Dachzeile DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung 10. Oktober 2005
Betr.: Titel, SPIEGEL-Gespräch, Strafvollzug, Wettbewerb
iele Rädertierchen vermehren sich, in Seen und Meeren, ohne jemals miteinander Sex zu haben, auch Muschelkrebse und Blattläuse brauchen keinen Geschlechtsverkehr, um ihre Art zu erhalten – das Leben, so lehrt die Natur, funktioniert auch ohne. Als Titelautorin Rafaela von Bredow, 38, der Frage nachging, warum die Sexualität in der Geschichte der Evolution dennoch zur wirkungsvollsten Methode der Fortpflanzung wurde, stieß sie auf ein Mysterium phantasie- Bredow voller, aber auch grausam anmutender Praktiken: Plattwürmer fechten mit dem Penis, Kolonievögel sind Massenvergewaltigungen ausgesetzt, das Spinnenmännchen rennt nach dem Akt um sein Leben, um nicht von der Partnerin verspeist zu werden. Das teils heftige Triebleben der Tiere, fanden Biologen heraus, wurde zu einer der stärksten Mächte der Evolution. „Die Sexualität der Menschen“, sagt Bredow, „nimmt sich dagegen überwiegend brav aus“ (Seite 196).
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GILLIAN LAUB / CORBIS
ie Bekanntschaft zwischen dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger, 82, und dem SPIEGEL reicht in die fünfziger Jahre zurück und hält, trotz bisweilen erheblicher Meinungsverschiedenheiten, bis heute an. Der im fränkischen Fürth geborene und wegen der Judenverfolgung in die USA ausgewanderte konservative Politiker hatte schon als Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon regelmäßig SPIEGEL-Journalisten ins Weiße Haus geladen, um die Weltläufte kontrovers zu erörtern. Auch im Gespräch mit Washington-Korrespondent Georg Mascolo, 40, und Auslandsressortchef Gerhard Spörl, 55, hielt Kissinger Kritik nicht zurück – und nahm, unter anderem, die Außenpolitik der Bundesregierung ins Visier. Als die Mikrofone ausgeschaltet waren, stellte SPIEGELLeser Kissinger in seinem New Yorker Büro selbst Fragen: Wer denn nun in seiner früheren Heimat Kanzler und wer AußenMascolo, Kissinger, Spörl minister werde, wollte er wissen (Seite 118).
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s sind stets besondere Umstände, unter denen die Fußballer des Hamburger Vereins Eintracht Fuhlsbüttel auflaufen: Ihre kleine Arena ist mit Stacheldraht gesichert, die Spieler sind Schwerkriminelle, ihre Zuschauer ebenso. SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep, 60, war dabei, als die Knastmannschaft des Hamburger Gefängnisses Santa Fu in der Kreisklasse um Punkte kämpfte. „Für viele, die lange Freiheitsstrafen verbüßen, ist es eine willkommene Möglichkeit, Frust abzubauen“, sagt Schrep. Manchmal entsteht neuer Frust: Achtmal wurden die Kicker Meister, aufsteigen durften sie nie. Weil ihnen Auswärtsspiele verboten sind, wertet der Fußballverband die ständigen Heimspiele hinter Gittern als Wettbewerbsverzerrung (Seite 72).
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um zehnten Mal schreibt der SPIEGEL einen Schülerzeitungswettbewerb aus; Bewerbungen für die neun Kategorien müssen bis zum 10. März 2006 eingehen. Die Redaktion der „Schülerzeitung des Jahres“ kann nach Moskau fahren, die Besten der übrigen Sparten erhalten Geld- und Sachpreise. Zudem informiert SPIEGEL Online ab sofort auf seinen neuen SchulSPIEGEL-Seiten über Fragen des Schulalltags. Im Internet: www.spiegel.de
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MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL
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In diesem Heft Titel Evolutionsbiologen lösen die Urfrage, warum die Natur den Sex erfunden hat ...................... 196
Mit voller Kraft zurück
Deutschland
MARCO-URBAN.DE
Panorama: Ich-AGs sprengen Budget / StasiMann im Bundestag / Außenminister Platzeck? ... 19 Union: Von Angela Merkels Reformprogramm bleibt kaum etwas übrig ................................... 24 Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger über seine Forderungen an eine Große Koalition ................................... 26 SPD-Vizin Heidemarie Wieczorek-Zeul über die Ansprüche der sozialdemokratischen Linken ... 28 CSU: Bayern und Franken rangeln um die Stoiber-Nachfolge ................................. 30 Grüne: Planspiele für Koalitionen mit der CDU .................................................... 34 Linkspartei: Nach der Wahl brechen die Gräben zwischen Ost und West wieder auf ...... 36 Pressefreiheit: SPIEGEL-Gespräch mit Bundesinnenminister Otto Schily über seine Journalistenschelte und das Schutzbedürfnis des Staates ............................. 40 Karrieren: Bejubelt und geschmäht – Paul Kirchhof muss sein Gastspiel in der Politik noch verarbeiten ................................... 44 Jugendliche: Der Selbstmord des Bogner-Sohns ............................................. 50 Sicherheitstechnik: Mit Chip und Antenne soll der neue Reisepass Terroristen enttarnen ... 54 Kriminalität: Die Gewaltkarrieren junger Aussiedler ............................................. 64 Bildung: Wie Schüler das Internet zum Schummeln nutzen .......................................... 68 Strafvollzug: Die erfolgreichen Knastkicker von „Santa Fu“ ................................................ 72
Merkel, Stoiber
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PETER HEBLER
Gasspeicher (in Berlin)
Gefürchtete Knastkicker
Wirtschaft
Ausland
Seite 108
Was als Einzelaktion weniger Querulanten begann, entwickelt sich zur breiten Bürgerbewegung: der Widerstand gegen die steigenden Gaspreise. Und während die gewinnträchtigen Energieriesen ihre Juristen in Stellung bringen, machen sich die Verbraucher auf den langen Marsch durch die Gerichtsinstanzen.
Gesellschaft
Panorama: Deutsche Welle will Weißrusslands Opposition stärken / Kritik an Klüngel-Runden der EU / Thailand fürchtet Anschläge auf Touristen .................................. 113 USA: SPIEGEL-Gespräch mit Ex-Außenminister Henry Kissinger über die Folgen des Irak-Kriegs und den Aufstieg der neuen Weltmacht China ....... 118
Noch vor Beginn der Koalitionsverhandlungen rückt die Union von ihren ehrgeizigen Reformvorhaben ab. Einst zentrale Punkte wie Gesundheitsprämie oder Steuerreform sind schon vom Tisch; gleichzeitig umwirbt die CDU-Vorsitzende Angela Merkel Unions-Sozialpolitiker und Gewerkschaftschefs. Die Konservativen erkennen, dass sie das Wahlvolk mit dem „Programm der Ehrlichkeit“ überfordert haben – und rudern zurück.
Gasrebellen formieren sich
Szene: Bildband über die Wendezeit im Osten der Republik / Studie über die Vorbildfunktion rauchender Eltern / Lerngarantie für Praktikanten in der Werbebranche ............. 79 Eine Meldung und ihre Geschichte.................... 81 Erfinder: Ein Hamburger ist von der Idee besessen, Menschen als kleine Figuren zu verewigen ....................... 82 Ortstermin: Eine Ausstellung in Berlin liefert die Fotos zur Lage der Nation .......................... 90
Seite 72 Die Fußballtruppe der Hamburger Haftanstalt Fuhlsbüttel („Santa Fu“) spielt als einzige deutsche Verbrecher-Elf in einer normalen Liga. Weil öfter auch einsitzende Ex-Profis mitmachen, genießen die Knastkicker bei Gegnern Respekt. Sie gewinnen meist, dürfen aber nie aufsteigen – denn Auswärtsspiele sind ihnen verboten.
HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
Trends: Neue Vorwürfe im VWProstituierten-Skandal / Arbeitgeberlobbyisten streiten um Strategie / Die Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik rutscht ab ........................... 93 Staatsfinanzen: Die EU will der künftigen Bundesregierung einen drastischen Sparkurs verordnen .......................................... 96 Konzerne: Putschversuch gegen VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch ........... 100 Computerkriminalität: Wie Microsoft zehn Prototypen der neuen Xbox-Spielkonsole abhanden kamen .............. 102 Gewerkschaften: Der DGB verschachert Zehntausende Wohnungen ............................. 106 Verbraucher: In der Bevölkerung wächst der Widerstand gegen die Energieriesen ............... 108
Seite 24
Eintracht Fuhlsbüttel
Wetten, dass die Deutschen gern zocken?
Seite 214
Rechtzeitig zur Fußball-Weltmeisterschaft wollen TV-Sender und Internet-Anbieter die Bundesbürger fürs Wettgeschäft begeistern. Demnächst muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob das staatliche Gewinnspielmonopol fällt. Doch Analysten wie Verbraucherschützer warnen bereits vor allzu großem Enthusiasmus. d e r
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ERICH LESSING / AKG (L.); MUELLERS / IFA (R.)
Sündenfall-Darstellung, Libellen bei der Paarung
Kroatien: Kriegsverbrecher als Verhandlungsmasse ........................................ 124 Spanien: Die Solidargemeinschaft der afrikanischen Flüchtlinge ................................ 126 Südasien: Traum vom zweiten Panamakanal 128 Litauen: Interview mit Premierminister Algirdas Brazauskas über den Widerstand gegen die deutsch-russische Gaspipeline ........ 130 Nahost: Wie der Streit zwischen Juden und Palästinensern entstand ................. 134 Global Village: Am römischen Kolosseum wird der Terror geprobt .................................. 140
Sport Fußball: Giovanni Trapattoni beim VfB Stuttgart – das wirre Treiben der Trainer-Ikone .............. 142 Reiten: SPIEGEL-Gespräch mit dem Dressurreiter Klaus Balkenhol über den Streit um rüde Ausbildungsmethoden und die jüngsten Misserfolge der Deutschen ... 146
Kultur
Siegeszug der Sexualität
Seite 196
Die neue Herausforderung
MICHAEL KLEINFELD/LANDOV/INTERTOPICS
Wozu gibt es Männer? Warum hat die Natur den Sex erfunden? Und weshalb wurde diese Fortpflanzungsform zur erfolgreichsten auf dem Planeten? Seit langem kreisen Biologen um diese Fragen – doch nun haben die Forscher das Rätsel weitgehend gelöst. Bei ihren Studien stießen sie auf bizarrste Sexualpraktiken bei Tieren.
S. 118
„Irak ist nicht mehr nur ein Problem der Weltmacht Amerika“, so Henry Kissinger. Im SPIEGEL-Gespräch diskutiert der ehemalige US-Außenminister über das transatlantische Bündnis seit Beginn des Kriegs gegen den Terror und die Rolle Chinas in der Weltpolitik. Kissinger
TOUCHSTONE PICTURES
Allein gegen alle
Seite 159
Die Schauspielerin Jodie Foster ist einer der eigenwilligsten Hollywood-Stars. Im SPIEGELGespräch redet sie über amerikanische Urängste, ihre Pläne für einen Film über Leni Riefenstahl und ihren neuen Thriller „Flight Plan“, in dem sie als Mutter verzweifelt um ihre Tochter kämpft: „Ich sorge gern für Spannung.“
Medien
Seite 156 OLYCOM S.P.A. / ACTION PRESS
Erfolgsautor Ingo Schulze liefert in seinem WendeRoman „Neue Leben“ ein monumentales Historiengemälde und das vergnügliche Porträt eines ostdeutschen Träumers nach dem Mauerfall. Schulze d e r
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Wissenschaft · Technik Prisma: Handschuhfach für Hunde / Schulspeisung gesünder als gedacht ................ 183 Nobelpreise: Ist die Forschung in Deutschland besser als ihr Ruf? ...................... 186 Interview mit dem Physik-Nobelpreisträger Theodor Hänsch über die Schönheit des Unbekannten ............................................ 188 Ethnologie: Nach der TsunamiKatastrophe suchen die Ureinwohner der Nikobaren nach ihren Wurzeln ................. 190 Medizin: Depressionen bei Männern nehmen zu ...................................................... 194 Trends: Geschasster HR-Sportchef plant Buch-Enthüllung / Schleichwerbung bei RTL ... 211 Fernsehen: Schule für Telenovela-Schreiber / TV-Rollen für schwangere Schauspielerinnen ... 212 Vorschau / Rückblick ........................................ 213 Glücksspiele: TV-Sender und Internet-Anbieter wollen die Bundesbürger für Sportwetten begeistern .............................. 214 Verlage: Holtzbrinck plant Verkauf der „Berliner Zeitung“ an britischen Investor ...... 218
Foster in „Flight Plan“
Zerronnene Träume
Szene: Geschichte der Jeckes in Israel / Interview mit US-Regisseur Terry Gilliam über seinen Film „The Brothers Grimm“ ........ 153 Literatur: Der neue Wende-Roman von Ingo Schulze – ein ostdeutsches Historiengemälde ... 156 Kino: SPIEGEL-Gespräch mit Jodie Foster über ihren Film „Flight Plan“ und ihre Vorliebe für Psychothriller ............... 159 Reliquien: Wurde das echte „Veronika-Tuch“ mit dem Antlitz Christi entdeckt? ................... 162 Fernsehen: Der Schriftsteller Joachim Lottmann über Elke Heidenreichs missionarische Büchersendung „Lesen!“ ........ 166 Bestseller ...................................................... 168 Pop: Irre Songs des Egomanen Robbie Williams .............................................. 170 Ausstellungen: Selbstkasteiung der Kunstliebhaber ............................................... 180
Briefe................................................................ 10 Impressum, Leserservice ............................ 222 Chronik........................................................... 223 Register ......................................................... 224 Personalien.....................................................226 Hohlspiegel / Rückspiegel ........................... 228 TITELBILD: Illustration Dugald Stermer für den SPIEGEL
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Briefe
„Eine wichtige Seite Maos verbrecherischer Taten scheint mir zu kurz gekommen: Er machte aus ganz China ein einziges Überwachungs-, Folter- und Hinrichtungsgefängnis, in dem die meisten Menschen Opfer und Täter gleichzeitig waren. Die erzwungene Teilnahme an den Verbrechen fördert bis heute die Verdrängung. Für das Verständnis des heutigen China ist es wichtig, dieses Trauma zu berücksichtigen.“
Nr. 40/2005, Titel: Mao – Anatomie eines Massenmörders
Es ist immer dasselbe. Unisono heißt es allerorten: „Wir haben von nichts gewusst!“ Oder auch: „Es war ja nicht alles schlecht ...“ Die 68er sind eben auch nur die Kinder ihrer Eltern. Verblendet von der Ideologie und den angeblich guten Taten vergötterten auch in Deutschland viele den blutrünstigen primitiven Mao Zedong. Wie ihre Elterngeneration wollten sie ihrem Führer folgen, der nun nicht mehr Hitler hieß, sondern wahlweise Lenin, Stalin oder eben Mao Zedong. Erlangen
Hausach (Bad.-Württ.)
Matthias Kaiser
Mao hat Fehler gemacht – sogar die Chinesen geben es zu, und der SPIEGEL hat nichts Besseres als die Zeit 1960/70 oder so im Kopf – schade! Da gibt es mit Sicherheit Wichtigeres zu berichten. Neu-Isenburg (Hessen)
Dieter Lamek
Frau Changs Werk über Mao gehört zu den besten historischen und politischen Büchern der letzten Jahre. Ich teile ihre im SPIEGEL-Gespräch vertretene Auffassung, die Zeit des Maoismus und sein Vermächtnis müssten aufgearbeitet werden. Sollte das geschehen, wäre damit auch eine strafrechtliche Aufarbeitung verbunden. Dies impliziert eine Strafverfolgung der Verbrechen sowohl aus der Zeit vor als auch nach 1976, dem Todesjahr Maos. Da heutige Machthaber aber noch immer ungestraft unterschlagen, sich bestechen lassen, foltern und töten, wäre deren Strafverfolgung nur innerhalb eines Systemwechsels denkbar. 74 000 größere Unruhen im Jahr 2004 und eine unübersehbare Verbürgerlichung der KP lassen die Annahme 10
zu, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird. Lange genug allerdings für Täter und Opfer! Gießen (Hessen)
Tübingen
Dr. Thomas Weyrauch
Erfreulich, dass Sie den Mut haben, eine Ikone der 68er zu entzaubern. Was ich vermisst habe: Tibet! Dieses Land ist spätestens seit 1959 völkerrechtswidrig von Maos Statthaltern okkupiert worden und wird seitdem brutal ausgeplündert. Schätzungs-
Klemens Ludwig
Bereits 1994 hat Dr. Li Zhisui, Leibarzt Maos von 1954 bis zu dessen Tod 1976, in seinem Buch über den Personenkult Mao Zedongs berichtet. Es mutet heute befremdlich an, dass so etwas überhaupt möglich war. Andererseits, die Geschichte wiederholt sich immer wieder. Die Frage ist nun, von wie vielen Jung Changs Biografie auch im Reich der Mitte gelesen wird. San Sebastián (Spanien) Felix A. Keller
Monika Romhányi
Ein mutiger Bericht, meine Hochachtung! Es bleibt zu hoffen, dass solche Publikationen ihren Beitrag leisten, zukünftig möglichst viele Menschen gegen totalitäre Ideen/Bewegungen – gleich welcher Couleur – immun zu machen.
Thomas Geiger
Beeindruckend ist die Reaktion der Tibeter auf den Massenmörder, der auch maßgeblich für die Zerstörung ihrer Kultur verantwortlich war. Als die Nachricht vom Tode Maos Tibet erreichte, zelebrierten die wenigen Mönche, die den Terror überlebt hatten, ein Ritual, das seine Seele ins Jenseits begleiten sollte; wohl wissend, dass es jemand, der solche Verbrechen begangen hat, auf diesem Weg nicht leicht haben würde. Von so viel Versöhnungsbereitschaft kann manch militant-rachsüchtige monotheistische Religion viel lernen.
Rüdiger Lange aus Karlsfeld in Bayern zum Titel „Mao – Anatomie eines Massenmörders“
Geschichte wiederholt sich
Böblingen (Bad.-Württ.)
Eine zweite Titelgeschichte sollte über den Teil unserer intellektuellen Elite folgen, die mit Mao-Spruchbändern durch die Republik marschierten und gleichzeitig vorgaben, so NS-Verbrechen zu bewältigen. Auch hier wäre Vergangenheitsbewältigung vonnöten, damit endlich auch bei uns universelle KriMao-Denkmal in Chengdu: 74 000 Unruhen in 2004 terien für die Beurteilung und weise ein bis zwei Millionen Tibeter wur- Verurteilung vergangener Genozide und den ermordet, gefoltert oder vertrieben. vergangener Vertreibungsverbrechen GülZehntausende von Unschuldigen sitzen tigkeit erlangen. Nur so könnten wir hofheute noch in Haft. Wenn es so weitergeht, fen, dass gegenwärtiger Völkermord und wird Tibet als eigenständige Kultur und gegenwärtige Kriegsverbrechen konseGesellschaft in wenigen Jahrzehnten ver- quent und sofort bekämpft werden. schwunden sein. Und diese andauernden Göttingen Tilman Zülch Gräueltaten werden auch von vielen westGesellschaft für bedrohte Völker XIAO BO / PICTURE ALLIANCE / DPA
SPIEGEL-Titel 40/2005
lichen Staatschefs und Außenministern – jawohl Herr Fischer – konsequent verdrängt, weil man es sich mit der Wirtschaftsmacht China nicht verderben will. Mao lässt auch heute noch grüßen!
Vor 50 Jahren der spiegel vom 12. Oktober 1955 Kommentar von Jens Daniel zur Saarfrage „Wer rettet Hoffmann?“ Spielbank-Konzession In Bayern erlaubt. Kommunalwahlen in Mannheim Überraschendes Ergebnis. Waschmittel-Konkurrenz Synthetische Waschmittel gegen Seife. Probleme mit der Schwedenfalle Volksabstimmung über Linksverkehr. Herzkrankheiten „Das gefährliche Gerinnsel“. Hurrikane über Amerika „Groteske Note“. Schauspieler Curd Jürgens klagt gegen Filmtiteländerung Persönlichkeitsrechte verletzt? Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Titel: US-Vizepräsident Richard Nixon
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Ihr facettenreicher Bericht über den Besuch des Papstes auf dem Marienfeld in Köln enthält einen kleinen Schönheitsfehler: Selbst wenn bei einem Bauwerk für den Papst eventuell mit göttlichem Beistand zu rechnen wäre, weichen wir wie bei all unseren Konstruktionen nicht von den gesetzlich vorgeschriebenen Richtwerten ab. So war die Konstruktion der „Wolke“ nicht wie angegeben bis zur Windstärke 6 (entspricht einer Windgeschwindigkeit von 39 – 49 km/h), sondern bis zu einer Windgeschwindigkeit von 130 km/h (> Windstärke 12, Orkan) absolut standsicher. Königsbrunn (Bayern) Werner Herbst Stageco Deutschland GmbH
Bleibende Pläne Nr. 40/2005, Panorama – SPD: Kampf um Parteiposten
THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK.NET
Absolut standsicher Nr. 33/2005, Titel: Gläubige, verzweifelt gesucht. Heimkehr des Papstes in ein unchristliches Land
CDU-Chefin Merkel, Wählerinnen*
Quadratur des Kreises
dass sich die „Testosteronbombe“ einer Frau in keinem Fall geschlagen geben kann? Hennef (Nrdrh.-Westf.) Dr. Hedi Roos-Schumacher
Warum so wenig Frauen Angela Merkel gewählt haben, liegt wohl daran, dass inzwischen auch Frauen lesen können, und gerade Alice Schwarzer sollte den kritischen Umgang mit Merkels Wahlprogramm als großen Sieg der Emanzipation und Selbstbestimmung ansehen. Hamburg
Die Aussage, der Rückzug von Bundesminister Clement als stellvertretendem Parteivorsitzenden stünde in Frage, ist falsch und völlig frei erfunden. Bundesminister Clement hat seine Pläne nicht geändert. Berlin Andrea Weinert Pressesprecherin des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit
Auch Frauen können lesen Nr. 39/2005, Frauen: Warum Angela Merkel bei weiblichen Wählern nicht punkten konnte
Jemand, der kandidiert, braucht Persönlichkeit und Inhalte und hat, wie das so ist, auch ein Geschlecht. Das ist ein Merkmal und keine Qualifikation, auch kein Bonus. Dorothea Olbertz und Michaela P. stehen – Frau sei Dank – stellvertretend für viele andere Frauen, die nicht einfach nur wählen, was eine Frau ist. Das, Frau Schwarzer, wäre eine Niederlage aller Frauen! Fürth (Bayern)
Der reinste Hohn Nr. 39/2005, Komödien: Film-Ulk über die Nationale Volksarmee der DDR
Für jeden, der weiß, welcher Druck von vielen Seiten auf junge Menschen in der DDR ausgeübt wurde, zur Armee zu gehen, ist dieser Film der reinste Hohn. Schabowski als Protagonisten des SED-Regimes steht es im Übrigen nicht zu, sich von der Führung der SED und NVA – was den möglichen Einsatz der Armee gegen die Bevölkerung zur Wendezeit betrifft – zu distanzieren. Berlin
E. Glaser
Wie weit sind wir gekommen? Nr. 39/2005, Irak: Der Kapuzenmann aus dem Gefängnis von Abu Ghureib und seine Folterer
S. Unberath
Unabhängig davon, wo man politisch steht, ist festzustellen: Von Frauen, die an die Spitze streben, wird immer die Quadratur des Kreises verlangt. Der ganze Wahnsinn wird deutlich in dem Absatz des Artikels, in dem Merkel gleichzeitig vorgeworfen wird, dass ihre Auftritte „zu gefühllos“ gewesen seien – also zu wenig Frau –, sie aber, eben weil sie Frau sei, Schröder im TVDuell „zivilisiert“ habe. Eine Reihe der Argumente gegen die inhaltliche Überzeugungskraft Merkels scheinen vorgeschoben, um das grundsätzliche Unbehagen beider Geschlechter gegen eine Frau an der Macht zu übertünchen, möglicherweise unbewusst. Schade. Ob der Anspruch Schröders, Kanzler zu bleiben, auch dadurch begründet ist, 14
Gitta Bergen
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Ich kann nur immer wieder froh und dankbar sein, dass das Schicksal in Gestalt der Ausmusterung („T5“) nach insgesamt 17 Monaten Wehrdienst mich davor bewahrt hat, als Stabsunteroffizier eines Tages möglicherweise eine Gruppe junger Leute in den Kampf an der Seite von Bushs US-Soldateska führen zu müssen. Verden (Nieders.)
Fritz Werner
Der Artikel erweckt fast Mitleid mit Javal Davis. Sein Leben nach dem Urteil ist nahezu zerstört, keine Frau, keinen Job. Ein Opfer des Systems? Gegen Ende Ihres Artikels wird Davis der Prozess gemacht: die * In Ribnitz-Damgarten, Mecklenburg-Vorpommern, am 10. September.
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Briefe Vereinigten Staaten von Amerika gegen Javal Davis. Muss es nicht vor allem lauten: Die Welt gegen die Vereinigten Staaten von Amerika? Unter ihrer Führung sind diese Dinge verübt worden. Können wir es verantworten, dass wieder nur die „Kleinen“ bestraft werden, Mr President und seine Gefolgsleute jedoch ungeschoren davonkommen?! Das 21. Jahrhundert ist längst erreicht, aber wie weit sind wir gekommen mit der Menschenwürde und unseren tollen Rechtssystemen? Würzburg
Marion Pfaff
Beim Lesen dieses Artikels unterdrückte ich die Tränen und war stolz auf unseren Kanzler, der zu solchen kriegerischen Experimenten klar nein gesagt hat. Ich frage mich wirklich, woher der amerikanische Präsident das Recht nimmt, die eigene als zivilisierte Welt zu bezeichnen. Florian Toledo
THE NEW YORKER / REUTERS
Berlin
Folteropfer Hadschi Ali
Zerstörte Seelen
Dieses Porträt zweier zerstörter Seelen nach einem unnötigen Krieg geht so sehr unter die Haut, dass man meint, selbst im Gefängnis von Abu Ghureib dabei gewesen zu sein. Die Autoren zeigen uns, wie zwei völlig unterschiedliche Menschen Teil eines grausamen, barbarischen Szenarios werden konnten: Der Glaube an die eigenen ideologischen Werte auf der einen Seite und die Bereitschaft, alles für das Vaterland zu tun, auf der anderen Seite. Der „Kapuzenmann“ gewinnt an Bedeutung. Er steht nicht nur für Folter und Erniedrigung in einem irakischen Gefängnis, sondern auch für menschliches Handeln in einer unmenschlichen Situation. Köln
Sebastian Mez
Es ist schockierend, wie sich Menschen immer wieder verhalten, wenn sie ermutigt werden, die Regeln der zivilisierten Gesellschaft bewusst zu ignorieren. Wie die Historie zeigt, scheint es in der Menschheit verankert zu sein. Werden die wirklich Verantwortlichen jemals dafür zur Rechenschaft gezogen werden? Heroldsbach (Bayern) d e r
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Michael Wasser
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Briefe
„Behandeln? Ich bin doch nicht blöd“ Nr. 38/2005, Gesundheitskosten: In das deutsche Krankenhauswesen zieht der Wettbewerb ein
Diagnose klar: Planwirtschaft schafft Misserfolg. Das gilt im normalen Alltag genauso wie im Medizinbetrieb. Ihr Bericht zeigt klar, dass marktwirtschaftliche Strukturen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch medizinisch erfolgreich und damit sinnvoll sind. München
Dr. Peter Kirchmayer
Geiz ist geil und gesund, da kann eine billige Polemik nicht schaden: So richtig profitabel wird eine Klinik doch erst dann, wenn man nicht nur an Essen, Material, Gehältern, Personal, sondern auch am Patienten spart. Mainz
Margot Neuser
Über eine straffere Organisation der Krankenhauslandschaft muss zweifelsfrei nachgedacht werden. Wehe aber, man zeigt unverschämterweise als Patient Komplikationen oder sogar aufwendige und teure Behandlungsoptionen: Dann wird man womöglich zum echten „Kostenfaktor“, und womöglich heißt es dann in privaten Häusern „Behandeln? Ich bin doch nicht blöd!“ Köln
Dr. Henning Bovenschulte
Die beschriebenen „Freitagsgenesungen“ finden wir zum großen Teil in den neugeschaffenen Frührehabilitationszentren wieder, auch mit offenen Wunden und Abszessen. Hier ist ein neues Schlaraffenland entstanden und, weil neu, natürlich in „privaten Händen“ und ohne tarifliche Bindung und mit noch weniger Personal. Ratzeburg (Schl.-Holst.)
Wolfratshausen (Bayern) Prof. Dr. Matthias Richter-Turtur
Der Ball rollt, weil er rund ist Nr. 39/2005, Panorama: Jugend – Dumm durch TV?
Aus meiner Arbeit im Kinderschutzzentrum München ist mir der aufgezeigte Zusammenhang durchaus bekannt. Allerdings haben es Kinder und Jugendliche verdient, dass man ihren Medienkonsum differenziert betrachtet: Hoher Medienkonsum ist erwiesenermaßen ein Symptom neben vielen, hinter denen ein Komplex von Vernachlässigung, Überforderung der Eltern im Erziehungsgeschäft und im Lebensalltag steht. Schlechte Schulleistungen sind somit oft das Ergebnis vielfältiger, ungenügender Förderung Unglücksregatta Mira Mare: Tragischer Verlauf der Kinder durch Eltern und Umwelt. Übermäßiger Medienkonsum füllt testen Bedingungen für dieses Schiff entdann nur die bestehenden Lücken. Der schieden. Trotz Windstärken bis 8 Beaufort Ball ist nicht rund, weil er rollt – sondern gegenan auf offener grober See ergab sich keinerlei Problem mit dem Serien-Kiel der er rollt, weil er rund ist. Yacht. Nach mittlerweile bald 1000 SeeMünchen Dr. Klaus Neumann meilen offshore mit diesem Schiff kann ich O Sancta Stupiditas! Da muss eine Unter- den Autor gern zum Selbststudium einlasuchung her, damit Hans und Lise begrei- den: Das Erste, das vermutlich über Bord fen: Fernsehen macht dumm – Lesen klug. ginge, wären seine flott formulierten Vorurteile. Tübingen Ingo Milas Lindau
Dr. Andreas Lochbrunner
Martin Lenk
Es muss die Frage erlaubt sein, ob die jetzigen Tendenzen auch in den nächsten Jahren noch solch eine Bewunderung erfahren werden. Das Fallpauschalensystem führt derzeit zu einem ungewollt profitablen Rosinenpicken in der medizinischen Versorgung. Die unrentablen Kranken und chronisch Leidenden werden wie in unserem 16
Vorbildland USA immer schlechter behandelt und die ärztliche Aus- und Weiterbildung abgeschoben und vernachlässigt.
Härteste Bedingungen Nr. 32/2005, Segeln: Ein tödlicher Unfall bringt die größte deutsche Yachtwerft in Not
Ein Todesfall wie bei der beschriebenen Havarie einer Bavaria 42 Match während einer Fun-Regatta in der Adria ist zutiefst zu bedauern, und der Verlauf war, soweit bekannt, sicherlich tragisch. Unanged e r
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Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
[email protected] Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen Postkartenbeikleber der Firma Porsche, Ludwigsburg. In einer Teilauflage befinden sich Beilagen der Firmen Lenovo, Stuttgart, PLAN INTERNATIONAL, Hamburg, Weltbild Verlag, Augsburg, SPIEGEL-Verlag/ St. Katharinen, Hamburg, sowie World Vision, Friedrichsdorf.
AKOS PETER / MARINART
Privates Rhön-Klinikum: Geiz ist geil und gesund
bracht ist es jedoch, diesen Unfall als Anlass für einen Rundumschlag gegen die Bavaria-Werft und damit auch gegen alle ihre Kunden zu missbrauchen. Bavaria hat sich in 25 Jahren mit einer grundsoliden Geschäftspolitik im hartumkämpften internationalen Bootsmarkt als deutsches Unternehmen an die Spitze gearbeitet. Die vielen zufriedenen Bavaria-Kunden sind nicht geil vor Geiz, sondern können klar denken und rechnen und erhalten, auch im Fall der 42 Match, ein schnelles und solides Boot zu einem fairen Preis. Genauso geht der Vorwurf, Bavaria habe bei der 42 Match billig gearbeitet, daneben. Für die Konstruktion der 42 Match zeichnet das international renommierte Büro J & J verantwortlich, ein anerkannter Designer hochwertiger, schneller und seetüchtiger Yachten, auch die Ausstattung der Yacht mit Produkten weltweit führender Beschlägehersteller kann sich mit jeder Regattayacht messen. Ich segle seit 35 Jahren auf internationalen Regatten und habe mich nach eingehenden eigenen Tests auf einer gecharterten Serienyacht des Typs 42 Match bei här-
Deutschland
Panorama ARBEITSMARKT
Kostenbombe Ich-AG D
MICHAEL URBAN / DDP
ie Bundesagentur für Arbeit (BA) bekommt die Ausgaben für die sogenannte Ich-AG nicht in den Griff. Nach dem aktuellen Finanzbericht der Nürnberger Behörde liegen die Kosten der Existenzgründungszuschüsse mit 1,04 Milliarden Euro schon jetzt um mehr als 40 Prozent über dem Haushaltsansatz für das gesamte Jahr. Ursprünglich wollte Agentur-Chef Frank-Jürgen Weise die Subventionen, die Arbeitslosen zu einer selbständigen Tätigkeit verhelfen sollen, für 2005 auf insgesamt 700 Millionen Euro begrenzen. Zwar dürfen inzwischen nur noch Bezieher von Arbeitslosengeld I Unterstützung für eine Ich-AG beantragen, dennoch erhalten derzeit immer noch rund 237 000 Menschen eine solche dreijährige Existenzförderung. Pro Monat liegt sie bei 600 Euro während des ersten Jahres, im zweiten Jahr bei 360 Euro und 240 Euro im dritten Jahr. Wegen der hohen Kosten und erheblicher Mitnahmeeffekte will die Union die Ich-AG wieder abschaffen. Dagegen plädiert BA-Chef Weise für eine Zu- Arbeitsamt (in Bernau bei Berlin) sammenlegung von Ich-AG und Überbrückungsgeld zu einem arbeitsmarktpolitischen Instrument, das dann nur brückungsgeld, das sich aus dem Arbeitslosengeld plus einem noch für maximal ein Jahr in Anspruch genommen werden Zuschuss für die Sozialversicherungsbeiträge berechnet, laut kann. Dauer und Höhe dieses neuen Existenzgründungs- dem aktuellen Finanzbericht 1,44 Milliarden Euro ausgegeben zuschusses sollen die Arbeitsvermittler festlegen können. In den und liegt damit schon jetzt nur noch knapp unter dem Hausersten neun Monaten 2005 hat die Bundesagentur für das Über- haltsansatz von 1,65 Milliarden Euro.
SPD
SACHSEN
Kanzler für Platzeck
Hymne in der Grundschule
CHRISTIAN PLAMBECK / HCP
ie SPD hat sich entschieden: Das Auswärtige Amt soll bei den Koalitionsverhandlungen auf keinen Fall an die Union fallen. Im Parteivorstand am vergangenen Donnerstag wies der Vorsitzende Franz Müntefering gleich zu Beginn darauf hin, dass auch in der Großen Koalition eine Außenpolitik verfolgt werden müsse, die wie bisher die Rolle Deutschlands als „Friedensmacht“ sicherstelle. Müntefering und der Kanzler betrachten das Auswärtige Amt vor allem als günstige Startposition für einen zukünftigen Kanzlerkandidaten. In den letzten Wochen umwarben Gerhard Schröder und Müntefering mehrfach Brandenburgs Ministerpräsidenten Matthias Platzeck, 51, der ihnen wegen seiner Popularität als ideale Besetzung gilt. Er könnte als Außenminister Erfahrung Schröder, Platzeck sammeln, um in vier Jahren bei der Bundestagswahl als Spitzenmann anzutreten. Platzeck sträubt sich. Erst vor wenigen Tagen hatte er öffentlich verkündet: „Ich bin ein Provinz-Ei.“ Er sei in Brandenburg erst vor einem Jahr wiedergewählt worden: „Das ist Verpflichtung genug für mich.“ Intern versicherte Platzeck vorigen Donnerstag auch nach der Offerte noch einmal: „Ich bleibe in Brandenburg.“ Dort hält man es für möglich, dass er 2007 über einen Wechsel in die Bundespolitik ernsthaft nachdenken könnte. Als Mann fürs Außenamt kommt einstweilen Verteidigungsminister Peter Struck in Frage. d e r
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m Kampf gegen die NPD setzt die CDU in Sachsen verstärkt auf Patriotismus. Laut Leitantrag für den November-Parteitag der sächsischen Union soll etwa das Erlernen der Nationalhymne in die Lehrpläne der Grundschulen aufgenommen werden. Das Singen der Hymne müsse überdies „eine Selbstverständlichkeit bei öffentlichen Veranstaltungen werden“, heißt es in dem CDU-Papier. Die NPD konnte bei der Bundestagswahl ihr Ergebnis im Freistaat von 1,4 Prozent im Jahr 2002 auf 4,8 Prozent steigern. Bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr kamen die Rechtsextremen auf 9,2 Prozent, die CDU verlor fast 16 Prozent und büßte ihre absolute Mehrheit ein. Der christdemokratische Ministerpräsident Georg Milbradt sah sich deshalb heftiger innerparteilicher Kritik ausgesetzt und beauftragte den früheren Wissenschaftsminister Matthias Rößler, Thesen zum Thema Patriotismus zu formulieren, um die NPD einzudämmen. Im CDU-Leitantrag heißt es dazu jetzt: „Patriotismus braucht Symbole, Institutionen und Traditionen, damit er auch emotional wirksam werden kann.“ Sächsische Grundschüler (in Dresden)
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ANDREE KAISER / CARO / KEYSTONE
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Panorama L I N K S PA R T E I
Stasi im Bundestag
M. STAUDT / GRAFIKFOTO.DE
utz Heilmann, frisch gewählter Abgeordneter der Linkspartei.PDS für den 16. Deutschen Bundestag, hat offenbar Erinnerungslücken im Hinblick auf seinen Lebenslauf. Auf der Website des Bundestags gibt der einstige DDR-Bürger an, er habe „1985 – 1990 Wehrdienst“ geleistet. In den nach dem Fall der Mauer von Bürgerrechtlern gesicherten Gehaltslisten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ist Heilmann jedoch 1989 als hauptamtlicher Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes registriert. Nach Aktenlage war er in der Hauptabteilung Personenschutz tätig, die für die Sicherung und Versorgung der Partei- und Staatsführung zuständig war. Eine Verwechslung mit einer anderen Person gleichen Namens ist ausgeschlossen: Sowohl das Heilmann in den MfS-Unterlagen vermerkte Geburtsdatum, der 7. September 1966, als auch der Meldeort, Zittau in Sachsen, stimmen mit den Daten im Lebenslauf des Bundestagsneulings überein. Vom SPIEGEL konfrontiert, gab Heilmann seine MfS-Tätigkeit vergangenen Freitag zu. Er habe aber seine Lübecker Genossen vor seiner Kandidatur informiert und so „die entsprechenden Regelungen der Linkspartei“ erfüllt. Ein Sprecher der Bundespartei erklärte, er sehe in dem Vorgang „kein großes Problem“. Heilmann ist der erste hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter, der jetzt als Abgeordneter im Deutschen Bundestag sitzt.
CARO / OBERHAEUSER
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Autobahn (in Essen) VERKEHR
Wolfs Geisterfahrer I
n Nordrhein-Westfalen grassiert die Angst vor Geisterfahrern. Nachdem Innenminister Ingo Wolf (FDP) sich in der vorvergangenen Woche dafür eingesetzt hatte, Autofahrern an Stau-Enden unter polizeilicher Aufsicht das Wenden zu ermöglichen, meldete die Autobahnpolizei mehr als 20 Pkw-Lenker, die auf eigene Faust kehrtmachten. Sollte es bei einer solchen Aktion zu einem tödlichen Unfall kommen, befürchtet ein Wolf-Mitarbeiter, „würde der Tote dem Minister wohl persönlich angelastet“. Die Opposition von SPD und Grünen wirft dem Liberalen schon jetzt vor, „grob fahrlässig“ und als „verkehrspolitischer Geisterfahrer“ zu handeln. ADAC-Präsident Peter Meyer spricht von „mangelnder Eindeutigkeit“ und beanstandet, Wolf präsentiere alte Hüte. Werden die Wartezeiten zu lang, erlaubt die Polizei den Autofahrern schon jetzt, unter ihrer Aufsicht zur letzten Ausfahrt zurückzufahren. Auf nordrhein-westfälischen Autobahnen kam es im vergangenen Jahr zu 75 Unfällen, die auf Wendemanöver und Rückwärtsfahrten zurückzuführen sind. In 9 Fällen wurden dabei Menschen verletzt.
befürchten: Anders als bei früheren Kommandeurstagungen ist bei der Festveranstaltung im alten Bundeshaus in Bonn keine Diskussion vorgesehen.
BUNDESWEHR
Ermahnung am Rhein uf kritische Worte des obersten Soldaten müssen sich die Kommandeure der Bundeswehr bei ihrer Tagung Anfang dieser Woche gefasst machen. Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, 59, bemängelt intern schon seit einiger Zeit, viele altgediente Offiziere hätten die von Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) forcierte Reform samt Umstellung auf weltweite Kriseneinsätze „mental“ noch nicht verarbeitet und hingen häufig Denkschablonen des Kalten Krieges nach. Bei dem Treffen anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Bundeswehr, bei dem auch Bundespräsident Horst Köhler sprechen wird, will der General das Führungspersonal nun öffentlich zu mehr Reformeifer ermahnen. Das alte Motto „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ aus der Zeit des OstWest-Konflikts trage nicht mehr. Wie schon in der Gründerzeit der Bundeswehr sei nicht „rückwärtsgerichtetes Denken“ gefragt, sondern die „Bereitschaft, neue Wege zu gehen und gegebenenfalls zu bauen“. Widerworte muss der General nicht
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Struck, Schneiderhan
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Deutschland LEBENSMITTEL
Pommes Grün-Rot in Bericht des Berliner Bundesinstituts für Risikobewertung über Acrylamid in Pommes frites, Kartoffelchips oder Keksen stützt die schon länger erhobene Forderung von Verbraucherschützern, dass solche stark erhitzten Lebensmittel gekennzeichnet werden sollten. Von der Substanz, die bei hohen Temperaturen – etwa beim Frittieren – entsteht, gehe ein „ernst zu nehmendes gesundheitliches Risiko“ aus, schreiben die Berliner Risikoforscher. Die Organisation Foodwatch plädiert deshalb für eine Farbskala auf den Verpackungen – Dunkelrot für hohe Acrylamid-Werte, Grün für niedrige –, um den Konsumenten die jeweilige Belastung anschaulich zu machen. Gesetzlich verbindliche Warnhinweise, wie sie derzeit Fritten-Fans
der US-Bundesstaat Kalifornien für Pommes frites und Kartoffelchips gerichtlich durchsetzen will, sind nach dem europäischen Wettbewerbsrecht nicht möglich. Rund tausend Krebsneuerkrankungen jährlich gehen in Deutschland nach Angaben des Bundesinstituts auf Acrylamid zurück.
PH. HYMPENDAHL / DAS FOTOARCHIV
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FINANZMINISTER
Heftige Wortwechsel
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dem nahezu komplett aus Behörden der alten Bundesländer. Auch Bayern und das Saarland wollen sich an der vereinbarten „sozialverträglichen“ Abwicklung von Fiscus nicht beteiligen. Sie hatten das Projekt, mit dem seit Anfang der neunziger Jahre über 300 Millionen Euro an
JOCHEN TACK / IMAGO
as gescheiterte Projekt Fiscus, das die rund 700 deutschen Finanzämter mit einheitlicher Computersoftware ausstatten sollte, sorgt unter den Finanzministern der Länder erneut für Krach. Auf ihrer Sitzung vorvergangenen Donnerstag in Berlin lehnten es alle fünf Ostlän-
Finanzamt
der ab, sich an der Fiscus-Abwicklung zu beteiligen; es kam zu heftigen Wortwechseln unter den Ministern. Sie hätten von dem gescheiterten Unternehmen keinerlei Leistung erhalten, so die Ost-Ressortchefs, die Fiscus-Belegschaft stamme zud e r
Steuergeldern verschleudert wurden, stets abgelehnt. Eine von Bayern entwickelte eigene Software soll nun zur Grundlage einer einheitlichen Steuerverwaltung in Deutschland werden. Der Name des neuen Projekts: „Konsens“.
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Panorama
Deutschland HOLO CAU ST U M W E LT
JENS GLÄSER / ACTION PRESS
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Allee (in Brandenburg)
in neues Regelwerk könnte Unheil für Deutschlands Alleen bedeuten. Experten der Kölner Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, beauftragt vom Bundesverkehrsministerium, empfehlen das „Entfernen von Bäumen“. Damit sollen die Folgen von Verkehrsunfällen abgemildert werden – überall dort, wo keine anderen Maßnahmen geeignet seien, um das „Unfallgeschehen wesentlich zu verbessern“. Dort seien möglichst auch keine „Nachpflanzungen“ vorzunehmen – selbst wenn Landesgesetze andere Regelungen vorsehen. Damit wird das vom Bundesumweltministerium, der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald sowie dem ADAC geförderte Projekt einer „Deutschen Alleenstraße“ gefährdet. „Flankierend“ empfehlen die Verkehrsexperten immerhin, die „eigentlichen Unfallursachen“ auf den Alleenstraßen wie überhöhte Geschwindigkeit, Ermüdung, Alkohol und Drogen „verstärkt“ zu bekämpfen.
Nato-Partnern borgen. Die Bundeswehr soll aber im nächsten Jahr Flieger bereithalten, die den Isaf-Friedenstruppen im Notfall jederzeit und bei jedem Wetter beistehen können. Der US-Konzern Lockheed Martin hat bereits angeboten, Berlin könne als Lückenfüller vier „Hercules“ der Variante C-130J leasen – für etwa 40 Millionen Euro pro Jahr. Das mit dem Militär-Airbus konkurrierende Flugzeug (Stückpreis: über 66 Millionen Dollar) ist allerdings wegen etlicher Mängel sogar in den USA umstritten. Zwischenlösungen haben in der Bundeswehr Tradition: Anfang der siebziger Jahre kaufte die Truppe in den USA „Phantom“-Jäger als Lückenfüller bis zur Indienststellung eines eigenen europäischen Kampfjets. Sie sind noch immer im Einsatz.
RÜSTUNG
Teurer Lückenfüller ie deutsche Luftwaffe wird wahrscheinlich schon bald ein neues D Transportflugzeug anschaffen. Die Bundeswehrführung erwägt, ihre Flotte von zweimotorigen „Transall“-Maschinen um ein leistungsfähigeres Flugzeug mit vier Motoren zu ergänzen. Es soll als „Zwischenlösung“ dienen, bis – etwa ab dem Jahr 2010 – der europäische Militär-Airbus A400M geliefert wird. In Afghanistan hat sich gezeigt, dass die betagten „Transall“ bei widrigem Wetter am Hindukusch-Gebirge kaum einsetzbar sind. Selbst Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) musste sich dort schon „Hercules“-Transporter von
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ührende Offiziere der deutschen Wehrmacht waren offenbar viel früher und präziser über den Holocaust informiert als bislang angenommen – ohne dass sie je öffentlich gegen die Judenvernichtung protestiert hätten. Dies enthüllt der Mainzer Historiker Sönke Neitzel, 37, der erstmals in Gänze eine besondere Quelle erschließen konnte: die Abhörprotokolle von Hitler-Generälen in britischer Gefangenschaft. Ab 1942, dem Wendepunkt der Kämpfe in Afrika, bis zum Herbst 1945 waren vor allem in Trent Park bei London etliche ranghohe Soldaten sistiert. Neben kollegialer Behandlung und guter Verpflegung gab es in dem Anwesen verwanzte Zimmer, darunter den Aufenthaltsraum. Dadurch erfuhren die Lauscher etwa, dass Luftwaffen-General Georg Neuffer, 1943 gefangen genommen, bereits damals von „drei Millionen“ ermordeten Juden ausging – ROGER VIOLLET / ULLSTEIN BILDERDIENST
Kahlschlag an der Straße?
Abgehörte Generäle
Kapitulierender General Choltitz (1944)
was der Realität ziemlich nahe kam. Neuffers Kamerad Dietrich von Choltitz, im Sommer 1944 Befehlshaber von GroßParis, gab in den mitgeschnittenen Gesprächen preis, sein „schwerster Auftrag“ sei die „Liquidation der Juden“ gewesen, wie Neitzel in seinem jetzt erschienenen Buch „Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942 – 1945“ enthüllt. „Ich habe diesen Auftrag allerdings auch bis zur letzten Konsequenz durchgeführt“, bekannte Choltitz. Die Verstrickung des 1966 in BadenBaden gestorbenen Militärs in den Judenmord sei „der Forschung bislang nicht bekannt“ gewesen, sagt Autor Neitzel.
Nachgefragt
Ja zum EU-Beitritt Sollte die Türkei bzw. Kroatien mittel- bis langfristig in die Europäische Union aufgenommen werden? 22
JA 54 %
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54%
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Türkei NEIN 37 % Februar 2004
TNS Infratest für den SPIEGEL; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe
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Oktober
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Kroatien JA NEIN
Oktober 2005
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Deutschland
Unionsvorsitzende Stoiber, Merkel: Es mahlt und malmt im Innersten der Christenpartei
JOHANNES EISELE / DDP
UNION
Große Koalition ganz klein Eine schwarz-rotes Bündnis der Sozialpolitiker bahnt sich an. Nach der SPD verschiebt nun auch die CDU/CSU ihre Koordinaten nach links. Selbst innerhalb der Unionsspitze ist Angela Merkels einst ehrgeiziger Reformkurs derzeit ohne Mehrheit.
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er sich in diesen Tagen mit dem Bundeskanzler verabredet, trifft auf einen Mann von fast schon aufreizender Gelassenheit. Nur die Gesichtszüge erzählen noch von der großen Anstrengung der Kampagne vor dem 18. September. Der Adrenalinspiegel des 24
Wahlabends hat sich wieder gesenkt. In versöhnlichem Plauderton spricht er über den Veränderungswillen der Deutschen, den er beachtlich findet. Auch mit seiner Partei hat Schröder seinen Frieden gemacht, wenigstens auf Zeit. Die Solidaritätsbekundungen, die ihn aus d e r
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der gesamten Sozialdemokratie erreichen, schmeicheln ihm. Ihm liege viel daran, die neu gewonnene Nähe zu erhalten, sagt er. Die Vorgänge in der Union verfolgt er nicht mehr lauernd, aber doch hochkonzentriert. An Angela Merkel fällt ihm auf, wie sie sich in den Sondierungsge-
der Deutschen in die Arena gerollt: soziale Sicherheit, Familienförderung, mehr Geld für Lehrer und Polizisten. Kritiker Merkels versammeln sich in auffälliger Zahl hinter der Fahne der sozialen Gerechtigkeit. Die müsse von der Union endlich wieder hochgehalten werden. Die CDU sehnt sich nach einer modernen Ausgabe von Norbert Blüm, der in der Ära Kohl als Bannerträger des Wohlfahrtsstaats treue Dienste tat und von Merkel ins politische Aus gedrängt wurde. Die Sozialausschüsse, die gestern noch als muffige Traditionskohorten galten, fühlen sich im Aufwind. Das Wort Reformer gilt nun auch bei Deutschlands Konservativen als kontaminiert. Zu Schlüsselfiguren werden Männer wie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Er hat im vergangenen Jahr das Wort „Verteilungsgerechtigkeit“ in den Leitantrag des Düsseldorfer Parteitags der CDU geschmuggelt. Es ist ihm nicht unrecht, wenn man sich heute daran erinnert. Die Christdemokraten wollen wieder da sein, wo sie die Menschen vermuten – nahe beim Status quo. Der Bürger klammert, die Volkspartei klammert mit. Der Wahltag brachte einen hauchdünnen Vorsprung, aber eben keinen Sieg. Die Union schrumpfte auf 35,2 Prozent der abgegebenen Stimmen, das entspricht 27 Prozent der Wahlberechtigten. Helmut Kohl ist mit einem derartigen Ergebnis abgewählt worden. Die linksgewendete Wahlkampf-SPD steht nicht besser da. Gerhard Schröder bekam das schlechteste Ergebnis, das je-
MARCO-URBAN.DE
sprächen zurückhalte, oft unklar bleibe, zuweilen schweigsam sei, wie sie, so empfindet er es, nach einer politischen Linie von Bestand suche. Die Frau sei derzeit, sagt er, „kaum entscheidungsfähig“. Der Kanzler sieht mit Wohlgefallen, wie sich bei der Konkurrenz die Gewichte verschieben. Es mahlt und malmt im Innersten der Christenpartei. Die einst funkelnden Reformprojekte der Angela Merkel gelten vielen als baufällige Überreste einer untergegangenen Zeit. Die Gesundheitsprämie, das kühnste Projekt aus Merkels Reformschmiede, wird den Weg in die Wirklichkeit nicht finden. Die Steuerreform – radikale Vereinfachung und Senkung – ist ebenfalls vom Tisch. Weniger Kündigungsschutz, weniger Macht für die Gewerkschaften und der Abbau der Steuersubventionen bei den Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit – an solche Punkte des Wahlprogramms wollen viele in der Union nicht mehr erinnert werden. Mit den Wählerstimmen schwand auch der Mut der Noch-Opposition. In weiten Teilen noch immer fassungslos, steht die knapp 600 000 Mitglieder zählende Partei vor den Trümmern ihrer Träume. Der „Wahlkampf der Ehrlichkeit“ (Merkel) hat Millionen Bürger derart verschreckt, dass sie lieber Schröder wählten – oder zu Hause blieben. Auf einmal weisen viele Unionspolitiker darauf hin, dass die Wahlschlacht bisher nicht die Stunde der Wahrheit, sondern die Zeit der Illusionen war. Wie bunte Kugeln wurden da die Lieblingssehnsüchte
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Reformpläne des Leipziger Parteitags GESUNDHEITSPRÄMIE
Die CDU tritt dafür ein, das heutige System der gesetzlichen Krankenversicherung in ein System einer ,Gesundheitsprämie‘ zu überführen. REFORM DER PFLEGEVERSICHERUNG
Die CDU hat sich daher zum Ziel gesetzt, die Pflegeversicherung in ein kapitalgedecktes Prämienmodell zu überführen. RENTE
Wer bei einer geringeren Zahl von Versicherungsjahren das 67. Lebensjahr vollendet hat, kann abschlagsfrei Rente beziehen. STEUERREFORM Das gegenwärtige Einkommensteuergesetz ist nicht reformfähig. mals ein Bundeskanzler bei einer Wahl erzielt hat. Die SPD verlor gegenüber 2002 gut zwei Millionen ihrer Wähler. Bestätigt fühlen sich in beiden Volksparteien die Reformkritiker – die Linken, die Gewerkschafter, die Sozialpolitiker aller Coleur. „Schwarz-Gelb hat keine Mehrheit in Deutschland. Mit diesem Selbstbewusstsein müssen wir auftreten“, erklärte Präsidiumsmitglied Andrea Nahles jüngst bei einem Treffen der SPD-Linken. Der Zuspruch war gesichert. Im SPIEGEL-Interview trumpft die stellvertretende SPD-Chefin Heidemarie Wieczorek-Zeul auf: „Wir werden nicht zulassen, dass Arbeitnehmerrechte abgebaut werden“ (siehe Seite 28). Auch den von manchen Unionspolitikern geplanten Kahlschlag bei Weiterbildung und Arbeitsförderung soll es nach den Vorstellungen des linken Flügels nicht geben. Abstriche können sich die Genossen allenfalls bei Beschäftigungsmaßnahmen vorstellen, die eher der Union am Herzen liegen, etwa bei Lohnkostenzuschüssen oder der Förderung von Betriebsgründungen. Im Gegenzug will die SPD flächendeckende Mindestlöhne einführen. „Frau Merkel hat die CDU zu einer konservativ-liberalen Par* Am vergangenen Mittwoch nach den Sondierungsgesprächen mit der Union in Berlin.
SPD-Vorleute Schröder, Müntefering*: „Soziale Gerechtigkeit erhalten“ d e r
Merkels Stolpersteine
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Deutschland tei gemacht, und dafür wird sie jetzt büßen“, sagt Fraktionsvize Ludwig Stiegler nicht ohne Schadenfreude. Die Rachelustigen bauen auf SPD-Chef Franz Müntefering. Der hat, zusammen mit seinem Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel, das SPD-Wahlmanifest verfasst; er hat Gerhard Schröder – mit Hilfe des Wahlprogramms – zu einer neuen sozialdemokratischen Rhetorik gedrängt. Von Müntefering erwarten die Genossen, dass der schwarz-rote Koalitionsvertrag eine starke sozialdemokratische Einfärbung erhält. Bei einem Auftritt am Freitagabend in Bayreuth wurde er von seinen Parteifreunden gefeiert. „Wir werden bei der Erneuerung dafür sorgen, dass die soziale Gerechtigkeit erhalten bleibt“, sagte er und erntete Beifallsstürme. Der SPD-Chef kann auf einen Verbündeten zählen – den Sozialflügel der Union, der schon lange nicht mehr so vital wirkte. CDA-Chef Karl-Josef Laumann ist entschlossen, Reformprojekte der CDU-Vorsitzenden, etwa die Lockerung des Kündigungsschutzes, zu verhindern. Die Union dürfe ihre sozialen Wurzeln nicht vergessen, sagte Laumann am vergangenen Donnerstag im CDU-Vorstand. Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister sieht in der Wahlschlappe der Union eine willkommene Gelegenheit, das Profil seiner Vereinigung zu schärfen. Viele CDAFunktionäre werfen ihm vor, er hätte schon im Wahlkampf Merkels Kurs bekämpfen müssen. Das wird nun nachgeholt. Laumann weiß seinen Ministerpräsidenten hinter sich. Rüttgers ist davon überzeugt, dass die CDU langfristig im SPD-
„Senkung der Standards“ Baden-Württembergs CDU-Ministerpräsident Günther Oettinger, 51, über die Chancen und Gefahren einer Großen Koalition
Ministerpräsident Oettinger
„Kürzungen sind unvermeidlich“
Arbeitsmarktleistungen nicht herumkommen. Der Bund gibt derzeit jedes Jahr rund 60 Milliarden Euro mehr aus, als er einnimmt. Da sind Kürzungen unvermeidlich, etwa bei den Zuschüssen an die Bundesanstalt für Arbeit. Ich bin auch dafür, den Steuerzuschuss zur Rentenversicherung auf dem derzeitigen Niveau einzufrieren. SPIEGEL: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass eine große Steuerreform kommt? Oettinger: Eine große Reform wird es wohl nicht geben, weil die Sozialdemokraten mit ihrem populistischen Wahlkampf verbrannte Erde hinterlassen haben. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir einige Steuervergünstigungen streichen und dafür den Tarifverlauf moderat senken. Und wir können die Unternehmensteuerreform angehen, die wir schon auf dem Jobgipfel vereinbart haben. Für weitere Steuererleichterungen aber fehlt in den nächsten drei oder vier Jahren ganz sicher das Geld. SPIEGEL: Kann wenigstens die Reform des Föderalismus in einer Großen Koalition zu einem schnellen Abschluss gebracht werden? Oettinger: Ich denke, die Vorarbeiten sind so weit gediehen, dass man die Eckpunkte der Reform im Koalitionsvertrag fixieren sollte. Interview: René Pfister
ANDREAS RENTZ / GETTY IMAGES (U.); MARCUS BRANDT / DDP (O.)
ihren Mut zur Ehrlichkeit gefeiert, jetzt ist von Reformeifer kaum noch etwas zu spüren. Bekommen wir eine Große Koalition des Stillstands? Oettinger: Wir können uns Untätigkeit nicht leisten. Wir müssen auf jeden Fall die Reform der Pflegeversicherung angehen, denn sie steuert auf eine finanzielle Schieflage zu. Schon in zwei Jahren werden die Reserven vollständig aufgebraucht sein. Auch die Sozialdemokraten müssen einsehen, dass wir der Misere nur entgehen, wenn wir auf kapitalgedeckte Vorsorge umstellen. SPIEGEL: Wo nehmen Sie Ihren Optimismus her, wenn schon Leute aus Ihren eigenen Reihen die Gesundheitsprämie aufgegeben haben? Oettinger: Ich weiß nicht, ob es klug vom Kollegen Stoiber war, schon jetzt auf die Prämie zu verzichten. Aber es war sicher ehrlich, denn die CSU war noch nie ein Fan dieses Modells. Und klar ist, eine Gesundheitsprämie pur wird mit den Sozialdemokraten nicht zu machen sein. Wir sollten aber im Koalitionsvertrag ausschließen, dass die Krankenkassenbeiträge in den nächsten vier Jahren steigen und damit Arbeitnehmer und Arbeitgeber belastet würden. SPIEGEL: Auch bei den Themen Kündigungsschutz und Tarifautonomie haben Ihre Kollegen Peter Müller und Roland Koch bereits die weiße Fahne gehisst. Oettinger: Es wäre ein Fehler, schon jetzt in allen Punkten einzuknicken. Die Lockerung des Kündigungsschutzes etwa ist wichtig vor allem für mittelständische Unternehmen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir das auch in einer Großen Koalition beschließen – in einem Gesetz, das befristet ist auf drei Jahre. Bringt die Regelung neue Jobs, und davon bin ich überzeugt, wird sie verlängert. Das gleiche Verfahren könnten wir bei den betrieblichen Bündnissen für Arbeit wählen. Das Vetorecht der Gewerkschaften bei Vereinbarungen in den Unternehmen ist überholt. SPIEGEL: Niemand kommt an einer Konsolidierung des Haushalts vorbei. Wo sehen Sie Möglichkeiten, Geld zu sparen? Oettinger: Wir werden um eine Senkung der Standards bei den Sozial- und
SUSANNE KERN
SPIEGEL: Im Wahlkampf hat die Union
CDU-Finanzexperte Merz
Seine Steuerreform ist vom Tisch 26
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Spektakel Koalitionsgespräche (vor der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin): Das Wort Reformen gilt als kontaminiert
Stammland nur eine Chance hat, wenn sie sich als Anwältin des kleinen Mannes präsentiert. Intern hat er deshalb immer wieder deutlich gemacht, dass er von Merkels kühnen Plänen wenig hält. Sehr zum Ärger der Parteichefin forderte er im vergangenen Jahr eine „Generalrevision“ von Hartz IV. Nun darf er sich bestätigt fühlen. Auch in der Bundestagsfraktion haben all jene Auftrieb, denen der Modernisierungskurs schon immer zu hart war. „Wir brauchen mehr Aufbruchsziele und weniger Abbruchsziele“, sagt der Vorsitzende der niedersächsischen Landesgruppe, Hermann Kues. „Wir haben den Leuten nicht genug Zuversicht vermittelt. Das war ein Fehler.“ Fast sieht es aus, als hätte die Partei kein Machtzentrum mehr. Alle führen Merkels Namen im Mund – um dann zu verkünden, was sie gerade selbst für richtig halten. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller erklärte, die Union wolle nun doch nicht das Vetorecht der Gewerkschaften bei betrieblichen Bündnissen abschaffen. Sein hessischer Kollege Roland Koch stellte in einem Gespräch mit der DGB-Spitze die geplante Lockerung des Kündigungsschutzes zur Disposition. Und Edmund Stoiber ließ Merkel via Zeitung wissen, dass ihre Gesundheitsprämie in einer Großen Koalition keine Chance habe. Damit blieb von den großen Plänen der
CDU praktisch schon zwei Wochen nach dem Urnengang nichts mehr übrig. Stoiber ist davon überzeugt, dass es ein Fehler war, sich auf Merkels zahlenlastigen Wahlkampf einzulassen – und er will daraus Konsequenzen ziehen. Als „aufgeblasene FDP“, so heißt es in seinem Umfeld, werde die Union kaum überleben können. In der vergangenen Woche nahm der Bayer seinen Widersacher Horst Seehofer zur Seite und fragte den ehemaligen Bundesgesundheitsminister, ob er für einen Regierungsposten zur Verfügung stehe. Seehofer musste nicht lange überlegen, schließlich arbeitet er schon einige Zeit an einem Comeback. Gern wäre er wieder Gesundheitsminister, aber auch das Ressort Arbeit und Soziales würde er übernehmen. Die Rückkehr Seehofers wäre das deutlichste Zeichen für ein Ende der Reformträume Merkels. Würde er Minister, hätte sie einen Mann am Kabinettstisch sitzen, der fast alles bekämpft, wofür sie eintritt: Privatisierung der Pflegeversicherung, Rente mit 67, Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Löhnen. Trotzdem könnte sie den CSU-Vize kaum verhindern. Es gelte der Grundsatz, dass jede Partei ihre Personalfragen selbst entscheide, sagte Merkel am vorigen Donnerstag. Den Satz – gemünzt auf die SPD – werden auch die Christsozialen für sich in Anspruch nehmen. d e r
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Selbst Merkel steuert vorsichtig um. Das Verhältnis zu den Gewerkschaften wird geradezu generalstabsmäßig entkrampft. Ob man am Hofe der CDU-Chefin wohlgelitten ist, lässt sich unter anderem daran erkennen, wie schnell man von ihr zurückgerufen wird. Nur wer direkt mit der Vorsitzenden verbunden wird, darf sich wirklich wichtig fühlen. So gesehen hat DGB-Chef Michael Sommer in den vergangenen Wochen einen kräftigen Bedeutungsschub erlebt. Künftig, so ließ ihm ein Emissär Merkels ausrichten, werde er in dringenden Angelegenheiten selbstverständlich zur Chefin durchgestellt. Unverzüglich. Seit klar ist, dass in der Republik bald eine Große Koalition regiert, überschlagen sich Unionspolitiker mit Gunstbeweisen an die organisierte Arbeitnehmerschaft. Noch vor wenigen Wochen wollten sich MerkelHelfer wie Generalsekretär Volker Kauder beim „Aufräumen in Deutschland“ keinesfalls von Gewerkschaftsdrohungen „aus der Bahn werfen lassen“. Heute geben sich dieselben Politiker als eingefleischte Freunde der Arbeitnehmervertreter. Dem Wechsel in der Tonlage entspricht die inhaltliche Wende. Abbau des Kündigungsschutzes? War nicht so gemeint. Weniger Betriebsräte in Kleinbetrieben? Alles Verhandlungssache. Einschnitte ins Tarifrecht? Es gibt Wichtigeres. „Der Prozess 27
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„Wir müssen an uns denken“ Die stellvertretende Parteivorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul, 62, über die Erwartungen der SPD-Linken
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soweit wir das entscheiden können, in Programm und Personen widerspiegeln. Wir müssen die Zustimmung, die wir zu den Themen der sozialen Gerechtigkeit im Wahlkampf hatten, nun auch in der Regierungspolitik verankern. SPIEGEL: Was heißt das genau? Wieczorek-Zeul: Wir werden nicht zulassen, dass Arbeitnehmerrechte abgebaut werden, der Kündigungsschutz aufgeweicht wird oder die Steuerfreiheit von Sonntags-, Schicht- und Nachtarbeit verschwindet. Wir wollen die Bürgerversicherung verwirklichen. Und wir halten am Atomausstieg fest. SPIEGEL: Das ist bekannt und wenig in die Zukunft gerichtet. Wieczorek-Zeul: Das stimmt doch nicht – und für Bürgerinnen und Bürger müssen die Dinge ja auch Wirklichkeit werden. Für uns sind alle Fragen der Nachhaltigkeit von größter Bedeutung. Seit den sechziger Jahren hat sich zum Beispiel die Zahl der Klimakatastrophen weltweit verdreifacht. Die Ressourceneffizienz ist ein wirklich sozialdemokratisches Thema und ein ökonomisches Wachstumsfeld sowie eine Frage unserer globalen Verantwortung. Und wir brauchen eine weitere gesellschaftliche Modernisierung – Beispiele Familienpolitik, Kinderbetreuung, Bildung. Die Föderalismusreform darf das Handeln des Bundes im Bildungsbereich, siehe etwa Ganztagsschulprogramm, nicht verhindern. Das wäre ein Rückfall in Kleinstaaterei. SPIEGEL: Halten Sie an Ihrer Forderung nach einer Reichensteuer fest? Wieczorek-Zeul: Es gibt keinen Grund, davon abzurücken. Denn dabei geht es ja um einen besonderen Beitrag von Spitzenverdienern für Bildungs- und Zukunftsinvestitionen. SPIEGEL: Glauben Sie nicht, dass Sie die Union mit solchen Vorstellungen überfordern? Wieczorek-Zeul: Wir müssen die Lebenswirklichkeit der Menschen im Auge haben, die es nicht so dicke haben. Da hatten sich viele von uns abgewandt. Wir wollen sie für unsere Politik zurückgewinnen. Interview:
Sozialdemokratin Wieczorek-Zeul
„Ich bin stolz auf unsere Arbeit“ SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, Angela Merkel zur Kanzlerin zu wählen? Wieczorek-Zeul: Ich habe in zwei Legislaturperioden dem Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder angehört und bin stolz auf unsere Arbeit. Ich möchte, dass Gerhard Schröder Kanzler bleibt – zumal unser Wahlkampf gegen Frau Merkel und ihr neoliberales Programm ausgerichtet war. SPIEGEL: Haben Sie generell Sorgen bei einer Großen Koalition? Wieczorek-Zeul: Wenn es tatsächlich zu einer Großen Koalition kommt, muss sie Reformpolitik mit sozialer Gerechtigkeit verbinden. Das ist sozialdemokratische Überzeugung. SPIEGEL: Ist das auch realistisch? Wieczorek-Zeul: Der Wahlkampf hat doch allen gezeigt, dass man nur dann auf Dauer eine große Volkspartei bleiben kann, wenn man auch für soziale Gerechtigkeit eintritt. Die Union hat diesen Punkt sträflich vernachlässigt. Viele in der CSU und der CDU-Arbeitnehmerflügel hoffen ja geradezu darauf, dass wir uns inhaltlich gegen das neoliberale Konzept der CDU durchsetzen. SPIEGEL: Welche Erwartungen hat die SPD-Linke an die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder? Wieczorek-Zeul: So weit sind wir noch nicht. Das Wahlergebnis, das doch eine gesamtgesellschaftliche linke Mehrheit in Deutschland gezeigt hat, muss sich,
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Markus Feldenkirchen, Horand Knaup
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zu größerer Flexibilität in den Tarifverträgen“, so CDU/CSU-Fraktionsvize Wolfgang Schäuble, werde sich „auch ohne Einschreiten des Gesetzgebers fortsetzen“. In Merkels Auftrag kam CDU-Arbeitsmarktexperte Ronald Pofalla Ende September auf DGB-Chef Sommer zu: Man wolle das vor zweieinhalb Jahren eingestellte Bündnis für Arbeit neu beleben. Zuvor hatten mehrere Spitzenvertreter von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften erklärt, unter bestimmten Bedingungen bei einer Neuauflage der Konsensgespräche mitzumachen. Dass führende Unionspolitiker die Kernsätze ihres eigenen Parteiprogramms zum Missverständnis erklären, folgt einer einfachen Erkenntnis: Den Gewerkschaften kommt im Machtgefüge einer Großen Koalition eine Schlüsselrolle zu. Zum einen brauchen alle schwarz-roten Gesetze die Zustimmung der Sozialdemokraten, denen sich DGB und Co. traditionell verbunden fühlen, auch wenn es wegen Schröders Agenda 2010 erhebliche Spannungen gab. Zum anderen wächst eben auch bei den Konservativen der Einfluss des Arbeitnehmerflügels. Manche in der Union wollen das Tempo der Annährung sogar noch erhöhen, wie der CDU-Parlamentierer Gerald Weiss. Dem Vorsitzenden der fraktionseigenen Arbeitnehmergruppe schwebt vor, dass sich die Unionsspitze nach dem Vorbild des SPD-Gewerkschaftsrats künftig regelmäßig mit den DGB-Bossen abstimmen soll. Gern empfiehlt Weiss den nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Rüttgers als Vorbild. Der habe seine Truppe erfolgreich zur „eigentlichen Arbeitnehmerpartei im Lande erklärt“. Die Union nähert sich damit wieder ihrer alten Verfassung an, in der sie Reformen nur bedingt schätzte. In ihrer Geschichte hat sie die Bürger selten mit Kühnheiten traktiert. Es ist kein Zufall, dass Norbert Blüm der einzige Minister war, den Helmut Kohl in 16 Jahren nicht auswechselte. Einmal waren sich Vorsitzende und Partei in ihrem Reformeifer ganz nahe, aber das scheint schon ewig her zu sein. Auf dem Parteitag in Leipzig, im Dezember 2003, brachte Merkel die versammelten Christdemokraten dazu, ihre Gesundheitsprämie zu bejubeln. Sie gewann die Delegierten auch für das Steuerkonzept ihres Rivalen Friedrich Merz, das eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes vorsah. Beide Konzepte harmonierten nicht miteinander, aber über beiden stand groß das Wort „Neuanfang“. Sie waren Chiffren für den Wunsch der Union, Zukunftsgewissheit und Ideenreichtum zu verkörpern und damit das Ideologiemonopol der Linken zu brechen. Sie waren zugleich der Bruch mit der CDU von Helmut Kohl. In Leipzig ist die CDU kurzzeitig über sich hinausgewachsen, es war ein trügeri-
scher Triumph für Merkel. Die Christde- zende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, mokraten verabschiedeten ein radikales warnte Merkel davor, vor den innerparteiReformprogramm. Statt einfach darauf zu lichen Kritikern in die Knie zu gehen: „Was setzen, dass Schröder mit seinem Reform- mühsam erkämpft worden ist, darf man kurs auf Grund laufen würde, rief die Uni- jetzt nicht aufgeben“, sagte er zum Parteion zu einer Überholjagd auf. Das war wag- vorstand. Auch der frühere Verkehrsminishalsig, auch mutig – und der CDU eigentlich sehr fremd. UMFRAGE: MEHRWERTSTEUER Von den Modernisierern in der Union, die den Leipziger „Sind Sie für die Erhöhung der MehrwertKurs aus Überzeugung mitgesteuer, wenn dadurch Lohnnebenkosten tragen haben, kann Merkel gesenkt werden?“ derzeit keine Unterstützung erAnhänger von... warten. Sie sind in der DefenCDU/ B90/ LinksSPD CSU Grüne FDP partei sive. Viele haben, wie der Hesse Koch oder Christian Wulff JA 35 % 17 57 30 59 10 in Niedersachsen, kein allzu großes Interesse daran, Merkel NEIN 63 % 82 41 64 41 89 zu stärken. Bislang sind es eher Politiker der zweiten Garnitur, die nicht TNS Infratest für den SPIEGEL vom 4. bis 6. Oktober; rund 1000 Befragte; einknicken wollen. Der Vorsit- an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“
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HANS-BERNHARD HUBER / LAIF
MARC DARCHINGER
Unionspolitiker Müller, Seehofer, Koch: Jeder verkündet, was er selbst für wichtig hält
ter Matthias Wissmann mahnt: „Eine Neugestaltung des Föderalismus reicht als Legitimation allein nicht. Wir müssen die großen Reformen anpacken.“ Der Präsident des Wirtschaftsrats, Kurt Lauk, fordert: „Die Union darf für eine Große Koalition auf keinen Fall zentrale Programmpunkte preisgeben.“ Solche Stimmen sind derzeit die Ausnahme. Selbst Roland Koch gibt sich, ganz gegen sein Naturell, moderat. Trotz eines auf fast 30 Milliarden Euro angewachsenen Schuldenbergs lehnt der Hesse weitere Sparprogramme ab, da sie schwere Folgen für „die innere Sicherheit, die Schulen und Universitäten“ hätten. Im kommenden März sind Kommunalwahlen – da will Koch nicht noch weitere Wähler verschrecken. Die ökonomischen Daten seines Landes zeugen von Tristesse, aber Koch nimmt den Schaden in Kauf. Beim Wachstum ist Hessen das Schlusslicht aller westdeutschen Bundesländer. Die US-Rating-Agenturen haben die Kreditwürdigkeit des Landes bereits vor zwei Jahren herabgestuft und werden es möglicherweise bald wieder tun. Merkel sieht die Notwendigkeiten, die ja auch ihre sind. Doch für die Koalitionsgespräche braucht sie Verhandlungsmasse. Im Präsidium bat sie die Hierarchen eindringlich, die Positionen des Wahlprogramms nicht eilfertig zu räumen. Das sei „nicht hilfreich“, sagte die Parteichefin. Die Runde reagierte mit Schweigen. Markus Feldenkirchen, Horand Knaup, Ralf Neukirch, René Pfister, Michael Sauga, Andreas Wassermann
Deutschland CSU
Nürnberger Bande In München ist der Kampf um die Stoiber-Nachfolge entbrannt: Fromme Franken wollen machtgewohnte Bayern austricksen.
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bara Stamm – geht es dabei um mehr. Sie will, angestachelt vom miserablen CSU-Ergebnis bei der Bundestagswahl, einen Generations- und Stilwechsel einläuten in der Partei: weg von der Ein-Mann-Show Stoibers und seiner zentralistischen Staatskanzlei, weg von endlosen Wahlkampfreden über Lohnnebenkosten und Bruttoinlandsprodukt. Hin zum christsozialen Lebensgefühl, zu traditionellen Werten, zu Bayern. Während Hubers machtgewohnte Mannen noch hämen, mit dem frommen Christen Beckstein käme eine „Herz-Jesu-Fraktion“ ans Ruder, haben die Franken schon ihre Manöver durchexerziert: Mit Hilfe der von Herrmann geleiteten Landtagsabgeordneten soll nun erst mal Beckstein auf den Bayern-Thron gehoben werden. Der erst 49-Jährige, sozial orientierte Fraktionschef Herrmann selbst würde dann mit des Vorgängers Hilfe nach der Wahl 2013 folgen. Ein kühner Plan, dessen erster Schritt aber funktionieren könnte. Denn Parteichef Stoiber, der Personalentscheidungen sonst meist allein fällt und der seinem treuen Statthalter Erwin Huber verpflichtet wäre, verhält sich merkwürdig still. Lediglich die Anweisung, dass Nachfolgedebatten völlig fehl am Platze seien, sandte er aus den Berliner Sondierungsgesprächen nach München. Stoiber, heißt es im Landtag, habe wohl begriffen, dass sein Image bei den Abgeordneten nach der Wahlschlappe schwer gelitten habe, und fürchte nun eine Trotzreaktion der Fraktion: Würde er seinen Favoriten benennen, könnte das dem sogar schaden. Wer öffentlich in der CSU darüber spricht, bewegt sich auf vermintem Gelände. Nicht einmal bei einem verschwiegenen Treffen des engsten Parteizirkels am vergangenen Mittwoch in der CSU-Zentrale habe man das Thema angesprochen, versichern Teilnehmer; nur über die Verhandlungen mit der SPD in Berlin sei debattiert worden. In einem Punkt hat sich der Franke Herrmann auf dem Weg zu mehr Basisbeteiligung schon durchgesetzt. Auf seinen Wunsch hin wird es in einigen Wochen einen Sonderparteitag geben. Dann dürfen die Delegierten die Koalitionsvereinbarung absegnen, die Stoiber und seine Verhandlungsriege bis dahin in Berlin längst besiegelt haben wollen. Ob man bei diesem Konvent auch über einen neuen Ministerpräsidenten sprechen darf, bleibt offen. Conny Neumann MAURIZIO GAMBARINI / DDP
s können die lächerlichsten Auftritte sein, die über eine Karriere entscheiden. Bei Erwin Huber, 59, Staatskanzleiminister in Bayern, ist es möglicherweise das Singspiel auf dem Nock-
ihn ja nicht sehen, wenn er beispielsweise in Berlin bei Verhandlungen mit der CDU auf den Tisch haut. Die gemeine Einschätzung kommt von CSU-Kollegen aus dem Raum Nürnberg, wo der bayerische Innenminister und Huber-Konkurrent Günther Beckstein, 61, zu Hause ist. Und sie zeigt, wie hinterhältig derzeit gekämpft wird um die Nachfolge von Edmund Stoiber als Ministerpräsident. Beckstein und Huber, beide wollen das höchste Amt, wenn Stoiber in ein schwarzrotes Berliner Kabinett wechseln sollte. Es sind zwei, die es sich in jahrzehntelanger Kärrnerarbeit verdient haben: Beckstein aus dem mittelfränkischen Nürnberg, dessen Sicherheitspolitik bundesweite Aufmerksamkeit genießt; und Huber aus dem niederbayerischen Reisbach, der in Bay-
CSU-Trio Huber, Beckstein, Stoiber im Bayerischen Landtag: Vermintes Gelände
herberg. Dabei tritt Huber beim jährlichen Starkbieranstich, der im Fernsehen übertragen wird, gar nicht selbst in Erscheinung – ein Darsteller spielt ihn, aber immer auf dieselbe Weise: als Hofnarren des mächtigen Herrschers Edmund, als haspelnden Lakaien, klein, devot, als Lachnummer. Diese Figur, sagen jetzt Parteifreunde, die es gar nicht gut mit Huber meinen, könne ihm die Thronbesteigung gründlich versalzen. Man dürfe doch wohl nicht einen Mann an die Spitze des Freistaats stellen, von dem Millionen Fernsehzuschauer ein solches Bild hätten. Die natürlich gar nicht wüssten, dass der Erwin in Wahrheit ein hervorragender Politiker sei, weil sie 30
ern Stoibers drastischen Sparkurs durchboxt. Wer am Ende siegen wird, ist ungewiss, denn beide haben derzeit annähernd gleich viele Fürsprecher in der CSU. Es ist aber nicht nur ein Erbfolgekrieg Beckstein gegen Huber, es ist die Schlacht der in den letzten Jahren erstarkten Franken-Fraktion um Beckstein gegen Hubertreue Ober- und Niederbayern, die seit den Zeiten von Franz Josef Strauß lange die wichtigsten Posten in der CSU innehatten. Der verschworenen Franken-Bande aus dem Norden des Freistaats – Beckstein, Landtags-Fraktionschef Joachim Herrmann, Umweltminister Werner Schnappauf und der stellvertretenden Parteichefin Bard e r
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GRÜNE
Sponti sucht Spießer
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RAINER KWIOTEK
KATJA LENZ / DDP
er Mann ist die Bürgerlichkeit in Person. Winfried Kretschmann, 58, trägt einen grauen, dezent gestreiften Anzug, die kräftigen weißen Haare sind mit einem schneidigen Bürstenschnitt gebändigt. Nur die hellgrüne Krawatte Parteichefinnen Roth, Merkel: Annäherung an den politischen Erzfeind weist subtil auf seine Parteizugehörigkeit Klar ist auch, dass man sich ein bisschen hin: Kretschmann ist Fraktionsvorsitzen- gradiert. Im Bundestag stellen sie mit 51 zieren muss. „Es geht nicht darum, sich der der Grünen im baden-württembergi- Abgeordneten die kleinste Fraktion. Eine Liaison mit dem politischen Erz- hübsch zu machen für die Union“, befindet schen Landtag. Er hat einiges hinter sich: Als Student im feind von einst wäre genau das Richtige, Fücks. Die Union müsse sich programmaStuttgart der siebziger Jahre war Kretsch- um wieder in die Offensive zu kommen: tisch zu den Grünen hin öffnen, verlangt der neue Berliner Co-Fraktionschef Fritz mann im Kommunistischen Bund West- Sponti sucht Spießer. Die Kontaktanzeige wird am kommen- Kuhn: „Macht folgt Inhalt.“ deutschlands aktiv, einer „sehr provinzielDass die Zeit für eine Partnerschaft im len Form des Linksradikalismus“, wie er den Samstag beim Grünen-Parteitag in Olheute lächelnd einräumt. Es ist ja schon denburg geschaltet. „Nach dem Ende des Bund noch nicht gekommen ist, haben die lange her. Inzwischen sitzt er auch im Zen- bisherigen Modells Rot-Grün stehen wir Sondierungen mit der CDU/CSU für eine tralkomitee der deutschen Katholiken. „Po- vor einem Neustart grüner Möglichkeiten“, Jamaika-Koalition mit einer Kanzlerin Anlitik ist die Sphäre des Handelns, da zählt heißt es im Leitantrag des Bundesvorstands gela Merkel gezeigt. Grüne und Schwarze der Erfolg“, sagt der Ex-Kommunist. „Wir für den Konvent. Es gelte, die „Möglichkeit stünden „in wesentlichen Kernbereichen unterschiedlicher Regierungskonstellatio- diametral zueinander“ und seien „kultumüssen Koalitionen nüchterner sehen.“ rell“ zu verschieden, sagte die Grünen-VorWenn Kretschmann über Koalitionen re- nen zu eröffnen“. Als Mitgift versprechen die Grünen im- sitzende Claudia Roth anschließend. det, meint er meistens ein Bündnis mit der Ein wichtiges Hindernis ist immerhin beUnion. „Wir haben zur CDU ein unver- merhin acht Prozent der Wählerstimmen, krampftes Verhältnis“, sagt er. Baden-Würt- eine junge, großstädtische und gutgebilde- seitigt: der Patriarch Joschka Fischer. Noch temberg wählt am 26. März 2006, und wer te Anhängerschaft – und ein attraktives im Wahlkampf warnte er vor Bündnissen in Stuttgart regieren will, kommt an der Thema: die Ökologie. „Wir steigern gerade mit der Union, sie würden der Partei die Union nicht vorbei. Deswegen ruhen die unseren Marktwert“, freut sich der Stutt- Seele rauben. Jetzt tritt er beiseite und forHoffnungen vieler Grüner, die Koalitionen garter Kretschmann. „Das, was wir seit 25 dert die Grünen sachte zur Öffnung „in mit der Union anstreben, auf Kretschmann. Jahren gefordert haben, stimmt.“ Seit der beide Richtungen“ auf – nur bitte ohne Seit der Bundestagswahl und dem an- Zunahme von Flutkatastrophen in den ver- ihn. „Da gehe ich nicht hin“, knurrte Figekündigten Rückzug von Außenminister gangenen Jahren, sagt ein Grünen-Strate- scher, als er zur Teilnahme an der JamaiJoschka Fischer aus der Politik hat bei den ge, könne man „eine Überschwemmung ka-Sondierung eingeladen wurde. Auf dem Grünen eine andere Zeitrechnung begon- pro Wahlkampf“ nahezu fest einplanen – Oldenburger Parteitag will der Alte nicht erscheinen. nen. „Jetzt haben wir die Chance, einen samt anschließender Klimadiskussion. Baden-Württemberg gilt vieneuen Raum zu betreten“, len Grünen als prädestiniert für schwärmt Renate Künast, die den Aufbruch in ein neues Zeitfrisch gewählte Vorsitzende der alter. Schon 1992 verhandelten Bundestagsfraktion. „Die Zeit CDU-Ministerpräsident Erwin ist reif, aus dem Rechts-linksTeufel und sein späterer NachSchema auszubrechen“, analyfolger Günther Oettinger 14 siert Grünen-Vordenker Ralf Tage lang mit den Ökos über Fücks, Chef der parteinahen eine Regierungsbildung. Man Heinrich-Böll-Stiftung. „Die inkennt sich. novativen Lösungen sind die Bei der Beobachtung des polagerübergreifenden.“ tentiellen Partners gehen die Innovativ müssen die GrüMeinungen aber auseinander. nen sein, schon allein, um nicht In Stuttgart glauben viele Grüin der Bedeutungslosigkeit zu ne, Oettinger suche einen verschwinden. Mit der bevorWechsel weg von der FDP, stehenden Entlassung der letzschon um sich bundespolitisch ten Minister Fischer und Jürgen interessant zu machen – als ersTrittin werden die Grünen zur ter schwarz-grüner Landeschef. reinen Oppositionspartei de- Grüne Kretschmann, Berninger: Offenheit signalisiert
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MICHAEL KAPPELER / DDP
Nach dem Ende von Rot-Grün in Berlin strebt die Öko-Partei Koalitionen mit der CDU auf Landesebene an – die Annäherung ist in den eigenen Reihen umstritten.
Deutschland Andere sind skeptischer: „Oettinger geht mit allen Wein trinken, aber das sagt nichts aus über sein Verhalten nach der Wahl“, spöttelt der ehemalige Grünen-Fraktionschef Dieter Salomon, heute Oberbürgermeister in Freiburg. „Ein schwarz-grünes Bündnis in Baden-Württemberg wird es im nächsten Frühjahr nicht geben.“ Dafür sei die Zeit noch nicht reif – leider. Lockerungsübungen machen auch andere grüne Landesverbände. Selbst in Hessen, wo das rot-grüne und das schwarzgelbe Lager traditionell tief verfeindet sind, signalisiert Landesparteichef Matthias Berninger Offenheit: „Wenn die SPD mit der CDU koaliert, dürfen wir das auch.“ Probehalber wollen die hessischen Grünen schon mal „multioptional“ in die Kommunalwahlen im Frühjahr gehen. Warnungen seiner Bundesvorsitzenden Roth vor den kulturellen Gräben zwischen Schwarzen und Grünen wischt Berninger beiseite: „Die ist doch sonst für Multikulti.“ Manche in der Partei hängen freilich einer ganz anderen Farbenlehre an. Der Altlinke Hans-Christian Ströbele zum Beispiel sagt: „Ich sehe mich fast als die Inkarnation von Rot-Rot-Grün.“ Als einziger Grüner wurde Ströbele direkt in den Bundestag gewählt, zum zweiten Mal. Der Befürworter der „Kuba-Koalition“ (Parteispott) errang in seinem Heimatbezirk Berlin-Kreuzberg 53 Prozent der Erststimmen. „Wenn ich im Wahlkampf gesagt hätte, vielleicht gibt es auch ein Bündnis mit der Union, hätte ich verloren“, glaubt er. Ströbele ist nicht allein. „Wenn die Linkspartei sich stabilisiert, müssen wir auch mit denen reden“, findet der nordrhein-westfälische Parteichef Frithjof Schmidt. Schon formiert sich an der Basis Widerstand gegen Schwarz-Grün. Rund 30 Parteilinke aus ganz Deutschland trommelte der münstersche Grünen-Chef Wilhelm Achelpöhler vorvergangenen Samstag im Kreisbüro in der Bremer Straße zusammen. Achelpöhlers Gefolgsleute sehen aus wie dem Partei-Geschichtsbuch entsprungen. Man trägt Wollpullis und bedeckt die langen Haare mit selbstgestrickten Mützen. Christian Meyer aus Niedersachsen sagt: „Wir sollten die Option nach links offen halten.“ Achelpöhler ist dafür, „gegen die CDU in die Opposition zu gehen statt zu überlegen, wie man koalieren kann“. Die einen träumen von Jamaika, die anderen von Kuba. Beim Parteitag diese Woche könnte es zu einer offenen Richtungsdebatte kommen. „Irgendwann müssen die Grünen sich auch mal entscheiden“, findet der Hesse Berninger, ob sie eher der CDU oder der PDS als Partner zuneigten. „Das Schlimmste wäre ein Burgfrieden nach der Devise: Wir bleiben lieber in der Opposition.“ Ralf Beste, Katharina Heimeier d e r
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TIM BRAKEMEIER / DPA
endlosen Selbstdarstellungsmonologe noch gut aus SPD-Zeiten, „wo man bis Mitternacht redet und am Ende keiner mehr weiß, was man eigentlich beschlossen hat“. Die Vorgabe von oben ist daher eindeutig: Disziplin, Disziplin, Disziplin. Das fragile Gebilde aus meinungsstarken Egomanen und absoluten Polit-Neulingen will einen Fehlstart als Chaostruppe vermeiden, um den schönen Sieg nicht gleich wieder zu verspielen. Die Beispiele anderer Überraschungswahlsieger, etwa der DVU in Landesparlamenten, dienen der Parteispitze als Warnung. Die Angst ist vielschichtig, dass einer der im parlamentarischen Alltag unerfahrenen Abgeordneten – egal ob Student, Professor, Gewerkschafter, ehemals Langzeitarbeitslose wie Elke Reinke oder Politikpolterer wie der Liedermacher Diether Dehm – die neue Linke im Bundestag mit Fehltritten in Verruf bringt. Wahlkampfmanager Bodo Ramelow, nun Fraktionsvize, und Ex-SPDler Ulrich Maurer als parlamentarischer Geschäftsführer sollen die bunte Truppe bewachen. Vorsorglich erließ Ramelow schon mal eiFraktionsführer Lafontaine, Gysi nen internen Verhaltens-Ukas: Um negative Schlagzeilen zu verhindern, sollen die Abgeordneten immer Rücksprache halten, wenn ihnen Fragen von Journalisten „seltLINKSBÜNDNIS sam“ erscheinen. Und Gesine Lötzsch, seit 2002 zusammen mit Petra Pau im Bundestag, gab den Neulingen zusammen mit Co-Referent Gregor Gysi ein Einführungsseminar „Leben mit Diäten“. Für die Diäten, mahnte Die Bundestagsfraktion des Bündnisses Die Linke.PDS soll sie, seien wie für die Kostenpauschale jeals Modell für die geplante Fusion zur sozialistischen Einheitspartei weils eigene Konten einzurichten. Vom Diätenkonto müssten jeden Monat 1500 dienen. Doch Ost und West tragen auch hier alte Konflikte aus. Euro fürs Finanzamt zur Seite gelegt werm Gästebuch hinterlassen sie Harmo- manches Sparprogramm und Hartz-IV-Ge- den. Und: „Die Steuererklärung nicht vergessen!“ nie-Spuren: „Wir hatten eine schöne setz umgesetzt haben. Die zweite Strömung kristallisiert sich Symptomatisch für das Misstrauen, das Tagung und haben gut geschlafen“, notierte Oskar Lafontaine zufrieden mit blau- im Gewerkschaftsflügel westlicher Prägung durch die Fraktion wabert, ist auch der er Tinte, und Gregor Gysi konnte das pro- mit SPD-Stallgeruch. Motto: „Kompromis- Umgang mit dem Allzwecklinken Dehm, blemlos so mit unterschreiben. Draußen se frühestens nach dem zweiten Warn- der bereits das ganze Spektrum von der herrschte eitler Herbstsonnenschein, in der streik“, wie es der Bundestagsneuling Wer- SPD bis zur PDS durchwandert hat. Er hatMittagspause mundete sautiertes Lamm- ner Dreibus formuliert. Diese Gruppe ist in te einst den ehemaligen PDS-Bundesfilet mit Fenchelgemüse, und am äußers- Tarifverhandlungen gestählt, ausgestattet geschäftsführer und jetzigen Fraktionskolten Südostrand Berlins bot die Akademie mit Hinterzimmer-Sitzfleisch und ergebnis- legen Dietmar Bartsch in der Parteizentrale gezielt gemobbt und die Partei an den Schmöckwitz mit Bootssteg und viel Grün offener Debattierlust. Oskar Lafontaine mahnte auf der Klau- Rand einer Krise getrieben. Die Ossis in die idyllische Kulisse für die erste Klausursur schon mal vorsorglich, er kenne die der Fraktion registrierten deshalb argwöhtagung der neuen Linksfraktion. nisch, dass Lafontaine den Wessi Doch hinter der Tür des Raums „MügDehm gleich in der ersten Sitzung gelsee“ war es am vorvergangenen Wo„meinen Freund“ nannte – und so in chenende schnell vorbei mit der Ruhe. Die vorläufige Schutzhaft nahm. Dehm zweitägige Schnupperrunde erlebte bei den hörte die Signale und suchte in den Vorstandswahlen erst eine Kraftprobe der Sitzungspausen gezielt die friedliche Frauen und dann einen Vorgeschmack auf Koexistenz mit Bartsch: „Wollen wir künftige Kampflinien zwischen Ost und Skat spielen?“ West, Ex-PDS und WASG. Mit dem bisschen Frieden war es Auf der einen Seite formieren sich die aber schon bei den VorstandswahReformgenossen Ost um Gregor Gysi und len vorbei. Die Linksfraktion sieht Lothar Bisky, die ihre Partei mittelfristig zu sich in der ungemütlichen Lage, dass einer koalitionsfähigen sozialen Bürgerzwar der Löwenanteil der 8,7 Prorechtspartei ausbauen wollen – für ganz zent bei der Bundestagswahl im Deutschland. Sie setzen auf die Parlamentspraxis ihrer Landespolitiker, die schon Wahlsieger Lafontaine, Gysi: Fehlstart vermeiden Osten eingefahren wurde, die Ost-
Ein bisschen Frieden
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Berliner Linksbündnis-Anhänger am Wahlabend: „Die Steuererklärung nicht vergessen“
vertreter mit 23 Abgeordneten gegenüber 31 aus dem Westen aber nun in der Minderheit sind. Die komplizierte PDS-WASGGemengelage behindert die Fusion zu einer sozialistischen Einheitspartei. Bei den Wahlen zur Fraktionsführung gab es gleich zwei prominente Opfer. Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler und WASG-Mitbegründer Axel Troost mochte in seiner Bewerbungsrede zum Sprecher für Wirtschaft und Finanzen nicht darauf verzichten, den Ex-PDSlern erst mal klar zu machen, dass sie 15 Jahre lang der falschen Politik nachgelaufen seien. „Da ging bei vielen Ossis die rote Lampe an“, sagt ein Fraktionsmitglied. Troost unterlag überraschend gegen die eher unbekannte Ostdeutsche Barbara Höll mit 23 zu 28 Stimmen. Auch sein WASG-Gründungskollege Klaus Ernst wurde durchgereicht: Er verlor gegen die weithin unbekannte WASG-Genossin Inge Höger-Neuling die Wahl zum Fraktionsvize. Lafontaine stellte sie später der Öffentlichkeit als „Inge … äh …“ vor – bis ihm jemand mit dem Namen der Betriebswirtin aus Nordrhein-Westfalen aushalf. Langfristig werden die abgewatschten WASG-Gründer aber noch gebraucht, weil sie zusammen mit Ostchef Lothar Bisky den Vereinigungsprozess vorantreiben sollen. Bisky, durch seine Nominierung für das Bundestagspräsidium gestärkt, organisierte vergangene Woche eilig ein Geheimtreffen der Bündnisführungen. Dem erfahrenen Polit-Strategen ist längst klar, dass die Fraktion ohne gemeinsame Partei im Rücken keine Überlebenschance hat. Doch was das angeht, sind die Wähler skeptisch: 51 Prozent der Deutschen glauben, dass nicht zusammenwächst, was zusammenwachsen soll (siehe Grafik). Dabei sieht das Plansoll schon im nächsten Jahr die Fortsetzung der Westerweiterung mit dem Einzug in den Landtag von Rheinland-Pfalz vor. Bisky mahnte daher intern, kleinliche inhaltliche Differenzen zurückzustellen angesichts der historischen 38
Chance, endlich eine schlagkräftige Partei links von der SPD zu etablieren. Doch die WASG in Rheinland-Pfalz fürchtet, der Stallgeruch der Ex-PDS könne nur schaden. Auch in Berlin ist das Klima noch eisig. Dort war die WASG eigens gegründet worden, um gegen die von der PDS mitgetragene Sparpolitik im rot-roten Senat zu kämpfen. Jetzt mit ihr gemeinsame Sache zu machen, so die Angst, würde beim Wähler Glaubwürdigkeit kosten. Auf welchem Niveau die Auseinandersetzungen inzwischen angelangt sind, zeigte sich, als PDS-Mann Stefan Liebich als Gastredner bei der Hauptstadt-WASG auftrat. Begrüßt wurde er mit einer Gurke. Die Bundestagsfraktion, so die Hoffnung, soll nun beweisen, dass die beschworene Einheit in der Praxis tatsächlich funktionieren kann. Der SPD wollen die linken Genossen dabei die Rolle des sozialen Gewissens streitig machen, den Grünen den verblassenden Nimbus als Anti-Kriegs-Partei, Union und FDP gelten wegen ihres „neoliberalen Mainstreams“ (Lafontaine) als natürliche Gegner. „Der Druck ist groß“, sagt Bodo Ramelow. Deshalb haben die vereinten, aber längst nicht geeinten Linken das Trittbrettfahren als neuen Politikstil entdeckt. UMFRAGE: LINKSPARTEI
„In Zukunft wollen sich Die Linke.PDS und WASG zu einer Partei zusammenschließen. Glauben Sie, dass ein Zusammenschluss dieser beiden Parteien funktioniert?“
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TNS Infratest für den SPIEGEL vom 4. bis 6. Oktober; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“
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Nach und nach werden sie all das beantragen, was SPD-Linken, aber auch vielen Bündnis-Grünen einst heilig war: Vermögensabgabe, Erbschaftsteuer, Ausbildungsplatzabgabe, Investitionsprogramm, keine deutsche Soldaten im Ausland. „Lauter Anträge, die jeder Sozialdemokrat eigentlich guten Gewissens unterstützen müsste“, sagt der neue parlamentarische Geschäftsführer Ulrich Maurer listig. Dabei wird aufs Copyright keinerlei Rücksicht genommen: Für den Antrag auf Ausbildungsplatzabgabe bedient sich die Linke wortgetreu beim verstaubten Papier der SPD. Sollte die SPD dann „irgendwann wieder sozialdemokratisch werden“ (Gysi), könne man auch über eine Zusammenarbeit reden, so der Zukunftsplan. Voraussetzung für den Erfolg im Klassenkampf ist aber Ruhe an der innerparteilichen Front. Doch da existiert neben der Mauer zwischen Ost und West noch eine weitere: Knapp die Hälfte der Fraktion besteht aus Frauen. Die halfen sich gegenseitig in Ämter und besetzen nun
CHRISTIAN DITSCH / VERSION
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Linksbündnis-Abgeordnete Maurer, Bisky
„Wir kennen uns ja noch nicht so gut“
9 der 14 Posten im erweiterten Fraktionsvorstand. Die Dominanz ruft die Männer auf den Plan. „Die Zahl der Männer in der Fraktion spiegelt sich überhaupt nicht im Vorstand wider“, schmollt Gysi – deutet das aber in das Etikett „modern“ um. So sei die „sehr interessante Konstellation entstanden, dass Oskar und ich in den Fachbereichen nur Stellvertreterinnen haben“. Verlierer Klaus Ernst dagegen sieht sich eindeutig als Opfer der weiblichen Seilschaft und mäkelte: Die Frauenquote in der Fraktionsleitung gebe nicht den Wählerwillen wieder – beim Urnengang habe das Linksbündnis bei den weiblichen Wählern nicht besonders gut abgeschnitten. Wie da eine Fusion klappen soll, „ist mit diesen Personalentscheidungen noch nicht absehbar“, zeigte sich selbst das „Neue Deutschland“ skeptisch. Auch die bunte Truppe mag so fest nicht an sich glauben: Vorsorglich wurde die Amtszeit der Fraktionsführung auf zwölf Monate begrenzt. „Wir kennen uns ja noch nicht 51 % so gut“, sagt Gysi. Ulrich Maurer begrüßte in der ersten Fraktionssitzung seine Schützlinge vielsagend: „Ich freue mich auf euch. Aber fragt mich in einem Jahr noch mal.“ Markus Deggerich
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Wir im Staat“ Bundesinnenminister Otto Schily, 73, über Pressefreiheit in Deutschland, das Schutzbedürfnis der Obrigkeit und seine Zukunftspläne
MARCO-URBAN.DE
Schily: Die Fraktion werde ich schon überzeugen. Es sind doch nur ein paar Hanseln, die mich kritisieren. SPIEGEL: Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD, gehört dazu. Schily: Herr Wiefelspütz ist nicht die Instanz, das zu beurteilen. Er hätte gut daran getan, sich erst einmal richtig zu informieren, bevor er sich in der Presse verbreitet. SPIEGEL: Monika Griefahn, Vorsitzende des Kulturausschusses und ebenfalls Mitglied Ihrer Fraktion, nennt die Aktion empörend und fordert Sie auch auf, sich bei den Journalisten zu entschuldigen. Schily: Frau Griefahn sollte sich bei mir entschuldigen für ihr törichtes Gerede. SPIEGEL: Frau Griefahn hat auch angekündigt, die SPD-Fraktion wolle mit Ihnen ein klärendes Gespräch in der Angelegenheit führen. Schily: Ich bin gern bereit, mit Frau Griefahn ein klärendes Gespräch zu führen, um ihr einige elementare Kenntnisse über das Straf- und Strafprozessrecht in Erinnerung zu bringen. Das hätte sie vor leichtfertigen Äußerungen vor der Presse bewahrt. SPIEGEL: Die Grünen-Chefin Claudia Roth wirft Ihnen einen Angriff auf die Demokratie vor. Alles notorische Schily-Gegner, die einfach nicht begreifen wollen, dass der Staat vor den Medien geschützt werden muss? Schily: Der Vorwurf von Frau Roth ist an Albernheit nicht zu übertreffen. SPIEGEL: Vor dem Innenausschuss des Bundestags werden Sie an diesem Donnerstag Rede und Antwort stehen für die Aktion der Staatsanwaltschaft, die ohne Ihre Ermächtigung nicht möglich gewesen wäre. Schily: Ich freue mich darauf, mit den Abgeordneten des Innenausschusses noch einmal zusammenzukommen und ihnen den Sachverhalt zu erläutern. Ich bin doch sehr erstaunt über die Rechtsunkenntnis einiger Abgeordneter. SPIEGEL: Herr Minister, offenbar ist es doch so, dass es im Bundeskriminalamt (BKA) eine undichte Stelle gab und dass es dieser undichten Stelle ziemlich leicht gemacht wurde. Auf das vertrauliche Papier, das „Cicero“ auszugsweise zitierte und das den Hintergrund von al-Qaida beleuchtete, hatten 269 Mitarbeiter des Amtes Zugriff. Ent-
Sozialdemokrat Schily: „Nur ein paar Hanseln“ SPIEGEL: Herr Schily, in den Privaträumen
des „Cicero“-Journalisten Bruno Schirra fand eine achtstündige Durchsuchung statt. 15 Kisten mit vertraulichem Recherchematerial aus zehn Jahren wurden beschlagnahmt. Und das alles, um eine undichte Stelle im Bundeskriminalamt aufzuspüren. War diese Polizeiaktion verhältnismäßig? Schily: Ich werde mit Ihnen keinen Einzelfall diskutieren. Ich führe nicht das Ermittlungsverfahren und treffe auch keine richterlichen Entscheidungen. Die einzige Entscheidung, die in diesem Fall in meinem Zuständigkeitsbereich getroffen wurde, war die, ob eine Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt wird. Dies ist bei Fällen, bei denen der Verdacht auf Verletzung des Dienstgeheimnisses besteht, gesetzlich so vorgeschrieben. SPIEGEL: Diese Ermächtigung wurde erteilt. Mit Ihrer Kenntnis? Schily: Das hat das Haus entschieden. Ich bin anschließend informiert worden. Aber das ist auch in Ordnung so. SPIEGEL: Also fand die Durchsuchung nicht auf Ihre Initiative statt? Schily: Welche Ermittlungsmaßnahmen die Staatsanwaltschaft für erforderlich hält und 40
gegen wen sie ermittelt, ist allein ihre Sache. In einem Rechtsstaat wird eine Durchsuchung selbstverständlich durch einen Richter und nicht durch einen Innenminister angeordnet. Wir hatten lediglich zu prüfen, ob durch ein Ermittlungsverfahren dem Staat wesentliche Nachteile drohen. Das musste sorgfältig erwogen werden. SPIEGEL: Haben Sie sorgfältig abgewogen? Schily : Das Ministerium hat richtig entschieden. SPIEGEL: Auch politisch? Schily: Was heißt politisch? Es geht nicht um politische Erwägungen. Weil der SPIEGEL und andere mich angreifen? Das halte ich aus. SPIEGEL: Werden Sie die Ermächtigung zur Strafverfolgung zurücknehmen – als symbolischen Akt gegenüber Ihren Kritikern? Schily: Ich denke gar nicht daran. Die Einleitung des Ermittlungsverfahrens ist völlig in Ordnung. So, wie Sie als Journalisten einen Anspruch darauf haben, dass wir Ihr Redaktionsgeheimnis achten, hat der Staat einen Anspruch darauf, seine Sphäre zu schützen. SPIEGEL: Auch in Ihrer Partei, der SPD, wird die Verhältnismäßigkeit dieser Aktion weithin angezweifelt. d e r
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EVENTPRESS HERRMANN (L. A.)
weder war das Papier nicht so geFall des Leuna-Vermittlers Dieter Holzer. Das würde ich nicht kritisieren. heim, wie Sie tun, oder die Geheimhaltung wird nicht so ernst geDas würde ich sogar sehr begrüßen. nommen, wie es nötig wäre. Muss SPIEGEL: Sie haben von den Sichersich da der Dienstherr nicht an die heitsinteressen des Staates gesproeigene Nase fassen? chen, die geschützt werden müssten. Welches Sicherheitsinteresse des Schily: Ich werde mich nicht dazu Staates war denn berührt bei der äußern, wie viele BKA-Mitarbeiter Veröffentlichung dieses Dokuments? zu vertraulichen Dokumenten Zugang haben. Aber für jeden EinzelSchily: Es ist gerade zur Abwehr des nen muss die Einhaltung der strafTerrorismus wichtig, dass der Kenntbewährten Pflicht zur Geheimhalnisstand der Behörde nicht am tung selbstverständlich sein. Und schwarzen Brett ausgehängt wird. was heißt an die eigene Nase fassen? „Cicero“-Mitarbeiter Schirra: Acht Stunden Durchsuchung Über den Geheimhaltungsschutz Das ist ungefähr so, als würden Sie entscheiden wir im Staat – und nicht einem Bestohlenen sagen, du hättest dich sozusagen eine Freizeichnungsklausel, die Sie! Das müssen Sie lernen, sonst kommen einmal darum kümmern müssen, dass du Sie von der Bindung an das Strafrecht be- wir in einen Konflikt. nicht bestohlen wirst. Weil du das nicht ge- freit, dann sind Sie auf dem Holzweg. Ge- SPIEGEL: Aus Ihrer Zeit als Ankläger im tan hast, darf jetzt beim Hehler nicht durch- heimnisverrat ist nicht irgendeine Ord- Flick-Untersuchungsausschuss wissen Sie gesucht werden. nungswidrigkeit. So kann man mit dem nau, dass Informanten nur dann bereit sind, Informationen weiterzugeben, wenn sie sich SPIEGEL: Als Verfassungsminister würden Staat nicht umspringen. es Ihnen gut anstehen, die Pressefreiheit, SPIEGEL: Fragwürdig ist vor allem der Um- sicher sein können, dass die Journalisten die Meinungsfreiheit, den Informanten- fang der Durchsuchung. Bei dem Journa- ihre Quellen wirklich schützen können. Das schutz und das Recht der Redaktionen auf listen wurde Material beschlagnahmt, das ist die Voraussetzung für investigativen JourZeugnisverweigerung zu schützen und es weit über die gesuchten Hinweise auf Tipp- nalismus. Und gründliche Recherchen sind eine Voraussetzung für Pressefreiheit. nicht zu unterspülen. geber aus dem BKA hinausgeht. Schily: Sehen Sie sich einmal die Recht- Schily: Es gibt im Rahmen eines Ermitt- Schily: Ich bin lange genug im politischen sprechung des Bundesverfassungsgerichts lungsverfahrens auch Zufallsfunde, das ist Geschäft, um den investigativen Journalisan. Das ist der höchste Hüter der Verfas- zulässig. Aber unterstellen Sie einmal hypo- mus durchaus positiv zu würdigen. Ich sung. Da können Sie nachlesen, dass die thetisch, dass die Ermittler so zu Erkennt- habe auch den SPIEGEL und andere ZeiPressefreiheit Journalisten nicht von der nissen gelangen würden, die zum Beispiel im tungen für diese Art des Journalismus imAchtung der allgemeinen Gesetze befreit. Fall des früheren Staatssekretärs Holger mer gelobt und werde das auch weiterhin Wenn Sie denken, die Pressefreiheit sei Pfahls weiterführen könnten. Oder auch im tun. Aber wo ist hier der Skandal, der auf-
FOTOS: MARCO-URBAN.DE
Berliner Journalisten (im Bundeskanzleramt): „Ich habe auch das Recht zu kritisieren“
zudecken ist? Ist es ein Skandal, wenn das Bundeskriminalamt ermittelt wegen Terrorismusgefahr? SPIEGEL: Der Fall „Cicero“ besitzt hohe Symbolkraft. Andere Informanten werden es sich jetzt zehnmal überlegen, ob sie den Schritt in Richtung Öffentlichkeit wagen. Schily: Die Weitergabe geheimer Unterlagen ist laut Gesetz strafbar, auch die Beihilfe dazu. Wir sollten gemeinsam daran interessiert sein, dass die Gesetze eingehalten werden. Sie sollten die Rechte der Medien nicht absolut setzen. In einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Oktober 1987 heißt es: Presse- und Rundfunkfreiheit dürften nicht als umfassende Privilegierung für jegliche Nachrichtensammlung und -verbreitung verstanden werden. Wo sie auf andere gewichtige Interessen des freiheitlich-demokratischen Staates stoßen, können diese nicht einfach hintangesetzt werden, vielmehr bedarf es der sorgfältigen Abwägung. Und dieses zu entscheiden kommt in erster Linie dem Gesetzgeber zu. SPIEGEL: Die Straftat wurde im Bundeskriminalamt begangen und nicht in einer Zeitungsredaktion. Schily: Der Journalist hat womöglich Beihilfe geleistet. SPIEGEL: Das entscheiden die Gerichte und nicht der Minister. Schily: So ist es. Nicht der Minister, aber auch nicht der SPIEGEL. SPIEGEL: Das Irritierende ist doch, dass die Gerichte in keinem uns bekannten Fall einen Journalisten wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat verurteilt haben. Es gab nach einer Erhebung des JournalistenVerbandes im Zeitraum von 1987 bis 2000 rund 150 Fälle von Durchsuchungen und Beschlagnahmungen in Verlags- und Rundfunkhäusern. Aber nicht eine Verurteilung. Schily: Ich kenne eine solche Statistik nicht und weiß auch nicht, ob die Fälle vergleich-
bar sind. Aber ich bleibe dabei, dass Pressefreiheit nicht von der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften befreit. SPIEGEL: Bei einem Auftritt auf dem Jahrestreffen der Zeitungsverleger haben Sie die Medien auch aufgrund ihrer Wahlkampfberichterstattung angegriffen. Der Kanzler sprach am Wahlabend von „Medienmanipulation“, die es gegeben habe. Können Sie diese Vorwürfe belegen? Schily: Ein Beispiel unter vielen ist die Bildauswahl. Ich habe die letzte Bundestagsdebatte live miterlebt. Der Kanzler war in Hochform, zwei Minister von uns gaben eine glänzende Vorstellung, sie wurden mit Ovationen gefeiert. Und wie war die Bildauswahl in einer großen Tageszeitung? Man sieht den Kanzler die Stufen heruntergehen, als hätte er die Wahl quasi schon verloren. Frau Merkel dagegen, die an diesem Tag wirklich schwach war, sieht man inmitten jubelnder Abgeordneter. Das hatte durchaus manipulativen Charakter. SPIEGEL: Die rot-grüne Regierung wurde abgewählt, ist unglücklich darüber und greint. Ist es nicht so schlicht? Schily: Schauen Sie mal, was die „Bild“Zeitung kurz vor der Wahl gemacht hat. „Schröder wird wohl Millionär“, war da zu lesen. Was glauben Sie, welchen Eindruck eine solche Schlagzeile vermitteln sollte? SPIEGEL: Das war alles, was Sie störte? Schily: Ich könnte Ihnen zahllose weitere Beispiele nennen. Rot-Grün stehe nicht mehr zur Wahl, hieß es überall. Der Kanz-
* Roland Nelles und Gabor Steingart am vorigen Freitag im Bundesinnenministerium.
Schily, SPIEGEL-Redakteure*
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„Die Fraktion werde ich überzeugen“ d e r
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ler sei auf Abschiedstournee. Und als das Volk im Jahr 2002 anders entschieden hatte, als man es herbeischreiben wollte, hieß es in einer großen Tageszeitung wörtlich, das Volk habe seine Macht missbraucht. Das ist ein seltsames Demokratieverständnis, denn das Volk ist der Souverän und nicht die Medien. SPIEGEL: Schreibt man da nicht besser einen Leserbrief? Wenn einer wie Sie, mit Ihrer Kriegs- und Nachkriegserfahrung, sich zu Wort meldet, würde man Gravierenderes erwarten als ein paar ärgerliche Artikel. Schily: Sie dürfen mich kritisieren, aber ich habe auch das Recht, Sie zu kritisieren. Der Artikel 5 des Grundgesetzes gilt auch für mich. SPIEGEL: Haben Sie mit Ihrer Kritik überzogen? Schily: Ich habe sicherlich mitunter die Kritik zugespitzt. Aber nur so bringt man Debatten in Gang. SPIEGEL: Werden Sie einer neuen Regierung angehören wollen? Schily: Wenn Gerhard Schröder noch einmal Kanzler wird, was ich hoffe, und mich darum bitten würde weiterzumachen, werde ich es mir überlegen. SPIEGEL: Gibt es in Ihrer Partei eine Nachwuchskraft, die Ihnen folgen könnte? Schily: Brigitte Zypries könnte ich mir sehr gut als Innenministerin vorstellen. Sie war früher schon einmal als Staatssekretärin hier im Hause und leistet jetzt als Justizministerin exzellente Arbeit. SPIEGEL: Sie wurden zwischenzeitlich als neuer Außenminister gehandelt. Würde Sie das Amt reizen? Schily: Ich bereite mich zurzeit nur auf das Amt des Alterspräsidenten vor. SPIEGEL: Einen Rentner Schily können wir uns nicht so recht vorstellen. Und Sie? Schily: Abgeordneter zu sein ist eine wichtige und spannende Aufgabe. Auch wenn ich dem Kabinett nicht mehr angehören sollte, werde ich mich nicht hinter den Ofen hocken. SPIEGEL: Herr Schily, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
THORSTEN GUTSCHALK / ACTION PRESS
Deutschland
Jurist Kirchhof (in seinem Heidelberger Institut): „Ich hätte es mir nie verziehen, eine solche Möglichkeit ungenutzt zu lassen“ KARRIEREN
Die verlorene Ehre des Professors K. Mit dem Steuerexperten Paul Kirchhof wollte Angela Merkel die Wahl gewinnen. Er wurde schnell zu ihrer schwersten Belastung. Vier Wochen reichten, seinen Ruf zu ruinieren. Der Professor aus Heidelberg hat sein Scheitern noch nicht verkraftet. Von Marc Hujer
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as am Schluss bleibt, passt in einen Klarsichtordner von Leitz, 70 Seiten, mit Paragrafen und Abkürzungen gefüllt. Paul Kirchhof blättert darin und streicht voller Stolz über die Seiten, die vor kurzem noch der Schrecken der CDU-Wahlkämpfer waren. Es ist die Liste der Steuerausnahmen, die er als Finanzminister abschaffen wollte. Er hält sie in der Hand und sitzt da wie ein Großvater mit einem Familienalbum. „L steht für Lenkung“, sagt der Professor, „P für Privileg.“ Er fährt mit dem Finger die Tabelle entlang, erläutert, erklärt, kennt jedes Detail, bis er ganz unten angekommen ist, auf Seite 70, bei Nummer 511. „Wir haben jetzt 511 Ausnahmen identifiziert“, sagt er, „wir haben das vor kurzem aktualisiert.“ Das Steuermodell ist sein Lebenswerk. 18 Jahre hat er daran gearbeitet, doch jetzt ist klar, dass die Arbeit vergebens war. Kirchhof ahnt es, aber er will es nicht wahrhaben. Ein paar Wochen lang sah es so aus, als könnte er Finanzminister der Bundesrepu-
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blik Deutschland werden. Der 62-Jährige war die Hoffnung der Union, er sollte den Aufbruch verkörpern. Doch inzwischen steht er als Egomane da, als herzloser Radikalreformer, als Eiferer wider die soziale Gerechtigkeit, als der Mann, welcher der Union den sicher geglaubten Wahlsieg verdorben hat. Er hat eine Irrfahrt erlebt. Für ihn war es eine Höllenfahrt. Der Jurist will in sein altes Leben zurück, in den Alltag der Vorlesungen, der Vorträge und Podiumsdiskussionen. Kirchhof schreibt Gutachten und betreut Forschungsprojekte. „Ich bin gern wieder eingetaucht und genieße ein bisschen, dass ich wieder mehr Freiheit habe“, sagt er, und es soll so klingen, als wäre alles wie vorher. Doch nichts ist mehr, wie es war. Wer ihm begegnet, fragt mitleidig, ob es ihm gut gehe oder ob er jetzt auswandern müsse. Vor sechs Wochen noch war er ein hochangesehener Staatsbürger, inzwischen ist sein Ruf ruiniert. Kirchhof sitzt am Schreibtisch des Finanz- und Steuerrechts-Instituts an der d e r
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Heidelberger Universität. Alles ist ordentlich aufgeräumt, als habe er die Dinge im Griff. Er holt einen Artikel aus einer Terminmappe. Es ist die Entschuldigung eines Politikers, der an der Kampagne gegen Kirchhof mitgemacht hatte, sie ging vor ein paar Tagen ein. „Leider erst nach der Wahl“, sagt der Professor verächtlich. Was ändern diese Rechtfertigungen schon? „Ich habe in diesem Wahlkampf eine Funktion bekommen“, sagt er, „ich war kein Mensch mit einer Biografie.“ In Gedanken kehrt Kirchhof immer wieder zu dem Tag zurück, an dem seine Odyssee begann. An diesem Sonntag im Mai, als Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus vorsichtig bei ihm vorfühlte, ob er sich vorstellen könne, als Finanzminister in ein Kabinett Merkel einzutreten. Althaus gab ihm das Gefühl, sein Steuermodell könnte bald im Gesetzblatt stehen. Ob Kirchhof denn mit seinen Überlegungen tatsächlich nur „vorturnen“ und den anderen die „Kärrnerarbeit“ überlassen wolle? Kirchhof sagte: „Ich wäre bereit.“
winkten ab. „Nicht auch das noch“, riefen sie ihm zu, und er nickte. Es sah aus, als hätte er verstanden. Kirchhof sollte für die Union reden, aber als er zu reden begann, begannen auch die Probleme. „In den ersten zwei Wochen durfte er viel frei laufen“, hieß es später in der CDU-Wahlkampfzentrale – als hätte Merkel ein gackerndes Huhn ausgesetzt. Eines der ersten Interviews gab Kirchhof dem SPIEGEL an seinem bayerischen Ferienort. Das Steuerteam von der Uni Heidelberg war zu Gast. Er hatte den Mitgliedern eine Wanderung am Spitzingsee versprochen. Doch dann verzögerte sich alles. Zwar hatte Kirchhof den ausgeschriebenen Interview-Text bereits gelesen, doch das Adenauer-Haus war noch nicht fertig. „Wann können wir endlich das Theater erledigen?“, fragte er. Er könne sein Handy ruhig abstellen, sagte ihm ein Mitarbeiter der CDU. Er solle doch den Abend genießen. Nachts um halb eins kam Kirchhof nach Hause und sah die Änderungen, die in Berlin nachträglich eingefügt worden waren. Er war „befremdet“ und beschwerte sich am nächsten Morgen. Warum hat ihm die CDU Worte in den Mund gelegt, die er selbst nie sagen würde? Warum stand da
AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS
Christian Wulff klagte öffentlich, ein einheitlicher Steuersatz, wie ihn der Professor vorschlage, widerspreche dem „deutschen Gerechtigkeitsgefühl“. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Meister, behauptete, Kirchhof habe sich verrechnet. Kirchhof reagierte irritiert. „Donnerwetter“, sagte er sich, „die ziehen ja gar nicht mehr mit.“ Auf dem CDU-Parteitag am 28. August in Dortmund war Kirchhof noch immer der Stargast, er wurde mit großem Jubel begrüßt und war nach Merkel der gefragteste Gesprächspartner der Fernsehanstalten. Er saß auf dem Ehrenplatz neben Helmut Kohl. Auf dem Flug nach Dortmund hatte er Bayerns Innenminister Günther Beckstein getroffen. Sie redeten über Politik und Privates, auch über ihre Familien, aber irgendwann sagte Beckstein: „Die Parteien nehmen ihr Programm meistens ernster als die Theologen die Bibel.“ Kirchhof lachte. Er verstand den Satz als Scherz, dabei war er eine Warnung. Drei Tage später wurde der CDU klar, dass sie mit ihrem Superstar ein Problem hatte. Ein massives Problem. Auf dem SPDParteitag in Berlin ging der Kanzler den Juristen frontal an: „Wenn er sagt, die Rente könne behandelt werden wie die Kfz-Versicherung, dann ist das ein Menschenbild, das wir bekämpfen müssen. Menschen sind keine Sachen“, rief Gerhard Schröder in den Saal. Dieser „Professor aus Heidelberg“ sei eine „merkwürdige Gestalt“, ein „Mann der Kälte“, der die Deutschen zu seinen „Versuchskaninchen“ machen wolle. Kurz darauf ließ die SPD neue Plakate drucken: „Merkel/Kirchhof: radikal unsozial“. Kirchhof war fassungslos. Warum hatte ihn der Kanzler nicht vorher angerufen? Er Kirchhof (3. v. r.) in Merkels Kompetenzteam: „Donnerwetter, die ziehen ja gar nicht mehr mit“ hätte ihm doch alles erständlichkeit“, sagt er. Hat er also unter auf einmal „Rot-Grün“, obwohl er doch klären können. Vier Wochen zuvor war er falschen Voraussetzungen angeheuert? War von der „Bundesregierung“ gesprochen der angesehene Richter am Bundesverfassungsgericht a. D. gewesen, der Träger des nicht abzusehen, dass es mit seinem Modell hat? „Ich habe Rot-Grün nicht gesagt.“ Der Streit mit den Leuten von der CDU Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Ärger geben würde? „Das Problem habe ist ein Moment, den er nicht vergessen Schulterband der Bundesrepublik Deutschich nicht gesehen“, antwortet er. Warnhinweise gab es genug. Beim ersten kann. „Das war nicht meine Sprache“, ruft land, jetzt war er eine Lachnummer, die Treffen des Kompetenzteams im Berliner er. „Es ging hier um Individualität und der Regierungschef persönlich angeprangert hatte. Aus seinem privaten Faxgerät Konrad-Adenauer-Haus wollte der CDU- Identität.“ Es war eine Frage der Ehre. Die CDU war gewarnt. Generalsekretär quollen Hasstiraden, mit „allen SchmähunMinisterpräsident Peter Müller wissen, wie er eigentlich zur geplanten Mehrwert- Volker Kauder hätte den Finanzexperten gen, die es in der deutschen Sprache gibt“. steuererhöhung stehe. Natürlich sei er gern deutlicher auf das CDU-Wahlpro- In einer Lokalzeitung bezeichnete ihn jenicht glücklich darüber, antwortete Kirch- gramm verpflichtet, aber er wollte Kirchhof mand als „Triebtäter“. SPD-Mann Ludwig Stiegler dröhnte, das Kirchhof-Feuerwerk hof und verwies auf sein Forschungspro- nicht öffentlich desavouieren. In Interviews erweckte Kirchhof den sei abgebrannt, jetzt sähen die Menschen jekt, wonach man allein mit der Bekämpfung des Steuermissbrauchs mehr Geld Eindruck, er fordere eine Radikalreform „die stinkenden Hülsen“. Das Adenauer-Haus war entsetzt. Reeinnehmen könne als mit einer höheren der Rentenversicherung. Er bekam ZuMehrwertsteuer. Doch die Berufspolitiker stimmung, doch zunehmend auch Kritik. gelmäßig rief Merkel-Berater Willi HausAm 10. Juli telefonierte er mit Angela Merkel. Er sagte ihr, dass ihm das Unionsprogramm nicht weit genug gehe, dass es zu zögerlich, zu zaghaft sei, wenn auch richtig im Ansatz: „Da sollten wir applaudieren und mehr fordern.“ Einen Monat später fuhr er mit seiner Frau Jutta auf der A 8. Es war ein schöner Tag, sie freuten sich auf die freie Zeit in ihrem bayerischen Ferienort. Das Autotelefon klingelte, Kirchhof nahm ab, Frau Merkel wollte ihn sprechen. „Wir müssen reden“, sagte sie. Er vertröstete sie auf abends. Er ahnte, was sie wollte. So etwas bespricht man nicht am Autotelefon. Am Abend telefonierten sie eine halbe Stunde. Merkel fragte: „Sind Sie bereit, dem Kompetenzteam, und das heißt, einer Bundesregierung beizutreten, mit der Verantwortlichkeit für eine Reform des Steuerrechts?“ Sie redeten miteinander, aber den zentralen Punkt sparten sie aus. Verträgt sich Kirchhofs Modell überhaupt mit dem Wahlprogramm der CDU? Kirchhof greift nach seinem Terminkalender und überprüft noch einmal die Daten. Nein, natürlich hätte er nie zugesagt, wenn er keine Chance für sein Modell gesehen hätte. „Das war eine Selbstver-
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Deutschland hatte sich Kirchhof gegen Gerüchte gewehrt, Merkel habe ihm einen Maulkorb verpasst. Jetzt war für jeden klar, dass er nicht mehr sagen durfte, was er dachte. Die Vorsichtsmaßnahmen wurden verschärft. Kirchhof müsse in seinem Heidelberger Institut anrufen und seine Mitarbeiter auf strengste Geheimhaltung einschwören. Die Listen wurden bis auf ein Exemplar vernichtet, das in einem Schrank im Empfangszimmer des Professors eingeschlossen wurde. Die Mitarbeiter flöhten die Computer-Festplatten nach noch nicht gelöschten Versionen der Liste. Alle Spuren sollten verwischt, alle undichten Stel-
JOHANNES SIMON / DDP
mann bei ihm an, auch Kauder und Merkel meldeten sich bei ihm. Zweimal in der Woche wurde er zu den Telefonkonferenzen des Kompetenzteams geschaltet. Interview-Anfragen wurden abgesagt, die Aufpasser aus der CDU-Zentrale, die man ihm zur Seite gestellt hatte, zu erhöhter Wachsamkeit ermahnt. Kirchhof nahm die „fast väterliche, liebenswert vermittelnde Art“ seiner Berater wahr, aber manchmal hatte er das Gefühl, die Parteileute wollten ihn „in Armeestärke“ begleiten, „um mir hin und wieder ein Stichwort zu geben“. Ausgerechnet jetzt begann Kirchhofs offizielles Wahlkampfprogramm, mit zahl-
Wahlkämpfer Kirchhof*: Merkel war fassungslos, wie redselig der Professor war
reichen Terminen in der Provinz. In Schwerin saß er in einem Gasthof an einem langen Eichentisch zwischen CDU-Mittelständlern, die ihn bestärkten, anfeuerten, lobten. „Das Tor geht auf, und die Sonne kommt rein“, sagte Kirchhof. In den hinteren Reihen seufzte jemand „Amen“. Kurz darauf sagte er auf einer Pressekonferenz, er wolle noch mehr Vergünstigungen abbauen. „Für die nächste Legislaturperiode hoffe ich auf 400. Da will ich mich gar nicht begrenzen lassen“, sagte er. „Wenn wir die Tür einmal aufgestoßen haben, kommt da eine ungeheure Dynamik rein, die auch fast unaufhaltsam ist.“ Die Meldung der Deutschen PresseAgentur (dpa) sorgte im Adenauer-Haus für Anfälle von Panik: Kirchhof müsse das zurücknehmen, doch der Fehltritt ließ sich kaum noch vertuschen. Am frühen Abend meldete dpa immerhin eine korrigierte Fassung, in der es umständlich hieß, Kirchhof wolle „nicht schon bis 2009 möglichst alle der etwa 400 Steuervergünstigungen abbauen. Vielmehr wolle er zunächst die steuerpolitischen Vorschläge des Regierungsprogramms von CDU/CSU umsetzen“. Noch am Morgen * Am 8. September im Münchner Hofbräuhaus.
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len verstopft werden. Es ging schließlich um den Wahlsieg der Union. Jutta Kirchhof, die Frau des Professors, konnte den Druck kaum noch ertragen. Sie hatte bereits zwei Kilogramm abgenommen und rief schließlich selbst im Adenauer-Haus an. Ob man nicht endlich etwas gegen die Fehlinformationen und Diffamierungen unternehmen könne? Ihr Mann hoffte, dass nach der Wahl alles besser werde. „Dann kann man wieder offener sprechen“, sagte er in Verkennung der Berliner Gegebenheiten. Dann sei er Finanzminister und sitze zunächst einmal auf einem „Sack Geld“. „Und mit einem Finanzminister kooperiert man.“ Die Wahlstrategen im Adenauer-Haus waren verzweifelt, denn Kirchhof ließ sich allen Warnungen zum Trotz immer wieder „verleiten“. Als ein mögliches Comeback von Friedrich Merz öffentlich diskutiert wurde, sagte er tapfer drei Tage lang, dass er gern mit Merz zusammenarbeite, dann rutschte ihm der unglückliche Begriff „Tandem“ heraus, und sein Ausrutscher erregte zwei volle Tage lang die bundesdeutsche Wallungs-Demokratie. Kirchhof versteht die Regeln der Berliner „Vier-Augen-Gesellschaft“ nicht, die der frühere Schröder-Berater Bodo Homd e r
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bach beschrieben hat – in ihr gebe es einen tiefen Graben zwischen der öffentlichen Debatte, „in der Illusionen ungestraft verbreitet werden“ können, und der privaten Diskussion, in der man „sich stöhnend die Wahrheit sagt“. Kirchhof machte keinen Unterschied zwischen beiden Welten und trieb seine Aufpasser damit an den Rand des Wahnsinns. Bei einem Wahlkampfauftritt in Ostdeutschland berichtete er freimütig, dass er am Morgen noch Merkel in Berlin getroffen habe, um mit ihr zu besprechen, wie auf die jüngste Kampagne der SPD gegen ihn zu reagieren sei. Merkel war fassungslos, wie redselig der Professor war. Ein CDU-Mann stöhnte: „Er wollte niemandem eine Antwort schuldig bleiben.“ Die letzten Tage vor der Wahl wurde Kirchhof versteckt, so gut es ging. Möglichst unauffällig schleusten ihn Parteileute an den Medien vorbei. In Köln gelangte er über die Tiefgarage ins Rathaus, das Dorint-Hotel musste er über den Dienstpersonaleingang betreten und sich zwischen Service-Wagen hindurchschlängeln, in Bochum, im Rittergut Haus Laer, durfte er nicht einmal den roten Teppich benutzen und sollte den Saal durch eine Seitentür betreten. „Was soll das?“, fragte er seinen Begleiter. Doch er erwartete gar keine richtige Antwort mehr. Kirchhof geht an das Bücherregal in seinem Heidelberger Institut. Hier stehen Werke von ihm. Geschrieben und herausgegeben hat er rund 100 Titel. „Ein Wissenschaftler ist von seiner Zunft zur Transparenz verpflichtet“, sagt er, „alles, was er denkt und vorhat, hat er publiziert, das kann jeder nachvollziehen.“ Die Wahlschlappe, sagt er, werte er nicht als eine persönliche Niederlage. Er hat gerade ein neues Buch fertig gestellt, einen Sammelband staatsrechtlicher Schriften. „Als Politiker“, sagt er, „müssen Sie das Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit betreiben: die eigenen Vorzüge in das Licht der allgemeinen Aufmerksamkeit stellen und die eigenen Schwächen im Dunkeln des Unbewussten belassen.“ War es ein Fehler, in die Politik zu gehen? „Ich hätte es mir nie verziehen, eine solche Möglichkeit ungenutzt zu lassen.“ Er will ein Buch schreiben über den Wahlkampf. Nicht jetzt, denn dafür braucht er mehr Abstand. „In einem halben Jahr vielleicht.“ Dann könnte er sich auch vorstellen, dass Politiker wieder über sein Konzept reden, dass sie sich wieder trauen, seinen Namen zu nennen. Er glaubt nicht, dass der Wahlkampf seinen Ruf oder gar sein Lebenswerk zerstört hat. Nein, die Reform komme, wenn auch vielleicht unter anderem Namen. Bei seinen Auftritten werde er übrigens schon wieder gefeiert. „Hymnisch“, sagt Kirchhof. Es klingt ein wenig ironisch. Aber er meint es ernst. ™
Trauernde Bogner-Familie
FRANK MÄCHLER / DPA
„Er passte irgendwie nicht ins Schema“
JUGENDLICHE
Verloren im Glamour Der Prominenten-Sohn Bernhard Bogner wurde als Baby aus Brasilien nach München geholt. Sein Selbstmord offenbart die Konflikte vieler Adoptivkinder aus dem Ausland.
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Tod um einen Selbstmord handelte, dass ein Unfall oder eine Straftat völlig ausgeschlossen sei, war schnell klar. Auch stark betrunken sei der Junge nicht gewesen, von Drogen ebenfalls keine Spur. Eine Hängematte gibt es zwar im Dachzimmer, doch mit dem Tod des
KARO / IMAGO
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r konnte nicht genügen in der perfekten Welt. Nicht einmal in seinem Tod. Auch da hat er wieder was falsch gemacht. Sein Sterben durfte so nicht sein, es musste vertuscht werden. Kinder prominenter Multimillionäre und schöner Mütter, Kinder aus der schicken Oberklasse bringen sich nicht um. Sie sterben höchstens bei Unfällen. Der Schüler Bernhard Bogner, 17, Sohn der Skimode-Designer Willy und Sônia Bogner, hat es dann aber doch getan. Er hat sich am vorvergangenen Samstagabend im Dachgeschoss der elterlichen Villa in München-Bogenhausen erhängt. Mit zusammengedrehten Tüchern hatte er den Suizid vorbereitet. Der Junge war die geschwungene Treppe hochgestiegen zu den Schlafräumen, war in den Fitnessraum neben seinem Zimmer gegangen, und da war dann dieser Balken. Die Eltern weilten in Mannheim, und als die Haushälterin den Toten am nächsten Morgen fand, da galt für das geschockte Promi-Paar offensichtlich vor allem eines: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Und so gaben die Bogners über einen Pressesprecher des befreundeten BurdaVerlags folgende Version bekannt: Der geliebte Sohn sei erstickt, verheddert in den Seilen einer Hängematte, wohl infolge übermäßigen Alkoholeinflusses. Er habe zuvor mit Freunden auf dem Oktoberfest gefeiert. „Wir informieren Sie direkt, weil wir nicht möchten, dass in den Medien Gerüchte und Halbwahrheiten über den tragischen Unglücksfall kursieren.“ Staatsanwaltschaft und Polizei waren verblüfft. Denn dass es sich bei Bernhards
Bogner-Sohn Bernhard (2002)
Trotzig und wütend d e r
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Schülers hatte sie laut den Ermittlern nichts zu tun. Erst zwei Tage später wandten sich die Bogners wieder an die Medien. Die Polizei nehme bei dem tragischen Tod nun Selbsttötung an, hieß es diesmal. Und weil beide Mitteilungen konträr waren, passierte das, was die Bogners verhindern wollten: Es kursierten Gerüchte. Von einem Zusammenhang mit dem Selbstmord eines früheren Mitschülers aus dem Allgäu, der sich neun Tage zuvor mit Benzin übergossen und angezündet hatte, war die Rede. Von Homosexualität, gar einem geheimen Suizid-Zirkel im Schweizer EdelInternat in St. Gallen, das beide besuchten. Nichts davon ist belegt, aber es gibt eine Wahrheit, die schlichter scheint, wenngleich sie für die Eltern schwerer zu verstehen sein dürfte. Bernhard Bogner war ein Adoptivkind aus Brasilien. Und haben schon deutsche Jugendliche in der Pubertät Schwierigkeiten, ihren Platz zu finden, so gilt das wesentlich dramatischer für Kinder, die sich eine neue Identität in einem anderen Land suchen müssen. Und was für eine Identität hatten sie ihm angeboten: Vater Willy Bogner, 63, ist eine bayerische Ski-Legende, ein Liebling der Society, ein überaus erfolgreicher Selfmade-Mann. Mutter Sônia, 54, ist Designerin und Ex-Model aus Brasilien. Ihr Sportmoden-Imperium wirft Geld genug ab für jeglichen Wohlstand, und es ermöglicht eine sorgfältig entworfene Glamourwelt drum herum. Eine Welt, in der der 17-Jährige dann aber irgendwann verloren gegangen ist. Und in die man ihn doch so hineingesehnt hatte: 1988 adoptierten Sônia und Willy Bogner den wenige Wochen alten Jungen in Südamerika, holten ihn nach Bayern zu seiner ebenfalls aus Brasilien adoptierten, drei Jahre älteren Schwester Florinda – und hinein in ein Luxusleben. Der Junge sollte glücklich werden als Deutscher, und er bekam den ziemlich deutschen Vornamen Bernhard, nach dem Schweizer Skirennläufer Bernhard Russi, einem Freund der Familie. Der Bub sollte später auch Ski laufen und golfen, er sollte weltläufig werden, Fremdsprachen lernen und irgendwann einmal die Firma Willy Bogner GmbH & Co. KG, Umsatz 130 Millionen Euro jährlich, Dutzende Boutiquen weltweit, übernehmen. Es hätte eine Geschichte wie ein Märchen werden können. Bernhard lebte ein bequemes Leben zwischen einer feudalen Münchner Villa, einem Landhaus am Tegernsee, dem Chalet in St. Moritz und der Finca auf Mallorca. Zwischen Freunden aus gutem Hause, teuren Klamotten und einem Heim, das von der erfolgreichen Mutter aufwendig gestylt worden war – perfekt. Die Bogners waren großzügige
Deutschland
MARCELO SAYAO / EFE / DPA
RETO ZIMPEL / BILDZEITUNG
Leben“. Aber durch „liebevolle Eltern, die glaubten, nur ihr BesErziehung und ausreichend Antes zu tun. Und zumindest gaben wesenheit lässt es sich weitgehend sie ihr Geld, indem sie beispielsauflösen“. Die meisten Adoptioweise die teuerste Bildung finannen aus dem Ausland können so zierten – freilich nicht daheim in trotz allem erfolgreich verlaufen. München, sondern in strengen Dennoch ist der Bogner-SelbstInternaten in der Schweiz, weg mord kein Einzelfall: Zwar fehvon den Eltern, die sowieso viel len gesicherte Studien zum unterwegs sind. Thema Adoption und Suizid, Dass das Märchen ein böses aber Wissenschaftlerin Swientek Ende nehmen würde, konnte kennt in Deutschland eine aufniemand ahnen. Aber dass Bernfällig lange Reihe von Fällen adhard Bogner verzweifelt war – optierter Kinder, die sich das Leweil er innerhalb von vier Jahren ben genommen haben. „Ich habe in fünf Schulen nacheinander den Eindruck, eine Adoption ist versagte, weil er nicht so toll sein ein erhöhtes Risiko.“ Wenn das konnte wie Mama und Papa, mitKind sein ganz am Anfang verten in der Pubertät nicht wusste, lorenes Vertrauen in die Welt wo er hingehörte –, das haben nicht wiedergewinnen könne, viele gesehen. „besteht große Gefahr für abweiSchulkameraden aus den chendes Verhalten“, so SwienSchweizer Nobelschulen erzähtek. Wut und Ärger, die sich oft len heute, er habe oft geweint. gegen Eltern richteten, könnten Sie berichten, er sei gehänselt sich auch gegen das Kind selbst worden, weil er nicht in den wenden, wenn etwa die Eltern Reichtum hineingeboren war wie nicht da seien. andere, sondern nur hineinOder wollte Bogner, wie Exadoptiert. Ob es hier nicht schöperten bei Selbstmorden häufig ner sei als in den Slums von unterstellen, jemanden strafen – São Paulo, hätten Schulkameraetwa die Familie für einen Manden gefragt. Sätze, die einen vergel an Aufmerksamkeit? Für unsicherten Teenager treffen Überforderung, die auch die liekönnen wie Schläge in die Ma- Internat in St. Gallen (Schweiz): Bernhard hat oft geweint bevollsten Eltern in einem Strugengrube. del aus Geschäftsterminen nicht Bernhard Russi war offenbar immer erkennen können? sein Beistand in diesen Jahren, Bernhard agierte nach außen in denen Jungs vor allem eins oft wie die meisten pubertären sein wollen: cool. Er habe oft Halbwüchsigen: mit frechem versucht, ihm Mut zuzusprechen, Auftreten und lauten Sprüchen erzählte Russi dem Schweizer in der Schule. So jemand, glau„Blick“, aber: „Er passte irgendben Lehrer und die eigene Famiwie nicht in das Schema der Falie viel zu leicht, lasse sich nichts milie Bogner. Vielleicht hat ihm gefallen. Der sei doch zornig und das zu schaffen gemacht.“ selbstbewusst. Die Lösung für Vielleicht kam er auch auf der Vater Bogner: Der aufmüpfige Suche nach sich selbst nicht vorSohn wechselte das Internat. an. Ein Schicksal, das in Europa Doch genau das könnte am viele adoptierte Jugendliche ausEnde fatal gewesen sein. Denn halten müssen. Denn Experten in den Luxus-Schulen fänden sind sich einig, dass adoptierte sich, so Swientek, eine Menge Kinder, vor allem solche aus dem Ausland, mit einem Handicap ins Kinder in Brasilien: Die Trennung von der Mutter ist ein Trauma Adoptivkinder, die ihren vielbeschäftigten Eltern über den Kopf Leben starten. „Das Kind verliert seine Eltern, es ver- schon wenige Tage oder Wochen nach der gewachsen seien. Wenn aber ein solches liert seine Grundkultur, es wird in eine Geburt zu den neuen Eltern komme. Denn Kind auch im Internat nicht heimisch werfremde Welt geschmissen“, sagt etwa Wolf- eine Trennung von der Mutter ist offenbar de, dann bröckle der letzte Rest seines Fungang Gerts, Vizevorsitzender des Bundes- ein Trauma für jedes Kind, sei es noch so daments: „Dann ist es zwar wohlhabend, verbands für Eltern ausländischer Adoptiv- klein. Den Lebensrhythmus, die Sprache aber unten ist nichts.“ Bei Bernhards Beerdigung am vergankinder, der selbst vier Kinder im Ausland und die Geräusche der ursprünglichen Heiangenommen hat. Er kennt den Fall Bog- mat verinnerlicht – so viel weiß man heu- genen Donnerstag in Gmund am Tegernsee ner nicht und will auch nicht darüber ur- te – schon das Ungeborene im Mutterleib. haben Willy und Sônia Bogner wohl endteilen. Aber: „Die Grunderfahrung eines Bei Adoptivkindern sei ein „Urmiss- lich beschlossen, diesen Konflikt zu offensolchen Kindes ist Verlust. Es ist einmal in trauen“ festzustellen, sagt auch die Adop- baren. In der Trauerrede des Gmunder seiner Identität gebrochen, deshalb muss tionsforscherin Christine Swientek. Die Pro- Pfarrers wurde Bernhard als trotzig und diese Identität neu wachsen.“ fessorin der Universität Hannover hat über wütend beschrieben, ein junger Mann, der Dazu brauche es, sagt Gerts, besonders das Thema Suizid promoviert. „Das Kind trotz des Wohlstands etwas Wichtigeres viel Fürsorge, Aufmerksamkeit und vor hat einen massiven Bruch hinter sich“, sagt vermisste. „Er sehnte sich nach Liebe und allem gemeinsame Zeit. Dies, sagen Psy- sie. Das große „Nein“ der leiblichen Eltern Anerkennung – gerade in der Familie.“ chologen, gelte selbst dann, wenn das Kind sei „verletzend und prägend für das ganze Cordula Meyer, Conny Neumann 52
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Deutschland Innenminister Schily, Visasystem (in Köln)
„Bemerkenswerte Erfolge“
INA FASSBENDER / REUTERS
Doch die Biometrie schreitet weltweit schnell voran. Überall in der EU, den USA und vielen Ländern Asiens werden bald schon entsprechende Dokumente eingeführt. Und auch für die Deutschen selbst geht es Schlag auf Schlag weiter. Ab März 2007 sollen die Behörden auch die Abdrücke von beiden Zeigefingern im Pass-Chip speichern. Jeder, der das Dokument beantragt, wird dann in der Meldestelle seine Finger auf einen Scanner legen müssen. Danach sind in der EU auch die Personalausweise dran, Deutschland will die kleinen Plastikkarten bereits 2007 mit Chips für Körperdaten ausrüsten. Zum einen entspricht die Bundesregierung mit der schnellen Einführung des Biometriepasses den Vorgaben der USA: Nur Bürger von Staaten, die bis Oktober 2006 SICHERHEITSTECHNIK begonnen haben, Hightech-Dokumente auszugeben, dürfen weiterhin ohne Visum in die Vereinigten Staaten. Zum anderen ist die Biometrie eine Herzensangelegenheit von Schily. Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beaufDer neue Reisepass mit Chip und Antenne markiert den Beginn tragte er seine Beamten, ein Konzept für einer Ära: Maschinen sollen Menschen anhand von die Biometriepässe zu entwerfen. Er ließ Körpermerkmalen identifizieren – und etwa Terroristen enttarnen. sich sogar gleich einen Musterausweis mit seinen eigenen Fingerabdrücken basteln. as Teil, das die Republik sicherer nicht gar sinnlos. Denn die Apparate, die Und in den vier Jahren seitdem hat er hartmachen soll, ist nur halb so groß Gesichtsdaten an den Grenzen auslesen näckig für seine Lieblingstechnik gerunwie ein kleiner Fingernagel und mit sollen, wird es überall erst in einigen Jah- gen, erst in Berlin und dann in Brüssel. Es geht ihm nicht nur um Pässe für die ei340 Mikrometern nur dreimal so dick wie ren geben. Und erst in zehn Jahren sollen ein Haar: Es ist ein Silizium-Chip, an dem dann Kameras flächendeckend die Gesich- genen Bürger, es geht auch darum, Ausläneine Antenne aus einer Kupferlegierung ter der Reisenden aufnehmen und über der kontrollieren zu können: Die EU zieht befestigt ist. Das Ganze klebt unsichtbar komplizierte Algorithmen mit den Daten in den nächsten Jahren rund um die Schenzwischen den Pappen der Vorderseite des auf dem Chip vergleichen. Bis dahin wird gen-Staaten einen biometrischen Schutzder Grenzer wie gehabt erst auf das Foto wall. Wer in einer Auslandsvertretung ein neuen deutschen Reisepasses. Jeder Bundesbürger, der ab dem 1. No- im Pass schauen, das auf einem Bildschirm Visum beantragt, soll schon dort seine Finvember einen neuen Pass beantragt, wird gezeigt wird, und dann auf den Menschen ger vermessen lassen. Alle Daten sollen das Wunderwerk der Mikroelektronik be- an der Schranke. Und Dateien, in denen dann in zwei zentralen Rechnern in Straßkommen. Der Chip speichert einstweilen die Körpermerkmale aller Bundesbürger burg und Salzburg gespeichert werden. Versuche mit Fingerabdrücken in der neben den normalen Passdaten nur ein gespeichert werden, soll es, so sagt Schily deutschen Botschaft in Nigeria brachten Foto des Inhabers. Über die Antenne sol- zumindest, gar nicht geben. „bemerkenswerte Erfolge“ (Schily): len Maschinen es auslesen und anhand dieAlle, die ein langfristiges Visum ser Daten die Menschen unterscheiden für die Bundesrepublik wollkönnen. Freilich nur, wenn die auf dem auf dem Chip gespeichert: ten, mussten dort bis März Passfoto nicht allzu fröhlich ausschauen – alle Passdaten und dieses Jahres Fingerabdrüein Lächeln könnte die Apparate schon digitales Gesichtsbild cke abgeben. Beim Abgleich irritieren. ab 2007: zwei Fingerabdrücke mit deutschen Dateien floDer Chip-Pass ist erst der Anfang einer gen dann 40 Prozent von Revolution in der Sicherheitstechnik. Die ihnen als abgeschobene Biometrie, die Technik der Vermessung Kriminelle oder Betrüvon Körpermerkmalen, soll, so hoffen ihre ger auf. Befürworter, in ganz Europa bald schon Im Mai kommenden Passfälschern, Kriminellen oder TerrorisJahres will die EU damit ten das Handwerk legen. Datenschützern beginnen, das Herz ihres 97 graust es zwar vor dem Trend, denn die Millionen Euro teuren KonTechnik wäre sehr wohl in der Lage, Bürtrollsystems zu installieren. ger auch anhand von skurril anmutenden Chip im Läuft alles nach Plan, wird so Methoden perfekt zu überwachen. Doch Passdie größte FingerabdruckdaBundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat deckel tenbank der Welt entstehen. sein Lieblingsprojekt gegen alle Wider„Die Kosten sind nicht hoch stände durchgedrückt. im Vergleich zu dem, was es an Dabei scheint der Chip im 59 Euro teu- Antenne zur Ersparnissen bringt“, sagt Günther ren neuen Pass erst mal harmlos – wenn Datenübertragung
Echo aus dem Ohr
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Pass mit Chip
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Deutschland Pass in die USA ein. Ein Biometrie-Chip in den Reisepapieren hätte ihn vielleicht stoppen können. Der Chip im Pappdeckel, so Schily, „ist kein Allheilmittel, aber ein wichtiger Baustein im Kampf gegen den internationalen Terrorismus“. Aber vor allem Datenschützer und der grüne Koalitionspartner hatten Bedenken gegen die Einführung des ePasses. Deshalb versuchte Sozialdemokrat Schily zunächst, die neuen Personaldokumente durch die Hintertür einzuführen: über eine Rechtsverordnung, die nicht den Bundestag passieren muss. Erst als das Justizministerium gegen den Trick protestierte, lenkte Schily ein. Man einigte sich grundsätzlich auf die Einführung biometrischer Merkmale. Die Einzelheiten sollte ein Bundesgesetz regeln – das kam aber nie. Schily nahm lieber den Umweg über Europa: Unter dem Eindruck der Anschläge von Madrid verständigten sich die Justiz- und Innenminister der EU im vergangenen Jahr auf die Einführung der neuen Pässe. Schily hatte kräftig dafür geworben. Im Dezember nickte der EU-Rat eine entsprechende Biometrie-Grenzkontrolle in den USA: „Wichtiger Baustein“ Verordnung ab, die seit Januar gilt und alle Mittralrechner, darunter hängen zehn Fest- gliedstaaten verpflichtet, innerhalb von 18 platten wie Waben nebeneinander. 1,6 Monaten digitale Bilder in die Pass-Chips Terabyte Speicherplatz hat das System, das aufzunehmen. Spätestens in drei Jahren reicht für die Fingerabdrücke von einer müssen die Fingerabdrücke folgen. Die in Deutschland schon früh vorgeMillion Menschen. Wer mehr Kapazität braucht, hängt ein- tragene Kritik von FDP, Teilen der Union, fach mehr Festplatten daneben. Kosten für der SPD und von Grünen wie Volker Beck das Gesamtsystem: eine Million Euro pro („Keiner konnte uns bisher darlegen, was Million gespeicherter Personen. Wird ein das bringen soll“) hat Schily mit dem BrüsSatz Fingerabdrücke an den Computer seler Manöver elegant ausgehebelt. Der geschickt, „haben wir innerhalb von zehn ePass ist damit ein Musterbeispiel dafür, Sekunden schon einen Match“, sagt Mull. wie EU-Regelungen Rechte der nationalen Damit ließe sich jeder Ausländer blitz- Parlamente aushöhlen können. Einstweilen werden nur die beiden jetzt schnell am Grenzerhäuschen prüfen. Anders beim Biometriepass: Er soll Fäl- schon standardisierten Methoden – Finschern das Handwerk legen und verhindern, gerabdrücke und Gesichtsscan – Daten für dass etwa ein Islamist mit den echten Pa- den deutschen Pass und das europäische pieren eines Gesinnungsgenossen reist. Al- Visasystem liefern: Fingerabdruckverfahlerdings weiß auch Schily, dass Deutschland ren funktionieren häufig mit geringen schon jetzt „den sichersten Reisepass der Fehlerraten, auch gibt es bereits eine ganze Welt“ hat, der kaum zu fälschen ist. Pro- Reihe großer Datenbanken, mit deren Hilbleme bereiten eher andere EU-Länder. fe Einreisende geprüft werden könnten. Allerdings ist bei einigen wenigen Men2002 etwa stellte der Bundesgrenzschutz 290 gefälschte europäische Pässe sicher, 400 wei- schen die Haut durch Beanspruchung zu tere waren inhaltlich verfälscht. Die frisier- abgenutzt, um eindeutige Ergebnisse lieten Papiere kamen hauptsächlich aus Frank- fern zu können. Henning Daum, Informatiker am Fraunhofer Institut Graphische reich, Italien und Spanien. Der „ePass“, wie das Dokument mit der Datenverarbeitung in Darmstadt: „Wir hatAntenne heißt, soll Fälle wie jenen des ten den Fall, dass Gärtner und Segler da Franzosen Zacarias Moussaoui verhindern. Probleme haben, vor allem montags“ – Der Islamist war von seinen Terrorbrüdern wenn die Finger am Wochenende vorher wohl als Ersatzattentäter für die Todespilo- hart zupacken mussten. Die Scanner, die Gesichter abtasten und ten des 11. September ausgewählt worden und reiste mit einem falschen französischen mit den Chip-Daten vergleichen, tun sich ERIK LESSER / GETTY IMAGES
Mull, Geschäftsführer des Hamburger Unternehmens Dermalog. Die Firma gehört zu den fünf Anbietern weltweit, die genug Know-how haben, um sich an der Ausschreibung für das Projekt beteiligen zu können. Dennoch glaubt auch Mull nicht, dass die Biometrie zur Wunderwaffe der Terrorabwehr wird: „Der Terrorismus hat das Projekt in Gang gebracht – aber es wird vor allem helfen, illegale Einwanderung, Visumsbetrug und Doppelidentitäten zu verhindern.“ Einen Prototyp der Hardware des Systems haben Mull und seine Leute bereits in einem streng gesicherten Raum aufgebaut: In einem Turm sind die Computerelemente zusammengefügt, Kernstück ist ein Zen-
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Deutschland scher Touristen haben sollte, wäre es einfacher, diese direkt an der Grenze zu sammeln, statt sie aus den Pass-Chips zu ziehen – denn dort sind sie verschlüsselt. So machen es etwa die Vereinigten Staaten, die von Einreisenden schon jetzt Fingerabdrücke und Gesichtsscan nehmen. Und die Vereinigten Arabischen Emirate bitten bereits jeden Besucher ihres Landes vor eine Apparatur, die dann dessen Iris scannt. Die Technik scheint kaum aufzuhalten zu sein – und das liegt auch im Interesse der deutschen Industrie. Der ePass trage dazu bei, „dass deutsche Sicherheitstechnologie auch ein Exporterfolg wird“, sagt etwa Sandra Schulz vom Branchenverband Bitkom. Denn sowohl bei der Herstellung von Pässen und Chips als auch bei der Entwicklung jener Programme, die Gesichter und Fingerabdrücke erkennen, liegen deutsche Firmen an der Weltspitze. Dazu gehören Unternehmen wie die Dresdner Gesichtserkennungsfirma Cognitec oder die ehemalige Bochumer Firma ZN Vision, die vergangenes Jahr vom US-Hersteller Viisage aufgekauft wurde und nun beIris-Erkennung*: Hoffnung auf das große Geld reits etliche US-Bundesstaaschon den Puls sowie den elektrischen Wi- ten mit Gesichtserkennungssystemen für derstand der Haut – was die Latex-Schum- Führerscheine ausgestattet hat. Auch die melei verhindert. Und Fraunhofer-Exper- Fingerabdruckfirma Dermalog hat schon ten arbeiten an Programmen, die das Ge- mehr als 20 Großprojekte im Ausland reasicht nicht wie bisher zweidimensional, lisiert. Leicht sei es trotzdem nicht gewesen, sondern dreidimensional erfassen. Fälscher müssten schon sehr gute Masken tragen, die Aufträge an Land zu ziehen, sagt Dermalog-Chef Günther Mull: „Die Kunden um die Geräte auszumanövrieren. Zudem entwickeln die Biometriker im- fragen dann: Welche Projekte haben Sie mer neue Techniken: Der Philips-Forscher denn im eigenen Land? Da mussten wir Michiel van der Veen etwa hat, vor allem bislang immer schweigen und verschämt für den Einsatz in Handys, ein Gerät zu Boden blicken.“ Die Deutschen können nun auf das konstruiert, das eine Person am charakteristischen Echo ihres Innenohrs identifi- große Geld hoffen: Nach einer Studie des zieren kann. Der Apparat spielt dabei Töne Marktforschungsunternehmens Soreon Reins Ohr, und weil jedes anders geformt search wird der Umsatz auf dem deutschen ist, wirft auch jedes den Schall anders zu- Biometriemarkt von 12 Millionen Euro in rück. Messgeräte können die Verzerrung 2004 auf 144 Millionen Euro in 2007 steierkennen und individuelle Frequenz-Profi- gen. Weltweit sollen 2006 rund 2,1 Milliarden Dollar umgesetzt werden. Kunden sind le erstellen. Der Bundesdatenschützer Peter Schaar in der Regel Regierungen, manchmal alwarnt vor den Folgen derartiger Techni- lerdings auch internationale Organisatioken, für die es kaum Grenzen zu geben nen wie die Weltbank. Die bezahlte jüngst ein Millionen-Dollarscheint: „Keine Technik ist hundertprozentig sicher.“ Er fürchtet um die Sicher- Projekt im Jemen: Beamte erhalten ihr heit der Daten, wenn beispielsweise ande- Salär dort seit Anfang September nur noch, re Staaten die Informationen bei der wenn sie ihre Finger scannen lassen. Denn Grenzkontrolle auslesen. Wer garantiert, viele Staatsdiener des arabischen Landes dass etwa Pakistan oder China diese Daten kassieren für zwei oder drei Jobs gleichzeitig, ohne dass der Arbeitgeber bisher nicht speichern? Nur: Wenn ein Land Interesse an den davon wusste. Die jemenitische Regierung biometrischen Daten beispielsweise deut- hofft, nun bis zu 60 000 Doppelbeamte auffliegen lassen zu können. Cordula Meyer, HOLLANDSE HOOGTE / LAIF
wiederum schwer mit wechselnden Lichtverhältnissen, Vollbärten oder Brillen. Dennoch „funktioniert die Gesichtserkennung sehr gut“, meint Daum. Die Fehlerraten lägen „im akzeptablen Bereich“. Beide Techniken lassen sich bislang freilich noch von Betrügern überlisten: Einfache Gesichtsscanner können mit einem Foto getäuscht werden, das vor die Kamera gehalten wird. Und der Chaos Computer Club wies nach, dass sich ein fremder Fingerabdruck leicht etwa von einem Glas abnehmen und auf eine Latexfingerkuppe kopieren lässt, viele Scanner erkennen den Trick nicht. Aber die Unternehmen schlafen nicht: Neue Fingerscanner messen zur Sicherheit
Holger Stark
* Am Amsterdamer Flughafen Schiphol. d e r
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KNUT MUELLER
Deutschland
Marktplatz von Teterow: „Die kommen aus einer Welt, von der ihr hier keine Ahnung habt“ K R I M I N A L I TÄT
„Da genügt ein Funke“ In einer mecklenburgischen Kleinstadt sorgt eine Serie von Gewalttaten für Unruhe. Sie macht deutlich, wohin die wachsenden Probleme mit jungen Aussiedlern in ganz Deutschland führen.
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Funke“, weiß ein Fahnder, „und dann brennt es lichterloh.“ Vor allem dauerhaft. Gut zwei Wochen später überfielen junge Aussiedler zwei Jugendliche. Diesmal ging es nicht um etwaige ideologische Differenzen – sondern um ganz gewöhnlichen Raub. Eines der Opfer wurde dabei auf offener Straße mit einem Revolver bedroht. Ein Tatverdächtiger wurde vorläufig festgenommen, zeigte sich davon aber wenig beeindruckt. Zwei Tage nach dem Überfall schlugen er und seine Kumpane wieder zu. Auf einem Volksfest attackierten sie wahllos Besucher, befreiten einen der ihren, der von der Polizei festgesetzt worden war, aus dem Gewahrsam, stachen einen Mann nieder und zertrümmerten einem anderen den Kiefer.
FOTOS: MICHAEL ARNING
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ie alles angefangen hat und warum, kann keiner sagen. Ein Streit in der Disco, ein falscher Blick, oder war es eine verächtliche Bemerkung? Sicher ist, dass am 30. Juli jene Überfallserie begann, die die Bewohner von Teterow, einer Kleinstadt am Rande der idyllischen Mecklenburgischen Seenplatte, seit Wochen in Angst und Schrecken versetzt. Sicher ist auch, dass diese Gewalt anders ist als sporadische Hetzjagden von Skinheads auf Punks und Alternative, die in der Provinz überall dort als ortsüblich gelten, wo unterschiedliche Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben bestehen. Seit diesem Tag mischen in Teterow auch Spätaussiedler im lokalen Kleinkrieg mit. 300 Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben in der 10 000-Einwohner-Kommune – die meisten friedlich und strebsam. Nur ein knappes Dutzend junger Männer gilt als gewalttätig. Gegen Mitternacht lieferten sie sich mit Angehörigen der rechten Szene an einer Tankstelle einen brutalen Fight, bei dem Baseballschläger und Ketten zum Einsatz kamen. Ermittler sagen, dass vorangegangene Provokationen die Schlacht um Teterow ausgelöst hätten. Die Frage, wer wen provoziert haben könnte, wird als eher unerheblich betrachtet. „Da genügt ein
Gesuchte Sergejs P., Andrej R.
Stundenlang gequält und vergewaltigt d e r
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Stets war die Täterbeschreibung in der Polizeisprache gleich: Aussiedler, männlich, zwischen 15 und 25 Jahren. Das ist eine Kombination, die nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern für eine neue Dimension des Straßenkampfs sorgt. Auch in anderen Bundesländern ist diese Klientel, vor allem bei Gewalt- und Eigentumsdelikten, stark vertreten. Nur die 10- bis 17Jährigen gelten als noch problematischer. Zwar ist es schwierig, die real existierende Bedrohung mit harten Daten zu untermauern. Spätaussiedler werden, weil sie einen deutschen Pass haben, vielerorts in den Kriminalstatistiken nicht gesondert erfasst. Doch dort, wo es geschieht, sind die Zahlen alarmierend. So stellten Wissenschaftler des Kriminologischen Forschungsinstituts an der Universität Hannover schon 2002 fest, dass in Niedersachsen junge Russlanddeutsche bei den sogenannten Intensivtätern – also jenen, die mehr als zehn Straftaten begangen haben – mit 15 Prozent einen Anteil stellen, der ein Vielfaches ihres Bevölkerungsanteils beträgt. „Dieser harte Kern“, sagt Institutsdirektor Christian Pfeiffer, „ist das Problem.“ In Baden-Württemberg hat die Landesregierung seit Juli die Polizei mit 100 speziell ausgebildeten Jugendsachbearbeitern verstärkt, um die Aussiedlerkriminalität in den Griff zu bekommen. „Die Gruppe der unter 21-jährigen tatverdächtigen Aussiedler ist mit 35,4 Prozent überproportional hoch“, rechnete Innenminister Heribert Rech (CDU) bei der Vorstellung der Initiative vor. In manchen Kreisen werde mehr als ein Fünftel aller Straftaten von jugendlichen Spätaussiedlern begangen. Auch in Hamburg werden Delikte deutschstämmiger Zuwanderer aus dem
Deutschland Angst vor ihm und seinen Freunden, die nach wie vor in Freiheit sind. Den ganzen Sommer über haben sie unter deren Drogen- und Saufgelagen auf der Wiese vor dem Heim gelitten, sich abends kaum vor die Tür getraut. Selbst wenn sie dort angepöbelt und herumgeschubst wurden – die Polizei gerufen haben sie nie. „Viele können kein Deutsch“, sagt einer von ihnen. Er selbst habe nicht gehandelt, um nicht als Zeuge aussagen zu müssen. „Dann kennen sie mich, und dann kriege ich Schwierigkeiten. Deshalb ist Schweigen für mich besser.“ Auch ein Aussiedler, der schon seit Jahren in Teterow wohnt und den Neuankömmlingen mitunter auf dem Weg durch die Ämter hilft, will namenlos bleiben. „Direkt Angst“ habe er nicht, sagt er, aber man müsse verstehen: „Die Jungs, die hier Ärger gemacht haben, kommen aus einer Welt, von der ihr hier keine Ahnung habt, da muss man vorsichtig sein.“ Viele der „Jungs“, erzählt er, hätten gar nicht aus Kasachstan weggewollt. Sie seien nur mitgekommen, weil ihre Angehörigen ihnen versprochen hätten, dass in Deutschland ein Mercedes oder ein Audi auf sie warte. „Und dann sind die hier und stellen fest, dass noch nicht einmal der Führerschein ihres HeimatGrenzdurchgangslager Friedland: „Schweigen ist besser“ landes gilt.“ Auch BerufsProzent gesunken. Die anderen sind im und Schulabschlüsse seien in der fremden Familienpaket mitgekommen – Ehefrauen neuen Heimat Muster ohne Wert: „Die haoder Ehemänner, Kinder und Enkel, die ben nichts, gar nichts, außer ihrer Körmeisten ohne Bindung an Deutschland perkraft.“ Vor einigen Tagen hat er für den Bürund ohne jede Kenntnis der deutschen germeister ein Treffen mit Heimbewohnern Sprache. Die Folge: Etwa jeder vierte Immigrant arrangiert. Vier Stunden haben sie gereaus dem Osten ist arbeitslos, die Kinder det. Darüber, dass die Neubürger im kommen in der Schule kaum mit, und die Durchgangslager Friedland nur die Wahl Jugendlichen, die nicht mehr schulpflichtig zwischen Brandenburg und Mecklenburgsind und nie eine deutsche Schule von in- Vorpommern hatten, darüber, dass die nen gesehen haben, geraten immer öfter Stundenzahl für Sprachkurse wegen knapper Mittel halbiert worden ist. Für Reingänzlich ins soziale Abseits. Daran wird auch der im novellierten hard Dettmann war es ein Gespräch, das Bundesvertriebenengesetz vorgeschrie- ihm „die Augen geöffnet hat für das Chabene Sprachtest vorerst nichts ändern. Die os, das im Umgang mit den Aussiedlern meisten der rund 40 000 Aussiedler, die hierzulande herrscht“. Und Hoffnung auf Arbeit konnte der in diesem Jahr nach Deutschland kommen, haben ihre Anträge vor der Geset- Bürgermeister den Aussiedlern auch nicht zesänderung gestellt. Auch einer der Rä- machen, obwohl Teterow im vergangenen delsführer der Teterower Schlägertruppe Jahr als „wirtschaftsfreundlichste Kommuist der Sprache des Landes, in das er im ne“ des Landes ausgezeichnet wurde. Die Mai mit seiner Familie gekommen ist, nicht Arbeitslosenquote liegt nach wie vor bei 22 Prozent, und neue Jobs gibt es nur in den mächtig. Mittlerweile sitzt Rustan S., 21, Sohn ei- Biotechnologie-Vorzeigeprojekten im Gener deutschstämmigen Kasachin und eines werbegebiet. „Bei einer Investitionssumme von zehn Aserbaidschaners, wegen des Verdachts der schweren Körperverletzung und der Millionen Euro entstehen da gerade mal Gefangenenbefreiung in Untersuchungs- 15 Arbeitsplätze“, sagt Dettmann, „da kriehaft. Doch noch immer haben die Bewoh- ge ich die nicht unter.“ Gunther Latsch, Andreas Ulrich ner des Spätaussiedlerheims in Teterow ANDREAS REEG / VISUM
ehemaligen Sowjetreich seit kurzem gesondert statistisch erfasst. Dort sollen im Juli drei Männer im Alter zwischen 18 und 26 Jahren eine 17-Jährige stundenlang gequält und vergewaltigt haben. Aus Rache, so die Polizei, weil das Mädchen die Freundin eines der Verdächtigen wegen Diebstahls angezeigt hatte. Nach zweien, Andrej R. und Sergejs P., wird steckbrieflich gefahndet. Sie gelten als gefährlich und bewaffnet. R. ist den Hamburger Richtern und Ermittlern schon seit langem wegen zahlreicher Straftaten bekannt. Der Zuzug von Spätaussiedlern, einst eine Erfolgsgeschichte voller kleiner Wirtschaftswunder, ist inzwischen längst zum Desaster geworden. Der Anteil der Deutschstämmigen ist von 74 Prozent im Jahr 1993 auf heute gerade mal gut 20
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Deutschland lingen bestätigen. „Ich guck seit sind, wenn es „um den der Fünften bei jedem Thema schnellsten Weg zum Referat“ als Erstes in Google nach“, sagt gehe. Schneider zuckt mit den Joceline, 13. „Abschreiben würSchultern: „Wenn sie verstede ich aber nicht“, meint Freunhen, was sie kopiert haben, ist din Gina, „wenn ich dabei ein das okay.“ Sein Tipp: „Nachlateinisches Fremdwort kopiere, fragen genügt meistens.“ merkt der Lehrer das doch.“ Nicht selten werden die kleiTatsächlich ist es verhältnen Fälscher von ihren Eltern Immer mehr Schüler bedienen unterstützt. Im Landkreis nismäßig einfach, Internetsich bei Referaten oder Spickern auf die Spur zu komLandshut klagte eine ElftklässHausaufgaben aus dem Internet, lerin mit Unterstützung ihres men – etwa, indem man drei Begriffe aus einer verdächtigen Expertin Weber-Wulff Vaters bis in die zweite Instanz ohne die Quelle anzugeben. gegen eine Sechs, die sie sich für Arbeit in eine Suchmaschine „Ein Drittel Schmu“ Viele Lehrer hinken hinterher. eingibt und die Web-Treffer mit eine teilweise vom Internet abie ein Vertreter der Laptop-Ge- dem Schülertext vergleicht. Aber für viele geschriebene Hausarbeit gefangen hatte. neration sieht Rainer Modde- Lehrer ist das World Wide Web noch im- Ohne Erfolg: Der Bayerische Verwaltungsmann, 51, nicht gerade aus. Der mer Terra incognita. „Wie soll ich da was gerichtshof sah den „Unterschleif“ (AmtsMeerbuscher Gesamtschullehrer trägt seine finden? Das Internet ist so groß“, ist ein deutsch für Spicken) schon dadurch als geLocken lang, dazu Vollbart und John- Stoßseufzer, den Weber-Wulff bei Lehrer- geben an, dass die eher schwache Schülerin „ihr sprachlich-stilistisches LeistungsvermöLennon-Brille. Umso verdutzter war neu- fortbildungen oft hört. Cornelius, 15, vom Berliner Heinrich- gen“ unmöglich auf das Niveau der abgegelich einer seiner Zehntklässler, der im Englischunterricht über Jim Morrison referier- Schliemann-Gymnasium, meint mitleidig, benen Hausarbeit habe steigern können. te, als Moddemann zu ihm sagte: „Guter seine Lehrer hätten schlicht „keine Zeit“ Das mit dem Prozess behelligte Gymnafür solche Detektivarbeit. Wenn ein Mit- sium „Maximilian von Montgelas“, dessen Vortrag. Welche Website war’s denn?“ Noch größere Augen machte der beim schüler ein etwa bei www.hausarbeiten.de Leiter Josef Kraus auch Präsident des Abschreiben aus dem Internet ertappte heruntergeladenes Referat abgebe, dann Deutschen Lehrerverbands ist, hat hinzuSchüler, als sein Lehrer verriet, weshalb er passiere „gar nichts“. Hauptstadt-Abitu- gelernt. Den Pädagogen steht dort die Softihm so schnell auf die Schliche gekommen rient Matthias Mehldau, 19, hatte da pfiffi- ware „Plagiarism-Finder“ zur Verfügung; war: Moddemann hatte seine eigenen Wor- gere Lehrer. „In zwei Klassen wurden Schüler sollen Facharbeiten – wie in Großte wiedererkannt, Absätze aus Artikeln Schüler überführt und bekamen die Note britannien an manchen Schulen Usus – auf über den Sänger der Doors. Die Texte des Sechs“, erzählt Mehldau – „alle Achtung.“ Diskette einreichen, so dass die Lehrer sie Rockfans kursieren unter diversen AdresEr selbst hat gute Erfahrungen mit dem mühelos auf Plagiate hin scannen können. sen und Autorenzeilen im Netz. Schummeln gemacht: „Ich hab das ‚Nibe„Natürlich hecheln wir den Schülern imSchummeln und Spicken sind so alt wie lungenlied‘ nie gelesen und dennoch die mer hinterher“, gibt Lehrervertreter Kraus, die Institution Schule. Aber noch nie war zweitbeste Klausur geschrieben.“ Eine sei- 56, freimütig zu. Mit einer Sechs bestraft der Raub geistigen Eigentums so leicht wie ner Quellen: Wikipedia, ein Internet-Lexi- werde inzwischen auch das Mitführen im www-Zeitalter. Weil das Kopieren per kon, das von den Usern selbst verfasst wird. von Handys zu Prüfungen: „Das gilt immer Mausklick ganz einfach ist, werden am Ende Dass man sich auf die Richtigkeit der Beiträ- als Täuschungsversuch.“ Sonst könnten sogar Plagiate plagiiert. „Die Jugendlichen ge nicht verlassen kann, ist Mehldau als Mit- Schüler auf der Toilette Informanten anruhaben null Unrechtsbewusstsein, wenn glied des Chaos Computer Clubs bewusst. fen „oder sogar in ein im langen Haar versie einen Text aus dem Netz ziehen und Amüsiert beobachten junge Lehrer wie stecktes Mikrofon Testaufgaben flüstern“ – ohne Quellenangabe als eigenen ausgeben“, Ralf Schneider, 36, Konrektor der Golden- wie anderswo schon passiert. weiß Moddemann. „Schließlich klaut im Bühl-Schule in Villingen, dass noch die Englischlehrer Moddemann trickst die Internet fast jeder von jedem. Auch Lehrer faulsten Schüler „mit Feuereifer dabei“ Schüler jetzt schon im Vorfeld aus. So selbst benutzen fremde Tests ließ er eine zehnte Klasse daund Texte.“ Internet-Surfer (in Berlin): Für viele Lehrer ist das Web Terra incognita heim ein Lesetagebuch zu Peter Bullets „The Sunnies“ anMindestens ein Fünftel aller fertigen. Schon am nächsSchülerreferate und Hausarbeiten Tag maulten die Schüler: ten an seiner Schule, schätzt „Da gibt’s ja gar nichts im Interder Englischlehrer, werde aus net zu.“ Versatzstücken am Computer Neunzig Prozent der Schüler generiert – „Tendenz steigend“. bewiesen Moddemann dann, Auch bei studentischen Ardass sie „tatsächlich noch lebeiten gilt „ein Drittel ist sen können“. Nur bei einer Schmu“ als Faustregel, so die seiner schwächsten SchülerinBerliner Medieninformatikerin nen schwante dem gewieften Debora Weber-Wulff, Autorin Pädagogen Böses – die Arbeit des Anti-Plagiat-Programms war zu gut. „Fremde Federn Finden“. Dass Doch erst nach ihrer erfolgdie Schummler sich mit „copy reichen Versetzung in die nächsand paste“ – kopieren und einte Klasse gestand ihm die Mutfügen – zuvor schon durch die ter kleinlaut, sie habe dem Schule getrickst haben, so die Nachhilfelehrer 50 Euro für die Expertin, „liegt auf der Hand“. Arbeit gezahlt. „Gegen GhostSchon Mittelstufenschüler writer ist die beste Plagiate-Softnutzen Daten-Suchmaschinen, ware machtlos“, so Moddewie Hauptschülerinnen aus dem mann. Annette Bruhns baden-württembergischen VilBILDUNG
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FOTOS: NICOLE MASKUS
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Gefängnisspiel Eintracht Fuhlsbüttel (helles Trikot) gegen SC Urania: „Können die uns was tun?“ STRAFVOLLZUG
„Brillant wie Beckenbauer“ B
erti mit der Nummer 6 auf dem Trikot ist ein Künstler. Er kann mit dem Ball zaubern. Tommy, der dunkelhäutige Tommy, ist ein Athlet. Auf dem Platz bewegt er sich schneller als alle anderen. Matiesz, der Torwart, ist ein Stratege. Er beherrscht den Strafraum, und seine Abschläge fliegen weiter als die von Olli Kahn. Doch Berti, der Zauberer, Tommy, der Athlet, und Matiesz, der Stratege, kicken nur in der untersten Hamburger Liga, in der Kreisklasse, Staffel sieben. Der Wechsel in einen besseren Club, den sich alle drei wünschen, ist unmöglich: Ihr Verein erteilt grundsätzlich keine Freigabe. Denn Eintracht Fuhlsbüttel ist eine Knastmannschaft, und zwar die einzige in Deutschland, die in einer normalen Liga mitspielen darf und kann. Die Spieler sind Insassen von Santa Fu, dem berüchtigten Hamburger Gefängnis. Sie sitzen in Haus II und müssen Strafen von mindestens vier Jahren verbüßen. Viele werden weitaus länger sitzen. Manche lebenslang. Das Stadion: ein rötlicher Platz auf dem Gefängnisgelände, hart und staubig. Drum 72
herum Mauern, Elektrozäune mit Stachel- Sporttaschen filzen, packen Uhren und drahtrollen, ein verwitterter Backsteinbau Portemonnaies in Schließfächer. Selbst die mit vergitterten Fenstern. Die Fans: Mit- mitgebrachten Fußbälle werden in einer gefangene, die gerade Hofgang haben, ein Schleuse elektronisch durchleuchtet. Ein paar der Spieler von draußen aber paar Aufseher, zwei Dutzend Krähen. Auswärtsspiele gibt es nicht. Die Ein- fehlen. Nee, in den Knast, da wollten sie tracht hat immer Heimrecht – oder Heim- nicht rein. „Die sitzen da nicht umsonst“, pflicht. Anstoß ist sonntags um neun – für erklärte einer. „Ich helfe doch nicht, denen die Mannschaften von draußen, die sonst das Leben zu erleichtern.“ meist nachmittags spielen, ist das verdammt früh. Beim heutigen Match geht es um die Tabellenführung. Der Gegner hat, genau wie die Gefängnistruppe, in dieser Saison noch kein Spiel verloren: Pünktlich um acht Uhr stehen die Fußballer des SC Urania vor dem Gefängnistor. Neugierig starren sie auf die hohen Zäune, die Kontrolltürme, die Überwachungskameras. Klaglos ertragen sie die vorgeschriebenen Prozeduren: geben ihren Ausweis ab, lassen ihre Torhüter Matiesz, Zelle in Haus II: Noch 83 Tage d e r
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FOTOS: HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
Sie siegen fast immer: Die erfolgsgewohnten Fußballer der Hamburger Haftanstalt Fuhlsbüttel werden von ihren Gegnern respektiert und gefürchtet. Weil sie nur Heimspiele austragen, dürfen sie nicht aufsteigen. Von Bruno Schrep
Deutschland Stefan Tangermann, Spielertrainer von Urania, hat trotzdem elf Mann zusammenbekommen. Er überredete einige, zerstreute die Ängste anderer. Die hatten gefragt: „Ist das dort gefährlich?“ „Können die uns was tun?“ Antwort des Trainers: „Da geht es friedlicher zu als auf jedem anderen Fußballplatz. Ich war schon zweimal dort.“ Mitgekommen ist auch Alexander Töllner, Spitzname „Fahnder“. Der Kriminalkommissar hatte bereits abgesagt: „Da kenn ich zu viele, da hab ich schon zu viele reingebracht.“ Kollegen auf seiner Dienststelle beruhigten ihn: „Du wirst dort nicht als Bulle gesehen, sondern als Fußballer.“ Nach 20 Minuten steht es noch 0:0. Die Männer von Santa Fu können sich nicht durchsetzen wie sonst. Ihre Gegner rennen, kämpfen, grätschen, wollen es diesen angeblich unschlagbaren Knastkickern zeigen. Spielen da nicht ehemalige Profis mit? Haben die nicht erst kürzlich 8:1 gewonnen? Sind die nicht in der letzten Saison Meister geworden? Haben die nicht drei Trainer? Alles richtig. Am Spielfeldrand stehen Günter Grothkopp, 79, Gerhard Mewes, 62, Werner Weiß, 78. Sie trainieren und betreuen die Fußballer der Knast-Eintracht seit 25 Jahren. Ein fachkundiges Trio: Trainer Grothkopp, Gründer der Gefängnismannschaft, entdeckte als Talentsucher des Hamburger Fußballverbands Spieler wie Andreas Brehme und Stefan Effenberg. Trainer Mewes betreute mehrere Hamburger Vereine, besitzt die Bundesligalizenz. Trainer Weiß war früher Vertragsspieler beim HSV, spielte mit Weltmeister Jupp Posipal zusammen. Die Trainer sind von Anfang an dabei, seit 1980. Alles begann damals als Modellversuch, befristet auf acht Wochen. Der Knastalltag sollte aufgelockert, die Gefangenen sollten zu besseren Menschen gemacht werden. Über das Vehikel Fußball sollten den Knackis Tugenden wie Disziplin und Teamfähigkeit beigebracht werden. Die „Wahrheit auf’m Platz“ (Otto Rehhagel) ist meist banaler: In Santa Fu wird gebolzt, gefoult und gemeckert wie auf allen Fußballplätzen dieser Welt – nur Ausschreitungen kommen nie vor. „Bei nur einer Klopperei, nur einem Übergriff auf Gegner wäre hier mit Fußball Schluss“, erklärt der Vollzugsbeamte Arnold Feddrau, Sportobmann von Santa Fu. „Das wissen auch alle.“ Der kräftige Mann mit den vielen Schlüsseln, selbst Hobbyfußballer, ist für die Knastkicker Kumpel und Respektsperson zugleich. Provokationen oder Zoff im Knastalltag ahndet er schon mal mit mehrwöchigem Sportverbot; die Gefängniself tritt deshalb selten mit der gleichen Mannschaft an. Immerhin: Nur einmal in 25 Jahren sah ein Spieler von Eintracht Fuhlsbüttel die rote Karte, wegen wiederholten Foulspiels. Sonst ist die Bilanz tadellos. In über 700 Meisterschaftsspielen schossen die Knastd e r
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Deutschland
HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
„seine Reflexe sind einmalig.“ Die bevorstehende Abschiebung des 33-Jährigen wird die Knastmannschaft schwächen: Sie verliert nicht nur ihren Torhüter, sondern zudem den von allen akzeptierten Kapitän. Auch nun, in der Pause, greift Matiesz ein: Er beruhigt Libero Jurij, der mit hochrotem Kopf sofortige Auswechslungen fordert, tröstet den zerknirschten Berti, haut Tommy auf die Schulter, dem noch nichts gelungen ist. „Ihr müsst aggressiver spielen“, mischt sich ein Zuschauer im zu großen Trainingsanzug ein. Er ist ausgemergelt, grau im Gesicht. Bis vor wenigen Monaten war Ivanov, der ehemalige kroatische Jugendnationalspieler, der Star der Mannschaft. „Keiner spielte besser“, versichert Trainer Mewes. „Aber keiner konnte auch so ausrasten.“ Seit Ivanov auf dem Sportplatz unheimliche Stimmen hört, sich selbst während des Spiels von Gespenstern bedroht fühlt, muss er Tabletten schlucken, Elektronische Ballkontrolle in der Sicherheitsschleuse: Gespenster auf dem Platz guckt nur noch zu. Zwei Männer hat er einst erschossen, in kicker über 3000 Tore. Achtmal gewannen der Reeperbahn kam der Flüchtlingsjunge, sie die Meisterschaft – in die nächsthöhe- der nichts gelernt hatte, auch kein Deutsch einer Kaschemme auf St. Pauli. Über die sprach, ganz groß raus. Andere junge Al- Gewalttat berichteten alle Zeitungen. „Ich re Klasse aufsteigen durften sie aber nie. Begründung des Fußballverbands: Im- baner, schon orientiert im Großstadt- seh nicht den Mörder oder den Räuber“, mer nur Heimspiele, das sei Wettbewerbs- dschungel, zeigten ihm die harte Realität versichert aber Mewes, „ich seh nur den verzerrung. Deshalb steigt stets der Tabel- des Drogengeschäfts. Berti war ein geleh- Fußballer.“ Anfangs sei ihm das schwer gefallen, etwa dann, wenn er Einzelheiten eilenzweite auf. Hinzu kommt, dass in der riger Schüler. Beim Kokainhandel kassierte er plötz- nes besonders brutalen Verbrechens erfahKnastmannschaft immer mal wieder Männer mitspielen, die in der Tat zu groß sind lich 500 Euro täglich, trug dicke Geldbün- ren habe. Aus Prinzip frage er inzwischen für die gegnerischen Mannschaften, ehe- del in der Hosentasche, fuhr dicke Autos niemanden mehr, warum er einsitze. Almalige Auswahlspieler etwa, meist aus Ost- und glaubte, das würde immer so bleiben. lerdings: „Viele möchten darüber reden.“ Als die Jungs vom Balkan einer konkurDie drei alten Trainer sind auch Beichteuropa. Beim höchsten Sieg, einem 19:0, war rierenden Albanergang die Kunden ab- väter, ob sie wollen oder nicht. Nach manzum Beispiel Vranac dabei, der frühere ju- warben, begann der Bandenkrieg. Berti chem Training kommen Spieler, schildern Nöte und Ängste, beklagen sich über Hängoslawische Nationalspieler. „Ein Genie“, stach einen Rivalen nieder, entkam aber. Wenig später, nach einer Ballerei in Al- del mit anderen Gefangenen, suchen Rat. sagt Trainer Mewes. Der Mann sei zwar schon 46 gewesen, habe aber trotz seines tona, passierte es: Weil ein deutscher La- „Einige haben mir ihr ganzes verkorkstes Leben erzählt“, sagt ÜbungsleiAlters noch drei Gegner auf engstem Raum denbesitzer einen der Albaner festhielt, schoss Berti ihm eine ter Weiß. Für etliche schon lanaussteigen lassen. So einer fehlt heute. Auch nach einer Kugel in den Kopf. Er konnte „Ich seh nicht ge eingesperrte Knastkicker sind den Mörder die Trainer die einzige noch inhalben Stunde ist noch kein Tor gefallen. zunächst fliehen, wurde aber oder den takte Verbindung zur AußenSami, blonde Sturmspitze der Eintracht, später verraten. Urteil: lebenswelt. lässt sich von Uranias „Fahnder“ fast jeden länglich. Räuber, ich Mitte der zweiten Halbzeit Seitdem spielt er bei Eintracht Ball abjagen. Im Mittelfeld stockt es ebenseh nur den stürmt die Gefängnismannschaft falls. „Mensch Berti, was ist denn das für’n Fuhlsbüttel, unterbrochen nur Fußballer.“ entschlossen. Trainer Weiß Scheiß“, ruft Betreuer Grothkopp, ringt von einer längeren Verletzungswechselt den rechten Verteididie Hände, als der Spielmacher erneut ei- pause: Bei einem Fluchtversuch riss das Bettlaken, mit dem er sich abseilen ger Jörg P. aus, den einzigen deutschen nen Ball verstolpert. Zauberer Berti ist nicht gut drauf. Bleibt wollte. Berti stürzte ab und brach sich meh- Spieler. Gegen Uranias schnellsten Angreifer lief er öfter hinterher. Jetzt lässt er mehrfach hängen, verliert sogar Zwei- rere Rippen. Jetzt, kurz vor der Halbzeit, dribbelt sich sich ausgepumpt ins Gras fallen. kämpfe, schlägt Fehlpässe. Wenn es bei Früher kickten fast nur Deutsche in der ihm hakt, klappt auch bei den Mitspielern Uranias Spielführer Michael Pohl auf der linken Seite durch, seine Flanke staubt Knasttruppe, darunter mehrere harte Mänwenig. Berti ist seit acht Jahren Stammspieler – Spielertrainer Tangermann zum 0:1 ab. ner aus dem Hamburger Rotlichtmilieu. und das wird er auch noch lange bleiben. Torwart Matiesz, der bislang toll gehalten Auch Reinhard „Ringo“ Klemm war dabei, der berüchtigte „König vom Kiez“. Er saß Fußballspielen hat er auf den Straßen von hat, wirft sich vergebens. 2500 Euro monatlich verdiente Matiesz wegen Rauschgiftsachen und spielte im deVlore gelernt, einer albanischen Hafenstadt, seiner Heimat. Vier gegen vier dad- bei Lechia Gdan´sk, als Profi in der zweiten fensiven Mittelfeld. Heute bilden vor allem delten die Jungs täglich viele Stunden, polnischen Liga. Viel Geld für polnische Männer aus Afrika, Südamerika und der sonst hatten sie nichts zu tun. Das waren Verhältnisse, aber ihm nicht genug: Der Türkei die Mannschaft, ergänzt durch AlTorwart machte mit bei Autoschiebereien, baner, Serben, Kroaten. Die Deutschen, obschöne Jahre. Mit 20 haute Berti ab nach Italien, ma- wurde erwischt, als er einem V-Mann der wohl in den 450 Zellen von Haus II knapp in der Überzahl, machen nicht mehr mit. lochte schwarz auf Baustellen. Versteckt in Kripo auf den Leim ging. Die Gruppe habe sich so gefügt, vermu„Er könnte auch bei uns zweite oder einem Güterwaggon schmuggelten ihn Schlepper von dort nach Hamburg. Auf dritte Liga spielen“, schwört Trainer Weiß, tet Trainer Mewes: „Ein Albaner motiviert 74
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Essenausgabe an die Gefängnismannschaft nach dem Unentschieden: „Beim Spiel hab ich vergessen, wo ich bin“
den nächsten, der bringt noch einen Kum- verbrechen hat er nicht begangen“, weiß pel mit und der noch einen. So was gibt’s Trainer Mewes. Seit Wochen versucht der Betreuer, bei den Deutschen nicht.“ Was er nicht sagt: Manche Deutschen trauen sich auch den hochbegabten Kicker, der bald freikommt, bei einem Verbandsligaclub unnicht, haben Angst. Als mehr Deutsche dabei waren, gab es terzubringen, also draußen. „Früher wurKonflikte, Eifersüchteleien, Zoff. Höhe- den unsere Spieler mit offenen Armen punkt: Ein Kosovo-Albaner, der gegen ei- empfangen“, erinnert sich der Trainer. nen Deutschen ausgewechselt werden soll- „Heute gibt es massive Vorbehalte, vor alte, riss sich das Trikot vom Leib, drohte lem gegen Ausländer.“ Auch die anderen Trainer dem Trainer: „Ich bring dich schickten schon begabte Kicker um.“ Bei einem Mann wie ihm „Nur eine gelbe nach der Haftzeit zu regulären kein guter Scherz. Karte“, sagt Mannschaften, so begannen ein Heute sind noch 15 Minuten der Schieds- paar Karrieren. gegen Urania zu spielen. Trainer Andere endeten, bevor sie Mewes, die erste Saisonniederrichter. „Für lage vor Augen, schreit immer ein Kreisklas- angefangen hatten. Trainer vergisst nie jenen lauter: „Nach innen gehen, nach senspiel völlig Grothkopp iranischen Auswahlkicker, „brilinnen.“ „Flach spielen, Sergej.“ „Murat, du musst die 11 neh- ungewöhnlich.“ lant wie Beckenbauer“. Grothkopp hatte gerade einen pasmen.“ „Spiel Linie, spiel Linie.“ Tommy, der athletische schwarze Stür- senden Fußballverein gefunden, als der mer, wird endlich stärker. Versetzt seine Kontakt abriss. Der Iraner, nach seiGegenspieler, taucht immer öfter vor Ura- ner Entlassung erneut in die kriminelle Szene abgetaucht, meldete sich nicht nias Tor auf. Der junge Afrikaner, einst Jugendaus- mehr. Der Trainer erfuhr später nur noch, wahlspieler vom FC St. Pauli, schämt sich, dass er bei einer Messerstecherei umgeim Knast zu sitzen. Redet mit nieman- kommen war. In der 81. Minute wird Berti, der auch dem über seine Vergangenheit, als er noch gemeinsam mit heute prominenten besser geworden ist, 20 Meter vor Uranias Bundesligaspielern trainierte, vor einer Tor umgetreten. Freistoß. Tommy nimmt Profiligakarriere stand, bis ihn eine Anlauf, zirkelt den Ball an der Mauer vorRückenverletzung zurückwarf. Jetzt fürch- bei ins linke untere Toreck. 1:1. „Hochvertet er sich vor der Zukunft. „Ein Kapital- dient“, erklärt Trainer Mewes. 76
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Nach dem Abpfiff zieht Schiedsrichter Stanislav Milanoviƒ, ein Bosnier, erste Bilanz. „Nur eine gelbe Karte“, sagt er, „das ist so gut wie nichts. Völlig ungewöhnlich für ein Kreisklassenspiel.“ Uranias Fußballer werden von zwei Gefängnisbeamten nach draußen eskortiert. „Total spannende Erfahrung“, versichert Spielführer Michael Pohl, guckt noch einmal zurück. „Beim Spiel hab ich vergessen, wo ich bin“, erklärt Abwehrspieler Töllner, der „Fahnder“. Im dritten Stock von Haus II ist gleich Essenausgabe. Tommy, der einen Tritt abbekommen hat, humpelt auf Socken durch den Flur, lässt sich feiern. „Unser Torschützenkönig“, frotzelt Berti, boxt ihm in die Rippen. Torwart Matiesz steht vor dem Wandkalender seiner acht Quadratmeter großen Einzelzelle, kreuzt mit einem Filzstift das Datum dieses Sonntags durch. Er rechnet aus, wie lange er noch sitzen muss. Es sind 83 Tage. Für ihn gibt es womöglich demnächst prominenten Ersatz: Mounir al-Motassadeq, in Hamburg als Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sieben Jahren Haft verurteilt, kommt bei Rechtskraft des Urteils vermutlich in Haus II. Der Marokkaner, der laut Urteil die Attentäter vom 11. September unterstützt hat, ist ein guter Fußballer: Beim 1. FC Gievenbeck, Kreisliga Münster, schoss er früher als Sturmspitze viele Tore. ™
Gesellschaft
Szene
Klüger werden mit:
Andreas Marneros
DANIEL BISKUP / BOEHMEDIA
Der 58-jährige Psychologe über rechtsradikale Gewalttäter und ihre Opfer
Friseurgeschäft in Zittau (1990) ZEITGESCHICHTE
Geist der Freiheit W
o ein Ideal noch zählt, dort wird PDS gewählt“, steht auf einem Plakat, das ein junger Mann mit stolzem Ernst in die Luft hält: aufgenommen in Rostock, März 1990, Zeit des Übergangs. Der Fotograf Daniel Biskup, damals 27 Jahre alt, reiste in den Jahren 1989 und 1990 durch die sich auflösende DDR, weil er wissen wollte, warum die Menschen aufgebrochen sind – und welchen Weg sie gingen. Biskup, in Bonn geboren, liebt Zeichen, Schrifttafeln, Botschaften. In Zittau entdeckt er eine junge Frau im rosa Kittel, die unter einem Ladenschild mit der zerschlissenen Aufschrift „Des Friseurhandwerks Neue Linie“ steht, im Schaufenster ein handgeschriebener Zettel „Noch freie Termine“. In Magdeburg gefällt ihm das
pompöse Schild vor dem „Betriebspionierlager Geschwister Scholl des VEB Internationaler Güterkraftverkehr Magdeburg“. Und in Berlin hält ihm ein Mann etwas verlegen den Spruch „Lasst Euch nicht verKohlen!“ vor die Kamera – offenbar haben die Menschen Schwierigkeiten, den Weg, den sie 1989 eingeschlagen haben, zu erklären. Biskups Fotos sehen aus, als müssten die Gegenstände ihnen dabei helfen. Seine Bilder seien „im Geiste der Freiheit aufgenommen“, schreibt Helmut Kohl im Vorwort – Dokumente aus einem seltsamen Land, aus einer seltsamen Zeit.
FA M I L I E
einzukaufen. Das Ergebnis, veröffentlicht in den „Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine“: Kinder von Rauchern brachten viermal so häufig Zigaretten mit nach Hause wie Kinder von Nichtraucher-Eltern; die Wahrscheinlichkeit, mit Alkohol zurückzukommen, war dreimal so hoch, wenn die Eltern selbst mindestens einmal im Monat Alkohol tranken. „Kinder lernen, Alkohol- und Tabakkonsum als etwas Positives zu akzeptieren, lange bevor sie in die Schule kommen“, sagt Dr. Madeline Dalton von der Dartmouth Medical School, die diese Studie betreute.
Nachahmungseffekt
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rziehung, behaupten Eltern gern, sei vor allem ein behutsamer Mix aus Gewährenlassen und Verbieten – wenn man alles nur geduldig genug erklärt, würden Kinder letztlich tun, was gut für sie sei. Dass bereits Kleinkinder ihre Eltern vor allem nachahmen, bestätigen jetzt US-Wissenschaftler. Sie forderten 120 Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren auf, in einem nachgebauten Supermarkt für eine Erwachsenen-Party
Daniel Biskup: „1989/1990“. Verlag Markus Böhm, Leipzig; 144 Seiten; 29,80 Euro.
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SPIEGEL: In Ihrem Buch „Blinde Gewalt“ behaupten Sie, dass es rechtsradikalen Tätern völlig egal sei, ob ihre Opfer Ausländer sind oder Deutsche. Wie kommen Sie darauf? Marneros: Rechtsextremistische Gewalt ist eine Gewalt von Losern, die sich gegen alles richtet, was anders ist. Nicht gegen einen bestimmten anderen; jeder von uns kann Opfer werden. Ich arbeite seit 25 Jahren als Gutachter für deutsche Gerichte, in 80 Prozent der von mir untersuchten Fälle sind die Opfer von rechtsradikalen Gewalttätern Deutsche. Es trifft Obdachlose, aber auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. SPIEGEL: Was treibt die Täter zur Tat? Marneros: Sie nehmen das rechte Umfeld, die Gruppendynamik und die Musik rechtsradikaler Bands als Legitimation für das Ausleben ihrer Gewalt. Leider werden bei uns die meisten Taten nur dann als rechtsextremistisch beurteilt, wenn die Opfer Ausländer oder Juden sind. Daher ist auch die öffentliche Nichtwahrnehmung von solchen Taten oft groß. Gegen rechtsextremistische Gewalt zu sein sollte nicht bloß ein Gebot demokratischen Denkens sein – es ist auch eine Sache des Selbst- Marneros schutzes. SPIEGEL: Sind die Taten der Neonazis brutaler geworden? Marneros: Nein, aber im Laufe der Jahre wurde ich immer wieder mit Taten konfrontiert, die mich extrem erschüttert haben. Da werden Opfer gezwungen, Urin zu trinken, oder ihnen wird ein Auge ausgestochen. Das sind die Momente, in denen der Mensch den Psychiater besiegt. SPIEGEL: Was würden Sie tun gegen Rechtsradikale? Marneros: Ich wünsche mir eine stärkere Ausschöpfung der gesetzlichen Rahmen, eine sparsamere Anwendung von Bewährungsstrafen. Meine Gespräche mit rechten Gewalttätern haben gezeigt, dass sie eine Bewährungsstrafe als Freispruch empfinden.
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Was war da los, Mr Coles? „Wir waren zu acht, zwei Tierärzte, ein Anästhesist, vier Schwestern. Unser Patient hieß Motaba, ein 22-jähriger Gorilla aus dem Zoo von Melbourne. Er war schon öfter bei mir. Dieses Mal kam er mit einer geschwollenen Backe, aber ich konnte an seinen Zähnen nichts finden. Vor einem Jahr sah das ganz anders aus, da musste ich ihm drei faule Zähne ziehen. Seitdem bekommt er eine spezielle Nahrung, an der er stärker zu kauen hat. Motaba muss an einem anderen Infekt leiden, an welchem, das konnten wir nicht herausfinden, aber das Antibiotikum hilft ihm. Ich behandele auch Flusspferde, Giraffen oder Raubtiere, aber das Gebiss der Gorillas mag ich besonders, weil es dem von uns Menschen so ähnlich ist.“
WILLIAM WEST / AFP
Der australische Tierzahnarzt Stephen Coles, 50, über die Operation an einem Gorilla
Coles (r.)
SACH BÜCH ER
AU S B I L D U NG
Verblüffend dumm
Lerngarantie
as Schöne am Fußball ist, dass man endlos drüber reden kann: Während des Spiels, nach dem Spiel und natürlich zwischen den Spielen – fast jedem fällt jederzeit etwas dazu ein. Dem Fußballkolumnisten und Radiomoderator Arnd Zeigler ist es zu verdanken, dass dieser Schatz von An- und Einsichten jetzt gehoben wurde. Zeigler, Stadionsprecher im Bremer Weserstadion, sammelt seit Jahren alles, was Spielern, Trainern, Managern und Reportern zum Fußball einfällt. Richtige Fragen sind darunter (Giovanni Trapattoni: „Es gibt nur einen Ball. Wenn der Gegner ihn hat, muss man fragen: Warum?“) und richtige Antworten (der österreichische Stürmer Hans Krankl: „Wir müssen gewinnen, alles andere ist primär“). Manches ist nur halb gedacht (Olaf Thon: „In erster Linie stehe ich voll hinter dem Trainer, in zweiter Linie hat er Recht“), vieles tatsächlich witzig (Mehmet Scholl: „Ich hatte noch nie Streit mit meiner Frau. Bis auf das eine Mal, als sie mit aufs Hochzeitsfoto wollte“). Viele Zitate, findet Zeigler, sind verblüffend phantasievoll, verblüffend ehrlich, verblüffend schlau – und verblüffend dumm. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass notorische Schwätzer wie WDR-Sportchef Heribert Faßbender, Franz Beckenbauer oder Berti Vogts oft vertreten sind. Vogts über Hooligans: „Hass gehört nicht ins Stadion. Solche Gefühle soll man gemeinsam mit seiner Frau daheim im Wohnzimmer ausleben.“
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raktikanten haben es heutzutage schwer: Die meisten Firmen, klagen sie, hinderten sie daran, in dem von ihnen ausgewählten Beruf echte Erfahrungen zu sammeln – meist müssten sie die Zeit damit verbringen, für eine Hand voll Euro als Hilfskräfte nützlich zu sein. Der Art Directors Club hat jetzt zusammen mit 43 Unternehmen der Kommunikations- und Werbewirtschaft ein Scheckheft entwickelt, das die teilnehmenden Unternehmen dazu verpflichtet, ihren Praktikanten auch tatsächlich etwas beizubringen. Die Gutscheine, die man während des Praktikums einlöst, garantieren beispielsweise die Teilnahme an einem Briefing, an einer Ton- und einer Bildproduktion und die Einbindung in ein konkretes Projekt – nach der Hälfte des Praktikums wird der Neuling von einem Mentor beurteilt, am Ende gibt es ein Zeugnis. An dem Projekt beteiligen sich Agenturen wie DDB, Jung von Matt oder McCann-Erickson; um die Neulinge zusätzlich anzustacheln, soll ihr monatliches Gehalt mindestens 350 Euro betragen. Für den Fall, dass eine ihrer kreativen Ideen veröffentlicht wird, soll der Name des betreffenden Praktikanten erwähnt werden. SABINE KOLDEWEYH / VARIO-PRESS
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Arnd Zeigler: „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs. 1111 Kicker-Weisheiten“. Humboldt Verlag, Baden-Baden; 256 Seiten; 8,90 Euro.
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Praktikant beim Kaffeeservieren 4 1 / 2 0 0 5
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Die Geisterfahrerin Warum eine geblitzte Autofahrerin auf seltsame Gedanken kam
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ie soll rüberkommen, sagt der GutJahren tot. Sie fragte die Eltern und den achter. Er will sie fotografieren. Bruder. Auch sie sahen Eva. Ihre kurzen „Ich brauche Vergleichsbilder“, Haare während der Krankheit, als sie sagt er. Barbara Oyen, Lehrerin, kommt litt. Dann der Blick, ihren Augapfel. rüber, quer durch den VerhandlungsWar es ein Gespenst, das es bis auf saal im Bonner Amtsgericht. Sie sitzt die B9 geschafft hatte und vom festindem Gutachter gegenüber, die Schuhe stallierten Blitzer erwischt worden war? der beiden berühren sich. Er holt zwei Barbara Oyen mag Gemälde von Kameras raus, hält drauf, gibt wieder Leonardo da Vinci, Wandteppiche, es Anweisungen, Kinn hoch, Kinn runter, steht eine Marienfigur in ihrem EsszimHaare zurück, drückt zwölfmal ab. mer. Barbara Oyen glaubt an Gott, aber Richard Helmer ist Rechtsmediziner nicht an Übersinnliches. und war am Morgen mit der Bahn geGöttliche Erscheinungen schloss sie kommen, im Trenchcoat, mit Laptop. aus, menschliche Eingriffe nicht. Sie Er wohnt in Remagen, und unten in begann, an den Verkehrsbeamten der seinem Haus hat er sein eigenes Institut. Er ist derjenige, der in den schweren Fällen gerufen wird, bei Mord, wenn einer angezündet wurde und nicht mehr zu erkennen ist. Professor Helmer rekonstruiert Köpfe. Gesichter sind sein Spezialgebiet. Er war 1985 in Brasilien dabei und hat mit anderen internationalen Experten den Beweis geliefert, dass der Nazi-Arzt Josef Mengele tot ist. Jetzt soll er herausfinden, ob Barbara Oyen im Bad Godesberger Tunnel 62 Stundenkilometer statt 50 gefahren ist. Sie wurde geblitzt Oyen mit einem Foto ihrer Schwester und will es nicht gewesen sein. Der Bußgeldbescheid war im Februar an ihre Anschrift in WachtbergWerthoven bei Bonn gegangen, die 55Jährige lebt dort, allein, in einem Haus mit viel Holz, umgeben von Wiesen und Neubauten. Als sie den Brief öffnete, erschrak Barbara Oyen. Nicht wegen der 25 Euro, es war ihr Name, ihre Adresse, das richtige Kennzeichen, aber der Aus der „FAZ“ Mensch auf dem Foto, das war nicht sie, da war sie sich sicher. Stadt Bonn zu zweifeln, sie glaubt, dass Es kommt häufig vor, dass Autofahrer da System hintersteckt. Die Beamten, so solche Briefe und solche Fotos in den ihre Vermutung, hätten ein altes BlitzHänden halten und sich nicht wiederfoto der Schwester in den Bescheid erkennen oder wiedererkennen wollen. montiert, um sich auf diese Art BußDas Bild ist schwarzweiß und unscharf. gelder zu erschleichen. Und so beginnt Es gibt Fälle, in denen Beschuldigte Barbara Oyen einen Kreuzzug gegen beim Anblick dieser Bilder erst ihre die menschliche Bösartigkeit, sie will Chance und dann den Bruder aus Süddie Bonner Bürger schützen vor den amerika sehen. In der Welt der RadarLaunen der Bürokratie. fallen ist das Lügen erlaubt. Niemand Was passiert, ist klar: Die Bürokratie muss sich selbst belasten. schlägt zurück. Barbara Oyen sah ihre Schwester am Der erste Prozesstag war im Sommer, Steuer ihres BMW. Aber das war unund Barbara Oyen musste erst mal nur möglich, ihre Schwester Eva ist seit drei auf einfache Fragen antworten. Sie solld e r
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te sagen, ob sie am 20. Januar um 16.08 Uhr mit ihrem grünen BMW durch den Bad Godesberger Tunnel gefahren sei. Das wisse sie nicht. Die Richterin – streng und lebensklug – sah die hagere Person vor sich lange an und sagte, sie vermute, dass die Frau auf dem Foto vor ihr sitze. Oyen schüttelte den Kopf. Die Richterin, was blieb ihr anderes übrig, entschied, einen Sachverständigen für Gesichtserkennung zu hören. Der sollte für Beweise sorgen in diesem Streit zwischen Einbildung und Abbildung. Und so sitzt der Rechtsmediziner Helmer an diesem September-Tag Barbara Oyen gegenüber, vermisst sie, mustert sie und fotografiert sie so lange, bis sie sich fühlt „wie eine Verbrecherin“. Helmer hat Vergrößerungen von den Fotos gemacht. Sie kleben jetzt auf Pappe unter Neonlicht. Er beginnt, sie zu beschreiben. Die Wangen hohl, die Brauen voll, der Hals mit Relief, ein Lidstrich über dem Auge, der sei selten. Er sagt, es gebe 25 Merkmale. „Sie sind alle identisch mit denen vom Bußgeldbescheid. Die Frauen sind identisch.“ Als Oyen das hört, zuckt sie. Und ihre Schwester? Alles Einbildung, sagt der Sachverständige, Kasperkram. Frau Oyen solle realistisch bleiben. Tote fahren kein Auto. Der Professor legt nach. Merkmal 26, die Proportion. Mit seinem Laptop kann er beide Köpfe übereinander legen. Barbara Oyen soll aufstehen, soll sehen, dass die Frauen identisch sind. Sie legt nach. „Könnte es sein, dass der Film der Polizei, den Sie untersucht haben, kein Original war?“ Professor Helmer ist jetzt 65 Jahre alt und eigentlich pensioniert. Ihm fehlt die Lust, auf solche Fragen zu reagieren. Die Richterin zeigt eine Papiertüte, darin liegt der Film. Das Original aus dem Apparat vom Tunnel. Die Richterin will wissen, ob Oyen ihren Einspruch nun zurücknehme. Oyen sagt, es bleibe ihr nichts anderes übrig; und die Richterin – mitfühlend und milde – sagt, um Manipulation sei es in diesem Fall nicht gegangen, sondern um etwas, was nicht vor Gericht zu lösen sei. Barbara Oyen muss die Kosten tragen, allein 400 Euro für den Sachverständigen. Sie verlässt den Saal, verschwindet aus dem Amtsgericht. In ihrer Handtasche trägt sie das Foto aus dem Tunnel, im Kopf hat sie das Foto einer Erinnerung, die nicht sterben will. Barbara Hardinghaus MEIKE BÖSCHEMEIER / BONNER RUNDSCHAU
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
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Werbefilmer Aeby (in Hamburg): Hightech-Träume von einem neuen Medium der Verewigung
MICHAEL DANNENMANN
ERFINDER
Wie man Ballack klont Jeder Mensch soll sich reproduzieren und als kleine Figur weiterleben können; von dieser Idee ist der Hamburger Christian Aeby besessen. Um sie zu verwirklichen, zieht er um die halbe Welt und hat mit den Fußballern der deutschen Nationalmannschaft angefangen. Von Ullrich Fichtner
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hristian Aeby ist seit 24 Stunden in Südchina, beißende Hitze liegt über dem Land, in der Nacht hat sich ein Gewitter über seinem Hotelturm in Hongkong mit Tausenden Blitzen stundenlang entladen, jetzt ist er angekommen in der chinesischen Provinz, in der Powah Plastic Toys Factory von Huizhou, umschnattert von chinesischen Fabrikanten und ihren Vorarbeitern, und er sitzt vor der Frage, wie die deutsche Startelf bei der FußballWM 2006 aussehen wird. Ein schrankgroßes Klimaaggregat bläst Eiswind über den Konferenztisch, es werden lauwarme Chicken-Burger gebracht, die nach Zimt und Soja schmecken, es gibt Limonaden, gefärbt wie scharfe Spülmittel,
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Aeby kaut abwesend. Im Gesicht sitzt die leichte Brille aus extraharter Metalllegierung, unzerstörbares Design, sie passt sehr gut zu ihm, sie verbindet, was ihm wichtig ist, Technik, Schönheit, Erfindergeist. Die Brille redet von einem Willen zur Perfektion. Sie redet von Christian Aebys Projekten. Sein Blick geht zur Tischmitte, wo die Mannschaft steht, der ganze Kader, eine gespenstisch reale Miniatur, 26 Spieler und die Trainer wie lebendig eingeschrumpft, Maßstab 1:19, Klinsmanns aktuelle Auswahl, Aebys Geschöpfe, ein dreifacher Satz. Dreimal Ballack. Kahn. Podolski. Dreimal Ernst. Schneider. Schweinsteiger. Sie stehen da, teils noch honigfarbene Rohlinge d e r
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aus Acrylharz, teils Abgüsse in weißem Polyresin oder schon handbemalte Originale. Sie sehen aus wie im Fernsehen, wie im Augenblick der Hymne, feierlich aufgereiht, die Hände im Rücken verschränkt und jeder Einzelne ganz unverkennbar. Ballacks Unterbiss. Schneiders kurze Beine. Kahn, ganz grimmiger Soldat. Der zierliche Ernst. Schweinsteigers Schädel. Podolski, wie ein Paket. Aeby, 47, greift wahllos in die stumme Versammlung hinein, er will von der Fabrik weitere Arbeitsproben sehen bis morgen, aussagekräftige Muster, die er in Deutschland herumzeigen kann, aber die Chinesen sagen, sie schaffen so schnell nicht alle 26 Mann. Der Fabrikdirektor tut skeptisch, er
Gesellschaft ist ein windiger Typ mit Kettchen über dem dene Nägel vom Art Directors Club, TroT-Shirt, er empfängt in Turnschuhen. Er phäen einer schönen Karriere. Im Kundenbuch der Firma stehen VW, hat seine Chefmalerin dazugeholt, sie sitzt gebückt und macht sich Notizen in ein Ikea, Mercedes. Aeby hat Werbung gemacht für die Sparkasse, für die „Bild“Schulheft. Aeby muss aussortieren. Jetzt, hier, im Zeitung, für österreichische Banken, er Nichts der chinesischen Provinz, muss er lässt das Personal für seine Spots weltdie besten deutschen Fußballer taxieren, weit casten, er baut die Kameras auf in eine Startelf aufstellen, seine Vertriebsleute daheim warten auf Futter, er braucht Beweise dafür, dass seine Idee ein Geschäft werden kann. Dass sein Traum wirklich funktioniert. Er braucht Arbeitsproben, die zeigen, dass er dem Markt kleine Menschen liefern kann, ein neues, unerhörtes Produkt. Er dreht eine Figur in der Hand, einen Mann in Miniatur, mehr Statue als Puppe, mehr Klon als Spielzeug, er hat ihn in der Nacht, am Schreibtisch seines Hotelzimmers, mit Marabu-Farben eigenhändig bemalt, hat die Farben in der Seifenschale aus dem Hotelbadezimmer angerührt, hat gepinselt, getupft, gewischt. Aeby schaut sich das Gesicht an, das Bärtchen um den Mund, er fährt mit dem Daumen über die Schultern, das vorgereckte Kinn, die Waden, er sagt: „Deisler. Was ist mit Deisler? Packt’s der? Ich mein’, ist der wirklich dabei?“ Aebys Reise nach China begann gut. Gleich nach der Ankunft hatte er im Lobby-Café des Hotels einen Ballack auf den Tisch gestellt, er aß Frühlingsrollen und gedämpfte Teigtaschen vom Tagesbüfett, und ein Kellner schnürte durch den Saal, der beim Abräumen des Geschirrs auf das Männchen zeigte, den Daumen hob, und sagte: „Ah, Barrack, very famous!“ Für Aeby war es wie Weihnachten. Der Kellner bezeugte, wie echt seine Figuren wirken, wie wiedererkennbar sie sind, selbst eine halbe Welt von Deutschland entfernt. Er berichtete davon sofort am Mobiltelefon, am anderen Ende sein Büro in Hamburg, er machte den Kellner nach – „Ah, Barrack“, „famous“ –, er lachte meckernd, er strich sich, weit zurückgelehnt, durch die grauen Haare, und in Stimme und Haltung lag die Hoffnung eines Unternehmers, der sich nach großem Einsatz große Marktchancen erträumt. Aeby ist eigentlich Werbefilmer. Er hat auf dem 37. Advertising Festival in Cannes für einen Motoröl-Spot einen bronzenen Löwen gewonnen, auf dem 40. holte er Gold für John Player Special. Seine Firma ist ein langer weißer Schlauch in einem Hinterhof in Hamburg-Eimsbüttel, an den Wänden hängt teure moderne Kunst, auf den Fensterbrettern finden sich gol- Star Ballack im 3-D-Scan: Jede Winzigkeit zählt d e r
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Japan, Brasilien und Südafrika, er fährt zum Finish seiner Filme nach London, und wenn er meint, für einen Spot einen großen, lebenden Braunbären zu brauchen, ruft er die Tiertrainer von Hollywood an. Aeby hat sich, nach fast 20 Jahren im Geschäft, nichts mehr zu beweisen. Weihnachten vor zwei Jahren hatte er einen Freund zu Gast, der mit Lampen aus Indien handelt, Direktimport, er erzählte von kleinen Gipsfiguren, die er auf seinen Reisen gefunden hatte. Sie stellten indische Berühmtheiten dar, Nehru, Gandhi, fasziniert sprach der Freund von ihrer Aura, vom seltsamen Wert der billigen Souvenirs, und nach diesem Abend fand Aeby, wie existentiell wachgerüttelt, nicht in den Schlaf. Es muss gewesen sein, als hätte sich in seinem Hirn ein Schalter umgelegt. Als hätte er, ein paar Jahre vor dem 50. Geburtstag, ein neues Objekt gefunden, ein neues Lebensprojekt, eine Herausforderung, auf die sich seine ganze Energie seit langem, unbemerkt, stürzen wollte. Tags darauf besuchte er gleich den Freund, um die Figuren zu sehen, in fiebriger Erwartung, aber er wurde maßlos enttäuscht. Er fand nicht, wovon der Freund geredet hatte, er hielt nur tote Püppchen in der Hand, lieblos in Gips gegossen, der Gandhi nur mit viel gutem Willen überhaupt erkennbar, ernüchternde Ramschware. Aber der Traum war einmal geträumt. Aeby, ein gebürtiger Schweizer, ein Bürgersohn ohne Abitur, Klavierspieler, Kunstmaler, der in seiner Jugend mit begnadetem Strich Modigliani-Porträts kopierte, schwierige Picassos, Cézannes, er lernte die unheimliche Kraft des Lehrsatzes kennen, den ein anderer Schweizer, Friedrich Dürrenmatt, den Protagonisten seines Dramas von den „Physikern“ sagen lässt: Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden. Aebys Mutter entschloss sich damals zu neuen dritten Zähnen. Sie erzählte dem Sohn davon, wie Mütter das tun, arglos, aus kleinem Alltag plaudernd, dass der Arzt zur Vorbereitung ihren Kiefer gescannt habe, dass er eine Form fabriziert habe, so exakt wie die Natur selbst. Aeby sog die Geschichten vom Gebiss der Mutter wie eine Droge ein. Was mit einem Kiefer ging, musste auch mit dem ganzen Menschen gehen. Musste. Konnte. Aeby recherchierte. Er drehte noch regelmäßig Filme, damals, aber in jeder Pause warf er sich in sein neues Projekt. Er ermittelte die Namen von Firmen, die mit Scannern zu tun hatten, er fand Kon83
MICHAEL WOLF (G.)
Gesellschaft
Figurenfabrik in China, Nationalspieler Deisler im Körperscanner: Statuen wie vom Bildhauer bald für jedermann?
takt zur Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften, er diskutierte mit Professoren, mit Ingenieuren, mit Startup-Unternehmern, er fand heraus, überrascht, dass Deutschland in der Scan-Technik zu den Weltmarktführern zählt, mit weitem Vorsprung teils im globalen Rennen um lasergenaue Messverfahren, um digitale Erfindungen für den Bedarf der Hochtechnologie. Er fand Human Solutions, eine Firma, die Maßschneider und Orthopäden mit Körperscannern beliefert, er fand in Wiesbaden Vitronic, deren Scanner die Basis des deutschen Mautsystems bilden, weil sie einen Lastwagen in schneller Fahrt in Sekundenbruchteilen erfassen können. Er fand 3D Systems, ein Unternehmen, das weltweit Firmen mit 3-D-Technologie ausrüstet. Er fand Forte + Wegmann, eine kleine, feine Hightech-Fräserei in Iserlohn, und vor allem Herrn Hirte, ihren begeisterten Chef, dessen Denken sich um die Beherrschung der Dreidimensionalität dreht, ein risikofreudiger Perfektionist wie Aeby selbst. Aeby kam seinem Traum näher. Er experimentierte. Er wollte, fürs Erste, lebensechte Fußballer bauen. Er träumte noch nicht davon, oder er verbat sich noch diesen Traum, der Menschheit ein neues Medium schenken zu wollen, eine Art Passbild in 3 D, eine Statue für jedermann wie vom Bildhauer für wenig Geld, aus einem schicken Shop an der Ecke. Name: „Minimen“, Slogan: Small is big. Er bestellte zwei Regionalligakicker in die Herrenabteilung von C&A in Hamburg, wo ein Körperscanner stand, gedacht dafür, Anzugjacken und Hosenaufschläge 84
ohne Nadeln und Maßband anzupassen. zum Deutschen Fußball-Bund. Aeby stand Er ließ die Daten der Männer in einen 3-D- wie ein Kind kurz vor der Bescherung. Printer füttern, Marke Objet, israelisches DFB, das hieß: WM 2006. Es hieß Zugang Fabrikat, eine Maschine, die anstelle von zu Ballack, zu Kahn, zu Podolski. Es verTinte mit Acrylharz druckt. Die Objet kann hieß exklusive Geschäfte in einem sich aufdreidimensionale Körper produzieren, in- heizenden Markt. dem sie feinste Scheibchen Harz aufeinAeby ahnte damals noch nicht, dass er ander schichtet, im Fall von Aebys Figuren nun sehr schnell sehr viel Geld würde aufSchattenriss auf Schattenriss, und endlich treiben müssen, 450 000 Euro allein an Lihielt ihr Schöpfer tatsächlich in Händen, zenzgebühren für den Fußball-Bund. Er wonach er gesucht hatte: ein Modell des wusste noch nichts über Patentrechte, über Menschen. Einen Klon. Ein Ebenbild. Warenmusterschutz, über Wort-Bild-MarAeby stieg in den Keller seines Hauses in ken. Nichts über das Vertriebsgeschäft, Hamburg-Othmarschen, viele Abende. Er über Containerfrachtraten im Hafen von montierte Köpfe auf Körper, Hongkong. Aber er war jetzt, eine ganze Regionalligaals Unternehmer, angekommannschaft hatte er mittlermen im ganz großen Spiel. Aeby suchte weile gescannt, er modellierAm 1. Juni, einen Tag nach das Lebende – te, er bastelte, er schuf KreaEinweihung der Münchner ein verspielter turen, setzte seinen eigenen Allianz-Arena, fuhr Aeby im Kopf auf die Hälse von MusKleinbus am Münchner HilBruder des kelmännern, auf Schlanke ton vor, Quartier der NatioDr. Frankenstein. und Dicke, er probierte mit nalmannschaft. Im Bus einFarben, er suchte in toten gebaut der Kopfscanner wie Bauteilen das Lebende, die ein Passbildautomat, draußen Illusion des Individuellen – ein verspielter stellten sie die großen Teile des Körperkleiner Bruder des Dr. Frankenstein. scanners auf und warteten auf die TraiIn der Filmfirma stand bald ein kleiner ningspausen ihrer kostbaren Modelle. Aeby, von Kopf bis Fuß gescannt, sein Sie kamen, Mann für Mann, herangeKlon, bekleidet mit dem Nationaltrikot, führt von den Lakaien des DFB, Michael und die Figur verströmte so mächtig etwas Ballack nahm schlecht gelaunt Platz und Neues, Besonderes, dass bald Gäste aus kehrte, in kurzen Hosen, den Star heraus, Stuttgart auf sie aufmerksam wurden. Sie Kahn ließ alles über sich ergehen, kühl, waren gekommen, um einen neuen Wer- professionell, nur innerlich rätselhaft wübefilm für die Mercedes-C-Klasse abzu- tend, wie immer. Als Klinsmann und Löw nehmen, aber bald interessierten sich die kamen, in Trainingsanzügen, schickte Aeby Kunden nur noch für dieses Männchen. sie zum Umziehen. Er wollte sie im Sakko, Aeby erzählte von seinem Projekt. Und wie im Fernsehen. „In den Dingern seht ihr die Kunden erzählten von ihren Kontakten ja aus wie Regionalliga“, sagte er. Am d e r
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Gesellschaft suchen, sie liegt noch viel weiter im Hinterland. Aeby geht mit einem Broker aus Hongkong auf Tour, der Flug von Shenzhen dauert eine Stunde, danach geht es zwei Stunden im Auto über Land. Aeby ist jetzt sehr weit weg von zu Hause, von Hamburg, es geht nach Quanzhou, an den Fenstern zieht China vorbei wie eine asiatische Schweiz, lieblich, alte Pagoden stehen hingewürfelt in bewaldetem Hügelland, Fuhrwerke kreuzen, Fahrräder. Im Konferenzraum warten sie schon, hochgestimmt. Um den jungen Direktor sitzen kleine Damen in Pastell, die Verkaufsmanagerin, die Chefin der Malabteilung. Sie haben an Ballack gefummelt, an der Urform. Die Figur hat Glubschaugen und Hände wie ein Frosch, das Gesicht ist grau, das ganze Ding hat nichts mehr mit dem Spieler gemein, es ist ein Püppchen, kein kleiner Mensch, kein Aeby. Er wird in den Showroom der Fabrik geführt, das ist ein bonbonfarbenes Wunderland, bevölkert von Elfen und Feen, die Fabrik hier ist eher im Groben daheim, die Malkünste reichen für Gartenzwerge und Hobbits, das Echte, Genaue liegt ihnen fern. Aeby hat Sorgen. Er weiß, dass in Wahrheit Winzigkeiten darüber entscheiden, ob ein Ballack wie Ballack aussieht, er sagt: „Das wird eine Menge Arbeit hier.“ Es folgt ein dreistündiges Gespräch über Qualität. Aeby begeht den Fehler vieler westlicher Geschäftsleute in China, er spricht abstrakt. Er redet über Möglichkeiten und Optionen, er unterschätzt die Verluste durch die Übersetzung. Die Chinesen nicken verwirrt. Aeby will seine Partner auf die feinen Rillen hinweisen, die beim 3-D-Printen an den Figuren zurückbleiben. Er wünscht sich einen Grundanstrich, der diese Rillen glättet. Der
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Abend hatte er den kompletten National- me getuscht, die an Plastiktierchen kleben kader gescannt und die Daten der 26 Spie- werden, die in Kinderhänden die ersten ler plus Trainer auf CD gebrannt. Ein vir- zehn Minuten nicht überleben. Aeby sagt, zweimal auf dem Rundgang, tueller Schatz, ein Jahr vor der WM. Nun ist Aeby seit fünf Tagen in Südchina, als müsste er sich selbst vergewissern, als das Land liegt unter einer Glocke aus Hit- müsste er den guten Menschen in sich beze, zwei weitere Male ist er inzwischen von ruhigen: „Ich find’s sehr gut, dass die hier Hongkong hinausgefahren nach Huizhou, die Abgase so gut wegsaugen, um sie von langwierige Touren in einem schiffsgroßen den Leuten fern zu halten.“ In der Halle, wo die Formen gegossen Toyota Alphard, es ging über die Grenze nach Shenzhen hinein, vorbei am Lo-Wu- werden, wirbeln stechende Wolken durch Bahnhof mit seinen Kaufhäusern, voll ge- die Raumluft, umgewälzt von Deckenvenstopft mit gefälschter Markenware, danach tilatoren, ungenau abgeleitet durch Wanddurch karges Buschland, in dem kleine Fa- löcher nach draußen. Man fühlt sich nach wenigen Minuten einer Ohnmacht nahe. briken den großen Himmel zudampfen. Aeby redet sich die Welt hier Es war immer klar, dass schön. Aebys Figuren von Hand beEin Pinselstrich, Ein Bote bringt neue Musmalt werden müssen. Und dater während des Rundgangs, mit war klar, dass die Masund Ballacks Ballack und Asamoah, ihre senproduktion nur in China Gesicht sieht Gesichtsfarbe passt jetzt, sie stattfinden konnte. In der aus wie von sahen zuerst beide aus „wie Powah Plastic Toys Factory der Lepra drei Wochen Mallorca“, der sitzen 800 Arbeiterinnen zu eine zu dunkel, der andere Dutzendergruppen an langen zerfressen. zu hell, jetzt stimmt die RichBlechtischen platziert, die tung, Aeby sagt: „Great. Very Mädchen drängen sich dicht an dicht, Farbpaletten vor sich, Pinseltöp- good.“ An einem Tisch, wo sie Alien-Kralfe, sie ziehen die Rohlinge westlichen Spiel- len mit einem grauen Schleier überziehen, zeugs aus weiten Körben und von großen kommt ihm die Idee, das auch mit seinen Paletten, burlesker Plunder aus aller Welt, Männchen zu versuchen. Asamoah bekommt die Behandlung sehr jeder Griff sieht aus wie von Automaten gut. Er sieht echter aus jetzt, matter, noch ausgeführt. Sie tupfen Bartstoppeln auf Goofys menschlicher. Bei Ballack wirkt die BeSchnauze, sie geben Jedi-Rittern das glän- handlung fatal. Das Gesicht sieht aus wie zende Auge, jedes Ohr von Mickey Mouse von Lepra zerfressen. Aeby sagt: „Na gut. wird mit feiner Hand koloriert, jedes Nur ’n Versuch.“ Er lacht. Er optimiert. Er Pünktchen auf jedem Mützchen jedes ist seit zehn Stunden auf den Beinen, seit Weihnachtsbärchens wird mit dem Pinsel acht Stunden in der Fabrik, er zeigt keinergesetzt. Es entstehen Trolle und Gnome, lei Ermüdung, er fühlt sich, sagt er, die zehntausendfach, Käfer und Schlangen, ganze Zeit schon „wie angstfrei im Kampf“. Am nächsten Tag, nach kurzem Schlaf, Weihnachtskrippen, Christkindchen, es werden Fledermausflügel und Krakenar- macht er sich auf, eine zweite Fabrik zu be-
DFB-Trainer Bierhoff, Löw, Köpke als „Minimen“: Virtueller Schatz in einem sich aufheizenden Markt vor der Fußball-WM
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seine Minimen von Mitte November an auf Tankstellenregalen und hinter Kioskfenstern einstauben? Aeby durchlebt die Ängste eines Schülers am Abend vor der Prüfung. Niemand kann wissen, wie der Markt das neue Produkt aufnimmt. Niemand kann sagen, wie viele Menschen Ballack oder Kahn oder Deisler derart verehren, dass sie sie aufstellen wollen wie eine Madonna. Aeby ist vorsichtig. Ihm laufen die Kosten davon. Er hat sich verschuldet für dieses Projekt bis knapp unters Kinn, er hat Freunde angepumpt, er hat seine Hausbank strapaziert. Warum das alles? Wofür? Aeby sagt: „Es ist das Authentische. Das hat eine wahnsinnige Faszination, ich meine, eine wahnsinnige Faszination.“ Er wird, für die Startauflage, 20 000-mal Ballack ordern und ebenso oft Kahn. Kuranyi wird er mit 10 000 Kopien ins Rennen schicken, wie Schweinsteiger und Podolski. Deisler: 8000 Stück. Mertesacker, Hildebrand, Klinsmann: 5000. Dann alle anderen 1000-mal geklont, 3000mal, je nach Prominenz. Statuen, keine Puppen, kein Spielzeug – und vielleicht, wer weiß, Türöffner für ein globales Projekt, für ein neues Medium der Verewigung. Wird es bald Statuen geben für jedermann aus dem Copyshop? Aeby ist zurück in Hongkong, in seinem Hotelzimmer im 33. Stock, er hat noch einmal um zwei Tage verlängert, den Flug umgebucht, drunten rumoren die Nachtmärkte von Hongkong, er schaut nicht hin. Er malt schon wieder, er tupft an einem Mertesacker herum. Er sagt: „Ja, ja, es ist auch eine Last, manchmal.“ Bevor er Filme drehte, bevor er Männchen schuf, war das Theater sein Zuhause, die Opernbühne. Er begann als Statist, als Fechter im Hintergrund von „Romeo und Julia“, er brachte es zum Abendspielleiter in Basel, Zürich, Rom. Er kann umgehen mit großen Gefühlen, er kann ihnen Form geben. Er kann inszenieren, immer schon, was Menschen reizt, rührt und gefällt. Minimen, das ist eine neue Inszenierung, seltsam große Gefühle in kleinem Plastik, die Männchen werden in den Regalen stehen wie Kunst. Es ist der menschliche Makel, der sie anrührend macht, der schiefe Rücken bei Schweinsteiger, die traurigen Schultern von Podolski, Schneiders kurze Beine, Ballacks Unterbiss. Eigentlich, sagt Aeby, hat er sein Leben lang immer dasselbe gemacht. Hat nicht weggehört, wenn ihm Ideen kamen, die sein Leben verändern wollten. Und hat Bilder gesucht, hat kopiert, in Szene gesetzt, Bilder vom Menschen, so wie er ist. Auf dem Theater. Im Film. Jetzt in Plastik. ™ MICHAEL DANNENMANN
Direktor fährt über die Trikotfalten und sagt „Yes“. Aeby sagt „No“. Er sagt: „Es geht um diese Streifen hier. Man könnte sie wegpolieren, aber das verändert die Figur. Man müsste sie zuerst übermalen vielleicht.“ Der Direktor antwortet: „Sie wollen diese Streifen erhalten, damit es aussieht wie Holz?“ Aeby ruft schon in die Übersetzung hinein: „No!“ – „Ich verstehe“, sagt der Direktor, „Sie wollen, dass wir die Figuren polieren.“ – „No. No. No.“ Auch in Quanzhou wird ein Fabrikrundgang geboten, hoch in den Hallen hängen Spruchbänder mit kommunistischen Parolen, die Arbeitstische hier sind 50 Meter lang und aus Holz grob gezimmert, Tausende verdienen sich hier ihren Lohn, eine Armee, eifrig und still. In den Sälen läuft die Weihnachtsproduktion, die Luft flimmert in grellem Nikolausrot. An den Tischen sitzen viele Kinder, erschütternd kleine darunter, sie sehen aus, als wären sie voll in die Arbeit eingespannt. Auch Aeby bemerkt sie, beunruhigt. Er hat ein Projekt. Er hat einen Traum. Und hier sind die Mittel zum Zweck, hier ist China, hier ist die Arbeitskraft, die er braucht. Aber Kinder? Aeby hat selbst Kinder, eine Tochter, zwei Söhne. Er will nicht, dass seine Männchen von Kindern produziert werden. Er ist, beim Abendessen im Restaurant-Séparée mit dem Direktor und den Damen in Pastell, auf einmal in der Rolle von Politikern auf Staatsbesuch. Er muss sich jetzt ermannen. Er muss jetzt „die Menschenrechte ansprechen“. In der Mitte des Tisches kreisen festlich die Teller, es gibt Entenfüße und getrocknete Fische, Fleischeintöpfe mit Zimt, fremdes Gemüse. Die Kahn-Figur: Anrührender menschlicher Makel Stimmung ist gut, in großen Gläsern Aus Hamburg kommen in den bunten schwappt eiskaltes Bier, ein „Gan bei“ folgt dem nächsten, „Gan bei“ heißt: auf ex, auch Abend hinein gute Meldungen. Die Verdie Damen halten fröhlich mit, Aeby sagt: triebsleute haben jetzt feste Zusagen von „Wenn hier bei Ihnen Kinder arbeiten, dann Presse-Grossisten, es geht um 150 000 Figuren, vielleicht mehr. Coca-Cola ist haben wir ein großes Problem.“ interessiert, T-Mobile. Die Der Direktor stutzt nicht Deutsche Bahn auch, sie will eine Sekunde. Er sagt, dass Coca-Cola ist die Männchen vielleicht als es dieses Problem nicht gibt, Prämie für Kunden einkauer spricht ruhig. „Wir werden interessiert, fen. Aeby sagt ins Telefon: hier von Walt Disney überT-Mobile, die „Wunderbar. Aber wie viel prüft. Die wollen auch keine Deutsche Bahn. machen wir jetzt von jeKinder. Wir wissen das.“ Aber Aeby laufen dem?“ Aber die Kinder, in der FaEr muss den Fabriken hier brik? „Es ist Ferienzeit“, sagt die Kosten davon. bald Zahlen sagen, bis zur der Direktor, „wir haben vieMarkteinführung Mitte Nole Praktikanten. Die Eltern sind froh, wenn ihre Kinder einen Platz vember wird langsam die Zeit knapp, die finden. Die Ferien sind lang bei uns in Chi- ganze Verschiffung muss auch noch organa.“ Gan bei. Noch ein Bier. Und noch nisiert werden, aber er schwankt ständig eins. Aeby sagt, auf Deutsch: „Das klingt zwischen Ängstlichkeit und Größenwahn. plausibel, find ich. Ich meine – Praktikan- Wird es ein großes Geschäft? Ein Riesengeschäft? Ein Mega-Ding? Oder werden ten, das kann doch gut sein.“
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Momentaufnahme Ortstermin: In Berlin liefert eine Ausstellung die Fotos zur Lage der Nation.
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Generationenkämpfe. Das Haar ist grau, der Karategürtel braun. Eine Faust reckt sich dem Betrachter entgegen. Wehe, wenn die nächste Rentenkürzung kommt. Ein alter Mann stählt sich im Kraftraum, andere lauschen konzentriert im Hörsaal. Die Jugend dagegen, die Julian Röder in seiner Serie „81% waren schon mindestens einmal verliebt“ zeigt, knutscht, pennt, reist, tanzt und wird mal wieder nicht gut beim Pisa-Test abschneiden. Am Ende könnte es so kommen, wie Werner Mahler in seiner Serie „Temporäre Architektur“ andeutet. Ein Volk, das international zurückgefallen ist, vagabundiert auf der Suche nach Arbeit. Man campiert in Kleinzelten, dicht an dicht neben einer Reihe mobiler Toilettenhäuschen, die alle beschmiert sind. Man hat seinen Dreck ins Stoppelfeld geworfen. Man ist doch noch – wie lange gefordert – hochflexibel geworden, hochmobil, als nomadisches Proletariat der Globalisierung. Die Leute, die diesen Horror verhindern sollen, die gerade in der „Parlamentarischen Gesellschaft“ die Zukunft der Republik verhandeln, sieht man in der Serie „Politik Macht Rituale“ von Michael Trippel. Schröder ist unscharf, Merkel fast zwergenhaft klein, Müntefering scheint Gott um Hilfe anzurufen. Sie haben dicke Autos und bewegen sich in riesigen Gebäuden, aber sie wirken nicht wie Leute, die viel ausrichten können. Aber sie müssen viel anrichten in den nächsten Jahren. Die Ausstellung zeigt nicht das ganze Deutschland, nur einen Teil, und dieser Teil, die Dritte Welt im Inneren, darf nicht wachsen, muss schrumpfen. Darum müsste es jetzt gehen, da drüben in der „Parlamentarischen Gesellschaft“. Um Viertel vor fünf geben Merkel und Stoiber eine kurze Pressekonferenz, danach kommen Schröder und Müntefering. Es waren gute Gespräche, man ist einen Schritt weitergekommen, sagen sie, und ihre Worte klingen, als hätten sie die letzten Stunden nicht übereinander geredet, sondern als wären sie einen langen Moment lang an diesen Bildern vorbeigezogen. Dirk Kurbjuweit FOTOS: MARCO-URBAN.DE
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m 14 Uhr beginnt das große Warten. die Last der Hypotheken auf das Leben in Die Kameras ruhen auf den Stati- diesen Häusern drücken zu sehen. ven, die Kameraleute rauchen und Eine neue Gründerzeit, Deutschland so verschicken SMS. Die Tür zur „Parlamen- am Boden wie in der Nachkriegszeit? tarischen Gesellschaft“ ist geschlossen. Da- Schwarzweißfotos von Jordis Antonia hinter verhandeln Angela Merkel, Edmund Schlösser zeigen Trümmer und zerstörte Stoiber, Gerhard Schröder, Franz Müntefe- Gebäude. Die Fassade über einem offenen ring und andere über die Zukunft Deutsch- Fenster ist rußgeschwärzt, als wäre eben lands. Es ist Mittwoch, drittes Sondierungs- eine Granate eingeschlagen. gespräch zwischen Union und SPD. Die Serie heißt „Halle-Neustadt“, und Gegen 17 Uhr soll sich die Tür wieder Schlösser hat nicht die Nachkriegszeit öffnen. Zeit genug, um das Land zu be- fotografiert, sondern die Gegenwart: den sichtigen, das alle regieren wollen, Zeit ge- Abriss, die Leere, die Verwahrlosung und nug, um zum Kulturzentrum Pfefferberg an den Zustand der Menschen, die noch in der Schönhauser Allee zu fahren und einen Halle-Neustadt leben. Jugendliche und Kinder lungern vor Blick auf die deutsche Realität zu werfen, auf das, was erhalten oder verändert wer- einer Baracke. Sie stehen inmitten ihrer den soll. „Neueinstellung – Deutschland- Kippen, trinken Bier und hören Musik aus bilder“ heißt die Ausstellung der Fotoagentur Ostkreuz, die demnächst vom Goethe-Institut um die Welt geschickt wird. Ein Junge steht vor einem Fernseher. Die Wohnung ist so abgelebt und leer, als wäre gerade jemand ausgezogen und hätte nur Gerümpel hinterlassen. Aber hier wird gelebt. Zwischen den Türen steht ein voller Wäschekorb. Die großen Zehen des Jungen schauen aus den Socken heraus. „Kindheit“ heißt diese Fotoserie von Anne Schönharting. Die Kinder, die sie zeigt, Fotoausstellung in Berlin: Merkel ist zwergenhaft klein die Kinder der Unterschicht, haben Gesichter wie alte Krieger dem Ghettoblaster. Gras wächst aus den nach der Schlacht. Es lachen nur die Trick- Ritzen zwischen den Steinplatten, ein Fensfilmfiguren auf einem Plakat, und die Kind- ter ist zersprungen. heit endet, bevor sie begonnen hat. Ein Ein paar Meter weiter bietet die AusMädchen hält eine Katze im Arm, dahin- stellung Erholung, Aufmunterung. So ter hängt ein Poster, auf dem sich eine Frau schlimm ist es doch nicht, scheinen die Bilin den Schritt greift. Die andere Hand hält der zu sagen. „Die Besten Deutschlands“ eine Bierflasche. Ein Elternpaar sieht aus, heißt eine Serie von Heinrich Völkel. Aber als wäre es nur kurz wach zwischen zwei er zeigt nicht Nobelpreisträger, sondern Räuschen. Eine Mutter guckt, als hätte sie eine Bauchtänzerin, einen Seifenkistendas Wort Hoffnung nie gehört. Neben ihr piloten, einen Schäferhund und einen Grillschlafen die dicken Kinder. meister, dessen Grill aussieht wie eine LoAber Deutschland ist auch schön. In der komotive. Er strahlt, er ist einer der weniSerie „Heimat II“ von Wolfgang Bellwin- gen in dieser Ausstellung, die fröhlich sind. kel grünt und gelbt der Wald, die Wiesen Aber kann man mit seinen Rippchen sind saftig, die Neue Mitte lebt im Einfa- und Würsten die Zukunft gewinnen? milienhaus von Viebrock, alles genormt, Einen Ausblick auf das, was kommt, gibt alles einheitlich. Es sieht nicht aus, als Ute Mahler in ihrer Serie „Neue Alte“. wohnte hier das große Glück. Man meint, Man sieht Rentner, die sich rüsten für die
Wirtschaft
Trends A F FÄ R E N
Wolfsburger Liebesspiele
Gebauer
Schmuck gekauft, den Volkert seiner Ehefrau mitgebracht habe. Laut Kreditkartenabrechnungen, die Gebauer der Staatsanwaltschaft vorlegte, habe er in den Jahren 2000 bis 2002 dafür 33 307,03 Euro ausgegeben, die er sich über sogenannte Eigenbelege von VW habe ausgleichen lassen. Auf Anweisung von Volkert und Hartz habe er zudem eine Wohnung in Braunschweig angemietet, in der man sich mit Prostituierten treffen konnte. Volkert und Hartz hätten einen Schlüssel für die Wohnung besessen. Die
werb, seit PC-Spezialist Dell etablierten Druckerherstellern wie Hewlett-Packard, Epson oder Lexmark mit eigenen Produkten Konkurrenz macht. Doch bei der Tinte kann die Branche die Einbußen mit einem Trick oft wieder ausgleichen. Denn die Patronen, deren Preise aufgrund des harten Konkurrenzkampfs teilweise ebenfalls gesenkt wurden, enthalten immer weniger Inhalt, stellten die Marktforscher von Lyra fest. Die Folge: Mit 4800 Dollar pro Liter kostet zum Beispiel die in den Patronen HP 95 des Marktführers Hewlett-Packard enthaltene Tinte inzwischen so viel wie die gleiche Menge manch teuren Edelparfums. Anfang der neunziger Jahre, so die Lyra-Experten, verlangte HP für seine Tinte noch vergleichsweise bescheidene 1380 Dollar pro Liter. Die Tinte allein sei gar nicht maßgeblich, verteidigt Hewlett-Packard seine Preispolitik. Da die Geräte immer effektiver arbeiteten, seien die gesamten Druckkosten seit 1991 um mehr als 60 Prozent gesunken. FRANK PETERS / ACTION PRESS
laus-Joachim Gebauer, der entlassene VW-Personalmanager, hat mit seiner Aussage vor der Staatsanwaltschaft Braunschweig am vergangenen Donnerstag zwei SPD-Politiker, den Ex-Betriebsratschef Klaus Volkert und den zurückgetretenen Personalvorstand Peter Hartz belastet. Sowohl Günter Lenz, Betriebsratsboss des VW-Werks Hannover und zugleich SPD-Landtagsabgeordneter, als auch der Ex-Geschäftsführer des VW-Gesamtbetriebsrats und SPDBundestagsabgeordnete Hans-Jürgen Uhl hätten mehrfach die Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen, die er bezahlt habe und deren Kosten er sich später von VW habe ersetzen lassen. Beide weisen die Vorwürfe als falsch zurück. Volkert habe er, so Gebauer, vor etwa 40 bis 50 Treffen mit dessen brasilianischer Geliebten Bargeld in Höhe von 10 000 bis 15 000 Mark, später Euro übergeben. Die Summen habe er sich danach von VW überweisen lassen. Ebenso habe er, wenn er mit Volkert in Brasilien war, vor dem Abflug bei einem Juwelier
RAINER JENSEN / DPA
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Druckerpatronen COMPUTERINDUSTRIE
Teure Tinte
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inte für Computerdrucker wird immer teurer. Das ist das überraschende Ergebnis einer Untersuchung der US-Beratungsfirma Lyra Research, die seit ihrer Gründung im Jahr 1991 den Druckermarkt intensiv beobachtet. Zwar klagt die Branche über einen zunehmend brutaler werdenden Wettbe-
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Kosten für Renovierung und Miete habe er ebenfalls bei VW abgerechnet. Von Volkert war dazu keine Stellungnahme zu erhalten. Hartz ließ schon vor einiger Zeit zu einer entsprechenden Anfrage des SPIEGEL ausrichten, die Vorwürfe seien falsch. Die Staatsanwaltschaft nahm derweil Ermittlungen gegen Hartz wegen des Verdachts der Untreue auf. Grund: Es hätten sich Anhaltspunkte gefunden, dass Hartz „Kenntnis von Art und Inhalt“ der Spesenmachenschaften gehabt habe.
GESETZE
Druck auf die Betriebe ie Wirtschaftsdatenbank Creditreform rechnet damit, dass ein von D SPD und Union beschlossenes Gesetz 2006 zu einer Pleitewelle unter kleinen und mittelständischen Betrieben führen wird. Die neue Regelung sieht vor, dass Firmen die Sozialversicherungsbeiträge nicht mehr wie bislang zur Mitte des Folgemonats, sondern am Ende des laufenden Monats an die Sozialkassen überweisen. Regierung und Union wollten damit eine Erhöhung des Beitrags zur Rentenversicherung verhindern. „Die Neuregelung wird die ohnehin angespannte Liquiditätslage vieler Unternehmen drastisch verschärfen“, sagte Creditreform-Vorstand Helmut Rödl. Besonders betroffen ist die Zeitarbeitsbranche, die mit hohen Personalkosten und geringem Eigenkapital operiert. „Angesichts der zusätzlichen Kosten wird bei einigen Unternehmen das Licht ausgehen“, glaubt Volker Enkerts, Präsident des Bundesverbandes Zeitarbeit. 93
Wirtschaft
Trends FINANZEN
Deutschlands Bonität verschlechtert sich
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und das bescheidene Wirtschaftswachstum. „Deutschland ist der Motor der Euro-Zone, läuft aber nur mit halber Kraft“, kommentiert ein Londoner Banker die Entwicklung. Die Rangliste ergibt sich aus einer zweimal pro Jahr durchgeführten Umfrage unter 100 Bankökonomen und Risikomanagern. Die beste Benotung erhielt erneut die Schweiz, gefolgt von Norwegen und Luxemburg.
PAUL LANGROCK / ZENIT
ie Kreditwürdigkeit Deutschlands hat sich weiter verschlechtert. Laut dem Bonitäts-Barometer des WallStreet-Magazins „Institutional Investor“ rutschte Deutschland zwischen März und September vom 10. auf den 13. Platz ab und liegt inzwischen sogar hinter Österreich. Anfang 2004 belegten die Deutschen noch Rang 8. Hauptursachen des schlechten Abschneidens sind das anhaltende Haushaltsdefizit
Finanzministerium in Berlin
Streit in der Spitze
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ei den Arbeitgeberverbänden gibt es Unmut über Effizienz, Organisation und politische Ausrichtung ihrer Berliner Zentrale, die vom baden-württembergischen Unternehmer Dieter Hundt sowie Hauptgeschäftsführer Reinhard Göhner geleitet wird. Das geht aus einer internen Leistungsbewertung der südwestdeutschen Metallarbeitgeber hervor. Die Organisation kritisiert, dass eine Reihe von Abteilungen der Zentrale Doppelarbeit erledigten. Bei zahlreichen tarifpolitischen Themen gebe es „keinerlei Kontaktaufnahme“ mit den Mitgliedsverbänden und „extrem wenig Verständnis für praktische Probleme“. Bei Fragen des Arbeitsschutzes und der Gesundheitsförderung gebe es „de facto keine konzeptionelle inhaltliche Arbeitgeberposition“, so dass deutsche Interessen in Brüssel nur „relativ schwach wahrgenommen“ würden. Die volkswirtschaftliche Abteilung wiederum sei personell „recht luxuriös ausgestattet“ und bearbeite „einige Themenfelder, die fachlich in den Aufgabenbereich“ anderer Verbände fielen. Zudem mahnt Südwestmetall bei der politischen Arbeit des Dachverbandes 94
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„ein bisschen mehr Zurückhaltung“ an. Wenn man „in der ohnehin übersättigten Reformdebatte stetig ein weiteres Fass aufmacht“, verpuffe die Wirkung. Für fragwürdig halten die Stuttgarter zudem, dass Hauptgeschäftsführer Reinhard Göhner zugleich Mitglied der Unionsfraktion im Bundestag ist. So zitiert das Papier einzelne Verbandsmitglieder,
RALF SUCCO / ACTION PRESS
VERBÄNDE
Hundt, Thumann
nach denen Göhner „eher CDU-Positionen in die Arbeitgeberarbeit hineinträgt als Arbeitgeberpositionen in die Politik“. Südwestmetall-Geschäftsführer Ulrich Brocker bezeichnet die Analyse als „Routineangelegenheit“. Insidern zufolge verbirgt sich hinter der Diskussion ein erneuter Versuch, die getrennten Zentralen von Arbeitgeberverband und Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) unter der Leitung von Jürgen Thumann zu fusionieren.
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EU-Finanzministertreffen (im Januar in Brüssel): Dreiste Buchungstricks bei der Defizitberechnung
ERIK LUNTANG / EUP-IMAGES
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Ende aller Ausreden Noch träumen die großen Parteien in ihren Koalitionsverhandlungen von Steuersenkungen, Gesundheitsprogrammen und allenfalls maßvollen Einschnitten. Doch schon in wenigen Wochen wird die EU der künftigen Bundesregierung einen äußerst rigiden Sparkurs verordnen.
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h, Joaquín“, ruft der hochgewachsene deutsche Diplomat und schießt auf einen kleinen, glatzköpfigen Mann zu, der sich durch die Champagnerkelch-bewehrte Menge Richtung Ausgang schiebt. „Wollen Sie schon gehen? Ich habe Sie gar nicht gesehen.“ Der Angesprochene lächelt, ergreift die ausgestreckte Hand und sagt: „Ja, leider.“ So geht es oft. Joaquín Almunia wird leicht übersehen. Ob auf Empfängen in Brüssel, wo er gern still an einer Wand lehnt und früh verschwindet, oder bei den Versammlungen der europäischen Finanzminister, wo er artig Hände schüttelt und Freundlichkeiten verteilt. Neun Jahre lang war er Minister in Madrid. Nun hat der 57-jährige spanische Karriere-Sozialist als Wirtschafts- und Währungskommissar einen der wichtigsten Jobs in der Brüsseler Europa-Zentrale. Er gilt als kompetent in der Sache und angenehm im Umgang. Ausgerechnet dieser nette, gemütliche Baske wird in Berlin schon bald für allerlei Ärger sorgen. In einem bitterbösen Brief wird er Mitte November einen fundamentalen Wandel in der deutschen Finanzpolitik einfordern und die Wirtschafts- und
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Finanzpolitiker jeglicher Couleur auf den harten Boden der Realität zurückholen. Gerade noch hatten die Parteien im Wahlkampf üppige Steuersenkungen in Aussicht gestellt, soziale Ausgleichsraffinessen bei Hartz IV, ja sogar milliardenschwere Investitionsprogramme zur Ankurbelung der lahmenden Binnenkonjunktur. Kaum ein Wort verlautete dagegen über notwendige Sparprogramme. Wenn die desolate Finanzlage des Staates überhaupt zur Sprache kam, dann wollte man sich mit der allfälligen Sanierung zumindest viel Zeit nehmen. Bis zum Jahr 2009, verkündete etwa die Union, werde man die Neuverschuldung wieder zurückführen und mit den EU-Vorgaben in Einklang bringen. Das bevorstehende Mahnschreiben aus Brüssel dürfte solche Träumereien abrupt beenden. Denn egal, wer das Finanzministerium künftig anführen wird – jedem wird danach nur noch ein einziger Weg bleiben, die maroden Staatsfinanzen wieder in den Griff zu bekommen: eisernes Sparen. Denn was Almunia und seine Statistiker in den vergangenen Wochen an Zahlen aus Berlin zu Gesicht bekommen haben, ist erschreckend. Um die immer größer werd e r
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denden Haushaltslöcher zu stopfen, wird der noch amtierende Finanzminister Hans Eichel im laufenden Jahr allein für den Bund rund 40 Milliarden Euro Schulden aufnehmen müssen. Hinzu kommen die Haushaltsdefizite der Bundesländer. Das macht nach den vorläufigen Berechnungen des Brüsseler Währungskommissars rund 3,95 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes aus. Erlaubt sind nach den Maastricht-Kriterien 3,0 – eine Latte, die Deutschland seit Jahren reißt. Eine Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Zwar will Eichel nach seinem eigenen Haushaltsentwurf im Jahr 2006 die Neuverschuldung auf knapp 22 Milliarden Euro begrenzen. Doch dazu greift der Finanzminister tief in die Trickkiste. Allein rund 23 Milliarden Euro sollen aus dem Verkauf verbliebener TelekomAktien und Bundesbeteiligungen kommen. Weitere 8 Milliarden will Eichel durch andere Einmalgeschäfte wie Forderungsverkäufe erlösen. Bei der Defizitberechnung in Brüssel bleibt ein großer Teil dieser Beträge jedoch unberücksichtigt, weil sie mittel- und langfristig nicht helfen, das Haushaltsproblem in Deutschland zu lösen.
Noch schlimmer dürfte die Situation ab 2007 werden. Ohne drastische Ausgabenkürzungen, rechnen Finanzexperten seit Monaten vor, werden die immer weiter steigenden Ausgaben des Staates dann schon ein Loch von jährlich mindestens 45 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt reißen. Bis zum Jahr 2025, resümiert eine von der Union in Auftrag gegebene wissenschaftliche Studie, könnte das gesamtstaatliche Defizit sogar auf acht Prozent klettern. Größere Privatisierungserlöse wird es nicht mehr geben. Fast das gesamte Tafelsilber hat Eichel in den vergangenen Jahren verkauft. Damit konnte er die immer größer werdenden Haushaltslücken zwar kaschieren, die eigentlich nötigen Sparmaßnahmen aber nur hinauszögern. Dem künftigen Finanzminister dürfte das nicht mehr gelingen. Der Brief aus Brüssel wird denn auch mehr sein als die bisherigen freundlichen Aufforderungen, die Staatsfinanzen doch bitte besser unter Kontrolle zu halten. Er ist eine allerletzte Mahnung, verbunden mit der mehr oder weniger offenen Androhung strenger Sanktionen und Kontrollen des
deutschen Haushalts durch die ungeliebte EU-Kommission. Die ungewohnte Härte hat ihren Grund. Mit dem von Almunia und seinen Statistikern jetzt errechneten Defizit von knapp vier Prozent verstößt die Bundesrepublik schon zum vierten Mal in Folge gegen den europäischen Stabilitätspakt (siehe Grafik). Das umfangreiche Regelwerk schreibt vor, dass die neuen Schulden eines Landes nicht höher als drei Prozent seiner Wirtschaftsleistung liegen dürfen. Besonders Deutschland hatte Mitte der neunziger Jahre, als der Pakt geschmiedet wurde, aus Sorge um eine möglicherweise weiche EuroWährung auf dieser Grenze bestanden. Gleichzeitig wurden verbindliche Schritte festgeschrieben, die von der Europäischen Union zu ergreifen sind, falls die Mit-
Schulden ohne Ende Die Defizitentwicklung der öffentlichen Haushalte in Deutschland Staatsdefizit (Bund, Länder, Gemeinden)
Defizitquote (in Prozent des BIP)
Schuldenstand
Defizit-/Überschussquote in der Euro-Zone* 1995 96 97 98 99
2000
01 02 03 04
0,1
–1,3 –1,9 –2,3 –2,5 –2,7
–2,7
Obergrenze laut –3,0 EU-Stabilitätspakt:
3% *einschließlich Einnahmen aus dem
Verkauf von Mobilfunklizenzen
–4,3
HORST WAGNER
Wirtschaft
EU-Kommissar Almunia
Böser Brief vom netten Basken
gliedsländer gegen diese Auflagen verstoßen. Dazu gehören nach drei erfolglosen Mahnungen ein mit der Kommission abgestimmter und von ihr überwachter Terminplan zur schnellen und nachhaltigen Minderung des Defizits. Sollte auch das nicht fruchten, kann die EU gegen das jeweilige Land sogar empfindliche Strafzahlungen verhängen. Ganz so weit ist es zwar noch nicht. Doch schon mit Erreichen der vorletzten Stufe in dem Verfahren würde sich Deutschland – peinlich genug – endgültig in den Kreis mediokrer Schuldenstaaten wie Griechenland, Ungarn oder Zypern einreihen. Und dass es der neuen Bundesregierung ähnlich wie Kanzler Gerhard Schröder im Frühjahr dieses Jahres gelingen könnte, die Auflagen in letzter Minute doch noch abzuwenden, ist zurzeit äußerst unwahrscheinlich. Außerdem würde allein der Versuch, die zum Schutz des Euro durchgesetzten Schuldengrenzen weiter abzuschleifen, europaweit zur Lachnummer werden. Und so werden die EU-Spardiktate die neue Bundesregierung wohl mit aller Härte treffen. „Ausgerechnet Deutschland“, feixen enge Mitarbeiter Almunias, „wird damit zum Testfall, ob der Stabilitätspakt auch nach seiner Reformierung noch belastbar ist.“ Die Konsequenzen sind, so oder so, für ganz Europa bedeutsam. Denn nicht nur Deutschland, sondern die EU insgesamt türmt immer höhere Schuldenberge auf. Hielten die Finanzminister, insbesondere in den Euro-Ländern, ihre Defizite bei der Einführung der gemeinsamen Währung mühsam, aber erfolgreich unter dem Maximalwert, öffneten sich bald darauf die Kreditschleusen: 2002 rissen 3 Länder die Drei-Prozent-Stabilitätshürde, 2003 waren es 6, bei der letzten Jahresabrechnung – auch durch den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten – bereits 13. Um ihren Schuldenkurs zu verschleiern, griffen einige Regierungen und Finanzminister sogar zu dreisten Buchhaltungstricks. Die Griechen zum Beispiel vergaßen jah97
–5,0
Wirtschaft zu benennen. Selbst bei den Sondierungsgesprächen zu einer Großen Koalition mit Bundeskanzler Gerhard Schröder berührte CDU-Chefin Angela Merkel das ungeliebte Thema der „angespannten Haushaltslage“ nur oberflächlich. Und das, obwohl Haushaltsexperten beider großer Parteien die dramatischen Zahlen seit Wochen in allen Facetten durchrechnen und hinter den Kulissen Krisenszenarien diskutieren. „Aber noch“, sagt ein ranghoher CDU-Haushaltsexperte, „traut sich niemand aus der Deckung.“ So könnte ausgerechnet der Brief aus Brüssel eine neue Große Koalition dazu bringen, sich von kostspieligen Wahlkampfversprechen zu verabschieden und eine sinnvolle Sparpolitik einzuleiten. Rund elf Milliarden Euro pro Jahr würde mittelfristig allein die längst überfällige und von Eichel mehrfach vorgelegte Abschaffung der Eigenheimzulage bringen. Weitere vier Milliarden ließen sich durch die Streichung der Pendlerpauschale sparen. Auch die schnelle Umsetzung der sogenannten Koch-Steinbrück-Liste wäre wohl kein Tabu mehr. Der Unions-Ministerpräsident aus Hessen und sein damaliger SPD-Kollege aus NordrheinWestfalen hatten sich bereits 2003 nach wochenlangen Verhandlungen auf eine Subventionsstreichliste in Höhe von rund elf MilUnionspolitiker Stoiber, Merkel: Notwendige Schnitte liarden Euro geeinigt. Umgesetzt wurde davon bisher erst ein Teil. Doch anstatt solche Vorhaben beherzt ziger Beharrung auf eine „andere Rechtsauffassung“ – nicht nur im Haushalt für anzugehen, spielt zumindest der derzeitidieses Jahr rund fünf Milliarden dafür ge Finanzminister weiter auf Zeit. Wie bereits im März dieses Jahres versucht Eichel eingesetzt. Ähnliche Verkäufe sind auch für 2006 auch jetzt alles, um weitere Sanktionen aus eingerechnet. Sie senken das Defizit rech- Brüssel doch noch abzuwehren. Den Leinerisch um etwa 0,15 Prozentpunkte. Aber tungsstab seines Ministeriums lässt er daauch nur, bis die Brüsseler Aufsichts- bei gezielt irreführende Informationen behörde sie als „unzulässig“ verwirft. Und über das weitere Vorgehen der EU-Komgenau das, wissen hohe EU-Beamte, wird mission streuen. Demnach sei es „kein Problem“, wenn wohl geschehen. Für Deutschland bedeuten die drohen- Deutschland die Defizitgrenze dieses Jahr den Brüsseler Sparauflagen zunächst ein- nicht einhalte. Im Zweifel würde man mal das Ende aller Ausreden und damit schon eine Mehrheit im Europäischen Rat schon eine Art Kulturrevolution. Denn der formieren können, wenn die Kommission amtierende Finanzminister hatte das un- die deutsche Haushaltspolitik verschärft solide Wirtschaften der Regierung stets auf kontrollieren wolle. Gleichzeitig schickte Eichel den Leiter Sonderfaktoren zurückgeführt und so die seiner Europa-Abteilung, Carsten Pillath, Situation schöngeredet. Mal war die überdurchschnittlich lange zu Sondierungsgesprächen nach Brüssel, Konjunkturflaute schuld an der Misere, ein um den großen Eklat zu vermeiden. Mehranderes Mal der angeblich unerwartete fach hat sich Pillath mit Klaus Regling, Einbruch des Bundesbankgewinns. Und dem Generaldirektor von Währungskomnatürlich der renitente Bundesrat, der den missar Almunia, getroffen – bisher ohne nötigen Sparbemühungen nicht zustimmen Erfolg. „Die Kommission“, resignierte der Bewollte. Dass er mit seinen Vorschlägen bereits im eigenen Kabinett gescheitert wäre, amte vergangene Woche, „meint es ernst. Die will das Strafverfahren gegen Deutschverschwieg Eichel geflissentlich. Doch auch die Union scheut immer noch land verschärfen.“ Sven Afhüppe, Frank Dohmen, Wolfgang Reuter, davor zurück, die wohl notwendigen EinHans-Jürgen Schlamp schnitte bei den Staatsausgaben konkret MARCO-URBAN.DE
relang fröhlich, ihre Großeinkäufe fürs Militär im Landeshaushalt aufzuführen. Ungarn versuchte sich mit bizarren Deals um Straßen und Brücken reich zu rechnen, bis schließlich sogar die Budapester Nationalbank argwöhnisch wurde und die EU-Kommission informierte. Und auch der deutsche Finanzminister Eichel verschaffte sich sein Entree in den KreativClub, indem er milliardenschwere Pensionsforderungen gegenüber den privatisierten Ex-Staatsbetrieben Post und Telekom verscherbelte und dabei zwar die Einnahmen, nicht aber die später anfallenden Ausgaben auf die Rechnung setzte. Schon vor Monaten hatte ihm Währungs-Kommissar Almunia erklärt, dass sich das Defizit auf diese Weise nicht verringern lasse. Doch Eichel hat – unter trot-
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Wirtschaft KON Z E R N E
Putschversuch in Wolfsburg Niedersachsens Ministerpräsident Wulff will VW-Aufsichtsratschef Piëch aus dem Amt drängen. Doch der Machtkampf ist entschieden, bevor er richtig losgeht.
WALTER SCHMIDT / NOVUM
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hristian Wulff ist keiner, der schnell aufgibt. Zwei Wahlniederlagen konnten ihn nicht davon abhalten, ein drittes Mal um den Posten des niedersächsischen Ministerpräsidenten zu kämpfen, den er schließlich auch errang. Ähnlich hartnäckig kämpft der CDU-Politiker als Vertreter seines Bundeslandes, des bislang größten VW-Aktionärs, im Aufsichtsrat des Autokonzerns darum, das alte Netz aus Freundlichkeiten und Abhängigkeiten zwischen Betriebsräten und SPD-Politikern zu zerschneiden. Wulff ist dabei in kurzer Zeit weiter gekommen, als ihm viele zugetraut hätten. Personalvorstand Peter Hartz und Betriebsratschef Klaus Volkert mussten zurücktreten, was an der Affäre um Tarnfirmen und Lustreisen (siehe Seite 93) lag – aber auch an Wulffs eisernem Willen, aus VW einen ganz normalen Konzern zu machen. Die profitable Produktion möglichst vieler Autos soll im Vordergrund stehen. Nicht die Cliquenwirtschaft einiger Granden, die vor allem auf ihr privates Wohlergehen bedacht waren – inklusive Betreuung durch Prostituierte auf Firmenkosten. Nun aber hat Wulff sich einen noch mächtigeren Gegner gesucht: Ferdinand
VW-Chef Pischetsrieder, Aufsichtsräte Wulff, Piëch: Neue Machtverhältnisse
Piëch, Aufsichtsratsvorsitzender des VWKonzerns und privat Miteigentümer der Sportwagenfirma Porsche sowie von Europas größtem Autohaus, der Porsche Holding, die in vielen Ländern als Generalimporteur für mehrere Konzernmarken ihr Geld verdient. Nachdem Porsche mittlerweile 18,5 Prozent der VW-Aktien erworben hat und damit zum größten Aktionär des Wolfsburger Riesen wurde, könne Piëch nicht Vorsitzender des VW-Aufsichtsrat bleiben, argumentieren mehrere Mitglieder des Kontrollgremiums. Es bestehe für ihn ein permanenter Interessenkonflikt. Wenn der VW-Konzern zum Beispiel prüfe, ob er Kooperationen mit Porsche
oder einem anderen Hersteller eingehe, könnte Piëch dies nicht neutral beurteilen, weil er persönlich von den Folgen betroffen wäre. Dies widerspreche dem Corporate Governance Kodex, jener Selbstverpflichtung deutscher Konzerne, die für transparente Unternehmensführung sorgen soll. Auch Analysten wie Arndt Ellinghorst von Dresdner Kleinwort Wasserstein würden deshalb einen Wechsel an der Spitze des Kontrollgremiums begrüßen. Schon auf der außerordentlichen Sitzung des VW-Aufsichtsrats am Montag dieser Woche wollen manche Kontrolleure Piëch zum freiwilligen Rückzug vom Aufsichtsratsvorsitz überreden. Zu den Kritikern seiner Doppelfunktion zählen Wulff und
der einstige ThyssenKrupp-Chef Gerhard Cromme, der die Corporate-GovernanceRegeln als Leiter einer Regierungskommission ausgearbeitet hatte und nun selbst im VW-Aufsichtsrat sitzt. „Wir wollen eben gerade bei VW die breite Streuung des Aktienkapitals und die Verhinderung eines dominierenden Aktionärs“, sagt Wulff. Der Konzern müsse auch für andere Hersteller wie DaimlerChrysler als Kooperationspartner attraktiv bleiben. Mit den Stuttgartern möchte VW vor allem in den USA zusammenarbeiten. Chrysler hat dort nicht ausgelastete Fabriken, in denen Volkswagen eigene Modelle auf Basis von Chrysler-Fahrzeugen produzieren lassen möchte. Wenn Porsche bei VW das Steuer übernimmt, könnte dies DaimlerChrysler möglicherweise abschrecken. Die Kritiker hätten auch schon eine Alternative für Piëch in petto: Heinrich von Pierer, der einstige Siemens-Chef, der seit längerem auch als VW-Aufsichtsrat wirkt, könnte den Vorsitz im Kontrollgremium übernehmen. Der Plan klingt plausibel, doch er scheint zum Scheitern verurteilt. Piëch will auf jeden Fall bis zum Ende seines Vertrags 2007 Vorsitzender des Kontrollgremiums bleiben. „In meiner Karriere haben schon einige versucht, mich rauszudrängen“, sagte er dem SPIEGEL und fügte an: „Es ist noch keinem gelungen.“ Freiwillig wird er seinen Posten nicht räumen, und gewaltsam ist Piëch nicht aus dem Amt zu kippen, denn dafür wird sich im VW-Aufsichtsrat obendrein derzeit keine Mehrheit finden. Die Arbeitnehmervertreter haben zwar seine Luxusmarkenstrategie mit Bentley, Bugatti und Lamborghini stets kritisiert und ihm vorgehalten, dass er am Ende seiner Zeit als Vorstandschef das Stammge-
Offen ist derweil noch, wann Wiedeking und sein Finanzvorstand Holger Härter in den VWVerteilung der VW-Stammaktien Aufsichtsrat einziehen können. Brandes Capital Wenn keiner der bisherigen KonPorsche Investment Group freiwillig seinen Sitz 18,53 % Option trolleure Partners 5,1 % räumt, müsste VW entweder eine 10,7 % auf außerordentliche Hauptversammweitere lung einberufen, auf der die neu3,4 % en Porsche-Manager gewählt werVolkswagen AG den, oder die Novizen müssten die reguläre Versammlung am 3. Mai 13,0 % des nächsten Jahres abwarten. Streubesitz Anteile unter 1% VW-Chef Bernd Pischetsrieder hat sich auf die neuen Machtver31,07 % hältnisse schon eingestellt. Nachdem Porsche sich die Option auf den Erwerb weiterer 3,4 Prozent 18,2 % der VW-Stammaktien gesichert Land hat, bot er den Stuttgartern an, Niedersachsen dass auch der Volkswagen-Konzern selbst den Zuffenhausenern schäft vernachlässigt habe. Aber sie schät- die gewünschten Anteile verschaffen könnzen ihn als Autoexperten und haben kein te. VW könnte eine Kapitalerhöhung in Problem damit, dass er privat an Porsche entsprechendem Umfang durchführen, bei der andere Anteilseigner vom Erwerb der beteiligt ist. Die zehn Arbeitnehmervertreter im VW- Aktien ausgeschlossen würden. Damit ist klar, dass die kleine SportwaAufsichtsrat, sagt einer, stünden deshalb geschlossen hinter ihm. Damit ist seine genfirma der größte und dominierende Aktionär beim VW-Konzern wird. MinisterPosition gesichert. Die Betriebsräte des VW-Konzerns sym- präsident Wulff glaubt zwar noch, dass „wir pathisieren auch deshalb mit dem Einstieg hier zwei große Aktionäre haben, die sich Porsches, weil sie glauben, dass dessen in ihren Anteilen nicht fühlbar unterscheiChef Wendelin Wiedeking zwar ein harter den“. Doch wenn Porsche 21,9 Prozent der Manager sein kann, wenn es um Kosten- Aktien hält, wollen die Neulinge nicht nur senkungen geht, sich aber dennoch stark zwei Vertreter in den Aufsichtsrat schicken für die Fabriken an den deutschen Stand- wie das Land Niedersachsen mit seinen orten einsetzt. Und wenn das Unterneh- 18,2 Prozent, sondern sogar drei. Um die Kollegen in Wolfsburg nicht zu men hohe Gewinne erwirtschaftet, lässt Wiedeking auch seine Belegschaft teilha- heftig zu düpieren, möchte Wiedeking jeben. Wegen des Rekordergebnisses im ab- doch als dritten Vertreter nicht noch einen gelaufenen Geschäftsjahr hat jeder Por- Porsche-Vorstand vorschlagen, sondern sche-Mitarbeiter gerade einen Bonus von einen Vertrauten des Unternehmens. 3200 Euro bewilligt bekommen. Dietmar Hawranek
Starker Neuling
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LANDOV / INTERTOPICS
Wirtschaft
Xbox-Chef Bach*: Geschwindigkeit ist in diesem Geschäft alles
Filmindustrie inzwischen an den Kinokassen erlöst. Geschwindigkeit ist in diesem Geschäft nicht nur bei der Entwicklung der Computerprozessoren alles. Mit der Xbox 360 will Microsoft endlich die Vorherrschaft der Playstation von Sony brechen, die in Vor dem Verkaufsstart der neuen Microsoft-Spielkonsole den vergangenen Jahren rund 90 Millioverschwanden jüngst zehn streng geheime Prototypen – das Werk nen Mal verkauft wurde – und hat sich das einen Milliarden-Dollar-Betrag an von Freaks oder ein Fall großangelegter Wirtschaftsspionage? Entwicklungsgeldern kosten lassen. Von ie Anzeige, die am 1. September bei len, sind die entwendeten Modelle soge- der alten Xbox sollen gerade mal gut 20 der Kreispolizeibehörde Düren un- nannte Development Kits, die einen weit- Millionen Stück über den Tresen geganter dem Aktenzeichen 609 000- reichenden Einblick in die Geheimnisse gen sein. Um den Absatz zu verdoppeln, sollte die 033 682-05/7 erstattet wurde, sah zunächst der neuen Technik erlauben. Für Konkurrenten, nicht lizenzierte neue Spielekiste, die von Microsofts Unnach einem gewöhnlichen Lagerdiebstahl aus. Sechs Tage zuvor sollen aus einer Hal- Spieleentwickler und Graumarktprodu- terhaltungschef Robbie Bach im Mai erstle im Dürener Industriegebiet zehn Kar- zenten von Zubehörteilen wäre so ein mals vorgestellt wurde, bereits zum Weihtons einer größeren Warenlieferung ent- Gerät zurzeit wie „ein Sechser im Lotto“, nachtsgeschäft auf den Markt kommen. wendet worden sein. Der Inhalt: Compu- so ein Fahnder. Für Microsoft ist der Düre- Schließlich machten die Amerikaner zuner Diebstahl dagegen eine Katastrophe. letzt rund um das heilige Konsumfest mit ter-Spielkonsolen der Firma Microsoft. Schließlich geht es im hartumkämpften ihrer Spiele- und Unterhaltungssparte dopDie unbekannten Täter hatten den restlichen Inhalt der Paletten, darunter Zu- Spielgeschäft um Milliarden Euro. Exper- pelt so viel Umsatz wie in den übrigen behörteile wie Joysticks und sogenannte ten schätzen den weltweiten Umsatz auf Quartalen. Die nächste Sony-Generation Controller, einfach stehen lassen und nach bis zu 30 Milliarden Dollar in diesem Jahr wird erst im Frühjahr erwartet, ebenso das ihrem Zugriff die aufgerissene Folie not- – das ist mehr, als Hollywoods gesamte neue Produkt des Marktdritten Nintendo. Wo es um so viel Geld geht, wird dürftig mit Verpackungsband wieder verbisweilen mit harten Bandagen geklebt. Doch hinter dem vermeintlichen Fall spielt. So ist es durchaus schon mal von Lagerdiebstahl verbirgt sich womögMarktanteile der Hersteller 2004 vorgekommen, dass ein Softwarelich weit mehr, denn bei dem Diebesgut Entwickler, der für mehrere Herhandelt es sich nicht etwa um marktübliche Nintendo 17,6% Sony steller arbeitete, Informationen über Daddelboxen, sondern um zehn PrototyGamecube Playstation 2 pen der kommenden Microsoft-Konsolendie neue Konsole des KonkurrenGeneration Xbox 360. ten weitergab. „Aber einen gezielIm Gegensatz zu den Produkten, die ab ten Diebstahl wie dieses Mal“, sagt 25,6% Microsoft 2. Dezember bei den Händlern stehen solein Szenekenner, „hat es bisher noch nie gegeben.“ Die Tat hat sich nach allen bis* Bei der ersten Präsentation der Xbox 360 im Mai in Los ohne Mobilgeräte, Quelle: Arcadia herigen Erkenntnissen so abgespielt: Angeles. C O M P U T E R K R I M I N A L I TÄT
„Sechser im Lotto“
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Kampf der Konsolen
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Wirtschaft
KOJI SASAHARA / AP
Entweder Mitglieder aus der weltAm 23. August verließen mehrere weiten Xbox-Hackerszene haben Paletten Luftfracht den Flughafen in durch Zufall von der geheimen LuftHongkong mit Ziel Frankfurt am fracht erfahren, die Geräte entwenMain. Versteckt zwischen Paketen den lassen, und brüsten sich nun im mit Zubehörteilen und aktuellen Netz mit ihrem Erfolg. Oder aber ein Xbox-Konsolen liegen auch zehn Insider aus dem Umfeld des Herstelbraune Pappkartons ohne jegliche lers, eines der asiatischen KonsolenAufschrift. Inhalt: fabrikfrische Produzenten oder der Frachtfirmen Xbox 360 Development Kits. Die hat geschäftstüchtigen Profis einen streng geheimen Prototypen sind Tipp gegeben. Die könnten dann die ersten Exemplare ihrer Art, die pünktlich zum Verkaufsstart vor die Microsoft-Produktionsstätten in Weihnachten mit eigenen RechnerSüdostasien verlassen. Chips auf den Markt kommen, die Nach ihrer Ankunft in Frankfurt die Xbox zu einem Multimedia-Rechwerden die Paletten auf Lastwagen ner aufrüsten können – auf der dann verladen und in eine Lagerhalle auch raubkopierte Spiele und sogar nach Düren transportiert. Von dort Filme laufen könnten. sollen die Einzelstücke an deutsche Dritte Variante: Es handelt sich um Spieleentwickler ausgeliefert wereinen Fall von Wirtschaftsspionage, den, die bis zum offiziellen Verbei dem es darum ging, die Developkaufsstart ihre Software auf die ment Kits zu beschaffen, um sie gebrandneuen Konsolen abstimmen gen Bares an Konkurrenten oder Anwollen. Doch dazu kommt es nicht bieter von nicht lizenzierten Graumehr. Ausgerechnet die zehn unmarktprodukten zu verkaufen. scheinbaren Kartons verschwinden. Nur so viel scheint sicher: „Das Während von der europäischen war ein gezielter Zugriff von jemanMicrosoft-Zentrale aus die Suche dem, der einen zahlenden Abnehmer einsetzt, tauchen drei bis vier Tage für die Konsolen hatte“, sagt ein später Fotos der Xbox 360 im InFahnder. Ermittler schließen daher ternet auf. Eine Website präsentiert, nicht aus, dass einige der Boxen nur aneinander gereiht wie Wildtrodeshalb in die Hackerszene gelangphäen bei einer Treibjagd, auf über Spielmesse in Tokio: Milliarden für die Entwicklung ten, um die Spuren der tatsächlichen 40 Bildern das gesamte Innenleben Täter zu verwischen. der Konsole – bis zur letzten LötDer Schaden des Rechnerraubs stelle. Als die Microsoft-Manager lässt sich bislang noch nicht genau bedavon erfahren, ist ihnen schnell ziffern, doch er dürfte für Microsoft klar: Die Bilder zeigen einen der geimmens sein. Sollte das technische Instohlenen Erlkönige. nenleben der neuen Konsole vorzeitig Die Internet-Seite ist in der Szebekannt werden, wäre der zeitliche ne der Computerspieler nicht unVorsprung durch den baldigen Verbekannt und gilt als Forum von kaufsstart für Microsoft schnell dahin. Hackern, die sich auf das Knacken Nicht nur, dass die Konkurrenz des Xbox-Innenlebens spezialisiert ihre eigenen Produkte noch nachhaben. Einer der Betreiber wohnt bessern könnte. Nicht lizenzierte Entin Niederösterreich. Ein junger wickler könnten ihre Spiele dann Mann Ende zwanzig, den Fahnder ebenfalls zum Verkaufsstart der Xbox später als „kettenrauchenden und 360 auf den Markt werfen, ebenso colasüchtigen Computerfreak“ be- Gestohlene Xbox (Innenleben): Bis zur letzten Lötstelle das Graumarktheer der Zubehörprozeichnen. Die heißen Bilder von der auseinandergeschraubten Konsole machen die Staatsanwaltschaft Bonn um den Fall. duzenten und Konsolen-Tuner, die mit derweil im Netz ähnlich schnell die Runde Bei der Durchsuchung eines Computer- selbstentwickelten Chips die Spielkonsowie Nacktfotos von Paris Hilton. Auch sonst ladens stellen Beamte eine dritte Konso- len zu einem Multimedia-Center aufrüsten, der auch für andere Audio- und Videolässt der Mann aus der Wachau nicht gera- le sicher. de Vorsicht walten. Per E-Mail an Microsoft Angeblich will der Inhaber das Gerät Formate offen ist. Microsoft jedenfalls will den Konsolenbrüstet er sich mit der Beute. Er habe da et- ebenso wie die beiden in Österreich entwas, was Microsoft wissen sollte. deckten Konsolen von einem geheimnis- klau mit allen Mitteln aufklären. Neben Während die Spielerszene das ver- vollen Unbekannten ausländischer Her- dem Wiener Bundeskriminalamt und der meintliche Husarenstück noch feiert, zieht kunft gekauft haben. Eine Aussage, die die Staatsanwaltschaft Bonn hat der Konzern sich um den Computerfreak aus Nieder- Fahnder kaum überzeugen dürfte, zumal inzwischen eine Truppe externer Ermittler österreich bereits die Schlinge zu. Micro- der Händler die heiße Ware offenbar des Hamburger Beratungsunternehmens soft schaltet das Bundeskriminalamt in „zeitlich und räumlich sehr nah zum Dieb- Prevent mit dem Fall betraut. Ihre AufgaWien ein. Kurz darauf durchsuchen öster- stahl erhalten hat“, wie ein Ermittler sagt. be: die Täter und Helfer zu identifizieren, reichische Beamte seine Wohnung und stelWer aber hat den Diebstahl in Auftrag damit Microsoft sie mit millionenschweren len zwei Xbox-360-Kistchen sicher. Den gegeben? Wer hat so genau gewusst, wann Schadensersatzklagen überziehen kann. „Wir werden eng mit den Behörden zuBeamten tischt der konfus wirkende Mann die geheime Ladung, versteckt unter zig die Geschichte auf, er habe die Geräte von anderen Microsoft-Produkten, in Düren sammenarbeiten und alle straf- und zivileinem Freund aus Deutschland erhalten. landet? Und wo sind die restlichen der ins- rechtlich notwendigen Schritte zur VerfolDie Spur zurück führt ins rheinische gesamt zehn Prototypen geblieben? Die gung der Beteiligten einleiten“, heißt es Troisdorf. Mittlerweile kümmert sich dort Fahnder haben dazu ihre eigenen Theorien. bei Microsoft. Jörg Schmitt 104
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STEFFEN FÜSSEL
Wirtschaft
DGB-Funktionär Hron (vorn, 3. v. l.), Mitstreiter: „Angst vor anonymem Kapital“ GEWERKSCHAFTEN
Logik des Marktes Während der DGB in Dresden den Verkauf einer Wohnungsbaugesellschaft bekämpft, verschachert er Reste der Neuen Heimat an Fonds – unter seltsamen Umständen.
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alf Hron, umtriebiger Dresdner Statthalter des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), weiß, wie der US-Kapitalismus funktioniert. Schließlich weilte der gelernte Schriftsetzer im vergangenen April zu Studienzwecken für drei Wochen im Land der unbegrenzten Ausbeutung. „Man sieht bestimmte Dinge“, sagt er bedeutungsvoll. Hron sah zum Beispiel, wie Rentenversicherer dort ihr Geld mit Vorliebe in milliardenschwere Private-Equity-Fonds pumpen, die dann in Deutschland Tausende Wohnimmobilien aufkaufen wollen – auch vor Hrons Haustür. „Die Menschen haben Angst vor diesem anonymen Kapital“, sagt der aufrechte DGB-Mann und lancierte gemeinsam mit SPD, PDS und Grünen eine Bürgerinitiative gegen den vom Stadtrat geplanten Komplettverkauf der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Woba. Über 10 000 Unterschriften hat man schon zusammen. Er wolle „den Spekulationsverkauf an die Heuschrecken verhindern“, wettert Hron. Diese Fonds seien nur ihren Anlegern, aber nicht den Mietern verpflichtet. Doch sein Kampf gegen den Dresdner Ausverkauf kommt seinen obersten Chefs denkbar ungelegen. Denn während sich der DGB in Dresden als soziales Gewissen der Nation profiliert, versucht die schwer an106
geschlagene Gewerkschaftsholding BGAG gleichzeitig, denselben Heuschrecken die eigene Immobiliengesellschaft Baubecon schmackhaft zu machen – und hält dabei die Regelungen zum Mieter- und Mitarbeiterschutz unter Verschluss. Mit Hilfe von Investmentbankern der Schweizer UBS sollen bis Ende des Jahres 20 000 Wohnungen – unter anderem noch aus dem Bestand der ehemaligen Skandalfirma Neue Heimat – verkauft werden. Die BGAG, bei der DGB, Ver.di und IG Metall Hauptaktionäre sind, braucht jeden Cent. Aufgrund einer teuren Sanierungsaktion für eine notleidende Tochter muss alles raus: das Bausparimperium BHW, die wackelige Hypothekenbank AHBR und eben auch die Baubecon. Als die Manager interessierter Fonds wie Fortress, Terra Firma, Vivacon, Cerberus und Oaktree Capital Management kürzlich die Ausschreibungsunterlagen auf den Tisch bekamen, staunten sie allerdings nicht schlecht. Ausgerechnet die Gewerkschaften verlangen in dem vertraulichen Papier keine Sozialcharta zum Schutz ihrer Mieter. Dabei waren die Investoren hierzulande bislang ganz anderes gewohnt. Als etwa die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte im vergangenen Jahr ihre über 82 000 Gagfah-Wohnungen für 3,5 Milliarden Euro an Fortress verkaufte, mussten die Käufer auch einen lebenslangen Kündigungsschutz für ältere Mieter, Mieterhöhungsbegrenzungen und einen Ausschluss von Luxussanierungen versprechen. Im umstrittenen Fall Woba ging der Dresdner Stadtrat gar noch über die Gagfah-Regelungen hinaus. Das lebenslange Wohnrecht gilt dort auch für Schwerbehinderte. Die Investoren können zudem in den nächsten zehn Jahren keinen großangelegten Ausverkauf starten, weil sie mind e r
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destens 35 000 Wohnungen im Bestand der Woba halten müssen. Die Mitarbeiter sind außerdem drei Jahre lang vor betriebsbedingten Kündigungen geschützt. Dass ausgerechnet die Mieter der zum Verkauf stehenden Gewerkschaftsimmobilien womöglich weniger Schutz genießen, könnte eine einfache Ursache haben: Die Doppelmoral folgt der Logik des Marktes. Der Preis für Wohnungsgesellschaften liegt umso höher, je weniger Bedingungen der Verkäufer stellt. Bei der BGAG dementiert man, dass es keine Sozialstandards gebe. In der Ausschreibung fänden sich nur deshalb keine Kriterien zum Mieterschutz, weil im sogenannten Datenraum, in dem die interessierten Investoren jetzt die Bücher der Baubecon prüfen, „ein Katalog zum Mieterschutz liegt, der über das gesetzliche Minimum hinausgeht“, insistiert ein Sprecher. Seltsamerweise verweigert die BGAG jedoch die Veröffentlichung dieses Katalogs mit dem Hinweis auf „Vertraulichkeit“. Im Gegensatz etwa zur Gagfah, die explizit mit der Veröffentlichung dieses Katalogs die Sozialverträglichkeit ihrer Wohnungsverkäufe beweisen wollte, herrscht bei den Gewerkschaften eisiges Schweigen. Einzig in Sachen Mitarbeiterschutz gibt man zu, dass der Sanierungstarifvertrag nur für die Hälfte der Angestellten gilt und im Gegensatz zu Dresden keine betriebsbedingten Kündigungen verhindert. DGB-Funktionär Hron, der den Vergleich von Baubecon und Woba für „absurd“ hält, sammelt derweil eifrig weiter Unterschriften. Dabei macht er sich auch in der Stadtverwaltung Feinde. Dresden ist fast pleite, die 600 Millionen Euro aus dem Woba-Geschäft wären die Rettung. „Sollte der Verkauf nicht klappen“, stöhnt Stadtkämmerer Herbert Gehring, „werden die Alpträume noch größer.“ Beat Balzli
Wirtschaft
E.on-Vorstandschef Bernotat, Ruhrgas-Zentrale (2004): Getrickst, gedroht und draufgehalten V E R B R AU C H E R
Ziviler Ungehorsam In immer kürzer werdenden Abständen erhöhen die Gasversorger ihre Rechnungen. Doch eine wachsende Zahl von Kunden weigert sich, den kruden Argumenten der Quasimonopolisten zu folgen – und zahlt einfach weniger. Eine neue Bürgerbewegung formiert sich.
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ie Sache mit den Gaspreisen war eigentlich sein kleinster Fall. Fritz Schnabel aus Olbernhau im Erzgebirge hatte schon ganz andere Kaliber am Wickel: Die Treuhandanstalt etwa – wegen der ausgebliebenen Genehmigung zur Übernahme einer Raststätte. Er sei „anerkanntes Treuhandopfer“, sagt Schnabel, „aber es nützt mir nichts“. Auch mit der Bundesregierung liegt er im Clinch. Schnabel, 54, arbeitsloser LkwFahrer, ist nämlich auch Hartz-IV-Opfer. Seine juristische Vertretung übernahm er weitgehend allein. Seit Schülerzeiten träumte er davon, Anwalt zu werden. Zeitweise hatte er fünf Verfahren gleichzeitig laufen. „Wir hören jetzt aber auf, das geht an die Substanz“, sagt seine Frau, die am Küchenherd in leichtem Schaschlik-Bratennebel steht. „Ja“, sagt Schnabel, „wir haben beschlossen, völlig runterzufahren.“ Bis auf die Sache mit den Gaspreisen: „Da muss ich dranbleiben.“ Und da weiß er sich inzwischen von einer starken Unterstützerszene quer durch die Republik bestärkt.
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Er holt einen Ordner mit der Aufschrift „Gerichtlicher Werdegang“ hervor. Es wimmelt darin von Mahnungen, Sperrankündigungen und Widersprüchen und spricht dafür, dass Schnabel für andere Sachen in den vergangenen fünf Jahren kaum Zeit geblieben sein dürfte. Die Akte „Schnabel ./. Stadtwerke Olbernhau wegen Gaspreisen“ beginnt mit dem 28. August 2000. Damals widersprach er einer Preiserhöhung seines Versorgers im Erzgebirge. Er schrieb: „Wir akzeptieren nicht die von Ihnen vorgebrachten Argumente für die Begründung einer Preiserhöhung, weil schlichtweg falsch.“ 150 Mark im Monat sollten sie damals zahlen. Inzwischen verlangen die Stadtwerke fast doppelt so viel. Der Streit schwelte bis Anfang dieses Jahres. Da drehten die Stadtwerke gerade mal wieder am Preis. Schnabel musste „abwehren“. Doch er war inzwischen im Stoff. Er schrieb nicht mehr in seine Briefe, dass er nur wenig dusche, sondern fragte, warum die Gaspreise stiegen, wenn das Bundesamt für Wirtschaft für Januar bis Oktober d e r
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2004 genau 7,7 Prozent niedrigere Importpreise als im Vorjahr ermittelt hatte. Und warum die Stadtwerke ihm, statt ständig „Nonsens“ zu schreiben, nicht die „Billigkeit“ ihrer Preiserhöhungen nachwiesen. Schnabel ist spätestens seither nicht mehr allein. Es war die Zeit, als sich bundesweit Widerstand regte. Der Jenaer Rechtsanwalt Thomas Fricke hatte einen Musterbrief gegen Preiserhöhungen entworfen, den der Bund der Energieverbraucher auf seine Internet-Seite stellte und der seither monatlich bis zu 30 000mal abgerufen wird. Das Land der Gehorsamen wurde auf einmal ein bisschen ungehorsam, und zwar genau da, wo die Republik bislang als sauber geordnet gilt: in Baden-Württemberg und Ostwestfalen. In der erzkatholischen Bischofsstadt Paderborn wagte der Marktführer E.on-Ruhrgas, die Machtzentrale der deutschen Gaswirtschaft, sogar ein Gespräch mit der dortigen Bürgerinitiative „Gaspreise-runter“. Die Verantwortlichen mussten sich von Anwälten ihre Antworten soufflieren lassen –
BJÖRN HAKE / ACTION PRESS (L.); RALPH SONDERMANN (R.)
trolle unterworfen. Die hätten die Stadtwerke bisher aber verhindert. Die Berufung steht noch aus. WaldeyerHartz tingelt inzwischen als Protest-Sachverständiger durchs Land, berät Bürgerinitiativen und wird immer ganz ungeduldig, wenn die Kunden noch unter Vorbehalt zahlen: „Ich sage nur noch ‚Abziehen‘!“ Für Schnabel erwirkte er eine einstweilige Verfügung gegen die Sperraktion. Eine solche Maßnahme sei bei einer Forderung von 173,33 Euro auch völlig unverhältnismäßig, urteilte der Richter. Zudem sei die Preiserhöhung nicht ausreichend begründet gewesen. Stattdessen, so WaldeyerHartz, sei Schnabel vom Versorger mit „allgemeinen Redensarten und Hinweisen wie Ölpreisbindung und Substitutionswettbewerb“ abgespeist worden. Nach dem Urteil war Schnabel plötzlich der Held der Region. Die „Bild“-Zeitung verbeugte sich vor dem „Preis-Rebellen“, der den „Gas-Abzockern die Hölle heiß“ gemacht hatte. Insgesamt, schätzen die Verbraucherverbände, verweigern mittlerweile weit über 100 000 Kunden die chronischen Erhöhungen. Sogar die ersten Kommunen stellen sich neuerdings quer: Ende September beschloss der Rat der friesischen Gemeinde Schortens, die 14-prozentige Erhöhung für die kommunalen Einrichtungen nicht mehr zu zahlen. Es war die zweite saftige Preissteigerung innerhalb eines Jahres. Etwa ein Dutzend niedersächsische Kommunen und Städte bereitet ebenfalls rechtliche Schritte vor. Wo dauernd Markt suggeriert und dann immer wieder verhindert wird, wittern selbst brave Bundesbürger inzwischen ein lupenreines Kartell. Ähnlich wie der Strommarkt ist das deutsche Gasgeschäft seit 1998 liberalisiert.
Haushaltspreise für Heizöl und Gas JUERGEN REHRMANN
in Euro 1800 1600 1400 1200 1000 800 zum Vergleich:
Gas-Importpreis
600 400 MARTIN JEHNICHEN
und wurden ausgelacht. Die Zahl der Verweigerer sei danach auf rund 3000 angestiegen, so Roswitha Köllner, eine der Mitgründerinnen der Aktion. Und Schnabel? Hatte inzwischen herausgefunden, dass es einen Paragrafen im Bürgerlichen Gesetzbuch gab, der 109 Jahre alt war und genau auf seinen Fall passte: Liegt ein schuldrechtlicher Vertrag mit einseitiger Bestimmungsmacht vor, so Paragraf 315 BGB, kann der schwächere Vertragspartner den stärkeren zum Beweis zwingen, dass seine Schuld billigem Ermessen entspricht. Oder eben Abzocke ist. Plötzlich waren er und viele tausend andere nicht mehr kleine Querulanten, sondern – so nennen das die Richter am Bundesgerichtshof – „Bestimmungsopfer“, also Menschen, denen das Gesetz Schutz gewährt. Seither wächst die Zahl der Verbraucher-Davids gegen die Konzern-Goliaths täglich. Der Ton wird da sehr schnell sehr ruppig. Die Stadtwerke Olbernhau drohten dem Widerspenstigen, den Anschluss zu sperren, und rückten auf sein Haus vor. „Die wollten mich platt machen.“ Da bekam Schnabel zum ersten Mal Hilfe. Klaus von Waldeyer-Hartz, 68, pensionierter Richter aus Heilbronn, sprang ihm zur Seite. Waldeyer-Hartz ist so etwas wie der intellektuelle Pionier des Gas-Widerstandes. Im September 2004 klagte er gegen seinen Gasversorger, um feststellen zu lassen, dass dessen zehnprozentige Preiserhöhung unwirksam sei – und bekam Recht. Leistungen der Daseinsvorsorge, die ein Monopolist anbietet, so die Heilbronner Amtsrichterin, seien der Billigkeitskon-
Eigentlich. Nach dem Gesetz müsste längst jeder Verbraucher seinen Lieferanten bei fairen Leitungspreisen frei wählen können. So weit die wirtschaftspolitische Theorie. Das Kleingedruckte überließ man vertrauensvoll den Lobbyverbänden der Energiebranche, die ihre Netze für Dritte praktisch dichtmachte – und sich untereinander schadlos hielt. „Selbst dort, wo Leitungen praktisch parallel liegen, gibt es keinen funktionsfähigen Wettbewerb“, wundert sich inzwischen auch Kartellamtschef Ulf Böge. Doch warum sollte sich ein Oligopol schon selbst regulieren? 15 Ferngas-Importeure verteilen ihre unsichtbare Ware auf rund 700 kleinere Netzbetreiber. An der Spitze steht die 2003 fusionierte E.on-Ruhrgas mit 60 Prozent Marktanteil und weltweiten Beteiligungen bis hin zu russischen Gasprom-Quellen. Der Vorsteuergewinn des von Wulf Bernotat gelenkten E.on-Konzerns wuchs 2004 auf 7,3 Milliarden Euro. Die Manieren der großen Konzerne sind dabei nicht so fein, wie ihre Vorstände gern glauben machen: Schert eines der kleinen Stadtwerke aus und versucht bei jemand anderem unterzukommen, wird getrickst, gedroht und draufgehalten. Johannes van Bergen zum Beispiel, Geschäftsführer der Stadtwerke SchwäbischHall, hat die Sitten auf dem deutschen Gasmarkt-Kiez zu spüren bekommen. 1999 versuchte er, aus dem 20-jährigen Liefervertrag mit der Gasversorgung Süddeutschland (einem Ruhrgas-Kunden) auszusteigen. Er hatte bereits zehn Prozent günstigere Verträge mit dem italienischen Versorger ENI in der Tasche. Das allerdings nutzte ihm wenig. „Die Gasversorgung Süddeutschland weigerte sich, das Gas zu transportieren“,
* entspricht 3000 Litern Heizöl Quelle: Energie-Informationsdienst, Bafa
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Gasrebellen Köllner, Schnabel: „Die wollten mich platt machen“ d e r
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PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF
Wirtschaft
Gasspeicher (in Berlin): Ein verheerender Hurrikan ist für die Versorger wie ein Lottogewinn
sagt van Bergen. Darauf kappte er den Preis um zehn Prozent, woraufhin der Versorger ihm androhte, in Schwäbisch-Hall eigene Netze zu bauen und ihn auszuhungern. „In der ersten Woche schon haben die uns fünf Großkunden aus den Verträgen gebrochen mit Preisen, die etwa 30 Prozent unter meinen lagen.“ Der Fall landete schließlich vor dem Bundesgerichtshof. Prozesskosten von mehreren Millionen Euro waren aufgelaufen. Es sah gut aus für die Stadtwerke. So gut, dass der Gasversorger kurz vor dem Prozess auf einmal sämtliche Prozesskosten übernahm. Und Ruhrgas bot weitere 3,6 Millionen Euro, wenn van Bergen den Prozess platzen ließe. Da die Stadt das Geld brauchte, ließ er sich überreden. Doch die endlosen Knebelverträge sind trotz anhaltenden Murrens des Kartellamts bis heute gang und gäbe. Als Behördenchef Böge nach jahrelangem Zögern nun ankündigte, die Verträge vor Gericht „aufzubrechen“, drohte E.on-Ruhrgas, dagegenzuhalten – um in der vergangenen Woche ganz theatralisch eine „freiwillige Selbstverpflichtung“ zu flexibleren Verträgen nachzuschieben. Wirksam ab Ende 2008. Gegen die Gaskonzerne, so van Bergen, „ist die Opec ein Sängerknabe“. Dass in den Gasverträgen auch viel heiße Luft stecken muss, zeigt sich nicht nur in der mitunter plötzlich auftretenden Bereitschaft der Konzerne, auf Dumpingpreise umzustellen. Kurz vor der umstrittenen Fusion mit Ruhrgas vor zwei Jahren stellte E.on klagende Konkurrenten mit 90 Millionen Euro ruhig. Hans-Werner Sinn, Chef des Münchner Ifo-Instituts, frohlockte schon 2002 in einem Auftragsgutachten für E.on, die Fusion werde zur „Erhöhung des Verbrau110
chernutzens“ und zur „Preissenkung“ beim Erdgas führen. Doch irgendwie hat die Theorie seither nicht durchgeschlagen. Hatte der Ökonom die Bindung vom Gas- an den fortwährend kletternden Ölpreis vergessen? Die Kopplung stammt aus den sechziger Jahren, als einige Konzerne begannen, Gas als Nebenprodukt zu Erdöl zu vermarkten. Die Bindung erschien damals wegen der Investitionskosten noch recht und billig. Heute, so die Gasversorger, soll sie die Verbraucher schützen. Bei sinkenden Ölpreisen könne man sich damit gegen überzogene Forderungen der Produzenten stemmen. Doch hat man mit denen nicht Verträge? Und wenn man sich gegen sie stemmt, droht man dann damit, statt Erdgas Öl zu kaufen? In Großbritannien, wo der Markt halbwegs funktioniert, müssen die Verbraucher ohne die Preiskopplung auskommen. Nach Logik der deutschen Energieriesen wären sie arm dran, völlig schutzlos frei herumwabernden Preisen ausgesetzt. Doch die sind dort für Haushaltskunden erstaunlicherweise rund 40 Prozent günstiger. Tatsächlich ist die Ölpreisbindung heute eine Lizenz zum Gelddrucken. Die Pipelines sind abgeschrieben, das Marktsegment sicher (fast halb Deutschland heizt mit Gas) und jeder verheerende Hurrikan in den USA ist für die Versorger wie ein Lottogewinn – weil dann wieder der Ölpreis hochschnellt und eine höhere Abschlagzahlung für die Kunden fällig wird. Allerdings nicht für alle. Seit vergangener Woche ist das Ganze noch einmal komplizierter geworden. Im ARD-Magazin „Plusminus“ ließ E.on-Ruhrgas überraschend wissen, dass die teure Bindung an das leichte Heizöl nur für Stadtwerke und Kleinkunden gilt. d e r
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In den Preisformeln für Industriekunden seien andere „entsprechende Bindungen berücksichtigt“, günstigere Konkurrenzenergiearten wie Kohle oder Schweröl etwa. Möglicherweise gibt es sogar Verträge, die ganz ohne Ölbindung auskommen. Es geht also auch anders. Aber eben nicht für alle. Und für wen, das bestimmen immer noch die Unternehmen. Doch weil es für einen Daseinsvorsorger wie E.on-Ruhrgas eben unbillig ist, auf Kosten der Schwächsten zu kalkulieren, haben Juristen jetzt einen Kniff gefunden, wie das doch geht: Jeder könne doch seine Versorgungsart wechseln. Es wird Wettbewerb suggeriert, wo keiner ist: Soll das Gaskraftwerk auf Kohle umstellen? Soll Fritz Schnabel sich eine Ölheizung einbauen? Zu den Verfechtern eines solchen Wettbewerbsnotstands gehört der Anwalt Bernd Kunth, dem die renommierte „Neue Juristische Wochenschrift“ gleich drei Seiten für seine Thesen freiräumte. Nach Kunth sind Gaspreise gar nicht über Paragraf 315 BGB kontrollierbar. Dass sein Aufsatz Teile der BGH-Rechtsprechung ignorierte, störte offenbar nicht. In einer Fußnote des Artikels erfährt der Leser, Kunth sei Partner der Sozietät Freshfields Bruckhaus Deringer. Dass er für die Energiewirtschaft von Gasprozess zu Gasprozess eilt, stand dort nicht. Auch nicht, dass seine Kanzlei den Bundesverband der Gas- und Wasserwirtschaft berät, die Lobbyvertretung der Branche – und E.on. Zu etwa demselben Ergebnis wie Kunth kommt auch Ulrich Ehricke in der „JuristenZeitung“. Ehricke ist Professor am Energiewirtschaftlichen Institut in Köln, zu dessen Finanziers die großen Energieversorger gehören. Auch Ulrich Büdenbender von der Technischen Universität Dresden, Ex-RWE-Vorstand, darf sich mit der These juristisch fortpflanzen. Sein Gutachten verfasste er für den Verband der Elektrizitätswirtschaft – zusammen mit der Düsseldorfer Kanzlei Clifford Chance. Freshfields und Clifford Chance sind die beiden größten international operierenden Kanzleien in Deutschland. Sie erzielen mehrere hundert Millionen Euro Umsatz. Recht scheint für sie nach Marktgesichtspunkten organisierbar. Wenn das zwingende Argument fehlt, muss das schlechtere wenigstens derart massenhaft reproduziert werden, dass es irgendwann die Gerichte beeindruckt. „Am Ende entscheiden nicht die Konvolute irgendwelcher Riesenkanzleien“, sagt Gasrebell Klaus von Waldeyer-Hartz. Er steht vor seinem Wohnmobil in der Habrechtsraße in Heilbronn. Am Ende entscheide das bessere Argument. „Und in meinem Vertrag steht keine Ölpreisbindung.“ Nils Klawitter
Ausland
Panorama
ILNITSKY / DPA (L.); Z. KONSTANTIN / GAMMA / STUDIO X (O.)
Lukaschenko, Putin
Demonstration der Opposition in Minsk
WEISSRUSSLAND
Attacke aus dem Äther E
in neues Rundfunkprogramm der Deutschen Welle für Hörer im autoritär regierten Weißrussland sorgt für Spannungen zwischen Berlin und Moskau. Die täglich 15-minütige Sendung in russischer Sprache, abrufbar auch im Internet, bietet Informationen etwa über die weißrussische Opposition, die von den staatsgelenkten Medien im Land des Präsidenten Alexander Lukaschenko verschwiegen werden. Die Europäische Union subventioniert die Aktion aus dem Äther mit zunächst
EU
Umstrittene Klüngelrunden
jährlich 138 000 Euro. Sergej Jastrschembski, Bevollmächtigter des russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Beziehungen zur EU, wirft den Europäern jetzt vor, sie griffen zu „Methoden aus dem Arsenal des Kalten Krieges“. Das Kurzwellenprogramm, so Jastrschembski, sei eine „Einmischung in die Angelegenheiten eines souveränen Staates“ – Weißrusslands eben, dessen Regime sich zu den Kreml-Verbündeten zählt. Moskau und Minsk fürchten Zulauf für die Lukaschenko-Gegner, nachdem sich die Opposition jüngst auf den Physiker Alexander Milinkewitsch als gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentenwahl im kommenden Juli geeinigt hat. Doch die Sorgen der Mächtigen über den destabilisierenden Einfluss westlicher Medien ist womöglich unbegründet. Eine von der Deutschen Welle in Auftrag gegebene Studie zeigt, dass mehr als 83 Prozent der Weißrussen noch nie russischsprachige Programme des deutschen Senders empfangen haben. Mehr als 42 Prozent der Befragten sind gar der Meinung, die staatlichen Minsker Medien beleuchteten die Politik und das Leben westlicher Länder „zutreffend“. Deutsche-Welle-Intendant Erik Bettermann setzt seine Hoffnungen daher vor allem „auf die kommenden Generationen“ in dem slawischen Land.
zu lassen. Diamandouros weist in dem noch nicht veröffentlichten Sonderbericht darauf hin, dass zur Änderung der bisherigen Praxis kein aufwendiges Umschreiben des EU-Vertragswerks not-
er Europäische Rat hat sich in der vergangenen Woche eine äußerst peinliche Rüge des EU-Bürgerbeauftragten Nikiforos Diamandouros eingefangen. In einer umfangreichen juristischen Stellungnahme kommt der Bürgerbeauftragte zu dem Schluss, dass es nach EU-Recht keine überzeugenden Gründe mehr dafür gibt, die Rats-Sitzungen der europäischen Staats- und Regierungschefs wie in einem abgeschotteten Geheimzirkel immer noch hinter verschlossenen Türen stattfinden
RAINER UNKEL
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wendig sei. Eine simple Änderung der Geschäftsordnung, so der Politikprofessor, genüge. Zwar hat die barsche Rüge des EU-Bürgerbeauftragten keine direkten rechtlichen Konsequenzen. Doch der Druck auf die Staats- und Regierungschefs, ihre vielfach als „Klüngelrunden“ gegeißelten Sitzungen öffentlich abzuhalten, dürfte gewaltig steigen. Laut CDU-Europaparlamentarier Elmar Brok, der die Untersuchung bereits im Dezember 2003 angestoßen hatte, sei nun „endgültig amtlich, dass der Europäische Rat nicht sein Mögliches tut, um die von ihm selbst beschworene Transparenz und Bürgernähe herzustellen“.
Sitz des EU-Ministerrats in Brüssel d e r
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Panorama
Q. NOEL/GAMMA/STUDIO X (L.); P. TAGGART/WORLD PICTURE NEWS/AGENTUR FOCUS (R.)
Diktator Taylor (2003), Präsidentschaftskandidatin Sirleaf (2. v. l.)
schenrechte erkämpfte sich international einen guten Ruf; sie arbeitete für Organisationen wie die Weltbank. Als Politikerin fiel sie bei den liberianischen Machthabern in der Vergangenheit immer wieder in Ungnade – und musste schließlich ins Exil nach Kenia. Sirleaf wäre die erste gewählte Staatschefin Afrikas. Noch bis vor zwei Jahren lieferten sich in Liberia Rebellen und die Truppen des berüchtigten Diktators Charles Taylor mörderische Kämpfe. Inzwischen aber rechnen selbst kritische Beobachter wie die International Crisis Group mit fairen und transparenten Wahlen. Aller-
dings, so warnen Experten der Nichtregierungsorganisation, dürfe das Engagement von Uno, EU, Weltbank und USA in Liberia danach nicht abebben. Noch immer mischen zwielichtige Kriegsfürsten und Banditen wie der berüchtigte „General Peanut Butter“ auf der politischen Bühne mit. Auch der „Taylor-Faktor“ wirke weiter unheilvoll. Der Ex-Diktator musste vor zwei Jahren vor allem auf amerikanischen Druck ins Exil nach Nigeria flüchten. Aus seiner Luxusvilla in der Nähe von Port Harcourt dirigiert er jetzt per Telefon seine Getreuen im Lande und munitioniert sie im Wahlkampf mit dicken Schecks. Die USA drängen darauf, Taylor endlich an das UnoKriegsverbrecher-Tribunal in Sierra Leone auszuliefern – er soll sich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten.
Terrorermittlungen auf Bali
Fahndungsplakat
LIBERIA
Hoffnung der Demokraten N
ach mehr als 14 Jahren Bürgerkrieg steht das Land vor einer Schicksalswahl. Werden die Kriegstreiber endgültig abgewählt? Küren die Liberianer einen Fußballspieler zum Präsidenten oder gar eine Harvard-Absolventin? George Weah, 39, und Ellen Johnson-Sirleaf, 66, liefern sich beim Urnengang am Dienstag ein Kopf-an-Kopf-Rennen um das höchste Staatsamt. Weah ist politisch unerfahren, gilt aber als einziger liberianischer Ballkünstler von internationalem Rang und damit seinen Landsleuten als Held. Sirleaf ist die Hoffnung der demokratischen Kräfte. Die Streiterin für Men-
TERROR
Thailand bangt
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BAY ISMOYO / AFP
ie Regierung von Premier Thaksin Shinawatra fürchtet, dass schon bald auch thailändische Touristenstrände Ziele von Terroranschlägen werden könnten. Nachdem drei Selbstmordattentäter am 1. Oktober auf der indonesischen Ferieninsel Bali 19 Menschen mit in den Tod gerissen hatten und mehr als 100 mitunter schwer verletzten, wurden in den vergangenen Tagen die Einreisekontrollen an den großen Flughäfen des südostasiatischen Landes und entlang der Grenze zum südlichen Nachbarn Malaysia verschärft. Besonderes Augenmerk gilt den beiden Malaysiern Noordin Mohamed Top, 35, und Azahari Bin Husin, 48, die als Drahtzieher des jüngsten Bali-Anschlags vermutet werden. Die Bombenexperten der al-Qaida nahestehenden
BERBAR HALIM / SIPA PRESS
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Terrorgruppe Jemaah Islamiah hatten zusammen mit dem inzwischen inhaftierten mutmaßlichen Chefterroristen Hambali schon jene Anschlagsserie ausgeführt, bei der vor fast genau drei Jahren 202 Menschen ums Leben gekommen waren, darunter auch 6 deutsche Touristen. In den vergangenen Wochen sollen Noordin und Azahari, der 1990 d e r
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an der britischen Universität Reading promovierte, in der zentraljavanischen Stadt Solo eine Selbstmordzelle gegründet haben – so jedenfalls die Erkenntnisse indonesischer Geheimdienstkreise. Islamisten haben demnach den Süden Thailands als Zentrum ihres nächsten Dschihads in Südostasien erkoren.
Ausland FINNLAND
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(„Capital“). Fortum wird derzeit als aussichtsreicher Partner für die geplante Gaspipeline von Russland durch die Ostsee nach Deutschland gehandelt. Nun soll der Wirtschaftsausschuss im finnischen Reichstag die Frage der politischen Verantwortung für den umstrittenen Millionendeal klären. Unter Beschuss stehen vor allem zwei prominente Sozialdemokraten: die frühere Handels- und Industrieministerin Sinikka Mönkäre sowie ihr Vorgänger, der jetzige Außenminister Erkki Tuomioja. Die oppositionellen Konservativen fordern bereits, beide auch finanziell zur Verantwortung zu ziehen. Die Genossen wiederum verweisen auf ihren Regierungspartner, die Zentrumspartei. Unter deren Premier Esko Aho seien 1994 die politischen Vorentscheidungen gefallen, behauptet Tuomioja. Der gilt eigentlich als erklärter Gegner von Aktienwohltaten für Staatsmanager und sieht nun immerhin einen politischen Erfolg: Die aufgeregte Debatte sei „der letzte Sargnagel“ für solche Aktiencoups. LEHTIKUVA OY / ACTION PRESS
mstrittene Millionengewinne aus Aktienoptionen des mehrheitlich staatlichen Energieversorgers Fortum für das Spitzenmanagement sorgen für einen handfesten Polit-Skandal, der die Regierung in Helsinki in Bedrängnis bringt. 350 Manager des Stromkonzerns, der zu 51,7 Prozent in öffentlicher Hand ist, können bis 2006 aus ihnen zugeteilten Aktienoptionen mit Gewinnen von rund 500 Millionen Euro rechnen. Allein Fortum-Chef Mikael Lilius, einer der führenden Wirtschaftspotentaten des Landes, darf sich insgesamt über annähernd zwölf Millionen Euro freuen. Der Strom- und Wärmeproduzent gilt finnischen Börsenanlegern als „Perle“
Fortum-Raffinerie
di-Arabiens sollten sich um ihre eigenen Probleme kümmern, etwa die Unterdrückung der Frauen und der schiitischen Minderheit. Sulaghs Äußerungen inen schweren diplomatischen Zwiseien „sehr bedauerlich“, entschuldigte schenfall, der Reaktionen in gleich sich Iraks Außenminister Hoschjar Sefünf Ländern nach sich zog, hat Iraks bari bei seinem saudi-arabischen KolleInnenminister Bajan Bakir Sulagh ausgen; sie seien „ohne Beispiel“ in der gelöst. Saudi-Arabiens Außenminister arabischen Welt, beklagte auch das jorSaud al-Feisal hatte die zunehmende danische Parlament in Amman. ZusätzDominanz Irans im Irak belich belastet der Vorfall nun klagt: Washington habe den das traditionell gespannte Irak an Teheran ausgeliefert, Verhältnis des sunnitischen Königreichs Saudi-Arabien die Macht der Schiiten im zum schiitischen Iran, ein Zweistromland nehme ein begeplanter Besuch des iranidenkliches Ausmaß an. Suschen Außenministers in lagh, selbst ein Schiit, wies Riad wurde abgesagt. Der die Kritik rüde zurück: „Im Ausfall Sulaghs, so die TaIrak stand die Wiege der Zivigeszeitung „Gulf News“ aus lisation – wir dulden keine Dubai, sei „dumm und Belehrungen von einem Berassistisch“ und erinnere an duinen, der auf einem Kamel „die ungeheuerliche Rhetositzt.“ Und weiter: Die „Tyrik des Saddam-Regimes“. rannen“ in der Führung Sau- Innenminister Sulagh ARABIEN
KHALIL MAZRAAWI / AFP
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MICHAEL APPELT / AGENTUR ANZENBERGER
Teurer Sargnagel
Wahlplakat der FPÖ ÖSTERREICH
Meinungsmache mit Minarett
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it unverhohlenem Ausländerhass heizt der neue Frontmann der FPÖ, Heinz-Christian Strache, den Wahlkampf um das Bürgermeisteramt der Hauptstadt an. Unter der Devise „Duell um Wien“ attackiert der 36jährige Chef der Freiheitlichen derzeit vor allem den amtierenden sozialdemokratischen Bürgermeister Michael Häupl. Strache will der FPÖ im Kampf um die Sitze im kleinsten österreichischen Bundesland den zweiten Platz erhalten – nach der SPÖ, die beim Urnengang Ende Oktober ihre Dominanz im Wiener Rathaus wohl verteidigen wird. Im Internet präsentiert sich Strache im gold-blauen Superman-Dress als Retter Wiens vor den Türken. Häupl dagegen wird auf FPÖ-Plakaten vor einem aufragenden Minarett gezeigt – die SPÖ, so der Vorwurf der Rechtspartei, fördere die Zuwanderung von Ausländern. Den Freiheitlichen, bei denen nach der Abspaltung von der Haider-geführten BZÖ der rechtsextreme Kern dominiert, ist dieser Zustrom ein Dorn im Auge. Ausländer, schwadroniert Strache gern, nähmen den Wienern die Gemeindewohnungen weg. Die platte Forderung des Jung-Populisten: „Deutsch statt nix verstehn“. Mit einem derart polarisierenden Wahlkampf, so Anton Pelinka vom Wiener Institut für Konfliktforschung, versuche die FPÖ vor allem bei Modernisierungsverlierern Stimmen zu ergattern. Und das offenbar nicht ohne Erfolg: Die von Strache angepeilten zehn Prozent seien durchaus erreichbar, glaubt Pelinka. Haiders BZÖ dagegen hat wohl das Nachsehen – sie dürfte an der Fünf-Prozent-Grenze scheitern. Auch für die Partei von Bundeskanzler Schüssel sieht es nicht rosig aus. Nach der historischen Schlappe bei der Landtagswahl in der Steiermark vorvergangene Woche muss die ÖVP wohl auch in der Hauptstadt mit Verlusten rechnen. 115
Ausland
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Eine Zeit großer Chancen“ Der frühere amerikanische Außenminister Henry Kissinger, 82, über das Wagnis des Irak-Krieges, den Konflikt mit Europa und die künftige Rolle Chinas in der Weltpolitik
GILLIAN LAUB / CORBIS
tische Verhältnisse geschaffen werden können. Zur Stabilität gehört besonders internationale Anerkennung. SPIEGEL: Amerika aber scheint der Optimismus ausgegangen zu sein. Eine Mehrheit der Bürger hält das militärische Engagement inzwischen für einen Fehler. Geht dieser Krieg zu Hause, in Amerika, verloren? Kissinger: Ich habe ja besondere Erfahrungen während des VietnamKriegs gemacht, aus diesem Blickwinkel betrachte ich jetzt auch den Irak-Krieg. Die Regierung Nixon, der ich als Nationaler Sicherheitsberater angehörte, erbte einen Krieg, den sie nicht begonnen hatte. Führende Mitglieder der Regierung, die ihn begonnen hatte, schlossen sich später der Friedensbewegung an. Wir wollten den Krieg beenden, das war unser überragender Wunsch. Wir wollten ihn so beenden, dass die internationale Stabilität nicht gefährdet wurde und auch nicht die Rolle, die Amerika in der Verteidigung seiner Verbündeten spielen sollte. SPIEGEL: Wie lassen sich beide Ziele im Irak erreichen? Kissinger: Natürlich ist die Lage im Irak nicht in allen Teilen mit Vietnam vergleichbar. Aber um den Irak-Krieg zu Ende zu bringen, brauchen wir hier in Amerika einen Dialog und den guten Willen aller Beteiligten. Heute schon einen Zeitpunkt für den Abzug der Truppen festzulegen ist nicht sinnvoll. Ist es möglich, dass der Irak durch unsere innenpolitische Situation zerstört wird? Ich habe so etwas schon einmal erlebt. Alle sollten sich bemühen, den Krieg anständig zu beenden – damit wir und der Rest der Welt damit leben können. SPIEGEL: Sie haben Kritik an den Europäern geübt, weil die sich nicht genug im Irak engagierten. Was sollten sie denn tun? Kissinger: Darüber sollten wir reden, sobald der Irak gewählt hat und Deutschland eine neue Regierung besitzt. Um mit Amerika zu beginnen: Die Neokonservativen hatten erhebliches Misstrauen gegen Europa entwickelt. Früher sind solche Ansichten
Ehemaliger US-Außenminister Kissinger: „Irak ist nicht nur ein Problem Amerikas“ SPIEGEL: Mr Secretary, Irak ist zu einem
enormen Problem für die Weltmacht Amerika geworden. Was muss Ihrer Ansicht nach geschehen, dass dieses Land Stabilität gewinnt und geeint bleibt? Kissinger: Irak ist nicht mehr nur ein Problem der Weltmacht Amerika. Was immer man auch über frühere Entscheidungen denken mag – die Folgen eines Sieges der Das Gespräch führten die Redakteure Georg Mascolo und Gerhard Spörl in New York.
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radikalen Islamisten bekäme jedes Land mit einem größeren muslimischen Bevölkerungsanteil zu spüren. In Regionen wie Südostasien, sogar in Indien, würde das so verstanden werden, dass die Dschihadisten einen Weg gefunden haben, die technisch überlegene Welt, der sie den Krieg erklärt haben, zu besiegen. Im Irak stehen wir jetzt vor Wahlen. Danach sollten wir uns gemeinsam mit unseren Verbündeten und anderen interessierten Ländern darüber ins Benehmen setzen, wie stabile polid e r
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DPA KHALID MOHAMMED / AP
Nordkoreanischer Präsident Kim Jong Il: „Kein Interesse an einer weiteren Atommacht“
MORTEZA NIKOUBAZL / REUTERS
Zerstörte Moschee von Hilla (Irak): „Das Denken nicht von Angst bestimmen lassen“
Freitagsgebet in Teheran: „Iran muss verstehen, dass wir es ernst meinen“ d e r
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im Dialog bereinigt worden. Die Bundestagswahlen in Deutschland 2002 verschärften das Problem aber noch. Kanzler Schröder machte Irak und eine Art Antiamerikanismus zum Kern seiner Kampagne. Jede Flexibilität deutscher Außenpolitik gegenüber Amerika ging damit verloren. SPIEGEL: Mehr als Deutschland zog Frankreich den Zorn der Amerikaner auf sich. Kissinger: Aus meiner Sicht entstand da ein persönlicher Konflikt zwischen den Führern beider Länder, der Kompromisse ausschloss. Ursprünglich waren unsere Leute in Washington davon überzeugt, dass Frankreich am Ende im Uno-Sicherheitsrat wie beim Golfkrieg 1991 zustimmen würde, vielleicht unter einigen zusätzlichen Bedingungen. Ein französischer Flugzeugträger war ja schon auf dem Weg ins Rote Meer. Doch nachdem Deutschland sich festgelegt hatte, musste sich Frankreich entscheiden, ob es den Nachbarn isoliert in der Mitte des Kontinents zurücklassen sollte – womit dann Deutschland die Rolle als Anführer gegen Amerikas Unilateralismus zugefallen wäre. Es geht mir nicht um Kritik, ich analysiere, wie das Verhalten Deutschlands, Frankreichs und Amerikas zur Krise beigetragen hat. SPIEGEL: Was waren die tieferen Ursachen dieser schweren Verstimmung? Kissinger: Die europäischen Länder haben sich in ihrem Kern gewandelt. Der Nationalstaat hat ja ursprünglich seine Wurzeln in Europa. Damit war das Recht des Staates gemeint, seinen Bürgern Opfer im Namen einer weltweiten Außenpolitik aufzuerlegen. In der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Europa noch Führer, die zwar schwache Länder repräsentierten, aber einen Sinn für globale Außenpolitik besaßen. Heute dagegen gibt es Staatsmänner, die einigermaßen starke Länder vertreten, deren Bürger aber nicht bereit sind, Opfer für den Staat auf sich zu nehmen. Europa gibt den klassischen Nationalstaat preis, ohne dass strukturell und emotional eine übergeordnete Gemeinschaft an seine Stelle getreten wäre, zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Europa. Amerika hingegen ist immer noch ein traditioneller Nationalstaat. SPIEGEL: In Europa gibt es eine Denkschule, die dafür eintritt, dass sich der alte Kontinent als Gegenpol zu Amerika begreift, um sich auf dieser Grundlage zu einigen. Kissinger: Ja, diesen Trend gibt es. Ich habe im SPIEGEL verschiedene Bemerkungen gelesen, wonach deutsche Außenpolitik darin bestehen sollte, auf Augenhöhe mit Amerika zu reden. Das mag in bestimmten Situationen notwendig sein. Aber Konfrontation mit Amerika sollte nicht das entscheidende Prinzip deutscher Außenpolitik werden. SPIEGEL: Deutschland sei „Partner in Leadership“, hat Bush senior noch 1989 großzügig gesagt. Kissinger: Für meine Generation waren die Beziehungen zu Europa das Kernstück je119
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der amerikanischen Außenpolitik. Auch zu meiner Zeit in der Regierung gab es Streit, manchmal sehr heftigen. Aber es war ein Familienstreit, es herrschte das Bestreben vor, ihn zu bereinigen. Wir waren uns bewusst, wie schmerzlich die Entscheidung in den fünfziger und sechziger Jahren war, die Teilung Deutschlands hinzunehmen, damit die eine Hälfte dem Westen angehören kann. So hat auch George Bush senior gedacht. Deshalb war es auch einfach für Amerika, die Vereinigung Deutschlands zu begrüßen. Ich bin nicht sicher, ob die Generation, die nicht wie wir diese Erfahrungen besitzt, den gleichen Blick auf die Dinge hat. SPIEGEL: Viele in Deutschland halten das Chaos im Irak für den schlagenden Beweis, dass der Krieg ein Fehler war. Kissinger: Es ist Deutschland ja auch gelungen, sich aus der militärischen Phase des Krieges herauszuhalten. Es wäre aber nur fair gegenüber der amerikanischen Regierung, zu fragen, was denn die Alternative gewesen wäre. Nach dem 11. September war es schwer vorstellbar, dass Saddams Regime unangetastet bleiben würde; die Uno bestätigte zahlreiche Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen von 1991. Saddam besaß Öl, er hatte die größte Armee in der Region, und es gab die begründete Sorge, dass er Massenvernichtungswaffen besitzen könnte. Die Entscheidung, etwas zu tun, hatte gute Gründe. Ob man es heute noch einmal genauso machen würde, ist eine andere Frage. Den Glauben, dass die Besetzung des Irak ähnlich problemlos ablaufen würde wie einst die Deutschlands oder Japans, habe ich allerdings von Anfang an für falsch gehalten. SPIEGEL: Ist Demokratie im Irak und im Nahen Osten die Lösung des Problems? Kissinger: Das westliche Konzept von Demokratie beruht auf der Vorstellung, dass der Verlierer einer Wahl die Aussicht hat, beim nächsten Mal der Gewinner zu sein. Wenn es sich aber um ein ethnisch oder religiös gespaltenes Land handelt, in dem Minderheit und Mehrheit in Feindseligkeit miteinander leben, kann Demokratie keine hinreichende Garantie für den nötigen Ausgleich bieten. Wenn sich obendrein jede ethnische Gruppe selbst bewaffnet, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Armee des neuen Staates von einem Teil der Bevölkerung als konfessionell gebundene Miliz betrachtet wird. SPIEGEL: Sie gelten als prominentester Verfechter der realistischen Denkschule, die großen Wert auf Stabilität in den internationalen Beziehungen legt und Skepsis gegenüber grundlegenden Veränderungen walten lässt, wie sie etwa den Neokonservativen für den Nahen Osten vorschweben. Erleben Politiker wie Sie gegenwärtig eine Renaissance? Kissinger: Ich verstehe unter Realismus in der Außenpolitik die sorgfältige Prüfung aller Aspekte, die man in Betracht ziehen
Staatsmänner Schröder, Bush im Weißen Haus: „Europa gibt den Nationalstaat preis“
muss, ehe man eine Entscheidung fällt – um von dem Punkt, an dem man steht, zu einem anderen Punkt zu gelangen. Realisten sind nicht allein auf die Macht fixiert, wie man ihnen gern unterstellt. Zum Realismus gehört ein ausgeprägter Wertekanon, denn schwierige Entscheidungen in der Außenpolitik fallen allemal mit hauchdünnen Mehrheiten. Ohne Sinn für die richtige Richtung ertrinkt man in der Flut schwieriger und pragmatischer Entscheidungen. Selbst Bismarck meinte, das Beste, was ein Staatsmann tun könne, sei doch, „darauf zu achten, ob man den Herrgott durch die Weltgeschichte schreiten sieht. Dann zu springen und sich an seines Mantels Zipfel klammern, dass man mit fortgerissen wird, so weit es gehen soll“. SPIEGEL: Sie schreiben gerade an einem Buch, in dem Sie den grundlegenden Unterschied zwischen Staatsmännern und Propheten herausstellen wollen. Kissinger: Ja, Staatsmänner denken in geschichtlichen Prozessen und betrachten die Gesellschaft als Organismus. Anders die Propheten, denn die glauben, sie könnten absolute Ziele in überschaubarer Zeit erreichen. Es sind mehr Menschen von Kreuzzüglern umgebracht worden als von Staatsmännern. d e r
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SPIEGEL: Einer der Propheten war Mao, der in einem neuen, aufsehenerregenden Buch als Massenmörder des 20. Jahrhunderts dargestellt wird. Kissinger: Es ist wahr, dass er seinem Volk ungeheures Leiden auferlegt hat, und er ist ein Beispiel für jene Propheten, über die ich schreibe. Als Richard Nixon 1972 Mao traf, da sagte er zu ihm, seine Lehren hätten die Kultur und die Zivilisation Chinas umgewandelt. Mao antwortete: Alles, was ich verändert habe, ist Peking und dazu ein paar Vororte. Es war ihm ein Alptraum, dass er nach 20 Jahren Kampf und nach so vielen Anstrengungen, eine kommunistische Gesellschaft zu begründen, so wenig Dauerhaftes erreicht haben sollte. Das brachte ihn dazu, mehr und mehr Menschenleben zu opfern, um zu Lebzeiten noch sein Ziel zu erreichen. Sonst, so glaubte er, würde der historische Prozess sein Lebenswerk zerstören. SPIEGEL: Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass die Propheten am Ende an sich selbst scheitern? Kissinger: Indem sie ihr Scheitern verhindern wollen, flüchten sie mehr und mehr in die Gewalt und bringen – hoffentlich – sich selbst eine Niederlage bei.
Ausland SPIEGEL: Welchen Staatsmännern zollen
Sie den größten Respekt – Bismarck, Churchill? Kissinger: Auch Charles de Gaulle zolle ich hohen Respekt. Bismarck schätze ich, aber bedingt. Er verwirklichte die deutsche Einheit, was seinen Vorgängern vorenthalten geblieben war. Allerdings hinterließ er seinen Nachfolgern eine Aufgabe, die deren Vermögen überstieg. Außenpolitik war für Bismarck primär Machtpolitik, und seine Nachfolger brachten nicht die Mäßigung auf, die er besaß. SPIEGEL: Zurück zum Personal von heute: Die amerikanische Außenpolitik hat sich in den letzten Monaten verändert. Ein Mitglied der „Achse des Bösen“, Nordkorea, soll nun milliardenschwere Hilfslieferungen erhalten – im Gegenzug für den Verzicht auf sein militärisches Atomprogramm. Und im Fall Iran setzt die Regierung Bush trotz aller Rückschläge auf Diplomatie. Ein Sinneswandel aus Überzeugung oder aus schierer Not? Kissinger: Nach meiner Beobachtung fühlt sich die Regierung nicht unter jenem Druck, den die Medien beschreiben. Außerdem wird amerikanische Politik normalerweise aus pragmatischen und nicht aus philosophischen Gründen gemacht. Niemand in Washington hat gesagt, wir ziehen jetzt grundsätzlich Multilateralismus vor. Im Fall Nordkorea bin ich optimistisch. Das ist kein amerikanisches Problem, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen geht alle an. Weder Japan noch China oder Russland haben Interesse an einer weiteren Atommacht in Asien. Die gemeinsamen Anstrengungen werden zu einem Ergebnis führen. Es wird noch ein bisschen hin- und hergehen, aber die fundamentalen Entscheidungen sind getroffen. SPIEGEL: Sind Sie ähnlich optimistisch, was Iran angeht? Kissinger: Irgendwann muss in Washington die wichtigste Entscheidung fallen – in der Frage, ob jene, die für einen Regimewechsel in Iran eintreten, die Oberhand behalten oder jene, die für Verhandlungen sind. Aber lassen Sie mich etwas Grundsätzliches sagen: Ich war mitverantwortlich für Entscheidungen in einer Zeit, als es zwei Supermächte gab. Damals konnte man sich mit einiger Sicherheit darauf verlassen, dass beide ein gleiches Maß an Zurückhaltung walten lassen würden, einen Atomkrieg auszulösen. Stellen Sie sich jetzt aber eine Welt mit 30 oder mehr Atommächten vor, und stellen Sie sich zusätzlich vor, welche komplizierten Überlegungen die einen über das mögliche Verhalten der anderen anstellen müssen. Das ganze System der internationalen Beziehungen muss sich zwangsläufig ändern. Darüber müssen wir uns im Zusammenhang mit Iran Gedanken machen. Die Demokratien müssen die Konsequenzen aus der Verbreitung nuklearer Waffen im Blick haben und sich die Frage stellen, was sie getan hätten, wenn d e r
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Fabrikarbeiter in China: „Das Gravitationszentrum der Weltpolitik verschiebt sich“
die Bomben in Madrid nukleare Bomben gewesen wären. Oder wenn die Attentäter in New York Atomwaffen eingesetzt hätten, oder wenn in New Orleans 50 000 Menschen bei einem nuklearen Anschlag gestorben wären. Die Welt würde ganz anders aussehen, als sie heute aussieht. Also müssen wir uns fragen, mit welcher Energie wir das Problem der Weiterverbreitung nuklearer Waffen angehen wollen. SPIEGEL: Wann sollte sich der Uno-Sicherheitsrat mit dem iranischen Atomprogramm befassen? Kissinger: Eine erneute Konfrontation im Sicherheitsrat sollten wir so lange vermeiden, bis wir exakt wissen, was wir erreichen wollen und können. Iran ist noch wichtiger als Nordkorea. Iran ist das bedeutendere Land, es hat mehr Optionen. SPIEGEL: Gibt es eine militärische? Kissinger: Es ist taktisch unklug, eine militärische Lösung auszuschließen. Doch jedes Mal, wenn jemand sagt, dass Amerika sich diese Option vorbehalten sollte, bricht die Hölle los. Es ist notwendig, dass wir uns über die Gefahren der Proliferation verständigen, und damit meine ich nicht nur ein weiteres Treffen der Außenminister. Dann sollten wir sehen, welche Druckmittel und welche Geschenke wir zur Verfügung haben. Iran muss aber verstehen, dass wir es alle ernst meinen. Natürlich ist niemand begierig auf einen neuen Krieg in dieser Region. SPIEGEL: Im Nahen Osten geht es immer auch um strategische Interessen, ums Öl. „Der Zugang zu Ressourcen kann für viele Staaten zu einer Frage des Überlebens werden“, haben Sie geschrieben. „Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn Öl das moderne Äquivalent zur Auseinandersetzung um die Kolonien im 19. Jahrhundert würde.“ Hat das neue „Great Game“ schon begonnen? 122
Kissinger: Ja, in gewisser Hinsicht. Der Zugang zu Energie ist heute kein rein ökonomisches, sondern auch ein politisches Problem. Solange die Ressourcen begrenzt sind und die Nachfrage weiter steigt, sollten die Verbraucherländer zu einer Verständigung kommen, bevor die Konkurrenz zu ernsthaften Spannungen führt. SPIEGEL: Der Energiehunger der aufstrebenden Weltmacht China treibt den Konflikt voran? Kissinger: Im Vergleich zu anderen Staaten hat China eine konzeptionell ausgerichtete Außenpolitik. China treibt das Bedürfnis an, sich ökonomisch zu entwickeln. Die Globalisierung wird noch weitere industrialisierte Staaten hervorbringen. Und damit wächst die Konkurrenz um Ressourcen. SPIEGEL: In Amerika gibt es ein politisches Lager, das sich gegenüber dem kommunistischen China so unnachgiebig verhalten will wie gegenüber der Sowjetunion. Wäre das sinnvoll? Kissinger: Die Herausforderung liegt darin, dass da ein Land mit enorm großer Bevölkerung systematisch an seiner ökonomischen Entwicklung arbeitet und beispiellose Wachstumsraten erzielt. Dabei verschiebt sich das Gravitationszentrum der Weltpolitik vom Atlantik zum Pazifik. Aber es ist keine Herausforderung, auf die sich militärisch oder mit ideologischer Konfrontation antworten ließe. SPIEGEL: Aus dem Niedergang der Sowjetunion hat China gelernt, dass es sich ökonomisch entwickeln und stabilisieren muss, ohne die kommunistische Doktrin aufzugeben. Kissinger: China ist ein Einparteienstaat, und die Partei nennt sich kommunistisch. Aber das System beruht nicht auf zentraler Planung. Deshalb können die Menschen ihre Energie auf eine Art und Weise entfalten, wie es in der Sowjetunion nie mögd e r
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lich war. Das sowjetische System war immer stalinistisch ausgerichtet, selbst in seiner Reformphase. Trotzdem: Irgendwann kommt in China der Punkt, an dem die neuen sozialen Schichten, die aus diesem wirtschaftlichen Erfolg hervorgehen, in das politische System integriert werden müssen. Es gibt keine Garantie, dass dieser Prozess glatt verläuft. SPIEGEL: Ist für China der Nationalismus als Ersatzideologie nicht eine ungeheure Versuchung? Kissinger: Ich bin dagegen, China zum Dämonen der Weltgemeinschaft zu erklären. China hat schneller als andere Länder verstanden, was Globalisierung bedeutet und erfordert, und es hat gelernt, die Innovationen anderer für sich zu nutzen. Indien liegt übrigens in dieser Hinsicht nicht weit hinter China. Beide sind nicht Nationen im europäischen Sinne, sondern kulturelle Gemeinschaften mit einem riesigen Markt. Damit umzugehen, darin liegt die Herausforderung der Zukunft. SPIEGEL: In Amerika gibt es die Hoffnung, den Aufstieg Chinas managen zu können – und so unter Kontrolle zu halten. Kissinger: Ich habe oft gesagt, dass der Wunsch, China zu belehren, wie es sich in der Welt benehmen soll, falsch ist. China hatte bereits etliche tausend Jahre gelebt, bevor es überhaupt Amerika gab. Es könnte sogar sein, dass sich der Aufstieg Chinas hinauszögern lässt, aber falls dieses Riesenreich nicht auseinander fällt, wird es ein wichtiger Faktor der Weltpolitik werden. SPIEGEL: Wenn Sie über China sprechen, schwingt immer eine Menge Respekt mit. Kissinger: Ich beobachte China seit mehr als 30 Jahren und bin beeindruckt, wie systematisch und umsichtig es seine Probleme angeht. Natürlich kann das internationale System durch den Aufstieg Chinas ins Wanken geraten – wenn wir uns nämlich nicht auf die neue Konkurrenzsituation vorbereiten. Aber es geht um eine ökonomische Herausforderung, nicht um eine Aggression von Hitlerschem Ausmaß. SPIEGEL: Wann haben Sie eigentlich beruhigter auf die Welt geschaut: im Kalten Krieg oder in diesen Tagen? Kissinger: Ach wissen Sie, die Menschen fangen jetzt an, den Kalten Krieg zu verklären. Auch in den damaligen Krisen stand das Überleben von Millionen Menschen auf dem Spiel, und wir mussten der anderen Supermacht Vergeltung androhen – für den Fall, dass sie uns etwas antun würde. Nein, das waren keine glücklichen Zeiten. Wir hatten Glück, weil die Sowjetunion schwächer war, als wir glaubten. Heute leben wir in einer Welt, in der vieles im Fluss ist. Das verursacht große Angst. Aber es ist auch eine Zeit großer Chancen. Und ich appelliere an die Staatsmänner unserer Tage, ihr Denken nicht von Angst bestimmen zu lassen. SPIEGEL: Mr Secretary, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Ausland K R OAT I E N
Basar auf dem Kirchberg Beim Poker um die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei war Uno-Juristin Carla Del Ponte die Schlüsselfigur. Wurde sie aus Washington unter Druck gesetzt?
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GAETAN BALLY / KEYSTONE / DPA
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Anklägerin Del Ponte
Erstaunlicher Sinneswandel
War es politischer Druck, der Frau Del Ponte dazu bewegte, dem Adrialand einen vorläufigen Persilschein auszustellen? Denn nach wie vor gilt Gotovina als „unauffindbar“, jener einstige Fremdenlegionär mit französischem Pass, der verantwortlich sein soll für den Tod von mindestens 150 Serben während der Operation „Sturm“. So nannte sich 1995 die Rückeroberung der von den Serben zur eigenen Republik proklamierten Krajina; selbst nach der Aktion ließ Gotovina noch fast 20 000 serbische Häuser zerstören. In Zagreb wisse man sehr wohl, wo der Ex-Kommandeur abgeblieben sei, unterstellte Del Ponte stets. Franziskanerpater in Kroatien gewährten Gotovina Unterschlupf, behauptete die Staatsanwältin; so-
RANKO CUKOVIC / REUTERS
as Bild verströmte einen Hauch von Erleichterung: 25 froh lächelnde EU-Außenminister, mittendrin – ermattet – Jack Straw, der britische Verhandlungsführer, und dazu das rundlichstrahlende Gesicht des soeben vom Rande Europas eingeflogenen Gastes: Abdullah Gül, Außenamtschef in Ankara. Im Konferenzzentrum auf dem Luxemburger Kirchberg-Plateau wurde vergangenen Dienstag kurz nach Mitternacht doch noch vollbracht, was kaum einer mehr für möglich hielt – der Weg für Gespräche über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union war freigeräumt. Österreich hatte in letzter Minute Zustimmung signalisiert. Die Schlüsselfigur des Tages war zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr dabei. Carla Del Ponte, Chefanklägerin des UnoKriegsverbrecher-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien, hatte der Runde bereits am Nachmittag die entscheidende Nachricht hinterbracht und die EU vor einer schweren Krise bewahrt: Die Balkanrepublik Kroatien, so Del Ponte, arbeite „seit einigen Wochen vollständig“ mit ihrer Institution zusammen – womit der letzte Stolperstein für Beitrittsverhandlungen auch mit Zagreb beseitigt war. Das hatte Türkei-Gegner Österreich hören wollen – Kroatien war das Pfand für ein Einlenken Wiens. Der Auftritt der Schweizerin mit der blonden Kurzhaarfrisur sorgt seither für erheblichen Diskussionsstoff. Noch drei Tage zuvor, in der kroatischen Hauptstadt, hatte die Uno-Staatsanwältin und frühere Freizeit-Rennfahrerin das Gegenteil behauptet: „Sie können sich nicht vorstellen, wie enttäuscht ich bin“, bekannte sie. Bei der Fahndung nach dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ante Gotovina gebe es nach wie vor keine volle Kooperation. 72 Stunden später, in Luxemburg, tat sie den Außenministern kund, der flüchtige Bürgerkriegsgeneral werde „schon bald“ an ihr Gericht überstellt. Selbst in Zagreb löste der Sinneswandel Erstaunen aus. Noch am Wochenende hatten einheimische Medien die Chancen Kroatiens auf einen positiven Befund Del Pontes als eher gering eingestuft.
Serbenführer Mladiƒ, Karad¢iƒ (1995)
Meistgesuchte Kriegsverbrecher d e r
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gar dem Vatikan, dem das katholische Land ein wichtiger Partner ist, kreidete sie „stillschweigende Duldung“ an. Angesichts des plötzlichen Meinungsumschwungs der eisernen Lady geht nicht nur die kroatische Zeitung „Ve‡ernji list“ von einem heimlichen Deal aus; auch der Fraktionsführer der Liberalen im Europaparlament, Graham Watson, spricht von einem politischen Gegengeschäft. Die 24-stündige Marathonsitzung von Luxemburg vorvergangenes Wochenende, so streuen Beobachter in Zagreb, habe weniger einem seriösen Politikerclub geglichen als vielmehr einem türkischen Basar. Washington, seit jeher Verfechter einer EUAufnahme der Türkei, hätte über telefonische Strippenzieher in mehreren Schritten den Weg für Ankara freigemacht. So sei die ambitiöse Staatsanwältin zunächst mit einem Versprechen geködert worden, dessen Erfüllung die Laufbahn der Juristin zweifellos krönen würde. Demnach habe Washington dafür gebürgt, dass die beiden meistgesuchten Kriegsverbrecher – der ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karad¢iƒ und sein General Ratko Mladiƒ – noch in diesem Jahr dem Tribunal überstellt würden. Als Gegenleistung sollte Del Ponte mit einer positiven Kroatien-Beurteilung Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel animieren, sein Veto gegen Beitrittsverhandlungen mit Ankara aufzugeben. Es sei grotesk, so hatte Schüssel stets moniert, Verhandlungen mit der Türkei zu führen und das seit Jahren mit der EU solidarische Kroatien zurückzustoßen. Das Engagement Wiens, das sich immer deutlicher zur Drehscheibe für die einstigen Staaten der Donaumonarchie mausert, ist nicht uneigennützig. Österreich ist größter Auslandsinvestor in Kroatien, die Exporte in das Adrialand beliefen sich 2004 auf 1,2 Milliarden Euro. Hinter den Kulissen sollen gleichzeitig die Verhandlungen zwischen Gotovinas Anwälten und dem Tribunal in Den Haag auf Hochtouren laufen – ebenfalls unter den wachen Augen Washingtons. Das hatte bislang gegenüber Del Pontes Auslieferungsbegehren eher Zurückhaltung an den Tag gelegt – die Amerikaner waren nach kroatischen Angaben 1995 mit Logistik und Aufklärungsflugzeugen an der Rückeroberung der Krajina beteiligt, sie hatten Kroatien mit wichtigen Daten versorgt. Es sei nicht auszuschließen, dass Gotovina sich doch noch zu einer freiwilligen Reise nach Den Haag entschließt, spekulieren einige nach dem Gipfel von Luxemburg – unter der Zusicherung, er könne sich, wie der ehemalige Kosovo-Premier Haradinaj, in Freiheit auf seine Verteidigung vorbereiten. Sein Mandant wolle zwar einen Prozess in Kroatien, bestätigte Gotovinas Anwalt Luka Misetiƒ aus Chicago vergangene Woche, doch seien „alle Optionen offen“. Renate Flottau
Ausland wenig gewiss ist. Marokkaner sollen die Flüsterer gewesen sein, und denen soll es in Wahrheit darum gegangen sein, Druck zu erzeugen wegen der Verhandlungen, die in Madrid geführt werden. Es geht dort um heikle Fragen: Was kann Marokko tun, um Europa vor Afrika zu schützen? Und was zahlt Europa dafür? Ceuta und Melilla sind ja längst gesiZehntausende Afrikaner sind auf chert wie Berlin bis 1989, nur Selbstschussdem Weg nach Europa, Tausende anlagen fehlen. Die Panik entstand, da die, warten in den Wäldern Marokkos. die in den Wäldern hausen, Späher losschicken, die das Grenzgebiet erkunden Zum Sturm über die Zäune sollen – und die Späher meldeten, dass die schließen sie sich zusammen. Zäune erneut erhöht werden. Soldaten und Bauarbeiter schweißen auf spanischer Seite neue Pfosten auf alte Pfosten, dann kommt der Stacheldraht, der Wunden in Finger und Füße reißt, und am Ende wird Europas Schutzwall sechs Meter hoch sein. Wer jetzt noch wartet, das war die Botschaft der Späher, der verspielt seine Chancen. Und darum rannten diese Menschen, die nach all den Jahren ihr Ziel endlich sehen konnten. Viermal versuchte es Abdul Loum, 30, aus Guinea drüben in Melilla, „dies war mein dritter Versuch in Ceuta“, sagt er, und jetzt ist er drin. Sieger wie Loum erzählen, dass sie auf ihren Soldaten in Ceuta, Flüchtlinge in Melilla: Es sprach sich herum, und irgendwann wurde es eine Idee Reisen natürlich in die In den Wäldern Marokkos, vor Ceuta Hände von Schleusern geraten seien: m Lager der Sieger gibt es Frühstück um halb neun, um 20 Uhr Abendessen, und Melilla, leben diese Flüchtlinge dann Schleuser sammeln südlich der Sahara und die Sieger sitzen mit krummen in Lagern, unter Planen und Zedern. Geld für den Trip durch die Wüste, SchleuRücken und toten Augen vor ihren Tellern. Manchmal sind es 100 Menschen, die sich ser kassieren für die Reise durch Algerien. Grüne Zäune umgeben das Lager, deut- hier zusammenschließen, manchmal sind Der Sturm auf die Mauern jedoch sei nicht es 500. Sie wählen Anführer, das Camp im organisiert gewesen; es habe sich herumsche Schäferhunde halten Wache. Die Sieger, das sind die, die es geschafft Wald ist ein bisschen Heimat und vor allem gesprochen und sei irgendwann zur Idee haben. Einige starben, und viele fielen ver- Nachrichtenbörse. Bislang war es so, dass geworden: Wenn einer dem anderen hilft, letzt zurück auf afrikanischen Boden. Die sich hier draußen Teams formten, fünf bis wenn alle zusammen mit vielen Leitern Sieger aber sind in Europa, und nun sitzen acht Menschen, und die bauten sich Leitern anrücken, hat jeder bessere Aussichten. Dann passierte, was immer passiert: eine sie im Centro de Estancia Temporal de In- und versuchten es gemeinsam. migrantes (Ceti) von Ceuta und warten auf Nun ist es so, dass sich wenige Kilome- Kettenreaktion. Die Ersten kamen durch, das, was mit ihnen geschehen wird. ter vor Europa eine Solidargemeinschaft, die Erfolgsmeldungen kamen zurück in die Ceuta und Melilla sind absurde Städte. eine AG der Rechtlosen geformt hat. Die- Wälder, sofort machten sich die Nächsten Anachronistisch. Ceuta, 71 500 Einwohner, se Flüchtlinge kommen aus Ländern süd- auf den Weg. Gegen Ende der Woche lösgehört seit 1580 zu Spanien, Melilla, 66 000 lich der Sahara, die meisten sprechen Fran- te die marokkanische Polizei einige Lager Einwohner, seit 1497. Beide Städte sind Ex- zösisch. Aus Kamerun stammen einige, aus auf und karrte die Flüchtlinge weit weg in die Wüste. Und Spanien begann mit Abklaven, denn sie liegen in Marokko, in Afri- Mali, und viele sind Nigerianer. schiebungen. ka, Kontinent der 18 Millionen Flüchtlinge. Warum jetzt? Und warum so? Ändern wird das wenig, weil die Hüter Vor denen schützen sich beide Städte mit Der Zeitpunkt hat vor allem zwei GrünPolizei und Radar, mit Türmen, Mauern de: Panik und Aufstachelung. Es habe, das Europas ihren Kontinent niemals dichtbeund jeweils zwei Zäunen und zwischen den erzählen die, die nun in Ceuta und Melil- kommen werden. Menschen, die sich entZäunen mit fünf Metern grellbeleuchteten la hocken, Männer gegeben, die durch die schlossen haben, ihre Familien und Staaten Niemandslands. Und Soldaten feuern mit Lager in den Wäldern streunten und dort wie Kongo oder Nigeria zu verlassen, StaaTränengas und Gummigeschossen. herumflüsterten: „Es sind gute Tage zum ten, in denen schon lange nichts mehr vorEs hilft ihnen wenig. Nacht für Nacht Fliehen, wagt es jetzt!“ Gerüchte funktio- angeht, kennen nur noch eine Richtung: rannten in den vergangenen Wochen Hun- nieren immer in Flüchtlingslagern, wo so nach Europa. Klaus Brinkbäumer JOSÉ LUIS ROCA / AFP
AG der Rechtlosen
derte von Flüchtlingen gegen die Zäune an, der Sturm auf die vorderste Front Europas hat etwas Mittelalterliches: Mit Stöcken stoßen spanische Polizisten die Flüchtenden zurück auf die andere Seite. Es sind Bilder einer seltsamen Schlacht. Es sind nicht die Bilder, die das liberale, das geeinte Europa von sich sehen will. Denn die Gegner sind Menschen, die ihre Familien, Stämme, Dörfer verlassen haben, um in dieses Paradies zu kommen, für das sie Europa immer noch halten. Monatelang, viele tausend Kilometer weit, waren sie unterwegs.
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Alter Traum Die Meerenge zwischen Indien und Sri Lanka wird schiffbar gemacht. Neu-Delhi verbindet GroßmachtAmbitionen mit dem Projekt.
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M. LAKSHMAN / AP
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on den Gestaden Indiens blickte der britische Marinekommandeur Alfred Dundas Taylor sinnend übers blaue Wasser hinüber gen Ceylon. Rechts sah er den Golf von Mannar, den ein Korallenriff voll seltener Tropenfische säumte, in der Mitte eine Reihe kleiner Felsen namens Adamsbrücke, über die der Überlieferung nach der Hindu-Königssohn Rama seine schöne Frau vor einem bösen ceylonesischen Herrscher gerettet hat. Linker Hand erblickte er die seichte PalkStraße wie einen Finger aus Sand, Ceylon fast berührend. Das war im Jahr 1860, Taylor und seine Seeleute hatten wieder umständlich die Gewürzinsel umschifft und Monsunstürme überstanden, um in einem weiten Bogen von einem indischen Hafen zum anderen zu gelangen. Also fragte sich Taylor: Warum gibt es eigentlich nicht eine Passage entlang der Küste, eine Kanalrinne durch alle Untiefen, die das Riff, die Felsenbrücke und die Sandbänke schräg durchschneidet? Das war eine ziemlich gute Idee, die allerdings die britischen Kolonialherren nicht mehr in die Wirklichkeit umsetzten. Nach ihnen schwärmten auch indische Politiker immer wieder von einer Passage, bequem und länger noch als der Panamakanal, der seit 1914 Atlantik und Pazifik verbindet. Damals waren 35 Jahre zwischen erstem Spatenstich und Vollendung vergangen. In Südasien dauerte es stolze 145 Jahre, bis aus dem Traum ein Bauobjekt wurde, das Sethusamudram-Projekt. „Ich bin überglücklich“, sagte Premierminister Manmohan Singh im Juli, „ein alter Wunsch geht in Erfüllung.“ Ein Band wurde zerschnitten, ein Knopf gedrückt, und auf Großbildschirmen verfolgten Tausende live den Beginn der Arbeiten am Kanal. Unweit der vom Tsunami verwüsteten Stadt Nagapattinam hob ein Baggerschiff Sand aus und schleuderte ihn in weiten Halbkreisen beiseite. 167,5 Kilometer lang und 300 Meter breit soll der Kanal werden, die Arbeit geht zügig voran, das auf 450 Millionen Euro geschätzte Projekt soll 2008 fertig sein. Dann dürfte sich die Fahrzeit um rund 30 Stunden verkürzen, die Frachter werden eine Menge Diesel sparen, manche Häfen könnten dank größeren Schiffsverkehrs bald in Blüte stehen. Wie nebenbei dient der Kanal aus der Sicht Indiens aber auch geostrategischen Interessen. Die Regionalmacht beargwöhnt
Premier Singh (r.), Gäste beim Beginn der Bauarbeiten: „Ich bin überglücklich“
seit einiger Zeit, wie China sich militärisch und wirtschaftlich im Indischen Ozean breit macht, und möchte sich deshalb, als Gegengewicht, den arabischen Ölnationen und deren Kunden in Fernost als Ordnungskraft empfehlen. Würden nämlich Öltanker den neuen Kanal nutzen, könnte Indien als Sicherheitsgarant auftreten – mit dem Hintergedanken, dann auch die weiteren Transportwege zu beaufsichtigen. Sri Lanka wiederum hat dem großen Nachbarn Ölförderrechte vor dem Nordosthafen Trincomalee überlassen und hofft, dass Indien im Gegenzug die hier stationierte Kampfflotte der aufständischen Tamilischen Tiger in Schach hält. Das klingt nach ein paar plausiblen Gründen für die Passage, von der viele fast anderthalb Jahrhunderte geträumt haben. Natürlich bedeutet der Kanalbau einen gewaltigen Eingriff in die Natur, und deshalb ist es auch kein großes Wunder, dass Meeresbiologen, Geophysiker und Umweltschützer Sturm gegen das Projekt lauSethusamudram-Kanal
50km
Nagapattinam Indischer Ozean
INDIEN Trincomalee Golf von Mannar
SRI LANKA Colombo
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fen. Sie bestreiten, dass die Korallenriffe, wie die Regierungen behaupten, unbeschädigt blieben und dass Wassertiere wie geschützte Dugonge und Delfine keine Folgen zu spüren bekämen. Und sie machen sich zu Mentoren der 200 000 Fischer, die von den fischreichen Lagunen leben und bald weiter nach Norden umgesiedelt werden sollen. „Meerestiere vermehren sich nicht, wenn sie ständig gestört werden“, sagt Ossie Fernandes, Leiter des indischen Coastal Action Network, das nach erfolglosen Prozessen in unteren Instanzen nun vor den Obersten Gerichtshof in Neu-Delhi gezogen ist: „Also sterben sie überall dort aus, wo gebaggert und entsorgt wird.“ Zurzeit ist Hochsaison, doch die Fischer dürfen nicht mehr aufs Meer hinausfahren, obwohl über die alternativen Fanggründe im Norden noch nicht entschieden ist. Fast täglich protestieren Tausende Gewerkschafter und Umweltschützer gegen den Kanal. Vielleicht halten sich deshalb auch die internationalen Reedereien, die den Kanal nach indischen Vorstellungen nutzen sollen, noch zurück. Für Containerriesen und vermutlich auch Öltanker kommt die Fahrrinne ohnehin nicht in Frage. Sie soll nur für kleine bis mittlere Tiefgänge ausgelegt sein. Selbst Indiens Marineoffiziere glauben offenbar nicht recht daran, dass ihre Kreuzer und Fregatten durch das neue maritime Nadelöhr passen werden. Das wären dann ein paar gute Gründe weniger für die Passage entlang der indischen Küste. Spät, vielleicht zu spät, wird er verwirklicht, der Traum, den einst der Marinekommandeur Taylor geträumt hat. Padma Rao
Premier Brazauskas (M.)*
„Kein Echo im Westen“ SPIEGEL: Sie befürchten eine Umweltkata-
strophe?
ISOPIX / ACTION PRESS
Brazauskas: Die Ostsee ist praktisch ein ge-
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„Hinter unserem Rücken“ Premierminister Algirdas Brazauskas über das deutsch-russische Projekt einer Pipeline durch die Ostsee und die anhaltenden politischen Kontroversen zwischen Vilnius und Moskau Brazauskas, 73, einst national denkender KP-Führer und heute Chef der litauischen Sozialdemokraten, führte seine Republik gegen den Willen Moskaus in die Unabhängigkeit. Mitte der neunziger Jahre war er Staatspräsident, seit 2001 steht er einer Koalitionsregierung vor. In diese Zeit fiel 2004 die Aufnahme Litauens in Nato und EU. SPIEGEL: Nachdem sich Russland und Deutschland im September auf den Bau der bisher teuersten Gaspipeline nach Europa geeinigt haben – quer durch die Ostsee –, schwappt eine Welle des Unmuts durch Polen und die baltischen Staaten.
Sie sind der erste Politiker, der nun zum Widerstand aufruft, aus ökologischen Gründen. Welche Gefahr sehen Sie denn? Brazauskas: Die Leitung soll durch ein Gebiet verlegt werden, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg große Teile der deutschen Chemiewaffenvorräte versenkt wurden. Das ist extrem gefährlich. SPIEGEL: Wo Hitlers Hinterlassenschaft liegt, ist weitgehend bekannt. Brazauskas: Vieles ist längst noch nicht geklärt. Aus Moskau wissen wir, dass sich einer dieser Plätze 120 Kilometer vor unserer Küste befindet – da haben die Russen nach 1945 mindestens 30 000 Tonnen Giftgas-Container entsorgt. Einfach so über Bord gekippt.
schlossenes Bassin, und sie ist auch so schon stark verschmutzt. Russland hat außerdem 24 Kilometer vor unserer Küste mit der Ölförderung im Festlandsschelf begonnen und pumpt jährlich 500 000 Tonnen an Land. Ich und die anderen Kollegen im Baltischen Rat haben die EU aufgefordert, bei der Formulierung der künftigen Politik gegenüber Russland dieses Thema anzusprechen. Es gibt eine Deklaration des Ostseerates, also aller Anrainerstaaten, zum Schutz der Ostsee; wir fordern Russland zudem auf, bilateral entsprechende Verpflichtungen zu übernehmen. SPIEGEL: Moskauer Zeitungen verstehen das als „Beginn eines Krieges“ gegen die deutsch-russische Gasallianz. Mit dem Stichwort Ökologie hätten Sie eine „feine Methode“ gefunden, das Projekt doch noch zu torpedieren. Brazauskas: Ich will unsere Rolle nicht überschätzen. Aber es gibt genügend Beunruhigung auch bei den Letten und Esten, bei den Polen sowieso. SPIEGEL: In Wirklichkeit geht es doch weniger um Ökologie, sondern um Politik. Warum so viel Aufregung um eine Gasröhre? Brazauskas: Weil wir bei der Vorbereitung dieses Projekts nicht ein einziges Mal gefragt worden sind. SPIEGEL: Über deutsche Energiepolitik werde in Berlin entschieden, nirgendwo anders, hat Bundeskanzler Schröder gesagt. Brazauskas: Genau das haben wir gemerkt. Ich bin im Herbst 2003 zu Besuch beim Kanzler gewesen, habe mit E.on über unsere prekäre Lage gesprochen, auch mit Ruhrgas – das immerhin 38,9 Prozent der Aktien unserer nationalen Gasgesellschaft hält. Alles ergebnislos. SPIEGEL: Warum sehen Sie die Lage so trüb? * Mit dem niederländischen Außenminister Bernard Bot und Ministerpräsident Jan Peter Balkenende bei einem EU-Gipfel in Brüssel im Dezember 2004.
150 km
Beschlossene Erdgaspipeline
Wyborg
IGOR SAREMBO / ULLSTEIN BILDERDIENST
Ostsee
LETTLAND LITAUEN
Greifswald DEUTSCHLAND
Russische Bohrinsel in der Ostsee: „Einfach über Bord gekippt“
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Versenkte Giftgaswaffen aus dem Zweiten Weltkrieg
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KALININGRAD POLEN (zu Russland)
RUSSLAND
Verworfene Landtrasse WEISSRUSSLAND
Ausland Brazauskas: Ich weiß nicht, wer uns hier
der EU, aber wir befinden uns in einer geografischen Isolation. Wir haben zwischen der russischen Kaliningrad-Exklave und Weißrussland einen gerade mal knapp 100 Kilometer breiten Grenzstreifen mit Polen – das ist unser einziger Zugang zu Europa. Die baltischen EU-Staaten leben praktisch außerhalb der Gemeinschaft, auf einer Insel, doch sie schützen fast 1400 Kilometer Außengrenze der Union. Aber energiepolitisch hängen wir von Russland ab: Litauen bezieht von dort Öl, Gas und radioaktiven Brennstoff für sein Kernkraftwerk. Die Opposition drängt uns, Alternativen zu schaffen. SPIEGEL: Es gab den Plan einer landgestützten Pipeline zwischen Russland und Westeuropa.
ausspielen will: Russland, oder vielleicht doch Deutschland? Es war schon auffällig, dass sämtliche Bemühungen, mit dem Westen ins Gespräch zu kommen oder mit Gasprom, ohne Echo blieben. Alles wurde hinter unserem Rücken ausgehandelt. Dabei haben wir schon genügend Probleme im Energiebereich: Man zwingt uns, unser Atomkraftwerk zu schließen, andererseits kommen wir mit dem Bau einer leistungsfähigen Hochspannungsleitung zwischen Litauen und Polen nicht voran. Es geht um die Konsolidierung der jungen EU-Mitglieder. SPIEGEL: Daher also das böse Wort von der „Gasvariante des Molotow-RibbentropPaktes“, das nun bei Ihnen zu hören ist? Brazauskas: Die konservativen Parteien und ein Teil der Bevölkerung sprechen seit
torium geflogen und abgestürzt. Wen klagen die an? Woran sollen wir schuld sein? SPIEGEL: 14 Jahre nach Ende des Kommunismus sind selbst die Grenzen zwischen Russland und dem Baltikum noch nicht gesichert … Brazauskas: Dass der Grenzvertrag mit Estland jetzt wieder kassiert wurde – dazu fehlen mir die Worte. Litauen hat bereits 1997 ein solches Abkommen mit Präsident Jelzin geschlossen. Nun ja, es wurde fünf Jahre lang nicht ratifiziert, jetzt fehlt nur noch ein Stückchen Grenzmarkierung. Aber da kommen auch wir nicht weiter. Unerklärlich. Auf oberster politischer Ebene ist eigentlich immer alles klar, aber darunter beginnen sofort die Probleme. SPIEGEL: Vilnius nutze jeden Vorwand, um zu stänkern, weil es in Moskau noch immer
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CHRISTIAN BACH
Brazauskas: Wir sind ganz junge Mitglieder
Abgestürzter russischer Kampfjet bei Kaunas, Unterzeichnung des deutsch-russischen Pipeline-Projekts: „Wir leben auf einer Insel“ Brazauskas: Die erste Variante von Gasprom war eine Leitung durch Lettland, Litauen, das Kaliningrader Gebiet und Polen. Da hätten wir also partizipiert. Und diese Röhre hätte notfalls auch von Westen her beschickt werden können, mit Nordseegas beispielsweise – falls im Osten irgendetwas passiert. Wir wären abgesichert gewesen. SPIEGEL: Sie meinen, falls Moskau aus politischen Gründen den Gashahn zudreht? Brazauskas: Es könnten politische oder technische Gründe sein. Bisher beziehen wir russisches Gas über Weißrussland. Als Minsk vor einiger Zeit in Streit mit Moskau geriet, wurde die Pipeline einfach abgeschaltet. Wir bekamen Riesenprobleme zum Beispiel in der Glasindustrie, die ihre Produktion nicht einfach so stoppen kann. SPIEGEL: Das heißt, Sie möchten am anderen Ende der Pipeline jemanden haben, mit dem Russland nicht so umspringen kann, Deutschland beispielsweise. Nun wählt Moskau aber den teureren Weg durch die Ostsee, um seinerseits unabhängig zu sein – und unsichere Kantonisten wie Balten, Weißrussen oder Polen zu umgehen, mit denen es ständig Streit gibt.
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der Unabhängigkeit von der Gefahr einer russischen Okkupation. Das regt Moskau natürlich auf. SPIEGEL: Litauens früherer Staatschef Landsbergis glaubt gar, Präsident Putin binde Deutschland ganz bewusst mit solchen Geschäften und spalte damit Europa. Brazauskas: Das ist seine private Meinung. SPIEGEL: Dass die mächtige Achse Paris–Berlin–Moskau zu Lasten der kleineren Länder im Osten geht, ist aber nicht ganz so abwegig? Brazauskas: In bestimmtem Maße ist das sicher so. Russland ist Russland, allein durch den ständig steigenden Ölpreis wird es permanent gestärkt: Jede exportierte Tonne Öl spült 250 Dollar in die Staatskasse. Wo gibt es das noch in Europa? SPIEGEL: Es vergeht kaum eine Woche ohne neuerliche Kontroversen zwischen den Balten und Moskau. Derzeit macht die russische Presse Stimmung, weil ein russischer Kampfjet über Litauen abstürzte und Sie den Piloten drei Wochen festhielten. Brazauskas: Die Maschine haben nicht wir runtergeholt. Die ist über unserem Terrid e r
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imperiales Denken vermute, schreiben russische Blätter. Aus historisch motivierter Rache behindere es auch den Transit nach Kaliningrad. Brazauskas: Das ist eine Dummheit, die gesamte Evakuierung der russischen Truppen aus Deutschland lief seinerzeit über das litauische Klaipeda. Ohne Probleme. Andererseits sind wir jetzt verpflichtet, die bis zu 800000 russischen Passagiere zu kontrollieren, die über litauisches Territorium fahren. SPIEGEL: Sie würden es damit übertreiben, heißt es. Brazauskas: Wir machen das ganz akribisch, nach den Regeln des Schengen-Abkommens, dem wir 2007 beitreten werden. Das gefällt natürlich in Moskau nicht, dort meint man, zwischen Russland und Russland müsse man frei und ungehindert reisen können. Aber wir sind jetzt Mitglied der Nato und der EU, das ist unser Territorium, das muss man paritätisch regeln wie zwischen zwei normalen Staaten. Es kann doch keine Rolle spielen, dass wir 260-mal kleiner sind als RussInterview: Christian Neef land.
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Jerusalem zur Zeit der britischen Herrschaft (1938): „Eine faszinierende, aber nicht immer ruhmreiche Geschichte“
NAHOST
„Wir hatten die stärkeren Führer“ Über 30 Jahre lang herrschten die Briten über Juden und Palästinenser – eine schillernde Zeit großer Möglichkeiten und dramatischer Fehlentscheidungen. Es ist die Schlüsselepoche zum Verständnis des Nahost-Konflikts, wie ein neues Buch belegt.
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aber, sagt Lotte Geiger, dennoch „ein Traum“. Man ging viel aus, traf sich im „Café Europa“, wo im Hof ringsherum Palmen standen und schwarze Sudanesen mit Bauchbinde und orientalischem Tarbusch auf dem Kopf bedienten. Im „Vienna“ nur ein paar Schritte weiter spielte jeden Nachmittag eine Kapelle auf.
AMIT SHABI / LAIF
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ie wieder hat Lotte Geiger ein Kleid so sehr gemocht wie jenes schwarze aus Samt, das eine Schneiderin aus Tel Aviv nach ihrem eigenen Entwurf genäht hatte. Über die Taille schmiegte sich der Stoff bis zu den Knien eng an. Dann erst weitete sich der Rock in einen schwingenden Saum, der beim Tanzen die Knöchel umspielte. Dazu streifte sie elegante schwarze Stoffhandschuhe über, die bis zu den Ellenbogen reichten. Dieses Kleid trug die junge Immigrantin, wenn der Kinderarzt Walter Hirsch sie in Jerusalem zum Tanz ausführte, bei Empfängen im prächtigen King-David-Hotel und natürlich zum legendären Konzert mit Arturo Toscanini 1936 im EdisonKino. „Wir haben so viel erlebt damals“, schwärmt Geiger, 91. Damals – das war die Epoche der britischen Herrschaft in Palästina, wohin die gebürtige Berlinerin 1933 vor dem Judenhass in Deutschland geflohen war. Für die lebensfrohe junge Frau war es „die schönste, interessanteste Zeit in meinem Leben“. In jenen Jahren entwickelte sich Tel Aviv zur blühenden Gartenstadt im europäischen Geist. Jerusalem war rückständig,
Die britischen Mandatsherren fuhren im Rolls-Royce durch die Straßen und führten die Tea Time ein. In der ganzen Stadt durfte jetzt nur noch mit dem ortsüblichen hellen Kalkstein gebaut werden – womit die Briten die Grundlage für Jerusalems einzigartiges Stadtbild schufen. Doch in dieser kulturellen Blütezeit explodierten auch Terror und Gewalt als Mittel des politischen Kampfes. Hunderte von Juden wurden bei arabischen Anschlägen getötet. Wohl noch mehr Araber verloren ihr Leben bei wütenden Racheakten oder im Kampf gegen die britische Armee. Geiger selbst wurde bei den arabischen Unruhen von 1936 schwer verletzt, als mit Steinen und Stöcken bewaffnete Aufständische kurz vor Tel Aviv ihr Sammeltaxi angriffen. Die Scherben des splitternden Fensterglases zerschnitten ihr Gesicht. Sie war gerade 22. Doch gehasst, sagt sie, habe sie die Palästinenser nie. Bis heute glaubt die einst glühende Sozialistin, dass ein einziger, binationaler Staat für beide Völker die richtige Lösung wäre. Damals jedenfalls lebten Juden und Araber gemeinsam unter der britischen Herr-
Einwanderin Geiger*
„Wir haben so viel erlebt“ d e r
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* Im Jerusalemer Hotel King David. 4 1 / 2 0 0 5
KEYSTONE / CORBIS SYGMA
Ausland
Britische Truppen vor der Jerusalemer Altstadtmauer (1936): „Eine Prise Gefahr“
schaft, die 1917 mit der Eroberung Jerusalems begann und 1948 im eher schmachvollen Abzug der britischen Truppen endete. „Die Mandatszeit war eine faszinierende, aber nicht immer ruhmreiche Geschichte“, sagt der israelische Historiker Tom Segev. Der renommierte Autor hat jenen Aufbruchsjahren eine umfassende Studie („Es war einmal ein Palästina“) gewidmet, die schon jetzt als Standardwerk zur Vorgeschichte des Staates Israel gilt und nun auch auf dem deutschen Markt erschienen ist*. In den 31 Jahren ihrer Regentschaft verbesserten die Briten die allgemeinen Lebensbedingungen, schufen Arbeitsplätze und führten ein modernes Rechtssystem ein. Doch nur wenige genossen ihre Dienstzeit im Heiligen Land so wie jener Kompanieführer, der auf einer Postkarte nach Hause schwärmte: „Exzellentes Klima, schöne Blumen, eine Prise Gefahr und viel Spaß – Reiten, Schießen, Ausflüge nach Jerusalem und zu den ,heiligen Stätten‘“. Vielmehr verzweifelten die Abgesandten Seiner Majestät schon bald an der Vertracktheit des Konflikts, in den sich Juden und Palästinenser unter ihren Augen immer mehr verrannten. „Der Jude ermordet die Araber, und die Araber ermorden den Juden. Das geschieht in Palästina heute, und das wird aller Voraussicht nach auch in 50 Jahren noch so sein“, stellte der britische Befehlshaber Bernard Montgomery 1939 frustriert fest. Scharf analysierend und in schillernder Detailfülle erzählt Historiker Segev, wie sich die zwei rivalisierenden nationalistischen Bewegungen herausbilden – und „unweigerlich auf eine Konfrontation zusteuern“. Für ihn ist es die Schlüsselepoche zum Verständnis des Nahost-Konflikts: „Wer begreifen will, was Israelis und Palästinenser bis heute so erbittert und scheinbar endlos gegeneinandertreibt, muss sich ansehen, wie es eigentlich begann.“ * Tom Segev: „Es war einmal ein Palästina“. Aus dem Amerikanischen von Doris Gerstner. Siedler Verlag, München; 672 Seiten; 28 Euro.
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Im Jubel, der die siegreichen Briten unter General Allenby im Dezember 1917 begrüßte, waren Juden und Araber noch vereint. Nach 400 Jahren osmanischer Herrschaft hofften Juden wie Palästinenser auf Freiheit – jedoch in unterschiedlicher Intensität und politischer Ausrichtung. Während die Zionisten systematisch den Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens betrieben, strebten die Araber eher vage nach Unabhängigkeit. Das Ende der Osmanenherrschaft ließ die Araber in Palästina politisch aktiv werden – sie gründeten Nationalvereine, die LIBANON (franz. Mandat)
SY R I E N (franz. Mandat)
Haifa
bis 1948: über
500 000 jüdische Einwanderer, vor allem aus Europa
Tel Aviv Jaffa
TRANSJ O R DA NIEN Jerusalem
(britisches Mandat)
Das britische Mandat Palästina 1923 bis 1948 jüdische Siedlungsgebiete
ÄG Y PT E N (seit 1922 nominell unabhängiges Königreich)
Nach dem UnoTeilungsplan von 1947 vorgesehener jüdischer Staat arabischer Staat internationales Gebiet
30km
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erste Partei, Literaturclubs und eine Gewerkschaft. Vor allem aber schärfte sich ihr bereits seit der Jahrhundertwende keimendes Nationalbewusstsein nun an den konkurrierenden Ansprüchen des Zionismus, der mit gewaltiger Wucht ins Land drängte. Chaim Arlosoroff, einer der einflussreichen zionistischen Führer, fürchtete 1929 sogar, „dass es die arabische Nationalbewegung in spätestens 15 bis 20 Jahren mit uns wird aufnehmen können“. Doch die Araber Palästinas, die sich damals noch gar nicht als Palästinenser identifizierten, waren den Zionisten organisatorisch und politisch bei weitem unterlegen – ein Rückstand, den sie bis heute nicht aufholen konnten. Weder hatten sie großmütige Sponsoren wie Lord Rothschild, der systematisch Land für jüdische Siedlungsprojekte kaufte, noch charismatische Anführer wie Chaim Weizmann. Der in Russland geborene Chemiker und talentierte Redner war ein begnadeter Lobbyist für die jüdische Sache. Er antichambrierte in London bei Winston Churchill, Premier Lloyd George und Außenminister Lord Balfour und sicherte den Zionisten so die Unterstützung der britischen Führung. Die Tragödie der Palästinenser sei, befand der britische General Evelyn Barker einmal, dass sie keine wirkliche Führung hätten. Tatsächlich waren die tonangebenden Jerusalemer Familien in zwei rivalisierende Lager gespalten. Der mächtige Mufti Amin al-Husseini war zu radikal und separatistisch, um breite Anerkennung zu erlangen. In einem der großen historischen Irrtümer der Palästinenser machte er sich schließlich zum Komplizen Adolf Hitlers. „Wir hatten einfach die stärkeren Führer“, sagt Buchautor Segev mit typisch israelischem Selbstbewusstsein, „Ben-Gurion war eben besser als Jassir Arafat.“ Für den palästinensischen Soziologen Salim Tamari bestand die Überlegenheit der Zionisten vor allem darin, dass sie es „auf einzigartige Weise verstanden, ihre Interessen mit denen der Briten und später auch denen der USA zu verknüpfen“. Die Palästinenser seien nicht zuletzt deswegen gescheitert, „weil wir nie einen solchen Förderer fanden“. Dabei war es durchaus nicht selbstverständlich, dass sich das Empire der Zionisten annahm. Nach Segevs Recherchen hatte die Parteinahme der Engländer starke religiös-ideologische Gründe. Er spricht von einer „einzigartigen Mischung aus Antisemitismus und Philosemitismus: Einerseits dachten sie, der Jude, der kann uns schaden, der beherrscht die Weltläufte. Wenn wir ihn nicht unterstützen, dann verbündet er sich mit unseren Gegnern. Andererseits glaubten sie auch an das Land der Bibel. Sie sahen die Juden als das zerstreute Volk Gottes und dachten, ich, englischer Politiker, ich bringe sie nun zurück. Im Grunde waren es christliche Zionisten“. Bereits im November 1917 veröffentlicht Großbritannien die spektakuläre Erklärung
AKG
Jerusalemer Mufti Husseini, Gesprächspartner Hitler*: Zu radikal und separatistisch
Lord Balfours, in der sich die „Regierung Seiner Majestät“ für die Schaffung einer „nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ in Palästina ausspricht. Aber auch den Arabern hatten die Briten – als Dank für deren Unterstützung beim Kampf gegen die Osmanen – die Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. So jongliert die Mandatsregierung von Anfang an zwischen beiden Seiten. „Die Araber sind verbittert, die Juden unzufrieden“, klagt der Leiter der Londoner Nahost-Abteilung, John Shuckburgh, 1924. Hochkommissar Arthur Wauchope, einer von insgesamt sieben Chefs der Mandatsregierung, verglich sich gar mit einem Zirkusartisten, der versucht, gleichzeitig auf zwei Pferden zu reiten – von denen „das eine nicht schnell und das andere nicht langsam laufen kann“. Beide Seiten sind überzeugt, dass Palästina ihnen zusteht. Der spätere Staatsgründer David Ben-Gurion, damals Chef der zionistischen Exekutive, bringt den Streit auf den Punkt: „Wir wollen das Land für uns, und die Araber wollen das Land für sich.“ Aber es geht noch um mehr. Der Palästina-Konflikt, so Segev, sei auch „ein Kampf um Mythen, religiöse Überzeugungen, nationale Ehre und Geschichte“. Da sich beide Seiten so sehr im Recht glauben, fehlt ihnen der Drang zum Kompromiss. So enden alle Treffen zwischen Zionisten und Araberführern ergebnislos. Die Palästinenser empfinden zudem, dass die Juden auf sie herabblicken. „Willkommen Vettern!“, geißelt der arabische Nationalist Chalil al-Sakakini die Arroganz der Zionisten: „Wir sind die Gäste, und ihr seid die Herren des Hauses. Schließlich seid ihr ja Gottes auserwähltes Volk.“ Mit über einem Dutzend Kommissionen, deren Mitglieder meist in Frack und Zylinder aus Großbritannien anreisen, versuchen die Briten, das Palästina-Problem
zu lösen – vergebens. Als sich die Konfrontation verschärft, setzen sie darauf, das Land zu teilen und einen unabhängigen jüdischen Staat auszurufen. Tausende Araber sollen zwangsumgesiedelt werden. Doch in einem radikalen Schwenk spricht sich London 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, für einen binationalen Staat aus, in dem die jüdische Bevölkerung nicht mehr als ein Drittel ausmachen soll – damit ist das Balfour-Versprechen praktisch aufgekündigt. Der Zorn der Zionisten steigert sich noch, als die Briten jüdische Flüchtlingsschiffe, später sogar mit Holocaust-Überlebenden, vor der Küste abfangen und die entkräfteten Passagiere in Internierungslager stecken. Nun gilt Großbritannien als Feind. Auch der junge Segev lernt im Geschichtsunterricht, „dass Israel aus dem heroischen Kampf gegen die Engländer geboren ist“. In seinem Buch zeigt Segev auf, dass eher das Gegenteil stimmt: „Die Wahrheit ist, dass wir den Briten unseren Staat verdanken.“ Tatsächlich ermöglichte es die Mandatsverwaltung, dass die Juden ihre
Zionist Ben-Gurion (1948) * Am 9. Dezember 1941 in der Berliner Reichskanzlei.
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Zahl in Palästina verzehnfachen konnten. Vor allem aber förderte sie den Aufbau einer jüdischen Selbstverwaltung inklusive einer inoffiziellen Armee, der Haganah. Als sich die Araber 1936 zur Revolte erhoben, war es für sie bereits zu spät. „Die jüdische nationale Heimstätte konnten sie nicht mehr gefährden“, so Segev, „an den institutionellen Grundlagen, die die Zionisten mit britischer Unterstützung geschaffen hatten, war nicht mehr zu rütteln.“ Zwar zollte nun selbst Ben-Gurion dem „nationalen Willen“ der Palästinenser Respekt. Doch für ihre irrige Annahme, die Briten schlagen und die Zionisten vertreiben zu können, zahlten die Araber einen hohen Preis. Die Soldaten Seiner Majestät schossen den Aufstand brutal nieder – viel härter, als sie später auf den jüdischen Terror reagierten, sagt Segev. Die politischen Strukturen wurden zerschlagen, die Palästinenser-Führer ins Ausland deportiert. War der bewaffnete Kampf ein fataler Fehler? Soziologe Tamari räumt ein, dass die palästinensische Bewegung dadurch nachhaltig geschwächt wurde, vor allem für den Krieg um die Unabhängigkeit. „Aber hätten die Palästinenser überhaupt etwas richtig machen können? Alles sprach einfach gegen uns. Was konnten wir schon gegen den Holocaust ausrichten, der die Juden zum kollektiven schlechten Gewissen Europas erhob?“ Hatte die Araberrevolte den Briten bereits ihr Palästina-Abenteuer gehörig verleidet, gab ihnen der Terror der jüdischen Untergrundgruppen nun den Rest. Bei dem wohl verheerendsten Anschlag schmuggelten jüdische Terroristen am 22. Juli 1946 mit Sprengstoff gefüllte Milchkannen in das King-David-Hotel, das Teile der britischen Verwaltung beherbergte. 91 Menschen wurden getötet. „Dieses Land und alles, was mit ihm zusammenhängt“, gestand der britische Hochkommissar Chancellor, „erfüllt mich mit solchem Abscheu und Überdruss, dass ich es nur noch so schnell wie möglich verlassen möchte.“ Die Balfour-Erklärung hielt er in der Rückschau für einen Fehler. Als die letzten Briten im Mai 1948 das Gelobte Land erleichtert verlassen, bricht erst der wahre Krieg um Palästina los. Die Juden haben den Teilungsplan der Uno akzeptiert, die Araber nicht. Bald wurde die Mauer durch Jerusalem gezogen, um den jüdischen und den jordanisch besetzten arabischen Teil zu trennen. So wuchs Tom Segev, Jahrgang 1945, auf – in einer geteilten, weitgehend Palästinenser-freien Welt. Als er in der Schule zwischen Arabisch und Französisch als zweiter Fremdsprache wählen musste, nahm er Französisch: „Wir dachten damals: Wenn es Frieden gibt, brauchen wir Arabisch – aber vielleicht kommen wir eher noch nach Paris.“ Annette Großbongardt
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Ausland
ROM
Ground Nero Global Village: Am Kolosseum wird der Terror geprobt.
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ANDREW MEDICHINI / AP
ie zweitberühmteste Ruine der Welt meinte man, die Explosion schon zu hören. dramatisch die Stirn, von der anderen Straßenseite brüllen zwei mit kräftigen ragt in einen grauen, triefenden Irgendetwas musste geschehen. Himmel, und der Mann vor der Plötzlich ein heftiges, dumpfes Ge- Stimmen: „Aiuto!“ Hilfe! Nero liegt mit Metro-Station „Colosseo“ hat einen Zettel räusch, einige Rufe. Eine Vespa-Fahrerin ist ausgebreiteten Armen in einer Pfütze aus am Hals, darauf steht: „Nero“. gestürzt, nicht schwer. Sie wird fast er- Regenwasser. Abseits, in einer Rabatte, kauern drei „Ich bin tot“, sagt der Mann. drückt von all den Helfern. Kurz danach Um 9.30 Uhr wird die „Operation transportiert die Ambulanz noch einen Männer im Schutz einer Steineiche. Ihre Matilda 2005“ anlaufen, eine Antiterror- Alten ab, der sich die Fäuste vor die Brust Bärte sind lang, einer ist orange gefärbt. Die Männer reden miteinander in einer übung unter Realbedingungen. Und Nero presst. Ein Herzanfall. ist einer von den acht Toten, den 160 VerAber das ist nur der Ernst, nicht die fremden Sprache. Sie filmen den Anschlag mit ihren Telefonen. Als es gekracht hat, letzten, die in Rom heute geopfert werden, Übung. um die Stadt von einem Alptraum zu beMitten auf der Straße, zwischen Metro- hat man sie kichern gehört. Die drei mit den Qaida-Bärten sind freien. Auf dem Pflaster stehen vier gas- Eingang und Kolosseum, steht jetzt eine befeuerte Grilltische. Gestalt, in Tücher gewickelt. Auch der Sikhs aus dem Kaschmirtal. Sie betreiben Im Kolosseum wurden Seeschlachten Kopf ist bandagiert. Er ist seitlich, zur lin- das „New Team Mr. Money“-Snackmobil inszeniert, Tierhetzen und Menschenge- ken Schulter heruntergebeugt, als duckte am Fuße des Palatin-Hügels. „Only drametzel. Das Gemäuer hat sich von all dem sich jemand in Erwartung eines unaus- ma“, sagt Rajinder Singh. Zu Hause hätte er echte Anschläge erlebt: Blut nie wieder erholt. Ver„In Wirklichkeit ist es zehnflucht sei der Ort, hieß es. mal so laut. This not real.“ Noch Jahrhunderte später Die Übung wandert. Wehätte man das Gebrüll und nig später explodiert ein Wimmern der Zerfleischten Rucksack in der Metro-Stahören können, hieß es. tion „Repubblica“, der tiefsDie Spiele dienten der ten der Stadt. Dann, Punkt Belustigung. Aber der Schrezehn Uhr, ein Selbstmordcken wurde auch inszeniert, anschlag auf einen Tourisum ihn zu bannen. Der Bürtenbus an der Piazza Nager durfte einen Blick in den vona. Später wird es Neapel Abgrund werfen. treffen, danach Turin. Der Das Nieseln wird stärker. Terror wird weitergereicht An der Haltestelle des 85ers wie eine Fackel, wie ein sind drei Autowracks gestaFeuer, das etwas austreiben pelt. Ein Helfer in einer Sisoll. gnalweste trägt den nackten Es regnet jetzt in StröOberkörper einer Schaufensmen. Blaulichternd rasen terpuppe unterm Arm und die Ambulanzen über das setzt ihn in eines der spiegelnde Pflaster. Die Autos. Die Puppe lächelt. U-Bahn ist gesperrt. Die Die schrägaufragende MauStraßen sind leer. Touristen er des Kolosseums über ihr Kolosseum in Rom: Ein Fetzen Bauwerk mit leeren Öffnungen werden des Platzes verwiehat etwas Gerippehaftes. Ein Fetzen Bauwerk mit leeren Öffnungen. weichlichen Schlags. Die Gestalt erinnert sen. Sie halten durchnässte Stadtpläne in den Händen und verstehen nicht, was Das erinnert an irgendetwas aus der jün- an Fotos aus Abu Ghureib. Die Presseleute sind still. Manche ha- passiert ist. Am Konstantinsbogen stoppt geren Zeit. Noch zehn Minuten bis zum Anschlag. ben die Hände an die Ohren gepresst. Ein ein Soldat in Nahkampfausrüstung eine An die Toten werden Ohrstöpsel ausgege- Polizist ruft etwas. Alle warten. Es regnet Schulklasse aus Norddeutschland. Das Mädchen mit dem rosa Schirm dreht sich ben. jetzt stärker. Keiner macht mehr Witze. Dann kracht es. Wie ein Chinaböller, um und ruft: „Da ist ’ne Demo oder ein Es soll der Terror von London nachgestellt, der Terror von Rom geprobt wer- und wo die Gestalt stand, ist nur noch terroristischer Anschlag.“ Aus der Ferne sind Männer in Schutzden, drei koordinierte Attentate im Herzen Rauch zu sehen und ein paar kokelnde der Stadt. Die Kommunikation solle getes- Fetzen. Einen Moment lang ist es still. anzügen zu sehen, die Bahren herumtet werden, die Schwachpunkte und Eng- Dann rennt ein Feuerwehrmann über den schieben. Es gibt im ganzen Viertel keine pässe gefunden, hat der Präfekt gesagt. Platz und macht sich daran, die Wracks zu Taxis, keine Busse mehr. Die Menschen irren in Gruppen durch die Straßen. Der zünden. Mag sein. Die Freiwilligen haben ihre Posen ein- Verkehrslärm ist verstummt. Man hört nur Jedenfalls war es den ganzen Sommer so, als wartete die Stadt auf eine Explo- genommen. Ein liegender Mann stützt sich die Sirenen. Es ist jetzt sehr unheimlich sion. Es schien nur eine Frage der Zeit zu auf seinen Ellenbogen. Es ist die Haltung vor dem Kolosseum. sein. Bush, Blair – Berlusconi. Nach Lon- des „Sterbenden Galliers“ aus den KapiDer bis zum 11. September 2001 berühmtesdon wäre Rom an der Reihe gewesen. Fast tolinischen Museen. Ein anderer hält sich ten Ruine der Welt. Alexander Smoltczyk 140
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Sport
FUSSBALL
„Peng, noch Frage?“ Von der Verpflichtung der Trainer-Ikone Giovanni Trapattoni, 66, versprach sich die Vereinsspitze des VfB Stuttgart Glamour und Erfolg. Doch der Italiener hat seine Strahlkraft eingebüßt. Sein Aktionismus sorgt für Verwirrung, viele Spieler halten ihn für einen Mann von gestern.
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BERND WEIßBROD / DPA
ie Flinten hatten die Fotografen Karl Allgöwer oder Thomas Berthold los- Doch für Populismus empfängliche Politihre Objektive auf Giovanni Tra- poltern, was ihnen an Trapattonis Truppe Profis wie der Arbeitgeberpräsident Dieter pattoni gerichtet, der vorn auf alles missfalle. Dass „im Team eine Ohn- Hundt, Chef des VfB-Aufsichtsrates, schafdem Podium saß. Gerade trug der Trainer macht herrscht“, war dabei eine der fen vorsorglich schon mal Distanz zum berühmten Coach. Erst kürzlich hat Hundt, des VfB Stuttgart seine Ansichten zu dem schmeichelhafteren Bewertungen. Noch prallt die immer massiver wer- der bei mauen Heimspielen in seinem Lotrüben Bundesligakick gegen den 1. FC Kaiserslautern vor, und solange Trapattoni dende Kritik an der Vereinsführung ab. gensessel zuweilen flucht wie ein Cannsprach, hielt die Fotografenmeute still. Doch dann machte der Medienprofi aus Italien einen Fehler – nachdem der Coach seinem Dolmetscher das Wort überlassen hatte, senkte er den Kopf, schloss die Augen und knetete mit den Fingerspitzen seine Stirn. Auf dieses Motiv hatten die Bilderjäger gelauert. Es machte den Verdruss deutlich, den Ärger und die Anspannung, die Trapattoni in seinem Statement eben noch so routiniert von sich gewiesen hatte. In diesem Moment wirkte der Mister, wie ihn seine Bewunderer gern nennen, so angegriffen, als hätte er bald fertig im Gottlieb-DaimlerStadion. Knapp vier Monate ist es her, dass Trapattoni wie ein Heilsbringer empfangen wurde beim VfB Stuttgart. Doch sein Mythos ist verblasst. Ob in der Bundesliga, im DFB-Pokal oder im Uefa-Cup: Vom wirren Aktionismus des Italieners verunsichert, wurstelt sich das Team bislang durch die Saison, und allmählich dämmert den Schwaben, dass sie zwar einen Trainer verpflichtet haben, der mit 19 Titeln einer der erfolgreichsten der Welt ist – mit seinen Methoden allerdings auch ein Mann von gestern. „Schlappattoni“, ätzte die „Bild“-Zeitung, nachdem das Team in einem Anfall Völlerschen Rumpelfußballs das Publikum mal wieder 90 Minuten am Stück gequält hatte, und selbst die sonst so besonnene „Stuttgarter Zeitung“ ließ unlängst auf einer ganzen Seite ehemalige VfB-Kämpen wie Trainer Trapattoni (r.), VfB-Profi Martin Stranzl: Dienst nach Vorschrift
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MARKUS BENK / ACTION PRESS
VfB-Ersatzbank, Trapattoni beim Spiel: „Passe de Ball hier, passe de Ball andere Seite“
statter Bierkutscher, noch einmal angemahnt, um was es gehe in dieser Saison: die Qualifikation für die Champions League. Auf die Frage, ob Trapattoni noch eine „Schonfrist“ habe, antwortete der Unternehmer trocken: „Fußball ist ein schnelllebiges Geschäft.“ Dass Giovanni Trapattoni bei fast all seinen Engagements im Ausland Anpassungsschwierigkeiten hatte wie derzeit in Stuttgart, ehe er dann doch Erfolge feierte – das wollen viele nicht mehr hören. Vor allem viele VfB-Profis nicht. Sie halten den 66-jährigen Lombarden „nach neugieriger Schnupperphase“ nur noch für ein Maskottchen – einen rüstigen Großvater, der bei sämtlichen Dehnübungen auf der Isomatte problemlos mithalten kann, für neue Einflüsse jedoch nicht mehr zu haben sei. Wie sonst, so monieren sie, seien die immer gleichen Abläufe beim Training zu erklären, das auch von außen wie freudloser Dienst nach Vorschrift wirkt? Wie sonst käme der Coach unvermittelt auf den Gedanken, immer wieder das Defensivverhalten nach einem Einwurf zu üben mit der Begründung, in den achtziger Jahren mit Juventus Turin auf diese Art einmal ein völlig unnötiges Tor kassiert zu haben? Mit der Verpflichtung des Italieners, so glaubten die beseelten VfB-Bosse im Sommer noch ganz fest, sei ihnen ein Coup gelungen. Es war nicht nur Trapattonis Titelkollektion, die sie elektrisierte. Sie dachten auch an die Vermarktungsmöglichkeiten, die sich durch die Bundesliga-Rückkehr des charmanten Signore boten. Denn spätestens seit seiner legendären „Ich habe fertig“-Suada, jenem italo-germanischen Furioso, mit dem er vor mehr als sieben Jahren als Bayern-Trainer seine bräsigen Stars abwatschte und das in Sentenzen gipfelte wie „Diese Spieler waren schwach wie ein Flasche leer!“, gilt Trapattoni hierzulande als Marke.
Sein Einstiegssatz bei der Begrüßung in Stuttgart schloss nahtlos an jenen „discorso famoso“ an. „Gute Tag, iche schon wieder da“, witzelte der weißhaarige Coach, der dank gnädigen Zutuns seiner Schwester, einer Nonne, immer ein Fläschchen Weihwasser bei sich hat, um „Neider und negative Personen“ von sich fern zu halten. Neben Trapattoni saß eine positive Person: Erwin Staudt, der Präsident des VfB Stuttgart. Es waren die Tage, in denen der Besuch Papst Benedikts XVI. in Deutschland bevorstand, und deshalb eröffnete der Vereinsboss seine Vorstellungsrede mit dem Späßle „Habemus Mister“ – als hätte während der Trainervakanz täglich schwarzer Rauch aus dem Schornstein der VfB-Geschäftsstelle in der Mercedesstraße gequalmt und nun endlich weißer. So ergriffen Staudt den Trainer präsentierte, so vehement nimmt er ihn in diesen Tagen in Schutz, in denen die scheinbare Leichtigkeit aus Trapattonis Anfangstagen in Stuttgart bleierner Schwere gewichen ist. Eine „Unverschämtheit ohnegleichen“ sei es, wie „so eine Persönlichkeit mit Stil und Charisma teilweise ohne Respekt einfach attackiert wird“, poltert der Hobbytrompeter aus Leonberg in seinem Büro und schaut grimmig über den Tisch. Dann mahnt er „Geduld“ an: „Es war klar, dass wir für diesen Wechsel Zeit brauchen, und ich hoffe, dass es auch eine Erfolgsgeschichte wird, wenn alle an einem Strang ziehen.“ Anders als bei Spitzenclubs wie dem FC Bayern München, dem FC Schalke 04 oder dem Hamburger SV, wo die Suche nach einem neuen Trainer eindeutig eine Angelegenheit des Managements ist, war die Trapattoni-Verpflichtung beim VfB Stuttgart Ehrensache des Präsidenten. Der Sportdirektor Herbert Briem, ein früherer Amateurkicker und Spielerberater, hatte keine Prokura. Stattdessen eilte Staudt ein d e r
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Büchsenspanner von außen zur Hilfe – als Kontaktmann zu Trapattoni diente dem VfB-Boss der in Sportkreisen bestens verdrahtete Ludwigsburger Rechtsanwalt Christoph Schickardt. Es ärgert Staudt noch heute, dass der frühere Stuttgarter Coach Felix Magath seine Meinung als Vereinsboss nicht ernst nahm, wenn es um die wirklich heißen Themen ging – um Taktik, um Transfers, um Vertragsverlängerungen, um Gehaltspoker. Magath hielt Staudt, der auch mal Vorsitzender des schwäbischen Amateurvereins TSV Eltingen war, für einen Ökonomen, der den Club zwar sanieren könne, von den Branchengesetzen jedoch keine Ahnung habe: ein Edelfan, kein Profi. Und so geriet das Werben um Trapattoni für Staudt, der vor seinem Amtsantritt beim VfB Stuttgart als Geschäftsführer für IBM Deutschland gearbeitet hatte, zu einer Art Eigentherapie. Der Seiteneinsteiger aus der Wirtschaft wollte sich und der Welt beweisen, dass er sehr wohl in der Lage wäre, einen schillernden Namen zu präsentieren. Wie persönlich Staudt seine Mission nahm, zeigte sich, als er Trapattoni und dessen Berater in einem Konferenzraum des Frankfurter Flughafens erstmals gegenübersaß und seine Saisonziele definierte. Ein Punkt war Staudt dabei besonders wichtig: „Signore, Sie müssen die Bayern schlagen.“ Nun hat Staudt einen Startrainer, der wunderbar zu ihm passt, nur leider nicht zur Mannschaft. Dabei gab es in den letzten Jahren genügend Hinweise, dass der Erfolgscoach früherer Tage mit seinen Torvermeidungsstrategien dem modernen Tempofußball immer weniger entgegenzusetzen hat. Dass die grandios besetzten italienischen Nationalmannschaften unter seiner Regie sowohl bei der WM 2002 als auch bei der EM 2004 vorzeitig scheiterten, lag vor allem 143
an Trapattonis Verzagtheit. Sobald sein sonbeginn mit zwei der wichtigsten Spieler, Team in Führung gegangen war, ordnete er Torwart Timo Hildebrand und Mannreflexhaft die Verteidigung des Vorsprungs schaftskapitän Zvonimir Soldo, irritierenan – und gab damit die Kontrolle über schon de Machtkämpfe lieferte. Vor allem die Entscheidung, Soldo im gewonnen geglaubte Spiele aus der Hand. Gelegentlich verlor der Mister in seiner ersten Heimspiel gegen den 1. FC Köln auf Coaching-Zone völlig den Überblick. So die Bank zu verbannen, brachte die Kollewollte Trapattoni bei der EM in Portugal im gen in Rage. Denn die Suche nach einer Vorrundenspiel gegen Schweden nach dem „neuen Straße“, mit der Trapattoni die DeAusgleich der Skandinavier unbedingt montage des Mittelfeld-Chefs begründete, noch den Stürmer Marco di Vaio aufs Feld entpuppte sich als laienhafter Eingriff in schicken. Nur mit sanfter Gewalt konnte das Mannschaftsgefüge – Trapattoni hatte eine Hand voll Ersatzspieler Trapattoni von keinen gleichwertigen Ersatz für den Kroaseinem Plan abbringen – er hatte bereits ten und musste den Schritt nach einer bitteren Niederlage gegen den Aufsteiger die erlaubten drei Spieler eingewechselt. Der renommierte französische Trainer revidieren. Arsène Wenger hatte bereits zwei Jahre So hat der Star-Coach längst jene Strahlzuvor in kleinem Kreis gemutmaßt, dass kraft eingebüßt, die ihn einst unangreifbar die Belastungen des Berufs Trapattoni allmählich überforderten – der Coach des englischen Premier-LeagueClubs Arsenal London erlebte damals als Kommentator für das japanische Fernsehen, mit welch grotesken Gebärden Trapattoni das WM-Aus seiner Mannschaft gegen Südkorea begleitet hatte. „Es gibt einen Zeitpunkt, an dem man sich eingestehen muss, dass man den Stress nicht mehr aushält“, sagte Wenger. Doch Trapattoni kann VfB-Präsident Staudt: „Habemus Mister“ nicht aufhören. Er fühle sich „noch frisch im Kopf“ und wolle als Trai- machte. Warum er ständig seine Aufstelner arbeiten, „solange mein Körper das lungen ändere, wollten Reporter zuletzt mitmacht“. Denn der Fußball, sagt er, habe vor einem Spiel mal wieder von ihm wisihm „alles ermöglicht“ in seinem Leben, sen, welchen Kriterien er bei seinem Ro„und davon möchte ich den jungen Men- tationsprinzip folge und wann die Mannschen etwas zurückgeben“. schaft endlich so spiele, wie er sich das Wenn Trapattoni auf der weitläufigen vorstelle. Anlage des VfB steht und mit viel Gefühl Zunächst antwortete Trapattoni auf Itain beiden Füßen den Ball hochhält, dann lienisch. Der Dolmetscher übersetzte. Als scheint es, als würde er den Job auf seine dem Mister die Befragung lästig wurde, alten Tage auch umsonst machen – und verfiel er wieder in sein krudes Deutsch. nicht für zwei Millionen Euro im Jahr. „Ast du gespielte Fußball?“, schnaubte er Seine zur Schau gestellte Sportlichkeit einen Zeitungsmann an, der besonders wirkt auf viele VfB-Profis indes wie „Folk- hartnäckig insistiert hatte. Dann reihte er lore“, Trapattonis tägliches Programm er- Sätze aneinander, die ulkig klangen („Passcheint ihnen als ein „Witz“. Sie klagen se de Ball hier, passe de Ball andere Seidarüber, dass sie in der Vorbereitungszeit te“), die aber ins Nirgendwo führten. Es „viel zu wenig“ für ihre Grundlagenaus- war die perfekte Masche, seine Kritiker zu dauer gemacht haben, und halten sich für ermatten. „nicht fit“; sie vermissen „klare taktische Nachdem er seinen Vortrag beendet hatAnsagen“; und sie fühlen sich „wie Klein- te, haute Trapattoni mit der flachen Hand kinder behandelt“, etwa wenn der Trainer auf den Tisch. „Peng, noch Frage?“ Dann das Spiel unterbricht und 35 Minuten lang erhob er sich und eilte durch den Hintermit großer Geste auf sie einredet, ohne ausgang zu dem Parkplatz, wo sein Merdass sie seinen bizarren Sprachmix verste- cedes stand. Seine Frau Paola wartete, er hen, „von Nachfragen ganz zu schweigen“ wollte mit ihr zum Mittagessen. – denn Co-Trainer Andreas Brehme, der eiEtwas später saß der Mediendirektor des gentlich übersetzen sollte, beschränkt sich VfB Stuttgart in seinem Büro und rief eine bei Trapattonis ausufernden Monologen Agenturjournalistin an, die bei der Pressehäufig nur noch auf affirmatives Nicken: konferenz vergebens versucht hatte, mit„Si, si, si.“ zuschreiben. Er gab ihr Sätze zum Zitieren Außerdem nehmen es viele VfB-Kicker durch, die Trapattoni so gesagt haben Trapattoni übel, dass er sich gleich zu Sai- könnte. Michael Wulzinger 144
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ANDY RIDDER / VISUM
Sport
Sport
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Wir nähern uns dem Zirkus“
ROLAND GEISHEIMER / ATTENZIONE (L.); ROBIN UTRECHT / AFP (R.)
Dressurtrainer Klaus Balkenhol über den Streit um rüde Ausbildungsmethoden, die hohe Schule des Reitens und die jüngsten Misserfolge der Deutschen
Klaus Balkenhol war als Reiter an zwei Olympiasiegen der deutschen Dressurmannschaft beteiligt und holte als deren Trainer sechs Goldmedaillen. Der 65-jährige ehemalige Polizeireiter, der bei Münster lebt, trainiert seit 2001 die Dressurreiter der USA, mit denen er in Athen 2004 die Bronzemedaille holte. SPIEGEL: Herr Balkenhol, das führende
deutsche Reitsport-Magazin „St. Georg“ titelte hintereinander: „Dressur pervers“, „Dressur wohin?“ und „Die Szene steht Kopf“ – es geht um die straffen Trainingsmethoden etwa der niederländischen Olympiasiegerin Anky van Grunsven. Ist die Empörung gerechtfertigt? Balkenhol: Wir stehen in Deutschland und in der Welt, was die Dressurreiterei angeht, vor einer schwierigen Situation. Wir haben ein internationales und ein nationales Reglement, das ganz klar vorgibt: Bei der Ausbildung der Reitpferde müssen die natürlichen Anlagen der Pferde berücksichtigt und gefördert werden. Ein Dressurpferd darf nicht gewaltsam zusammengeschraubt werden, wie die Reiter sagen. Das ist in meinen Augen Tierquälerei und höchst unnatürlich. Die Berichte über Trainingsmethoden der niederländischen Reiter haben den Eindruck erweckt, diese alten Regeln hätten keine Gültigkeit mehr. 146
Dressurstar van Grunsven, Pferd SPIEGEL: Wird die Debatte von den Deutschen besonders leidenschaftlich geführt, weil ihre Reiter beim jüngsten großen Turnier in Aachen gegen die Niederländer verloren haben? Balkenhol: Die Diskussion um guten Dressursport ist zu jeder Zeit im Interesse der Pferde richtig. Das hat nichts mit der EM oder dem CHIO in Aachen, wo die deutsche Equipe den Niederländern unterlegen war, zu tun. Die Zukunft der hohen Schule, der klassischen Reitkunst, steht auf dem Spiel. Ein Pferd für kurze Zeit auch mal rundzustellen, also den Hals herunterzunehmen, um den Rücken zu heben, das kann als gymnastische Übung sinnvoll sein und ist nicht weiter schlimm. Darum beweisen die jetzt herumgereichten Fotos extrem tiefgestellter Pferde relativ wenig – das können ja Momentaufnahmen sein. Wenn ein Pferd aber, mit Hilfszügeln und scharfen Gebissen, sehr eng geritten und der Kopf über eine längere Phase gewaltsam tief, eng und teilweise zusätzlich seitwärts gezogen wird, dann entspricht das nicht der artgerechten Ausbildung des Pferdes. Es tut dem Tier garantiert weh. d e r
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SPIEGEL: Und das passiert bei den angeblich neuen Trainingsmethoden der niederländischen Equipe um Anky van Grunsven? Balkenhol: Wird berichtet. Einige Reiter haben kein Problem damit, mit ihren Pferden öffentlich auf den Abreiteplätzen so zu arbeiten. Ich halte Anky van Grunsven für eine gute Reiterin. Aber ich bin nicht dabei, wenn sie und ihr Trainer zu Hause mit Salinero üben, einem sehr temperamentvollen, schwierigen Tier. Es wird gesagt, sie würden die Pferde mit allen möglichen technischen Tricks so sehr stretchen, dass diese nicht einmal mehr entspannt stehen und gehen könnten, das heißt: Es fehlte jegliche Losgelassenheit. Die vermisse ich übrigens in jüngster Zeit bei etlichen vierbeinigen Dressurstars, nicht nur bei niederländischen. SPIEGEL: Sie meinen beispielsweise Weltall, das Pferd von Martin Schaudt, an sich ein wunderbares, tänzerisch begabtes Tier. In Aachen ist Weltall jedoch nur nervös getrabt, wo er gehen sollte – ein klarer Regelverstoß. Balkenhol: Lassen wir die Namen der Pferde und Reiter einmal weg. Prinzipiell gilt: Wenn ein Pferd piaffiert, also auf der Stelle trabt, statt gehorsam zu halten, dann ist es verspannt. Viele Reiter wollen heute an-
scheinend vor allem Eindruck schinden mit spektakulären Lektionen, statt den reellen Ausbildungsstand des Pferdes vorzuführen. SPIEGEL: Und dieselben Reiter plädieren dann für eine Änderung des Reglements mit dem Hinweis, klassische Lektionen wie das losgelassene Schreiten, das Stehen oder Rückwärtsrichten seien für den Fernsehzuschauer langweilig. Balkenhol: Ja, da nähern wir uns dem Zirkus. Vielleicht kann man ja noch einem
Salinero: „Sehr eng geritten“
Pferd den Handstand beibringen wie einem Elefanten. Entscheidend ist doch: Was entspricht den natürlichen Bewegungsarten des Pferdes? Wo ist die Grenze zwischen klassischer Reitkunst, die sich in Jahrhunderten entwickelt hat, und zirzensischer Schaumschlägerei? SPIEGEL: Müssen nicht die Richter diese Grenze ziehen? Balkenhol: Natürlich. Da hat es in Aachen an einigem gefehlt. Dressurrichter zu sein bei Wettbewerben, in denen es um viel geht – das ist ein sehr schweres Amt. Sie müssen sehr gut geschult sein und einen tadellosen Charakter haben, damit sie wirklich unabhängig von Interessen und Einflüsterungen urteilen. Wenn der Reiter einen Richter fragt: Was mache ich, mein Pferd bleibt nicht stehen? Dann muss der Richter eine seriöse Antwort geben können. Er hat zu beurteilen, ob die Ausbildung des Pferdes korrekt war. Sogar an solch elementaren Dingen fehlt es heute manchmal. SPIEGEL: Ist es richtig, dass der Turnierveranstalter die Richter auswählt? Werden dadurch nicht Lokalmatadore bevorzugt? Balkenhol: Vielleicht sollten die Richter bei großen Turnieren von einer unabhängigen d e r
Instanz bestimmt werden. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung sollte das kontrollieren und auch die Einhaltung ihrer eigenen Richtlinien fordern. Eigentlich sollten auch auf dem Abreiteplatz Richter stehen, die das Vorspiel des großen Auftritts überwachen, wenn nötig, mahnend eingreifen, vielleicht sogar Noten dafür geben. SPIEGEL: Viele Fernsehzuschauer finden ein schreitendes Pferd ja tatsächlich langweilig. Schon die Einführung der Kür – mit Musik und individueller Figurenfolge – war ein Schritt in Richtung Show. Das hat sich bewährt … Balkenhol: … auch bei der Kür werden saubere Grundgangarten verlangt … SPIEGEL: … und so fragt sich, ob nicht dem medienwirksamen Zirkuseffekt die Zukunft gehört, und sei es in der gemäßigten, hochprofessionellen Form der Spanischen Hofreitschule in Wien? Balkenhol: Ich glaube nein. Die alte Schule, die übrigens in Wien gründlich gepflegt wird, dürfte sich bald wieder ganz durchsetzen. Allein sie gewährleistet, dass teure, edle Pferde möglichst lange gesund bleiben. Woran ein Besitzer ja schon aus finanziellen Gründen Interesse hat. Dass ein Pferd so hart geritten wird und dauernd unter Spannung steht wie manche Starpferde heute – das gefällt, wie Reaktionen bei jüngsten Turnieren gezeigt haben, auch der Mehrzahl der Zuschauer nicht. SPIEGEL: Leistungssport bedeutet aber auch, dass man immer neue Grenzen sucht. Warum soll man die Leistungssportler unter den Pferden schonender behandeln, als menschliche Leistungssportler mit dem eigenen Körper umgehen? Schinden sich nicht auch Gewichtheber oder Ruderer wider die Natur ihres Bewegungsapparats? Balkenhol: Der Sportler kann frei über sich verfügen, aber bei den Tieren sind wir Menschen es, die bestimmen, ob sie artgerecht gehalten, überfordert oder sogar misshandelt werden. Daraus wächst uns eine bestimmte Verantwortung zu, der wir gerecht werden müssen. Ich habe als Mensch nicht das Recht, aus purer Lust, aus purem Geltungsdrang oder für meinen persönlichen Erfolg einem Tier zuzusetzen. SPIEGEL: Sind die Trainingsmethoden nicht bloß deshalb härter geworden, weil man es nur damit schafft, vorn mitzureiten? Balkenhol: Das kann es nicht sein: allzu harte Methoden, dieses Drücken, Pressen und Ziehen, um etwas Graziles, Harmonisches zu erzeugen! Bei Pferden, die so ausschließlich unter Druck gearbeitet werden, ist beispielsweise der Schritt häufig nicht mehr in Ordnung. Ein starker, raumgreifender Schritt, etwa nach einer Passagetour, bringt es an den Tag, ob ein Pferd übermäßig angespannt oder wirklich losgelassen ist. SPIEGEL: Erklären Sie doch mal dem Laien, was „Losgelassenheit“, einer Ihrer Lieblingsbegriffe, genau meint. Balkenhol: Das Pferd strahlt Zufriedenheit aus, keine Hektik in der Bewegung, der
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* Olaf Stampf, Mathias Schreiber und Stefan Aust in Rosendahl bei Münster.
SCHREYER / IMAGO
Deutsche Olympiasieger in der Mannschaftsdressur (Athen 2004): „Natürliche Anmut“
einen erstklassigen Ausbilder gefunden zu haben – das war keine Frage des Geldes. Von ihm habe ich gelernt: Auf die ehrliche Gymnastizierung des ganzen Pferdekörpers und die sensible, im Grenzfall auch mal kraftvolle Einwirkung des Reiters über Sitz, Rücken und Schenkel, weniger über die Zügel – darauf kommt es an, anders geht es auf Dauer nicht. Die freie, natürliche Art, aus dem Stand anzutraben, zu galoppieren und im Galopp kontrolliert umzuspringen und dann wieder ruhig schwingend zu gehen – all dies gehört doch zur Schönheit des Pferdes. Schon der altgriechische Schriftsteller Xenophon wetterte gegen die Versklavung der Vierbeiner, der berühmte Reitlehrer Pluvinel verglich im 17. Jahrhundert die „natürliche Anmut“ des gewaltfrei gerittenen Pferdes mit dem „Blütenduft der Früchte“. SPIEGEL: Im Januar 2001 wurden Sie, nach vier Jahren als deutscher Bundestrainer, Coach der US-Dressurmannschaft. Was ist bei den Amerikanern anders? Balkenhol: In den USA gibt es keine staatlichen Zuschüsse, da lebt der Dressursport nur von Sponsoren und Spenden. Außerdem ist die Mentalität dort angenehmer als hier. Die Leistung des Konkurrenten, auch außerhalb des Reitsports, wird freimütig anerkannt. Da sagt man zum Sieger: Du warst gut, sag mir, wie ich auch so gut werden kann. Offenen Neid und kleinmütige Meckerei erlebt man selten. SPIEGEL: Vier Jahrzehnte lang haben die deutschen Dressurreiter fast alles gewon-
ROLAND GEISHEIMER / ATTENZIONE
Schweif pendelt, ein selbstverständlicher, nicht übertriebener Schwung, ein entspanntes Schnauben; wenn all dies fehlt, und es gibt trotzdem tolle Noten für verspannte Lektionen, dann muss das Reglement geändert werden. Noch stellt es die bewährte Ausbildungsskala – Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichten und Versammlung – in den Mittelpunkt der Dressurprüfung. SPIEGEL: Gelten diese Kriterien auch international? Balkenhol: Natürlich. Die Hochschätzung der Losgelassenheit hat neben dem ästhetischen auch einen medizinischen Grund: Nur ein Pferd, das sich loslässt, versorgt seine Muskeln regelmäßig mit Blut, also Sauerstoff. Ein verspannter Muskel öffnet sich ja nicht, er kann kein Blut durchlassen und sich somit auch nicht schnell erholen. Muskel- und Sehnenzerrungen und Gelenkschäden sind häufige Folgen. SPIEGEL: Manche Pferde wirken nicht nur angespannt, sondern überspannt – das nennt man dann genial und wäre Natur, nicht Gewaltfolge. Etwa Elvis von Nadine Capellmann. Der Fuchs versagte bei den deutschen Meisterschaften seiner Reiterin den Dienst … Balkenhol: … da war ein Nerv eingeklemmt. Elvis ist ein außerordentliches, geniales Dressurpferd – in allen Gangarten. Ich habe ihn selbst im Frühjahr mal geritten. SPIEGEL: Wie war das? Balkenhol: Na ja, ich bin runtergeknallt. Ich wollte ihn auffordern, mehr vorwärts zu gehen. Da buckelte er plötzlich los, drehte sich, stieg wie ein Rodeopferd. Trotzdem: Dieses Pferd bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Es bringt alle Voraussetzungen für ein Weltklassepferd mit. Wir werden von ihm noch hören. Ich hoffe, Nadine kann ihren WMTitel mit ihm verteidigen. SPIEGEL: Solche Geniepferde kosten nicht selten eine halbe Million Euro und mehr. Sie selbst haben Ihre ersten Erfolge mit Rabauke und Goldstern erreicht – Polizeipferden, die mal 4000 und 6700 Mark gekostet hatten. Geht da nicht ein sozialer Riss durch die Dressurszene, der auch ihren olympischen Rang immer wieder in Frage stellt: Hier der bodenständige Reiter auf seinem Mittelklasse-Hannoveraner, dort die Tochter des wohlhabenden Genie-Besitzers, die sich teure Lehrer leistet? Balkenhol: Es ist für weniger Bemittelte nicht immer einfach, nach oben zu kommen, aber auch nicht so schwierig, wie viele meinen. Spitzenreiter wie Ingrid Klimke und Hubertus Schmidt und auch andere Kaderreiter sind gute Beispiele dafür. Als ich als unbedarfter Polizist anfing, zu Hause herumzumuscheln mit einem Dienstpferd, Rabauke, hatte ich das Glück, in Otto Hartwich, einem väterlichen Freund,
Balkenhol (3. v. l.), SPIEGEL-Redakteure*
„Entspanntes Schnauben“ d e r
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nen. Beim letzten großen Turnier in Aachen war der dritte Platz in der Kür für Hubertus Schmidt der größte Einzelerfolg. Geht es auch in Ihrer Paradedisziplin abwärts mit den Deutschen? Balkenhol: Jede Nation macht mal einen Knick nach unten. Vielleicht ist im Moment – einmal abgesehen vom Streit über Trainingsmethoden – das Problem, dass wir plötzlich ein Gleichmaß an guten Pferden haben, die aber nicht top sind – oder, wenn top, zufällig gerade nicht fit. Und schon passiert es, dass plötzlich die anderen ein paar Punkte besser abschneiden. Klar ist: Das wird nächstes Jahr in Aachen eine sehr schwierige Dressur-Weltmeisterschaft. Man weiß nicht, wie dieses oder jenes Pferd auf das große, neue Stadion mit den hohen Zuschauerrängen reagieren wird. Und die Deutschen müssen wissen: Die Niederländer, Schweden, Dänen, Spanier, Amerikaner, Franzosen, die schlafen alle nicht. Das wird spannend. SPIEGEL: Die Dressurdamen Nicole Uphoff, Isabell Werth, Ulla Salzgeber – sie hatten große Erfolge mit jeweils einem Pferd. Danach war Sendepause. Verlernen Spitzenreiter irgendwann ihr Können, oder ist ein Spitzenpferd so schwer zu finden? Balkenhol: Anky van Grunsven, die jetzt nach Bonfire mit Salinero gleich wieder ein exzellentes Pferd reitet, hat zwischendurch auch etliche Ausfälle erlebt. Aber prinzipiell gilt: Es gibt nun mal keine Produktionsstätte für Ausnahmepferde. Sie halten ein Pferd mit bester Abstammung für hochbegabt, haben auch erste Erfolge – und plötzlich will es nicht mehr so richtig. Vielleicht hat dieses Unberechenbare auch sein Gutes. SPIEGEL: Sie reiten seit Ihrer Jugend regelmäßig. Haben die vielen launischen Stuten und störrischen Hengste, denen Sie begegnet sind, Ihnen noch nicht die Freude am Pferd genommen? Balkenhol: Absolut nicht. Ein Leben ohne Pferd kann ich mir gar nicht vorstellen. SPIEGEL: Herr Balkenhol, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 149
Kultur
Szene L I T E R AT U R
ihm im Traum Ereignisse, die irgendwann auch in der Wirklichkeit stattfinden. Doch für ihn ist diese ungewöhnliche Gabe ein Fluch: Denn er träumt auch vom Tod anderer Menschen – und kann ihn nicht verhindern. Einen wunderlichen Helden hat sich der amerikanische Autor Anthony Doerr, 31, für seinen Debütroman ausgedacht, einen zaghaften, in sich verkrochenen Mann, der anfangs in seiner Geburtsstadt Anchorage in Alaska lebt, braune Cordanzüge trägt und beim Wetterdienst arbeitet. Sein David Winkler ist nicht ganz von dieser Welt, und auch Doerrs Roman „Winklers Traum vom Wasser“ hat eine fabelhaft-unwirkliche Qualität, die alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit verblassen lässt. Eine seiner Vorahnungen führt den Einzelgänger David zu einer Frau, die er bald vergöttert. Doch kaum haben sie eine Familie gegründet, träumt er, dass seine kleine Tochter in seinen Armen ertrinken wird. Um diesen Tod abzuwenden, flieht er vor denen, die er liebt – und wird ein Vierteljahrhundert nicht zurückkehren. Seine Odyssee verschlägt ihn auf eine Insel, doch ihn plagt die Erinnerung an seine Frau und sein – vielleicht – totes Kind. Erst als er eine Frau, deren Tod er geträumt hat, vor dem Ertrinken retten kann, wagt sich Winkler zurück, nimmt seine Verantwortung an und erkämpft sich seinen Platz in der Welt. „Winklers Traum vom Wasser“ variiert einzelne Leitgedanken, Szenen und Bilder mit einer Besessenheit, die fast ungelenk wirken kann. Aber genau dieses obsessive Erzählen, das sich nicht um Regeln kümmert, erzeugt einen Zauber, dem man sich schwer entziehen kann. Besonders die Naturbilder sind voller Magie. Ob das Licht in der Wildnis von Alaska oder das kristalline Wunder einer Schneeflocke: Der Mann, der seine eigene Zukunft lange für unabänderlich hält, kann sich mit der unberechenbaren Schönheit der Natur trösten.
Foto eines Freskos im Münchner Schloss Nymphenburg (1943/44)
KUNSTGESCHICHTE
Führers Auftragsfotos M
itten im Krieg, von 1943 bis April 1945, schickte Hitler einen seltsamen Trupp durch sein Reich. Fotografen, Kunsthistoriker, auch Mitarbeiter der Ufa sollten im Eilverfahren und in Farbe Wandmalereien in Kirchen, Klöstern und Schlössern ablichten. Bis Kriegsende fotografierte das Bilder-Kommando Fresken, manchmal auch Wandbespannungen an 480 Stätten. Die kriegslüsterne NS-Regierung ahnte, dass das eigene Land bald ein einziger Trümmerhaufen sein würde, und wollte dieses Kulturerbe, das man nicht auslagern konnte, auf Dias dokumentieren. Insgesamt 39 000 dieser Abbildungen werden vom 21. Oktober an im Internet zugänglich gemacht (www.zi.fotothek.org). Verantwortet wird die Datenbank vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte (ZI) in München, wo die meisten der erhaltenen Dias seit 1956 lagern. Ein kleiner Bestand gehört dem Bildarchiv Foto Marburg. „Aufwendiger als das Digitalisieren war die Datenrecherche“, sagt Stephan Klingen vom ZI. Hitlers Auftrag habe sich auf das damalige „Großdeutschland“ bezogen, bei mancher Kirche in Tschechien wisse man nichts über deren heutigen Zustand. Man vermute, dass 30 bis 40 Prozent der abgelichteten Werke tatsächlich zerstört oder beschädigt wurden. Nun könnten Kunsthistoriker und Denkmalpfleger recherchieren und auch „unglückliche Restaurierungen“ der Nachkriegszeit prüfen.
ZEITGEIST
Konstruierte Kindheit ie lebt seit zehn Jahren in Deutschland, spricht mit ihren Freunden S fließend Deutsch, doch wenn die Rede auf Winnetou und Heidi, Biene Maja und Playmobil kommt, auf Kindergeburtstage mit Marmorkuchen und Topfschlagen, bleibt sie stumm. Kindheitserinnerungen lassen sich eben nicht lernen wie eine Fremdsprache – diese Erkenntnis brachte die neuseeländische
NADINE MINKWITZ
Anthony Doerr: „Winklers Traum vom Wasser“. Aus dem Amerikanischen von Judith Schwaab. Verlag C. H. Beck, München; 488 Seiten; 24,90 Euro.
ZENTRALINSTITUT FÜR KUNSTGESCHICHTE MÜNCHEN
Wasser und Wahrheit ovon David Winkler träumt, das geht in Erfüllung. Und zwar buchW stäblich: Seit seiner Kindheit erscheinen
Künstlerin Joanne Moar auf eine Idee: Sie initiierte ihr Kunstprojekt „becoming german“, das sie versteht „als Untersuchung, ob es möglich ist, eine deutsche Kindheit nachzuempfinden“. Sie spricht Passanten in Fußgängerzonen an und fragt sie über ihre Kindheit aus. Die Antworten, die sie auf diese Weise oder auf ihrer Website sammelt, speist sie in eine Datenbank ein. Wer nicht in Deutschland aufgewachsen ist, gibt auf www.becominggerman.de Daten ein (Geburtstag, Wohnsituation als Kind, Geschwister) – der Computer wirft eine passende deutsche Kindheit aus: Lieblingshörspiel, Lieblingsbuch, Lieblingslied. Bisher hat sich Moar, 34, vor allem um die Gleichaltrigen gekümmert, doch nun will sie verstärkt auch die Kriegs- und Nachkriegsgeneration miteinbeziehen. Moar (vorn), Passanten 153
Szene Monica Bellucci in „The Brothers Grimm“
SACH BUCH
Lob für die Jeckes
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CONCORDE / DDP
bwohl der Begriff seit über 70 Jahren gebraucht wird, ist seine sprachliche Herkunft bis heute nicht klar: „Jeckes“, Synonym für deutsche Juden in Israel. Sind es Menschen, die auch im Hochsommer ihre Jacken nicht ablegen? Semantische Verwandte der rheinischen Jecken? Oder „jehudi kasche havana“, wie man im Hebräischen Juden beschreibt, die schwer von Begriff sind? In jedem Falle sind es Menschen, die sich durch „Disziplin, Pünktlichkeit und gute Manieren“ auszeichnen, im Orient eher atypische Eigenschaften, die ihre Träger „zu einem beliebten Objekt von Witzen und Spötteleien“ machten – schreibt die in Tel Aviv lebende Journalistin Gisela Dachs im Vorwort eines Almanachs über „Die Jeckes“, erschienen im Suhrkamp Verlag. Über 60 000 deutsche Juden sind zwischen 1933 und 1939 nach Palästina geflohen, buchstäblich in die Wüste. Sie brachten nicht nur ihre Bücher und Möbel mit, sondern auch deutsche Tugenden und Gründermentalität. Der Berliner Kaufhauskönig Salman Schocken baute einen Verlag auf. Der preußische Jurist Siegfried Moses wurde 1949 der erste Staatskontrolleur Israels. Der
KINO
„Ich fordere Gefängnis für alle“
Deutscher Jude in Israel (1961)
Buchhändler Hermann Mayer, 1915 in Wismar geboren, machte in Jerusalem eine Buchhandlung und eine Leihbücherei auf. „Eines Tages“, erinnert er sich, „kam ein Polizeioffizier ins Geschäft und verlangte deutsche Bücher für jemanden im Gefängnis.“ Als klar wurde, dass der Häftling kein Geringerer als Adolf Eichmann war, musste der Offizier zionistische Schriften mitnehmen. Heute erfahren die Jeckes „eine späte Anerkennung“, ihr Beitrag zum Aufbau des Landes wird gewürdigt. Und einige deutsche Wörter haben sich fest im Hebräischen etabliert, etwa „Schluck“, „Biss“ und „Zimmer“, vor allem in der hebräischen Pluralform „Zimmerim“. 154
SPIEGEL: Am Anfang Ihres Films „The
Brothers Grimm“ über die deutschen Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm erscheint eine Schrifttafel mit dem Text: Im französisch besetzten Deutschland … Gilliam: … ja, darüber muss ich jedes Mal laut lachen, wenn ich den Film sehe! Denn im Kino gilt Deutschland ja traditionell als die Besatzungsmacht schlechthin, doch unser Film spielt nun mal nicht in der Nazi-Zeit, Gilliam sondern Anfang des 19. Jahrhunderts, als Deutschland teilweise von den Franzosen besetzt war. Diese ironische Umkehrung fand ich sehr amüsant. Und ich wollte gerade den deutschen Zuschauern in Erinnerung rufen, dass die Geschichte ihres Landes vor dem 20. Jahrhundert begonnen hat. SPIEGEL: Der Film zeigt, wie Menschen sich aus ihrem trüben Alltag in aberwitzige Phantasien flüchten. Fördert politische Repression die Kreativität? d e r
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Gilliam: Absolut. Denken Sie an den spanischen Schriftsteller Cervantes: Der hat die Idee zu seinem „Don Quijote“, einem der phantasievollsten Romane der Weltliteratur, im Kerker entwickelt. Also: Ich fordere Gefängnis für jedermann! SPIEGEL: Stärkt der Entzug äußerer Reize die Einbildungskraft? Gilliam: Davon bin ich überzeugt. Als meine Kinder klein waren, sind wir oft in unser Ferienhaus nach Italien gefahren. Da gab es kein Fernsehen. Meine Frau hat immer gesagt: Die Kleinen werden sich furchtbar langweilen. Und ich habe geantwortet: Das will ich hoffen. Aber warte mal, was passiert, wenn sie versuchen, die Langeweile zu überwinden. Und tatsächlich haben die Kinder irgendwann angefangen, sich ihre eigenen Welten zu erschaffen. Die Phantasie ist wie ein Muskel, den man dauernd trainieren muss. Durch Reizüberflutung verkümmert er. SPIEGEL: Wie halten Sie ihn in Form? Gilliam: Meine Kreativität verfettet. Aber ich kämpfe dagegen: Jeder Dollar, den man mir aus einem Budget streicht, stachelt sie wieder an. Ich fürchte, ohne Beschränkungen wäre ich erledigt. EXTRAPRESS / ACTION PRESS
MICHA BAR-AM / MAGNUM / AGENTUR FOCUS
US-Regisseur Terry Gilliam, 64, über den Nutzen der Repression und seinen neuen Film „The Brothers Grimm“
Renoviertes Grand Palais
AKG
FRANCK FIFE / AFP
Kultur
Schiele-Selbstporträt (1912) AU S ST E L L U NGE N
Wien zu Gast im Pariser Grand Palais
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as Grand Palais, erbaut zur Weltausstellung 1900, berühmt für das gigantische 13 500-Quadratmeter-Glasdach, wurde 1993 wegen Baufälligkeit geschlossen, jahrelang renoviert und jetzt neu eröffnet. In einem geräumigen Seitentrakt ist nun, bis zum 23. Januar, eine Ausstellung zur Wiener Secession zu sehen: „Vienne 1900. Klimt, Schiele, Moser, Kokoschka“ lautet der Titel der Schau, die 91 Gemälde und 55 Zeichnungen von 1890 bis 1918 zeigt. Paris blickt – ausgehend vom Entstehungsdatum des Grand Palais – auf eine andere Kulturmetropole und das Ende einer buntscheckigen Welt. Es gibt Nachholbedarf, denn bislang wurden die Werke der Wiener Secession in Frankreich vor allem als Dekorationskunst angesehen, die Pariser Museen besitzen nur ein einziges Werk der Secessions-Künstler – eines von Gustav Klimt. Koloman Moser wird gar zum ersten Mal gezeigt. Die Kuratoren entschieden sich gegen eine chronologische Abfolge der Bilder und für eine übersichtliche thematische Dreiteilung in „Historienbilder“, „Landschaften“ und „Porträts“: Oskar Kokoschka schaut gemeinsam mit Freundin Alma Mahler vom Doppelbildnis herab, und Egon Schiele ist auch zu sehen – mit skeptischem Blick.
Kino in Kürze „A History of Violence“ ist ein kluger, böser Film über Mord und Totschlag und einen plötzlichen Einbruch der Gewalt in ein amerikanisches Provinzidyll. Ein Restaurantbesitzer (Viggo Mortensen) wird bei einem Überfall zum Helden, verwandelt sich vom braven Spießer zum brutalen Kämpfer – und ruck, zuck findet ihn auch seine schöne Gattin (Maria Bello) so sexy wie nie zuvor. Der kanadische Regisseur David Cronenberg inszeniert die Story als grotesk-komischen Schocker, mit einer physischen Wucht und einem Witz, die an Quentin Tarantino erinnern. Dem allerdings hat Cronenberg jede Menge Geist und Bildung voraus – und so ist sein Thriller nicht nur ein blutiges Pop-Märchen, sondern vor allem eine Lektion in Sigmund-Freud-Seelenkunde.
NOGASTRO / INTERFOTO
„Wallace & Gromit auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen“. Sogar vom Mond sind
Szene aus „Wallace & Gromit …“ d e r
die beiden Unzertrennlichen schon einmal heil zurückgekehrt, aber die wahre Herausforderung lauert auf Wallace, den pullundertragenden Erfinder, und seinen Hunde-Kumpel Gromit gleich nebenan: Ein monströses Nagetier bedroht den Gemüsezüchter-Wettbewerb ihres britischen Provinzstädtchens. Für ihr erstes spielfilmlanges Abenteuer jagt Regisseur Nick Park („Chicken Run“) seine KnetgummiHelden durch aberwitzige Action-Szenen, bis im Showdown rund um das Schloss von Lady Tottington klar wird: Das Böse steckt in uns selbst – und ist folglich besiegbar.
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Kultur
L I T E R AT U R
Der ganz normale Wahnsinn Sieben Jahre nach seinem Erfolgsbuch „Simple Storys“ präsentiert Ingo Schulze den monumentalen Roman „Neue Leben“: eine vielfach verzwirbelte Schilderung des Mauerfalls und der letzten Jahre der DDR – ein Historiengemälde aus strikt ostdeutscher Sicht.
* Ingo Schulze: „Neue Leben“. Berlin Verlag, Berlin; 796 Seiten; 24 Euro.
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Erstens, weil Schulze, der kräuselhaarige, 1962 in Dresden geborene Ex-Theaterdramaturg und Ex-Zeitungsjournalist, damit das Naheliegendste tut. Er ist bereits berühmt als poetischer Porträtist des wiedervereinigten Landes: „Simple Storys“ heißt das 1998 erschienene Buch, in dem Schulze in meisterhafter stilistischer Knappheit und in 29 spröde verdichteten Geschichten von Schicksalen in der ost-
deutschen Provinz erzählte. In den „Simple Storys“ traf man auf Mädchen-Aufreißer aus dem Westen, verwirrte und sympathische Wendeverlierer und traurige Glückskinder auf Tankstellenpartys, und sie alle versammelten sich zu einer melancholischen Innenansicht von Deutschland nach dem Mauerfall. Das von den meisten Kritikern gefeierte Buch hat sich allein als Hardcover gut 100 000-mal verkauft, wurde in 23 Sprachen übersetzt und ist in vielen Bundesländern (West und Ost) mittlerweile Schullektüre. Zweitens aber ist Schulzes langerwarteter Nachfolgeband, das fast 800 Seiten dicke Erzählwerk „Neue Leben“, ein Wahnsinnsunternehmen, weil der Dichter darin das Allerfernliegendste tut: Sind der Mauerfall und die letzten Tage der DDR nicht ein Stoff, der den heute in Deutschland lebenden Menschen nach all den tausendmal erzählten Geschichten gründlich gestohlen bleiben kann? Der ihnen inzwischen entlegener vorkommt als, sagen wir mal, die Tage der Mondlandung, die Massaker der chinesischen Kulturrevolution oder der deutsche Triumph bei der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1954? Noch gemeiner und auf den konkreten Fall bezogen gefragt: Will man heute noch so genau wissen, wie einem jungen angehenden Schriftsteller bei der Nationalen Volksarmee von den Kameraden die Hoden blau getreten wurden, weil man ihn für einen Spitzel hielt? Interessiert es noch, wie bei Leipziger Montagsdemonstrationen des Herbstes 1989 eigentlich hasenherzige DDRBürger ihre Furcht vor Stasi und Polizei überwanden und protestierend mitspazierten durch die unglaublich finsAutor Schulze: Melancholische Innenansicht von Deutschland OLYCOM S.P.A. / ACTION PRESS
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m Anfang der deutschen Wiedervereinigung war Wahnsinn – und sonst fast nur lärmender, sprachloser Jubel. „Wahnsinn“, lautete der staunende Schlachtruf, mit dem die Ossis am Abend des 9. November 1989 durch die plötzlich durchlässige Berliner Mauer in den Westen drängelten. „Wahnsinn!“, schrien auch die sie empfangenden West-Berliner, während man einander zuprostete und um den Hals fiel. Viel mehr aber hatte man sich im Augenblick des Glücks nicht zu sagen. Und bald folgte auf den deutschen WahnsinnsRausch ein langer, schweigsamer Kater. Wer im Westen zum Beispiel weiß denn, was ostdeutsche Menschen wirklich empfanden, als sie die Wunder und Schrecken der freien Welt zum allerersten Mal mit eigenen Augen sahen? In einer komischen, berührenden Szene des neuen Romans von Ingo Schulze, „Neue Leben“*, schildert dessen Held, ein Mann namens Enrico Türmer, wie er in einem Reisebus über die Pariser Place Pigalle fuhr, im Blick „Frauen, die den Gehsteig säumten, Huren, morgens um acht“. Er notiert: „Die Stille, in der wir zu den blanken Fenstern hinaussahen, hatte etwas Andächtiges. Diese Ungeheuerlichkeit, sich für ein paar Geldscheine Frauen aussuchen zu können!“ Ingo Schulze hat tatsächlich eine Art Roman über die Wiedervereinigung Deutschlands geschrieben, über die Gedanken, Gefühle und Taten ostdeutscher Menschen kurz vor, während und nach dem Mauerfall – und in gewisser Weise ist das eine Wahnsinnstat.
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OLAF JÄHLER ANDREE KAISER / CARO
tere, vom Kohlennebel eingewaberte Stadt? Lässt sich was draus lernen, dass in der schönen Stadt Altenburg ein paar Idealisten vor 15 Jahren ein politisches Wochenblatt gründeten, um sich die Köpfe wund zu stoßen und ihre Finanzen zu ruinieren im modernen Medienkapitalismus? Erstaunlicherweise liest man das alles trotzdem gebannt – weil Schulze, der einstige Volksarmee-Rekrut, Theatermann und Mitgründer des „Altenburger Wochenblatts“, mit schöner Anschaulichkeit erzählt. Zum Beispiel aus dem lässigen Leben der DDR-Intellektuellen- und Künstlerboheme. Dort haust Vera, die inzestuös angehimmelte Schwes- Zeitungsmacher Schulze in Altenburg (1990): Utopisches Märchenglück ter des Helden, und dorthin zieht es auch ihn, der nach pubertären Liebesnöten bald Affären mit Männern und Frauen hat und Pläne hegt für das eine, alle Welt aufrüttelnde Buch. „Wenn mein Lebensgefühl schon nicht tragisch war, musste es wenigstens die Literatur sein“, heißt es da einmal. „Und die brauchte Leid. Je größer das Leid, desto besser die Literatur. Unser Part, der östliche, war Leiden und Widerstand …“ Natürlich geht der Traum vom weltbewegenden Sensationsbuch gründlich schief. „Neue Leben“ ist ein vergnügliches, kluges, unfassbar ausführliches Buch über das Scheitern – über die Lächerlichkeit, Jämmerlichkeit, Sinnlosigkeit des Lebens in der DDR; die „verwahrloste Intimität“ im Theater, wo der Held von genialischen Regisseuren kaum wahrgenommen, aber gnadenlos geduzt und umarmt wird; über das Niederzwingen eines maroden Systems mit schwerfälligen Parolen wie: „Neues Forum zulassen“ („ich gestehe – mir war das peinlich“); und über die Scham, plötzlich in einer kapitalistischen Welt nach Anzeigenkunden jagen zu müssen. Vielleicht hätte „Neue Leben“ sogar ein noch besseres Buch werden können – wenn der Autor es sich nicht Romanthema Mauerfall (1989): „Wie kam der Westen in den Kopf?“
bizarr schwer gemacht hätte durch diverse formale Kniffe. Nach Manier des 18. Jahrhunderts firmiert der Schriftsteller Schulze nur als Herausgeber von Briefen, die sein Held Türmer angeblich selbst notiert hat; ein langer (und ziemlich nutzloser) Anhang präsentiert ein paar von Türmers literarischen Versuchen. „Schwer erträglich“ findet der Herausgeber im Vorwort den Tonfall vieler Texte und staunt über den „geradezu manischen Bekenntnisfuror“ Türmers; auch streut er in allgegenwärtigen Fußnoten Einwände und neckische Korrekturen. Klar manifestieren sich hier die Skrupel Schulzes gegenüber seinen eigenen Aufzeichnungen aus frühen Jahren, aber wirklich komisch oder unterhaltsam (oder auch nur irgendwie erhellend) ist das nicht. Acht Jahre hat Ingo Schulze an diesem Buch gearbeitet. So wie er seinen Ton in den St.-PetersburgGeschichten „33 Augenblicke des Glücks“ (1995) an berühmten russischen Erzählern geschult hatte und in den „Simple Storys“ an Hemingway und Raymond Carver, hat er nun E. T. A. Hoffmann und die Gebrüder Grimm zu literarischen Paten erkoren. Er lässt einen schelmischen Baron aus dem Westen als gestiefelten Kater (Murr) durch die ostdeutsche Provinz stapfen und betont allzeit das Märchenhafte der Stunde null im Nach-Mauerfall-Deutschland: Goldesel und Tischlein-deck-dichWunder und romantische Wolfshunde, wohin das Dichterauge blickt. Unfreundlich lässt sich über diese Beschwörung des Magischen sagen, dass sie ein bisschen aufdringlich ist und klugscheißerisch und rettungslos verzwirbelt. Man kann es aber auch freundlicher (und zutreffender) sagen: Das Verrätselungs- und Veredelungsspiel, das Schulze zur eigenen Absicherung und der seines Helden inszeniert, stört nicht weiter. Es wirkt wie ein sehr grel157
Kultur les, buntbesticktes Mäntelchen – aufregend und interessant aber ist die windige, leidende, oft auch lustig verkrümmte Kreatur, die darunter hervorlugt. Mit Enrico Türmers unternehmerischen Aktivitäten nimmt es (wie mit seinen ewig unsteten Liebesgeschichten) kein glückliches Ende. Erst habe er sich zwar dank seiner Zeitungserfahrungen und der Gründung eines Anzeigenblatts „ein kleines Imperium“ geschaffen, aber zu Jahresbeginn 1998, so behauptet der Herausgeber, sei all sein Reichtum plötzlich zerronnen. Türmer habe vor Gläubigern und Steuerfahndern fliehen müssen und sei seither nicht wieder aufgetaucht. „Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf?“, fragt sich der Briefeschreiber Türmer einmal. „Ich könnte natürlich auch fragen, wie der liebe Gott in meinen Kopf kam. Das liefe auf dasselbe hinaus, wäre allerdings weniger auf die Besonderheit meines Sündenfalles gerichtet.“ Man ahnt schon: Gegen die Leiden des jungen Türmer (und genau das erweist sich im Laufe dieses sehr langen und doch ganz kurzweiligen Romans) helfen kein Geld und keine Religion, nicht die liebende Umarmung eines anderen Menschen und nicht die Abkehr vom Schriftstellerberuf infolge der Einsicht: „Man denkt, man hat eine Begabung, und versaut sich damit das Leben.“ Nein, es ist das Trugbild des goldenen Westens selbst, das diesem Mann das Leben vermurkst hat: Ruhe- und ruchlos jagt er einem leider völlig utopischen Märchenglück hinterher. Ein einziges Mal übrigens ringt sich der ewige Zweifler, Liebesverräter und Egoist Enrico Türmer zu einer annähernd heldenhaften Handlung durch. Kurz vor dem 9. November 1989 hält er eine Rede in der Martin-Luther-Kirche in Altenburg. „Wir haben uns das Pioniershalstuch umgebunden und das Lied von der Friedenstaube gesungen, als Panzer durch Budapest fuhren“, heißt es in dieser Selbstanklage eines zornigen Mannes. „Wir haben geweint und die Hände in den Schoß gelegt, als man uns einmauerte. Wir haben geschwiegen, als der Prager Frühling von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde.“ Zur Nationalhymne habe man sich folgsam erhoben, „obwohl wir am liebsten im Boden versunken wären“. So war das damals in Deutschland, in ferner Zeit. Der von der sozialistischen Diktatur befreite Enrico Türmer wird später sagen, er fühle sich „von der Weltgeschichte überrumpelt“. In der Kirche aber schließt er seine Rede mit solchen Sätzen wie: „Wir wollen nicht länger Schuld auf uns laden!“ Und: „Wir gehen jetzt auf die Straße! Das ist unser Land!“ Dann rumpelte die Weltgeschichte wirklich los. Es war Wahnsinn. Wolfgang Höbel 158
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Darstellerin Foster in „Flight Plan“
NOGASTRO / INTERFOTO
„Die Räder im Hirn drehen sich schneller“
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Muskeln brauche ich nicht“ Die zweifache Oscar-Preisträgerin Jodie Foster, 42, über ihren neuen Film „Flight Plan“, Altern in Hollywood und das Faszinierende an Leni Riefenstahl Plan“, der am 20. Oktober ins Kino kommt, spielt am Anfang in Berlin, Sie sprechen darin sogar Deutsch, der Regisseur Robert Schwentke stammt aus Stuttgart, und zudem planen Sie seit Jahren einen Film über Leni Riefenstahl. Beginnt nun die deutsche Phase Ihrer Karriere? Foster: Ich habe mein Deutsch jedenfalls intensiv trainiert. Ein paar Brocken waren noch aus meiner Kindheit übrig, denn meine Mutter hat mich damals oft mit in deutsche Filme genommen. „Flight Plan“ habe ich nicht zuletzt deshalb gemacht, weil mir Schwentke als Typ gefallen hat. Ich glaube, er besitzt jede Punk-Platte auf Vinyl. Er kann Szenen aus obskuren Filmen der zwanziger Jahre zitieren, sammelt Kochbücher und kennt sich sogar mit amerikanischen Weinen aus: ein richtiger Renaissance-Mann. Wenn jemand zuvor erst zwei Kinofilme gemacht hat wie er, ist es natürlich immer ein Risiko. Manchmal funktioniert es überhaupt nicht. Diesmal hat es geklappt: „Flight Plan“ ist im Moment der erfolgreichste Film in den USA. SPIEGEL: Sie spielen darin eine Mutter, Kyle Pratt, die auf einem Transatlantikflug verzweifelt nach ihrer verschwundenen Tochter sucht. Crew und Mitreisende behaupten, das Mädchen sei nie an Bord gewesen. Hat es Sie gereizt, eine Frau zu spielen, die allein gegen alle kämpfen muss? Foster: Ja, man sieht fast in Echtzeit zu, wie Kyle in sich zusammenfällt. Das fand Das Gespräch führte Redakteur Frank Hornig in Los Angeles.
ich spannend. Aber natürlich waren auch persönliche Gründe ausschlaggebend. Als Mutter fragt man sich ständig, was man tun würde, wenn das eigene Kind plötzlich weg wäre. SPIEGEL: Mutterschaft, Familie – sind das für Sie zentrale Begriffe? Foster: In meinen Filmen geht es immer um Psychologie, und Psychologie hat mit Familie zu tun. Auf den zweiten Blick schauen Sie in meiner Arbeit deshalb immer in Familienstrukturen. SPIEGEL: Hat „Flight Plan“ Sie zur Expertin für Verlustängste gemacht? Foster: Ich habe bei den Dreharbeiten einiges durchlitten. Tagelang musste ich so viel Kummer, Leid und Verzweiflung spielen. Das war anstrengend. Kyle hat ja nur am Anfang einen nüchtern-rationalen Blick
PETER TYM
SPIEGEL: Ms Foster, Ihr neuer Film „Flight
Star Foster
„Ich freue mich auf das Alter“ d e r
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auf die Welt. Sie ist Ingenieurin, entwirft Flugzeugdüsen, ist es gewohnt, dass sich alles nach ihren Vorgaben entwickelt. SPIEGEL: Doch dann stirbt ihr Mann in Berlin … Foster: … und sie behält trotzdem die Kontrolle und lässt keine Gefühle zu. Aber was soll sie auch machen? Wenn es einen Unfall gibt, wenn dein Leben auseinander bricht und du Kinder hast, kannst du nicht einfach auf dem Boden liegen bleiben. Du musst aufstehen, Kleider zusammensuchen, etwas zu essen finden. Doch dann passiert wieder etwas Furchtbares: Kyles Kind ist weg, vielleicht wurde es verletzt, vergewaltigt oder umgebracht. Und sie kann es nicht finden. Niemand hilft ihr, niemand glaubt ihr. Jeder an Bord kann der Entführer sein. Jetzt stellt sie alles in Frage, auch ihren eigenen Geisteszustand. SPIEGEL: Familienwerte spielen in der politischen Debatte Amerikas eine große Rolle. Feiert jetzt auch Hollywood wieder die klassische Lebensgemeinschaft? Foster: Diese Begriffe sind so aufgeladen, von der politischen Rechten derart in Beschlag genommen worden, dass ich sie lieber gar nicht diskutieren möchte. SPIEGEL: Die Mutter in „Flight Plan“ hat eine einfache Philosophie: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Das klingt ein bisschen … Foster: … wie die alte Rede von George W. Bush. Ich würde das aber nicht politisch deuten. In diesem Fall wird eine Mutter zur Löwin und reißt ohne Ansehen der Person alles nieder, um ihre Tochter zu retten. Meine Figuren sind nie weiße Ritter. Sie fallen ihren eigenen Fehlern zum Opfer – auch ihren rassistischen Vorurteilen. SPIEGEL: Im Film gibt es einen Konflikt zwischen weißen Passagieren und Arabern, die als Entführer verdächtigt werden. Foster: Es geht hier um Amerika nach dem 11. September 2001. Zwar ist unsere Lebenswelt sehr international geworden, aber wenn solche Anschläge passieren, fallen die Leute automatisch auf ihre Instinkte zurück. Dann suchen sie ihr Umfeld nach Rassenzugehörigkeit ab, dann schauen sie auf arabische Gesichter und beschuldigen sie. SPIEGEL: Ist es legitim, solche Gefühle zu entwickeln? Haben Sie Angst, wenn Sie eine Gruppe von Arabern beim Check-in sehen? Foster: Es liegt in der menschlichen Natur. Ich habe keine Lust, weichgespülte Personen zu spielen. Man kann nicht nur die angenehme und nette Seite der Leute zeigen, man muss auch ihre tiefverwurzelten schrecklichen Charakterzüge darstellen. SPIEGEL: Flugzeug-Thriller ohne Bezug auf die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon sind wahrscheinlich nicht mehr denkbar? 159
Kultur
Filmemacherin Riefenstahl*
„Sie hatte einen scharfen Verstand“ Foster: Der 11. September hat alles verändert. In Situationen wie in meinem Film würde jeder Passagier das ähnlich empfinden – vor allem, wenn er Amerikaner ist. SPIEGEL: Ihr letzter Thriller „Panic Room“ hat vor drei Jahren weltweit knapp 200 Millionen Dollar eingespielt. Ihre Darstellung in „Das Schweigen der Lämmer“ hat Ihnen einen Oscar gebracht, den zweiten Ihrer Karriere. Angst spielt in diesen Filmen offensichtlich die Hauptrolle. Liegen Ihnen Komödien nicht? Foster: Ich mag Thriller, ich liebe die Spannung, und ich spiele gern die Figur, die über zwei Stunden für Spannung sorgt. SPIEGEL: Sie sind zurzeit eine der kommerziell erfolgreichsten Schauspielerinnen Hollywoods – und die wichtigste im Thriller-Fach. Was machen Sie bei Action-Filmen anders als Ihre männlichen Kollegen? Foster: Ich versuche jedenfalls nicht, ihr Verhalten zu kopieren. Ich bin nur 162 Zentimeter groß. Mit einer Uzi und dicken Muskeln brauche ich also gar nicht aufzutauchen. Meine Heldinnen gehen gewöhnlich einen psychologischen Weg, so wie im „Schweigen der Lämmer“. Es geht nicht um mehr Kampfszenen, Verfolgungsjagden oder dergleichen. Bei meinen Heldinnen drehen sich die Räder im Gehirn einfach schneller. Sie müssen intellektuell kreativer sein, sonst schaffen sie es nicht. SPIEGEL: Warum haben Sie vor „Flight Plan“ drei Jahre lang keinen großen Film mehr gedreht? Foster: Ich habe zwei kleine Kinder. Um sie für eine Weile zu Hause zurückzulassen, brauche ich schon ein sehr spannendes Projekt. Ich bin die Mutter, die zu Hause sitzt und fragt: Wie war dein Tag? Ich stelle hohe Erwartungen an mich in meiner Elternrolle: Ich möchte Thanksgiving mit den beiden nicht verpassen. Ich will mit ihnen Halloween-Kostüme kaufen, ich will sie selbst zum Doktor bringen. SPIEGEL: Sie haben Ihre Karriere als sechsjähriger Kinderstar begonnen. Empfehlen Sie Ihren Söhnen den gleichen Weg? * 1936 in Berlin bei den Dreharbeiten zu ihren OlympiaFilmen „Fest der Schönheit“ und „Fest der Völker“.
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ge Leute ermutigen würde. Aber natürlich müssen sie selbst entscheiden. SPIEGEL: 1976 spielten Sie neben Robert De Niro eine minderjährige Prostituierte in Martin Scorseses Film „Taxi Driver“ – während einer der kreativsten Phasen im amerikanischen Kino. Trauern Sie dieser Zeit der großen, wagemutigen Filme nach? Foster: Manchmal schon. Ich lese ständig Drehbücher, aber ich finde nichts, was mich wirklich berührt. Es ist heute schwer, die richtige Kombination aus gutem Plot und passendem Regisseur zu finden. Ich werde unglücklich, wenn der Regisseur ein Schwachkopf ist. Daher achte ich inzwischen nicht mehr nur aufs Drehbuch, sondern wähle vor allem den richtigen Regisseur aus: einen, der sich um mich kümmert und für den ich durchs Feuer gehen würde. Zudem bin ich inzwischen 42, und für Frauen über 40 gibt es wenig Rollen. SPIEGEL: Kann Altern in Hollywood auch Vorteile bringen? Foster: Jede Menge! Ich muss mich zum Beispiel nicht mehr darum kümmern, wie ich aufs Cover von Hochglanzmagazinen komme. Und ich muss nicht mehr bestimmte Sachen anziehen, bloß weil es von mir erwartet wird. SPIEGEL: Kürzlich haben Sie irgendwo gesagt, dass Sie jetzt nicht mehr fürchten müssen, als Freundin von Tom Cruise besetzt zu werden. Foster: Dafür bin ich nun wirklich zu alt! Ich habe recht früh in meiner Karriere entschieden, dass ich nur zwei Arten von Filmen machen will. Entweder ich bin die Hauptperson und folglich nicht die Freundin oder Geliebte von irgendjemandem; oder es handelt sich um einen unabhängig produzierten Film, in dem es eine faszinie-
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KEYSTONE
Foster: Das ist kein Leben, zu dem ich jun-
Darstellerin Foster in „Taxi Driver“ (1976)
„Ich mag keine weichgespülten Figuren“ d e r
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rende Nebenrolle für mich gibt. Viele junge Schauspielerinnen machen aber genau das Gegenteil: Sie hängen sich an einen männlichen Star dran. Dann liegt die ganze Last für den Erfolg des Films auf seinen Schultern. SPIEGEL: Was planen Sie für die Zukunft? Foster: Ich freue mich schon jetzt darauf, eine alte Schauspielerin zu sein. Momentan, zwischen 40 und 55 oder 60, ist es ein schwieriges Alter. Aber danach möchte ich Rollen spielen wie Simone Signoret 1977 als gealterte Puffmutter in „Madame Rosa“. Ehrlich gesagt, ich sehe sonst niemanden, der von solchen Rollen träumt. SPIEGEL: Vorher wollen Sie ja noch das Leben von Leni Riefenstahl verfilmen. Was reizt Sie an einer Frau, die Hitlers Regime und die Nazi-Parteitage verherrlicht hat? Foster: Sie hatte einen ganz erstaunlichen Charakter. Ich finde sie gerade in ihren Widersprüchen faszinierend: Sie ist die am meisten bewunderte Regisseurin aller Zeiten – und zugleich wurde sie für ihre Zusammenarbeit mit den Nazis geschmäht wie kaum eine andere Künstlerin. SPIEGEL: Sie haben sie in hohem Alter kennen gelernt. Foster: Es war 15 Jahre vor ihrem Tod, sie versuchte, die Rechte an ihrer Autobiografie zu verkaufen. Wir haben erst telefoniert, dann haben wir uns getroffen. SPIEGEL: Haben Sie sie gemocht? Foster: Ja. Sie war sehr charmant. Und sie hatte bis zum Schluss einen scharfen Verstand. Unser Film wird sehr viel über Moral zu sagen haben. Die Leute werden aus dem Kino gehen, zwei Stunden darüber diskutieren und einander hassen, weil sie nicht der gleichen Meinung sind. SPIEGEL: Riefenstahl hat ihre Mitverantwortung für die Herrschaft der Nazis durch Propagandafilme wie „Triumph des Willens“ nie akzeptiert. Foster: Und sie hat sich kein einziges Mal entschuldigt. Ich bekomme gerade eine neue Drehbuchfassung, und ich werde die Rolle nicht spielen, wenn ich nicht glaube, dass man den Film rechtfertigen und verteidigen kann. SPIEGEL: Ist Hollywood mit seiner klaren Rollenaufteilung in Helden und Bösewichte denn der richtige Ort für ein Projekt wie dieses? Foster: Nein, deshalb wurde die Drehbuchentwicklung bislang ja in Deutschland finanziert. Wir hoffen wirklich, dass wir provokative Fragen aufwerfen können, ohne dieses in den USA übliche Schwarz-WeißSchema. Nehmen Sie zum Beispiel den Film „Der Untergang“. Zwei Stunden lang sieht man keinen Amerikaner, keinen Juden. Nur diese Bunkeratmosphäre mit Nazis, schlechten Nazis, guten Nazis, betrunkenen Nazis. Eine Momentaufnahme der letzten Tage des Regimes. Das war faszinierend. In Amerika wäre dieser Film niemals entstanden. SPIEGEL: Ms Foster, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Kultur
RELIQUIEN
Die doppelte Veronika Seit Jahrhunderten besitzt der Vatikan ein „Heiliges Schweißtuch“, das nicht von Menschenhand geschaffen sein soll und das Antlitz Christi zeigt – eine fromme Fälschung, sagen nun deutsche Forscher. Das echte Bild wollen sie in einem Abruzzenstädtchen aufgespürt haben.
CARLO LANNUTTI
„Mein Herr und mein Gott!“ Das sagte Kardinal Joachim Meisner, als er im Frühjahr zum ersten Mal dieses Bildnis sah. Dann bekreuzigte sich der Kölner Erzbischof und kniete nieder. Schwester Blandina knipst einen Schalter an. Das Bild verschwindet, als der Hintergrund sich erhellt, als wäre es auf spinnwebfeine Seide gemalt. „Wir haben mikroskopische Aufnahmen gemacht“, flüstert die Nonne. „Es sind keine Farbspuren zu sehen.“ Das kann nicht sein. „Doch. Dieses Bild ist nicht gemalt“, sagt sie. „Nicht von Menschenhand.“ Die Suche nach dem wahren Bild Christi hat die frühe Kunst im Abendland bestimmt. Wie soll das Nicht-Darstellbare dargestellt werden? Und: Hatte Jesus einen Bart? Einer kleinen Gruppe hochverehrter Bilder wurde nachgesagt, aus dem Umfeld des historischen Jesus zu kommen. Die beiden wichtigsten sind das Grabtuch in Turin und das „Schweißtuch der Veronika“ – ein sonderbar durchscheinendes Gewebe, das bis vor 400 Jahren in Rom regelmäßig den Gläubigen gezeigt wurde. Doch seither nur noch kurz und stets aus großer Ferne. Die Kirche von Manoppello liegt wenige Kilometer abseits der Autobahn von Rom nach Pescara. Es ist ein abgelegener Ort. Hier in den Abruzzen wusste man schon länger von dem rätselhaften Tuch in Manoppello. Es war eines jener Wunderdinge, die sich im Lauf der Jahrhunderte in den Bergen verfangen hatten. Ein Dorf weiter wird ein Herzmuskel verehrt, der Blutgruppe AB. Doch seit in der Zeitung stand, in Manoppello habe eine Zisterzienser-Nonne womöglich das Sudarium, das wirkliche Schweißtuch der Veronika identifiziert, kommen die Pilger in Busladungen zur Kirche hinauf. Die drei zuständigen Kapuziner müssen Schichtdienste organisieren, um den Pilgern die Reliquie zu erklären. Es
Angebliches „Schweißtuch der Veronika“ (in Manoppello): Hatte Jesus einen Bart?
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ür eine Zisterzienserin der strengeren Observanz ist Schwester Blandina von erstaunlicher Redseligkeit. Ihr Schweigegelübde hat dem Ereignis nicht lange standgehalten. „Sehen Sie es?“ Die Einsiedlerin Blandina Schlömer – 1943 geboren in Böhmen, aufgewachsen im Ruhrgebiet – sitzt in der Wallfahrtskirche von Manoppello. Sie flüstert schnell und im Ruhrpottklang von „Kongruenzen mit dem Nowgorod-Mandylion“, vom Turiner Grabtuch und von Muschelseide aus dem Meer. Von Haus aus sei sie übrigens Pharmazeutin und male Ikonen. „Sehen Sie es?“
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Über dem Tabernakel im Altarraum steht eine silberne Monstranz, darin ein vergoldeter Rahmen und darin wiederum: nichts. Nur eine Trübung. Eine Art milchiger Schleier. Erst aus der Nähe zeigt sich plötzlich ein Gesicht. Offenbar gemalt auf ein hauchfeines Gespinst. Bei bestimmtem Licht scheint es im Rahmen zu schweben wie ein Hologramm. Aber es ist, laut Inschrift, 400 Jahre alt, mindestens. Das Bild zeigt einen bärtigen Mann mit weit aufgerissenen Augen und anscheinend gebrochener Nase, die Lippen wie mit einem Kajalstift gezeichnet und der Mund leicht geöffnet, als wolle er etwas sagen. d e r
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CARLO LANNUTTI
sei, sagen sie dann, das „Bild der Bilder“. Da bekreuzigen sich die Leute. Seit dem 6. Jahrhundert gibt es Berichte über ein Tuch mit dem Gesicht Jesu. Es sei „nicht von Menschenhand gemalt“ und „aus dem Wasser gezogen“, wie es in der frühesten Quelle aus Syrien heißt. Auf dem Weg nach Golgatha sei Jesus, so die apokryphen Erzählungen, von einer Frau ein Tuch gereicht worden, auf dem sich auf wunderbare Weise sein Gesicht fixiert habe. Das Mittelalter verehrte die heilige Veronika als jene Mitleidende, der Jesus sein wahres Gesicht (lateinisch: „vera icon“) geschenkt habe. Die Reliquie wurde in Konstantinopel aufbewahrt. Um 700 gelangte sie nach Rom und wurde dort – durchscheinend, von „keinen Weberhänden“ gewirkt und von „keines Malers Farbe gefärbt“ – zum populärsten Schaustück der Stadt. Das Tuch der Veronika bildete den entscheidenden und abschließenden Moment der Pilgerreise zum Grab Petri. Petrarca schrieb ein Sonett, Dante etliche Verse über das „gesegnete Bild, Abdruck von seinem herrlichen Antlitz“. Im Stierkampf ist die „Veronika“ noch heute die kunstvollste Figur. Sie raubt dem Stier den Willen. Er verliert sein Gesicht. 1506 wurde mit dem Bau des heutigen Petersdoms begonnen. Den Grundstein legte man genau unter den geplanten „Veronika-Pfeiler“, den sichersten Tresor für die kostbarste aller Reliquien. Die Bauarbeiten dauerten ein Jahrhundert. 1601 wurde der Schleier der Veronika zum letzten Mal öffentlich gezeigt, und wenige Jahre später wurde das Veronika-Oratorium eingerissen: Die Reliquie hätte in ihren Pfeiler einziehen können. Wenn sie denn noch da gewesen wäre. Genau das bezweifelt aber der deutsche Jesuit Heinrich Pfeiffer, Kunsthistoriker an der päpstlichen Universität Gregoriana in
Wallfahrtsort Manoppello: Schichtdienst, um die Reliquie zu erklären
Rom. „Das alte Tuch der Veronika muss aus Rom verschwunden sein, vor über 400 Jahren schon“, sagt Pfeiffer. Nach seiner Theorie wurde das wahre Tuchbild bei den Umbauarbeiten entwendet und gelangte nach Manoppello. Pfeiffer kennt alle Quellen, die in irgendeiner Weise mit Urbildern Christi, Grabtüchern, Mandylien zu tun haben. Mitte der Achtziger bekam Pfeiffer Post von einer Zisterzienserin namens Blandina, die überzeugt war, in Manoppello eine Entdeckung gemacht zu haben. Pfeiffer glaubte kein Wort. Er fuhr nach Manoppello, erblickte im Rahmen „eine rechteckige Hostie“ und ist seither überzeugt, das wahre Veronika-Bild gefunden zu haben. Im „Veronika-Pfeiler“ des Petersdoms, so Pfeiffer, würde seit mehr als 400 Jahren ein Ersatz aufbewahrt, „eine mehr oder weniger kostbare oder billige Attrappe“. Zu peinlich wäre es für den Kirchenstaat gewesen, sich eine der wichtigsten Reliquien der Christenheit einfach klauen zu lassen. Und schlecht fürs Geschäft.
Bei Strafe der Exkommunikation ließ Papst Urban VIII. alle Bilder mit dem Tuchmotiv im Kirchenstaat einsammeln und verbrennen. Als sollte keine Erinnerung mehr bleiben. Die Gläubigen haben ihr Tuch der Veronika seither nur noch aus sehr großer Entfernung zu sehen bekommen, an jedem fünften Sonntag der Fastenzeit. Es gibt kein brauchbares Foto der Reliquie. Der einzige Nicht-Geistliche, der sie in letzter Zeit aus der Nähe begutachten durfte, ist der deutsche Vatikanist und Autor Paul Badde: „Es ist ein fleckiger grauschmutziger Stoff ohne jede Kontur und ohne Bildspuren“, sagt er. „Diese Veronika ist nie durchsichtig gewesen. Für sie hätte man auch keinen nach beiden Seiten offenen Rahmen gebraucht.“ Denn in der Schatzkammer hinter der Sakristei des Petersdoms wird – gleich neben einer antiken Folterzange – ein feingeschnitzter Bilderrahmen mit zerbrochener Kristallscheibe ausgestellt: die Originalschatulle des Veronika-Bildes. „Hier passt das Tuchbild von Manoppello exakt
PAUL BADDE
Veronika-Bild (im Petersdom in Rom): Fleckiger Stoff ohne jede Kontur
hinein“, sagt Badde. „Die angebliche Veronika im Pfeiler des Petersdoms dagegen ist viel zu groß.“ Schwester Blandinas Einsiedelei steht oberhalb der Kirche von Manoppello unter einem Feigenbaum. Die beiden gemieteten Zimmer sind angefüllt mit Vergrößerungen, Mikrostudien des Schleierbilds und selbstgemalten Ikonen. „Ich habe genau nachgemessen“, sagt sie. „Das Tuchbild in Manoppello entspricht genau den Proportionen des Turiner Christusgesichts.“ Bisher gibt es keine wissenschaftliche Untersuchung des Stoffes. Die Kapuzinermönche weigern sich, das Tuch aus der Monstranz herauszunehmen, aus Angst, es könnte sich in Luft auflösen. „Schon einmal“, sagt Bruder Carmine, „ist das Gesicht verschwunden, als man 1703 den Holzrahmen austauschen wollte.“ Erst als man das Tuch wieder in den alten Rahmen gespannt und lange genug gebetet habe, sei es wieder erschienen. Das Gespinst sei, so die deutschen Tuchforscher, zu fein, um Seide sein zu können.
„Seide lässt sich nicht derart bemalen, dass das Bild bei bestimmtem Licht praktisch verschwindet“, sagt Badde. Er vermutet, dass es sich bei dem Stoff um Byssus, um Muschelseide handeln könnte: „Nur Byssus ist auf diese irisierende Weise lichtdurchlässig.“ Die gesponnenen Ankerfäden der Edlen Steckmuschel (Pinna nobilis) wurden in der Antike zu Stoffen gewebt, weicher als Kaschmir, durchscheinend und kaum bezahlbar. Im Alten Testament wird Byssus des Öfteren erwähnt, so im 2. Mose 25,4, wo Gott neben Delphinhäuten und Gold auch „Karmesinstoff, Byssus und Ziegenhaar“ als Opfergabe verlangt. Ist in dem Abruzzenstädtchen also eine der wichtigsten Reliquien des Katholizismus wiederentdeckt worden? Badde hat über die Schatzsuche einen mitreißend verschlungenen Dan-Brown-Kulturkrimi geschrieben*. Der Kunstgeschichtler * Paul Badde: „Das Muschelseidentuch. Auf der Suche nach dem wahren Antlitz Jesu“. Ullstein Verlag, Berlin; 304 Seiten; 22 Euro.
Heinrich Pfeiffer ist inzwischen zum Ehrenbürger Manoppellos ernannt worden. Allerdings behalten sich die Einwohner eine eigene Datierung vor: Ein als Pilger verkleideter Engel habe an einem Sonntagmorgen des Jahres 1506 beim Doktor Leonelli an die Tür geklopft und ein Paket abgegeben. Für Schwester Blandina ist das jedoch eine Zwecklegende. Die Überlieferung hält den Verdacht des Diebstahls vom Dorf fern: Wer 1506 schon das Bild besaß, kann es nicht hundert Jahre später von einem Reliquienräuber bekommen haben. Demonstrativ bereitet Manoppello die 500-Jahr-Feier im nächsten Jahr vor. Denn gleichzeitig ist der Vatikan aufmerksam geworden. Der Kurie liegen die Untersuchungen der deutschen Forscher vor, und es gibt Hinweise, dass die These eines zweiten, womöglich älteren Veronika-Tuchs nicht für völlig abwegig gehalten wird. So ließ sich Anfang April der Kölner Erzbischof Kardinal Meisner eigens für einen Tag kurz vor dem Konklave beurlauben, um nach Manoppello fahren zu können. Nachdem er stumm niedergekniet war, gab Schwester Blandina ihm ein Büschel Muschelseide. Dann fuhr Meisner zurück nach Rom, um seinem Freund, dem Kardinaldekan, von dem Fund zu erzählen. Der hörte aufmerksam zu. Und jetzt sitzt in einem abgelegenen Ort in den Abruzzen jeden Mittwoch eine Zisterzienserin der strengeren Observanz vor ihrem Radio und verfolgt, wie in jeder der Ansprachen des Papstes Benedikt XVI. vom „Angesicht Gottes“ die Rede ist. „Sehen Sie?“
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Alexander Smoltczyk
Kultur
FERNSEHEN
„Ihr Lieben!“ Joachim Lottmann über Elke Heidenreichs Büchersendung „Lesen!“ und ihre Geschmacksdiktatur im Literaturbetrieb
hre Ahnen müssen Missionare in Afrika gewesen sein, die den Kindern im Busch Lesen und Schreiben beibrachten. Damit sie die Bibel lesen konnten. Elke Heidenreich missioniert die Deutschen seit 17 Folgen zum „Lesen!“, und aus den Büchern strömt das Heil. Sie ist vielleicht (nach Ratzinger) die letzte Deutsche, die noch etwas will. Die Merkel will nur dienen, doch Elke will die Revolution: Bücher an die Macht! Sie sitzt in der Maske und wird für den Auftritt geschminkt. Die schöne brokatgoldene Kostümjacke tauscht sie gegen ein sehr einfaches T-Shirt, die vollen Haare werden verwüstet und ausgedünnt. Am Ende sieht sie wieder aus wie die Hausfrau aus WanneEickel. Die Menschen mögen sie so. Die Desperate Housewife von nebenan, die kein Fremdwort benutzt und trotzdem Robert Musil erklären kann. In dieser Sendung erklärt sie ein Meisterwerk von Lampedusa, „Der Gattopardo“, prächtiger und überwältigender als jeder Thomas Mann, und wenn es stimmt, dass Millionen Frauen Elkes Sendung zum sofortigen Kauf und Konsum ihrer Empfehlungen nutzen, müsste das Land schlagartig um zehn Prozent klüger werden, jedes Mal. Journalistin Heidenreich: Bücher an die Macht Ein alter Zausel, Typ Colonel Custer kurz nach Little Bighorn, steckt seinen Kopf in die Kabine, ruft mit erstickender Stimme: „Erzähl dem nix!“ Gemeint ist der Reporter. „Warum denn nicht?“, fragt die Heidenreich und winkt ihn weg. Seine Augen flackern vor Angst. Dann schließt er die Tür. Ein bisschen alt ist die Sendung vielleicht. Legionen von graubärtigen, schwarze ausgeleierte Cordhosen tragenden Kabel-, Skriptund Tonträgern schleichen auf leisen Sohlen umher. Nie sieht man auch nur ein Fitzelchen von Jugend, und wenn doch, dann Moderatorin Heidenreich, Gast di Lorenzo: Fein und glatt 166
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haben die „Kids“ überlange Baseball-Kappen auf und tragen diesen ängstlich-pflichtschuldigen „Wir machen euch die Jugend, wir tun alles für euch, genau wie ihr es wollt“-Gesichtsausdruck. Da tut es gut, als plötzlich ein echter junger Mann backstage auftaucht: Giovanni di Lorenzo. „Danke, Don Giovanni!“, sagt die Moderatorin beglückt. Es ist ein lupenreiner Freudscher Versprecher. Sie wollte sagen:
ZDF
Lottmann, 49, ist Schriftsteller und veröffentlichte zuletzt „Die Jugend von heute“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch). Er lebt in Köln und Berlin.
Kultur „Hi, Giovanni di Lorenzo.“ Und sie ge- viel Medienmacht. Beide sind Einzelsteht: Er sei ein so wunderschöner, so klu- kämpfer, die sich nirgendwo angedockt ger, so gebildeter Mann! Der sieht den Re- haben, die immer schlecht waren im Kunporter, gibt ihm freudig die Hand, glaubt geln, im Miteinanderkönnen, im Weißihn zu erkennen: „Ah, Wim Wenders!“ weinsaufen mit Kollegen und Trägern der Auch das nicht ganz richtig. Di Lorenzo Macht. ist Ehrengast der Sendung und wirklich so wahnsinnig nett und wunderbar glatt wie im Fernsehen. Elkes Komplimente erträgt er mit engelhaftem Lächeln, bis alle in ihn verliebt sind. Leise sagt er, es sei schwer für Belletristik ihn gewesen zu kommen, da gerade Pro1 (–) Joanne K. Rowling Harry Potter duktionstag sei. Er ist Chefredakteur der und der Halbblutprinz Carlsen; 22,50 Euro „Zeit“. Viele Jahre wurde ihm dieser Posten angeboten, meldet das Munzinger2 (1) Diana Gabaldon Ein Hauch von Archiv. Man ahnt, wie glücklich alle waren, Schnee und Asche Blanvalet; 24,90 Euro als er dem jahrelangen Drängen endlich seufzend nachgab. 3 (2) Dan Brown Sakrileg Die Visagistin versucht gar nicht erst, Lübbe; 19,90 Euro ihn zu schminken – man kann ihn nicht verschönern. Die tolle Figur, der perfekt 4 (3) Ken Follett Eisfieber sitzende teure Anzug, das volle, gekonnt Lübbe; 22,90 Euro geölte Lockenhaar: Er kann direkt vor die 5 (5) Susanne Fröhlich Familienpackung Kamera. Und da, im gleißenden Licht, vor der Märchendekoration der Kölner KinderW. Krüger; 16,90 Euro oper, unter goldenen Sternen auf nacht6 (11) Frank Schätzing Der Schwarm blauem Stoff, sagt er auf Anhieb und ohne Kiepenheuer & Witsch; 24,90 Euro ein einziges „äh“ sofort so erstaunlich kluge Sachen auf so feine, anstrengungslose 7 (6) Dan Brown Diabolus Weise, so soft, so hingestreut, dass einem Lübbe; 19,90 Euro heiß und kalt wird. Es sind keine wirklich neuen Gedanken, aber wie gebildet muss 8 (8) Jan Weiler Antonio im Wunderland dieser wunderbare Mann sein! Die ZuKindler; 16,90 Euro schauer, alle hübsch im Rentenalter, unter größten Schmerzen auf den Kinderbänken 9 (4) François Lelord Hectors Reise sitzend, danken es ihm später mit ehrliPiper; 16,90 Euro chem Geklatsche. Heidenreich, von vielen Puristen belä10 (13) Jilliane Hoffman Morpheus chelt, als sie loslegte, ist ein Phänomen. Wunderlich; 19,90 Euro Nur 30 Minuten gibt das ZDF der Sendung, und die zu nachtschlafender Zeit, 11 (7) Rebecca Gablé Der Hüter der Rose der Mitternacht entgegenhetzend und -heEhrenwirth; 24,90 Euro chelnd, und das auch nur alle 12 (9) Nicholas Sparks Die Nähe des paar Wochen. Für neue Telenovelas werden Millionen Himmels Heyne; 19,90 Euro lockergemacht und täglich 13 (–) Daniel Kehlmann Die Vermessung zig neue Sendeplätze. „Leder Welt Rowohlt; 19,90 Euro sen!“ dagegen ist fast die einzige, die letzte Sendung 14 (–) Joanne K. Rowling Harry Potter für Bücher. Außer ihr treibt und der Orden des Phönix noch ein Guerillero namens Carlsen; 28,50 Euro Denis Scheck irgendwo in noch tieferer Nacht sein UnEin hintergrün15 (15) Kate Mosse Das verlorene diges Spiel mit wesen. Seine Quote soll aber Dichtung und Labyrinth Droemer; 22,90 Euro so niedrig sein, dass sie selbst Wahrheiten mit allerneuesten Geräten über das Leben 16 (–) Mary Higgins Clark Hab acht auf zweier deutnicht mehr messbar ist. meine Schritte Heyne; 19,90 Euro scher Genies Bleibt also nur die Heidenreich. Prompt muss sie 17 (19) Nick Hornby A Long Way Down mit dem Vorwurf leben, ein Monopol in Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro Sachen Literaturvermarktung zu besitzen. Also Macht. Viel zu viel Macht. Macht ist 18 (14) Cecelia Ahern Für immer vielleicht schlecht. Fast jedes Buch, das sie empfiehlt, W. Krüger; 16,90 Euro wird ein Bestseller. Ein langweiliger, nerviger Vorwurf, mit dem schon die Vorgän19 (16) Julian Barnes Der Zitronentisch gersendung „Das literarische Quartett“ Kiepenheuer & Witsch; 18,90 Euro leben musste. 20 (–) Leonie Swann Glennkill Tatsächlich haben aber weder Elke Heidenreich noch Marcel Reich-Ranicki Goldmann; 17,90 Euro
Bestseller
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dem eigenen Geschmack. Kein Einflüsterer hätte bei ihr eine Chance, sein Buch gewürdigt zu kriegen. Außer di Lorenzo vielleicht, was aber jeder verstehen würde. Als letzte bekennende 68er-Frau weiß sie, dass es Macht an sich nicht gibt, nur „Macht für oder gegen die Arbeiterklasse“. Für wen Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachalso hat sie ihre Macht? „Für die Bücher!“, magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlruft sie todernst. Man muss sie lieben. kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Auch weil sie etwas Zartes und Mädchenhaftes hat in ihrer antiautoritären HalSachbücher tung. Da sitzt ein verletzliches, unendlich 1 (1) Corinne Hofmann Wiedersehen auf die Erwachsenen neugieriges Kind, das in Barsaloi A 1; 19,80 Euro über den Umweg Bücher alle noch viel besser kennen lernen möchte. Ein Pumuckl 2 (2) Peter Hahne Schluss mit lustig mit lustiger Lesebrille. Was das für eine Johannis; 9,95 Euro ist, die Elke Heidenreich, beweist sich in 3 (3) Markus Breitscheidel Abgezockt den langen Pausen, in denen sie das Publikum mit aktuellen Anekdoten aus ihrem und totgepflegt Econ; 16,95 Euro Alltag unterhält. Sie ist da (noch) besser, 4 (–) Ben Schott Schotts Sammelsurium verbindlicher und geduldiger als in der Essen & Trinken Bloomsbury Berlin; 16 Euro Sendung. Elkes Antwort auf den ewigen Macht5 (10) Jörg Blech Heillose Medizin missbrauchsvorwurf ist die Verbreiterung S. Fischer; 17,90 Euro des Angebots. Sie empfiehlt nicht vier 6 (5) Meinhard Miegel Epochenwende Bücher, sondern acht, manchmal sogar zwölf. Diesmal vor allem den neuen Uwe Propyläen; 22 Euro Timm („Der Freund und der Fremde“) 7 (9) Reinhard Mey / Bernd Schroeder über die Freundschaft Uwe Timms mit Was ich noch zu sagen hätte Benno Ohnesorg sowie Daniel Kehlmann, Kiepenheuer & Witsch; 18,90 Euro Cees Nooteboom und noch einige andere. Sie schafft das, indem sie die Sendung so 8 (6) Ben Schott Schotts Sammelsurium schnell macht wie einst Hänschen RosenBloomsbury Berlin; 16 Euro thal sein „Dalli Dalli“-Ratespiel. Schnell, aber nie hektisch. Und sie schafft das, in9 (4) Sabine Kuegler Dschungelkind dem sie sehr persönlich spricht. Droemer; 19,90 Euro Die Sendung ist ganz gut für Leute, die 10 (7) Eva-Maria Zurhorst arbeiten und keine Zeit haben, stundenlang Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro in der Buchhandlung zu stehen. Nach 17 Sendungen ist sie selbstverständlich etwas 11 (8) Inge Jens / Walter Jens mainstreamig geworden. Das „Hallo MäKatias Mutter Rowohlt; 19,90 Euro dels, das ist was für euch!“ kommt ihr nicht mehr über die Lippen. Kaum noch Umar12 (12) Werner Tiki Küstenmacher / mungen vor laufender Kamera mit GesinLothar J. Seiwert nungsschwestern, überhaupt: Der ganze Simplify your life Campus; 19,90 Euro ausgestellte Feminismus steht heute da 13 (13) Uwe Timm Der Freund und der wie ein Missverständnis. Zur Merkel-Kanzlerschaft nur ein Fremde Kiepenheuer & Witsch; 16,90 Euro Zornesausbruch: „Lieber wei14 (–) Michael Jürgs Der Tag danach ter noch hundert Jahre MänC. Bertelsmann; 19,90 Euro ner als die da.“ Nein, es geht ihr einzig um Bücher, um das 15 (–) Jung Chang / Jon Halliday Mao massenweise Lesen derselBlessing; 34 Euro ben. Aber das herzliche „Ihr 16 (14) Alexander von Schönburg Lieben!“ sagt sie weiterhin. Und fürs Verschrobene gibt Die Kunst des stilvollen Verarmens es ja auch immer noch diesen Rowohlt Berlin; 17,90 Euro Berichte über anderen, den man ständig den plötzlichen 17 (15) Ayaan Hirsi Ali Ich klage an Verlust von verpasst, Denis Scheck. EinLiebe, GesundPiper; 13,90 Euro mal stritten sie sich eine halheit oder Macht be Nacht lang über ein Buch 18 (–) Christian Ankowitsch und wurden sich nicht einig. Dr. Ankowitschs Kleines Daraufhin verherrlichte es Elke in „LeUniversal-Handbuch Eichborn; 14,95 Euro sen!“, und Scheck warf es in seiner eigenen Sendung demonstrativ in eine vor die 19 (–) Soname Yangchen Wolkenkind Kamera gestellte Mülltonne. Ob sie ihm Droemer; 19,90 Euro vergäbe, wenn er sich entschuldigte? „Ver20 (11) Lothar Seiwert Die Bären-Strategie geben, das?! Ein Buch in die Mülltonne zu werfen ist unverzeihlich.“ ™ Ariston; 14,95 Euro Reich-Ranicki schreibt es selbst in seiner Biografie, und es ist nur zu wahr: Er ist ein Außenseiter. Auf Elke Heidenreich trifft das strukturell noch mehr zu. Und so ist auch der häufigste Vorwurf, den man ihr macht, das ausschließliche Beharren auf
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Kultur Sänger Williams
YUI MOK / PA / EMPICS
Witz, Wahnsinn und Charme
POP
Das Lächeln des Siegers Ende des Monats erscheint Robbie Williams’ neues Album „Intensive Care“ – zur Einstimmung trat der Musiker bei ein paar Konzerten schon mal vors Publikum.
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s roch nach viel Parfüm, viel Schweiß (und also nach Dorfdisco), und es klang wie zu besten Zeiten der Beatlemania – sehr laut, sehr bedrohlich –, als Robbie Williams am frühen Abend des vorvergangenen Samstags auf die Bühne des Londoner Astoria tanzte. Das Konzerthaus, ein Steinwurf von der Oxford Street entfernt, ist alt und ehrwürdig und wahrscheinlich nicht viel größer als die Garage für Williams’ Motorradsammlung daheim in den kalifornischen Hollywood Hills. In T-Shirt und Jeans, mit dunklem Ledersakko und einem hämischen Grinsen im Gesicht, postierte sich der Star am Bühnenrand und sang zur Begrüßung: „Here I 170
stand, victorious, the only ever man to make you come.“ Es folgte ein absolut hysterischer Applaus. Vorhang auf für Robbie Williams, den lustigsten Egomanen des Pop-Geschäfts: Ende Oktober bringt er sein sechstes Studio-Album, „Intensive Care“, heraus – und das gilt vorab als wichtigstes PopEreignis der Saison. Angeheizt wurde die Stimmung mit vier ziemlich exklusiven Konzerten, in Paris, London, Amsterdam und zuletzt in Berlin; um die wenigen Tickets lieferten sich die Fans seit Monaten wilde Bietergefechte im Internet. Hier in London hatten es viele ansehnliche junge Menschen geschafft hineinzukommen. „So viele Schönheiten auf einen d e r
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Haufen habe ich noch nie gesehen“, schmeichelte der Entertainer. Na ja: Man sah viele sehr blonde Frauen, oft flankiert von Bürschchen, die wie gutverdienende Fußballer mit zu viel Gel im Haar auftraten. Die nicht ganz so attraktiven und glücklichen unter den Zuschauern, die eher nach „Big Brother“ aussahen, verdankten ihre Anwesenheit womöglich einer Verlosungsaktion von Williams’ neuem Werbepartner T-Mobile. Ein Mädchen namens Liz, stark geschminkt und von Beruf Werbetexterin, behauptete, vor der Tür 600 Euro für ihr Ticket bezahlt zu haben. Ein zerzauster junger Kerl namens Brett hatte viel weniger bezahlt, dafür aber zwei Tage im Nieselregen vor dem Astoria kampiert. Zur Belohnung wurde er vom Star des Abends persönlich begrüßt: „Mein Manager hat mir ein Foto von dir gezeigt, Brett, ich hoffe, dass sich der Aufwand für dich gelohnt hat“, sagte Williams und strich dem in der ersten Reihe stehenden Knaben über den Kopf. Der grinste und zuckte die Schultern. „Zumindest versäumst du nichts im Fernsehen; ich habe ins Programm geschaut und kann dir versichern: Da läuft nur Dreck.“ Tosender Applaus. Robbie Williams ist ein anständiger Sänger und hat viel Gespür für Melodien, vor allem aber ist er ein überragender Entertainer. Er besitzt Witz, Wahnsinn und Charme. Er ist eher Dean Martin als Bono, mehr Elvis als Paul McCartney – und schafft es, die Zuhörer wirklich zu überzeugen, wenn er wie an diesem Abend vor 2000 Menschen ins Mikrofon flötet, dass dieses Konzert einzigartig sei und jedes spätere „Mist im Vergleich zu dieser Nacht“ sein werde. Trotzdem ist ihm der Druck anzumerken. Es ist nicht leicht, die Nummer eins zumindest unter Europas Pop-Helden zu sein – und zu bleiben. Vor drei Jahren, also vor Erscheinen seines bislang letzten Albums, „Escapology“, hat Williams einen umfangreichen Vertrag abgeschlossen, für den er angeblich 80 Millionen britische Pfund erhielt. Als Gegenleistung hat er Hits, Hits und noch mal Hits zu liefern und auf möglichst triumphale Tourneen zu gehen. Williams aber verblüffte die Branche etwa zu jener Zeit damit, dass er seinem altbewährten Co-Autor Guy Chambers,
MARTIN ARGLES / THE GUARDIAN
Songwriter Duffy: Ein Hochbegabter mit schlechtem Gefühl für Karriere-Timing
der an Gassenhauern wie „Angels“ oder „Feel“ beteiligt war, die Freundschaft und Zusammenarbeit aufkündigte. Dafür holte er einen Ersatzmann an Bord, der bis dahin kommerziell ungefähr so erfolgreich war wie der FC St. Pauli im Fußballgeschäft. Stephen Duffy heißt der Mann. Ein Hochbegabter, der sich mit seiner FolkPop-Band The Lilac Time als Dauergeheimtipp etabliert hat. Leider ließ sein Karriere-Timing immer zu wünschen übrig.
Er gehörte zu den Gründern von Duran Duran, stieg aber aus, bevor sie berühmt wurden. Wenig später lehnte er es ab, Lieder für eine Nachwuchskünstlerin namens Madonna zu schreiben. Ein widersprüchlicher Kerl. Nun ist auch das Album, das er mit Robbie Williams in den vergangenen zwei Jahren geschrieben hat, ein höchst ungewöhnliches Werk geworden. Auf den aktuellen Robbie-Williams-FanT-Shirts steht vorn „Inspired“ und hinten
„Insane“ geschrieben. Inspiriert und irre klingen auch die zwölf Songs, die auf dem Album geboten werden. Es gibt das zackige Elektro-Rock-Stück „Sin Sin Sin“, einen Rolling-Stones-ähnlichen Krawallsong namens „A Place to Crash“ und eine Wunderkerzen-Weihnachtsballade mit dem Titel „Advertising Space“. Die erste Single ist die wundersam futuristische ReggaeNummer „Tripping“ und entwickelt sich offenbar zum erwarteten Renner. Alles andere wäre aber auch eine Katastrophe: Mit dem durchaus anspruchsvollen Album leitet Williams so etwas wie die zweite Phase seiner Karriere ein. Der 31Jährige möchte endlich als Künstler richtig ernst genommen werden. So platzte er neulich in eine Runde britischer Journalisten, die gerade unter strengen Sicherheitsvorkehrungen das neue Album zu hören bekamen, und konfrontierte die Anwesenden mit ihren WilliamsRezensionen der vergangenen Jahre. Die meisten Artikel, die er dabei in der Hand schwenkte, waren Verrisse. „Was mich am meisten ärgert, ist, dass die Leute glauben, irgendein Mr Big würde bei mir stets im Hintergrund die Strippen ziehen“, zeterte Williams, „als ob ich nichts mit dem Entstehen meiner Lieder zu tun hätte.“ Aufgewachsen im britischen Stoke-onTrent, landete Williams als Teenager dank einer Zeitungsannonce bei der Boygroup
LIVE 8 / GETTY IMAGES
Kultur
Musiker Williams bei einem Konzert (in London): Zweite Phase der Karriere gestartet
Take That. Nach diversen Triumphen wurde er dort wegen schlechten Benehmens und Drogenkonsums wieder vor die Tür gesetzt. Als Solokünstler hat Williams seitdem über 35 Millionen Tonträger verkauft und im Studio mit Schönheiten wie Kylie Minogue und Nicole Kidman geträllert. Trotz der opulenten, unter seiner Mitwirkung entstandenen Biografie „Feel“ ist Williams bis heute umwabert von zahlreichen Gerüchten. Er lebt seit einigen Jahren
im freiwilligen Exil in den Millionärshügeln von Hollywood, wartet bis heute vergebens auf seinen Durchbruch auf dem USPop-Markt – sein neues Album wird sogar bis auf weiteres gar nicht in Nordamerika veröffentlicht. „Ich wäre doch verrückt, wenn ich mir den ganzen Trubel an den letzten Ort holen würde, an dem ich noch unbehelligt über die Straße gehen kann“, behauptet Williams, ohne mit der Wimper zu zucken.
Auch so lauern jede Menge europäische Paparazzi in den Bäumen um sein Anwesen; aber ein wirklich interessanter Blick hinter die Mauern ist bisher noch keinem gelungen. So sprudeln die Gerüchte. Nonstop werden ihm neue Frauengeschichten nachgesagt. Angeblich prahlte der Sänger damit, vier von fünf Spice Girls verführt zu haben – was immerhin zwei davon abstritten. Klatschreportern gilt die amerikanische Schuhdesignerin Tamara Mellon als Williams’ aktuelle Freundin; die jahrelang kolportierten Enthüllungsgeschichten vor allem britischer Medien, dass er in Wahrheit mehr an Männern interessiert sei, hat Williams zuletzt sogar mit drastischen Mitteln dementiert – ein Magazin musste sich entschuldigen, weil es behauptet hatte, der Sänger habe sich in der Vergangenheit auf Herrentoiletten herumgetrieben. Im Saal des Londoner Astoria jedenfalls kreischten die jungen Frauen nach Herzenslust, und nachdem Williams endlich die letzte Nummer zum Besten gegeben hatte, versicherte Sarah, eine nicht mehr ganz frische Blondine aus Richmond, sie werde sich im Internet nach Tickets für die Williams-Tournee des kommenden Jahres umtun: „Ob er schwul ist oder nicht, ist mir wirklich egal“, sagte sie, „er ist auf jeden Fall der Größte.“ Christoph Dallach
„Goya“-Warteschlange in Berlin
Kunstverrückt und linientreu
MARKUS WÄCHTER / WAECHTER
Münchner haben etwas Gigantisches auf die Beine gestellt und uns bei der Vermarktung klugerweise einiges abgeschaut. Jeder Zirkus braucht Werbung, jede Ausstellung braucht sie auch.“ In Berlin wurde eine Werbeagentur beauftragt, die meint, man könne Ausstellungen ähnlich „wie Waschpulver“ zu „einer Marke machen“. Tatsächlich zeichnet sich bei der Selbstdarstellung deutscher Museen eine historische Zäsur ab: Man hat von Raue gelernt. In der Nach-MoMA-Ära wird einfach jedes Kunstereignis als Jahrhundertsensation angepriesen. Hubertus Gaßner, Direktor des Essener Folkwang Museums, ist auf diese Weise eine Sensation gelungen – im vergangenen Winter kamen 380 000 Besucher in seine Cézanne-Schau. Im kommenden Februar darf er die Hamburger Kunsthalle und damit eines der größten Museen Deutschlands übernehmen. Dem Norden gefällt’s, dass sich einer zur strategisch geplanten Massenattraktion bekennt. Gaßner verkündet: „Es wurde ja mal behauptet, die Zeit der Großausstellungen sei vorbei. Das war ein Irrtum.“ Manchmal verkalkulieren sich die Schlangenbeschwörer. In Berlin wollte der Club von Peter Raue die Event-Saison mit einer Picasso-Schau in der Neuen Nationalgalerie verlängern. Kunsthistorische Stars wie der legendäre Spanier ziehen ja eigentlich immer – das hofften zumindest allein in diesem Jahr Ausstellungsorganisatoren in Basel, Baden-Baden, Stuttgart, in zahllosen anderen Orten auf der Welt und nun eben in Berlin. In der Hauptstadt hatte man pünktlich zur Vernissage am vorvergangenen Donnerstag jene Absperrbänder gespannt, die eine wartende Menge in vernünftige Bahnen lenken sollen. In den ersten Tagen war allerdings nicht einmal der Ansatz einer Schlange zu endecken. Raue nimmt es gelassen: „Auch bei der MoMA-Schau war in den ersten Wochen gar nicht so viel los. Der Ansturm kommt noch.“ Wieder hat man auch eine eigene Internet-Seite eingerichtet, auf der sogenannte VIP-Tickets und Führungen angeboten werden. Nach „Das MoMA in Berlin“ und „Goya in Berlin“ heißt die nun „Picasso in Berlin“. Demnächst hole man die Wanderschau „Melancholie“ nach Deutschland. Es könne freilich sein, gesteht Raue, dass eine Vermarktung unter dem Motto „Melancholie in Berlin“ eher abschreckend wirke: „Das ist zu dicht an der Wirklichkeit in der Hauptstadt, da lassen wir uns noch was einfallen.“ Ulrike Knöfel
AU S ST E L L U NGE N
Jagd auf Bildungspilger Moderne Kunstliebhaber sind Märtyrer und bereit, stundenlang in Warteschlangen auszuharren. Aber sie geben sich auch wählerisch und rennen nicht zu jedem Event.
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erade erst wurde diesem Mann der Verdienstorden des Landes Berlin verliehen. Peter Raue habe, so lautete die Begründung des Regierenden Oberbürgermeisters Klaus Wowereit, das „zoologische Phänomen der Museumsschlange“ erfunden. Der Geehrte („Ich brauche sowieso keine Orden, mich treibt der pädagogische Eros“) hielt sich gerade im Ausland auf, konnte also an der Zeremonie nicht teilnehmen – und Spektakel jeder Art, die inszeniert er lieber selbst. Raue, 64, ist im Hauptberuf Rechtsanwalt. Längst könnte er auch als Kunstkönig der Hauptstadt firmieren. Ganz sicher hat es der rastlose Mäzen zu mehr Prominenz gebracht als die Direktoren der Gemäldesammlungen, die er ehrenamtlich unterstützt. Mit seinem „Verein der Freunde der Nationalgalerie“ hat er etwa das legendäre Kunstereignis „MoMA“ 2004 ermöglicht, also initiiert, vorfinanziert und hübsch vermarktet. Als er Großvater wurde, gratulierte „Bild“ dem „Opa MoMA“. Der nahezu permanente Stau vor der MoMA-Schau sei ja tatsächlich „die Mutter aller Schlangen“ gewesen, erwähnt Chefförderer Raue denn auch ganz gern. Für diesen Ansturm gab’s nun nachträglich den Orden. Vielleicht kommt ein zweiter hinzu: Dem MoMA ließ Raues Club unter anderem „Goya“ folgen. Am vergan-
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genen Montag war Finale. Bis dahin hatten über 230 000 Menschen in zweieinhalb Monaten die selten gezeigten Gemälde und Zeichnungen des spanischen Altmeisters Francisco de Goya auf der Museumsinsel besichtigt. Wieder formierten sich täglich Tausende Bildungspilger zu zähen Prozessionen vor der Eingangstür. Man stand an, bis zu sechs Stunden lang, und als die Öffnungszeiten schließlich ausgedehnt wurden, auch bis tief in die Nacht hinein. Immerhin hat man in solchen Warteschleifen mal wieder richtig Zeit. Am letzten „Goya“-Ausstellungswochenende war ein Student zu beobachten, der nach den ersten zehn endlos langen Metern ein Drittel des neuen „Harry Potter“ verschlungen hatte. Trotz der kollektiven Erschöpfung scherte kaum jemand aus der Reihe – man blieb linientreu. „Goya kommt vielleicht nie wieder, ich verharre“, sagte eine alte Dame und trotzte auch dem Regen. Diese Kunstmärtyrer sind natürlich die wahren Helden der Berliner Erfolgsgeschichten – und „ein wenig verrückt“ dazu, wie eine Lehrerin aus Dresden nach vier Stunden, zwanzig Minuten ahnt. Andernorts ist man mehr denn je um Nachahmung solcher fotogenen und werbewirksamen Szenarien bemüht, etwa in München. Dort zeigt das Lenbachhaus in einer ehrgeizigen Schau gerade Bilder von Franz Marc, immerhin ein Mythos der modernen Malerei. Allein am ersten Oktoberwochenende (inklusive des Feiertags am Montag) drängten über 10 000 Leute ins Museum. Auch hier bilden sich immer wieder Schlangen, doch erscheint die Wartezeit von bis zu einer Stunde einigermaßen erträglich. Damit können die Veranstalter natürlich nicht zufrieden sein. Eigentlich wollte man die Berliner übertrumpfen. Das komme vielleicht noch, tröstet Raue von Berlin aus und lobt großmütig: „Die d e r
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Wissenschaft · Technik
Prisma S AT E L L I T E N
Neuer Blick auf die Erde H
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Hawaii, Dascht-e Kawir, Fjordlandschaft, aus dem All fotografiert
PSYCHOLOGIE
HOCHSCHULEN
Frühes Vergessen
„Ideale Voraussetzungen“
erden Erwachsene nach frühen Kindheitserinnerungen gefragt, fallen ihnen meist Ereignisse ein, die sie ab einem Alter von etwa vier Jahren hatten. Frühere Erlebnisse hat das sogenannte autobiografische Gedächtnis nicht parat. Kanadische Forscher haben jetzt herausgefunden, dass der Prozess des Vergessens bereits in der Kindheit einsetzt: Die Wissenschaftler um Carole Peterson von der Memorial University in Neufundland fragten junge Menschen zwischen 6 und 19 Jahren nach ihren ältesten Erinnerungen. Bis zum Alter von neun Jahren erzählten die Probanden noch von Geschehnissen, die um ihren dritten Geburtstag herum passiert waren; bei allen Älteren jedoch schien diese Lebensphase wie ausradiert. Noch wissen die Forscher nicht, was diesen Prozess auslöst. „Die frühen Erinnerungen waren ursprünglich vorhanden und konnten verbal beschrieben werden“, so Peterson, „das Rätsel ist, warum sie verschwinden.“
Matthias Schrappe, neuer Dekan der Medizinischen Fakultät der privaten Universität Witten/ Herdecke, über seine Pläne, nach der massiven Kritik des Wissenschaftsrats die medizinische Forschung in Witten neu zu organisieren SPIEGEL: Bis Frühjahr 2006 müssen Sie dem Wissenschaftsrat ein überzeugendes Konzept zur Verbesserung der Forschung in Witten vorgelegt haben, sonst droht dem renommierten Medizinstudiengang die Schließung. Haben Sie schon Ideen? Schrappe: An der Medizinischen Fakultät von Witten mit all ihren Besonderheiten einzig auf die Grundlagenwissenschaften zu setzen, halte ich nicht für sinnvoll. Stattdessen will ich Witten zu einem Zentrum der Versorgungsforschung machen. SPIEGEL: Was genau ist das? d e r
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Schrappe: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse brauchen heute im Durchschnitt zehn Jahre, bis sie in die Behandlung in normalen Krankenhäusern und Praxen Eingang gefunden haben. Das will die Versorgungsforschung verbessern. Am Anfang steht dabei etwa die Barrierenanalyse: Hat es organisatorische Gründe, ökonomische oder vielleicht psychologische? Danach wird ein Plan entwickelt, wie Patienten schneller an innovative Therapien kommen. SPIEGEL: Warum ist gerade Witten dafür gut geeignet? Schrappe: Charakteristisch für Witten ist nicht eine hochspezialisierte Uniklinik, sondern die Kooperation mit einem Netz von Krankenhäusern aller Versorgungsstufen. Anders als an anderen Universitäten steht hier also eine riesige Zahl von „normalen“ Patienten für die Forschung zur Verfügung. Zudem verfolgt Witten als Universität einen sehr interdisziplinären Ansatz. Es wäre etwa eine enge Kooperation mit den Wirtschafts- und Pflegewissenschaften möglich – alles ideale Voraussetzungen für eine gute Versorgungsforschung. UTE SCHMIDT / BILDFOLIO
„Bilder der Erde“. Gerstenberg Verlag, Hildesheim; 288 Seiten; 49,90 Euro.
FOTOS: GERSTENBERG VERLAG
awaii funkelt wie ein Edelstein auf tiefschwarzem Samt, Islands westliche Fjorde ähneln einem Schnittpräparat des menschlichen Darms, und die iranische Salzwüste Dascht-e Kawir sieht aus wie ein abstraktes Ölgemälde: Ein Bildband mit 240 Satellitenfotos eröffnet einen neuen Blick auf den Planeten Erde. Mal sind es die bizarren Farben, mal die Detailgenauigkeit, mit denen die „Bilder der Erde“ verblüffen. Aufgenommen wurden sie meist aus 705 Kilometer Höhe von Landsat-Satelliten, die ihre Motive mit sogenannten Multispektralscannern abbilden. Die Aufnahmegeräte können längere Wellenlängen erkennen als das menschliche Auge. Tiefes Wasser etwa reflektiert wenig elektromagnetische Strahlung und erscheint pechschwarz. Vegetation reflektiert vor allem im Infrarotbereich – landwirtschaftliche Anbauflächen sind auf den Bildern knallrot. Einige Motive zeigen bereits die Vergangenheit – den Regenwald Brasiliens in heute nicht mehr vorhandener Pracht oder die US-Metropole New Orleans vor dem Hurrikan „Katrina“.
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Prisma
Wissenschaft · Technik AU TOMOB I L E
Hund im Handschuhfach T
ransporttaschen und anschnallbare Reisekörbchen für Hunde hat der japanische Autokonzern Honda schon länger im Programm. Kein Wunder, denn während die Geburtenrate im Inselreich stetig sinkt, nimmt die Zahl der Haustiere jährlich um drei Prozent zu. Auf der Tokyo Motor Show präsentieren die Japaner nun die Komplettlösung für hundebegeisterte Autofahrer: Wo andere Autos ein Handschuhfach haben, bietet im Minivan „W.O.W.“ eine eingebaute Box Platz für Vierbeiner bis Dackelgröße – mit eigener Lüftung. Stattlichere Exemplare können in einer Kiste im Fond untergebracht werden. Statt mit Teppich ist der W.O.W. mit einem Holzboden ausgelegt. „Da kann man leichter mal was aufwischen“, erklärt Designer Takeshi Yamaguchi. Ob und wann die rollende Hundehütte in Serie geht, haben die Honda-Manager noch nicht entschieden; vorerst bleibt es bei der Design-Studie für die Autoschau.
Honda-Minivan „W.O.W.“
P R Ä N ATA L D I A G N O S T I K
Blut statt Fruchtwasser?
PETER WIDMANN
in Bluttest der Mutter könnte in Zukunft die riskante Fruchtwasseruntersuchung zur Diagnose von Gendefekten oder Chromosomenveränderungen ungeborener Kinder ersetzen, wie Wissenschaftler aus Hongkong, den USA und den Niederlanden im US-Fachblatt „Proceedings of the National Academy of Sciences“ berichten. Über die Plazenta gelangen während der Schwangerschaft Spuren kindlicher Erbsubstanz (DNA) in den mütterlichen Blutkreislauf. Bislang war diese DNA aber kaum von derjenigen der Mutter zu unterscheiden. Zweifelsfrei können die Mediziner das kindliche Erbgut derzeit nur dann zuordnen, wenn das Baby ein Junge wird – die DNA ist am männlichen Geschlechtschromosom zu erkennen. Den Forschern um Stephen Chim von der Chinesischen Universität Hongkong fiel jetzt auf, dass in einem bestimmten DNA-Bereich die mütterliche Erbsubstanz weit mehr sogenannte Methylgruppen aufweist als die des Fötus. Damit sei erstmals ein universeller chemischer Marker für fötale DNA im Plasma der Mutter gefunden, schreiben die Forscher. Auf der Grundlage dieses Unterschieds wollen Chim und sein Team nun Tests für den klinischen Einsatz entSchwangere Frau wickeln. 184
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RÖHRBEIN / ULLSTEIN BILDERDIENST
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Schüler beim Mittagessen (in Hamburg) ERNÄHRUNG
Gesunde Schulspeisung
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as Ganztagsschulprogramm der Bundesregierung hat Deutschlands Bildungsstätten vor allem viele neue Kantinen beschert: Wer bis zum Nachmittag büffelt, braucht zwischendurch eine warme Mahlzeit. Dass die Schulspeisung sogar gesünder sein kann als Mamas Mittagstisch, berichten jetzt Londoner Forscher im Fachblatt „BMJ“. Peter Whincup von der St. George’s Universität untersuchte rund 1100 Teenager in England und Wales, die regelmäßig entweder in der Schule oder zu Hause aßen. Der Epidemiologe interessierte sich für Gewicht, Körperfettanteil, die Versorgung mit bestimmten Vitaminen sowie Blutdruck, Blutzucker- und Cholesterinspiegel. Ergebnis: Die Anzahl der übergewichtigen Kinder war in beiden Gruppen etwa gleich groß; doch bei Blutdruck, Cholesterin und Blutzucker schnitten die Kantinenesser signifikant besser ab. „Das Ergebnis hat uns überrascht“, so Whincup, „denn viele Eltern machen sich Sorgen, dass das Schulessen ungesund sein könnte.“ Vor allem wegen ihres Fast-Food-Angebots waren die Kantinen in den vergangenen Wochen in die Kritik geraten. Das britische Bildungsministerium setzte eine Kommission ein, die nun Standards für die Schulverpflegung festlegen soll.
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Wissenschaft
NOBELPREISE
Spieltrieb im Labor Der Quantenoptiker Theodor Hänsch, diesjähriger Physik-Nobelpreisträger, forscht gern in Deutschland – doch seine Methoden sind sehr amerikanisch. Mit genialen Basteleien versetzt er die Fachwelt oft in Erstaunen. Überraschend an der Ehrung ist nur, dass sie erst so spät kommt.
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m Anfang war der Wackelpudding. Am Ende kam der Nobelpreis heraus. Alles begann im Jahr 1970 an der Universität Stanford in Kalifornien. Durch Zufall hatte der Physiker Theodor Hänsch bemerkt, dass ein intensiver Lichtstrahl eine simple gefärbte Flüssigkeit in eine farbige Laserquelle verwandeln kann. Also tat der junge Forscher aus Deutschland das, was jedes Kind auch gern tun würde: Er nahm alle Sorten Glibberpudding der Marke „Jell-O“ aus dem Supermarkt gegenüber – insgesamt zwölf Packungen, in allen Farben des Regenbogens. Zurück im Labor, bereitete er mit einem Kollegen die Süßspeisen zu, alle zwölf Sorten. Er hoffte, ebenso viele bunte Laserstrahlen zu erzeugen, von Himbeerrot bis Waldmeistergrün. Das klappte zwar nicht, aber selten schmeckte Misserfolg so süß: Die Forscher aßen ihre Versuchsobjekte einfach auf. Und forschten weiter nach dem „ersten essbaren Laser“, wie sie es nannten. Mit der ihm eigenen Mischung aus Spieltrieb und Hartnäckigkeit experimentierte der zurückhaltende Bastler weiter, jahrzehntelang, mit wechselndem Erfolg. Mit den Jahren erwarb er sich einen hervorragenden Ruf als Quantenoptiker. Bis ihm schließlich doch noch das Kunststück gelang: Laserlicht mit exakt bekannter Frequenz herzustellen und jeden Farbton ge-
nau zu bestimmen, in millionenfach mehr Varianten, als es Jell-O-Sorten gibt. Für diese Leistung soll Theodor Hänsch im Dezember in Stockholm der Nobelpreis für Physik verliehen werden, gemeinsam mit den beiden amerikanischen Quantenoptikern John Hall und Roy Glauber. Mit dieser Entscheidung beweist das Nobelkomitee einen ausgeprägten Sinn für Symbolik: Vor 100 Jahren spekulierte Albert Einstein, ob sich Lichtstrahlen auch als ein Strom aus körnigen Teilchen beschreiben ließen, Quanten genannt. Damit legte er auch die theoretische Grundlage für die Lasertechnik (siehe Grafik). Erst ein halbes Jahrhundert später wurde die Theorie von der Praxis eingeholt, als es dem Amerikaner Charles Townes gelang, gepulste Energiestrahlen herzustellen, feiner als eine Stecknadel. Heute sind Lasergeräte allgegenwärtig und nicht mehr wegzudenken – egal ob in CD-Geräten zu Hause, Strichcode-Scannern im Supermarkt oder Laserskalpellen in Augenkliniken. Groß war der Jubel vorigen Dienstag, als die Entscheidung des Nobelkomitees sich herumsprach, groß die Versuchung, Hänsch als Aushängeschild für lokalpatriotische Zwecke zu instrumentalisieren. Eine „Ehre für den Forschungsstandort Bayern – und Deutschland“, prahlte CSUChef Edmund Stoiber. Und die „Süddeutsche Zeitung“ titelte augenzwinkernd: „Wir sind Nobelpreisträger.“
Tatsächlich bricht Hänsch mit einer Serie von deutschstämmigen Nobelpreisträgern der jüngsten Vergangenheit, die seit Jahren in den USA forschen, etwa Wolfgang Ketterle (2001), Herbert Kroemer (2000) oder Horst Störmer (1998). Hänsch dagegen war bereits 1986, nach 16 Jahren in Kalifornien, in seine Heimat zurückgekehrt, angelockt von einer Doppelberufung als Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und als Professor an der Universität München. Aber bei genauerem Hinsehen belegen die diesjährigen Physik-Nobelpreisträger vor allem eines: wie überholt nationaler Nobel-Stolz wirkt angesichts eines globalisierten Forschungsmarkts. So wurden alle drei Preisträger zeitweise von der deutschen Humboldt-Stiftung unterstützt, und alle haben sie schon in Garching gearbeitet. Hänsch wiederum ist und bleibt Wahlkalifornier: Er nippte in München nur kurz an einem Glas Sekt, bevor er zum Flughafen fuhr, um in Berkeley den 90. Geburtstag des Lasererfinders Townes zu feiern. Hänsch gehört zum internationalen Jetset der Physikerbranche, mit Gastspielen in Paris, Pisa, Shanghai, Kyoto, Florenz, Berkeley. Geprägt wurde er vor allem von seiner Zeit im Silicon Valley in den siebziger Jahren mit der typischen Mischung aus hemmungslosem Spieltrieb und beiläufigem Unternehmertum. In seinem Seminar „Electricity and Magnetism“ saß auch ein
1960 Arthur Schawlow und Charles Townes patentieren ihre Laser-Idee; Theodore Maiman präsentiert den ersten funktionsfähigen Laser. d e r
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Charles Townes
1905 Albert Einstein veröffentlicht seine LichtquantenHypothese, 1916 entwickelt er daraus die dem Laser zugrundeliegende Theorie.
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H A N S - G U E N T H E R O E D / STO C K 4 B
Albert Einstein
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U LLST E I N B I LD E R D I E N ST
Die Geschichte des Lasers . . .
Glasfaserkabel
Laser auf CD
KO M M U N I K AT I O N 1970 Glasfasern können mit Hilfe von Laserlicht Informationen über weite Strecken übertragen.
D AT E N SP E I C H E R 1982 Mit den ersten CD-Playern beginnt der Siegeszug der optischen Speichermedien in der Unterhaltungselektronik.
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THEODOR BARTH / ZEITENSPIEGEL
Physiker Hänsch im Labor: Laserregenbogen nach dem „Jell-O“-Prinzip
Hippie namens Steve Jobs – heute ist sein Student Chef des Computerherstellers Apple. 1973 wurde Hänsch für die Nachfolgeexperimente des essbaren Lasers sogar als „California Scientist of the Year“ geehrt; damals bekamen auch die Computerpioniere Hewlett und Packard eine Auszeichnung. Die internationale Physikerszene wunderte daher am Nobelpreis vor allem eines: dass Hänsch ihn nicht früher bekommen hat. Er war maßgeblich an vielen Durchbrüchen der vergangenen Jahrzehnte beteiligt. Doch auch wenn der Preis ihn erst kurz vor seinem 64. Geburtstag am 30. Oktober erreicht, kommt diese Ehrung nicht zu spät für seine weitere Karriere: Eine „Zwangs-
emeritierung“ werde es nicht geben, verspricht der Max-Planck-Chef Peter Gruss. Ted, wie Hänsch von seinen Kollegen im In- und Ausland genannt wird, „ist sein Leben lang ein junger, verspielter Wissenschaftler geblieben“, wie Nobelpreisträger Wolfgang Ketterle seinen Kollegen lobt. Die Erleuchtung für die preisgekrönte Erfindung erschien Hänsch in Florenz, als bunter Fleck in einem abgedunkelten Labor des dortigen Nationalen Instituts für Angewandte Optik. Eines Tages hatte Hänsch als Gast mit Marco Bellini geplaudert, einem jungen italienischen Laserspezialisten. Es ging um das alte, leidige Problem: die Unmöglichkeit, die Frequenz von Laserlicht wirklich
in allen Regenbogenfarben präzise zu messen. Seit rund 40 Jahren hatten sich selbst große Forschungseinrichtungen mit fabrikhallenfüllenden Großversuchen die Zähne daran ausgebissen, mehr als einige wenige Farben zu analysieren. Hänsch dagegen setzte wieder auf das Jell-O-Prinzip: Man nehme einfache Mittel und erziele erstaunliche Erkenntnisse. Statt das Problem von der einzelnen Farbe her anzugehen, ging er genau andersherum vor und setzte auf die Summe aller Farben: Er nahm weißes Licht und versuchte es mit Spiegeln so umzulenken, dass es ein buntes Interferenzmuster bildet. Bis dato dachte man, es sei unmöglich, das als chaotisch geltende weiße Licht zu bändigen. Aber das schreckte Hänsch nicht ab. Unbeirrt schraubte er einen Tag lang mit Bellini am optischen Tisch herum. Plötzlich erschien an der Wand ein bunter Fleck aus Farben und dunklen Interferenzstreifen: der Beweis des scheinbar Unmöglichen. Damit war der Weg zu einem richtigen Messgerät frei: Die zu untersuchende Farbe müsste einfach einem Ort auf einem künstlichen Regenbogen zugeordnet werden, wie auf einem präzise sortierten Farbfächer in einem Baumarkt – schon wäre ihre genaue Frequenz klar. „Auf einmal kamen die Mitarbeiter aus dem ganzen Institut an und wollten das Muster sehen“, erzählt Hänsch, „das war ein echtes Schauspiel.“ Weil gerade kein Fotoapparat zur Hand war, nahm er das Beweisbild einfach mit der Videokamera auf, die er auf Reisen immer dabei hat. Das daraus entstandene Gerät nennt er „Frequenzkammgenerator“, denn es ist in der Lage, gepulstes Licht haarfein nach Wellenlängen zu sortieren wie ein Kamm. Die Anwendungen sind vielfältig: Neuartige Lichtuhren könnten das Schwingen von Lichtstrahlen als „Pendel“ einsetzen und so Minuten oder Meter tausendfach genauer messen, als das bislang möglich ist. Hänsch ließ seine Erfindung patentieren und gründete 2001 mit Unterstützung
. . . und seine Zukunft
Augen-OP
Industrie-Laser
MEDIZIN 1986 Erste Fehlsichtigkeitskorrektur mittels Laseroperation beim Menschen. Der Laser wird zum gebräuchlichen Werkzeug in der Chirurgie.
INDUSTRIE Die Lasertechnik ist zu einer Schlüsseltechnologie der modernen industriellen Fertigung geworden. d e r
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Zeitmessung in nie erreichter Präzision ermöglicht z. B. zentimetergenaue GPSOrtung. Tausendfach höhere Übertragungsraten im Glasfaserkabel revolutionieren die Informationstechnik.
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OKAPIA
B E R N D D U C K E / S U P E R B LD
Neue Entdeckungen wie die hochpräzise Lichtmessmethode von Theodor Hänsch öffnen den Weg für technologische Weiterentwicklungen.
Forschung am Quantencomputer
Neue, hochauflösende Holografie-Filme Bau von Quantencomputern unter Einsatz von Lasern
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Wissenschaft
„Ich schwebe über den Wolken“
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Quantenphysiker Theodor Hänsch über die Vorzüge der Forschung in Deutschland und die Schönheit des Unbekannten
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SPIEGEL: Gibt es praktische, alltägliche
Anwendungen für Ihren Frequenzkammgenerator? Hänsch: Es wird noch eine Weile dauern, bis unsere Technik in Alltagsgeräten verfügbar ist. Denkbar wäre die vieltausendfach schnellere Übertragung von Daten durch Glasfasernetze, zum Beispiel für die Erzeugung dreidimensionaler Filme. SPIEGEL: Ist es Zufall, dass Sie den Nobelpreis ausgerechnet im Einstein-Jahr bekommen? Hänsch: Das passt gut. Einstein hat 1905 viele wichtige Grundlagen formuliert.
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SPIEGEL: Ausgerechnet am Tag, als Sie von Ihrem Nobelpreis erfuhren, mussten Sie nach Kalifornien fliegen. Konnten Sie denn überhaupt schlafen im Flugzeug? Hänsch: Nein, ich war viel zu aufgeregt. Aber ich freue mich sehr und schwebe noch immer über den Wolken. SPIEGEL: Statt ausgiebig zu feiern, sind Sie pflichtbewusst zum 90. Geburtstag eines Freundes, des Lasererfinders Charles Townes, ins kalifornische Berkeley gereist. Ließ sich der Flug nicht absagen? Hänsch: Ich kenne Charly seit den Siebzigern, er ist ein großartiger Forscher, von dem man eine Menge lernen kann. Er hat einfach diesen Ingenieursinstinkt und lässt sich nicht beirren. Ihm war vorgerechnet worden, dass Laser nicht funktionieren können. Aber er hat einfach weitergemacht – und schließlich die Welt mit dem Laser aus den Angeln gehoben. SPIEGEL: Alle drei diesjährigen PhysikPreisträger waren einmal HumboldtPreisträger und haben in Garching gearbeitet. Ist die deutsche Forschungslandschaft besser als ihr Ruf? Hänsch: Wir sind nicht so schlecht, wie wir uns selbst einreden. Aber wir haben in Deutschland die Forschung und Ausbildung lange Zeit vernachlässigt, weil wir andere Prioritäten hatten nach dem Fall der Mauer. Aber langsam müssen wir die Prioritäten wieder umordnen, sonst kommen wir aus der Misere nicht heraus. SPIEGEL: Was hat Sie selbst denn 1986 zurück aus den USA nach Deutschland gelockt? Hänsch: Die Max-Planck-Gesellschaft hat ein sehr gutes Modell, das neidisch beäugt wird – übrigens auch von Amerikanern. Hierzulande bekommen Forscher langfristige Planungssicherheit. Mir war damals klar: Wer grundsätzlich Neues finden will, braucht geduldige Förderer. Und die gibt es in Deutschland. SPIEGEL: Was sind Ihre liebsten Momente bei der Arbeit? Hänsch: Wenn wieder einmal alle erwartbaren Ergebnisse über den Haufen geworfen werden. Das Schönste ist, wenn man plötzlich zu etwas in der Lage ist, was vorher als unmöglich galt.
der Max-Planck-Gesellschaft die Start-upFirma „Menlo Systems“, benannt nach Menlo Park in Kalifornien. Die derzeit 15 Mitarbeiter kommen kaum nach mit der Handfertigung von rund 15 schuhkartongroßen Frequenzkämmen pro Jahr, zum Stückpreis von rund einer viertel Million Euro. Konkurrenz müssen sie einstweilen nicht befürchten, zu neu ist die Erfindung. Während es vor ein paar Jahren noch für Grundlagenforscher als anrüchig galt, sich gleichzeitig in den Niederungen der Wirtschaft zu betätigen, unterstützt MaxPlanck-Präsident Peter Gruss die Anwendungsnähe ausdrücklich. Allein seit 1990 wurden 65 Firmen mit Hilfe der Inkubationsfirma Garching Innovation von Mitarbeitern der Gesellschaft ausgegründet. Doch seit dem Platzen der New-Economy-Blase droht auch einigen MaxPlanck-Start-ups die Puste auszugehen, drei von ihnen mussten bereits aufgeben. „Leider geben sich viele deutsche Risiko-
Preisträger Hänsch mit Gratulanten: „Wir sind nicht so schlecht, wie wir uns einreden“
Er lehnte zwar die Quantenmechanik selbst ab. Aber er hat eine hypothetische Uhr beschrieben, die aus einem Lichtpuls besteht, der zwischen zwei Spiegeln hin- und hergeht. Und genau das machen wir auch mit unseren Femtosekundenlasern. SPIEGEL: Wann entdeckten Sie das Thema Licht für sich? Hänsch: Wir alle beschäftigen uns mit dem Licht, sobald wir die Augen aufmachen. Auch in meiner Diplomarbeit ging es schon darum. Aber die erste Faszination reicht zurück bis in meine Kindheit. Wir wohnten damals in der Bunsenstraße in Heidelberg. Und eines Tages erklärte mir mein Vater, was man mit einem Bunsenbrenner alles anstellen kann. Zusammen streuten wir Kochsalz in die Flamme, und ich bewunderte die gelbe Färbung. Dies ständig wechselnde Farbspiel des Feuers hat meinen Appetit geweckt.
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kapitalgeber derzeit etwas risikoscheu“, klagt Gruss, „die wollen oft nur noch in sogenannte reife Technologien investieren.“ Die Firma Menlo Systems scheint von der Krise unberührt, schließlich verkauft sie ein einzigartiges Produkt: die genauesten Nanometer und Picosekunden der Welt. Die Europäische Raumfahrtagentur Esa etwa will mit Hilfe der nobelpreisgekrönten Messapparaturen die exakte Position ihrer Weltraumteleskope in Chile vermessen und sie in Satelliten einbauen, um auch die Navigation am Boden genauer zu machen. Und in ein paar Jahren könnten regenbogenbunte Laser mit Hilfe von farbcodierten Kanälen tausendfach mehr Informationen durch Glasfaserkabel an Rechner und Fernseher pumpen. Oder es entwickelt sich etwas völlig anderes daraus. „Diese Technik ist noch im Babystadium“, sagt Hänsch, der keine Kinder hat. „Ich bin selbst gespannt, was wohl passiert, wenn sie erwachsen wird.“ Hilmar Schmundt
Wissenschaft
200 km
BURMA
Andamanen Car Nicobar SIMRON JIT SINGH
Nikobaren zu Indien gehörend
THAILAND Great Nicobar
Schweinefest auf den Nikobaren (vor dem Tsunami): Relikte aus einer untergegangenen Welt
nigen Männer und Frauen, die auf höhergelegenen Plantagen arbeiteten oder mit Fischerbooten auf hoher See waren, als die große Welle kam. „Die Daheimgebliebenen hatten keine Chance“, sagt der Nikobarer und widereinem Gerücht, das sich hartnäckig Der Tsunami löschte große Teile ihrer Kultur aus. Stammesführer spricht in den westlichen Medien gehalten hat. Anvon der Inselgruppe der Nikobaren suchen geblich hat ihr Instinkt die Ureinwohner gewarnt, woraufhin sie sich rechtzeitig vor deshalb im Wiener Völkerkundemuseum nach ihren Wurzeln. den Fluten gerettet hätten – folkloristischer ie hohe Temperatur ist das Einzige, blattgedeckten Hütten weg, die sie ihrer Unfug. In Wahrheit seien mindestens 10000 was in diesem Verlies unter der Tradition folgend am Strand bauten. In der von ihnen gestorben, schätzt Yusuf, „das ist Erde an ihre tropische Heimat er- schäumenden See trieben die Skulpturen, ein Drittel der ganzen Bevölkerung“. Bis zur Katastrophe lebte kaum ein ininnert. Dafür sorgen in dem höhlenartigen die Kostüme ihrer prächtigen Feste, die okRaum die künstlichen, 26 Grad warmen kulten Totems, mit denen sie ihre Geister digenes Volk Asiens so abgeschieden von der modernen Welt wie die Nikobarer. Das Winde aus der Lüftungsanlage, die einen beschworen. Auf tragische Weise nahm das Wasser indische Militär, das auf der Insel Car Nikostbaren Schatz vor der Vergänglichkeit ihnen sogar das Wissen über ihre Kultur. cobar einen großen Stützpunkt unterhält, schützen sollen. „Nehmen sie Handschuhe!“, ruft der „Gestorben in den Fluten sind vor allem schottete die unberührte Inselkette im Golf entsetzte Restaurator des Museums für die Alten, die unsere Bräuche an die Jun- von Bengalen ab. Nur selten wurde in den Völkerkunde in Wien, als die sechs Stam- gen weitergaben“, erzählt Rasheed Yusuf. vergangenen Jahrzehnten Fremden Zutritt mesführer von der kleinen Inselgruppe der Sie waren gemeinsam mit den Kindern da- gewährt. Einer der wenigen, die zwischen Nikobaren nach den wertvollen Exponaten heim geblieben. Überlebt haben nur dieje- den Welten hin- und herwechseln konnten, war der Ethnologe Simgreifen wollen. Aus den von Sonne und ron Singh. Wasser gegerbten Gesichtern spricht UnDer aus Indien stammende verständnis. Wissenschaftler vom Institut Denn was da auf Schaumstoff-Folie vor für Soziale Ökologie in Wien ihnen liegt, kennen sie nur allzu gut: Solgenießt seit sieben Jahren das che Holzfiguren standen einst in ihren bieVertrauen der scheuen Ureinnenkorbartigen Rundhütten; mit den Speewohner. Bei seinen zahlreiren und Reusen gingen sie zum Fischen. chen Besuchen erforschte er „Wir fühlen uns hier unten wie zu Hause“, deren naturnahe Lebensweisagt Rasheed Yusuf, einer der Stammesse. Der 35-Jährige hat die Reiführer. se der Stammesführer vom InDoch die Relikte, vor über 140 Jahren dischen Ozean an die Donau mitgebracht von einer österreichischen Exorganisiert. pedition, gehören zu einer untergegangeEr hat ihnen mehr zu bienen Welt. ten als nur einen Besuch im Seit dem 26. Dezember 2004 um neun Völkerkundemuseum. In eiUhr morgens ist die Sammlung im Wiener nem soeben erschienenen Völkerkundemuseum so etwas wie eine Buch hat Singh das Leben Arche Noah der nikobarischen Kultur. An diesem Tag spülte der Tsunami ihre palm- Nikobarische Stammesführer in Wien: Freude über Sushi auf den 19 Inseln dokumenETHNOLOGIE
Fenster in die Vergangenheit
PHILIPP HORAK / ANZENBERGER
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EZEQUIEL SCAGNETTI / REPORTERS / LAIF
tiert*. Es enthält viele Fotos, die er von den Riten des Alltags, den Festen und religiösen Zeremonien gemacht hat. Der Forscher hofft, dass das Buch ihnen „ein Fenster in ihre versunkene Vergangenheit“ eröffnet. „Die Nikobarer stehen am Scheideweg“, warnt Singh. Derzeit leben die meisten von ihnen in Notunterkünften, in die sie die indische Regierung oft mit Unterstützung westlicher Entwicklungshilfe-Organisationen gesteckt hat: Statt in luftigen Stelzenhäusern schlafen sie jetzt in Wellblechhütten, in deren Zement und Plastikwänden die Feuchtigkeit sitzt. „Nach der Katastrophe droht eine neue Katastrophe“, sagt Singh. Von den Todeswellen entwurzelt und in die Moderne geschleudert, dieses Schicksal droht dem urtümlichen Volk. Wie weit sich ihr derzeitiger Lebenswandel von seinem ursprünglichen Zustand entfernt hat, lässt die Lektüre des Buchs erahnen. Auf 228 Seiten beschreibt Singh, wie die mongoliden Volksstämme in den 2000 Jahren seit ihrer Ankunft vom
Tsunami-Verwüstungen auf den Nikobaren
Gestorben sind die Alten und die Kinder
asiatischen Festland im Einklang mit der Natur lebten. Bestimmend für ihr Leben waren nicht der Kalender, sondern die wechselnden Winde: Von Südwest weht der regenreiche Monsun zwischen Mai und Oktober heran. Dreht er auf Nordost, dann herrscht Trockenzeit. Nur in diesen sechs Monaten wird mit Speeren und Reusen gefischt. „In der restlichen Zeit sollen die Fische wachsen“, erklärt Stammesführer Yusuf. Gerade war die Gruppe zur offiziellen Vorstellung des Buchs beim österreichischen Bundespräsidenten in der Hofburg. Die Alpenrepublik hat eine bizarre historische Verbindung zu der tropischen Inselwelt: Unter Kaiserin Maria Theresia waren die Nikobaren zwischen 1778 und 1783 die erste und einzige Überseekolonie des Habsburger Reichs. * Simron Jit Singh: „Die Nikobaren – Das kulturelle Erbe nach dem Tsunami“. Herausgeber Oliver Lehmann; Czernin Verlag, Wien; 228 Seiten; 49 Euro.
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Nach dem Empfang im berühmten Maria-Theresien-Zimmer sitzen die Nikobarer auf den Stufen des Völkerkundemuseums, das im neuen Trakt der Hofburg untergebracht ist. Lachend und seufzend blättern sie durch das druckfrische Buch und diskutieren über die Abbildungen. „Mich überkommen Freude und Schmerz zugleich“, sagt Tong Kumar, der Älteste der Gruppe, „uns wird jetzt erst richtig bewusst, was wir verloren haben.“ Gemeint sind vor allem die Feste, die den sozialen Frieden sicherten. Das Schweinefest etwa wurde jedes Jahr von einem anderen Clan organisiert. Mit Kanurennen und sportlichen Stangenkämpfen ermittelten sie auf friedliche Weise, wer in der Rangordnung an oberster Stelle stand. Tong Kumar, der früher die rund 150 Kilometer zwischen Car Nicobar und seiner Heimatinsel Trinket sogar bei Mondschein durchpaddelt hat, tippt auf die Abbildungen mit den Holzfiguren: die Kareaus, sitzende Gestalten. „Sie enthalten die Knochen verstorbener Medizinmänner“, sagt er. Oder die Hentakois, geschnitzte Tierfiguren, in denen Schutzgeister stecken: „Sie heilen die Kranken, die ihre Seele verloren haben.“ Der 60-Jährige gehört zu denen, die möglichst viel von diesem Vermächtnis pflegen wollen. Kumar weiß aber auch, dass die jüngeren Clanchefs weit weniger daran hängen. Sie wollen ihr Volk stärker der Moderne öffnen. Rasheed Yusuf redet bereits von Kooperativen, die ihren Fisch, exotische Blumen und Kokosnüsse an die Inder verkaufen sollen. Yusuf: „Das Geld wird dann an die Erzeuger verteilt.“ Das wäre ein weiterer Kulturschock; denn viele Nikobarer haben noch nie Münzen und Scheine in den Händen gehalten. Geht es nach ihm, sollen die Kinder auch in die indischen Schulen auf der benachbarten Inselgruppe der Andamanen geschickt werden. „Mit Handel und Bildung kommen wir aus unserer misslichen Lage heraus“, glaubt Yusuf und erntet zustimmendes Nicken von den Gleichaltrigen. Bei den Entscheidungen über die Zukunft ihres Volkes will Ethnologe Singh nur moderieren. „Mir geht es vor allem darum, den Nikobarern Stolz und Bewusstsein für ihre eigene Kultur zu vermitteln“, sagt der Völkerkundler, „sie dürfen nicht den Kontext verlieren, aus dem sie stammen.“ Bestärkung für ihre Lebensweise bekamen die Nikobarer auch an unerwarteter Stelle – in einem Supermarkt im dritten Bezirk Wiens. Zu ihrer großen Freude entdeckte das exotische Sextett in der Kühltheke eine Schachtel mit Sushi. Dass sie rohen Fisch essen, haben sie Fremden gegenüber am liebsten verborgen. „Sie dachten, man halte sie deshalb für besonders primitiv“, sagt Singh: „Dabei ist es bei ihnen wie bei uns eine Delikatesse.“ Gerald Traufetter d e r
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Wissenschaft Gewalt unter Männern*
Wie in die Enge getriebene Tiere
MEDIZIN
Traurige Machos Psychologen glauben: Depressionen von Männern werden zu selten erkannt – die Betroffenen verdrängen ihre Schwermut durch Aggression und Flucht in die Arbeit.
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in Faden von Gewalt zog sich plötzlich durch das Leben des leitenden Bankangestellten. Schon auf dem Weg zur Arbeit tobte er wie Rumpelstilz, wenn Langsamfahrer die Autobahn verstopften. Im Büro zitterten die Untergebenen vor seinen Wutausbrüchen. Als er zu Hause bei einem nichtigen Streit seiner Frau ins Gesicht schlug, überfiel ihn der Katzenjammer: Der 46-Jährige ging zum Arzt und wollte sich Beruhigungspillen verschreiben lassen. Doch der Mediziner unterzog ihn einer intensiven Befragung – und stellte am Ende eine überraschende Diagnose: „Sie haben Depressionen, sie brauchen dringend Hilfe.“ Die Traurigkeit der Seele gilt als typisches Frauenleiden. In Deutschland erkranken angeblich doppelt so viele Frauen an der Psychokrankheit wie Männer. Doch zumindest einige Seelenkundler zweifeln neuerdings daran, dass die Statistiken ein zutreffendes Bild zeichnen: „Es gibt keinen Grund, warum Männer weniger anfällig für Depressionen sein sollten“, sagt Martin Hautzinger, Klinischer Psychologe an der Universität Tübingen. Männer, so glauben die Experten, reagieren nur anders auf das Leiden als Frauen. Während die weiblichen Opfer unter dem Druck der Traurigkeit innerlich erstarren und Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit und Niedergeschlagenheit jede Lebensfreude lähmen, gehen Männer wie in die Enge getriebene Tiere zum Gegenangriff über. „Erst 194
HENRIK SAXGREN
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Befürworter. Immerhin zeigen neuere Untersuchungen, dass die molekularen Abläufe im Gehirn depressiver Männer zumindest teilweise anders aussehen als bei depressiven Frauen. Auch uralte stammesgeschichtliche Programme könnten dafür verantwortlich sein, dass sich die Traurigkeit der Machos männertypisch Bahn bricht: „Eine Depression ist für den Körper eine Existenzbedrohung; Frauen reagieren in dieser Situation mit einer Art Totstellreflex – Männer dagegen schlagen bei Gefahr um sich, sie greifen an, um ihr Leben zu retten“, erläutert Rutz. Beim Arztbesuch stehen die Chancen der Opfer schlecht, dass ihr Leiden rechtzeitig erkannt wird. Die Mehrzahl der Mediziner kennt nur die klassischen Depressionssymptome. „Hausärzte wechseln bei in den vergangenen Jahren ist deutlich ge- 70 bis 120 Patientenkontakten pro Tag stänworden, dass es bei den Symptomen von dig von Diabetes und Fußpilz zu HaarausDepressionen geschlechtsspezifische Aus- fall, Prostatitis und sonstigen Leiden. Sie prägungen gibt“, erklärt Siegfried Kasper, können gar nicht darauf kommen, dass hinter bestimmten Beschwerden eine DepresPsychiater an der Uniklinik Wien. Depressive Männer laufen Amok, der sion steckt“, sagt Axel Cicha, Psychiater aufgestaute Druck entlädt sich häufig ex- am Bezirksklinikum Gabersee im bayeriplosionsartig. Eine Kleinigkeit genügt, und schen Wasserburg. Auch die Betroffenen selbst tragen dazu sie gehen an die Decke. Sie gebärden sich als Lichthupentyrannen auf der Überhol- bei, dass ihr Leiden durch das Diagnosespur, betreiben exzessiv Sport oder decken raster fällt: Das Eingeständnis einer psychisich mit immer mehr Arbeit zu. Andere schen Erkrankung kratzt am Männlichpraktizieren Entlastungstrinken oder stür- keitsideal; die Opfer wollen nicht mit dem Stigma einer „Frauenkrankheit“ herumzen sich in suchtartige Suche nach Sex. laufen. Stattdessen schieben sie Konzentrations- und Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Verstopfung, Rücken- oder Kopfschmerzen vor. „Depressive Männer präsentieren einem als Arzt organische Symptome wie auf dem Silbertablett, nur damit sie um eine psychiatrische Diagnose herumkommen“, berichtet Klaus Wahle, Allgemeinmediziner in Münster. Am Ende schaukeln sich die seelischen Nöte noch immer in Tausenden Fällen zur tödlichen Psychiater Rutz: „Männer schlagen bei Gefahr um sich“ Autoaggression hoch: Mehr als zwei Drittel der jährlich rund „Wenn sich plötzlich solche Verhaltens- 11 000 Selbstmörder in Deutschland sind muster zeigen, muss man fragen, ob sich männlich. Die Suizidforscher sind überdahinter nicht eine Depression verbirgt“, zeugt davon, dass sich die meisten Selbsterklärt der Psychiater Wolfgang Rutz, bis morde verhindern ließen, wenn die zuvor kurzem Regionalbeauftragter für psy- grunde liegenden Depressionen frühzeitichische Gesundheit bei der Weltgesund- ger diagnostiziert und fachkundiger behandelt würden. heitsorganisation in Kopenhagen. An die 90 Prozent der Kranken könnten Noch immer bezweifeln zwar viele deutsche Mediziner, dass es spezifisch mas- mit Verhaltenstherapie oder Medikamenkuline Äußerungsformen der Depression ten geheilt werden. Oftmals reicht schon gibt. Doch zumindest in den englischspra- die ambulante Behandlung aus, um die chigen Ländern findet das Konzept vom Turbulenzen des Gemüts in den Griff zu speziellen Erscheinungsbild der Männer- bekommen. Ulrich Hegerl, Psychiater an depression seit einigen Jahren vermehrt der Universität München: „Wir können heute fast jedem wirksam helfen.“ * Filmszene aus „Fight Club“ mit Brad Pitt (1999). d e r
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Günther Stockinger
Titel
Löwenpaar beim Liebesakt
KARI LOUNATMAA / SPL / AGENTUR FOCUS (O.L.); A. SHAH / WILDLIFE (U.L.); B. KENNEY / WILDLIFE (L.); ERICH LESSING / AKG (R.)
Erbgut-Austausch bei Bakterien
Kopulierende Fischadler
Orgiendarstellung (Ölgemälde „Liebe
Das Fest der Triebe Sex ist kompliziert, strapaziös und unökonomisch. Warum hat sich diese Fortpflanzungsweise dennoch durchgesetzt? Biologen haben dieses größte Rätsel der Evolution jetzt weitgehend gelöst – und erkunden dabei die phantasievollen, teils grausamen Sexualpraktiken der Tiere.
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on den Bienchen und den Blumen erzählen, von der Bestäubung und all dem, das geht noch in Ordnung. Wer kleine Kinder aufklären will, sollte aber besser die Frage hintanstellen, wie die Bienen selbst ihren Nachwuchs machen. Dann lieber gleich den braven Menschensex erklären. Denn wo das Völkchen der Pollensammler sich fortpflanzt, explodieren die Männchen, ihr Gemächt reißt ab; es kommt zu Gruppensex, Folter und manchmal zum eiskalten Muttermord. Gegen das Treiben der Honigbiene nehmen sich Hurenhäuser, Swingerclubs und Sadomaso-Szene gesittet aus.
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So ist der Drohn allein für den Sex auf der Welt. Sein Leben kennt nur zwei Varianten: Entweder er schafft es, der jungfräulichen Königin beim Hochzeitsflug seinen Samen zu verpassen – dann stirbt er sofort. Noch in dem Weibchen steckend, fällt er hintüber, und mit einem Schnappgeräusch sprengt es ihm den Hinterleib entzwei. Sein Genital bleibt in der Königin stecken – eine Art Keuschheitspfropf, den der nächste opferfreudige Lover erst wieder ausstöpseln muss. Oder es gelingt dem Drohn nicht einmal die Begattung – was viel wahrscheinlicher ist, denn von bis zu 25 000 Männd e r
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chen kommen höchstens 40 zum Zug. Die Versager beim Kampf um den Sex mit der Königin rafft es Ende August dahin. Bei der sogenannten Drohnenschlacht drängen die Arbeitsbienen, ihre Schwestern, sie von den Futterplätzen und jagen sie aus dem Stock – die Männchen verhungern. Und manchmal stechen Arbeiterinnen die nutzlosen Geschöpfe zu Tode. Auch die Königin selbst wird nicht für immer bedient und gepäppelt. Hat sie ausgedient, ist krank geworden oder sonstwie auffällig, wird sie am Ende gemeuchelt von den eigenen Töchtern.
im Goldenen Zeitalter“ von Paolo Fiammingo, um 1585/89)
Für Romantik, Liebe und Familienglück hat die Natur nicht viel übrig. Bestialisch mutet beispielsweise auch das Liebesleben vieler Zwitter an: Diese Mischwesen aus Männchen und Weibchen vergewaltigen einander am laufenden Band. Die in den Wäldern Nordamerikas lebende Bananenschnecke beißt ihrem Gegenüber gar gelegentlich zum Après-Sex den Penis ab. Noch barbarischer erscheint der Sex bei der australischen Redback-Spinne: Hundertmal kleiner als seine Angebetete, entreißt ein Männchen seiner Wunschpartnerin mitunter den Rivalen, fesselt ihn flugs mit Spinnfäden und stürzt sich selbst ins zweifelhafte Vergnügen: Während des Akts, bei lebendigem Leib, wird es verspeist von der Gefährtin. Vielleicht hat das oft blutige Fest der Triebe einst sogar mit einem Gewaltakt begonnen, vor ein bis zwei Milliarden Jahren. Nach einer besonders unromantischen Theorie stand am Anfang – Kannibalismus. Räuberische Einzeller mit großem Appetit, so vermuten manche Forscher, machten sich über andere Einzeller her und verspeisten sie. Doch anstatt deren Erbgut wie
üblich zu verdauen, benutzten sie es für sich selbst – was ihnen offenbar so gut bekam, dass sie den Genmix zur Methode machten. Ob am Anfang der großen Liebe wirklich das große Fressen stand, kann einstweilen niemand mit Gewissheit sagen. „Über den Ursprung des Sex gibt es wilde Theorien“, sagt Nico Michiels, belgischer Evolutionsbiologe an der Universität Tübingen. Noch vor den Einzellern, bei einer Art Ur-Sex, ging es definitiv friedlicher zu. Bakterien legten sich aneinander und tauschten über dünne Auswüchse auf ihrer Zelloberfläche das ein oder andere Erbgutstückchen aus. Mindestens ebenso spannend wie die Frage nach dem Wie und dem Wann ist aus Sicht der Wissenschaftler jedoch ein ganz anderes Problem: Wozu das alles? Warum hat die Natur den Sex überhaupt erfunden? Und wichtiger noch: Weshalb hat sich diese umständliche Art der Fortpflanzung dann auch noch so erfolgreich auf dem Planeten durchsetzen können, dass mindesd e r
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tens 99,9 Prozent aller Tiere es heute als Männlein und Weiblein treiben? Schließlich funktioniert die weit weniger aufwendige ungeschlechtliche Fortpflanzung, gewissermaßen das Sprossen aus sich selbst heraus, auch nicht schlecht. Einige Rädertierchen gelten als Champions ewiger Keuschheit – und diese winzigen Wasserkreaturen existieren schon seit 80 Millionen Jahren, eine Idylle aus Müttern und Töchtern. Weltweit vermehren sich über 300 Arten von ihnen ohne jede Spur von Sex. Ebenso pflanzen sich weitere Wirbellose wie Fadenwürmer, Muschelkrebse und Blattläuse fort, von denen einige zumindest zeitweise aufs Hickhack der Geschlechter verzichten. Unter den Wirbeltieren beherrschen vor allem Reptilien die vaterlose Vermehrung: ungefähr 30 Echsenarten. Zuweilen gelingt dies selbst Truthühnern. Und im Prinzip tragen sogar die Eizellen weitentwickelter Säugetiere bis heute die Fähigkeit in sich, ohne Befruchtung zu einem neuen Wesen heranzuwachsen. Zumindest im Labor lässt sich dies erreichen. Erst vor wenigen Wochen haben Wissenschaftler des schottischen Roslin Insti197
PATRICK PLEUL / DPA
Brunftiger Hirsch mit Hirschkuh: Der Trieb ist alles, Keuschheit die „unnatürlichste aller sexuellen Perversionen“
tute, der Geburtsstätte des Klonschafs Dolly, wieder einmal Aufsehen erregt: Sie haben den Sex beim Menschen einfach ausgeknipst. Eizellen, elektrisch stimuliert, teilten sich aus sich selbst heraus. Sie benötigten kein Spermium mehr. Ein immerhin 50 Zellen großer Embryo entstand – ohne jedes männliche Zutun. Die Natur hält aber die Männer nun schon seit vielen Jahrmillionen offenbar für unverzichtbar. Warum ist das so? Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit sind die Forscher in den vergangenen Jahren entscheidende Schritte vorangekommen bei der Suche nach Antworten auf die „Königin der unbeantworteten Fra198
gen“, wie Evolutionsbiologen das große Rätsel einst ehrfürchtig tauften. Die Gründe für den triumphalen Siegeszug der Sexualität liegen nun immer klarer auf der Hand. „Das Problem“, bestätigt Michiels, „ist weitgehend gelöst.“ Gleich drei Vorteile des zweigeschlechtlichen Treibens, so haben die Wissenschaftler inzwischen herausgefunden, wirken auf vielfältige Weise zusammen, um den Sex zur besten Fortpflanzungsmethode der Welt zu machen: • Sex hält gesund, • Sex hält das Erbgut intakt, • und mit Sex lässt sich der bestmögliche Nachwuchs zeugen. d e r
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Wie komplex auch immer diese Vorteile der Sexualität zusammengespielt haben mögen, um ihr zum Triumph zu verhelfen – eines steht fest: Geschlechtlichkeit beherrscht die Welt. Der Trieb ist alles; Keuschheit dagegen, wie der britische Schriftsteller Aldous Huxley schrieb, die „unnatürlichste aller sexuellen Perversionen“. Mehr noch: Im Laufe der Jahrmillionen ist der Sex zum gigantischen Motor der biologischen Entwicklung geworden. Die Triebe der Bienen, Schnecken und Spinnen sind nur wenige von schier unendlich vielen Beispielen für diese formende Kraft, die Zug um Zug Organismen optimiert und spezialisiert bis ins kleinste Detail.
Titel
* Olivia Judson: „Die raffinierten Sexpraktiken der Tiere“. Heyne, München; 368 Seiten; 18 Euro.
DWIGHT KUHN
Biologen sprechen von den Doppelkosten der Sexualität. Im Modell, rechnet Curt Lively vor, würden beispielsweise die Nachkommen einer einzigen asexuellen Schnecke in weniger als 50 Generationen eine Population von einer Million SexSchnecken und deren Nachwuchs komplett ersetzt haben. Umso erstaunlicher erscheint es, dass die Evolution die teure und daher „bizarre Erfindung der Männlichkeit“, wie der britische Evolutionsbiologe William Hamilton einmal meinte, überhaupt zugelassen hat – ansonsten gebärdet sie sich wie eine Großkapitalistin, die Investments mit schlechter Rendite alsbald abstößt. Auch wenn damit der doppelte Preis nicht wegzurechnen ist – manche Tiere ha-
Siamesische Kampffische
Alle Opulenz verdankt die Welt dem Sex
HARPE / WILDLIFE
„Der Zwang, einen Partner zu finden und ihn zu verführen, ist eine der stärksten Mächte der Evolution“, glaubt auch die Biologin Olivia Judson vom Imperial College in London, die ein witziges und zugleich lehrreiches Buch über das Liebesleben der Fauna verfasst hat*. „Vielleicht nichts anderes im Leben bringt eine ekstatischere Vielfalt an Taktiken und Kriegslisten hervor, ein überraschenderes Aufgebot an Gestalt und Verhalten.“ Ohne Sex kein Rosenduft, keine Magnolienblüte, kein Lerchengesang – alle Pracht und Opulenz verdankt die Welt dem Zwang zur Partnerschaft. Ohne Sex wäre das Leben stehen geblieben in der Zeit des puren Zölibats, bei „Blattlaus und Löwenzahn“, schreibt auch der britische Wissenschaftsautor Matt Ridley, sich „mühelos vermehrend, aber weder Königreiche noch Kathedralen errichtend“. Der Mensch selbst wäre undenkbar und mit ihm Malerei und Musik, Porsche Cayennes und Goldkettchen, Frauenzeitschriften und Manolo Blahniks. Auf den ersten Blick sind die Vorzüge der Sexualität indes nur schwer zu erkennen. Im Gegenteil scheint diese Art der Fortpflanzung lauter schwerwiegende Probleme mit sich zu bringen. Vor allem drei Gründe lassen den Siegeszug der Triebe als großes Paradoxon der Evolution erscheinen: • Sex verwässert die eigenen Gene: Der Nachwuchs erbt die Hälfte von der Mutter, die andere vom Vater. Nach einem Grundsatz der Evolutionsbiologie aber müssten Lebewesen alles dransetzen, das eigene Erbgut möglichst komplett in die Zukunft zu befördern. • Sex ist ein Überlebensrisiko: Am Anfang müssen Organismen gestanden haben, deren Erbgut an sich schon fürs Überleben optimiert war – sonst hätten sie es in der Evolution gar nicht erst so weit gebracht. Aber durch den Sex wurden ihre Gene heftig durcheinander gewürfelt – mit ungewissem Ausgang. „Warum eine gute Sache zerschlagen?“, fragt Curt Lively von der Indiana University, einer der führenden Sex-Evolutionsforscher. • Sex ist zu teuer. Das größte Rätsel für die Biologen bleibt das kleine Einmaleins der Sexualität: Einer einfachen Rechnung zufolge erscheint die Erfindung eines zweiten Geschlechts, also des Männchens als bloßer Samenspender, ökonomisch als unsinnig – Männer kriegen eben selbst keine Kinder. So können zwei Vertreter einer asexuellen Art logischerweise auf einen Schlag doppelt so viele Nachkommen produzieren wie Eltern einer sexuellen Art – ein Effekt, der sich von Generation zu Generation auch noch potenziert.
Hahnenschweifwida mit Prunkschwanz
Miese Aerodynamik allein für die Show d e r
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ben wenigstens den alltäglichen Aufwand für den Unterhalt von Männchen gesenkt, indem sie diese Exemplare reduzierten auf ihre Rolle als Samenspender. Treffen etwa zwei Anglerfische in der Tiefsee aufeinander, wird es mitunter gleich die Liebe ihres Lebens. Das winzige Männchen heftet sich inniglich an das Riesenweibchen und verschmilzt mit ihm, bis es sogar den Blutkreislauf des Weibchens mit ihm teilt. Fressen braucht das Fischlein jetzt nicht mehr – Big Mama ernährt ihn ja. Im Gegenzug besamt er sie, wann immer sie es wünscht. Bei manchen Arten verkümmert das männliche Anhängsel bis auf die Hoden. Es war der berühmte Biologe John Maynard Smith, der schon in den siebziger Jahren die damals zumeist männlichen Evolutionsforscher zwang, sich die schmerzhafte Frage zu stellen, warum die Männchen überhaupt existieren. „Und als man erkennen musste, dass Sex reine Verschwendung ist, stellte sich die Frage, was ihn dann immer noch so vorteilhaft macht“, berichtet Michiels. Der Grundgedanke aller Lösungsideen zu diesem Problem lautet: Neue Wesen, die sich von ihren Eltern unterscheiden, wappnen sich besser gegen zukünftige Gefahren für Leib und Leben. „Nur durch Sex kann man Nachkommen hervorbringen, die besser sind als man selbst“, erklärt Michiels. Auf diese Erkenntnis stützt sich die wohl bekannteste Antwort auf das größte Rätsel der Evolutionsbiologie: die Red-QueenHypothese, benannt nach einer Figur aus dem Kinderbuch „Alice hinter den Spiegeln“. Diese, eben eine Königin, fordert Alice auf zu einem rasanten Rennen. Als das Mädchen sich wundert, warum sie trotz Höchstgeschwindigkeit nicht vorwärts kommen, erklärt die Königin: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ Das heißt, allein um zu überleben, müssen sich Lebewesen rasch verändern. Wer stehen bleibt, hat schon verloren. Der todbringende Gegner im Rennen: Parasiten. Ständig greifen gigantische Armeen von Würmern, Bakterien, Viren alles an, was lebt. Treffen sie auf eine Monokultur geklonter Wesen, die alle an derselben Stelle anfällig sind, vernichten die Krankheitserreger in Windeseile die gesamte Population. Zwar werden Epidemien wie Aids oder vielleicht einmal die Vogelgrippe auch beim sexuellen Wesen Mensch immer wieder große Bevölkerungsteile niederstrecken können. Aber ein paar Widerständige überleben selbst solche Seuchen – zufällig hat die Sexualität deren Gene so neu zusammengewürfelt, dass der Schlüssel des Virus kein Schloss mehr findet. Zusätzlich könnte die Sexualität auch als genetischer Müllentsorger wirken. Denn mit der Zeit häufen sich im Erbgut 199
Titel
DWIGHT KUHN
P. OXFORD / WILDLIFE
Wie also gelingt es den Wesen, die sich dem Sex verschrieben haben, die doppelten Kosten für Männchen wieder reinzuholen? „Sex muss auch einen kurzfristigen Vorteil bieten“, sagt Michiels. „Das ist lange übersehen worden.“ Seine Idee: die Partnerwahl. „Wenn der Sexualpartner nicht dem Zufall überlassen bleibt“, sagt Michiels, „sondern sorgfältig ausgewählt wird, werden die doppelten Kosten gar nicht erreicht.“ Denn dann sucht und findet das stärkste Männlein das gesündeste Weiblein zwecks gemeinsamer Optimierung der Gene. Oder das größte Weibchen ergattert den liebevollsten Vater – im Idealfall also einen Partner, mit dessen Hilfe es doppelt so viele oder noch mehr Kinder gebären, füttern und schützen kann, als wenn es kein Männchen an seiner Seite hätte. Und schon sind die doppelten Kosten gespart. Die richtige Partnerwahl muss demnach ein entscheidender Faktor sein, um den Sex zur überlegenen Fortpflanzungsstrategie zu machen – sonst würden die Tiere nicht so viel Mühe darauf verwenden. Die wählerischsten Weibchen sind vermutlich die einer Winkerkrabbe, wie kürz-
unabwendbar Mutationen an, gleichsam Tippfehler in der DNA. Manche dieser Veränderungen tun unverhofft Gutes, verschaffen einem Bazillus zum Beispiel Resistenz gegen Antibiotika; die meisten aber schädigen die betroffene Kreatur. Wirken mehrere Mutationen zusammen, raffen sie die Organismen im Nu dahin. Sexuelle Arten haben weitaus bessere Überlebenschancen. Der Zufall teilt beim Mischen des Erbguts einigen Kindern besonders wenige kaputte Gene zu. Anderen hingegen wirft er alle schlechten Karten auf einmal hin – Erbgutfehler, so fatal, dass die Pechvögel sich nicht einmal mehr vermehren können. Sie sterben und nehmen die schädlichen Mutationen mit ins Grab. Ihre Spezies hat sich damit praktischerweise gleich mehrerer Tippfehler auf einmal entledigt. Das Drama der asexuellen Geschöpfe hat den Forschern Indizien dafür geliefert, dass es sich ohne Sex zwar flott vermehren, aber nicht lange überleben lässt. Im Schnitt nur 12 bis 40 Millionen Jahre halten sich zölibatäre Wesen auf Erden (die Rädertierchen gehören zu den großen Ausnahmen). „Sie werden daher als evolutionäre
Jungferngeburt bei der Blattlaus
Nistendes Hindublatthühnchen-Männchen
Idylle aus Müttern und Töchtern
Befreit vom Sex im Hausmann-Harem
Sackgassen angesehen“, erklärt der Evolutionsbiologe William Rice von der University of California in Santa Barbara. Und dennoch: Rein rechnerisch müssten die asexuellen Schnellvermehrer die Sex-Geschöpfe eigentlich stets überrunden und im Überlebenskampf aus dem Felde schlagen. Denn die Vorteile der geschlechtlichen Vermehrung – besserer Schutz vor Mutationen und Parasiten – kommen erst nach vielen Generationen zum Tragen. 200
lich eine kalifornische Biologin herausgefunden hat. Auf der Suche nach Mr Perfect unterziehen die Damen mehr als zwanzig Kandidaten samt ihrer Höhlen einem ausgiebigen Qualitätscheck. Die Größe des Nests muss nämlich exakt auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sein. Das ist wichtig für die Ablage ihrer Lärvchen – ein schlampig gebuddeltes Junggesellenloch tut’s da nicht. Einem besonders strengen Weibchen konnten die Höhlenbaumeister anscheinend nur schwer genüd e r
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gen: Es überprüfte mehr als hundert von ihnen, bevor es sich endlich für den einen entschied. Ob es der Gesang des potentiellen Liebhabers ist oder ein opulentes Geweih, rote Punkte am Bauch oder ein kleiner, dicker Leib – was die Tiere jeweils als besonders sexy empfinden bei Braut oder Bräutigam, variiert schier ins Unendliche. Um beim anderen Geschlecht aufzufallen, müssen manche Geschöpfe sogar immense Nachteile in Kauf nehmen: Das handgroße Männchen des afrikanischen Hahnenschweifwidas schleppt einen halben Meter Schwanzfedern hinter sich her – ein ungeheurer Aufwand, jedes Jahr wieder, allein für die Show bei den Weibchen. Um bei der damit verbundenen miesen Aerodynamik überhaupt aus dem Torkeln rauszukommen, musste das Vögelchen zusätzlich in entsprechend lange Flügel investieren. Aber diese Hilflosigkeit ist ein geringer Preis für die Möglichkeit, über die Schwanzfedern eine verschlüsselte Botschaft an die Dame zu schicken, eine Antwort auf die elementare Frage jedes paarungswilligen Geschöpfs: Werde ich mit dir viele gesunde Babys in die Welt setzen können? Unbedingt!, lautet die Botschaft eines jeden reichverzierten Männchens: Ich bin gesund! Ein schneller Jäger! Oder: Ich bin beliebt bei den Weibern, meine Söhne erben den Sex-Appeal – so garantiere ich dir auch noch eine große Enkelschar! Dass opulentes Dekor tatsächlich unmittelbar in üppigerem Kindersegen mündet, hat die Biologin Rebecca Safran von der Princeton University nun erstmals nachgewiesen, meldete das Wissenschaftsmagazin „Science“ vorige Woche. Die Biologin hatte einigen Männchen der Nordamerikanischen Rauchschwalbe bauchseitig ein helles Walnussbraun auf die sonst zarter getönten Federn getüncht. Die Frage: Durften die aufgehübschten Kerlchen nun plötzlich mehr Nestlinge zeugen als zuvor mit naturbelassenem Federkleid? Sie durften. Zum einen gingen ihre eigenen Gefährtinnen weniger fremd als zuvor. Und zum anderen kam so ein geschminkter Beau plötzlich ran an die Partnerin seines blassen Kollegen. Kaum eine Äußerlichkeit jedoch scheint quer durch alle Tiergruppen hinweg so geeignet zu sein, mit der Qualität der eigenen Gene zu protzen wie Symmetrie. Darauf fahren Rauchschwalben ebenso ab wie der Mensch, Stichlinge ebenso wie Skorpionsfliegen. Kein Wunder: Beidseitiges Gleichmaß ist schwer zu erringen während der Embryonalentwicklung. Inzucht, Hunger oder Krankheiten, mit denen das Immunsystem nicht klarkommt – jede Störung kann die Symmetrie beeinträchtigen. Folglich signalisiert Ebenmaß den perfekten Partner.
KINOWELT
Brutpflege bei Kaiserpinguinen*: Bricht das Packeis zu spät, lassen die Eltern ihre Kleinen sang- und klanglos allein
So besitzen Hirsche mit dem größten Harem nicht nur das meistendige Geweih, sondern auch das gleichmäßigste. Und Grillenweibchen paaren sich gern mit besonders hübsch zirpenden Männchen. Denn so schön schnarren nur solche, deren Singorgane völlig symmetrisch angeordnet sind. Eine sexy Männerstimme erotisiert auch Menschenfrauen, ergab ein Versuch an der State University of New York. Und siehe da: Bei den Kerlen mit dem attraktivsten Timbre fanden die Forscher auch rechts und links gleichgeformte Gliedmaßen. Zudem hat die Natur Wege gefunden, wie Paarungswillige die Qualität ihrer Immunabwehr bei der Brautschau zu Markte tragen können. Der Partner sollte eine von der eigenen möglichst verschiedene Version des dafür verantwortlichen Gen-Komplexes namens MHC in seinen Zellen tragen. Theoretisch kann der Gen-Mix der * Szene aus dem Dokumentarfilm „Die Reise der Pinguine“ von Luc Jacquet.
Nachkommen dann umso besser den Krankheitserregern widerstehen. Entsprechend setzen sich Frauen, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, genau auf den Stuhl, an dem der Geruch eines Mannes haftet, dessen MHC sich am stärksten von ihrem unterscheidet; das zeigen Experimente von Verhaltensforschern. Außerdem offenbaren sich jene Gene im Gesicht – eine Frau, die Leonardo DiCa-
ser. Entgegen ihrem Ruf als notorische Kopfabbeißerin verzehrt dagegen die Gottesanbeterin, eine Fangschrecke, höchstens bei argem Hunger Teile des Geliebten beim Sex. Aber das Todesopfer, so absurd es klingt, lohnt sich für den Einzelnen. So befruchtet das bei lebendigem Leib angefressene Redback-Spinnenmännchen mehr Eier als eines, das dem Freitod entrinnt. Wenn das Spinnenweibchen nämlich damit beginnt, an ihm herumzukauen, dauDas Lotterleben mit mehreren Lovern ert der Sex länger – und gibt ihm Zeit, mehr Spermien zu übertragen. lohnt sich für die Weibchen. Ohne diesen Vorteil hätte sich solch prios Antlitz attraktiv finden kann, muss Kamikaze in der Evolution kaum durcheine von seiner sehr verschiedene Immun- setzen können. abwehr besitzen. Die Männchen anderer Spinnenarten erDie Investition in Symmetrie, Feder- sannen im Laufe der Evolution Schachzüschmuck oder Brioni-Dreiteiler erscheint ge gegen die gefräßige Geliebte. Die einen allerdings als gering verglichen mit den Op- keilen beim Sex mit speziellen Spornen an fern, die manch anderes Männchen bringen ihren Kieferfühlern die Mundwerkzeuge muss, um zum Zuge zu kommen – mehr als des Weibchens fest, andere fesseln ihre 80 Spezies kennen den Liebestod: Skor- Partnerin vorher in SM-Manier oder verpione, Mücken, vor allem aber Spinnen- abreichen ihr einen Liebestrank, der sie weibchen betätigen sich als Männerfres- still und gefügig macht. Das Wolfsspind e r
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TIM FITZHARRIS
Rivalenkampf männlicher See-Elefanten: Die Natur hält die Männchen seit Jahrmillionen für unverzichtbar – warum?
nenmännchen wiederum kickt seine Gefährtin nach dem Sex in hohem Bogen in die Luft – und rennt dann um sein Leben. „Egal ob Sie eine Fruchtfliege, ein Mensch oder eine Seekuh sind, der Geschlechterkampf ist unausweichlich“, sagt Olivia Judson, „nicht zu schlichten, ein ewiger Krieg.“ Es musste so kommen: Mit der Erfindung von männlich und weiblich war es aus mit friedlichem Vor-sich-hin-Sprossen und Jungfrauen-Idyll. Der Konflikt der Geschlechter eskalierte zum alles beherrschenden Prinzip der sexuellen Vermehrung. Dabei ist das Ur-Interesse der beiden Geschlechter noch identisch: Weibchen wie Männchen versuchen, mit möglichst geringem Aufwand möglichst viele lebensfähige Nachkommen in die Welt zu setzen. Da enden aber schon die Gemeinsamkeiten. Das Männchen nämlich trachtet vor allem danach, die Anzahl befruchteter Eier zu maximieren, die Vaterschaft sicherzustellen und die erfolgreiche Aufzucht der Kleinen zu gewährleisten. 202
Eine Fehlinvestition hätte beispielsweise ein Vogelmännchen getätigt, wenn das Weibchen seinen Samen einfach wieder herausschleuderte und den des nächsten Lovers benutzte – so entledigt sich das Haushuhn nach dem Sex der Spermien eines Hähnchens, das ganz unten steht in der Hackordnung. Besonders teuer kommt
Aus diesem Grund strebt das weibliche Geschlecht danach, den Fortpflanzungserfolg zu sichern und zu maximieren, indem es sich mehrere Liebhaber nimmt. Ob Stielaugenfliege oder Schimpanse – Weibchen sind sich zu schade für einen allein. Das ergaben etwa genetische Tests, mit denen die Vaterschaft beim Nachwuchs von 180 Singvogelarten überprüft werden sollte. Allesamt nach außen hin scheinAls wichtigstes Kriegsgerät dient dem bar braves Ehegespons, erwies sich gerade mal eine von zehn dieser Arten Männchen sein Penis. tatsächlich als treu. Die Monogamie, es ein Männchen zu stehen, wenn es der so Judson, sei „eine der abweichendsten Partnerin hilft, die Brut eines Neben- Verhaltensweisen in der Biologie“. buhlers durchzufüttern. Das Lotterleben mit mehreren Lovern Dem Weibe hingegen reicht es nicht, vom lohnt sich für die Weibchen. HindublattErstbesten besprungen zu werden – der hühnchen zum Beispiel halten sich eine Lover könnte ja unfruchtbar sein. Oder sein Art Hausmann-Harem von bis zu vier schwaches Immunsystem vererben, so dass Männchen. Mit denen paaren sie sich reihes mit großem Aufwand kränkelnde Kin- um; befreit von der Sex-Pflicht sind nur der großziehen muss. Vielleicht will auch jene Verehrer, die gerade mit Brüten oder das Erbgut des Männchens nicht so recht Füttern beschäftigt sind. passen. Beim Menschen können ein bis zwei Die Männchen übernehmen nämlich von zehn unfruchtbaren Paaren wegen in- gleich die Aufzucht der ganzen Kinderkompatibler Gene keine Kinder bekommen. schar. So ein Pascha-Weibchen bekommt d e r
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Titel rin die Eier legt, geht’s zur Sache; dann kopuliert der Greif über hundertmal mit ihr, um sicherzustellen, dass sie nur ja seinen Samen verwendet. Ein delikates Zeitproblem haben die Youngster der Meerechsen auf den Galápagosinseln. Da die Weibchen eher auf ältere Semester stehen, sprich größere Männchen, haben die kleinen nur eine geringe Chance, zum Zuge zu kommen. Und wenn einer es geschafft haben sollte, die Echsin zu besteigen und einen seiner beiden Penisse einzuführen, reißt garantiert einer der stärkeren Favoriten ihn herunter – Coitus interruptus.
FOTOS: DWIGHT KUHN
also mit wenig Aufwand viermal so viele Nachkommen wie die Nachbarin, die in Einehe lebt – von doppelten Kosten der Sexualität kann da keine Rede mehr sein. Gene-Shopping nennen die Wissenschaftler das promiske Verhalten der Weibchen. Aber nicht nur wegen der Durchmischung des Erbguts zahlt sich die Herumhurerei aus. So bekommt der weibliche Zweistreifenjunker, ein Fisch, von mehr Männchen auch mehr Eier befruchtet. Und Kaninchen- wie Präriehundedamen erhöhen die Chance auf Empfängnis, wenn sie sich von mehreren besteigen lassen. Doch gerade das Luderleben der Weibchen befeuert den Geschlechterkampf bis hin zu einem gnadenlosen Wettrüsten. Die Männchen müssen viel Aufwand treiben, um ihre Gene bei der Fortpflanzung erfolgreich unterzubringen. „Wenn Weibchen sich mit mehr als einem Männchen paaren“, sagt Judson, „zieht flink Krieg ein in die Boudoirs.“ Dabei begünstigen die unbeseelten Kräfte der Evolution jede neue Waffe: anatomische Spezialwerkzeuge, extrem aggressives oder trickreiches Verhalten – Hauptsache, die Maßnahme führt zu mehr oder lebenstüchtigerem Nachwuchs. Als wichtigstes Kriegsgerät dient dem Männchen dabei sein Penis. Mit Hilfe eines Stabes lässt sich einigermaßen sicherstellen, dass sein Samen auch tatsächlich zu den Eizellen gelangt. Vogelweibchen entscheiden aber lieber selbst, wessen Sperma sie benutzen – so ist die Penetration bei diesen Tieren weitgehend abgeschafft worden, nur wenige Vögel wie Strauß oder Enten besitzen noch einen Phallus. Alle anderen dürfen lediglich ihre hintere Öffnung, die Kloake, auf die des Weibchens pressen; beim sogenannten Kloakenkuss saugt es dann den erwünschten Samen in sich hinein. Der Büffelweber aber, eine afrikanische Vogelart, bei der die Weibchen rasend promisk leben, hat eine raffinierte Gegenmaßnahme entwickelt: Das Männchen besitzt einen Pseudopenis. Dabei handelt es sich um einen Gewebestab, der zwar kein Sperma übertragen, aber offenbar Lust erzeugen kann. Damit reibt der Büffelweber die Kloake seiner Partnerin, eine halbe Stunde lang geht das so. Dann ejakuliert er den Samen aus seiner Geschlechtsöffnung. Das Männchen, das seine Geliebte am nachhaltigsten pläsiert, so nehmen die Forscher an, hat die beste Chance, sie zu überzeugen, sein Sperma zur Befruchtung zu nutzen. Der Stockenten-Erpel ist da wenig zimperlich; er bedient sich zu diesem Zweck einfach der Anatomie der weiblichen Kloake. Die begünstigt die Spermien des letzten Liebhabers. Erwischt er also seine Ente in flagranti, springt er rasch noch mal selbst auf. Auch bei Fischadlern und Habichten ist gutes Timing alles. Kurz bevor die Partne-
Doch die Kleinen haben einen Trick parat. Sie fangen schon mal an, sich zu stimulieren, wenn sie eines Weibchens in ihrer Nähe gewahr werden. So bringen sie sich in Stimmung und können dann flugs ejakulieren, falls sie es schaffen, das Weibchen zu besteigen. Ansonsten ist Masturbation vor allem von Primaten bekannt – insbesondere Bonobos sind berühmt dafür. Aber auch Orang-Utans basteln sich Sex-Spielzeug aus Blättern oder Zweigen. Und eine Schimpansin, die bei Menschen aufgewachsen war, befriedigte sich gar zu den Fotos nackter Kerle in einer Ausgabe der Zeitschrift „Playgirl“. Das Problem mit den Fremdgängerinnen versuchen Primaten inklusive Homo sapiens schlicht mit Masse zu lösen: Je promisker das Weibchen einer Art, desto größer die Hoden der Männchen, und desto mehr Samenzellen produzieren sie folglich. Außerdem verfügen die Tiere über ein Protein, das Sperma zäher fließen lässt. Das Gen für diesen Stoff, so fanden Biologen kürzlich heraus, ist bei den promisken Schimpansen (etwa acht Liebhaber pro Zyklus) derart mutiert, dass das Ejakulat praktisch die Vagina verstopft – und auf diese Weise Konkurrenzspermien den Weg verbaut. Bei den braveren Gorillas darf der Samen des Liebhabers dünnflüssiger sein, der Menschenmann liegt mit der Konsistenz seines Spermas ungefähr gleichauf – was Rückschlüsse auf die tatsächliche Promiskuität der Frau zulässt. Keuschheitsgürtel sind überhaupt schwer beliebt: Sie finden sich bei so unterschiedlichen Tieren wie Fledermäusen, Schlangen, Schmetterlingen und Eichhörnchen. Der Hausmäuserich etwa fertigt einen Stopfen an, der so hart ist, dass ein Skalpell davon abspringt; ein Versuch, ihn herauszuziehen, kann damit enden, dass das Gebärmutterband reißt. Die Kratzer, kleine parasitische Würmer, wenden die Methode auch bei rivalisierenden Männchen an, indem sie nicht nur die Geschlechtsöffnung der Weibchen nach dem Sex mit den Sekreten ihrer Kittdrüse zupappen, sondern sicherheitshalber auch Rivalen begatten, um diese ebenfalls zu versiegeln. Die Dynamik des sexuellen Verzehren des Gottesanbeterin-Männchens beim Sex Wettrüstens bringt es mit sich, Mehr als 80 Spezies kennen den Liebestod d e r
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A. MERTINY / WILDLIFE
Schwarzschwanz-Präriehunde beim Sex: Weibchen erhöhen die Chance auf Empfängnis, wenn sie sich von mehreren besteigen lassen
STUART CONWAY
Bis ins letzte Molekül ausgeliefert dem mehrere Männchen an der Hacke, die es dass viele Weibchen die Fertigkeit entwickeln, sich solcher Antisex-Pfropfe wie- wählerischen Geweibs – bei vielen Tier- verfolgen und niederzuzwingen versuder zu entledigen. Dem Östlichen Fuchs- arten greifen die Männchen deshalb zum chen. Wie die Berserker springen sie aufs Weibchen drauf, und jedes versucht, hörnchen verschafft die Methode sogar Äußersten: der Vergewaltigung. Kopulation gegen den Willen des Weib- es zu begatten, so fest es seinen Schwanz noch Kalorien: Es zieht den Korken gleich chens, das tun manchmal auch Hummer und damit die Geschlechtsöffnung auch nach dem Akt – und frisst ihn zuweilen. Der Kampf der Geschlechter setzt sich und Schildkröten, viele Vögel, Fledermäu- an den Boden presst. Die Übeltäter sind nicht etwa die Junggesellen der Kofort bis in die letzte Zelle, das letzte Molonie, die in der Gewalt ihre einzilekül. So begegnet der Frauenkörper dem Spermienansturm des Mannes in heftiger „Bisexualität verdoppelt deine Chance ge Chance wittern, sondern zumeist die Lebensgefährten der NachbaGegenwehr. Bei den Säugetieren verwan- auf ein Rendezvous.“ rinnen. delt allein schon das saure Milieu die ScheiWie kann die Evolution solches Verhalde in eine Spermienhölle; danach machen se und Primaten. Und die Skorpionsfliegen: sich Fresszellen im Muttermund und in der Da hat das Männchen gar ein spezielles ten begünstigen? Zumal bei den KolonieGebärmutter über die kleinen Schwimmer Sado-Werkzeug hervorgebracht, ein paar vögeln der Gewaltakt nicht viel bringt: Zangen am Hinterleib, mit denen es das Schätzungen haben ergeben, dass nur ein her wie über Pesterreger. Diese Attacke beantworten die Männ- Weibchen in Schach hält. Prozent der Spint-Nestlinge von VergeUnd die Weibchen des afrikanischen waltigern gezeugt werden. chen wiederum, indem sie dem Ejakulat Wahrscheinliche Erklärung: Die Männeinen Stoff beimischen, der das Immun- Weißstirnspints, die ansonsten ein braves system und damit die Fresszellen unter- Eheleben führen, können sich kaum aus chen haben nicht viel zu verlieren – die dem Nest trauen: Sogleich hat der Vogel Weibchen wohnen nebenan; sie zu nötidrückt. gen kostet wenig. Die Gene, die solches Trotz solcher Versuche der Brutalo-Verhalten ermöglichen, übertragen Männchen, Herr des Geschesie damit auf ihre Söhne. hens zu werden – den Zellen Skorpionsfliegen dagegen zwingen die der Weibchen bleibt die letzte Unwillige aus der Not heraus. Deren WeibEntscheidung. Im Extrem bechen nämlich verkaufen ihre Gunst für eitreibt eine Melonenqualle die nen Imbiss. Wer aber nichts zu bieten hat, Suche nach dem Märchenprinweder ein totes Käferchen noch eine selbst zen: Zunächst gewährt ihre Eiangefertigte Spuckekugel, den weist es ab. zelle mehreren Spermien den Dann wird der Loser zum Vergewaltiger. Zutritt. Sodann wandert der EiZwar steht sein Fortpflanzungserfolg imKern von einem Spermienkern mer hinter dem der fleißigen Schenker zum anderen, stundenlang kann zurück. Ein paar Lärvchen indes zeugt er das so gehen, am Ende entschon – besser als nichts. scheidet er sich offenbar für eiAngesichts solcher Raserei zwischen nen, und die beiden verschmelWeib und Mann müsste es eigentlich in der zen. Die Auswahlkriterien des Zellkerns sind nicht bekannt. Biologin Judson: „Geschlechterkampf, ein ewiger Krieg“ Welt der Zwitter weitaus friedlicher zuge204
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FLEETHAM DAVID / SILVESTRIS
Winkerkrabbe: Auf der Suche nach Mr. Perfect unterziehen die Damen mehr als 20 Kandidaten dem Qualitätscheck
durchgesetzt? Warum sind wir nicht alle Zwitter? Bei keinem Reptil, keiner Amphibie, weder bei Vögeln noch Säugern kommt dieser gemischtgeschlechtliche Zustand normalerweise vor. Ist es zu schwierig für höhere Lebewesen, die komplexen Muta-
Der Keimzellen-Markt funktioniert zum Beispiel so: Zwei Sägebarsche treffen aufeinander und zeigen sich ihre dicken, eiergefüllten Bäuche, um sich gegenseitig davon zu überzeugen, dass sie beim Sex prima Weibchen abgeben würden. Dann fängt einer an und lässt eine Portion Eier ins Wasser ab. Sein Partner besamt sie und laicht im Gegenzug ein paar von Beim Sex erscheinen Hermaphroditen seinen Eiern ab, die Nummer 1 dann befruchten darf, um daraufhin sein als gröbste Barbaren des Tierreichs. zweites Eierportiönchen feilzubieten. tionen anzusammeln, die vonnöten wären, „Und immer so weiter, das kann stunum zwei Geschlechter in einem einzigen denlang so weiterlaufen“, erklärt Michiels, Tier zu vereinen? „Das Sex-Leben der „bis einem von beiden der Einsatz ausZwitter ist einfach schlecht erforscht“, er- geht.“ Der Trick bei dem Handel ist, bloß klärt Evolutionsbiologe Michiels, der sich nicht sämtliche Eier auf einmal anzubieten, auch deswegen auf diese Mischwesen weil der Partner im Sex-Geschäft einen spezialisiert hat. sonst übers Ohr hauen könnte – indem er Das Ergebnis seiner jüngsten, teils noch sie schnell besamt und von dannen zieht, nicht veröffentlichten Studien: Beim Sex seine eigenen Eier als Trumpf für den erscheinen Hermaphroditen als die gröbs- nächsten Partner im Bauch behaltend. ten Barbaren des Tierreichs. Andere Zwitter überbieten sich an bizar„Die akzeptieren Paarungssi- ren Sex-Strategien, die so bestialisch antuationen, die getrenntge- muten, dass der Liebesbiss des Löwenschlechtliche Lebewesen im männchens beim Koitus dagegen wirkt wie Traum nicht erdulden wür- eine Geste größter Zärtlichkeit. So beden“, sagt Michiels. treibt, wie Michiels herausgefunden hat, Das Drama der Zwitter be- eine bestimmte Plattwurmart regelrechtes ginnt damit, dass sie im Mo- Penisfechten. ment der Paarung lieber den Treffen zwei Begattungswillige aufeinMann spielen mögen – schließ- ander, richten sie sich auf, präsentieren lich ist es biologisch billiger, ihre bauchseitigen Penisse wie Schwerter, Samen herzustellen als Eier zu und während sie umeinander tänzeln, sich produzieren. Manche Zwitter biegen, vorstürzen und ausweichen, flatlösen den Konflikt friedlich, tern ihre Körper wie blaugesäumte Capes aber aufwendig: Sie betreiben zweier Musketiere. ritualisierten Eier- und Sper„Das sieht irre aus“, sagt Michiels und lässt seine Hände im Versuch einer vorlaBiologe Michiels: „Da sieht man die abartigsten Dinge“ mienhandel. BORIS SCHMALENBERGER
hen. Schließlich vereinen sie beide Geschlechter in ihrem Leib und können sich in der allergrößten Not sogar selbst befruchten – besser Inzucht als gar keine Kinder. Auf einen weiteren Vorteil des Hermaphroditen-Daseins hat Woody Allen einmal hingewiesen, in anderem Zusammenhang allerdings: „Bisexualität verdoppelt automatisch deine Chance auf ein Rendezvous am Samstagabend.“ Anders gesagt: Jeder kann’s mit jedem treiben. Genauso geschieht es bei Großfleckigen Seehasen, bräunlichen Meeresschnecken, die sich gern mal zu tagelangen Orgien zusammenfinden. Die Tiere bilden eine Art Sex-Kette, bei der ein jedes nach vorn Männchen und nach hinten Weibchen spielt. Dennoch sind nur 10 bis 15 Prozent aller Tiere Hermaphroditen. Warum hat sich das Zwitter-Prinzip nicht viel stärker
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NICO MICHIELS
Plattwürmer beim Penisfechten: Ihre Körper flattern wie blaugesäumte Capes zweier Musketiere
gentreuen Kopie auf dem Schreibtisch genauso zucken und wirbeln wie die Leiber der Kombattanten. „Wer zuerst sticht, gewinnt.“ Der Siegerwurm besamt den Verlierer – und gleitet sodann im Eiltempo von dannen. „Hit and run nennen wir die Strategie“, sagt Michiels, „schlag zu und hau ab.“ Eine andere beliebte Zwitter-Taktik läuft darauf hinaus, den Partner auf barbarische Weise in die Weibchen-Rolle zu zwingen. So verbirgt zu diesem Zweck ein wenige Millimeter kleines Meeresschneckchen unter seiner zarten Buntheit grauenerregende Waffen: Der riesige Penis trägt Widerhaken und Dörnchen, daneben lauert eine Art Saugnapf mit innenliegendem Stilett. Die Schnecken kämpfen wie die penisfechtenden Plattwürmer um den finalen Piks, eine schafft es, versenkt ihr Stilett im Bauch des Gegners und überträgt ein Sekret. Augenblicklich wird die Verletzte ganz, ganz ruhig und zieht den eigenen Phallus ein – am Ende ihrer männlichen Herrlichkeit lässt sich die Schnecke als duldsames Weibchen begatten. „Da sieht man die abartigsten Situationen“, sagt Michiels. Und natürlich meint er damit nicht „widerlich“ oder „pervers“, schließlich will er nicht bewerten, was die Tiere da treiben. Der Biologe weiß: Die Evolution kennt keine menschlichen Normen, nicht Sitte und Anstand. Aus diesem Grund versuchen Wissenschaftler, ihr eigenes Wünschen und Wollen herauszuhalten aus ihrer Beschreibung der Natur. Das gelingt selbst nüchternen Naturforschern nicht immer. So wollten schon 208
„Liz Taylor aussehen wie eine lebenslange Monogamistin“, kommentierte die britische „Sunday Times“ die obskure Umdeutung durch amerikanische Prediger und Lebensschützer. „Jedes Jahr lassen sich 85 Prozent der Kaiserpinguine scheiden und suchen sich einen neuen Gatten aus.“ Und diejenigen, die beim Alten bleiben, tun dies mitnichten aus Liebe, sondern „weil es weniger kraftraubend ist“, ergänzt der Meereszoologe Boris Culik. Kommt der Lover vom Vorjahr etwa einen Tag zu spät von seiner Fresstour zurück zum Brutgebiet, könnte es zu spät sein. Schon hat sich das Weibchen einen neuen Gefährten erwählt – Pech gehabt, Romantik ade. Und Parade-Eltern sind die Pinguine nur so lange, wie die Eisdecke zur rechten Zeit bricht. Tut sie das nicht, lassen die Eltern die Kleinen sang- und klanglos allein – zwecks Erhalt ihres eigeJede Spielart ist zugelassen, Ekstase nen Lebens. Für die klerikalen Pinguinfans und Agonie sind festes Repertoire. kommt es noch schlimmer: Die Vögel entwickelte sich in den Vereinigten Staaten in der Eiswelt ziehen auch gern mal gleichzum Überraschungserfolg der Saison und geschlechtliche Gefährten vor. Und die kommt diese Woche auch in die deutschen Weibchen der Adeliepinguine finden nichts dabei, sich zu prostituieren – sie bieten Kinos. Kaiserpinguine werden in dem Kitsch- Sex im Tausch gegen ein paar Steinchen streifen als hingebende Eheleute darge- fürs Nest. Jede Spielart ist zugelassen, Ekstase stellt, die ihr Leben in den Dienst ihrer niedlichen Küklein stellen. Zu allem Über- und Agonie sind festes Repertoire im fluss hat der Regisseur jedem Vogel eine Reich der tierischen Triebe. In diesem Stimme verliehen, die dann Sätze sagt wie: phantasievollen Reigen kann von Perversion, von Abart nicht die Rede sein. Die „Wir haben uns Liebe geschworen!“ Liebe? Die Wahrheit in der freien Wild- Natur kennt keine Moral – beim Sex schon bahn ist eine andere: Die Pinguine ließen gar nicht. Rafaela von Bredow Charles Darwin und bis vor kurzem auch viele seiner Nachfolger glauben, das Weib sei von Natur aus ein treues und keusches Geschöpf – welcher männliche Wissenschaftler möchte schon annehmen, seine Gattin sei in Wahrheit wild auf Affären? Dies haben endgültig erst genetische Vaterschaftstests als Irrtum entlarvt. Doch trotz solch eindeutiger Forschungsergebnisse tun sich viele Kirchenvertreter und andere Konservative immer noch schwer mit der Wahrheit. Und nutzen bis heute jede Gelegenheit, Monogamie und Familienidyll als höchstes Ziel göttlicher Schöpfung in den Himmel zu heben. So lobpreist – und instrumentalisiert – die religiöse Rechte in den USA derzeit den anrührend-süßlichen Dokumentarfilm „Die Reise der Pinguine“. Das Machwerk des französischen Tierfilmers Luc Jacquet
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Medien
Trends
Emigs Enthüllungen
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JOACHIM STORCH / DDP
ürgen Emig, unter Korruptionsverdacht stehender ehemaliger Sportchef des Hessischen Rundfunks (HR), hat seine Untersuchungshaft genutzt, seine Geschichte als Buch zu verarbeiten. Das 270 Seiten starke Manuskript ist für die ARD brisant: Emigs Text befasst sich vor allem mit den SponsoringPraktiken beim HR. So schreibt er über die angebliche Gier des Senders nach Drittmitteln und behauptet, Produktionen seien mitunter von Beginn an so kalkuliert worden, dass sie ohne Sponsoren-Gelder nicht realisierbar gewesen wären. Zudem stellt sich der ehemalige Sportchef als erfolgreicher Geldeintreiber für den HR dar: 13 Millionen Euro Drittmittel hätte er über die Jahre für HR-Sportproduktionen organisiert. Weitere sechs Millionen an Sponsorengeldern seien über das SportmarketingUnternehmen SMP dem Sender zugeflossen. An SMP soll Emigs Ehefrau zu 50 Prozent beteiligt gewesen sein. Der HR wiederum fordert nun für „vorenthaltene Sponsoring-Erlöse und Vermittlungsprovisionen“ von Emig eine Million Euro zurück.
ANDREA MOELZNER / PEOPPICTURE (L.); A. PAULI / S. BRAUER PHOTOS (R.)
KOR RU P T ION
„Bayern Journal“-Moderatorin Sabine Piller, Programmchef Ralph Piller, Burkei SCHLEICHWERBUNG
Bayern-Connection auch bei RTL D
er Skandal um die Schleichwerbung in regionalen Vorabendsendungen weitet sich aus: Offenbar nutzte der TV-Unternehmer und ehemalige Münchner CSUSchatzmeister Ralph Burkei nicht nur bei Sat.1, sondern auch bei RTL redaktionelle Sendefläche für von Firmen bezahlte Beiträge. Burkeis Firma Camp TV besitzt nämlich nicht nur seit 1994 bei Sat.1 eine Regionalfenster-Lizenz, in der samstags die Sendung „Bayern Journal“ läuft. Schon seit 1989 bespielt Camp TV auch ein sonntägliches Regionalfenster bei RTL – offenbar mit dem gleichen dubiosen Geschäftsmodell. So lief dort im September 2003 ein Beitrag zum Thema Rückenschmerzen, in dem die Firma Medreflex eine Rolle spielte. Ausweislich einer am 31. Juli des Jahres datierten „Bestellung“, die dem SPIEGEL vorliegt, wurde einem Gesellschafter des Unternehmens dafür ein „Produktionskostenzuschuss“ in Höhe von 13349 Euro berechnet. Medreflex-Mitarbeiterin Andrea Welk bestätigt den Vorgang – man habe den Betrag indes später als zu hoch empfunden und nicht bezahlt. Beim zuständigen Aufsichtsorgan, der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), welche die Lizenzen für die TVFenster vergibt, hätte man gewarnt sein müssen. Burkei steht seit den frühen neunziger Jahren unter Schleichwerbeverdacht: Bereits 1992 hatte das Bayerische Fernsehen aufgedeckt, dass Burkeis Produktionsfirma Beiträge gegen Bezahlung anbot. 1993 und 1994 wurde der rührige CSU-Mann gleich vierfach von der BLM abgemahnt, 1996 und 1997 wurden weitere Fälle bekannt. Trotzdem verlängerte die BLM 2002 Burkeis Lizenz für das „Bayern Journal“. „Seit 1997 hatte es keine Auffälligkeiten gegeben, deswegen stand der Vergabe nichts im Weg“, verteidigt BLM-Geschäftsführer Martin Gebrande die Entscheidung. Auch aktuell sieht er „keinen Handlungsbedarf“.
Ehepaar Emig
PRESSEFREIHEIT
Doch keine Kündigung ährend die Medienrepublik nach der Hausdurchsuchung bei einem W „Cicero“-Redakteur mittlerweile breit über das Thema Pressefreiheit debattiert, feiert sie im Süden einen kleinen Triumph: Dort nehmen die „Badischen Neuesten Nachrichten“ („BNN“) offenbar die fristlose Kündigung einer Redakteurin zurück, die in der Rastatter Lokalausgabe des Blattes kritisch über den Discount-Riesen Lidl berichtet hatte. In einem Gespräch am vorigen Mitt-
woch stellte der Chefredakteur des Blattes, Klaus Michael Baur, der Redakteurin in Aussicht, die Kündigung zurückzunehmen und in eine Abmahnung zu mildern. Vorausgegangen waren ein Einspruch des Betriebsrats und diverse Presseberichte, die das Verlagsvorgehen kritisiert hatten. Die Redakteurin hatte sich unter der Überschrift „Handarbeit bei bis zu 24 Grad minus“ kritisch mit den Arbeitsbedingungen bei dem Discounter befasst und auf das „Schwarzbuch Lidl“ der Gewerkschaft Ver.di verwiesen. Nach der Veröffentlichung gab es offenbar ein Gespräch des kaufmännischen Geschäftsführers des Verlags d e r
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mit Verantwortlichen des Anzeigenkunden Lidl, der laut „BNN“-Insidern bei dem Blatt für etwa 1,2 bis 1,4 Millionen Euro jährlich Annoncen schaltet. Darauf wurde der Redakteurin vom Verleger Hans Baur gekündigt. In der Schriftform trug die Kündigung die Unterschrift des kaufmännischen Geschäftsführers. Im Verlag wurde jeder Zusammenhang zwischen der Lidl-Berichterstattung und der Kündigung bestritten, der Chefredakteur wollte auf Anfrage selbst keine Auskunft geben. „Wir befinden uns in einer sensiblen Annäherungsphase und suchen nach einer gütlichen Einigung“, so der Verlag. 211
Medien rie „I love Lucy“ durfte auf Druck der Produzenten nicht einmal das Wort „schwanger“ fallen, als die Schauspielerin Lucille Ball wie auch ihre Serienfigur 1952 in andere Umstände gerieten. Und noch 1994 musste Gillian Anderson, Hauptdarstellerin von „Akte X“, ihre Schwangerschaft mit weiten Gewändern kaschieren. Eher pragmatisch geht das ZDF mit dem Thema um: Sechs Folgen lang war die Schauspielerin Melanie Marschke in der Krimi-Serie „Soko Leipzig“ mit echtem Babybauch zu sehen. Dann verabschiedete sich die von Marschke gespielte Kommissarin – in den Mutterschaftsurlaub.
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Solo für zwei
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VIVIAN ZINK / ABC
n einer Episode von Helmut Dietls legendärer Journalistensatire „Kir Royal“ (1986) schnüffelte Klatschreporter Baby Schimmerlos alias Franz Xaver Kroetz einem Serienstar hinterher – die Dame war angeblich schwanger und damit die ganze Fernsehproduktion in Gefahr. Wenn echte TV-Stars ein Kind erwarten, ist das zwar auch heute noch eine Nachricht für Boulevardmedien. Aber anders als früher beenden Schwangerschaften keine Fernsehkarrieren mehr, im Gegenteil: Die Zeit vor der Niederkunft wird immer öfter in die Spielhandlung einbezogen. Nach Lisa Kudrow in der Erfolgsreihe „Friends“ zeigt jetzt auch die US-Schauspielerin Jennifer Garner auf dem Bildschirm ihren Babybauch. Garner, 33, verheiratet mit ihrem Kollegen Ben Affleck, bekommt in Kürze ein Kind – wie die von ihr gespielte Agentin in der neuen Staffel der Serie „Alias“. Die „Alias“-Werbung zeigt Garner, wie sie schützend eine Hand vor ihren Bauch hält; „Expect More“, erwarte mehr, verheißt der doppeldeutige Slogan. Ein derart offensives Solo für zwei war in der TVBranche früher selten: In der SeGarner in „Alias“ (mit Greg Grunberg)
SERIEN
SPIEGEL: Was ist der Unterschied zum
„Nebenher bügeln“
Weber: Die Arbeitsteilung. Anders als
Anja Weber, 38, Leiterin der neuen Serienschule des TVProduzenten Grundy UFA, über die Ausbildung zum Autor von Telenovelas und Daily Soaps SPIEGEL: Frau Weber, von November an lernen bei Ihnen 15 Schüler, wie man sich Geschichten für Serien wie „Verbotene Liebe“ oder „Verliebt in Berlin“ ausdenkt. Ein eher simpler Unterrichtsstoff? Weber: Das ist gar nicht so leicht, wie man denkt! Eine tägliche Serie zu strukturieren, immer im Kopf zu haben, was passiert ist und was noch kommen könnte – das muss man erst mal hinkriegen. Dazu die vielen Nebenfächer: Geschichte der Soap, Geschichte der Dramaturgie, solche Sachen. Aber die Hauptsache ist das praktische Schreiben.
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klassischen Drehbuchschreiben? viele Drehbuchautoren sind Storyliner, wie wir sie ausbilden, fest angestellt. Etwa zehn arbeiten in einem Team zusammen, jedes Team muss sich pro Woche genug Geschichten für fünf Folgen ausdenken. Die Dialoge schreiben dann andere. SPIEGEL: In Serien wie „Bianca – Wege zum Glück“ dauert es oft quälend lange, bis die Handlung zu Potte kommt. Was sollen Ihre Schüler besser machen? Weber: Ach, das ist doch Geschmackssache. Wenn man weniger Zeitdruck hat, kann man alles besser machen. Und die Zuschauer mögen das Langsame, schließlich bügeln oder essen sie nebenher. Wichtig ist, dass unsere Schüler lernen, ihre Themen gut zu recherchieren. Wir haben Quereinsteiger dabei, eine Hausfrau, einen Juristen, die können sich besser in bestimmte Figuren einfühlen als andere. SPIEGEL: Aber Serien müssen alle Schüler ständig gucken? Weber: Das machen die doch sowieso, das muss man ihnen gar nicht sagen.
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Fernsehen
TV-Vorschau Bis in die Spitzen
Abenteuer 1927 – Sommerfrische Dienstag bis Freitag, 18.50 Uhr, ARD
Als Kontrastprogramm zu den proletarischen Gammlern im „Big Brother“Container schickt die ARD erneut klassenbewusste Freiwillige auf schweißtreibende Zeitreise in die Vergangenheit: Nach dem „Schwarzwaldhaus 1902“, einem „Abenteuer 1900“
TV-Rückblick Joachim Bublath 5. Oktober, ZDF
Etwas linkisch steht er vor der Kamera, trotz jahrzehntelanger Erfahrung: Joachim Bublath, 62, seit 1981 Leiter der ZDF-Redaktion Naturwissenschaft und Technik, versprüht den Charme eines Erdkundelehrers kurz vor Schulschluss. Macht nichts, manchmal ist weniger mehr. Etwa am Mittwoch vergangener Woche, als Bublath in der nach ihm benannten Sendung betont unaufgeregt ein dramatisches Thema unters abgestumpfte FernsehpubliBublath
Szene aus „Abenteuer 1927 – Sommerfrische“
und einer Atlantikpassage im betagten Auswandererschiff („Windstärke 8“) sind jetzt die vermeintlich goldenen zwanziger Jahre dran. Im Gutshaus Belitz in Mecklenburg wird 16 Folgen lang großbürgerliche Vergangenheit simuliert: Die „gnädige Frau“ (im wahren Leben Tennislehrerin) und ihre Gäste vertreiben sich die Zeit mit Reiten, Ausflügen an die Ostsee und mehrgängigen Gelagen, während das Gesinde (Diener, Stubenmädchen, Köchin, Chauffeur, Zofe et cetera) schuften muss, bis die Füße schmerzen. 18-Stunden-Schichten sind keine Seltenheit; trotzdem findet die Hausherrin immer etwas zu meckern: Unordnung in den Stuben, der Weinkeller ist nicht verschlossen, und das Essen war auch
kum brachte: „Der Tod der Fische“ zeigte in vielen kurzen Reportagefilmen die Katastrophen, die der Mensch in den Ozeanen anrichtet. Ob Schleppnetzfischerei, Delphinschlachten in der Südsee oder Fischzucht in Fäkalienbecken in China – ohne die branchenübliche Effekthascherei erfuhren die Zuschauer in einer halben Stunde so viel Gruseliges über die globale Fischindustrie, dass den meisten der Appetit auf Fisch erst einmal vergangen sein dürfte. Schade nur, dass die Lieferanten der eindrucksvollen Bilder, darunter Greenpeace, lediglich kurz im Abspann erwähnt wurden. RAINER FRIEDL / ZDF
Dass der Friseursalon als Bühne für pfiffige Wer-mit-wem-Fiction taugt, ist keine wirklich neue Erkenntnis. In der BBC etwa lief erfolgreich die Haarschnippel- und PartnertauschSerie „Cutting It“. Die deutsche Adaption verlegt den Schauplatz von Manchester nach Berlin – ansonsten haben sich die Macher eng ans Original gehalten (Regie: Thomas Berger, Michael Rowitz, Michael Kreindl, Erwin Keusch). Herausgekommen ist eine recht gelungene Serie über die Liebesnöte einer Reihe mehr oder weniger desillusionierter Mittdreißiger. Da ist die verbiesterte Chefin Niki (Jeanette Hain), die lieber einen zweiten Friseursalon eröffnet, statt wie von ihrem Mann (Tobias Oertel) gefordert ans Kinderkriegen zu denken. Beruflich droht Konkurrenz in Gestalt von Nikis Ex (Ralph Herforth) und dessen Frau (Muriel Baumeister) – Stoff genug für zunächst 13 unterhaltsame Episoden.
ARD / DAVID BALTZER / ZENIT / OBS
Montag, 21.15 Uhr, Sat.1
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schon mal besser. Die Anteilnahme des Zuschauers hält sich naturgemäß in Grenzen. „Abenteuer 1927“ sei „keine reine Dokumentarserie, da sich fiktionale und dokumentarische Elemente mischen“, sagt Regisseur Volker Heise. Und Diener-Darsteller Tinko Weibezahl, studierter Historiker, gelangt nach sechs Wochen Buckelei zu der Erkenntnis, „dass wir im Jahr 2005 ein verdammt unkompliziertes Leben haben“.
Donna Leon – Beweise, dass es böse ist Donnerstag, 20.15 Uhr, ARD
Wenn das Essen nicht wäre, diese wunderbaren Spaghetti-Berge und Käseplatten, wenn die Farben nicht wären, das pastellige Leuchten über Venedig, wenn der Schauspieler Uwe Kockisch nicht wäre, der den Commissario Guido Brunetti so viel differenzierter, melancholisch-verwitterter spielt als sein ruhrpottelnder Vorgänger Joachim Król – dann wäre es eine mühsame Sache mit den Verfilmungen der Romane von Donna Leon. Die Handlung ist auch in dem neuen Film „Beweise, dass es böse ist“ verworren, es tauchen viel zu viele Figuren auf und verschwinden wieder, bevor sich der Zuschauer einen Eindruck machen kann (Buch: Renate Kampmann, Regie: Sigi Rothemund). Trotzdem: Das Essen, die Farben, das stolze Venedig – an all dem liegt es, dass der Fernsehabend dann doch entspannt, wenn auch mit einem leichten Hungergefühl enden dürfte. 213
Medien
TV-Wettkanal Premiere Win, Online-Anbieter Betandwin: Tippen per Telefon und Mausklick
GLÜCKSSPIELE
Las Vegas im Wohnzimmer Im Internet blüht das private Geschäft mit Sportwetten. Rechtzeitig zur Fußball-WM wollen auch deutsche TV-Sender einsteigen, die auf eine Lockerung des staatlichen Glücksspielmonopols hoffen. Doch Suchtexperten und Analysten warnen vor der Zockerei im rechtlichen Graubereich.
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sie erlaubt es Hobiger, neben Pferde- auch andere Sportwetten anzubieten. Das darf in Deutschland sonst nur das staatliche Unternehmen Oddset, das seit 1999 jährlich rund 500 Millionen Euro umsetzt. Doch das Oddset-Monopol bröckelt. Mitte der neunziger Jahre entdeckten westdeutsche Buchmacher, die sich bislang auf Pferdewetten beschränken mussten, die
JAN ROEDER
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n der Landsberger Allee 97 im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain verbirgt sich das Glück hinter Perlon-Vorhängen und angetrockneten Yucca-Palmen. „Wettbüro Goldesel“ steht auf den Fensterscheiben im Erdgeschoss. Drinnen jagen englische Windhunde und brasilianische Hengste über flimmernde Bildschirme, zwei Koreaner hocken in konzentrierter Pose am Tisch über ihren Wettscheinen. Ein paar Rentner klauben Cent-Beträge aus Brustund Hosentaschen zusammen. Es riecht nach Kaffee und Korn. Hinterm Tresen steht ein gemachter Mann. Bernd Hobiger ist nach der Wende zu einem der größten Buchmacher Deutschlands geworden. Mittlerweile reißen sich sogar die Top-Manager mehrerer Fernsehsender um ihn – wegen eines Stücks Papier, ausgestellt 1990 vom Magistrat der Stadt Ost-Berlin. In der DDR hatte der gelernte Elektriker Hobiger als Angestellter Wetten an die Trabrennbahn Karlshorst vermittelt. Nach der Wende verlor er seinen Job und beantragte als einer von vier findigen DDR-Bürgern eine Buchmacherlizenz. Diese Lizenz ist durch den Einigungsvertrag bis heute gültig und von seltener Kostbarkeit, denn
Premiere-Chef Kofler
„Topmarke im Wettgeschäft schaffen“ d e r
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Lücke im staatlich kontrollierten System. Sie stießen auf Hobiger und vermittelten fortan Bundesliga-, Eishockey- und Hundewetten gegen Provision an seine Lizenz. Vor drei Jahren ergatterte der österreichische Online-Anbieter Betandwin in der Oberlausitz über eine Beteiligung eine weitere der vier DDR-Lizenzen und ist mittlerweile zum größten Oddset-Konkurrenten aufgestiegen. Private Anbieter setzen in Deutschland inzwischen bereits rund 1,5 Milliarden Euro um. An der neuentfachten Spielleidenschaft wollen – rechtzeitig zur Fußball-Weltmeisterschaft im nächsten Jahr – nun auch die Fernsehsender teilhaben. Bei den großen Privatsendern Pro Sieben, Sat.1 und RTL liegen bereits Konzepte für interaktive Wettangebote in den Schubladen. Auch das Münchner Unternehmen EM.TV mit dem Sparten-Sportsender DSF sowie der Bezahlkanal Premiere haben sportbegeisterte Zuschauer als Wettkandidaten im Visier. „Wir erachten den Bereich Sportwetten als attraktives Thema mit hohem Umsatz- und Renditepotential“, sagt Werner Klatten, Vorstandschef von EM.TV. Die Sender hoffen auf neue Erlösquellen und wollen ihre Zuschauer schleunigst zu
BERTHOLD FABRICIUS / ACTION PRESS
Tipp24-Vorstände*: Hoffnung auf den Börsengang
begeisterten Zockern machen. „Mit dem Einstieg der Medienunternehmen wird aus dem Wettmarkt ein riesiger EntertainmentBereich, der die Unterhaltungslandschaft in Deutschland nachhaltig prägen wird“, prognostiziert Martin Oelbermann, Geschäftsführer der Medienberatung MECN. RTL hat im Mai zum Formel-1-Rennen in Spanien mit RTLtipp.de bereits ein Online-Portal für Sportwetten eröffnet, das über den Partner Tipp24 Wetten des staatlichen Anbieters Oddset vermittelt. Später soll ein eigener digitaler TV-Kanal für Sportwetten dazukommen. Zurückhaltung üben die Sender bislang nur deshalb, weil sie auf eine wichtige Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten. Am 8. November nämlich beginnen in Karlsruhe die Verhandlungen, die zu einer endgültigen Li* Hans Cornehl, Jens Schumann und Marc Peters am Firmensitz in Hamburg.
beralisierung des deutschen Wettmarkts führen könnten. Viele Experten gehen davon aus, dass das staatliche Monopol fällt. Als relativ sicher gilt, dass zumindest die DDR-Lizenzen Gültigkeit behalten werden. Darauf setzen offenbar auch Premiere und EM.TV. Beide haben bei Wettprofi Hobiger bereits angeklopft, um eine mögliche Kooperation auszuloten. Der umtriebige Premiere-Chef Georg Kofler hat sich ohnehin viel vorgenommen: Mit seinem Anfang August gestarteten Bezahlkanal Premiere Win will er „eine Topmarke im Wettgeschäft schaffen“ – und bis 2008 jedes Jahr Wettumsätze von einer Milliarde Euro vermitteln. 5 bis 15 Prozent an Provisionen könnten dabei für seinen eigenen Sender rausspringen. Noch in diesem Jahr soll dem Sender eine der alten DDR-Lizenzen zur Verfügung stehen, damit die Zuschauer demnächst auch bei Fußball-, Formel-1- und Box-Ereignissen zocken können. Derzeit
Online-Wettanbieter Spieleinsätze in Millionen Euro
Aktienkurs 154
Tipp24 Jaxx/Fluxx
Veränderung gegenüber + 500 % 1. Oktober 2004 in Prozent + 400 %
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Betandwin + 300 %
Fluxx
Quelle: MECN
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+ 200 %
Fall „Hoyzer“
+ 100 %
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Quelle: Thomson Financial Datastream
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probt Premiere Win das Wettgeschäft mit Übertragungen von Pferderennen aus aller Welt. Sechs bis neun Stunden täglich galoppieren und traben die Pferde dort bereits live über den Bildschirm. Experten geben im Studio Tipps zur Kondition der Hengste. Und Oliver Kahns Freundin Verena Kerth darf als komplett blonde Moderatorin fragen, warum die Pferdchen so lustige bunte Mützchen tragen oder weshalb die Jockeys so klein und dünn geraten sind. „Der Zuschauer darf keine intellektuellen Eintrittsbarrieren haben“, sagt Wolfgang Reiter, der den Wettkanal für Premiere entwickelt hat: „Solange das Programm unterhaltsam ist, ist es völlig egal, ob man Lottokugeln rollen oder Pferde im Kreis rennen lässt.“ Schnell und schlicht also muss es sein: Der Wetteinsatz wird per Telefon oder Mausklick übermittelt. Seit Startschuss haben sich laut Senderangaben bereits 20 000 Premiere-Kunden zur Registrierung animieren lassen. Die Umsätze sind drei- bis viermal so hoch wie erwartet. Anfang des zweiten Quartals 2006 sollen erste Gewinne abfallen. Zur Fußball-WM will der Münchner Bezahlkanal seine Kunden dann mit einer interaktiven Technologie beglücken, die das Wetten per Knopfdruck sogar auf der heimischen Fernbedienung möglich macht. Und in der Nachbarschaft der Unterföhringer Fernsehfirma rüstet sich bereits ein weiterer Sender für den Einstieg ins Zockergewerbe: EM.TV-Chef Klatten will seinem Spartenkanal DSF ebenfalls durch das Wettfieber einheizen. Dazu hat er sich eine schillernde Persönlichkeit aus dem Online-Geschäft an Bord geholt: Yara Wortmann zog vor ein paar Jahren mit ihrem Konzept der „Gesellschaftswette“ durch deutsche Talkshows. Ihre Wettseite Crazyclick wurde allerdings vor vier Jahren verkauft und dann ebenso eingestellt wie die von ihr kurzzeitig moderierte RTL2-Show „Crazy“. Heute entwickelt Wortmann als Geschäftsführerin der EM.TV Sport Management GmbH für Klatten neue Spielideen. Als Vorbilder dienen den Sendern interaktive TV-Kanäle im europäischen Ausland. Der französische Wettanbieter PMU etwa machte 2004 knapp 80 Millionen Euro Umsatz mit interaktiven TV-Wetten. Skybet, die Zocker-Tochter des britischen Senders BSkyB, erwirtschaftete im vergangenen Jahr 380 Millionen Euro mit Wetten. Und weil die Spielerei via Internet grenzenlos ist, werden auch immer mehr Deutsche angelockt: Laut Experten treiben sich monatlich bereits zwischen vier und sechs Millionen Bundesbürger auf internationalen Websites herum. Davon profitieren derzeit virtuelle Casinos mit Sitz auf Antigua ebenso wie die deutschen Firmen Tipp24 und Fluxx, die im Internet Lotto-Tipps und Sportwetten gegen Provision an die Lotteriegesell215
Buchmacher Hobiger: Ein gemachter Mann dank alter DDR-Lizenz
schaften der Länder und an Oddset vermitteln und ihre Umsätze in den vergangenen Jahren rasant steigern konnten. Dem österreichischen Anbieter Betandwin bescherte ausgerechnet der hiesige Manipulationsskandal um den BundesligaSchiedsrichter Robert Hoyzer, der Anfang des Jahres den staatlichen Anbieter Oddset in Verruf brachte, Auftrieb. Der Gesamtumsatz des Unternehmens stieg in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gegenüber dem zweiten Halbjahr 2004 um 210 Prozent auf 993 Millionen Euro. Da hätten viele Bundesbürger überhaupt erst gemerkt, dass man auf Fußballergebnisse nicht nur warten, sondern auch wetten kann, glauben Fachleute. Zum Jahresende will Betandwin-Vorstand Norbert Teufelberger Oddset überholen: „Das Potential für Sportwetten ist in Deutschland noch lange nicht ausgeschöpft.“ Nach einer Studie des Kölner Instituts Sport + Markt sollen rund 7 Millionen Bundesbürger bereits aktive Wetter sein, 10,4 Millionen Deutsche interessierten sich immerhin für Sportwetten. Der Blick ins Ausland lässt erahnen, zu welchen Wachstumssprüngen der Spieltrieb auch hierzulande führen könnte. Während der Bundesbürger derzeit im Schnitt pro Jahr nur schlappe 33 US-Dollar auf Wetten setzt, verzockt ein Bewohner Hongkongs rund 1800 Dollar. Der Aktienmarkt goutiert das Getrommel um Zuwächse und Wachstumsaussichten bei den Internet-Wettanbietern derzeit mit Kursgewinnen und Börsendebüts, die an alte New-Economy-Zeiten erinnern. An der Londoner Börse nahm OnlineCasino-Betreiber Partygaming Ende Juni beim größten britischen Börsengang seit zwei Jahren über eine Milliarde Euro ein. Bald darauf war das vier Jahre alte Unternehmen an der Börse mehr wert als der Riese British Airways. 216
Die Stimmung ist derart fiebrig, dass Analysten schon vor der Börsenzockerei mit Glücksspielwerten warnen. „Die Branche ist überhitzt“, sagt Matthias Schrade, Geschäftsführer des Düsseldorfer Analysten GSC Research. An der Londoner Börse ist die Blase bereits geplatzt: Als Partygaming im September seine Halbjahresergebnisse präsentierte, stürzte der Kurs um mehr als ein Drittel ab – unter Start-Niveau. Hierzulande schießt die Aktie des Online-Lotto-Anbieters Fluxx, die manche Analysten bei Tiefstständen von 0,38 Euro gedanklich bereits abgeschrieben hatten, weiter nach oben. Der Kurs von Betandwin hat sich seit Jahresbeginn fast verfünffacht. Von diesem Umfeld will nun auch die Hamburger Firma Tipp24 profitieren, die seit 1999, ähnlich wie Fluxx, Lotto-Tipps und Oddset-Wetten per Mausklick offeriert. Beim Börsengang am 12. Oktober will man bis zu 140 Millionen Euro einnehmen. Verbraucherschützern graut bereits vor einem Las Vegas in deutschen Wohnzimmern. Ilona Füchtenschnieder, Vorsitzende des Fachverbands Glücksspielsucht, geht von einem drastischen Anstieg der Zahl der Spielsüchtigen aus, weil in Internet
Wettspieleinsatz pro Kopf in US-Dollar 2003/04 Hongkong
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Großbritannien
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Australien Frankreich
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151
Italien
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Deutschland
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Quelle: MECN
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oder TV auch das letzte Fünkchen an sozialer Kontrolle fehle. „Im Schlafanzug und leicht angetrunken kann man so per Knopfdruck seine gesamte Existenz verspielen“, warnt die Expertin. Über „Sicherheit und Ordnung“ spricht auch Erwin Horak gern. Als Präsident der Staatlichen Lotterieverwaltung Bayern ist er Federführer bei Oddset und Lobbyist an vorderster Front des staatlichen Wettmonopols: „Nach unserer Rechtsauffassung darf in Deutschland nur Oddset rechtmäßig Sportwetten anbieten“, findet Horak. Nur das staatliche Monopol könne für eine „Eindämmung der Spielsucht“ sorgen. Nebenbei sichert es den Lotteriegesellschaften der Länder ihre Existenz und spült Milliardenbeträge in die Staatskassen. 2003 flossen über die Lotteriegesellschaften inklusive Oddset rund 4,7 Milliarden Euro an die Bundesländer. Für sie könnte eine Liberalisierung des Marktes herbe Einbußen bedeuten.
HARALD BECKMANN / ZDF
SABINE SAUER / DER SPIEGEL
Medien
Skandal-Schiedsrichter Hoyzer
Auftrieb für die Zockerbuden
Letztlich hängt auch für die privaten Anbieter alles von der Entscheidung des Gerichts ab. Steigende Börsenkurse setzen derzeit offenbar auf eine Liberalisierung des Marktes. „Die rechtlichen Risiken werden dabei oftmals nicht bedacht“, sagt Analyst Schrade. Wer Emissionsprospekte aufmerksam liest, stößt durchaus auf warnende Hinweise. „Es ist insbesondere nicht auszuschließen, dass Behörden oder Gerichte die Geschäftstätigkeit als strafrechtlich relevant ansehen könnten“, heißt es etwa bei Tipp24 – in diesem Fall eine eher weniger ernstzunehmende Gefahr, denn das Unternehmen vermittelt zurzeit nur Lottound Wettscheine der 1838 staatlichen Lotteriegesellschaften. In Unterföhring bereitet man sich unterdessen schon auf das härtere Zockergeschäft vor. Premiere Win möchte seinen Zuschauern in Zukunft auch Roulette, Black Jack und sogar Poker-Runden anbieten. Bernd Hobiger hat daran bereits Gefallen gefunden. Der Berliner Lizenz-König verbrachte seinen letzten Urlaub quasi auf Studienreise – in den Casinos von Las Vegas. Julia Bonstein
Medien VERLAGE
Heuschrecke im Anflug
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FALK HELLER / ARGUM
s gibt Termine, die erst dadurch interessant werden, dass sie nicht stattfinden. Am 18. Oktober zum Beispiel wollte sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit der Zukunft des Berliner Zeitungsmarktes befassen – und sich damit einer Frage widmen, die nun schon seit drei Jahren das Kartellamt, den Wirtschaftsminister, viele Anwälte und Gerichte beschäftigt. Redaktionskonferenz bei der „Berliner Zeitung“: Herrenlos in die Gewinnzone Damals machte der Stuttgarter Holtzbrinck-Konzern Die Schwaben favorisie- mal etwa dieselbe Summe einkaufte, wür(„Handelsblatt“, „Zeit“, ren indes offenbar eine an- de sich der Deal für die Schwaben am Ende „Wirtschaftswoche“) den dere Lösung, wie unter- gar noch rechnen. Holtzbrinck-Geschäftsführer Michael Versuch, sein renommiertes, nehmensnahe Kreise überaber verlustreiches Haupteinstimmend berichten. Grabner hält sich auf Anfrage bedeckt: stadtblatt „Tagesspiegel“ zu Plan B würde bedeuten, „Kein Kommentar“. Bei 3i war am Freitag flankieren. Man wollte dass man sich vom Berliner zur Sache niemand zu sprechen. Für das Beteiligungsunternehmen ist es dafür vom Hamburger ZeitVerlag mit seinem Flaggschriftenriesen Gruner + schiff „Berliner Zeitung“ nicht die erste Annäherung ans ZeitungsJahr den Berliner Verlag trennen könnte. Die Ge- geschäft. Schon als die „Frankfurter Rundübernehmen, in dem „Berspräche darüber sind weit schau“ nach Investoren suchte, war die briliner Zeitung“, „Berliner gediehen – vor allem mit tische Private-Equity-Firma mit von der Kurier“ und das Stadtmadem britischen Finanzin- Bieterpartie. Auch in ihren Heimatmärkten war sie im Zeitungsbereich aktiv: So gehörgazin „Tip“ erscheinen. vestor 3i. Holtzbrinck-Manager Grabner Es blieb beim Versuch. Gerichtstermin abgeblasen Rechtlich wäre der Ver- te 3i im vorigen Jahr zu den Bietern um die Das Kartellamt befürchtekauf kein Problem. Seit „Daily Telegraph“-Gruppe, kam aber wiete eine „marktbeherrschende Stellung“ der dem Kartellamtsveto werden die Blätter derum nicht zum Zuge. Erfolgreicher war Stuttgarter und untersagte den Kauf. Holtz- des Berliner Verlags offiziell weiter vom 3i mit der irischen Local Press Group, die brinck bemühte sich daraufhin um eine Alteigentümer Gruner + Jahr verwaltet, die man Anfang 2004 erwarb und vor drei WoMinistererlaubnis durch Wolfgang Clement Gewinne fließen auf ein Sperrkonto. Ge- chen wieder verkaufte. In Deutschland machten in der Medien– erfolglos. Schließlich zog man vor den winne? Ironischerweise haben die ZeiBGH, der sich seit fast einem Jahr mit der tungsmacher vom Berliner Alexanderplatz branche zuletzt vor allem die Investoren kniffligen Medienmaterie befasst. in ihren letzten herrenlosen Jahren das Permira (bei Premiere) und ein Konsortium Holtzbrinck selbst sorgte dafür, dass die geschafft, was von Holtzbrinck und vie- rund um die Saban Capital Group (bei für den 18. Oktober geplante Verhandlung len Experten im Kartellverfahren als Ding ProSiebenSat.1) von sich reden – indem sie nun platzt: Das Unternehmen informierte der Unmöglichkeit dargestellt wurde: Sie sich schnell und mit satten Gewinnen mehrdas Gericht schriftlich über „derzeit lau- schreiben schwarze Zahlen, ganz allein, heitlich schon wieder verabschiedeten. Beim Berliner Verlag wird man angefende Verkaufsverhandlungen“ mit der ohne Fusion. Folge, dass sich die Beschwerde gegen das 2004 erwirtschaftete der Berliner Verlag sichts der Perspektive eines neuerlichen Kartellamtsveto so „voraussichtlich erledi- ein Plus von 9 Millionen Euro, 5,6 Millio- Eigentümerwechsels hin zu einer „Heugen“ werde. Tatsächlich sind diese Ver- nen trug dazu allein die „Berliner Zeitung“ schrecke“ kaum begeistert sein. Von den kaufsverhandlungen breiter angelegt als bei. Das macht das Blatt jetzt interessant – hohen zweistelligen Renditeerwartungen der Beteiligungsbranche ist das Haus weit bisher bekannt. Vor allem steht überra- für Investoren und Verkäufer. schenderweise nicht der „Tagesspiegel“ Denn anders als für den defizitären „Ta- entfernt. Die ließen sich mit dem bisherivornan auf der Verkaufsliste. gesspiegel“ wäre für Holtzbrinck beim Ber- gen Anspruch und der personellen AufÜber die Zukunft des traditionsreichen liner Verlag ein dreistelliger Millionenerlös stellung des Blattes auch kaum erreichen. In ganz fremde Hände fiele der Verlag Blattes hatte Holtzbrinck in den letzten zu erzielen. Von rund 150 bis 160 Millionen Wochen intensive Gespräche mit mehreren Euro ist die Rede – das entspricht in etwa indes nicht: Seit Februar leitet Stephan Interessenten geführt – darunter dem Süd- der Summe, die Holtzbrinck einst als Kauf- Krümmer die deutschen Geschäfte von 3i. Der Mann wirkte viele Jahre in verschiedeutschen Verlag aus München („Süd- preis an Gruner + Jahr (G + J) überwies. deutsche Zeitung“), aber auch mit dem Weil die G+J-Mutter Bertelsmann im Ge- denen Management-Positionen bei BerSPIEGEL-Verlag, in dem der SPIEGEL er- genzug die verlustbringenden Anteile am telsmann – dem Mutterkonzern des derscheint. Auch über den Einstieg eines Kon- Nachrichtensender N-tv sowie die Radio- zeitigen kommissarischen Verlags-Verwalsortiums wurde gesprochen. beteiligungen der Stuttgarter für noch ein- ters Gruner + Jahr. Marcel Rosenbach 218
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NORBERT MICHALKE
Der Streit um den Zeitungsmarkt der Hauptstadt könnte ein Ende finden: Holtzbrinck verhandelt mit einem britischen Investor über den Verkauf des Berliner Verlags.
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Hans-Ulrich Stoldt (stellv.). Redaktion: Georg Bönisch, Annette Bruhns, Per Hinrichs, Carsten Holm, Dr. Hans Michael Kloth, Bernd Kühnl, Merlind Theile. Autoren, Reporter: Henryk M. Broder, Dr. Thomas Darnstädt, Hartmut Palmer, Dr. Klaus Wiegrefe H A U P T S TA D T B Ü R O Leitung: Gabor Steingart, Jan Fleischhauer (stellv.), Konstantin von Hammerstein (stellv.). Redaktion Politik: Ralf Beste, Petra Bornhöft, Markus Feldenkirchen, Horand Knaup, Roland Nelles, Ralf Neukirch, René Pfister, Christoph Schmitz, Christoph Schult, Alexander Szandar. Reporter: Matthias Geyer, Marc Hujer. Redaktion Wirtschaft: Sven Afhüppe, Markus Dettmer, Alexander Neubacher, Wolfgang Johannes Reuter, Marcel Rosenbach, Michael Sauga Autoren: Dirk Kurbjuweit, Jürgen Leinemann D E U T S C H L A N D Leitung: Clemens Höges, Michaela Schießl (stellv.). Redaktion: Dominik Cziesche, Michael Fröhlingsdorf, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Cordula Meyer, Andreas Ulrich, Dr. Markus Verbeet. Autoren, Reporter: Jochen Bölsche, Jürgen Dahlkamp, Markus Deggerich, Gisela Friedrichsen, Bruno Schrep B E R L I N E R B Ü R O Leitung: Heiner Schimmöller, Stefan Berg (stellv.). Redaktion: Wolfgang Bayer, Irina Repke, Sven Röbel, Caroline Schmidt, Michael Sontheimer, Holger Stark, Peter Wensierski W I R T S C H A F T Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma. Redaktion: Beat Balzli, Julia Bonstein, Dietmar Hawranek, Alexander Jung, Klaus-Peter Kerbusk, Nils Klawitter, Jörg Schmitt, Thomas Schulz, Janko Tietz A U S L A N D Leitung: Hans Hoyng, Dr. Gerhard Spörl, Dr. Christian Neef (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Dr. Carolin Emcke, Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Joachim Hoelzgen, Siegesmund von Ilsemann, Marion Kraske, Jan Puhl, Dr. Stefan Simons. Autoren, Reporter: Klaus Brinkbäumer, Dr. Erich Follath, Dr. Olaf Ihlau, Susanne Koelbl, Erich Wiedemann W I S S E N S C H A F T U N D T E C H N I K Leitung: Johann Grolle, Olaf Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Rafaela von Bredow, Manfred Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Hackenbroch, Julia Koch, Beate Lakotta, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Katja Thimm, Christian Wüst KU LT U R Leitung: Dr. Romain Leick, Matthias Matussek. Redaktion: Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke Schmitter, Klaus Umbach, Claudia Voigt, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren: Wolfgang Höbel, Urs Jenny, Dr. Mathias Schreiber G E S E L L S C H A F T Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redaktion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Ralf Hoppe, Ansbert Kneip. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Gutsch, Barbara Supp S P O R T Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger S O N D E R T H E M E N Leitung: Stephan Burgdorff, Norbert F. Pötzl (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Horst Beckmann, Wolfram Bickerich, Joachim Mohr, Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Kirsten Wiedner P E R S O N A L I E N Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Stegelmann H A U S M I T T E I L U N G , I N F O R M AT I O N Hans-Ulrich Stoldt C H E F V O M D I E N ST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.),
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Chronik
1. bis 7. Oktober
SPIEGEL TV DONNERSTAG, 13. 10. 23.15 – 23.45 UHR SAT.1 SPIEGEL TV
REPORTAGE
BENJIE SANDERS / ARIZONA DAILY STAR
Die Russen sind da! Bettenwechsel an Deutschlands Lieblingsstränden
Das berüchtigte Badelaken als Platzhalter am Swimmingpool, überladene Teller am kalten Büfett, Alkoholexzesse: All das, was Deutschlands Urlauber einst in Verruf brachte, praktizieren nun auch russische Touristen an der türkischen Adria. Das deutsche Stammpublikum reagiert verstört.
Er habe eine Bombe im Mund, stand auf dem Zettel, den der Mann an einem Bankschalter in Tucson, Arizona, vorzeigte, und er wolle Geld. Polizisten nahmen den Mann fest, ein Roboter half beim Entfernen der Bombe – die aber keine war.
ANSCHLAG Drei Bombenattentate, höchstwahrscheinlich verübt von einer südostasiatischen und al-Qaida nahestehenden Terrorgruppe, erschüttern die Ferieninsel Bali. Mehr als zwanzig Menschen sterben, über hundert werden verletzt. AKTE Papst Benedikt XVI. hat der Birthler-Behörde die Erlaubnis gegeben, Teile seiner Akte zu veröffentlichen – die Stasi hatte den damaligen Kardinal Ratzinger als einen der „schärfsten Gegner des Kommunismus“ im Vatikan bespitzelt. S O N N TA G , 2 . 1 0 . NACHWAHL Bei der nachgezogenen Bundestagswahl im Dresdner Wahlkreis 160 erringt die Union einen zusätzlichen Sitz im Bundestag – sie vergrößert damit ihren Vorsprung vor der SPD auf vier Mandate. MÄNGEL In der britischen Atomwieder-
aufbereitungsanlage Sellafield werden laut der Zeitung „Independent on Sunday“ erneut schwere Sicherheitsmängel entdeckt. M O N TA G , 3 . 1 0 . BEITRITT In Luxemburg einigen sich die
EU-Außenminister, Gespräche mit der Türkei über einen Beitritt aufzunehmen. Österreich hatte schwerwiegende Bedenken formuliert.
wird das öffentliche Leben in Frankreich vielerorts lahm gelegt. Die Streiks richten sich gegen Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und den Verkauf von Staatsbetrieben. MITTWOCH, 5. 10.
SAMSTAG, 15. 10. 22.20 – 0.25 UHR VOX
FLUCHT Nach dem Massenansturm afri-
kanischer Flüchtlinge auf die Exklaven Ceuta und Melilla will Spanien mit Abschiebungen beginnen. Madrid stützt sich dabei auf ein Abkommen, das 1992 mit Marokko geschlossen wurde.
SPIEGEL TV
SPECIAL
Panzer, Busse und Besteck – Multi-Werkstoff Stahl
Waschmaschinen, Kanonenrohre oder Getränkedosen – Stahl ist der am meisten verwendete metallische Werkstoff. Und die Branche boomt. Mit mehr als 46 Millionen Tonnen erreichte die Rohstoffproduktion 2004 in Deutschland einen neuen Rekord. SPIEGEL TV Special über deutsche Panzerschmieden, chinesische Stahlarbeiter und erfolgreiche Schrotthändler.
D O N N E R S TA G , 6 . 1 0 . KOALITION Kanzler oder Kanzlerin? An-
gela Merkel, Gerhard Schröder, Edmund Stoiber und Franz Müntefering treffen sich im Haus der Parlamentarischen Gesellschaft zu einem „Spitzengespräch“ – über etwaige Ergebnisse wahren die Politiker Stillschweigen. VERSTÄRKUNG Die Nato-Schutztruppe Isaf werde ihre Truppenstärke in Afghanistan auf etwa 15 000 Mann erhöhen, kündigt Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer an.
SONNTAG, 16. 10. 22.55 – 23.40 UHR RTL SPIEGEL TV
MAGAZIN Die neue Berliner Republik – das Gerangel
F R E I T A G , 7. 1 0 . ERMITTLUNG Die Staatsanwaltschaft
Braunschweig ermittelt jetzt auch gegen den ehemaligen VW-Personalchef Peter Hartz – wegen Verdachts auf Untreue.
in München, bekommt gemeinsam mit
SPIEGEL TV Thema zeichnet die Geschichte der Airline im Zeichen des Kranichs mit ihren Höhen und Tiefen nach. Historisches Filmmaterial gibt Einblicke in eine Zeit, als Fliegen noch der Inbegriff von Fernweh und Luxus war. Darüber hinaus beleuchtet SPIEGEL TV den Alltag bei der Lufthansa und wirft einen Blick in die Zukunft. Im Jahr 2007 wird die Flotte der Lufthansa mit dem 555-sitzigen Airbus A380 ein neues Flaggschiff bekommen.
STREIK Durch Arbeitsniederlegungen
ment stimmt für eine Ablösung der Regierung von Ministerpräsident Ahmed Kurei.
LEUCHTE Theodor Hänsch, Physikprofessor
THEMA
Die Lufthansa-Story – 50 Jahre über den Wolken
zwei US-amerikanischen Wissenschaftlern den Nobelpreis für Physik – als erster in Deutschland lebender und arbeitender Physiker seit langem. Hänschs Spezialgebiet: Zeitmessungen mit Hilfe des Lichts.
ABLÖSUNG Das palästinensische Parla-
D I E N S TA G , 4 . 1 0 .
SPIEGEL TV
PREIS Der Friedensnobelpreis geht an
die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) und ihren Chef Mohammed al-Baradei. d e r
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um die Große Koalition; Kostensenkung dank Kündigung – die Flucht deutscher Unternehmen ins Ausland; Expedition im
FRANK AUGSTEIN / AP
S A M S TA G , 1 . 1 0 .
FREITAG, 14. 10. 21.55 – 24.00 UHR VOX
Amazonas-Urwald –
Merkel, Schröder
die bedrohte grüne Lunge der Erde. 223
Register gestorben
Weil sie daheim nichts finden, wandern erste deutsche Jobsuchende nach Indien ab – und arbeiten zu ortsüblichen Löhnen. SPIEGEL ONLINE über die neuen Gastarbeiter in Asien.
POLITIK
WIRTSCHAFT
Agenda Schwarz-Rot: Bei den Verhandlungen über die Große Koalition geht es jetzt ums Eingemachte. SPIEGELONLINE-Reporter berichten aus Berlin, wie Union und SPD Deutschland fit für die Zukunft machen wollen. Goldrausch: Während der Rest der USA über die Rekord-Energiepreise stöhnt, florieren die rohstoffreichen Bundesstaaten in den Rocky Mountains. SPIEGEL-ONLINE-Report über das Wirtschaftswunder in den Bergen.
KULTUR
NETZWELT
Agentenleben: Wie wurde aus dem kleinen James ein großer Bond? Der englische Komiker Charlie Higson hat ein Jugendbuch darüber geschrieben, das rührt – und durchschüttelt. Gentleman-Gamer: Star-Spieledesigner Peter Molyneux im SPIEGEL-ONLINEInterview über Ethik in Videospielen, den Orden, den ihm Prince Charles verlieh, und über das Böse in Hollywood.
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BRAD BARKET / AFP
Franco Scoglio, 64. Wegen seines stolzen, mitunter jedoch störrischen Führungsstils nannten seine Landsleute den italienischen Fußballcoach „il professore“. Seine Maxime lautete: „Ich trainiere nicht, ich lehre.“ Scoglio gilt als Erfinder der „zona sporca“, der dreckigen Zone – gemeint war jene Gegend vor dem Tor, in der seine Kollegen seiner Ansicht nach den Fehler machten, auf den Libero zu verzichten. Scoglio, geboren auf der vor Sizilien gelegenen Insel Lipari, war Coach in Neapel, Turin, Genua, Bologna, Messina und Udine. Als Mann des Südens förderte er stets Talente aus der Region, etwa Torjäger Totò Schillaci aus Palermo. Scoglio arbeitete als Nationaltrainer in Tunesien und führte Libyens Auswahl innerhalb von acht Monaten in der Weltrangliste um 16 Plätze nach oben. Dort wurde er entlassen, weil er Gaddafis Sohn Saadi als „totale Null“ bezeichnet hatte und sich weigerte, ihn in der Qualifikation zum AfrikaCup einzusetzen. Franco Scoglio starb am 3. Oktober während einer FernsehTalkshow in Genua an einem Herzinfarkt. LUCA ZENNARO / DPA
FÜR EINE HAND VOLL RUPIEN
es geschafft: Das zehnte und letzte Theaterstück seines Zyklus zur Geschichte der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA im 20. Jahrhundert kam zur Aufführung. Jeder Zweiakter spielt in einem anderen Jahrzehnt und lässt seine schwarzen Protagonisten exemplarische Situationen erleben. Wilson, Sohn eines deutschen Immigranten und einer Afroamerikanerin, ist mit seinem Lebenswerk etwas Einmaliges gelungen: eine dramatisierte Sozialgeschichte. Schon vor Vollendung des Œuvres wurde er in den USA als bedeutendster Bühnenautor der Gegenwart gefeiert und mit zahlreichen Auszeichnungen, darunter zwei Pulitzerpreisen, geehrt. Quelle der Inspiration war nicht nur seine eigene Erfahrung von Diskriminierung auf der einen, Solidarität und Geborgenheit auf der anderen Seite, sondern auch die Bluesmusik. Poetisch, humorvoll, melancholisch, manchmal tragisch oder sogar pathetisch waren die Arbeiten des Dramatikers, den Kritiker für ebenso bedeutend wie Arthur Miller oder Eugene O’Neill halten. „Ich tat, was möglich war. Und das zählt für mich“, sagte er vor kurzem. August Wilson starb am 2. Oktober in Seattle, Washington, an Leberkrebs.
Rolf Winter, 78. Als Chefredakteur hat er den „Stern“ 1984 aus seiner größten Krise geführt. Er setzte alles daran, die Glaubwürdigkeit des Blattes nach der Affäre um die gefälschten Hitler-Tagebücher wieder herzustellen. Zuvor war Winter für das Magazin in Amerika, schrieb kritische Artikel und Bücher über die USA und machte sich damit weithin einen Namen. 1975 entwickelte er – zusammen mit Rolf Gillhausen – das Reportage-Magazin „Geo“ und übernahm schließlich 1987 die Chefredaktion von „Sports“. Winter sprach von sich als „Workaholic“ – zu Recht. Erst in seinen letzten Tagen fand er sich damit ab, kürzer zu treten. Rolf Winter starb am 29. September in Hamburg.
Leo Henryk Sternbach, 97. Dem Sohn eines Apothekers verdankt die Menschheit die ersten „Sonnenbrillen für die Seele“. Die von ihm entwickelten Tranquilizer Librium und Valium wurden zu Megasellern der Pharmaindustrie. Das 1963 auf den 224
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GAUTAM SINGH / AP
August Wilson, 60. Im Frühjahr hatte er
Markt gekommene Valium schaffte es sogar ins Showbusiness, deren Ikonen mit „Mother’s Little Helper“ (Rolling Stones) Ängste verdrängten, sich Schlaf verschafften oder, wie Liz Taylor, mit einer Diät aus Valium und Jack Daniel’s den Hunger vertrieben. Sternbachs Superdrogen machten seinen Arbeitgeber Hoffmann-La Roche zum weltgrößten Pharmakonzern. Das Schweizer Unternehmen hatte den jüdischen Chemiker polnisch-ungarischer Herkunft 1941 sicherheitshalber zur Forschungsabteilung im US-Staat New Jersey umgesiedelt. Dort entwickelte Sternbach wie besessen neue Wirkstoffe. Rund 240 Patente hielt er schließlich, die ihm das milliardenschwere Unternehmen für jeweils einen Dollar abkaufte. Leo Henryk Sternbach starb am 28. September in Chapel Hill, North Carolina.
ehrung
Mohammed al-Baradei, 63, Chef der Wiener Atomenergiebehörde (IAEA), wird gemeinsam mit der Organisation den Friedensnobelpreis 2005 erhalten. Das Komitee würdigte am 7. Oktober seine persönlichen Bemühungen, „die militärische Nutzung von Atomenergie zu verhindern“. Dem in Kairo und New York ausgebildeten Juristen gelang es, die Unparteilichkeit seiner Organisation sicherzustellen – trotz allen Drucks gerade der US-Regierung, die noch im Frühjahr eine Verlängerung seiner Amtszeit vergeblich zu verhindern suchte.
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Das XXP-Abendprogramm vom 10. bis 16. Oktober 2005 MONTAG, 10. 10.
DIENSTAG, 11. 10.
Tagesthema: Gegenwart
Tagesthema: Vergangenheit
19.00 Uhr: XXP Nachrichten 19.15 Uhr: XXP aktuell 19.45 Uhr: XXP unterwegs 20.15 Uhr: SPIEGEL TV Magazin U. a.: Sie oder er – Der Kanzler-Showdown in Berlin 21.00 Uhr: Staupause – Urlaub an der Autobahn SPIEGEL TV Reportage 21.30 Uhr: Europapark Rust Kurzurlaub zwischen Silverstar und Alpenflieger SPIEGEL TV Extra 22.10 Uhr: XXP Wirtschaft 22.45 Uhr: SPIEGEL Thema „Wozu Sex? Das größte Rätsel der Evolution“. Rafaela von Bredow (DER SPIEGEL) im Gespräch mit Prof. Nicolaas Michiels, Evolutionsökologe, Universität Tübingen, Michael Miersch, Wissenschaftsjournalist, und Prof. Eckart Voland, Soziobiologe, Universität Gießen 23.35 Uhr: Punkt X Gast: Ludwig Stiegler, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender SPD
19.00 Uhr: XXP Nachrichten 19.15 Uhr: XXP History Magazin zur Zeitgeschichte mit Michael Kloft 20.15 Uhr: Zeitreise mit Stefan Aust Teil 2: Der Kaiser und der Weltkrieg 21.15 Uhr: Seeräuber – Die Schrecken der Meere SPIEGEL TV-Dokumentation 23.00 Uhr: XXP History Special: Steve Morgan, amerikanischer Schatzsucher und Abenteurer, sucht im Dschungel von Honduras nach Spuren der Maya. 23.30 Uhr: Punkt X Gast: Steve Crawshaw, Autor von „Ein leichteres Vaterland – Deutschlands Weg zu einem neuen Selbstverständnis“ 23.55 Uhr: Zeitzeugen Aufbruch zur Macht. Dokumentarfilm über die Geschichte der DDR-Oppositionspartei „Demokratischer Aufbruch“
MITTWOCH, 12. 10.
DONNERSTAG, 13. 10.
Tagesthema: Zukunft
Tagesthema: Lebensart
19.00 Uhr: XXP Nachrichten
19.00 Uhr: XXP Nachrichten
19.15 Uhr: XXP Familie Moderation: Katrin Klocke
19.15 Uhr: XXP Wissen U. a.: Profiler im Dienst des FBI
20.15 Uhr: Lebensart U. a.: Das Hotel Sacher in Wien Moderation: Jutta Lang
20.15 Uhr: BBC Exklusiv: Gesichter – das Geheimnis unserer Identität Von Angesicht zu Angesicht
21.00 Uhr: Sneaker, Pumps und Badelatschen – Von Schustern und Schuhsammlern SPIEGEL TV Special
21.00 Uhr: BBC Exklusiv: Gesichter – das Geheimnis unserer Identität Zum Star geboren
22.45 Uhr: Punkt X
21.55 Uhr: XXP mobil U. a.: Kindersicherheit im Auto
23.10 Uhr: Rache für meine Tochter Spielfilm, Norwegen 1999 Die Polizei in Oslo steht vor einem Rätsel: Mehrmals stoßen die Beamten auf einen Tatort voller Blut, aber ein Mordopfer ist nie zu finden.
22.20 Uhr: Abenteuer Wildnis Die Kängurus der Papuas 23.15 Uhr: Punkt X
FREITAG, 14. 10.
SAMSTAG, 15. 10.
PROGRAMMTIPP DER WOCHE
Tagesthema: Kontinente
Tagesthema: Gesellschaft
19.50 Uhr: KulturCheck 20.15 Uhr: Impotenz – das knallharte Geschäft; Heilen mit Hypnose; Die Fett-Epidemie Formate der NZZ 22.10 Uhr: Pferdezeit Die Baltic Horse Show, Kiel 23.10 Uhr: Psychic Detectives – Hellseher im Dienst der Polizei (3)
SPIEGEL TV / ZDF
DIENSTAG, 21.15 UHR: „SEERÄUBER – DIE SCHRECKEN DER MEERE“
Henry Morgan
Kanone eines Schiffswracks
SONNTAG, 16. 10. Tagesthema: Kultur AKG
SPIEGEL TV
19.00 Uhr: XXP Nachrichten 19.15 Uhr: Explorations Erfinder im Alleingang 19.40 Uhr: Explorations Männerspielzeug für Millionäre 20.15 Uhr: XXP Reise U. a.: Herbstliche Reise entlang des Rheins 21.00 Uhr: BBC Exklusiv: Wildes Amerika – Giganten der Eiszeit Folge 3: Mammuts in Manhattan Am Ende der letzten Eiszeit lebten noch wahre Giganten auf dem nordamerikanischen Kontinent. Der Film beschäftigt sich mit der Frage, warum die Tiere ausgestorben sind und welche Rolle dabei der Mensch spielte. 21.50 Uhr: Toyota World of Wildlife Territorien – wie Tiere ihr Jagdgebiet verteidigen 22.20 Uhr: XXP Auslandsspiegel 22.50 Uhr: Punkt X 23.15 Uhr: „G“ wie Geschichte dctp Kontext
Klaus Störtebeker
Schon in der Antike war kein Schiff vor den Freibeutern sicher. Seit der Entdeckung der Neuen Welt beherrschten sie die Meere, vor allem auf den Handelsrouten der Kolonialmächte. Bis heute ist wenig bekannt über das wahre Leben der Seeräuber. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kaperte Klaus Störtebeker, Anführer der berüchtigten Vitalienbrüder, unzählige Schiffe in Nord- und Ostsee. Eine andere berühmt-berüchtigte Seeräuber-Legende ist Sir Henry Morgan. SPIEGEL TV rekonstruiert die Geschichten der beiden sagenumwobenen Piraten.
19.00 Uhr: Pferdezeit Die erste Station des FEI-Worldcups in Helsinki 20.15 Uhr: BBC Exklusiv: Das Tier im Menschen Begierde 21.05 Uhr: BBC Exklusiv: Krieg der Spermien und: Tage der Verschwörung U. a.: Die Verschwörung – Aufstieg und Fall des Salvador Allende Ein Film von Michael Trabitzsch dctp Kontext
Personalien Peter Struck, 62, sozialdemokratischer Verteidigungsminister, mied beim Besuch eines Ausbildungszentrums der Luftwaffe in Sardinien einen historischen Ort: die Bar des Offizierskasinos. Angelehnt an den Tresen hatte Amtsvorgänger Rudolf Scharping vor genau sechs Jahren in vermeintlich vertraulicher Runde bei Rotwein und Grappa gegen Kanzler Gerhard Schröder räsoniert und kaum Zweifel daran gelassen, dass er sich selbst für den besseren Regierungschef hielte. Die Schelte in Decimomannu – neben Journalisten hörten damals auch Generäle und Spitzenbeamte mit – wurde indes alsbald publik und brachte dem vormaligen SPD-Chef daheim einigen Ärger ein. Struck („Wo ist denn die berühmte Stelle von Rudolf?“) ließ sich den Tresen zwar zeigen, er widerstand aber dem Drängen der mitgereisten Pressevertreter, dort ein „Hintergrundgespräch“ über die Berliner Koalitionsverhandlungen von SPD und CDU/CSU zu führen: „Ich halte mich da raus.“ Der Minister steuerte stattdessen eine bequeme Ledercouch am anderen Ende des Saales an und verlegte sich aufs Frotzeln: Den Wunsch der Journalisten, eine „Gedenkplakette“ an die Bar zu schrauben, könne er nicht erfüllen; Pressesprecher Norbert Bicher habe das „verboten“. Wie sein Vorgänger nahm Struck beim Plausch mit der Presse hochprozentigen Grappa zu sich – freilich nur ein Glas, vor dem Aufbruch ins Nachtlager.
Linda Evangelista, 40, Supermodel, bereut den einen Satz, der sie einst berühmt gemacht hat: Unter einem Honorar von 10 000 Dollar würde sie erst gar nicht aus dem Bett steigen. „Der Satz verfolgt mich, wohin ich auch immer komme“, klagte das Model jetzt. Sie habe den Ausspruch vor langer Zeit getan, heute sei sie doch eine ganz andere Person. Sie steige nun aus dem Bett aus einem „anderen und viel besseren Grund“. Zusammen mit weiteren Stars sammle sie seit 2004 Geld für einen Aids-Fonds. Evangelista ist Sprecherin für den „Viva Glam“-Lippensstift des kanadischen MAC-Kosmetik-Konzerns, dessen Verkauf 47 Millionen Dollar zugunsten HIVBetroffener eingebracht habe. Demnächst will sie bei einem Besuch in Indien den Erfolg ihrer Anstrengungen besichtigen: „Der Erlös aus dem Verkauf eines einzigen Lippenstifts kann eine ganze Familie einen ganzen Monat lang ernähren.“ Das sei doch wohl erstaunlich. Linda Evangelista: „Meine Aufgabe ist, das zu tun, was ich kann – und das ist Lippenstifte verkaufen.“
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Evangelista
gegen den Horizont abgesetzt, als stehe er auf der Spitze eines der Zwillingstürme und blicke zum Hafen von New York.
Gregor Gysi von der PDS zum Verhängnis wurden. Im Kreis der SPD-Netzwerker vergangene Woche erzählte der Jungparlamentarier von seinem bisherigen Arbeitgeber, der Lufthansa. Da bringe er „bestimmt schon ganz viele Vielfliegermeilen“ auf seinem Konto mit, wollte der ehemalige Wissenschaftsminister von Niedersachsen Thomas Oppermann, 51, wissen. Doch Amann wusste die listige Frage souverän zu kontern. Er sei bereits als Student „rund um die Welt geflogen“, das werde ihn jetzt gewiss „vor moralischen Fehlleistungen schützen“.
Gregor Amann, 43, SPD-Neuling im Deutschen Bundestag, glaubt sich gegen korruptionsverdächtige Fehltritte gefeit – zumindest vor der Verwendung dienstlich angesammelter Bonusmeilen für Privatflüge, die 2002 in der sogenannten FlugmeilenAffäre dem Grünen Cem Özdemir und
Adam Regouzas, 59, Vizefinanzminister
FRANK OSSENBRINK
Amtszeit wahlkämpfender Bürgermeister von New York, erlitt eine peinliche Blamage. Auf Tausenden Flyern ist der Mayor von New York City hoch über seiner Stadt, der Anzugjacke ledig, mit entschlossen seitlich aufgestützten Händen und fest in die Ferne gerichtetem Blick zu sehen. Neben Bloombergs Kopf ist die Aussage montiert: „Wir sichern die Zukunft aller New Yorker“, wobei „alle“ durch die UnterstreiBloomberg-Flyer chung besonders hervorgehoben ist. Nachdem die „New York Times“ bohrende Fragen stellte über den Ort der Aufnahme, stoppten die Wahlkampfmanager Bloombergs die weitere Verteilung des Flyers. Offenbar wollte man nachträglich den Anschein vermeiden, New Yorks Bürgermeister versuche aus dem Terroranschlag auf das World Trade Center, bei dem im September 2001 nahezu 3000 Menschen getötet wurden, politisches Kapital zu schlagen. Denn auf dem Foto ist Bloomberg so
GETTY IMAGES
Michael Bloomberg, 63, um eine zweite
Amann, Oppermann d e r
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Griechenlands, versuchte auf eigenwillige Art und Weise gegen die im Land grassierende Korruption vorzugehen. Während griechische Richter und Anwälte mit immer neuen Bestechungsskandalen von sich Reden machen, der griechisch-orthodoxe Klerus im Ruf steht, emsig Ikonen zu verkaufen und in großem Stil Kirchengelder zu veruntreuen, wollte Regouzas wenigstens das Ansehen der Zollbehörden sei-
Peter Harry Carstensen, 58, CDU-Minis-
nes Landes heben. Ganz im Sinne von Griechenlands neuem Staatspräsidenten Karolos Papoulias, der sich zu seiner Amtseinführung im März eine „weniger egoistische, dafür ehrbare Gesellschaft“ gewünscht hatte, trug der studierte Ökonom Regouzas bei einer Versammlung des Verbands griechischer Zollbeamten „ganz freundschaftlich und nachsichtig“ eine Bitte vor: Die Staatsdiener sollten doch, soweit möglich, die sogenannte Beschleunigungsgebühr, das ist die vornehme Umschreibung der üblichen Bestechungsgelder zur Abwicklung von ansonsten endlosen Zollformalitäten, „eigenständig einschränken und verringern“. Vizeminister Regouzas weiß offenbar, wovon er spricht: Ehe er ins Kabinett kam, war er Präsident des Zollbeamten-Verbandes in der Region Zentralmazedonien.
VOLKERT BANDIXEN
Maßkonfektions-Model Carstensen
desherr lieber beim Husumer Kleidermacher CJ Schmidt einen feinen Zwirn per Hand und Scannertechnik anmessen. Schleswig-Holstein „steht für Qualität“, lobte Carstensen, deshalb „soll man sich auch gern nach außen zu unserem attraktiven Land bekennen“ – und stellte sich als Werbefigur im Katalog des Herrenausstatters zur Verfügung.
KOWALSKY / DPA
JOHN F. MARTIN / AP
Christian Wulff, 46, CDU-Ministerpräsident von Niedersachsen, durfte sich schon mal als Bundeskanzler fühlen. Bei der Eröffnung eines Großlabors mit 55 Mitarbeitern der Oldenburger Firma CeWe Color im slowakischen Bratislava begrüßte der Werkleiter den Ministerpräsidenten mit den Worten: „Und so freuen wir uns heute über die Anwesenheit unseres Bundeskanzlers Christian Wulff, oh, äh, nein, oder, ach Herr Wulff, nein, Sie wissen schon, wen ich meine ...“ Wulff lief hochrot an, übernahm das Mikrofon, bedankte sich für den „mehr als herzlichen Empfang“ und verzieh dem Unglücksraben großmütig den „leichten Freudschen Versprecher“, der aber, so hoffe er, „doch von Herzen kam“.
terpräsident von Schleswig-Holstein, Chef einer großen Koalition, unterstützt die heimische Wirtschaft mit vollem Körpereinsatz und wirbt als Model für Maßkonfektion. Statt einen Anzug von Brioni oder Armani zu erwerben, ließ sich der Lan-
Zetsche mit Anwalt
Bezirksrichterin Small
Gisela Zetsche, 55, und ihr Mann Dieter, der designierte DaimlerChrysler-Chef, genossen ihre Zeit in Amerika besonders, weil es dort in vielem sehr viel lockerer zugeht als in Deutschland. Seit dem Jahr 2000 arbeitete Dieter Zetsche in Auburn Hills als Chrysler-Chef und erschien zu Terminen schon mal in Lederjacke. Bei einem Thema allerdings sind die Behörden in den USA alles andere als locker: Wenn Erwachsene es Jugendlichen ermöglichen, Alkohol zu trinken. Genau dies bescherte Gisela Zetsche nun eine Gerichtsverhandlung und eine Geldstrafe von 500 Dollar. Auf einer Feier zum Abschied eines Freundes ihres Sohnes, der den Sommer über als Gast bei der Familie gewohnt hatte, gab es Bier und Schnaps, obwohl einige der rund hundert Gäste noch nicht 21 Jahre alt waren. In Deutschland wäre dies kein Problem. Im US-Staat Michigan ist es streng verboten, und Jugendliche, die mehrfach alkoholisiert aufgegriffen werden, können sogar ins Gefängnis gesperrt werden. Bezirksrichterin Kimberly Small sah durch die Party bei Zetsche denn auch Sitte und Moral in Gefahr: „Es war illegal, es war richtiggehend gefährlich.“ Schließlich hätten die angetrunkenen Jugendlichen Auto fahren oder Sex haben können. d e r
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus der „Oldenburgischen Volkszeitung“: „In ihrer Predigt wies Kerstin von Stuckrad darauf hin, dass ein Mehr für jeden Einzelnen erst mit dem Weniger, dem Loslassen, beginne. ,Das erste Mal findet das bei der Geburt statt, das letzte Mal beim Sterben‘, erklärte die Pfarrerin und machte allen Gottesdienstteilnehmern Mut, es einmal zu versuchen.“
Zitate
Aus der „Dattelner Morgenpost“ Aus einer Meldung über das Oktoberfest in der „Bild“-Zeitung: „Erstmalig muss der Lärmpegel unter 85 Dezibel liegen. Stimmung kam trotzdem auf: Eine Schweinshaxe flog durch ein Bierzelt, traf einen Gast am Kopf. Er erlitt eine blutende Platzwunde.“
Aus der Mitgliederzeitschrift der Deutschen BKK „Das Magazin“ Aus einem Urteil des „OLG Brandenburg“: „Das Inbrandsetzen eines Fahrzeugs – auch nach erfolglosem Startversuch – stellt keine für einen Kraftfahrer typische Verhaltensweise dar.“
Aus der Informationszeitschrift des Bundesselbsthilfeverbandes für Osteoporose in Düsseldorf „BfO“ Aus der Broschüre „Windsurfing – Workbook für Einsteiger“: „Anders als beim Autofahren braucht man zum zügigen Anfahren auf dem Wasser nicht voll aufs Gas zu drücken.“
Aus der „Mittelbayerischen Zeitung“ 228
Die „Frankfurter Allgemeine“ zum SPIEGEL-Bericht „Pressefreiheit – Stichwort ,Cicero‘“ sowie zum SPIEGEL-Interview mit der SPDPolitikerin Monika Griefahn über die Attacke auf die Medien „Eine empörende Aktion“ (Nr. 40/2005): Innenminister Otto Schily (SPD) muss noch vor der Konstituierung des neuen Bundestages dem Innenausschuss Auskünfte zur Durchsuchung von Redaktionsräumen der Zeitschrift „Cicero“ sowie der Wohnung eines Journalisten erteilen … Kritik an der Maßnahme und an Äußerungen Schilys dazu übten unterdessen Abgeordnete von CDU/CSU, FDP, den Grünen und auch der SPD-Fraktion. Die Grünen-Vorsitzende Roth sprach am Donnerstag von einem „Angriff auf unsere Demokratie“. Schily hatte bei einem Verlegerkongress in der vergangenen Woche allgemein gehaltene Beschuldigungen gegen die Presse erhoben und dann das Vorgehen gegen die „Cicero“-Redaktion verteidigt. „Wir lassen uns nicht das Recht des Staates nehmen, seine Gesetze durchzusetzen“, hatte Schily bei dieser Gelegenheit nach Auskunft der Zeitschrift DER SPIEGEL gesagt und angekündigt, man werde „wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat“ Journalisten strafrechtlich verfolgen lassen, die sich geheime Papiere wie „eine Trophäe“ ansteckten. Das Vorgehen und die Äußerungen Schilys stoßen inzwischen bei Politikern von Opposition und Regierungsfraktionen auf Kritik. Ein Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sprach am Donnerstag von einem „ernst zu nehmenden Eingriff in die Pressefreiheit“ und forderte lückenlose Aufklärung … Die gegenwärtige Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien, Monika Griefahn (SPD), sagte, die „Aktion gegen ,Cicero‘“ sei empörend, das sähen auch viele Sozialdemokraten so. Die SPD-Fraktion wollte, sagte Frau Griefahn der Zeitschrift DER SPIEGEL, mit Schily „ein klärendes Gespräch“ zum Thema Pressefreiheit führen. Sie würde sich „wünschen, dass sich Otto Schily bei den Journalisten entschuldigt“. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Wiefelspütz, nannte das Vorgehen „unverhältnismäßig“. Er glaube nicht, so Wiefelspütz, „dass man im Innenministerium gut beraten war, als man die Strafverfolgung autorisierte“. Der Bundesligakicker Bastian Reinhardt in „HSV Live“, dem Vereinsmagazin des Hamburger SV über sein „Lieblingsmagazin“: Der SPIEGEL. Den habe ich eigentlich immer in meiner Tasche dabei und lese zwischendurch immer wieder drin. Ich bin politisch interessiert. d e r
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