Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 680 Hexenkessel Alkordoom
ANIMA von Marianne Sydow
Die Story des leb...
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Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 680 Hexenkessel Alkordoom
ANIMA von Marianne Sydow
Die Story des lebenden Raumschiffs
Im Jahr 3818 wird Atlan ohne Vorwarnung aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor herausgerissen. Der Grund für diese Maßnahme der Kosmokraten ist, daß Atlans Dienste an einem anderen Ort des Universums viel dringender benötigt werden als im Reich der Kranen. Da der Arkonide erfährt, daß vom Erfolg oder Mißerfolg seiner Mission das weitere Schicksal der Mächte der Ordnung abhängt, scheut er kein Risiko. Er läßt sich quasi in Nullzeit über weite Sternenräume in die Galaxis Alkordoom versetzen, wo er bereits in den allerersten Stunden seines Aufenthalts den ganzen Erfahrungsschatz seines nach Jahrtausenden zählenden Lebens einsetzen muß, um sich behaupten zu können. Der bestandene Todestest und der Einsatz im Kristallkommando beweisen Atlans hohes Überlebenspotential. Dennoch gerät der Arkonide in die Gewalt der Crynn‐Brigadisten – und ihm droht die Auslöschung seiner Persönlichkeit. Bevor es dazu kommt, wird Atlan durch eine kleine Einsatzgruppe von Celestern gerettet, Nachkommen von entführten Terranern, die den Arkoniden für einen der Ihrigen halten und in ihre Heimat New Marion bringen. Kurz darauf erlebt Atlan eine erneute Ortsversetzung. Er lernt das lebende Raumschiff kennen. Und er erfährt die dramatische Geschichte von ANIMA …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide auf dem Flug nach New Marion. ANIMA ‐ Das lebende Raumschiff berichtet aus seiner Vergangenheit. Molina und Traumata ‐ Schiffbrüchige aus dem Volk der Bithra. Hartmann von Silberstern ‐ Ein Ritter der Tiefe. Das Fract‐Cuzz ‐ Ein unsichtbarer Eindringling.
1. Wir befanden uns im Weltraum. Der Planet Thorrat und seine Sonne waren längst im Gewimmel der Sterne verschwunden, und vor uns lagen die fremden, für mich noch immer völlig nichtssagenden Konstellationen der Galaxis Alkordoom. Es war ruhig um mich herum, sehr ruhig. ANIMA war kein gewöhnliches Raumschiff, und obwohl wir mit Überlichtgeschwindigkeit flogen, gab es keine Triebwerke, die brüllen, summen oder auch nur flüstern konnten. Es gab auch keine blinkenden Lichter. Es gab nichts weiter als das »Schiff« und mich. »Ich werde in Kürze auf Unterlichtgeschwindigkeit gehen«, erklärte ANIMA mit sanfter Stimme. Gleichzeitig erhob sich vor mir eine Platte, auf der ein beschlagenes Glas stand. Ich probierte. Es war gekühlter Wein, ziemlich süß, aber aromatisch. »Der kurze Aufenthalt im Normalraum ist dringend erforderlich«, fuhr ANIMA unverändert sanft fort. »Ich kenne die Position des Planeten New Marion nicht, aber du kannst dich darauf verlassen, daß ich das Ziel auf dem schnellsten Weg ansteuern werde. Ich muß mich nur noch einmal orientieren. Vielleicht werde ich noch ein oder zwei weitere Pausen benötigen. Ich hoffe, daß dich das nicht stören wird!« »Nicht im geringsten«, murmelte ich. »Wenn du irgendwelche Wünsche hast, dann sage mir das bitte!« »Das werde ich tun«, versicherte ich, streckte die Beine von mir
und nippte an dem Wein. »Vielleicht möchtest du etwas Musik hören?« fragte ANIMA hoffnungsvoll. »Es könnte zu deiner Entspannung beitragen.« Wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich blieb, dann genoß ich die Ruhe in diesen Stunden gerade deshalb so intensiv, weil sie mir seit meiner Versetzung nach Alkordoom verwehrt geblieben war. In dieser Galaxis war »Ruhe« gleichsam ein Synonym für »Tod«. Das Leben war laut in dieser Ecke des Universums, und wenn ich an Musik dachte, dann tauchte automatisch die schmutzige, verkommene Stadt auf dem Planeten Puurk vor mir auf – jene Stadt, in der ich nach meiner Versetzung zu mir gekommen war. Puurk hatte sich als eine Falle erwiesen. Die Kosmokraten hatten mich auf einen Planeten versetzt, auf dem jedes Individuum, das weder Kind noch Greis war, als Jagdbeute behandelt wurde. Und in diesem Stil war es weitergegangen, bis ich mit ANIMA den Planeten Thorrat verlassen hatte. Mal abgesehen von der Begegnung mit den Celestern – und natürlich Sarah –, hatte ich jetzt zum erstenmal Gelegenheit, in aller Ruhe über einige Dinge nachzudenken. Zum Beispiel über ANIMA, die recht verblüffende Eigenschaften zu besitzen schien. So war ANIMA alles andere als ein »Werkzeug« oder ein Transportmittel, sondern unzweifelhaft ein Lebewesen, das nicht nur denken und sprechen, sondern auch fühlen konnte. Ein Lebewesen, das imstande war, innerhalb gewisser Grenzen jede gewünschte Gestalt anzunehmen. ANIMA war lange vor mir nach Alkordoom gekommen, wie ich im Auftrag der Kosmokraten und mit dem Ziel, etwas über das herauszufinden, was hier eigentlich stattfand. Sie war gescheitert und in eine Falle gegangen, hatte Alkordoom nicht mehr verlassen können. ANIMA war dort als wundertätiger Kristall zum Mittelpunkt eines wahren Kultes geworden. Mindestens zwei Facetten des Erleuchteten waren brennend daran interessiert, ANIMA in ihre Gewalt zu bekommen. Ihre Jäger würden vor keiner
Schandtat zurückschrecken, wenn es galt, meine seltsame Verbündete einzufangen. So gesehen, hatte ich eigentlich keinen Grund, mich im Innern des »Schiffes« besonders sicher zu fühlen. Trotzdem tat ich es. Es mußte an ANIMA selbst liegen. Sie beeinflußte mich nicht direkt, aber ich fühlte mich von ihr beschützt. Als ANIMA auf Unterlichtgeschwindigkeit ging, begab ich mich in die KORALLE. ANIMA konnte zwar recht gut beurteilen, was in unserer kosmischen Umgebung vorging, aber sie besaß keine technischen Ortungsmittel. Ich wollte genau wissen, ob Schiffe in der Nähe waren – wir hatten zwar die Jäger abgeschüttelt, aber es ließ sich nicht ausschließen, daß sie unsere Spur bereits wiedergefunden hatten. Die Geräte in der KORALLE zeigten zunächst nichts an. Wir befanden uns in einem Raumsektor mit durchschnittlicher Sternendichte, ungefähr vier Lichtjahre vom nächsten Sonnensystem entfernt. Der Ausläufer eines schwach leuchtenden Nebelfeldes reichte bis auf etwa ein halbes Lichtjahr zu uns heran und erzeugte allerlei Störungen. Ein Raumschiff hätte ich trotzdem nicht übersehen dürfen, und doch tat ich es. Ich wurde erst stutzig, als ANIMA ohne ersichtlichen Grund den Kurs änderte. Wäre sie gleich anschließend wieder zum Überlichtflug übergegangen, so hätte ich an eine Kurskorrektur geglaubt, aber eben das tat sie nicht. »Was gibt es dort?« fragte ich. »Warum weichst du aus?« »Das wird dich wohl kaum interessieren«, behauptete sie. »Ich glaube, ich habe jetzt den richtigen Weg gefunden. Wenn du nichts dagegen hast, können wir …« »Helft uns!« drang eine verzweifelte Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Wer auch immer ihr seid – nehmt uns an Bord!« »Das«, sagte ich zu ANIMA, »ist etwas, was mich durchaus interessiert. Warum hast du mir nichts gesagt?«
ANIMA schwieg, aber sie änderte abermals ihren Kurs. Nach einigen Minuten konnte ich ein Wrack ausmachen, das in den Ausläufern des leuchtenden Nebels hing. Es war ein sehr kleines Schiff, und es war offensichtlich in einem erbärmlichen Zustand. Ich hätte es trotzdem auf den ersten Blick entdecken müssen. Offenbar hatte der Nebel die Ortung verhindert. Inzwischen hatte ich das Gespräch mit den Schiffbrüchigen aufgenommen und wußte in etwa, was da auf mich zukam. Das Wrack hatte nur zwei lebende Wesen an Bord. Das eine hieß Molina und das andere Traumata, beide waren weiblichen Geschlechts, und sie entstammten dem Volk der Bithra, das auf einem nicht allzu weit entfernten Planeten hauste. Die Bithra betrieben die Raumfahrt offenbar mit der Sorglosigkeit unbedarfter Sonntagsfahrer. Molina und Traumata jedenfalls behaupteten, sie hätten nur eine kurze Spritztour unternehmen wollen. Irgendwo in der Nähe gab es angeblich eine Gruppe von Planetoiden, auf denen man interessante Dinge zu finden vermochte. Die beiden hatten sich dort herumgetrieben, waren auf dem Rückflug in den Nebel geraten und mit irgend etwas zusammengestoßen. So weit, so gut. ANIMA begab sich mit deutlichem Widerwillen zu dem Wrack, und wenig später kamen die beiden Bithra an Bord. Sie trugen Raumanzüge, deren Äußeres meinen Verdacht verhärtete, daß ich es hier mit den Vertretern eines reichlich exzentrischen Völkchens zu tun hatte: Die Anzüge der beiden waren von oben bis unten mit einem solchen Wust von Verzierungen versehen, daß man die eigentliche Form darunter bestenfalls nur ahnen konnte. »Du hast uns das Leben gerettet!« rief Molina, kaum daß sie ihren in Gold und Blau gehaltenen Kopfputz (als Raumhelm ließ sich das Gebilde wahrhaftig nicht mehr bezeichnen) abgesetzt hatte. »Wir sind dir zu ewigem Dank verpflichtet!« »Wir werden ein großes Fest zu deinen Ehren feiern«, fügte Traumata hinzu und sah sich suchend um – offenbar wußte sie nicht
recht, wo sie ihr in Purpur und Silber leuchtendes Prachtstück von einem Helm unterbringen sollte. Molina ließ sich durch das Fehlen von Garderobeneinrichtungen nicht lange stören, sondern ließ ihren Helm einfach zu Boden fallen und war auch schon aus dem Anzug heraus. Ehe ich noch bis drei zählen konnte, hing sie mir bereits am Hals und verpaßte mir einen schmatzenden Kuß. Ich muß gestehen, daß ich ziemlich überrascht war. Die Situation erschien mir irreal. Da flog ich in den Weiten einer fremden, nachweislich sehr gefährlichen Galaxis herum, und plötzlich hatte ich zwei Schiffbrüchige an Bord, die sich wie ausgelassene Backfische aufführten! Andererseits wußte ich nichts über die Sitten der Bithra, und was für mich ein Kuß war, mochte bei diesem Volk gängige Begrüßungsrituale darstellen. Meine Schützlinge sahen fast wie Menschen aus, waren schlank und muskulös zugleich, wirkten aber ein wenig katzenhaft. Ihre schrägstehenden Augen und ihre spitzen Zähne verstärkten diesen Eindruck noch. Ihre Nasen waren klein und etwas rundlich, und ihre Ohren waren behaart. Ansonsten aber sahen sie verblüffend menschlich aus. Molina war die temperamentvollere von den beiden, und sie trug ihr Haar wie eine goldblonde Löwenmähne. Traumata war ein bißchen kleiner als ihre Freundin und – wie es schien – auch etwas schüchterner. Ihre Haare und ihre Augen waren schwarz wie die Nacht. Beide waren noch sehr jung – oder zumindest sah es für mich so aus. Sie waren mit Messern ausgerüstet, die in ihren breiten, goldfarbenen Gürteln steckten. Was die Kleidung betraf, so schienen die Bithra mit dem Stoff zu geizen: Bis auf ein paar bunte Fetzen trugen sie nur ihre glänzende, goldbraune Haut. »Du machst mich verlegen«, bemerkte Traumata, als Molina mir einen zweiten Kuß verpaßte. Sie hatte endlich eine Ecke gefunden, in der sie ihren Helm und ihren Anzug deponieren konnte. Sie legte beides sehr ordentlich hin und stapelte dann ein halbes Dutzend
Taschen und Beutel daneben auf – das war das Gepäck meiner Gäste. Als sie sich wieder aufrichtete, verlor sie für einen Augenblick das Gleichgewicht. Sie kippte vornüber, stützte sich blitzschnell an der Wand ab, fuhr dann herum und musterte die Umgebung mit funkelnden Augen. Ihre rechte Hand lag dabei auf dem Griff des Messers. Es schien, als wollte sie etwas sagen, aber dann überlegte sie es sich anders, lächelte nur nervös und ging mit einer wegwerfenden Geste über den Zwischenfall hinweg. Ich bemerkte jedoch, daß sie noch mehrmals plötzlich innehielt und sich suchend umsah. Ich konnte nur hoffen, daß die Bithra nicht unter Verfolgungswahn litt – die Art und Weise, in der diese beiden Schiffbrüchigen mich in die Mitte nahmen, beunruhigte mich ohnehin. * Meine beiden Gäste hatten einen Rundgang durch das »Schiff« hinter sich und räkelten sich nun behaglich auf zwei Bänken, die ANIMA für sie bereitet hatte. Dabei achteten sie sorgfältig darauf, daß ich mich nicht aus ihrer Reichweite entfernte. Wohin ich auch ging – sie folgten mir. Dennoch schienen sie keine feindlichen Absichten zu haben – im Gegenteil. Besonders die blonde Molina zeigte ein sehr deutliches Interesse an mir. Im übrigen schienen die Bithra es als völlig selbstverständlich zu betrachten, daß ANIMA ohne mein Zutun durch den Weltraum flog. »Sag deinem Schiff, daß es langsam fliegen soll«, flötete Molina. »Ich möchte mich noch eine Weile mit dir unterhalten können.« Im selben Augenblick gab es ein leises wisperndes Geräusch. Ich spürte einen leichten Luftzug im Nacken, als habe sich jemand oder etwas hinter mir bewegt. Als ich mich umdrehte, war jedoch alles unverändert. Dann fiel etwas zu Boden, und ich vernahm Molinas
erschreckten Schrei. Die Bank, auf der sie gelegen hatte, war plötzlich nicht mehr vorhanden. Die Bithra war ziemlich unsanft zu Boden geplumpst. »Was ist los, ANIMA?« fragte ich verblüfft. »Wovon sprichst du, Atlan?« fragte ANIMA zurück. »Von der Bank«, sagte ich unwillig. »Welcher Bank?« »Der, auf der das Mädchen bis eben gelegen hat. Warum hast du das gemacht?« »Ich habe nichts gemacht«, behauptete ANIMA. »Du …« Weiter kam ich nicht, denn jetzt war es Traumata, die plötzlich aufschrie. Allerdings fiel sie nicht zu Boden, und auch ihre Bank war noch immer vorhanden. Dafür stand die Bithra kampfbereit und mit zornig funkelnden Augen da, das Messer in der Hand. »Jemand hat mich geschlagen!« behauptete sie. Ich runzelte die Stirn und sah mich nach allen Seiten um. Da war niemand, und es konnte auch außer den beiden Bithra und mir niemand an Bord sein. Trotzdem wurde mir das Ganze allmählich unheimlich. Ich erinnerte mich daran, wie Traumata schon einmal plötzlich und ohne ersichtlichen Grund das Gleichgewicht verloren hatte. Und ich hatte den Luftzug wirklich gespürt. »Ist außer uns noch jemand an Bord?« fragte ich ANIMA. »Natürlich nicht«, erwiderte sie beleidigt. »Bist du sicher?« »Niemand kommt ohne meine Einwilligung hier herein!« Damit hatte sie sicher recht. Aber wenn außer uns niemand da war – nun, dann mußte es ANIMA selbst sein, die plötzlich begann, uns schlechte Scherze zu spielen. »Wartet hier auf mich«, bat ich die beiden Bithra. »Ich bin gleich wieder hier.« »Willst du uns wirklich hier alleine lassen?« fragte Molina, sprang
auf und hängte sich bei mir ein. »Allein mit so unheimlichen Dingen?« fügte Traumata hinzu und war ebenfalls schon neben mir. »Es tut mir leid, aber ihr müßt hierbleiben«, erklärte ich energisch und schob die beiden zu der verbliebenen Bank. Die Bank löste sich auf, und die beiden Bithra, die sich gerade setzen wollten, landeten auf dem Fußboden. Zwei empörte Schreie erklangen, dann riß Molina ihr Messer aus dem Gürtel und stieß es in den Boden hinein. Im nächsten Augenblick war das Messer verschwunden. Molina blieb verdutzt sitzen und starrte abwechselnd auf ihre Hand und den Boden, der völlig unversehrt war. »Das Schiff hat mein Messer gestohlen«, stellte sie dann entgeistert fest. »Was wird hier eigentlich gespielt?« Das hätte ich auch gerne gewußt. Ich mußte mit ANIMA sprechen, und zwar sofort, vor allen Dingen aber ohne die beiden Bithra. Im Augenblick waren sie so überrascht, daß sie kaum auf mich achteten. Ich beschloß, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Aber als ich gerade erst ein paar Schritte getan hatte, kamen die beiden mir nachgeeilt. »Warte auf uns!« rief Traumata besorgt. »Du kannst nicht allein und unbewaffnet hier herumlaufen, wenn dein Schiff den Verstand verloren hat. Wir …« Ich hatte mich umgedreht, denn ich sah ein, daß ich meinen beiden Quälgeistern doch nicht entkommen konnte. Zufällig blickte ich auf den Boden, und ich sah, wie dort plötzlich eine Grube entstand. Sie war nicht tief. Es handelte sich lediglich um einen kleinen Absatz. Aber wenn man innerlich darauf eingerichtet ist, auf ebenem Boden zu laufen, kann auch eine kleine Vertiefung zu einer Stolperfalle werden – und sie wurde es auch. Traumata fiel zuerst hin, dann folgte Molina. Sie rappelten sich sofort wieder auf, aber kaum daß sie auf den Beinen standen, gab es
ein sausendes Geräusch. Die beiden Mädchen flogen nach rechts und links, fingen sich geschickt an den Wänden ab und schimpften lauthals. »Das reicht!« sagte ich grimmig. »Geht zurück, wartet auf mich und rührt euch nicht von der Stelle. ANIMA, ich muß mit dir reden!« »Geh nicht!« schrie Molina aufgeregt. »Du darfst dich nicht in Gefahr begeben!« zeterte Traumata, und schon hatten sie mich in der Zange und schleppten mich zurück zu jenem Raum, in dem das ganze Theater begonnen hatte. Zumindest hatten sie das vor. Aber der Raum war plötzlich ebenfalls verschwunden – oder, um genauer zu sein, die Tür war nicht mehr vorhanden. »Wir müssen das Schiff verlassen«, schrie Molina in heller Panik. »Es war in dem Nebel. Es hat den Verstand verloren!« Von irgendwoher erklang ein drohendes Brummen, dann fegte etwas wie ein Wirbelsturm an uns vorbei. Ich fühlte mich in die Luft gehoben, prallte gegen eine Wand und rutschte langsam daran zu Boden. Ein wenig benommen blieb ich sitzen und überdachte die Lage. Die beiden Bithra waren still geworden. Sie lagen auf dem Boden und rührten sich nicht, aber ihre Augen waren geöffnet, und sie beobachteten mich angstvoll. »Es ist der Nebel«, sagte Traumata nach einiger Zeit sehr leise. »Es muß der Nebel sein. Als wir mit unserem Schiff in ihn hineingerieten, funktionierte plötzlich nichts mehr. Das künstliche Gehirn spielte verrückt. Es wußte plötzlich nicht mehr, daß wir die Passagiere waren. Es dachte, wir wären Eindringlinge, und es wollte uns vernichten. Wir mußten es ausschalten. Und dann haben wir versucht, das Schiff selbst zu steuern.« Allmählich begriff ich die Zusammenhänge. Die Bithra benutzten offenbar vollautomatisierte Raumschiffe, denen man lediglich einfache Befehle zu geben brauchte. Wahrscheinlich hatten die
Mädchen niemals gelernt, wie man mit einem normalen Raumschiff umzugehen hatte. In dem leuchtenden Nebel mochte es energetische Phänomene geben, die in einem komplizierten Robotergehirn verheerende Schäden anrichteten. »Wir hätten versuchen müssen, den Nebel zu verlassen«, fuhr Traumata fort. »Es tut mir leid, daß wir dich da hineingezogen haben!« »Ich bin sicher, daß es halb so schlimm ist«, murmelte ich. Eigentlich hatte ich die Absicht gehabt, die beiden Bithra zu beruhigen, aber es trat die genau entgegengesetzte Wirkung ein: Molina begann laut zu schluchzen, und auch Traumata jammerte vor sich hin. Das hatte mir gerade noch gefehlt. »Beruhigt euch«, bat ich sie. »Ihr werdet sehen, daß bald wieder alles in Ordnung ist.« Die Tränen flossen reichlicher. Molina robbte zu mir herüber und klammerte sich hilfesuchend an mich. Traumata heulte zum Steinerweichen, schob sich ebenfalls nahe an mich heran und suchte Schutz unter meinem linken Arm. Ziemlich hilflos blieb ich sitzen, strich beruhigend über die Mähnen meiner seltsamen Schützlinge und hoffte, daß sie alsbald wieder zur Vernunft kommen würden. Die beiden Mädchen weinten lange und ausgiebig, und ich dachte schon, ich müßte die ganze Nacht auf dem Boden verbringen. Aber dann wurden sie endlich ruhiger, sie rollten sich auf ihre katzenhafte Weise links und rechts von mir zusammen, und nach wenigen Minuten merkte ich, daß sie schliefen. Vorsichtig stand ich auf und sah mich um. Die Tür zu jenem Raum, in dem auch die KORALLE stand, existierte wieder. Drinnen erblickte ich die beiden weichen, bequemen Bänke. »ANIMA?« fragte ich halblaut. »Was kann ich für dich tun?« Ich stutzte. ANIMAS Frage klang eine Spur zu höflich und zu förmlich.
»Bist du beleidigt?« erkundigte ich mich. »Warum sollte ich beleidigt sein?« »Gerade das wollte ich von dir wissen.« »Ich habe im Augenblick keine Zeit, mich mit dir zu unterhalten. Wie du weißt, müssen wir den Heimatplaneten der Bithra anfliegen. Ich habe zwar bereits herausgefunden, wohin ich mich wenden muß, aber ich darf dabei nicht die Richtung nach New Marion verlieren.« Ich war sicher, daß dies eine Ausrede war. ANIMA war sehr wohl imstande, ein Ziel anzuvisieren und sich gleichzeitig mit mir zu unterhalten. Aber offenbar war es im Augenblick besser, nicht mit ihr zu streiten. »Gut«, sagte ich daher. »Konzentriere dich ruhig auf den Flug. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich inzwischen gründlich umsehe? Ich werde das Gefühl nicht los, daß sich jemand hier eingeschlichen hat.« »Das müßte ich wohl am ehesten bemerkt haben!« »Vielleicht warst du abgelenkt. Oder der Eindringling hat irgendein Mittel gefunden, mit dem er sich vor dir verbergen kann.« Das klang absurd. ANIMA war dieses Schiff, und das Schiff war gewissermaßen ihr Körper. Jeder Fremdkörper mußte ihr sofort auffallen. Ich war darauf gefaßt, daß ANIMA mit irgendeiner spöttischen Bemerkung kontern würde, aber statt dessen sagte sie plötzlich: »Du hast recht. Es könnte einen Eindringling geben, und wenn der für mich bisher unsichtbar geblieben ist, dann könnte er sogar eine ernsthafte Gefahr darstellen. Ich werde dir bei der Suche helfen, wo immer es mir möglich ist.« Ich war ein bißchen verdutzt, denn dieser Umschwung kam mir allzu plötzlich. Aber ich war zu erleichtert, um näher darauf einzugehen. »Darf ich dich noch um einen letzten Gefallen bitten?« fragte ich, in dem Bestreben, dieses Gespräch hinter mich zu bringen.
»Nur zu!« »Sorge dafür, daß unsere Gäste es bequem haben. Sie sollen nicht zu früh wieder aufwachen, weil ihnen kalt wird. Bereite ihnen ein bequemes Lager.« »Das habe ich bereits getan.« Nachdenklich ging ich durch die Tür und sah nach. Tatsächlich, da, wo die beiden Mädchen lagen, war der Boden weich und nachgiebig geworden, und etwas, das wie eine weiche, warme Decke beschaffen war, hüllte die Bithra ein. Damit war zumindest dieses Problem gelöst. Ich begab mich auf die Suche nach dem Eindringling. 2. Was auch immer wir an Bord hatten, es verstand sich darauf, unsichtbar zu bleiben. ANIMA ließ mich überall herumstöbern, aber ich fand absolut nichts. Es gab nicht die leiseste Spur, die auf die Anwesenheit eines Fremden hätte hindeuten können. Trotzdem hatte ich das Gefühl, daß da jemand war, manchmal ganz nahe bei mir, mich umschleichend und beobachtend, unsichtbar und unhörbar, und dieser Jemand schaffte es, mir immer wieder Fallen zu stellen. Allmählich wurde mir die Sache unheimlich, und ich fragte mich, warum ANIMA diesen Fremden nicht längst auch bemerkt hatte. Der Bursche bediente sich nämlich des Schiffes, um mich hereinzulegen. Er schuf Stolperfallen und plötzliche Barrieren, und dazu mußte er an ANIMA herumpfuschen – ohne ihr Wissen? Das klang nicht sehr glaubhaft. »Kannst du mich hören?« fragte ich schließlich. »Selbstverständlich«, kam ANIMAS Antwort prompt. »Hier war eben noch eine Tür«, erklärte ich. »Jetzt ist sie verschwunden. Hast du eine Erklärung dafür?«
»Nein.« »Ist das die Wahrheit?« »Ich habe nicht die Absicht, dich jemals anzulügen.« »Unter keinen Umständen?« ANIMA zögerte einen Augenblick. »Unter gewissen Umständen ist eine Lüge nicht nur angebracht, sondern sogar erforderlich«, sagte sie schließlich. »Nun gut«, murmelte ich. »Verschaffe mit einen Durchgang – ich will hier nicht ewig bleiben.« Die Tür war wieder da, aber hinter ihr befanden sich plötzlich drei Stufen, die es vorher an dieser Stelle nicht gegeben hatte. Mittlerweile hatte ich es mir angewöhnt, auf solche Dinge zu achten. Stufen, Barrieren, Türen, die plötzlich verschwanden, Geräusche, die scheinbar aus dem Nichts kamen – das war die eine Sorte von Fallen. Die andere Art war wesentlich unangenehmer: Urplötzlich versetzte mir etwas einen Stoß. Ein Hindernis entstand scheinbar aus dem Nichts. Ein unsichtbarer Arm packte mich, würgte mich und ließ los, sobald ich ihn zu fassen versuchte. Ein plötzliches Gewicht lastete auf mir, preßte mich zu Boden und drohte mich zu erdrücken. »Willst du mir einreden, daß du noch immer nichts entdeckt hast?« fragte ich, als ich Stunden später die Suche vorerst aufgab. »Ich spüre, daß etwas Fremdes da ist«, räumte ANIMA ein. »Aber ich kann es weder sehen noch festhalten. Ich weiß nicht, was ich gegen dieses Fremde tun soll.« »Wir müssen es vertreiben.« »Gewiß – aber wie?« »Ich werde darüber nachdenken, während ich mich ausruhe. Mußt du dich immer noch auf den Kurs konzentrieren?« »Ja.« »Das ist schade. Ich hatte gehofft, daß du etwas Zeit für mich hättest. Ich wüßte gerne, woher du kommst und wer du bist.« ANIMA schwieg.
Ich hatte die KORALLE erreicht, sah aber vorher nach meinen beiden Gästen. Sie schliefen noch immer, und jetzt sahen sie sehr jung und hilflos aus. »Hast du jemals etwas vom Volk der Bithra gehört?« fragte ich, nachdem ich in die KORALLE gestiegen war und es mir bequem gemacht hatte. »Nein.« »Aber du bist doch weit herumgekommen, ehe man dich auf Lummensand gelähmt hat. Du solltest dich zumindest in diesem Sektor von Alkordoom auskennen.« Keine Antwort. Entweder hatte ANIMA tatsächlich Schwierigkeiten, die Heimatwelt meiner Gäste zu finden und dabei den Kurs nach New Marion nicht aus den Augen zu verlieren, oder sie hatte meine Absicht durchschaut. Wie dem auch sein mochte, mein Plan, sie doch noch zu ein paar Äußerungen zu verlocken, war vorerst gescheitert. Es hätte mich sehr interessiert, ob auch jetzt überall im Schiff die vorher beobachteten Veränderungen auftraten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß auch ANIMA etwas damit zu tun hatte. Sie ist eifersüchtig! erklärte der Logiksektor plötzlich. »O nein«, dachte ich. »Diesmal mußt du dich irren.« Warum? »Weil sie keinen Grund dazu hat.« Bist du sicher? Ich dachte darüber nach und stellte fest, daß ich es nicht war. An Bord war alles normal gewesen, solange ich mit ANIMA alleine war. Erst mit der Ankunft der Bithra hatten die Schwierigkeiten begonnen, und einige der Vorkommnisse konnte man sehr gut als direkte Antwort auf das Verhalten der Mädchen einstufen. Aber wie konnte ein Wesen wie ANIMA auf so abwegige Reaktionen verfallen? Sie ist in dich verliebt. Das war zuviel des Guten.
Aber es ist so, behauptete der Extrasinn. Du wirst mit ihr darüber reden müssen. »Na schön«, dachte ich, um dieses Thema erst einmal zu beenden. »Aber nicht jetzt. Zuerst müssen die Bithra von Bord sein.« Der Logiksektor schwieg, und ich lehnte mich beruhigt zurück. Plötzlich aber kam mir ein Gedanke, der mich wieder in die Höhe trieb. »Sie wird doch nicht soweit gehen und den beiden etwas antun?« fragte ich erschrocken. Das ist nicht anzunehmen – solange du ihr keinen Grund dafür gibst. »Ich habe nicht die Absicht, das zu tun.« Dann ist es ja gut. Aber genau das war es nicht. Die beiden Bithra interessierten mich nicht – jedenfalls nicht in der Weise, daß ANIMA daran Anstoß nehmen konnte. Aber was würde geschehen, wenn das Schiff von Sarah erfuhr? Wenn es dahinterkam, daß ich für die Celesterin Gefühle hegte, die durchaus Anlaß zur Eifersucht bieten konnten? Mir wurde klar, daß ich in der Tat mit ANIMA reden mußte. Aber wie spricht man mit einem Raumschiff über Liebe! * Wir erreichten die Heimatwelt unserer Gäste sehr schnell. Ich habe nie erfahren, ob wir wirklich nur einen Katzensprung von diesem Planeten entfernt gewesen waren, oder ob ANIMA etwa deshalb so schweigsam war, weil sie sich so sehr beeilte. Ich halte jedoch letzteres für wahrscheinlicher. Immerhin waren die Mädchen aber doch einen ganzen Tag hindurch bei uns, und in dieser ganzen Zeit gab es immer wieder Vorfälle, die ich allmählich alles andere als lustig fand. ANIMA weigerte sich auch weiterhin, mit mir über diese Dinge zu sprechen, und die Vorstellung, daß sie den Mädchen aus purer Eifersucht das Leben schwermachte, war nicht besonders
erfreulich. Ich glaube, die Bithra waren am Ende heilfroh, daß sie das Schiff verlassen konnten. Besonders Molina, die oft bei mir Schutz suchte und dabei nicht zimperlich war, bekam ANIMAS Zorn sehr häufig zu spüren. Aus verständlichen Gründen hatten wir kein Interesse daran, unsere Rettungstat beim Volk unserer Gäste publik zu machen. Darum warteten wir, bis in jener Gegend, in der Molina und Traumata zu landen wünschten, die Nacht hereingebrochen war. Vom Planeten der Bithra sah ich auf diese Weise nicht viel. Es schien eine Welt zu sein, die reich an Wäldern und Wasser war. Größere Städte schien es nicht zu geben. Die Ansiedlungen der Bithra bestanden hauptsächlich aus weitläufigen Parkanlagen, in denen es von bizarren kleinen Palästen und Lauben, Wasserspielen und ähnlichen Dingen wimmelte. Auf einem der Kontinente hatten Fremde einen großen Raumhafen eingerichtet, aber die Bithra mit ihrem Spieltrieb und ihrer Sorglosigkeit waren schlechte Handelspartner, und so waren die meisten der Fremden wieder abgezogen. Nur eine Delegation hatte sich nicht nur halten, sondern auch einen gewissen Einfluß gewinnen können. Der Beschreibung meiner Gäste nach zu schließen, handelte es sich dabei um bepelzte, freundliche Wesen, die den Bithra nicht nur die kleinen Robotschiffe sondern auch allerlei anderes technisches Spielzeug verkauften. Die Bithra hatten eine Leidenschaft für schnelle Fahrzeuge, und der Raumhafen war ihre beliebteste Rennstrecke. Wir landeten abseits davon in einem finsteren Park. Aus der Ferne hörten wir übermütiges Geschrei und das Brausen der kleinen Flitzer, die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit zwischen allerlei Hindernissen hindurchschlängelten. Unsere beiden Gäste waren sehr traurig, weil wir keine Lust hatten, an der beabsichtigten Feier anläßlich ihrer Rettung teilzunehmen. Sie bettelten uns förmlich an, doch zu bleiben, aber wir konnten uns das nicht erlauben. Daher bereiteten sie uns einen tränenreichen Abschied und ließen sich auch dadurch nicht beirren,
daß irgend etwas ihr Gepäck und schließlich auch sie selbst ziemlich unsanft nach draußen beförderte. Sobald sie das Schiff verlassen hatten, machte ANIMA die Luken dicht und raste in den dunklen Nachthimmel hinauf. »Du hättest sie ruhig etwas freundlicher behandeln können«, sagte ich ärgerlich. »Wie meinst du das?« »Nun – es wäre nicht nötig gewesen, sie hinauszuwerfen.« »Das war ich nicht«, behauptete ANIMA. »Wer dann?« »Das weiß ich nicht.« So langsam verlor ich die Geduld. »Paß mal auf«, sagte ich. »Es gibt für alles eine Grenze. Du hast behauptet, daß du mich nicht anlügen wirst, aber schon das war eine Lüge. Du warst eifersüchtig auf die beiden, du wolltest sie loswerden, so schnell wie möglich. Wie stellst du dir das eigentlich vor? Was geschieht, wenn ich jemanden an Bord holen muß, der für unsere Mission von Wichtigkeit ist? Willst du jeden hinausekeln, um mit mir alleine zu sein?« ANIMA schwieg geraume Zeit, und ich war bereits darauf gefaßt, daß sie erneut die Ausrede von der Konzentration gebrauchte, die sie auf unseren Kurs verwenden mußte. Aber schließlich sagte sie: »Du hast recht, Atlan. Ich mag die beiden nicht, und ich halte sie für gefährlich. Ich würde sie kein zweites Mal aufnehmen.« »Und warum nicht?« »Weil sie dich von deiner Aufgabe ablenken könnten. Alkordoom ist eine gefährliche Gegend, und gerade ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell man hier in eine tödliche Gefahr geraten kann. Du mußt in jeder einzelnen Sekunde wachsam sein, oder du wirst scheitern, genau wie ich gescheitert bin.« »Ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, aber ich kann alleine auf mich aufpassen. Außerdem …« Etwas versetzte mir einen Schlag, und ich taumelte gegen die
nächste Wand. Der Schlag war so kräftig, daß er mir die Luft aus den Lungen und die Tränen in die Augen trieb. Hätte ich normale Rippen gehabt wie ein Terraner, dann wären unweigerlich einige davon gebrochen gewesen. Ich brauchte ein paar Sekunden, um diesen heimtückischen Anschlag zu verdauen. »Das reicht«, sagte ich schließlich. »Was ist passiert?« fragte ANIMA. »Tu nicht so scheinheilig!« schimpfte ich. »Etwas hat mich umbringen wollen. Warst du das?« »Natürlich nicht.« Diesmal klang ANIMAS Stimme besorgt und ratlos. »Sollte wirklich etwas Fremdes an Bord sein?« »Was denn – hast du bis jetzt nicht daran geglaubt?« »Ich weiß nicht recht«, erwiderte sie unsicher. »Ich … gebe zu, daß ich den Abschied der Bithra etwas beschleunigt habe. Ich war allerdings selbst davon überrascht, wie kräftig die Wirkung dieser Maßnahme ausgefallen ist. Ich habe es mir damit erklärt, daß ich ziemlich aufgeregt war. Da kann man sich schon mal verschätzen.« »Ach nein. Und die Stolperfallen, die verschwundenen Türen und der übrige Hokuspokus?« »Das war mein Werk«, gab ANIMA zu, und jetzt war sie ziemlich kleinlaut. »Du selbst hast mich auf die Suche nach dem Fremden geschickt.« »Ja, um dich abzulenken.« Ich atmete tief durch. Das alles gefiel mir nicht im mindesten, aber wenigstens einen Fortschritt hatte ich erzielt: ANIMA schien endlich bereit zu sein, vernünftig mit mir zu sprechen. »Nun gut«, sagte ich. »Vergessen wir das alles erst einmal und konzentrieren wir uns auf den Fremden. Nachdem du nun endlich bereit bist, ernsthaft nach ihm zu suchen, sollten wir ihn schnell gefunden haben.« »Da bin ich mir nicht so sicher. Ich kann ihn nicht spüren.« Sie lügt! Das war mir auch bereits klar. Aber was steckte dahinter?
Angst, behauptete der Logiksektor. Sie fürchtet sich vor dem Moment, in dem sie zugeben muß, daß sie den Fremden stellen kann. Und warum fürchtet sie sich? Das wirst du herausfinden müssen. Ich ging zur KORALLE und nahm einige Schaltungen vor. »Was tust du da?« wollte ANIMA wissen. »Ich stelle dem Fremden eine Falle«, erklärte ich. »Da du nicht imstande bist, ihn zu fangen, werde ich das erledigen müssen. Tu mir den Gefallen und schließe alle Durchgänge. Verkleinere diesen Raum. Ich muß sicher sein, daß der Fremde sich nirgends hier drin verborgen halten kann.« ANIMA gehorchte, und die Wände rückten so nahe an mich heran, daß sich nicht einmal mehr eine Maus zwischen ihnen und der Außenhülle des Gleiters hätte verbergen können. Ich überzeugte mich davon, daß der Fremde nicht etwa schon im Innern des Fahrzeugs steckte. Dann packte ich meine Vorräte und verschiedene andere wichtige Dinge zusammen und wandte mich erneut an ANIMA. »Paß auf«, sagte ich. »Ich möchte, daß der Fremde den Eindruck gewinnt, er könne sofort mit dem Gleiter in den Raum raus fliehen.« »Er wird nicht so dumm sein, das zu versuchen.« »Vielleicht doch. Laß das im übrigen meine Sorge sein. Tu einfach das, was ich dir sage. Also: Ich möchte, daß du diese Wand dort transparent machst. Der Fremde soll die Sterne sehen können. Natürlich muß er freien Zugang zu dem Gleiter haben, du wirst also einen Durchgang öffnen. Für mich wirst du einen Nebenraum bilden, in dem ich das Fahrzeug beobachten und auf den Fremden warten kann. Er darf mich natürlich nicht sehen, die nach hier weisende Wand muß daher nur von einer Seite durchsichtig sein. Glaubst du, daß du das schaffst?« »Ich habe schon ganz andere Dinge fertiggebracht«, behauptete ANIMA beleidigt. »Steig schon aus, ich werde in einer Stunde fertig sein.«
Und das war sie auch. Der Nebenraum, den sie für mich schuf, war sogar recht behaglich eingerichtet. Ich machte es mir darin bequem, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß mein geisterhafter Gegner sich nicht bereits darin eingenistet hatte. Ich machte es mir bequem und richtete mich auf eine lange Wartezeit ein. Ich rechnete dabei keineswegs damit, daß der Fremde tatsächlich versuchen würde, sich des Gleiters zu bemächtigen – der nutzte ihm nicht viel, und außerdem wäre es außerordentlich dumm gewesen, ein so simples Fahrzeug zu stehlen, wenn man sich in dem phantastischsten Raumschiff befand, das weit und breit zu finden war. Der Fremde wollte nicht den Gleiter, sondern ANIMA. Er hatte sich bereits erhebliche Mühe gegeben, mich zu vergraulen. Inzwischen war er wahrscheinlich soweit, daß er auch vor einem Mord nicht zurückgeschreckt wäre. Das war der eine Grund, weshalb ich es vorzog, die nächste Zeit in einem allseits geschlossenen Versteck zu verbringen. Der zweite: Ich brauchte Zeit und Ruhe, um mit ANIMA sprechen zu können. Was auch immer im Schiff herumspuken mochte: Es war gefährlich, und ich würde ANIMAS Hilfe brauchen, um es loszuwerden. Nicht nur aus diesem Grunde war es wichtig, daß ich endlich erfuhr, wer und was ANIMA eigentlich war, woher sie kam und was sie erlebt hatte. Wenn ich ihre Geschichte kannte, würde ich wissen, wie ich sie anzufassen hatte und wie sie auf bestimmte Ereignisse und Situationen reagieren würde. »Ich habe wieder Kurs auf New Marion genommen«, erklärte sie, kaum daß ich mich in meinem Versteck eingerichtet hatte. »Es wird noch etliche Tage dauern, bis wir den Planeten erreichen.« »Das macht nichts. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich jetzt erstmal eine Weile schlafen.« »Und der Gleiter? Ich dachte, du wolltest ihn beobachten und den Fremden stellen, sobald er kommt.« »Das hat Zeit«, murmelte ich mit gespieltem Desinteresse und
gähnte demonstrativ. »Wenn er zu starten versucht, sitzt er ohnehin in der Falle. Außerdem glaube ich nicht, daß er es schon in den nächsten paar Stunden versucht. Laß mich jetzt schlafen!« »Aber …« Ich brummelte etwas vor mich hin, gähnte abermals und drehte mich auf die Seite. Die ganze Zeit hindurch hatte ich versucht, sie zum Reden zu bringen, und sie hatte mich abblitzen lassen. Jetzt drehte ich den Spieß zur Abwechslung einmal um. Vielleicht erhöhte das ihre Bereitschaft, die Geheimnisse ihrer Vergangenheit zu lüften. * Anfangs tat ich nur so, als ob ich schlief. »Bist du wach?« fragte ANIMA einige Male wispernd, und ich registrierte zufrieden, daß meine Kur zu wirken begann. Ich hatte nämlich den Verdacht, daß ANIMA im Grunde genommen durchaus nicht abgeneigt war, ihre Geschichte zu erzählen. Sie hatte lange genug schweigen müssen, und es mußte eine wahre Erlösung für sie sein, endlich mit jemandem reden zu können. Aber sie hatte sich auch zu sehr an ständiges Mißtrauen gewöhnt. Ich war entschlossen, alle sich daraus ergebenden Probleme zu lösen, bevor wir New Marion erreichten. Trotz ANIMAS wiederholtem Gewisper schlief ich nach einiger Zeit wirklich ein, was schließlich auch nicht verwunderlich war. Selbst ein Aktivatorträger braucht ab und zu Ruhe, und davon war mir in der jüngsten Vergangenheit wahrhaftig nicht allzuviel vergönnt gewesen. Ein scharfes Flüstern schreckte mich Stunden später auf. »Er kommt!« Ich fuhr in die Höhe und starrte hinaus. Der Gleiter war unversehrt, und ich konnte nichts Ungewöhnliches in seiner Nähe
entdecken. »Bist du sicher?« fragte ich. »Ich habe eine Erschütterung bemerkt«, erklärte ANIMA. »Etwas hat versucht, eine der Wände zu durchdringen.« »Merkwürdig. Warum sollte unser Fremder durch eine Wand gehen wollen, wenn er es doch viel bequemer haben kann!« »Vielleicht sind Wände für ihn nicht dasselbe wie für dich«, vermutete ANIMA. »Oder er denkt, daß der Durchgang eine Falle ist.« »Letzteres klingt wahrscheinlicher. Wo steckt er jetzt?« »Das weiß ich nicht. Ich konnte ihn nur für einen Augenblick spüren. Jetzt habe ich seine Spur wieder verloren.« Ich nahm eher an, daß sie überhaupt nichts gemerkt hatte. Wenn mein Verdacht zutraf, dann würde der Fremde sich erst mit dem Gleiter befassen, wenn er alle anderen Möglichkeiten durchprobiert hatte. Und auch dann würde er nicht versuchen, das Fahrzeug zu stehlen, sondern mich aus meinem Versteck zu locken. Wenn ANIMA behauptete, ihn schon jetzt in der Nähe der KORALLE bemerkt zu haben, dann war das wahrscheinlich nur eine Ausrede. Sie hatte einen Grund gesucht, mich zu wecken, und das war ihr gelungen. Ich war niederträchtig genug, ihr trotzdem einen Strich durch die Rechnung zu machen: Ich beobachtete hartnäckig den Gleiter und die Tür und stellte keine einzige Frage. »Ich glaube, er hat sich wieder zurückgezogen«, bemerkte ANIMA nach einiger Zeit. »Das scheint mir auch so«, nickte ich und legte mich wieder hin. »Willst du wirklich noch länger schlafen?« fragte sie enttäuscht. »So müde kannst du gar nicht sein!« »Hast du eine Ahnung«, murmelte ich. »Solange die Bithra bei uns waren, habe ich dank deiner Eifersucht kein Auge zubekommen, und die Zeit auf Thorrat war auch nicht besonders erholsam. Wecke mich bitte, wenn der Fremde sich wieder bemerkbar macht.« Der Hinweis auf die Bithra hatte gesessen. ANIMA schwieg auf
der Stelle. Ich nutzte die Gelegenheit, auf Vorrat zu schlafen – sie würde mich ohnehin bald genug wieder wecken. Diesmal dauerte es noch nicht einmal zwei Stunden. »Atlan!« sagte sie. Ich schlug die Augen auf und wartete. »Ich habe einen ganzen Schwarm von kleinen Raumschiffen auf unserem Kurs entdeckt«, erklärte sie. »Was soll ich tun?« »Weiche ihnen aus«, schlug ich vor. »Aber dann wird es noch länger dauern, bis wir am Ziel sind!« »Das macht nichts.« »Die Schiffe sehen aus wie die der Crynn‐Brigaden. Kann es sein, daß die Jäger wissen, wohin wir fliegen?« »Das ist nicht anzunehmen.« »Du bist nicht sehr gesprächig. Bist du etwa immer noch müde?« »Nein, aber hungrig. Laß mich zuerst in Ruhe frühstücken.« »Was wirst du tun, wenn du gegessen hast? Wäre es nicht besser, du würdest noch einmal nach dem Fremden suchen?« »Und mich dabei von ihm umbringen lassen? Nein, ich ziehe es vor, zu warten. Er wird ganz von alleine zu mir kommen.« Ein paar Minuten lang blieb es still. Ich holte mir ein Päckchen Kekse aus meinen Vorräten. Das Zeug stammte aus der KORALLE und schmeckte seltsam, aber es machte satt und schien auch einen beachtlichen Nährwert zu haben. »Ich mache mir Sorgen um dich«, bemerkte ANIMA, als ich mich nach dieser nicht besonders aufmunternden Mahlzeit erneut ausstreckte. »Findest du nicht, daß du etwas tun solltest? Du kannst doch nicht die ganze Zeit hindurch nur herumliegen!« »Was bleibt mir anderes übrig?« »Du könntest dich beschäftigen, irgend etwas tun …« »Und was, bitte sehr?« Jetzt gab ich mich gereizt. »Soll ich etwa Freiübungen machen? Dazu reicht der Platz nicht aus.« »Ich könnte diesen Raum vergrößern.« »Und dabei den Fremden hereinlassen. Ich habe den Verdacht,
daß er die von dir gebildeten Wände sehr wohl durchdringen kann – jedenfalls dann, wenn du sie veränderst.« »Dann laß uns wenigstens miteinander reden.« »Das tun wir doch gerade.« »Aber ich meinte es anders. Als die Bithra bei uns waren, hast du mir viele Fragen gestellt …« »Die du nicht beantworten willst«, fiel ich ihr ins Wort. »Es ist schon gut, ANIMA. Ich respektiere deine Gefühle. Behalte deine Geschichte ruhig für dich. Ich verspreche dir, daß ich dich nie wieder mit diesen Fragen belästige.« Das mußte sie erst einmal verdauen. »Es ist nicht so, wie du denkst«, begann sie schließlich von neuem. »Ich wollte nur nicht, daß die Bithra das alles hörten. Dir werde ich gerne antworten.« »Es ist auch jetzt jemand an Bord, dem du nicht vertrauen darfst«, erinnerte ich sie. »Oh, ich glaube nicht, daß der Fremde uns belauschen kann. Nur du kannst mich hören.« »Und du meinst nicht, daß du mich ablenken könntest? Sollte ich nicht meine ganze Aufmerksamkeit darauf verwenden, den Gleiter dort draußen zu beobachten?« »Es ist nicht fair von dir, mich jetzt zu verspotten!« »Ich spotte nicht«, behauptete ich gelassen. »Solange du mir nicht einmal mit Sicherheit sagen kannst, ob der Fremde nicht etwa schon direkt neben mir steht, muß ich mich eben in acht nehmen.« ANIMA zögerte. »Eben hatte ich den Eindruck, daß ich den Fremden spüren konnte«, erklärte sie vorsichtig. »Warte einen Augenblick.« Ich hatte also recht gehabt. Sie konnte den Eindringling lokalisieren, wenn sie nur wollte. »Ich glaube, er schläft jetzt«, meldete sie sich wieder. »Ich spüre ihn in einer der Kammern, weit von dir entfernt. Er bewegt sich nicht. Wenn er diesen Ort verläßt, werde ich es sicher merken. Mir
bleibt dann genug Zeit, um dich zu warnen.« Ich tat, als müßte ich überlegen. »Also gut«, sagte ich schließlich. »Wenn das so ist, haben wir Zeit, um miteinander zu reden.« »Ich werde dir von meiner Vergangenheit berichten!« verkündete ANI‐MA mit spürbarer Erleichterung. Ich hatte es geschafft. ANIMAS Geschichte begann vor sehr, sehr langer Zeit. Damals war ANIMA noch kein Schiff und auch kein Kristall oder dergleichen, sondern ein Mädchen, das nicht ahnen konnte, was die Zukunft ihm bringen sollte … 3. Ich war die jüngste Tochter des Salzhändlers Ninnok, dessen Karawanen nicht nur durch das fruchtbare Tiefland, sondern auch die rauhen Hochebenen durchquerten und von dort außer wertvollen Metallen und glitzernden Steinen mitunter seltsame, behaarte Halbvardis mitbrachten. Diese Halbvardis galten als gefährliche Burschen. Von einem hieß es, daß er vor etlichen Jahren seine Ketten gesprengt und nicht weniger als ein Dutzend Stadtvardis buchstäblich in der Luft zerrissen hatte. Die Fürsten im Tiefland zahlten hohe Preise für die Wilden, und diesem Umstand verdankte Ninnok den größten Teil seines Reichtums. Manche Leute behaupteten, daß Ninnok reicher und mächtiger sei als der wirkliche Fürst von Misan. Ninnok schwieg wohlweislich auf alle diesbezüglichen Fragen und ließ dem Fürsten bei jeder passenden Gelegenheit großzügige Geschenke zukommen. Misan lag am äußersten Rand des Tieflands, und Teile der Stadt sowie der Palast lehnten sich an die steile, zerklüftete Felswand und klommen sogar ein Stück daran empor. Auch Ninnoks Haus ruhte auf felsigem Grund. Es war ein prächtiges Gebäude aus weißen
Steinblöcken, mit breiten Baikonen, blumengeschmückten Terrassen und hohen, gewölbten Fenstern, umgeben von Nebengebäuden und Stallungen, Lagerhallen und Scheunen. Die unterste Felsenterrasse auf Ninnoks Besitz war einem Gemüsegarten vorbehalten. Manchmal, wenn auf der Hochebene die heißen Sommerstürme tobten, gab der alte Chatio Alarm, und alles stürzte hinaus und half mit, die schweren Pirakis über die Beete zu ziehen und mit Wasser zu begießen, denn Ninnok hatte sein Haus unmittelbar an der Schlucht errichtet. Oft halfen selbst die aus Rinde gefertigten Schutzmatten nicht: Die heißen Böen trockneten sie aus und verwandelten das darunter stehende Grünzeug in Dörrgemüse. Aber wenn der Sturm nicht zu stark wurde und dem alten Chatio genug Wasser zur Verfügung stand, dann holte er drei bis vier Ernten von dieser Terrasse, und darum konnte sich niemand dazu durchringen, den Gemüsegarten an einen anderen Ort zu verlegen. Das konnte mir nur recht sein, denn von dieser Terrasse aus gab es einen Weg, der in die Schlucht hinabführte. Das heißt – es war kein wirklicher Weg, sondern ein kleines Bachbett, das aber nur noch selten Wasser führte. Es hatte Stufen in das Gestein gewaschen, an denen man einigermaßen bequem hinabturnen konnte, was ich denn auch bei jeder passenden Gelegenheit tat. Dieser Weg führte zu einem Platz, den ich über alles liebte, und zwar um so mehr, als es mir verboten war, mich dort aufzuhalten. Die Schlucht von Misan war nichts anderes als ein besonders tiefer Einschnitt im ohnehin zerklüfteten Rand der Hochebene. Wenn man längs des Flusses immer weiter in die Schlucht hineinging, so gelangte man an ein riesiges Felsentor, aus dem unser Fluß hervorgeflossen kam. Bei Niedrigwasser konnte man noch ein ganzes Stück in die Höhle eindringen, aber das war ein gefährliches Abenteuer, an dem mir nichts lag. Ich zog es vor, unterhalb der Stromschnellen zu bleiben, wo die Schlucht schon etwas breiter war und die Uferbänke einigen mächtigen Bäumen Platz boten. Ihre Zweige bildeten ein Dach, so dicht wie der Baldachin von Corloque,
dem Eroberer, von dem die alte Höhlenfrau zu erzählen pflegte. Sie war mit ein Grund dafür, daß der Platz unter den Bäumen mich allen Verboten zum Trotz magisch anzog. Die Höhlenfrau hauste oberhalb der Stromschnellen in einer kleinen Felsenpforte. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf selbstgesammelter Kräuter und Blumen, und da man sie außerdem verdächtigte, mit allerlei Geistern und ähnlichen Mächten im Bunde zu stehen, hielt man sie für hervorragend dazu geeignet, wundertätige Amulette herzustellen. Sie entledigte sich dieser Pflicht mit viel Phantasie und Geschick. Ihre Amulette flocht sie aus dünnen Wurzeln und den Stielen duftender Pflanzen und schmückte sie mit bunten Federn, blitzenden Steinchen, goldglänzenden Muphra‐Zähnen und allerlei anderem Krimskrams – sie waren wunderbare Schmuckstücke, so daß man über ihre Wirksamkeit meist nicht näher nachdachte. Selbstverständlich hatte sie nicht das geringste mit Geistern und Dämonen zu tun. Sie war einfach eine etwas wunderliche alte Frau, redselig, nicht besonders intelligent und mit einem seltsamen Leiden geschlagen: Ihre Augen waren nicht dunkel, wie die aller anderen Vardis, sondern so glänzend weiß und rosa gemustert, wie das Innere der winzigen Muscheln im Fluß, und die schwarzen Pupillen sahen wie kleine Löcher aus. Sie konnte außerordentlich schlecht sehen, was ihr aber nicht viel auszumachen schien. Einmal am Tag kam sie zum Fluß hinunter, um Wasser zu holen, und ich setzte alles daran, so oft wie möglich zu diesem Zeitpunkt an den Stromschnellen zu sein. Gleich nach ihrer Ankunft pflegte sie ihre Sandalen auszuziehen und ihre schmerzenden Füße ins Wasser zu hängen. Dann band sie ihren Krug an einen Faden und ließ ihn auf den Grund hinab. Aus einem mir unbekannten Grunde lebten im Schatten der alten Bäume unzählige winzige Krebse, von denen einige stets keinen sehnlicheren Grund zu kennen schienen, als schleunigst in diesen Krug hineinzukriechen. Die alte Frau zog den Behälter nach
geraumer Zeit herauf, aß genüßlich einen Krebs nach dem anderen, reinigte den Krug, schöpfte Wasser und ging wieder von dannen. Und während dieser ganzen Zeit sprach sie unaufhörlich. Bei all ihren Gesprächen hatte sie nur einziges Thema: Corloque, den man den Eroberer nannte und der vor so langer Zeit gelebt hatte, daß niemand mehr wußte, was von dem, was man über ihn berichtete, Märchen oder Wahrheit war. Für die Höhlenfrau von Misan war Corloque der letzte Held, den es vor Anbrach eines neuen, unangenehmen Zeitalters gegeben hatte. Ich wußte damals nichts über die Begleitumstände, und sie kümmerten mich auch nicht. Ich war noch ein Kind, ein ziemlich romantisch veranlagtes dazu, und es genügte mir, der alten Frau zuzuhören und mir in den heißen Sturmnächten eigene Geschichten zusammenzuträumen. Die Geschichten, die die Höhlenfrau erzählte, hatten nur einen Haken: Ich bekam sie nie im ganzen zu hören. Die alte Frau begann zu erzählen, sobald sie die Füße ins kalte Wasser gesteckt hatte, und sie hörte auf, wenn es Zeit war, in ihre Höhle zurückzukehren. Sie nahm nicht die geringste Rücksicht darauf, an welcher Stelle sie mit ihrer Geschichte inzwischen angelangt war. Die Höhlenfrau erzählte ihre Geschichten nicht etwa mir oder irgendeiner anderen Person, und darum war es auch völlig aussichtslos, sie zum Bleiben zu zwingen oder ihr folgen zu wollen. Ich versuchte das nur ein einziges Mal: Kaum hatte ich hinter ihr den steilen Pfad betreten, da löste sich ein Stein unter ihren Füßen, und ich mußte so hastig ausweichen, daß ich fast in den Fluß gefallen wäre. Das war natürlich nur ein Zufall, aber ich glaubte damals fest daran, daß der Pfad irgendwie verhext sei. Glücklicherweise war Ninnok nicht darauf erpicht, daß all seine Kinder sich mit dem Salzhandel befaßten. Er drang jedoch darauf, daß jeder von uns sich für irgend etwas in besonderem Maß interessieren müsse. Zu diesem Zweck beobachtete er uns, sobald wir das richtige Alter erreicht hatten, und wenn er glaubte, eine
spezielle Fähigkeit an uns festgestellt zu haben, dann hatte das betreffende Kind sich in Zukunft auf dieses Gebiet zu konzentrieren. Leider war er der Ansicht, daß jeder von uns ein Experte werden müsse, und da er Konkurrenz im Familienkreis nicht ausstehen konnte, mußte jeder von uns sein eigenes Gebiet bekommen. Ich als die Jüngste war dabei schlecht dran, denn alle reizvolleren Beschäftigungen waren bereits vergeben. Da ich mich ständig im Gemüsegarten herumtrieb, um mich hinter dem Rücken des alten Chatio zu den Stromschnellen zu verkrümeln, fand ich mich plötzlich in der Rolle einer angehenden Gemüsezüchterin wieder. Dies sollte entsetzliche Folgen haben. Chatio war das Gegenteil von einem gütigen alten Mann. Er war ein Sklaventreiber, der seine Untergebenen erbarmungslos herumhetzte und uns alle miteinander von morgens bis abends beschimpfte. Ich wußte, daß es keinen Sinn hatte, wenn ich mich bei Ninnok beschwerte – er war der Ansicht, daß wir lernen mußten, uns aus eigener Kraft durchzusetzen. Aber ich war ein kleines Mädchen, und gegen Chatios flinke Peitsche war ohnehin kein Kraut gewachsen. Der Alte vermied es wohlweislich, mir sichtbare Striemen zu verpassen, und so war es kein Wunder, daß ich nach einer List auszuschauen begann. Eines Abends schlich ich mich nach getaner Arbeit müde und zerschlagen zu den Stromschnellen hinab, ließ die Beine ins Wasser baumeln und dachte trübsinnig über meine Zukunft nach. Plötzlich – ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen – kam die alte Höhlenfrau angehumpelt, in beträchtlicher Eile, ohne ihren Wasserkrug, dafür aber mit einem Messer, einer Schale und einem kleinen Kräuterbündel bewaffnet. Zum erstenmal beachtete sie mich. »Hilf mir, Kind«, sagte sie zu mir. »Hole mir einen runden Stein, mit dem ich diese Kräuter zerstampfen kann, und drei Blätter aus der Krone des Baumes, der dort am Wasser steht.« Alles, was die Höhlenfrau sagte und tat, interessierte mich
brennend, und so kletterte ich auf den Baum und pflückte die Blätter, besorgte auch den Stein und half sogar, das ganze Zeug in der Schale zu Brei zu zerstampfen. Die Höhlenfrau tat Wasser aus dem Fluß dazu und nahm dann das Messer. Mir wäre beinahe schlecht geworden, als sie die Haut um ein paar Stichwunden herum aufritzte, aber was sie dabei erzählte, faszinierte mich. Es schien, als gäbe es irgendwo in der Schlucht eine Pflanze mit so giftigen Stacheln, daß man wochenlang nahezu bewegungsunfähig war, wenn einem nicht sofortige Hilfe zuteil wurde. Die hilfreichen Kräuter aber fand man eben nur in der Schlucht. Dieses Ereignis brachte mich auf eine Idee. Ich würde Chatio für einige Zeit matt setzen. Natürlich durfte niemand Verdacht schöpfen, daß ich etwas damit zu tun hatte, sondern es mußte wie ein Unfall aussehen. In den nächsten zwei Wochen bekam ich Chatios Peitsche öfters als sonst zu spüren, obwohl ich nur selten in die Schlucht hinunterkletterte. Statt dessen trieb ich mich häufig oben am Steilhang herum, noch über dem Palast des Fürsten von Misan, und eines Tages fand ich, wonach ich gesucht hatte: Einen grünlich schimmernden Kokon von der Größe einer Kinderfaust. Darin befand sich ein Quolrot – ein handspannenlanges Insekt aus der Hochebene, das in der Trockenstarre auf den Moment wartete, in dem es zu neuem Leben erwachen durfte, um seine Eier abzulegen. Quolrot‐Kokons wurden nur sehr selten in die tieferen Landstriche hinabgetragen, weil sie normalerweise durch ein zähes Gespinst an Felsen und größeren Steinen verankert waren. Außerdem wurden die Quolrots zwar durch Feuchtigkeit aus ihrer Starre geweckt, aber ein Übermaß an Wasser vertrugen sie nicht, und darum konnten sie uns kaum gefährlich werden. Unangenehm wurde es nur dann, wenn sie schon zu Beginn eines Sturmes auf ein Beet geweht und dort infolge der Eile, die wir alle an den Tag legen mußten, übersehen wurden. In so einem Fall fand der Quolrot ein für ihn geradezu ideales Klima vor, was ihn dazu veranlaßte, schleunigst
ein Nest anzulegen und seine Eier darin zu deponieren. War diese Arbeit erledigt, dann setzte sich das Tier in Position und war für den Rest seines kurzen Lebens bereit, seine Brut gegen jeden noch so großen Feind zu verteidigen. Die denkbar einfache Gegenmaßnahme unsererseits bestand darin, daß wir die Beete nach einem Sturm sofort gründlich wässerten. Aber Chatio hatte da ein kleines, abseits gelegenes Beet für seinen eigenen Bedarf, an das er niemanden heranließ. Die Pflanzen, die er darauf kultivierte, vertrugen mehr Hitze und weniger Feuchtigkeit als die, die im übrigen Garten wuchsen. Dieses Beet wurde nach einem Hitzesturm nie gewässert und meistens nur mit einem Netz abgedeckt, das das Eindringen von allerlei Getier verhindern sollte. Bei passender Gelegenheit pflegte Chatio ein paar von den braungrauen Blättern zu kauen und sich damit in süße Träume zu versetzen, aus denen er dann prompt übellauniger als je zuvor erwachte. Es war nicht einzusehen, warum das Netz nicht einmal ein Loch bekommen sollte, und nach einem Sturm war Chatios Bedürfnis nach der Droge besonders groß. Es war ein dummer Streich, den ich dem Alten da zu spielen gedachte, und ein gefährlicher dazu. Zwar wirkte der Biß eines Quolrots nicht tödlich, aber die Folgen waren sehr schmerzhaft, und es dauerte sehr lange, bis man es überstanden hatte. Zu allem Überfluß hatte ich nicht gewußt, daß auch Ninnok bisweilen bei den graubraunen Blättern Trost suchte. Als wir nach dem Sturm in den Garten eilten, um die Abdeckungen zu entfernen und die Beete zu entwässern, sah ich zu meinem Entsetzen meinen Vater auf die kleine, abgelegene Stelle zugehen. Als ich ihm nacheilen wollte, hatte Chatio mich plötzlich am Wickel. »Wohin so eilig?« fragte er höhnisch, schloß seine harten Finger um meinen Nacken und schüttelte mich, drehte mich dann herum und starrte mir ins Gesicht. »In dieser Richtung hast du nichts zu suchen. Ich werde dich lehren, das zu tun, was man dir aufgetragen
hat!« Niemand wagte es, mir zu Hilfe zu kommen, und Ninnok war zu weit entfernt, um den Zwischenfall zu bemerken. Chatios Rechnung lief natürlich darauf hinaus, daß mein Vater schon in Kürze kein Interesse mehr daran haben würde, was seiner jüngsten Tochter in diesem Trubel nach dem Sturm zugestoßen war – er ahnte nicht, wie recht er damit behalten konnte, falls mein Vater an den Quolrot geriet. Später würde Chatio alles abstreiten, falls ich mich überhaupt zu beschweren wagte, und es würde selbstverständlich auch keine Zeugen geben – jedenfalls keine, die für mich aussagen wollten. Ich sah den Peitschenstiel und dachte an den Quolrot, und Angst und Wut übermannten mich. Es gelang mir, mich der harten Hand zu entwinden und für einen Augenblick wurde es rot vor meinen Augen. Dann rannte ich davon, so schnell ich konnte. Zu meiner Überraschung folgte Chatio mir nicht, und ich spürte auch nichts von der Peitsche, mit der er sonst jeden Ausreißer erfolgreich zum Bleiben bewog. Statt dessen nahm ich einen erschrockenen Ruf wahr, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ohne mich noch einmal umzusehen, hetzte ich davon, Ninnok hob gerade das Netz in die Höhe, als ich das Beet erreichte, und ich sah schon auf den ersten Blick den Quolrot, der sich wie ein Pfeil von seinem Nest hochschnellte, die giftigen Beißzangen weit geöffnet, und ich wußte, daß ich zu spät kam – und mich verraten hatte. Ich hätte Chatios Schläge hinnehmen und meinen Vater dem Quolrot ausliefern müssen, um jeden Verdacht von mir abzulenken. Nachdem ich das nicht getan hatte, würde jeder wissen, daß ich absichtlich den Kokon auf dem Beet versteckt hatte. Beim Gedanken an die Strafe, die mich erwartete, wurde mir ganz seltsam, und wieder war es, als würde die Furcht in meinem Gehirn explodieren und einen roten Schleier vor meine Augen decken. Gleich darauf wurde daraus ein dichtes, schwarzes Tuch, und ich spürte noch, daß ich zu Boden stürzte. Meine Ohnmacht konnte nur wenige Minuten gedauert haben.
Irgend jemand sprühte eine Feuchtigkeit in mein Gesicht. Ich schlug die Augen auf und sah das ängstliche Gesicht von Chatios zweitjüngstem Lehrling vor mir. Der Junge wich hastig vor mir zurück. Ich richtete mich auf und erblickte meinen Vater. Der Quolrot hatte ihn nicht gebissen. Ninnok starrte fassungslos auf seine Hand, an der ein formloser, wabbeliger Klumpen klebte. Ein ähnlicher, weit größerer Klumpen befand sich genau an der Stelle, an der ich auf so überraschend einfache Weise dem alten Chatio entkommen war. * Ich war zu jung, als daß man über mich hätte Gericht halten können, aber alt genug, um bestraft zu werden. Nachdem ich vergeblich versucht hatte, aus dem größeren Klumpen wieder Chatio, den Gärtner, zu machen, ließ mein Vater die beiden Beweise meiner Abartigkeit auf einen Karren laden und zum Palast zu schaffen. Ich hatte mich derweilen in eine Kammer zu begeben, vor deren Tür ein Posten stand. Niemand durfte zu mir, aber es kamen viele, um aus sicherer Entfernung durch die offene Tür zu äugen und sich darüber zu wundern, in welch harmlos aussehendem Kind ein so gefährlicher Dämon eine Wohnstatt gefunden hatte. Anbetrachts der Tatsache, daß ich meinem Vater den Biß des Quolrots erspart hatte, war der Fürst von Misan dazu geneigt, Milde zu zeigen. Das bedeutete, daß man mich nicht tötete, sondern zum Tempel von Ushien brachte, wo fromme Priester sich des Dämons in mir annehmen sollten. Sie taten sie das dann auch, und einer von ihnen stand bei jeder der verschiedenen Prozeduren hinter mir, denn es war bekannt, daß Dämonen in Gestalt kleiner Rauchwolken aus dem Hinterkopf ihres Opfers zu entweichen pflegten. Leider schien mein Dämon sich jedoch bei mir sehr wohl zu fühlen, denn er legte nicht die geringste Neigung an den Tag, mich zu verlassen.
Nach vielen, ermüdenden Tagen verlor einer der jüngeren Priester die Geduld mit mir und meinem »Untermieter«, und er beschloß, das Verfahren zu beschleunigen, indem er mir das Messer an die Kehle setzte. Seine Rechnung ging nicht auf: Mein Dämon hatte keinerlei Respekt vor dem Gewand des Priesters und den schützenden Amuletten. Anstatt endlich aus meinem Körper zu entschwinden, verteidigte er sein Heim mit grausigem Erfolg, und die Verwandlung eines Priesters in einen formlosen Klumpen war eine Tat, die man weder mir noch meinem Dämon verzeihen wollte. Wäre es nach den Priestern gegangen, so wäre ich auf dem schnellsten Weg umgebracht worden. Zu meinem Glück war jedoch der Fürst von Misan ein äußerst vorsichtiger Mann. »Du bist zweifellos der gefährlichste Dämon, der je von einem meiner Untertanen Besitz ergriffen hat«, sagte er, als er in vollem Ornat, behangen mit Geisterdolchen, Amuletten, Kräuterketten und ähnlichen Dingen, vor mir stand. Es sprach selbstverständlich nicht mit mir, sondern mit dem unheimlichen Wesen, das er in meinem Körper vermutete. »Da wir dich nicht vertreiben können, sollten wir dich mit deinem Opfer töten, aber vielleicht ist es gerade das, was du von uns erwartest. Wir könnten dir auf diese Weise Gelegenheit verschaffen, einen anderen, mächtigeren Körper zu suchen und durch ihn über Misan zu herrschen. Darum werden wir deinem Opfer das Leben schenken, in der Hoffnung, daß du dann mit ihm eines natürlichen Todes stirbst.« Es war eine allgemein verbreitete Ansicht, daß ein Dämon mit seinem Träger zugrunde ging, wenn dieser auf natürliche Weise starb – wobei auch ein Unfall, bei dem kein Vardi anwesend war, als eine legale Methode galt. Mein Leben war somit nicht mehr allzu viel wert. »Dein Opfer wird fortan außerhalb der Städte leben müssen«, verkündete der Fürst des weiteren. »Seine neue Heimat wird sich in der Schlucht befinden, aus der du zweifellos zu uns gekommen bist. Der Vater des Kindes wird euch beide mit Speise und Trank
versorgen, so daß ihr keine Not zu leiden braucht.« Ich hatte mir oft gewünscht, der alten Höhlenfrau länger zuhören zu können. Wie es schien, würde dieser Wunsch voll und ganz in Erfüllung gehen. 4. Ich weiß nicht genau, wie lange ich in der Schlucht lebte – jedenfalls lange genug, um erwachsen zu werden. Übrigens glaubte ich damals selbst daran, daß ein Dämon von mir Besitz ergriffen hatte. Wenn man einmal von der Tatsache absah, daß er mich insgesamt in eine nicht sonderlich angenehme Lage gebracht hatte, schien er es jedoch gut mit mir zu meinen – meistens. Manchmal allerdings spielte er mir seltsame Streiche. Ich hatte mich daran gewöhnt, mich auf meinen Dämon zu verlassen. Wenn ich in Gefahr geriet, brauchte ich nur meiner Angst freien Lauf zu lassen. Dann legte sich der rote Schleier über meine Augen, und hinterher waren gefährliche Tiere oder Pflanzen in formlose Klumpen verwandelt. Das war in der Schlucht nicht ohne Nutzen, aber es brachte mich fast um, als ich eines Tages auf einen schmalen Sims hinauskroch, um für die Höhlenfrau ein paar Kristalle abzubrechen. Mit den Kristallen brach nämlich auch der Felsvorsprung, an dem ich mich abgestützt hatte, und plötzlich war mein Gleichgewicht dahin. Tief unter mir schäumte und brodelte das Wasser um schartige Klippen, und ehe ich es mich versah, war die Angst in mir. Ich griff nach einer Wurzel – und hielt einen glibberigen Strang in der Hand. Daß ich in diesem Augenblick nicht abstürzte, sondern die Kraft fand, mich irgendwie auf dem Sims nach hinten zu schieben, verwunderte mich selbst am allermeisten. Die Höhlenfrau schwor Stein und Bein, daß mein eigener Körper sich in diesen Minuten veränderte. Im übrigen führten wir kein allzu schlechtes Leben. Auf
irgendeine Art war ich sogar glücklich dabei. Ich hörte alle Geschichten von Corloque, dem Eroberer, und die alte Frau lehrte mich vieles, was ich in der Stadt Misan nie erfahren hätte. Anfangs ging ich regelmäßig zur Gartenmauer hinauf und holte mir den Korb mit Fleisch und Früchten, der für mich bereitstand. Wenig später ließ Ninnok sich auf einen törichten Feldzug ein, mit dem der Fürst von Misan das Tiefland unter seine Herrschaft zwingen wollte. Der Krieg ging verloren, der Fürst starb im Verlies seines eigenen Palasts und meinen Vater lieferte der neue Fürst an einen Salzhändler im Norden aus, der mit Ninnok noch eine alte Schuld zu begleichen hatte. Meine Familie zerstreute sich in alle Winde, und manchmal fragte ich mich, ob ich nicht ebensogut aus der Schlucht fortgehen konnte. Aber die alte Frau wurde krank, und ich mochte sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Ich hatte sie liebgewonnen, und es gab ja sonst niemanden, der für sie sorgen konnte. Aber bald wurde mir klar, daß gegen ihre jetzige Krankheit kein Kräutertrank helfen konnte, und wenig später war ich ganz allein. Nachdem ich die alte Frau in ihrer Höhle begraben hatte, saß ich lange am Rande des Pfades, starrte auf den brodelnden Fluß und dachte darüber nach, was ich tun sollte. Es wurde Abend, und in der fallenden Dunkelheit schlossen sich die Wände der Schlucht um mich, als wollten sie mich verschlingen. Das Wasser gurgelte unsichtbar durch den finsteren Abgrund, aber über mir, weit oben, an der Grenze zum Hochland, war noch Licht: Ein immer dünner werdender Streifen von Gold, über dem sich der türkisfarbene Himmel von Crowhen erhob. Eine seltsame Sehnsucht erfaßte mich, und ich wußte, daß ich schon am nächsten Morgen diesen Ort verlassen würde. Ich wollte hinausgehen in eine Welt, von der ich bisher nur einen winzigen Teil gesehen hatte, und ich würde bis ans Ende dieser Welt wandern, wenn das nötig war – aber ich würde diese dunkle Schlucht ein für allemal hinter mir lassen, sie und die Leute, die mich dazu verdammt hatten, in
Einsamkeit zu leben. In derselben Nacht wurde Misan angegriffen und brannte zum großen Teil nieder. Ich nahm den Brand zum Anlaß, meine Pläne wahrzumachen. Noch vor dem Morgengrauen tastete ich mich auf den schmalen Felsbändern der Ebene entgegen. Obwohl ich eigentlich keinen Grund hatte, um Misan zu trauern, erfüllte mich eine merkwürdige Wehmut, und ich beeilte mich, den Geruch nach Rauch und Tod hinter mir zu lassen. Aber als ich endlich auf die Ebene hinausblicken konnte, wurde mir klar, daß in dieser Nacht etwas Unvorstellbares geschehen sein mußte. Denn alle anderen Städte, die man von hier aus erblicken konnte, brannten ebenfalls, und es sah so aus, als würden lebende Flammen kreuz und quer durch das Tiefland eilen. Meine schwärmerische Sehnsucht nach der weiten Ferne erlosch schlagartig. Ich kauerte mich in den Schutz der Felsen und wartete beklommen – ich weiß nicht, worauf. Zwei Tage und zwei Nächte hindurch wagte ich mich kaum von der Stelle. Draußen geschahen unheimliche Dinge. Die lebenden Flammen entpuppten sich im hellen Tageslicht als riesige Wagen, die ganz von selbst, ohne Zugtiere, durch die Gegend fuhren, Lärm und Gestank verbreitete und mit Feuerzungen um sich spuckten, sobald sie einen bewohnten Ort erreichten. In den Wagen saßen glänzende Gestalten, die hier und da aus ihren Fahrzeugen stiegen. Wenn sie sich zurückzogen und wieder in die Wagen stiegen, hinterließen sie häufig silbrige Türme, die deutlich hörbar vor sich hinbrummten. Ich begriff nicht, wer diese Leute waren und woher sie kamen, und ich wagte es selbstverständlich nicht, sie danach zu fragen. Sie schienen jedenfalls für die Bewohner des Tieflands nicht viel übrig zu haben, denn ich beobachtete, daß sie nicht nur alle Ansiedlungen zerstörten, sondern auch den größten Teil der Bewohner umbrachten. Den Rest der Vardis verfrachteten sie in ihre Fahrzeuge und brachten sie weg. Ich hatte keine Lust, etwas mit diesen Fremden zu tun zu
bekommen. Erschrocken und verwirrt kehrte ich in die Schlucht zurück und fand sie unverändert. Was immer die Fremden auch bei uns suchten: Hier schien ich vor ihnen sicher zu sein. Aber auch das erwies sich als Trugschluß, denn eines Morgens tauchten einige von ihnen über dem Fluß auf. Sie waren wirklich über dem Fluß, denn sie fuhren in einem noch seltsameren Wagen durch die Luft. An den Stromschnellen bauten sie einen der brummenden Türme auf, und dann fuhren sie geradewegs in die Höhle hinein, aus der der Fluß hervorkam. Ich dachte, daß dies vielleicht die Lösung des Rätsels war: Vielleicht kamen sie aus einem anderen Tiefland, weit jenseits der fernsten Hochebene, aus jenem Reich der tausend Höhlen, aus dem auch Corloque gekommen war, und in der Tat sahen sie mit ihrer schimmernden Kleidung dem Held der alten Sage ähnlich. Aber Corloque war nicht ausgezogen, um die Vardis zu töten, sondern er hatte uns allerlei nützliche Dinge beigebracht. Das Brummen des Turmes erfüllte die ganze Schlucht und bereitete mir zunehmendes Unbehagen. Ich fühlte mich, als hätte ich mich vergiftet, und außerdem war der Lärm auf die Dauer unerträglich. Das Brummen drang tief in meine Seele und weckte den Dämon meiner Furcht, so daß ich es kaum noch wagen durfte, irgend etwas Lebendiges zu berühren oder auch nur zu betrachten. Das führte so weit, daß der Dämon sich sogar an meiner Nahrung vergriff, und mir wurde klar, daß ich aus der Nähe dieses Turmes hinauskommen mußte, wenn ich überleben wollte. Ich wandte mich in die einzige Richtung, die mir unter diesen Umständen als sinnvoll erschien: Ich ging hinauf in die Hochebene. Damit geriet ich vom Regen in die Traufe, denn oberhalb von Misan lief ich einem der glänzenden Fremden direkt in die Arme. Der Dämon der Furcht tobte in mir, daß es vor meinen Augen rote Funken sprühte, aber ausgerechnet jetzt schien er seine Macht verloren zu haben. Der glänzende Fremde dachte überhaupt nicht daran, sich in einen formlosen Klumpen zu verwandeln. Statt dessen hielt er mich fest. Seine harten, knochigen Hände erinnerten
mich an den alten Chatio und daran, wie mein Unglück begonnen hatte. Ich kämpfte gegen ihn an, während mein Gehirn zu schmerzen begann, und er schien es nicht einmal zu bemerken. Er trug mich davon, durch den heißen, staubigen Wind, und noch ehe wir sein Ziel erreichten, wurde der Schmerz in meinem Kopf so stark, daß ich außer ihm nichts mehr wahrzunehmen vermochte. * Der Fremde trug mich den ganzen Tag über und noch die halbe Nacht hindurch über die Hochebene. Er schien weder Müdigkeit, noch Hunger oder Durst zu kennen. Er wußte aber offenbar, daß wir Vardis ab und zu Ruhe, Nahrung und Wasser brauchten, denn ich erinnerte mich später verschwommen daran, daß er mehrmals versuchte, mich zum Essen zu animieren. Bei diesen Gelegenheiten legte er mich in den Schatten irgendeines Felsens, redete unaufhörlich auf mich ein und hielt mir dabei ein bräunliches Zeug unter die Nase, was wie getrocknetes Leder aussah und sicher auch ähnlich schmeckte. Ich hätte trotzdem davon gegessen, dessen bin ich mir sicher, aber ich war einfach nicht dazu imstande. Ich hatte hohes Fieber, und mein Kopf drohte mir zu zerspringen. Es bereitete mir Mühe, das Wasser zu trinken, das er mir einflößte, und den größten Teil dieser Zeit verbrachte ich in einem ungesunden Halbschlaf. Einmal bemerkte ich, daß der Fremde von seinem sonst schnurgerade verlaufenden Kurs abwich. Er erklomm eine riesige Geröllhalde, die sich um einen fast völlig verwitterten Bergkegel häufte, legte mich auf halber Höhe auf den Boden und bedeckte meinen Körper mit Steinen. Danach grub er sich ebenfalls ein. Nach einiger Zeit stand er wieder auf, befreite mich von der Last der Steine, hob mich hoch und marschierte weiter. Die Hochebene war ein lebensfeindliches Gebiet, nichts als verwitterter Fels, Sand und Staub. Hier und da wuchsen dürre,
dornige Büsche und seltsame Pflanzen, die wie Steine aussahen. Von Ninnok wußte ich, daß man viele Tage hindurch reiten mußte, um zu den kargen Tälern der behaarten Halbvardis zu kommen, und ich fragte mich, wie der Fremde diese weite Strecke zu Fuß zurücklegen wollte. Ich würde eine solche Reise nicht überleben. Aber vielleicht, so vermutete ich mit schmerzendem Schädel, hatte dieser Fremde gar kein festes Ziel, an das er mich bringen wollte. Vielleicht war er einer der Dämonen des Todes, mit denen die Priester mir gedroht hatten, und seine Aufgabe bestand einzig und allein darin, mich für alle Zeiten durch diese heiße, staubige Hölle zu tragen. Irgendwann zur Zeit des Sonnenuntergangs, als das ganze Land um uns herum in Flammen zu stehen schien, tauchte vor uns ein kleiner, runder Hügel auf, der nicht in diese Umgebung paßte, denn er war nicht im geringsten von der Verwitterung berührt. Eine Pforte öffnete sich vor uns, wie das saugende Maul eines Sumpfschnappers. Dahinter war es kühl und dunkel. Ich erkannte verschwommen eine Gestalt, hörte Worte in einer mir unbekannten Sprache, wehrte mich kurz und ohne Aussicht auf Erfolg gegen etwas, das mir den Atem zu nehmen drohte, spürte Wasser um mich herum und versank in einem bodenlosen, schwarzen Teich. * »Wir müssen diesen Planeten verlassen, Herr«, sagte die Stimme des Glänzenden drängend. »Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, oder sie werden uns finden und gefangennehmen. Sie dürfen dich nicht erwischen oder du wirst sie niemals aufhalten können.« Ich wunderte mich darüber, daß ich überhaupt etwas zu hören vermochte, denn ich war ganz offensichtlich tot: Ich lag unter Wasser und mußte längst erstickt sein. Aber andererseits erschien es mir logisch, daß ich die Dämonen des Totenreichs hören und
verstehen konnte, sobald ich in ihren Herrschaftsbereich gelangt war. Der Fremde, zu dem der Glänzende gesprochen hatte, antwortete murmelnd in jener Sprache, die ich nicht verstand. »Du solltest sie hier zurücklassen«, fuhr der Glänzende ziemlich unwirsch fort. »Ihr Gehirn hat einigen Schaden genommen. Ich glaube nicht, daß sie jetzt noch einen Nutzen für dich haben wird.« Erneutes Gemurmel, dann wieder der Glänzende: »Sie wird nicht wieder gesund werden. Und selbst wenn: Sie kann ihre Fähigkeiten nicht gezielt einsetzen. Ich glaube nicht einmal, daß sie sie kontrollieren kann. Sie wird dich umbringen.« Gemurmel. »Was heißt hier, ich widerspreche mir selbst? Sie wird dich umbringen, weil sie keine Kontrolle hat! Was nützt es uns, wenn es ihr hinterher leid tut?« Das Gemurmel des Fremden klang ungeduldig und die Antwort des Glänzenden beleidigt: »Bitte, wenn du meinst, daß ich von diesen Dingen nichts verstehe – du bist der Ritter, und ich bin nur ein unbedeutender Orbiter. Bleibe ruhig hier und pflege dieses Monstrum. Aber beklage dich hinterher ja nicht bei mir, wenn es schiefgeht.« Der Dämon mit der fremden Sprache schien zornig zu sein, denn er sagte schnell und scharf einige wenige Worte. Daraufhin der Glänzende: »Ich gehe ja schon. Aber wenn du erwartest, daß ich …« Der Dämon gab ein Zischen von sich. Der Glänzende verstummte, und etwas knallte so laut, daß ich zusammenzuckte. Ich konnte noch immer nichts sehen, aber ich hörte, daß jemand nahe an mich herantrat. Das mußte der Dämon mit der fremden Sprache sein. Ich stellte ihn mir groß und unförmig vor, mit einem klaffenden, dampfenden Maul, das nicht fähig war, Worte in der Sprache der Vardis zu formulieren. Als dieses Wesen mich ergriff, fügte ich dieser Vorstellung lange, klauenhafte Arme hinzu,
mindestens vier an der Zahl, und ich hoffte, daß mein Sehvermögen nicht so bald zurückkehren werde – es war schlimm genug, in die Gewalt eines solchen Ungeheuers geraten zu sein, aber mein Schicksal war zweifellos leichter zu ertragen, solange mir der Anblick solcher Scheußlichkeiten erspart blieb. Die Arme hoben mich aus dem Wasser, das irgendwie zu klebrig war, um wirkliches Wasser zu sein. Der Dämon murmelte etwas, und sein heißer Atem umspülte mich und trocknete die Flüssigkeit auf meiner Haut. Ich spürte, wie die Furcht in mir wuchs, denn ich dachte, das Ungeheuer würde mich mit einem Bissen verspeisen. Vielleicht, wenn ich meine Angst nährte … Aber statt des roten Schleiers vor meinen Augen spürte ich diesmal nur einen stechenden Schmerz in meinem Schädel. Der fremde Dämon war meinem eigenen überlegen, und ich mußte mich wohl oder übel damit abfinden. Unter erneutem Gemurmel wurde ich in ein weiches Tuch gehüllt und zu einer Sitzgelegenheit geführt. Ich gehorchte dem Druck fremder Hände, spürte einen Becher an meinen Lippen und trank gehorsam, denn es hatte ohnehin keinen Sinn mehr, mich zu widersetzen. Nachdem ich getrunken hatte, wurde ich sehr müde, und ich schlief ein. »Es ist doch wirklich immer dasselbe!« hörte ich die nörgelnde Stimme des Glänzenden. »Wach auf, damit ich meine Arbeit tun kann!« »Meinst du mich?« fragte ich unsicher. »Wen denn sonst? Siehst du hier einen anderen außer mir? Natürlich nicht, wie solltest du auch. Der Ritter geruht zu schlafen, und ich muß die Arbeit erledigen. Warum muß er sich immer wieder Leute wie dich an Bord holen? Man hat nichts als Scherereien mit euch. Nun komm schon, du mußt den Kopf heben!« Ich verstand kein Wort, aber vorsichtshalber gehorchte ich – wer wird sich schon mit Dämonen und ihren Dienern anlegen? Der Glänzende berührte meinen Hinterkopf, und im selben
Augenblick vermochte ich wieder zu sehen. Ich war so überrascht, daß ich kein Wort herausbrachte. Der Glänzende musterte mich kurz, und ich starrte ihn fassungslos an: Mir schien es, als würde er aus Metall bestehen. Selbst im Tempel von Ushien hatte ich nichts von metallischen Dämonen vernommen. Allerdings hatte sich schon damals in mir der Verdacht gebildet, daß die Priester nicht halb so viel von Dämonen verstanden, wie sie stets behaupteten. Meinem eigenen Dämon war es jedenfalls bemerkenswert leicht gefallen, ihnen zu widerstehen. »Natürlich«, bemerkte der Glänzende, wobei seine metallischen Lippen sich so gut wie gar nicht bewegten. »Kein Wort des Dankes. Was soll man auch sonst erwarten? Es ist ja völlig selbstverständlich, daß ich die Arbeit tue. Weißt du eigentlich, daß du ohne meine Hilfe jetzt schon tot wärst? Das heißt – es hätte noch wesentlich schlimmer kommen können. Aber das kümmert dich wohl nicht. Nun ja, so langsam sollte ich aufhören, mich über den Unverstand der Welt aufzuregen. Ich bin wahrhaftig alt genug, ich müßte mich daran gewöhnt haben. Was starrst du mich so an? Da steht deine Suppe. Iß sie – das wirst du doch wohl auch ohne meine Hilfe können!« Verwirrt nahm ich eine Schüssel und einen Löffel und begann zu essen. »Warum er nur immer alles herumliegen läßt«, schimpfte der Glänzende und sammelte verschiedene Gegenstände vom Boden auf. »Wie heißt du eigentlich?« »Meinst du mich?« »Meinst du mich, meinst du mich!« äffte er mich nach. »Ist das alles, was du sagen kannst? Ich kann wahrhaftig nicht begreifen, warum ich deinetwegen durch die gräßliche Wüste marschieren mußte. Also, wie heißt du?« »Anima.« »Aha. Von Höflichkeit hältst du auch viel, nicht wahr?« »Ich habe deine Frage doch beantwortet.«
»Aber hast du auch nach meinem Namen gefragt? Nein, das hast du nicht getan. Da ruiniere ich deinetwegen drei funkelnagelneue Staubfilter, verbrauche eine Unmenge Energie, von allem anderen ganz abgesehen, und dich interessiert noch nicht einmal mein Name. Was sind das für Manieren?« »Es ist bei uns nicht üblich, einem Dämon Fragen zu stellen«, erklärte ich erschrocken. »Wenn ich dich damit in Zorn versetzt habe, so bitte ich dich, mir zu verzeihen. Der andere Dämon hat nie zu mir gesprochen. Wenn du mir deinen Namen nennen willst, so werde ich mich freuen, ihn zu hören.« »Ich höre immer Dämon!« Der Glänzende blieb stehen und legte einen metallenen Gegenstand vor mich hin. »Stell die Suppe weg, du hast jetzt genug gegessen. Drück auf den Knopf an der Seite, sieh genau hin und sage mir, welche Farben du siehst.« Ein paar Minuten später nahm er mir den Gegenstand aus der Hand. »Iß weiter!« befahl er und marschierte davon. Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Willst du mir deinen Namen jetzt nicht mehr verraten?« fragte ich vorsichtig. Er war bereits an der Tür, und ich dachte schon, daß er mich gar nicht gehört hätte, aber dann blieb er stehen und drehte sich langsam um. »Verrin«, sagte er. »Ich heiße Verrin. Falls du diesen Namen komisch findest, dann behalte das gefälligst für dich.« »Ich finde ihn aber nicht komisch«, versicherte ich. »Wirklich nicht?« fragte er mißtrauisch. »Dann weißt du also nicht, was er bedeutet?« »Ich habe diesen Namen nie zuvor gehört!« »Das ist ein Lichtblick«, behauptete er. »Ich hoffe, daß dieser Klotz von einem Ritter genug Taktgefühl besitzen wird, es dir nicht zu verraten. Es ist eine schlimme Sache, mit einem solchen Namen geschlagen zu sein. Ruh dich aus, während ich versuche, den Ritter
aufzuwecken. Ich wollte, er würde auch mal etwas tun, anstatt alle Arbeit mir zu überlassen!« Damit verschwand Verrin, der Glänzende, und ich zerbrach mir den Kopf darüber, was das alles zu bedeuten hatte. Ein Dämon mit seinem Namen war mir nicht bekannt. Aber vielleicht war er nur ein unbedeutender Dämonendiener. Er hatte die Tür offen gelassen, und ich verspürte kein Verlangen danach, mich auszuruhen. Ich hatte lange genug geschlafen, und da meine Bewegungsfreiheit in keiner Weise eingeschränkt war, beschloß ich, mich in dieser Dämonenburg ein wenig umzusehen. Aber ich kam nicht weit. Als ich kaum den Kopf zur Tür hinausgestreckt hatte, hörte ich das Gemurmel des Dämons, den Verrin »den Ritter« nannte, und der Schreck fuhr mir so nachhaltig in die Glieder, daß ich zu keiner Bewegung mehr fähig war. Augenblicke später sah ich den Dämon zum erstenmal. Er war weder riesengroß und unförmig, noch hatte er ein klaffendes Maul. Er hätte ohne weiteres ein Vardi sein können, nur daß seine Augen nicht schwarz, sondern goldbraun waren, und sein Haar war nicht braun, sondern kupferfarben mit einem seltsamen, metallischen Schimmer. Bei näherem Hinsehen erkannte man einige weitere Unterschiede, wie zum Beispiel die Färbung seiner Fingernägel, aber er glich nicht im geringsten den Bildern der Dämonen im Tempel von Ushien. Als er mich sah, blieb er stehen und verbeugte sich leicht. »Ich bin Hartmann vom Silberstern«, erklärte er, und diesmal verstand ich jedes Wort. »Ritter der Tiefe und Beauftragter der Kosmokraten.« 5. Hartmann vom Silberstern gehörte nicht zu denen, die ihre Zeit unnütz verschwendeten, aber das begriff ich damals noch nicht. Es
gab überhaupt sehr vieles, was ich nicht verstand. Glücklicherweise war ich mir über die Situation, in der ich mich befand, ebenfalls nicht im klaren. Ich glaubte zwar nicht länger, daß ich mich in der Gewalt von Dämonen befand, aber ich hielt sowohl Verrin als auch den Ritter noch immer für übernatürliche Wesen, und darum empfand ich es als selbstverständlich, daß ich ihre Handlungsweise nicht immer begriff. Ebensowenig störte es mich, daß Verrin und der Ritter oft entgegengesetzter Meinung waren – ich hielt mich an Hartmann vom Silberstern, von dem ich glaubte, daß er gar nicht fähig sei, etwas falsch zu machen. Ich vertraute ihm bedingungslos, und ich lernte bereitwillig alles, was er mir zu lernen gebot. Ich akzeptierte es, als er mir sagte, daß es keine Dämonen gäbe, und ich glaubte ihm, als er desweiteren ausführte, daß ich demzufolge auch nicht von einem Dämon besessen sein könne. »Was du den Dämon deiner Furcht nennst«, sagte er zu mir, »ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine besondere Kraft, die dir angeboren ist. Als du noch ein kleines Kind warst, hat man dich gelehrt, mit deinen Beinen zu laufen und mit deinen Händen zu greifen. Man hat dich gelehrt, die Sprache der Vardis zu sprechen, an Dämonen zu glauben, in eurer Schrift zu schreiben und vieles mehr. Aber niemand konnte dich lehren, diese besondere Kraft zu handhaben, weil niemand außer dir sie besaß. Weder dein Vater noch der Fürst von Misan oder die Priester von Ushien waren imstande, dich im Umgang mit dieser Kraft zu unterrichten. Deine Fähigkeit ging über ihren Horizont hinaus. Sie begriffen nicht, was da geschah, und darum behaupteten sie einfach, daß ein Dämon dafür verantwortlich sei. Wenn du es vorziehst, weiterhin an einen Dämon zu glauben, dann kannst du das ruhig tun. Du mußt nur dir selbst beweisen, daß du es bist, der über diesen Dämon herrscht – nicht umgekehrt!« Er hätte mir ein Stück Kohle unter die Nase halten und behaupten können, daß es reine Seide sei – ich hätte auch das geglaubt. Ich
wußte ja, daß ich längst tot war, und in dem rätselhaften Reich jener Wesen, die über die Seelen der Verstorbenen herrschten, war alles möglich. Trotz der Drohungen der Priester von Ushien war ich offenbar in das Reich der guten Geister geraten, und ich war fest entschlossen, mir die Gunst des Ritters auf keinen Fall zu verscherzen. Obwohl Verrin täglich drängte, daß wir Crowhen verlassen sollten, blieben wir auf meinem Heimatplaneten – damals wußte ich noch nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. Hartmann vom Silberstern ging mit mir in das lebensfeindliche Hochland hinaus, und unter seiner Anleitung lernte ich, den »Dämon meiner Furcht« nicht nur zu unterdrücken, sondern zu kontrollieren und zu beherrschen. Anfangs hatte ich große Angst, meine Fähigkeit im Beisein des Ritters zu gebrauchen. Ich fürchtete stets, aus Versehen ihn in einen formlosen Klumpen zu verwandeln. Ich war mir sicher, daß er auch einen solchen Anschlag überstehen und fürchterliche Rache an mir nehmen würde – und selbst wenn er nicht mehr dazu fähig sein sollte, mich zu bestrafen, würde Verrin das um so gründlicher tun. Verrin war der Orbiter des Ritters. Ich hielt ihn anfangs für einen Diener, der zu gehorchen hatte, und ich schrieb es der Gutmütigkeit Hartmanns vom Silberstern zu, wenn Verrin ungestraft freche Bemerkungen von sich geben durfte. Erst später begriff ich, daß ein Orbiter weit mehr als ein normaler Diener war. Der Orbiter Verrin gehörte jenem Volk an, das den Planeten Crowhen überfallen hatte, und er war ein Boʹoquide. Die Boʹoquiden hausten laut Hartmann vom Silberstern in einem weit entfernten Sonnensystem, von dem aus sie im Auftrag einer bösartigen Macht ihre Raubzüge unternahmen. Sie waren keine organischen Wesen, sondern Roboter. Irgendein fremdes, längst ausgestorbenes Volk hatte die ersten Boʹoquiden gebaut und damit seinen eigenen Untergang eingeleitet. Die Boʹoquiden wurden von einem unwiderstehlichen Drang nach Betätigung beherrscht. Es war ihnen
nicht gegeben, sich in Geduld zu üben, und wenn sie mit einer Arbeit fertig waren, suchten sie sofort nach einer neuen Beschäftigung. Sie widerstanden nicht nur den Naturgewalten ihres Heimatplaneten, sondern auch den Waffen ihrer Erbauer, die von einer Geschäftigkeit ihrer Geschöpfe regelrecht an die Wand gedrückt wurden, bis sie zu nahezu lebensunfähigen Parasiten ihrer eigenen Roboterwelt wurden und schließlich ausstarben. Durch ihren rasenden Drang nach Arbeit hätten die Boʹoquiden sich im Lauf der Zeit selbst zerstört, aber ehe es dazu kam, hatten sie neue Herren gefunden, die ihnen eine – für die Fremden – sinnvolle Beschäftigung gaben. Seitdem überfielen sie andere Planeten, schleppten alles davon, was ihren Herren als wertvoll erschien und raubten fremde Intelligenzen. Hartmann vom Silberstern hatte Verrin aus dem Griff der fremden Macht gelöst und zu seinem Vertrauten und Helfer gemacht. Die Boʹoquiden hatten es bei ihren Raubzügen unter anderem auf parapsychisch begabte Wesen abgesehen, also auf Wesen wie mich, die irgendwelche ungewöhnlichen Dinge tun konnten. Selbst Verrin wußte nicht, was man mit diesen Leuten anstellte, aber er äußerte verschiedene schreckliche Vermutungen. Hartmann vom Silberstern hatte von Mächten, die er die Kosmokraten nannte, den Auftrag erhalten, dieser Angelegenheit nachzugehen, die fremde Macht zu finden und unschädlich zu machen. Worin meine Rolle in diesem Spiel bestand, erfuhr ich vorerst nicht. Sobald ich die Angst vor dem »Dämon« in mir einigermaßen überwunden hatte, begann Hartmann vom Silberstern mit meinem Training, das darin bestand, daß ich zunächst einmal eine ganze Reihe von harmlosen Wüstenpflanzen in die mir sattsam bekannten Klumpen verwandelte. Aber ich merkte selbst schon nach kurzer Zeit, daß ich weit mehr als das tun konnte. Nur die Furcht vor dem angeblichen Dämon und den sichtbaren Folgen seiner Taten hatten mich bisher daran gehindert, den vollen Umfang meiner seltsamen Begabung zu erkennen und zu nutzen.
Bisher hatte ich geglaubt, daß die Verwandlung nicht umkehrbar war. Das erwies sich als Irrtum. Ich war schon bald imstande, jede beliebige Pflanze und jedes Tier in einen Klumpen und wieder zurück in seine ursprüngliche Gestalt zu verwandeln. Hätte ich das früher gewußt, so wäre mir vieles erspart geblieben. »Das glaube ich kaum«, sagte Hartmann vom Silberstern, als ich ihm gegenüber diese Vermutung äußerte. »Man hätte dich wohl im Gegenteil auf der Stelle umgebracht.« »Aber wenn ich Chatio zurückverwandelt hätte, wäre doch gar kein Schaden entstanden!« protestierte ich, und er antwortete: »Du vergißt, daß dein Volk an Dämonen glaubt. Man war überzeugt davon, daß du von einem solchen Dämon besessen warst. Da du deine Fähigkeit nicht kontrollieren konntest, nahm man an, daß du das unschuldige Opfer dieses Dämons warst. Hättest du Chatio zurückverwandelt, dann wäre man zu der Schlußfolgerung gekommen, daß zwischen dir und dem Dämon ein Bund bestand. Du wärst nicht sein Opfer gewesen, sondern seine Partnerin – und das hätte man dir nie verziehen.« Damit hatte er wahrscheinlich recht. Während ich meine Übungen absolvierte, plünderten die Boʹoquiden den Planeten Crowhen mit der ihnen eigenen Gründlichkeit aus. Ich erfuhr wenig von dem, was draußen vorging, denn Hartmann vom Silberstern befürchtete, daß ich einen Schock erleiden würde, wenn ich genauere Kenntnis von den Vorgängen erhielt. Allmählich akzeptierte ich die Tatsache, daß ich keineswegs tot war und daß auch der Ritter und sein Orbiter nicht etwa irgendeinem Geisterreich angehörten. Offen gestanden interessierten mich zu diesem Zeitpunkt weder das eine, noch das andere. Ich hatte eine neue Art von Leben gefunden, das mich voll und ganz in Anspruch nahm. Solange ich zurückdenken konnte, hatte es immer etwas gegeben, was ich ängstlich verbergen mußte. Zuerst war es meine Bekanntschaft mit der alten Höhlenfrau gewesen, dann der Dämon.
Zwar gab es in der Schlucht niemanden, der mich seinetwegen umgebracht hätte, aber ich selbst hatte mich daran gehindert, meine Fähigkeiten zu benutzen. Nur in äußersten Notfällen hatte ich mir selbst die Erlaubnis erteilt, das zu benutzen, was in mir verborgen war. Der Dämon und die Furcht vor ihm, vor äußeren Gefahren und vor mir selbst waren eng miteinander verbunden gewesen. So war ich anfangs gezwungen, mich in künstliche Furcht hineinzusteigern, um die Verwandlung zu vollziehen. Je sicherer ich jedoch im Umgang mit meiner Fähigkeit wurde, desto unbeschwerter konnte ich mit ihr umgehen, und die Ergebnisse waren erstaunlich. Dieser ganze Lernprozeß ging unheimlich schnell vonstatten. Binnen weniger Tage beherrschte ich die Rückverwandlung, und ich entdeckte, daß ich einen dürren Busch nicht unbedingt wieder zu dem machen mußte, was er einst gewesen war. Ich machte diese Entdeckung, als ich mich auf eine abgestorbene Pflanze konzentrierte, die in Wirklichkeit gar nicht abgestorben war: Die oberirdischen Teile waren in der Hitze verdorrt, aber in der Wurzel gab es noch Leben. Nach der Rückverwandlung besaß diese Pflanze plötzlich wieder einige Zweige, an denen Knospen zu sprießen begannen. Aufgeregt und begeistert suchte ich nach einem weiteren Versuchsobjekt und fand es in einer kleinen, harmlosen Sandechse. Sie war von einem herabrollenden Stein getroffen und eingeklemmt worden. Als ich den Stein hochhob, sah ich, daß das Tier schwer verwundet war. Nach der Rückverwandlung wirkte das Tierchen zwar etwas benommen und geschwächt, aber es war ansonsten unversehrt, und sogar eine viel ältere Wunde war verschwunden. Dies alles ereignete sich, als ich ausnahmsweise alleine draußen war. Verrin war wieder einmal verschwunden, und der Ritter war mit irgendwelchen komplizierten Berechnungen beschäftigt – oder zumindest war es so gewesen, als ich ihn verließ. Als ich nun aufgeregt in die »Dämonenburg« zurückkehrte, um ihm von meiner Entdeckung zu berichten, konnte ich ihn nicht in seinen Räumen
finden. Ich rief nach ihm und nach Verrin, aber sie antworteten mir nicht. Zum erstenmal wurde ich mir bewußt, daß ich nur einen winzigen Teil der Burg kannte. Ich hatte längst keine Angst vor dem Ritter und seinem Orbiter mehr, und darum hatte ich auch keine Hemmungen, sie im mir unbekannten Teil der Burg zu suchen. Die Suche dauerte nur kurze Zeit. Ich hörte Stimmen hinter einer Tür und wollte sie eben öffnen, als ich Verrin sagen hörte: »Das sind nur Spielereien, und du weißt das sehr genau. Zugegeben, sie lernt sehr schnell, aber bis sie das kann, was du von ihr erwartest, werden noch Jahre vergehen. Wir wissen, wo wir unseren Gegner zu suchen haben. Wir sollten hingehen und ihn vernichten.« »Es ist nicht meine Aufgabe, zu vernichten und zu töten«, erwiderte Hartmann vom Silberstern streng. »Du als mein Orbiter solltest das begriffen haben.« »Ja, ich weiß, ich weiß! Du willst dieses … Ding bekehren.« »Nicht bekehren, sondern heilen.« »Und du glaubst im Ernst daran, daß du das schaffen kannst? Du kennst Vergalo nicht. Er ist ein bösartiges Monstrum, und er wird sich niemals ändern.« »Du irrst dich, Verrin. Ich habe dieses Wesen studiert, und ich weiß, was ich zu tun habe. Vergalo ist nicht bösartig – nur ein Teil von ihm ist das, und dieser Teil hat zur Zeit das größere Gewicht. Wenn wir das Gleichgewicht wiederherstellen, wird Vergalo keine Gefahr mehr darstellen. Er wird in seine alten Grenzen zurückkehren, und damit werden die Boʹoquiden ihre Gefährlichkeit verlieren.« »Sie werden niemals aufhören zu rauben und zu töten. Es liegt an ihrer Programmierung.« »Wir werden auch diese Programmierung ändern. Verrin, warum willst du es nicht endlich begreifen: Ein Ritter der Tiefe hat nicht die Aufgabe, die äußere Form des Bösen zu zerschlagen, denn auf diese
Weise erreicht man nichts. Wenn ich gegen Vergalo zu Felde ziehe, dann wird er sich wehren, und ganze Sonnensysteme werden darunter zu leiden haben. Der Konflikt wird sich ausbreiten, und immer mehr Völker werden sich in den Maschen dieses Krieges fangen. So geht es nicht.« »Und was ist mit Crowhen? Von der Zivilisation der Vardis wird nicht viel übrigbleiben. Wie lange willst du noch tatenlos zusehen, wie mein Volk immer größere Schuld auf sich lädt? Ich habe mich dir angeschlossen, damit du diesem Treiben ein Ende bereiten kannst. Aber ich bekomme von dir nur schöne Reden über die Harmonie und den Frieden zu hören, und wenn es darum geht, etwas für diese Ziele zu tun, dann versteckst du dich in einer Wüste und verschwendest deine Zeit damit, Wesen wie Anima für ein Ziel zu trainieren, das sie niemals erreichen können. Ich bin von dir enttäuscht!« »Ich weiß, Verrin. Du bist ein Boʹoquide, und du kannst nicht aus deiner Haut heraus. Aber habe doch noch ein wenig Geduld. Ich bin sicher, daß wir mit Anima jemanden gefunden haben, der das Gleichgewicht wiederherstellen kann.« Ich hörte Schritte und ging eilig davon. Ich hatte nicht lauschen wollen – es hatte sich einfach so ergeben, und nun war ich zu verwirrt, um dem Ritter Rede und Antwort zustehen. Ich verließ die Burg, versteckte mich draußen hinter einem Felsen und setzte mich auf einen Stein, um über das, was ich gerade erfahren hatte, nachzudenken. Ich hatte den Anblick der brennenden Städte nicht vergessen, wohl aber verdrängt. Hier draußen in der Wüste war ich von all dem so weit entfernt, daß mir die Welt, in der ich bisher gelebt hatte, wie ein düsterer Alptraum vorkam. Was hatte Verrin gesagt? Daß von der Zivilisation der Vardis nicht viel übrigbleiben würde? Was bedeuteten mir die Vardis? Durfte ich mich überhaupt noch als Angehörige dieses Volkes bezeichnen? »Warum hast du dich versteckt?«
Ich sah erschrocken auf – Hartmann vom Silberstern stand vor mir und blickte ernst auf mich herab. »Warum soll ich eigentlich lernen, mit meiner Fähigkeit umzugehen?« fragte ich ihn. »Weil du mir helfen sollst, mit einem Problem fertig zu werden«, erklärte er ruhig. »Und weil es dumm wäre, ein solches Talent nicht zu nutzen.« Vermutlich wußte er bereits, daß ich gelauscht hatte. Es wäre nicht seine Art gewesen, mir deswegen Vorwürfe zu machen, aber er war offenbar auch nicht bereit, mir weitere Erklärungen zu geben. * Ich wußte nun, wie es um meinen Heimatplaneten stand, und ich war daher nicht mehr so unbeschwert wie bei Beginn des Trainings, aber ich war immer noch gewillt, mein Bestes zu geben. Ich genoß es, wenn der Ritter mich wegen meiner Fortschritte lobte. Ich lernte, daß ich nicht einen ganzen Strauch zu verwandeln brauchte, um einen kranken Ast zu heilen, und wenn die Sandechsen auch nur einen Funken Verstand besessen hätten, dann wären sie in Scharen vor der Burg aufgetaucht, denn die meisten von ihnen hatten allerlei Blessuren, die mir Gelegenheit boten, meine Künste zu erproben. Dabei wurde ich meiner selbst so sicher, daß der Zeitpunkt abzusehen war, an dem ich die nötige Vorsicht vergaß. Eines Tages, als ich vom langen Üben erschöpft war, starrte ich auf eines der kleinen Wüstengewächse und dachte mit plötzlichem Heimweh an die farbenprächtigen Blüten in Ninnoks Garten. Das hätte ich besser nicht tun sollen, denn ehe ich mich versah, hatte ich die Wüstenpflanze in eines dieser empfindlichen Gewächse verwandelt. Mir wurde nicht gleich bewußt, was ich damit getan hatte. Ich
blickte auf dieses kleine, bunte Wunder mitten im heißen Sand und freute mich über seine leuchtenden Farben. Schließlich stand ich auf, um den Ritter zu holen. Ich war sehr stolz auf mich und wollte ihm zeigen, was ich vollbracht hatte. Als ich mit Hartmann vom Silberstern zurückkehrte, lag die leuchtende Blume schlaff und welk auf dem Sand. Ich hatte nicht bedacht, daß sie in dieser Umgebung nicht überleben konnte. Mein Versuch, sie in das bescheidene Wüstengewächs zurückzuverwandeln, kam zu spät: Das Leben in dieser Pflanze war bereits erloschen. Ich war erschrocken, ja, entsetzt. Zum erstenmal wurde mir klar, daß meine Fähigkeit auch ihre Schattenseite hatte – selbst jetzt noch, da ich sie beherrschte. Ich nahm mir vor, sie in Zukunft nur dann einzusetzen, wenn ich sicher sein konnte, keinen Schaden damit anzurichten. Wie leicht konnten mir weitere Fehler unterlaufen – und jeder Fehler mochte für das betroffene Lebewesen tödliche Folgen nach sich ziehen. Mutiger wurde ich dagegen in Bezug auf mich selbst. Schon ein paarmal hatte ich kleinere Kratzer, die ich mir bei meiner Arbeit holte, beseitigt. Hartmann vom Silberstern ermutigte mich zu kühneren Experimenten und eines Tages war ich imstande, meine Körperform zu wechseln und zu verändern, meine Gliedmaßen umzuformen, ja, mich sogar in Dinge zu verwandeln, die normalerweise nicht lebendig waren: In einen Felsen, einen Kristall, ein Stück Metall und so weiter. Ich fragte mich damals nicht, welchen Nutzen das haben mochte – es machte mir einfach Spaß. Wenig später erklärte Hartmann vom Silberstern mein Training für abgeschlossen. Erst viel später erkannte ich, warum er trotz einiger Risiken so lange auf Crowhen geblieben war: Nur dort hatte ich Gelegenheit, meine Fähigkeit an Wesen zu erproben, die mir vertraut waren. Nachdem ich meinen angeblichen Dämon nun fest im Griff hatte, machte es mir nichts mehr aus, mich auch an fremdartigen Wesen und Substanzen zu versuchen.
Der Ritter und Verrin hatten mir ganz nebenbei, ohne daß ich es bemerkte, viele allgemeine Kenntnisse vermittelt, die weit über das Wissen meines Volkes hinausgingen. Ich wußte nun, was ein Planet und eine Sonne war, und so war ich mir schon vor dem Start darüber im klaren, was es bedeutete, wenn wir Crowhen nun verließen. Auch wußte ich längst, daß die Burg keine Burg war, auch wenn ich sie noch immer so nannte. Worauf ich allerdings nicht vorbereitet war, das war der Anblick, den der Planet aus großer Höhe bot. Ich sah zum erstenmal, daß die Hochflächen tatsächlich riesengroß waren – aber das konnte mich nicht überraschen. Viel erschreckender war die Erkenntnis, daß das Tiefland nur einen schmalen, grünen Saum zwischen den Rändern der Hochflächen und dem Meer bildete, so schmal, daß ich kaum glauben mochte, daß mein Volk auf so geringem Raum hatte leben können. Ich sah aber auch, das es damit nun so gut wie vorbei war: Überall standen Raumschiffe der Boʹoquiden inmitten schwarzgebrannter Flächen, und riesige Maschinen rissen den fruchtbaren Boden auf, um an die Erze und Mineralien heranzukommen. Wo sie weiterzogen, da blieb die nackte, zerwühlte Erde zurück, schutzlos der Sonne, dem Wind und dem Regen preisgegeben. »Werde ich später nach Crowhen zurückkehren?« fragte ich. »Das weiß ich nicht«, erklärte der Ritter ernst. »Vielleicht – später, wenn wir unseren Auftrag erfüllt haben.« Unseren Auftrag? Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß mich diese Formulierung sehr stolz machte. Sie bedeutete unter anderem, daß ich jetzt dazugehörte. Ich war eine Orbiterin. 6. Ich weiß nicht, wie Vergalo zu dem geworden ist, was er damals war, aber zweifellos hatte auch er seine Geschichte, und diese war
sicher sehr tragisch – zumindest konnte ich mir nicht vorstellen, daß irgendein Wesen mit solcher Machtgier und Boshaftigkeit auf eine andere als tragische Weise entstehen konnte. Niemand wußte, woher er gekommen war, und nicht einmal den Boʹoquiden war bekannt, welchem Volk er angehörte. Er war vor langer Zeit mit einem Raumschiff und etlichen Begleitern auf dem Planeten der Maschinenwesen gelandet. Das war geschehen, als die eigentlichen Schöpfer der Boʹoquiden bereits ausgestorben waren. Die arbeitswütigen Roboter, die sich der zentralen Objekte ihrer Geschäftigkeit beraubt sahen, nahmen die Landung der Fremden als einen Wink der Götter – falls sie jemals an Götter geglaubt hatten. Vergalos Begleiter gehörten verschiedenen Völkern an und waren allesamt nichts anderes als Sklaven, die keinen sehnlicheren Wunsch hegten, als ihrem ungeliebten Herrn zu entkommen. Die Boʹoquiden boten ihnen die Möglichkeit dazu, und die armen Kreaturen hatten nicht wissen können, worauf sie sich da einließen. Vergalo dagegen hatte das sicher schon nach kurzer Zeit erkannt, aber er sah keinen Anlaß, etwas dagegen zu unternehmen. Die Boʹoquiden in ihrer unbezähmbaren Arbeitswut stürzten sich mit Feuereifer auf die Aufgabe, ihre neuen Herren zu hegen und zu pflegen. Daß sie dabei zuviel des Guten taten, bemerkten sie nicht. Noch während sie ihre neuen Schützlinge buchstäblich zu Tode pflegten, begannen sie untereinander um sie zu streiten, denn angesichts der planetenumspannenden Robotzivilisation gab es entschieden zu wenig neue Herren, als daß jede Boʹoquiden‐Gruppe einen davon erhalten konnte. Nach kurzer Zeit waren die Boʹoquiden samt und sonders in mörderische Kriege verstrickt, und das war um so schlimmer, als ihre neuen Herren einer nach dem anderen das Zeitliche segnete. Als die Not der Roboter am größten war und sie einzusehen begannen, daß sie nach anderen Wegen suchen mußten, erschien Vergalo auf dem Schlachtfeld. Es fiel ihm leicht, die Boʹoquiden unter seinen Einfluß zu bringen. Sie errichteten für ihn einen
gewaltigen Palast auf einem anderen Planeten, der möglicherweise der Heimatwelt Vergalos ähnelte, und zogen aus, um all das zu rauben, was ihr Herr für kostbar hielt. Vergalo hatte eine Vorliebe für exotische Reize aller Art, und sein Palast ähnelte einem ungeheuren Museum mit zum Teil makabrem Inhalt. Hartmann vom Silberstern wußte, daß auch die Gefangenen dorthin gebracht wurden, da aber keiner von ihnen jemals entkommen war, hatte auch keiner berichten können, warum Vergalo so unendlich großen Bedarf an parapsychisch begabten Sklaven hatte. Immerhin gab es aber ein paar Anhaltspunkte. Verrin wußte zu berichten, daß Vergalo ein oft sehr widersprüchliches Verhalten an den Tag legte. Diese Zwiespältigkeit spiegelte sich auch in der körperlichen Beschaffenheit des Tyrannen: Er war ein Doppelwesen, dessen beide Hälften in ständigem Streit miteinander zu liegen schienen. Hartmann vom Silberstern vermutete, daß Vergalo sich mit Hilfe der Entführten von seiner »besseren Hälfte« zu befreien trachtete, denn dieses zweite, sehr viel sanftere Ich des Herrschers behinderte Vergalo, wenn es galt, seine Machtgier zu befriedigen. Der Ritter war fest entschlossen, die entgegengesetzte Lösung herbeizuführen. Wie ich erfuhr, hatte er schon verschiedene andere Wesen für diese Aufgabe zu trainieren versucht, war aber immer wieder gescheitert. Auf mich setzte er nun seine Hoffnungen, und ich war gewillt, mein Bestes zu geben. Dabei ging es mir damals allerdings nicht um den Sieg des Guten über das Böse. Ich trachtete vor allem danach, dem Ritter zu imponieren. Mein Bedürfnis nach Liebe und Verständnis war groß – ich hatte ja auch niemals genug davon bekommen. Allzu früh hatte das Schicksal mich meiner Eltern, Geschwister und Freunde beraubt. Die alte Höhlenfrau war ein schlechter Ersatz für eine Vardi‐Familie, die stets sehr umfangreich zu sein pflegte. Außerdem war ich kein Kind mehr. Ich sehnte mich nach einem Partner und nach der Geborgenheit, die ich bei ihm zu finden hoffte.
Als einziges Objekt meiner Sehnsucht kam Hartmann vom Silberstern in Betracht, aber zu meinem Leidwesen schien er, der sonst alles bemerkte und alles verstand, auf diesem Gebiet blind und taub zu sein. Vielleicht würde sich das ändern, wenn ich eine große, mutige Tat vollbrachte. Der Ritter hatte einen bestimmten Plan, um an Vergalo heranzukommen. Das war nämlich gar nicht so einfach, denn der Bursche war – wie alle Tyrannen – entsetzlich mißtrauisch. Verschiedene Völker hatten bereits versucht, Delegationen zu ihm zu entsenden und sich ihm zu unterwerfen, um den Boʹoquiden zu entgehen, aber man hatte sie nicht vorgelassen, sondern kurzerhand umgebracht. Es gab jedoch etwas, womit wir Vergalo hoffentlich erfolgreich an der Nase herumführen konnten: Das war seine unermeßliche Gier nach Schätzen. Es gab in dieser Galaxis einen äußerst gefährlichen Raumsektor, um den man seit jeher einen großen Bogen machte und über den man sich allerlei phantastische Geschichten erzählte. In dieser Gegend sollten einst die Laraben gehaust haben, ein Volk von verwegenen Piraten, die unermeßliche Schätze zusammengeraubt hatten. Diese Laraben fanden eines Tages einen weisen, alten Eremiten, der – so wollte es die Sage – das Geheimnis der Unsterblichkeit kannte. Das war eine zu große Versuchung für die Laraben. Unglückseligerweise stellte es sich jedoch heraus, daß die einst todesmutigen Piraten angesichts ihrer gerade erworbenen Unsterblichkeit zu rechten Feiglingen wurden, die jedem Kampf aus dem Wege gingen. Das sprach sich schnell herum, und prompt versuchten viele, nun umgekehrt die Laraben zu berauben, was denen verständlicherweise gar nicht gefiel. Sie packten ihre Siebensachen und zogen sich auf irgendeinen abgelegenen Planeten zurück, um dort endlich Ruhe und Frieden zu finden. Vorher legten sie allerdings ein ganzes System von Fallen an, die jedem potentiellen Schatzräuber zum Verhängnis wurden.
Vergalo kannte diese Sage und hielt sie für glaubhaft genug, um mehrere Boʹoquiden‐Schiffe für die Suche nach dem Planeten Larab zu opfern. Keines von ihnen war je zurückgekehrt – aber Verrin hatte sich einst auf einem davon befunden. Dieses Schiff war auf unerklärliche Weise zerstört worden. Verrin war der einzige Boʹoquide, der die Katastrophe überstanden hatte – nicht ganz unversehrt, wie man der Tatsache entnehmen kann, daß er sich danach dem Ritter der Tiefe angeschlossen hatte. Verrin hatte als Boʹoquide die besten Chancen, zu Vergalo vorzudringen, und wäre es nach ihm gegangen, so hätte er diesen Umstand schon vor einiger Zeit konsequent ausgenutzt. Sein Plan war simpel: Den Boʹoquiden ein paar Andeutungen über Larab zu machen, sich vor den Tyrannen schleppen zu lassen und zuschlagen. Verrin war zwar darauf bedacht, seine Existenz noch für eine Weile zu erhalten, aber in diesem Fall hätte er sich bedenkenlos geopfert. Leider war Hartmann vom Silberstern solchen Gedanken strikt abgeneigt. Ich weiß nicht, warum er so unerschütterlich darauf bestand, daß man Vergalo mit sanfteren Mitteln zu Leibe rücken müsse – vielleicht wußte er etwas über dieses Wesen, was Verrin und mir ein Geheimnis blieb. Wie dem auch sei – er bestand darauf, und wir mußten uns ihm fügen. Die Geschichte, die er sich ausgedacht hatte, war sehr kompliziert und in meinen Augen nicht sehr glaubwürdig. Sie lief darauf hinaus, daß ich die letzte Überlebende aus dem Volk der Laraben war, die sich noch in diesem Raumsektor aufhielt. Irgendwo, in einer weit entfernten Gegend, hatte mein Volk Unterschlupf gefunden, und ich war es müde, über die Schätze zu wachen. Also trachtete ich danach, die unbequeme Aufgabe loszuwerden und meinem Volk zu folgen. Dieses hätte mich jedoch sicher nicht mit offenen Armen empfangen, wenn ich Larab einfach im Stich gelassen hätte. Ich mußte zuerst einen neuen Wächter einsetzen, und laut Hartmann vom Silberstern war ich ausgerechnet auf
Vergalo verfallen. Wäre ich wirklich eine Larabin gewesen, so hätte ich wohl kaum etwas Dümmeres tun können, und das sagte ich dem Ritter auch. Aber der lachte nur und sagte: »Die Laraben waren Räuber und Sammler, und wahrscheinlich waren sie auch ziemlich verrückt – genauso verrückt wie unser jetziger Gegner. Vergalos Denkweise ist der der Laraben sehr ähnlich, und darum wird mein Plan funktionieren.« »Aber es ist doch idiotisch, einem Räuber wie ihm einen solchen Schatz anzubieten!« »Im Gegenteil, es ist absolut logisch. Sieh mal, die Laraben hatten den Ehrgeiz, eine möglichst große und vollständige Sammlung der größten Kostbarkeiten auszubauen, und daß sie ihren Planeten selbst nach ihrem Rückzug vor Plünderern schützten, beweist, daß sie diesen Schatz beisammenhalten wollten. Er sollte nicht auseinandergerissen und auf alle möglichen Planeten zerstreut werden. Das aber wird unweigerlich geschehen, sobald du deinen Wächterposten aufgibst. Vergalo ist mächtig – er ist eine zuverlässige Garantie dafür, daß der Schatz zwar den Besitzer wechselt, dabei aber nicht aufgeteilt wird.« »Was nützt das den Laraben?« fragte ich verständnislos. »Den Schatz sind sie so oder so los. Vergalo wird ihn nie wieder herausrücken.« Hartmann vom Silberstern seufzte und verbrachte Stunden damit, nur die Mentalität leidenschaftlicher Sammler zu erklären. Schließlich kam er auf das Beispiel, das mir einleuchtete – auch einen Tempelschatz teilt man nicht aus, nicht einmal dann, wenn der Tempel zerstört und sein Standort für immer entweiht ist. Natürlich hatte der Schatz der Laraben keine irgendwie religiöse Bedeutung, aber ich begann, den Plan des Ritters zu begreifen, und das war wichtig. Schließlich war ich diejenige, die Vergalo diesen blühenden Unsinn verkaufen mußte. Verrin hatte den noch immer treuen, wenn auch infolge seines Schicksals etwas verdrehten
Boʹoquiden zu spielen, der die Verbindung zwischen mir und Vergalo hergestellt beziehungsweise mich auf diese haarsträubende Idee gebracht hatte. Hartmann vom Silberstern dagegen war ein etwas vertrottelter Abenteurer, der mich nach dem erfolgreich abgeschlossenen Handel zu meinem Volk bringen wollte – aus nicht gerade eigennützigen Motiven, denn sonst hätte Vergalo sicher sofort Verdacht geschöpft. Wenn Hartmann vom Silberstern recht behielt und diesen Tyrannen treffend beurteilte, dann hatten offenbar nur Schurken und Ganoven eine Chance, mit ihm ins Einvernehmen zu kommen. So weit, so gut – die SILBERSTERN verließ Crowhen, ohne daß die Boʹoquiden etwas davon merkten, und dann nahmen wir Kurs auf ein Gewimmel von Sternen, in dem sich auch der Rest unserer Spur verlieren mußte. Als wir – aus einer ganz anderen Richtung – zurückkehrten, glich das Schiff einer überdimensionalen Schatztruhe. Die Leichtigkeit, mit der der Ritter diese Kostbarkeiten auf den verschiedensten Planeten aufgespürt hatte, verleitete mich zu der Ansicht, daß Vergalo noch viel verrückter war, als wir alle glaubten: Es schien mir sehr leicht zu sein, einen solchen Schatz zusammenzutragen. Erst viel später begriff ich, daß Hartmann vom Silberstern über Kenntnisse verfügte, die einem Vergalo sicher nicht zu Gebote standen. Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß unser Gegner von parapsychisch begabten Wesen aller Art umgeben war, ließ der Ritter es nicht dabei bewenden, daß wir unsere Rollen nur einstudierten. Ich hatte mein Aussehen so grundlegend geändert, daß niemand mehr in mir eine Vardi vermutet hätte. Darüber hinaus mußte ich eine uralte Sprache lernen, die nur noch ein paar Forschern bekannt war, und ich benutzte sie so ausschließlich, daß ich sogar in ihr zu träumen begann. Der Ritter dagegen ließ sein Äußeres verwildern, bis er tatsächlich wie ein heruntergekommener Abenteurer aussah, und Verrin verwandelte die schmucke SILBERSTERN in ein vom Alter und unzähligen Kämpfen
gezeichnetes Schiff, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Bei all dem begann ich mich allmählich als wirkliche Larabin zu fühlen. Ich trug die ungewohnte, fremdartige Kleidung, als hätte ich nie etwas anderes gekannt, bediente mich selbst bei Tisch dieser alten Sprache und behandelte Verrin und den Ritter mit jener herablassenden Arroganz, die mir als dem Mitglied einer alten, überlegenen Rasse zukam. Als wir auf die ersten Boʹoquiden stießen, war ich nicht mehr Anima, die Vardin, sondern Broga aus dem edlen Geschlecht derer von den Blumenbergen. Ich hatte eine verzwickte Familiengeschichte samt den der Glaubwürdigkeit wegen erforderlichen Widersprüchen und Gedächtnislücken im Kopf, und ich konnte endlos melancholische Erzählungen über das einsame und langweilige Leben der letzten Wächterin von Larab zum Besten geben. Völlig vergessen hatte ich meine eigene Geschichte, ja, sogar jene Fähigkeit, um deretwegen Hartmann vom Silberstern mir diese Rolle beigebracht hatte. Wenn alles gutging, würde ich mich im richtigen Augenblick daran erinnern – aber bis dahin sollte noch einige Zeit vergehen. Die Boʹoquiden brachten die SILBERSTERN auf, und da sie einen der Ihren darin vorfanden, verzichteten sie darauf, uns die Kehlen durchzuschneiden. Wenig später waren wir bereits auf dem Weg zu Vergalo, und endlich lernten wir dessen Planeten kennen, von dem Verrin uns nur das hatte berichten können, was er von anderen Boʹoquiden gehört hatte. Das erste deutliche Symptom für den Größenwahn unseres Gegners bestand in der Tatsache, daß er dem Planeten seinen eigenen Namen verliehen hatte. Ursprünglich war der Planet Vergalo vermutlich eine recht nette Welt gewesen, ein bißchen zu warm für seinen Geschmack, wie der Ritter bemerkte, aber mit recht ausgeglichenem Klima und einer überreichen Natur. Selbst jetzt waren die Kontinente noch zum größten Teil mit Wäldern und weiten Savannen bedeckt, in denen es von Tieren nur so wimmelte. Wo sich allerdings Vergalo und seine Gefolgschaft niedergelassen
hatten, da waren die Tiere ausgerottet und die natürliche Landschaft vernichtet. Vergalos Palast war ein so gigantisches Gebäude, daß ich selbst in meiner Rolle als Larabin ins Staunen kam, und die von ihm aufgehäuften Schätze überstiegen mein Fassungsvermögen. Ich fing mich zum Glück schnell. Larab hatte weit mehr Reichtum zu bieten, nur war dort nicht alles so konzentriert an einem Ort versammelt. Man ließ uns genug Zeit, um uns umzusehen – und uns zu belauschen. Offenbar traute man uns nicht. Überall im Palast und den weitläufigen Parkanlagen trafen wir auf die Entführten, viele von ihnen die letzten lebenden Vertreter ihrer Völker und alle miteinander darauf erpicht, uns auszuhorchen und zu einem Fehler zu verleiten. Es waren auch Vardis darunter, aber keiner von ihnen erkannte in mir eine Artgenossin. Es war nicht recht ersichtlich, was diese Wesen eigentlich zu tun hatten. Sie schienen tagein, tagaus tatenlos herumzulungern oder neckische Spielchen zu betreiben, wenn sie nicht gerade einen Fremden zu bespitzeln hatten. Keiner von ihnen schien seine Heimat zu vermissen – wahrscheinlich hatte man ihnen ihre Erinnerung genommen. Sie waren Vergalo treu ergeben. Wie treu, das erfuhren wir schon am ersten Abend, denn sie veranstalteten in einer Art Arena vor dem Palast ein Turnier, bei dem es nicht gerade friedlich zu ging. Niemanden schien es zu kümmern, daß Vergalo diesem Schauspiel nicht beizuwohnen geruhte. Je länger wir uns im Palast aufhielten, desto gespenstischer erschien uns diese Umgebung. Wohin auch immer wir uns wendeten; stets waren einige von Vergalos Gefangenen in unserer Nähe, unauffällig, lautlos, von einer unnatürlichen, beständigen Wachsamkeit erfüllt, unermüdlich. Aber keiner von ihnen sprach uns an, ja, sie schienen auch untereinander nicht zu sprechen. Sie kamen uns nie zu nahe, hielten Abstand, ließen uns jedoch nicht alleine. Wenn wir schliefen, kauerten einige von ihnen vor den Türen und Fenstern. Nie ertappten wir einen dabei, daß er eine
Pause einlegte und seinen privaten Bedürfnissen nachging, nie wurden wir Zeuge einer Ablösung, obwohl unsere Bewacher sehr häufig wechselten. Wer zu müde war, uns zu folgen, schien sich regelrecht in Luft aufzulösen, und an seiner Stelle schien – ebenfalls aus dem Nichts – eine andere Gestalt zu materialisieren. Nachts, wenn blitzende Lichterketten den Park durchzogen und unheimliche Schatten zwischen den Hecken nisteten, vernahmen wir des öfteren die gedämpften Stimmen der Boʹoquiden, die umhergingen und für Ordnung und Sauberkeit sorgten. Dann summten Fahrzeuge, über die Wege, und die Maschinenwesen riefen sich Anweisungen und Befehle zu. Als Verrin versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ließen sie ihn unbeachtet stehen. Eines Tages, als mir diese seltsame Atmosphäre auf die Nerven ging, verließ ich den Palast und wanderte weit in den Park hinein, von dem Wunsch getrieben, einen Blick über die Grenzen auf die draußen noch existierende, unverfälschte Natur zu werfen, aber obwohl ich schnell ausschritt und sehr lange unterwegs war, erreichte ich mein Ziel nicht. Ich verbrachte die Nacht im Schutz eines Baumes, wie immer von diesen lautlosen, schattenhaften Fremden bewacht. Als ich am Morgen erwachte, war ein Boʹoquiden‐Gleiter zur Stelle. Niemand stellte Fragen, keines der Maschinenwesen machte mir Vorwürfe. Als ich aus purem Trotz das Fahrzeug ignorierte und in der einmal eingeschlagenen Richtung weiterging, folgten mir die Boʹoquiden in weitem Abstand, als wollten sie andeuten: »Lauf dir nur die Füße krumm, wenn dir das Spaß macht. Wenn du genug davon hast, wirst du schon auf unser Angebot zurückkommen.« Was ich denn auch nach einiger Zeit tat, denn ich fand weder Wasser noch Nahrung, und der Rückweg war erschreckend lang. Natürlich versuchten wir mehrmals, zu Vergalo vorzudringen. Er hauste im Zentrum seines Palasts, und eine Boʹoquiden‐Truppe bewachte ihn bei Tag und Nacht. Ich wurde allerdings das Gefühl nicht los, daß die Maschinenwesen nur unseretwegen dort
aufmarschiert waren, denn keiner der Gefangenen schien auch nur das geringste Interesse daran zu haben, gegen Vergalo etwas zu unternehmen. Allmählich wurden wir es leid, zu warten. Selbst in meiner Rolle als Larabin, die an eine sehr lange Zeit des Wartens gewöhnt war, packte mich eine seltsame Unruhe, und der Wunsch, diesen gespenstischen Park schleunigst zu verlassen, wurde immer drängender. Wir hörten auf, die Wesen um uns herum als Gefangene zu bezeichnen, denn wir waren uns nicht mehr sicher, ob sie das überhaupt waren. Wir nannten sie die Schatten – das erschien uns als passender. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß es sie in Wirklichkeit gar nicht gab. Vielleicht waren sie nichts weiter als Projektionen, die Vergalo auf irgendeine Weise erzeugte. Ich gewöhnte mir an, mich des öfteren plötzlich und sehr schnell umzudrehen, aber entweder waren die Schatten nicht das, wofür ich sie hielt, oder Vergalo war noch viel schneller als ich. Schließlich versuchte ich sogar, Verrin zu einem Attentat auf unsere Beobachter zu animieren – er war der einzige von uns, der so etwas wie eine Waffe besaß. Aber Hartmann vom Silberstern kam mir auf die Schliche, und so wurde nichts aus diesem Versuch. Ich fand das bedauerlich. Ich hätte zu gern gewußt, ob diese Schatten aus Fleisch und Blut waren, und als Larabin erschien es mir als eine gute Idee, dies mit Hilfe einiger wohlgezielter Schüsse festzustellen. Die Behauptung des Ritters, daß Vergalo seine Projektionen – falls es welche waren – sicher auch sterben lassen könne, fand ich nicht sehr stichhaltig. Als ich bereits befürchtete, vor lauter Ungeduld binnen kürzester Zeit platzen zu müssen, erschien endlich ein Boʹoquide bei uns und forderte uns auf, ihn zu Vergalo zu begleiten. Das kam so prompt und überraschend, daß ich mich fragte, ob es nicht vielleicht nur eine Reaktion auf meinen Gemütszustand darstellte, und ich ärgerte mich darüber, daß ich meine Ungeduld nicht schon viel früher offen gezeigt hatte. Da ich mich für die Hauptfigur in diesem Spiel hielt,
kam ich erst gar nicht auf den Gedanken, die Veränderungen dem Verhalten meiner Begleiter zuzuschreiben. Der Boʹoquide führte uns in das Innere des Palasts, und wir mußten abermals warten. Diesmal ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. Ich zankte mit Verrin herum, hielt ihm vor, mich bei seinem Herrn nicht in der richtigen Weise angemeldet zu haben, und ich schimpfte mit dem Ritter, dem ich vorwarf, daß er mich besser gleich zu meinem Volk hätte bringen sollen. Auf Vergalo schien das alles herzlich wenig Eindruck zu machen, denn er rührte sich nicht. Nachdem wir stundenlang ohne Speise und Trank in einem prächtigen Saal herumgesessen hatten, kam wiederum ein Boʹoquide, aber diesmal befahl er, daß nur ich ihm zu folgen hatte. Das paßte mir gar nicht, aber mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Es fiel mir auf, daß der Boʹoquide verschiedene Umwege machte, als wolle er Zeit gewinnen. Das verärgerte mich zusätzlich, und ich betrat Vergalos Gemächer in sehr düsterer Stimmung. Dort erfuhr ich sogleich, wozu man Zeit hatte gewinnen müssen. Vor Vergalos Thron lag ein in seine Einzelteile zerlegter Boʹoquide. Um wen es sich dabei handelte, brauchte man mir nicht lange zu erklären. Ich sah Hartmann vom Silberstern, den man an eine Säule gefesselt hatte, und jede Hoffnung, daß wir ungeschoren aus Vergalos Palast herauskommen könnten, brach in mir zusammen. 7. Vergalo sah wie eine gewaltige Qualle aus, die gerade im Begriff war, sich zu teilen. Allerdings mußten die beiden Einzelwesen, die bei seiner Teilung herauskamen, von unterschiedlicher Größe sein. Der kleinere Teil würde darüber hinaus dem anderen an Kraft und Aktivität unterlegen sein. Im Thronsaal gab es ein paar Dutzend Boʹoquiden, alle schwer bewaffnet, sowie eine kleine Schar von Schatten, die lautlos über die
dämmrigen Galerien glitten. Der Raum war nur um Vergalo herum hell erleuchtet. Im Hintergrund verloren sich breite Treppen und Arkaden in der Finsternis. Es war auffallend still. Selbst die Schritte der Boʹoquiden klangen gedämpft. Zögernd folgte ich dem Wink des Boʹoquiden, näher an Vergalos Thron heranzutreten. Ich hatte deutlicher als je zuvor das Gefühl, in eine gespenstische Falle geraten zu sein, und ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich den Ritter und mich hier herausbringen sollte. Was Verrin betraf, so hatte ich ohnehin keine Illusionen: Selbst wenn es uns gelang, ihn wieder zusammenzusetzen, würde er nie wieder der alte sein. »Komm näher, damit ich dich betrachten kann, Broga von den Blumenbergen!« War das Vergalo, der da sprach? Es mußte wohl so sein, denn die gewaltige Masse regte sich. Aber die Stimme kam aus allen möglichen Richtungen zugleich, und sie paßte nicht zu diesem grausamen Tyrannen – sie war schwach und zart und erinnerte an das melodische Geklingel von winziger Glocken. »Du bist doch Broga von den Blumenbergen?« Ich riß mich zusammen und baute mich vor der Riesenqualle auf. »Das bin ich allerdings«, gab ich zurück, und ich benutzte die alte Sprache, obwohl Vergalo mich in der Sprache der Boʹoquiden angesprochen hatte. »Was soll das? Gib meinen Begleiter frei und sorge dafür, daß Verrin in seiner alten Form zu mir zurückkehrt!« »Die Sprache, der du dich bedienst, ist sehr alt«, wisperte und klingelte der Tyrann. »Wer hat sie dich gelehrt? War es der, der dort an der Säule steht?« Als er diese Frage stellte, wußte ich nicht, daß er auf der richtigen Spur war. Ich war Broga, und als diese reagierte ich ziemlich heftig. »Ich bin hierhergekommen, um dir einen Handel anzubieten, Vergalo«, sagte ich wütend. »Ich hatte von Anfang an das Gefühl, daß mit Verrin etwas nicht stimmte. Hätte ich nur gleich auf dieses Gefühl gehört! Aber gut, ich weiß jetzt, daß ich einen Fehler
gemacht habe. Ich werde meinen Begleiter losbinden und deinen Palast verlassen.« »Und wen willst du zum Wächter über Larab machen?« »Das geht dich nichts an.« Ich war so aufgebracht, daß ich nicht auf die Boʹoquiden achtete, und auch die Schatten waren mir jetzt gleichgültig. Ich ging zu Hartmann vom Silberstern, fest entschlossen, meine Drohung in die Tat umzusetzen. Aber plötzlich waren zwei Boʹoquiden hinter mir und hielten mich an den Armen fest, und ein paar Schatten bauten sich zwischen mir und dem Ritter auf. »Langsam«, wisperte Vergalo. »Immer eines nach dem anderen, Wächterin von Larab. Dir und deinem Begleiter wird nichts geschehen, aber ich kann es auch nicht zulassen, daß ihr einfach wieder davonfliegt. Ich lade euch ein, meine Gäste zu sein.« »Das waren wir lange genug, und es hat uns nicht gefallen. Sage diesen Kreaturen, daß sie ihre metallenen Pfoten von mir nehmen sollen!« »Das werden sie tun, sobald du dich beruhigt hast. Sieh hin – dein Begleiter ist bereits frei und kann gehen, wohin es ihm beliebt – außer zu seinem Raumschiff, aber das versteht sich wohl von selbst. Erlaube mir, daß ich ein Fest zu deinen Ehren gebe.« »Ich erlaube gar nichts!« fauchte ich wütend, aber noch während ich versuchte, mich den beiden Boʹoquiden zu entwinden, erklang Musik, und von allen Seiten strömten Vergalos Schatten in den Saal. Ich sah Hartmann vom Silberstern, der auf mich zukam, sich die Handgelenke rieb und beruhigend lächelte, und meine Wut verrauchte. Der Ritter hatte mich zwar erfolgreich in Broga verwandeln können, aber an meiner Liebe zu ihm hatte sich dadurch nichts geändert. Leider war er Broga gegenüber ebenfalls sehr zurückhaltend. Vielleicht änderte sich das während dieses Festes und außerdem: Was hätte ich tun sollen? Ich konnte nur versuchen, doch noch mit dem Tyrannen ins Geschäft zu kommen. Gegen seinen Willen konnte ich den Planeten auf keinen Fall
verlassen. Was immer die Schatten auch darstellen mochten: Man konnte sie anfassen, und auch sonst wirkten sie sehr materiell. Jetzt waren sie auch nicht länger so gespenstisch still, sondern sie lachten, riefen und sangen, und wenn ihre Stimmen auch oft recht seltsam klangen, so erweckten sie doch einen sehr lebendigen Eindruck. Dennoch schien mir die Situation als seltsam, und manchmal hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, in einem merkwürdigen Traum gefangen zu sein. Zweifellos erfüllte dieses Fest einen bestimmten Zweck, und ich blieb mir dieser Tatsache bewußt, ebenso des Umstandes, daß Vergalo das Zentrum all dieser Aktivitäten darstellte. Der Saal war jetzt hell erleuchtet. Auf allen Treppen, Baikonen und Galerien herrschte lebhaftes Gedränge, überall wurde getanzt, gewaltige Platten mit Speisen und Getränken schwebten umher, und doch war da etwas, das mich störte. Ich kam lange Zeit nicht dahinter. Nur durch einen Zufall begriff ich endlich: Ich sah Vergalo an, wurde mir seiner Fremdartigkeit bewußt und dachte daran, über wie viele Völker er bereits Tod und Verderben gebracht hatte. Es waren Völker darunter gewesen, die ihm an Fremdartigkeit in nichts nachstanden. Dennoch gab es hier im Saal ausschließlich Wesen, deren Beschaffenheit und Aussehen dem der Laraben in etwa entsprach. Offenbar konnte Vergalo es sich nicht verkneifen, mich nochmals auf die Probe zu stellen – wahrscheinlich lauerte er auf den Augenblick, in dem ich mich angesichts eines Artgenossen verriet. Aber natürlich war kein Larabe unter den »Gästen«, und den wenigen Vardis, denen ich begegnete, brachte ich nichts als Gleichgültigkeit entgegen. Anders war es da schon, wenn es um Hartmann vom Silberstern ging. Zu meiner Überraschung schien der Ritter das Fest in vollen Zügen zu genießen. Er tanzte, trank, lachte und flirtete – allerdings nicht mit mir, und Broga von den Blumenbergen fand das gar nicht
lustig. Anfangs widmete ich mich dem reichhaltigen Angebot an männlichen Wesen, dann aber verlor ich die Geduld und stellte ihn zur Rede. »Hast du vergessen, wo wir sind?« fauchte ich ihn im Schutz einer Balustrade und eines schwerbeladenen schwebenden Tisches an. »Was hast du mit all diesen Fremden zu schaffen? Halte dich an mich, denn wenn wir getrennt werden, ergeht es dir noch wie Verrin!« »Oh, ich glaube, unser guter Verrin ist wohlauf«, behauptete er. »So sah er eigentlich nicht aus!« »Wieso bist du dir so sicher, daß die Einzelteile zu Verrin gehörten? Man hat ihn kurz nach dir hinausgeführt. Hast du gesehen, wie man ihn zerlegt hat?« Das hatte ich allerdings nicht. »Na siehst du. Man wollte dir nur einen Schrecken einjagen. Wenn dieses Fest vorüber ist, wird Vergalo mit dir verhandeln, und spätestens bei unserem Abschied wird Verrin wieder vor uns stehen.« Ich war davon überzeugt, daß das stimmte, aber andererseits … Verrin war nicht damit geholfen, wenn ich mich darauf versteifte, Trübsal zu blasen und das Fest an mir vorbeirauschen zu lassen. Hartmann vom Silberstern wirkte aufgeschlossener und zugänglicher als je zuvor. Als die Musik noch ein bißchen lauter und fröhlicher wurde, faßte er mich plötzlich bei den Schultern und wirbelte mit mir auf die Tanzfläche hinaus. Ich vergaß Verrin und vieles andere. Eines mußte man Vergalo lassen: Er verstand es, Feste zu feiern. Wenn man bedachte, wie es sonst hier zuzugehen pflegte, dann war das eigentlich erstaunlich, aber das änderte nichts daran, daß wir alle uns prächtig amüsierten, meinen Begleiter nicht ausgenommen. Irgendwann, als mir der viele Wein bereits zu Kopfe gestiegen war, traten wir gemeinsam durch eine Seitentür auf einen dunklen Balkon hinaus. Unter uns ragten die unzähligen Kuppeln und
Türme aus der Dunkelheit herauf, und der Park mit seinen Lichterketten sah zauberhaft aus. Ich war bereit, dies alles nicht länger für einen verrückten Traum, sondern für Wirklichkeit zu halten – bis Hartmann vom Silberstern mich plötzlich an sich drückte und mir so leise, daß selbst der beste Spion ihn nicht verstehen konnte, zuflüsterte: »Jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen. Laß uns sehen, daß wir von hier verschwinden!« »Wie meinst du das?« fragte ich verblüfft. »Hast du denn unseren Plan vergessen? Vergalo ist beschäftigt, und die Wachen sind abgelenkt. Ich habe einen Weg ausgekundschaftet. Wenn wir uns beeilen, sind wir auf und davon, ehe irgend jemand etwas merkt. Komm!« »Und mein Handel, was wird aus dem?« »Vergiß doch dieses Märchen. Glaubst du jetzt etwa selbst schon daran?« Ich war immer noch Broga, aber etwas rührte sich in meinen Gedanken. Ich war mir nicht der Wahrheit bewußt, aber ich wußte, daß etwas nicht stimmte. »Warum willst du fliehen?« fragte ich mißtrauisch. »Gerade jetzt, wo alles so gut zu laufen scheint.« »Weil es die einzige Chance ist, die Vergalo uns lassen wird. Er wird diesen ganzen Schwindel noch schnell genug durchschauen. Du hast doch gesehen, was in dieser verdammten Arena passiert. Wir werden beide dort enden, wenn du keine Vernunft annimmst.« Ich stieß ihn von mir und rannte davon, geradewegs in den Saal hinein, diese billige Imitation Hartmann vom Silberstern auf meinen Fersen. Auf der anderen Seite der Tür herrschte hektisches Treiben. Die Musik war nervenzerfetzend, grelle Lichteffekte verwandelten den Thronsaal in eine glitzernde Hölle, und Vergalos Schatten tanzten, als hätten sie in ihrem ganzen Leben nur noch dieses eine Mal dazu Gelegenheit. Der falsche Ritter erreichte mich, packte meinen Arm und versuchte, mich nach draußen zu zerren. Ich riß mich los und rannte
in Richtung von Vergalos Thron. Nie zuvor in meinem ganzen Leben war ich so wütend gewesen – und so verzweifelt. Als sich mir die ersten Schatten in den Weg stellten, stieß ich sie einfach beiseite. Sie fielen um wie Kegel, und noch im Fallen lösten sie sich auf. Vor mir entstand eine Gasse, durch die ich rannte, und vor mir erstrahlte Vergalos Thron in allen Farben des Regenbogens. Verschwommen nahm ich wahr, daß die hellen Lichter im Hintergrund verloschen und die Schatten verschwanden. Dann wurde es still, und ich stand keuchend vor dem Tyrannen, den falschen Hartmann vom Silberstern beobachtend, der noch immer an der Tür auf mich wartete und mir beschwörend winkte. Für einen Augenblick wurde ich unsicher, aber dann blickte ich auf Vergalo, und ich wußte, daß ich auf einen schmutzigen Trick hereingefallen war. »Gib mir meinen Begleiter zurück!« forderte ich. »Er steht dort drüben und winkt dir«, erwiderte Vergalo. »Ich weiß nicht, was dort steht, aber mein Begleiter ist es nicht.« »Sehr bedauerlich«, behauptete Vergalo. »Ich hatte gehofft, daß du auf mein kleines Spiel eingehen würdest. Es ist nämlich sehr schade um dich. Ich hätte dich gut gebrauchen können. Deine Fähigkeiten sind beachtenswert.« »Du wirst nie erfahren, wie du an die Schätze der Laraben herankommst …« »Du irrst dich. Ich werde diese Welt finden – irgendwann. Aber nicht durch dich. Du kennst seine Position nicht. Von welchem Volk stammst du?« Ich glaubte, den Verstand verlieren zu müssen. Der richtige Augenblick war noch immer nicht gekommen, Vergalo saß nach wie vor unter einer Schutzglocke, die ich nicht durchdringen konnte, und darum erinnerte ich mich nicht an Anima vom Volk der Vardis. Ich war Broga, und dieses unmögliche Geschöpf, dem ich den größten Schatz dieser Galaxis hatte anbieten wollen, behauptete, ich würde meine eigene Heimat nicht kennen! »Ich habe nichts mehr mit dir zu besprechen«, erklärte ich völlig
entnervt. »Mach mit dieser billigen Imitation, was immer dir beliebt, gib mir den echten Hartmann vom Silberstern zurück und dann laß uns gehen. Ich werde mir einen anderen Wächter suchen.« »Es ist wirklich schade«, wisperte und kungelte die Stimme des Tyrannen. »Aber vielleicht kommst du zur Vernunft, wenn du eine Weile in Ruhe darüber nachdenken kannst.« Zwei Boʹoquiden führten mich hinaus und durch die langen, prächtigen Korridore, dann sperrten sie mich in einen hellen, komfortabel ausgestatteten Raum. Ich untersuchte die Tür und das Fenster und fand sie verschlossen. * Diesmal machte Vergalo einen Fehler: Es ließ mich zu lange in meiner luxuriösen Zelle. Dadurch hatte ich Zeit, über alles in Ruhe nachzudenken. Zwar wußte ich immer noch nicht, welchen Sinn unser Vorgehen in Wirklichkeit erfüllen sollte, aber ich fand dennoch einen plausiblen Grund für das Verwirrspiel: Vergalo hielt uns für Betrüger, die gekommen waren, um seine Schätze zu rauben – oder doch zumindest einen kleinen Teil davon. Da wir meiner Meinung nach nichts zu verbergen hatten, uns also auch nicht verraten konnten, brauchte ich weiter nichts zu tun, als bei meiner Geschichte zu bleiben. Er würde versuchen, mir Angst einzujagen, aber wenn er damit nichts erreichte, mußte er ja wohl irgendwann Vernunft annehmen. Die Frage war nur, wie lange das noch dauern mochte. Als man mich das nächstemal zu Vergalo brachte, war ich auf so ziemlich alles vorbereitet – nur nicht auf das, was dann wirklich passierte. Die Wachen öffneten eine Tür, man schob mich hindurch, und ehe ich noch etwas Böses ahnte, streifte etwas Kaltes meine Beine, und ich stürzte zu Boden.
Ich begriff vorerst nur eines: Im Thronsaal war ich nicht. Der Raum, in dem ich mich befand, war nicht sehr groß und fast dunkel. Es gab zwei Türen – die, durch die ich hereingestolpert war und eine auf der gegenüberliegenden Seite – sowie ein Oberlicht, das jedoch zu klein und zu schmutzig war, um genügend Licht hereinzulassen. Dennoch reichte die Beleuchtung aus, um mir die beiden Gitter an den Seitenwänden zu zeigen. Ich spähte hindurch und erkannte einige von Vergalos Schatten – verhärmte, bleiche Gestalten, die meisten verstümmelt und entstellt. »Was soll ich hier?« fragte ich laut, und zu meinem Zorn ob dieser wenig standesgemäßen Behandlung gesellte sich Furcht. Meine Beine fühlten sich seltsam an. Sie waren nicht gelähmt, und sie schmerzten auch nicht, aber sie gehorchten mir nur sehr zögernd. Ich mußte sehr langsam gehen und auf jeden einzelnen Schritt achten, sonst fiel ich unweigerlich hin. Auf meine Frage hin bekam ich Antwort von jenseits der Gitter. »Es ist sinnlos, Broga. Wir haben verloren.« Ich schleppte mich zu der betreffenden Stelle und erblickte Hartmann vom Silberstern, der auf dem schmutzigen Boden lag, zu geschwächt, um sich zu erheben. »Er hat uns durchschaut, oder wenigstens bildet er sich das ein«, fuhr der Ritter fort. »Sage ihm, was immer er von dir hören will. Setze dich nicht länger zur Wehr. Sorge dafür, daß dies hier endlich ein Ende hat!« Natürlich konnte auch das nicht der richtige Ritter sein, aber solange ich nicht aus meiner Rolle herausgerissen wurde, konnte ich das nicht wissen. »Ich werde dafür sorgen«, versprach ich, und mir war heiß vor Wut. »Ich werde ihn für alles büßen lassen, was er dir angetan hat. Hätte ich nur nicht auf Verrin gehört!« »Es ist zu spät, sich darüber aufzuregen.« »Das weiß ich selbst. Er muß den Verstand verloren haben. Wie kann er es wagen, so mit der letzten Wächterin des Laraben
umzugehen!« »Er wagt noch viel mehr«, behauptete eine düstere Stimme, und ich drehte mich um – zu schnell, wie ich gleich darauf spürte, denn ich stürzte zu Boden. Die Stimmen kommentierten den Vorgang mit einem häßlichen Kichern. Ich sah in die betreffende Richtung und beobachtete erschrocken, wie sich etwas in der düsteren Ecke zu regen begann, etwas, das hager und dunkel war, bis es sich unter das Oberlicht schob. »Dies ist mein Reich«, sagte der Fremde – ich konnte sein Gesicht nicht sehen, weil er es unter einer weiten Kapuze verbarg, aber eine Schönheit war er sicher nicht. »Wer bist du?« fragte ich, während ich mich vorsichtig wieder aufrichtete. »Vergalos Kerkermeister«, erwiderte der Fremde. Unter den dunklen Tüchern bewegte sich etwas. Eine eiskalte Fessel legte sich um meine Beine, und ich stürzte erneut zu Boden. Ich war nicht so dumm, abermals aufzustehen – diesen Spaß wollte ich dem Fremden versalzen. Aber der kicherte nur und kam näher, und im nächsten Augenblick rollte ich über den Boden und holte mir dabei etliche Beulen und Abschürfungen zu meinen bisherigen Blessuren dazu. »Vergalo wird nie erfahren, wo Larab liegt«, schrie ich wütend. »Er muß verrückt sein, wenn er sich einbildet, solche Methoden auf mich anwenden zu können.« Der Fremde hielt inne, und ich blieb auf dem Rücken liegen, fest entschlossen, mich nicht von der Stelle zu rühren. Er beugte sich über mich, und in der spärlichen Beleuchtung sah ich undeutlich eine große, krumme Nase unter der Kapuze – es konnte aber auch ein Schnabel sein. »Man sagt, daß die Laraben sehr tapfere Leute waren«, murmelte der Fremde. »Mir scheint, das stimmt nicht ganz. Vergalo wird die Position deines Heimatplaneten sehr bald erfahren – falls du wirklich eine Larabin bist, was für mich noch nicht feststeht. Glaube
mir, schon in wenigen Stunden wird es dir eine Freude sein, alles zu sagen, wonach ich dich frage.« Ich wußte, daß er recht hatte, denn ich fühlte mich schon jetzt wie zerschlagen, und plötzlich verwandelte sich meine Wut in ohnmächtige Verzweiflung. »Warum tut er das?« fragte ich entmutigt. »Ich kam freiwillig hierher, ohne Waffen. Den größten Schatz der Galaxis wollte ich ihm schenken, den sagenumwitterten Planeten Larab, nach dem man seit so langer Zeit immer wieder sucht. Es war keine List an dieses Geschenk gebunden, ich habe nicht einmal einen Preis verlangt. Warum kann er nicht nehmen, was ich ihm anbiete, und meinen Gefährten und mich in Frieden gehen lassen?« »Nur ein Narr macht solche Geschenke«, behauptete der Fremde. »Vergalo mag keine Narren, und er glaubt auch nicht, daß ihr welche seid. Ihr seid nichts anderes als Betrüger. Nicht mehr lange, und du wirst das zugeben.« »Ich werde es nicht zugeben können, weil ich es nicht bin. Du wirst mich töten, ohne etwas anderes als die Wahrheit zu hören, und Piraten werden den Schatz von Larab in alle Winde zerstreuen.« Eine eiskalte Faust umklammerte meinen Nacken, riß mich in die Höhe und schleuderte mich wieder zu Boden, aber ich schwieg. Es gab nichts mehr, was ich sagen konnte. Kurze Zeit später prallte ich gegen die Gitterstäbe und verlor das Bewußtsein. * »Wir waren wirklich komplette Narren«, sagte Hartmann vom Silberstern, und ich schlug verblüfft die Augen auf. Ich befand mich wieder in unserem ursprünglichen Quartier, und Verrin strich eine kühlende Salbe auf meine Wunden. »Bist du der echte?« fragte ich.
»Ja«, sagte der Ritter – aber das hätte die Imitation auch getan. Trotzdem wußte ich instinktiv, daß es die Wahrheit war. »Wir hätten ihm einen Preis abverlangen sollen«, fuhr er ärgerlich fort. »Und zwar einen, der dem Wert der Ware entspricht.« »Es ist zu spät, um darüber nachzudenken«, bemerkte Verrin. »Er weiß jetzt, daß Larab existiert, und er wird nichts unversucht lassen, um den Schatz zu finden. Er wird bald mit dir sprechen wollen, Broga. Sage ihm, was er wissen will. Vielleicht haben wir Glück, und er gibt uns frei.« »Es ist zu spät«, erklärte ich. »Er ist zu weit gegangen, begreifst du das nicht? Oder glaubst du wirklich, daß ich diesem Ungeheuer den Schatz der Laraben in den Rachen werfen werde – nach allem, was er mir angetan hat?« Der einzige von uns dreien, der in diesem Augenblick wußte, was auf dem Spiel stand, war Hartmann vom Silberstern. Sowohl Verrin als auch ich blieben auf unseren Rollen fixiert, er dagegen trug gewissermaßen nur ein Kostüm. Vergalo und seine Schatten konnten ihm gegen seinen Willen keine Informationen entreißen, und einer von uns mußte die Fäden in der Hand behalten. »Du mußt mit ihm reden«, wandte er sich an mich. »Und du mußt ihm sagen, wo er zu suchen hat. Es ist wichtig, Broga – wenn du es nicht tust, kommt keiner von uns lebend hier heraus.« »Was hat er mit dir angestellt?« wollte Verrin wissen, und ich erzählte, wie es mir ergangen war. Es stellte sich heraus, daß Vergalo es bei jedem von uns auf die gleiche Weise versucht hatte: Er hatte uns mittels dieser seltsamen Imitationen in verfängliche Situationen gebracht und dabei darauf gehofft, daß wir aus der Rolle fallen würden. Dabei hatte er mir noch verhältnismäßig einfache Tests offeriert, wenn man einmal von der Begegnung mit dem »Kerkermeister« absah. »Die Schatten machen mir Sorgen«, sagte Hartmann vom Silberstern schließlich. »Irgend etwas stimmt an der ganzen Angelegenheit nicht. Du mußt sehr vorsichtig sein, Broga!«
Ich versprach es leichten Herzens, denn es entsprach voll und ganz meinen Wünschen. Wäre es nach mir gegangen, dann hätte ich Vergalo niemals wiedergesehen. Wahrscheinlich wußte der Ritter zu diesem Zeitpunkt bereits, daß ihm ein Fehler unterlaufen war. Leider war es zu spät, als daß er etwas dagegen hätte unternehmen können. Wir saßen in der Höhle des Löwen, und wir mußten ihn besiegen oder untergehen. Eine dritte Möglichkeit gab es nicht – an Flucht war nicht zu denken. Vergalos Mißtrauen schien endlich besiegt zu sein. Man behandelte uns zwar auch weiterhin mehr als Gefangene, denn als Gäste, aber zumindest blieben uns weitere Tests erspart, und wir wurden nicht mehr ganz so streng bewacht. Unter diesen Umständen irritierte es mich, daß Hartmann vom Silberstern die meiste Zeit über mit düsterer Miene ins Leere starrte. Als endlich wieder eine Boʹoquiden‐Wache kam und mich aufforderte, den Raum zu verlassen, sprang der Ritter auf und legte demonstrativ den Arm um meine Schulter. »Wir bleiben zusammen!« sagte er zu dem Maschinenwesen. »Alle drei. Wagt es nicht, uns noch einmal zu trennen.« Der Boʹoquide äußerte sich nicht zu diesem Verlangen, machte aber auch keine Einwände, als Verrin sich ebenfalls neben mir aufstellte. Man brachte uns zum Thronsaal, ohne den Versuch zu unternehmen, uns auseinanderzubringen. Vergalo saß wie immer auf seinem seltsamen, hell erleuchteten Thron, aber es wollte mir scheinen, daß er unruhig, beinahe erregt war. Über seinen seltsamen Körper liefen schmale, farbige Schlieren, als würde seine Haut sich in winzigen Wellen bewegen. Im Hintergrund standen mehrere Boʹoquiden, und einige Schatten trieben sich in direkter Nähe ihres Herrschers herum. Vor dem Thron waren jene Kostbarkeiten aufgebaut, die wir in der SILBERSTERN mitgebracht hatten. »Dies alles ist nichts«, sagte die flüsternde, klingelnde Stimme des Tyrannen, und ein schnell gebildeter Scheinarm deutete auf unsere
»Geschenke«. »Hat Larab mir nicht mehr zu bieten?« Ich fand es reichlich unverschämt von ihm, daß er einen Schatz kritisierte, für den er nicht einmal zu bezahlen brauchte, aber Hartmann vom Silberstern hatte mit einem solchen Verhalten gerechnet und mich entsprechend vorbereitet. »Es gibt viele kostbare Dinge auf Larab«, behauptete ich daher. »Aber die größte Kostbarkeit, die wir je gefunden haben, befindet sich dort, in jener Schatulle, die niemand zu öffnen vermag.« »Was für ein Unsinn!« versetzte Vergalo. »Was nützt mir ein Schatz in einem verschlossenen Behälter, wo ich ihn nicht einmal sehen, geschweige denn anfassen und prüfen kann? Außerdem ist jede Schatulle zu öffnen – man muß es nur ernsthaft genug versuchen.« »Ich bin sicher, daß du das bereits getan hast und daß es dir nicht gelungen ist.« »Die Schatulle hat mich überhaupt nicht interessiert«, wehrte Vergalo ab, was natürlich eine faustdicke Lüge war – er und seine Boʹoquiden hatten es versucht. Jeder hätte es getan, denn die schlichte Schatulle fiel zwischen all den vielen prunkvolleren Gegenständen sofort auf. Da sie selbst nicht kostbar genug war, um als Teil eines Schatzes zu gelten, mußte sie logischerweise einen um so wertvolleren Inhalt haben. Der Trick an diesem Kasten bestand darin, daß nur ich allein einen Schlüssel dazu besaß – nur mit Hilfe meiner seltsamen Fähigkeit ließ die Schatulle sich öffnen. Natürlich konnte man ihre Hülle auch mit Gewalt aufschneiden, aber Vergalo hatte sich das nicht getraut. Zweifellos hatte man versucht, mit Hilfe irgendwelcher technischer Raffinessen in den Behälter hineinzusehen – und ihn leer gefunden. Genau das war er auch in Wirklichkeit, aber das mußte ihn für Leute wie Vergalo noch geheimnisvoller machen. Vergalo hatte längst Verdacht geschöpft, sonst hätte die Schatulle nicht vor seinem Thron gestanden, noch dazu so postiert, daß wir sie auf keinen Fall übersehen konnten. »Du könntest mir verraten, wie man sie öffnet«, schlug der Tyrann
vor, und die Schlieren auf seiner Haut bewegten sich hektischer. »Aber vorher will ich wissen, was darin ist. Verrate es mir!« »Es ist der größte Schatz, den wir Laraben je gefunden haben«, behauptete ich. »Die Unsterblichkeit!« Es sah fast so aus, als werde Vergalo aufspringen und seinen Thron verlassen, aber er sank sofort wieder zurück. »Wenn du mir nicht freiwillig sagst, wie man an das Geheimnis herankommt, wird mein Kerkermeister dich zum Sprechen zwingen!« »Deine Drohungen kannst du dir sparen«, sagte ich verächtlich. »Ich habe dir den Schatz versprochen und du sollst ihn bekommen. Aber wenn ich diese Schatulle öffne, werden alle, die sich in diesem Saal befinden, etwas von Ihrem Inhalt abbekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du damit einverstanden bist.« »Natürlich nicht«, stimmte er eilig zu. »Mir, nur mir steht die Unsterblichkeit zu. Komm her und bring die Schatulle mit.« Die schimmernde Glocke über dem Thron erstrahlte in noch hellerem Glanz, und eine Öffnung bildete sich darin. Ich ging darauf zu, die Schatulle in den Händen, und als ich die Öffnung durchschritt und Vergalo zum erstenmal ohne die Schutzhülle vor mir sah, kehrte schlagartig meine Erinnerung zurück. Ich wußte, was ich zu tun hatte – und erkannte, daß wir alle uns auf furchtbare Weise geirrt hatten. Auch Vergalo wußte das, und er reagierte sofort. Vergalos Schatten wuchsen aus dem Fußboden, den Wänden, den Säulen, den Treppen und deren Geländern hervor, und ich stand fassungslos unter dem Schutzschirm und sah das, was uns von draußen verborgen geblieben war: Vergalo war kein Wesen, wie wir es kannten, und er hätte seinen Thron niemals verlassen können. Vergalo war ein Thron – und er war auch der Palast samt seinen Bewohnern, möglicherweise sogar auch der Park mit nahezu allem, was darin lebte und wuchs. Und dieser ungeheuren Kreatur sollte ich mit meinen
kümmerlichen Fähigkeiten zu Leibe rücken? Ich war wie gelähmt vor Angst. Ich war dem, was wir für Vergalo gehalten hatten, so nahe, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. Die Schatten rannten gegen den Schutzschirm an, aber die Öffnung war verschwunden, und Vergalo – in völliger Panik – konnte offenbar kein neues Tor öffnen. Ich hörte seine Stimme von draußen hereindringen, dieses Flüstern und Klingeln, aber unter der Schutzglocke vernahm ich nur ein dumpfes Ächzen und Stöhnen. »Anima.« Ich fuhr herum und sah Hartmann vom Silberstern. Er hatte mehrere der Schatten niedergerungen, einem davon ein langes Schwert abgenommen, mit dem er sich und seine Gegner vom Leibe hielt, aber er würde gegen eine solche Übermacht nichts ausrichten können. Verrin verschwand bereits unter einem Gewühl von Leibern, und diesmal war es keine Illusion, was sich vor meinen Augen abspielte. »Du mußt es tun, Anima!« schrie der Ritter mir zu. »Beeile dich!« Vergalo war zu groß, zu mächtig für mich, und ich wußte nicht, wo ich mit der Verwandlung beginnen sollte. Ratlos starrte ich auf den Doppelkörper, der in Wirklichkeit wahrscheinlich nur ein winziger Teil dieses monströsen Körpers, eines unwichtigen Organs war. Es hätte zu Vergalo gepaßt, uns gewissermaßen seinen kleinen Finger zu präsentieren und sich darüber zu amüsieren, wie wir gegen diesen Bruchteil seines Körpers kämpften. Was sollte ich tun? Wo sollte ich ansetzen? »Es ist das Gehirn, Anima!« schrie der Ritter mir von draußen zu. »Das ist die einzige Chance. Schlag zu!« Ein Speer flog durch die Luft und durchbohrte Hartmann vom Silberstern, und ich wußte, daß ich versagt hatte. Blind vor Wut und Verzweiflung konzentrierte ich mich mit aller Kraft auf den Thron und seinen Inhalt. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich zum erstenmal Widerstand, eine gleichartige Kraft, die sich mir
entgegenstellte, und ich wußte, daß ich einen langen Kampf nicht überstehen würde. So schlug ich mit allem zu, was mir zur Verfügung stand … 8. ANIMA verstummte, aufgewühlt durch die Erinnerung. »Was ist dann geschehen?« fragte ich leise. »Wie bist du zu dem geworden, was du jetzt bist?« »Kannst du dir das nicht denken?« fragte sie bitter. »Vergalo hatte Wesen um sich versammelt, die über parapsychische Kräfte verfügten. Hartmann vom Silberstern hatte sich geirrt, als er vermutete, daß diese Wesen Vergalo von seiner besseren Hälfte befreien sollten. Vergalo hatte einen viel besseren Trick gefunden. Er nahm diese Wesen in sich auf, machte sie zu einem Teil seiner selbst und erwarb damit auch ihre Fähigkeiten – so wie ich die Fähigkeiten eines Kristalls erwarb, wenn ich mich seiner Struktur anpaßte. Vergalo war genau wie ich, nur daß er seine Fähigkeiten auf eine andere Art und Weise einsetzte. Sein Nachteil bestand darin, daß er zu groß geworden war. Er brauchte einen großen Teil seiner Kraft, um diesen gigantischen Körper zu kontrollieren, und darum konnte er mir nicht mit all seiner Macht entgegentreten. Aber während ich versuchte, die beiden Teile unter der Schutzglocke zu einer Einheit zu verschmelzen, bemühte er sich, mich aufzusaugen.« »Ich verstehe. Du hast dich abgrenzen können, aber das war auch alles. Ist es so?« »Ja, zum Teil. Die Verschmelzung gelang. Als sie abgeschlossen war, gehörte ich zwar schon zu Vergalo, aber ich besaß noch meinen eigenen Willen. Ich konnte mich von ihm lösen, aber ich mußte einen Teil seiner Materie mitnehmen – die organischen Verbindungen ließen sich nicht mehr durchtrennen. Ich wäre gestorben, wenn ich es versucht hätte. Es hätte mir damals nicht viel
ausgemacht …« Ich hatte das Gefühl, daß da noch etwas war, was ich wissen sollte – etwas, worüber ANIMA noch immer nicht sprechen mochte. Ich konnte mir denken, worum es ging, aber ich rechnete nicht ernsthaft damit, daß sie meine Frage beantworten würde: »Was war mit Hartmann vom Silberstern? War er wirklich tot?« Sie zögerte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Hast du dich davon überzeugt?« »Ich habe gesehen, wie er starb.« »Und du hast ihn mitgenommen, als du Vergalo verlassen hast, nicht wahr?« Diesmal mußte ich lange auf eine Antwort warten. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ich habe ihn mitgenommen.« »Und versucht, ihn zu heilen?« »Ja. Er hat … gelebt, ein paar Tage lang, aber es war nur sein Körper, der wieder funktionierte. Ich hoffte, daß andere es besser könnten als ich. Es hat während der Zeit, als er nach Schätzen für Vergalo suchte, ab und zu über Funk mit jemandem gesprochen, den er Payarus nannte. Ich habe die Geräte der SILBERSTERN benutzt und diesen Payarus um Hilfe gebeten. Er muß auf dieses Signal bereits gewartet haben, denn er und seine Raumschiffe waren binnen weniger Stunden zur Stelle. Er sagte mir, daß man für den Ritter nichts mehr tun könne. Es war aus und vorbei.« »Hast du das als eine Tatsache akzeptiert?« »Warum fragst du mich das, Atlan? Es tut weh, darüber zu sprechen.« »Ich weiß, aber es ist wichtig. Wenn du das Gefühl hast, daß Hartmann vom Silberstern möglicherweise doch überlebt hat, wirst du früher oder später doch anfangen, nach ihm zu suchen, und das könnte fatale Folgen für uns beide und für unseren Auftrag haben. Verstehst du, wie ich das meine?« »Ja«, sagte sie zögernd.
»Und?« »Er ist tot«, sagte sie traurig. »Es hätte keinen Sinn, nach ihm zu suchen, also werde ich es auch nicht tun. Aber du bist ihm in vieler Hinsicht sehr ähnlich.« »Ich bin kein Ritter der Tiefe.« »Für mich bist du einer. Ich werde dir dienen, so gut ich kann, und ich werde dich vor allen Gefahren beschützen. Ich habe mir geschworen, daß ich eher mein Leben hergeben werde, ehe ich es zulasse, daß dir etwas geschieht.« Ich beschloß, von diesem Thema abzuweichen und später erneut darauf zurückzukommen. »Was ist aus Vergalo geworden?« fragte ich. »Das weiß ich nicht genau. Payarus meinte, er würde sich normalisieren, aber das könne einige Zeit in Anspruch nehmen. Als ich den Planeten verließ, herrschte dort das Chaos. Vergalo hatte offenbar einen Teil der Kontrolle über seinen Körper verloren, und an einigen Stellen habe ich Schatten gesehen, die gegeneinander kämpften.« »Könntest du von hier aus den Planeten finden und nachsehen?« »Nein, ganz sicher nicht. Ich kann es mir zumindest nicht vorstellen. Soviel ich weiß, ist Alkordoom sehr weit von meiner Heimatgalaxis entfernt.« Das war eine Gemeinsamkeit zwischen uns beiden. »Wann ist das alles passiert?« »Auch das weiß ich nicht«, sagte ANIMA bedauernd. »Payarus erklärte mir, daß ich schlafen müsse, um über den Schock hinwegzukommen. Mir war alles egal, ich folgte ihm auf einer weiten Reise, dann gelangte ich an einen Ort, an dem es sehr ruhig war – an mehr erinnere ich mich nicht. Als man mich wieder aufweckte und nach Alkordoom schickte, wußte ich lediglich, daß ich sehr lange geschlafen hatte, und ansonsten erinnerte ich mich fast ausschließlich an den Auftrag, den ich erfüllen sollte. Erst auf Lummensand habe ich es gewagt, ganz allmählich mein Gedächtnis
zu durchforschen – etwas anderes konnte ich dort ja auch nicht tun.« Das brachte mich auf eine andere Frage. »Du hast also tatsächlich heilende Kräfte. Dann gab es die Wunderheilungen von Lummensand wirklich?« »Ich war dort in meinen Wahrnehmungen sehr eingeschränkt, Atlan. Es kann aber durchaus sein, daß ich dem einen oder anderen unbewußt geholfen habe. Es würde mich freuen, wenn es so gewesen ist. Ich kann nur hoffen, daß ich fähig sein werde, auch dir zu helfen, falls du meine Hilfe einmal brauchst.« »Da brauchst du nicht lange zu warten«, erklärte ich, denn ich fand, daß es höchste Zeit war, unserem Blinden Passagier auf den Leib zu rücken. »Schläft dieser mysteriöse Fremde noch?« »Er befindet sich noch in derselben Kammer, und er rührt sich nicht.« »Sehr gut. Ich möchte, daß du folgendes tust …« * Das Versteckspiel hatte lange genug gedauert – jetzt mußte der Fremde Farbe bekennen, und ich würde ihn dazu zwingen. Mit ANIMAS Hilfe sollte mir das auch gelingen. Ihre Fähigkeiten kamen mir gerade in diesem Fall sehr gelegen. Sie wies mir den Weg zu der Kammer, in der der Fremde sich aufhielt, und ich nickte grimmig. »Gut«, sagte ich, »und jetzt gib ihm einen ordentlichen Schubs. Es wird höchste Zeit, daß er aufwacht.« »Er könnte dich verletzen«, gab ANIMA zu bedenken. »Nicht wenn die Wand nachgiebig genug ist. Los jetzt!« Die Wand, vor der ich stand, hatte sich in eine weiche, geschmeidige und dabei transparente Masse verwandelt, aber von unserem merkwürdigen Gast sah ich noch immer nichts. Ich mußte
mich auf ANIMAS Behauptung verlassen, daß er da drin sei. Immerhin sah ich, wie sich der Boden bewegte, schnell und ruckhaft, und einen Augenblick später preßte sich etwas gegen die fast durchsichtige Wand, ein seltsamer Abdruck wie von einem Tentakel. »Halt ihn fest!« rief ich hastig. Sofort schwang der Tentakel herum, genau in meine Richtung. Ich sah das allerdings nur indirekt. Der Tentakel selbst war nach wie vor unsichtbar, ich konnte nur den Eindruck in der weichen Wand erkennen. Und dann wurde aus der Delle eine Röhre, etwas stieß dicht an meinem Gesicht vorbei, und ehe ich mich versah, flog ich in die Ecke. »Nicht lockerlassen!« rief ich ANIMA zu. Die Wand beulte sich nach allen Seiten aus, als das darin gefangene Wesen versuchte, der Falle zu entrinnen. Ich rappelte mich auf, aber es gab nichts, womit ich ANIMA hätte helfen können. Sie mußte aus eigener Kraft mit diesem Gegner fertig werden, und ich zweifelte nicht daran, daß sie das konnte – die Frage war nur, ob sie auch konsequent genug bleiben würde. Sie blieb es nicht. Als der Fremde merkte, daß das Plasma um ihn herum sich trübte, er also im nächsten Augenblick sichtbar sein würde, zielte er abermals auf mich, und er hätte mich unweigerlich erwischt, wenn ANIMA mich nicht mittels einer plötzlich unter meinen Füßen entstandenen Welle zurückgerissen hätte. Es kam, wie es kommen mußte: Um mir zu helfen, vernachlässigte sie für einen Moment den Fremden, und schon brach dieses unheimliche Geschöpf mit Vehemenz aus seinem Gefängnis hervor und war sofort wieder verschwunden. »Warum hast du ihn losgelassen?« fragte ich ärgerlich. »Weil er die Absicht hatte, dich zu töten«, erklärte ANIMA. »Ich habe es deutlich gespürt.« »Ich wäre schon mit ihm fertig geworden. ANIMA, du mußt aufhören, in mir so etwas wie ein Baby zu sehen, das du ständig
beschützen mußt. Ich kann sehr gut für mich sorgen.« »Das hat Hartmann vom Silberstern auch gedacht. Es hat ihm nicht viel genützt.« »Vergalo war um einiges gefährlicher als unser merkwürdiger Gast, oder bist du anderer Meinung?« »Er ist auf dem Weg zur KORALLE.« Ich stieß eine Verwünschung aus und eilte dem Fremden nach. Dabei hatte ich nicht das geringste dagegen einzuwenden, wenn diese Kreatur ANIMA verließ, aber ich hätte es bedauerlich gefunden, wenn es die KORALLE mitgenommen hätte. »Achte auf den Eingang zum Gleiter«, befahl ich ANIMA. »Wenn der Bursche einsteigen will, überschüttest du ihn mit Plasma. Aber laß ihn diesmal bitte nicht wieder entkommen.« »Ich werde es versuchen«, versprach ANIMA ein wenig kleinlaut. Aber der Fremde war auf der Hut, und außerdem hatte er möglicherweise meine Worte gehört. Er wich von seinem Weg ab und war im nächsten Augenblick auch für ANIMA wieder unsichtbar geworden – sie konnte ihn nirgends aufspüren. »Wir dürfen ihn nicht zur Ruhe kommen lassen«, forderte ich. »Du mußt ihn finden.« Das war leichter gesagt als getan. ANIMA gab sich zwar die größte Mühe, aber der vertrackte Fremde schien noch ein paar Tricks auf Lager zu haben, die keiner von uns kannte. Immerhin – einen dieser Tricks durchschauten wir schließlich. »Er ist draußen«, meldete ANIMA nämlich. »Er muß einen Weg gefunden haben, auf dem ich ihn nicht beobachten kann – aber er sitzt an der Außenhülle und wartet.« »Dann hat er einen Raumanzug.« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Selbst in einem noch so fremdartigen Anzug muß Energie erzeugt werden, und die könnte ich in jedem Fall wahrnehmen.« Ich beschloß, nicht näher auf die sich daraus ergebenden Fragen einzugehen.
»Kannst du ihn abschütteln?« fragte ich, aber ANIMA verneinte. Der Gedanke, daß wir unseren unheimlichen Passagier bis New Marion nicht loswerden könnten, verursachte mir eine Gänsehaut. Am meisten irritierte mich die Tatsache, daß dieser Fremde jeder Konfrontation auswich. Ich wußte nicht, was er eigentlich von uns wollte, ahnte lediglich, daß es ihm nicht um mich, sondern um ANIMA ging, kannte seine Motive nicht – ich wußte nichts. Darum fiel es mir auch schwer, seine Aktionen nachzuvollziehen oder gar vorauszuahnen. Sogar das Extrahirn schwieg. Ihm fehlten Daten und Fakten, ohne die es keinen Plan entwerfen konnte. Eines allerdings konnte ich mir nicht vorstellen: Daß unser seltsamer Fremder gesteigerten Wert darauf legte, den Rest der Reise auf der Außenhülle mitzumachen. Es hatte sich dorthin verzogen, weil er dieses Versteck für besonders sicher hielt. Offenbar gefiel es ihm nicht, daß wir versucht hatten, seine Gestalt sichtbar zu machen. Nun, er würde sich einen weiteren Versuch dieser Art gefallen lassen müssen. Wer oder was unser Passagier auch sein mochte: Er wußte nicht, wer ANIMA war und welche Möglichkeiten in ihr steckten. Wahrscheinlich hielt er sie für ein brauchbares Transportmittel – mehr nicht. Offensichtlich fühlte er sich draußen sicher und völlig unbeobachtet. Nachdem ANIMA ihn erst einmal gefunden hatte, bereitete es ihr keine Schwierigkeiten mehr, ihn im Auge zu behalten und mit aller Sorgfalt um ihn herum eine Falle zu bauen. Er merkte nichts davon. Das sprach dafür, daß er entweder nur mäßig intelligent oder aber sehr arrogant war. Als ANIMA mit ihren Vorbereitungen fertig war, riet sie mir, eine extra abgesicherte Kammer aufzusuchen, und ich gab ihr in diesem Fall recht. Sie schuf einen entsprechenden Raum in unmittelbarer Nähe zum Ort des Geschehens, und ich harrte gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Unterdessen ließ ANIMA blitzschnell eine Plasmablase um den Fremden herum entstehen und zog diesen
Auswuchs samt Inhalt herein. Diesmal waren die Wände dick und widerstandsfähig genug, um die Kreatur an einer Flucht zu hindern. Ich hatte es eilig, zu ihm zu kommen. Im Innern der Blase sah ich eine etwa zwei Meter hohe, beinlose Glocke. Aus dem oberen Drittel dieses Glockenkörpers wuchs als einzige Extremität ein ebenfalls rund zwei Meter langer Rüssel hervor, der eine Reihe von Sinnesorganen zu enthalten schien. Dieser Rüssel war offenbar mit dem »Tentakel« identisch, mit dem ich nun schon mehrfach Bekanntschaft gemacht hatte. Dieser Rüssel war zunächst um das obere Ende der »Glocke« gewickelt – wahrscheinlich hatte ANIMA den Fremden bei einer Ruhepause erwischt – wurde dann aber bald in eine angriffsbereite Stellung geschwenkt. Dies alles wirkte ziemlich gespenstisch, denn der Fremde selbst war nach wie vor unsichtbar – was ich sah, das war lediglich ANIMAS Plasma, das sich an der Körperoberfläche des Fremden verdichtete und so alle Konturen nachzeichnete. Es ließ sich daher nicht mit Bestimmtheit sagen, ob dieses Wesen nun wirklich einen Raumanzug trug, oder ob es ohne solchen Schutz im Vakuum existieren konnte. »Er kämpft«, verkündete ANIMA, als der Fremde seinen Rüssel zu bewegen begann. »Er ist sehr stark. Ich werde ihn hinauswerfen.« »Damit er sich erneut draußen festhält? Warte noch ein bißchen. Ich möchte zuerst wissen, wer er ist.« »Ich glaube nicht, daß er mit dir reden wird!« Aber fast im gleichen Augenblick vernahmen wir eine dumpfe Stimme, die aus dem Innern der Blase kam. »Was seid ihr für Wesen, daß ihr es wagt, das Fract‐Cuzz anzugreifen?« fragte der Fremde – er sprach alkordisch, aber die Plasma‐Blase umgab ihn so hauteng, daß ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Laß ihm etwas mehr Raum!« bat ich ANIMA. »Das ist zu gefährlich. Er ist unsagbar wütend. Wenn er seinen Rüssel einsetzt und die Wand durchbricht, wird es keine Rettung
mehr für dich geben.« »Trotzdem – ich muß hören können, was er sagt.« ANIMA gab widerstrebend nach. Ich behielt den Fremden scharf im Auge, aber noch benahm er sich manierlich. »Wer bist du?« fragte ich. »Das Fract‐Cuzz«, erwiderte er, immer noch dumpf, aber einigermaßen klar zu verstehen. »Hast du Dummkopf das noch immer nicht begriffen?« »Ich kenne nun deinen Namen, aber ich weiß immer noch nicht, was du bist. Woher kommst du? Was willst du von uns?« Der Fremde tastete mit seinem Rüssel um sich, als müsse er zunächst über meine Fragen nachdenken. Dann hielt er still, und ich hatte den Eindruck, daß er mich anstarrte. »Früher hätte es niemand gewagt, mir solche Fragen zu stellen«, sagte er schließlich. »Und weißt du, warum nicht? Weil ich stark war, stark und mächtig. Und ich werde es wieder sein – und wenn ich es bin, dann werde ich furchtbare Rache nehmen …« »An wem willst du dich rächen? Was hat man dir getan?« »Was man mir getan hat? Sieh mich doch an, du Wurm. Selbst ein so primitives Wesen wie du hat einen besseren, praktischeren Körper als ich. Glaubst du etwa, ich hätte immer so ausgesehen. Wie kann man eine starke Facette sein, nur mit einem Rüssel! Oh …« Er klagte leise vor sich hin, während sein glockenförmiger Körper sich hin und her wiegte, und er hätte mir beinahe leid tun können. Aber schon nach wenigen Sekunden hatte er seine melancholische Anwandlung überwunden. »Aber ich bin noch nicht tot«, grollte er dumpf. »Man muß mit mir rechnen. Selbst ein einzelnes Fract‐Cuzz ist immer noch fähig, die Rache zu vollziehen, und selbst das Juwel hätte es nicht gewagt, mich so zu behandeln. Du meinst, ich bin wehrlos mit nur einem Rüssel? Ich werde dir zeigen …« Das Wesen in der Plasma‐Blase explodierte förmlich. Der Rüssel schoß mit ungeheurer Gewalt vorwärts und zerriß die Wand.
»Raus mit ihm!« hörte ich mich schreien, während ich mich fallen ließ und versuchte, aus der Reichweite dieses gefährlichen Organs zu entkommen, »Ihr werdet meine Rache spüren!« fauchte der Fremde in schrecklicher Wut. »Zerschmettern werde ich euch …« Ich rollte mich blitzschnell zur Seite. Der Rüssel pfiff an meinem linken Ohr vorbei – wenn dieser Schlag meinen Kopf getroffen hätte, wäre es aus mit mir gewesen. Neben mir war plötzlich ein Loch im Fußboden. Ich konnte von Glück reden, daß der Fußboden an dieser Stelle nicht mit ANIMAS Außenhülle identisch war, und ich begriff endlich, warum ANIMA sich vor diesem Fremden fürchtete. »Tu endlich was!« schrie ich entsetzt, und dann wurde das Loch im Boden plötzlich größer, der Boden neigte sich, ich geriet ins Rutschen und stürzte in die Tiefe. * Ich fiel weich, fing mich ab und blickte nach oben: Das Loch hatte sich bereits wieder geschlossen. »Er ist fort«, sagte ANIMA. »Ich habe ihn hinausgeworfen und gleichzeitig so stark beschleunigt, daß er sich nicht festhalten konnte. Es tut mir leid, daß ich nicht früher eingreifen konnte …« »Unsinn«, knurrte ich, denn ich ärgerte mich über mich selbst. »Das war meine Schuld, und du weißt es ganz genau.« Sie hatte den Fremden nicht nach draußen befördern können, solange ich mich im selben Raum befand – das Vakuum hätte mich umgebracht. Wenn ich nicht so stur gewesen wäre, hätte das alles nicht passieren müssen. »Es tut mir leid«, murmelte ich. »Hat er dich verletzt?« »Nein. So leicht kann man mich nicht verletzen.« Auch das war nur teilweise richtig: Körperlich mochte ANIMA ein noch so widerstandsfähiges Wesen sein – psychisch war sie dafür
um so empfindlicher. Aber vielleicht war das gar kein Nachteil. ANIMA war weder ein Hilfsmittel, noch ein Werkzeug, sondern eine Schicksalsgefährtin ganz besonderer Art. Wenn ich an sie dachte, sah ich noch immer ein zierliches kleines Mädchen vor mir, das in eine gefährliche Schlucht hinabstieg, um eine alte Frau Märchen erzählen zu hören. ANIMA hatte ihren Ritter in der glänzenden Rüstung gesucht, gefunden – und verloren. Ich wollte und konnte kein Ersatz für Hartmann vom Silberstern sein, und sie war nicht mehr das junge Mädchen vom Volk der Vardis. Sie hatte eine Verwandlung durchgemacht, an der sie fast zerbrochen wäre, und das aus guten Gründen. Der lange Schlaf, den die Kosmokraten ihr geschenkt hatten, war leider nicht ausreichend gewesen, um sie die Vergangenheit vergessen zu lassen – abgesehen davon, daß dieses Vergessen ohnehin eine sehr fragwürdige Therapie darstellte. Ich hoffte, daß ich richtig gehandelt hatte, als ich sie dazu brachte, sich an ihre Erlebnisse zu erinnern. Es war bedauerlich, daß uns dieser merkwürdige Fremde in die Quere gekommen war – er und die beiden Bithra, die nichts als Unruhe mit sich gebracht hatten. Ohne sie hättest du die bestehenden Schwierigkeiten wahrscheinlich erst auf New Marion erkannt, bemerkte das Extrahirn. Ich verkniff mir eine spöttische Bemerkung, denn möglicherweise hatte es recht. Ich für meinen Teil hätte es vorgezogen, ANIMA in aller Ruhe kennenzulernen. Aber wo in Alkordoom konnte man schon irgend etwas in aller Ruhe tun? »Wann werden wir New Marion erreichen?« fragte ich, während ich nachdenklich zur KORALLE zurückkehrte. »Wir sind fast da.« Auch das noch! Ich war versucht, einen Umweg zu wählen, um ein wenig Zeit zu gewinnen, aber ANIMA machte mir einen Strich durch die Rechnung. »Ein großes Raumschiff befindet sich in einer Umlaufbahn um diesen Planeten«, verkündete sie. »Es ist ein rein technisches Schiff –
nicht mit mir zu vergleichen.« Irrte ich mich, oder lag da eine Spur von herablassendem Spott in ANIMAS Stimme? »Sind das deine Freunde?« »Was verstehst du in diesem Fall unter groß?« »Es ist ungefähr viermal so lang wie ich.« »Dann gehört es gewiß nicht den Celestern. Meinst du, daß man dich dort drüben schon bemerkt hat?« »Soviel ich weiß, bin ich sehr schwer zu orten.« »Gut. Ich beschreibe dir den Landeplatz. Versuche, ihn ohne Aufsehen zu erreichen.« ANIMA hörte aufmerksam zu und erzeugte ein großes Fenster, von dem aus ich New Marion betrachten und unseren Landeanflug verfolgen konnte. »Du bist bedrückt«, sagte sie plötzlich. »Irgend etwas quält dich. Ist das meine Schuld.« »Nein«, murmelte ich unwillig. Dann gab ich mir einen Ruck – es hatte keinen Sinn, die Sache noch weiter hinauszuschieben. Entweder war sie einigermaßen darüber hinweg, oder ich konnte ebensogut auf der Stelle umkehren, beziehungsweise auf ANIMA verzichten. Keine von diesen beiden Möglichkeiten konnte mir gefallen. »Paß auf, ANIMA«, sagte ich entschlossen, »auf diesem Planeten gibt es jemanden, der auf mich wartet …« Bist du sicher? fragte das Extrahirn ausgerechnet in diesem Augenblick mit offenem Spott. »Es ist eine Frau, und du fürchtest, daß ich mich ihr gegenüber schlecht benehmen könnte«, stellte ANIMA sehr treffend fest. »So ungefähr«, murmelte ich. Was, zum Teufel, hätte ich sagen sollen? Etwa: »Hör mal zu, meine Liebe, du warst sicher mal ein hübsches Mädchen, aber jetzt bist du ein organisches Raumschiff von hundert Metern Länge, und was die Liebe angeht …« Ich sagte es nicht. Es wäre unfair gewesen, gefühllos und roh. Ich wünschte mir nur, man hätte uns beiden mehr Zeit gegeben.
»Als Hartmann vom Silberstern tot war, hatte ich keinen Mut mehr zum Leben«, sagte ANIMA nachdenklich. »Auch der lange Schlaf hat mir nicht geholfen, und in Alkordoom habe ich einen Fehler nach dem anderen gemacht. Man hatte mir die falsche Aufgabe zugeteilt. Ich war nur eine Orbiterin, und man hat von mir verlangt, daß ich die Arbeit eines Ritters der Tiefe tue. Das ist schiefgegangen, wie du weißt. Du sagst, daß du kein Ritter der Tiefe bist. Erlaube mir trotzdem, deine Orbiterin zu sein und dir zu helfen, wo immer du meine Hilfe benötigst.« Das klang so ernst, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte. »Was diese Frau betrifft«, fuhr ANIMA nach einer kurzen Pause fort, »so werde ich sie akzeptieren, denn offensichtlich liegt dir das sehr am Herzen. Genügt dir das?« Ich war ziemlich sicher, daß es in Zukunft noch genug Probleme geben würde, aber es gab immer Dinge, die man einfach nicht im voraus klären konnte. Für den Augenblick reichte es mir, in gutem Einvernehmen auf New Marion zu landen. Ich wußte, daß ANIMA einiges von dem, was sie vorher verdrängt hatte, nun akzeptierte. Sie war eine gute Verbündete und eine zuverlässige Gefährtin – was konnte ich nach der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft mehr verlangen? ANIMA landete auf einem Platz in der Stadt, nur ein paar hundert Meter vom Hause der Briggsʹ entfernt, und die Celester liefen von allen Seiten herbei, besorgt und erschrocken über dieses ungewöhnliche Ereignis. Aber ihr Mißtrauen verschwand sofort, und als der alte Briggs und seine Familie höchstpersönlich kamen, um uns willkommen zu heißen, zerstreute sich die Menge bald. Man hatte andere Sorgen. Das große Raumschiff, das über New Marion aufgetaucht war, hatte den ganzen Kontinent der Celester in Alarmstimmung versetzt. Der Name des Schiffes lautete – sinngemäß übersetzt – ROULETTE, und der alte Briggs bezeichnete es rundheraus als ein Schiff der Sünde. Es war nicht schwer, vorauszuahnen, daß dieses Schiff uns noch
sehr beschäftigen würde, aber für den Augenblick reichte es mir vollauf, wieder auf New Marion und bei Sarah zu sein. ENDE Nach New Marion, der Welt der Celester und der Voorndaner, zurückgekehrt, erfährt der Arkonide von einer Gefahr, die den Planetariern droht. Die Gefahr trägt den Namen ROULETTE. Sie kreist im Orbit um New Marion – und ist das Spielhöllenschiff … DAS SPIELHÖLLENSCHIFF – das ist auch der Titel des nächsten Atlan‐ Romans, der von H. G. Ewers geschrieben wurde.