Atlan - Minizyklus 05 Dunkelstern Nr. 07
Angriff der Togronen von Michael H. Buchholz
Wir schreiben das Jahr 1225 NGZ...
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Atlan - Minizyklus 05 Dunkelstern Nr. 07
Angriff der Togronen von Michael H. Buchholz
Wir schreiben das Jahr 1225 NGZ. Atlan, der unsterbliche Arkonide, ist gemeinsam mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf die Fährte der Lordrichter von Garb gestoßen, die mit riesigen Armeen ihrer Garbyor-Völker und geraubter varganischer Technologie an vielen Orten des Universums wirken. Zunächst wurden sie in der Southside der Milchstraße mit ihnen konfrontiert, und nun stehen sie in der Kleingalaxis Dwingeloo wieder im Kampf gegen die unheimlichen Invasoren. Nach einigen unerfreulichen Begegnungen wissen sie zumindest, dass die Lordrichter mit einer Verkleinerungstechnologie und der weitgehend unerforschten Schwarzen Substanz experimentieren, die vielen Sternen Dwingeloos innewohnt. Doch sie können nichts dagegen unternehmen, solange sie von den GarbyorTruppen ständig bedroht werden. Und dann kommt es auch noch zum ANGRIFF DER TOGRONEN …
Angriff der Togronen
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide beobachtet einen Massenmord. Kythara - Die Varganin erlebt einen Meisterpiloten in Aktion. Veschnaron - Ein Vargane erscheint als Retter in der Not. Gorgh-12 - Der Hyperphysiker aus dem Volk der Daorghor vermutet üble Ränke.
Dass andere mir nach dem Leben trachteten, war stets ein fester Bestandteil meines Daseins gewesen. Schon seitdem mich der Bauchaufschneider Fartuloon als kleines Kind aus den Fängen der Schergen meines Onkels Orbanaschol III. gerettet hatte, wusste ich, wie trügerisch Sicherheit und Ruhe an jedem Ort des Universums in Wahrheit waren. Ich vertraute längst keinem von beiden mehr. Sie glichen brüchigem Eis. Ich hatte niemals Freude dabei empfunden, an anderen oder den Umständen zu zweifeln. Ich hatte mich auch nie als Paranoiker oder als Schwarzseher verstanden. Aber ich war immer wieder gezwungen gewesen, der Wahrheit in Form von unbestreitbaren Tatsachen ins Auge zu sehen. Oft war ich deshalb in der Vergangenheit als übervorsichtiger Warner verschrien worden. Doch ebenso oft hatte ich Beweise vorbringen und den oder die Verräter rechtzeitig entlarven können. Bis zu diesem Zeitpunkt. Heute und hier war alles anders. Die Verfolger hatten sich seit Cramar wieder an unsere Fersen geheftet, und alle Versuche, sie abzuschütteln, schlugen fehl. Sie fanden uns immer wieder – entgegen jeder Wahrscheinlichkeit …
1. Die Bedeutung des Augenblicks Einmal mehr erfüllte das wesenlose Wallen des Linearraums die Darstellungsfelder der Panoramagalerie. Die AMENSOON war vor exakt 29 Sekunden aus dem Hyperraum direkt in diese Zwischenzone »gesunken« und hatte damit ihren Überlichtfaktor von 99 Millionen auf
gerade einmal 22 Millionen gedrosselt. Das war nicht unbedingt typisches Fluchtverhalten. Kythara allerdings hoffte die Golfballraumer der Zaqoor abzuschütteln, indem sie deren Besatzungen mit ständigen Tempo- und Richtungsänderungen irritierte. Seit etwa zwei Stunden schaltete sie, im Verbund mit der Hauptpositronik, wahllos zwischen Überlicht-Faktoren von über 100 Millionen bis auf unter zehn Millionen hin und her. Die Dauer der einzelnen Etappen wechselte ebenso wie die Kursvektoren. In unregelmäßigen Abständen aktivierte zudem ein Zufallsprogramm die Transitionskomponente des Kyri-Triebwerks mit willkürlichen Zielkoordinaten. Die Sprungweiten lagen dabei zwischen 50 und 200 Lichtjahren. Die AMENSOON »hüpfte« seit unserem Entkommen aus dem Orbit von Cramar einen chaotischen, nicht vorhersagbaren Weg durch das All. Auf unserer bizarren Flucht waren wir allein in den letzten fünf Minuten zweimal transitiert, viermal in den Linearraum eingetaucht, davor und danach in den Hyperraumflug gegangen und hatten uns stets nur für Sekundenbruchteile im Normalraum orientiert. Nun schlichen wir im Linearmodus einer wegaähnlichen Sonne entgegen, die seit einer halben Minute im Zielkreuz unseres Kursvektors stand. In der 37. Sekunde seit Beginn der Linearetappe begann Gorgh-12 nervös mit den Mandibeln zu knistern. Jedenfalls interpretierte ich sein Verhalten als Nervosität; wie bei so vielen insektoiden Intelligenzwesen war auch Gorghs Körpersprache nur schwer für mich zu deuten. Der Daorghor und ehemalige Chefwissenschaftler von Maran'Thor beugte sich vor
4 und veränderte hastig einige Einstellungen an seinem Kontrollpult; das Klacken seiner Greifzangen auf den Bediendisplays klang unnatürlich laut. Die wippenden Antennenfühler über den blau schimmernden Facettenaugen unterstrichen den Eindruck von gestiegener Anspannung. »Ortung!«, meldete er knapp. Das varganische Äquivalent eines Halbraumspürers zeichnete achteraus klar erkennbar siebzehn Feindechos. Sie waren wieder da. Siebzehn Golfballschiffe, jedes 1350 Meter im Durchmesser, jedes ein waffenstarrendes Monstrum, bemannt mit Angehörigen des Volkes der Zaqoor, rund zweieinhalb Meter großen, hünenhaften humanoiden Wesen, die als Leibgarde der Lordrichter fungierten. Die Flotte verfolgte uns seit Cramar mit der Verbissenheit stellarer Bluthunde. Sie waren der AMENSOON nun noch näher gerückt als bei der letzten Ortung. Inzwischen hatten sie den Abstand zu uns auf weniger als sechs Lichtjahre verkürzt. Damit hatte sich auch diese Finte als vergeblich erwiesen. Zuvor hatten wir uns in der Korona einer Sonne versteckt – für eine Viertelstunde immerhin höchst erfolgreich. Es war uns gelungen, aus dem System zu fliehen, ohne in Kampfhandlungen hineingezogen zu werden. Anschließend hatten wir den Versuch gewagt – etwa 1000 Lichtjahre weiter und um einige Illusionen ärmer –, antriebslos und mit minimalem Energieverbrauch, nur in den Schutz unseres Antiortungsfeldes gehüllt, inmitten eines Asteroidenschwarms im freien Fall dahinzutrudeln. Mit dem einzigen Effekt, dass sie uns aus einer Entfernung von über zehn Lichtjahren förmlich gewittert hatten. Wie immer sie es anstellten, sie schienen stets zu wissen, wo sie uns finden konnten. Die Folgerung aus dieser Tatsache war eindeutig. Und alarmierend zugleich. Der Verräter – oder die verräterische Apparatur – ist immer noch an Bord. Und nach wie vor aktiv!, bestätigte der Extrasinn.
Michael H. Buchholz Nur – wer oder was es war, das konnte mir das Produkt arkonidischer ARK SUMMIA nicht verraten. »Distanz jetzt gleich bleibend«, schnarrte Gorgh. Es klang wie feines. Kieselreiben, als er den Kopf zu uns drehte. »Sieht aus, als würden sie abwarten.« Kythara warf mir einen kurzen, nur schwer zu deutenden Blick zu. Sie knabberte an ihrer Unterlippe, strich sich eine verschwitzte goldene Strähne aus der Stirn und neigte leicht den Kopf zur rechten Schulter. Sie stand vor ihrem Pilotensessel, ganz gespannte Erwartung und zugleich unnahbare Majestät. Kalarthras saß schweigend am Navigationspult, umgeben von schwebenden Hologrammen, in denen es flimmerte und zu beständigen Farbverschiebungen und Einblendungen errechneter Werte kam. Ich selbst hatte die Kontrolle über die Waffen übernommen, die sich über die acht Dreiecksflächen des Oktaeders verteilten, bereit, beim Wiedereintauchen in den Normalraum auf Angriffe sofort zu reagieren – falls mir Zeit dafür bleiben würde. In diesem Moment fuhr Kalarthras herum. Seine langen weißen Haare flogen. Unwillig schüttelte er sie aus dem Gesicht. Seine graue Hautfarbe sah zunehmend ungesund aus, und dieser Eindruck war keineswegs ein Effekt des von Varganen bevorzugten, leicht blaustichigen Lichts. »Das hat doch alles überhaupt keinen Sinn!«, begehrte er auf, ganz entgegen seiner sonst so zurückhaltenden Art. »Deine Pilotenkünste in allen Ehren – es ist zwecklos. Du kannst dich noch so sehr anstrengen, – solange ich an Bord bin, finden sie uns immer wieder. Und immer schneller offenbar. Sie messen mich an, daran besteht für mich nicht mehr der geringste Zweifel. Es gibt darum nur den einen Ausweg, auch wenn du ihn nicht hören willst. Begreife es endlich!« »Und genau das kommt überhaupt nicht in Frage«, antwortete die Varganin leise, ohne den Blick von den Kontrollen zu nehmen. Wie um ihre Ansicht zu bekräftigen, erhöhte
Angriff der Togronen sie die Geschwindigkeit des Schiffes. Der Stern voraus kam nun bedeutend schneller näher; natürlich war es in Wirklichkeit umgekehrt. »Auswege sind Wege, die ins Aus führen«, zitierte Kythara. Verblüfft starrte ich die Varganin an; ich hatte nicht geahnt, dass sie irgendwann in ihren über 800.000 Lebensjahren auch die Gedanken des arkonidischen Philosophen Moraht-Them studiert hatte. Irgendeinen Arkoniden musste es zusammen mit den Schriften ins Innere der ObsidianKluft verschlagen haben, und Kythara waren sie offenbar zugänglich geworden. Aber was wusste ich überhaupt schon von dieser geheimnisvollen und fast schmerzhaft schönen Frau, gegen deren Lebenserfahrung die meine abfiel wie das Licht einer Talgfunzel im Vergleich zu einer Megawattscheinwerferbatterie. Wieder einmal kam ich mir in ihrer Gegenwart plötzlich vor wie ein unmündiges Kind. Das liegt daran, weil du dich so oft … setzte der Extrasinn an. Ja, ja, ich weiß, wie ein Kind verhältst, gab ich zurück. Du sagst es mir oft genug. Warum wohl, Narrenkind? Ich gewann den Eindruck, als setzten die beiden Varganen jetzt ein Thema fort, das sie schon andernorts und zu früherer Gelegenheit begonnen hatten zu diskutieren. Dies offenbar in meiner Abwesenheit und ohne mich zu informieren, ein Umstand, den ich deutlich befremdet bemerkte. Kalarthras, das war mir klar, spielte auf die Veränderung an, die mit ihm vorgegangen oder, wahrscheinlicher, an ihm vorgenommen worden war. Er selbst hatte keine Erklärung dafür, vermochte sich nicht zu erinnern. Doch die für Varganen untypische Verfärbung seiner Haut und mehr noch die völlig geschwärzten Augen, in denen sich die Pupillen nicht mehr von den Augäpfeln unterscheiden ließen, zeigten deutlich an, dass etwas Ungewöhnliches mit ihm in der Zeit seiner Stasis geschehen war. »Ich muss die AMENSOON verlassen. Je eher, desto besser!«, versetzte Kalarthras.
5 »Und du weißt das ebenso gut wie ich. Ich werde …« Er wurde von Gorgh-12 unterbrochen. »Achtung! Halbraum-Echos variieren. Nur noch dreizehn Impulse … jetzt nur noch neun … Nein, wartet – fünf. Was soll das?« Der Daorghor schlug sein mittleres Armpaar in einem bestimmten Rhythmus aneinander; eine Geste der Ratlosigkeit, wie ich inzwischen wusste. Eigentlich war es eine Art Bitte um Hilfestellung durch das Kollektiv, dem er sich zugehörig fühlte – mithin eine Anforderung an uns. »Was tun die restlichen fünf?«, wollte ich wissen. »Sie halten eindeutig den Verfolgungskurs. Jetzt sind vier der fünf Echos verschwunden. Flugdaten des letzten Schiffes unverändert. Sechs Lichtjahre Abstand, Geschwindigkeit der unseren angepasst, gleich bleibend.« Kythara unterbrach wortlos den Linearflug. Ich sah das Spiel ihrer Rückenmuskeln unter der eng anliegenden, blaumetallisch schimmernden Bordkombination, als sie sich vorbeugte. Mit gespreizten Beinen stand sie wie ein Fels vor den Pilotenkontrollen; die goldene Mähne war noch hochgesteckt. Sie war von einer Aura umgeben, die mich immer wieder in den Bann schlug; dabei strahlte sie eine derartige Überlegenheit aus, die jede beliebige hochedle Arkonidin an den Rand des existentiellen Wahnsinns getrieben hätte. Die AMENSOON fiel in den Normalraum zurück. Automatisch eingehende Ortungsdaten wurden von der Hauptpositronik eingeblendet und als Quasirealgrafik im Panoramaschirm dargestellt. Die große, wegaähnliche blaue Sonne war das Zentralgestirn eines Siebzehn-Planeten-Systems; von glutheißen FelsenSchnellläufern bis zu behäbigen Gasriesen waren alle Trabantenformen vertreten. Zwölf der Planeten wurden zudem von Monden umlaufen; fünf davon wiesen außerdem weit in den Raum reichende Ringe
6 auf. Wir waren oberhalb der Ekliptik aus dem Linearraum gekommen, in einer Entfernung, die ungefähr auf der Bahn des äußersten Planeten lag. Unsere Geschwindigkeit nach dem Ende der Etappe betrug etwa 80 Prozent des Lichts – zu hoch für die mehrere Lichtsekunden durchmessende Staubwolke, auf die wir zurasten. Selbst mit aktivierten Kombischirmstaffeln würde uns die hohe Partikeldichte des Staubes im Nu in Stücke reißen. Kythara umging das Problem mit einer Kurztransition – wir rematerialisierten einige Lichtstunden jenseits der Wolke, zwischen den Bahnen der beiden äußeren Gasriesen. Die Impulstriebwerke an den Ecken des Oktaeders wurden aktiviert. Ihr Gegenschub bremste das Schiff bis auf etwa die Hälfte der Lichtgeschwindigkeit ab. Aus der Geraden wurde eine lange gebogene Kurve, wir hielten nun auf den nächstbesten Planeten in Sonnenrichtung zu, Nummer sechzehn, einen Methankoloss, der eine ganze Familie von Monden um sich geschart hatte. »Nahortung?«, fragte Kalarthras. »Keine Anzeichen für eine höher entwickelte Zivilisation im gesamten System«, antwortete Gorgh. »Die Fernortung zeigt keines der Verfolgerschiffe. Korrektur: zeigte.« Der gellende Annäherungsalarm kam um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Ein einzelnes Raumschiff fiel gut sechs Millionen Kilometer vor uns und leicht überhöht zu unserem Kurs aus dem Hyperraum. Die überlichtschnelle Ortung lieferte positronisch aufgehellte Bilder – das 1350 Meter durchmessende Schiff der Zaqoor mit den charakteristischen Kuhlen in der Hülle wirkte tatsächlich wie ein auf uns herabstürzender Golfball. Der dreifach gestaffelte Kombischirm spannte sich um die AMENSOON. Kythara drückte das Schiff nach unten, relativ zur bisherigen Flugbahn gesehen, weg vom angreifenden Zaqoorraumer. Die automatische Zielerfassung meines Pultes gab ihr Bereitschaftssignal. Einen Moment später brach ein Energie-
Michael H. Buchholz orkan über uns herein; die Leibgarde der Lordrichter hatte ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet. Ultrablaue Kometen aus Licht erschienen übergangslos unmittelbar an der Peripherie unserer Schirmstaffel und setzten die in ihnen gespeicherte Energie direkt frei. Die Schirme wurden schlagartig bis zu 42 Prozent belastet. Für einen Sekundenbruchteil schüttelte sich die AMENSOON, während sie die Wand aus blauem Feuer durchraste. Dann hatte die paratronähnliche Komponente des Kombischirms die Energien in den Hyperraum abgestrahlt. »Atlan? Bist du bereit?« Kythara sprach wie gewohnt leise, beherrscht, fast kühl. Meine Finger lagen auf dem varganische Feuerleitpult. »T-S-T?«, fragte ich nickend. Sieh an, du hast ja gar nicht alles vergessen, was du als Admiral gelernt hast, bemerkte mein Extrasinn befriedigt. Kythara sagte im gleichen Augenblick: »Dann los!« Wieder transitierte die AMENSOON, doch nur für die winzige Strecke bis zu dem Kugelschiff. In einem Abstand von rund einer halben Million Kilometer rematerialisierte der Doppelpyramidenraumer hinter dem eigentlich uns jagenden Zaqoor. Kythara steuerte die AMENSOON mit einer der Kanten voran. So war ich in der Lage, die Hälfte aller Geschütze zugleich abzufeuern. Ein kaum merkliches Zögern – dann entfesselte mein Fingerdruck ein Inferno aus glutheißen Energien, das über den Kugelgiganten hereinbrach. Der zaqoorsche Schutzschirm flammte in einem hässlichen Gelbgrün auf. Die Thermostrahlen und die Desintegratoren zeigten wie erwartet kaum Wirkung, dafür die Schockimpulsgeschütze, deren Effekt dem von Intervallkanonen ähnelte, umso mehr. »Belastung des gegnerischen Schirmfelds liegt bei 41 Prozent«, meldete Gorgh. »Fast Gleichstand«, kommentierte Kalarthras lakonisch. »Immerhin«, sagte ich, dies allerdings schon in sicherem Abstand zu dem Golfballraumer, denn Kythara hatte die AMEN-
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SOON, noch während Kalarthras sprach, abermals transitieren lassen und das Schiff auf der anderen Seite des Sonnensystems wieder in den Normalraum gebracht. Transition – Salve – Transition. Ein blitzschnelles und uraltes arkonidisches Manöver, das in meinen Zeiten als Admiral des Großen Imperiums allerdings nur die widerstandsfähigsten Raumfahrer auszuführen in der Lage gewesen waren; zu hoch wirkten sich die Strapazen und Schmerzen bei den schnell aufeinander folgenden Ent- und Wiederverstofflichungsphasen auf Gehirn und Nervensystem aus. Ich hatte Männer und Frauen gesehen, die sich nach vier oder fünf dieser materialzersetzenden Manöver schreiend und aus Ohren und Nase blutend am Boden gewälzt hatten. Damals gab es weder Strukturabsorber noch schockdämpfende Aggregate. Verglichen mit heute eine geradezu primitive Technik mit teilweise lebensgefährlichen Begleiterscheinungen. Ganz anders verhielten sich die Varganenschiffe: Es gab nicht einmal die Ahnung eines Entzerrungsschmerzes. Der Zaqoor verschwand aus den Tasterholos; ein kaum wahrnehmbarer Impuls zeigte an, dass er in den Hyperraum eingetreten war. Geflohen war er sicher nicht, also … »Kythara – absetzen«, warnte ich. Schon dabei, fing ich ihren amüsierten Gedanken auf. Das Ganze macht ihr auch noch Spaß!, erkannte ich erschüttert. Die Varganin brachte das Schiff in den Linearraum, noch während der Annäherungsalarm alle anderen Geräusche übertönte.
* Schon nach wenigen Sekunden unterbrach Kythara abermals den Überlichtflug. Diesmal fielen wir nicht vor, sondern dicht hinter der kurz zuvor durchquerten Staubwolke aus dem übergeordneten Kontinuum. Gorgh-12 aktivierte auf ein Nicken von Kythara hin
das nahezu perfekte Antiortungsfeld des Varganenschiffes. Wir befanden uns jetzt wieder »oberhalb« des Sonnensystems. Die AMENSOON verzögerte mit Höchstwerten. Nach knapp zwei Minuten zog sie das Schiff in eine enge Kurve und hielt nun direkt auf die Wolke zu. Der Golfballraumer war nicht mehr zu orten; wahrscheinlich war er uns nach unserer letzten Transition erst in dem Moment in den Linearraum gefolgt, als wir den höherdimensionalen Bereich schon wieder verlassen hatten. Mit etwas Glück und dem Segen der Sternengötter verloren die Zaqoor vielleicht unsere Spur … … und dann tauchte er auch schon wieder auf, wenn auch weit entfernt diesmal. Echodim, lautete der zynische Kommentar meines Logiksektors. Der arkonidische Begriff bedeutete so viel wie »So sei es!« und wurde als Gebetsschlussformel verwendet, vergleichbar dem »Amen« auf Terra. »Was soll das?«, fragte Kalarthras unwirsch. »Glaubst du allen Ernstes, wir könnten uns in dem mickrigen Staubnebel da verstecken? Was hast du vor?« Kythara drehte sich um und schenkte ihrem ehemaligen Geliebten ein Lächeln, mit dem man in früheren Jahrtausenden die Auflage jedes Printmagazins problemlos hätte versechsfachen können. »Vertraust du mir etwa nicht mehr?« Kythara brachte es fertig, trotz ihres mitgenommenen Äußeren einen naiv-provozierenden Augenaufschlag samt Schmollmund zu fabrizieren, der in einigen Kulturen, die ich kannte, als eindeutig sittengefährdend gegolten hätte. Alles nur Schau, mahnte mich der Extrasinn, der mein Empfinden natürlich mitbekam. Es ist ihre Art, die Anspannung zu meistern. »Der Nebel«, sagte Kythara, »ist völlig unwichtig. Die sollen nur glauben, er sei der verabredete Treffpunkt mit unserer Verstärkungsflotte.« »Mit unserer bitte was?« Gorgh fuhr herum und starrte Kythara an. Seine bebenden
8 Antennenfühler sagten mehr als die sprichwörtlichen tausend Worte. Ich konnte ihn gut verstehen. Er war in erster Linie Wissenschaftler, kein Raumsoldat. Mir dämmerte indessen, was die Varganin vorhatte. »Ich habe«, erklärte Kythara, während sie sich wieder den Kontrollen zuwandte, »ein spezielles Programm in die Positroniken der vier Kleinoktaeder überspielt. Steuerung erfolgt über unsere Hauptpositronik. Ausschleusung erfolgt automatisch – jetzt!« Auf der Panoramagalerie konnten wir die vier Beiboote verfolgen, die seitlich aus den Hangars drifteten und in Richtung der Staubwolke beschleunigten. Die ausgeschleusten Oktaeder waren 44 Meter hohe Kleinausgaben der AMENSOON; ihre Kantenlänge betrug 31 Meter. »Atlan. Ich transferiere Waffensteuerung aller vier Boote zu dir. Schutzschirmaufbau ab jetzt. Tarnmodus parallel aktiv.« Die Boote waren infolge ihrer hohen Beschleunigung längst aus der direkten optischen Wahrnehmung verschwunden. Die Anzeigen in einem meiner Hologramme waren dafür unmissverständlich: Die Beiboote bauten Kombischirme auf, deren Durchmesser exakt unserem eigenen entsprach. »Tarn-Emissionen entsprechen in allen Werten der AMENSOON«, rief Gorgh aufgeregt. Auch er schien nun zu begreifen, was Kythara bezweckte. Für die Zaqoor musste es auf deren Ortungsschirmen jetzt so aussehen, als hätte die AMENSOON urplötzlich Verstärkung durch vier Schiffe gleicher Größe bekommen. Ich musste grinsen; der Trick hätte von mir sein können. War er aber nicht, Arkonide, wisperte der Extrasinn. Was sagt dir das? »Kalarthras!«, rief Kythara. »Du übernimmst die Kommunikation zu unserer Flotte. Die … na, die ENCHALAN, die KOLLENSOON, die IRMANTIR und die ASPENVAAR warten auf deine Befehle.« »In Ordnung.« Er eilte zu einer anderen Konsole, ließ sich in den Kontursessel fallen und aktivierte die entsprechenden Hyper-
Michael H. Buchholz funkkanäle. »Achtung! An alle Schiffe des KodonGeschwaders. Ausschwärmen und Vorgehen nach Plan Kvidera. Bestätigen!« Eine Kette von Einzelbefehlen folgte. Die Positroniken der vier Kleinoktaeder meldeten nacheinander mit unterschiedlichen Stimm-Modulationen verschiedene Varianten von Verstanden. Die vier Doppelpyramiden, jede scheinbar so groß wie unsere AMENSOON, stoben weit gefächert auseinander. »Ortung!«, meldete Gorgh. »Der Golfballraumer hat Kurs auf unsere Position genommen. Er braucht noch 48 Sekunden bis zum Erreichen der Eintauchgeschwindigkeit.« »An alle Geschwader-Kommandanten: Einnehmen der vorgesehenen Positionen. Feuern erst auf meinen Befehl.« Wieder liefen Bestätigungen der positronischen Kommmandanten ein. »Anfrage an ENCHALAN: Wann erreicht das Flaggschiff samt Geschwader unsere Position?« Er blickte fragend zu Kythara. Gut so, signalisierte ihr Lächeln. Mach weiter. Die Positronik der »ENCHALAN« improvisierte: »Die siebte Gantatryn-Flotte ist in Marsch gesetzt; mit baldigem Eintreffen ist zu rechnen.« Kythara nickte mir zu. »Bereit?« »Alle Feuerleitstellen im Synchronmodus.« »Dann – los!« Alle fünf Schiffe transitierten im gleichen Augenblick … … und rematerialisierten mit gleichem Kursvektor wie der Golfballraumer in dessen »unmittelbarer« Umgebung, das heißt in Kernschussweiten-Entfernung von rund 7,5 Millionen Kilometern. Die AMENSOON lag direkt vor dem Garbyor-Schiff; die Kleinoktaeder bildeten die Eckpunkte eines Quadrats, in dessen Mitte der Golfballraumer mit fast halber Lichtgeschwindigkeit dahinraste. Ich ließ meine Finger auf die Auslösefel-
Angriff der Togronen der der überlichtschnellen Schockimpulsstrahler sinken. Von vorn und von allen Seiten brach das irrlichternde Unheil über den Zaqoor herein. Der Schirm des Golfballschiffes flackerte in grellen Grüntönen, hielt den Gewalten dennoch stand. Gelbe, über die Schirmkugel zuckende Aufrisse schleuderten Energiekaskaden von sich fort, leiteten sie in den Hyperraum ab. »Belastung 96 Prozent«, meldete Gorgh. »Kritischer Bereich.« »Und weg!« Kythara löste die nachfolgende Transition aus. Wir – die AMENSOON und der Verband der Beiboote – kamen wieder in der Nähe der Staubwolke in den Normalraum. Ein Verzögerungsbefehl erging an die Kleinoktaeder, gleichzeitig bremste die Kommandantin das Schiff auf etwa ein drittel LG ab. »Wir schleusen ein.« Der Vorgang lief beeindruckend schnell und völlig automatisch ab. Die Irislamellenschotten über den Hangars schlossen sich. »Wir werden …«, begann Kythara. Das Krachen aus den Strukturtastern unterband jedes weitere Wort. Ringsum brachen unsere Verfolger aus dem Hyperraum. Nahezu zeitgleich, zu Viererpulks gruppiert, erschienen sie vor, über, hinter uns, an den Seiten und voraus. Sechzehn 1350-Meter-Giganten bildeten eine perfekte Kugelschale: Sie rasten heran und eröffneten Sekundenbruchteile später das Feuer. Die bekannten blauen Lichtkometen zuckten überall auf, gaben ihre Energien an den äußeren Vragon-Schirm ab. Ein Schlag ging durch das Varganenschiff. Das All schien nur noch aus blau aufberstenden Lichtkaskaden zu bestehen – ein ohrenbetäubendes Jaulen erfüllte das Innere der AMENSOON. Die Fusionsreaktoren und die Masse-Energie-Konverter brüllten auf und pumpten ungeheure Energiemengen in die Kombischirmstaffel, um die Abstrahlleistung der paratronähnlichen Hülle zu gewährleisten. »Eigenbelastung 109 Prozent!«, presste Gorgh hervor.
9 »Das halten wir nicht lange aus«, rief Kalarthras durch den Lärm. »Du mit deinen pubertären Spielchen. Es wäre auf jeden Fall besser gewesen, wir hätten die Zeit genutzt und ich wäre von Bord gegangen …« »Kalarthras!« Kytharas Stimme klang immer noch ruhig, obwohl sie gleichfalls schreien musste, um sich in dem infernalischen Krach verständlich zu machen. »Ja?« »Halt die Klappe!« Und an mich gewandt: »Atlan! Tu bitte irgendetwas, ja?« Eine neue Wand aus blauem Licht schloss die AMENSOON ein. Das Schiff begann wild zu kreiseln, ob infolge der Treffer oder weil Kythara die Doppelpyramide in Rotation versetzte, konnte ich nicht erkennen. Die Gravo-Zyklon-Projektoren!, drängte der Extrasinn. »Setz die Gravo-Zyk-Waffen ein!« Kytharas Aufforderung kam fast im selben Moment. »Eigenbelastung überschreitet 113 Prozent!« Gorgh befand sich nun am Rande einer Panik. Die Gravo-Zyklon-Projektoren erzeugten einen überlichtschnellen, zyklonähnlichen gravomechanischen Feldwirbel von immenser Stärke. Es waren die stärksten Waffen an Bord von Varganenschiffen. Im Extremfall war es mit den Gravo-Zyk-Waffen möglich, einen Planeten von Erd- oder Arkongröße förmlich zu pulverisieren. Als ich die Zyklon-Bänke aktivierte, sperrte mir die Hauptpositronik den Zugang. »Atlan!« »Ich erhalte Sperrbefehle. Abstandswarnung. Wir sind zu nah; ich kann die Zyklons nicht ohne Gefahr für uns einsetzen.« Kythara ließ die AMENSOON inzwischen wilde Bocksprünge machen; sie kreiselte, schlug Haken, versuchte immer wieder zu beschleunigen. Durch das Abbremsen für das Einschleusen der Beiboote waren wir zu langsam, um einfach in den Hyperraum zu fliehen. Kytharas Ausweichmanöver schützten uns einerseits vor längst überfälligen
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Wirkungstreffern, andererseits vermochte sie so nicht mit aller Kraft zu beschleunigen. »Sperrbefehle sind hiermit aufgehoben. Ich brauche eine Lücke, um durchzubrechen.« »Verstanden.« Ich stellte die beiden vorderen GravoZyk-Werfer auf engste Bündelung und weiteste Distanz ein. Den Wirkungskegel richtete ich genau in Flugrichtung. »Ab jetzt stur geradeaus.« Ich feuerte. Violette Spiralen entstanden. Die Schutzschirme der betroffenen zwei Zaqoorraumer, sonst blau schimmernd, glühten in grellem Weiß. Inwieweit dies die Garbyor in Bedrängnis brachte, vermochte ich noch nicht zu sagen. Weit ins All reichende Schlieren zeigten die Energieableitung in den Hyperraum an. Doch eine Lücke, wie von Kythara gefordert, hatte ich nicht in der Kugelschale unserer Feinde erzeugt. Ich feuerte abermals, mit dem gleichen Ergebnis. »Achtung!«, schrie Gorgh-12. Eine neuerliche Wand aus blauen Lichtkometen kam auf uns zu. Oder genauer: wir auf sie, denn die Wand lag genau in unserem Weg. Die Fusionsreaktoren steigerten ihr Jaulen in blankes Wimmern, als die Ausläufer des Blaufeuers unseren Schirm erreichten. Ich schloss die Augen. Blitze zuckten vor meinen Lidern, kaum mehr gedämpft durch die Abblendautomatik der Hauptpositronik. Dann wurde es übergangslos still. Bis auf das Klingeln in meinen Ohren. Ich riss die Augen auf und starrte Kythara an. Die Varganin stand vor den Kontrollen und lächelte. Die AMENSOON hatte ihre Eintauchgeschwindigkeit von 50 Prozent Lichtgeschwindigkeit erreicht und war in den Hyperraum eingetreten, bevor uns die blaue Wand hatte vernichten können. »Und hopp!«, sagte sie leichthin. Die Schweißtropfen auf ihrer Stirn verrieten, wie es in Wahrheit um sie stand.
*
Der trügerische Moment der Ruhe dauerte nicht einmal anderthalb Minuten. Etwas unterbrach den Hyperraumflug der AMENSOON und warf uns in den Normalraum zurück. »Was war das?« Kythara überflog die Einblendungen der Panoramagalerie und runzelte die Stirn. »Eine Störung im hyperphysikalischen Bereich«, antwortete Gorgh. »Das wollte ich vorhin sagen. Etwa zweiundneunzig Lichtjahre von der blauen Sonne entfernt zeigten sich Raum-Zeit-Beben von immenser Stärke. Unser jetziger Kursvektor hat zwar nur die Randzonen berührt, aber die Störeinflüsse dürften ausgereicht haben, um uns aus dem Hyperraum zu schleudern.« »Ich beginne Dwingeloo zu hassen.« Ich beendete das Murmeln mit einer ärgerlichen Handbewegung. »Ein Raum-Zeit-Beben …« Die Varganin sah mich nachdenklich an; in ihren Augen blitzte etwas auf, was mir nicht gefallen wollte. Wir befanden uns jetzt im Leerraum zwischen den Sternen. Die nächste Sonne stand in zweieinhalb Lichtjahren Entfernung; der blaue wegaähnliche Stern lag knapp hundert Lichtjahre zurück. Das Raum-Zeit-Beben war für uns optisch nicht erkennbar; die Hauptpositronik projizierte zu unserer Orientierung ein rötliches Wallen auf dem Panoramaschirm. Distanz: etwa neun Lichtmonate. Durchmesser: rund 15 Lichtminuten. Das Beben erzeugte Gravitationswellen und Raum-Zeit-Anomalien; sein Epizentrum war kein Ort, an dem ich mich aufhalten wollte. Kythara sah mich bei diesem Gedanken wiederum an. Als hätte sie ihn aufgefangen. »Nein«, sagte ich rau. »Das nicht.« »Doch.« Und die AMENSOON beschleunigte. »Fernortung«, meldete Gorgh. »Alle 17 Schiffe verlassen soeben den Hyperraum.« Die Echos des Strukturtasters bestätigten seine Worte. Die Golfballraumer erschienen als Pulk in wenigen Lichtminuten Abstand
Angriff der Togronen an Steuerbord. Kythara aktivierte die Transitionskomponente des Kyri-Triebwerks, gab aber noch keine Energie frei, sondern hielt die Option zu transitieren sozusagen »im Leerlauf« bereit. Mit einer kurzen Hyperraumetappe brachte sie uns dorthin, wo Raumfahrer zuletzt hinwollten – dichter als irgend vertretbar an das Bebengebiet heran. Als wir aus dem Hyperraum austraten, schien das All um uns zu brodeln. Diesen Effekt erzeugte jedenfalls die Darstellung auf der Panoramagalerie. Die Fusionsreaktoren wimmerten wieder. Die Schirmstaffel irrlichterte. Jemand schien von außen mit einem riesigen Schmiedehammer auf die AMENSOON einzuschlagen. Die ganze Schiffszelle dröhnte und ächzte. Ein neuartiges Geräusch gesellte sich hinzu. Es klang, als würde das Schiff von Titanenfäusten in sich verdreht. Gorgh-12 verlor das Gleichgewicht und hielt sich an seinem Pult fest, als das Deck wegzurutschen schien. Kalarthras starrte Kythara an. Ich hatte das widerliche Gefühl, im Boden zu versinken, als wäre alle Materie plötzlich verflüssigt worden. »Gorgh!« Kythara brüllte über das Toben des Schiffs hinweg. »Was machen die Zaqoor?« »Halten … Abstand …« Der an eine Riesenameise erinnernde Insektoide würgte die Worte förmlich hervor. Im selben Augenblick, in dem eine Explosion außerhalb des Schiffs alle Helligkeit für sich zu beanspruchen schien, ließ Kythara die AMENSOON transitieren. »Was war das?«, keuchte ich, nachdem wir rematerialisiert waren und ich begriffen hatte, dass ich immer noch lebte. »Eine primitive Fusionsbombe. Das größte Kaliber, das die Servorobots in aller Eile zusammenbauen konnten. Sie hinterlässt Varganstahlpartikel. Ich gab sie schon vor einer Stunde in Auftrag und ließ sie ausschleusen, kaum dass wir beim Bebengebiet waren. Ich hoffe, sie denken nun, unser schönes Schiff sei vom Beben zerrissen worden und explodiert.«
11 »Keine Ortungen«, bestätigte Gorgh mit hörbar heiserer Stimme. Die Varganin wandte sich um und verließ kurzerhand die Zentrale. Ein Servo schwebte heran und entfernte ihren Kampfanzug. Kalarthras übernahm wortlos die Kontrollen des Piloten und versetzte die AMENSOON in eine neue Hyperraumetappe. Als ich mich Minuten später in meiner Kabine aus der verschwitzten Kombi schälte, stellte ich fest, dass meine Hände von der langen Anspannung zitterten. Besuchen Sie dringend Dwingeloo, dachte ich sarkastisch, als ich mich auf das Polster fallen ließ und schon fast schlief, hier wird Ihnen mehr geboten als anderswo.
2. Die Unpassierbarkeit der Grenze Nach nur dreißig Minuten weckte mich mein zuvor auf Kurzschlaf programmiertes Multifunktionsarmband. Es war auf Standard-Terrazeit justiert und zeigte den 1. Juli 1225 NGZ, kurz nach siebzehn Uhr. Ich wankte in die Hygienezelle, duschte, ließ die varganische Massage ausfallen und betrat wenig später, mit einer neuen Bordkombination bekleidet, die Zentrale. Kalarthras erhob sich bei meinem Eintreten aus dem Pilotensessel. »Du übernimmst.« Er wartete mein Einverständnis nicht einmal ab und entfernte sich schlurfend aus der Zentrale. Gorgh-12 spürte offenbar meinen fragenden Blick und sagte: »Er ist schwächer, als er uns glauben machen will. Die letzten Stunden haben ihn ziemlich angestrengt.« Ich nickte und setzte mich in den Kontursitz des Piloten. Obwohl ich, wenn ich die Kurzschlafphase nicht einrechnete, nun schon über 28 Stunden auf den Beinen war, fühlte ich mich dank des Zellaktivatorchips leidlich frisch. Seit unserer Flucht von Cramar hatten wir über 4200 Lichtjahre in direkter Linie zurückgelegt. Infolge unseres Zickzackkurses waren es etliche hundert mehr, die wir tat-
12 sächlich geflogen waren. »Der nächste Orientierungsaustritt steht in vier Minuten an«, informierte mich Gorgh. »Schläft Kythara?« »Sie ist in ihrer Kabine. Soll ich sie rufen?« Ich überflog die vor mir schwebenden Daten, keine Ortungen, keinerlei Hinweise auf Verfolger. Kytharas Vernichtungstrick schien zu funktionieren. Oder er hatte die Garbyor zumindest eine Weile aufgehalten. »Nicht nötig. Was wissen wir über das anvisierte Zielsystem?« »Eine kleine rote Sonne. Sieben Planeten. Nichts Außergewöhnliches.« »Gut. Dann beeile dich bitte mit deinen Messungen. Je eher wir wieder von dort verschwinden können, desto besser.« »Ich beeile mich immer und tue stets mein Bestes«, erwiderte der Insektoide, deutlich monotoner als sonst. Seine Mandibeln schabten und knackten. Hatte ich ihn unabsichtlich in seinem Ehrgefühl verletzt? »Ich weiß. Ich wollte dich nicht kritisieren.« »Das hast du nicht getan. Ich habe nur Tatsachen aufgezählt, deren Beachtung Missverständnisse innerhalb des Kollektivs zu vermeiden hilft.« Mit einem melodischen Akustiksignal leitete die Hauptpositronik das Ende der Hyperraumetappe ein. Unvermittelt wich das Grau des fünfdimensionalen Kontinuums dem Funkeln der Sterne. Die automatisch anlaufenden Impulstriebwerke bremsten uns aus dem hochrelativistischen Bereich herunter. Die positronisch aufbereiteten Daten der Fernortung blendeten in der Darstellung der Panoramagalerie ein und zeigten die rote Sonne und die Umlaufbahnen ihrer sieben Planeten. Wir waren in Höhe der äußersten Bahn in den Normalraum zurückgekehrt, allerdings auf der diesem Planeten gegenüberliegenden Systemseite. Der uns nächste Trabant war die Nummer sechs, eine dunkelgrüne Gaswelt vom Uranustyp. Wir verzögerten weiter und passierten ihn mit rund 30 Pro-
Michael H. Buchholz zent LG, in einem Abstand von 20 Millionen Kilometern. »Ortung!«, rief Gorgh plötzlich. »Systemintern. Massive Energiefluktuationen im Orbit des ersten Planeten. Eindeutig Kampfhandlungen!« »Vergrößerung!« Die Hauptpositronik zoomte das Bild des innersten Planeten heran. Eine Sauerstoffwelt von etwa Erdgröße sprang uns optisch entgegen. Ein eher unscheinbarer Anblick mit nur wenigen erkennbaren Wolken. Kaum Meere. Ocker- und Brauntöne herrschten vor. Die optisch aufbereiteten Ergebnisse der Fernortungen ließen keinen Zweifel: Dutzende von länglichen Raumschiffen drangen von allen Seiten auf den Planeten ein. Die relativ großen grauen Gebilde attackierten die Welt unablässig mit schwersten Waffen aus dem Orbit. Vor allem Thermostrahlen zogen Schneisen der Vernichtung. Gebirge wurden verflüssigt, Wälder in Sekunden verbrannt. Von der Oberfläche kam kein nennenswerter Widerstand – entweder, weil die Bewohner dem Angriff nichts entgegenzusetzen hatten, oder nicht mehr, weil jegliche Verteidigungsmöglichkeiten längst zusammen gebrochen waren. »Alarmiere Kythara«, sagte ich düster. »Was melden die Individualtaster?« Gorghs Greifenklauen klackten über diverse Eingabedisplays. »Auf dem Planeten messe ich rund neun Millionen Intelligenzen; die Werte werden laufend nach unten korrigiert. Während wir hier reden, sterben dort Hunderttausende Wesen.« »Und das, ohne sich wehren zu können. Das ist kein Krieg – das ist Massenmord!«, stieß ich verbittert zwischen den Zähnen Hervor. Kythara eilte in die Zentrale. Sie blieb neben mir stehen und prüfte alle Ortungsergebnisse. Ich sah ihre goldene Gesichtsfarbe um eine Nuance blasser werden. Sie atmete tief ein. »Das ist kein Kampf. Das ist ein Massaker.« Gorgh deutete mit einem der mittleren
Angriff der Togronen Handlungsarme auf eine rasend schnell zusammenschrumpfende Zahl. »Nur noch sieben Millionen Überlebende.« Kythara sah mich durchdringend an und machte eine abwehrende Geste. »Es ist furchtbar, was dort geschieht. Und trotzdem: Es geht uns nichts an. Es ist grausam – aber wir können, zumal in unserer Lage, nicht das Geringste tun.« Sie hat Recht!, mahnte der Logiksektor. Der gellende Annäherungsalarm und das dreifache Echo des Strukturtasters verdrängten alle weiteren Gedanken. »Es sind drei«, rief Gorgh über den Lärm hinweg, ehe er den Alarm abschaltete. »Drei der fremden Raumschiffe. Aktivierte Waffensysteme. Schutzschirme auf Paratronniveau. Schwärmen aus, nehmen Angriffspositionen ein. Distanz sechs Millionen Kilometer. Vermutlich Waffenreichweite.« Unser Kombischirm stand längst, selbsttätig durch die Hauptpositronik hochgefahren. Kythara übernahm die Pilotenfunktion, ich warf mich auf meinen früheren Platz vor den Waffenkontrollen. Der zentrale Rechner blendete genauere, neu erfasste Daten ein: Die grauen Schiffe bestanden aus einer Bugkugel von 337 Metern Durchmesser, aus deren größter Ausdehnung sich der längliche Schiffskörper wie ein gekrümmtes Horn erstreckte; die Länge der dunkelgrauen Röhre betrug 1300 Meter. »Außenhaut besteht aus beschussverdichtetem Verbundmetall«, las Gorgh laut vor. »Niveau liegt allerdings unterhalb von Varganstahl. Waffenemissionen bestätigen: auf Intervallbasis arbeitende Strahlkanonen, 45 Stück an der Zahl. Dazu Thermo- und Impulsstrahler; Desintegratoren; und jede Menge Werfer für Projektilwaffen.« »Zeigen wir ihnen, dass wir nichts von ihnen wollen.« Kythara steuerte die AMENSOON auf einen Kurs, der von den drei hornförmigen Schiffen fortführte. Unbeeindruckt rasten die drei Fremden hinterher. »Die Schiffe sind geringfügig leistungs-
13 schwächer als wir«, meldete Gorgh. »Maximale Beschleunigung liegt bei hochgerechneten 870 Kilometern je Sekundenquadrat.« Die AMENSOON vermochte mit etwas höheren 950 Kilometern je Sekundenquadrat zu beschleunigen. »Noch 63 Sekunden bis Wiedereintrittsgeschwindigkeit«, sagte Kythara. Dicht neben der AMENSOON entstand eine hohe Energiekonzentration im All. Und gleich darauf wieder eine, noch näher am Kombischirm. Es kam zu geringfügigen Überschlagsentladungen. »Warnschüsse!« meldete Gorgh-12. »Überlichtschneller Intervall-Einzelbeschuss. Es ist von zwei der drei Schiffe ausgehendes Punktfeuer. Hochgerechnet würde uns eine vollständige Salve aller drei Hornschiffe zu 75 Prozent belasten.« Damit hatten die fremden Raumer einen Namen erhalten. »Funkanruf«, rief ich, als ich ein entsprechendes Signal an der Kommunikationsstation bemerkte. »Antworte ihnen«, bat Kythara. »Wir brauchen ganz gewiss nicht noch mehr Feinde in Dwingeloo.« Ich transferierte die Komverbindung zu mir herüber und aktivierte den Kanal. Ein Holo baute sich neben mir auf. Wenn die Abbildung lebensecht wiedergegeben wurde, dann war das fremde Wesen gewiss zwei Meter groß. Zwei Beine, zwei Arme, ein Kopf bildeten die Fortsätze eines massigen, kugeligen Rumpfes von entfernt humanoiden Proportionen. Damit erschöpften sich alle Ähnlichkeiten. Die Beine glichen plumpen Säulen. Die Arme schienen eher bewegliche Tentakel zu sein; statt der Finger erkannte ich an den Enden je sieben filigrane Hautlappen. Bis hinunter zur Hälfte der Säulenbeine war die Gestalt des Fremden mit grauer, eng anliegender Kleidung bedeckt. Rote Einschlüsse fielen mir auf, die Taschen oder technische Gegenstände sein mochten. Die untere Hälfte
14 der Beine war, ebenso wie die Tentakelarme, nackt. Ich sah sich überlappende, dunkelbraune, fast schwarze Hornplatten, die in Hornverdickungen endeten, die wie schwere, paarige Hufe wirkten. Das Haupt des Wesens war das Befremdlichste: Ein kantiger Schädel, mehr hoch als breit, endete am Hinterkopf in einer lang gestreckten hornartigen Verlängerung. Der Fortsatz von etwa einem halben Meter erinnerte mich an einen irdischen Pterodon der Vorzeit. Im Gesicht verloren sich noch stärker alle Vergleichsmöglichkeiten mit humanoiden Erscheinungsformen. Drei senkrechte Schlitze verliefen dort, wo Lemurerabkömmlinge eine Nase hatten; ein breiter trichterförmiger Mund bewegte sich vor und zurück, als wäre er ausstülpbar. Die faustgroßen blassblauen Augen trennten eine hornige Stirn von der unteren Gesichtshälfte. Sie saßen an den Kanten des wuchtigen Schädels und blickten aus tiefen Höhlen in die Aufnahmeoptik. Der Fremde stand neben einer mit zahlreichen Unebenheiten übersäten Konsole. Der Hintergrund verschwamm in dunklen, sich auflösenden Konturen aus Braun und Grau. »Das Criil-System gehört zum Reich der Togronen«, bellte die Gestalt in ihre Kommunikationseinheit. »Ihr …« Erst jetzt schien er mich bewusst wahrzunehmen. Er starrte mich an. Seine Pupillen verengten sich zu Punkten. Er machte eine heftige, peitschende Bewegung mit dem Tentakelarm. Die Verbindung wurde abrupt unterbrochen. Das Holo erlosch. »Bei Arkons Göttern!«, entfuhr es mir. Dachte man sich die Kleidung fort und andere Lichtverhältnisse hinzu, dann … Kythara wandte sich mir zu. »Sothin«, rief ich. »In der Station der Lordrichter. Dort haben wir dieses oder ein solches Wesen bereits gesehen. Das also sind die Togronen.« »Die Kalarthras erwähnte«, bestätigte Kythara. »Jener Togrone auf Sothin – was hatte er ausgerechnet in der Station der Lordrichter zu suchen?«
Michael H. Buchholz Kythara deutete auf die uns immer noch begleitenden Hornraumer. »Versuch die Verbindung wiederherzustell …« Der Rest ihres Satzes ging im Quäken des Angriffsalarms, im Hochfahren der Fusionsreaktoren und dem Brummen der Schutzschirmgeneratoren unter. Die Optiken der Panoramagalerie verdunkelten sich unter dem Ansturm der gleißenden Helligkeit, die in der Schutzschirmstaffel tobte. »Intervallbeschuss!« Der kleine Insektoide fuhr mit hektischen Bewegungen über seine Kontrollen. Ein anschwellendes Rauschen und Krachen steigerte sich in ein hohes Singen, immer wieder durchbrochen von dumpfem Gedröhn. »Sie feuern Salventakt! Belastung liegt schon bei 78 Prozent. Wir sollten schleunigst verschwinden.« Kythara winkte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Sie ließ die AMENSOON mit äußersten Werten beschleunigen. Während des kurzen Verständigungsversuches hatte sie die Geschwindigkeit beibehalten, die wir bis dahin erreicht hatten: Sie lag bei 44 Prozent Licht. Bis zur 50-Prozent-LG-Marke, der minimalen Eintauchgeschwindigkeit in den Überlichtflug, konnte es daher nur noch Sekunden dauern. Die kollabierenden Strukturtaster vermittelten ein anderes Bild. »Dendibokot!« Es war das erste Mal, dass ich die Varganin lauthals fluchen hörte. Acht Golfballraumer materialisierten knapp eine halbe Million Kilometer voraus und eröffneten sofort das Feuer. Übergangslos begann die AMENSOON aus sich selbst heraus zu singen und zu knistern. Aus dem Singen wurde sekundenschnell ein Dröhnen, das Knistern erwuchs zu einem gequälten metallischen Knacken. Die Hauptkugelspeicher im oberen Teil der Doppelpyramide grollten und wummerten dumpf, sodass ich es körperlich zu spüren meinte. Wie passend, konstatierte der Extrasinn. Unsere undichte Stelle arbeitet perfekt. Irgendwie gelang es der Varganin, das Schiff unversehrt durch die unüberschaubare
Angriff der Togronen Wand aus Blaufeuer zu steuern, die die Zaqoor uns in den Weg legten – und dabei den acht Kugelgiganten auszuweichen. Wir verloren allerdings wertvolle Geschwindigkeit und konnten daher nicht in den Hyperraum entkommen. Immerhin rasten wir »unterhalb« der Kugelraumer durch und hinter ihnen leicht aufwärts. Das brachte die Garbyor zwischen uns und die drei Togronen. »Nicht feuern!«, rief Kythara. »Ich brauche jedes Quantum Energie für die Impulstriebwerke. Außerdem brauche ich dringend ein paar Ideen. Ich nehme diesmal auch welche von ganz jungen Unsterblichen. Hast du Vorschläge?« »Ich denke unentwegt darüber nach.« Tatsächlich war es so, dass ich auch keinen anderen Ausweg erkennen konnte als Gorgh: schnellstmögliche Flucht. Nur – solange wir die fast als sicher anzunehmende undichte Stelle mit uns herumschleppten, verschoben wir damit bestenfalls den Handlungsort, nicht aber die Handlung selbst. Und die bestand darin, uns zu vernichten. Offenbar hatten die Lordrichter neue Befehle erteilt. Nicht mehr: Fangt Atlan lebend!, sondern: Stellt ihn, egal wie! Ich horchte in mich hinein, doch auch der Extrasinn schwieg. Hieß das, es gab keine erkennbare Lösung? »Denke bitte schnell. Ich mag übrigens nicht, was ich da vor uns sehe. Gorgh?« Auf der Panoramagalerie bildeten sich Abertausende von positronisch generierten Punkten. Sie schimmerten rot. Noch während ich hinüberschaute, verdoppelte sich ihre Anzahl und wuchs weiter. Es sah aus, als würde die Galerie von unsichtbaren Beobachtern mit Blut besprenkelt. Ein neben Kythara entstehendes Holo zeigte die sphärische Ausdehnung: Die Punkte bildeten ein Lichtminuten durchmessendes, halbkugelförmiges, engmaschiges Netz, dessen Mittelpunkt ohne Zweifel die AMENSOON war, um den herum es sich zusammenzog. »Marschflugkörper«, diagnostizierte Gorgh. »Mit Impulsund Mini-
15 Transitionstriebwerken. Ihrer Geschwindigkeit nach sind sie bald wieder sprungbereit.« »Dendi … Zählung?« Gorghs Greifklauen tanzten. »Rund eine Million Echos«, sagte er dann. »Ebenso oft werden wir von Tasterstrahlen erfasst.« »Noch weitere Neuigkeiten?« Kythara steuerte das Schiff in eine weite Kurve. »Die Togronen und die Zaqoor eröffnen das Feuer.« Ich schüttelte den Kopf. »Was ist daran neu?« Gorgh stieß ein rasselndes Geräusch aus. »Sie beschießen sich gegenseitig.«
* Vier der Golfballraumer warfen sich den drei Togronen entgegen. Die anderen vier Zaqoor teilten sich zu Paaren. Zwei verfolgten uns. Die beiden anderen flogen einen Abfangkurs. Sie strebten dem Punkt zu, an den uns Kytharas Kurve aus der drohenden Netzumschließung durch die Marschflugkörper führen würde. Die Hornschiffe wichen ihrerseits den Garbyor aus. Sternförmig stoben sie auseinander. Dennoch gerieten alle drei in wahre Blaufeuerkaskaden. Der Kampf eskalierte, als der erste Togrone binnen fünfzehn Sekunden in einem gewaltigen Feuerball explodierte. Damit standen jedem Hornschiff doppelt so viele der Kugelgiganten gegenüber, die nun begannen, ihre Feuerkraft mit koordiniertem Punktbeschuss zu intensivieren. »Wie hoch ist die Besatzungsstärke der Hornraumer?«, fragte ich. »Etwa 2900 Individualimpulse«, antwortete Gorgh. Wenn es bisher Zweifel daran gab, ob die Garbyor es ernst meinten, waren sie hiermit ausgeräumt. Bilder des mannigfachen Todes drangen aus der Erinnerung auf mich ein. Ich hatte in meinem langen Leben etliche Raumschlachten erlebt; so viele, dass ich aufgehört hatte, sie zu zählen. Ich hatte in 13.000 Jahren als
16 Befehlshaber immer wieder selbst Zehntausenden, wenn nicht Hunderttausenden von tapferen Männern und Frauen Befehle erteilt, erteilen müssen, die ihnen im Verlauf der jeweiligen Schlacht den Tod brachten. Manchmal waren meine Einschätzungen falsch gewesen, oder, schlimmer noch, sie hatten sich als unvermeidbar herausgestellt. Doch niemals, weder in meiner Jugend noch als Lordadmiral der USO oder in den späteren Zeiten, hatte ich mich auch nur annähernd damit abfinden, geschweige denn daran gewöhnen können: wenn mit einem Schlag Tausende von Wesen einfach aus dem Universum getilgt wurden. Und Besatzungen von der Bevölkerungsgröße einer kleinen Stadt wie im Fall des Togronenschiffes einfach mit einem Fingerdruck vernichtet wurden. Auch waren Kämpfe manchmal unvermeidbar, der vorsätzlich und gewaltsam herbeigeführte Tod stellte für mich doch immer nur das letzte, das wirklich äußerste aller Mittel dar. Krieg war immer der falsche Weg. Er war sinnlos und dumm. Und Opfer bei den Feinden ebenso wie bei den eigenen Einheiten machten mich stets erneut betroffen. Für die Truppen der Lordrichter galten offensichtlich andere Maßstäbe. »Die ersten Marschflugkörper transitieren.« Gorghs Meldung riss mich aus meinen jäh aufblitzenden Erinnerungen. »Mindestens tausend …« Sein weiterer Satz ging in gewaltigen Explosionen unter, die das Raumgefüge um unseren Kombischirm erschütterten. Ein Ruck ging durch die AMENSOON. Energielohen wurden in den Hyperraum abgeleitet. Die Explosionen in und um den Schirm rissen nicht ab. Immer mehr fliegende Bomben materialisierten und setzten ihre Vernichtungskraft bei der Wiederverstofflichung frei. Mikro-Gravitationswellen im Innern der Schirmstaffel beutelten die Außenwand der AMENSOON. Ein schmerzhaftes klingeln kam irgendwoher und überlagerte das Prasseln der einzelnen Schläge. »Ich kann nichts gegen die Dinger tun!«,
Michael H. Buchholz schrie ich über das pausenlos hereinbrechende Hämmern hinweg. »Das Netz ist zu weit weg. Und wenn sie hier erscheinen, sind sie zu nah!« Kythara antwortete nicht sofort. Hochkonzentriert saß sie vor den Kontrollen. Ihre Finger tanzten über die Konsole. Eine neue Welle von Marschflugkörpern rematerialisierte und verging in einer Wand aus berstendem Feuer. Nicht direkt in unserem Schirm, sondern ein Stück in Flugrichtung. Kythara schaffte es, mit einem Verringern des bisherigen Kurvenbogens die verwehende Wand nur zu streifen. Dies verlängerte den Weg der beiden Golfballraumer, die uns abzufangen versuchten. Vor uns lag der freie Raum. Keine Marschflugkörper. Keine Garbyor. Kythara beschleunigte sofort mit allem, was die varganischen Impulstriebwerke zu leisten im Stande waren. »Wünsch uns Glück, Arkonide.« Das war der Moment, in dem vor uns sechs Hornraumer rematerialisierten und sofort das Feuer eröffneten.
* Unwillkürlich zuckte ich zusammen – eine ganz und gar irrationale Bewegung, aber mein Körper vollführte sie ohne mein Zutun. Es war eine Art Reflex, als ich es bei den Togronen aufblitzen sah. Dabei hätte mich allein die Tatsache, dass ich das Aufblitzen sehen konnte, beruhigen müssen – falls die Schüsse uns gegolten hätten, wäre es mir bei den überlichtschnellen Waffen nur möglich gewesen, die Treffer wahrzunehmen. Vorausgesetzt, unser Schirm hatte den Gewalten weiterhin standgehalten. Die Togronen stürzten sich statt auf uns mit aller Macht auf die beiden Kugelgiganten der Zaqoor, die uns den Weg abzuschneiden versucht hatten. Für den Augenblick ignorierten sie uns – beinahe. Nur eines der 1300 Meter langen Hornschiffe beschleunigte in einem anderen Winkel und flog in dieselbe Richtung wie wir. Seine In-
Angriff der Togronen tervallkanonen schleuderten Breitseite um Breitseite und zwangen der AMENSOON eine weitere Kursänderung auf. Einmal mehr gelang es uns damit nicht, die für den Eintritt in den Hyper- oder Linearraum erforderliche Mindestgeschwindigkeit zu entwickeln. Kythara warf einen raschen Blick über die Schulter. »Was machen deine Ideen, Atlan? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt.« Ehe ich antworten konnte, schlugen neuerliche Treffer in den Kombischirm. Blauweiße Schlieren umtanzten das Schiff. Dann prasselte eine ganze Serie von blauen Lichtkometen auf uns hernieder – die uns verfolgenden beiden Golfballraumer waren auf Schussweite herangekommen. Ein mehrmaliges Bersten aus dem Schiffsinnern hob sich von allen anderen Geräuschen ab. »Was war das?« Warnlichter an Gorghs Konsole flammten auf. »Ausfall der Masse-Energie-Konverter sieben bis neun! Schirmbelastbarkeit sinkt rapide. Mehr als 75 Prozent verkraften wir nicht mehr!« Die Waffensubpositroniken erfassten die mittlerweile auf parallelem Kurs fliegenden Garbyor. Der Abstand für die Gravo-Zyks war ideal. Ich aktivierte die gravomechanischen Feldwirbelbündel. Violette Spiralen hüllten die Kugelgiganten ein, die ihren Dauerbeschuss unterbrachen. Kythara riss die AMENSOON herum, was uns dank der geringeren Geschwindigkeit eher möglich war als den Gegnern. Wir hatten eine winzige Atempause erhalten. Dafür näherten wir uns jetzt wieder der Front aus Togronen und Zaqoor und damit der Kampfzone, in der die fünf Hornschiffe gegen die beiden Garbyor vorgingen. Immer mehr Marschflugkörper erschienen zur Unterstützung der Togronen, um sofort zu Tausenden in den sich dunkelgrün verfärbenden Schutzschirmen der Golfballraumer zu explodieren. Hinter uns schwenkten die beiden Kugel-
17 giganten herum und schlossen zu den vier restlichen Zaqoorschiffen auf, die ebenfalls dem zweiten Kampfplatz zustrebten. »Was jetzt, Admiral?« Kytharas Worte verrieten zum ersten Mal das Gefühl der Ausweglosigkeit. Zu unserer Backbordseite spannte sich wie eine Halbkugel das nach innen geöffnete Netz der Marschflugkörper. Steuerbord voraus verlief die Kampfzone, in der sich die Togronen und Garbyor heftige Gefechte lieferten. Steuerbord achteraus raste der Verband aus sechs Golfballraumern heran. Wohin wir uns von hier aus auch wendeten, in jeder Richtung lauerte der Tod. Meine Augen sonderten salziges Sekret ab. Ich gab keine Antwort, weil es keine Antwort mehr gab. Ein weiteres Bersten aus dem Schiffsinneren erschütterte die AMENSOON. »Konverter sechs.« Gorghs Stimme war fast nicht zu verstehen. Das war der Moment, in dem die Bereitschaftsanzeige der Zyklonbänke vor mir erlosch. »Gravo-Zyks nicht länger einsatzbereit«, meldete ich dumpf. Kythara drehte sich zu mir um. Unsere Blicke trafen sich. Ich blinzelte das Sekret fort, versuchte ein Lächeln. Die Varganin hob wie bedauernd die Schultern. »Achtung – Nahortung!« Gorgh beugte sich tief über die Anzeigen. »Ein weiteres Schiff materialisiert unmittelbar neben uns! Breite 1300 Meter, Höhe 1840. Alle Waffensysteme sind feuerbereit!« Kythara und ich fuhren herum und starrten wortlos auf die Darstellungsfelder der Panoramagalerie. Was wir dort sahen, war das Letzte, was wir zu sehen erwartet hatten.
3. Die Verlängerung des Seins Blau schimmernde Schutzschirme. Dahinter eine unüberschaubare Fläche aus goldenem Stahl, in dem sich das Licht der entfernten Sonne als winziger Punkt widerspie-
18 gelte. »Das ist doch …«, entfuhr es mir. »Ein varganischer Großraumer«, flüsterte Kythara. Die Wiedereintrittsgeschwindigkeit des gigantischen Oktaeders war der unseren angepasst. Deshalb schienen die AMENSOON und der varganische Riese dicht nebeneinander zu schweben. In Wirklichkeit rasten beide Doppelpyramiden mit etwa 45 Prozent der Lichtgeschwindigkeit dahin. »Woher …?«, wollte Gorgh wissen. »Nicht woher«, unterbrach ihn Kalarthras, der unversehens in der Zentrale stand. »Sondern wer? Das ist die entscheidende Frage.« »Verbindung herstellen!«, forderte Kythara. »Ich mache das«, sagte der Vargane. Er eilte an das nächste Kommunikationsterminal. Noch während Kalarthras die Zentrale durchquerte, änderte der Großraumer seinen Kurs. Die Irislamellenpforten aller Waffenprojektoren waren geöffnet. Die ausgefahrenen Waffentürme wirkten wie goldene Stacheln. Stacheln, aus denen sich pulsierend flimmernde Helligkeit ergoss. Eruptionen, die ein Inferno gebaren. Das einzelne Togronenschiff, dessen Breitseiten uns oft verfehlt, aber ebenso oft getroffen hatten, wurde von den Waffen der wesentlich größeren Doppelpyramide erfasst – und beinahe beiläufig vernichtet. Die ersten beiden der sechs uns nachsetzenden Golfballraumer wuchsen in Sekunden zu wabernden Glutbällen heran, die in sich überlappenden Explosionen vergingen. Die Schirme der nächsten beiden Kugelraumer flackerten in grellem Grün, als sie in die berstenden Schiffe hineinrasten. Sie gerieten ebenfalls unter sekundenlangen Dauerbeschuss. Nach kaum einem Atemzug wehten ihre Schirme davon. Die Golfballhüllen zerplatzten in einem brodelnden Feuerorkan. Die letzten beiden Garbyor-Schiffe suchten ihr Heil in der Flucht. Aber der vargani-
Michael H. Buchholz sche Großraumer ließ ihnen nicht einmal den Trost der Hoffnung. Überlichtschnelle Schockimpulsbündel holten sie ein, kaum das ihre Geschwindigkeit zugenommen hatte. Die paratronähnlichen Schirme der Zaqoor loderten auf, schafften es jedoch bei weitem nicht, die Energien vollständig in den Hyperraum abzuleiten. Strukturrisse wuchsen aufeinander zu und gingen ineinander über. Als die Schirme kollabierten, setzte der Riese die Gravo-Zyklon-Projektoren ein. Die Golfballschiffe verwandelten sich in feinen, glitzernden Nebel aus mikrofeinen Stahlpartikeln. Es gab keinen einzigen Überlebenden. »Wer ist das?«, fragte Gorgh entsetzt. »Er hat mit einem Schlag rund 22.000 Garbyor vernichtet.« »Er antwortet nicht«, meldete Kalarthras. Ich starrte dem varganischen Ungetüm nach und hatte Mühe, meine Benommenheit abzuschütteln. Wer auch immer diesen Koloss steuerte – er ging offenbar mit äußerster Kompromisslosigkeit vor. Und er spielte seine technischen Möglichkeiten voll aus. Was in diesem Fall hieß: Er ging viel weiter, als er sollte oder musste. Ich konnte kaum fassen, was ich mit eigenen Augen ansehen musste. Kythara fragte hart: »Kennst du das Schiff, Kalarthras?« »Ich bin nicht sicher …« Der weißhaarige Vargane wiederholte seinen Funkanruf. Wieder bekam er keine Antwort. Und das Grauen war noch nicht zu Ende. Der goldene Reflex auf der Panoramagalerie nahm nun Kurs auf das Gefecht, in das die Hornraumer immer noch mit den beiden letzten Kugelschiffen verwickelt waren. Inzwischen hatten die Togronen herbe Verluste erlitten. Nur noch drei der länglichen Konstruktionen setzten den Schlagabtausch mit den Zaqoor fort; das vierte Schiff brannte an vielen Stellen und trudelte, sich beständig überschlagend, am Rand der Kampfzone dahin. Der fünfte Hornraumer war aus der Ortung verschwunden. Der varganische Riese fuhr – anders ver-
Angriff der Togronen mochte ich es nicht zu sagen – unter die Kämpfenden wie ein Haluter in der Drangwäsche. Beide Parteien hatten nicht den Hauch einer Chance. Die Gravo-Zyks pulverisierten die Marschflugkörper. Die Schockimpulswerfer deckten Togronen und Garbyor gleichermaßen ein. Fünf kurz nacheinander aufblühende Explosionen besiegelten das Schicksal beider Verbände. In nicht einmal einer Minute hatten an die 43.000 Intelligenzwesen ihr Leben lassen müssen. Ich verstand diese immense Brutalität nicht. Es war dem Befehlshaber des varganischen Großraumers nicht darum gegangen, uns herauszuhauen. Wer immer dort drüben befehligte: Er hatte ein grausames Exempel statuiert. Vorhin hatte mich der feige Überfall der Togronen auf den ersten Planeten förmlich angewidert. Vor diesem völlig überflüssigen Blutbad ekelte ich mich zutiefst. Obwohl damit der Massenmord an den Planetarieren beendet worden war. Und obwohl wir nur dank des fremden Varganenschiffs mit dem Leben davongekommen waren. Eigentlich hätte ich mich freuen müssen, doch ich konnte nicht. »Immer noch nichts«, beantwortete der Weißhaarige die stumme Frage Kytharas. »Ist das eure Art, Krieg zu führen?«, fragte ich die Frau erschüttert und erhob mich. Kythara wollte antworten, aber Kalarthras kam ihr zuvor. Er hob die Hand und winkte uns zu schweigen. »Ruhe – ich habe Kontakt!« Nach ein paar Augenblicken des Lauschens schüttelte er den Kopf. »Nur ein verzerrter Funkimpuls. Koordinaten. Sonst nichts. Kein Absender, kein Bild, keine Erklärung.« Er hob den Kopf und richtete seine völlig geschwärzten Augen auf mich. »Unsere Art, Krieg zu führen? Das fragst du? Wo du genau weißt, dass du diese Frage nicht einmal mehr würdest stellen können,
19 hätte dieses Schiff uns nicht im letzten Moment beigestanden? Ist das deine Art, dich dankbar zu zeigen?« Kalarthras hätte vielleicht noch weitergesprochen. Sein auf die Panoramagalerie gerichteter Arm sank herab, unwillkürlich suchten wir den goldenen Reflex des varganischen Riesen. Wir sahen das Großoktaeder Fahrt aufnehmen. Sein Kursvektor führte ihn dicht an dem torkelnden Togronenraumer vorbei. Ein einzelner Schuss löste sich aus der goldenen Dreieckswand. Der gebündelte Impulsstrahl verwandelte das brennende Wrack in eine hässliche Wolke aus Feuer und berstendem Stahl. Einen Moment später tauchte die Doppelpyramide in den Hyperraum ein. Mit dem letzten Schuss hatten sich die Toten dieser Schlacht auf 45.000 erhöht. Auf dem ersten Planeten der kleinen roten Sonne wurde indessen weiter gestorben. Ich verließ wortlos die Zentrale. Für den Moment wollte ich niemanden sehen. Ich setzte mich in einen der Aufenthaltsräume. Trank einen heißen Becher dessen, was die Positronik der AMENSOON nach meinen Angaben als Syntho-Kaffee servierte. In meinem Magen grummelte es. Wie lange lag die letzte Mahlzeit zurück? Ich erinnerte mich dunkel an das Buffet des Festbanketts auf Cramar. Aber ich konnte nichts essen. Nicht nach diesem Tag. Nicht in der Nähe des Todes, der in diesem System so furchtbar gewütet hatte. Wie nannte es der Togrone? Criil-System. Ich fragte mich, was Criil wohl bedeutete. Ich saß bewegungslos da und betrachtete das Spiegelbild der Tasse auf der reflektierenden Tischfläche. Ich goss den Rest der schwarzen Flüssigkeit fort. Wir hatten wider Erwarten überlebt. Auf eine Weise, die mir die Haare zu Berge stehen ließ. Ich verspürte eine nicht näher greifbare Furcht bei dem Gedanken, welchen Preis wir dafür würden bezahlen müssen.
4.
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Michael H. Buchholz Der Bericht des Varganen
Als ich wieder die Zentrale betrat, waren vielleicht fünfzehn Minuten vergangen. Die AMENSOON befand sich im Linearraum und »schlich« mit nur neunmillionenfacher LG dahin. Kythara und Kalarthras standen beieinander und unterhielten sich. Gorgh beobachtete mit hin und her pendelndem Kopf die Orterholos. Seine vier Handlungsarme waren in knisternder Bewegung, teils, um Diagramme aufzurufen oder Holos hin und her zu schieben, teils, weil er in seiner komplizierten Körpersprache die Gliedmaßen aneinander rieb. »… und ich denke, sie ist es doch«, sagte Kalarthras, als ich eintrat. Er bemerkte mich, wandte sich ab und setzte sich vor die Kommunikationseinrichtungen. Kythara lächelte mir zu, projizierte ein Ausschnittholo von Dwingeloo über ihre Konsole und deutete auf einen bestimmten Stern der Galaxis. »Die empfangenen Koordinaten bezeichnen eine Position nahe dieser Sonne.« Ihr Lächeln verschwand und wich einem entschlossenen Gesichtsausdruck. »Ein schwacher Hyperstrahler, dessen Emissionen dennoch Tastimpulse breitbandig behindern. Er steht 281 Lichtjahre entfernt. Kalarthras und ich diskutierten gerade, ob wir dorthin fliegen sollen. Gorgh ist strikt dagegen. Er hält es für eine Falle. Wie denkst du darüber?« Tief Luft holend, sagte ich: »Wir wissen nicht, wer das Riesenschiff kommandiert. Wir wissen nicht einmal, ob wir es mit einem oder mehreren Varganen zu tun haben oder nicht. Wir wissen nur um die lebensverachtende Einstellung des- oder derjenigen.« Ich wandte mich zu dem ehemaligen Leiter der varganischen Expedition nach Gantatryn um. »Ich will überhaupt nicht bestreiten, dass wir dem rechtzeitigen Auftauchen des mysteriösen Fremden unser Leben zu verdanken haben. Ich mag mich nur nicht mit Leuten einlassen, die offenbar gewissenlos sichtbar Unterlegene oder gar Wehrlose töten. Und eben das hat unser Freund ge-
tan.« Ich blickte zu Gorgh hinüber. »Wieso denkst du an eine Falle?« Der kleine Insektoide richtete seine Antennenfühler auf mich. »Wenn du ein Lordrichter wärst, Atlan«, antwortete der zu uns übergelaufene Daorghor, »was würdest du tun, um einer bestimmten Person lebend habhaft zu werden? Insbesondere, wenn diese besagte Person nicht gefangen genommen werden will?« Gorgh verließ die Ortungskonsole und reckte sich zu seiner ganzen Größe von einem Meter fünfzig vor mir auf. Er deutete in einer verblüffend menschlich anmutenden Geste auf mich. Um mit mir Blickkontakt aufzunehmen, musste er den Kopf in den Chitinnacken legen. Seine blauen Facettenaugen funkelten. »Wäre ein Plan nicht gut?«, fuhr der Hyperphysiker fort. »Ein Plan, der vielleicht folgende Elemente hätte? Erstens: Du bringst die Person, um die es dir geht, in Lebensgefahr. Zweitens: Du sorgst dafür, dass die Person davon überzeugt ist, um ihr Leben fürchten zu müssen. Dann entsendest du drittens den großen Retter, der die Person gerade noch rechtzeitig aus der vermeintlichen Klemme herausholt. Idealerweise kommt der Retter – viertens – in Gestalt eines vertraut wirkenden Schiffes daher. Du übermittelst fünftens die Koordinaten eines geeigneten Treffpunkts. Wie zum Beispiel den einer nahen, schwach hyperstrahlenden Sonne. Du wartest sechstens nur noch ab, bis sich die von dir gesuchte Person aus eigenem Antrieb in deine Falle hineinbegibt, und schon hast du, was du wolltest: Du kannst deinen Gegner lebend fangen. Würdest du – als Lordrichter – einen solchen Plan zumindest erwägen?« Wie oft hast du genau solche KommandoOperationen in der Vergangenheit schon geplant und erfolgreich durchgezogen?, wis-
Angriff der Togronen perte der Extrasinn. Gorghs Analyse ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 72 Prozent richtig. »Was du sagst, hat eine Menge für sich«, sagte ich. »Danke.« Der ameisenähnliche Wissenschaftler senkte die Antennenfühler und nahm raschelnd seinen Platz wieder ein. »Ich glaube davon kein Wort.« Kalarthras winkte ab. »In unserer Expeditionsflotte nach Gantatryn befanden sich genau fünf dieser Großraumer. Einer davon war das Flaggschiff, die GANTA. Ich bin nicht sicher, aber ich meine, dass wir sie vorhin erlebt haben. Und seid versichert: Es ist unmöglich, ein varganisches Flaggschiff ohne äußere Schäden zu erobern. Und dieses Schiff hatte keine sichtbaren Beschädigungen. Ein Stehlen ist ebenso ausgeschlossen, selbst wenn das Schiff Jahrzehntausende unbewacht irgendwo zurückbleiben musste. Zu massiv und zu redundant sind die Sicherheitsvorkehrungen. Nur ein Vargane könnte sie umgehen. Daraus folgt: Wer dieses Schiff fliegt, muss ein Vargane sein. Alle anderen Überlegungen sind schlichtweg undenkbar.« »Sind sie das: undenkbar? Oder lehnst du es nur ab, sie zu denken, weil nicht sein kann, was nicht sein darf?« Der Mann mit der graustichigen Haut und den vollständig schwarzen Augen erhob sich langsam. »Ich weiß, dass du nur ein Arkonide bist und dich deswegen mir unterlegen fühlst. Es macht mir auch nichts aus, dass du deswegen feindselig reagierst. Ebenso toleriere ich deine Begehrlichkeiten, auch wenn sie in eine Richtung weisen, die dir nicht zustehen. Aber ich lasse nicht zu, dass du das großartige technologische Erbe unseres Volkes mit Unterstellungen beleidigst, die jeder Grundlage entbehren. Damit beleidigst du unseren Verstand und vor allem unseren Weitblick. Wenn ich dir als damaliger Expeditionsleiter sage, dass niemand, ich betone es noch einmal, niemand ein varganisches Schiff an sich bringen kann, dann ist das so. Niemals
21 würde ein Vargane die nötigen Kodes verraten.« »Nein«, sagte ich grimmig. »Natürlich nicht. Niemals. Ich bin keine Vargane und Gorgh auch nicht. Ich fliege die AMENSOON, und ich bin im Besitz der meisten Kodes. Gorgh kennt sie auch, er fliegt die AMENSOON ebenfalls, und er ist sogar früher ein wichtiges Mitglied im Lager unseres Gegners gewesen. Natürlich sind keine Gegebenheiten denkbar, in denen ein Vargane die nötigen Kodes verrät.« »Du verdrehst mir die Worte im Mund, Arkonide.« Kalarthras wandte sich brüsk ab. Er ließ sich wieder in den Kontursitz sinken. »Ich wage nur, das Undenkbare zumindest in den Bereich des Möglichen zu rücken.« »Schön«, sagte Kythara und trat zwischen uns. »Das reicht. Halten wir fest: Es kann eine Falle sein. Es muss aber nicht. Es kann auch sein, dass Atlan und Gorgh sich irren. Irre ich mich, wenn ich sage, dass wir derzeit nirgendwo sicherer sind als in der Nähe der Waffen dieses Großraumers?« Sie beantwortete ihre Frage selbst. »Ich weiß es nicht. Aber wir können vorsichtig sein, nicht wahr? Und das werden wir. Lässt uns herausfinden, wer das Großoktaeder fliegt. Und, Gorgh, Atlan, sollte es tatsächlich ein Handlanger des Feindes sein – was ich, nebenbei gesagt, wie Kalarthras für unwahrscheinlich halte –, werde ich nicht eher ruhen, als bis ich ihm unser Eigentum wieder entrissen habe.« Ich hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Also gut: Fliegen wir hin und sehen, was passiert. Und, Kalarthras: Ich habe nichts gegen dich. Ich bin nur anderen Gedankengängen gefolgt. Das ist alles. Falls ich dich verletzt habe, so geschah dies unabsichtlich.« Und das glaubst du selbst, ja?, lästerte der Extrasinn. Der Vargane brummte etwas Unverständliches. Kythara nickte und nahm im Pilotensitz
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Michael H. Buchholz
Platz. Sie transferierte die Koordinaten des neuen Zielpunkts in die positronische Steuerungseinheit und beschleunigte das Schiff. Der einzelne Stern wanderte ins Zielkreuz. Gorgh-12 knackte mit seinen Mandibeln und pendelte den Kopf hin und her. Es sah aus, als würde er ihn in menschlicher Weise schütteln. Wenig später erreichte die AMENSOON die uns überspielten Koordinaten und fiel in den Normalraum zurück.
* Der goldene Großraumer wartete in einem sonnennahen Orbit. Kythara passte die AMENSOON in einem Abstand von fünf Kilometern der Bewegung des anderen Schiffes an. Kalarthras sendete einen varganischen Gruß. Diesmal kam sofort eine Verbindung zustande. In dem entstehenden Holo erschien ein Vargane in einer eng anliegenden und metallisch schimmernden, bronzefarbenen Kombination, die in dunkelroten, kniehohen Stiefeln endete. Der handbreite rote Gürtel war mit etlichen Taschen besetzt. Kalarthras fuhr von seinem Sitz auf und starrte die Darstellung an, als könne er nicht glauben, was er sah, obwohl er selbst zumindest einen Varganen an Bord des Großoktaeders erwartet hatte. Der gewinnend lächelnde Mann im Holo war von deutlich größerer Gestalt als ich. Alles an ihm vermittelte den Eindruck von pulsierender Kraft: die beeindruckend breiten Schultern seines perfekt durchtrainierten Körpers; die beinahe spürbare, vibrierende Spannkraft seiner hoch aufgerichteten, fast hoheitsvollen Haltung; das kantige, wie gemeißelt wirkende Gesicht, der Blick seiner durchdringenden, goldfarbenen Augen. Sein rotgoldenes Haar trug er fingerkurz, was ihm einen militärischen Anstrich gab. Eine kühn geschnittene Nase und ein markantes Kinn prägten sein ausdrucksstar-
kes Gesicht. »Vamatan – ich grüße euch«, erklang seine sonore Stimme, deren rauer Unterton an etliche glücklich überstandene Stürme ebenso denken ließ wie an unbarmherzigen Kasernenhofdrill. »Und freue mich sehr, euch zu sehen. Wie habt ihr die Schlacht überstanden? Seid ihr wohlauf?« Kythara neigte leicht den Kopf. »Vamatai – Ich grüße dich. Und ich danke dir für unsere Rettung. Danke, es geht uns gut. Einige Schadensfälle an den Konvertern, das ist alles; die Selbstreparaturroutinen laufen. Keine Verletzten, ja, wir sind wohlauf.« Der fremde Vargane nickte und deutete eine Verbeugung an. »Wir kennen einander nicht. Darf ich euch daher einladen, mich an Bord meines Schiffes zu besuchen? Künftige Verbündete sollten einander in die Augen sehen, während sie den Begrüßungsbecher erheben. Ich würde mich freuen, euch an Bord der GANTA empfangen zu dürfen. Mein Name ist …« »Veschnaron!«, fiel ihm Kalarthras unvermittelt ins Wort. »Das ist doch …« Der fremde Vargane wandte sich Kalarthras zu. »Ah, ich sehe, man hat mich noch nicht vergessen. Du hast Recht, ich bin Veschnaron. Da ich niemals meines Amtes enthoben wurde, soweit ich weiß, bin ich immer noch der Flottenkommandeur der Gantatryn-Expedition – und zurzeit zugleich die vollständig angetretene Besatzung meines ruhmreichen Flaggschiffs. Wann darf ich mit eurem Kommen rechnen?« »Veschnaron!«, rief Kalarthras abermals. »Ich bin …« »Einverstanden?« Der Vargane an Bord der GANTA lachte dröhnend. »Wie schön. Es ist lange her, dass ich mit Angehörigen meines Volkes reden konnte. Sagen wir, in einer halben Stunde? Ich übermittle euch umgehend die Transmitterzugangskodes. Seid aufs Herzlichste willkommen.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Die Hauptpositronik bestätigte den Empfang der Kodes. Kalarthras wandte seine schwarzen Augen
Angriff der Togronen von dem sich auflösenden Holo ab. Er wirkte betroffen, regelrecht beleidigt und empört. »Ihr habt es gesehen, ja? Er hat mich nicht erkannt. Ich bin sein ältester Freund. Gemeinsam haben wir die Gantatryn-Expedition vorbereitet und durchgeführt. Als Leiter der Expedition war ich sein Vorgesetzter; Veschnaron war für die Ausrüstung und den Einsatz der Schiffe verantwortlich und bekam als Flottenkommandeur den militärischen Oberbefehl. Er hat mich nicht erkannt. Es ist nicht zu fassen!« Ich sah Kythara fragend an. »Nimmst du seine Einladung an?« »Wir gehen«, sagte sie bestimmt. »Zu dritt. Kalarthras, du und ich. Gorgh hält Bordwache. Wenn unser Retter wirklich Veschnaron ist, dann ist er über jeden Zweifel erhaben.« »Er hat seinen ältesten Freund nicht erkannt«, gab ich zu bedenken. »Vielleicht, weil er ihn überhaupt nicht erkennen konnte? Weil er ihn nie zuvor gesehen hat?« »Ich weiß sehr gut, wie sehr ich mich verändert habe«, kam es missbilligend von Kalarthras. »Ich erkenne mich ja selbst kaum mehr im Spiegel. Aber er wird sich wieder erinnern, sobald wir uns gegenüberstehen. Da bin ich sicher.« Brüsk drehte er sich um und stapfte zum Ausgang der Zentrale. Kythara lachte und schritt ihm hinterher. »Wir gehen hinüber«, wiederholte sie. Im geöffneten Schott verhielt sie kurz und sagte über die Schulter zu mir: »Ich halte Kampfanzüge für die passende Garderobe. Zufrieden?« Sie warf die goldene Haarmähne zurück und verschwand im Gang, der zu ihrer Kabine führte. Gorgh-12 kam um seine Konsole herum und legte mir leicht eine Greifklaue an den Arm. »Nun?«, fragte er leise. Seine großen Facettenaugen schimmerten. Ich sah mich darin in winzigen Abbildern tausendfach gespiegelt. Es knisterte, als ich mich erhob und er den Kopf in den Nacken legte. Seine Antennenfühler spielten unstet.
23 »Ich werde aufpassen, Gorgh. Ich habe deine Worte nicht vergessen.« Der Insektoide klickte zufrieden mit den Mandibeln und zog sich wieder zurück. Tausendfacher Narr, kommentierte der Extrasinn, als ich die Zentrale verließ.
* Der dunkelrot glühende varganische Transmitterring erlosch. Wir stiegen über eine Treppe von der etwa einen Meter über dem Boden befestigten Metallplatte herab und sahen uns um. Die hiesige Gegenstation war eine der kleinen, über das Schiff verteilten und meist dem Interntransport dienenden Nahtransmittereinheiten. Wie an Bord von Varganenraumern üblich, gab es auch hier das allgegenwärtige, leicht blaustichige Licht, das aus Deckenplatten austrat. Die Stiefel unserer goldenen Kampfanzüge erzeugten einen hohlen Widerklang auf den metallenen Trittstufen. Die Helme waren geöffnet; sie lagen inaktiv als flache Kapuzen auf dem Rücken. Es war kein Veschnaron zu sehen, der uns willkommen hieß. Die Beschriftungen an den Wänden, die typischen indirekten Leuchtkörper, die verwendeten Materialien, Farben und Muster waren ohne Zweifel varganischen Ursprungs. Details, dir mir entgingen, veranlassten den Logiksektor zu einem bestätigenden Impuls: Wir befanden uns wirklich an Bord eines echten, uralten Oktaederschiffs. Ein Diagramm zeigte uns den Schiffsquerschnitt und daneben den Aufrissplan des Decks – der Transmitterraum befand sich unweit der Zentrale. Wir bewegten uns auf der Hauptebene der GANTA, auf dem Deck mit der größten Ausdehnung, dort, wo die beiden Pyramidenhälften aneinander stießen. Ein Schott fuhr auf. Drei der ovalen, goldfarbenen Servorobots schwebten summend herein, die Tentakel angelegt. Sie waren unbewaffnet. »Veschnaron bittet euch, uns zu folgen«,
24 sagte eine der Maschinen. Ich deutete Kythara eine Verbeugung an und machte eine übertrieben galante Geste zum offen vor uns liegenden Gang. »Schönheit voran.« »Danke«, antwortete der Servorobot und schwebte uns voraus aus dem Transmitterraum. Kythara und ich grinsten einander zu und folgten. Kalarthras murmelte etwas vom Verfall der Sitten. Die drei goldenen Servos eskortierten uns bis zu einem Besprechungsraum unmittelbar neben der im Vergleich zur AMENSOON wesentlich größer dimensionierten Zentrale. Doppeltüren schoben sich zur Seite. Wir traten ein. Ein ovaler Tisch stand im Zentrum des Raums, mit Sitzgelegenheiten für 24 Personen. Die Stirnwand beherrschte ein deckenhohes, von hinten angestrahltes Kunstwerk: eine Wandskulptur aus Metall, die einer Sonne ähnelte. Goldene und rote Strahlen unterschiedlichster Länge und Stärke gingen von einem gemeinsamen Mittelpunkt aus und verloren sich in nadelfeinen Spitzen. Das Werk des unbekannten Künstlers wirkte erhaben und erhebend zugleich, es vermittelte Kraft und den Eindruck von Bedeutsamkeit. Davor stand Veschnaron. Lächelnd. Voll unbändiger Energie. Ein Sieger. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Er war nicht der erste Vargane, den ich zu Gesicht bekam. Mit achtzehn Jahren hatte ich Ischtar und andere Angehörige ihres Volkes kennen gelernt, und seit einer Weile stand ich in engem Kontakt mit Kythara und Kalarthras. Alle Varganen waren auf eine schwer fassbare, intensive Weise beeindruckend. Ihre körperliche und geistige Überlegenheit spielten sie zwar nur selten aus, aber sie war immer gegenwärtig. Ihre Bewegungen waren anders, gezielter, ausdrucksstärker, gelassener, nuancierter, verhaltener und doch – prägnanter als jene aller anderen humanoiden Völker. Die goldene Haut, die perfekten
Michael H. Buchholz Gesichter, die goldfunkelnden Augen, darin der allwissende Ausdruck eines Lebens jenseits der Zeit … Kytharas verlockend anmutende, fast hypnotische Weiblichkeit entsprach in ihrer Wirkung vollauf Veschnarons überwältigender, männlich dominanter Ausstrahlung. Vor uns stand der unumstrittene Herr der GANTA. Ein Flottenkommandeur, der eine ganze Galaxis den Seinen geschenkt hatte. Ein Großer unter den Großen seines Volkes. Alle Imperatoren aus Arkons Glanzzeit zusammen, dachte ich, kämen in all ihrer Pracht und Würde und trotz der sie umgebenden Aura der Macht nur schwer gegen das Charisma an, das diesen über zwei Meter großen und achthunderttausend Jahre alten Unsterblichen umgibt. Die funkelnde, metallene Sonne hinter ihm verlieh der Szenerie, zusammen mit dem Spiel der Beleuchtung und seinem überlegenem Auftreten, den Habitus einer beinahe göttlichen Erscheinung. »Noch einmal – vamatan!«, sagte er mit sonorer Stimme. »Willkommen an Bord der ruhmreichen GANTA.« Veschnaron klatschte in die Hände. Die drei Servorobots reichten uns geschliffene Gläser mit goldfarbenem Inhalt. Auch der Vargane ergriff ein Glas. Schweigend tranken wir einander zu. Es war kein Wein, sondern ein Getränk von mir unbekannter Herkunft. Ich nippte höflich daran. Der Vargane quittierte es mit einem wissenden Lächeln. Dann setzte er das Glas ab und trat näher. »Mein Name ist euch geläufig, wie ich hörte. Darf ich nun erfahren, mit wem ich das Vergnügen habe?« Kythara legte Kalarthras die Hand auf den Arm und sagte, ehe dieser sprechen konnte: »Wir sind uns nie begegnet, gleichwohl ich deinen Namen kenne. Ich bin Kythara; die AMENSOON ist mein Schiff. Dort steht Atlan. Er ist ein Freund unseres Volkes und ein treuer Kampfgefährte. Und hier ist jemand, an den du dich wohl erinnern wirst.« Damit schob sie Kalarthras vor. »In der Tat, mir ist, als hätte ich dich
Angriff der Togronen schon einmal gesehen.« Veschnaron zog die Stirn in grüblerische Falten und ging einmal um Kalarthras herum. »Warte, ich habe es gleich … Deine schwarzen Augen verwirren mich. Ebenso die weißen Haare. Und deine Haut ist so dunkel … Kann es sein, dass wir … Nein, ich wusste nicht …« Hier hielt es Kytharas einstiger Geliebter nicht mehr aus. »Ich bin Kalarthras!«, schnaubte er empört. Ein Strahlen ging über Veschnarons Gesicht. Erstaunen mischte sich mit innigster Freude. »Aber – natürlich!« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Verzeih einem alten Freund, Kalarthras. Die langen Jahre ohne Zahl … Wo habe ich nur meine Augen gehabt? Ich hielt dich für tot oder zumindest verschollen. Aber ja, jetzt erkenne ich dich. An meine Brust, mein lieber, alter Freund.« Ehe Kalarthras sich dagegen wehren konnte, umarmte Veschnaron ihn und drückte ihn rau, aber herzlich an sich. Dann schob er ihn auf Armeslänge von sich fort. Mit seinen Pranken, hielt er Kalarthras' schmale Schultern umfasst. »Wie lange ist das jetzt her?« »Fünfzigtausend Jahre. In den Ruinen von Vrigan.« Veschnaron zögerte. »Ich erinnere mich. Wir fragten uns, wo die Rhoarxi geblieben sein mochten. Du hast von deiner bevorstehenden Reise gesprochen, nicht wahr?« Veschnaron führte Kalarthras an den Tisch und bat uns ebenfalls, Platz zu nehmen. »Vergebt mir und vor allem du, Kalarthras«, begann er mit einem bedauernden Lächeln, nachdem wir uns gesetzt hatten. »Wenn ich die Wiedersehensfreude in dieser Stunde nur kurz halte, ist dies gewiss nicht unhöflich gemeint. Die Erinnerungen müssen warten. Die Gegenwart erfordert umso mehr unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Unser Zusammentreffen ist für mich von höchster Wichtigkeit. Es ist die einmalige Gelegenheit, nach der ich seit sechs Mona-
25 ten Ausschau halte. Eine schicksalhafte Fügung, wenn ihr so wollt. Wir müssen die Garbyor in ihre Schranken weisen. Mit allen Mitteln.« Den letzten Satz sprach er mit Nachdruck. »Ich denke nicht, dass wir so vorgehen dürfen wie …«, begann ich, doch Veschnaron fuhr schon fort: »Ich war lange fort. Zu lange vielleicht. Über mehrere Jahrzehntausende durchstreifte ich das Universum. Ich war an vielen Orten und sah viele Dinge, und all das würde uns gewiss mehrere Jahrhunderte beschäftigen, ebenso wie eure Erlebnisse. Jetzt aber geht es um mehr, um Dringenderes! Wir müssen den Lordrichtern von Garb Einhalt gebieten! Vor etwa einem halben Jahr erfüllte mich eine wachsende innere Unruhe, deren Grund ich nicht verstand. Deshalb kehrte ich nach Gantatryn zurück – und traute meinen Augen kaum. Die Garbyor entwickeln überall in der Sterneninsel Aktivitäten. Vor allem aber dort, wo sich die Versunkenen Welten unseres Volkes befinden. Atlan, du weißt um die Ruinenwelten der lange verschwundenen Ornithoiden?« Er sprach mich damit zum ersten Mal persönlich an. Seine Augen nahmen mich plötzlich wahr; sein Blick senkte sich in selten erlebter Eindringlichkeit tief in den meinen. »Sprichst du von den Rhoarxi?« Er nickte heftig. »Ganz genau. Welche ihrer Planeten kennt ihr?« Ehe Kythara oder Kalarthras etwas sagen konnten, antwortete ich. »Ich kenne Alarna.« Ich hielt dem Blick, ohne zu blinzeln, stand. »Die Rhoarxi dort strebten nach baumeisterlicher Perfektion in einer Weise, die selbst noch die Ruinen ausstrahlen.« »Dann kannst du dir eine Vorstellung machen. Dieses Streben nach Perfektion findest du in allen Bauwerken und auf allen einst von diesen Wesen besiedelten Welten wieder. Galadat bildet da übrigens keine Ausnahme.« »Galadat?« Kalarthras hob fragend die Brauen.
26 Veschnaron lächelte milde. »Eine der geheimen Forschungswelten unseres geschätzten Freundes Haitogallakin. Ich gebe es zu, es war ein Zufall, den Planeten zu entdecken – oder auch nicht, wenn man an derlei Dinge glaubt. Doch ich greife in meiner Eile vor. Haitogallakin … Wusstest du, dass es ihm um die Herstellung einer ständig und beidseitig nutzbaren Verbindung zwischen diesem Universum und dem der Varganen ging – dem Mikrokosmos? Er führte auf verschiedenen Forschungsplaneten Experimente durch, die – genau wie die in der AnaksaStation des Dunkelsterns – auf modifizierten Umsetzer-Aggregaten basierten. Die Positionen der verstreuten Welten waren nur wenigen bekannt. Ich gehörte nicht dazu. Die subplanetaren varganischen Stationen dort entsprachen unserem Standard.« Anaksa! Er kennt den Namen der Dunkelstern-Station! Der unerwartete scharfe Impuls des Extrasinns ging vermutlich mit einem geänderten Blick meinerseits einher, denn Veschnaron hielt in seiner Erklärung inne und sah mich prüfend an. »In den jeweiligen technologischen Anforderungen unterscheiden sie sich selbstverständlich. Leider«, fügte er kopfschüttelnd hinzu, ohne auf dieses Bedauern näher einzugehen. Veschnaron erhob sich und begann, im Raum hin und her zu gehen. Er breitete die Arme aus, als wolle er ganz Dwingeloo umfassen. »Und Haitogallakin hat tatsächlich erste Teilerfolge erzielt. Ich war als Flottenkommandeur zu keiner Zeit in seine Experimente eingebunden und wurde nur am Rande informiert. Ich weiß auch nicht, was aus den Experimenten wurde, nachdem ich Gantatryn verlassen hatte. Aber – nach den mir vorliegenden Informationen, die ich in den vergangenen Monaten sammeln konnte, besteht für mich nicht mehr der geringste Zweifel. Die Lordrichter interessieren sich massiv für die varganischen Umsetzer-Experimente. Ich fürchte, sie haben vor, in den Mikrokosmos einzudringen, um irgendetwas zu initi-
Michael H. Buchholz ieren. Und sie tun alles, um ihre Bestrebungen schnellstmöglich voranzutreiben. Fast so, als würde ihnen die Zeit davonlaufen. Fragt mich bitte nicht nach Gründen. Fest steht: Wer ihnen in die Quere gerät, wird aus dem Weg geräumt.« »Du erwähntest Galadat«, sagte Kalarthras. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört, obwohl mir Gantatryn recht gut bekannt ist … oder war.« Wir blickten den vor der Sonnenplastik stehenden Flottenkommandeur fragend an. »Ah ja.« Veschnaron lächelte breit. »Galadat. Dazu komme ich gleich. Zuerst möchte ich Atlan eine Frage stellen. Gibt es auch in deinem Volk Sagen über fast unverwundbare Helden, die nur an einer einzigen Körperstelle eine Schwäche haben und nur so zu töten sind?« Die uralten Mythen um Ganvallon oder Thyreider, zählte der Logiksektor auf. Auf Terra waren es dagegen Siegfrieds Schulter, auf die sich das Lindenblatt beim Bad im Drachenblut setzte, oder Supermans Anfälligkeit für Kryptonit. »Ich weiß, was du meinst«, nickte ich. »Es gibt wohl kaum ein Volk, das nicht vergleichbare Mythen besitzt. In meiner Heimatgalaxis kennt man dafür den Begriff Achillesferse. Worauf willst du hinaus?« Er ergriff sein Glas und trank einen Schluck, ehe er sagte: »Nun, Galadat könnte sich als eine solche Schwachstelle erweisen. Womöglich habe ich mit Haitogallakins dortigem Stützpunkt die – wie sagst du? –, die Achillesferse der Lordrichter gefunden.« Jetzt noch ein Trommelwirbel, und die Show wäre perfekt, lästerte der Extrasinn. Veschnaron machte eine theatralisch anmutende Handbewegung. Ein unsichtbarer Servo im Inneren des Tisches aktivierte ein Holo. Langsam drehte sich ein etwa einen Meter durchmessendes Abbild der Galaxis Dwingeloo in Kopfhöhe. Auf einen Wink von ihm schaltete sich eine Ausschnittvergrößerung ein. »Galadat steht hier. Er umkreist diese gelbweiße Doppelsonne.«
Angriff der Togronen Ein roter Lichtkreis markierte das entsprechende Gestirn. »Zwei Gründe sprechen für meine Annahme. Erstens: Beide Sonnen sind starke Hyperstrahler. Im Raum zwischen den Sternen sammelt sich eine stetig wachsende Menge der Schwarzen Substanz des Dunkelsterns an. Mittlerweile hat die klumpende Masse die Ausdehnung eines großen Gasriesen erreicht – bisher ohne die Sonnen zu befallen. Offensichtlich existiert eine permanente direkte Verbindung mit dem Dunkelstern. Ihr wisst, welche Bedeutung die Lordrichter den dortigen Vorgängen beimessen? Ihr kennt die Truppenmassierung der Garbyor im Hellin-System?« Kythara nicke bestätigend. Wir hatten dort vor knapp einem Monat mindestens 15.000 Raumschiffe geortet, darunter allein 5000 Kugelgiganten der Zaqoor. Veschnaron setzte sich wieder. »Alle Aktivitäten der Lordrichter stehen mit den Umsetzer-Experimenten in untrennbarer Verbindung. Daraus folgt, dass auch die Schwarze Substanz des Dunkelsterns damit zusammenhängt. Galadat liegt im Einflussbereich eines besonderen Transferortes dieser Substanz. Haitogallakin hat genau hier aufwändige Forschungen betrieben, die den Durchbruch zum Mikrokosmos zum Ziel hatten. Für Haitogallakin muss Cabjarl – so lautet der Eigenname des Stützpunkts auf Galadat – von extremer Bedeutung gewesen sein. Alle Einrichtungen dort sind mit Fallen und Sicherungsmechanismen förmlich gespickt. Was immer Haitogallakin seinerzeit an Ergebnissen fand, er hat sie jedenfalls streng verwahrt wissen wollen. Das ist der zweite Grund, warum ich glaube, Galadat könne uns von Nutzen sein.« »Damit ich dich recht verstehe«, fasste Kythara zusammen. »Du meinst, wenn wir die Daten Haitogallakins innerhalb Cabjarls finden können, erfahren wir damit auch einen Weg, einen tödlichen Pfeil in Achilles' Ferse zu schießen?« Sie kennt nicht nur Moraht-Them, sondern auch Homer, konstatierte der Extra-
27 sinn. Du hattest den Pfeil mit keinem Wort erwähnt. Veschnarons Ansicht ist logisch und fundiert. Sind im Innern des Stützpunkts Forschungsdaten von Haitogallakin zu finden, enthalten sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch indirekte Hinweise auf die wahren Ziele der Lordrichter. Veschnaron neigte seinen kantigen Schädel. Sein goldfarbener Blick glitt von Kythara zu mir. »Wie weit ist es von hier bis Galadat?«, wollte ich ohne Umschweife wissen. »Nur knapp 11.000 Lichtjahre. Ihr seid selbstverständlich herzlich eingeladen, den Flug an Bord der GANTA zu verbringen. Die AMENSOON schalten wir mit der Hauptpositronik meines Schiffes synchron. So können beide Schiffe jederzeit starten.« Kythara erhob sich und trank den letzten Schluck aus ihrem Glas. »Dann also auf nach Galadat. Atlan? Kalarthras?« Der weißhaarige Vargane nickte. »Ich bin müde und würde mich während des Fluges gern irgendwo ausruhen.« »Du kannst unter wirklich sehr vielen freien Quartieren wählen, mein alter Freund.« Veschnarons Geste umfasste das gesamte Schiff. »Und du, Atlan?« »Ich werde unseren Kameraden Gorgh-12 benachrichtigen und dir dann in der Zentrale Gesellschaft leisten«, versprach ich. »So sei es.« Der Flottenkommandeur erhob sich und eilte uns mit kräftigen Soldatenschritten voraus. Nacheinander verließen wir den Besprechungsraum. Ist Veschnaron zu trauen?, fragte ich mental mein zweites Selbst. Keiner der Punkte, die Gorgh aufzählte, ist ausgeräumt, wisperte es zurück. Doch das ist nicht das Entscheidende. Bedenklicher finde ich, dass Veschnaron mit seiner brutalen Vorgehensweise gegenüber den Togronen und Garbyor davongekommen ist. Wohlgemerkt: Es gab bis auf deinen Versuch auch keine Gelegenheit dazu, aber er hat dich einfach abgeschmettert, und nie-
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mand hat etwas entgegnet. Wüsste ich nicht, dass du mentalstabilisiert bist, würde ich behaupten, dass in seiner unmittelbaren Nähe ein unbekannter Einfluss existiert, der bestimmten Gedankenverbindungen die Grundlage entzieht oder bestimmten Gedankenverbindungen Vorschub leistet. Als ich Kalarthras in einer der um die Zentrale befindlichen Kabinen verschwinden sah, ertappte ich mich bei einer eigenen Unterlassungssünde. Niemand von uns hatte Veschnaron gegenüber von der »undichten Stelle« erzählt. Wir mussten weiterhin jeden Augenblick damit rechnen, von den Garbyor verfolgt und angegriffen zu werden.
5. Die Verlagerung des Schwerpunkts Als wir das namenlose Doppelsonnensystem erreichten, war der 2. Juli 1225 NGZ nach meinem Armbandchronometer vierzehn Stunden alt. Der 11.000 Lichtjahre weite Flug war überraschenderweise ohne ernsthaften Zwischenfall geblieben. In den Schutz des überstarken Antiortungsfeldes der GANTA gehüllt, hatten beide Schiffe mehrere unterschiedlich lange Orientierungsstopps eingelegt, ohne auf Garbyor gestoßen zu sein. Auch andere Begegnungen waren ausgeblieben. Insofern hätte es ein ruhiger Flug sein können. Sein müssen, präzisierte der Extrasinn. Doch das Gegenteil war der Fall gewesen. »Holprig« war die Vokabel, die den bisherigen Flugverlauf noch am ehesten charakterisierte. Veschnaron saß die ganze Zeit über im Kontursitz des Piloten. Die Zentrale der GANTA war zwar wesentlich größer als ihre technologische Schwester in der AMENSOON, die einzelnen Stationen aber waren in ähnlicher Weise angeordnet und verteilt. Ich fand mich schnell zurecht, Kythara sowieso. Die GANTA verfügte über die gleichen Subsysteme, die es einem einzelnen Varganen ermöglichten, das Schiff allein zu
manövrieren. Kythara hütete sich, dem Flottenkommandeur ungefragt ihre Hilfe bei der Bedienung der GANTA anzubieten. Das wäre nach varganischen Begriffen unhöflich gewesen. Sie setzte sich gleich nach ihrem Eintreten in ein für etwaige Gäste bestimmtes Areal der Zentrale und genoss es, Veschnaron bei der Arbeit zuzusehen – zunächst. Sie winkte mich neben sich, nachdem ich Gorgh über Funk von unserem Entscheid unterrichtet hatte. Servos versorgten uns mit einem Imbiss und heißen Getränken. Die Positroniken beider Schiffe wurden vernetzt, die AMENSOON mit einem Traktoranker an die GANTA gekoppelt. Gorgh brauchte fortan nichts mehr zu tun; die GANTA schleppte Kytharas wesentlich kleineres Schiff problemlos mit sich fort. Die tatsächlichen Probleme begannen, nachdem wir in den Hyperraumflug eingetreten waren. Veschnaron diskutierte immer wieder leise – und auffallend lange – mit der Hauptpositronik, sobald es um Leistungsparameter ging, die in ihrer Abstimmung erst einen harmonischen Flug gewährleisteten. Routineentscheidungen, die Kythara fast nebenbei erledigt hätte, schienen Veschnaron immer wieder Kopfzerbrechen zu bereiten. Mehrmals warnte der Zentralrechner des Schiffes den Piloten vor zu niedrigen oder zu hohen Werten. In der vorletzten Hyperraumetappe beugte sich Kythara sogar erschrocken vor, als Veschnaron die Umleitung eines Datenstroms falsch adressierte und dieses Missgeschick zu einem unbeabsichtigten Hochschnellen der Plasmaflussdichte in den Fusionsreaktoren führte. Die GANTA beschleunigte bis zur Leistungsgrenze. Die sechsdimensionale Dakkar-Komponente des Kyri-Triebwerks drohte aktiv zu werden. Wir schossen mit einem ÜL-Faktor von über 100 Millionen förmlich über unser Ziel hinaus und waren gezwungen, nach einem neuerlichen Orientierungsaustritt umzukehren. Vor diesem Ereignis bemerkte Veschnaron nicht. Wie es in einem der Masse-
Angriff der Togronen Energie-Konverter zu einem Teilabriss des Strukturfeldes kam, mit dem in transmitterähnlicher Form beliebige Materie in Energie umgewandelt wurde. Der Wirkungsgrad sank unter die normalerweise erreichten 85 Prozent; nicht umgewandelte Materie schlug als superheißer Plasmastrahl in einen der nachgelagerten Hauptkugelspeicher ein. Die Schiffsdiagnostik erkannte selbstverständlich den Fehler. Sie fuhr rechtzeitig – mithin binnen Nanosekunden – Sicherheitsprallfelder hoch und korrigierte automatisch die Feldstärke nach eigener Einschätzung, ehe die notwendigen Selbstreparaturprozesse eingeleitet wurden. Dennoch wären die entstandenen Schäden zu vermeiden gewesen. Es war dabei nicht die Tatsache, dass der Flottenkommandeur den Abriss des Strukturfeldes nicht bemerkte, die mich irritierte. Viel mehr als das verwunderte mich Veschnarons vorangegangener und selbst mir aufgefallener schwerer Bedienungsfehler, der das Problem überhaupt erst nach sich gezogen hatte. Entweder ging Veschnaron sehr bedenken- und fast verantwortungslos mit der varganischen Technik um und vertraute den Selbstreparaturroutinen blind, oder er besaß als Pilot bei weitem nicht Kytharas spielerische Souveränität. Ich konnte mir weder das eine noch das andere vorstellen – hatte er nicht behauptet, seit Jahrtausenden mit der GANTA durchs Universum gereist zu sein? Selbst der dümmste Pilot sollte nach so langer Zeit zu besseren Leistungen imstande sein – und sagte mir zunächst, dass die Bedienung des Großoktaeders wahrscheinlich mehr als eine Person erforderte und sich die Fehler aus dem Unterschreiten der Mindestbesatzung erklärten. Kytharas oftmaliges Kopfschütteln schien jedoch zu signalisieren, dass dem nicht so war. Der erste Orientierungsaustritt verlief normal, sah man von Veschnarons gewähltem Austrittspunkt ab. Wir kamen viel zu nah an einer roten Riesensonne heraus, deren Protuberanzen uns schon umhüllten, ehe die Alarmsirenen gellten. »Ein Programmierfehler«, erklärte Ve-
29 schnaron ungerührt. Unbeabsichtigt habe er auf den 50.000 Jahre alten Sternkatalog zugegriffen, den er noch immer in den Schiffsspeichern belassen und nicht auf den neuesten Stand gebracht hatte. Kythara betrachtete minutenlang ihre Fingernägel. Der zweite Ortungsaustritt entlockte Veschnaron ein erstauntes »Nanu?«, ohne dass er uns mehr dazu sagte. Stattdessen führte er ein längeres Zwiegespräch mit der Hauptpositronik. Erst nach einer Viertelstunde beschleunigte er den Verbund der beiden Raumschiffe wieder und leitete die nächste Überlichtetappe ein. Kythara warf mir einmal mehr einen unergründlichen Blick zu, unterließ es aber, diese und danach alle weiteren Unsicherheiten Veschnarons zu kommentieren. Nach dem notwendig gewordenen Wendemanöver erreichten wir endlich und viel später als angenommen das Galadat-System. Ich atmete auf – und das zu früh. Die beiden Sonnen standen in rund 12 Lichtstunden Abstand zueinander. Der schwerere weiße Stern war von mehr als zweieinhalbfacher Solgröße mit einer Oberflächentemperatur von 6050 Kelvin. Die weniger heiße gelbe Sonne besaß an der Oberfläche eine Temperatur von »nur« 5740 Kelvin. Beide Sterne waren überstarke natürliche Hyperstrahler, die ein Strahlgewitter mit chaotischen Bedingungen produzierten. Im so genannten Librations- oder Lagrangepunkt zwischen den beiden Komponenten – 10 Milliarden Kilometer von der weißen Sonne und rund 3,1 Milliarden Kilometer von der gelben Sonne entfernt – sammelte sich die von Veschnaron beschriebene Schwarze Substanz zu einem großen Klumpen von der Masse eines Gasgiganten. Vergrößerungen zeigten auf der Panoramagalerie eine schwarzblau brodelnde Oberfläche, in der es zu ständigen hyperenergetischen Blitzen und heftigsten Strukturerschütterungen kam. Noch schien keine der beiden Sonnen von der Dunkelsternmaterie befallen worden zu sein, wie wir dies an anderen Orten beobachtet hatten, wo Materialisationen
30 der Schwarzen Substanz erfolgt waren. Die gelbe Normalsonne verfügte über zwei Planeten. Eine Treibhauswelt mit wenig mehr als halber Erdschwerkraft kreiste auf der inneren Bahn. Der bis zu 750 Grad Celsius heiße Planet besaß keinen Mond und durchmaß 9072 Kilometer. Der äußere Planet war Galadat. Er kreiste in einer mittleren Entfernung von 196,8 Millionen Kilometern um sein Muttergestirn und war mit einem Durchmesser von 17.192 Kilometern wesentlich größer als die mir so vertraute Erde. Er brauchte für sein langes Jahr 838,46 planetare Tage zu je 16 Stunden. In einer normalen Umgebung hätte der Flug in seinen Orbit keine Schwierigkeiten bereitet. In diesem System aber herrschten gänzlich andere Bedingungen. Durch die starke Hyperstrahlung der beiden Sonnen bildeten sich weit über das System hinausreichende Interferenzen. Die Verstärkungen und Abschwächungen formten ein den Raum durchdringendes hyperphysikalisches Feldliniengeflecht ähnlich dem Wellenmuster, das sich ergab, wenn man zwei Steine gleichzeitig in einen See fallen ließ. Wie ein derartiges Wellenmuster ein Blatt auf diesem See tanzen lassen und es hin und her werfen würde, wirkten die unsichtbaren Feldlinien in hyperphysikalischem Maßstab auf jedes Raumschiff ein, das sich zwischen ihnen zu bewegen wagte. »Haltet euch fest«, warnte Veschnaron nach dem Wiedereintritt. »Das meine ich wörtlich. Von einem Augenblick zum nächsten kann es zu Aussetzern der Schiffsaggregate kommen – falls ich wider Erwarten vom Weg abkommen sollte.« Er lachte, als sei die Vorstellung an sich ein Ding der Unmöglichkeit und als hätte er einen alten Raumfahrerscherz zum Besten gegeben. Aber ich bemerkte seine hohe Konzentration und die Vorsicht, mit der er die GANTA zwischen den Feldlinien entlangsteuerte. Es kam kein einziges Mal zu den angedrohten Aussetzern, aber in über einem Dutzend Fällen zu radikalen Bremsmanövern
Michael H. Buchholz und harten Richtungsänderungen. Beinahe in Schleichfahrt näherten wir uns dem blaugrün schimmernden Planeten. Als wir in einen Orbit am Rand der Atmosphäre einschwenkten, bemerkte ich Veschnarons verstohlenes Aufatmen. Er antwortete nur einsilbig auf Fragen nach dem Standort Cabjarls und lenkte nach zwei Umkreisungen die beiden Raumschiffe tiefer in die Lufthülle des Planeten. Galadat entpuppte sich als schillernde Wasserwelt mit nur einem einzigen, allerdings sehr großen Kontinent namens Djerkyn. An die 12.500 Kilometer weit erstreckte sich die Landmasse in nordsüdlicher wie ostwestlicher Ausdehnung. Das Land schien nur aus Brauntönen zu bestehen; vergeblich suchte ich Wälder und Savannen, sah weder Sümpfe noch hell leuchtende Wüstenflächen vorübergleiten. Nur Braun- und Ockertöne, zwischen denen mäandernde Flüsse die einzige farbliche Abwechslung boten. Dann, beim Näherkommen, erkannte ich den Grund dafür. Jeder verfügbare Meter Boden war der Natur entrissen worden – und mit Winkeln und Kanten, mit runden, eckigen, spitzen und stumpfen Formen überzogen. Der gesamte Kontinent ist mit einander überwuchernden Bauten bedeckt!, erkannte der Extrasinn, während sich mein Verstand noch weigerte zu glauben, was die Augen längst erfasst hatten. Eine einzige, riesige, durchgehende Bebauung erstreckte sich von Küste zu Küste, reichte bis in die Berge hinauf und wucherte an einigen Stellen sogar über die natürlichen Höhen hinaus. Die Grenzen waren dabei fließend: Es war mir unmöglich zu sagen, wo das eine Gebäude aufhörte und das nächste begann. Ich unterschied zwar Türme, Brücken, Rampen, tempelähnliche Bauten, sah Stadien oder Arenen, erblickte Kuppeldächer und gigantische Quader, gewahrte Bögen und Unterführungen, und doch war alles untrennbar ineinander verwoben, geschoben, gedrückt worden. Sämtliche Anlagen bestanden aus mächtigen bräunlichen Sandsteinblöcken. Und alle
Angriff der Togronen wiesen die untrüglichen Zeichen des überall gleichen, Jahrtausende währenden Verfalls auf: verwitterte Kanten, gesprungene Mauern, gekippte Säulen, eingestürzte Dächer, von Wind und Wetter abgeschliffene Wände, in deren Risse Pflanzen eindrangen und sich einnisteten, um alle Bauten Stück für Stück der Natur zurückzugeben und sie Jahr um Jahr allmählich, aber unaufhörlich zu überwuchern, der Kunstfertigkeit der einstigen Erbauer zum Trotz oder Hohn. »Rhoarxi«, sagte Veschnaron. »Nur einen Bereich Djerkyns haben sie ausgelassen. Rund um den See. An seinem Ufer werden wir landen.« Stumm starrten wir auf die Panoramagalerie und sahen dem verwirrenden Schattenspiel zu, das die Doppelpyramidenkörper der beiden Varganenschiffe über die Ruinen der Rhoarxi warfen. Wer waren diese seltsamen Ornithoiden gewesen? Was hätte sie dazu veranlasst, einen ganzen Kontinent förmlich zu überbauen? Was war mit ihnen geschehen? Müßige Fragen … Und doch wünschte ich mir, ich hätte mehr Zeit erübrigen können, um auch diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Der Extrasinn nannte mich einmal mehr und wohl zu Recht einen sentimentalen Narren. »Dort ist er …«, murmelte Veschnaron. »Chingar, der Quecksilbersee.« »Der was?«, fragte ich verblüfft. »Ein See aus Quecksilber?« »Binnenmeer trifft es wohl eher.« Kythara deutete auf die Panoramagalerie. Wie ein Spiegel glänzte es in der Ferne. Die Luft darüber flimmerte. Als wir näher kamen, weitete sich der Anblick in eine riesige Fläche, deren Grenzen mit dem Horizont verschwammen, als sich die Schiffe langsam niedersenkten. Die automatisch eingeblendeten Messwerte ließen mich zuerst an einen Tasterfehler glauben: In Nord-Süd-Richtung erstreckte sich der See über 384 Kilometer, in OstWest-Richtung sogar bis über 502 Kilometer aus. Die Tiefe gab die Positronik mit bis zu sieben Metern an.
31 Die Wahrscheinlichkeit spricht gegen eine natürliche Entstehung, behauptete der Extrasinn. Der Untergrund des Sees sowie die Landschaft ringsum bestanden aus uraltem vulkanischem Gestein. Die Folge davon war ein in dieser Größe wohl einmaliges Naturschauspiel. Das Quecksilber des Sees reagierte mit dem Schwefel des Gesteins und verband sich mit ihm zu Quecksilbersulfid, einem Molekül, das die Terraner auch Zinnober nannten. Ein etwa zweihundert Meter tiefer Streifen rings um das zerklüftete Ufer leuchtete daher in schönstem Zinnoberrot. Alles Leben war aus dieser hochgiftigen Zone verschwunden, es gab weder Pflanzen noch Tiere. Mit roten Kristallen überzogene Gesteinsbrocken von unterschiedlichster Größe bedeckten die Uferregion. Hier hatten die Rhoarxi keine Bauten errichtet; die nächsten Mauern erhoben sich erst in etwa zwanzig Kilometern Entfernung. »Was immer Haitogallakin für seine Forschung benötigte – an Quecksilber hat es ihm jedenfalls nicht gemangelt«, versuchte ich einen müden Witz. Veschnaron maß mich mit einem irritierten Blick. »Der See ist ein ungeklärtes Rhoarxi-Erbe. Haitogallakin hatte damit gar nichts zu tun.« Immerhin hat er seinen Stützpunkt in auffälliger Nähe des Sees erbaut, gab der Extrasinn zu bedenken. Die Gründe dafür entziehen sich vorerst unserer Kenntnis. Eine positronisch in das Panoramabild eingespielte Grafik zeigte uns die Umrisse des kreisförmigen, 40 Kilometer durchmessenden und größtenteils subplanetarisch angelegten Stützpunkts Cabjarl an. Sein grundlegender Aufbau entsprach weitgehend dem von Maran'Thor auf Mara IV. Wenig später aktivierten beide Schiffe ihre Landekraftfeldpolster und setzten nahe dem Ufer des gewaltigen Sees auf. Die AMENSOON wurde aus der Verankerung mit der GANTA entlassen. Veschnaron bat um eine kurze Ruhepause. Er wirkte erschöpft und murmelte etwas
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Michael H. Buchholz
von lange entbehrtem Schlaf. »In einer Stunde dringen wir in den Stützpunkt ein. Ich werde Kalarthras benachrichtigen.« Dann verließ er noch vor uns die Zentrale und verschwand in den Tiefen der GANTA. Kythara und ich suchten den nächstgelegenen Transmitterraum auf und wechselten zur AMENSOON hinüber. Die Varganin hatte vor, zusammen mit Gorgh eine Untersuchung der hier im System gesammelten Daten durchzuführen. Ich wünschte ihr viel Erfolg und rief eine der Hochgeschwindigkeits-Prallfeld-Sphären. In Windeseile trug sie mich auf das unterste Deck hinab. Wenig später verließ ich das Schiff durch die Bodenschleuse.
* Eine halbe Stunde später 02. Juli 1225 NGZ, 18.15 Uhr Standard. Die Außenmikrofone übertrugen das Knirschen meiner Stiefelsohlen auf dem unwirklich roten Uferstreifen. Sonst war kein Geräusch zu vernehmen. Feine Wolken roten Kristallstaubes aufwirbelnd, ging ich langsam über ein flach abfallendes Kiesel- und Geröllareal in Richtung der Seegrenze. Der Wind fegte die Staubfahnen vor mir her. Den Helm hatte ich geschlossen; die giftigen Quecksilberdämpfe hätten mich trotz des Zellaktivator innerhalb weniger Minuten getötet. Eine Bewegung am Rande meines Sichtfeldes ließ mich herumfahren. Ich glaubte einen zurückzuckenden Schatten zu sehen, der hinter einem Felsen verschwand. Die Stabwaffe entsichernd, lief ich, die vorhandene Deckung ausnutzend, einen weiten Bogen. Als ich in gebückter Haltung den verkrusteten Gesteinsblock umrundet hatte, sah ich dahinter einen Trichter feinen Sandes tanzen, den eine heftige Böe den Felsen entlangpeitschte. Keine Gefahr, wisperte es in meinen Gedanken. Du bist überreizt und seit zu vielen Stunden auf den Beinen.
Am Landungspunkt der beiden Schiffe war es früher Nachmittag. Die Oktaeder schwebten im Schutz ihres Antiortungs- und Sichtschutzfeldes in rund achtzehnhundert Metern Entfernung über dem zinnoberroten Untergrund. Sie wirkten jetzt optisch wie nebeneinander liegende, von Nebel verhangene Berge. Die metallene Oberfläche des Sees verlor beim Näherkommen ihren Glanz. Mit weißlichen, gelben, schwarzen und roten Kristallen überzogene Gesteinsbrocken schwammen im Quecksilber, wobei die zinnoberroten Anteile deutlich überwogen. Dünne, rot verfärbte Wasserpfützen breiteten sich überall auf der eigentlichen, keineswegs ebenen Seeoberfläche aus. Das Quecksilber befand sich in ständiger, aber unendlich langsamer Bewegung. Die roten Pfützen sammelten sich in den kaum wahrnehmbaren Wellentälern und quollen den Bewegungen des flüssigen Metalls folgend in alle Richtungen. In der Ferne war als flirrender Eindruck der Dampf zu erkennen, der von dem Quecksilber aufstieg. Herannahende dunkle Wolken schluckten, noch während ich am Ufer stand, das Licht beider Sonnen. Heftiger Wind trieb den roten Staub über den See. Ich kniete nieder und ließ das Quecksilber durch meine behandschuhten Finger rinnen. Wozu hatten die Rhoarxi einen derart irrsinnigen Vorrat an Quecksilber wie diesen Mammutsee gebraucht? Irrsinnig heißt, dass sich die Sinne irren, ließ sich der Logiksektor vernehmen. Du siehst nicht, was du siehst. Das Quecksilber könnte ein Nebenprodukt ihrer Bautätigkeit sein. Oder der See stellte einen Ort dar, den sie als schön empfanden. Vielleicht verehrten sie auch Quecksilber, weil es als einziges Metall bei den hiesigen Temperaturen in flüssiger Form auftritt? Solange du nicht mehr über die Ornithoiden weißt, bleibt alles pure Spekulation. Die Spektralanalyse der Mikropositronik bestätigte, dass es sich bei der zähen Flüssigkeit tätsächlich um Quecksilber handelte.
Angriff der Togronen Mich wieder aufrichtend, setzte ich vorsichtig einen Fuß auf die metallisch graue Oberfläche, anschließend den zweiten. Das Quecksilber umfloss meine Stiefel und stieg mir bis etwa zur Mitte der Waden. Danach trug mich die Flüssigkeit zwar schwankend, aber beständig. Bei der hohen Dichte des Metalls – Quecksilber wog immerhin 13,53 Kilogramm pro Liter unter Terranormbedingungen – genügte eine Verdrängung von rund sechs Litern, um nicht weiter einzusinken. Wohl wahr, gab ich mental zurück. Gleichwohl beschäftigt mich die Frage, inwieweit die Lage Cabjarls zufällig ist. Steht Haitogallakins Forschung mit dem Quecksilber in irgendeiner Verbindung? Solange wir nicht mehr über die Schwarze Substanz des Dunkelsterns wissen, bleibt auch das nicht mehr als … »Spekulation – ich weiß«, sagte ich laut. Ein Stück hinaus in oder richtiger über den See watend, betrachtete ich fasziniert den plötzlich einsetzenden Regen, der sich sturzartig über dem See ergoss. Dumpfer Donner rollte heran. Blitze zuckten aus den schwarzen Wolken herab und mäanderten der schmutzig silbrigen Oberfläche entgegen. Der unentwegt aufsteigende Quecksilberdampf begann zu leuchten. Erst entstanden fahlgelbe, dann stechend blaue Lichtkaskaden, die, vom Wind getrieben, wie Furien über den See wogten. Als das Gewitter heftiger wurde, verschwammen alle Eindrücke zu einem giftig grünen Leuchtgemisch. Die Mikropositronik des Anzugs warnte vor den einsetzenden UV-Schauern und aktivierte selbsttätig die Abblendfilter des Helms. Ich kehrte ans Ufer zurück und aktivierte das Gravopak – die Ruhephase war fast vorbei. Es wurde Zeit für unseren Vorstoß ins Innere des Stützpunktes. Während meines kurzen Rückfluges nahm das Gewitter beeindruckend schnell an Stärke zu. Der Wind steigerte sich unversehens zu einem rüttelnden Sturm. Wie verabredet trafen wir uns am Fuß der ausgefahrenen Rampe der GANTA.
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6. Die Verdichtung des Argwohns Kythara und Gorgh-12 beschäftigten sich weiterhin mit der Analyse der Daten, die wir von der Schwarzen Substanz beim Lagrangepunkt der beiden Sonnen gewonnen hatten. Kalarthras, Veschnaron und ich – alle in goldfarbene Kampfanzüge gewandet – trafen uns an der Rampe. Das Erstaunen der beiden anderen war groß, als sie mich von außen ankommen sahen. »Wo warst du?«, fragte Veschnaron anstelle einer Begrüßung. »Im See baden«, versetzte ich ungerührt. Beide starrten mich an wie … … einen Narren?, bot mir der Extrasinn an. Vielen Dank!, gab ich mental zurück. Wie originell. Und vor allem treffend!, wisperte es in meinen Gedanken. Dann ist ja alles bestens, erwiderte ich. Narren stehen bekanntlich unter dem besonderen Schutz der Götter. Der Extrasinn enthielt sich zu meiner Verwunderung eines weiteren Kommentars. Nicht so Veschnaron. »Na schön. Jeder, wie er mag. Ich warte allerdings nicht gern. Der Eingang zum Stützpunkt liegt in zwanzig Kilometern Entfernung. Ich fliege voraus.« Er erhob sich von der Rampe. Kalarthras und ich folgten. Per Gedankenbefehl ließ ich die Zeitangabe in die Helmscheibe einspiegeln – ich war sogar sechs Minuten früher erschienen, als wir verabredet hatten. Entweder war Veschnaron schlechterer Laune als vor einer Stunde, oder er wollte seinen Status als Flottenkommandeur herausstreichen, indem er sich betont militärisch gab. Ich verzichtete auf eine geharnischte Antwort und rief stattdessen die Daten auf, die ich über diesen Stützpunkttyp besaß. Derweil überflogen wir karstiges, vegetationsfreies Gelände. Der Sturm wurde stär-
34 ker. Schwere Regenschauer überschütteten uns mit wahren Wasserkaskaden. Wir aktivierten die Prallschirme und flogen schweigend hintereinander her. Die Rhoarxi hatten, wie wir schon während des Anflugs festgestellt hatten, in diesem Bereich keine Bauten errichtet. Vielleicht waren die Varganen auch deswegen auf den Einfall gekommen, ihren Stützpunkt hier zu errichten, um möglichst wenige der uralten Ruinen dabei zu beschädigen. Es war aber auch denkbar, dass die Varganen die Ruinen beseitigt hatten, um ihren Stützpunkt bauen zu können. Auf der Helminnenseite erschien der Lageplan, den die Mikropositronik des Anzugs aus dem Hauptrechner der GANTA herunterlud. Die Anlage war größtenteils subplanetar bis in eine Tiefe von 2000 Metern angelegt; der kreisrunde Grundriss erreichte einen Durchmesser von 40 Kilometern. Als Außenring gab es ein zusammenhängendes System von 3000 Meter breiten Kavernen, deren Verlauf von drei subplanetar gelegenen Kuppelstädten – als Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks angeordnet – unterbrochen wurde. Aus den Daten wusste ich vom terrassierten Aufbau der in den Städten befindlichen Gebäude. Jede der Wohnanlagen durchmaß 8000 Meter. Verbunden wurden sie durch schnurgerade Verbindungskorridore von beeindruckenden Dimensionen: 21 Kilometer lang, maßen sie im Querschnitt 200 mal 200 Meter und waren selbst für kleinere Raumschiffe passierbar. Drei »Speichen« in Form eines Y, jeweils 13,6 zu 5,2 zu 2 Kilometer groß, liefen vom Außenring auf das Zentrum zu, endeten allerdings deutlich früher und mündeten im rechten Winkel auf die Verbindungskorridore zwischen den Kuppelstädten. Die Speichen beherbergten vor allem mächtige Fabrikhallen, in denen hochhausgroße Maschinenblöcke in der Lage waren, varganische High Tech in jedem beliebigen Umfang zu produzieren – seien es nun Roboter oder Gleiter, Rechner oder Wartungseinheiten,
Michael H. Buchholz selbst Waffen bis hin zu Raumschiffsteilen. Ins gleichseitige Dreieck der Verbindungskorridore war als weiteres Dreieck mit einer Kantenlänge von rund 10 Kilometern das eigentliche Stationszentrum eingefügt, dessen Ecken in Richtung der Y-Balken wiesen. Das Zentrumsdreieck enthielt die Zentrale und wichtige Einrichtungen, darunter neben Transmittern vor allem den Hauptrechner des Stützpunkts, den vermutlichen Speicherort der geheimen Forschungsdaten Haitogallakins, unser erklärtes Ziel. Es gab nur zwei kreisförmige Oberflächensiedlungen, die mit 2500 Metern Durchmesser bedeutend kleiner als die Kuppelstädte waren. Sie lagen oberhalb von zwei der drei Eckpunkte des Zentrumsdreiecks. Hier hätte es Antigravverbindungen in die unteren Stationsteile geben sollen, und ich hatte angenommen, Veschnaron würde uns zu einer der beiden Siedlungen führen. Doch schon nach wenigen Minuten Flugzeit wurde deutlich, dass der Vargane ein anderes Ziel ansteuerte. Er landete im exakten Mittelpunkt des in der Planetenkruste verborgenen »Rades« – und damit jeweils etwa drei Kilometer von den beiden Oberflächensiedlungen entfernt. In unserer unmittelbaren Umgebung waren nur Felsen und Geröll zu sehen, das an den dem Quecksilbersee zugewandten Seiten leichte rötliche Kristallbildungen aufwies. Wir schalteten die Prallfelder ab. Auch Kalarthras schien über Veschnarons Vorgehen verwundert zu sein. »Was wollen wir hier?« »Den geheimen Eingang benutzen«, sagte Veschnaron. »Wir können uns dadurch viele Umwege sparen. Aus den Ortungsdaten der GANTA geht hervor, dass Haitogallakin diesen Zugang zusätzlich angelegt hat. Ich nehme an, dass es sich um eine Art Fluchteinrichtung handelt, um den Stützpunkt bei Gefahr schnellstmöglich verlassen zu können. Selbstverständlich kann er umgekehrt auch zum schnellen Betreten verwendet werden. Ich habe nicht vor, allzu viel Zeit zu verlieren.«
Angriff der Togronen
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Schon wieder diese merkwürdige Eile. Laut sagte ich: »Du erwähntest Haitogallakins Besorgnis um die Sicherheit seiner Forschungsergebnisse. Du sprachst von Fallen und Sicherungsmechanismen, mit denen der Stützpunkt förmlich gespickt sei. Gilt das nicht auch für diesen geheimen Zugang?« Veschnaron wandte sich mir zu. Grummelnder Donner rollte über uns hinweg. »Das ist der zweite Grund, warum ich diesen Eingang bevorzuge. Wer schnell gehen will, hat keine Zeit, erst lange und mühsam komplizierte Fallen zu entschärfen. Ich glaube daher, dass wir hier am wenigsten auf derartige Sicherungsmechanismen stoßen werden.« Schwachsinn!, kommentierte der Logiksektor. Wer immer die Anlage verlässt, schließt sorgfältig ab. Gerade bei geheimen Zugängen zu hochsensiblen Daten. Ein Funkimpuls würde genügen, alle Fallensysteme zu aktivieren. Entweder ist Veschnaron geradezu hochgradig naiv, oder er weiß mehr, als er sagt. »Und wo ist der Zugang, bitte?«, wollte Kalarthras wissen. Trotz des Helms und des daran herabfließenden Regens erkannte ich Veschnarons überlegenes Lächeln. Er hob die Arme, trat einen Schritt zurück – und verschwand. Fast gleichzeitig konsultierten Kalarthras und ich unsere Ortungsinstrumente. Eine starke Strahlung ging von dem Ort aus, an dem der Flottenkommandeur eben noch gestanden hatte. Sie wies konstante fünfdimensionale Komponenten auf, deren Bündelung charakteristisch war. Schon nach wenigen Metern verlor sich ihre Anmessbarkeit. »Nach dir.« Kalarthras grinste und deutete eine Verbeugung an. Ich grinste zurück und trat einen Schritt vor. Im nächsten Moment kniff ich vor Schmerzen die Augen zusammen. Die jähe blendende Helligkeit riss mich förmlich von den Beinen.
*
Die Abblendautomatik reagierte sofort, sonst wäre ich sicherlich erblindet. Veschnarons sonores Lachen ertönte, doch es klang seltsam hohl und wurde von einem deutlichen, mehrfachen Echo begleitet. »Beeindruckend, nicht wahr?« Er machte eine weit ausholende Armbewegung. Blendend weißes Licht kam von überall her und erschwerte die Orientierung. Das Licht war von gänzlich anderer Art als das bisher gewohnte – alle Blaustichigkeit fehlte. Das Weiß ließ Konturen kaum erkennen. Ich regulierte die Filter auf einen noch höheren Wert; was eben noch grellweiß leuchtete, erschien nun elfenbeinfarben. Ich stand in einer zweifellos künstlichen Halle auf ebenem weißem Boden. Die Wände liefen von allen Seiten schräg nach oben und bildeten einen spitzen Winkel – wir befanden uns folglich im Inneren einer gleichseitigen, vierwandigen Pyramide oder zumindest einem Raum, der so aussah. Die Kantenlänge betrug gewiss mehr als hundert Meter. Außer Veschnaron und mir gab es absolut nichts im Inneren der Halle – bis auf Kalarthras, der soeben neben mir materialisierte. Seine Augen schlossen sich ebenfalls zu einem schmalen Spalt, doch er reagierte bei weitem nicht so sehr auf das blendende Licht wie ich; die Augen der Varganen waren, wie alles an ihrer körperlichen Konstitution, robuster und belastbarer als ihre arkonidischen oder terranischen Pendants. Wir standen im Zentrum der Bodenfläche und drehten uns mehrfach um uns selbst. Ich bemerkte keinerlei Schatten; das Licht schien direkt von den Wänden auszugehen. Es war überall gleichmäßig und kam aus allen Richtungen. »Eine kleine Spielerei des guten Haitogallakin«, sagte Veschnaron. »Ich nenne es die Halle des Willkommens.« »Na schön.« Kalarthras drehte sich einmal um sich selbst. »Wir sind hier. Und wie geht es jetzt weiter?« Veschnaron legte dem ehemaligen Expeditionsleiter die Hand auf die Schulter. »Eben das, mein alter Freund, ist die kleine
36 Spielerei, von der ich sprach. Ich muss gestehen, ich weiß es nicht. Es gibt keine Waffen, keine Detektoren, keine wie auch immer geartete beeinflussbare Technologie. Es gibt keine Eingabemöglichkeiten, keine Kodeschlösser, nichts. Nur diese hohle Pyramide – mit ihren vier Wänden.« »Was ist mit akustischen Sensoren?«, wollte ich wissen. »Ich habe stundenlang hier gestanden und mich meines Echos erfreut. Ich habe mir das Hirn zermartert, ob es einer gesprochenen Botschaft bedarf, um weiterzukommen. Vielleicht genügt ein Kodewort. Ich weiß es nicht. Eine einfache Stimmenprobe jedenfalls ergibt rein gar nichts.« Ich zog ein Ortungsinstrument aus einer der Anzugtaschen. »Vergiss es.« Veschnaron winkte ab. »Es gibt nichts, was ich nicht versucht hätte. Alles, was du anmisst, wird sein, dass du nichts anmisst. Es ist, wie ich sagte: eine von Haitogallakins Spielereien. Er war mehr als vorsichtig. Vielleicht litt er gar an Verfolgungswahn. Und doch muss es einen Weg weiter ins Innere der Station geben. Ich hoffe auf euren Einfallsreichtum, meine Freunde; vor allem auf den deinen, Kalarthras. Du kanntest Haitogallakins Denkweise am besten. Viel Zeit werden uns die Lordrichter nicht lassen.« Ich grinste und trat nahe an Veschnaron heran. »Wie kommst du darauf, dass uns die Lordrichter auf der Spur sind, mein Freund?« Er lachte, und diesmal klang es noch leerer als zuvor. »Die Logik und die Gesetze der Notwendigkeit, abgeleitet aus folgenden Tatbeständen: Zum Ersten werdet ihr verfolgt, zum Zweiten wimmelt es in Gantatryn von Garbyor-Truppen, und zum Dritten haben die Lordrichter bisher noch jeden erwischt.« Tatsächlich? Auch ihn?, wisperte der Extrasinn. »Ach – und was ist mit dir?« Kalarthras schnaubte empört. »Arkonide,
Michael H. Buchholz es reicht!« Veschnaron machte eine abwiegelnde Handbewegung. »Nein, nein, lass ihn nur. Bisher hatte ich Glück und mein mächtiges Raumschiff. Aber wenn ich noch viel länger hier verweile, wird es bestimmt auch mich erwischen, ich gebe mich da keinen Illusionen hin. Ob du es nun wahrhaben willst oder nicht: Wir sind Verbündete.« Ich musterte ihn nachdenklich. Klang da ein Unterton von Verschlagenheit in seiner Stimme mit? Zuckte ein Augenlid oder Mundwinkel verräterisch? Nein, wohl nicht. Was nichts bedeutet, mahnte der Extrasinn. »Na schön«, versuchte ich es erneut. »Kommen wir mal auf unseren Einfallsreichtum zurück, mein Verbündeter. Er verrät mir vor allem eins: Du bist in wesentlichen Teilen nicht ehrlich zu uns. Zumindest nicht ausführlich genug. Du verschweigst wichtige Dinge. Wenn du bereits hier warst, bist du jedenfalls auch wieder hier herausgekommen. Da diese Pyramide aber keinen anderen Zugang hat als den, durch den wir gekommen sind, muss es zumindest eine Technologie geben, die du benutzen konntest.« Veschnaron lachte schallend. »Du sorgst dich, wie wir hier wieder herauskommen, Arkonide? Wenn es das ist, kann ich dich beruhigen. Ausgänge gibt es mehr, als du brauchst. Jede der vier Wände ist ein Transmitter. Geh einfach darauf zu, er befördert dich hinaus. Welchen du wählst, ist völlig egal; du landest immer wieder dort, wo im Geröll das Zugangsfeld anzumessen ist. Eben das ist Haitogallakins Spielerei: Jeder der vier Wege wirft dich zurück. Heraus kannst du jederzeit. Die große Frage ist: Wie dringen wir weiter ins Innere vor?« Haitogallakins Fallen sind von gänzlich anderer Art als Waffen oder Fesselfelder, wisperte der Extrasinn. Es sind Fallen des Geistes. Nur wer denkt wie Haitogallakin, wird als Freund betrachtet und hat daher eine Chance. »Die große Frage ist: Wie dachte Haito-
Angriff der Togronen gallakin?«, murmelte ich. »Er war schon immer ein Exzentriker«, sagte Kalarthras. »Sag ruhig: ein Spinner«, feixte Veschnaron. Ich schüttelte den Kopf. »Es wird uns aufhalten, dieses Rätsel zu lösen. Vielleicht ist das der tiefere Sinn dieser Falle: Sie stiehlt dem Opfer ganz einfach Zeit.« »Die wir nicht haben!«, betonte Veschnaron. Ich kniete mich hin und strich mit den Händen über den Boden der Halle. Er war glatt und fugenlos und fühlte sich, durch die Handschuhsensoren berührungsaktiv vermittelt, warm an wie bei einem hochwertigen Kunststoffbelag. »Ein terranischer Philosoph«, erklärte ich, während ich mich wieder aufrichtete, »hat einmal gesagt: Wer es eilig hat, der gehe langsam. Vielleicht sollten wir diesen Rat in diesem Fall beherzigen.« Ich wandte mich ab und ging auf eine der Pyramidenwände zu. »Was mich betrifft«, rief ich über die Schulter zurück, »plädiere ich für dreierlei: erstens eine ausreichende Schlafphase, zweitens ein nahrhaftes Frühstück – und drittens so genügend wiedergewonnene Klarheit, um allen Fallen Cabjarls oder Haitogallakins aus dem Weg zu gehen.« Als ich die Wand beinahe mit meinen Händen berühren konnte, erfasste mich das unsichtbare Transmitterfeld und beförderte mich ins Freie. Kurz danach erschienen Veschnaron und Kalarthras an meiner Seite. Wir flogen zu den wartenden Schiffen zurück. Der Flottenkommandeur zeigte sich mit meinem Vorschlag trotz der vorhin geforderten Eile einverstanden – unser neuer Vorstoß sollte in sechzehn Stunden beginnen. Fast schien es mir, als sei er in Wahrheit froh, nun eine längere Ruhephase einlegen zu können, ohne vor uns das Gesicht zu verlieren. Sein forderndes Wesen wirkte seltsam aufgesetzt. Die Anstrengung des Raumfluges hatte auch die einstündige Pause nicht
37 völlig aus seinem Gesicht verwischen können. Er zog sich in seine GANTA zurück. Kalarthras betrat mit mir die AMENSOON. In der Zentrale trafen wir Kythara und Gorgh, die mitten in einer hitzigen Diskussion darüber standen, ob man die fünfdimensional wirkenden Kollateraltoleranzen in der von ihnen aufgestellten Theorie vernachlässigen konnte oder nicht.
7. Die Berechtigung der Vergangenheit »Der richtige Moment für eine kleine Unterbrechung«, rief Kythara, als sie unser Eintreten bemerkte. »Einverstanden, Gorgh?« »Von mir aus«, schnarrte der insektoide Hyperphysiker. »Obwohl das nichts an meiner Ansicht ändern wird. Ich habe Recht, du wirst sehen. Die Formeln sprechen eine eindeutige Sprache.« »Brrr – er ist sturer als ein Vukktur«, lächelte sie. Die Varganin ließ sich in einen Kontursessel fallen, streckte die langen Beine von sich und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ihr seid früh zurück. Eure Gesichter lassen alle Spuren von Begeisterung vermissen. Woran lag es?« »An Haitogallakin«, sagte ich. »An Veschnaron«, entfuhr es gleichzeitig Kalarthras. Kythara hob fragend die Brauen. Ich bedeutete dem Varganen fortzufahren. »Ich kann es nicht beweisen und würde das auch nie vor ihm zugeben«, begann der ehemalige Expeditionsleiter zögernd. »Es ist der Gesamteindruck, der mich zusehends an Veschnaron zweifeln lässt. Es begann mit der unnötigen Härte während des Raumgefechts. Der Veschnaron, an den ich mich erinnere, hätte zwar mit aller Macht und konsequent reagiert, aber er hätte nie wehrlose und schon besiegte Feinde ohne ersichtlichen Grund vernichtet. Der Veschnaron, an den ich mich erinnere, hätte sich auch durch mein verändertes Äußeres nicht irritieren lassen. Er hätte mich erkannt. Vor allem hät-
38 te er sich daran erinnert, an welchem Ort wir uns zuletzt gegenüberstanden. Was sagte er? Ich erinnere mich – aber er verschwieg zugleich, woran er sich erinnerte. Wir standen damals in einer noch sehr gut erhaltenen Arena. Veschnaron selbst erging sich an jenem Abend in Fantasien von Zweikämpfen, die dort einmal stattgefunden haben mochten, und er verglich das Licht der untergehenden Sonne mit dem Blut der Getöteten, das den Sand verfärbte. Wir stritten uns später heftig an jenem Abend – wegen meiner Reise. Unsere Freundschaft drohte in die Brüche zu gehen – fast hätte es einen weiteren Kampf in der Arena gegeben. Doch darüber verlor er kein Wort …« Er hielt inne und fuhr sich mit der Hand über die weißen Haare. »Und …« Kythara hob die Hand. »Und vergessen wir eines nicht: Veschnaron hätte die GANTA mit spielerischer Leichtigkeit fliegen müssen. Er galt als ein begnadeter Könner. Es gab unter tausend Varganen keinen besseren Piloten als ihn. Was wir dagegen auf dem Herflug erlebten, spottet jeder Beschreibung. Sei froh, du schliefst zu der Zeit. Selbst Atlan hätte die GANTA besser geflogen.« Sie grinste schelmisch zu mir herüber. Ich warf mit einem der schweren Raumhandschuhe nach ihr. Ohne hinzusehen, fing sie ihn auf. Ich hatte nichts anderes erwartet. Ihre Reflexe waren den meinen weit überlegen. »Im Ernst – Veschnaron scheint viel von seinem früheren Wissen eingebüßt zu haben«, fuhr sie fort. »Er sucht nach bestimmten Schaltern, die er einfach kennen musste. Er greift in anderen Fällen daneben, obwohl ihm Bewegungen dieser Art in den vielen Jahrzehntausenden in Fleisch und Blut übergegangen sein müssen. Fast könnte man glauben, er habe die GANTA erst in der letzten Woche übernommen. Er weiß allenfalls ansatzweise, was zu tun ist – er als ehemaliger Flottenkommandeur in seinem eigenen Flaggschiff!« »Und noch etwas ist merkwürdig«, nahm
Michael H. Buchholz ich den Faden auf. »Ihr Varganen seid den meisten Wesen aus dem Makrokosmos körperlich überlegen. Zumindest den meisten humanoiden Völkern. Bin ich der Einzige, der sich über Veschnarons vergleichsweise schwache Konstitution wundert? Er wirkt schnell erschöpft, braucht Ruhephasen, obwohl er den Eindruck zu erwecken sucht, er ginge forsch und energisch vor. Erst fordert er größtmögliche Eile, dann ist er für unsere jetzt verabredete Pause fast dankbar. Er scheint nicht nur sein Wissen, sondern auch seine varganische Robustheit verloren zu haben.« Auf Kytharas fragenden Blick fügte ich hinzu: »Ich bat um eine Pause. Es war ein langer, ereignisreicher Tag. Wir haben uns auf sechzehn Stunden Freizeit geeinigt.« »Am wichtigsten«, ergriff Kalarthras wieder das Wort, »scheint mir ein besonderer Umstand zu sein. Ich gewann den Eindruck, als würde er von uns erwarten, ihm alle Informationen für den Zugang zu Haitogallakins Stützpunkt zu verschaffen.« »Statt selbst welche zu liefern? Richtig!«, betonte ich. »War er es nicht, der Cabjarl seinen neuen Stützpunkt nannte?« Ich schilderte Kythara kurz unser Erlebnis in der weißen Halle. Gorgh hob eine der Greifklauen. »Mit anderen Worten: Veschnaron wird zu einem nicht kalkulierbaren Sicherheitsrisiko. Wie ich es sagte. Erinnert sich jemand zufällig daran, dass ich vor einer Falle der Lordrichter warnte?« »Der sechsstufige Plan?«, erkundigte sich Kythara. »Eben der.« »Wir müssen das klären«, antwortete die blondmähnige Frau. »Atlan, auch wenn du müde bist – begleitest du mich kurz hinüber zur GANTA?« Ich unterdrückte ein Gähnen und nickte verstehend. »Seid wann besitzt du einen Schlüssel? Und wie willst du verhindern, dass Veschnaron unser Eindringen bemerkt?« Kythara erhob sich und legte die gefalte-
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ten Hände auf Kalarthras' linke Schulter. »Es ist für uns schwache Frauen immer gut, enge Beziehungen zu einflussreichen Männern zu pflegen«, säuselte sie in übertriebener Liebenswürdigkeit. »Besonders zu den Schlüsselgewaltigen. Nicht wahr, Kalarthras?« Sie wischte ihm ein imaginäres Staubkorn von der Schulter und strahlte ihn an. Der Vargane richtete seine pechschwarzen Augen auf das Abbild der GANTA auf dem Panoramaschirm. »Du meinst die Überrang-Befehle, die ich als Expeditionsleiter über alle Schiffe unserer Flotte besaß?« Er nickte langsam. »Wenn niemand sie geändert hat, sind sie noch gültig.«
* Unsere Anzugpositroniken sendeten ununterbrochen einen von Kalarthras erhaltenen Kode aus, der jeder Kamera und jeder sonstigen Überwachungsautomatik der GANTA stillhalten und akzeptieren signalisierte. Ich kannte das Verfahren aus früheren USO-Zeiten. Ausgewählte Spezialisten und ich selbst besaßen damals ähnliche Kodes, die es in bestimmten Fällen erlaubten, uns unerkannt in eigenen Schiffen oder auch innerhalb von Quinto-Center zu bewegen. Perry Rhodan sowie die Mitglieder des Mutantenkorps besaßen ebenfalls solche Passepartouts – das Verfahren wurde damals Harunal-Rashid genannt, nach dem legendären Kalifen von Bagdad, der sich der Legende nach verkleidet und unerkannt unter die Bevölkerung Bagdads gemischt haben soll. In Wahrheit hatte er mehrfach einen von mir ausgeliehenen Deflektorschirm benutzt, aber das war eine andere Geschichte. Kalarthras' Harun-al-Rashid funktionierte einwandfrei. Die GANTA verhielt sich passiv und still; alle Bewegungen unsererseits wurden weder weitergemeldet noch aufgezeichnet. Wie Schemen huschten wir durch die Gänge; eine Begegnung mit Veschnaron brauchten wir nicht zu befürchten. Die
Hauptpositronik versorgte uns mit einem Signal, das uns Veschnarons Aufenthaltsort verriet. Er befand sich in einer der Kabinen nahe der Zentrale. Wir waren per Transmitter in den unteren Teil des Oktaeders gelangt und suchten nun eine Subzentrale im Maschinenbereich auf. Von hier aus konnten die Überlichttriebwerke unabhängig von der Hauptzentrale gesteuert werden, falls dies notwendig sein sollte. Von hier aus hatten wir über den internen Sicherheitskreis auch Zugriff auf die positronischen Schiffslogbücher, auf die es Kythara abgesehen hatte. Die Varganin ließ sich an einer Konsole nieder. Sie arbeitete zielsicher und schnell. Sie verwendete mehrfach Kalarthras' Überrang-Befehl, umging alle Alarmsystemroutinen und erhielt sämtliche Freigaben. Währenddessen beobachtete ich das in meinen Helm gespiegelte Signal von Veschnarons Aufenthaltsort. Es bewegte sich nicht ein einziges Mal. Nach wenigen Minuten hatte Kythara eine Reihe von Logbuchaufzeichnungen auf einen Datenträger kopiert. Anschließend versetzte sie die Subzentrale in den Ruhemodus zurück. Sie dachte sogar daran, einen Servobot mit der vollständigen Desinfektion aller Räumlichkeiten zu beauftragen, die wir betreten hatten, um selbst Mikrospuren zu beseitigen. Nach kaum einer halben Stunde nahmen wir den Rückweg über den Bordtransmitter, über dessen Plattform wir gekommen waren. Von der AMENSOON aus löschte ein letzter Harun-al-Rashid-Befehl die Transmitteraufzeichnungen an Bord der GANTA. Als ich mich in meiner Kabine zur Ruhe begab, ging über dem Quecksilbersee die Doppelsonne hinter jagenden Wolken unter. Ich desaktivierte die Fenstersimulation und programmierte mein Multifunktionsarmband. Wahrscheinlich schlief ich schon, während ein Servoroboter mich noch aus dem Kampfanzug schälte.
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8. Das Wagnis des Denkens Der Weckruf riss mich aus gestaltlosen Träumen. Auf einer fernen Erde und in weiten Teilen der Milchstraße schrieb man inzwischen den dritten Juli 1225 NGZ. Im Hygieneabteil meiner Kabine durchlief ich das auf die niedrigste Stufe eingestellte volle Dusch- und Massageprogramm. Eine Haarentfernungslotion nahm mir den kratzigen Bartbewuchs, aufgedampfte und anschließend von Robothänden verriebene Duftöl-Vitamin-Komplexe ließen die Muskeln geschmeidig werden. Die Bekleidungseinheit stellte am Ende des Programms eine neue weiche Bordkombination bereit. Ich grinste mir im Spiegelfeld entgegen und sah einem rundum gepflegten, aber dennoch nachdenklichen Ebenbild in die rötlichen Augen. »Zweifellos der attraktivste Arkonide von ganz Dwingeloo«, beschied ich meinem gespiegelten Selbst sarkastisch. »Nur an den Sorgenfalten müssen wir noch arbeiten.« Als ich den Aufenthaltsraum betrat, in dem wir unsere Mahlzeiten einzunehmen pflegten, fand ich die vollständig versammelte »Mannschaft« der AMENSOON vor. Kythara nippte an einem großen Glas mit einer rosafarbenen Flüssigkeit und nickte mir ziemlich griesgrämig zu. Kalarthras starrte mürrisch vor sich hin und machte den Eindruck, als wolle er mit seinen schwarzen Augen ein Loch in die Tischplatte brennen. Gorgh schlürfte unter deutlicher Geräuschentwicklung ein undefinierbares Gemisch aus vorwiegend grünweißen Bestandteilen aus einer Schale. Er winkte mir eher matt als begeistert mit einem seiner mittleren Laufarme zu. Ich grüßte zurück und setzte mich. Von den vielen Dingen, die der Servorobot sogleich vor meinem Platz abstellte, war der Becher mit der nach Kaffee duftenden schwarzen Flüssigkeit das von mir im wahrsten Sinn des Wortes heißbegehrteste. Ich lächelte bei dem flüchtigen Gedanken an
Zanargun, den kaffeesüchtigen Leiter der Abteilung Außenoperationen der TOSOMA – und stellte fest, dass ich keinen Deut besser war als er. »Offenbar«, sagte ich nach dem ersten bedächtigen Schluck, »ist mir etwas Wesentliches entgangen. Ist das Wetter schlechter geworden?« »Unwesentlich«, antwortete Kythara. Und setzte eine der im Universum am weitesten verbreiteten Floskeln hinzu: »Wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht.« »Warum«, deklamierte ich, »sollte dieser Tag besser beginnen als der gestrige? Die gute Nachricht ist …?« »Die gute ist: Wir konnten, während du schliefst, die Logbucheintragungen entschlüsseln. Genau genommen sind es nur zwei Datensätze, die für uns von Bedeutung sind.« »Fein. Ich nehme an, die schlechte Nachricht betrifft daher den Inhalt der beiden Datensätze?« Kalarthras wechselte mit seiner ehemaligen Geliebten einen raschen Blick. »Veschnaron«, sagte der Vargane dumpf, »ist ein Verräter. Er hat unmittelbar vor dem Gefecht mit den Zaqoor geraffte Funksprüche an die Golfballraumer abgeschickt.« »Er hat was?«, entfuhr es mir. »Über den Inhalt wissen wir nichts«, gab Kythara zu. »Nur, dass die Zaqoor die Funksprüche unmittelbar nach dem Empfang bestätigt haben.« »Woraufhin«, schmatzte Gorgh in seine Schüssel hinein, »unser guter Veschnaron sie aus dem Universum getilgt hat. Fast so, als hätten sie es verabredet. Dieses Vorgehen entspricht im Übrigen Stufe vier des von mir postulierten hypothetischen Plans.« »Was ist mit dem zweiten Datensatz?«, wollte ich wissen. »Diese Daten waren mehrfach verschlüsselt«, erklärte die Varganin. Sie leerte ihr Glas in einem Zug und stellte es heftig ab. »Ziemlich knifflig, das Ganze, aber ich fand einen Weg. Die Daten besagen …«
Angriff der Togronen Sie machte eine Pause und schüttelte den Kopf. Unwillig strich sie eine Strähne aus der Stirn. »Na, los doch«, drängte ich. »Die Daten stellen eindeutig fest: Die Lordrichter von Garb arbeiten am Projekt Durchbruch. Das Projekt bedeutet nichts anderes als: Sie haben vor, in den Mikrokosmos der Varganen vorzustoßen. Die Lordrichter wissen um Haitogallakins seinerzeitige Teilerfolge, sie vermuten sogar spätere positive Ergebnisse hinsichtlich eines umfassenderen Durchbruchs. Veschnaron ist – und zwar durch Garbyor-Quellen – über die wesentlichen Aktivitäten der Lordrichter bestens unterrichtet. Die Datei endet mit einem Bezug auf einen anderen Erfolg. In Veschnarons Speichern findet sich ein Bericht über nichts weniger als die gelungene Verkleinerung und die anschließende Rückvergrößerung der gesamten Venad-Sternengruppe!« Ich kniff die Lippen zusammen. »Das bestätigt unsere Beobachtungen auf Sothin. Dort waren sie mühelos in der Lage, die AMENSOON zu verkleinern. Jetzt schaffen sie es mal eben mit links, eine gesamte Sternengruppe gezielt zu verkleinern beziehungsweise zu vergrößern!« Die Verkleinerung ist der Schlüssel, wisperte der Extrasinn. Denk an den Potentialverdichter der Meister der Insel auf der Hohlwelt Horror. Oder an seinen Vorläufer, den »Zwergenmacher« … Denk an den Stein der Weisen, der sich als Umsetzer der Varganen entpuppte, mit dem sie in den Makrokosmos kamen. Die auffällige Ähnlichkeit mit dem Drugun-Umsetzer der Kosmokraten, dem Gerät, das ebenfalls einen Transport in den oder einen Mikrokosmos ermöglichte und das sich zerlegt in den Burgen der Sieben Mächtigen fand … »Für mich heißt das noch mehr«, regte sich Kalarthras auf. »Die Daten beweisen vor allem eins: Veschnaron steht mit den Lordrichtern in irgendeiner Weise in Verbindung.« »Was zu beweisen war«, warf Gorgh knisternd ein. Seine Mandibeln zermahlten
41 knirschend eine zuckerhaltige Substanz, die er sich blockweise in den Mund schob. »In Verbindung steht er – ohne Zweifel«, sagte Kythara. »Vielleicht arbeitet er sogar mit ihnen zusammen. Ob freiwillig oder gezwungenermaßen, sei einmal dahingestellt. Eingedenk seines Verhaltens neige ich dazu zu behaupten, er wird auf eine uns unbekannte Weise beeinflusst.« »Richtig«, stimmte ich zu. »Unabhängig davon – er bleibt ein Sicherheitsrisiko«, beharrte Gorgh. »Mir kommt noch ein Gedanke«, sagte ich leise. »Ist es nicht auffällig, wie wunderschön ungestört wir seit unserem Zusammentreffen mit der GANTA bleiben? Unsere undichte Stelle kann nach wie vor agieren, weil wir sie bisher nicht eliminieren konnten. Wo bleiben die Garbyor? Haben sie unsere Spur wirklich verloren? Oder …« »… oder wissen sie die ganze Zeit über, wo wir sind?«, rief Kythara. »Meinst du das?« Ich nickte. »Angenommen, Veschnaron steht mit ihnen in Verbindung, dann brauchen sie uns nicht zu stellen. Sie haben es längst getan. Wir könnten mit der wesentlich kleineren AMENSOON einer angreifenden GANTA nichts entgegensetzen.« »Falsch«, widersprach Kalarthras. »Du vergisst meine Überrang-Befehle. Ich könnte die GANTA jederzeit stilllegen.« »Stimmt«, gab ich ihm Recht. »Aber das wissen offenbar nur wir vier, oder?« »Richtig«, meinte Gorgh. »Nur wir vier. Bis jetzt.« »Und das sollte so bleiben« sagte ich bestimmt. »Fassen wir zusammen«, forderte Kythara. »Die Lordrichter werden zeitgleich in wenigstens drei Galaxien aktiv – in der Milchstraße, hier in Gantatryn und in Gruelfin, der Heimatgalaxis der Cappins. Ihr Ziel besteht darin, einen Vorstoß in den Mikrokosmos zu erzwingen. Hierfür verwenden sie vor allem das Wissen der Varganen. Sie sind bereits in der Lage, Objekte bis zur Größe einer Sternenballung gezielt zu
42 ›verkleinern‹ und diesen Vorgang auch wieder rückgängig zu machen. Noch gelingt der endgültige Durchbruch nicht. Aber sie machen Fortschritte. Die Zeit wird täglich knapper. Was wissen wir noch? Sie konzentrieren ihre Kampfverbände in auffälliger Weise in der Nähe des Dunkelsterns. Die Lordrichter würden ihrem Ziel einen gewaltigen Schritt näher kommen, könnten sie seine Forschungsergebnisse auswerten.« »Und wie es der große Zufall will«, warf ich ein, »befinden wir uns just zur Stunde auf einer Welt, auf der eben diese Forschungsergebnisse zu finden sein sollen. Wir wurden hierher geführt von einem Verbündeten der Lordrichter. Von jemandem, dem wir unser Leben verdanken und der uns aus großer Bedrängnis rettete. Von jemandem, dem wir aus mehreren Gründen vertrauen müssen. Einem von uns. Der sich aus ehrenhaften Motiven heraus nichts sehnlicher wünscht, als möglichst schnell dieser Forschungsergebnisse habhaft zu werden.« »Und da dabei die Anwesenheit der Garbyor nur störend wirken würde, bleiben sie auf wundersame Weise fern. Ein wunderbarer siebenstufiger Plan, präzise durchgeführt.« Gorgh gestikulierte knackend mit den Greif- und Laufarmen. »Sprachst du nicht immer von sechs Stufen?« Kythara hob die Brauen. »Da war mir die siebte Stufe noch nicht klar. Sie besteht darin, uns nicht nur ebenso unverschämt wie bravourös zu hintergehen, sondern uns auch die Arbeit erledigen zu lassen.« Kythara sah mich fragend an. »Was tun wir jetzt?« »Unsere Optionen sind begrenzt«, zählte ich auf. »Wir könnten uns Veschnaron offen entgegenstellen. Mit dem Erfolg, dass er sich doch früher oder später in den Besitz der Ergebnisse setzen wird. Sei es mit Gewalt oder technischer Überlegenheit. Zudem wissen wir nicht, ob Veschnaron überhaupt weiß, wie und womit er beeinflusst wird, sofern eine Beeinflussung vorliegt und er nicht freiwillig mit den Lordrichtern paktiert. Stel-
Michael H. Buchholz len wir uns gegen ihn, verlieren wir unter Umständen die Möglichkeit, ihn aus dem vielleicht vorhandenen Zwang zu befreien.« »Und wir weisen die Lordrichter darauf hin, dass wir ihren Plan durchschaut haben«, meinte Kythara. »Nicht nur das.« Kalarthras beugte sich vor. »Wir liefern Veschnaron damit auch der Willkür der Lordrichter aus – falls er nicht freiwillig ihren Handlanger spielt.« »Besser ist es, sie im Ungewissen zu lassen«, sagte Gorgh in seiner schnarrenden Redeweise. »Spielen wir die Dummen. Tun wir so, als sei alles in bester Ordnung.« »Schön«, sagte Kythara. »Wir sind dumm. Wir merken nichts. Wir dringen ins Innere Cabjarls vor und bergen die Daten aus dem zentralen Rechner. Und dann?« Ich winkte den Servorobot herbei, um eine weitere Tasse des Kaffeesurrogats zu ordern. »Dann werden wir Veschnaron im selben Moment überwältigen müssen, in dem wir die Daten haben. Wir nehmen ihn gefangen; das verschafft uns entweder eine wertvolle Geisel, oder wir eröffnen uns die Chance, ihn später aus der möglicherweise vorhandenen Beeinflussung zu befreien.« »Einverstanden, Kalarthras?« Der Grauhäutige nickte. »Gorgh?« »Keineswegs«, antwortete der kleine Insektoide zu unserer Überraschung. »Ich meine, es ist besser, ihn nicht erst zu überwältigen, wenn wir die Daten haben. Damit rechnet er mit hoher Wahrscheinlichkeit. Es ist besser, ihn vorher gefangen zu nehmen, in einem Moment, da er sich nur diebisch über unsere Einfalt freut und nicht auf einen Angriff gefasst ist.« Du schweigst?, fragte ich stumm mein zweites Selbst. Wider Erwarten habe ich keine Einwände, kam die gewisperte Antwort. Was nicht heißt, dass euer Plan fehlerfrei ist. Ich kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur keinen Fehler erkennen. Ich nickte und gab Gorgh damit Recht. »Dann machen wir es so«, beschloss Kythara. »Wir nehmen ihn vorher gefangen.«
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9. Die Bestätigung der Beständigkeit Vier Stunden später. Das Holo in der kleinen Zentrale zeigte den schematischen Aufriss des varganischen Stützpunkts an. Die beiden Oberflächensiedlungen lagen 2000 Meter oberhalb von zweien der drei Eckpunke des Zentrumsdreiecks. Wir waren übereingekommen, der leichteren Orientierung wegen diese drei Eckpunkte mit den Zahlen 4, 8 und 0 zu benennen, den Positionen auf einem terranischen Zifferblatt gemäß, vom Landeplatz der Schiffe aus gesehen. Die beiden Siedlungen nahmen in diesem Sinn die 4-Uhr- und die 8-Uhr-Position ein. Das Beiboot der GANTA mit dem Eigennamen NATAS schwebte über der 4-Uhr-Siedlung. Sie bot einen Anblick grenzenloser Traurigkeit. Die verlassene Oberflächensiedlung musste einst den Eindruck strahlender Schönheit verbreitet haben. Inzwischen hatte sich die Nähe des Quecksilbersees als ein über alle Vollkommenheit triumphierender Feind erwiesen. Wo früher einmal idyllische Parks und Wälder, Seen und Gärten gewesen waren, trieb nun der Wind rötliche und mit Quecksilberverbindungen angereicherte Sandfontänen vor sich her. Die ehemals weißen, scheinbar wie aus makellosem Porzellan gefertigten Gebäude mit ihren Türmchen, Brücken und geschwungenen Dächern warteten nun darauf, von giftigem Staub der Jahrtausende bedeckt, dass jemand sie aus ihrem »Dornröschenschlaf« erweckte. Vielleicht hatte sich früher ein Prallschirm über die Gebäude gespannt, oder unermüdliche Robots hatten einen nicht enden wollenden Kampf gegen die Erosion geführt; zum gegenwärtigen Zeitpunkt war die zweieinhalb Kilometer durchmessende Siedlung den Einflüssen des Quecksilbers schutzlos ausgeliefert. In der Zentrale des 31 Meter breiten und 44 Meter hohen Kleinoktaeders hatte Kythara die Steuerung übernommen. Veschnaron bediente die Kommu-
nikationsstation; ich hatte vor den Waffenkontrollen Platz genommen, rechnete aber nicht damit, sie bedienen zu müssen. Kalarthras war mit Gorgh in der AMENSOON zurückgeblieben. Einige der mittlerweile verlandeten Seen verdeckten getarnte Antigravschächte, die in die Tiefen Cabjarls hinabführten. Einen solchen suchten wir jetzt. Die NATAS sendete seit wenigen Minuten auf allen von den Varganen gebräuchlichen Frequenzen ein sich ständig wiederholendes Transpondersignal. Tief innerhalb der Station würde eine dafür zuständige Positronik unseren Freund-Status erkennen und zugleich die Herkunft der NATAS als Beiboot des Flaggschiffs der damaligen Expeditionsflotte identifizieren. Das hatte zumindest Kalarthras behauptet. Und das zu Recht, wie sich bald darauf zeigte. »Kontakt«, rief Veschnaron und ließ seine Finger über die Displays tanzen. Eine wohlmodulierte, aber zweifellos künstliche Stimme fragte, ob wir einzufliegen wünschten. »Bestätigen«, verlangte Kythara. »Einfluggenehmigung wird erteilt.« Auf dem Panoramaschirm zeigte sich im größten der vier Seen eine dünne schwarze Sichel, die sich wie ein rasend schnell zunehmender Mond rundete. Der Seeboden verschwand – ein waagrecht liegendes Schott im Uferboden. Ein zweihundert Meter durchmessender, kreisrunder Schacht tat sich unter der NATAS auf. Kythara steuerte das Kleinoktaeder langsam in die dunkel gähnende Öffnung hinab. Über uns schob sich der Seeboden wieder über den Schacht; zugleich nahm die Helligkeit zu. Wenig später erfüllte das bekannte blaustichige Licht den zweitausend Meter abfallenden Innenraum. Kythara ließ das Schiff schneller sinken. Kurz darauf erreichten wir den Grund des Schachts unterhalb der Siedlung am Punkt 4. Von den angeblichen Fallen hatten wir bisher nichts bemerkt.
44 »Bis hier unten hin vorzustoßen war jedes Mal leicht.« Veschnaron deutete nach draußen. »Die Vertikalschächte und die großen Dreieckskorridore auf dieser Ebene werden durch die Transpondersignale von der zentralen Positronik jederzeit freigegeben. Die Außenbereiche samt der Kuppelstädte sind dadurch allen Flottenangehörigen oder ihren Verbündeten frei zugänglich. Weiter ins Zentrum hinein habe ich mich allerdings nie vorgewagt.« Oder er ist dabei stets gescheitert. Der warnende Impuls des Extrasinns war scharf und unmissverständlich. »Und wohin nun?«, fragte Kythara. Auf dem Schirm sahen wir vier Gangabzweigungen, die vom Schachtboden fortstrebten. Zwei davon lagen einander direkt gegenüber; die Verbindungen zu den zwei an ihren Endpunkten gelegenen subplanetaren Kuppelstädten. Sie waren für uns uninteressant. Wir wollten zur Zentrale Cabjarls vorstoßen, und diese lag im Zentrum des inneren Dreiecks. Die beiden anderen Gänge stießen im spitzen Winkel aufeinander. Der linke führte zum Schacht unter Punkt 8, der rechte zur dritten Ecke, dem Punkt 0 des zentralen Dreiecks. Jeweils auf halben Weg zweigten von diesen Korridoren im rechten Winkel die direkten Zugänge zur Zentrale ab. »Nimm den rechten«, schlug ich vor. »Im Prinzip ist es gleich, welchen Weg wir einschlagen.« Kythara nickte und beschleunigte. Der Gang maß 200 mal 200 Meter im Querschnitt und war zehn Kilometer lang. Unzählige kleinere Türen, Schotten, Rampen, Treppen und unverschlossene Öffnungen säumten zu beiden Seiten unseren Weg. Das blaustichige Licht emittierten an den Wänden und der hohen Decke angebrachte Leuchtkörper. Die Bodenfläche des Gigantkorridors war glatt und unbebaut. Nach fünf Kilometern tauchte der mit 100 zu 100 Meter im Querschnitt deutlich kleinere Gang zu unserer Linken auf. Kythara setzte die NATAS an der T-Kreuzung auf ihrem Landeprallfeldkissen auf. Wir verlie-
Michael H. Buchholz ßen das Beiboot in den goldenen Kampfanzügen und flogen in den hell erleuchteten Gang hinein. Weit vor uns, 2900 Meter entfernt und wegen der perspektivischen Verzerrung für uns nicht erkennbar, lag die Zentrale des varganischen Stützpunkts. Und in ihrem Innern der Zugriff auf die Hauptpositronik mit den von uns erhofften Daten. Wir flogen nur langsam weiter. Hielten uns dabei nur knapp über dem Boden. Wir sicherten ständig nach allen Seiten. Blieben immerfort auf der Hut vor den von Veschnaron vorausgesagten Fallen und Sicherungssystemen. Mehr als einmal blickten wir uns ratlos an. Nichts geschah. Es gab keine Roboter, die uns begegneten, keine Schirmfelder, keine weiteren Identitätsaufforderungen, nichts. Ein Kilometer lag bereits hinter uns. »Wir sollten …«, sagte ich, kam aber nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Der Ausfall der Antigraveinrichtungen geschah so abrupt, dass wir alle drei uns beim Sturz überschlugen. »Totalausfall aller Anzugsysteme«, rief Kythara verärgert. »Hast du Vinara und den dortigen Technikausfall schon verdrängt?« Ich rieb die schmerzende Seite. Ich vermochte nicht einmal einen Systemcheck meines Kampfanzuges zu initiieren – alle Energieflüsse waren schlagartig zum Erliegen gekommen. Veschnaron testete eine der Stabwaffen – sie waren ebenso nutzlos geworden wie alle Scanner, Ortungs- und sonstigen Instrumente. Der Effekt war durch das Überschreiten einer unsichtbaren Grenze ausgelöst worden; Kythara lief einige Meter zurück, erhielt wieder volle Betriebsbereitschaft aller Systeme. Als sie sich uns wieder näherte, erlosch abermals von einem Moment zum anderen die Energie. Entschlossen öffnete ich den Anzug und begann, ihn abzustreifen. Da auch alle Servos einschließlich der Mikropositronik und die dadurch gesteuerten Kraftverstärker nicht mehr funktionierten, war die
Angriff der Togronen Montur fortan eher hinderlich als förderlich. »Ein bisschen Bewegung tut doch gut«, rief ich. »Vielleicht ist das Haitogallakins Sicherheitsmechanismus – eine Zone technologischen Schweigens.« Veschnaron warf mir einen finsteren Blick zu, folgte aber meinem Beispiel. Kythara schälte sich mit eleganten Bewegungen ebenfalls aus ihrer Montur. Dann schritten wir kräftig aus. Unsere Anzüge blieben hinter uns zurück. Das Summen nahm so allmählich zu, dass wir es zunächst nicht einmal bemerkten. Es war ein dumpfer Laut, der vom Boden auszugehen schien und der mit jedem zurückgelegten Meter intensiver wurde. Ich ging in die Hocke und legte die Hand auf den Kunstbelag. »Vibrationen«, murmelte ich und sah die beiden Varganen fragend an. »Eine Idee?« »Stationsanlagen«, meinte Veschnaron. »Unwichtig für uns. Weiter.« Doch viel weiter kamen wir nicht. Schon nach zwanzig Schritten steigerte sich das Vibrieren zu einem deutlichen Rütteln, nach noch einmal zehn oder zwölf taumelnden Versuchen vermochte ich mich nicht länger auf den Beinen zu halten. Der Boden tanzte förmlich unter meinen Füßen. Als befänden wir uns im Gebiet eines sich immer weiter steigernden Erdbebens. Veschnaron war der Zweite, der stürzte. Doch er vermochte sich im Gegensatz zu mir immer wieder aufzurichten. Die heftigen Vibrationen drangen mir nach nur wenigen neuerlichen Metern wie glühende Stacheln durch Mark und Bein. Sie wurden umso schmerzhafter, je weiter ich in Richtung der immer noch über 1200 Meter entfernten Zentrale kriechen wollte. Dann war es mir nur noch mit äußerster Anstrengung möglich, mich auf Händen und Knien voranzuschieben. Allein Kythara stand noch aufrecht und blickte trotzig nach vorn. Veschnaron kniete und schwankte dabei wie ein Baum im Wind. Das Brummen war zu einem dröhnenden, unheilvollen Rumoren geworden.
45 »Ich schaffe es nicht«, keuchte ich. »Geht alleine weiter.« »Ich bleibe bei Atlan«, widersprach der Vargane. Inzwischen musste er schreien, um das Rumoren zu übertönen. »Finde du einen Weg, die Vibrationen abzustellen. Wir kehren zu den Anzügen zurück.« Kythara nickte und tänzelte vorwärts. Ihre Gestalt sprang vor meinen Augen auf und ab; es war mir unmöglich, sie in dem Beben des Bodens zu fokussieren. Veschnaron packte mich und zog mich in die entgegengesetzte Richtung zurück. Ich warf einen Blick über die Schulter. Kythara war jetzt an die achtzig, vielleicht auch hundert Meter entfernt, als ich sie stürzen sah. Nun kroch auch sie auf allen vieren. Dann verlor ich sie aus dem Blick. Ich bedeutete Veschnaron anzuhalten, zeigte in ihre Richtung. Das Rumoren schwoll nun zu einem schrillen Heulen an. Es steigerte sich binnen Sekunden zu einem infernalischen Brüllen. Irgendwo wummerten mächtige Maschinen und erzeugten die erdbebenähnlichen Effekte. Stimmen zu verstehen war nicht mehr möglich. Obwohl ich lang ausgestreckt auf dem Gangboden lag, wurde mein Körper wie von einem bockenden Pferd hoch- und hin und her geworfen. Als der Lärm und das künstlich erzeugte Beben nachließen, sah ich Kythara plötzlich wieder an meiner Seite. Beide Varganen trugen mich zwischen sich, fort von der Zentrale. In meinen Ohren klingelte es; ich verstand weder, was Kythara zu mir sagte, noch die Worte, die sie mit Veschnaron wechselte. Kurz darauf ließ das Zucken meiner Beinmuskeln nach, ich konnte wieder selber gehen. Der Lärm verebbte. Als wir unsere Anzüge erreichten, umfing uns wieder die gewohnte Stille der weitläufigen Korridore. Nur mein an allen Stellen schmerzender Körper bewies, dass das seltsame Beben keine Einbildung gewesen war. »Es ist unmöglich, diesen Gang zu passieren.« Kythara gab den Versuch auf, ihre wirren Haare zurückzustreifen. »Zu dem Beben kamen wandernde Schwerkraftfallen. Ich
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ging, so weit ich konnte, so weit irgendein Vargane es überhaupt vermocht hätte. Ein nächster Schritt hätte auch mich getötet. Und genau an dieser Stelle fand ich das hier.« Erst jetzt bemerkte ich den reflektierenden Gegenstand in ihrer Hand. Ein Ding aus Metall, etwa handgroß und zweifellos künstlichen Ursprungs. Alle Flächen glänzten wie glatt poliert. Es besaß unregelmäßig verteilte Vertiefungen, Aussparungen und Vorsprünge. »Was ist das?« fragte ich heiser. »Ich weiß es nicht«, lautete ihre Antwort. Und ich weiß nicht, ob es etwas bedeutet, kam es mit einem matten Impuls von meinem Logiksektor, aber das Ding hat zweifellos die Farbe von Quecksilber!
* Kythara legte das Fundstück auf die Paneele der Flugkontrollen und warf sich in den Kontursessel. Mit wenigen Handbewegungen erweckte sie die NATAS aus ihrer Parkfunktion. »Uns bleiben noch zwei weitere Zugänge.« Sie sah mich fragend an. »Nur – welcher ist der richtige?« »Du nimmst an, der andere ist wie dieser unpassierbar?« »Liegt doch nahe, oder?« Sie wischte sich über die Stirn und band ihre Mähne mit einem Band im Nacken zusammen. Dann rief sie den Aufrissplan erneut aus den Speichern auf. »Mich interessiert mehr, was das für ein Ding da ist«, murmelte Veschnaron. »Sieht aus, als wäre jemand vor uns da gewesen und bis zu dieser Stelle gekommen. Könnte alles sein, was von ihm übrig geblieben ist.« Kythara kommentierte seinen Einwurf mit einem Achselzucken. Sie deutete auf die schematische Abbildung. »Wir befinden uns auf halber Höhe zwischen Punkt 4 und Punkt 0. Die beiden anderen Korridore zweigen jeweils in den Mitten der Strecken 4-2 und 8-6 ab.« »Es gibt zumindest einen Unterschied«,
sagte ich. »Die Strecke zwischen Punkt 4 und Punkt 8 verbindet die beiden Oberflächensiedlungen beziehungsweise ihre nach unten reichenden Schächte miteinander. Die Strecke von Punkt 8 zu Punkt 0 ist nur durch eine der Siedlungen gekennzeichnet – eben die oberhalb von Punkt 8.« »Ist der Unterschied damit qualitativ?« Veschnaron verschränkte die Arme vor der Brust. Ich zuckte meinerseits mit den Achseln. »Zumindest ist der von der Strecke zwischen Punkt 4 und Punkt 8 abzweigende Gang der kürzeste Weg zur Zentrale – aus dem Blickwinkel der Oberflächensiedlungen betrachtet. Er ist geometrisch bedeutender. Einen anderen Unterschied kann ich nicht erkennen.« »Also dann.« Kythara steuerte die NATAS den breiten Gang zurück, den wir gekommen waren. Am vertikalen Schacht angekommen, bremste sie das Kleinoktaeder ab und lenkte es in eine scharfe Rechtskurve, ehe sie erneut beschleunigte. Wiederum ging es fünf Kilometer weit in den Korridor hinein. Er war ebenso verwaist wie der vorherige. Diesmal erschien der zur Zentrale abzweigende Weg zu unserer Rechten. Kythara parkte wie zuvor das Beiboot auf dem Landekissen. Wir schleusten aus. Vor uns erstreckte sich der 2900 Meter lange und im Querschnitt nur 100 zu 100 Meter messende Gang. Er war hell erleuchtet und ebenso verlassen und leer wie sein Ebenbild. Wir aktivierten die Gravopaks und schwebten hinein. Ein Déjà-vu-Gefühl stellte sich unwillkürlich ein. Den beiden Varganen schien es ähnlich zu ergehen. Als wir uns der Einkilometermarke näherten, bedeutete uns Kythara zu landen. Vorsichtig gingen wir zu Fuß weiter. Und verhielten unseren Schritt, als wir die Kante erreichten. »Noch ein Unterschied!«, murmelte ich. Stirnrunzelnd trat Veschnaron neben mich. »Von jetzt an geht's abwärts, was?«, meinte er spöttisch. »Mal was Originelles.« Über die gesamte Breite des Ganges senk-
Angriff der Togronen te sich der Boden zu einer schrägen Rampe ab, um nach einem Höhenunterschied von wenigstens zwanzig Metern abermals waagerecht weiter zu verlaufen. Das Gefälle war mit etwa fünfzehn Grad nicht zu steil, um es zu Fuß zu nehmen. Und zu Fuß mussten wir gehen – schon der erste Schritt die Rampe hinab brachte alle Funktionen der Varganenanzüge zum Erliegen. »Doch die falsche Wahl?«, fragte die in die Ferne spähende Frau. »Jetzt sind wir schon mal hier«, gab ich zurück, entledigte mich meines nutzlos gewordenen Anzuges und lief die Schräge hinab. Kythara und Veschnaron taten es mir gleich. »Seltsam«, wunderte ich mich schon nach den ersten Metern. »Spürt ihr auch den Widerstand?« Es gab kein Rumoren, kein Vibrieren des Bodens. Und doch verstärkte sich ein Einfluss, den ich nicht besser beschreiben konnte als einen Widerstand, der mir mit jedem Schritt das Anheben der Füße erschwerte. »Die Atmosphäre verändert sich«, sagte Kythara nach wenigen weiteren Minuten. »Das Licht wird dunkler und dabei blauer«, sagte Veschnaron. »Und der Druck nimmt zu.« Ich starrte kopfschüttelnd auf meine Hosenbeine, die sich unter dem zunehmenden Druck enger an meine Muskeln pressten. Das Wahrnehmungsgefühl des Atmens wurde unangenehm. Das Luftgemisch im Inneren Cabjarls entsprach dem in varganischen Raumschiffen – bisher. Jetzt wurde die Luft mit jedem Atemzug schwerer, in gewisser Weise dickflüssiger, fast als könnte man sie beißen. Der auf uns lastende Druck ließ unsere Kleidungsstücke förmlich an uns kleben. Inzwischen bewegte ich mich stark vornübergebeugt und brachte meine Beine nur mit hohem Kraftaufwand wieder nach vorn. Es war als … … gingest du unter Wasser!, vervollständigte der Extrasinn meinen Gedanken. Die Dunkelheit verstärkte sich. Das blaustichige Licht schimmerte irgendwo von
47 oben herab, doch schon meine Füße konnte ich nicht mehr erkennen; sie bewegten sich wie durch zähen Sirup in völliger Schwärze. »Kannst du noch atmen?«, vernahm ich Kytharas Stimme von irgendwoher – undeulich, verzerrt, verschwommen. »Es geht gerade noch«, gurgelte ich. Der Druck lastete inzwischen auf meinem Hals wie eine von allen Seiten zudrückende Haluterfaust. »Stehen bleiben«, glaubte ich zu verstehen. »Du bleibst bei ihm, Veschnaron. Bring ihn zurück. Ich schwimme weiter.« Undeutlich sah ich einen Schemen mit weit ausholenden Kraulbewegungen aus meinem Gesichtsfeld gleiten. Sie schwamm oder besser tauchte tatsächlich in dem seltsamen Medium, in dem wir uns befanden. Veschnaron tastete nach meinem Gürtel. Der Vargane zog mich langsam mit sich in Richtung der Schräge zurück. Dankbar ließ ich mich treiben. Kythara war irgendwo – ich konnte sie weder sehen noch hören. Je näher wir der Rampe kamen, desto heller wurde die Atmosphäre wieder. Die Bewegungen fielen leichter, der immense Druck nahm ab. Veschnaron und ich stiegen die Schräge hinauf und warteten auf die Varganin. Der Gang sah von hier aus wie zuvor: völlig leer und hell erleuchtet. Wir konnten sein gegenüberliegendes Ende mit dem Zugang zur Zentrale erahnen. Kythara aber war nicht zu erblicken. Zehn Minuten verstrichen. Und fünf weitere. Dann sah ich sie – ihre Konturen wurden klarer und tauchten im wahrsten Wortsinn aus dem Medium auf, das den Gang erfüllte. Es wirkte in der Tat, als flösse Wasser von ihr ab. »Es war der falsche Weg«, sagte sie sichtlich enttäuscht. »Er ist ebenfalls unpassierbar. Ich drang bis zu dem mir gerade noch möglichen Punkt vor. Es tut mir Leid. Mehr als das habe ich nicht gefunden.« Erst jetzt zog sie die auf dem Rücken gehaltene Hand nach vorn, und wieder erblickten wir ein Stück Metall, das in Form, Farbe und Größe dem vorhin gefundenen weitestgehend glich.
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Weitestgehend – ja, bestätigte der Extrasinn. Aber die Fundstücke sind nicht völlig identisch. Die Vertiefungen und Aussparungen sind anders angeordnet. »Eigenartig«, sagte ich nachdenklich. »Was soll's?«, fasste Veschnaron unseren bisher mehr als mäßigen Erfolg zusammen. »Noch mehr traurige Überreste.« Ich gewann den Eindruck, dass er sich irrte, ohne sagen zu können, warum.
* Kythara legte das zweite Fundstück zu dem ersten auf die Paneele der Flugkontrollen. Die NATAS erhob sich und setzte ihren Flug in der bisherigen Richtung fort. Das Kleinoktaeder beschleunigte und schwebte dem vertikalen Schacht an Punkt 8 entgegen. Nach fünf Kilometern ungehinderten Fluges lenkte Kythara das Beiboot in den dritten Großkorridor hinein, der den Antigravschacht mit dem Punkt 0 verband. Nach abermals fünf zurückgelegten Kilometern parkte sie das Boot zum dritten Mal auf seinem energetischen Landekissen. Vor uns erhob sich die quadratische, einhundert Meter hohe Öffnung des zur Zentrale führenden Ganges, nachdem wir die NATAS verlassen hatten. »Ich will ja die Stimmung nicht unnötig verderben«, sagte Veschnaron, als wir uns schwebend der hiesigen Einkilometermarke näherten. »Aber was ist, wenn sich auch dieser Gang als unpassierbar erweist?« »Er ist der letzte verbleibende«, sagte Kythara bestimmt. »Was für einen Sinn hätte das?« »Unter anderem den, uns zu zeigen, wie unüberwindlich Haitogallakins Fallen- und Sicherungssysteme sind«, knurrte der ehemalige Flottenkommandeur und dirigierte seinen Flugvektor nach unten. Wenn es überhaupt Fallen sind, wisperte der Extrasinn. Was meinst du damit?, fragte ich lautlos. Nur so ein Gedanke, antwortete mein zweites Ich, ohne näher darauf einzugehen.
Wir landeten und betrachteten die ebene Fläche, während wir vorsichtig weitergingen. Der Ausfall der Anzugsysteme geschah so plötzlich wie in den beiden vorherigen Gängen, unmittelbar nach dem Überschreiten der unsichtbaren Grenze. »Alles wie gehabt«, mokierte sich der breitschultrige Vargane. Wir schlüpften aus den technisch toten Anzügen, warfen sie zu einem goldenen Kleiderhaufen zusammen. »Achtet auf jede kleinste Veränderung«, riet Kythara und übernahm die Führung. »Warum nutzt uns hier unten das Transpondersignal der NATAS nichts?«, empörte sich Veschnaron. »Wir haben doch bewiesen, dass wir zu den Guten gehören.« Hast du das wirklich?, dachte ich zweifelnd. Oder hoffst du es nur? Die ständige Anstrengung, das leidige An- und Ablegen der Anzüge, die Ungewissheit des richtigen Vorgehens, Veschnarons wahrscheinliche Verbindung zu den Lordrichtern – alles das brachte mein Blut offenbar spürbar in Wallung. Ich begann zu schwitzen und wischte mir mit dem Ärmel immer öfter übers Gesicht. Veschnaron neben mir lachte, als er es sah, und schritt noch zügiger aus. Kythara blieb stehen, als sie merkte, dass ich zurückblieb. »Probleme?«, wollte sie wissen. »Mir wird so heiß.« Ich riss mir das Oberteil der Bordkombination herunter. Der Schweiß trat mir aus allen Poren, und ich wedelte mir mit dem Kleidungsstück vermeintliche Kühle zu. »Es ist tatsächlich wärmer geworden«, schnaufte Veschnaron verdrießlich. Kythara lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich vergesse immer wieder die schwächere Konstitution von Nicht-Varganen. Allerdings sollte dir das bisschen Hitze nichts ausmachen, Veschnaron, oder?« »Natürlich nicht«, knurrte er. »Ich frage mich nur, woher die Hitze kommt.« »Ich frage mich mehr, warum sie kommt«, murmelte ich. »Gehen wir weiter.« »Nein«, widersprach mir die Frau. »Luft
Angriff der Togronen leitet Temperatur an sich zwar nicht besonders gut, aber immerhin gut genug, um dich zu versengen, wenn sich die Hitze steigert, womit ich inzwischen fast rechne.« »Also die dritte von Haitogallakins Fallen!« Veschnaron starrte missmutig den Gang hinunter. »Du kehrst zu den Anzügen zurück«, verlangte Kythara. »Veschnaron und ich versuchen es allein.« »Ich sollte vielleicht sicherheitshalber als deine Rückendeckung hier bleiben«, sagte der Vargane zu Kythara. »Wenn wir beide zugleich ausfallen, dann …« Er ließ den Rest des Satzes in der Schwebe. »Einverstanden. Atlan?« Ich nickte und sagte: »Pass auf dich auf.« Damit wandte ich mich um und lief in einem leichten Trab bis zu der Stelle zurück, an der die Kampfanzüge lagen. Als ich die Montur wieder angelegt hatte, winkte ich den beiden Varganen, die etwa einen Kilometer entfernt warteten. Ein paar Schritte zurück ließ die Technik wieder aufleben. Der Vergrößerungsmodus der Helmoptik zoomte mir das Bild deutlich heran. Kythara winkte ebenfalls und marschierte los. Schon nach den ersten fünfzig Metern verschwand sie in einer Wand aus wabernder Luft, in der der Gang und die Leuchtkörper entlang der Decke und der Wände flimmerten. Rötliche Schatten geisterten über die Wände. Grellere Helligkeit erwuchs hinter der Wand aus wabernden Luftmassen, und ich spürte einen warmen und schon bald glühend heißen Luftzug im Gesicht. Die Atmosphäre roch plötzlich nach geschmolzenem Kunststoff, verschmorten Leitungen und Ozon; ich glaubte das Knacken sich verbiegenden Metalls zu hören, vermischt mit dem Geräusch platzender Leuchtkörper und dem fernen Rauschen tobender Flammen. Wie viel davon Einbildung war und wie viel ich wirklich mit meinen Sinnen erfasste, vermochte ich nicht zu sagen. Der Gestank wurde ätzender, die Luft immer beißender. Die Temperatur der mir
49 entgegenwehenden Strömung stieg am Ende so weit an, dass ich den Schutzschirm des Anzugs aktivierte. So wartete ich, bis ich an den Anzeigen ablesen konnte, dass sich der Aufruhr allmählich legte. Als ich den Schirm desaktivierte, schmeckte die Luft nach Chemikalien. Dann sah ich Kythara. Sie schleppte, leicht hinkend, den keuchenden Varganen mit sich; sie selbst sah aus wie die im letzten Moment gerettete Überlebende eines Brandinfernos. Ihre Bordkombination hing ihr in unkenntlichen Fetzen am Körper; ihre Haare schienen angesengt zu sein. Stumm schüttelte sie den Kopf, ließ Veschnaron auf den Boden sinken und setzte sich daneben. »Er hat viel mehr gelitten als ich«, flüsterte sie irgendwann. »Obwohl er sich viel weiter entfernt befand als ich. Dort vorn entfesselten Haitogallakins Apparaturen die reinste, sprichwörtliche Hölle. Schau dir nur das an.« Sie löste die Reste ihrer Stiefel von den Füßen, die ihr in der Hand zerbröckelten. Ihre Fußsohlen wiesen Brandblasen auf, jedenfalls dort, wo die Haut nicht blutete. »Weiter als bis etwa 500 Meter kam ich nicht an die Zentrale heran.« »Das hat Zeit bis später«, sagte ich und kniete neben ihr nieder. »Deine Verletzungen gehen vor.« Ich öffnete eines der Etuis des Anzuges, in dem sich ein Medoscanner befand. Sie winkte ab. »Bis zum Beiboot wird es gehen. Es sieht schlimmer aus, als es ist.« »Und?«, fragte ich verwundert. »Kein Fundstück diesmal?« Kythara griff in ihren Gürtel und warf mir den spiegelnden Metallbrocken zu. In der Erwartung, mich zu verbrennen, hätte ich ihn beinahe fallen lassen. Sie grinste. »Er war völlig kühl, als ich ihn inmitten der Flammen fand.« Dann lachte sie humorlos auf. »Fand ist vielleicht etwas zu viel behauptet. Ich bin über das blöde Ding schlichtweg gestolpert.« »Verdammter Haitogallakin«, brachte Veschnaron hustend und wütend zugleich her-
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vor. »Wenn dies ein Hinweis sein soll, verstehe ich ihn nicht. Sind das Schlüssel oder was, um die Fallen zu entschärfen?« Er kam mühsam auf die Füße. Wenn es denn Fallen sind, wiederholte der Extrasinn seine frühere Bemerkung. Vielleicht handelt es sich gar nicht um Fallen, sondern die drei Gänge stellen ultimative Prüfungen für Varganen dar. Niemand, außer Wesen mit varganischer Konstitution – nicht einmal Haluter –, hätten die von Kythara gefundenen Metallteile bergen können. Aus größter Hitze, massivem Überdruck und bebender Erde – möglicherweise handelt es sich bei den Artefakten um Belohnungen für den, der die Prüfungen bestanden hat? »Ich denke, ich ahne, um was es sich dabei handelt«, sagte ich langsam.
* Der ovale Medo-Servorobot setzte die Zellregeneratorsonde ab, mit der er Kytharas Brandverletzungen versorgt hatte. Das zuletzt gefächerte, türkisfarbene Licht des Heilstrahls erlosch. Anschließend sprühte er eine Schutz gebende Biomolschicht auf und schwebte summend in seine Bereitschaftsnische zurück. Ungeniert streifte die Varganin die Fetzen ihrer Kleidung herunter und zog sich um. Mit einer energischen Handbewegung schloss sie den Saum ihrer neuen Kombination. »So, das wäre erledigt«, sagte die Frau grimmig. »Allmählich beginnt mich Haitogallakin zu ärgern. Was denkst du erahnt zu haben?« Sie musterte die drei nebeneinander liegenden Metallteile mit einem abschätzenden Blick. »Genau genommen war es eine Bemerkung meines Extrasinns«, antwortete ich. »Nur wer denkt wie Haitogallakin, wird als Freund betrachtet und hat daher eine Chance, lautete der Impuls. Ich bezog das zunächst auf die Person Haitogallakins. Ich fragte euch, wie er dachte. Dabei ist es ge-
nauso gut möglich zu fragen, wie Haitogallakin als Vargane dachte. Wie denkt ein varganischer Chefwissenschaftler?« Veschnaron beugte sich vor und musterte mich gespannt. Kythara lehnte sich zurück und nahm einen Schluck ihres Getränks. »In den meisten galaktischen Kulturen gibt es unter den Wissenschaftlern zwei Hauptgruppen«, spann ich den Faden weiter. »Die Fortschrittlichen und die Traditionalisten. Die Ersten kümmern sich hauptsächlich um neue Ansätze; die Zweiten sehen sich als jeweiliger jüngster Ast eines weit verzweigten Baumes. Es ist für diese Gruppe wichtig, sich immer wieder ihrer Wurzeln zu versichern, während die anderen Traditionen eher ablehnen.« »Ich verstehe, was du meinst«, meinte Kythara. »In diesem Sinn war Haitogallakin sicher ein Traditionalist.« Ich nickte. »Auf der Erde, meiner zweiten Heimat, erinnern sich die meisten Traditionalisten auch heute noch der Ursprünge aller Disziplinen. Zu einer Zeit, als alle Wissenschaft noch ungeteilt betrieben wurde, kannten die frühen Denker lediglich ein metaphysisches Modell der Wirklichkeit. Es wurde gekennzeichnet durch nur vier Urelemente: Feuer, Wasser, Erde, Luft.« »Ich hörte auf Vinara davon«, bestätigte Kythara. »Die Klassifizierung entspricht den vier so genannten Urkräften des Universums – der schwachen Wechselwirkung, der starken, der Gravitation und dem Elektromagnetismus.« Sie dachte einen Moment nach. »Das Modell wird in der Regel als falsch erkannt, wenn eine Zivilisation den Hyperraum mit seinen fünfdimensionalen Einflüssen zu verstehen beginnt.« »Und doch kennt ihr Varganen ein vergleichbares, wenn auch ausgefeilteres Modell«, fuhr ich fort. »Ischtar erzählte mir davon. Ihr nennt es Oris, Ibin, Valas, Huril – diese Begriffe entsprechen den von mir genannten irdischen: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Zusätzlich nannte Ischtar die Bezeichnungen Vragon und Kyrthon …« Kytharas goldfarbene Augen wurden
Angriff der Togronen groß. »Vragon bezeichnet eine höhergeordnete Kraft oder Energie und bezieht damit die Fünfdimensionalität mit ein; Kyrthon heißt eigentlich Eis oder Kristall und umschreibt die den Dingen zugrunde liegende Ordnung oder Regelmäßigkeit.« »Ischtar«, sagte ich langsam, »betonte bei einer Gelegenheit, eure Vorliebe für die Grundform des Oktaeders läge in jener Sechsheit begründet. Ein Darstellungsprinzip, in dem die sechs Ecken den sechs varganischen Urelementen entsprechen.« »Oben liegt Vragon, unten Kyrthon; die vier waagerechten Ecken sind Oris, Ibin, Valas und Huril«, ließ sich Veschnaron vernehmen. Es klang verächtlich. »Das wusste früher jedes Kind. Na und? Was hat das mit unserer Situation zu tun?« »Darauf komme ich gleich«, erwiderte ich. »Ich halte fest: Haitogallakin ist ein Traditionalist. Wer wie er denkt, hat eine Chance. Und das Oktaedermodell mit einbezieht. Das ist der Schlüssel.« »Das wird mir zu hoch«, polterte Veschnaron. »Worauf willst du hinaus?« »Es ist ganz einfach. Der Gang mit dem Beben und den Schwerkraftfallen – welches Element würdest du ihm zuordnen?« »Eindeutig Valas – das Erdelement«, kam es von Kythara. »Der zweite Gang, in dem du sogar geschwommen bist?«, setzte ich nach. »Ibin – Wasser.« Sie nickte verstehend. »Und der dritte Gang?« Es war inzwischen eine rein rhetorische Frage. Selbst Veschnaron konnte sie beantworten. »Oris – Feuer!«, schnaubte er. »Wobei, wohlgemerkt, alle drei Gänge nur von einem echten Varganen – oder einer echten Varganin – bis exakt zu dem Punkt betreten werden konnten, an dem du die Metallteile fandest. Das System verlangt den Beweis echten Varganentums.« »Doch es gibt nur drei Gänge«, zweifelte Veschnaron. »Es fehlen Huril, Vragon und Kyrthon.« »Zunächst einmal fehlt nur Huril. Ohne das Element Luft wären die vier waagerech-
51 ten Eckpunkte des Oktaedermodells unvollständig, einverstanden?« Beide Varganen nickten. »Der gesamte Stützpunkt ist geometrisch angeordnet. Wo wäre ein geometrisch angeordneter Gang, der das Element Luft repräsentiert, zu vermuten?« Kythara drehte sich in ihrem Kontursessel um und lud den Aufrissplan hoch. Die drei Gänge um das Zentrumsdreieck drehten sich als Hologramm. Dann schlug sich Kythara mit einem Mal die Hand vor die Stirn und lachte auf. »Es ist wirklich einfach. Kein Gang. Sondern ein Schacht. Von oben. Aus der Luft.« Ich wies die Positronik an, die Gänge so zu verlängern, dass sie sich im Schwerpunkt des Dreiecks schnitten. »Jetzt einen senkrechten Schacht darüber projizieren.« Lächelnd deutete ich auf den rot hervorgehobenen Vektor. »Seht, wo er die Oberfläche durchstößt.« Veschnaron sprang vor und starrte die Darstellung an. »Direkt am Transmitterpunkt. Von dem aus wir die weiße Halle erreichten.« »Und eben dorthin müssen wir«, behauptete ich. »Du hattest von Anfang an Recht. In der Pyramidenhalle finden wir Haitogallakins eigentliche Spielerei.« Das Kleinoktaeder sauste bei diesen Worten schon den Gigantkorridor entlang. Kythara stand an den Pilotenkontrollen und warf mir einen Blick zu, in dem sich Verwunderung mit Anerkennung mischte. Ich grinste zurück und fühlte mich für einen Sekundenbruchteil wieder wie der achtzehnjährige Kristallprinz, der ich einmal gewesen war – jung, voller unbändigem Tatendrang und keineswegs erhaben über einen flüchtigen Impuls schwellenden Stolzes. Die NATAS stieg den vertikalen Schacht hinauf.
* Der Transmitter versetzte uns in die weiße Halle. Diesmal war ich auf die blendende
52 Helligkeit vorbereitet. Veschnaron trug die drei Metallteile und hielt sie mir unschlüssig entgegen. »Und was geschieht jetzt?«, verlangte er ungeduldig zu wissen. »Die Objekte sind die Belohnung für jeden Varganen, der sich der Tortur in den Gängen aussetzt«, sagte ich. »Sie sind in der Tat der Schlüssel. Und nur hier kann dieser Schlüssel benutzt werden.« »Warum nur hier?«, fragte Kythara. Ich machte eine Geste, die das Innere der Halle umfasste. »Denkt an das Oktaeder als Modell der Sechsheit. Ganz oben, die Spitze, symbolisiert Vragon, die höherwertige Energie.« Ich deutete zur Pyramidenspitze hinauf. »Was befindet sich dort oben?« »Der Transmitter«, meinte Kythara, den Kopf in den Nacken legend. Sie blinzelte in die Höhe hinauf. »Diese Halle hat fünf Flächen«, erklärte ich weiter. »Das Oktaedermodell hat sechs Eckpunkte; Vragon – der Transmitter – stellt dabei den höchstgelegenen dar. Du kannst auch sagen, er symbolisiere die Zahl Sechs. Er wirkt hingegen fünfdimensional und führt in eine Halle mit fünf Begrenzungsflächen.« »Oder mit vier Wänden«, wandte Veschnaron ein. »Ich sehe immer noch nicht …« »Du hast völlig Recht«, unterbrach ich ihn. »Vier gleiche Wände. Die Bodenfläche fällt aus dem Rahmen. So, wie die Sechsheit fünfdimensional wirkt, hat die fünfflächige Pyramide, in der wir uns aufhalten, eine vierbetonte Gleichheit. Es ist wie bei einer mathematischen Ableitung. Wir haben also die Zahlen Sechs – Fünf – Vier – …« »Ein Countdown?«, entfuhr es Veschnaron ungläubig. »Haitogallakins Countdown«, bekräftigte ich. »Der vierte Zugang zur Zentrale beginnt in der einen Fläche, die aus der Fünfheit herausfällt. Hier kommen die Metallteile ins Spiel. Ich bin sicher, dass sie sich irgendwie zusammensetzen lassen.« Veschnaron starrte die glänzenden Teile verdrießlich an und drückte und schob an ihnen herum, doch vergeblich.
Michael H. Buchholz »Gib sie Kythara. Bisher war sie allein in der Lage, sich nach Haitogallakins Gedankenspiel zu verhalten.« Kythara nahm die Metallteile und drückte ebenso ergebnislos an ihnen herum wie vordem Veschnaron. »Geh mit ihnen zum exakten Mittelpunkt«, forderte ich. »Hier hat alles einen streng geometrischen Bezug.« »Und jetzt?« »Leg sie einfach so hin, dass sie sich berühren«, gab ich einen Impuls meines Extrasinns weiter. Sie folgte meinem Rat, die Metallteile verloren, kaum von ihr losgelassen, knisternd ihre Konsistenz. Sie verwandelten sich in eine glänzende Flüssigkeit, deren Lachen aufeinander zustrebten. »Wie Quecksilber!«, lächelte die Varganin. Im nächsten Moment erstarrte die Flüssigkeit wieder zu fester Form. Vor uns lag ein chromglänzendes Tetraeder auf dem Boden der weißen Halle. »Vier gleiche Seiten, aus Dreiecken zusammengesetzt«, sagte ich. »Wieder das Prinzip der Reduktion aus sich selbst. In unserem Countdown hat sich nach der Vier nun die Zahl Drei eingefunden.« Als hätte ich damit ein Zeichen gegeben, verschwand der Boden von einem Augenblick zum anderen. Das Tetraeder entmaterialisierte. Die Mikropositroniken unser Kampfanzüge fuhren im selben Moment die Gravopaks hoch und hielten uns in der Schwebe. Doch die technische Vorsorge war überflüssig. Ein schwaches Antigravfeld baute sich auf. Wir justierten die Gravopaks und sanken langsam in einen quadratischen Schacht hinab, dessen Bodenfläche in 1800 Metern Tiefe lag. Gewohntes blaustichiges Licht umgab uns, in dessen Schein Veschnarons Augen erregt funkelten. »Ich gebe zu, ich habe dich unterschätzt, Arkonide. Doch wo liegt nach deiner Theorie in der Drei jetzt die Zahl Zwei verborgen?« Die Spitze der weißen Pyramide blieb über uns als ein hell erleuchtetes Schacht-
Angriff der Togronen dach zurück. Ich zeigte ihm in einer hilflosen Geste die leeren Hände. »Vorschläge sind immer willkommen. Ich weiß es nicht. Dafür kenne ich die Zahl Eins.« »Der einzige Zugang zur Zentrale?«, kam es von Kythara. »Ich nehme es an«, sagte ich. »Der Schluss liegt zumindest nahe. Das entspräche Kyrthon, der den Dingen zugrunde liegenden Regelmäßigkeit und Ordnung. Und der Zugang liegt am Grund dieses Schachts.« »Veschnaron – was ist das älteste varganische Symbol der beiden?«, erkundigte sich die Varganin bei ihrem Artgenossen. Wir drifteten immer tiefer hinab, hatten mittlerweile ungefähr achthundert Meter Höhenunterschied zurückgelegt. Noch ehe Veschnaron, verdutzt über die Frage, antworten konnte, trieb mir jemand glühende Nadeln ins Gehirn. Die unbeschreiblichen Schmerzen kamen urplötzlich und rasten den Nacken hinunter bis ins Rückenmark hinein. Ich schrie und begann unkontrolliert um mich zu schlagen, wurde zu einem zuckenden Bündel gequälten Fleisches. Ich sah nichts mehr, doch ich hörte Veschnaron gleichfalls schreien. »Atlan!«, rief Kythara erschrocken. Dann war sie neben mir, suchte meine unkontrollierten Zuckungen zu beruhigen, strich mir die Haare aus der Stirn. Schlagartig ließen die Schmerzen nach und verschwanden, als hätten sie nie existiert. Kythara schien den Einfluss nicht an sich selbst zu bemerken; sie schwebte nur besorgt an meiner Seite. Verbundenheit!, hämmerte der Extrasinn in drängenden Impulsen. Berührung als Zeichen der Verbundenheit ist das varganische Symbol der Zahl Zwei! »Veschnaron!«, stieß ich hervor. »Du musst ihn berühren! Schnell! Berührung bedeutet zwei!« Sie nickte verstehend. Ein Gedankenbefehl trug sie zu dem um sich schlagenden Mann hinüber. Wie zuvor mir strich sie ihm
53 über die Wange. Ein unvorstellbarer, markerschütternder Schrei entrang sich daraufhin der Brust des breitschultrigen Mannes. Kythara wich unwillkürlich zu mir zurück. Was wir sahen, war ebenso schockierend wie faszinierend zugleich. Veschnarons Gestalt machte eine verwirrende Veränderung durch. Weiterhin um sich schlagend und dabei geradezu jämmerlich schreiend, zerfloss sein Gesicht und wurde zu dem eines Tefroders, um schon im nächsten Augenblick der verzerrten Fratze eines löwenmähnigen Gurrads zu weichen. Auch der Körper streckte sich und schrumpfte in den Wellen, die seine Gestalt durchzuckten. In rasendem Tempo blickten wir in arkonidische, lemurische und andere galaktische Gesichter, sahen für Bruchteile eines Moments einen bluesschen Tellerkopf, einen unithischen Nasenrüssel, den Sichelschädel eines Maahks, wurden Zeuge seiner Verwandlung in Zaqoor, Togronen, in Aras, in einen Springer, sogar einen Matten-Willy glaubte ich zu erkennen – ehe ein sich um uns drei schließender, dunkelroter Ring aus wogender Energie dem Spuk ein Ende bereitete. In Kytharas gellendes »Nein!« hinein erfolgte die Auflösung. Das den Schacht erfüllende Transmitterfeld flammte auf, und wir wurden mit unbekanntem Ziel abgestrahlt.
* »Er ist ein Gestaltwandler!«, brüllte ich, noch ehe ich meine Orientierung zurückgewonnen hatte. Per Gedankenbefehl aktivierte ich den Schutzschirm, als auch schon die erste Energiesalve über mich hereinbrach. Die kinetische Wirkung des Beschusses trieb meinen immer noch im Schwebemodus befindlichen Anzug wie ein Blatt im Wind vor sich her. Ein weiterer Gedankenbefehl, ich zog steil nach oben, ehe ich gegen die Tunnelwandung krachen konnte. Kythara kniete auf dem Boden und gab Dauerfeuer.
54 Ihr Ziel war ein davonjagender Energiekokon – Veschnaron hatte zuerst mich angegriffen und suchte nun sein Heil in der Flucht. Ich riss die Stabwaffe von der Oberschenkelhalterung und sandte ihm mehrere Schüsse hinterher, die seinen Schirm auflodern ließen, aber keinen Schaden anrichteten. Dann war er um eine stählerne Ecke gebogen und außer Sicht. Ein Fehlschuss war in einen der Leuchtkörper eingeschlagen und hatte einen Teil der Abdeckung verbrannt. Ein anderer bildete eine geschwärzte Furche in der Wand. Erst jetzt erkannte ich, wo wir uns befanden. Der Ort glich dem Schachtboden unter den Oberflächensiedlungen – vier Gigantkorridore trafen sich in den bekannten Winkeln, nur der vertikale Schacht fehlte diesmal. »Wir sind am Punkt null angekommen!«, rief ich Kythara zu, als ich meinen Schirm desaktivierte. Erst im Nachhinein ging mir die darin enthaltene doppelte Bedeutung auf. »In der Tat«, pflichtete mir die Varganin bei. »Was war mit dir los?« »Ich nehme an, wir wurden im Schacht durch verborgene Scanner abgetastet«, mutmaßte ich. »Möglicherweise ein umgekehrt gepolter Zellschwingungstaster. Eine Art gerichteter Zellkernstrahl. Varganische Körperzellen reagieren infolge ihrer gleich frequenten Schwingung nicht darauf – du hast schließlich nichts bemerkt. Dafür reagieren varganfremde Zellen umso mehr. Erst das sichtbare Zeichen der Berührung durch einen Varganen oder eine Varganin verändert die Wellenstruktur. Deine Berührung interpretierte die Schachtpositronik als Verbundenheit und schaltete den Strahl bei mir ab. Bei Veschnaron – oder besser: dem Wesen, das vorgab, Veschnaron zu sein – löste deine Zellaura in der Kombination mit dem Tasterstrahl vermutlich den Effekt aus, den wir beobachteten.« »Und die Schachtpositronik stufte uns generell als feindlich ein und versetzte uns hierher«, vollendete Kythara meinen Gedan-
Michael H. Buchholz ken. »Also war alles umsonst?« »Nicht ganz – wir wissen jetzt, dass unser Verdacht gegen Veschnaron gerechtfertigt war. Nicht gegen Veschnaron, meine ich – gegen den, der sich so nannte.« »Ein Gestaltwandler. Aber von welchem Volk – konntest du irgendwelche Merkmale erkennen?« Kythara stellte die Frage sichtlich erschüttert. »Leider nein«, gestand ich. »Ich kenne zumindest zwei Völker, die solche Fähigkeiten besitzen: die Gys-Voolbeerah und die Cynos. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob und zu welchem dieser Völker er tatsächlich gehört.« »Ihm nach?« Sie hob die Augenbrauen und schob ein neues Energiemagazin in den Griff ihrer Stabwaffe. »Haben wir eine Wahl?«, fragte ich zurück. »Wir müssen seiner habhaft werden. Er könnte jederzeit als Atlan oder auch als Kythara auftreten und unsere Freunde in der AMENSOON zum Narren halten – oder Schlimmeres tun.« Wortlos aktivierte sie ihr Gravopak und flog in den Gang hinein, in dem der Gestaltwandler verschwunden war. Ich jagte ihr in geringem Abstand hinterher. »Danke«, sagte sie nach einigen Minuten. »Wofür?« »Dass du Kalarthras einen Freund genannt hast.« Wir flogen mit hoher Geschwindigkeit einen der 21 Kilometer weiten Gigantkorridore entlang. Er verband zwei der subplanetaren Kuppelstädte miteinander. Bis zur nächsten Stadt hatten wir noch knapp neun Kilometer Wegstrecke vor uns. Relativ zu den Oberflächensiedlungen betrachtet bewegten wir uns 2000 Meter tief im Innern Galadats, auf der untersten Sohle des varganischen Stützpunkts, durch die schnurgerade Verbindung nach Osten rasend. »Wir sollten die beiden darüber informieren, was hier vor sich geht«, gab ich zu bedenken. Kythara zeigte an, dass sie verstanden hatte, und rief die AMENSOON. »Ich be-
Angriff der Togronen komme keine Verbindung! Kannst du Störfelder orten?« Ich ließ per Gedankenbefehl die entsprechenden Displays einblenden – das heißt, ich wollte es tun, musste den Gedanken aber mehrfach scharf akzentuieren, ehe die Anzeige sich stabilisierte. Das war ungewöhnlich, doch fand ich keine Zeit, mich darüber zu wundern. Die Messwerte waren einwandfrei. »Keine Störquellen.«. Kythara wiederholte ihren Funkanruf. Sie bekam abermals keine Verbindung. Auch ich versuchte mehrfach vergeblich, unser Schiff zu erreichen. Etwas störte den Empfang, doch es gelang uns nicht, die Ursache dafür zu orten. Das Wesen, das uns als Veschnaron gegenübergetreten war, war für unsere Anzugsysteme leicht anzumessen. Obwohl der Gestaltwandler seinen Deflektorschirm gewiss aufgebaut hielt, erkannten sich varganische Kampfanzüge auch im aktiven Tarnmodus. Er befand sich etwa drei Kilometer voraus. Kurz darauf registrierten wir eine rechtwinklige Kursänderung – der Gestaltwandler bog nach rechts in den nächstgelegenen Gigantkorridor ab, der entlang der Peripherie eines der Y-Balken nach Süden führte. Und dann schien der Punkt, den die Mikropositronik in den Helm einspiegelte, zu verharren. Der Gestaltwandler wurde entweder aufgehalten – oder er erwartete uns dort. Wir erreichten die riesige T-Kreuzung. Beide sich hier treffenden Korridore lagen verlassen im bläulichen Licht. Wir verlangsamten unseren Flug, als wir in einiger Entfernung ein goldenes Schimmern sahen. Vor uns lag der abgestreifte Varganenanzug auf dem Boden. Das Wesen, das ihn getragen hatte, war nirgendwo zu erblicken. »Warte!« Kythara landete in etwa fünfzig Metern Entfernung. »Da er ein Gestaltwandler ist – woher wissen wir dann, ob dies sein Anzug ist? Oder ob nicht etwa er der Anzug ist?« Sie blickte sich angespannt um. »Oder ist er eines der Schotten da vorn oder dieses
55 Geländer dort oben?« Sie zeigte mit dem Waffenstab zu einem kühn vorspringenden Balkon hinauf. Trotz unserer voll funktionstüchtigen und gedankenschnell steuerbaren Kampfanzüge fühlte ich mich plötzlich unbehaglich. Wie trügerisch die Technik sein konnte, hatten wir heute hinlänglich erfahren. Kythara hatte zusätzlich einen Aspekt erkannt, der sich für uns als völlig unkalkulierbares Risiko erweisen musste. Ihr solltet besser hier verschwinden!, warnte der Logiksektor. »Du hast Recht«, flüsterte ich unwillkürlich. »Er kann buchstäblich alles sein. Und das da«, ich deutete auf den verlassenen Schutzanzug, »ist hundertprozentig eine Falle.« »Wohin also?« Auch sie sprach nun mit leiser Stimme. »Wir nehmen den längeren Weg«, schlug ich vor. »Weiter bis zur Kuppelstadt. Und von da an zum Punkt 8 und dort den Vertikalschacht hinauf.« »Dann los!« Wir stiegen auf und flogen mit erhöhter Geschwindigkeit zu dem zur Kuppelstadt weiterführenden Korridor zurück. Wir erreichten die rechte Kante der stählernen Tunnelwandung und bogen ab – und flogen mitten in die jäh aufflammenden Fesselfelder hinein. Den mehrmaligen Gedankenbefehl, die Schutzschirme aufzubauen, ignorierte die Mikropositronik. Ich vermutete sofort, dass Veschnaron sämtliche Anzüge der GANTA sowie die aller zu dem Großoktaeder gehörenden Beiboote mit Computerviren verseucht hatte. Wahrscheinlich bedurfte es nur eines Signals, und die Viren begannen ihr zerstörerisches Werk. Kobaltblaues Leuchten umfing uns und verhinderte jede weitere Bewegung. Die Mikropositroniken ermittelten die Feldstärken der Fesselprojektoren, klassifizierten sie als unüberwindlich und desaktivierten daraufhin die Gravopaks. Wir sanken zu Boden und sahen uns von 25 schwerstbewaffneten Zaqoor umstellt. Jeder der zwei Meter fünfzig großen Huma-
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noiden trug die obligatorische Kampfrüstung. Alle Waffen waren aktiviert und auf uns gerichtet. Die Abstrahlfelder flimmerten in tödlicher Drohung. Selbst wenn wir uns noch hätten wehren können, wäre jede Bewegung sinnlos, wäre jeder Gedanke an eine Flucht zum Scheitern verurteilt gewesen. Zwei der Zaqoor rissen uns die Waffen aus den Händen. Die anderen bildeten einen vielleicht zehn Meter durchmessenden Kreis. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Gelächter, das in diesem Moment von den Tunnelwandungen widerhallte, war um Klassen erniedrigender. Der Mann mit den rotgoldenen, fingerkurzen Haaren trat in den Kreis der ihn überragenden Zaqoor, über dem linken Arm den varganischen Anzug tragend, mit der Rechten seinen Nacken massierend. »So viel Talent sagt man dir nach, Arkonide«, tönte die sonore Stimme des Gestaltwandlers, der sich Veschnaron hatte nennen lassen. Ein belustigtes Funkeln erschien in seinen goldenen Augen, als er näher trat und spöttisch auf mich herabsah. »Und so viel Dummheit, so viel Arroganz und so viel Selbstgefälligkeit vergisst man gemeinhin dabei mit zu erwähnen. Dabei ist es doch gerade deine Narretei, die dich so einzigartig
macht, nicht wahr, mein kleiner arkonidischer Freund?« Er drehte sich einmal um sich selbst und lachte abermals. »Man sagt, du seist ein Ritter der Tiefe«, rief er. Kopfschüttelnd holte er Luft und wischte sich dabei Tränen aus den Augenwinkeln. »Wie Kalarthras sagen würde – es ist nicht zu fassen.« Er ließ von mir ab und wandte sich Kythara zu. »Nun ja, schöne Varganmaid.« Er schüttelte den Kopf. »Es wird mir eine Ehre sein, dir die Schmerzen, die ich deinetwegen erlitt, zu vergelten. Das heißt, wenn das, was die Lordrichter von dir übrig lassen, noch Schmerzen empfinden kann.« Er gab den Zaqoor einen Wink. »Abführen!«, zischte er. Er warf sich den Anzug achtlos über die Schulter und stapfte aus dem Kreis der Garbyor-Leibgardisten. Die stählernen Wände hallten wider von dem Getrampel der vielen Stiefel, die sich plötzlich auf Kythara und mich zubewegten. ENDE
ENDE
Fluchtpunkt Craddyn von Rüdiger Schäfer Die Zaqoor waren letztlich doch erfolgreich bei ihrer Jagd auf Atlan und Kythara. Nunmehr droht unseren Helden die gefahrvolle Begegnung mit den Lordrichtern. Womöglich können sie dabei mehr über deren Identität und Schwachstellen in Erfahrung bringen, doch viel wahrscheinlicher ist es, dass sie dabei ihr Leben verlieren werden. Es gibt nur einen Ausweg: FLUCHTPUNKT CRADDYN