben.« Ohne sich auch nur eine Spur von Überra schung anmerken zu lassen, erkundigte sich Mursync: »Es ist Ihnen gelungen, in den Kontroll raum einzudringen?« »Ja, das war recht einfach«, antwortete ich. »Wenn es Sie interessiert, zeige ich es Ihnen.« »Das wäre äußerst interessant!« erklärte Mursync. Wir durchquerten den weiten Raum und näherten uns der Stelle, an der sich der ge heime Zugang befand. Dies war der Augen-
Kurt Mahr blick der Entscheidung. Ich wußte jetzt, wer der unbekannte Gegner war und wie er uns soviele Schwierigkeiten in den Weg hatte le gen können. Ich begriff, auf welche Weise Urgan mit in dieses Spiel einbezogen wor den war und warum er sich nicht hatte dage gen wehren können. Das Bild lag klar und deutlich vor mir. Aber es war dennoch nur ein Produkt meiner Vermutungen. Ich bedurfte noch eines einzi gen Hinweises – dann war ich meiner Sache sicher. Etwa dort, wo sich der geheime Treppen aufgang befand, blieben wir stehen. Wenn ich richtig vermutete, standen wir in diesem Augenblick unter Beobachtung. Mit jenem winzigen Bruchteil seines elektronischen Gesamtbewußtseins, den Urgan nicht für die Selbstreparatur brauchte, faßte er uns ins Auge und entschied darüber, ob wir harmlos oder gefährlich waren. »Worauf warten wir hier?« fragte Mur sync. »Darauf, daß Urgan seine Entscheidung trifft«, antwortete ich. Balduur war ein paar Schritte zurückge blieben. Er stand neben einem Kunststoff sockel, auf dem einer der größeren Prozes soren montiert war. Quarxchs von Yakhoch hielt sich an seiner Seite. Auch er schien ge merkt zu haben, daß eine wichtige Entschei dung unmittelbar bevorstand. Blieb nur noch ich. Ich mußte mir in aller Eile eine Deckung suchen. Als eine Minute vergangen war, wurden die drei Urgan-Lauscher ungeduldig. »Ich kann nicht einsehen, was das Warten uns einbringt«, erklärte Mursync. »Wir ha ben Wichtigeres zu tun.« Das war das Stichwort. Ich trat zurück. »Urgan hat gesprochen!« sagte ich scharf. »Ich habe nichts gehört!« behauptete Mursync. »Nicht mit Worten, sondern durch eine unterlassene Handlung!« klärte ich ihn auf. »Der Rechner hat den Zugang nicht geöff net. Er traut euch nicht! Ihr seid verdäch tig!«
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* Die Schnelligkeit, mit der die drei Lau scher reagierten, bewies mehr als deutlich, wie gerechtfertigt mein Verdacht war. Ich schnellte mich mit einem mächtigen Satz hinter die nächste Deckung. Ein Strahlschuß fauchte über mich hinweg. Da aber hatte Balduur bereits das Feuer eröffnet. Der Ro bot Konos verging in einer donnernden Ex plosion. Ich selbst zielte dicht an dem weiß glühenden Feuerball vorbei und faßte mit dem Energiestrahl die Gestalten der drei ver meintlichen Urgan-Lauscher, die sich aus der Zone überhitzter Luft in Sicherheit zu bringen versuchten. Sie hatten gegen meine und Balduurs Schüsse keine Chance. Wir brachten sie zu Boden, noch bevor sie ein halbes Dutzend Meter weit gekommen wa ren. Sie loderten einfach auf und sanken in sich zusammen. Am Boden blieben drei La chen rotglühenden, dampfenden Metalls. Wir warteten, bis die Hitze sich einiger maßen verzogen hatte. Dann erst trauten wir uns hinter der Deckung hervor. Die Wand war durch Konos' Explosion geschwärzt. Von den drei Urgan-Lauschern waren wirk lich nur die Metallachen übriggeblieben – nicht genug, um anhand einer Detailanalyse ihre Herkunft zu ermitteln. »So war das also!« brummte Balduur. »Drei Spezialroboter, den Urgan-Lauschern genau nachgebildet.« »Auf einen solchen Trick war Urgan nicht vorbereitet. Er ließ die drei ein, weil er sie für Mursync, Peilan und Quana hielt. Und nachdem sie einmal eingedrungen waren, begannen sie sofort mit der Zerstörung. Sie müssen äußerst massiv zu Werke gegangen sein, sonst hätte sich Urgan ihrer vielleicht erwehrt. So aber mußte er sich sofort mit ganzer Kraft seiner Wiederinstandsetzung widmen.« »Kein Wunder, daß auch Zeyl sich über tölpeln ließ«, meinte Balduur. »Als wir ihn heraufschickten, müssen die drei Roboter ihn abgefaßt haben. Er sah in ihnen die Lau
scher und ordnete sich ihnen unter. Sie än derten seine Programmierung und verwan delten ihn in eine Bombe.« »Und dasselbe haben sie mit Konos ge macht«, fügte ich hinzu. »Das ist mir noch nicht ganz klar«, sagte er nachdenklich. »Wie sind sie mit Konos zusammengetroffen?« »Sie haben uns an sich vorbeigelassen«, erklärte ich. »Wahrscheinlich waren sie ir gendwo in der Maschinenhalle versteckt. Sie wußten natürlich von Zeyl, daß wir Konos zurückgeschickt hatten und daß er versuchen würde, zu uns aufzuschließen. Unterwegs faßten sie ihn ab. Sie programmierten ihn auf dieselbe Weise um wie Zeyl. Außerdem gaben sie ihm die Lügengeschichte von den drei Urgan-Lauschern, die plötzlich aus dem Labyrinth aufgetaucht seien, zu fressen. Wenn wir ihnen auf den Leim gegangen wä ren, hätten sie sich hier von uns verabschie det und uns dann Konos überlassen. Ich neh me an, daß Konos explodieren sollte, noch bevor wir den Ausgang erreichten.« »All das«, meinte Balduur, »war so ge schickt eingefädelt, und dann kommen sie mit einer Erklärung für ihre Anwesenheit, die selbst der Dümmste auf den ersten Blick durchschaut!« »Ganz so war es nun auch wieder nicht«, widersprach ich ihm. »Ich hätte nicht sofort Mißtrauen geschöpft, wenn ich mir nicht oben im Kontrollraum darüber klar gewor den wäre, daß Urgan absolut keine Zeit hat, sich mit anderen Dingen als seiner Wieder instandsetzung zu beschäftigen. Sie aber konnten nicht wissen, daß wir den Kontroll raum erreicht und uns dort einen Überblick über Urgans derzeitige Verfassung ver schafft hatten. Für sie muß die Geschichte recht plausibel geklungen haben.« »Hm!« machte Balduur. »Bleibt nur noch zu klären, wie sie die Explosion inszenier ten, die uns drunten auf der Rampe um ein Haar den Garaus gemacht hätte.« »Nichts einfacher als das. Ich trug ja den Signalgeber bei mir, der sie über unsere Be wegungen auf dem laufenden hielt. Einer
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von ihnen kam uns entgegen und plazierte die Sprengkapsel. Als sie mit Hilfe des Si gnalgebers erkannten, daß wir die kritische Stelle erreicht hatten, betätigten sie den Zün der.« Balduur schwieg. Ich wandte mich an Quarxchs. »Ich bin froh, daß du sofort begriffen hast, worum es ging«, sagte ich. »Oh, das war nicht schwierig«, meinte er wegwerfend. »Du weißt mittlerweile, daß meine Augen anders funktionieren als die euren. Ich hatte noch nie davon gehört, daß die Urgan-Lauscher Roboter seien. Daher wurde ich sofort mißtrauisch, als ich unter ihrer dünnen Haut das Metall schimmern sah.« Es war mehr oder weniger entwaffnend, zu erfahren, daß das Zottelwesen von Yak hoch auch ohne unsere Hilfe das Spiel der drei Roboter durchschaut hätte. Ich kam je doch nicht mehr dazu, darüber Gram zu empfinden. Balduur gab einen überraschten Laut von sich. Ich fuhr herum und sah, daß der Zugang zum Kontrollraum sich wieder geöffnet hat te.
EPILOG Wir verbrachten einen ganzen Tag im Kontrollraum. Dann erkannte ich an der nachlassenden Geschäftigkeit der Geräte, daß Urgan im Begriff war, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Mittlerweile erblick ten wir durch das Fenster des öfteren ganze Kolonnen von kleinen Werkrobotern, die in der Rechnerhalle emsig damit beschäftigt waren, die beschädigten Aggregate wieder instand zu setzen. Inzwischen hatte ich begonnen, mich mit den Gerätschaften des Kontrollraums ver traut zu machen. Ich fand ein kleines Aggre gat, das ich für ein Kommunikationsgerät hielt. Da es zu Urgans Grundausstattung ge hörte, konnte es nur für einen einzigen Zweck bestimmt sein: die Verständigung mit den drei Urgan-Lauschern. Ich versuchte
immer wieder von neuem, das Gerät in Be trieb zu nehmen. Anscheinend aber war der Rechner die ganze Zeit über noch zu sehr mit der Wiederinstandsetzungskontrolle be schäftigt, als daß er den kleinen Sender hätte steuern können. Erst als der zweite Tag des Wartens anbrach, gelang es mir, das Gerät zu aktivieren. Meine mangelnden Kenntnisse der eripäi schen Technik machten mir es nicht eben leicht, den Sender zielvoll einzusetzen. Ich brauchte mehrere Stunden, bis ich endlich Kontakt mit den drei Urgan-Lauschern hatte. Ich bekam sie nicht zu sehen. Es war Mur sync, der mit mir sprach. An den Hinter grundgeräuschen erkannte ich, daß die drei Alten noch immer vollauf damit beschäftigt waren, mit Hilfe ihrer drei Elektronik-Kä sten die eripäische Verteidigung zu leiten. Ich versicherte Mursync, daß Urgan auf dem besten Wege sei, sich wieder in den ur sprünglichen Stand zu versetzen. Mursync versprach, daß er mit Peilan und Quana so fort aufbrechen werde, um dem Rechner einen Besuch abzustatten. Wir hatten inzwischen die Umgebung er forscht und festgestellt, daß der Hauptaus gang der Kuppel auf der anderen Seite der Rechnerhalle lag – gegenüber der Mündung des Ganges, durch den wir aus dem Maschi nenraum gekommen waren. Die drei Urgan-Lauscher erschienen knapp vier Stunden nach meiner Unterhal tung mit Mursync. Urgan hatte sie anstands los eingelassen. Sie waren voll des Dankes. Ich aber schnitt ihre Ergebenheitsbezeigun gen kurz ab. »Sie brauchen uns nicht zu danken«, er klärte ich. »Was Balduur und mich angeht, so buchen wir das Unternehmen auf das Abenteuerkonto. Wenn Sie aber unbedingt etwas Gutes tun wollen, dann erweisen Sie es dem da!« Ich griff hinter mich, wo, wie ich wußte, Quarxchs stand, und zog ihn an seinen Zot telhaaren in den Vordergrund. »Wer ist das?« fragte Mursync überrascht. »Ein Yakhochiter. Er lebt mit vielen an
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deren Fremden unter beklagenswerten Zu ständen in der Herberge der Nächtlinge. Sie könnten uns keinen größeren Gefallen tun, als indem Sie sich dafür verwendeten, daß sein Los erleichtert wird.« »Das soll geschehen!« versprach Mursync feierlich.
* Von da an wurden wir behandelt, wie das Reich der Eripäer noch nie zuvor Fremde behandelt hatte. Wir wurden in einer fürstli chen Staatsherberge am Fuß des Hügels un tergebracht, auf dem sich das Regierungs zentrum Gnosier erhob. Unsere erste Besu cherin war Pona, die Schwester des dreiäu gigen Tirsoth. Sie hatte durch Gurankor von unserem Abenteuer erfahren und überschüt tete uns mit Lobreden. Wir hatten inzwischen natürlich zu Proto koll gegeben, was wir über Nunkapter wuß ten. Auf Umwegen erfuhren wir kurze Zeit später, daß aufgrund unserer Informationen ein großangelegter Spionagering der Krolocs ausgehoben worden sei – mitsamt der Werk statt, in der mutmaßlich die drei UrganLauscher-Roboter gefertigt worden waren. Die Lage an der Verteidigungsfront war immer noch alles andere als beruhigend. Die Krolocs wußten natürlich, daß ihre Agenten am Werke waren, und übten ständig wach senden Druck auf die Verteidiger aus. Die drei Urgan-Lauscher sahen sich schließlich veranlaßt, eine öffentliche Erklä rung abzugeben. Sie bekannten, daß Urgan
durch feindliche Spezialisten beschädigt worden sei, gaben jedoch gleichzeitig zu verstehen, daß die Wiederinstandsetzungsar beiten in vollem Gang seien und daß der Rechner die Leitung der eripäischen Vertei digungsbemühungen in Kürze wieder über nehmen werde. Am Morgen des darauffolgenden Tages sprach bei uns ein Bote des Eripäers vor, aus dessen Worten wir entnahmen, daß ein Triumphzug geplant sei, bei dem wir durch die Stadt geführt werden sollten. Ich ver suchte, Widerspruch einzulegen, aber der Bote erwies sich in bezug auf alles, was Gu rankors Anweisungen widersprach, als äu ßerst schwerhörig. Noch am selben Tag hörten wir in den Nachrichten, daß den Krolocs ein schwer wiegender Durchbruch gelungen sei und ih re Flotte unmittelbar vor dem innersten Pla neten des Systems stehe. Das war ernst. Man wußte nicht, ob angesichts dieser dramati schen Zuspitzung der Lage ein Triumphzug noch zur Debatte stand. Eines muß noch gesagt werden: Quarxchs von Yakhoch bekamen wir nie wieder zu se hen. Aber von allen, die wir nach ihm be fragten, wurde uns versichert, daß er in Um ständen lebe, die der Würde eines »Retters von Aarl« angemessen waren.
E N D E
ENDE